Handbuch der Poetik. ──────
Eine kritisch=historische Darstellung
der
Theorie der Dichtkunst

[EAI:f][EAI:e][EAI:d][EAI:c][EAI:b]



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Stuttgart.
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1887.

[EAI:a]

Handbuch der Poetik. ──────
Eine kritisch=historische Darstellung
der
Theorie der Dichtkunst

[RI]


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Stuttgart.
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.
1887.

[RII]

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Alle Rechte,
insonderheit in Beziehung auf Uebersetzungen, sind von der
Verlagsbuchhandlung vorbehalten.
──────────────────
Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

[RIII]


Vorwort. ──────

Für den Kundigen bedarf es nicht des Hinweises auf die fast
unüberwindlichen Schwierigkeiten der Aufgabe, eine „Theorie der Dichtkunst“
aufzustellen, zu deren Lösung hier ein Versuch gemacht ist; gibt
es doch auf diesem Gebiete kaum einen einzigen Satz von unbestritten
geltendem Ansehen. Nur in einem Punkte dürfte Einigkeit herrschen,
daß ein rein deduktives Verfahren dabei nicht zum Ziele führen kann,
sondern daß allein auf dem Wege der kritischen Untersuchung des Vorhandenen
Resultate zu erhoffen sind. Eine solche, nach einheitlichen
Gesichtspunkten verfahrende Kritik kann aber nicht anders als unter
steter Berücksichtigung der historischen Entwickelung sowohl der poetischen
Produktion als der zu den verschiedenen Zeiten für dieselbe maßgebenden
Theorieen angestellt werden. Demgegenüber möchte es als ein
Widerspruch erscheinen, daß diese Darstellung den Anspruch macht, für
ein „Handbuch der Poetik“ zu gelten. Ein solches müßte die Hauptgesetze
der Dichtkunst und die Beantwortung der wichtigsten dieselben
betreffenden Fragen in übersichtlicher Zusammenstellung dem Leser darbieten.
Wer jedoch, mag er nun den Wissenden oder den Suchenden
und Lernenden sich zurechnen, wird es bezweifeln, daß eine kompendiarische
Anordnung von Formeln der Poetik wertlos bleiben müßte,
sobald nicht jeder kleinste Teil derselben durch eingehende Begründung
Leben und gesicherten Bestand erhielte? Das Gebiet der Poetik ist so
beschaffen, daß hier jeder Schritt ohne die immer erneute Prüfung und
Orientierung nach allen Seiten einer ganzen Schar von Mißverständnissen
ausgesetzt wäre.

Der Verfasser hat es daher versucht, die kritisch=historische Darstellung
überall bis zu einem bestimmt formulierten Ergebnis zu führen,
so daß als Gesamtresultat eine Zusammenordnung der Hauptsätze der [RIV]
Poetik sich ergibt, deren jeder in der Entwickelung des Ganzen als der
Abschluß eines organischen Teiles gedacht ist.

Er hat es versuchtvoluit! ─ im Vertrauen auf die ihn
selbst mit voller Überzeugung durchdringende Kraft der aristotelischen
Grundauffassung von der Einheit der künstlerischen Nachahmung
und von der einzigen Richtigkeit der aristotelisch=lessingschen
Untersuchungsmethode.
Wenn jedoch Lessing seinem Laokoon als
Motto das Plutarchische Wort von den Künsten voranstellte, daß sie
nach den Mitteln und nach der Art und Weise der Nachahmung sich
unterscheiden ─ ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν ─ so unterließ
er es, den nicht minder gewichtigen Schluß hinzuzufügen: τέλος ἕν
ὑπόκειται ─ das Ziel der künstlerischen Nachahmung ist ein einheitliches,
für alle Künste ein und dasselbe.

Daher sind auch die Gesetze der Künste einheitlich und ewig.
Die Unterschiede der Nationen und Zeiten reihen sich nur den Verschiedenheiten
ein, die an sich schon je nach den Mitteln der Nachahmung
für die Art und Weise, wie sie zu geschehen hat, von selbst gegeben sind.
Daher die innere, engste Verwandtschaft, der mächtige Zug der Wesensgleichheit,
der alle die miteinander verbindet, die zu allen Zeiten und an
allen Orten das Größeste in der Kunst hervorgebracht haben. Dadurch
aber waren sie die Größesten, daß in ihrem Geist und Gemüt jene Einheit
als eine unerschütterliche Gewißheit feststand, die nach dem ewig sich gleichbleibenden
Ziele sie immer wieder den gleichen Weg finden lassen mußte.

Diese Wege in den verschiedenen Gattungen der Kunst zu erkennen,
ist die Aufgabe einer produktiven Kritik; ihre unabänderlichen Gesetze
festzustellen muß die Theorie der Kunst bestrebt sein. Was das Genie
als ein göttliches Vermögen in sich trug, demgemäß es sich schaffend
bethätigte, soll sie in seinen Äußerungen betrachten und das Gleichmäßige,
immer Wiederkehrende darin, soweit es erkennbar ist, in festen
Normen aussprechen.
Es ist nicht erweisbar, daß ein Homer, ein
Äschylus, Sophokles oder Shakespeare bei ihrem Dichten mit klarem
Bewußtsein solchen festen, theoretischen Normen gefolgt sind: wohl aber
müssen dieselben, wenn sie richtig erkannt sind, überall in den Meisterwerken
des Genies wiedergefunden werden; sie müssen daher ebensowohl
das Verständnis der Kunstwerke zu eröffnen vermögend sein, ihren
Genuß zu vertiefen, das ästhetische Urteil über das Beste wie über das
Minderwertige zu begründen, als die künstlerische Produktion selbst auf
ihrem Wege zu leiten und vor dem Abirren zu sichern. So hat sich
Aristoteles den Griechen, Lessing den Deutschen, so haben beide sich der
Welt als Lehrer und Führer erwiesen.

[RV]

Der größte Dichter der Neuzeit, in welchem die spontan schaffende
Kraft des Genius am stärksten erscheint, war am meisten von dem Werte
der Theorie für die Kunst durchdrungen. „Es ist weit mehr Positives,
das heißt Lehrbares und Überlieferbares in der Kunst, als man
gewöhnlich glaubt,“ lautet ein Wort von Goethe. Und ganz wie Aristoteles
sucht er den Schlüssel für die Erkenntnis der Kunstgesetze in der
Kenntnis der menschlichen Seele. Davon handelt eine schöne Stelle des
inhaltreichen Aufsatzes „Der Sammler und die Seinigen“ in dem Gespräch
zwischen dem „Philosophen“ und dem „Gaste“:

Gast: „Jch will über Poesie nicht entscheiden.

Philosoph: Und ich nicht über bildende Kunst.

G. Ja, es ist wohl das beste, daß jeder in seinem Fache bleibt.

Ph. Und doch gibt es einen allgemeinen Punkt, in welchem die
Wirkungen aller Kunst, redender sowohl als bildender, sich sammeln,
aus welchem alle ihre Gesetze fließen.

G. Und dieser wäre?

Ph. Das menschliche Gemüt.

G. Ja, ja, es ist die Art der neuen Herren Philosophen, alle
Dinge auf ihren eigenen Grund und Boden zu spielen, und bequemer
ist es freilich, die Welt nach der Jdee zu modeln, als seine Vorstellungen
den Dingen zu unterwerfen.

Ph. Es ist hier von keinem metaphysischen Streite die Rede.

G. Den ich mir auch verbitten wollte .... Wie wollen Sie auch
den wunderlichen Forderungen dieses lieben Gemütes genug thun?

Ph. Es ist nicht wunderlich, es läßt sich nur seine gerechten Ansprüche
nicht nehmen. Eine alte Sage berichtet uns, daß die Elohim
einst untereinander gesprochen: Lasset uns den Menschen machen, ein
Bild, das uns gleich sei! Und der Mensch sagt daher mit vollem Recht:
Lasset uns Götter machen, Bilder, die uns gleich seien!

G. Wir kommen hier schon in eine sehr dunkle Region.

Ph. Es gibt nur ein Licht, uns hier zu leuchten.

G. Das wäre?

Ph. Die Vernunft.

G. Jnwiefern sie ein Licht oder Jrrlicht hat, ist schwer zu bestimmen.

Ph. Nennen wir sie nicht, aber fragen wir uns die Forderungen
ab, die der Geist an ein Kunstwerk macht! Eine beschränkte Neigung
soll nicht nur ausgefüllt, unsere Wißbegierde nicht etwa nur befriedigt,
unsere Kenntnis nur geordnet und beruhigt werden: das Höhere, was
in uns liegt, will erweckt sein, wir wollen verehren und uns selbst als
verehrungswürdig fühlen.

[RVI]

G. Jch fange an, nichts mehr zu verstehen ... Was wäre denn
jenes Höhere?

Ph. Das Göttliche, das wir freilich nicht kennen würden, wenn
es der Mensch nicht fühlte und selbst hervorbrächte.

G. Jch behaupte immer meinen Platz und lasse Sie in die Wolken
steigen. Jch sehe recht wohl, Sie wollen den hohen Stil der griechischen
Kunst bezeichnen, den ich aber auch nur insofern schätze, als er charakteristisch
ist.

Ph. Für uns ist er noch etwas mehr; er befriedigt eine hohe
Forderung, die aber doch noch nicht die höchste ist.

G. Sie scheinen sehr ungenügsam zu sein.

Ph. Dem, der viel erlangen kann, geziemt, viel zu fordern.
Lassen Sie mich kurz sein! Der menschliche Geist befindet sich in einer
herrlichen Lage, wenn er verehrt, wenn er anbetet, wenn er einen Gegenstand
erhebt und von ihm erhoben wird; allein er mag in diesem Zustand
nicht lange verharren; der Gattungsbegriff ließ ihn kalt, das Jdeale
erhob ihn über sich selbst; nun möchte er in sich selbst wieder zurückkehren,
er möchte jene frühere Neigung, die er zum Jndividuo gehegt,
wieder genießen, ohne in jene Beschränktheit zurückzukehren, und will
auch das Bedeutende, das Geisterhebende nicht fahren lassen. Was
würde aus ihm in diesem Zustande werden, wenn die Schönheit nicht
einträte und das Rätsel glücklich löste! Sie gibt dem Wissenschaftlichen
erst Leben und Wärme, und indem sie das Bedeutende, Hohe mildert
und himmlischen Reiz darüber ausgießt, bringt sie es uns wieder näher.
Ein schönes Kunstwerk hat den ganzen Kreis durchlaufen; es ist nun
wieder eine Art Jndividuum, das wir mit Neigung umfassen, das wir
uns zueignen können.

G. Sind Sie fertig?

Ph. Für diesmal! Der kleine Kreis ist geschlossen; wir sind
wieder da, wo wir ausgegangen sind; das Gemüt hat gefordert, das
Gemüt ist befriedigt, und ich habe weiter nichts zu sagen.“

Dazu noch ein Wort, das Goethe einmal an seinen Freund Schiller
schreibt: „Lust, Freude, Teilnahme an den Dingen ist das
einzige Reelle, und was wieder Realität hervorbringt;
alles
andere ist eitel und vereitelt nur.“

Königsberg, i/Pr., Ostern 1887.


Hermann Baumgart.

[RVII]

Jnhaltsverzeichnis. ──────


  • Seite
  • VorwortIII─VI
  • Einleitung: Aufgabe der „Poetik“ als einer „Theorie der Dichtung“;
    neben der abstrakt=begrifflichen eine historisch=kritische Behandlung erforderlich.
    Die heutige Poetik beruht auf Lessings und Schillers Hauptschriften,
    deren Resultate zu prüfen sind.1─3
  • Abschnitt I: Kritik von Lessings Laokoon. Die aristotelisch=lessingsche
    Untersuchungsweise der Kunsttechnik die einzig fruchtbare. Die Grundlagen
    der Kunstbetrachtung des Aristoteles. Die Frage nach dem Begriff
    der Nachahmung im Laokoon nicht aufgeworfen.3─9
  • Abschnitt II: Der Begriff der Handlung im Laokoon; Herders Kritik
    desselben; innere und äußere Handlung; Handlung als Gegenstand
    und als Mittel der Nachahmung Der Begriff der Mimesis und
    ihre Objekte.9─23
  • Abschnitt III: Das Successive in der Lyrik; dasselbe ist Mittel der
    lyrischen Nachahmung, Gegenstand derselben ein Pathos oder Ethos;
    auch das Körperliche gehört zu den Mitteln der Poesie. Das Gesetz
    des Laokoon ein lediglich technisches, das die Mittel, nicht die Gegenstände
    der Mimesis betrifft.

    23─32
  • Abschnitt IV: Aufgabe der Mimesis nicht Nachahmung der Wirklichkeit,
    sondern ihrer Wirkungen auf die Seele; dieselben sind bedingt
    durch psychisches Leben, das den bloßen Naturobjekten erst durch Analogie
    beigelegt wird. Das Poetische der griechischen Mythologie
    Berechtigung der Landschaftspoesie; malerische Naturnachahmung;
    auch das Koexistente nur Mittel der Mimesis psychischen Lebens.
    Deutliche Empfindungen unterschieden von Empfindungsdispositionen
    und Stimmungen; die Naturobjekte als Mittel für die Nachahmung
    der letzteren. Hierin die wesentlichen Kriterien der Mimesis, der
    Gegensatz des Koexistenten und Successiven nur ein technischer und
    untergeordneter.32─49
  • Abschnitt V: Handlung als Gegenstand der Nachahmung das Kennzeichen
    der epischen, als Mittel derselben der lyrischen Gattung.
    Ballade. Volkslied. Bürgers „Lenore“. ─ Begriff
  • Seite
  • des Ethos. Dasselbe als Gegenstand der Mimesis in Architektur
    und Plastik; in der Poesie hier das Feld der Ballade.
    Die englische Volksballade.49─64
  • Abschnitt VI: Definition der Ballade. ─ Warum dieselbe den
    Griechen fremd. Goethe über die Ballade. Seine und Schillers
    „Balladen“. Die Romanze. Definition derselben. Uhlands
    Romanzen; Romanzen-Cyklus. Herders Cid. Die poetische
    Erzählung
    .64─76
  • Abschnitt VII: Die sogenannte „didaktische Poesie“ und „Reflexionsdichtung“.
    Gedankendarstellung als Mittel der Mimesis.
    Verhältnis der Erkenntnis- und Empfindungskräfte zu einander,
    des Gedankens zur Anschauung. ─ Das Ethos des Gedankens.
    ─ Die gnomische Dichtung, die rein lyrische und
    die paränetische. ─ Lehrgedicht und Reflexionspoesie. ─ Schillers
    Gedankenlyrik. Die Technik derselben. Worin Goethe auf diesem
    Felde gegen Schiller zurücksteht und worin er ihn übertrifft. Seine
    Umwandlung der Gedankenpoesie in reine Lyrik. Die verschiedenen
    Methoden in Goethes Jdeenlyrik: die rein lyrische, dramatische und
    allegorische. Die Allegorie als ein poetisch berechtigtes Mittel der
    Nachahmung. Definition der „poetischen Allegorie“. „Mahomets
    Gesang“; „Seefahrt“; „Adler und Taube“.76─102
  • Abschnitt VIII: Die satirisch=humoristische Poesie. Schiller über
    dieselbe. Die satirische Dichtung erregt das Ethos, das sie nachahmt,
    indirekt. Verschiedenes Verfahren der satirischen und humoristischen
    Dichtung. ─ Die Empfindungen des Lächerlichen und
    des Wohlgefälligen und ihr wechselseitiges Verhältnis. ─ Definition
    der Satire.
    ─ Horaz, Satire I, 4. ─ Goethes „Episteln“.
    Schillers satirisch=humoristische Gedichte. ─ Abarten der Gattung.102─115
  • Abschnitt IX: Das Epigramm; sowohl der gnomischen als der humoristisch=satirischen
    Poesie verwandt, durch seine Form verschieden. ─
    Lessings „Anmerkungen über das Epigramm“. Seine Definition
    des Epigramms trifft nur die Form, nicht das Wesen desselben.
    ─ Herders „Anmerkungen über die Anthologie der
    Griechen
    “ und Kritik derselben. Beispiele aus der Anthologie.
    Der „Sinnspruch“ und das satirisch=humoristische Epigramm;
    verschiedenes Verfahren in denselben. Anwendung von
    Bildern, Symbolen, allegorischen Einkleidungen. Das „hyperbolische
    und das „komische“ Epigramm. ─ Martial, Logau. ─
    Die Spruchdichtung. ─ Das Ethos dieser Art von Poesie. ─
    Die „Xenien“.115─140
  • Abschnitt X: Pseudo-Epigramm. ─ Unterschied der Fabel vom Epigramm;
    Lessings Meinung darüber und Kritik derselben. ─ Die
    Fabel der epischen Poesie zugehörig, für welche Handlung der
    Gegenstand der Mimesis
    ist. ─ Wesen und Begriff der Handlung;
    verschiedene Bedeutungen des Worts. Verhältnis der Handlung
    zu den Seelenbewegungen des Pathos und Ethos. ─ Jnwiefern
    die „ästhetische Mimesis“ von „Handlungen“ möglich
  • Seite
  • ist. ─ Die mit solcher Nachahmung verbundene Hedone; Begriff
    derselben. ─ Das „ästhetische Vergnügender Sitz der
    ästhetischen Urteilskraft“. ─ Der fundamentale Unterschied,
    ob eine Handlung Gegenstand oder Mittel der Nachahmung ist. ─
    Das Volkslied; Goethes „Gefunden“ und „Heidenröslein“.140─154
  • Abschnitt XI: Die Fabel. Lessings Definition derselben; Hamanns
    Polemik gegen sie. ─ Jakob Grimm über „das Wesen der Tierfabel“.
    ─ W. Scheres Polemik gegen J. Grimm. ─ Herder über
    die Fabel. ─ Kritik der Lessingschen und Herderschen Fabeltheorie. ─
    Die äsopische Fabel; die deutsche Tierfabel. Das allegorische
    Element
    in Lessings Fabeln; seine Fabel vom „Tiresias“.154─179
  • Abschnitt XII: Die Parabel. Lessings Erklärung derselben unrichtig.
    Wesen und Definition der Parabel. Lessings Parabel von den
    „drei Ringen“ und vom „Palast im Feuer“. ─ Die Allegorie;
    Quintilians und Lessings Definition derselben. Die Anwendung der
    allegorischen Darstellungsweise in der Kunst. Verhältnis der Allegorie,
    als selbständiger Dichtungsweise zur Parabel. ─ Goethe über
    „allegorische“ und „symbolische“ Poesie. ─ „Jdee“ und „Begriff“. ─
    Wesen der poetischen Symbolik.179─200
  • Abschnitt XIII: Die verschiedenen Zwecke, Mittel und Formen
    der poetischen Nachahmung von Handlungen.

    Vollständigkeit der Handlung. ─ Verkürzung des Handlungsverlaufs
    durch Modifikation der Personen, der äußeren Umstände;
    die hierfür geltenden Gesetze. ─ Poesie und Geschichte. ─ Schicksal;
    der Schicksalsbegriff bei den Griechen. ─ Einheit der poetischen
    Handlung. ─ Wunder, Sage, Märchen und Tierfabel.
    Die Anwendung der Tiere in der Fabel; das Komische derselben. ─
    Tierepos, komisches Epos und poetische Erzählung.200─223
  • Abschnitt XIV: Die „Moral“ und das epische Element in der
    poetischen Erzählung. ─ Die Lehre von der „anschauenden Erkenntnis“.
    ─ Die komische Erzählung. ─ Das Wesen des Lächerlichen.
    Aristoteles, Lessing, Kant, Goethe, Jean Paul, Vischer darüber.
    ─ Die Freude am Lächerlichen, das „richtige Lachen“. ─
    Das Gesetz für die ästhetische Darstellung des Lächerlichen;
    die Mittel derselben. ─ Gegenseitige Katharsis der Affekte des
    Lachens und des Wohlgefallens. ─ Shakespeares Komik; der
    Mangel des hedonischen Elementes bei Moliere. ─ Die Entwickelung
    der komischen Poesie durch das genre sérieux, die comédie larmoyante;
    durch J. Elias Schlegel, Gellert, Lessing. ─ An Stelle des
    Ästhetisch-Lächerlichen im achtzehnten Jahrhundert einerseits das
    Häßliche, Kleinliche, bloß Witzige vorherrschend, andrerseits
    an Stelle des Wohlgefälligen das Moralisierende, Rührselige.224─252
  • Abschnitt XV: Hauptvertreter dieser Richtung Gellert. Vergleich mit
    Hans Sachs ─ Grundgesetz der Epik die Nachahmung
    von Handlungen durch Erzählung.
    Ethischer und pathetischer
    Gesamtcharakter der Epik. ─ Verstandesreflexion und
    Moral der Epik widerstrebend; G. Schwabs „Johannes Kant“. ─
  • Seite
  • Herders moralische Erzählungen, die er Legenden nennt. ─ Die
    Legende.
    ─ Bestimmung der Faktoren, die für Auswahl und
    Komposition der Handlung in den Hauptgattungen der Epik maßgebend
    sind.252─268
  • Abschnitt XVI: Die idyllische Gattung. ─ Begriff der Größe der
    Handlung. ─ Heroisch=tragische Gattung. ─ Einfache und verwickelte
    Handlung. ─ Unglücklicher und glücklicher Ausgang. ─ Vollständigkeit
    und Einheit der epischen Handlung. ─ Volksepos und
    Kunstepos.268─280
  • Abschnitt XVII: Homer; Virgils „Aeneis“. ─ Das romantische Epos. Hartmann
    von Aue; Gottfried von Straßburgs „Tristan und Jsolde“;
    Wolfram von Eschenbachs „Parcival“. ─ Die Nibelungen.
    Die Frage der Liedertheorie.Einheit des Nibelungenliedes.280─308
  • Abschnitt XVIII: Entartung der romantischen Epik zum Phantastischen. ─
    Cervantes. Ariost. ─ Das komische Epos. Reineke Vos.
    Der Schwank. Goethes „Hans Sachsens poetische Sendung.“ ─
    Die komische Legende. Bürger. ─ Die satirisch=didaktischen Erzählungen
    des Mittelalters und des sechzehnten Jahrhunderts: Fabeln,
    Schwänke, Fabliaux,
    Novellen“. ─ Boccaccio. ─
    Chaucer. ─ Das spätere komische Epos.308─329
  • Abschnitt XIX: Das Drama. Gegenstand, Mittel, Art und Weise der
    dramatischen Nachahmung; ihre Vollständigkeit, Einheit. ─ Aufgabe
    des Dramas, die reinen Schicksalsempfindungen hervorzurufen.
    ─ Die „schicksalsvollste“ Handlung die dramatisch beste. ─
    Nicht Charakterschilderung sondern Handlung der Gegenstand des
    Dramas. ─ Verschiedenheit der epischen und dramatischen Handlungsnachahmung.
    ─ Das Tragische nicht immer auch dramatisch. ─
    Tragikomödie, Schäferspiel, Hirtengedicht, Singspiel, larmoyante
    Komödie, Schauspiel, dramatisches Gedicht. ─ Goethes „Stella
    Tragödie oder Schauspiel?329─358
  • Abschnitt XX: Grenzen des Tragischen in der dramatischen Poesie. ─
    Das Wesen des Schauspiels als einer eigenen dramatischen
    Gattung. ─ „Historien.“ ─ Die sogenannte „Jdee“ eines Dramas.
    ─ Shakespeares „Maß für Maß“, Kaufmann von Venedig“;
    Lessings „Minna von Barnhelm“. ─ Shakespeares „Sturmals
    Typus des Schauspiels.
    ─ Das „Wintermärchen“.358─393
  • Abschnitt XXI: Definition des Schauspiels. Sein Verhältnis
    zum Lustspiel und zur Tragödie. ─ Shakespeares „Richard III“;
    Schillers „Wilhelm Tell“; Lessings „Nathan der Weise“. ─ Das
    Element des Rührenden als Zweck dramatischer Nachahmung;
    Wesen und Entwickelung der comoedia commovens und des genre
    sérieux
    . ─ Voltaire und Diderot, in der Theorie und
    Produktion die Begründer der neuen Gattung. Dieselbe weder mit
    den Gesetzen des Schauspiels noch mit denen der Tragödie oder
    Komödie in Einklang.393─423
  • Abschnitt XXII: Die Tragödie. Lessing über die aristotelische Definition
    der Tragödie. ─ Der Kardinalfehler in Lessings Auffassung
  • Seite
  • derselben. ─ Verhältnis der aristotelischen Kunstanschauung zur
    Kantschen. ─ Goethe über die aristotelische Tragödienerklärung. ─
    Das Schöne der Natur und des koexistent oder successiv vorgetragenen
    Kunstwerks. ─ J. Bernays' Erklärung der tragischen
    Katharsis.
    ─ Die Bedeutung des Ausdrucks Katharsis bei Aristoteles.
    ─ „Läuterung“ nicht „Entladung“. ─ Die musikalische
    Katharsis. ─ Der Unterschied von Pathos und Pathema
    im aristotelischen Sprachgebrauch. ─ Bedeutung dieser Begriffe in
    Psychologie und Ethik des Aristoteles.423─451
  • Abschnitt XXIII: Die Katharsis als Aufgabe aller Kunst. ─ Die tragischen
    Affekte der Furcht und des Mitleids. ─ Lessings Auffassung
    der aristotelischen Definition derselben; sein Jrrtum.
    Die tragische Furcht und der Schicksalsbegriff. ─ Die
    Ödipustragödien des Sophokles; seine „Antigone“. ─ Das
    Dogma von dem „tragischen Konflikt der Pflichten“. ─ Lessings
    Emilia Galotti“; der Mangel des Stückes aus dem Fehler der
    Lessingschen Theorie hervorgehend. ─ Kuno Fischer über das tragisch
    Furchtbare. ─ Begriff der „tragischen Größe“. ─ Das bürgerliche
    Trauerspiel.
    ─ Shakespeares „Romeo“, „Othello“, die
    „Gretchen-Tragödie“ im Faust; dagegen „Miß Sara“, „Clavigo“,
    „Kabale und Liebe“.451─497
  • Abschnitt XXIV: Furcht und Mitleid in der klassischen Tragödie der
    Franzosen, in der späteren Entwickelung der deutschen Tragödie. ─
    Unentbehrlichkeit der tragischen Furcht neben dem tragischen Mitleid.
    ─ Mendelssohns Erklärung des Mitleids verfehlt. ─ Die
    tragische Hamartie.
    ─ Körperliches Leiden als tragischer Stoff. ─
    Der „Philoktet“ des Sophokles. ─ Das tragische Schicksal und
    der moderne Pessimismus. ─ Die Schicksalslösung in Goethes
    „Jphigenie“. Der deus ex machina im „Philoktet“. ─ „Schuld“
    und „Schicksal“ in der Tragödie.497─513
  • Abschnitt XXV: Resultate der Polemik gegen die Bernayssche
    Entladungstheorie.
    Lessings Jugendbriefe an Mendelssohn
    nicht Zeugnisse für, sondern gegen dieselbe. ─ Die Emotionstheorie
    des Abbé Dubos. ─ Begriff der „Jllusion“. ─ Furcht
    und Mitleid nicht mitgeteilte, sondern primäre Affekte. ─ Die
    kathartische Wirkung der Olymposlieder. ─ Die neuplatonische
    Bekämpfung
    der aristotelischen Katharsistheorie; die Beschwichtigungstheorie
    der Neuplatoniker. ─ Die psychologischästhetische
    Begründung der Bernaysschen Hypothese. Begriff der
    Ekstasis bei Aristoteles. ─ Die Katharsis das regulative
    Prinzip für die Komposition der Tragödie
    .514─538
  • Abschnitt XXVI: Schillers Abhandlungen „Über den Grund des
    Vergnügens an tragischen Gegenständen
    “. ─ Seine Theorie
    des „freien Vergnügens“; die Begründung desselben durch den
    Zweckmäßigkeitsbegriff“. ─ Die angeblich aristotelische Definition
    der Schönheit durch den Begriff der „Größe und Ordnung“.
    ─ Schillers Erklärung des „Rührenden“ und „Erha=
  • Seite
  • benen“ aus dem Sieg des Moralischen über das Sinnliche. ─
    Seine Beispiele nicht tragisch, sondern moralisch. „Timoleon“ und
    Shakespeares „Julius Cäsar“. ─ Jrrige Anwendung des Begriffs
    der „moralischen Lust“ auf die Kunst. ─ Schillers Unterschätzung
    der Komödie und seine Verkennung der griechischen Tragödie.
    ─ „Notwendigkeit“ und „Schicksal“.538─558
  • Abschnitt XXVII: Dergefesselte Prometheusdes Äschylus.
    Die antike Auffassung des tragischen Schicksals; ihr Gegensatz
    zu der dualistischen Weltauffassung. ─ K. Lehrs über den
    Prometheus des Äschylus.558─585
  • Abschnitt XXVIII: Schillers Abhängigkeit von Kant in der Theorie der
    Kunst. ─ Die Emanzipation seines poetischen Schaffens von den
    Jrrtümern seiner Spekulation. ─ Seine späteren Äußerungen über
    Tragödie und Drama, im Gegensatz zu der Egmont-Rezension von
    1788. ─ Schiller über das Symbolische in der Poesie.
    Die Abhandlung „über den Gebrauch des Chors in der
    Tragödie
    “. ─ DieBraut von Messina“.585─609
  • Abschnitt XXIX: Die „Choephoren“ und die „Eumeniden“ des
    Äschylus; die „Elektra“ des Sophokles; die „Elektra“ des
    Euripides. Shakespeares „Hamlet“.609─659
  • Abschnitt XXX: Die Komödie. Jhr Wesen und ihre Definition.
    Beweis, daß das in Cramers Anecdota Parisiensia überlieferte
    Fragment „Über die Komödie“ der aristotelischen Poetik
    entstammt. Kritik der Abhandlung von J. Bernays über dasselbe.
    ─ Die aristotelische Definition des Lachens. ─ „Lachen
    und „Freude“ die komischen Affekte. ─ Unterscheidung der Komödie
    von der Schmähung und dem Spott. Begriff der „Emphasis“.
    ─ Die Mimesis auf der „Energie“ der Darstellung beruhend.
    ─ Das „Ebenmaß“ des hedonischen und komischen Elementes
    in der Komödie. ─ Die komische Katharsis. ─ Die
    Phantastik in der Komödie. ─ Die komischen Charaktere; der
    aristotelische Begriff der „Jronie“ und der Humor. ─ Die verschiedenen
    Arten des komischen Ausdrucks und der komischen
    Handlungen
    659─700
  • Anhang: Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft in ihrem
    Verhältnis zur aristotelischen Philosophie
    .701─723
  • Register724─735
[E1]

Bei dem Versuche, die „Poetik“, als eine „Theorie der Dichtkunst“,
wissenschaftlich darzustellen, wird man es immer noch nicht
wagen können, den direkten Weg rein systematischer Begriffsentwickelung
einzuschlagen. Denn wie es hier an einem allgemein anerkannten
Grundprincip der theoretischen Betrachtung fehlt, so wäre auch jeder
Schritt jenes Weges mit einer Menge der dornigsten Probleme besät,
von denen keines ganz losgelöst von den Zeitverhältnissen und =Anschauungen,
die es in den Vordergrund drängten, und ganz unabhängig
von den verschiedenen Stadien der Erörterung, die es erfahren, erwogen,
ja nur verstanden werden kann. Der Gegenstand verlangt daher neben
der abstrakt=begrifflichen gebieterisch eine historisch=kritische Behandlung;
beide müssen eng verbunden werden und, wo möglich, sich gegenseitig
völlig durchdringen. Wie die theoretischen Begriffe der Poetik auf dem
Hintergrunde ihrer geschichtlichen Entwickelung angeschaut werden müssen,
so kann andrerseits die Darstellung der letzteren nirgends der kritischen
Prüfung entraten, und wieder, wie könnte diese in einheitlich zusammenhängender
und übereinstimmender Weise erfolgen, ohne daß eine gemeinsame
principielle Grundlage gewonnen würde, auf welche überall
die einzelnen Sätze zurückzuführen wären?

Nicht anders ist auch in der That der Komplex von Vorschriften,
Gesetzen, Definitionen und Beobachtungen entstanden, welchen wir mit
dem Namen einer deutschen Poetik bezeichnen. Da hierzu eine Vereinigung
von litterar=historischem Bewußtsein mit gelehrter Kritik und ästhetischer
Spekulation erfordert wurde, so zeigen sich die ersten Spuren
nicht vor dem Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Aber sowohl Opitz
und seine Mitstrebenden als die sehr zahlreichen nachfolgenden „Poetiken“
dieses Jahrhunderts haben für die Theorie der Dichtkunst sehr wenig
geleistet, sie beschränken sich fast ausschließlich auf Vorschriften für die
praktische Uebung der Poesie. Erst das „philosophische“ achtzehnte Jahrhundert
fand für die Lösung der Aufgabe die höheren und allgemeineren
Gesichtspunkte; anknüpfend an die kunst=philosophischen Schriften der [2]
Franzosen, Jtaliener und Engländer entstand in Deutschland der berühmte
litterarische Streit, der, obwohl im Grunde um wenige, vereinzelte
und verhältnismäßig untergeordnete Fragen sich bewegend, doch
die Veranlassung wurde, daß aus dem gesteigerten Jnteresse an der
litterarischen Kritik die Untersuchung nun den Aufschwung zu den höchsten
Zielen gewann: zu der Frage nach dem Wesen des Schönen überhaupt
und was in den einzelnen Künsten dafür zu gelten habe. Wenn schon
die Streitschriften der Schweizer diese Richtung eingeschlagen hatten, so
erfuhr um die Mitte des Jahrhunderts die neue Wissenschaft auf dem
Boden der Wolffschen Philosophie eine systematische Bearbeitung und
erhielt zugleich den Namen, den sie seither getragen hat, durch die
Aesthetica“ des Frankfurter Professor Baumgarten. Seine Schriften
und die seines Schülers und Anhängers Meier bildeten das Fundament,
auf welches noch eine lange Zeit die Untersuchungen über die Theorie
der Dichtung gegründet wurden. Aber bleibenden Wert und absolute
Geltung vermochten sie so wenig zu behaupten als die Wolffsche Philosophie
selbst, aus welcher ihre obersten Principien geschöpft waren. Die
Baumgartensche Theorie lieferte weder unmittelbar praktisch verwendbare
Gesetze und Regeln, welche direkt zur Bekämpfung der Mängel der
deutschen Dichtung, wie sie um die Mitte des Jahrhunderts sich entwickelt
hatte, geeignet gewesen wären, noch war sie tief genug gegründet, um
in den folgenden Jahrzehnten den ungemein erweiterten und bereicherten
Anschauungen vom Wesen der Poesie standhalten zu können.

Hier treten nun Lessing und Schiller ein, der eine auf der
Aristotelischen, der andere auf der Kantschen Philosophie Fuß
fassend. Soweit die heute geltende „Poetik“ auf einigermaßen festem
Boden steht, stützt sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf die von
Lessing und Schiller gewonnenen Resultate. Sie beginnt erst recht
eigentlich mit dem „Laokoon“, und der Laokoon mit der „Hamburgischen
Dramaturgie
“ liefert ihr noch heute den größten Teil
ihres Besitzstandes.

Eine historisch=kritische Darstellung der deutschen Poetik wird also
nicht umhin können sich zunächst mit den Fragen auseinanderzusetzen:
Wie weit sind die in den genannten Schriften aufgestellten Fundamentalsätze
noch heute in Geltung? Mit welchem Rechte sind sie zum Teil bestritten
oder bestreitbar? Sofern sie fehlerhaft sind, wo sind diese Fehler
zu suchen, in den Voraussetzungen oder in den Schlußfolgerungen? Jst
demnach die Methode der Untersuchung oder sind die Grundprincipien
zu verwerfen?

Mit einem Worte: ehe die eigentliche Darstellung begonnen werden [3]
kann, wird der Versuch zu machen sein, einen möglichst objektiven und
absoluten Maßstab der Beurteilung zu konstruieren, und jener Versuch
wird notwendig von der Prüfung jener mit Recht in ihren Hauptresultaten
als kanonisch geltenden Schriften seinen Ausgang nehmen müssen. Zunächst
also von Lessings Laokoon. Jn den folgenden einleitenden
Abschnitten soll dieser Versuch gemacht werden. ──────


I.

Mehr als ein Jahrhundert ist seit dem Erscheinen von Lessings
Laokoon verflossen, ohne daß die Zeit dem Ansehen und der Bedeutung
dieser Schrift etwas abzuziehen vermocht hätte. Eher könnte man, sieht
man die wachsende Litteratur an, die sich an den Laokoon knüpft, behaupten,
daß das Jnteresse an den darin behandelten Problemen und
namentlich an der Art ihrer Behandlung sich noch fortwährend steigert.
Das könnte nicht so sein, wenn diese Streitfragen einen sicheren Abschluß
gefunden hätten; statt dessen ist vielmehr unter allen Sätzen das Laokoon
kaum ein einziger, der, seit Herders erstem kritischen Wäldchen bis auf
den heutigen Tag, nicht fast ebenso viele Gegner als Verteidiger gefunden
hätte, und zwar so, daß die Polemik nicht allein Lessings specielle Auffassung
der Laokoongruppe trifft, sondern daß die wichtigsten Resultate
der Lessingschen Kunsttheorie vielfach geradezu negiert, andrerseits selbst
von den Verteidigern doch nur bedingt gelten gelassen werden. Ein mit
der höchsten Sorgfalt und Vollständigkeit entworfenes Bild des Standes
der Frage gibt nach allen Seiten hin die zweite Auflage von Blümners
Kommentar zum Laokoon.

Für alle Zeiten mustergültig ist die eben nur einem Lessing eigentümliche
Methode der kritisch=polemischen Untersuchung in dem merkwürdigen
Buche; hieraus zu lernen wird man so wenig aufhören, als
aus dem Besten, was das Altertum uns hinterlassen hat. Um so mehr
wird, sofern die Sätze des Laokoon die unbestrittene kanonische Geltung
nicht mehr besitzen, die Untersuchung sich auf die Voraussetzungen zu
wenden haben, von welchen Lessing darin ausgegangen ist.

Aber wo den Maßstab hernehmen, um die Kritik eines Lessing zu
prüfen? Wo die Autorität finden, der selbst ihm gegenüber eine objektive
und unbedingte Giltigkeit zuzuerkennen wäre?

Es gibt nur einen, dem dieses Ansehen unbestritten gebührt, und
für den Lessing selbst es am nachdrücklichsten gefordert hat: Aristoteles;
aber nicht allein mit seiner Poetik, sondern mit der Gesamtheit seiner [4]
Schriften, aus denen ja für jene erst das Verständnis gewonnen
werden kann.

„Die Poetik des Aristoteles ist das Fundament der Lessingschen
Aesthetik. Von dem Höhepunkt dieser Aesthetik, der Theorie des Tragischen,
ist diese Thatsache offen daliegend; sie ist aber eben so zweifellos
in betreff des allgemeinen Aufbaues dieser Wissenschaft wie er im Laokoon
vorliegt.“ So schreibt W. Dilthey in einem trefflichen Aufsatze „über
Gotth. Ephr. Lessing“ in den Preußischen Jahrbüchern 1867, und es wird
die Richtigkeit des Satzes wohl nicht bestritten werden.

Dagegen ist die folgende Stelle desselben Aufsatzes geeignet eine
Reihe von Bedenken hervorzurufen: „Das Rätsel des Schönen und der
Kunst ist durch drei ganz verschiedene Untersuchungsweisen in Deutschland
der Erörterung unterworfen worden. Der Aristotelische Gedanke
einer Technik der Künste, d. h. einer Untersuchung der Mittel, vermöge
deren sie die höchsten Wirkungen hervorrufen, herrschte bei Kant. Durch
Kant trat die Verfassung des produzierenden Genies selber in den Vordergrund;
der tiefe Gedanke von einer besondern Art des Genies die Welt
aufzufassen ward durch ihn, Schiller und Fichte, die Romantiker und
folgenden Philosophen fortgebildet und in seine historischen Konsequenzen
verfolgt. Das Studium der physiologischen Bedingungen hat dann den
gegenwärtigen Arbeiten ein ganz neues Fundament gegeben.“

Diese Sätze enthalten manche Unklarheit; vor allem aber muß dagegen
Verwahrung eingelegt werden, daß in jenen „drei ganz verschiedenen
Untersuchungsweisen“ eine Steigerung enthalten sei, hinsichtlich ihrer
Fähigkeit das „Rätsel des Schönen und der Kunst“ zu lösen, ja daß sie
in dieser Beziehung auch nur als gleichberechtigt einander koordiniert
werden dürften. Eher noch möchte die Steigerung im umgekehrten Verhältnisse
stattfinden. Untersuchungen über Symmetrie und Proportion,
wie z. B. der empirische Erweis, daß das Verhältnis des goldenen
Schnittes uns besonders wohlgefällig sei und daher überall im Kunstgewerbe
eine vorzugsweise Anwendung finde, ferner über Harmonie,
Farbenmodulation und Aehnliches können bis auf einen gewissen Grad den
Nachweis führen, daß manches unsern Sinnen Angenehme (ἡδεῖα)
sich als auf bestimmte mathematische und arithmetische Verhältnisse, auf
die physikalische Natur des Klanges oder der Farbenerscheinung, zugleich
auf die Physiologie unseres Organismus gegründet, als natürliches Postulat
der Einrichtung unserer Sinneswerkzeuge ergibt. Aber da, wo das
eigentliche Gebiet der Kunst erst beginnt, mit den ethischen Eindrücken,
da also, wo es gilt, vermittelst jener angenehmen Sinneseindrücke
zusammenhängende, bewußt empfundene Seelenvorgänge höherer [5]
Art, wie sie die Seele bevorzugter Menschen bewegten, nun auch in den
Seelen der übrigen Menschen hervorzurufen, da hören alle Resultate jener
Untersuchungsmethode längst auf. So wichtig z. B. die berühmten Helmholtzschen
optischen und akustischen Entdeckungen für die Wissenschaft sind,
so haben sie für die Ausübung und auch für die Betrachtung der musikalischen
und malerischen Kunst doch kaum einen andern Wert als das
Apercü der Pythagoräischen Zahlentheorie. Diese ganze, vielfach jetzt
so hoch gepriesene Methode kann es höchstens zu äußerlichen Resultaten
bringen und auch hier nur dazu, einzelne von der Praxis längst oder
von jeher geübte Handgriffe und immer befolgte äußere Elementargesetze
nun noch als durch die physikalische Wissenschaft bestätigt und mit physiologischen
Erfahrungen in Uebereinstimmung aufzuzeigen.

Auch die zweite von Dilthey namhaft gemachte „Untersuchungsweise“
ist weit davon entfernt, die erste, Aristotelisch-Lessingsche zu überbieten,
oder auch nur ihr gleichgestellt werden zu können. „Die Verfassung
des produzierenden Genies selbst,“ „der tiefe Gedanke von einer besondern
Art des Genies die Welt aufzufassen“ ─ es ist nicht mit völliger Deutlichkeit
zu erkennen, was damit für die theoretische Kunstbetrachtung
specifisch Unterscheidendes gesagt sein soll. Genies hat es zu allen Zeiten
gegeben, und zu allen Zeiten hat nicht allein ein jedes seine besondere
Art gehabt die Welt anzusehen und wiederzuspiegeln, sondern solange
es etwas Aehnliches wie Kunstbetrachtung gibt, hat sie gerade von dem
Eigenartigen, welches das einzelne Genie charakteristisch in dieser Beziehung
auszeichnete, ihren Anfang genommen. Daß eine räsonnierende
Kunstphilosophie von diesem Gesichtspunkte aus, namentlich wenn sie in
historischer Ueberschau die Epochen und Zeitalter vergleichend ins Auge
faßt, eine Menge interessanter Beobachtungen anstellen kann, ist gewiß,
und von denen, die Dilthey nennt, hat Schiller hierin den schärfsten
Blick und die großartigste Auffassungsweise entwickelt. Er hat auch noch
mehr gethan: er hat in solcher Betrachtung die Wege gefunden, „das
Rätsel des Schönen und der Kunst“ in seiner Lösung höchst wesentlich
zu fördern. Aber wie anders konnte dies geschehen, als daß durch solche
vergleichende Erforschung des Genies eben nur neues Material vermittelt
wurde, Gesetze der Kunsttechnik aufzufinden, Regeln und Vorschriften
für die einzelnen Künste aufzustellen; wie anders, als daß „die Mittel
untersucht wurden, vermöge deren sie die höchsten Wirkungen hervorrufen,“
d. h. also, wie anders als in derselben Weise, in der eben
Aristoteles und Lessing die Kunst oder vielmehr die Künste untersucht
haben. Und ist Lessing nicht auf demselben Wege dazu gelangt
wie Schiller? Jst etwa in der Hamburgischen Dramaturgie nicht der [6]
„tiefe Gedanke“ enthalten „von einer besondern Art,“ wie die französischen
Tragiker und die Griechen die Welt auffassen und wie die
spanischen Dramatiker und wie etwa ein Shakespeare?

Kurz, es gibt nur eine Art der Kunstbetrachtung, welche zu positiven
Resultaten führt, und das ist die Aristotelisch-Lessingsche! Wie in
ihr alle übrigen zusammenlaufen und sie fähig ist alle andern in sich aufzunehmen
und sich dienstbar zu machen, so muß eine jede andere, sobald
sie zu ihrem eigentlichen Zwecke gelangt, die Konsequenzen zu ziehen, sich
ihrer bedienen. Eine Technik der Kunst aufzustellen, die Mittel
ihrer höchsten Wirkung
zu bezeichnen, darauf kommt alles an, und
hier haben Aristoteles und Lessing für alle Zeiten das mustergültige
Beispiel gegeben. Jhre Methode ist die einzig wahre und fruchtbare,
unübertroffen und unvergänglich!

Jeder Versuch von einem Princip, einer Definition des Schönen
ausgehend, die einzelnen Künste zu erforschen und ihnen Regeln zu stellen
─ des absolut Schönen oder wie es dem einzelnen Genie oder einzelnen
Nationen und Epochen erschien ─ muß scheitern. Der Begriff dessen,
was in den einzelnen Künsten schön sei, kann sich für die theoretische
Erkenntnis umgekehrt erst aus den richtig erkannten technischen Gesetzen
derselben ergeben; ja die Theorie des Schönen überhaupt wird, wenn
sie nicht in subjektive und leere Abstraktionen sich verlieren oder mit
einzelnen ganz allgemeinen Bestimmungen sich begnügen soll, diesen Weg
einschlagen müssen. Auch das Naturschöne wird schlechterdings nicht
anders theoretisch erkannt und beurteilt werden können, als indem
der Umweg durch die Erkenntnis des Kunstschönen genommen wird,
und nur der Ueberblick über die Gesamtheit der technischen Grundgesetze
der einzelnen Künste wird diese Erkenntnis in ihrem vollen Umfange
herbeiführen können.

Für die Begründung aber einer solchen Erkenntnis hat das Altertum
und vor allen Aristoteles bei weitem mehr gethan, als die
neuere nnd neueste Kritik anerkennen will. Noch in der erwähnten zweiten
Auflage seines Laokoon-Kommentars, in welchem überall das Bestreben
vorwaltet den heutigen Stand der Kritik zu resümieren, findet Blümner,
daß „eine wirkliche Theorie der Künste, ein ästhetisches System, wenn
man es so nennen soll, niemals bei den Alten existiert hat.“ „Wir sind
gewöhnt,“ fährt er weiterhin zur Begründung fort, „die Werke der Kunst
als Schöpfungen der frei waltenden Phantasie zu betrachten; wie fremdartig
muß es uns daher anmuten, wenn wir sehen, daß das gesamte
Altertum, indem es die Künste als nachahmende bezeichnete, ihnen
eine, wie es zunächst scheinen könnte, niedrigere Stufe anwies, sie aus [7]
dem Gebiete des Jdealen in die gemeinere Sphäre der Wirklichkeit herabdrückte.“
Das einzige aber, was er zur Abwehr der grob=realistischen
Auffassung der Nachahmungstheorie des Aristoteles anführt, ist dieses,
„daß, wenn die Alten die Künste als nachahmende bezeichnen, sie als
Gegenstände der Nachahmung nicht etwa allein die Objekte der
wirklichen, uns umgebenden materiellen Welt verstehen, sondern
auch, ja vornehmlich
jene idealen Formen, welche nicht willkürlich
erfundene, abstrakte Vorstellungen sind, sondern auf der Grundlage einer
ununterbrochenen lebendigen Naturanschauung beruhen.“ Jn der umfangreichen
Einleitung, in welcher Blümner die Vorgeschichte des Laokoon=
Problems gibt, ist denn auch Aristoteles mit einigen wenigen, ganz
allgemein gehaltenen und zwar sehr anfechtbaren Sätzen abgethan.

Eine Behauptung wie die folgende, so oft sie auch ausgesprochen
und nachgeschrieben ist, sollte doch in einem so vorzüglichen Werke wie
das Blümnersche keine Stelle finden: Aristoteles habe den Begriff der
Nachahmung beibehalten, „weil er die psychologische Erklärung des Ursprungs
der höheren Kunstthätigkeit und der Wirkungen, welche
die Werke der Kunst auf die Seele ausüben,
vornehmlich in der
nachahmenden Natur fand. Dem Menschen ist ebenso der Trieb zum
Nachahmen eingepflanzt, als die Lust am Nachgeahmten, und dies erklärt
ebenso die Entstehung der nachahmenden Künste, als das Vergnügen,
welches ihre Schöpfungen bereiten.
“ Das ist natürlich mit Berufung
auf das vierte Kapitel der Poetik gesagt; aber wie kann man
denn übersehen, daß in diesem Kapitel gar nicht von der künstlerischen
Nachahmung die Rede ist, weder von der poetischen,
noch von einer andern kunstgemäßen, sondern von den in der Natur
des Menschen liegenden Ursachen (αἰτίαι φυσικαί), die als die erste
Veranlassung anzusehen sind, wie er überhaupt zu einer bildnerischen
─ poietischen ─ Thätigkeit den Weg hat finden können; denen die
ersten rohen und zufälligen Versuche
(αὐτοσχεδιάσματα) zuzuschreiben
sind, in welchen dann eine spätere Zeit die Antriebe für die
allmähliche Fortentwickelung zur Kunst gefunden hat!

Mit ganz demselben Recht kann man mit dem Hinweise auf jenes
vierte Kapitel und noch vielleicht auf die verwandte Stelle in der Rhetorik
(Buch I. K. 11. 1371, b 4) behaupten ─ und leider ist ja auch
dieses oft geschehen ─, daß nach Aristoteles die Freude, welche die Kunst
hervorbringe, auf der Erkenntnis (μανθάνειν) und der Verwunderung
(θαυμάζειν) beruhe. Jn die empirische Aufzählung dessen, woran die
Menschen sich erfreuen, wie sie an jener Stelle der Rhetorik gegeben
wird, gehört auch diese Freude an der Nachahmung als solcher, an der [8]
bloßen wohlgelungenen Nachahmung, mag auch das Nachgeahmte an sich
selbst unerfreulich sein; auch hatte Aristoteles gewiß recht in ihr die
zweite natürliche Ursache zu finden (wie es im vierten Kapitel der Poetik geschieht),
welche die primitiven Vorübungen zur Kunstthätigkeit veranlaßte.
Aber diese Freude geht nicht aus dem Jnhalte der Nachahmung hervor,
sondern aus dem bei einer jeden Nachahmung stattfindenden Schluß,
„daß dieses jenes sei“, sie kann also auch wohl durch das echte Kunstwerk
erregt werden, aber als eine nebensächliche und ganz untergeordnete;
mit der Freude am Kunstschönen, mit der von jeder einzelnen Kunst
in besonderer Weise erweckten, ihr ganz eigenen, allein durch sie
bezweckten und erzeugten Freude (οἰκεία ἡδονή) hat jene nicht das
Geringste zu schaffen.

Und doch hat auch Lessing nicht allein den Begriff der Nachahmung
von Aristoteles übernommen, sondern auf dem Grundsteine dieses Begriffes
ruht die ganze Untersuchung seines Laokoon. Nur auf der
Voraussetzung dieses Grundbegriffes hat die ganze von Aristoteles entlehnte
Einteilung und Unterscheidung der Künste nach den Gegenständen
der Nachahmung, nach den Mitteln, mit welchen sie erfolgt
und somit nach der Art und Weise, wie sie einzurichten ist, ihren Sinn
und Bestand. Ein Fehler also, eine Unklarheit in der Auffassung dieses
Fundamentalbegriffes muß notwendig, wenn auch noch so versteckt, in
seinen Konsequenzen sich durch alle Teile der Untersuchung bis in ihre
äußersten Zweige fühlbar machen.

Nun ist freilich Lessing von der trivialen naturalistischen Fassung
des Begriffes der Nachahmung so weit entfernt gewesen, daß es ihm
nicht einmal in den Sinn kam sich dagegen zu verwahren; auch jene
oberflächliche Erklärung des Begriffes aus dem bloßen Naturtrieb und
der Freude am Wiedererkennen konnte sich mit der ihm eigenen Auffassung
der Kunst und ihrer Bestimmung nimmermehr vertragen; aber
─ wie hat denn nun er dieses Fundamentalprincip der „Nachahmung“,
der Aristotelischen Mimesis, definiert? Offenbar erschien ihm eine allgemeine
Definition überflüssig und er ließ es daher zunächst bei dem
herkömmlichen Sprachgebrauch des deutschen Wortes „Nachahmung“ sein
Bewenden haben, ohne sich a priori auf die Ermittelung des Objektes
und der Art und Weise dieser Nachahmung einzulassen. Er meinte
wohl, daß beides, also der specifische Jnhalt dieses Terminus für das
Kunstgebiet, erst als das Resultat der Untersuchungen über die
einzelnen Künste
für jede derselben festgestellt werden könnte.

Es ist klar, daß dieses Verfahren logisch nicht richtig war; denn
wie sollte Sicherheit und Uebereinstimmung in den Einzelunterscheidungen [9]
vorhanden sein, wenn nicht das Gemeinsame, für die Kunst als solche
überall in gleicher Weise Geltende, welches die Gesamtheit ihrer Aeußerungen
als gesetzgebendes Princip beherrscht, erkannt und in fester Begrenzung
dargestellt ist?

Ein solches Grundprincip ist in dem Aristotelischen Begriff der
Nachahmung“ gegeben, in der Lehre, daß alle Kunst auf der „Mimesis
beruhe. Daß Lessing es versäumte, in der sonst von ihm geübten
Weise diesen überaus wichtigen Begriff der genauesten Zergliederung und
seine Grundlagen der weitgehendsten Durchforschung zu unterziehen, hat
dann zur notwendigen Folge gehabt, daß er im Laokoon, ganz anders
als in der Hamburgischen Dramaturgie, obwohl von der Einteilung des
Aristoteles ausgehend, im weiteren Verlaufe die ungemeine Fruchtbarkeit
derselben im wesentlichen fast ganz unbenutzt gelassen hat, und obwohl
in der Methode ihm treu bleibend, in den Resultaten von seiner Spur
weit abgewichen ist.

Liegt aber im Laokoon eine derartige Jnkonsequenz zu Grunde, so
werden sich daraus nicht allein Abweichungen von des Aristoteles Sätzen
und Meinungen ergeben haben, sondern auch ganz ohne Rücksicht auf
diesen eine Anzahl unrichtiger Schlüsse, welche als solche an und für
sich
erkennbar sein müssen. Da der Laokoon das Hauptstück, ja das
eigentliche Fundament der geltenden Theorie der Dichtkunst ist, so wird
die Untersuchung dieser Frage einem jeden Versuch, dieselbe kritisch darzustellen,
schlechterdings vorangehen müssen. ──────


II.

Jm sechzehnten Abschnitt faßt Lessing die Resultate der vorhergehenden
Untersuchungen in die berühmten Sätze zusammen, welche den
Schwerpunkt des ganzen Laokoon enthalten:

„Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen
ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als die Poesie; jene nämlich
Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der
Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten
haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch
nur Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren,
aufeinander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken,
die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen.“

„Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander
existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften
die eigentlichen Gegenstände der Malerei.“

[10]

Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander
folgen, heißen überhaupt Handlungen.
Folglich sind
Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“

„Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern
auch in der Zeit. Sie dauern fort und können in jedem Augenblicke
ihrer Dauer anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede
dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung
einer vorhergehenden und kann die Ursache einer folgenden und sonach
gleichsam das Centrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei
auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper.“

„Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen,
sondern müssen gewissen Wesen anhangen. Jnsofern nun diese
Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie
auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.“

Der Hauptbegriff, auf dessen Definition sich diese ganze Theorie
stützt, ist der Begriff der Handlung und in diesem liegt auch zu einem
wesentlichen Teile das Jrrtümliche derselben. Offenbar mit sorgfältigem
Vorbedacht hat Lessing diesem Begriffe, durch den die Poesie in der
schärfsten Weise von der Malerei geschieden werden sollte, im Laokoon
die weiteste Fassung gegeben, um ihn dadurch fähig zu machen das ganze
Gebiet der Poesie einzuschließen. Das ergibt sich auf das deutlichste,
sobald man die hier gegebene Definition mit den an andern Stellen von
Lessing formulierten vergleicht. Ja, er ist in den Entwürfen zum
Laokoon sogar noch weiter gegangen; heißt es im Abschnitt XVI: „Handlungen
sind der Gegenstand der Poesie,“ so schrieb er damals nach Mendelssohns
Vorschlag:1 „Nach dem, was wir in unsern mündlichen Unterredungen
ausgemacht haben, verbessere ich meine Einteilung der Gegenstände
der poetischen und der eigentlichen Malerei folgendergestalt:

Die Malerei schildert Körper und, andeutungsweise durch
Körper, Bewegungen.

„Die Poesie schildert Bewegungen und, andeutungsweise durch
Bewegungen, Körper.

„Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck abzielen,
heißt eine Handlung.

„Diese Reihe von Bewegungen ist entweder in demselben Körper,
oder in verschiedenen Körpern verteilt. Jst sie in eben demselben Körper,
so will ich es eine einfache Handlung nennen, und eine kollektive
Handlung,
wenn sie in mehreren Körpern verteilt ist.“

[11]

Jhm schien also der Begriff „Handlung“ damals noch zu enge
und er wählte den allgemeineren „Bewegung“, weil bei diesem das
Moment der Einheit fehlt. Mit der hier gegebenen Definition wiederholte
er fast wörtlich die bekannte, in den Abhandlungen über die Fabel1
zu Grunde gelegte: „Eine Handlung ist eine Folge von Veränderungen,
die zusammen ein Ganzes ausmachen. Diese Einheit des Ganzen beruht
auf der Uebereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke.“ Er
betont im Fortgange noch besonders, daß zu der Handlung eine Folge
von Veränderungen
erfordert werde; eine einzelne oder auch
mehrere, die aber nebeneinander bestehen und nicht aufeinander
folgen,
reichen nicht aus; sie würden sich ganz malen lassen
und damit wäre die untrügliche Probe gegeben, daß sie nur vermeintlich
als Handlung angesehen würden, in Wirklichkeit nur ein
Bild seien.

Wenn er bei der Ausarbeitung des ersten Teiles seines Laokoon
nun doch zu dem Ausdrucke „Handlung“ zurückkehrte, so geschah es,
weil er die Unterscheidung zwischen einfachen und kollektiven Handlungen
für den zweiten Teil sich vorbehalten und für den ersten, allgemeiner
gehaltenen, nur den Begriff eines Komplexes von Veränderungs= oder
Bewegungsmomenten ohne irgend welche nähere Präcisierung setzen
wollte. Er ließ sogar die Forderung der Einheit fallen; auf nichts
weiteres sollte es ankommen als auf das Moment der Zeitfolge,
der Succession. Selbst die ganz unentbehrlich scheinende Bestimmung,
daß es „Veränderungen“ sein müssen, als deren „Folge“ sich die
Handlung darstellt, kommt nicht zum Ausdruck; statt dessen wird der
denkbar allgemeinste Terminus gewählt: „Folge von Gegenständen
oder deren Teilen.

Völlig selbstverständlich ist es, zum Ueberfluß auch noch durch die
bekannte Stelle aus den Abhandlungen über die Fabel zu erhärten, daß
es Lessing nicht einfallen konnte, sich diese „Folge von Gegenständen“,
unter denen schlechterdings ja doch nur „Veränderungen“ oder „Bewegungen
verstanden werden können, auf die Körperwelt eingeschränkt
zu denken, sondern daß er sich dieselbe auf das geistige Gebiet im weitesten
Sinne ausgedehnt dachte: „auch jeder innere Kampf von Leidenschaften,
jede Folge von verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt,“2
ist ihm eine Handlung.

So ist es denn auch nicht angänglich den Lessingschen Begriff der [12]
Handlung gegen Herders Polemik im 16. Abschnitt des ersten kritischen
Wäldchens ins Feld zu führen.

Herder erkennt an, daß die bildenden Künste im Raume wirken,
aber er leugnet entschieden Lessings Antithese, daß die Poesie in der
Zeitfolge
wirke: nicht in der Zeit, sondern durch die Zeitfolge
wirke sie, das Mittel dieser Wirkung sei in der Poesie die Kraft; somit
seien die Künste der Zeitfolge, Musik und Poesie als die Künste der
Energie zu bezeichnen. Die Kraft, die den Worten beiwohnt, welche
unmittelbar auf die Seele wirkt,ist das Wesen der Poesie,
nicht aber das Koexistente oder die Succession
“.1 Diesen von
Herder vermißten Begriff der Kraft meint Blümner in dem Begriff der
Einheit der Handlung als gegeben zu finden und mit diesem einen
Schlage Herders ganze Argumentation in Nichts aufzulösen; als ob,
auch abgesehen davon, daß Lessing die Forderung der Einheit im Laokoon
geflissentlich beiseite gelassen, der weitere Begriff „eine Folge von
Gegenständen oder Veränderungen“ oder der engere „eine einheitliche
Gruppe daraus“ das Geringste daran änderte, daß Lessing auf den Unterschied
des Koexistenten in der Malerei und des Successiven in der
Poesie seine gesamte Schlußfolgerung gründet, und grade dieses ist es ja,
wogegen Herders Polemik sich richtet!

Dennoch ist Herders Einwand falsch; aber der Fehler liegt an
einer ganz andern Stelle. Auch Herder geht in die Jrre, weil er versäumt
hat von der Mimesis sich eine scharf bestimmte Vorstellung zu
machen. Hier freilich läßt sich die Schiefheit seiner Argumente mit zwei
Worten erweisen: sie liegt in dem doppelsinnigen Gebrauch des Verbums
wirken“.

Die Künste „wirken durch dieses oder jenes“ kann einmal
bedeuten: sie vollziehen ihr Geschäft; so ist es bei Lessing gemeint,
wenn er sagt, die Malerei wirkt im Raume durch Figuren und
Farben, die Poesie in der Zeit durch artikulierte Töne. Sodann aber
kann es heißen: sie erzeugen Wirkungen in der Seele des
empfangenden Menschen, sie bringen Vorstellungen hervor,
welche sein Empfindungsvermögen der Absicht des Künstlers
gemäß afficieren.
Das eine Mal ist die Frage: welche technischen
Mittel treten in den einzelnen Künsten in Aktion? und das
andere Mal: welchen ästhetischen Erfolg bringt die Aktion dieser
Mittel hervor? Durch die Erkenntnis dieses Sophismas wird Herders
gesamte Schlußfolgerung in dieser Frage über den Haufen geworfen; [13]
seine Argumentation läßt sich nun in ihr direktes Gegenteil verkehren,
alles von den „Wirkungen“ der Poesie Gesagte mit eben demselben Rechte
auf die Malerei anwenden. Lediglich nebeneinander gestellte, koexistierende,
Figuren und Farben „wirken“ gerade so wenig „künstlerisch“ als
lediglich aufeinander folgende Worte und Klänge. „Das Wohlgefallen
an dem Anblick des Koexistierenden, die Wirkung der Kunst, die
Seele, die den Figuren und Farben einwohnt, der Sinn, der durch die
künstlerische Absicht in sie hineingelegt wird, ist alles. Durch diesen
Sinn der Figuren und Farben wirkt die Malerei erst auf die Seele.
Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen, die einmal den
Körpern beiwohnt, Kraft, die zwar durch das Auge eingeht, aber unmittelbar
auf die Seele wirkt. Diese Kraft ist das Wesen der Malerei,
nicht aber das Koexistente oder Successive.1

Es ließe sich diese Parodierung durch den ganzen Abschnitt und
alles daraus Folgende durchführen. Jene Wirkungskraft ist in der
Sphäre des Koexistenten so unentbehrlich wie in der des Successiven,
ohne sie ist ein Kunstwerk nicht denkbar;2 aber was hat dieser an sich
unzweifelhafte Satz mit Lessings Einteilung zu schaffen, welcher die
äußeren Mittel der bildnerischen und poetischen Technik nach ihrer
äußerlichen Grundverschiedenheit voneinander sondert? und welcher
den fortschreitenden Mitteln der Poesie das homogene Gebiet sich in der
Zeit vollziehender Veränderungen, also einer Folge von Darstellungsobjekten
zuweist, deren Nachahmung um so anschaulicher sich gestalten
wird, je mehr sie ihrer Natur nach nur als aufeinander folgend gedacht
werden können, und um so weniger anschaulich, je mehr diese
Darstellungsobjekte ihrer Natur nach als koexistent vorgestellt werden
müssen? Wenn Herder behauptet, die Ursache „Succession verhindert
Körper zu schildern“ treffe auf jede Rede, da jede Rede in solchem Falle
nicht das Definitum als ein Wort verständlich, sondern als eine Sache
anschauend machen wolle, auch z. B. die Beschreibung des Kräuterlehrers,
so irrt er wieder. Eben die Anschauung kann ein solcher entbehren,
er setzt sie voraus, der Dichter aber muß sie erst hervorbringen.

Hier hatten wir es mit Herder, dem Dialektiker, zu thun, und wie
oft hat dieser geirrt! Aber folgen wir ihm auf sein eigentliches Feld,
hören wir den dichterischen Kritiker, den Mann voll feinster Empfindung
für alles Große und für jede zarteste Nüance der Poesie!

„Fortschreitung ist die Seele des Homerischen Epos; sie ist das [14]
Wesen seines Gedichts, der Körper der epischen Handlung; in jedem
Zuge ihres Werdens muß Energie, der Zweck Homers, liegen.“1 ....

„Nun aber ist Homer nicht der einzige Dichter; es gab bald nach
ihm einen Tyrtäus, Anakreon, Pindarus, Aeschylus u. s. w. Sein
ἔπος, seine fortgehende Erzählung, verwandelte sich mehr und mehr in
ein μέλος, in ein Gesangartiges, und darauf in ein εἶδος, in ein
Gemälde; Gattungen die noch aber immer Poesie blieben. Ein Sänger
(μελοποιός) und ein lyrischer Maler (εἰδοποιός), Anakreon und Pindar,
stehe also gegen den Geschichtsdichter (ἐποποιός) Homer“ ...

„Homer dichtet erzählend: ‚Es geschah! es ward!‘ Bei ihm kann
also alles Handlung sein und muß zur Handlung eilen. Hierhin strebt
die Energie seiner Muse; wunderbare, rührende Begebenheiten sind seine
Welt. Er hat das Schöpfungswort ‚Es ward!‘“

„Anakreon schwebt zwischen Gesang und Erzählung; seine Erzählung
wird ein Liedchen; sein Liedchen ein ἔπος des Liebesgottes.
Er kann also seine Wendung ‚Es war!‘ oder ‚Jch will‘ oder
‚Du sollst‘ haben ─ genug, wenn sein μέλος von Lust und Freude
schallt; eine frohe Empfindung ist die Energie, die Muse jedes seiner
Gesänge.“

„Pindar hat ein großes lyrisches Gemälde, ein labyrinthisches
Odengebäude im Sinne, das eben durch anscheinende Ausschweifungen,
durch Nebenfiguren in mancherlei Licht ein energisches Ganzes werden,
wo kein Teil für sich, wo jeder auf das Ganze geordnet erscheinen soll:
ein εἶδος, ein poetisches Gemälde, bei dem überall schon der Künstler,
nicht die Kunst, sichtbar ist. Jch singe!“

„Wo mag nun Vergleichung stattfinden? Das Jdeal-Ganze Homers,
Anakreons, Pindars, wie verschieden! wie ungleich das Werk, worauf
sie arbeiten! Der eine will nichts als dichten: er erzählt, er
bezaubert; das Ganze der Begebenheit ist sein Werk; er ist ein Dichter
voriger Zeiten. Der andre will nicht sprechen, aus ihm singt die Freude;
der Ausdruck einer lieblichen Empfindung ist sein Ganzes. Der dritte
spricht selbst, damit man ihn höre: das Ganze seiner Ode ist ein Gebäude
mit Symmetrie und hoher Kunst. Kann jeder seinen Zweck auf
seine Art erreichen, mir sein Ganzes vollkommen darstellen, mich in
dieser Anschauung
täuschen ─ was will ich mehr?“

.... „Alles muß indessen innerhalb seiner Grenzen, aus seinen
Mitteln und seinen Zwecken beurteilt werden. Keine Pindarische Ode
also als eine Epopöe, der das Fortschreitende fehle; kein Lied als ein [15]
Bild, dem der Umriß mangele; kein Lehrgedicht als eine Fabel und kein
Fabelgedicht als beschreibende Poesie.“

.... „Jch zittre vor dem Blutbade, das die Sätze: ‚Handlungen
sind die eigentlichen Gegenstände der Poesie; Poesie schildert Körper,
aber nur andeutungsweise durch Handlungen, jede Sache nur mit einem
Zuge‘ u. s. w. unter alten und neuen Poeten anrichten müssen. Herr
Lessing hätte nicht bekennen dürfen, daß ihn die Praxis Homers darauf
gebracht; man sieht es einem jeden beinahe an, und kaum ─ kaum
bleibt der einige Homer alsdann Dichter. Von Tyrtäus bis Gleim
und von Gleim wieder nach Anakreon zurück, von Ossian zu
Milton und von Klopstock zu Virgil wird aufgeräumt ─ erschreckliche
Lücke! der dogmatischen, der malenden, der Jdyllendichter nicht zu
gedenken.“

Nach seiner Weise läßt Herder hier der stürmischen Rhetorik den
Vorrang vor der festgegründeten Beweisführung. Aber was soll dieser
siegenden Beredsamkeit gegenüber ein Einwand wie der Blümners, der
nicht einmal ein halber Einwand ist: „Für Lessing handelte es sich ja
im Laokoon gar nicht um die Lyrik, sondern vornehmlich um das Epos;
dann aber darf man nicht vergessen, daß ja auch jede Bewegung des
Gemüts ─ und diese sind doch der Gegenstand der Lyrik ─ eine Handlung
ist!“1 Lessing exemplificiert vom Epos, aber er macht Gesetze für
die gesamte Poesie: und Lessing sagt in den Fabelabhandlungen keineswegs,
daß „jede Bewegung des Gemütes eine Handlung sei“, was sehr
unrichtig wäre, sondern er behauptet das von „jedem innern Kampf
von Leidenschaften, jeder Folge von Gedanken, wo eine die andere
aufhebt“, was etwas ganz Verschiedenes ist. Eine jede „Bewegung“ des
Gemütes (affectus, πάθος) ist ein Veränderungsvorgang im Vergleich
zur völligen Ruhe oder zu einer andern, vorangehenden Erregung; doch
kann er als solcher nun durchaus einheitlich, stationär und kontinuierlich
sein. Das wesentlich charakterisierende Moment der Handlung, die
Folge von „Gegenständen“ oder Veränderungen haftet der „Bewegung
des Gemütes als solcher keineswegs an; die einzelne Gemütserregung
oder Bewegung für sich steht vielmehr zu dem Begriff der Handlung in
demselben Gegensatze wie die einfachen Teile zu dem Begriff des zusammengesetzten
Ganzen. Erst aus dem „innern Kampf der Leidenschaften“,
erst aus „der Folge der Gedanken“ und aus dem Zusammenstoße
beider, wo sie abwechseln und „einander gegenseitig aufheben“, entsteht
das, was Lessing als geistige Handlung mit vollstem Rechte bezeichnet.

[16]

Wohlgemerkt, in der Abhandlung über die Fabel! Jm Laokoon
begnügt er sich, einzig und allein das Moment der Succession hervorzuheben.
Sehr seltsam! Blümner bemüht sich zu beweisen, „daß Lessing
den Begriff der Handlung nicht im entferntesten so eng zog, als es
nach seiner Definition im Laokoon scheinen könnte“1 und in Wahrheit
ist der Kardinalfehler dieser Definition, daß sie in jedem Betracht viel
zu weit
gefaßt ist. Aber mag der Ausdruck und seine Definition
beiseite bleiben, halten wir uns an das, was Lessing damit im
Sinn hatte!

Der Jnhalt der poetischen Nachahmung soll das Successive sein:
Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen!

Hierin, in diesem weitesten Umfange, soll also alles beschlossen
sein, wovon der Dichter uns zu singen und zu sagen hat: die gesamte
äußere Welt, von tausend Kräften bewegt, durch die Thaten und Kämpfe
der Menschen gestaltet und bedingt, die erregten Leidenschaften, die
streitenden Empfindungen, die auf und ab wogenden Seelenstimmungen,
aus denen jene erwachsen; überall Leben und Bewegung, eine unendliche
Reihe sich kreuzender, sich aufhebender oder sich kombinierender, immer
aber eben in ihrer Folge wirksamer Veränderungen!

Es springt in die Augen, daß diese Auffassung der dichterischen
Aufgabe vornehmlich vom Epos und vom Drama abstrahiert ist; es ist
zu untersuchen, ob und inwieweit die Lyrik darin Platz findet. Zuvor
aber muß hier eine wesentliche Unterscheidung gemacht werden, die für
den ganzen Fortgang der Untersuchung von großer Wichtigkeit ist. Der
deutsche Sprachgebrauch ─ und ebenso der griechische ─ verwendet das
Wort „Handlung“ ─ πρᾶξις ─ in zwei scharf voneinander zu
trennenden Bedeutungen: man kann die eine bezeichnen als den äußeren,
uneigentlichen
Begriff der Handlung, die andere als den eigentlichen,
innern
Begriff derselben.

Was ist das Wesentliche, ausschließlich Eigenartige in der Geschichte
des Mucius Scävola, also die eigentliche Handlung desselben?
Daß ein für die Freiheit begeisterter Jüngling ausgeht, um
einen Tyrannen, einen übermütigen Bedränger des Vaterlandes zu
töten, daß er, gleichviel ob die That gelingt oder nicht, freudig allen
Martern Trotz bietet, alles dieses hat die Geschichte des Mucius Scävola
mit vielen andern gemein; was ihr vor allen andern das eigentümliche
Gepräge verleiht, ihre Bedeutung nicht allein für unser Jnteresse, sondern
auch an sich, was das Entscheidende für ihren Verlauf bildet, das [17]
ist die eigenartige, durch den Moment eingegebene Handlung des
Mucius, der blitzartig in ihm auftauchende Entschluß, durch selbstgewählte,
lächelnd ertragene Qual eine überwältigende Probe todesverachtenden
Freiheitsmutes zu geben. Trotzdem diese Entschließung nicht
anders als aus dem Augenblick geboren gedacht werden kann, so ist doch
gerade sie es, welche die einzige Mischung aus Enthusiasmus und Klugheit,
aus hochgemutem Stolz und schlauer Berechnung, völlig bezeichnet,
welche nicht allein diesen Mann charakterisiert, sondern welche auch ein
wesentlicher Zug des römischen Nationaltypus ist. Und wie diese Entschließung
im Augenblick gefaßt ist, so genügt auch zu ihrer Ausführung
ein einziger Moment, so kann sie in einem einzigen Bilde verkörpert
durch die Malerei dargestellt werden. Diese Handlung ist keine
Folge
von Gegenständen, keine Reihe von Veränderungen, sie ist
schlechterdings ein einziger Veränderungsvorgang und als solcher
für die bildende Kunst unbedingt geeignet. Sobald dieselbe jenes
innerste, eigentliche Handlungsmoment erfaßt, so hört damit der
Gegenstand auch auf eine „kollektive“ Handlung zu sein, „welche unter
mehrere Körper verteilt ist“ (vgl. Lessing [H.] a. a. O. S. 295; Blümner
S. 444), zu welcher Gattung er nach Lessing gerechnet werden müßte. Die
Handlung fällt vielmehr in diesem Sinne ganz und gar der Hauptperson
zu und wird zur „einfachen“, so daß durch ihre, im Ausdruck vollendete
Darstellung genug geschieht, um die Phantasie zur Vorstellung des ergänzenden
Vorganges zu erregen, gerade so wie Thorwaldsens Argustöter
im höchsten Grade wirksam ist, gerade weil das Ungetüm, dem
seine bezaubernde Arglist und sein vernichtender Streich gelten, und
dessen Ausprägung uns als gleichgültig nur stören würde, fortgelassen
ist. Ja noch mehr! Was einer solchen Handlung das eigentliche Jnteresse
verleiht, um dessentwillen sie überhaupt ein Gegenstand künstlerischer
Darstellung wird, ist im letzten und tiefsten Grunde auch nicht
einmal so sehr die Aktion selbst, als vielmehr die Charakterbeschaffenheit,
der Seelenzustand, als dessen prägnanteste Ausprägung sie erscheint.
Sofern aber die menschliche Gestalt durch Körperform und Züge des
Antlitzes, zumal durch Stellung des Körpers und Gesichtsausdruck eine
unmittelbare, durch sich selbst deutliche Vorstellung ethischer Beschaffenheit
und psychologischer Vorgänge zu geben vermag, ist die bildende Kunst
auch imstande den Eindruck, den die Dichtung durch die Erzählung
der Handlung hervorbringt, unmittelbar zu erzeugen. Freilich darf sich
der bildende Künstler der Freiheit bedienen, seinen Stoff als bekannt
vorauszusetzen und auf die bereitwillig ergänzende Phantasie des Beschauers
zu rechnen; das ändert aber an der Thatsache nichts, daß es [18]
in seiner Macht liegt, den eigentlichen Handlungsmoment selbst zu verkörpern.
Ja! der ächte Künstler verfährt gar nicht anders, auch wenn
er, ohne den Anspruch eine dem Beschauer bekannte Handlung darzustellen,
seine Gestalt in scheinbarer äußerer Ruhe verharrend bildet.
Soll er einen lebendig wirkenden Eindruck hervorbringen, so muß auch
seine Conception von jenem Lebendigsten des innern, wirkenden Lebens
ausgehen, dem thaterzeugenden Willensakt. Statt aller Beispiele diene
das eine: des Phidias olympischer Zeus, der mit den Gewährung winkenden
Brauen den Olymp erschüttert.

Jst aber eine Handlung wie die des Mucius Scävola in der
That das Werk eines Momentes und kann sie als solche durch die
bildende Kunst fixiert werden, so ist es andrerseits der redenden Kunst
völlig unmöglich eine solche eigentliche Handlung, die eben nur einen
Veränderungsvorgang enthält, für sich allein darzustellen. Sie
bedarf, um zu diesem ihrem Hauptzwecke zu gelangen, der Vergegenwärtigung
aller jener Veränderungsmomente, welche das Erscheinen jenes
Hauptmomentes äußerlich möglich machten oder zuwege brachten; dann
kann sie, je nachdem sie sich ihr Ziel gesteckt hat, mit dem Moment der
eigentlichen Handlung abschließen oder sie hat noch überdies die Aufgabe,
den weiteren äußeren Verlauf des Vorganges mit darzustellen.
Jn der Poesie also erscheint das eigentliche Handlungsmoment als der
Gipfelpunkt einer aufwärts und abwärts steigenden, parabolisch gekrümmten
Linie; die ganze Reihe von Punkten aber, die den Weg dieser
Linie bilden, stellen die Einheit der Folge von Veränderungen
dar, die in der Wirklichkeit den Moment der Handlung vorbereiteten
und weiter durch diesen herbeigeführt wurden, und diese ganze Folge
von Veränderungen
oder „Gegenständen“ muß auch die Poesie
uns vor das geistige Auge bringen, um die Nachahmung jenes eigentlichen
Hauptmomentes in seiner Kraft und Bedeutung uns mitzuteilen.

Für diesen ganzen Vorgang aber hat der Sprachgebrauch denselben
Namen eingeführt wie für jenen entscheidenden Entschließungsmoment
selbst: beide heißen Handlung.

Wenn also der Begriff der eigentlichen, innern Handlung auf die
in einer einzelnen Veränderung sich realisierende Entscheidung eingeschränkt
ist, so umfaßt die äußere Handlung den ganzen, jene Entschließung
umgebenden Komplex von Vorgängen.

Was sich aus dieser Unterscheidung für die Theorie der Dichtung
schon hier ergibt, ist dieses:

Jene Succession von Veränderungen, die äußere Handlung, ist nicht
der Gegenstand der Nachahmung in der Poesie, sondern sie ist nur [19]
ein Mittel um etwas Anderes, Höheres nachahmend zur Darstellung zu
bringen. Dieses andere, die innere Handlung, kann zwar an und für
sich auch eine Succession von zweien oder auch mehreren, selbst vielen
Veränderungsmomenten umschließen, wie z. B. bei komplizierten Entschlüssen,
welche aus langem Schwanken zwischen entgegengesetzten Extremen
hervorgehen und bei welchen das letzte entscheidende Entschließungsmoment
nicht ohne jene vorausgehende Reihe zu denken ist (z. B. bei
Coriolan), es kann aber auch lediglich auf einen einzigen Moment beschränkt
sein; unter allen Umständen jedoch ist das Wesentliche an der
Darstellung von Handlungen durch die Poesie, dasjenige also, um dessentwillen
im Grunde die poetische Nachahmung erfolgt, nicht die so oder
so geschehende äußere Verwirklichung, sondern das im Jnnern der Seele
vorgehende psychologisch=ethische Ereignis, welches als Entschluß
sich nach außen kundgibt. Dieser ist Gegenstand der künstlerischen
Nachahmung, die Folge von Veränderungen nur eins von
den Mitteln, deren sich die Kunst dazu bedienen kann.

Hieraus ergeben sich die folgenden Sätze und weiteren Schlußfolgerungen:


Zum Wesen der eigentlichen, innern Handlung gehört es nicht, daß
sie eine Folge von Veränderungen darstellt; sie kann sich auch in einem
einzigen Augenblick verwirklichen.

Diesen einen Augenblick kann die bildende Kunst ebenso wohl zum
Gegenstande der Nachahmung wählen als die Poesie. Die bildende
Kunst erzielt diese Nachahmung vermittelst der Darstellung von Figuren
und Körpern, die Poesie vermittelst der Darstellung einer Succession von
Veränderungen.

Es ist also nicht richtig mit Lessing die Malerei und die Poesie so
zu einander in Gegensatz zu stellen, daß der einen Körper, der andern
Handlungen als Gegenstände der Nachahmung zugewiesen werden.
Jn beiden Fällen handelt es sich nur um die Mittel der Nachahmung,
oder wenn man den Ausdruck Mittel nur auf die Werkzeuge
Worte, Töne, Linien, Flächen, Farben ─ einschränken will, um das
Material,ὕλη ─, durch welches die einzelnen Künste der Natur jener
Werkzeuge gemäß allein ihre Nachahmung zu bewerkstelligen vermögen.

Alle Sätze Lessings, welche er aus jenem obersten Grundsatz herleitet,
gelten nur für dieses Materialὕλη ─, in welchem die
verschiedenen Künste arbeiten. Hier freilich unbedingt.

Aber nicht für die Gegenstände der Nachahmung. Hier erfüllt
sich das Wort Plutarchs in seinem ganzen Umfange, dessen wesentliche
zweite Hälfte Lessing in dem Motto seines Laokoon fortgelassen hat: [20]
ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσι, τέλος δ'ἀμφοτέροις \̔εν ὑπόκειται.
„Jm Material und in der Art der Nachahmung unterscheiden
sich die Künste, das Ziel aber, welches sie verfolgen,
ist beiden gemeinsam!

Welches ist nun aber dieses gemeinschaftliche Ziel? Welches ist der
Gegenstand
oder sind die Gegenstände der Nachahmung in den
Künsten? Darauf geben Lessings Sätze für die Malerei direkt gar keine
Antwort; nur was die Malerei unter Umständen vermöge ihrer Mittel
andeuten könne, geben sie an; umgekehrt schränken sie die Poesie auch
in ihren Gegenständen auf das einzige Gebiet der Handlungen
ein und lassen ihr nur die Möglichkeit andeutungsweise auch
Körper nachzuahmen, welche an sich gar nicht Gegenstände der
künstlerischen Nachahmung sind, sondern nur das Material, dessen sich
eine andere Kunst zu jener Nachahmung bedient.

Denn die Malerei kann vermöge ihrer Mittel den eigentlichen
Gegenstand ihrer Nachahmung überhaupt nur andeuten! So wie
aus ihren Figuren und Farben eine Handlung nur erraten werden
kann, so ist auch in allen andern Fällen ihrer künstlerischen Ausübung
ihr Zweck nicht die Körper um ihrer selbst willen nachzuahmen ─
sofern dieselben lediglich Gegenstände sind, die nebeneinander oder deren
Teile nebeneinander existieren ─, sondern durch dieses Mittel einen
geistigen, seelischen Jnhalt nachahmend zur Darstellung zu bringen, welcher
auch in der Natur nur auf dieselbe Weise, durch die Zeichen der demselben
entsprechenden Formen und Farben, sich andeutend kundgibt.1

Und nicht anders die Poesie! Sie, der nach der Natur ihrer
Mittel es am besten gelingt Fortschreitendes nachzuahmen, stellt ihre
äußeren Handlungen ebensowenig um ihrer selbst willen dar ─ sofern
dieselben nämlich lediglich eine Reihe äußerer Veränderungen, Gegenstände,
deren Teile aufeinander folgen, sind ─, sondern in allen Fällen
ist diese äußere Nachbildung nur das Material der Nachahmung
─ die Hyle der Mimesis ─; ihr eigentlicher Gegenstand ist, wie in
der bildenden Kunst, geistiger Natur. Diesen seelischen Jnhalt zur
Empfindung zu bringen ist das beiden Künsten gemeinsame Ziel, das
τέλος ἕν!

Dieser Jnhalt kann nun zwar ebenfalls in einer „Handlung“ [21]
bestehen, in jenem oben definierten eigentlichen, innern Sinne, mag dieselbe
nun in einem einzigen, momentanen Veränderungsvorgange erscheinen
oder in einer beliebig ausgedehnten Folge von Veränderungen
sich vollziehen. Aber mit dem Handlungsmoment, wenn es auch vielleicht
der bedeutendste und sicherlich fruchtbarste Vorgang auf dem gesamten
Gebiet des Geistes- und Seelenlebens ist, wird doch der Jnhalt
desselben keineswegs erschöpft. Und mag man den Begriff der Handlung,
mit Berufung auf Lessings Definition als Gegenstand, dessen Teile
aufeinander folgen, auch noch so widernatürlich ausdehnen, so wird es
doch ─ ganz abgesehen davon, daß damit der bildenden Kunst der
nährende Boden verkümmert, ja im Grunde völlig entzogen ist ─
nimmermehr gelingen, alle die zahllosen Voraussetzungen darin einzuschließen,
aus denen der Entschluß (προαίρεσις) zur Handlung (πρᾶξις)
hervorgeht, durch die er bedingt wird und auf denen, als fest bestehenden
Grundpfeilern, er ruht! Alle diese sind die vollberechtigten Gegenstände
der künstlerischen Nachahmung für alle ihre verschiedenartigsten
Gebiete, denen sie mit den mannigfaltigsten Mitteln auf immer wieder
anders geartete Weisen lebendig wirkende Form zu geben sucht; also
das ganze, unendliche Gebiet der Empfindungen, Stimmungen,
Leidenschaften, Seelenzustände
und Charakterbeschaffenheiten,
nicht minder die gesamte, ebenso grenzenlose Gedankenwelt,
sofern sie nämlich mit jener Gemüts- und Empfindungswelt
in unmittelbare Wechselwirkung tritt.
Denn da die
Mittel der Nachahmung durch die Kunst vermöge der Natur ihrer Werkzeuge
sich nur an die sinnliche Wahrnehmungαἴσθησις
wenden können, so kann sie ihre Gegenstände auch nur auf dem Gebiete
wählen, welches mit den Kräften der sinnlichen Wahrnehmung
in unmittelbarem Zusammenhange steht, das ist das Gebiet der
Empfindungen und Gemütszustände; ja auch die Handlungen fallen
im strengsten Sinne eben auch nur insoweit in das Gebiet der Kunst,
als sie vermöge der Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, Gegenstand
Empfindung erregender Wahrnehmungen ─ αἰσθήσεις ─ werden können
oder vielmehr müssen!

Es wären also drei große Hauptgruppen, nach welchen die Gegenstände
der künstlerischen Nachahmung zu klassifizieren sind, und außer
diesen gäbe es keine weiteren. Zuerst die einfachen Empfindungen,
die der Grieche unter dem Gattungsbegriff πάθος begreift; sodann alles,
was wir als Gemütszustände oder =Stimmungen, und Seelen=
oder Charakterbeschaffenheit bezeichnen, samt allen dazwischen liegenden
Abstufungen und Uebergängen, wofür wir einen zusammenfassenden [22]
Gattungsbegriff nicht ausgeprägt haben, was aber insgesamt unter dem
griechischen Ausdruck ἦθοςEthos ─ verstanden wird; endlich die
Handlungen im inneren Sinne ─ πράξεις ─.

Alle drei: Empfindung, Seelenzustand, innere Handlung ─ πάθος,
ἦθος, πρᾶξις ─ sind direkt überhaupt gar nicht darstellbar.1 Jm
Grunde kann ihre Nachahmung überall nur andeutungsweise erfolgen;
in der Malerei vermittelst der Linien und Farben, durch
Körper, in der Poesie vermittelst der Succession von Worten, durch
das, was man mit Lessing im allerweitesten Sinne (äußere) Handlung
nennen mag, wenn man darunter auch jeden kleinsten, aus der Kombination
von Sinneseindruck und damit sich verknüpfendem Empfindungsmoment
zusammengesetzten Vorgang verstehen will.

Absolut betrachtet stehen also die beiden Künste den sämtlichen
drei Gegenständen der Nachahmung ganz gleich gegenüber.

Relativ aber ergibt sich aus der Verschiedenheit ihrer Mittel,
daß die Poesie ganz direkt Handlung (πρᾶξις) nachahmen kann, Empfindung
und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) indirekt durch
Handlungen;2 und umgekehrt die Malerei ganz direkt Empfindung
und Seelenzustand (πάθος und ἦθος) (nicht Körper!), indirekt
durch jene auch Handlung (πρᾶξις).

Die Bedingungen, unter denen solche indirekte Nachahmung in
beiden Künsten möglich wird, lassen sich darnach auf das einfachste bestimmen.
Handlungen sind für den bildenden Künstler darstellbar,
sobald die den Entschluß bedingenden Empfindungen und Seelenzustände
in den Zeichen der Körperformen und =Farben sichtbar sich direkt zu
erkennen geben, oder sofern es ihm gelingt sie durch die Aehnlichkeit
körperlicher Zeichen indirekt erkennbar zu machen.

Ebenso sind der Nachahmung durch die Poesie alle πάθη und ἤθη,
alle Empfindungen und Seelenzustände zugänglich, sobald sie erstlich
in der Bewegung der Körper oder Dinge, oder in successiven Vorgängen
oder Handlungen unmittelbar sich kundgeben; sodann aber auch [23]
ebensowohl, insofern es gelingt vermittelst der Aehnlichkeit von Körpern
und Gegenständen,
nicht allein in ihren Veränderungen, sondern
auch in ruhenden Zuständen mit Empfindungs- und Seelenzuständen
diese durch jene indirekt wach zu rufen. Und hier ist es, wo
der Lessingsche Satz: Handlung ist der Gegenstand der Poesie, selbst
bei der äußersten Dehnung des Begriffes, seine Geltung völlig verlieren
muß. ──────


III.

Es wird erforderlich sein diese Sätze an der Erfahrung zu prüfen,
um auch unabhängig von der entwickelten Schlußfolge zur Beantwortung
der Frage zu gelangen, inwieweit die im Laokoon gegebene Definition
der Poesie auf die Lyrik Anwendung finden kann.

Wie steht es also mit dem Lessingschen Successionsbegriff, wenn
es sich, wie in der Lyrik, um nachahmende Darstellung von Empfindungen,
von Stimmungen und Seelenzuständen handelt? Jst nicht das wesentliche
einer Seelenstimmung, eines Gemütszustandes vielmehr
gerade etwas Stationäres? Und ist die nachahmende Darstellung solcher
psychologisch=ethischen Zustände nicht gerade eine der Hauptaufgaben der
Poesie? Und wenn auf dem Gebiete der Darstellung von bloßen Empfindungen
das Moment der Entwickelung, der Wandlung, des Streites
entgegengesetzter oder des Wechsels verwandter Affekte naturgemäß leichter
Platz greift, kann denn in einem lyrischen Gedichte nicht auch eine
einzelne Empfindung ganz ohne Veränderung kontinuierlich oder vielmehr
stationär zur Darstellung gebracht werden, etwa wie ein einzelner,
lang ausgehaltener Ton oder Akkord? Wie soll z. B. der Begriff des
„Gegenstandes, dessen Teile aufeinander folgen“, Anwendung finden auf
Goethes „Wanderers Nachtlied“?


Ueber allen Gipfeln

Jst Ruh,

Jn allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

Durch die sinnliche Vorstellung des schweigenden Waldes, zugleich
freilich durch die wunderbare Macht des rhythmischen Tonfalles, ist hier [24]
in unübertrefflicher Weise der Seelenzustand (das Ethos) still, fast
heitergefaßter Ergebung in den Todesgedanken nachgeahmt und zwar in
einer Freundlichkeit der Stimmung und in einem Reichtum der Nüancen
─ die durch die Analogie des wunderschönen Bildes, das an alle Sinne
zugleich sich wendet, mit Eins gegeben ist ─ wie sie keine abstrakte
Schilderung zu wecken vermöchte. Aber wo ist hier ein Moment der
Veränderung oder Folge? Nicht einmal in dem angewandten Bilde!
Man müßte denn die „Folge“ und damit die „Handlung“ darin finden,
daß auf die Schilderung des koexistenten Bildes die mit dem Anblick
desselben sich verknüpfende Stimmung der Zeit nach folgend zur Erwähnung
gelangt; aber dann wäre in allen derartigen lyrischen Gedichten
ein und dieselbe Handlung, ─ ein Gedanke, den man Lessing
nicht zutrauen darf.

Ein Gedicht wie dieses muß, wenn der rechte Künstler sich dazu
findet, ganz gemalt werden können! Es ist die recht eigentliche Aufgabe
der Landschaftsmalerei, wenn sie nicht lediglich die Formen der
Natur kopiert, sondern ihre Wirkungen nachzuahmen trachtet, ein derartiges
Ethos, wie es hier in den Schlußworten mit der Vorstellung
des geschilderten Bildes verknüpft wird, nachahmend zu erwecken und
diese Nachahmung zu ihrem eigentlichen Gegenstande und obersten Zwecke
zu machen.

Freilich setzt das Lied den Ausdruck der Empfindung ─ „Warte
nur u. s. w.“ ─ dem Naturbilde hinzu; aber doch nur, da in demselben
der Anlaß dazu gegeben ist. Verfährt nun der Maler nicht als Kopist,
sondern als Künstler, so besteht seine Kunst eben darin, sein Bild so zu
malen, daß es nicht bloße Vedute, sondern Mimesis eines Ethos
sei, daß in ihm der Anlaß zu jener Empfindungsweise mit eben
der Kraft gegeben sei wie im Liede. Man muß es nicht betrachten können,
ohne zu demselben Gefühl bewegt zu werden; es muß die Bereitschaft ─
δύναμις ─ zu demselben herzustellen, ganz ebenso alle Mittel in sich
vereinigen wie das Lied. Freilich wendet sich dieses an mehrere Sinne
zugleich, es nimmt auch den Gehörssinn in Anspruch ─ „die Vögelein
schweigen im Walde“ ─, das kann die Malerei nicht; aber wie viel
mehr vermag sie uns dafür zu zeigen und wie viel deutlicher! Mit
tausend Stimmen reden Formen, Licht und Farben zu uns, alle übereinstimmend
jenes eine Gefühl, zu einer Gesamtwirkung vereinigt, uns
in die Seele zu gießen.

Die Alten gingen sogar im Liede so weit, sich auf die bloße Schilderung
des Landschaftsbildes zu beschränken und den Ausdruck der Empfindung
ganz fortzulassen, wie das kleine Gedicht des Alcman zeigt, [25]
welches mit Recht als eine überraschende Parallele zu Goethes „Ueber
allen Gipfeln“ herangezogen ist:


Εν῞δουσιν δ'ὀρέων κορυφάι τε καὶ φάραγγες,
πρώονές τε καὶ χαράδραι,
φύλλα θ'ἑρπετά θ'ὅσσα τρέφει μέλαινα γαῖα,
θῆρες ὀρεσκῷοί τε καὶ γένος μελισσᾶν
καὶ κνώδαλ' ἐν βένθεσι πορφυρέας ἁλός·
εὕδουσιν δ'ὀϊωνῶν
φῦλα τανυπτερύγων.

Schlafend liegen der Berge Gipfel und die Thäler,

Uferklippen und Felsenschluchten,

Laubgezweig und alles Gewürm der schwarzen Erde,

Tiere des Bergwalds und das Volk der Bienen,

Und die Ungetüme der dunklen Meerestiefe,

Schlaf umfängt der Vögel

Breitgeflügelte Schwärme.

Ueberall wird in beiden Künsten dieser eigentliche Gegenstand
und Zweck der Nachahmung von den dafür verwendeten technischen Mitteln
scharf zu unterscheiden sein.

Eine einzige, die ganze Seele wie der Spiegel eines ruhenden Sees
ausfüllende Stimmung ist es auch, nur scheinbare Bewegung in Bildern
und Empfindung, was in Goethes Lied „An den Mond“ nachgeahmt ist:


Füllest wieder Busch und Thal

Still mit Nebelglanz,

Lösest endlich auch einmal

Meine Seele ganz;
Breitest über mein Gefild

Lindernd deinen Blick,

Wie des Freundes Auge mild

Ueber mein Geschick.
Jeden Nachklang fühlt mein Herz

Froh- und trüber Zeit,

Wandle zwischen Freud' und Schmerz

Jn der Einsamkeit.
Fließe, fließe, lieber Fluß!

Nimmer werd' ich froh!

So verrauschte Scherz und Kuß

Und die Treue so.
Jch besaß es doch einmal,

Was so köstlich ist!

Daß man doch zu seiner Qual

Nimmer es vergißt!
[26]
Rausche, Fluß, das Thal entlang,

Ohne Rast und Ruh,

Rausche, flüstre meinem Sang

Melodien zu,
Wenn du in der Winternacht

Wütend überschwillst,

Oder um die Frühlingspracht

Junger Knospen quillst.
Selig, wer sich vor der Welt

Ohne Haß verschließt,

Einen Freund am Busen hält

Und mit dem genießt,
Was von Menschen nicht gewußt,

Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.

Es ist der Zustand völliger, tiefster Stille der Seele, der aus diesen
wundervollen Strophen sich uns mitteilt, aber einer Stille, die über die
gedrängte Fülle stärkster Empfindungen und reichster Erinnerungen sich
breitet; als ob die in rastlosem Wechsel zahllos thätigen, zu Genuß und
Schmerzen immer erneut aufregenden Lebenskräfte nun dem rückwärts
gewandten Bewußtsein alle zugleich sich darbietend in ruhendem Gleichgewichte
weithin sich ausbreiten, keine das Gemüt beherrschend, alle doch
zugleich ihm gegenwärtig, ganz gelöst die Seele und doch zugleich schwellend
von der unendlichen Fülle der regsten Energien! ─ Koexistenz in des
Wortes striktester Bedeutung, in dem dargestellten Seelenzustande wie
in dem Bilde des mondüberglänzten Thales mit seinen Gebüschen und
mit seinem ruhig hingleitenden Flusse! Nur einen Augenblick wandelt die
entrückte Phantasie sich das ruhende Bild zu einer Analogie künftiger
Gesänge, um sogleich wieder dem Schweigen der Mondnacht hingegeben
in sich selbst zu versinken. Allein auch dieses scheinbare „Nacheinander“
ist doch im Grunde nur ein „Nebeneinander“, und es ist lediglich
das technische Moment der zeitlichen Wortfolge, welches zwingt, die zeitlich
durchaus koexistenten Stimmungselemente in Succession vorzuführen.
Will man das eine „Handlung“ nennen, so ist in diesem
Sinne ganz ebenso die „Folge von Gegenständen oder deren Teilen“ in
jeder Hallerschen, Brockesschen oder Hoffmannswaldauschen Beschreibung
nachzuweisen.

Man sehe die ganze Reihe der Goetheschen Lieder an, z. B. „Meeresstille“,
„Herbstgefühl“, „Frühzeitiger Frühling“, Mignons „Kennst du [27]
das Land“, oder welche man will, es ergibt sich immer dasselbe Verhältnis.


Zum Beweise diene ein Lied, welches auf den ersten Blick dem
Lessingschen Begriff von Handlung auf das vollkommenste zu entsprechen
scheint: „Auf dem See.“


Und frische Nahrung, neues Blut

Saug' ich aus freier Welt;

Wie ist Natur so hold und gut,

Die mich am Busen hält!

Die Welle wieget unsern Kahn

Jm Rudertakt hinauf,

Und Berge, wolkig himmelan

Begegnen unserm Lauf.
Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?

Goldne Träume, kommt ihr wieder?

Weg, du Traum, so gold du bist!

Hier auch Lieb' und Leben ist.
Auf der Welle blinken

Tausend schwebende Sterne;

Weiche Nebel trinken

Rings die türmende Ferne;

Morgenwind umflügelt

Die beschattete Bucht,

Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.

Hier ist erstlich die äußere Handlung der Fahrt auf dem See und
neben ihr und mit ihr verschlungen die innere des Streites der Empfindungen
und des Obsiegens des freudigen Naturgefühls; dazu ist in
dem entzückenden Landschaftsbilde, das sich vor uns entrollt, in dieser
Succession von Worten, deren jedes dem Bilde einen neuen Zug hinzufügt,
jeder dieser einzelnen Züge auf das kunstreichste in einem kleinen
Bewegungsvorgange für sich zur Anschauung gebracht, von der den Kahn
im Rudertakt „dahinwiegenden“ Welle bis zu dem die Bucht „umflügelnden“
Morgenwinde und den Früchten, die im See sich „bespiegeln“.

Nun ist es doch aber ganz ohne Frage dieses Bild nicht, bei
aller seiner Schönheit, um dessentwillen Goethe jenes Lied gesungen hat;
und wie will man von dem Gesichtspunkte aus, daß sein Gegenstand eine
„Handlung“ sei, ohne pedantischen Zwang zu einer einheitlichen Auffassung
desselben gelangen?

Wir wissen, Goethe hat das Lied am 15. Juni 1775 auf dem
Züricher See gedichtet, nachdem er mit liebeerfülltem Herzen von Lili [28]
sich losgerissen, und es ist uns interessant diese individuellen Umstände
zu kennen. Was aber dem Gedichte seinen unvergänglichen Zauber verleiht,
ist doch etwas davon ganz Unabhängiges; es ist die Kraft und
Frische, mit der es eine einzige Seelenstimmung so lebhaft hervorbringt,
daß hier in der künstlerischen Nachahmung die Wirkung eine
noch weit intensivere und vor allem gewissere ist, als wenn die Mittel,
deren sie sich bedient, in der Natur selbst auf uns wirkten. Denn hier
ist ihren Reizen Sprache verliehen, und von der Gewalt, mit der sie in
einem hoch überragenden Geiste wirkten, empfangen wir die Richtung
und Erhebung unsers eigenen Fühlens.

Eine einzige Seelenstimmung ist nachgeahmt, der Streit der
Empfindungen ist nur diesem Zwecke dienstbar: die Tiefe und Freudigkeit
des Goetheschen Naturgefühls,
die glühende Liebe, mit der
er jede ihrer Erscheinungen als die Aeußerung eines beseelten Wesens
sympathisch empfängt und jubelnd wiederklingen läßt, ─ sie wird nur
gehoben durch die Kontrastierung mit der Befangenheit jener süßen
Herzensirrungen, aus denen er mit entzücktem Aufschwunge zu der Gesundheit
und Kraftfülle seines universellen Empfindens sich emporhebt.

Analysieren wir die Mittel genauer, mit welchen der Dichter die
überwältigend stark wirkende Nachahmung dieses „Ethos“ bewirkt hat,
so lassen sich deren zwei sehr deutlich unterscheiden. Lassen wir die vier
Eingangszeilen fort, die weiter nichts als einen Ausruf enthalten, in
welchem die Grundtonart der Stimmung angegeben ist, und scheiden die
vier Zeilen der mittleren Strophe aus, so behalten wir in den verbleibenden
zwölf Zeilen ein bloßes Landschaftsbild übrig, dessen
Haupt- und Detailzüge mit der größten Sorgfalt aus lauter einzelnen
Bewegungsvorgängen zusammengefügt sind und zwar zu einem koexistierenden
Ganzen, einem einzigen Totalbilde, in Wahrheit der ζωγραφία
λαλοῦσα ─ dem „redenden Gemälde“ ─ des Simonides. Nur müßte
der Maler, der sich vermessen wollte „das Goethesche Gedicht gemalt“
zu haben, es verstehen in seine Landschaft diejenige „Kraft“ zu zaubern,
daß sie unwiderstehlich und überwältigend mit demselben „Ethos“ uns
unmittelbar erfüllte, welches zu erzeugen der Dichter nun den anderen
Teil seines Gedichtes hat zu Hülfe nehmen müssen. Der frische Hauch
des Morgens müßte uns aus seinen Farben und Konturen entgegenwehen,
daß wir in freier Welt an dem holden Busen der Natur uns
fühlten! Mit so siegender Gewalt müßte das Entzücken an der verschwenderischen
Fülle ihrer Schönheit, an der unvergänglich erfrischenden
Kraft ihrer ewigen Jugend uns ergreifen, daß wir ein „Weg, du Traum,
so gold du bist“ allen lediglich individuellen und eben darum beengenden [29]
Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den
Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem
Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen;
der Dichter mußte den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde
hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls
über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte
Vorführung jenes Streites uns überzeugen.

Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade
es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig
in die Jrre führen muß, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand
„Handlungen“ zuweist.

Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings
Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel
der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr
Element ist das Successive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung
von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente;
die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein.

Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser
Beschränkung, aber eben auch nur so weit, läßt sich die Befolgung des
Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines
der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen.

Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler
eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung
zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in
souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung
des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den
das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser
geistiges Auge; ja, wo eine solche Bewegung fehlt, weiß er die ruhende
Situation
dennoch als das Resultat einer bewußten Energie des beseelten,
thätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen
entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: „Wie
ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;“ „weiche Nebel
trinken rings die türmende Ferne;“ oder in „Willkommen und Abschied:
„Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing
die Nacht;“ „Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter
Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen
Augen sah;“ ebenso schon in dem ganz frühen Jugendliede „Die schöne
Nacht:
“ „Luna bricht durch Busch und Eichen, Zephyr meldet ihren
Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Jhr den süßten Weihrauch
auf.“ Ein kontinuierliches Beispiel und ein wahres Kabinettstück dieser [30]
Behandlung ist „Amor als Landschaftsmaler“, wo das erquickende
Gemälde einer reichen Landschaft, wie sie, da eben die Frühnebel weichen,
in dem frischen Tau des köstlichen Sommermorgens vor dem entzückten
Auge allmählich sich enthüllt, mit virtuoser Kunst als die successiv entstehende
Malerei des Liebesgottes auf dem ausgespannten grauen Nebeltuch
durch eine Reihe von Bewegungsvorgängen zur sinnlichsten Anschauung
und zur lebhaftesten Wirkung auf die Empfindung gebracht wird.

Nie und nirgends hat Goethe sich durch den Laokoon darin beirren
lassen, Körperliches in seinen Dichtungen zu malen, Koexistentes zu schildern,
und zwar keineswegs nur „andeutungsweise durch Handlungen“, sondern
geradezu und mit der recht eigentlichen Absicht zu malen und zu schildern.
Daß es ihm gelungen, diese von Lessing im Princip verurteilte poetische
Malerei und Schilderung überall so durchzuführen, daß sie den Erweis
ihrer Berechtigung in sich selber trägt, das liegt daran, daß die
Technik, mit welcher er die dazu erforderlichen Mittel zu den höchsten
Wirkungen zu nutzen weiß, eben nicht ein bloß äußerliches Kunstmittel
ist, sondern daß sie ihrem innersten Wesen nach aus den eigentlichen
Grundgesetzen der Poesie organisch und mit Notwendigkeit hervorgeht.

Wo liegen nun die tieferen Gründe, welche jene Technik als eine
dem wesentlichsten Princip der Dichtung entsprossene kennzeichnen?

Lessing begründet seine Regel, der Dichter solle das Koexistente in
ein Successives umwandeln, lediglich durch die Berufung auf die successive
Natur der Sprache, des poetischen „Mittels“; er bestreitet zwar
nicht, daß diese Beschaffenheit an sich wohl die Beschreibung und malende
Schilderung zulasse, doch behauptet er als einen Erfahrungssatz,
daß ein solches Schildern niemals den Grad der Anschaulichkeit erreichen
könne, welcher in der Poesie als ein Haupterfordernis der Körperschilderung
verlangt werden müsse.

Selbst die Richtigkeit dieses Grundes zugegeben, so ist es doch ein
fundamentaler Unterschied, ob der Poesie als ihr ausschließliches Gebiet
Handlungen zugewiesen werden und Darstellungen des Körperlichen nur
beiläufig und andeutungsweise durch jenen Kunstgriff, oder ob unter
den Gebieten, welche die Poesie beherrscht, die Körperwelt einen ebenbürtigen
Platz einnimmt als eines der wichtigsten Mittel zur Erreichung
ihrer Zwecke. Solch einen Rang behauptet sie bei Goethe, dessen Gedichte
überall das malerisch auf das vollkommenste geübte Auge des
Dichters erkennen lassen, dessen Schilderungen als malerisch gedachte,
mit malerischem Geschick komponierte, weit ausgespannte Gesamtbilder
einheitlich sich überschauen lassen und wirken. Lessings principielle
Forderung, der Dichter solle nicht malen, wird durch Goethe auf jeder [31]
Seite widerlegt; wir lernen von ihm, er kann malen, also soll er
malen!

Nur ein starkes Beispiel aus Goethes spätester Zeit, aus dem
Jahr 1827! Es ist das achte Lied aus den „Chinesisch=deutschen Jahres=
und Tageszeiten“:


Dämmrung senkte sich von oben,

Schon ist alle Nähe fern,

Doch zuerst emporgehoben

Holden Lichts der Abendstern.

Alles schwankt ins Ungewisse,

Nebel schleichen in die Höh';

Schwarzvertiefte Finsternisse

Wiederspiegelnd, ruht der See.
Nun am östlichen Bereiche

Ahn' ich Mondenglanz und =Glut,

Schlanker Weiden Haargezweige

Scherzen auf der nächsten Flut.

Durch bewegter Schatten Spiele

Zittert Luna's Zauberschein,

Und durchs Auge schleicht die Kühle

Sänftigend ins Herz hinein.

Man möchte das Lied für die genau sich anschließende Beschreibung
eines Landschaftsgemäldes halten, wüßten wir nicht, daß die „ganze
Scenerie der Oertlichkeit konkret entnommen ist,“ der Aussicht über
Garten, Park und Wiesen, die sich dem Dichter von seinem Gartenhause
aus darbot (vgl. die Anmerkung von Loeper, Hemp. Ausg. III, S. 156).

So bleibt nur die technische Forderung Lessings: das Ruhende,
Gleichzeitige durch Verwandlung in ein Bewegtes, Fortschreitendes der
lebhaften Anschauung fähig zu machen, die in der Dichtung ─ weil die
Wahrnehmung die in der Wortfolge nacheinander namhaft gemachten
Teile eines komplizierteren Ganzen erfahrungsmäßig nicht zu einer übersichtlichen
Gesamtheit zu vereinigen vermöge ─ auf keine andere Weise
erreicht werden könne.

Für die nähere Untersuchung ergeben sich hier also zwei Fragen:
gibt es außer der Erfahrung innere, im Wesen der poetischen
Kunst liegende Gründe dafür, daß die Darstellung der
Bewegung und des Fortschreitenden lebendiger wirkt als
die einfache Beschreibung?

Und: in welchen Fällen und auf welche Weise wird demgemäß
eine solche Umwandlung der Beschreibung in Darstellung
des Bewegten möglich sein?

[32]

Die Beantwortung dieser Fragen kann nur gefunden werden auf
dem Boden der im Obigen gewonnenen Resultate, daß weder „Handlungen“
noch „Körper“ die Gegenstände der Künste sind, sondern
beides nur Mittel, die eigentlichen Gegenstände nachahmend zu verkörpern;
daß diese Gegenstände, die der Poesie und Malerei gemeinsam
sein können, dem innern Seelenleben angehörig, psychologisch=ethischer
Natur sind und darum an sich selbst weder nach dem Princip der
Koexistenz noch nach dem der Succession zu unterscheiden, sondern daß
diesen Principien nur die Mittel ihrer Nachahmung durch diese oder jene
Kunst unterworfen sind.

Umgekehrt wird die Untersuchung nach der innern Begründung
jenes technischen Haupterfahrungssatzes für das verschiedene Verfahren
der Poesie und der bildenden Kunst geeignet sein, die Erkenntnis der
eigentlichen Gegenstände der künstlerischen Nachahmung von einer neuen
Seite noch klarer ins Licht zu setzen. ──────


IV.

„Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in
den bildenden Künsten gemacht habe: soviel ist gewiß, daß sie den
großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden.“ Aus
diesem Lessingschen Satze läßt sich ein weiter gehender Schluß ziehen als
der, welchen er selbst daraus folgerte: „der weise Grieche hatte die bildende
Kunst bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt.“ Die
unbekannte Größe des Begriffs der Schönheit, der doch erst als das
Resultat einer Rechnung sich uns ergibt, deren Faktoren zunächst festzustellen
sind, hemmt auch hier den Fortgang der Untersuchung.

Wenn wir mit Aristoteles annehmen, daß die ersten Anfänge des
Kunsttriebes aus der Freude an der Nachahmung entstanden sind, wie
wir dieselbe an den Kindern noch täglich beobachten können, so ergibt
sich sogleich, daß, da naturgemäß diese ersten, rohesten Nachahmungsversuche
sich solchen Gegenständen und Vorgängen zuwandten, die durch
ein irgendwie beschaffenes Jnteresse die Seele zur Thätigkeit erregten,
in den fortgesetzten, ausgeführteren Versuchen mit der zum frei
wählenden Können gesteigerten Technik sich der Kreis der die Nachahmung
auf sich ziehenden Gegenstände mehr und mehr auf dasjenige einschränken
mußte, was die Seele stark und in erwünschter Weise bewegte,
was sie zu lebhafter, von Lust gefühl begleiteter, Thätigkeit
erhöhte.
Daraus folgt aber weiter, und gleichfalls schon auf [33]
Grund jener aristotelischen Analogie, daß es ein ganz uneigentlicher Ausdruck
ist, wenn man in beiden Fällen von der Nachahmung der Naturobjekte
selbst
spricht. Nicht diese, nicht die wirklichen Vorgänge
sind der eigentliche Gegenstand der im Spiele thätigen Kinderphantasie
oder der primitiven Kunstübung der Naturvölker; was sie bei ihrer Nachbildung
als unbewußt wirkender Antrieb leitet, ist vielmehr: diejenigen
Seelenbewegungen, welche sie als Wirkungen der sie interessierenden
Naturobjekte und Vorgänge erfahren haben,
durch die eigene Thätigkeit aufs neue hervorzubringen,
und zwar zunächst in sich selbst, auf einer höheren Stufe,
dann auch bei andern.
Wir sehen diese Art von nachahmender
Produktion als ihrer Mittel sich denn auch keineswegs einer getreuen
oder irgendwie vollständigen Wiederholung der sie erregenden Objekte
bedienen; das kleinste Bruchstück davon, ja sehr abweichende Formen und
Prozeduren können ihr völlig genügen, sofern sie nur geeignet sind, den
aus der Wirklichkeit erfahrenen Seelenvorgang in selbständiger Erneuerung
wieder anzuregen, die einmal erklungene Saite zu demselben Ton wieder
in Schwingung zu setzen. Die Erfahrung zeigt sogar, daß die äußerlich
getreue und vollständige Nachahmung der Wirklichkeit ─ bei den
Kindern wie bei den Naturvölkern ─ der Erreichung dieses einzig und
allein wesentlichen Hauptzweckes oft mehr hinderlich als förderlich ist;
weit stärker und sicherer wirkt bei ihnen die einseitigste Wiederholung
und die dadurch bedingte Hervorhebung des einzigen Zuges oder Momentes,
an welche der interessierende Seelenvorgang sich knüpfte. Dieser
Umstand ist es, auf welchem die Symbolik der Märchenwelt recht
eigentlich sich aufbaut, und auf dessen Grunde sie sich zuweilen zu einer
einfachen Großartigkeit zu erheben vermag, die der tiefsten Weisheit und
dem feinsten Kunstsinn in gleicher Weise Genüge leistet wie dem naiven
Kinderverstande.

Was aber hier als unbewußter Zweck die primitive Kunstübung
erzeugt, das ist das bewußte Ziel der eigentlichen Kunst, bei der es sich
überall nur um das Eine handelt, daß sie dasjenige nachahmend hervorbringt,
was in der ganzen Welt allein uns sowohl wahrhaft zu interessieren
vermag als auch allein uns dauernd interessieren soll: die
Wirkungen, welche die Dinge, Personen, Begebenheiten in unserer
Seele
hervorbringen. Und zwar nicht alle solche Seelenbewegungen,
sondern diejenigen, die ihrer Natur nach als die rechten Platz
greifen sollen, auf denen das gesunde Leben der Seele beruht, so daß
sie in solcher Bewegung und Thätigkeit des Wahrnehmens und Empfindens
die ihr zuerteilte Natur und Bestimmung erfüllt, zugleich aber mit der [34]
solchergestalt erweckten Seelenenergie als Begleitung und Krönung derselben
jenes Lust gefühl (ἡδονή) entsteht, welches der Seele den höchsten
Genuß ihrer selbst verleiht, während es die angeregten Kräfte noch steigert
und ihnen die Dauer gewährt!

Wie entstehen nun aber diese Seelenbewegungen, die zunächst hier
mit einem allgemeinen Namen als psychische Empfindungen bezeichnet
sein mögen, im gewöhnlichen Leben? Wie vermag demgemäß die
Kunst sie nachzuahmen?

Ueberall, wo die Empfindungen über das bloße physische Behagen
oder Unbehagen, über die sinnliche Lust und Unlust hinausgehen, überall
also, wo unsere Seele bewegt wird und wir im Stande sind diese Bewegungen
deutlicher zu analysieren, entsprechen dieselben entweder direkt
der Einwirkung einer fremden psychischen Energie auf unsre Seele oder
sie entstehen, indem wir, bewußt oder unbewußt, ein Analogon solcher
Einwirkung annehmen. Für Handlungen und ebenso für die bloße Erscheinung
von Menschen und auch von Tieren bedarf dieser Satz keines
Beweises;1 er gilt aber nicht weniger für die unbelebte Natur. Ganz
direkt findet er seine Anwendung, sofern die Natur uns von Menschenhand
und =Sinn modifiziert entgegentritt, mögen sie nun ordnend oder
zerstörend auf sie eingewirkt haben; sie ist da gewissermaßen eine Zeichensprache,
durch welche seelische Kräfte sich uns kundthun. Wo wir aber
der unberührten Natur und ihren Gewalten gegenüberstehen und sie nicht
etwa zum Gegenstand unserer wissenschaftlichen Erkenntnis machen, sondern
uns dem Eindrucke überlassen, den sie in unserm Empfinden hervorbringt,
da werden diese Eindrücke um so deutlicher und stärker sein,
je mehr wir geneigt und imstande sind, in unserer Vorstellung dieselben
als Analoga von Wirkungen bewußter Energien und beseelter Jndividualitäten
aufzufassen. Jn der Religionsgeschichte aller Völker ist diese
Naturanschauung einer der mächtigsten Faktoren, und dem lebhaft empfindenden
Menschen ist sie heute wie ehedem, unbeschadet aller Aufklärung
des Verstandes, unabweisbar; mag er nun in der Natur die
Gottheit schauen oder das Naturganze selbst als Wirksamkeit erfassen,
immer wird er, je empfänglicher sein Empfinden ist, auch im einzelnen
dazu vorschreiten, sich Himmel und Meer, Berg und Wald, bis hinab
zum Baum und zur Blume, je mehr im liebevollen Beobachten und Verkehren
ihm das Einzelne vertraut geworden, jedes für sich mit einer
Art geheimnisvoller Persönlichkeit begabt, mit einer Analogie von
Wollen und Empfinden ausgestattet zu denken und so zu ihm in seelische [35]
Beziehung zu treten. Die wahrgenommenen Eigenschaften, Bewegungen
und Veränderungen übersetzen wir uns mit mehr oder weniger Kraft
der angeborenen Phantasie in Lebensäußerungen einer der unseren ähnlich
gearteten Seele, und so werden auch bei uns die entsprechenden
Seelen bewegungen erweckt. Die Sprache selbst liefert den Beweis,
die gar keine anderen Mittel besitzt, Natureindrücke darzustellen, als welche
sie dieser Fiktion entnimmt; die freundliche Landschaft, das friedliche
Thal, das erhabene Gebirge, der heitere oder drohende Himmel, die
majestätische See und der wütende Sturm, die stolze Eiche und die altehrwürdige
Linde bis hinab zu dem bescheiden versteckten Veilchen, sie
alle und noch unzählige andere Wendungen geben Zeugnis, daß auch die
Sprache des gewöhnlichen Lebens, sobald sie nur einigermaßen durch
den Ausdruck der Empfindung sich färbt, den Satz bestätigt: nur
seelisches Leben erweckt auch unsere Seele zu Leben und
Be=
wegung; die bloßen Naturobjekte vermögen das an sich zunächst
noch nicht! Sie werden dazu erst dadurch befähigt,
daß wir ihnen ein Analogon jener seelischen Energien beilegen
oder doch die Vorstellung davon unmittelbar mit ihnen
verknüpfen.

Wenn schon die Umgangssprache auf diesem Gebiete so mit poetischen
Keimen erfüllt ist, wie muß es erst die Sache des Dichters sein, diese
Keime zu voller Entwickelung zu bringen! Das Materielle an den
Naturdingen wird er überall nur insoweit darzustellen haben, als es
dazu dient, das zu vergegenwärtigen oder schließen zu lassen, was allein
die Seelen bewegt und daher der eine Gegenstand aller Kunst ist: Leben
und Wirksamkeit.

Von diesem Gesichtspunkte aus zeigt sich auch am deutlichsten der
Grund, warum die Vorstellungen der griechischen Mythologie so unwiderstehlich
in unsre Poesie und in unsre gesamte Kunst eingedrungen sind.
Die Antwort, weil sie eine Fülle schöner Gebilde enthält, ist auch hier
nicht ausreichend; die unvergleichliche und unvergängliche poetische Kraft
dieser Schöpfungen beruht vielmehr darin, daß das geborene Künstlervolk
der Griechen die Fähigkeit, welche allen Völkern in ihrem dichtenden
Kindesalter eigen ist, zur höchsten Vollendung brachte: in allem, was ihre
Seele bedeutend erregte, die wirkende Energie aufzufassen, diese zu objektivieren
und ihr eine psychisch und physisch entsprechend ausgebildete,
ganz selbständige Jndividualität zu verleihen, mit der sie sich fortan
auseinanderzusetzen hatten. So verfuhren sie nicht allein den Naturdingen
gegenüber, den Elementen und ihrer Kraft, sondern auch Zeit
und Schicksal mit ihren wechselnden Verhängnissen erschienen ihnen in [36]
solcher Verdichtung zu plastisch=objektivierten Persönlichkeiten.1 Ueberall
tritt durch diese Fiktionen an die Stelle der toten Schilderung des
Materiellen die unmittelbar die Seele bewegende Darstellung des lebensvoll
Wirkenden, und das ist der Grund, der sie der Kunst so wert macht,
weil er mit dem Grundprincip aller Kunst zusammenfällt.
Es ist einer der größten Züge Goethescher Lyrik, daß er es verstanden
hat, hier den Spuren der Griechen nachzugehen und mit gewaltig schaffender
Kraft, in der Natur wie im Reiche des Geistes, Dinge, Erscheinungen
und Begriffe zu lebensvollen Wesen zu gestalten. Man denke an Gesänge
wie „Meine Göttin“ oder „Schwager Kronos“; und, speciell für
die dichterische Erhöhung und Verklärung der Natureindrücke, an solche
wie der „Gesang der Geister über den Wassern“, an das ganze Heer
seiner Lieder, und, um zwei klassische Beispiele zu nennen, in denen das
höchste dieser Gattung erreicht ist, an die ganze erste Scene im zweiten
Teile des Faust („Anmutige Gegend.“ „Faust auf blumigen Rasen
gebettet u. s. w.“) und an den Dithyrambus „Ganymed“. Aus
jeder Strophe, aus jedem Verse für sich läßt sich hier die im Obigen
ausgesprochene Theorie ablesen und entwickeln; und wie viel bewegt sich
hier der Dichter in reiner Schilderung, freilich nie ohne den übergeordneten
Zweck, in solcher Schilderung die malenden Züge wie die
Strahlen in einem Brennspiegel zu versammeln und den Brennpunkt
uns in die Seele zu werfen, um mit unfehlbarer Wirkung dort die von
ihm gewollte Empfindung zu entzünden. So in der Schilderung
der Nacht, mit ihrer heiligen Zauberkraft, Vergessenheit zu gewähren
von „des Herzens grimmem Strauß“ und „des Vorwurfs glühend
bittern Pfeilen“ und Erquickung zu erneuter Hoffnung und rasch entschlossenen
Thaten:


Wenn sich lau die Lüfte füllen

Um den grünumschränkten Plan,

Süße Düfte, Nebelhüllen

Senkt die Dämmerung heran;

Lispelt leise süßen Frieden,

Wiegt das Herz in Kindesruh,

Und den Augen dieses Müden

Schließt des Tages Pforte zu.
Nacht ist schon hereingesunken,

Schließt sich heilig Stern an Stern;

Große Lichter, kleine Funken

Glitzern nah und glänzen fern;
[37]
Glitzern hier im See sich spiegelnd,

Glänzen droben klarer Nacht;

Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd,

Herrscht des Mondes volle Pracht.

Eine völlig malerische Strophe und poetisch wie malerisch gleich
vollkommen! Und nicht minder folgende Stelle aus Fausts Monolog:


Jn Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,

Der Wald ertönt von tausendstimm'gem Leben,

Thal aus, Thal ein ist Nebelstreif ergossen;

Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen,

Und Zweig' und Aeste, frisch erquickt, entsprossen

Dem duft'gen Abgrund, wo versenkt sie schliefen;

Auch Farb' an Farbe klärt sich los vom Grunde,

Wo Blum' und Blatt von Zitterperle triefen,

Ein Paradies wird um mich her die Runde.

Hinaufgeschaut! ─ Der Berge Gipfelriesen

Verkünden schon die feierlichste Stunde;

Sie dürfen früh des ew'gen Lichts genießen,

Das später sich zu uns hernieder wendet.

Jetzt zu der Alpe grüngesenkten Wiesen

Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet,

Und stufenweis herab ist es gelungen; ─

Sie tritt hervor! ─ und, leider schon geblendet,

Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.

Mit einem Wort läßt sich so die Frage nach der Berechtigung der
„Landschaftspoesie“ entscheiden, welche Schiller in der Abhandlung
„Ueber Matthissons Gedichte“ aufwirft. Er hat vollkommen recht, wenn
er dort sagt: „Das Reich bestimmter Formen geht über den
tierischen Körper und das menschliche Herz nicht hinaus; daher
nur in diesen beiden ein Jdeal kann aufgestellt werden. Ueber dem
Menschen (als Erscheinung) gibt es kein Objekt für die Kunst mehr, obgleich
für die Wissenschaft; denn das Gebiet der Einbildungskraft ist
hier zu Ende. Unter dem Menschen gibt es kein Objekt für die schöne
Kunst mehr, obgleich für die angenehme, denn das Reich der Notwendigkeit
ist hier geschlossen.“ Allein der Beweis, daß, ungeachtet „bei
den weisen Alten die Poesie sowohl als die bildende Kunst nur im Kreise
der Menschheit sich aufhielten“, dennoch die moderne Landschaftsmalerei
und Landschaftsdichtung ihr volles Bürgerrecht in der Kunst haben,
kann, unmittelbar aus den oben aufgestellten Prämissen, weit kürzer
und klarer geführt werden, als es dort mit Berufung auf die Kantsche
Lehre von den „ästhetischen Jdeen“ geschieht.

Alle lediglich materielle Schilderung und Darstellung ist tot [38]
─ oder doch, im besten Falle, nur matt, insofern ja freilich auch schon
mit der bloßen Reminiscenz bei der Aufzählung von gewissen Naturgegenständen,
und noch mehr mit dem Anblick ihrer Nachbildung, sich
Regungen wohlgefälliger Empfindung, und zwar mitunter in ganz bestimmter
Ausprägung, verknüpfen können.1 Ein höchst anmutiges Beispiel
derart ist Uhlands „Lob des Frühlings“:


Saatengrün, Veilchenduft,

Lerchenwirbel, Amselschlag,

Sommerregen, linde Luft!

Wenn ich solche Worte singe,

Braucht es dann noch großer Dinge,

Dich zu preisen, Frühlingstag?

Jst hier auch freilich durch die zweite Strophe der Empfindung
noch bestimmter die Richtung angewiesen, so entsteht doch das eigentlich
sie erregende Bild durch die bloße, rhythmisch geschmückte Aufzählung einfacher
Naturdinge.

Aber ihre eigentliche und höchste Wirksamkeit erhält die künstlerische
Naturdarstellung doch nur, sobald sie psychisches Leben atmet,
d. h. also, sobald sie dem Dichter lediglich das Mittel für den Empfindungsausdruck
ist; je gesunder und reicher diese Empfindung
ist, und je bestimmter er sie nachahmend zu erwecken weiß, desto vollkommener
ist sein Gedicht. Das erreicht er, indem er den Naturgegenständen
die Analogie des Empfindens, Wollens und Handelns leiht,
wodurch er sie in unmittelbaren Rapport mit dem ganzen Reich unsers
eigenen seelischen Lebens setzt, und sie eben damit in jene menschliche
„des Jdeals fähige“ Sphäre erhebt.

Und hiermit wäre der gesuchte tiefere Grund gefunden, warum
der Dichter, sobald er den Zweck seiner Nachahmung durch das Mittel
der Körperdarstellung erreichen will, sich nicht begnügen darf, an
die einzelnen äußeren Züge der Gestalten uns zu erinnern,

die bei ihm die Sprache nicht sprechen, die sie der Maler zu uns reden
zu lassen vermag, sondern ihnen jene beseelte Bewegung erteilen
muß, die, von innen heraus wirkend und unser
Jnneres wiederum bewegend, gleichsam
─ wenigstens unserem
Empfinden nach, das eben dadurch erst ein poetisches Empfinden ist ─
jene äußeren Züge geschaffen hat, welche der Maler uns sehen [39]
läßt und durch welche er seinerseits allein die Nachahmung jener
erreichen kann.

Auch der Maler wird dazu noch nicht in den Stand gesetzt selbst
durch das treueste Studium der Natur, durch welches er ihre Erscheinungen
bis in die kleinsten Züge kennen lernen muß, ohne doch den
Blick für das Ganze dadurch zu verlieren. Das allein würde ihn
doch nur zum Kopisten machen, der bei der bloßen Virtuosität in der
Hervorbringung der Kunstmittel stehen bliebe: zum Künstler wird er
erst dadurch, daß er durch die sicherste Beobachtung der Wirkung
jedes der tausend Züge des großen Antlitzes der Natur auf das eigene
Jnnere es nun versteht, in absichtsvoller Komposition dieselben zu dem
einheitlichen Ausdruck eines selbst erfahrenen Seelenvorganges oder =Zustandes
zu gestalten; zu einer Nachahmung desselben, die eben darum
auch unfehlbar denselben Vorgang bei ihm ähnlich Gearteten hervorbringen
muß. Der große Künstler aber ist der, dessen Empfinden zugleich das
stärkste und reichste und das gesundeste ist, deshalb für die ganze Gattung
gültig, einen Jeden bewegend und sein individuelles Empfinden erweiternd,
läuternd und zu dem allgemein menschlichen erhebend.

Das Gesetz also ist ein und dasselbe für die Poesie wie für
die bildenden Künste:

Das Materielle der Körperwelt ist nicht Gegenstand der
künstlerischen Nachahmung, sondern Mittel.

Jhr Gegenstand ist geistiger Natur und einheitlich, mag
sie sich nun des Mittels der Körperwelt bedienen oder
anderer, die ihr zu Gebot stehen, seien es Handlungen oder
Bewegungen oder Töne oder ganz frei erfundene Formen.

Alle Kunst hat die Aufgabe, seelische Vorgänge im weitesten
Sinne darstellend hervorzubringen oder, wie die Alten sagten, sie nachzuahmen.
Was das Leben erfüllt als sein wesentlichster Jnhalt in
allen seinen Vorgängen und Erscheinungen, das reproduziert die
Kunst selbständig,
sie stellt es dar, dem Leben folgend, diesen seinen
wesentlichen Jnhalt nachahmend mit den Mitteln, die sie jedesmal aufzuwenden
hat: ὕλῃ καὶ τρόποις μιμήσεως διαφέρουσιν, τέλος δ'ἅπασιν
\̔εν ὑπόκειται.

So ist es denn auch ganz unberechtigt, obwohl es überall geschieht,
des Aristoteles Theorie der Mimesis damit bekämpfen zu wollen, daß
man sagt: Mag also die Poesie Handlungen, die Plastik Körper nachahmen,
welche Naturobjekte liegen denn aber der Musik oder der Architektur
zu Grunde? Damit meint man die Nachahmungstheorie kurzer
Hand beseitigt zu haben und an ihre Stelle tritt der unbestimmte Be= [40]
griff des „Jdeals in der Seele des Genies“. Nein! alle Künste ahmen,
jede auf ihre Weise, dasselbe nach: die Seelenvorgänge, von denen doch
zuletzt alles uns Menschen faß- und darstellbare Leben ausgeht! Aber
diese Einheit umfaßt eine unendliche Mannigfaltigkeit, die es
gilt nach ihren Hauptgattungen zu zerlegen und im einzelnen genau zu
bestimmen. So ergibt sich mit der präcisen Bestimmung des Nachahmungs
objektes zugleich auch die eben so bestimmte Feststellung des
dadurch zu erreichenden Zweckes, woraus dann weiter die dazu anzuwendenden
Mittel und die Art und Weise ihrer Verwendung mit Sicherheit
abgeleitet werden können. Einzig und allein auf diese Weise kann
ein fester und zuverlässiger Maßstab für die Beurteilung ästhetischer
Fragen gewonnen werden; das einzige Gebiet, auf welchem dieser Maßstab
eine konsequent durchgeführte Anwendung gefunden hat, ist zugleich
das einzige, für das wir ein in den Grundzügen völlig ausgearbeitetes
Gesetzbuch besitzen, die Tragödie und ihre Gesetzgebung in der aristotelischen
Poetik!

Die Untersuchung gelangt also hier zu demselben Endziel, zu welchem
sie auch in betreff der poetischen Nachahmung von Handlungen führte.
Wie der Poesie die Darstellung der äußeren Handlung, der Vorgänge
und Begebenheiten nur ein Mittel ist das geistige Moment der eigentlichen
inneren Handlung zur Erscheinung zu bringen, diese also das
Objekt der Nachahmung, jene die Art und Weise derselben (τρόπος
μιμήσεως) ist, so ist auch die Schilderung der Körperwelt ihr nur
eines von den Mitteln, das zweite Hauptobjekt ihrer Nachahmung, Empfindungen,
darzustellen, also auch nur eine von den Arten und Weisen
der Mimesis. Wenn die Poesie dabei mit Vorliebe die Körper durch
zeitliche Succession in fortschreitender Bewegung zu veranschaulichen sucht,
so liegt das allerdings an ihrem Material (ὕλη), der Sprache; der
Grund dieser Vorliebe liegt aber nicht in dem äußeren Umstande, daß
in der Sprache die Worte zeitlich aufeinander folgen, sondern in der
innersten Natur dieser Art von Nachahmung, welche um ihren Zweck zu
erreichen keineswegs der Vollständigkeit des koexistierenden
Materials
bei den von ihr als Mittel benützten Körpern bedarf,
sondern nur der Hervorhebung der einzelnen die Empfindung
erregenden Züge;
das geschieht am sichersten und wirksamsten,
wenn ihnen als den Resultaten bewußten Seins, Wollens und Bewegens
durch die Poesie ein der Empfindung homogenes, psychisches
Leben
geliehen wird.

Daß es aber Fälle geben kann, wo die bloße Erwähnung der einzelnen
Züge, die bloße Aufzählung der Körperobjekte für die poetische Schilde= [41]
rung ausreichen kann, wurde schon oben erwähnt. Die Erwägung, wann
und wie das geschehen kann, gehört schon in die Beantwortung der
zweiten, am Schlusse des vorigen Abschnittes gestellten Fragen: wie
und in welchen Fällen ist es der Poesie möglich, die ruhende Körperwelt
nach den im Obigen aufgestellten Gesichtspunkten als künstlerisches
Mittel sich dienstbar zu machen?

Zu einem Teile ist die Antwort darauf in dem Gesagten schon
enthalten. Ueberall, wo es angeht, die Veränderungen in der unbelebten
Körperwelt oder auch die ruhenden Erscheinungen selbst als die Resultate
von Vorgängen aufzufassen, denen eine Verwandtschaft mit seelischen Bewegungen
und Willensakten supponiert werden kann, da sind sie zu den
wirksamsten Gegenständen der Dichtung zu rechnen; ebenso auch der
bildenden Kunst, sofern dieselbe durch die dargestellten Formen jene
Supposition deutlich wahrnehmbar machen kann.

Es gibt aber zahlreiche Fälle in der poetischen und vollends unzählige
in der bildnerischen Darstellung, in denen jene Operation fast
unmerklich angewandt oder in denen sie gar nicht vorhanden ist,
sondern wo die bloße Erwähnung und Aufzählung oder die einfache
Nachbildung von Naturobjekten dem künstlerischen Zwecke vollkommen
genügt. Wie sind diese mit dem oben ausgesprochenen allgemein gültigen
Gesetze zu vereinigen?

Es wird auch hier auf die inneren Gründe der Sache zurückzugehen
sein.

Bisher war von den deutlicher analysierbaren Empfindungen
als den Gegenständen der Nachahmung die Rede; gewissermaßen als das
Gegenstück derselben sind im Gemüte eine Reihe von Zuständen und Vorgängen
zu unterscheiden, welche hier vornehmlich in Betracht kommen.

Noch vor den aus bestimmten Anlässen entstehenden Empfindungsvorgängen
(πάθη) können in der Seele entsprechende, aber ihrer Natur
nach weit unbestimmtere Bewegungen ganz spontan auch ohne den Eindruck
oder die Vorstellung einer erregenden Energie stattfinden. Wie das
Licht zwar nur deutlich wahrgenommen wird, wenn es auf Objekte trifft
und von diesen reflektiert wird, aber doch auch ohne das vorhanden
ist und leuchtet, so können jene Seelenbewegungen vorhanden sein, ohne
daß wir an bestimmten Objekten uns ihrer deutlich bewußt werden und
durch die mehr oder minder vollkommene Erkenntnis jener Objekte in
den Stand gesetzt werden, uns von diesen Lebensäußerungen unserer
Seele genauere Rechenschaft zu geben. Es macht sich da eben nur die
Anlage, Neigung oder zeitweilig vorwaltende Gesamthaltung und Verfassung
der Seele kund. Der Sprachgebrauch hat diese Thatsachen keines= [42]
wegs unbeachtet gelassen; wir sprechen von Liebesdrang und Liebesbedürfnis,
in dem Sinne dunkler Liebesempfindungen, die sich geltend
machen ohne die Richtung auf einen bestimmten Gegenstand, ebenso
von solcher Disposition für die Freundschaft; ganz ähnliche Gefühlserscheinungen
treten der Natur gegenüber auf, oder auf religiösem Gebiete,
und zwar nicht nur als bestimmten Lebensaltern vorzugsweise eigen,
sondern auch als gewisse Epochen, ja ganze Zeitalter kennzeichnend. Nach
allen diesen Richtungen liefern die Jugendoden Klopstocks sehr hervorragende
Beispiele. Eben dahin gehört aber auch ehrgeiziger Thatendrang,
der noch ganz ohne Ziel ist, Kraft- und Mutgefühl ohne Gelegenheit
der Bethätigung, gegenstandloses Trauern, Wehmut ohne Anlaß und
Sehnsucht ohne bestimmte Richtung, allgemeiner Enthusiasmus ohne inhaltlich
bestimmte Form; kurz alle Empfindungen haben, ehe sie, so zu
sagen, bei wirklichen Anlässen sich ereignen, in den dazu besonders
gestimmten Seelen eine dunkle Präexistenz, ein undeutlicheres Abbild
ihrer selbst, welches als bloße Kraft, bloßes Vermögenδύναμις
nennt es die aristotelische Ethik ─ dauernd vorhanden ist. Kommen
nun gewisse äußere Anstöße hinzu, so geraten diese mehr oder weniger
latenten Seelenkräfte oder Empfindungsvermögen auf einmal in die lebhafteste
Thätigkeit.1 Ein angegebener Rhythmus, ein zufälliger Klang,
eine Farbenerscheinung, z. B. ein so oder so bewölkter oder gefärbter
Himmel, der bloße Anblick oder die bloße Erwähnung gewisser Gegenstände
sind hinreichend einen ganzen Sturm von Empfindungen in solchergestalt
disponierten Seelen hervorzurufen. Auf diese Weise können Gehörs=
und Gesichtseindrücke von lediglich sinnlicher Natur ganz zufällig
schon unser Empfindungsleben modifizieren;2 um wie viel mehr, wenn sie
einem höheren Zwecke unterthan gemacht, von einem ordnenden bewußten
Willen zusammengestellt werden. Sie können dann dazu verwandt werden,
geradezu den Zustand und das gegenseitige Verhältnis von solchen Empfindungsvermögen
und =Dispositionen ─ δυνάμεις ─, wie sie bei den
Komponierenden vorhanden sind, nachahmend darzustellen und so wiederum
bei andern zu erregen (in der Poesie wie in der Malerei und ganz
besonders in der Musik und der Kunst des Tanzes); zumeist natürlich
bei ähnlich Gestimmten, bis zu einem gewissen Grade jedoch bei allen,
sofern nämlich die bei dem Einzelnen stark und übermächtig sich äußernde [43]
Disposition nicht abnorm ist, sondern der Gattung angehörig, oder gar
wenn darin, was zu dem echten Kunstwerk erfordert wird, die Bestimmung
der Gattung nach irgend einer Richtung hin sich erfüllt.

Es liegt dieser unmittelbaren Wirkung, die keines Dazwischentretens
psychischer Vorstellungen bedarf, ein Zusammenhang zu Grunde, der gerade
in seinen mächtigsten Aeußerungen wohl immer ein Geheimnis bleiben
wird, zwischen Figuren, Farben und Tönen samt ihren Veränderungen
und den Bewegungen unserer Seele. Diese dunkle Gewalt, die sich schon
bloß sinnlich kundgibt, ist nun aber dem freien Gebrauch des künstlerischen
Willens anheimgegeben. Jhren Ursprung kennt auch der
Künstler nicht, aber weil jener Zusammenhang ein natürlicher ist,
kann er souverän über sie verfügen. Sie wird mißbraucht, wenn sie
verwandt wird eben nur aufzuregen, zu frivolem Spiel oder zu chaotischem
Wirbel; aber sie vermag den höchsten Zwecken der Kunst zu dienen,
wenn sie gleichsam die Elementarkräfte großer und reicher Seelen uns
abspiegelt und unmittelbar mit analogen Bewegungen uns durchdringt.

Für den echten Dichter ist somit die Verwendung der Naturobjekte,
welche bei dem Stümper zu äußerlichem Dekorationswerk herabsinkt,
eines der wirksamsten Mittel der Seelenmalerei, mag er nun dieselben
in lebendiger Bewegung vorführen oder auch durch ihre bloße Erwähnung
seine Wirkung zu erreichen suchen, wie namentlich die Romantik und die
gesamte modernere Richtung der leidenschaftlich erregten sentimentalen
und weltschmerzlichen Poesie es liebt.

Es darf, um diese Kunst in ihrer Vollendung zu zeigen, nur an
Goethes Werther erinnert werden und an die Meisterschaft, mit der
dort überall die Naturdinge als das wirksamste Material für die Nachahmung
der verhängnisvollen Elementargewalt behandelt sind, mit welcher
die dunkleren Empfindungskräfte (δυνάμεις τῶν παθῶν), noch ungeklärt
und ungesondert, die Seele bestürmen.1 Oder es mögen, um ein anderes [44]
klassisches Beispiel vor Augen zu stellen, hier einige Stanzen aus Byrons
Harold“ stehen. Jn seinem Munde erreicht jenes specifisch moderne
Naturgefühl, welches die vertrauten Wechselbeziehungen zu der Natur
weit über den Umgang mit den Menschen stellt, den höchst gesteigerten
Ausdruck; so namentlich in der folgenden Strophe des dritten Gesanges
von „Harolds Pilgerfahrt“:1


Nicht in mir selber leb' ich; nein, ich werde

Ein Teil der Welt umher. Gebirg' und Flur

Sind mir Gefühl, die Städte dieser Erde

Sind Folter mir. Jch find' in der Natur

Nichts, was mir widrig ist, als eines nur,

Des Fleisches Kette, die auch mich umflicht,

Jndes die Seele flieh'n kann zum Azur,

Zum Berg, zum Ocean, zum Sternenlicht,

Und sich versenkt ins All ─ und, o, vergebens nicht!

oder der folgenden:


Sind nicht die Himmel, Meer' und Berg' ein Stück

Von meiner Seele, wie von ihnen ich?

Jst sie zu lieben nicht mein reinstes Glück?

Und alles, was ich ihnen je verglich,

Sollt' ich es nicht verachten? Soll ich mich

Aus Furcht vor Schmerzen dieser Lieb' entschlagen?

Soll dieses Herz in stummes Phlegma sich

Weltlich versenken, wie die Feigen, Zagen,

Die stets zu Boden schau'n und zu erglüh'n nicht wagen?

Diesem selben heißen, leidenschaftlichen Verschmelzen mit der Natur
zu unauflöslichem Bunde entströmen auch die hinreißenden Stanzen,
die schönsten, die je zu ihrem Lobe gesungen sind, ─ in denen er die
zauberische Schönheit des Genfer Sees schildert oder die grandiosen
Schrecken der umgebenden Alpenwelt (vgl. Ges. III, St. 85 ff.); nur zwei
daraus mögen hier noch folgen:

[45]
Himmel und Erd' ist still, doch schlafend nicht,

Nur atemlos wie tiefste Wonn' und Qual,

Wann allzuvoll das Herz nicht seufzt noch spricht.

Himmel und Erd' ist still, ─ der Sterne Zahl,

Der eingelullte See, Gebirg und Thal,

All in ein einzig lebend Eins verfließt,

Darinnen jedes Lüftchen, Blatt und Strahl

Anteil am Dasein hat und mitgenießt,

Was schaffend all' erzeugt und schirmend all' umschließt.

Und weiter unten:


Himmel, Gebirge, Strom, See, Blitz und Winde

Und Nacht und Donner und der Wolken Schwall!

Dazu ein Geist, der alles dies empfinde,

Wohl mag ich wachen! Euer ferner Hall

Jm Scheiden tönt mir wie Sturmglockenschall

Dessen, was schlaflos ist in meiner Rast.

Und du, o Sturm, wo ist dein Ziel im All?

Gleichst du dem Sturm im Herzen? Oder hast

Du Adlern gleich ein Nest im hohen Bergpalast?

Bei Byron finden sich alle Methoden, deren sich der Dichter bedienen
kann, um körperliche Formen und Situationen, Naturdinge und
Erscheinungen in voller Anschaulichkeit vor unser geistiges Auge zu
bringen; von jener Art, die Natur als ein Ganzes und in jeder ihrer
Kundgebungen zu beseelen bis zu dem Verfahren, sie mit dem eigenen
Seelenleben völlig zu durchdringen, ja zu identifizieren und bis zu jener
andern Art, den elementaren Bewegungen des Gemütes gewissermaßen
einen Ausweg zu verschaffen in der Vergegenwärtigung wahlverwandter
Naturscenen und =Gegenstände.

Jn allen Fällen aber, in denen körperliche Gegenstände als dichterisches
Darstellungsmittel verwendet werden, und bei allen Methoden dieser Verwendung
ist das Charakteristische des Verfahrens nicht die Umsetzung
in Handlung, die Verwandlung des Koexistenten in ein Successives,
sondern die durch das oberste Princip aller Kunst, psychische Vorgänge
nachzuahmen, gebotene Erfassung des Gegenständlichen als eines
Beseelten oder doch unmittelbar auf Gemüts- und Seelenkräfte
Wirkenden.
Dabei wird das in der Praxis einzuschlagende
technische Verfahren in der großen Mehrzahl der Fälle, wie sich aus der
Natur der Nachahmung des Geistigen ergibt, die Darstellung von
Leben und Bewegung, also Succession
sein; aber jenes bloß
äußerliche Verfahren, die Teile eines Gegenstandes, statt sie nebeneinander
zu stellen, aufeinander folgen zu lassen, ist an sich weder ein [46]
obligatorisch für alle Fälle geltendes Gesetz, noch würde jener
Handgriff an und für sich im entferntesten genügen, die Anforderungen
des echten poetischen Kunstwerkes zu erfüllen,

weil das Wesentlichste derselben darin noch gar nicht enthalten ist.

Das lediglich materielle, unbeseelte der Körperwelt, mag
es nun in Koexistenz oder in einer durch eine äußerliche, mechanische
„Handlung“ erfolgenden Succession seiner Teile vorgeführt werden, ist
und bleibt tot und darum unkünstlerisch, unpoetisch!

Solche Beispiele, wie sie Lessing im XVI. Abschnitt des Laokoon
anführt, von dem Wagen der Juno oder der Bekleidung des Agamemnon,
sind an und für sich gar sehr geeignet, irre zu führen. Die Beschreibung
oder Malerei solcher Gegenstände hat poetisch an und für sich gar
keinen Wert,
mag sie nun mit minutiöser Kleinmalerei erfolgen oder
nach der Vorschrift einer Umwandlung des Koexistenten in ein Successives.
Umgekehrt, führt der Dichter sie ein unter dem einzigen Gesichtspunkt,
von welchem aus sie dichterischen und überhaupt künstlerischen Wert erhalten,
nämlich insofern sie ein seiner Natur nach ethisches Moment,
das darum auch wiederum eine psychische Regung bewirkt, nachahmend
darstellen, so stehen auch dem Dichter beide Darstellungsarten
zu Gebote
und er ist keineswegs an die Befolgung des Gesetzes
von der Umwandlung in Succession gebunden.

Als Beleg diene die sehr umständliche Beschreibung von Kleidung
und Putz in der 15. Romanze des ersten Cyklus von Herders Cid.
Die poetische Grundstimmung, der „ethische“ Nachahmungszweck dieses
ganzen, räumlich bedeutendsten Teiles der betreffenden Romanze ist in
der dritten Strophe angegeben:


Herrlich ging am Hochzeittage

Auf die Sonne. Don Rodrigo,

Abgelegt die Waffenrüstung,

Kleidet sich mit seinen Brüdern

Hochzeitlich und fröhlich an.

Und nun folgt in sieben, sehr ausgedehnten, Strophen die sehr genaue
Schilderung des Hochzeitsanzuges des Cid und der Donna Ximene, und
zwar so, daß von dem durch Lessing vorgeschriebenen dichterischen Mittel,
statt der Beschreibung der Kleidung die Handlung des Ankleidens zu
erzählen, nur ganz beiläufig im Beginne Gebrauch gemacht ist; der bei
weitem überwiegende Teil der Beschreibung erfolgt dann lediglich als
Schilderung des Koexistenten. Nichtsdestoweniger wird niemand bezweifeln,
daß der poetische Nachahmungszweck, in der Pracht der Zurüstungen
die „hochzeitlich=fröhliche“ Feststimmung verbunden mit der [47]
echt adeligen Grandezza und der durch alle, im besten Sinne vornehmen,
Vorzüge geschmückten Art und Haltung der Gefeierten lebendig zum Bewußtsein
zu bringen, mit anschaulichster Wirkung erreicht ist:


Ächt walloner Pantalone,

Mit Scharlach gezackte Schuhe,

Fein an Leder; zween Stifte

Hefteten sie fest und enge

An den kleinen, netten Fuß.
Jetzo zog er an die Weste,

Eng anliegend, ohne Borten;

Dann die schwarze Atlasjacke,

Wohlgepufft, mit weiten Ärmeln

(Wenig hatte sie sein Vater

Nur getragen). Auf den Atlas

Fiel von ausgezacktem Leder,

Breit, anständig, das Kollett.
Und ein Netz von goldnen Fäden,

Eingewirkt in grüne Seide,

Schloß sein Haar ein. Auf dem Hute

Von Cortrayer feinem Tuche

Hob sich eine Hahnenfeder

Wunderbarlich hoch und rot.
Schön befranzt bis auf die Hüfte

Reichet ihm die Jazerine,

Und um seine Schultern spielet

Ausgeplüscht ein Hermelin.
Und der unverzagte Degen,

Tizonada war sein Name,

Er, der Schrecken aller Mauren,

Hängt in schwarzen Sammetbändern

An dem festen, tapfern Gurt.

Ausgezackt, gefaßt mit Silber

War der Gurt; ein feines Schnupftuch

Wohlgefaltet hing an ihm.

Und weiter dann:


Sittsam stand sie da, Ximene;

Von elastisch feiner Leinwand

Puffte ihre Flügelhaube;

Von dem feinsten Londner Tuche

Wohl garniert, war ihre Kleidung,
[48]
Die von Schultern zu den Füßen

Barg und zeigte ihren Wuchs.

Auf zwei rosigen Pantoffeln

Stand als Königin sie da.

Jhren Hals umschlang ein Halsband;

An ihm hingen acht Medaillen,

Einer Stadt an Werte gleich;

Und die reichste unter ihnen,

Den Sankt Michael darstellend,

Schwer von Perlen und Juwelen,

Hing Ximenen an der Brust.

Ob der Hörer nach diesen Strophen imstande ist, sich ein vollständiges
und richtiges Bild der Toilette des Paares zu machen, ist eine
untergeordnete Frage; worauf es ankommt, und was ohne Zweifel erreicht
ist, das ist der Eindruck der durch die Erscheinung des Seltenen,
Außerordentlichen, hervorgerufenen gespannten Erregung, den solche Zurüstungen
auch in der Wirklichkeit zum Zwecke haben, und welche hier
überall die Vorstellung von höchstem Verdienst, ausgezeichneter Sitte und
altangestammtem und persönlichem Adel erwecken.

Dagegen wird durch den Umstand, daß die Regel des Laokoon,
die koexistenten einzelnen Züge in eine Succession einzelner Handlungen
aufzulösen, in der That ganz konsequent beobachtet ist, eine
Schilderung wie die folgende Dan. Kasp. von Lohensteins nicht um ein Haar
über das tiefe Niveau des übrigen Schwulstes der Schlesier gehoben:1


Jetzt liebt die gantze welt! des Titans glut wird mächtig

Die erde zu vermählen, der himmel machet trächtig

Mit regen ihren schooß ....

.... der blumen sommer=haar

Bekleidet allbereits die unbelaubten wipfel:

...........

Ja selbst die zeit wird braut, die blumengöttin schmücket

Jhr selbst das braut=gewand, und ihre kunst=hand stücket

Der Tellus grünen Rock mit frischem rosen=schnee

Und weißen liljen aus. Hier wächset fetter klee

Auff Kyblens marmor=brust; dort bücken die narcissen

Sich zu den tulpen hin, einander recht zu küssen.

.........

Jndessen feuchtet dort mit den bethauten flügeln

Der zuckersüße west die wiese, die fast lechst.

Das weiß=beperlte graß, das in den thälern wächst,

Bekränzt der sternen=thau u. s. w. u. s. w.
[49]

So geht es fort durch fast zweitausend Alexandriner ohne eine
Spur von Poesie; die aufeinander gehäuften Massen der Materie bleiben
tot trotz des erlogenen Scheines von Leben. ──────


V.

Es bleibt dabei: der Gegenstand der Poesie wie aller Kunst ist
die Nachahmung psychischer Zustände und Vorgänge; doch ist der Kreis
derselben durch die Handlungen, in dem strengeren Sinne von inneren
Entschließungen, und Empfindungen, von welchen bisher die Rede
war, noch nicht erschöpft. Wie oben1 schon erwähnt, kommt eine dritte
Hauptgattung
hinzu, welche dort unter dem Begriffe des griechischen
Ethos“ zusammengefaßt wurde und die noch eine gesonderte Betrachtung
verlangt.

Wenn ein großer Teil der Lyrik mit dem Satze, Handlungen seien
ihr Gegenstand, sich auf keine Weise vereinen läßt, so nimmt doch
unter den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, um ihren Zweck, Nachahmung
von Empfindungen, zu erreichen, die Erzählung oder auch die
bloße Andeutung einer Handlung den weitaus bedeutendsten Rang ein.
Gerade die hervorragendsten Lyriker bedienen sich dieses Mittels am
meisten und sie folgen darin dem unverwerflichen Muster des Volksliedes,
welches fast immer irgend einen kleinen Vorgang, eine, wenn
auch noch so flüchtig skizzirte, Handlung entrollt.

Daß hier allenthalben die Handlung nur einem höheren Zwecke
dient und nirgends um ihrer selbst willen erzählt wird, bedarf keines
Beweises; wie ist aber das Verhältnis bei der Ballade, die, auf der
Grenze der Epik und Lyrik stehend, der Handlung gar nicht entraten
kann? Die Untersuchung dieses Verhältnisses muß für die Grenzbestimmung
der beiden Gebiete sehr förderlich sein.

Wie oben festgestellt, sind die als Mittel der Nachahmung von
Handlungen angewandten „Folgen von Veränderungen“ keineswegs auch
immer Nachahmungen von Handlungen selbst; für diese ist das geistige
Moment der produzierenden Entschließung allein maßgebend, welches den
Namen der Thätigkeit weit eigentlicher verdient als das äußere Thun.
Es kann jemand eine zusammenhängende, eine Einheit bildende Gruppe
von Veränderungen, also eine äußere Handlung bewirken, ganz ohne
den Prozeß des eigentlichen Handelns, den inneren Willensakt, in sich
erfahren zu haben; umgekehrt kann die höchste Thätigkeit sich ohne alle [50]
Veränderungen in der Körperwelt, etwa durch ein einziges Wort, vollziehen.
Gerade solche Handlungen aber, gleichviel ob sie in einem Moment
oder in einer beliebig langen Reihe von Veränderungen sich vollziehen,
sind erforderlich, wenn sie um ihrer selbst willen der Gegenstand der
künstlerischen Nachahmung werden sollen; im andern Falle sind sie nur
Mittel derselben. Denn jene bringen durch ihr Bild unmittelbar die
Seele des Wahrnehmenden in dieselbe Bewegung, welcher sie selbst entstammen,
während diese zunächst nur ein buntes Vorstellungsmaterial zu
erzeugen vermögen, welches erst durch die Kunst die Kraft erlangt, verwandte
psychische Bewegungen mittelbar nachahmend zu bewirken; jene
sind entschieden epischen Charakters, diese ein Hauptmittel der lyrischen
Dichtung. Es sind Fälle denkbar, wo die Grenze zwischen beiden
fast unkenntlich wird, in der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle
aber werden sie scharf voneinander zu unterscheiden sein.

Es mag an einer Reihe von Dichtungen, die man gewöhnlich als
Balladen“ bezeichnet, die Probe gemacht werden.

Ueberall, wo in einem solchen Gedicht eine eigentliche Handlung
dargestellt wird, läßt sich das Moment der entscheidenden, bewußten
Willensäußerung als ihr Gipfelpunkt in ein Wort zusammenfassen; man
darf den betreffenden Vers nur citieren, um die Summe der Handlung
zu ziehen. So z. B. „Da setzt' ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd“;
„Hier bin ich, für den er gebürget“; „Da treibt's ihn den köstlichen
Preis zu erwerben“; „Still legt er von sich das Gewand“; „Und er
wirft ihr den Handschuh ins Gesicht“; „Dem Zöllner werd' euer Geld
zu teil“; „Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust
durchdringt“; die Beispiele lassen sich beliebig vermehren.

Hier überall ist entschieden epischer Charakter; alle diese Gedichte
enthalten die Nachahmung wirklicher Handlung.

Nun aber versuche man dasselbe Verfahren bei der echten Volks=
Ballade,
oder man stelle die Goetheschen Balladen auf dieselbe
Probe!

Jst in Goethes „Fischer“ der erzählte Vorgang der Gegenstand,
der um seiner selbst willen, wie die Handlungen der vorerwähnten Gedichte,
nachgeahmt wird, oder ist es nicht vielmehr die vermittelst
desselben hervorgebrachte, ganz bewegungslose, κατ' ἐξοχήν stationäre
Stimmung des ohne alle bestimmte Empfindung, ganz gedankenbefreit
dem träumerisch wiegenden Wohlgefühl des Elementes Hingegebenen?
Und ist es mit dem „Erlkönig“ etwa anders? Auch hier tritt das
gegenständliche Jnteresse des Vorganges an und für sich völlig
zurück hinter dem eigentlichen Zweck ─ τέλος ─ des Gedichtes, ver= [51]
mittelst dieses Vorganges die Nachahmung einer Stimmung zu erreichen.
Sowie man diesen Schwerpunkt verrückt und als den „Gegenstand“
der Nachahmung den Handlungsgehalt selbst ansieht ─ wie man das
z. B. in den Schillerschen sogenannten Balladen durchweg thun muß
so ist man mitten in der philiströsesten Plattheit. Dort handelt es sich
in der That um die Selbstüberwindung des Johanniter-Ritters, die
einen schwereren Kampf verlangt als den Kampf mit dem Drachen, um
die durch Ehre und Liebesgewalt bis aufs höchste gesteigerte Kühnheit,
welche den äußersten, kaum überwundenen Schrecken todverachtenden
Trotz bietet, um die felsenfeste Treue, die, in der Gefahr die heilige Verpflichtung
nicht einlösen zu können, die erschöpften Kräfte bis ins Wunderbare
zu erhöhen vermag ─; dieselbe Betrachtungsweise auf den
„Erlkönig“ angewendet läßt als einzigen Jnhalt das Verderbliche übrig,
mit einem zart nervösen Kinde nachts bei starkem Winde durch den
Wald zu reiten. Seinen Sinn und seine mächtige Wirkung hat das
Gedicht schlechterdings nur als die vermittelst eines zu diesem Zweck
erfundenen äußeren Vorganges verkörperte Nachahmung psychischer
Stimmungsgewalt. Das gleiche findet beim „Hochzeitslied des
Grafen
“ statt; hat dort das geheimnisvolle Grausen des nächtlichen
Waldes einen dämonischen Ausdruck gefunden, so ist hier das gemütlich
liebevolle Behagen an der altererbten, durch die Tradition geheiligten
häuslichen Heimat zu freundlich=heiterer Fiktion verdichtet. Derselbe
Nachweis läßt sich ebenso für die „wandelnde Glocke“ führen und für
den „Zauberlehrling“, diese klassische Darstellung der Ruhe und Erfolgssicherheit,
mit der das seiner Kraftfülle sich bewußte Genie gegenüber
dem Fiasko der pfuschenden Lehrjungengeschäftigkeit in seine Rechte tritt;
und so die ganze Reihe der Goetheschen Balladen durch.

Vollends der Volksgesang! Wo er irgend sich rein erhalten hat,
da tritt die Nachahmung der Handlung, die Erzählung des Vorganges
völlig zurück, ja sie wird fast verflüchtigt zu Gunsten des Sanges= und
Liedeszweckes, die ganz und gar nach einer einzigen Richtung hin
bewegten Gemütskräfte auf das eindringlichste darzustellen. Die wirkliche
epische Erzählung hat außer dem Jnteresse der Handlung selbst noch
hundert anderen Forderungen zu genügen: alle wichtigen näheren Umstände
müssen gekannt werden, der Schauplatz soll lebhaft vors Auge
gebracht werden, die Motive, aus denen die Thaten nicht allein der
Hauptpersonen, sondern auch der mittelbar Beteiligten entstehen, verlangen
mehr oder minder eingehenden, charakterisierenden Bericht. Hier
wird breiter Fluß und Vollständigkeit der Erzählung erfordert und das
sich unabweisbar herzudrängende dekorative Element nimmt einen [52]
großen Raum ein; wo immer der Volksgesang durch die Kunstpoesie
verfälscht oder gar ganz verdrängt ist, sind dies die Kennzeichen der
Entartung. Dagegen dort an Stelle der Vollständigkeit der Handlung
die sprung- und lückenhafteste Skizze des Verlaufs, anstatt sorgfältiger
psychologischer Charakteristik die schroffste Einseitigkeit und die grellste
Betonung immer nur des einzigen Motivs und zwar bis zu einem Grade
der Herbigkeit und äußerster Uebertreibung, welcher in der Erzählung,
und mag sie immerhin das Reich des Wunderbaren umschließen, niemals
ertragen wird, weil dadurch das Jnteresse und damit ihr Zweck
vernichtet würde, sondern der einzig und allein als ein Mittel die
Stimmungsgewalt nachzuahmen verstanden und ertragen werden kann.
Endlich die Dekorationsmalerei, worin die Kunstballade luxuriert, kennt
die Volksballade gar nicht.

Man vergleiche auf alle diese Kennzeichen hin nicht allein Stücke
wie „Herr Oloff“, „Wassermann“, „Ulrich und Aennchen“, sondern auch
solche wie „Das nußbraune Mädchen“, „Das Lied vom jungen Grafen“,
„Die Nonne“, „Vom eifersüchtigen Knaben“, oder „Das Lied vom Pfalzgrafen
oder dem grausamen Bruder“, „Graf Friedrich“ und unzählige
andere, während solche wie „Albertus Magnus“ oder „Die Herzogin
von Orlamunt“ in ihrer Breite und Umständlichkeit und freilich auch in
ihrer ganzen sonstigen Haltung schon die deutlichen Spuren einer ihres
Zieles nicht mehr gewissen Kunstrichtung tragen.1 Ein sehr interessantes
Beispiel ist Bürgers „dem Altenglischen nachgedichtete“ Ballade „Graf
Walter
“, welche zwar alle Merkzeichen der echten Volksballade an sich
trägt, aber durch die übel angebrachte Sorgfalt des alle Gelegenheit zum
Effekt ausnutzenden Dichters allenthalben in epische Breite gewandelt und
mit störendem Detail belastet.

Eben wegen seiner Anlehnung an den alt=englischen Volksgesang
ist Bürger in einigen seiner Dichtungen der echten Balladen nahe gekommen,
doch bleiben auch diese auf der Grenze stehen. Der „wilde
Jäger“ ist solch ein Stück; wie die Sage jener fürchterlichen Ausartung
der Jagdlust entsprungen ist, die unter all seinen unerträglichen Lasten
den mittelalterlichen Bauernstand am heftigsten empörte, so ist es dem
Dichter in der That gelungen, jenen bis zum grausigen Wahnwitz erhitzten,
wildesten Frevelmut in ergreifender Nachahmung darzustellen, aber
doch nur an einzelnen Stellen. Statt nach dieser einzigen Richtung auf
sein Ziel loszugehen, hierzu alle stärksten Züge, in kürzester Andeutung [53]
zusammengedrängt, zu vereinigen, alles andere ganz fortzuwerfen oder
höchstens durch ein Wort dem Hörer ins Gefühl zu rufen, bringt
er neben der ausgeführten Haupthandlung noch eine ganze Reihe von
Nebenhandlungen in nachdrücklich eingehendstem Vortrage vors Auge
und zerstreut damit das Jnteresse nach den verschiedensten Gesichtspunkten,
so daß in solchem Zusammenhange der breit moralisierende
Schluß freilich nichts Auffallendes mehr hat, so sehr er dem Wesen der
Ballade widerspricht.

Auch die „Lenore“ verdankt ihre weit hervorragende Stellung dem
vorwiegend lyrischen Stimmungscharakter und Sangeston des Ganzen,
dessen schattenhafte Vorgänge, ganz ohne eigentliche (innere) Handlung,
nur Seelenzustände zu vergegenwärtigen dienen sollen. Will man recht
klar erkennen, was das bedeutet, so vergleiche man mit diesen Gesängen
Stücke wie die „Entführung“ („Knapp', sattle mir mein Dänenroß“)
oder „Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain,“ oder „Das Lied von
Treue,“ in welchen in der That Handlung, und zwar um ihrer eigenen
epischen Bedeutung willen, bei dem letztgenannten vielleicht wegen der
anekdotenhaften Schlußwendung, nachgeahmt ist. Aber dennoch! wie
weit steht auch Bürgers „Lenore“ von der alt=schottischen Ballade ab,
welche einen ähnlichen Jnhalt, die todbringende Gewalt bis ins Grab
getreuer Liebe, unendlich viel reiner, tiefer und wahrer ausdrückt. Es
ist das schöne Lied „Wilhelms Geist“ in Herders „Stimmen der
Völker“, das achte im dritten Buche:


Da kam ein Geist zu Gretchens Thür

Mit manchem Weh und Ach!

Und drückt' am Schloß und kehrt' am Schloß

Und ächzte traurig nach.
„Jst dies mein Vater Philipp?

Oder ist's mein Bruder Johann?

Oder ist's mein Treulieb Wilhelm,

Aus Schottland kommen an.“
„Jst nicht dein Vater Philipp,

Jst nicht dein Bruder Johann!

Es ist dein Treulieb Wilhelm,

Aus Schottland kommen an.
„O Gretchen süß, o Gretchen lieb,

Jch bitt' dich, sprich zu mir;

Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu',

Das ich gegeben dir!“
[54]
„Dein Wort und Treu' geb' ich dir nicht,

Geb's nimmer wieder dir,

Bis du in meine Kammer kommst

Mit Liebeskuß zu mir.“
„Wenn ich soll kommen in deine Kammer ─

Jch bin kein Erdenmann,

Und küssen deinen Rosenmund,

So küss' ich Tod dir an.
„O Gretchen süß, o Gretchen lieb,

Jch bitt' dich, sprich zu mir;

Gieb, Gretchen, mir mein Wort und Treu',

Das ich gegeben dir!“
„Dein Wort und Treu' geb' ich dir nicht,

Geb's nimmer wieder dir,

Bis du mich führst zum Kirchhof hin

Mit Bräut'gamsring dafür.“
„Und auf dem Kirchhof lieg' ich schon

Fernweg, hin über'm Meer!

Es ist mein Geist nur, Gretchen,

Der hier kommt zu dir her.“
Ausstreckt sie ihre Lilienhand,

Streckt eilig sie ihm zu:

„Da nimm dein Treuwort, Wilhelm,

Und geh und geh zur Ruh!“
Nun hat sie geworfen die Kleider an,

Ein Stück hin unter das Knie,

Und all die lange Winternacht

Ging nach dem Geiste sie.
„Jst Raum noch, Wilhelm, dir zu Haupt

Oder Raum zu Füßen dir?

Oder Raum noch, Wilhelm, dir zur Seit',

Daß ein ich schlüpf' zu dir?“
„Kein Raum ist, Gretchen, mir zu Haupt,

Zu Füßen und überall,

Kein Raum zur Seit' mir, Gretchen,

Mein Sarg ist eng und schmal.“
Da kräht der Hahn, da schlug die Uhr,

Da brach der Morgen für:

„Jst Zeit, ist Zeit nun, Gretchen,

Zu scheiden weg von dir!“
[55]
Nicht mehr der Geist zu Gretchen sprach,

Und ächzend tief darein,

Schwand er in Nacht und Nebel hin

Und ließ sie stehn allein.
„O bleib', mein ein Treulieber, bleib',

Dein Gretchen ruft dir nach“ ─

Die Wange blaß, ersank ihr Leib

Und sanft ihr Auge brach.

Nicht allein, daß hier vermieden ist, was in Bürgers „Lenore“ so sehr
verletzt: die Roheit des Ausdrucks und die maßlose Heftigkeit in den
Aeußerungen des Schmerzes, welche statt den Seelenadel starker Empfindungen
zu bekunden, vielmehr die Vorstellung der Ungebärdigkeit
einer vulgären Natur hervorrufen; der Grund, warum die alte schottische
Ballade so hoch über der modernen deutschen steht, liegt tiefer. Jn jener
ist, wie in allen den herrlichen alten Stücken derart, die visionäre
Handlung wie die Schilderung der Körperwelt auf das strengste und
diskreteste lediglich nur als Darstellungsmittel des überwältigenden Gemütszustandes
verwendet; daher hält sich beides so glücklich und sicher
in den Grenzen der einfachen Wahrheit und Natur. Man kann die
Dichtung als eine symbolische auffassen, wenn man, im Goetheschen
Sinne, darunter eben nur versteht, daß ein Höheres, Allgemeines,
Abstraktes durch ein Einzelnes, Konkretes vergegenwärtigt wird; ein jeder
Zug der im Liede verwandten Handlung erweist sich unter diesem Gesichtspunkte
als von dem Liedeszweck gefordert und für denselben bedeutsam,
keiner ist überflüssig oder durch irgend ein anderes Jnteresse
eingegeben und bedingt. Ganz ist der Vorgang in die Seele des
liebenden Mädchens gelegt;
von seiten des toten Geliebten geschieht
nichts, als was eben nur die Konsequenzen des Faktums seines
Todes versinnlicht. Jn der Nacht erscheint sein Geist der sehnenden
Braut, durch seinen Tod ist das Band der Treue gelöst, er fordert das
Wort zurück, das er nicht einlösen kann; doch will sie von der Treue
nicht lassen, und das Wort, das sie endlich dem irrenden Geiste, um
ihm die Ruhe im Grabe zu gewähren, zurückgibt, behält für sie selbst
die bindende Kraft; der Tote weigert ihr die Vereinigung und mit dem
Morgengrauen schwindet die Erscheinung dahin; die Sehnsucht nach dem
einzig und für immer Erwählten raubt auch ihr das Leben: „O bleib',
mein ein Treulieber, bleib', dein Gretchen ruft dir nach“ ─ „Die Wange
blaß, ersank ihr Leib, Und sanft ihr Auge brach.“

Und nun vergleiche man damit, wie die „Lenore“ überall den Nachahmer
zeigt, und zwar den Nachahmer der bloßen Manier, der in den [56]
Nebendingen seine Stärke sucht und darüber den Hauptzweck aus dem
Auge verliert! Was das Gedicht so berühmt gemacht hat, ist die Virtuosität
in der Behandlung des dekorativen Beiwerks. Und um dieser
spukhaften Scenerie, um jenes Todesgrauens willen, das in der schottischen
Ballade sich nur mit leisem Anklang in die äußere Darstellung
mischt, aber ganz ohne die Seele der handelnden Hauptperson
zu berühren,
ist bei Bürger die Handlung in eine Breite ausgesponnen,
mit einem Detail ausgestattet, welche schon allein mit ihrem Charakter
als Darstellungsmittel im Widerspruch stehen. Aber weil ihm das
Bewußtsein dieser Bestimmung der Handlung fehlt und er sie daher
ganz als Selbstzweck betrachtet, geht ihr auch jener enge, symbolische
Anschluß an die zugrunde liegenden Gemütszustände und =Vorgänge verloren,
sie büßt mit der Einfachheit auch die Wahrheit ein. Statt durch
getreue Nachahmung ergreifenden Seelenlebens zu bewegen, beschränkt
sich die Dichtung darauf, durch eine effektvoll vorgetragene Spukgeschichte
rein äußerliche Sensation hervorzurufen!

Bürger stellt den Gegenstand unter einem veränderten Gesichtspunkt
dar; die Uebergewalt der Liebe kehrt sich über den Verlust des Geliebten
in Verzweiflung, die mit Gott und der Vorsehung hadert, die Entführung
durch den Geist des Bräutigams und der Tod Lenorens erscheinen dann
gewissermaßen als göttliches Strafgericht. Darauf deutet der moralisierende
Schlußgesang, den das im Mondenschein tanzende Geistergesindel
als Hochzeitslied „heult“: „Geduld! Geduld! wenn's Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei
der Seele gnädig!“ Und doch hat es der Dichter nicht vermocht den
Sturm in der Seele seiner Heldin in der Handlung selbst zu verkörpern,
sondern er greift zu dem poetisch weit unwirksameren Mittel ihn geradehin
zu beschreiben, wobei die Mattigkeit des Verfahrens durch das Excessive
des Ausdrucks aufgewogen werden soll. Die Handlung selbst aber
behält, trotz der Dekorationskunst, die darauf gewandt ist das Zwielicht des
Geisterreiches herzustellen, den Charakter eines von außen hereinbrechenden
Ereignisses, bei welchem die innerlich allein Beteiligte sich passiv, ja
zögernd und halb widerwillig verhält, während der Vollzug der Aktion
ganz ohne innere Motivierung dem Gespenste des toten Bräutigams
und dem gräulich spukhaften Geistergesindel von Kirchhof und Hochgericht
zufällt. Soll darin eine Symbolik gefunden werden ─ und wie anders
erhält der ganze Vorgang überhaupt irgend eine Bedeutung? ─ so kann
es nur diese sein: die tötliche Wirkung des „in Gehirn und Adern
wütenden“ Fieberparoxysmus; ein singulärer und noch dazu häßlich
pathologischer Vorgang, statt, wie in „Wilhelms Geist,“ der Offenbarung [57]
kraftvollster und zugleich zartester Gemütsart, die, obwohl im einzelnen
Falle vergegenwärtigt, doch in typischer Allgemeinheit die Macht der
Kräfte verkündet, deren das menschliche Herz fähig ist.

Nicht die Liebesempfindung selbst ist in der schönen Ballade dargestellt,
sondern die Gesamthaltung des Gemütes und Charakters
gegenüber
dieser Empfindung ist ihr Gegenstand; wie in den unzähligen
Balladen, in denen von Liebesverhältnissen gesungen wird, es sich in
gleicher Weise nirgends um den bloßen Empfindungsausdruck handelt,
der die Sache des lyrischen Liedes ist, sondern überall um die Nachahmung
des so vielfach unterschiedenen „ethischen“ Verhaltens gegen
jene Leidenschaft, von Treue und Untreue, Eifersucht und felsenfestem
Vertrauen, Ernst und Leichtfertigkeit, selbstvergessener Demut und stolzester
Strenge, grenzenloser Hingebung und heroischem Entsagen und wie die
zahllos wechselnden Zustände des menschlichen Geistes und Herzens alle
benannt werden mögen.

Das also ist jenes Dritte, womit neben den „Handlungen
und „Empfindungen“ der Kreis der für die Künste vorhandenen
Gegenstände sich schließt: Stimmungen, Gemütsarten, aber auch zugleich
Gemütszustände, ja Charakterbeschaffenheiten. Wie schon oben bemerkt, die
deutsche Sprache hat keine scharf begrenzte, alle diese verwandten Begriffe
unter einer klar bestimmten logischen Kategorie versammelnde Bezeichnung
ausgeprägt, aber die griechische besitzt eine solche in dem Begriff des
Ethos“, welcher alle jene Aeußerungen der Seelenthätigkeit umfaßt.

Als die Gegenstände der Mimesis durch die Kunst bezeichnet
Aristoteles diese drei: πάθος, ἦθος, πρᾶξιςEmpfindung, Ethos,
Handlung.

Ein kurzer Nachweis wird genügen um zu zeigen, wie viel klarer
und philosophisch bestimmter der griechische Sprachgebrauch auf diesem
Gebiete ist, als die schwankende deutsche Ausdrucksweise. Vor allem freilich
ist von vornherein das Mißverständnis fernzuhalten, als ob unter
„Ethos“ Sittlichkeit zu verstehen sei, und als ob mit der Erzielung
ethischer Wirkungen die Vorstellung moralischer Besserung verbunden
werden müßte. Etwas ganz anderes ist es, daß allerdings auf
dem Gebiete des Ethos die Elemente liegen, aus denen die sittliche Beschaffenheit
sich konstituiert, aber eben nach allen Seiten hin. Die ethischen
Vorgänge (ἤθη) an sich sind von selbständiger Bedeutung und in dieser
Beziehung den einfachen Empfindungen (πάθη) gleichgestellt, welche ja
auch an sich absoluter Natur sind; die Relation auf das Sittlich=
Gute
erhalten beide erst durch die hemmende oder anfeuernde Oberleitung
der Vernunft (νοῦς).

[58]

Unter sich sind sie nun aber sehr verschieden. Es ist etwas ganz
anderes, ob durch einen bewegenden Anlaß die einfachen Empfindungen,
wie Liebe, Haß, Furcht, Mitleid, Zorn, Neid u. s. w., in der Seele hervorgerufen
werden, sei es, daß sie durch besonders starke Erschütterung
plötzlich hervorbrechen, sei es, daß die Neigung und das Vermögen dazu
(δύναμις) durch individuelle Anlage in der Seele schon vorhanden ist,
oder ob durch öfters wiederholtes Gewährenlassen oder Zügeln einer
einzelnen solchen Empfindung oder mehrerer ihrer Natur nach leicht zu
einem Komplex sich vereinender, sich eine mehr oder minder dauernde
Gewöhnung herausbildet, welche dem Jndividuum ein eigenartiges Gepräge
verleiht. Für „Ethos“ in diesem Sinne, für die Bezeichnung also
der dem Einzelnen sowohl als ganzen Nationen eigenen, besonders hervorstechenden,
Gemütsbeschaffenheit lieben wir Modernen den andern
griechischen Ausdruck „Charakter“ anzuwenden; so sprechen wir von der
leidenschaftlichen Empfindungsenergie des altjüdischen Volkes, die seine
religiöse Lyrik auszeichnet, von dem Schönheitssinn der Griechen und
dem nüchtern scharfsinnigen Realismus der Römer, von der Kampfesfreudigkeit
der alten Deutschen und der Ruhmsucht der Gallier, vom
Phlegma des Holländers und der phantastischen Hitzköpfigkeit des Jren.
Ueberall aber handelt es sich dabei keineswegs um ein Urteil über die
moralische Handlungsweise der Nationen, sondern um eine in Volksart,
Wohnplätzen, Klima und Geschichte begründete, typisch ausgeprägte Art
sich geistig zu verhalten ─ ein Ethos!

Ebenso jedoch bedeutet Ethos diejenige Empfindungsweise oder
Seelenhaltung, welche sich nach einer bestimmten Richtung hin, einem
bestimmten Anlaß gegenüber, temporär, aber nicht zufällig, sondern
wieder der Anlage und Gewöhnung der Seele gemäß geltend macht.
Aus dem gewohnheitsmäßigen Vorherrschen nicht nur einer einzelnen
Empfindung, sondern ganzer koordinierter Gruppen, aus dem gleichzeitigen
Zurücktreten anderer, geht eine stationäre allgemeine Seelenhaltung und
=Stimmung hervor, welche latent, ihrer Möglichkeit nach, bei dem Jndividuum
dauernd vorhanden ist, um dann bei jedem dazu gearteten Anlaß
zeitweilig in die Erscheinung zu treten. So sind Andacht, Frömmigkeit,
Pietät (womit wir im Deutschen ja noch einen engeren Sinn
verbinden) als Ethos zu bezeichnen, nicht als einfache Empfindungen,
ebenso Frohsinn, Freudigkeit und ihr Gegenteil, Schwermut, Verzagtheit;
ferner Uebermut oder Besonnenheit, Zuversicht und Kleinmut, Zufriedenheit,
Glück und Seligkeit oder Ungenügsamkeit, Reue und Verzweiflung,
und so fort, wofür wir im Deutschen vorzugsweise den Ausdruck
Stimmung gebrauchen.

[59]

Aus den verschiedenartigen Kombinationen charakteristischer Eigenart
des Empfindens und vorwaltender Stimmungen ergeben sich ferner
Gefühlsweisen und =Richtungen, wie sie ganze Epochen, sie vor allen
andern kennzeichnend, beherrschen. Auch diese fallen unter den Begriff des
Ethos: so das Romantische, das Naive und Sentimentale, Jdyllische und
Heroische, Satire und Jronie, künstlerischer oder religiöser Enthusiasmus,
Fanatismus, Askese und wieder auf der andern Seite Skepsis und Rationalismus
und vieles ähnliche, sofern nämlich alles dieses außer in dem
Verstande auch im Gemüte seinen Sitz hat und als Gesinnung sich äußert.

Die Menge dieser gesamten unter den Begriff des Ethos zu rechnenden
Gemütsvorgänge mit allen ihren verschiedenen Graden, Färbungen,
Ausartungen nach der einen und der andern Seite hin, die unendliche
Zahl der hier möglichen und vorhandenen Erscheinungsformen, hat bei
weitem nicht die entsprechende Anzahl von Bezeichnungen in den Sprachen
gefunden, vieles ist „anonym“ geblieben, unnennbar oder doch unbenannt,
obwohl die Sprachen, je nach dem verschiedenen Genius der Nationen, auf
diesem Gebiete sich ergänzen. Um nur ein Beispiel hervorzuheben: man
denke an die große Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, welche das eine Ethos
der Andacht anzunehmen fähig ist, wie verschieden es bei Juden, Griechen
und Römern erscheint und bezeichnet wird, wie wechselvoll in seiner Entwickelung,
Entartung und Wiedererweckung bei den modernen Völkern!

Wie unendlich weit ist das Gebiet, welches in diesem dritten
Gegenstande der Nachahmung für alle Künste offen steht! Und wenn
es dem Künstler gelingt mit den Mitteln, welche ihm seine specielle Kunst
gewährt, das ihn selbst erfüllende Ethos nachahmend darzustellen, so
muß es wenigstens vorübergehend bei jedem irgend Empfänglichen durch
seine Darstellung erweckt werden, stärker natürlich bei den ohnehin schon
entsprechend disponierten, um so sicherer aber und um so bedeutender in
seiner Wirkung bei allen, je höher geartet es ist und je mehr in Uebereinstimmung
mit der vollkommensten Ausgestaltung des seelischen Lebens.

Es ist klar, daß der Poesie das ganze weite Feld der Nachahmung
sowohl von Handlungen als von Empfindungen und
Ethos jeder Art zugehört; dagegen werden die bildenden Künste ihre
Hauptstärke in der Nachahmung der beiden letzteren haben und nur bedingungsweise
auch die ersten umfassen können, während die Musik
vorzugsweise Ethos nachzuahmen und erst unter gewissen Bedingungen
auch die Empfindungen in ihren Bereich zu ziehen vermag.1 [60]
Die Kunst aber, welche ganz und gar mit ihren Mitteln auf die nachahmende
Erweckung des Ethos gewiesen ist, und welche hier ihre ganze
Stärke entfaltet, ist die Architektur.

„Und in Poseidons Fichtenhain tritt er mit frommem Schauder
ein“: es ist ein Ethos, welches hier bezeichnet wird, wie es ein Ethos 1 [61]
ist, was den Germanen in seinen Wäldern überkommt, ein anderes im
Eichenwald, im Buchenhain und in der Kiefernheide, wie es wieder ein
anderes ist unter Palmen oder Cedern des Libanon! Was die Kunst
so im Leben findet, macht sie nun ihrem plan- und gesetzmäßigen Verfahren
dienstbar, und wieder wirkt hier jener unmittelbare Zusammenhang
der Formen und ihrer Komposition mit dem Bewegungsleben der Seele.
Jn Hainen und Wäldern verehrte der Grieche wie der Germane seine
Götter, aber das Ethos frommer Scheu und andachtsvollen Schauders
ist ein anderes bei diesem wie bei jenem; und als sie dem, was sie empfanden,
in bewußten Schöpfungen Ausdruck gaben, erzeugte die verschieden
beschaffene ethische Haltung sehr verschiedene Baustile. Was
aber ist an diesen das innerlich Verschiedene, also künstlerisch Wesent= 1 [62]
liche, wenn nicht der verschiedene Bewegungsvorgang, den sie beide in
der Seele erzeugen? Was ahmen sie nach als diesen? Und gilt nicht
dasselbe wie von den übrigen kirchlichen Baustilen so auch von der gesamten
weltlichen Architektur, sofern sie nur künstlerisch frei behandelt
wird, also von Monumenten, Palästen, Burgen und Schlössern, ja von
Zimmereinrichtungen, Möbeln und Geräten? Welche bunte Menge
ethischer Stimmungen kann sich hier verkörpern, von der erhabenen
Majestät und ihren Ausartungen, dem Sinn für Ceremoniell und Etikette,
bis zur heiteren Prachtliebe oder dem Behagen an Ordnung und Wohlanständigkeit,
oder von abenteuerlichem Trotz, stolzer Kühnheit und von
romantischer Phantastik bis zu idyllischem Genügen und maßvoller Freude
an harmonischem Dasein.

Jst das Reich der Poesie ein innerlich viel weiteres, ja universelles,
so ist die Wirkung der Architektur dafür desto unmittelbarer,
weil sie ganz sinnlich ist, während jene sich an die Vorstellungskraft
wenden muß. Mit stiller Gewalt bemächtigt sie sich der Seele des willig
hingegebenen Beschauers und in ihren größten Hervorbringungen hat sie
die Macht ihn ungeteilt mit dem einen Ethos zu erfüllen, das sie in
unvermischter Reinheit darstellt, oder doch, wo sie sich geringere Ziele
steckt, vermag sie unmerklich das gesamte Fühlen und Sinnen in den Bann
der durch sie verkörperten ethischen Haltung zu ziehen.

Auch hier kann die Poesie nachfolgen; wie sie malerische Formen
sich dienstbar zu machen vermag, so kann sie auch architektonische Gebilde
in ihren Bereich ziehen, freilich nur Vorstellungen davon, welche
immer der Kraft sinnlicher Wirkungen nachstehen werden. Aber was
hier verloren gegeben werden muß, weiß der Dichter durch den richtigen
Gebrauch seiner Mittel auf einer anderen Seite einzubringen. Der
bildende Künstler hängt mit seiner Wirkung ganz von der Empfänglichkeit
des Beschauers ab, dieser muß die stummen Züge in sich lebendig
werden lassen, sie reden die Sprache, die er aus ihnen zu vernehmen
vermag; der Dichter hingegen begleitet die Vorstellungen, die er hervorruft,
mit dem beredtesten Ausdruck der Empfindung, des Ethos, die ihn
selbst beleben; ihre ganze Kraft, ihren ganzen Reichtum, die ganze Gedankenwelt,
die, an tausend Fäden sich anknüpfend, um den durch sie
gegebenen Mittelpunkt aufsteigt, überträgt er durch die Zaubermacht des
dichterischen Wortes in die Seelen der Hörer, die durch ihn zu erhöhtem
Leben erweckt, nun auch der Natur selbst und den Werken der bildenden
Künste mit aufgeschlossenem Sinn, mit bereiterem Empfangen gegenübertreten.
Ein unvergleichliches Beispiel derart ist Goethes „Wanderer“.

Doch das sind Nebenwirkungen der Poesie; ihr Hauptmittel [63]
für die Nachahmung des Ethos, wo sie dasselbe nicht geradehin sich aussprechen
läßt, wie etwa im Monolog des Dramas, ist immer die Handlung.
Und im Drama ist der erregende Anlaß ja durch die Gesamthandlung
des Stückes gegeben; jedoch die poetische Nachahmung tiefgreifender
ethischer Gemütszustände an und für sich wird immer
die Skizzierung eines äußeren, anstoßgebenden Vorganges zur Voraussetzung
haben müssen, wenn dieselbe auch nur flüchtig und in den äußersten
Umrissen gegeben wird. So verfährt die Ballade, und in den weitaus
meisten Fällen genügt dies Verfahren für ihren Zweck; nur wo es etwa
gilt die charakteristische Art und Stimmung eines ganzen Volksstammes,
die Signatur einer ganzen Epoche kenntlich zu machen, wo also das
nachzuahmende Ethos nicht in einer Hauptfigur vorhanden ist, sondern
erst in einer Menge von Personen kollektiv zur Erscheinung kommt,
wird eine etwas breitere Ausführung erfolgen müssen.

Zwei der hervorragendsten Balladen aus Herders „Stimmen der
Völker“ ─ im dritten Buche die sechzehnte und siebzehnte ─ können
als typische Beispiele für die eine und die andere Gattung gelten. Jn
der denkbar kürzesten Weise ist die Situation in der altschottischen Ballade
Edward“ („Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot“) gezeichnet;
aber der Sturm angstvoller Reue, wilder, hoffnungsloser Verzweiflung
in dem Herzen des Vatermörders kann markerschütternder nicht vorgegestellt
werden, als es in diesem schaurigen Liede geschehen ist.

Die andre Ballade ist das aus zwei Liedern bestehende, scheinbar
so ganz epische Stück „Die Chevy-Jagd“, von welchem Herder in
den vorangeschickten „Zeugnissen über Volkslieder“ das Wort Philipp
Sidneys anführt: „Nie hörte ich den alten Gesang: ‚Percy und
Douglas
‘, ohne daß ich mein Herz von mehr als Trompetenklang gerührt
fand.“ Obwohl darin von Anfang bis zu Ende erzählt wird, so ist
die Erzählung doch von Anfang bis zu Ende ausschließlich durch den
Liedeszweck bestimmt und diesem untergeordnet; nirgends will sie für
sich selbst gelten, wie im Epos durchweg. Demgemäß verfährt sie auch
nur andeutend, gleichsam alles von sich wegweisend, was nicht dazu
dient die doppelte Stimmung, die den Sänger beherrscht, den Zuhörern
mitzuteilen: die unbezähmbar vordrängende Lust am Streit und Kampf
der von uralters her feindlichen Grenznachbarn, „wie das Necken Zorn
ward“, und dann die tieftraurige Klage über das geschehene Unheil,
diese das Ganze durchdringend und beherrschend. Daher ganz konsequent
auch die Darstellung in zwei „Sätzen“, wie man in Analogie der musikalischen
Form fast sagen möchte. Jn dem ersten die ungeduldig und ungestüm
hervorbrechende altenglisch=schottische Streitlust und Kampfbegier, doch [64]
schon hier der Vordersatz des Hauptthemas: „Das Kind wehklagt's noch
ungebor'n! Es ward sehr jammrig noch“; in dem zweiten Liede dann
die entfesselte Wut des Wechselmordens und die Trauer über das nutzlos
vergossene edle Blut: „Sie hoben einander auf, und stehen konnt
mancher, mancher nicht.“ „Das Kind wehklagt's noch ungebor'n, die
Jammerklaggeschicht'!“ Es geschieht ja in dieser Ballade sehr viel, aber
der springende Punkt des Darstellungsinteresses (das τέλος μιμήσεως)
liegt nicht in der Mitteilung des historischen Ereignisses ─ wie in den
Homerischen Gesängen Thaten und Kämpfe um ihrer selbst willen und
um des Anteils der einzelnen Helden willen vorgetragen werden ─,
sondern in der Verkörperung der Sinnesart, die der Epoche den Charakter
verlieh und die in der Geschichte der feindlichen Nachbarvölker
eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Alles einzelne und individuelle
hat die Sage und der Volksgesang diesem ethischen Jnteresse ─ dem
Liedeszwecke ─ mit wahrhaft staunenswerter Kunst entweder ganz geopfert
oder doch dienstbar gemacht. ──────


VI.

Wenn eine bestimmte Begrenzung des Wesens der Ballade sonst
vermißt wird, so würde auf der Grundlage der obigen Voraussetzungen
sich die Definition derselben in folgender Weise herstellen:

Die Ballade ist eine Dichtung, welche den Zweck hat ein
Ethos nachahmend darzustellen und zwar vermittelst der
Erzählung eines Vorganges oder einer Handlung.
Sie gehört
also ihrem Wesen nach der lyrischen Gattung an und nur ihren
äußeren Mitteln nach der epischen; eben darum aber ─ da das
Mittel nie den Zweck verdrängen oder auch nur verdunkeln soll ─ darf
die Erzählung niemals epischen Charakter annehmen, sondern muß
dem lyrischen Hauptzweck dienen und also auf die bloße Andeutung
der Vorgänge und Handlungen sich einschränken. Eben daher ist ihre
Haltung liedartig und es gehört zu ihrem Wesen, daß sie sangbar
ist,1 wie denn auch alle Volks-Balladen gesungene Lieder sind.

Damit wäre zugleich erklärt, warum die Ballade mit Vorliebe auf
dem Boden mythischer und historischer Sage sich bewegt, weil dort [65]
am reichsten die Verkörperungen den Einzelnen oder die Gesamtheit bewegender
Sinnesweisen und Gemütsvorgänge gefunden werden; liegt ja
doch umgekehrt gerade in dem ethischen Jnteresse die stärkste mythen=
und sagenbildende Kraft. Freilich hat ein reicher Sagenschatz nicht bei
allen Völkern zur Balladendichtung geführt; es möchte für die obige
Definition der Ballade sprechen, wenn von ihr aus unmittelbar die auffallende
Thatsache zu erklären wäre, daß ein poetisch so hoch begabtes
Volk wie die Griechen die Ballade nicht kannte, ja daß die Vorstellung
derselben mit dem Wesen der griechischen Dichtung sich gar nicht vereinigen
läßt. Der Grund liegt in dem ausgeprägten Formensinn des
griechischen Volkes, in dem unabweisbaren Bedürfnis die Gebilde seiner
Phantasie in plastischer Rundung auszugestalten und in voller Klarheit
anzuschauen. Diese Neigung oder diese zwingende Anlage gestattet es
nicht eine irgendwie bedeutende Handlung zum bloßen Mittel für die
Darstellung eines Gemütsinhaltes gewissermaßen zu verflüchtigen, sondern
sie verlangt für die Handlung an sich, als alleinigen Gegenstand, die
hellste Beleuchtung und ungeteiltes Jnteresse. Wie anders die nordischen
Völker, denen umgekehrt der lebhafteste Anteil an den Gemütsvorgängen
im Vordergrunde steht, und denen darüber leicht die Gestalten und Ereignisse
in nebelhafte Umrisse sich verlieren! Was liegt in so zahlreichen
Gesängen, wie sie von den griechischen Aöden jahrhundertelang umhergetragen
sind, dem Stoffe nach an sich hinderndes, daß sie die
Balladenform nicht hätten annehmen können; man denke allein an das
Tantalidenhaus, an die Niobidensage? Wenn es nicht ganz unmöglich
wäre, diese Gestalten in solcher Behandlung sich zu denken! Es ist
als ob schon allein die unvergleichliche Anlage für die Plastik bei den
Griechen das Organ für die Balladendichtung ausschließen mußte! Diese
lichten Formen, hell beschienen von der leuchtenderen Sonne des griechischen
Himmels, sie treten uns überall wieder entgegen, im Götter= und
Heroenmythus, in der historischen Sage, im Epos. Wo wir diese Schar
von Göttern und Halbgöttern, von Nymphen und Satyrn, von Sängern
und Helden erblicken, da zieht ihre bloße Erscheinung unsre ganze
Aufmerksamkeit auf sich, ihre Schicksale und ihr Handeln nehmen um
ihrer selbst
willen bis in die kleinsten Züge unsre ganze Teilnahme
gefangen. So hat die griechische Dichtung das Mittel der Erzählung
nicht anders angewandt als um wirkliche innere Handlung darzustellen,
im Epos und im Jdyll.1

[66]

Selbst wo die moderne deutsche Dichtung es unternommen hat
antike Stoffe balladenmäßig zu behandeln, kann dieser Versuch nicht als
geglückt angesehen werden, und zwar aus den eben entwickelten Gründen.
Selbst Schillers Genius hat es nicht vermocht die widerstrebenden
Stoffe in ihrem innersten Wesen so völlig umzugestalten. Gedichte wie
„Die Bürgschaft“, „Der Ring des Polykrates“, Schlegels „Arion“ oder
selbst „Die Kraniche des Jbykus“ tragen den Charakter einer, freilich
poetisch geschmückten, aber doch lediglich epischen Erzählung; Gegenständlichkeit,
thatsächliches Jnteresse zeichnet sie aus; was die Ballade macht,
die Sangesweise, die einzig und allein den Liedcharakter konstituierende
lyrisch=ethische Tendenz, fehlt ihnen.

Nur Goethe scheint auch hier eine Ausnahme zu machen; aber
der Stoff der „Braut von Korinth“ ist nichts weniger als antik im
eigentlichen Sinne, und durch die Behandlung vollends ist er ganz und
gar Goethesches Eigentum; wie er das Motiv ja auch Jahrzehnte hindurch
„lebendig und wirksam im Jnnern erhalten“ hatte, bis es „der
Darstellung entgegengereift“ war. Und dennoch trotz der meisterhaften
Beherrschung „der gewaltig belebenden Kunstform, die jeden Stoff veredelt
und verwandelt“, womit er das gegenständliche Jnteresse der Erzählung
in ein ethisches umzusetzen bestrebt ist, bleibt das erstere überwiegend
und die reine Wirkung der echten Ballade kommt nicht völlig
zustande. Aber die Ursache liegt nicht darin, daß der Stoff antiker
Herkunft ist, sondern in seiner komplizierten und ganz singulären Beschaffenheit,
welche es dem Dichter nicht gestattete das rein Menschliche,
allgemein Verständliche für sich selbst sprechen zu lassen, sondern kunstreiche
Exposition der im Kampf befindlichen heterogenen Weltanschauungen
und symbolische Darstellung der in diesem Konflikt beleidigten und
sich rächenden Natur erforderte. Das pathologisch wirkende und bloß
stoffliche Jnteresse dieses Gegenstandes wird durch keine Kunst soweit
überwunden, daß die beabsichtigte ethische Wirkung rein, einfach und
unmittelbar empfunden werden könnte; der einzelne Fall fesselt uns zu
stark, als daß wir, völlig befreit, uns zum Allgemeinen erhoben fühlten.

Mit welcher Kunst aber Goethe auch heimisch vertraute Stoffe, um
sie der Balladenform zu fügen, umzuwandeln und neu zu gestalten pflegte,
davon gibt die „Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden
Grafen
“ ein merkwürdiges Zeugnis. Er nennt diese Behandlung
eine „mysteriöse“, in dem Sinne, daß die dargestellten Vorgänge an 1 [67]
Deutlichkeit und Vollständigkeit ein Beträchtliches einbüßen müßten; in
dem vorliegenden Gedichte ist er darin soweit gegangen, daß er, wie in
der hinzugefügten Erklärung wohl zu weit gehend von ihm gesagt wird,
„der Auffassungskraft selbst geistreich=gewandter Personen durch prosaische
Darstellung zu Hülfe zu kommen“ für erforderlich hielt.

Die allgemeine Betrachtung, welche er dabei einleitend vorausschickt,
steht, wenn auch keineswegs in ihrer Formulierung, so doch dem Sinne
nach völlig im Einklang mit der im Obigen entwickelten Theorie; dieses
bestätigende Zeugnis mag daher hier folgen:

„Die Ballade hat etwas Mysteriöses, ohne mystisch zu sein; diese
letzte Eigenschaft eines Gedichtes liegt im Stoff, jene in der Behandlung.
Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der
Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren
Thaten und Bewegungen, so tief im Sinne, daß er nicht weiß,
wie er ihn ans Tageslicht fördern soll. Er bedient sich daher
aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken,
was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen
soll;
er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die
Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben.
Der Refrain, das Wiederkehren eben desselben Schlußklanges,
gibt dieser Dichtungsart den entschieden lyrischen Charakter.

„Hat man sich mit ihr vollkommen befreundet, wie es bei uns
Deutschen wohl der Fall ist, so sind die Balladen aller Völker verständlich,
weil die Geister in gewissen Zeitaltern, entweder kontemporan oder successiv,
bei gleichem Geschäft immer gleichartig verfahren. Uebrigens ließe
sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen,
weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem
lebendigen Urei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als
herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.“

Jn mehr als einer Hinsicht enthalten diese Goetheschen Worte die
Bestätigung der obigen Darlegung. Zunächst heben sie auf das Bestimmteste
„den entschieden lyrischen Charakter“ der Ballade hervor; sodann
aber, was kann der unbestimmt gefaßte Satz: „der Sänger hat
seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Thaten und Bewegung,
so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht
fördern soll“, anders bedeuten, als daß nicht jene Gegenstände,
Figuren, Thaten der wesentlichste Jnhalt der Ballade sind, sondern der
ihnen innewohnende Stimmungsgehalt, der den Sänger im tiefsten
Jnnern ergriffen hat und nach Gestaltung verlangend ihn bewegt, also
eben das, was im Obigen das Ethos des Stoffes genannt wurde? [68]
Nur noch stärkere Bekräftigung erhält diese Auffassung durch die jenem
Satze hinzugefügte Schlußfolgerung, daß der Sänger „nach Belieben die
Formen wechselnd“ „sich aller drei Grundarten der Poesie bedienen“
könne, „um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen,
den Geist beschäftigen soll“; damit ist deutlich ausgesprochen, daß sowohl
der lyrische Ausdruck einzelner Empfindungen als die epische oder dramatische
Darstellung äußerer Handlungen in der Ballade nur als Mittel
verwandt werden, um etwas Drittes, „was der Sänger tief im Sinne
hat“, und was er auch bei den Zuhörern nachahmend hervorbringen
will, darzustellen: das Ethos, womit sein Stoff ihn erfüllt.

Was die Volksballade mit naiver Sicherheit überall leistet, die Verflüchtigung
des stofflichen Jnteresses der Handlung zu Gunsten des
ethischen, erfordert also von seiten des Dichters die Aufbietung seiner
höchsten Kunst. So ist denn auch die Zahl der in diesem Sinne als
den Forderungen der Gattung völlig entsprechend zu bezeichnenden
Dichtungen eine sehr kleine; in manchen Fällen wird es freilich schwer
sein die Grenze mit Sicherheit zu bestimmen, wo der Balladencharakter
aufhört und dafür der der poetischen Erzählung eintritt, denn daß auch
in dieser eine einheitliche Stimmung festgehalten werden kann, ist unbestreitbar.
Nur hüte man sich den moralischen Gehalt eines
solchen Stückes mit dem ethischen Jnhalte desselben zu verwechseln!
Der Unterschied ist groß und in die Augen springend, und so günstig
dieser dem Sangestone ist, so unverträglich mit demselben ist die moralische
Tendenz, auch wenn sie durchaus nicht etwa nur äußerlich der
Erzählung angefügt ist, sondern selbst dann, wenn sie als die Seele der
Handlung die Erzählung leitend bestimmt. Man halte Gedichte wie
Goethes Lied „Vom vertriebenen Grafen“ oder „Der untreue Knabe“
neben die „Bürgschaft“ oder den „Ring des Polykrates“, und das Urteil
kann für niemanden zweifelhaft sein. Strophen wie diese:


„Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht,

Ein Retter, willkommen erscheinen,

So soll mich der Tod ihm vereinen.

Deß rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,

Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,

Er schlachte der Opfer zweie

Und glaube an Liebe und Treue.“

und dann die Schlußstrophe:


Und zum Könige bringt man die Wundermär',

Der fühlt ein menschliches Rühren,

Läßt schnell vor den Thron sie führen.
[69]
Und blicket sie lange verwundert an;

Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,

Jhr habt das Herz mir bezwungen;

Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn;

So nehmet auch mich zum Genossen an!

Jch sei, gewährt mir die Bitte,

Jn eurem Bunde der dritte.“

Diese, wie die entsprechenden im „Ring des Polykrates“ oder im „Kampf
mit dem Drachen“, sie zerstören den Sangescharakter nicht allein durch
ihre Reflektiertheit und moralisierende Absichtlichkeit, sondern noch mehr
dadurch, daß sie die Träger des Ganzen sind, auf welche die Handlung
gebaut ist. Statt der Nachahmung des Ethos und der poetischen unmittelbaren
Wirkung derselben in unserm Gemüte haben wir in allen
diesen Stücken die Erzählung, die gewissermaßen in einem moralischen
Beispiel den Erweis vor Augen stellt, was für Wirkungen nicht dieses
Ethos selbst, sondern eine durch dasselbe bestimmte Entschließung auf
die Entschließung eines Andern hervorbringen mußte. Nicht jenes Ethos,
sondern diese innere Handlung ist der Gegenstand der Nachahmung:
die Stücke sind nicht lyrisch, sondern episch.

Aber dies ist nicht die einzige Klippe, die dem Gelingen der echten
Ballade gefährlich ist. An einer andern ist, ungeachtetet aller hohen
Vortrefflichkeit, doch auch Schillers „Taucher“ gescheitert. Hier enthält
die eigentliche Handlung ohne alle Frage einen höchst balladenmäßigen
Kern: das plötzliche Aufflammen der Liebesglut, das den Jüngling in
die Todesgefahr treibt, deren Schrecken er kaum entronnen, ist ein
Ethos,
geeignet der schönsten Ballade den Ursprung zu geben. Jst
dieses nun aber das Gefühl, das aus Schillers Gedicht als das Ganze
beherrschend den Hörer ergreift, um ihn ganz in Besitz zu nehmen? Oder
wird der Eindruck davon, den wir allerdings zum Schlusse auch noch
empfangen, nicht weit überwogen von dem Hauptinteresse, das wir an
der meisterhaften Schilderung des Meeresstrudels mit den Schrecknissen
seiner Tiefe und der Erprobung seiner Gefahren nehmen, also doch an
der äußerlichen, lediglich als Mittel dienenden, Handlung? Jmmerhin
eine Schilderung von hervorragender Schönheit, aber statt der tief innerlichen
Bewegung von Herz und Gemüt doch ein vorwiegend sensationelles
Schauspiel! Wie hätte Goethe diesen Stoff im Jnnern zubereitet, bis
er das Mittel gefunden hätte ihm die volle ethische Wirkungskraft zu
erteilen! Die ganze Vorhandlung nur sprungweise angedeutet, aber im
Vorgefühl des tragischen Ausganges die verderblichen Schrecknisse der
Tiefe durch einzelne malerische Züge vom stärksten Nachdruck in mehr= [70]
facher Wiederholung zu ängstigendem Bewußsein gebracht, endlich auf
den ethisch bedeutsamsten Teil der Handlung das hellste Licht geworfen
und hier die höchste lyrische Kraft entfaltet! Nur der Schluß hätte unverändert
aus dem Schillerschen Gedicht übernommen werden können:


Da bückt sich's hinunter mit liebendem Blick,

Es kommen, es kommen die Wasser all',

Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder,

Den Jüngling bringt keines wieder.

Eine andere Ausartung der Ballade entsteht, wenn das Jnteresse
der Handlung auf dem historischen Charakter der Episode oder Anekdote
beruht, die mitgeteilt wird; ob das in der trockensten Weise geschieht
oder mit hochpoetischem Schmuck, ändert nichts daran, daß der Balladenzweck
damit von vornherein verfehlt ist.

Unter diesem Mißgriff leidet Schillers „Graf von Habsburg“.
Unvergänglich bleibt dessenungeachtet das Gedicht durch seine einzelnen
Schönheiten,
aber die höchste eine Schönheit, durch Einheit des
Kunstzweckes als ein Maximum innerhalb der Gattung die Forderungen
derselben ganz zu erfüllen, entgeht ihm. Sehr unterrichtend ist die Feststellung,
worin denn nun jene einzelnen Schönheiten bestehen: es ist
der Hoch- und Edelsinn des Kaisers, den die Dichtung uns vorführt,
seine echt fürstliche und echt menschliche Liebe zur Kunst und jenes köstliche
Anerkenntnis ihrer göttlichen Würde und unantastbaren Freiheit;
es ist ferner die Verherrlichung seiner frommen und echt bescheidenen
Gesinnung. Was der Dichtung ihre Schönheit verleiht, ist also durchweg
die Verkörperung einzelner ethischer Züge, welche sich ja wohl auch
zu dem Gesamtbilde eines weisen, frommen und freundlichen Fürsten
vereinigen: nur daß die Gesamthandlung nun auf etwas ganz Anderes
hinausläuft, auf den äußerlichen Zufall, daß der Sänger des Krönungsfestes
aus eigenster Erfahrung von der kirchlichen Ergebenheit, oder sagen
wir auch von der frommen Demut, des ehemaligen Grafen Zeugnis abzulegen
imstande ist; eine überraschende und erfreuende Wendung, die
aber weder die erschütternde Wirkung auf den Hörer ausüben kann, mit
der sie den zunächst Beteiligten ergreift, noch ihm die Ueberzeugung von
dem mystischen Zusammenhange des Ereignisses mit der Kaiserwahl mitzuteilen
vermag, welchen das Gedicht am Schlusse dunkel ahnen läßt.

Noch ferner ab liegen die anekdotenhaften Erzählungen, welche etwa
auf ein epigrammatisches Wort oder auf eine Pointe hinauslaufen. Doch
wenn es hier nahe liegt, etwa wieder an ein Schillersches Beispiel „Der
Handschuh
“ zu denken, so führt die Betrachtung dieses Gedichtes in
einen ganz neuen Kreis.

[71]

Die Romanze, obwohl der Ballade nahe verwandt, ist doch auf
ein ganz bestimmt begrenztes Gebiet gewiesen, wodurch sich ihre Gesetzgebung
wesentlich modifiziert.

Das Liederartige, Lyrische muß auch hier in der Haltung des
Ganzen überwiegen, die erzählte äußere Handlung nur das Mittel sein;
ihr Zweck, also der Gegenstand der Nachahmung, ein Ethos. Soweit
wäre also die Romanze der Ballade völlig gleichgeartet; nun aber der
spezifische Unterschied! Der Ballade gehört das ganze, unermeßlich weite
Gebiet der rein menschlichen Ethe ─ die Anwendung des Plurals ist
hier geboten ─ zu; verschiedenartig gefärbt erscheinen dieselben nur je
nach der charakteristischen Eigenart der Nationen. Alles aber, was
darüber hinaus als besondere Beschaffenheit der Zeitumstände und als
Singularität der Epoche die Handlung bedingt, das schließt die Ballade
entweder ganz aus oder sie weiß es so abzuklären und derart auf
seinen allgemein menschlichen Kern zurückzuführen, daß die unmittelbare
Verständlichkeit nicht darunter leidet. Daher hat die echte Ballade ungeachtet
ihrer nur andeutenden Erzählungsweise
eine unbegrenzte
Wirkungskraft, welche sowohl die Schranken der Zeit als die
der Nation überspringt.

Jm Gegensatz zu diesem universellen Charakter der Ballade ist
die Romanze auf ein der Zeit und dem Schauplatze nach enge begrenztes
Gebiet eingeschränkt, auf die Nachahmung einer erst aus ganz
bestimmten Voraussetzungen erklärlichen und verständlichen Auffassungs=
und Gefühlsweise. Es ist die Gesinnung und die Art zu empfinden
und die daraus hervorgehende, völlig eigentümliche Sonderart des
Handelns, welche gegen das Ende des Mittelalters, vom elften bis zum
fünfzehnten Jahrhundert, vorzüglich aber im zwölften und dreizehnten
unter den romanischen Nationen entstanden war und auch den übrigen
abendländischen Völkern sich mitteilte, und zwar nicht sowohl die Gesamtheit
beherrschend als vornehmlich bei einem exklusiven Stande, der
ritterlichen Gesellschaft, darüber hinaus nur etwa durch ihre Ausstrahlungen
sich erstreckend; ferner doch auch so, daß sie bei weitem nicht
in dem Grade dem wirklichen Leben angehörte, als vielmehr recht
eigentlich ihren Ursprung und Sitz in einer sehr starken Erregung des
Phantasielebens hatte, welche gleichmäßig durch die kirchlichen,
politischen und socialen Zustände jener Zeit hervorgebracht und erhalten
wurde. Es war somit eine von Hause aus ihrem innersten Wesen nach
der dichterischen Stimmung verwandte Gefühlsweise, welche einem jeden
Gedanken, einer jeden Empfindung, jedem Entschließungsakte in jener
Epoche einen Stempel aufdrückte, der sie von der Denk=, Gefühls= und [72]
Handlungsweise aller andern Zeiten beim ersten Blicke auf das Schärfste
unterscheidet. Als der spezifische Ausdruck derselben bildete sich die eigenartige
Dichtung der Troubadours heraus mit ihrem tausendfach
variierten Thema von Fehde, Kampf und ritterlichem Waffenspiel, von
Frauendienst und galantem Liebeswerben, von „Ruhm und Tapferkeit,
von Lust und Anmut und Höflichkeit, von Sinn und Kunst und Ehren!“1
Liebe und Waffenwerk sind hier nicht nur die Würze, sondern der Jnhalt
des Lebens, ohne den es nicht zu denken ist; so heißt es bei
Bernard von Ventadour:2


Tot ist der Mensch, dem der Genuß

Der Liebe nicht das Herz beseelt,

Ein Leben, dem die Liebe fehlt,

Gereicht der Welt nur zum Verdruß.

Nie sei ich Gott so sehr verhaßt,

Daß er mir läng're Frist verleiht,

Wenn ich mit Liebe mich entzweit

Und aller Welt nur bin zur Last!

Oder in einem Bertran de Born zugeschriebenen Sirventes:3


Nicht solche Wonne flößt mir ein

Schlaf, Speis' und Trank, als wenn es schallt

Von beiden Seiten: drauf, hinein!

Und leerer Pferde Wiehern hallt

Laut aus des Waldes Schatten,

Und Hülferuf die Freunde weckt,

Und Groß und Klein schon dicht bedeckt

Des Grabens grüne Matten,

Und mancher liegt dahin gestreckt,

Dem noch der Schaft im Busen steckt.
[73]

Es steckt ja in allen den Jngredienzien, aus denen sich das romantische
Element zusammensetzt, ein Kern, wodurch sie dem allgemein Menschlichen
angehörig und eben deshalb auch allen Zeiten verständlich sind; aber
was der Mischung die ganz singuläre Färbung gibt, das ist einmal die
excessive Qualität und sodann die Ausschließlichkeit, womit sie darin
vorherrschen. Nur ganz vereinzelten Dichtern der gesamten romantischen
Periode und auch diesen nur in seltenen glücklichen Momenten war es
gegeben sich hiervon frei zu machen und in ihren besten Leistungen sich
zu dem rein Menschlichen und daher Unvergänglichen ─ dem Klassischen
─ zu erheben; im Uebrigen steht uns die Sinnesart jener Zeit als eine
exceptionelle, uns fremde gegenüber. Das gilt in unserer deutschen
Litteratur ebenso in betreff des romantisch=ritterlichen Epos als des
Minnegesanges, mit Ausnahme der besten Lieder Walthers; das deutsche
Volksepos freilich nimmt seinem Kern und Wesen nach eine ganz andere
Stellung ein.

Die in liedartiger Haltung vermittelst der Andeutung
eines Vorganges, der Umrisse einer Handlung erfolgte
Nachahmung jenes romantischen Ethos wäre also eine Romanze.

Je mehr dieser Zweck durch die bloß skizzenhafte Behandlung
der äußeren Geschehnisse erreicht wird, diese also nur als Mittel verwendet
sind, je mehr demgemäß der Liedescharakter der Dichtung zur
Geltung kommt, desto vollkommener ist die Romanze. Doch ergibt sich
hier eine weitere wesentliche Verschiedenheit der Romanze von der Ballade:
jene höchste Forderung konnte nur erfüllt werden, solange die Romanze
noch der lebendige Ausdruck des bestehenden Gesellschaftszustandes war,
und selbst da nur annähernd, weil sie ihrem Jnhalte nach das phantastisch
Gekünstelte dieses Zustandes naturgemäß noch überbieten mußte.
Dazu bedurfte sie fester gezeichneter Konturen, einer ausgeführten Erzählung
der Handlung; um wie viel mußte dieses Bedürfnis sich aber
steigern, wenn in den modernen Nachbildungen der Romanze der ganze
Kreis, der dem romantischen Ethos als Voraussetzung dienenden besondern
Umstände und exceptionellen Verhältnisse erst durch die Erzählung in der
Anschauung hervorzubringen war! Es ist der Boden des Abenteuerlichen,
auf welchem die Romanzenstimmung erwächst, deshalb wird die
Romanze, wie sie nicht vermögend ist die mächtige lyrische Wirkungskraft
der Grundaffekte des menschlichen Gemütes in sich aufzunehmen, sondern
dieselben immer nur unter einer künstlichen Beleuchtung zeigen kann,
auch niemals die großartige Einfachheit der Ballade erreichen können,
und was ihr an Allgemeinheit und Tiefe der lyrischen Wirkung abgeht,
durch das glänzende Kolorit der äußeren Erzählung zu ersetzen suchen. [74]
Gewissermaßen zur Entschädigung jedoch sind ihr Gebiete geöffnet, welche
der Ballade fast ganz verschlossen sind. Das Sonderbare, Anekdotenhafte,
die witzige Pointe und sogar die Jronie haben in der Romanzendichtung
eine entschiedene Berechtigung, da sie insgesamt sehr wohl dazu
dienen die Seltsamkeit und damit das innere Wesen der die romantische
Gesellschaft kennzeichnenden „ethischen“ Stimmungen nachahmend zu veranschaulichen.
Alle diese Merkmale finden sich bei den Mustern der
Gattung, in der provençalischen und spanischen Romanzenlitteratur und
so auch bei denjenigen unsrer modernen deutschen Dichter, welche diesen
Mustern am engsten sich angeschlossen haben: in Herders Umdichtungen
der Cid-Romanzen und in Uhlands an die französischen Vorbilder
sich haltenden Romanzen, wie „Bertran de Born“, „Rudello“, „der
Kastellan von Couci
“, „Don Massias“, „Taillefer“, ferner
in der ganze Reihe seiner Rolands= und König Karls =Lieder. Man
darf mit diesen Uhlandschen Romanzen nur Gedichte wie Schillers
Kampf mit dem Drachen“ und „Handschuh“ zusammenhalten,
welche ja auch entschieden romantische Stoffe behandeln, um sofort die
Grenze zwischen der liedartigen und sangbaren Romanze und der bloßen
poetischen Erzählung zu erkennen, mag sie auch mit dem besten romantischen
Apparate geschmückt sein. Der epische Charakter ist in den letzteren
entschieden an die Stelle des lyrischen getreten. Die einzelne Handlung
interessiert durch sich und um ihrer selbst willen, sie ist keineswegs
nur dem Stimmungscharakter dienstbar und zu seinen Gunsten gewissermaßen
verflüchtigt.

Es wäre ein nur scheinbarer Einwand, wenn man für die vermeintlich
epische Grundanlange der Romanze den Umstand ins Feld
führen wollte, daß sie die Tendenz hat zu einem Cyklus sich zu erweitern,
und wenn man einen solchen Romanzen-Cyklus als ein
Epos ansehen wollte.

Jene Tendenz der Romanze erklärt sich nicht allein aus ihrem
Wesen, sondern sie ist als eine sich daraus mit Notwendigkeit ergebende
Konsequenz zu betrachten. Wenn es der Jnhalt jeder einzelnen Romanze
ist, irgend eine Seite des, sozusagen, romantischen Gesamtethos nachzuahmen,
so konnte das Bestreben nicht ausbleiben, diese Gesamtheit
nun auch in einer Reihe einzelner Gesänge, von denen jeder für sich gesonderten
Bestand hat, zum Ausdruck zu bringen. Die Einheit für diese
Reihe mußte sich ganz von selbst darbieten, da überall die Sage geschäftig
war, die Summe der den Zeitcharakter erfüllenden Eigenschaften
und Gesinnungen in einem Helden als ihrem Typus zusammenzutragen.
Nur die Person dieses Helden und der Faden des [75]
äußerlichen Zusammenhanges der Begebenheiten bildet die
poetische Einheit des Romanzen-Cyklus, dessen Jnhalt es ist die Gesinnungs=,
Denk- und Handlungsweise dieses Einzelnen nachahmend zur Darstellung
zu bringen und damit zugleich die Gesellschaft, der er angehört und durch
deren Konventionscodex er seine ethische Existenz hat, ebenso die historischen
Verhältnisse, in denen er lebt, alle zusammen durch ein und dasselbe
Gewebe phantastisch=konventioneller Fiktion eng miteinander verbunden
und gegenseitig auf das Schärfste bedingt. So entsteht aus einer
Summe völlig selbständiger Einzelgesänge ein Ganzes von relativer Vollständigkeit,
insofern die unter diesem Gesichtspunkt vereinigten Lieder
vermittelst all der in ihnen erzählten Begebenheiten und Handlungen
jenes Gesamtethos in seiner Totalität darstellen. Je nachdem dasselbe
dem Urbilde menschlichen Denkens und Handelns näher steht oder
sich weiter davon entfernt, bestimmt sich sein mehr oder minder bleibender
Wert, aber nur in der Nachahmung jener Totalität beruht seine
Bedeutung. Das weit hervorragende Beispiel dafür ist der spanische
Cid, und selbst die Herdersche Bearbeitung trägt diese Züge. Aber
nimmermehr kann auf solche Weise ein Epos entstehen, und
nimmermehr kann ein solches sich mit der bloßen Einheit des
Helden und des äußeren Laufes der Ereignisse begnügen!

Dergleichen kann für die viel höher geartete Gattung des Epos nur
den Rohstoff abgeben, den der Dichter daraufhin untersucht, ob er
seinen Absichten sich fügen möchte. Diese Absicht des epischen Dichters
geht darauf hin, aus jenem Material einen solchen, in sich fest zusammenhängenden
und unter diesem Gesichtspunkte vollständigen Verlauf
von Handlung auszulesen, daß der darin sich kundgebende Schicksalsverlauf,
ähnlich wie auch die Tragödie, ganz fest zu bestimmende Empfindungen
der Hörer in gesetzmäßiger Weise errege und modifiziere.
Wie gesagt: ein höher gearteter Kunstzweck, welcher eine weit schwierigere
und planvollere Anordnung erheischt und von welchem den einzelnen
Romanzen des Cyklus wohl hier und dort etwas innewohnen kann, weil
alle Poesie jenem höchsten Ziele zustrebt, aber der weder das Ganze eines
solchen bestimmt, noch das Verhältnis seiner Teile zueinander regelt.

Daher: einen Balladen-Cyklus hat es nie gegeben! Hier waltet
jener einseitige Gesichtspunkt, der die Romanzen zum Cyklus verbindet,
nicht ob; jede Nachahmung erschöpft sich in sich selbst, höchstens treten
zwei bis drei Lieder zusammen, wo ein Ethos das andere komplementär
ergänzt. Noch viel weniger also ist es denkbar, daß aus einzelnen
balladenartigen Gesängen jemals der zusammenhängende Bau eines Epos
hat entstehen können. Der Balladensänger kann aus dem vollen Strome [76]
der Heldensage wohl auch für sich schöpfen, aber immer nur um den
Liedeszweck, der ihm im Sinne liegt, zu erfüllen; damit ist sein Werk
abgeschlossen. Die einzelnen Gesänge der großen Volksepen
dagegen setzen immer voraus, daß die Handlung selbst Zweck
τέλοςder Mimesis ist und in ununterbrochenem Strome ihrem
Endziele zueilt; die Gesamtwirkung der Gesamthandlung ist es, durch
welche der Verlauf im Ganzen sowie in allen kleinsten Teilen einzig und
allein bestimmt wird und welche wiederum als dessen Ergebnis überall
hervortritt. Jene Gesänge müssen ja natürlich einzeln vorgetragen sein
─ wie hätte das ausgedehnte Ganze anders mitgeteilt werden können ─,
aber doch erst nachdem das Ganze zuvor vorhanden war; die Kenntnis
des Gesamtverlaufes war schnell verbreitet und konnte von da ab von
den Aöden, Rhapsoden, fahrenden Leuten allenthalben als allen völlig
vertraut bei ihren Einzelvorträgen vorausgesetzt werden.

Dasjenige jedoch, was bei einem sehr großen Teile der modernen
Balladen- und Romanzendichtung an die Stelle der echten Muster dieser
Gattungen getreten ist, erfüllt weder deren Forderungen, noch ist andrerseits
darin eine Spur jenes großen epischen Stiles; jenes Schwierigste
der Kunst des Balladen- und Romanzensängers, die materielle Handlung
möglichst in der Darstellung zu verflüchtigen, damit das Lyrisch-Liedgemäße
─ die Mimesis des Ethos ─ mit um so mächtigerer Wirkung den Gesang
erfülle, macht dem weit leichteren Bestreben Platz, mit virtuoser
Beherrschung des Effektes eine interessante Geschichte vorzutragen, wobei
je nach der Natur des Dichters bald der moralische Kern der Handlung,
bald die bloße Tendenz möglichst heftiger sensationeller Erregung die
Gesamthaltung beherrscht.

Wie aber, in Analogie mit Lessings Grenzbestimmung im Laokoon,
die bloße poetische Beschreibung, auch wenn sie meisterhaft durchgeführt
ist, immer ein untergeordnetes Kunstwerk abgibt, weil sie bestimmt
ist als Mittel zu dienen und niemals Selbstzweck werden
soll, so kann auch die bloße poetische Erzählung, und wenn es die
gelungenste ist, nur einen geringeren Rang behaupten neben der echten
Ballade
und Romanze, in denen sie dem höheren Zwecke ethischer
Mimesis
dienstbar gemacht ist. ──────


VII.

Eben hier scheint sich auch der Gesichtspunkt zu entdecken, unter
welchem die Stellung und der poetische Gehalt eines andern Gebietes [77]
der Dichtung, dessen Definition und Grenzen sehr unsicher und schwankend
sind, mit größerer Sicherheit zu bestimmen sein dürften: der didaktischen
Poesie
und der sogenannten Reflexionsdichtung.

Wie sehr der Vortrag von Lehrsätzen, positiven, systematisch geordneten
Kenntnissen und abstrakten Gedanken dem Wesen der Poesie
widersprechend ist, hat Lessing erwiesen; wie andrerseits durch die Vorführung
selbst der schwierigsten Gedankenreihen die höchsten dichterischen
Zwecke erreicht werden können, das liegt in einem Kreise der wundervollsten
Schillerschen Gedichte vor aller Augen klar zu Tage.

Noch weniger aber als auf irgend einem andern Gebiete kann
man hier mit Lessings Satze auskommen: die Poesie stellt Handlungen
dar, d. h. Gegenstände, die eine Folge bilden.

Wie anders, wenn man die im Obigen entwickelte Theorie auf
diese Gattung der Poesie anwendet. Es ergibt sich dann sofort, daß,
wie die Erzählung von äußeren Handlungen und wie die Vorführung
des Körperlichen, so auch die Darstellung von Gedanken, die Bezugnahme
auf Lehren und Begriffszusammenhänge nur eines von den
Mitteln sein kann, deren sich die Poesie zu ihren ewig identischen
Zwecken bedient, niemals aber Selbstzweck.

Es würde sich dann weiter fragen, welches der Nachahmungsobjekte
das diesem Mittel verwandte und also durch dasselbe darstellbar
sei, und es möchte ein abermaliges Zeugnis für jene Theorie sein, wenn
die Antwort darauf sich einfach und mit Notwendigkeit aus derselben
ergäbe.

So weit getrennt die Thätigkeit des reinen Denkens von den
übrigen Bethätigungen des Geistes ist, wie Phantasie und Empfindung,
und so scharf gesondert sie auf ihrem Wege sich von jenen und von jeder
Beeinflussung durch die wechselnden Gemütszustände in eifersüchtigster
Selbständigkeit halten muß, so gilt doch auch für sie das unverbrüchliche
Gesetz des Geistes, welches Einheit und Totalität für alle seine
Aeußerungen fordert und welches ungestraft niemals verletzt werden kann.
Die Punkte, wo auch für die reine Denkthätigkeit ─ διάνοια ─ jene
Einheit vorhanden ist oder sich wiederherstellt, sind genau zu bestimmen;
sie liegen an ihrem Anfang und an ihrem Ende, dazwischen liegt der
Weg, den sie gesondert zurückzulegen hat. Auf jenem Wege gehört der
Gedanke allein der Wissenschaft, an jenem Anfangs- und Endpunkte
kann sich die Kunst seiner bemächtigen.

Von den tausend Sinneseindrücken, die unaufhörlich von allen
Seiten auf die Seele eindringen, sind es einzelne, welche vermöge der
Vorgänge, welche sie in der Empfindung ─ den πάθη ─ hervorbringen, [78]
oder vermöge der Gemütszustände ─ ήθη ─ die sie anregen, ein durch
beide oder durch eines von beiden beeinflußtes und fest bestimmtes,
bleibendes Bild in dem Wahrnehmungsvermögen erzeugen, die ästhetische
Wahrnehmung
αἴσθησις ─. Hier tritt nun sofort und
unmittelbar die Denkthätigkeit beobachtend und kontrollierend hinzu und
stellt die Merkmale, welche jenes Bild kennzeichnen und seine Wirkung
auf die Empfindung (welche hier im weitesten Sinne die ästhetische
zu nennen ist) bedingen, zu einem zweiten Abbilde des erregenden Objektes
zusammen, der geistigen Wahrnehmungνόησις. Beide
vereinigt, die Sinnes- und Gefühlswahrnehmung und die geistige Wahrnehmung
─ die ästhetische und die noetische ─ setzen dann die
Phantasie in den Stand, nicht allein die Bilder solcher Dinge selbstthätig
zu wiederholen,
sondern auch, indem die erstere die Formen
überliefert, die andre das Gesetz ihrer Bildung und Verbindung
hinzubringt, solche Bilder neu zu schaffen. So ist in den schöpferischen
Gebilden der Phantasie der Keim des Gedankens, gewissermaßen das
Material zu den Begriffen, schon enthalten, und zwar zu um so höheren
Gedanken und zu um so reineren Begriffen, je schöner diese Gebilde
sind. Diese innige und unlösliche Verbindung der Thätigkeit der Erkenntnis=
und Empfindungskräfte, die bei der Hervorbringung des Schönen
ebensowohl obwaltet als bei dem Genießen desselben, bildet das Grundthema
von SchillersKünstlern“, welchem er namentlich in dem ersten
Teile dieser Dichtung einen äußerst prägnanten Ausdruck gegeben hat; am
meisten in den folgenden beiden Strophen:


Nur durch das Morgenthor des Schönen

Drangst du in der Erkenntnis Land.

An höhern Glanz sich zu gewöhnen,

Uebt sich am Reize der Verstand.

Was bei dem Saitenklang der Musen

Mit süßem Beben dich durchdrang,

Erzog die Kraft in deinem Busen,

Die sich dereinst znm Weltgeist schwang.
Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen,

Die alternde Vernunft erfand,

Lag im Symbol des Schönen und des Großen

Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand.

Jhr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben,

Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt,

Eh' noch ein Solon das Gesetz geschrieben,

Das matte Blüten langsam treibt.

Eh' vor des Denkers Geist der kühne
[79]
Begriff des ew'gen Raumes stand,

Wer sah hinauf zur Sternenbühne,

Der ihn nicht ahnend schon empfand?

Freilich, sobald der solchergestalt empfangene Gedanke nun selbständig
hervortritt, geht er fortan seine eigenen Wege und entwickelt sich streng
nach seinen eigenen Gesetzen. Hier hat die Kunst nichts mit ihm zu
schaffen; doch es kommt ein Moment, wo jene gestörte Gemeinschaft sich
wiederherstellt. Wenn der Gedanke seine erste Entstehung der Anregung
durch die Empfindung verdankt, so bewirkt er, sobald seine Arbeit gethan
und er zur vollen Reife gelangt ist, nun wiederum eine Erregung des
Gefühles: und hier ist es, wo ihm die Kunst aufs Neue begegnet.

Nach des Aristoteles erhabener Lehre begegnen sich alle Energien,
deren die menschlichen Kräfte fähig sind, darin, daß sie, zur Vollendung
gelangt, d. h. in der vollkommensten Weise an den vollkommensten Objekten
ausgeübt, die Seele mit dem reinen Gefühle der Lust, der Hedone,
erfüllen. Aber nicht von jenem einen, allgemeinen Gefühl der Freude,
das jede angestrengte und erfolgreiche Bethätigung des Denkvermögens
begleitet, ist hier die Rede, sondern von den zahllos verschiedenen Empfindungen
und Gemütsstimmungen, mit denen die Errungenschaften des
Denkens, wie ebensoviel Erlebnisse oder Ereignisse des äußeren Lebens,
die intellektuell gebildete Seele bewegen. Denn der Gedanke, wie er
ursprünglich aus den gestalt- und farbenreichen Bildern des Lebens
empfangen und abstrahiert ist, so erweckt er, zur Klarheit und Festigkeit hindurchgedrungen,
sogleich wieder das lebensvolle Bild seiner Verkörperung.
Dieses volle Anschauen der Verwirklichung seiner kühnsten Gedanken ist
es, welches den schöpferischen Geist zu seinen Thaten treibt; solche
Bilder, in solchem Anschauen nun auch den Andern vor Augen gestellt,
entzünden auch in ihnen den gleichen Gedanken und treiben auch sie
zur That; oder, falls der Gegenstand oder ihre Kräfte das nicht zulassen,
sie stellen sie auf die Höhe der Empfindung, sie erfüllen sie mit dem
edlen Ethos, mit welchem die Klarheit des Gedankens jenen durchdrang.
Die wissenschaftliche Mitteilung des Weges, den die Denkthätigkeit bei
ihrer Operation eingeschlagen hat, vermag das zunächst noch nicht; sie
vermag nur die Möglichkeit, die Bereitschaft dazu hervorzubringen; ob
jener dieselbe begleitende Aufschwung des erregten Gefühles nun auch
eintritt, bleibt ungewiß. Das Umgekehrte findet hier statt: nur die
Resultate des Denkens werden mitgeteilt, ihre Herleitung bleibt verschwiegen,
somit kann auch eigentliche Kenntnis dadurch nicht weiter
getragen werden; diese Mitteilung ist ferner keine direkte, sondern
sie erfolgt durch die Darstellung jener Vorstellungsreihe, welche der ge= [80]
reifte Gedanke im Verein mit dem durch ihn erhöhten Empfinden
sich erzeugt hat. Dieses letztere aber ist es, was aus der Aufnahme
jener Vorstellungen unmittelbar und mit Gewißheit auf alle Empfangenden
übergeht; nicht also Kenntnisse kann und will der Dichter
verbreiten, sondern mit dem Ethos des Denkers erfüllt er seine
Hörer, welches von höherem Werte ist als das einzelne Wissen, weil es
den Samen ausstreut, aus welchem der Trieb des Erkennens erwächst.

Solche Dichtungen bezeichneten die Alten mit dem Namen der
gnomischen, und ein großer Teil der griechischen Elegie trägt
genau diesen Charakter. Der Gegenstand der Nachahmung darin
ist, abgesehen von vereinzelten Fällen, in denen die Vorführung von Gedanken
dazu benutzt ist, um für bestimmte Situationen bestimmte einzelne
Empfindungen hervorzubringen, das den Dichter bewegende Ethos; als
Mittel dazu dient ihm die Darstellung seines Denkens, aber nicht
die abstrakte Darstellung des reinen Denkens, welche der Anschauung
unfaßbar sein und das Gemüt nicht erregen würde, sondern die Mitteilung
desselben durch die Vorstellungswelt, die es sich erschafft, und
in der es darum sich wiederspiegelt.

Diese Dichtungsart kann also bald sich dem rein lyrischen
Charakter nähern, bald kann sie eine entschieden paränetische Färbung
annehmen, immer aber wird das weitaus darin Ueberwiegende die Nachahmung
jener stillen, aber darum nicht minder mächtigen ethischen
Stimmungen sein, die für den Denker selbst das höchste Glück und der
schönste Lohn seiner Mühen sind.

Das Bedürfnis, solchen Stimmungen und Gemütszuständen vollen
Ausdruck zu geben, liegt zu tief in der menschlichen Natur begründet,
als daß zu irgend einer Zeit, in der überhaupt die Dichtung zu ihrem
Rechte gelangte, diese poetische Gattung zum Schweigen verurteilt gewesen
wäre; als Beispiel mögen, vom Altertum abgesehen, die Sirventes
der Provençalen und die Spruchdichtungen des deutschen Mittelalters
dienen. Aber zu ihrer vollsten Blüte gelangte sie doch erst zu der Zeit
der höchsten Entfaltung intellektuellen Lebens, als im achtzehnten Jahrhundert
bei den Führern des deutschen Klassizismus mit der höchsten
Geistesbildung sich die höchste dichterische Anlage verband; am schönsten
bei Schiller, dessen überragende Größe hierin zumeist ihr Fundament
hat. Jn dem Schlußgedanken seiner „Künstler“ hat er dieser Anschauungsweise
den schwungvollsten dichterischen Ausdruck verliehen:


Wenn auf des Denkens freigegebnen Bahnen

Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift

Und, trunken von siegrufenden Päanen,
[81]
Mit rascher Hand schon nach der Krone greift;

Wenn er mit niederm Söldnerslohne

Den edlen Führer zu entlassen glaubt

Und neben dem geträumten Throne

Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: ─

Verzeiht ihm ─ der Vollendung Krone

Schwebt glänzend über eurem Haupt.

Mit euch, des Frühlings erster Pflanze,

Begann die seelenbildende Natur;

Mit euch, dem freud'gen Erntekranze,

Schließt die vollendende Natur.
Die von dem Thon, dem Stein bescheiden aufgestiegen,

Die schöpferische Kunst, umschließt mit stillen Siegen

Des Geistes unermess'nes Reich.

Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen,

Entdecken sie, ersiegen sie für euch.

Der Schätze, die der Denker aufgehäufet,

Wird er in euren Armen erst sich freun,

Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet,

Zum Kunstwerk wird geadelt sein ─

Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget,

Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein,

Das malerische Thal auf einmal zeiget.

Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget,

Je höh're, schön're Ordnungen der Geist

Jn einem Zauberbund durchflieget,

Jn einem schwelgenden Genuß umkreist;

Je weiter sich Gedanken und Gefühle

Dem üppigeren Harmonieenspiele,

Dem reichern Strom der Schönheit aufgethan ─

Je schön're Glieder aus dem Weltenplan,

Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden,

Sieht er die hohen Formen dann vollenden,

Je schön're Rätsel treten aus der Nacht,

Je reicher wird die Welt, die er umschließet,

Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet,

Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht,

Je höher streben seine Triebe,

Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe.

Niemand hat so wie Schiller es verstanden, die Resultate der
intensivsten Gedankenarbeit als Mittel echt dichterischer Wirkung zu verwenden,
während umgekehrt jeder Versuch die Belehrung zum Zwecke
der Dichtung zu machen, die künstlerische Wirkung völlig aufhebt. Das
Lehrgedicht scheitert somit an derselben Klippe wie auch die sogenannte
Schilderungspoesie oder die bloße gereimte Erzählung, wie [82]
das Mittelalter sie so massenhaft hervorgebracht hat, und welche Chaucer
in seinen Canterbury-Tales so geistreich verspottet;1 sie alle machen
das Mittel zum Zweck und verfehlen damit den Zweck der Nachahmung.

Aber freilich, das technische Gesetz, dem alle poetische Darstellung
unterworfen ist, herrscht nun auch über die Anwendung dieses Mittels.
Dieses Gesetz besteht darin, daß nur die Aeußerung psychischen Lebens,
oder doch, was als solche dargestellt und aufgefaßt werden kann, imstande
ist wiederum psychische Bewegungen, welche der künstlerischen Nachahmung
würdig sind, zu erzeugen. Daß hierzu Berichte von Zuständen
und Begebnissen des bewegten Lebens, Erzählungen von Handlungen
und Situationen beseelter oder als beseelt vorgestellter Wesen technisch
am geeignetsten sind, ist schon oben hervorgehoben worden; ebenso aber
auch, daß die Poesie in diese Grenzen keineswegs mit Notwendigkeit
eingeschränkt ist. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch hier auf dem Gebiete
der Gedanken- oder Reflexionsdichtung, die am allerwenigsten mit
der Vorschrift, Handlungen sollen ihr Gegenstand sein, sich vertragen
kann. Man untersuche daraufhin Gedichte wie Schillers „Die Worte
des Glaubens,“ „Die Worte des Wahns,“ „Sprüche des Confucius,“
„Der Genius,“ „Natur und Schule,“ „An die Freunde,“ ja selbst solche
wie „Das Jdeal und das Leben,“ „Das Glück“ und viele ähnliche, in
denen auch nicht eine Spur von Handlung oder selbst zeitlicher Succession
des Objektes der Darstellung sich nachweisen läßt. Sie enthalten
vielfach den Ausdruck des Gedankens ganz geradehin und unmittelbar,
nur getragen durch das Ethos hocherhobener Begeisterung, welche er erweckt,
so daß er gleichsam aufgelöst ist in Stimmung und ganz übergegangen
in das lyrische Element. Gerade solche Strophen sind die populärsten
geworden, wie z. B. in den „Worten des Glaubens“:


Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,

Und wär' er in Ketten geboren,

Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,

Nicht den Mißbrauch rasender Thoren!

Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,

Vor dem freien Menschen erzittert nicht!

Oder die Schlußstrophe des herrlichen Liedes: „An die Freunde“:


Größ'res mag sich anderswo begeben,

Als bei uns in unserm kleinen Leben;

Neues ─ hat die Sonne nie gesehn.
[83]
Sahn wir doch das Große aller Zeiten

Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,

Sinnvoll still an uns vorübergehn.

Alles wiederholt sich nur im Leben,

Ewig jung ist nur die Phantasie;

Was sich nie und nirgends hat begeben,

Das allein veraltet nie!

und viele ähnliche.

Oder aber es wird dem ausgesprochenen Gedanken sogleich das Bild
beigesellt, welches die erregte Phantasie für ihn geschaffen, weniger um
dem Gedanken die Klarheit zu geben, als um die ethische Stimmung um
so gewisser zu erwecken, die er erzeugt. So, wenn es heißt:


Zürne der Schönheit nicht, daß sie schön ist, daß sie verdienstlos,

Wie der Lilie Kelch prangt durch der Venus Geschenk.

Laß sie die Glückliche sein! du schaust sie, du bist der Beglückte!

Wie sie ohne Verdienst glänzt, so entzücket sie dich.

oder am Schlusse desselben Gedichtes, „Das Glück“:


Alles Menschliche muß erst werden und wachsen und reifen,

Und von Gestalt zu Gestalt führt es die bildende Zeit;

Aber das Glückliche siehest du nicht, das Schöne nicht werden,

Fertig von Ewigkeit her steht es vollendet vor dir.

Jede irdische Venus ersteht, wie die erste des Himmels,

Eine dunkle Geburt, aus dem unendlichen Meer;

Wie die erste Minerva, so tritt, mit der Aegis gerüstet,

Aus des Donnerers Haupt jeder Gedanke des Lichts.

Dieses letztere Verfahren ist bei Schiller weitaus das bevorzugteste;
seltener nur, und nur in kürzeren Gedichten ist ein einzelnes Bild
beibehalten und durchgeführt, wie in „Die Führer des Lebens,“ „Der
philosophische Egoist,“ „Nänie,“ „Der spielende Knabe.“

Oder endlich er verbindet eine Reihe von Strophen, von denen jede
in einem für sich ausgeführten Bilde in farbigem Lichte einen Gedanken
wiederstrahlt, zu einem organisch zusammenhängenden Ganzen; so im „Reich
der Schatten“ („Jdeal und Leben“), welches in naher Anlehnung an die
poetisierende Jdeenlehre Platos, an dessen dichterische Gleichnisse dieses
ganze Verfahren ja lebhaft erinnert, den Lieblingsgedanken Schillers
und ein Hauptthema seiner ästhetischen Philosophie der entzückten Anschauung
vorführt.

Auf diesem Felde ist Schiller ohne Nebenbuhler; bei Goethe finden
sich in den Epochen seiner lyrischen Vollkraft derartige Dichtungen
überhaupt gar nicht, sie treten erst in seiner späteren Zeit auf, vom ersten [84]
Jahrzehnt unsers Jahrhunderts ab und namentlich im zweiten und
dritten. Jn seinen Jugendjahren kleidete sich, bei seiner starken Abneigung
gegen alle Jdeologie, eine jede Reflexion ihm fast unwillkürlich
in Bild, Gleichnis, Erzählung; jetzt erst beginnt er die reichen Schätze
seiner Erkenntnisse über die Kunst, „Gott und Natur“ und über die
höhere Einheit, in der sie ihm erschienen, auch geradehin, in eigentlich
so zu nennender Reflexionspoesie auszugeben. Man möchte den wiederkehrenden
Grundgedanken derselben in der dritten Strophe des im
Jahre 1816 entstandenen „Künstlerliedes“ ausgesprochen finden:


Wie Natur im Vielgebilde

Einen Gott nur offenbart,

So im weiten Kunstgefilde

Webt ein Sinn der ew'gen Art;

Dieses ist der Sinn der Wahrheit,

Der sich nur mit Schönem schmückt

Und getrost der höchsten Klarheit

Hellsten Tags entgegen blickt.

Jmmer aber sehen wir ihn auch hier, nach seiner alten Weise, fast
immer dem einzelnen Anlaß sich anschließen, die einzelne Anschauung
bezeichnen, die ihn zur Abstraktion leitete, während umgekehrt Schiller
fast überall vom Gedanken selbst die dichterische Anregung empfängt.
Freilich geschieht es Goethe nun im Alter mitunter, daß ihn bei dem
Aufbau dessen, was man den materiellen Unterbau seines Gedichtes
nennen möchte, die poetische Kraft im Stiche läßt und er, namentlich
wo es sich um seine wissenschaftlichen Liebhabereien handelt, in diesem
Teile
einer befremdlichen Trockenheit verfällt. Jmmer aber um sofort
wieder zur höchsten dichterischen Wirkung sich zu erheben,

sobald der krönende Gedanke das dem Ganzen als Seele innewohnende
Ethos zur Geltung bringt; zum deutlichen Zeichen, daß hierin das bewegende
Agens liegt, ohne welches das Uebrige tot ist. Sehr auffallend
tritt diese Beobachtung an den beiden Gedichten: „Die Metamorphose
der Pflanzen“ und „Metamorphose der Tiere“ hervor. Selbst das erstere,
obwohl viel früher entstanden (wahrscheinlich um 1790) und viel wärmer
empfunden und phantasievoller durchgeführt, ist von dem oben bezeichneten
Fehler wohl nicht ganz freizusprechen, wenn man Stellen wie die folgende
für sich betrachtet:


Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet

Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild,

Zwar nicht immer das Gleiche, denn mannigfaltig erzeugt sich,

Ansgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt,
[85]
Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,

Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ u. s. f.

Aber bei weitem stärker tritt dieser Mangel in dem zweiten, viel
späteren Gedichte hervor, wenn es dort heißt:


So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen,

Welche dem Körper gebührt; es sei nun schwächlich und zahnlos

Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle

Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung:

Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze,

Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.

Oder weiter unten:


Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern

Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,

Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter

Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf;

Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne

Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

Das ist metrische Prosa und es ist, immer nur die einzelne Stelle
angesehen und in allem Uebrigen ohne Vergleichung, kein Grund, warum
man derartige Verse nicht einem erneuerten Brockes zuschreiben sollte.
Aber nun der ungeheure Unterschied! Während jenes bänderreiche Reimereien
immer nur auf ein und denselben mattherzigen und gedankenarmen,
teleologischen Schluß hinauslaufen, dient bei Goethe die nüchterne Betrachtung
nur als Grundlage fürs erste einer tiefsinnigen Hypothese und
dann, indem vom Einzelnen immer ins Ganze und Allgemeine fortgeschritten
wird, eines Gesamtaufschwunges, bei welchem die ganze Macht
jenes universellen Gedankens über die ethischen Stimmungen der Seele
zur Entfaltung gelangt. Erst hierin liegt die künstlerische Berechtigung
jener Stoffe. Diese poetische Beseelung der Anschauungen und des
Denkens tritt mit erhöhter Wärme und Wirkungskraft in der „Metamorphose
der Pflanzen“ auf, wo, nach echt Goethescher Weise, von Anfang
bis zu Ende eine innige persönliche Beziehung obwaltet, während
das Fehlen dieses wesentlichen Momentes in der „Metamorphose der
Tiere“ die unleugbare Mattheit dieser Dichtung offenbar mit verschuldet.
Auch in der äußeren Form tritt dieser Unterschied der beiden Gedichte
hervor; es ist kein Zufall, daß jenes in dem belebteren elegischen
Maße sich bewegt, und dieses mit dem gleichförmigen Hexameter sich
begnügte.

So möchte man sagen, daß auf diesem einen Gebiete der Reflexionsdichtung
Goethe bei weitem zurückstehen müsse, am meisten gegen Schiller, [86]
den unbestrittenen Meister derselben. Und dennoch bleibt Goethe der
gedankenreichste unter allen deutschen Dichtern, ja vielleicht unter den
Dichtern aller Zeiten und Völker! Aber er war nicht nur der gedankenreichste,
er war auch der größte Dichter!

Und hier zeigt sich abermals die Geltung des Lessingschen Gesetzes,
sobald man es nur als ein rein technisches, formales
auffaßt und dem entsprechend modifiziert: Handlung und
Bewegung sind nicht Gegenstand
der Poesie, wohl aber unter allen
Mitteln,
die ihr zu Gebote stehen, das der Natur ihres Gegenstandes,
also dem Zwecke der Nachahmung am meisten entsprechende. Wohl
vermochte es demgemäß Schiller, kraft des ihm eigenen feurigen Jdealismus,
auch das bloße Ethos des Gedankens dichterisch auszusprechen,
und Goethe ist ihm darin nicht gleichgekommen; aber diese Gedichte wenden
sich doch nur an den kleinen Kreis der intellektuell so weit entwickelten
Geister, daß sie entweder schon zuvor in dem Schillerschen Gedankenkreise
heimisch geworden sind oder doch anderweitig die Fähigkeit erworben
haben in denselben einzutreten. Seine größten und vor allem
weit verbreitetsten, im vollen Sinne populären Wirkungen erreicht Schiller
doch nur da, wo es ihm gelang seine Gedanken rückwärts wieder in die
lebendige Welt der Situationen und Vorgänge zu übertragen, der sie
ursprünglich entstammen, und durch die Vermittelung der Darstellung
aller derjenigen Züge darin, welche Empfindung und Ethos leicht erregen,
mit diesen zugleich und aus ihnen heraus nun auch den Gedanken
in Thätigkeit zu setzen: so also mittelst desselben Prozesses die
kunstgemäße Nachahmung der mit der Denkthätigkeit verbundenen ethischen
Zustände hervorzubringen, durch den die Mannigfaltigkeit der wirklichen
Erlebnisse dieselben in den bevorzugtesten Seelen anzuregen imstande
war. Solche Gedichte sind „Die Glocke“ und „Der Spaziergang“;
und nirgends hat Schiller diese Methode konsequenter und ebenmäßiger
durchgeführt als in dem letzteren, es ist darum als das Muster der
ganzen Gattung der Reflexionspoesie anzuerkennen. Der Satz, daß Nachahmung
eines Ethos der Gegenstand der Nachahmung für diese Art von
Poesie ist, daß ferner die Darstellung von äußeren Situationen und
Vorgängen und der durch diese angeregten Gedanken die dazu aufgewendeten
Mittel sind, kann in keinem Beispiele überzeugender zu Tage treten
als in dieser in jedem Betracht die ganze Gattung überragenden Dichtung.
Für die aufgewandten Mittel liegt dies so klar vor Augen, daß jeder
Nachweis überflüssig ist; ein Mißverstand könnte nur über den Zweck
des Ganzen obwalten. Wer aber, nach einer beliebten Manier, in dem
„Spaziergang“ etwa den „Nachweis“ des „Satzes“ erblicken wollte, daß, [87]
entgegen der bekannten Rousseauschen Behauptung, die Civilisation kein
Uebel sei, sondern ihre Jrrgänge nur unvermeidliche Etappen eines Entwickelungsganges
zur Einheit von Kultur und Natur, der würde das
Gedicht doch nur halb verstanden und noch weniger empfunden haben.
Was das Gedicht nachahmt, oder, um in der gewöhnlichen Ausdrucksweise
zu sprechen, was es verkündet und wodurch es ergreift und entzückt,
ist vor allem die Begeisterung eines rein und natürlich gestimmten
Gemütes für die reinsten und unmittelbarsten Aeußerungen der
Natur, es ist ferner die jubelnde Freude einer thatkräftig strebenden
Seele an der hellen Erkenntnis des sichern Fortschreitens, in welchem
der große Gang der Geschichte dem gesunden Auge alle die reichen von
der Natur dem Menschen verliehenen Kräfte in ihrem Streite und in
ihrem Bunde zeigt, es ist die schwere Beängstigung, daß eine wild
und drangvoll bewegte Gegenwart die Sicherheit jener Erkenntnis zu
erschüttern droht, es ist endlich die hochgemute Tröstung und die
unerschütterliche Zuversicht, welche der edle Sinn in der Gewißheit
seiner selbst und in dem treuen Festhalten an der Natur, dem liebevollen
Anschluß an sie, für den Glauben an den Wert und den Erfolg
des Strebens der menschlichen Gattung zurückgewinnt. Alles das aber
sind keine „Sätze“ oder „Jdeen“, es sind Zustände des Gemütes,
wie sie durch jene erst entwickelt werden ─ Ethe!

Je mehr es dem Dichter gelingt selbst solches durch Jdeen erzeugte
Ethos vermittelst der Darstellung bewegten Lebens nachzuahmen,
desto gewisser erreicht er seinen Zweck und in um so schönerer Art löst
er seine Aufgabe. Hierin ist nun aber Goethe der unerreichte und
ganz unerreichbare Meister. Sieht man hierauf hin nun noch einmal
seine Gedichte durch, so erscheint, während jene direkte Reflexionsdichtung
sich nur in seinem späteren Alter und auch da nur spärlich zeigte,
auf einmal eine gedrängte Fülle der herrlichsten Schöpfungen, welche
durchaus dieser Gattung zuzurechnen sind. Und zwar von seiner frühen
Jugend an erweist sich diese echte Reflexions=Poesie als eine von ihm
ganz besonders bevorzugte Lieblingsgattung, von jenem „Sturmlied
des seine Schwingen in ungestümem Flügelschlag entfaltenden Genius
an bis zu seinen reifsten Kundgebungen, der „Zueignung“, den „Geheimnissen
oder dem „deutschen Parnaß“. Das Gemeinsame bei
ihnen allen ist, daß nicht der Gedanke selbst, sondern das von ihm getragene
Ethos zum Ausdruck gelangt und zwar überall durch das Mittel
lebensvoll dargestellter Bilder, wenn nicht, wie meistens, durch einen
einzelnen, in sich zusammenhängenden Vorgang.

Wenn es ihn drängt seine Vorstellung des „Göttlichen“ aus= [88]
zusprechen, oder der „Grenzen der Menschheit“ jenem gegenüber, so
lautet das nicht, wie bei Schiller:


Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,

Wie auch der menschliche wanke;

Hoch über der Zeit und dem Raume webt

Lebendig der höchste Gedanke,

Und ob alles in ewigem Wechsel kreist,

Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist ─

sondern der lebendige Punkt, aus welchem sein Lied quillt, ist die Bezeichnung
derjenigen Regung des menschlichen Gemütes, aus welcher
jedes Gottesbewußtsein und jeder Glaube an Göttliches allein seinen Ursprung
hat.


Denn unfühlend

Jst die Natur:

Es leuchtet die Sonne

Ueber Bös' und Gute,

Und dem Verbrecher

Glänzen wie dem Besten

Der Mond und die Sterne.

Aus der bloßen Beobachtung der Natur stammt die Gottesidee
nicht, denn wie sie wahllos allen ihre Gaben austeilt, so treffen
Schrecken und Vernichtung aus ihrer Hand ohne Unterschied und denkbare
Ursache:


Wind und Ströme,

Donner und Hagel

Rauschen ihren Weg

Und ergreifen

Vorübereilend

Einen um den Andern.

Und ist etwa in den Verschlingnngen des Waltens der Naturkräfte
und der menschlichen Thaten, in dem, was wir das Schicksal nennen,
die Gewißheit eines planvollen göttlichen Entscheidens irgendwo unmittelbar
zu erkennen? Vielmehr erscheint nichts launischer und regelloser
als das Schalten des Glückes:


Auch so das Glück

Tappt unter die Menge,

Faßt bald des Knaben

Lockige Unschuld,

Bald auch den kahlen

Schuldigen Scheitel.
[89]

Da ist nirgends etwas anderes zu erkennen, als kalte, eiserne
Notwendigkeit, unerbittlicher Zusammenhang von Ursache und Wirkung:


Nach ewigen, ehernen,

Großen Gesetzen

Müssen wir alle

Unseres Daseins

Kreise vollenden.

Wo thut sich denn nun die Ahnung auf eines Willens, der in
diesem zermalmenden Getriebe die Freiheit bewahrt, der durch das eine
Moment der aus eigener Kraft gefaßten Entschließung eine neue Bestimmung
von unendlicher Wirkung innerhalb jenes Spieles der blinden
Mächte aufzustellen vermag?


Nur allein der Mensch

Vermag das Unmögliche;

Er unterscheidet,

Wählet und richtet;

Er kann dem Augenblick

Dauer verleihen.

Er allein darf

Den Guten lohnen,

Den Bösen strafen,

Heilen und retten,

Alles Jrrende, Schweifende

Nützlich verbinden.

Dieses Gefühl, das hohe Bewußtsein der Fähigkeit aus freiem
Antriebe das Gute, das Edle wollen zu können, der freudige Stolz
durch das Vermögen planvoll hülfreichen Handelns allen Wesen, selbst
den Naturmächten überlegen zu sein, die aus solchem Selbstbewußtsein
entspringende frohe Glaubensahnung, daß es in dem großen Ganzen
einen solchen edlen Willen geben müsse, von welchem das beste menschliche
Wollen doch nur ein beschränktes Abbild sein kann, der daraus geschöpfte
feste Muth zu solchem Willen, das ist das Ethos dieses
Gedichtes, mit dessen Ausdruck es beginnt und schließt:


Edel sei der Mensch,

Hülfreich und gut!

Denn das allein

Unterscheidet ihn

Von allen Wesen,

Die wir kennen.
[90]
Heil den unbekannten

Höheren Wesen,

Die wir ahnen!

Sein Beispiel lehr' uns

Jene glauben!
Und am Schluß:

Und wir verehren

Die Unsterblichen,

Als wären sie Menschen,

Thäten im Großen,

Was der Beste im Kleinen

Thut oder möchte.

Der edle Mensch

Sei hülfreich und gut!

Unermüdet schaff' er

Das Nützliche, Rechte,

Sei uns ein Vorbild

Jener geahneten Wesen!

Dem gegenüber in den „Grenzen der Menschheit“ das Ethos
der Sophrosyne, der frommen Scheu, welches vor jeder Art der Ueberhebung
bewahrt, wie es der Mensch aus dem Bewußtsein der engen
Schranken seines Wirkens, der kurzen Begrenzung seines Lebens schöpft,
und, dem zufolge, aus dem kindlichen Schauer vor der göttlichen Allmacht
und der bescheidenen Anerkennung der überlegenen, rings
sein Leben bedingenden Naturkräfte.

Aber, wie schon gesagt, mehr entspricht es Goethes Art, statt wie
hier die einzelnen poetischen Vorstellungen jedesmal in entsprechenden
einzelnen Bildern bewegter Vorgänge wiederzuspiegeln, in einem einzigen
Vorgange den Zusammenhang des Ganzen vor die Anschauung zu bringen.

Hierbei werden jedoch zwei verschiedene Methoden von ihm angewendet,
die als die dramatische und als die allegorische bezeichnet
werden können.

Jm Drama bietet die Situation den hinreichenden Anlaß, um dem
monologischen Erguß der Reflexion und ethischen Stimmung die bestimmte
Beziehung auf den einzelnen Vorgang und damit die unmittelbare,
lebendige Wirkung zu verleihen; mitunter ist diese Beziehung aber
schon an sich so deutlich, daß die bloße Ueberschrift genügt, um ein
solches Stück auch außerhalb seines Zusammenhanges völlig verständlich
zu machen. So ist der „Prometheus“ beschaffen, welcher, ob er nun
ursprünglich dem dritten Akte des Fragmentes angehörte oder, schon
vorher selbständig geschaffen, diesem erst zugeteilt wurde, mit Recht, als [91]
sich selbst genugsam erklärend, von Goethe unter seine Gedichte aufgenommen
werden konnte. Ganz denselben Charakter tragen jedoch solche
Stücke, in denen der Dichter in eigener Person spricht ─ wie dieselbe
im Grunde auch im „Prometheus“ unter der Maske zu erkennen ist ─,
und wo er mit der Kunst des Meisters die Anlaß und Erklärung gebende
Situation mitten in dem ihr entspringenden Strom der Gedanken und
Gefühle durch vollauf genügende Andeutung darzustellen weiß; so in
Wandrers Sturmlied,“ „Schwager Kronos,“ dem so ganz
individuellen Liede „Harzreise im Winter“. So willkommen uns die
authentische Angabe des Dichters über die veranlassenden historischen
Momente zu dem letzten Gedichte sind, so bedarf es, um verstanden und
genossen zu werden, derselben doch nicht, weil das Einzelne in die Sphäre
des Allgemeinen gehoben ist; wie auch „Wandrers Sturmlied,“ bei dem
ein solcher ins Einzelne gehender, authentischer Kommentar fehlt, sich mit
völliger Deutlichkeit selbst erklärt.

Den Uebergang zu der allegorischen Gattung bilden solche Gedichte,
in welchen entweder ein Gleichnis angedeutet ist, wie in „Meine
Göttin,
“ oder vollständig durchgeführt, wie in dem „Gesang der
Geister über dem Wasser
“.

Nun aber die eigentlich allegorischen Gedichte! Jn schroffem
Gegensatze gegen die beliebte Theorie, daß jede Allegorie aus der Kunst
absolut zu verbannen sei, sind es gerade die vollendetsten unter den der
reflektierenden Gattung zugehörigen Dichtungen Goethes, welche entschiedene
und mit strengster Konsequenz durchgeführte Allegorie enthalten.
Zum Beweise mögen die folgenden drei Gedichte dienen, welche sicherlich
ein jeder wenigstens zu den schönsten zählen wird: „Mahomets Gesang,
Seefahrt“ und „Adler und Taube“.

Nach der Quinctilianischen Erklärung ist die Allegorie eine
Redeweise, welche etwas Anderes sagt und etwas Anderes bedeutet;
Lessing fügt dazu die sehr notwendige Einschränkung, daß dieses andre
dem, was es bedeuten soll, ähnlich sein müsse. Aber auch diese Einschränkung
genügt noch nicht, wenigstens nicht für diejenige Art der
Allegorie, welcher das Bürgerrecht in der Kunst gebührt.

Jedes Kunstmittel, welches nicht einem höheren Zwecke in solcher
Weise dient, daß derselbe auf anderem Wege nicht erreicht werden kann,
ist in der Kunst nicht allein überflüssig, sondern als unnützes Spielwerk
ihrer unwürdig. Wenn also nicht schon in dem Wesen der Allegorie
ihre Unentbehrlichkeit für die Zwecke der Kunst nachgewiesen werden
kann, und ebenso aus ihrer Definition nicht schon von vornherein erkennbar
ist, in welchem Falle sie denselben widerspricht, so müßte sie [92]
freilich aus der Kunst ausgeschlossen werden. Beides aber läßt sich sehr
wohl vereinigt erreichen.

Es bedarf keines erneuten Beweises, daß der reine Gedanke und
vollends die Verbindung einer Reihe von Gedanken für jede Kunst
schlechthin undarstellbar ist.

Selbst die Poesie, welche in dem Besitz des Mittels ist, durch welches
allein der Gedanke ausgedrückt werden kann, des Wortes, vermag denselben
direkt nur so zu verwenden, daß ihr eigentlicher Gegenstand vielmehr
das begleitende Ethos ist und der Gedanke selbst als die dasselbe
erregende Ursache nur angedeutet wird.

Wie aber im Vorstehenden nachgewiesen wurde: sicherer und besser
erreicht die Poesie ihren Zweck, wenn sie, statt den Gedanken direkt anzudeuten
oder auszusprechen, indirekt diejenigen konkreten Dinge, Verhältnisse
und Vorgänge darstellt, aus welchen die Gedanken und ihre
Verknüpfung zu abstrahieren sind, und zwar jene Dinge und Vorgänge
in solcher Auswahl und Zusammenstellung vorführt, daß die Selbstthätigkeit
mit Notwendigkeit zu dieser Abstraktion veranlaßt wird; wenn
also der Dichter mit künstlerischer Auswahl und Absicht dasjenige Stück
Leben zu seiner Nachahmung verwendet, welches in ihm selbst das Ethos
hervorbrachte.

Nach der Ansicht, welche die ganze Entwickelung der deutschen Poetik
beherrscht hat und welche auch noch heute die allgemein verbreitete ist,
wäre diese Nachahmung der Natur und Wirklichkeit, sobald sie
nur in künstlerischer Auswahl und Modifikation, der sogenannten Jdealisierung,
geschehe, der Gegenstand der Dichtung; während doch diese
so hoch gepriesene und so eifrig angestrebte Nachahmung der Natur und
des Lebens, so gut wie Schilderung, Erzählung, Gedankenausdruck, nur
als Darstellungsmaterial dem höheren Nachahmungszweck, dem
eigentlichen Gegenstande der Kunst, dienstbar ist. Der Verwechselung
dieses Grundverhältnisses sind von jeher die meisten und verderblichsten
Verirrungen der Kunst entsprungen.

Natürlich kann in dem so bezeichneten Verhältnis, wo Gedankendarstellung
durch Darstellung von Dingen und Vorgängen vermittelt
wird, von Allegorie keine Rede sein, denn das dargestellte Konkrete,
Einzelne, ist dem Abstrakten, Allgemeinen, das dadurch der Jntelligenz
zugeführt wird, was es also bedeuten soll, nicht ähnlich, sondern
dieses ist in jenem enthalten.1

[93]

Nun gibt es aber einen dritten Fall, und dieser ist es, welcher
hier in Betracht kommt.

Es ist jemand von einem bedeutenden Ethos mächtig ergriffen, dem
er einen auch die andern stark bewegenden Ausdruck verleihen will. Der
Anlaß für ihn zu jenem Ethos ist eine Reihe wichtiger Gedanken, tiefgreifender
Reflexionen gewesen, mit denen er zu einem ihn beruhigenden
und erhebenden Abschluß gelangt ist. Der Philosoph führt dieselben
unmittelbar vor und wendet sich damit an jene kleine Zahl der Mitstrebenden,
die ihm zu folgen geneigt sind. Der Redner bringt die zu
jenen Reflexionen den Anlaß gebenden Umstände und Verhältnisse in
ausführlicher, für seinen Zweck angeordneter Darstellung vor die Augen
seiner Zuhörer und erreicht damit seinen Zweck, die von ihm gewollte
Ueberzeugung herzustellen bei der Gruppe, welche schon zuvor an jenen
Verhältnissen einen durch ihr Jnteresse hervorgerufenen Anteil nahm. Der
Dichter,
den sein Ethos zum Reden zwingt, hat einen weiteren Kreis
im Auge, als der Philosoph und der Redner, er wendet sich an die
ganze Menschheit, und anders wie jene, setzt er das Jnteresse für seinen
Gegenstand nicht voraus, sondern er will es hervorbringen auch bei den
Gleichgültigen und selbst bei den Widerwilligen. Dazu bedarf er nun
aber anderer Mittel, und dieselben sind von so starker Wirkungskraft,
daß der Philosoph und der Redner nicht selten sie ihm abborgen, gerade
da, wo es ihnen nicht nur auf die Ueberzeugung, sondern zugleich auf
eine Beeinflussung der Gemütskräfte und des Willens ankommt. Für
den Dichter ist das argumentierende Verfahren jener beiden andern ausgeschlossen;
nun liegt aber der Fall so, daß die konkreten Verhältnisse,
die der Reflexion und dem Ethos den Ursprung geben, viel zu ausgebreiteter
und weitverzweigter Art und viel zu sehr der Einheit ermangelnd
sind, als daß an ihre Verwendung als Darstellungsmittel im
Gedichte gedacht werden könnte. Hier bedient sich nun die Kunst jenes
unentbehrlichen Auskunftsmittels: an die Stelle der jenen abstrakten
Reflexionen und jenen ethischen Zuständen in der Wirklichkeit entsprechenden
und zu Grunde liegenden konkreten Verhältnisse und
Vorgänge
setzt sie andre, jenen ähnliche konkrete Verhältnisse
und Vorgänge,
welche eben durch diese Aehnlichkeitsmomente die Kraft
haben dieselben Reflexionen und ethischen Zustände hervorzurufen, die
aber vor ihren der Wirklichkeit angehörigen Vorbildern den Vorzug der
Uebersichtlichkeit und Einheit haben. Es ist derselbe Weg, den
auch der Mythus in solchem Falle mit Vorliebe einschlägt: es sei
an das Urteil des Paris erinnert, oder an Herkules am Scheidewege
oder an Christus und den Versucher, der ihm vom Felsen [94]
aus die Herrlichkeit der Welt zeigt. Wollte ein Dichter die Verhältnisse,
Zustände und Entwickelungen, die Reflexionen und ethischen Bewegungen,
welche hier in einen einzigen, schnell sich entscheidenden
und leicht zu erfassenden Vorgang zusammengefaßt sind, mit den gewöhnlichen
Mitteln poetischer Nachahmung darstellen, statt durch das
Mittel der Allegorie, so würde dazu jedesmal ein eigenes, in
größerem Maßstabe und auf breiter Grundlage komponiertes Werk
erforderlich sein. Denn hier ist nun in der That Allegorie vorhanden;
die Aehnlichkeit waltet hier nicht ob zwischen dem Darstellungsmittel
und dem Dargestellten (wie fälschlich wohl oft angenommen
wird), nicht also zwischen dem abstrakten Allgemeinen und dem
konkreten Einzelnen ─ was ein Unding wäre ─, sondern zwischen
zwei gesonderten konkreten Einzelnen,
welche jedoch darin
einander ähnlich sind, daß sie beide die Kraft besitzen jenes eine
abstrakte Allgemeine
zu vertreten; zwischen diesen beiden aber ist
die Aehnlichkeit selbstverständlich möglich. Jedoch wird der Künstler sich
des allegorischen Darstellungsmittels nur dann bedienen, wenn die
reale, poetische Darstellungsweise unmöglich ist, oder doch an Kürze,
Faßlichkeit und daher auch an Wirkungskraft von jener weit überboten
wird; dann aber ist es ein dem Künstler ganz unentbehrliches Verfahren,
das Geistige, was ihn erfüllt, nicht vermittelst desjenigen Konkreten
nachahmend darzustellen, an welches es ursprünglich geknüpft ist, sondern
durch ein anderes, ähnliches Konkretes, welchem die Fähigkeit beiwohnt
oder erteilt werden kann, auf jenes Urbild hinzudeuten.
Hierin liegt schon mit völliger Deutlichkeit die Bestimmung der Grenzen,
innerhalb deren allein die Allegorie ihren künstlerischen Charakter bewahrt.
Der allegorische Gegenstand oder Vorgang muß, entweder schon
durch sich selbst oder doch durch die Belebung und ethische Beseelung,
deren ihn der Dichter fähig zu machen weiß, imstande sein, auch ganz
ohne die Vergleichung mit seinem realen Gegenbilde, an und für sich
das Ethos zu erzeugen, dessen Nachahmung der Zweck des Gedichtes ist.
Dann ist die Allegorie schön; denn sie erfüllt die Aufgabe der Kunst
schon durch sich selbst, und, indem sie durch die ihr innewohnende Aehnlichkeit
nun obendrein noch die Vorstellung des weit ausgedehnteren
und vielumfassenden realen Urbildes erweckt, wird sie jener Aufgabe
noch in einem ungleich höheren Grade gerecht. Aber jene erste Wirkung
wird gänzlich aufgehoben und damit auch die Möglichkeit der zweiten
von vornherein vernichtet, sobald die Allegorie den ethischen Gehalt
nicht selbständig oder doch nur unvollständig besitzt, sondern ihn erst
durch den äußeren Hinweis auf die Realität, für welche sie eintritt, er= [95]
halten soll; dann ist sie zugleich unzulänglich, überflüssig und unschön
und aus jeder Kunst unbedingt zu verstoßen.1

Nach alledem muß die Definition der poetischen Allegorie folgendermaßen
lauten:

Sie ist die Nachahmung eines Gedankenethos durch die
Darstellung nicht der dasselbe hervorrufenden konkreten
Realität, sondern eines andern Konkreten, welches dasselbe
in gedrängterer und einheitlicherer Form enthält,
und eben dadurch einen solchen Grad der Aehnlichkeit mit
jener Realität erlangt, daß es sowohl im Ganzen als in
seinen Teilen auf dieselbe hinzuweisen vermag.

Eine solche allegorische Darstellung entspricht völlig der Natur der
Poesie, da sie zunächst auch ohne den Gedanken an das Allgemeine durch
die bloße Darstellung des Besonderen ihre Wirkung thut. Wer jedoch
dieses Besondere lebendig erfaßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, sogar
vielleicht ohne es zunächst gewahr zu werden. Erschließt sich nun
rückwärts aus diesem Allgemeinen noch weiter die Aussicht auf ein verwandtes
aber höher geartetes und reicheres Besonderes, so steigert sich
damit die Wirkung ins Unendliche.2

Es bleibt noch übrig an den oben als hervorragende Beispiele für
die allegorische Darstellung des Reflexions-Ethos citierten Gedichten die
Probe zu machen.

Der Genius ist zum Vollgefühl seiner Kraft und zu der freudigstolzen
Erkenntnis seines Wesens erwacht! Jn der Gewißheit des
mächtigen Vermögens, das er in immer gesteigertem Gelingen erprobt [96]
hat, erscheint ihm seine Laufbahn, die Gegenwart, die Vergangenheit und
die Zukunft, als eine herrliche Einheit, welche in ihrer folgerichtigen
Entfaltung durch nichts aufgehalten werden kann. Von dem Gipfel
des errungenen Vertrauens in sich selbst entdeckt sich nun in plötzlich
verbreitetem Lichte dem Genius sein eigenes Werden, welches ihm bis
dahin ein Geheimnis war; von Anbeginn liegt nun sein Lauf vor ihm,
und in triumphierender Zuversicht sieht er diesen Lauf mit der Gewalt
und Notwendigkeit einer Naturkraft sich bis zu seinem glorreichen Ende
fortsetzen. Dieses Ethos ist es, welches die von titanischen Entwürfen
geschwellte Brust des Dichters des Götz und Werther erfüllt, und das
nach einer Form des Ausdrucks verlangt. Für dieses „sublimi feriam
sidera vertice
“ gibt es aber schwerlich irgend eine Form des Ausdrucks,
welche so angemessen und zugleich so hochpoetisch wäre als die Allegorie,
denn hierbei bleibt erstlich die Person des Dichters ganz aus
dem Spiele und das Ethos kommt rein und objektiv zur Darstellung,
und sodann wird es statt abstrakt beschrieben zu werden, durch die Anschauung
Herz und Gemüt erhebender und bewegender Bilder und Vorgänge
vermittelt. Eine solche Wirkung hat von jeher der Anblick eines
mächtigen Stromes, in allen Teilen seines Laufes von der Quelle bis
zum Meere, auf alle Beschauer ausgeübt. Den Alten verkörperte sich
dieses Ethos in den Mythen von ihren Flußgöttern; der moderne Dichter
ist von demselben schöpferischen Geiste getrieben, indem er überall der
körperlichen Erscheinung eine Seele leiht und die Bewegungen der Materie
als Willensakte vorstellt. So bleibt er vor allem dem poetischen
Grundgesetze
getreu, in die Schilderung der körperlichen Natur und
ihrer Bewegung nur einzutreten, insofern sie psychische und ethische Vorgänge
zu erwecken imstande ist, und insofern sie durch sich selbst dazu
fähig ist; was von außen her willkürlich hinzugethan wird um diese
Fähigkeit zu erhöhen, fördert die Wirkung nicht, sondern hebt sie auf.
Gelingt es nun hier dem Dichter, daß, indem er der Natur seines Objektes
durchaus treu bleibt, er zugleich doch eine solche Reihe von Momenten
in der Darstellung desselben hervorhebt, welche durch eine
schlagende Aehnlichkeit an jene ganz persönlichen und doch zugleich typischallgemeinen
Verhältnisse erinnern, die ursprünglich in ihm das treibende
Ethos entzündeten, so ist er der höchsten Wirkung sicher.

So geschieht es in dem vorliegenden Gedicht:


Seht den Felsenquell,

Freudehell

Wie ein Sternenblick;

Ueber Wolken
[97]
Nährten seine Jugend

Gute Geister

Zwischen Klippen im Gebüsch.

Die sonnigen Kindertage des begünstigten Genius ─ und warum
nicht des Dichters eigene? ─ und zugleich der Hinweis auf seinen geheimnisvollen
Ursprung, von welchem dem menschlichen Auge denn doch
soviel sich entdeckt, daß besondere und durch Generationen vererbte
Güte und Trefflichkeit um seine Wiege stehen und „seine Jugend
nähren“ mußte!


Jünglingfrisch

Tanzt er aus der Wolke

Auf die Marmorfelsen nieder,

Jauchzet wieder

Nach dem Himmel.

Durch die Gipfelgänge

Jagt er bunten Kieseln nach,

Und mit frühem Führertritt

Reißt er seine Bruderquellen

Mit sich fort.

Jn den Knabenspielen überall die freudig emporstrebende Flamme
einer üppig reichen, aber immer dem Höchsten zugewandten Phantasie
und damit die angeborene Führerschaft über die Genossen, in denen er
ähnliche Bestrebungen weckt, die ohne ihn doch kraftlos stocken und versiegen
würden!


Drunten werden in dem Thal

Unter seinem Fußtritt Blumen,

Und die Wiese

Lebt von seinem Hauch.

Es klingt wie die Signatur seiner poesievollen Jünglingsjahre, der
Leipziger, Frankfurter und ersten Straßburger Zeit! Nun ist er in das
breitere Leben getreten, und wie ist da jede, auch nur flüchtige Beziehung,
in die er eintrat, bezeichnet durch das Emporsprießen der reizvollsten
Blüten der Poesie, die „unter seinem Fußtritt wurden“, und
wie „lebt“ alles, was er damals berührte, unsterblich fort, durch seinen
Hauch geadelt!


Doch ihn hält kein Schattenthal,

Keine Blumen,

Die ihm seine Knie umschlingen,

Jhm mit Liebesaugen schmeicheln;

Nach der Eb'ne dringt sein Lauf

Schlangenwandelnd.
[98]

Die liebliche Jdylle, welche ihn mit dem Schönsten umgab, was
das in beschränktem Kreise Genüge findende Herz sich ersehnen kann,
und die er selbst mit dem Köstlichsten geschmückt hat, was er in sich
hatte, vermag ihn nicht aufzuhalten. Zugleich ist die innere Fülle übermächtig
angeschwollen und durch mannigfaltige neue Entwickelungen, die
ihn bald von seiner Bahn ablenken, bald mit desto größerer Kraft zu
ihr zurückführen, drängt es ihn vorwärts der immer weiter verbreiteten,
ihm bestimmten, großen Wirksamkeit zu: „nach der Eb'ne dringt sein
Lauf, schlangenwandelnd!“


Bäche schmiegen

Sich gesellig an. Nun tritt er

Jn die Eb'ne silberprangend,

Und die Eb'ne prangt mit ihm,

Und die Flüsse von der Eb'ne

Und die Bäche von den Bergen

Jauchzen ihm und rufen: Bruder!

Bruder, nimm die Brüder mit,

Mit zu deinem alten Vater,

Zu dem ew'gen Ocean,

Der mit ausgespannten Armen

Unser wartet,

Die sich, ach! vergebens öffnen,

Seine Sehnenden zu fassen;

Denn uns frißt in öder Wüste

Gier'ger Sand; die Sonne droben

Saugt an unserm Blut; ein Hügel

Hemmet uns zum Teiche. Bruder,

Nimm die Brüder von der Eb'ne,

Nimm die Brüder von den Bergen

Mit, zu deinem Vater, mit!

Jetzt beginnt er seine Sendung zu erfüllen: zuerst folgen nur die
zunächst ihn Umgebenden seiner fortreißenden Führung; bald aber erweckt
sein leuchtendes Beispiel von überallher die geringeren Talente, sich
dem gleichen Streben mit ihm zu weihen. Wie lange hatten die Kräfte
sich vergebens gemüht das klassische Jdeal iu der Poesie zu erreichen!
Jn der angeerbten Furchtsamkeit vor den engen Schranken der Konvenienz
waren sie erlahmt und verkümmert, falsch verstandene Regeln
hatten ihnen die Bahn versperrt. Nun riß sie dieser mächtige Genius
mit sich fort, der mit zaubergewaltiger Sprache gleichsam die Natur
seinem Zeitalter erschloß und aller zartesten und stärksten Empfindung
freie Bahn schuf.


Kommt ihr alle! ─
[99]

Wie fluteten damals im Sturm und Drange die Gewässer in das
eröffnete Bett! Dennoch hat die folgende Zeit das stolze Bild des
Triumphes, das in prophetischem Gesichte sich ihm zeigte, zur Wahrheit
gemacht. Noch lag mehr als ein halbes Jahrhundert seiner Laufbahn
vor ihm, und welch eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen hinterließ
dieses unvergleichliche Leben, jede nicht nur ein stolzes nationales Denkmal,
sondern ein fortwirkender lebendiger Organismus, ausgestattet mit
der Kraft, unaufhörlich weiter die Nation zu erziehen, zu veredeln, neue
geistige Wirksamkeit in ihr zu erwecken!


Und nun schwillt er

Herrlicher; ein ganz Geschlechte

Trägt den Fürsten hoch empor,

Und im rollenden Triumphe

Giebt er Ländern Namen, Städte

Werden unter seinem Fuß.

Wie schön auch das Anerkenntnis, daß selbst das größte Genie
zu seinem höchsten Vermögen erst gelangt, indem es bereitwillig jeden
Zuwachs aus den Leistungen der Mitstrebenden in sich aufnimmt! Er
allein aber vermag es, bis zum Ziele vorzudringen, zu dem er die ganze
Epoche mit sich fortträgt.


Unaufhaltsam rauscht er weiter,

Läßt der Türme Flammengipfel,

Marmorhäuser, eine Schöpfung

Seiner Fülle, hinter sich.
Cedernhäuser trägt der Atlas

Auf den Riesenschultern; sausend

Wehen über seinem Haupte

Tausend Flaggen durch die Lüfte,

Zeugen seiner Herrlichkeit.
Und so trägt er seine Brüder,

Seine Schätze, seine Kinder

Dem erwartenden Erzeuger

Freudebrausend an das Herz.

Ganz genau derselbe Nachweis läßt sich für das Gedicht „Seefahrt
führen: eine Zug für Zug durchgeführte, allegorische Darstellung
von ethischen Zuständen, wie sie durch die ganz individuellen Lebensverhältnisse
des Dichters in ihm hervorgebracht waren. Das Gedicht entstammt
dem Herbste des Jahres 1776; noch war kein volles Jahr verflossen,
seitdem der Dichter sich dem gefährlichen Element des Hoflebens
an der Seite eines leidenschaftlichen jungen Fürsten anvertraut hatte. [100]
Bis in die kleinsten Züge hat er nun in dem Bilde der Seefahrt die
Empfindungen und Gemütsverfassungen, mit denen jenes Verhältnis ihn
bewegte, wiederzuspiegeln gewußt. Die lange Zeit des vergeblichen Harrens,
nachdem nun definitiv die weimarische Einladung angenommen war, die
drängende Ungeduld der Freunde und die ungemessenen Hoffnungen,
deren schnelle Erfüllung sie von jener Reise erwarteten, endlich der von
ihren frohen und zuversichtlichen Segenswünschen begleitete Aufbruch:
alles das in dem ungezwungensten und belebtesten Bilde vereinigt. Und
vollends die folgenden Strophen: in gedrängtester Kürze meint man hier
einen getreuen Abriß von dem Verhalten vor Augen zu haben, wie es
Goethe in den stürmischen Tagen der Weimarer Geniezeit sich vorgezeichnet
hatte und wie er dasselbe in dem köstlichen Gedicht „Jlmenau“
später ausführlicher geschildert hat. Wie der kluge Schiffer gegen die
widrigen Winde kreuzt um vorwärts zu kommen, so scheint er dem
tollen Treiben „sich hinzugeben“, doch:


Strebet leise sie zu überlisten,

Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege.

Aber heftiger schwillt das Wüten der Leidenschaft an, und auf
nutzlosen Widerstand verzichtend, gibt er das Schifflein eine Zeit lang
den stürmischen Wellen preis. Jst es nicht, als ob man den Chorus
der näher und ferner stehenden Freunde nun hörte, mit ihren Befürchtungen,
Warnungen, ihren mißtrauischen Klagen:


Und an jenem Ufer drüben stehen

Freund' und Lieben, beben auf dem Festen:

Ach, warum ist er nicht hier geblieben!

Ach, der Sturm! Verschlagen weg vom Glücke!

Soll der Gute so zu Grunde gehen?

Ach, er sollte, ach, er könnte! Götter!

Und endlich das Grundethos des Ganzen, der feste, freudige Lebensmut,
das unerschütterliche Vertrauen in sich selbst und in die Zukunft,
in den herrlichen Schlußversen:


Doch er stehet männlich an dem Steuer;

Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen,

Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen;

Herrschend blickt er auf die grimme Tiefe

Und vertrauet scheiternd oder landend

Seinen Göttern.

Auf Widerspruch könnte es stoßen, wenn als ein drittes Beispiel
solcher allegorischen Dichtungsweise die Fabel „Adler und Taube“ an= [101]
geführt wurde. Eine gute Fabel kann ja nach Lessing nicht allegorisch
sein. Gewiß nicht, sofern man die allegorische Aehnlichkeit zwischen der
Handlung der Fabel und ihrem allgemeingültigen abstrakten Jnhalt
sucht. Aber jene Aehnlichkeit besteht vielmehr zwischen dieser Handlung
und den eigenen Erlebnissen, die das Ethos der Fabel in dem Dichter
erweckten; und wenn sich hier die ganz speziell den Anlaß gebenden
Beziehungen auch nicht überzeugend nachweisen lassen, so liegt dafür die
Grundbeziehung um so klarer am Tage. Wir wissen, wie schwer der
Dichter an der hier dargestellten ethischen Gemütslage zu tragen hatte.
Für den mit der Goetheschen Dichtungsweise Vertrauten möchte es aber
nicht zweifelhaft sein, daß auch der spezielle Hergang der Handlung in
dem Gedichte nicht lediglich fiktiv ist, sondern den Hinweis auf eine bestimmte
erlebte Situation enthält. Eine Vermutung wird erlaubt sein,
durch welche sicherlich die Auffassung des Gedichtes an Lebendigkeit gewänne.
Man erinnert sich aus Goethes Lebensbeschreibung, wie tief ihn
die reumütige Erinnerung an die Sesenheimer Verlassene niederdrückte,
zu der zurückzukehren er gleichwohl durch einen übermächtigen Zug seiner
innersten Natur sich gehindert fühlte, wie er die schmerzliche Trauer damals
zeitweise als eine Lähmung aller seiner Kraft empfand:


Zuletzt heilt ihn

Allgegenwärt'ger Balsam

Allheilender Natur.

Es war nicht lange darnach, als er in Darmstadt ein häufiger
Augenzeuge des idyllischen und sentimental=zärtlichen Liebesgetändels
zwischen Herder und seiner Braut Karoline war; bei dem starken Hange
jener beiden zum Moralisieren und zu einer gewissen tugendstolzen Ueberhebung
wird es an ernsten Vorwürfen und wohlmeinenden Ratschlägen
an den Freund in Bezug auf das ohne Zweifel ihnen bekannte Sesenheimer
Verhältnis schwerlich gefehlt haben: die Empfindungen des Dichters
gegenüber solchen Anmahnungen, die stark ironisch gefärbte Darstellung
derselben, die treffende Abfertigung, nicht nur gegen jene gewandt, sondern
schwererwiegend die Rechtfertigung vor sich selbst, soweit eine solche
möglich, alles das ist vollständig, überzeugend und ergreifend in dem
Gedichte enthalten, welches daher mit vollem Rechte jener allegorischen
Gattung zuzurechnen ist.

Nun aber noch das Eine, was für diese Gattung, wie in seiner
Weise für jede andere gilt! Dichterisch empfunden und dargestellt würden
alle diese Gedichte sein, auch wenn sie nichts weiter enthielten als in
allegorischem Gewande das Ethos des Dichters, welches den individuellen [102]
Reflexionen über seine eigene Lage und Verhältnisse entsprungen ist; viele
auch unter den bedeutenderen Dichtern sind hierbei stehen geblieben, es
seien nur die hervorragendsten genannt: Byron und Heine. Das
Zeichen einer wahrhaft großen Dichtung aber ist es, daß das Ethos,
welches die Jndividualität des Dichters bezeichnet, zugleich der höchsten
Vorstellung der menschlichen Gattung entspreche und so durch seine
typische Geltung zugleich die Allgemeinheit und die erhebende und
läuternde Kraft seiner Wirkung empfange. ──────


VIII.

Dehnt man die auf die gnomische Dichtung angewandte Betrachtungsweise
auf die satirisch=humoristische Poesie aus, so ergibt
sich, so unerwartet das sein mag, daß die Gesetze, unter denen sie steht,
der Gattung nach dieselben sind wie bei jener, und daß zwischen beiden
nur Art-Unterschiede stattfinden. Die satirisch=humoristische Poesie
erweist sich daher als eine Abzweigung der gnomischen.

Noch augenfälliger wie bei der gnomischen Dichtung tritt hier die
Mannigfaltigkeit der Darstellungsmittel hervor, welche zwischen dem
lyrischen und epischen Charakter zu schwanken und daher eine bestimmte
Klassifikation dieser Gattung zu erschweren scheinen. Denn wie jene
kann die satirisch=humoristische Dichtung bald schlechthin reflektierend sich
verhalten, bald eine Reihe sachlich unzusammenhängender, nur durch den
Faden der Betrachtung vereinigter, Bilder und Vorgänge verwenden,
bald sich der Darstellung einer einzigen und einheitlichen Handlung bedienen;
ganz wie jene ist sie der dramatischen Lebendigkeit fähig und
bedarf ebenso wie sie unter Umständen mit Notwendigkeit der allegorischen
Verkleidung.

Jn den Mustern der Gattung, den Horazischen Satiren, sind
diese Darstellungsweisen sämtlich verwendet; als Beispiele dienen ferner
Dichtungen wie SchillersJeremiade“, „Shakespeares Schatten“,
Teilung der Erde“, „Pegasus im Joche“, oder „Goethes Episteln
und der größte Teil der unter der Ueberschrift „Parabolisch
vereinigten Gedichte; es sei auch auf Schillers satirische Jugendgedichte
hingewiesen und auf Bürgers Versuche auf diesem Felde,
z. B. das Gedicht vom „Vogel Urselbst“.

Die beiden Hauptpunkte, in denen die generelle Aehnlichkeit der
satirisch=humoristischen Dichtung mit der gnomischen stattfindet, sind diese:
daß in jener wie in dieser der Gegenstand der Nachahmung die Hervor= [103]
bringung eines Ethos ist, und daß in beiden dieses Ziel weder unmittelbar
erreicht wird, noch auch indirekt durch die Schilderung von
Dingen oder die Erzählung von Handlungen, wie in der Lyrik, sondern
immer erst durch das Mittel der Reflexion über dieselben; hier
wie dort können die Gedanken, welche das Ethos erzeugen, ebensowohl
allgemeiner Natur sein, als an einzelnen Fällen der Anschauung vorgegeführt
werden, oder endlich, vermittelst der zwischen solchen und gewissen
konkreten Dingen obwaltenden Analogien, allegorisch vertreten werden.
Mit der gnomischen Poesie gemeinsam also hat die Satire den Gedanken
als das die Nachahmung bewirkende Medium; der artbildende
Unterschied besteht darin, daß die erstere das nachzuahmende Ethos selbst
hervorbringt, die letztere dasselbe durch die ideelle Vorstellung seines
Widerspiels zu erzeugen strebt. Ein ganz ähnliches Grundverhältnis
findet bei der humoristischen Poesie statt.

Das Beste über den Gegenstand hat Schiller in der Abhandlung
„Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ gesagt, und was sich dort
findet, stimmt dem Sinn nach vollkommen mit dem oben Entwickelten
überein. Dort heißt es:1 „Der sentimentalische Dichter reflektiert
über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf
jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird
und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Jdee bezogen
und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft. Der sentimentalische
Dichter hat es daher immer mit zwei streitenden Vorstellungen
und Empfindungen, mit der Wirklichkeit als Grenze und mit seiner Jdee
als dem Unendlichen zu thun, und das gemischte Gefühl, das er erregt,
wird immer von dieser doppelten Quelle zeugen.“

Je nachdem nun das eine oder das andere Princip in der Empfindung
des Dichters überwiegen wird, „wird also seine Darstellung
entweder satirisch, oder sie wird (in einer weiteren Bedeutung dieses
Wortes) elegisch sein“.

„Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur
und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Jdeale (in der Wirkung
auf das Gemüt kommt beides auf eins hinaus) zu seinem Gegenstande
macht.“

Wenn aus diesen Sätzen hervorgeht, daß Schiller sich die satirische
Dichtung als auf dem Gedanken beruhend und in ihrer Wirkung durchaus
„auf Reflexion gegründet“ vorstellt, so beweist die ganze Haltung
des Folgenden, und zahlreiche Stellen sprechen es geradezu aus, daß er [104]
sich diese Wirkung selbst als die Reproduktion eines bei dem Dichter
unumgänglich erforderlichen Gemütszustandes denkt, also als eben das,
was im Obigen Nachahmung eines Ethos genannt ist. So, wenn es
in betreff der strafenden oder pathetischen Satire heißt: „Bei der
Darstellung empörender Wirklichkeit kommt Alles darauf an, daß das
Notwendige der Grund sei, auf welchem der Dichter oder der Erzähler
das Wirkliche aufträgt, daß er unser Gemüt für Jdeen zu stimmen
wisse. Stehen wir nur hoch in der Beurteilung, so hat es nichts
zu sagen, wenn auch der Gegenstand tief und niedrig unter uns zurückbleibt
..... Die pathetische Satire muß also jederzeit aus einem
Gemüte fließen, welches von dem Jdeale lebhaft durchdrungen
ist.
“ Und weiterhin: „Die äußern und zufälligen Einflüsse, welche
immer einschränkend wirken, dürfen höchstens nur die Richtung bestimmen,
niemals den Jnhalt der Begeisterung hergeben. Dieser muß in allem
derselbe sein und, rein von jedem äußeren Bedürfnis, aus einem
glühenden Triebe für das Jdeal hervorfließen,
welcher durchaus
der einzig wahre Beruf zu dem satirischen wie überhaupt zu dem
sentimentalischen Dichter ist.“

„Wenn die pathetische Satire nur erhabene Seelen kleidet, so
kann die spottende Satire nur einem schönen Herzen gelingen .....“
„Nur dem schönen Herzen ist es verliehen, unabhängig von dem Gegenstand
seines Wirkens in jeder seiner Aeußerungen ein vollendetes Bild
von sich selbst abzuprägen. Der erhabene Charakter kann sich nur in
einzelnen Siegen über den Widerstand der Sinne, nur in gewissen Momenten
des Schwunges und einer augenblicklichen Anstrengung kundthun;
in der schönen Seele hingegen wirkt das Jdeal als Natur, also
gleichförmig, und kann mithin auch in einem Zustand der Ruhe sich
zeigen. Das tiefe Meer erscheint am erhabensten in seiner Bewegung,
der klare Bach am schönsten in seinem ruhigen Lauf.“

Es ist klar, daß, was Schiller hier Begeisterung, Trieb für das
Jdeal, erhabene Seele, schönes Herz oder schöne Seele nennt, samt und
sonders unter den Begriff des Ethos fällt, wie er im Obigem definiert
ist; an die Stelle jener verschiedenartigen und einer präcisen Feststellung
sich entziehenden Bezeichnungen tritt damit ein einheitlicher Begriff,
welcher den Vorzug besitzt, für jeden Fall sich mit einem klar und fest
zu bestimmenden Jnhalt erfüllen zu lassen und zudem auch für alle Fälle
anwendbar zu sein, während Schillers Räsonnement nur dem Jdeal der
satirischen Dichtung gilt und für alle tieferen Stufen derselben Ausnahmen
statuieren muß. Jenes klassische Jdeal, von welchem Schiller
handelt, würden diejenigen satirischen und humoristischen Dichtungen [105]
erreichen, in denen das jedesmal nachgeahmte Ethos nicht ein lediglich
individuelles oder gar pathologisches wäre, sondern in seiner Art vorbildlich,
der Natur der Seele gemäß und der höchsten Vorstellung der
Menschlichkeit entsprechend; die minderwertige Beschaffenheit des durch
die Nachahmung reproduzierten Ethos würde der sichere Gradmesser für
den der einzelnen Dichtung anzuweisenden Rang bilden.

Demgemäß wäre also der Grundcharakter der Satire
nicht episch,
der Satz, daß Handlung der Gegenstand der poetischen
Nachahmung sei, träfe auch bei ihr nicht zu, wenn sie freilich auch der
Darstellung von Handlungen als eines Mittels unter anderen sich sehr
wohl bedienen kann. Das Wesentliche für diese Dichtungsart ist der
Ausdruck der Meinung des Dichters, sei es, daß er sich dazu der Darstellung
der bloßen Reflexion oder einer dieselbe zur Anschauung bringenden
Handlung bedient; künstlerisch aber und also im eigentlichen
Sinne poetisch wird solcher Meinungsausdruck erst insofern, als er, ein
Ethos des Dichters nachahmend, dasselbe wiederum in der Seele der
Hörer zu erregen vermögend ist; er erfüllt die höchste Aufgabe der Poesie,
sobald dieses Ethos geeignet ist den Adel und Reichtum der Seele zu
erhöhen.

Das Eigentümliche der Satire aber erwies sich darin, daß sie das
Ethos nicht direkt hervorbringt, wie die gnomische und die Reflexions=
Poesie, sondern indirekt, vermöge eines Vorganges in der Seele,
welcher als eine Art von Katharsis zu bezeichnen ist.

Alle echte Satire, und ebenso aller echte Humor, finden ihren
Gegenstand auf jenem Grenzgebiete zwischen dem Wahren und Falschen,
dem Guten und Schlechten, dem Nützlichen und Schädlichen, Geziemenden
und Ungeziemenden, Schönen und Häßlichen, und wie die Gegensätze
alle lauten mögen, wo durch die das Erscheinen der Gegenstände
und Ereignisse begleitenden und bedingenden Umstände das Urteil
schwankend gemacht und leicht oder doch häufig in verkehrte Richtung
gelenkt oder durch fehlerhafte Neigung und Gewohnheit überstimmt
wird. Das absolut Wahre und Gute, wie das absolut Böse und
Falsche stehen außerhalb des der Satire gehörigen Gebietes, nur wo es
durch ihm zugesellte entgegengesetzte Momente wenigstens teilweise aufgehoben
wird oder doch als thatsächlich so erscheinend vorausgesetzt werden
kann, ist es der satirischen oder humoristischen Behandlung fähig. Der
dialektische Prozeß freilich, auf Grund dessen die Entscheidung in jenen
Fällen des schwankenden Urteiles getroffen wird, gehört der theoretischen
Thätigkeit des wissenschaftlichen Denkens oder der beratenden des praktischen
Lebens an; für den Dichter muß sie als ein feststehendes Resultat [106]
vorhanden sein, und was seiner Dichtung den Ursprung gibt und durch
dieselbe wiederum hervorgebracht werden soll, das ist eben die aus jener
Ueberzeugung quellende Gemütsbeschaffenheit und Seelenstimmung, das
der besondern Natur jener Ueberzeugung entsprechende Ethos. Durch
die Vorführung jener dieses hervorzurufen, ist also die Aufgabe, und
zwar, wie schon gesagt, durch indirekte Vorführung derselben.

Das kann auf zweierlei Weise geschehen:

Entweder, indem das Negative, seiner positiven Beimischung oder
des Scheines derselben entäußert, als das dargestellt wird, was es ist,
und durch diese Klarstellung das richtige Urteil über das, was als das
Positive Geltung verlangt, hervorgebracht wird.

Oder, indem umgekehrt das vorwiegend Positive von seiner negativen
Beimischung oder von dem Scheine derselben befreit und als das,
was es ist, dem Urteil kenntlich gemacht wird und zwar gerade dadurch,
daß es mit dieser negativen Beimischung auftritt, und das Unvermögen
derselben jenes Urteil zu beeinträchtigen augenscheinlich wird. Das erstere
Verfahren ist vorwiegend der Satire eigen, das letztere vorwiegend dem
Humor; doch kann weder dieser noch jene darauf verzichten, sich zugleich
auch des andern Verfahrens zu bedienen, ohne die Gefahr einseitig zu
bleiben.

Jede dieser beiden Verfahrungsweisen schließt nun aber in sich wieder
die Möglichkeit einer Umkehrung ein. Gegenüber der Austerität des Urteils,
welches an dem überwiegend Negativen nur dieses ins Auge faßt,
kann die Darstellung zu Gunsten der Gerechtigkeit und Billigkeit die
positive Beimischung hervorheben, und andrerseits gegenüber dem Optimismus,
der nichts als das Positive sehen will, zu Gunsten des Gleichgewichts
und vorurteilsloser Klarheit auf die anhaftenden negativen
Elemente hinweisen, ohne welche in der Welt der wirklichen Erscheinungen
auch dieses nicht zu denken ist. Hier werden die Rollen vertauscht sein:
das letztere ist vorwiegend das Werk der Satire, das erstere das des
Humors, jedoch so, daß sie, ganz wie im ersten Falle, einander wechselseitig
nicht entbehren können, ohne von ihrer vollen Wirkung ein Beträchtliches
einzubüßen.

Jn allen diesen Fällen handelt es sich also um einen Läuterungsprozeß,
welcher überall darin besteht, durch die Evidenz des falschen
Urteils das richtige zur Reinheit von den Trübungen herzustellen, die
es von beiden entgegengesetzten Seiten bedrohen. Es wurde aber schon
hervorgehoben, daß diese Katharsis nicht auf dem Gebiete und durch
die Mittel des logischen Denkens zu erfolgen hat, sondern daß ihr Schauplatz
das Gemüt ist, die Kräfte, durch welche sie sich vollzieht, Erregungen [107]
der Empfindung und die Wirkungen, die sie erzielt, bestimmte Gemütsbeschaffenheiten,
Seelenzustände ─ Arten von Ethos. Diese Arten
von Ethos können sehr mannigfaltig sein, da sie von der Natur des
Gegenstandes abhängen, welcher in dem Dichter das ihn zur künstlerischen
Nachahmung treibende Ethos erregt. Nicht so jedoch ist es mit den
Empfindungsvorgängen beschaffen, vermittelst deren jene kathartische
Wirkung erreicht wird; diese sind vielmehr in allen Fällen der Anwendung
von Satire und Humor ein und dieselben, verschieden ist
nur das Stärkeverhältnis, in dem sie auftreten und sich miteinander
mischen.

Welches nun aber diese Empfindungsvorgänge sind, wird sich aus
der Natur der kathartischen Prozesse, bei denen sie in Wirksamkeit treten,
nachweisen lassen.

Alle vier oben entwickelten Fälle haben gemeinsam, daß sie das
Fehlerhafte, oder wie es dort allgemeiner bezeichnet wurde, Negatives,
darstellen; und zwar tritt entweder das Fehlerhafte dem Augenscheine
als das, was es ist, entgegen und erweckt dadurch die Kontrastvorstellung
des Richtigen, oder es wird als dem im Grunde Guten und Tüchtigen
anhaftend entdeckt und tritt so zu diesem selbst in Gegensatz. Jn diesen
beiden Fällen wird durch den augenfälligen Kontrast der mangelhaften
Erscheinung mit der durch dieselbe zugleich in der Vorstellung hervorgebrachten
Ueberzeugung vom Richtigen die Empfindung des Lächerlichen
erzeugt, zugleich mit ihr, aber schwächer als sie, das Wohlgefallen
an der Darstellung des Rechten.

Jn den beiden andern Fällen dagegen wird das dem Guten und
Tüchtigen anhaftende Mangelhafte zwar auch dargestellt, aber umgekehrt
so, daß trotz der erregten Kontrastvorstellung jenes rein zur Empfindung
gebracht und damit diese überwunden wird; oder die Darstellung führt
das Mangelhafte vor, aber so daß, indem es ihr gelingt daran Elemente
des Guten und Tüchtigen aufzufinden, sie den Kontrast desselben gegen
das Richtige teilweise aufhebt oder doch wenigstens mildert. Hier wird
beidemal die vorwiegende Empfindung des Wohlgefallens an der
vermittelst jener Kontrastwirkungen erweckten reineren Vorstellung des
Rechten hervorgebracht, zugleich aber mit ihr, wenn auch schwächer, die
Empfindung des Lächerlichen durch jene Kontrastvorstellungen selbst.

Beide Empfindungen sind also wirksam um die Läuterung derjenigen
Vorstellungen, Meinungen und Urteile zu vollziehen, durch deren Mitteilung
die Nachahmung des den Dichter erfüllenden Ethos geschieht.
Es ergibt sich ferner, daß die erste Gruppe, die satirischen Wirkungen,
und die zweite, die humoristischen, geeignet sind sich wechselsweise [108]
zu ergänzen, und daß beide, sobald sie vereinzelt auftreten, notwendig
einseitig bleiben müssen. Die Satire für sich allein ist auf Tadel und
Vorwurf gerichtet und begünstigt die Schärfe und Schonungslosigkeit
des Urteils; der Humor für sich allein ist vom Wohlwollen eingegeben
und zur Milde geneigt, er verfällt daher leicht einer zu großen Weichheit
und einer zu starken Begünstigung des Rührenden: beide Extreme
können nur dadurch vermieden werden, daß der Satire sich genug von
dem mildernden Humor hinzugesellt, um sie vor tendenziöser Heftigkeit
zu bewahren und ihr so die künstlerische Freiheit zu erhalten, und dem
Humor genug von der schärfenden und klärenden Satire, um ihn vor
Zerflossenheit zu schützen und ihm so die künstlerische Würde zu bewahren.
Jn dem einen Falle wird damit die Empfindung des Lächerlichen,
in dem andern die des Wohlgefälligen eine Verstärkung erhalten,
immer aber werden beide zugleich in Thätigkeit gesetzt, so daß sie aneinander
einen reciproken Läuterungsprozeß vollziehen ─ eine Katharsis,
in ganz analoger Weise wie die der durch die Tragödie in Wirksamkeit
gesetzten Furcht- und Mitleidempfindungen. Was dadurch bewirkt wird,
ist die Herstellung eines wohlthuenden und heiteren Gleichmaßes der
Gemütskräfte, welches darauf beruht, daß die rechten Kräfte am rechten
Orte in der rechten Weise thätig sind ─ die Bedingung der echten
Freude, der Hedone, welche der letzte Zweck jeder Kunstwirkung ist.
Je nach der Natur des Gegenstandes der humoristisch=satirischen Dichtung
wirken dazu im höheren Maße die durch die dargestellten Mängel erregten
Empfindungen des Lächerlichen mit oder die trotz derselben obsiegenden
Empfindungen des Wohlgefallens. Das Mischungsverhältnis
beider ist also kein zufälliges oder willkürliches, sondern in einem jeden
Fall durch das Objekt einerseits und andrerseits durch die Stellung des
Subjektes zu demselben genau bestimmt. Hiervon hängt auch die Beschaffenheit
des Ethos ab, zu dessen Nachahmung die humoristisch=satirische
Dichtung sich der Wirkung jener beiden Empfindungen bedient. Eine
technische Frage aber ist es, ob es dem Dichter zweckmäßig erscheint, die
jene Empfindungen hervorrufenden Meinungen und Urteile geradehin vorzuführen
oder sie durch Erzählung einzelner Fälle anschaulich zu machen,
oder durch allegorische Analogien ihnen zur Evidenz zu verhelfen oder
endlich sich aller dieser Mittel abwechselnd zu bedienen.

Die Definition derjenigen in sich abgeschlossenen Dichtungsart, welche
man „Satire“ zu benennen pflegt, läßt sich demgemäß folgendermaßen
formulieren:

DieSatireist die Nachahmung eines Ethos vermittelst
der einander wechselsweise klärenden Empfindungen des
[109]
Lächerlichen und des Wohlgefälligen, welche durch die Vorführung
des fehlerhaften Widerspieles der diesem Ethos zu
Grunde liegenden Gesinnungen, Meinungen oder Ueberzeugungen
erregt werden.

Diese Definition ist zugleich die der humoristisch=satirischen
Dichtung überhaupt,
deren vollkommenste Anwendung eben die im
engeren Sinne sogenannte „Satire“ ist, während je nach dem Vorwalten
der verschiedenen Eigentümlichkeiten der Gattung eine Menge
von Ab- und Unterarten sich neben der eigentlichen Satire als der
Hauptgattung zugehörig unterscheiden lassen.

Als Musterbeispiel möge von den Horazischen Satiren die vierte
des ersten Buches dienen („Eupolis atque Cratinus Aristophanesque
poetae
“), um so mehr als hier der Charakter des Satiren schreibenden
Dichters selbst der Gegenstand des Gedichtes ist.

Der dichterische Jnhalt dieses mit vieler Feinheit ausgearbeiteten
und reich ausgestatteten Stückes, das also, was der Dichter aus dem
eigenen Jnnern dargestellt, um es nachahmend bei seinen Lesern zu erwecken,
ist das Bekenntnis des satirischen Dichters von der Gesinnungsweise,
mit der er dem Leben gegenübersteht und die ihn zum satirischen
Gedichte treibt; natürlich ist dieses Bekenntnis nicht ein lediglich individuelles,
sondern es ist die Darstellung des „Ethos“, mit welchen der
gerecht und billig Denkende, zugleich freimütig und freundlich Gesinnte
die Mängel der Freunde, die Fehler der Feinde, die Verkehrtheiten und
Verbrechen der Gesellschaft ansieht, und das die Klarheit des Urteils
darüber ihm zu einem Mittel der Sebsterkenntnis und Selbstzucht werden
läßt. Jn solcher Lebensanschauung fühlt er sich glücklich und heiter;
und wenn nun diese innere Klarheit und Harmonie ihn dazu drängt,
seinen Betrachtungen auch für Andere Gestalt zu geben, so geschieht das
mit ebensoviel Witz und Jronie in der satirischen Verspottung des Negativen,
als mit Anmut und schalkhaftem Humor in dem Hinweis auf die
auch dem entgegengesetzten Positiven anhaftenden Schwächen.

Mit der Berufung auf die Freiheit der alten griechischen und
römischen Satire beginnt er seine Verteidigung der von ihm so besonders
geliebten und seinem Geiste so verwandten Dichtungsart. Eine geschickte
Seitenwendung gibt ihm Gelegenheit zu einem witzigen Ausfall
gegen die Vielschreiber, denen er willig das Feld überläßt; selten nur
und wenig erhebt er seine Stimme, und selbst dies Wenige vermag sich
keine Gunst zu erwerben. Der Mehrzahl ist die Satire unbequem oder
gar verhaßt, weil sie, der eigenen Schuld bewußt, ihren Stachel fürchtet;
die Andern wollen von ihm als Dichter nichts wissen, weil sie in seinen [110]
Satiren nichts erblicken als Schmähsucht und die Lust auf fremde Kosten
witzig zu erscheinen. Mit der feinsten Jronie fertigt er, indem er scheinbar
nur gegen diese sich verteidigt, zugleich eine andere Klasse von
Gegnern ab; indem er nämlich jenen entgegenhält, daß er auf den
Namen eines Dichters ja gar keinen Anspruch erheben könne, führt er
die Gründe, mit welchen die Beschränktheit dieser Andern ihm wohl den
Beruf dazu abzusprechen pflegte, scheinbar als seine eigenen an, so jedoch,
daß die Abgeschmacktheit derselben dem Einsichtigen sofort in die
Augen springt. Jhm fehlt das os magna sonaturum, und seine dem
Gesprächstone sich nähernde Rede bewegt sich nicht auf Schritt und Tritt
in stolz einherschreitenden Metaphern! Es gebe ja ebenso auch Leute,
welche der Komödie den Rang einer Dichtung abstreiten! Und warum?
Weil sie Dinge des gewöhnlichen Lebens in einer Form behandelt, die
doch einzig und allein denselben angemessen ist! Eine ebenso feine als
treffende Verspottung der am Aeußerlichen haftenden Kritik, welcher
das eigentliche Wesen der Poesie überhaupt ein Geheimnis ist, um wie
viel mehr die feine Sinnigkeit dieser reflektierenden Dichtungsweise, in
welcher Horaz Meister ist. Mit unübertrefflicher Schärfe kontrastiert er
dann gegen die heitere Geistesfreiheit seiner Satire das wirkliche Laster
trivialer Medisance, mißgünstiger Scheelsucht, welches in den vornehmen
Kreisen seines Roms, wie in der sogenannten guten Gesellschaft aller
Zeiten, als üppig emporgeschossene Saat geduldet und sogar gehegt wird,
in jenen klassischen Versen:


..... Absentem qui rodit amicum,

Qui non defendit alio culpante, solutos

Qui captat risus hominum famamque dicacis,

Fingere qui non visa potest, commissa tacere

Qui nequit: hic niger est, hunc tu, Romane, caveto.

und weiter in dem typischen Beispiel „freundschaftlicher Verteidigung,“
welche den liebreich in Schutz Genommenen mit dem Saft des Tintenfisches
färbt und ihn schlimmer trifft als der giftigste Haß:


Quod vitium procul afore chartis

Atque animo prius, ut si quid promittere de me

Possum aliud vere, promitto.

Mit wie liebenswürdigem Geschick führt er dann, als ob er ein
Stück seiner eigenen Jugenderziehung erzählte, das treffende Gleichnis
für die Weise seiner dichterischen Satire ein! Des Philosophen Sache
ist es die Gründe anzugeben, warum dieses zu meiden, jenes zu ergreifen
sei, der Dichter teilt seine Gesinnungen darüber mit wie ein [111]
sorgsamer und kluger Vater, welcher den Sohn mit seinen Lebenserfahrungen
ausrüstet: exemplis vitiorum quaeque notando. Bald
mit scharfem Geißelschlag, bald mit dem hellen Schlaglicht des Witzes,
bald mit heiterem Spott bezeichnet er die Laster, die Verkehrtheiten, die
Jrrtümer und Schwächen in dem Treiben der Menschen rings um ihn
her, auch wohl bisweilen die er an sich selbst bemerkt, immer aber um
mit mildem Ernst und erquickendem Wohlgefallen bei dem zu verweilen,
was durch solche Betrachtung sich ihm als das Gute, Rechte, Verständige,
Tüchtige, als das Dauernde erweist. Wenn er zuvor ironisch den Namen
des Dichters von sich ablehnte, so wahrt er in dem scherzhaften Schluß
des Ganzen mit um so größerem Nachdruck sich sein gutes poetisches
Recht, wenn er auch in schalkhafter Bescheidenheit den satirischen Hang
sich als verzeihliche Schwäche anrechnen lassen will:


Hoc est mediocribus illis

Ex vitiis unum: cui si concedere nolis,

Multa poetarum veniet manus, auxilio quae

Sit mihi: nam multo plures sumus, ac veluti te

Judaei cogemus in hanc concedere turbam.

Am liebsten beobachtet Horaz das in dieser Satire angewendete
Verfahren: der Reflexion freien Zug zu lassen, indem nur hier und dort
durch Hinweis auf sachliche Zustände oder möglichst knappe Skizzierung
einzelner Fälle und Ereignisse ihr Anlehnung verschafft wird; doch finden
sich auch Stücke mit durchgeführter dialogischer, ja fast dramatisch
lebendiger Anlage, wie die siebente Satire des zweiten Buches und
namentlich die neunte des ersten, und auch von dem Mittel der Allegorie
kommt ausgedehnter Gebrauch vor, wie in der sechsten Satire des
zweiten Buches mit der entschieden allegorischen Verwendung der Fabel
von der Stadt- und Feldmaus.

Sehr nahe verwandt der Horazischen Satire, auch in der Anwendung
der Mittel, sind seine „Episteln“; sie bilden recht eigentlich das verbindende
Mittelglied zwischen der gnomischen und der satirischen Poesie,
insofern sie einerseits eine völlig ernste Haltung zu bewahren vermögen
und somit dem Dichter gestatten seine Reflexionen und damit sein Ethos
geradehin darzustellen, und insofern andrerseits ihm ebensowohl jene
indirekte Darstellungsweise vermittelst des Humors und der Satire zu
Gebote steht.

Ein vollkommenes Muster dieser Gattung sind die beiden „Episteln
von Goethe, welche zugleich in hohem Grade geeignet sind das Ganze
der im Obigen entwickelten Theorie zu bestätigen.

Wollte man sagen, der Dichter gäbe in diesen Episteln seine Meinung [112]
ab über die Frage, ob und wie den schlimmen Wirkungen des schlechten
Teiles der poetischen Litteratur zu begegnen sei, so würde nicht allein
die hohe Anmut, der eigentliche Zauber dieser Dichtung dabei ganz verschwiegen
bleiben, es würde auch der rechte Sinn derselben ganz verkannt
werden. Jene Frage selbst, die er im Beginne aufwirft, und
Alles, was er in der Folge darüber sagt, ist ihm nur Mittel zu seinem
Zwecke.

Wir haben den Dichter uns gegenüber, die dichterische Gesinnung,
welche den grämlichen Tendenzen des eifernden Ernstes auf
Eindämmung und Begrenzung ihres Machtbereiches mit heiterem Antlitz
ihr Recht auf uneingeschränkte Freiheit erweist, indem sie einfach ihre
bezwingende Macht entfaltet. Jhre Gewalt zu verderben und zu veredeln
übt die Poesie aus, indem sie gefällt: so gebrauche man sie in
dieser heiteren Siegeszuversicht mit freudigem und hohem Sinne, und es
bedarf keiner weiteren ängstlichen Umschau nach Schutzvorrichtungen.
Dieses heitere Kraftbewußtsein des Meisters in dem Reiche der Phantasie
stellt sich vom ersten bis zum letzten Worte in der ersten Epistel dar,
und so wird denn auch diese Meinung derselben nicht in lehrhafter oder
polemischer Weise vorgetragen, sondern mit humoristischer Wendung tritt
dafür eine Erzählung ein, die an einem Beispiel mißbräuchlicher Anwendung,
wenn auch der denkbar harmlosesten, vor Augen führt, wie
dem Sänger, der den rechten Ton zu treffen weiß, Ohr und Herz seiner
Hörer willenlos folgen.

Dazu bringt die zweite Epistel in einem reizenden Bilde gesättigt
idyllischer Stimmung zum Gefühl, welch eine Kraft das stillbeglückte,
emsige häusliche Schaffen, namentlich im Gemüte der Frauen, den zufällig
von außen herantretenden Verführungen der Phantasie durch die
Auswüchse der Litteratur entgegensetzt.

Nach einer andern Seite verbreiten Beispiele wie Schillers „Jeremiade
und „Shakespeares Schatten“ ein helles Licht.

Jn der „Jeremiade“ ist, wie die Ueberschrift es ausspricht, der
Gegenstand der Nachahmung das Ethos elegischer Klage, welche die
litterarischen Vertreter der überwundenen Epoche über den Niedergang
ihrer goldenen Tage anstimmen. Die vortrefflich gelungene satirische
Wirkung wird dadurch erreicht, daß jedes Wort der diesen Klagen zu
Grunde gelegten Motivierung mit unübertrefflicher Schärfe so gestellt
ist, daß es auf das Entschiedenste den Widersinn erweckt und solchergestalt
mit der komischen Erscheinung des Verkehrten, Alten zugleich die
überwiegende Vorstellung des Neuen, Wahren hervorbringt.

Heftiger tritt die Satire in „Shakespeares Schatten“ auf. [113]
Nachahmungsobjekt ist hier ein gemischtes Ethos: der großartige Sinn
für die echte, Herz und Geist läuternde, tragische Kunst und die ingrimmige
Verachtung ihrer vulgären Schändung; beide sprechen sich getrennt
in der Dichtung aus, das letztere durch den Mund des Berichterstatters,
das andre seinem Jnterlokutor, dem Schatten des großen
Briten, zuerteilt, in einer Reihe klassischer, zum großen Teil sprichwörtlich
gewordener Distichen. Jndem die einen einen getreuen Bericht von den
auf der entarteten Bühne herrschenden Zuständen, scheinbar ganz objektiv
und sogar völlig einverstanden damit, entwerfen, lassen sie zugleich deren
Fehler so grell hervortreten und bezeichnen ihre Verirrungen mit solcher
Prägnanz, daß sie ebensoviel dazu beitragen uns zu der wahren
Meinung und zu dem rechten Sinn hinzuweisen, als die wuchtigen Sentenzen
der andern, in denen dieselben uns unmittelbar entgegentreten.

Daß in betreff des Gebrauches der Allegorie alles, was darüber
für die Gattung der Reflexionspoesie ausgeführt ist, ebenso auch seine
Geltung für die humoristisch=satirische Gattung hat, bedarf keines weiteren
Beweises, und Gedichte wie Schillers „Teilung der Erde“ oder „Pegasus
im Joch“ bestätigen es vollauf. Beide zeigen die Mangelhaftigkeit der
Zustände und Verhältnisse, von denen sie handeln, nicht an diesen selbst,
sondern an ihnen ähnlichen Vorgängen auf und beide erreichen ihren
Zweck, das eine in der Form der Satire, das andre in der des Humors.
Jenes, welches uns das dichterische Flügelroß im unwürdigen Dienste
des bäuerischen Fuhrmannes vor Augen stellt, verweilt vorzüglich bei
der verächtlichen Schilderung des Mißbrauchs der poetischen Kraft in
der Knechtschaft ihr fremder, materieller Jnteressen und findet seine Freude
zunächst nur an der Augenfälligkeit der in der Allegorie aufs Grellste
zu Tage tretenden Widersinnigkeit desselben, bis am Schlusse die positive
Empfindung der triumphierenden Genugthuung über die volle Entfaltung
der ihrer wahren Bestimmung zurückgegebenen Kraft zur dauernden
Geltung gelangt.

Anders in der „Teilung der Erde“. Hier liegt der Schwerpunkt
auf der Kontrastierung des geschäftigen, hastig auf den eigenen Vorteil
bedachten Sinnes der Welt und der seiner selbst und der Erde vergessenen
Hingebung des Dichters an das Göttliche, Ewige. Trefflich
dient nun die Allegorie dazu, die Dissonanz sowie ihre Auflösung in
die Harmonie zur Empfindung zu bringen: es bleibt die Stimmung des
still beglückten Genügens überwiegend, aber die Forderung der Resignation
in den gezwungen Eintausch der olympischen Gemeinschaft gegen die
sämtlichen guten Dinge der Erde läßt die Empfindung des Mangelhaften
fortbestehen, so jedoch, daß, eben weil die positive Gesinnung [114]
unbestrittene Siegerin ist, sie dadurch jene heiter=komische Beimischung
erhält, wodurch als Resultat die humoristische Stimmung entsteht.

Eine genaue Betrachtung der ganzen Gattung ─ schon die bei
Goethe unter der Ueberschrift „Parabolisch“ vereinigten Gedichte geben
reiche Gelegenheit dazu ─ würde ergeben, daß die beiden hier näher
bezeichneten Darstellungsweisen sich immer wiederholen, daß aber die
zuletzt besprochene die weiter umfassende und übergeordnete ist. Die
satirische Anschauungsweise behält bei aller Berechtigung, die sie besitzt,
und bei aller Lebhaftigkeit und Kraftentfaltung, deren sie fähig ist,
unter allen Umständen etwas Eingeschränktes, Einseitiges, vorwiegend
Jndividuelles, welches alles vor dem universellen Standpunkt, von dem
aus der Blick auf die Summe und die Allseitigkeit der Erscheinungen
gerichtet wird, und vor der zur Anerkennung und zur Würdigung des
Entwickelungsganges der Dinge gestimmten Sinnesart schwindet und
sich zu der milderen und positiveren Anschauungsweise des Humors
läutert.

Aus den im Obigen aufgestellten Determinationen möchten sich die
gangbaren Begriffsbestimmungen der Satire und des Humors unmittelbar
ableiten lassen. Es ergibt sich daraus die Fähigkeit der Satire sowohl
die in Blut getauchte Geißel des Hasses zu schwingen, sich zu
pathetischem Ernst zu erheben, als auch von den Waffen des Spottes
und Witzes schonungslosen Gebrauch zu machen und in leichtem Spiel
an dem unerschöpflichen Stoff der Narrheit sich zu ergötzen. Es läßt
sich daraus zeigen, wie in dem Reiche des Humors durch die tausendfachen
Mischungsverhältnisse des Ernsten und Komischen sich die Möglichkeit
des reichsten Farbenwechsels ergibt, wie ferner ihm die Eigentümlichkeit
gegeben ist, während er mit dem Tiefsten und Erhabensten
beschäftigt ist, zugleich den schärfsten Blick auf das Unbedeutendste und
Kleinste gerichtet zu halten und ebenso mit der Betrachtung des Geringsten
und Alltäglichsten den weitesten Ausblick auf das Größeste,
Dauernde und Ewige, unaufhörlich organisch zu verbinden. Es wäre
damit zugleich das Kriterium des falschen, erkünstelten Humors ausgesprochen,
der durch die bloße Nachahmung dieser äußern Kennzeichen
jene Verbindung und Versöhnung des Negativen und Positiven, des
Mangelhaften und wahrhaft Realen nur angeblich und scheinbar vollzieht,
während sie in der Sinnesart und Erkenntnis in Wahrheit nicht
vorhanden ist, wodurch dann aus dem herrlichsten Kunstmittel ein widerlich
abgeschmacktes Spielwerk wird.

Es folgt endlich aus alledem, daß selbst die glänzendste Entfaltung
des bloßen Witzes, der beredteste Erguß des Unwillens und der [115]
flammende Ausbruch des Hasses noch nicht den satirischen Dichter
macht, sondern daß dem echten Dichter alles dieses nur als Mittel dienen
kann, um ─ was freilich zuerst in ihm selbst vorhanden sein muß ─
die Klarheit und Wahrheit, die Schönheit des alledem gegenüberstehenden
positiven Ethos in nachahmender Darstellnng lebendig zu verkörpern. ──────


IX.

Wenn im Vorstehenden Schillers Gedicht „Shakespeares Schatten“
eine Reihe einzelner Distichen genannt wurde, so trifft die Bezeichnung
mehr zu als es auf den ersten Blick scheinen möchte: in der That erschien
dies Gedicht, und ebenso auch die „Jeremiade“, im Xenienalmanach nicht
als ein Ganzes sondern aufgelöst in eine Folge einzelner Epigramme,
die sogar gesonderte Ueberschriften trugen.

Der Umstand ist geeignet auf das nahe Verwandtschaftsverhältnis
hinzuweisen, in welchem die Dichtungsart des Epigramms zu den
beiden zuletzt behandelten Gattungen der Poesie steht, der gnomischen
und der humoristisch=satirischen; beiden zu gleichen Teilen angehörend,
nimmt es zwischen ihnen eine verbindende Mittelstellung ein.

Mit beiden hat das Epigramm zunächst das Eine gemeinsam, daß
das Hauptmittel, durch welches es wirkt, der Gedanke ist, die Reflexion
über einen Gegenstand, einen Vorfall oder ein thatsächliches Verhältnis;
sodann aber das andre, daß es, wie jene, der Poesie nur insofern angehört,
als dieses Mittel nicht zum Zwecke gemacht wird, sondern daß
es im Dienste des unveränderlichen Hauptzweckes aller Poesie verwandt
wird eine Gesinnungsweise, eine Gemütsbeschaffenheit darzustellen, daß
es die Nachahmung eines Ethos enthalte. Das Unterscheidende des
Epigramms, wodurch seine Form sich bestimmt, liegt in dem besondern,
ihm allein eigentümlichen Verfahren jenes gemeinsame Mittel herzustellen
und ihm die der poetischen Absicht entsprechende Wirksamkeit zu
verleihen.

Ueber die Art, wie das geschieht, haben wir Aufschluß durch Lessing;
in seinen „Anmerkungen über das Epigramm“ (I) heißt es: „Das
Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem nach Art der eigentlichen
Aufschrift
unsre Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen
einzelnen Gegenstand erregt und mehr oder weniger hingehalten werden,
um sie mit Eins zu befriedigen.“ Dieses „nach Art der eigentlichen
Aufschrift“ schließt ein, daß die Rolle, welche in der Wirklichkeit der die
Aufschrift tragende Gegenstand spielt, im Gedichte durch den einen Haupt= [116]
teil desselben übernommen werde, und so fährt nun Lessing fort: „Wenn
uns unvermutet ein beträchtliches Denkmal aufstößt, so vermenget sich
mit der angenehmen Ueberraschung, in welche wir durch die Größe oder
Schönheit des Denkmals geraten, sogleich eine Art von Verlegenheit
über die noch unbewußte Bestimmung desselben, welche so lange anhält,
bis wir uns dem Denkmal genugsam genähert haben und durch seine
Aufschrift aus unsrer Ungewißheit gesetzt werden; worauf das Vergnügen
der befriedigten Wißbegierde sich mit dem schmeichelhaften Eindruck
des schönen sinnlichen Gegenstandes verbindet und beide zusammen
in ein drittes angenehmes Gefühl zusammenschmelzen. ─ Diese Reihe
von Empfindungen, sage ich, ist das Sinngedicht bestimmt nachzuahmen;
und nur dieser Nachahmung wegen hat es in der Sprache der Erfinder
den Namen seines Urbildes, des eigentlichen Epigramms, behalten. Wie
aber kann es sie anders nachahmen, als wenn es nicht allein eben dieselben
Empfindungen, sondern auch eben dieselben Empfindungen nach
eben derselben Ordnung in seinen Teilen erwecket? Es muß über
irgend einen einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer so viel
als möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen
und durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit Eins
befriedigen.“

„Am schicklichsten werden sich also auch die Teile des Epigramms
Erwartung und Aufschluß nennen lassen.“

Jn dieser Definition ist alles in bester Ordnung, bis auf einen
Umstand: es darf nicht übersehen werden, daß nur das technische
Verfahren
des Epigramms erklärt wird, daß aber sein eigentliches
Wesen,
vor allem seine Bestimmung undefiniert gelassen ist.
Zwar es könnte so scheinen, als ob gerade dies letztere geschehen sei
und sogar in der für die im Obigen aufgestellte Theorie erwünschtesten
Weise, wenn Lessing diese „Bestimmung“ in die „Nachahmung
einer Reihe von Empfindungen
“ setzt. Es ist immerhin eine
höchstwillkommene Bestätigung, auch nur dieser Wendung bei Lessing zu
begegnen, aber das Vergnügen daran wird doch gemindert, wenn es sich
zeigt, daß hier eine kleine Usurpation mit untergelaufen ist. Welche Reihe
von Empfindungen nachzuahmen wäre denn das Epigramm bestimmt?
Das Vergnügen der befriedigten Wißbegierde, das sich mit dem schmeichelhaften
Eindrucke des schönen Gegenstandes verbindet und das dritte
angenehme Gefühl, das aus der Verschmelzung jener beiden entsteht.
So wäre es ein wesentliches und unerläßliches Erfordernis des Epigramms,
daß der die Erwartung erregende Gegenstand an sich „schön
sei? Und wie, wenn dieser Gegenstand nun gerade ein häßlicher ist, [117]
wie wohl in der überwiegenden Hälfte aller Epigramme, oder an und
für sich gleichgültig und erst durch den damit verbundenen Aufschluß
interessierend, wie bei dem größten Teile der übrigen? Wo bleibt der
schmeichelhafte Eindruck des schönen sinnlichen Gegenstandes“ und
wo „jenes dritte angenehme Gefühl“, das aus jenem und der
befriedigten Wißbegierde zusammenschmelzen soll? Man sieht, es bleibt
eben nur das letzte, die befriedigte Wißbegierde, übrig. Zwar vergißt
Lessing es nicht, dem entsprechend nun wieder eine Einschränkung hinzuzufügen,
wenn er abschließt: „das Epigramm muß über irgend einen
einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer soviel als
möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen und
durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit Eins befriedigen“;
aber damit erscheint ja nun auch zuletzt jene Erwartung nur
als ein vorbereitendes Mittel um die einzige Wirkung des Epigramms,
die Befriedigung der Wißbegierde hervorzubringen, und es wird lediglich
das dem Epigramm eigentümliche Verfahren für die Erreichung
dieses Zweckes angegeben. Wo bleibt aber die Bestimmung seines Wesens?
wo der Nachweis seiner Zugehörigkeit zur Poesie als schöner Kunst? wo
endlich die Herleitung jenes Verfahrens als einer notwendigen Konsequenz
seiner Bestimmung?

Es kann kein Zweifel sein, daß sowohl das Vergnügen an dem die
Erwartung erregenden Gegenstande als das der befriedigten Wißbegier
an dem Aufschlusse sowie die Mischung aus beiden nur sekundäre
Wirkungen sind, die aus der Natur der aufgewendeten Mittel sich ergeben,
daß aber über allen diesen Annehmlichkeiten des Epigramms
diejenige durch dasselbe hervorgebrachte Freude steht, durch die es seinen
Rang in der schönen Kunst behauptet.

Auch Lessing weist diejenigen Dichter „aus dem Register der Epigrammatisten,“
welche „bloße allgemeine Sittensprüche,“ „erbauliche
Disticha“ geschrieben haben, und „noch weniger,“ fährt er fort, „werden
diejenigen darin aufzunehmen sein, welche andere scientifische Wahrheiten
in die engen Schranken des Epigramms zu bringen versucht
haben. Jhre Verse mögen gute Hülfsmittel des Gedächtnisses abgeben,
aber Sinngedichte sind sie gewiß nicht.“ Die Erklärung des Batteux,
„nach welcher das Epigramm ein interessanter Gedanke sein soll, der
glücklich und in wenig Worten vorgetragen worden,“ genügt ihm durchaus
nicht. „Denn sind z. E. die medizinischen Vorschriften der Schule
von Salerno nicht eines sehr interessanten Jnhalts? Und könnten sie
nicht gar wohl mit ebenso vieler Präcision und Zierlichkeit vorgetragen
sein, als sie es mit weniger sind? Und dennoch, wenn sie auch Lucrez [118]
selbst abgefaßt hätte, würden sie nichts als ein Beispiel mehr sein, daß
die Erklärung des Batteux viel zu weitläuftig ist und gerade das vornehmste
Kennzeichen darin fehlt, welches das Sinngedicht von allen andern
kleinen Gedichten unterscheidet.“

Gewiß unbestreitbar richtig! Aber ist es der Beweisgrund Lessings
ebenso? Nur deswegen sind die bloß „scientifischen Wahrheiten“ von
dem Epigramm ausgeschlossen, weil sie nur den Aufschluß geben, ohne
die Erwartung zuvor erregt zu haben? Und wenn das nun geschähe,
wenn es sogar gelänge diese Erwartung durch die sinnlich anschauliche
Vorführung eines Gegenstandes oder Ereignisses rege zu machen, und
wenn nun die wissenschaftliche Erklärung hinzuträte, würde dann ein
wirkliches Epigramm entstanden sein? Nach der Lessingschen Erklärung
allerdings, und wenn auch nichts gegeben wäre als z. B. die kurz gefaßte
Erzählung von einer seltenen und schweren Erkrankung und die
Angabe eines neu gefundenen, souveränen Spezifikums dagegen, oder die
Darstellung eines wichtigen astronomischen oder kosmischen Vorganges
und seine Erklärung durch die präcis gefaßte Angabe des einfachen, ihm
zu Grunde liegenden Gesetzes.

Die Abweisung lediglich moralischer oder wissenschaftlicher Aufschlüsse
aus dem Epigramm, so unbedingt notwendig sie an sich ist, erfolgt bei
Lessing nur gelegentlich und unter falscher Legitimation, während sie aus
den im Wesen der Sache liegenden Gründen hergeleitet werden mußte.

Kehren wir zu dem Ausgangspunkt zurück, auf welchen der Name
des Epigramms hinweist und von dem Lessings Erklärung aussetzte.

Er betrachtet als das Grundverhältnis, aus welchem das Epigramm
entstanden und welches bei seiner ganzen Entwickelung immerfort maßgebend
geblieben ist, die durch ein Monument erregte Erwartung und
den durch dessen Aufschrift gegebenen Aufschluß: nun wohl! ist denn die
Bestimmung des Monumentes damit erfüllt, daß wir erfahren, was es
bedeutet? oder auch damit, daß wir uns veranlaßt fühlen nun weiter
darüber bei uns selbst Erwägungen anzustellen? Jst nicht vielmehr bei
jedem rechten Denkmal beides nur Vorbedingung und Mittel für seinen
eigentlichen Zweck, den Beschauer in eine Seelenstimmung, eine Gemütsverfassung
zu versetzen, für die der bildende Künstler alle seine Kraft
eingesetzt hat? Und das ist es, was auch allein dem Epigramm Leben
und Seele zu geben vermag: vermittelst der Erregung von Erwartung
und durch überraschenden Aufschluß ein Aperçü zu bewirken, einen Gedanken
zu wecken, eine Reflexion anzuregen, welche vermögend sind die
Gemütskräfte in Thätigkeit zu setzen, ein Seelenethos nachahmend zu
erzeugen. Für den Mangel desselben entschädigt kein Scharfsinn, [119]
keine „scientifische“ Bedeutung, keine Verskunst, keine bloß rationale
Tendenz, sei sie moralisch, politisch oder religiös; wo diese Wirkung
fehlt, fehlt das wesentliche Erfordernis der Kunst.

Die Aufgabe ist also, einen einzigen Gedanken, eine einzige Beobachtung
ins Licht zu setzen und mit Aufbietung der stärksten dazu geeigneten
Mittel den Hörer zu veranlassen dabei zu verweilen, um durch
dies Verfahren in ihm denselben Gemütszustand hervorzubringen, mit
dem jener Gedanke, jene Beobachtung den Dichter erfüllte oder aus dem
sie bei ihm entstanden. Nur solche Gedanken, die dazu die Kraft haben,
sind also epigrammatisch verwendbar. Durch die Notwendigkeit sie ihnen
zu erhalten, ist nun das technische Verfahren für das Epigramm vorgezeichnet.
Der Gedanke darf sich nicht an den logischen Verstand
wenden, sondern er soll auf die Empfindungskräfte wirken: er muß also
womöglich durch unmittelbare Anschauung sich mitteilen. Es soll ferner
nur dieser eine Gedanke wirksam werden: es muß also alles sorgfältig
ausgeschlossen werden, was einen zweiten Gedanken, ja auch nur eine
Nebenbeziehung aufkommen lassen könnte. Auf einen einzigen Punkt
soll die Aufmerksamkeit gelenkt und hier festgehalten werden: es muß
also durch die stärkste sinnfällige Hervorhebung der Einseitigkeit der
Anschauung eine Spannung hervorgerufen und diese Spannung durch
möglichst vollständig befriedigenden Aufschluß gelöst werden. Daraus
ergeben sich alle Forderungen der Form des Epigramms: seine Zweiteiligkeit,
die in Erwartung und Aufschluß, Spannung und
Lösung zu bestehen hat, die sinnlich=gegenständliche Beschaffenheit
des ersten dieser Teile, endlich die unerläßliche Notwendigkeit der
höchstmöglichen Kürze. Ueber allen diesen Forderungen aber steht
als die höchste, daß das Epigramm die Mimesis eines Ethos sei,
sonst ist es trotz der sinnlichsten Vorführungen des die Spannung hervorrufenden
Gegenstandes, trotz der überraschendsten Lösung und trotz des
überzeugendsten Gedankens nimmermehr ein Gedicht.

So ist die Wahrheit des Gedankens in dem folgenden Herderschen
Epigramm unbestreitbar:


Wie der köstlichste Wein von seinem Boden Geschmack nimmt,

Saft und Farbe, so sind wir Gewächse der Zeit:

Dies kocht reifer die Sonne, dem gibt sie süßere Anmut,

Aber des Bodens Natur ändert nicht Sonne noch Zeit.

Doch das angebliche Gedicht begnügt sich diese Wahrheit und ihre
Aehnlichkeit mit dem erwähnten Naturverhältnis einfach zu konstatieren,
während die Empfindung leer ausgeht; daher ist der Eindruck der der [120]
Trockenheit und Plattheit, weil die metrische Form mit dem verstandesmäßigen
Jnhalt im Widerspruch steht.

Ebenso in dem andern Herder'schen, welches „Der Abglanz
überschrieben ist:


Hinter Wolken die Sonne zu sehn, gibt trügliche Lichter;

Ohne Wolken sie sehn, blendet und stumpft das Gesicht.

Also schaue du sie hienieden im ruhigen Abglanz;

Thaten lehren uns mehr als ein bezaubernder Blick.

Jst es nicht, als ob man das matte, kahle Lemma läse zu dem
herrlichen Monologe im Beginne des zweiten Faust?


Hinaufgeschaut! ─ Der Berge Gipfelriesen

Verkünden schon die feierlichste Stunde;

............

Sie tritt hervor! ─ und leider schon geblendet

Kehr' ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.

............

So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!

Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,

Jhn schau' ich an mit wachsendem Entzücken.

............

Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,

Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,

............

Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.

Jhm sinne nach und du begreifst genauer:

Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben.

Auch bei Goethe hat der Abschluß etwas Epigrammatisches; aber
das gesamte Bild und der daraus hervorspringende Gedanke ist für das
Epigramm unverwendbar, nicht weil ihm die Einheit fehlt ─ diese
ist im strengsten Sinne vorhanden ─ sondern weil durch die Einseitigkeit,
welche das Epigramm gebieterisch verlangt, seine ganze mächtige Wirkung
auf die Empfindung, durch die allein er poetisch ist, geraubt werden muß.

Freilich fehlt den beiden citierten Epigrammen noch mehr: sie ermangeln
zugleich in ihrem ersten Teile der Anschaulichkeit und Gegenwart
der sinnlichen Darstellung; aber auch wo diese in weit höherem
Maße gelungen ist, zeigt sich in Herder's Epigrammen jener entscheidende
Mangel oft genug. Als Beispiel diene das folgende:


Reformation.

„Wären der Teufel so viel auch als hier Stein' auf den Dächern,

Dennoch wagen wir es!“ Also sprach Luther und ging

[121]

Vor den Kaiser. Gelang's? Jch zweifle. Der Teufel an Höfen

Waren mehrere, fein wie der apulische Sand.

Lehren bessertest du, nicht Sitten. Sitten zu bessern,

War der selber zu schwach, der auch die Teufel besiegt.

Der Gedanke des Aufschlusses ist schief; aber wenn er auch richtiger
wäre, er enthält lediglich verstandesmäßige Kritik, nichts von Ethos und
ist gänzlich unpoetisch.

Herder ist im Epigramm als Dichter entschieden unglücklich gewesen,
und auch als Kritiker ist es ihm nicht viel besser ergangen. Jn seinen
Anmerkungen über die Anthologie der Griechen“ versucht
er es Lessing zu bekämpfen, und es finden sich darin Stellen, welche
die Erwartung erregen, er werde gerade an dem Punkte die verbessernde
Hand anlegen, wo Lessing eine Lücke gelassen hatte. So wenn es im
ersten Abschnitt heißt: „Die Seele des griechischen Epigramms ist Mitempfindung,“
und wenn dieser Gedanke, zwar nicht logisch ausgeführt,
aber wortreich umschrieben wird. Aber gleich darauf folgen Aussprüche,
die von dem Verständnis des Epigramms weit abliegen: „Wie
leicht und bald kann eine Geschichte oder Fabel, die die Runde und
Kürze des Epigramms hat, auch der Gestalt nach ein solches werden!
Man darf die Geschichte nur etwa als Jnschrift auf den Ort der Begebenheit
beziehen und in ihr eine allgemeine Lehre anschaulich
machen,
so ist die Fabel Epigramm und das Epigramm eine
Fabel.
“ Darin liegt der doppelte, schwere Jrrtum, daß die Grenzen
zweier grundverschiedener Dichtungsarten verwirrt werden und
beiden fälschlich ein lehrhafter Jnhalt zugeschrieben ist. Derselbe Fehler
und dazu große Undeutlichkeit der Fassung ist in der am Schlusse von II,
1 gegebenen, vorläufigen Definition der „Aufschrift“ vorhanden: „Als
Aufschrift betrachtet wird also das Epigramm nichts als die poetische
Exposition
eines gegenwärtigen oder als gegenwärtig gedachten Gegenstandes
zu irgend einem genommenen Ziel der Lehre oder
der Empfindung.

Mit diesem Satze, daß das Epigramm in seiner Urgestalt, und
also in seinem Wesen (vgl II, 4) „einfach darstellender Gattung“
sei, „nur Exposition des Gegenstandes, der durch sich selbst
belehre oder rühre,
“ meint Herder an der entscheidenden Stelle
Lessings Lehre von der Zweiteiligkeit des Epigramms, das immer aus
Erwartung und Aufschluß sich zusammensetzen müsse, siegreich bestritten
zu haben. Seine ganze Lehre vom Epigramm und die ─ übrigens sehr
vage ─ Einteilung desselben wurzelt in dieser Theorie. Vier seiner
sieben Arten des Epigramms gehören der so von ihm definierten [122]
Gattung an: 1) die genannte darstellende; 2) das Exempel-Epigramm,
welches derselben nur „eine schlichte Anwendung hinzufügt;“ 3) das
schildernde, welches „ein Kunstbild in und zu einem lichten Sehepunkt
ausmalt;“ 4) das leidenschaftliche, welches „einen Gegenstand der
Empfindung gleichfalls bis zu einem höchsten Punkt des anschauenden
Genusses oder der gegenwärtigen Situation erhöhen will.“

Alle diese vier Herderschen Arten des Epigramms sind nach
Lessing schlecht, d. h. überhaupt gar keine Epigramme; bei Herder
selbst sind sie sehr zahlreich; wenn er sie aber in der griechischen Anthologie
zu erkennen meinte, so hat er sich und andre getäuscht. Sechs
Beispiele aus derselben dienen ihm, die „Grundform“ und das
Wesen dieser Dichtung, also sein „darstellendes“ Epigramm zu erweisen:
sie alle zeigen das Gegenteil seiner Theorie!

Hören wir ihn: „So sind die Epigramme, die Geschenke an die
Götter begleiten, meistens simple Darstellungen dessen, was man dem
Gotte weiht; etwa mit einer Ursache, warum man's ihm weihte, oder
mit einem Wort des Dankes, des Wunsches, der Bitte, der Freude.
War dies nicht alles, was der Sterbliche dem Unsterblichen sagen
konnte?“

„„Diesen krummen Bogen und diesen Köcher hängt Promachus dem
Phöbus zum Geschenk auf. Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht
umher und trafen die Herzen der Krieger, ihnen ein bitteres Geschenk.““

„„Dem Glaukus und Nereus, der Jno und dem Melikertes, dem
Zeus der Fluten und den samothrakischen Göttern weiht Lucilius, im
Meere gerettet, sein Haupthaar hier. Weiteres hat er nichts mehr.““

„„Diese jugendlich=blühende Locke seines Hauptes und dies Milchhaar,
den Zeugen kommender männlicher Jahre, weiht Lykon dem
Phöbus, sein erstes Geschenk. Möge er ihm auch einst sein graues Haar
so weihen!““

„Was fehlt diesen Zuschriften an Kürze, Würde und rührender
Einfalt? Wem sie mit ihrer simpeln Exposition nichts sagen, was werden
sie ihm durch vieles Wortgepränge zu sagen vermögen?“

Diese sicherlich nichts mehr. Aber ebenso sicher sagen sie, so wie
sie in der That lauten, mehr und etwas ganz anderes als Herder nun
einmal in ihnen finden will, denn er hat hier wirklich zum Teil das
Offenbare nicht sehen wollen, zum Teil das ihm nicht Passende einfach
fortgelassen.

[123]

Das erste Beispiel, dem Mnasalkas angehörig, lautet in der Anthologie
(ed. Dübner. VI, 9) folgendermaßen:


Σοὶ μὲν καμπύλα τόξα καὶ ἰοχέαιρα φαρέτρη,
δῶρα παρὰ Προμάχου, Φοῖβε, τάδε κρέμαται·
ἰοὺς δὲ πτερόεντας ἀνὰ κλόνον ἄνδρες ἔχουσιν
ἐν καρδίαις, ὀλοὰ ξείνια δυσμενέων.

Ein Epigramm im vollen Sinne Lessings, wenn es je eins gab!


Dir hat des Bogens Krümme, den Köcher, den pfeile=gewohnten,

Phöbus, als Weihegeschenk Promachus niedergelegt.

Nur den Bogen und seinen Köcher hat der Bogenschütze dem Fernhintreffer
geweiht? Und wo ließ er die Pfeile? Die Lösung sagt es uns,
nicht nur durch die unerwartete Wendung überraschend, sondern zugleich
von des Mannes Mut, Gesinnung und Kraft ein Zeugnis ablegend,
der hier sich dem Gotte genaht:


Aber die Pfeile selbst, die schlachtdurchsausenden, stecken

Männern im Herzen, ein Tod=bringend Geschenk für den Feind.

Und was hat Herder aus diesem eminent epigrammatischen Aufschluß
gemacht? „Des Köchers Pfeile flogen in der Schlacht umher
und trafen
die Herzen der Krieger, ihnen ein bittres Geschenk!“
Kann man durch eine angeblich wörtlich=genaue Uebersetzung ärger entstellen?


Noch schlimmer liegt die Sache bei dem dritten Epigramm; dieses
lautet (ibid. VI, 198):


Ὥριον ἀνθήσαντας ὑπὸ κροτάφοισιν ἰούλους
κειράμενος, γενύων ἄρσενας ἀγλα ΐας,
Φοίβῳ θῆκε Λύκων, πρῶτον γέρας· εὔξατο δ'οὕτως
καὶ πολιὴν λευκῶν κεῖραι ἀπὸ κροτάφων.
Τοίην άλλ' ἐπίνευε, τίθει δέ μιν. ὡς πρό γε τοὶον,
ὥς αὖτις πολιῷ γήραϊ νιφόμενον.


Hier hat Herder die ersten beiden Distichen zwar sehr ungenau, doch
dem Sinne nach richtig übersetzt: aber das dritte, den Aufschluß,
durch den das Epigramm erst entsteht, hat er einfach fortgelassen!
Die Schlußwendung ist sogar eine doppelte, und dieses Epigramm des
Antipater, statt von „rührender Einfalt“ und „simpler Kürze“ zu sein,
hat vielmehr den Fehler, daß der Ausdruck sowie der ganze Gedanke
gekünstelt ist, und statt daß es „bloße Exposition“ enthielte, ist offenbar
die Exposition nur um der zwiefachen Pointe willen da. Es möchte
wiederzugeben sein:

[124]
Als dem Lykos zuerst entsproßt war unter den Schläfen

Jugendlich=männliche Zier, schor er den glänzenden Flaum,

Weihte als Erstlingsgeschenk ihn Phöbus und betete: „Lass' einst

Also mich weißes Gelock scheeren vom bleichenden Haupt!“

Solches gewähre: doch so, daß er jetzt dem Künftigen gleiche,

Daß er der Jetzige sei, künftig vom Alter beschneit.

Das zweite, dem Lucian angehörende Epigramm (VI, 164) ist zwar von
Herder vollständig wiedergegeben, auch dem Sinne nach richtig übersetzt,
aber wieder ungenau und gerade an der entscheidenden Stelle derart,
daß es matt und farblos geworden, und das epigrammatische Acumen
abgestumpft ist:


Γλαύκῳ καὶ Νηρῆϊ καὶ Ἰνώῳ Μελικέρτῃ,
καὶ βυθίῳ Κρονίδῃ καὶ Σαμόθρᾳξι θεοῖς,
σωθεὶς ἐκ πελάγους Λουκίλλιος ὧδε κέκαρμαι
τὰς τρίχας ἐκ κεφαλῆς· ἄλλο γὰρ οὐδὲν ἔχω.


„Euch .... weiht Lucillius, im Meere gerettet, sein Haupthaar hier?“
Damit ist freilich das Epigramm verwischt, das weit entfernt von der
„Würde eines einfachen, rührenden Denkmals“, vielmehr mit offenbarer
Jronie seine Pointe in dem komischen Gegensatz hat zwischen der pomphaft
gehäuften Anrufung so vieler Götter in dem ersten, die Erwartung
erregenden Teil und der Geringfügigkeit des ihnen dargebrachten Weihgeschenks,
von dem der Aufschluß berichtet. Der aus dem Schiffbruch
Gerettete hat nichts zu geben, als was ihm allein geblieben, die Haare
vom Kopfe:


Glaukos und Nereus und der Jno Sohn Melicertes

Und dem Kroniden der Flut und Samothraces Kabir'n

Schor Lucillius, ich, aus dem Meere gerettet, zur Weihe

Mir die Haare vom Kopf: anderes habe ich nichts.

Man kann außer diesem ironischen Gegensatz noch die weitere humoristische
Wendung darin entdecken: wenn ihr vielen und großen Schutzgötter
der Seefahrer mich nicht anders retten konntet, als indem ihr
mir alles nahmt bis auf die Haare auf dem Kopf, so nehmt denn auch
mit diesen vorlieb. Jn der Erwartung die Erfüllung des alten, frommen
Brauchs, als Aufschluß die harmlos spottende Lösung: wieder die genaueste
Bestätigung des Lessingschen Formgesetzes!

Ganz dasselbe gilt von den ersten drei Beispielen Herders, die alle
ebenso laut für Lessing als gegen Herder zeugen. Alle drei sind Grabschriften,
zwei angeblich der Sappho und die dritte die berühmte des
Simonides auf die bei den Thermopylen gefallenen Spartaner. Hier [125]
hat Herder den Wortverstand richtig und genau wiedergegeben, aber die
epigrammatische Bedeutung dieser kleinen Gedichte ist ihm entgangen.

„Dies ist der Timas Asche. Vor der Hochzeit gestorben, ging sie
ins dunkle Brautbett der Proserpina hinunter. Alle Mädchen von
gleichem Alter schnitten, da sie tot war, sich die liebliche Locke des
Hauptes ab mit neugeschliffenem Stahl.“ Für Herder ist das einfache
Darstellung des Herganges: „das Grab der Braut“ setzt er hinzu, „wird
durch diese simple Exposition mehr gefeiert als durch lange Lobsprüche
von Sentenzen“. „Alle ihre Gespielinnen fühlen das Traurige dieses
Falles und weihen voll mitleidigen Schreckens ihrer toten Freundin den
Schmuck ihrer jungfräulichen Jugend. Statt sich zu ihrem Feste zu
krönen, liegt jetzt die Locke auf ihrem Grabe.“

So soll man also die Worte der Dichterin als bare Münze nehmen?
als die Erzählung eines wirklichen Vorfalls? Wo ist dergleichen jemals
vorgekommen oder denkbar gewesen? Es müßte denn die Verstorbene
eine Königstochter gewesen sein; aber dann müßten wir von diesem Umstande
erfahren, und der Vorfall würde dadurch eine ganz andre Färbung
erhalten, außerdem würde doch auch selbst dann nur von ihren Gespielinnen
die Rede sein können. Aber alle Gleichaltrigen brachten
dieses Opfer? Man mag die Sache hin und her wenden, man erhält
keinen poetischen Sinn: denn etwas handgreiflich Uebertriebenes, als
historische Wahrheit mitgeteilt, erweckt nicht die Empfindung, sondern
löscht sie aus.

Wie anders aber, wenn man die Verse als das auffaßt, was sie
sind, als epigrammatisches Gedicht! Sie sind gedacht als „Aufschrift“
auf dem Denkmal der Verstorbenen und nehmen den Vorgang,
der an dieser Grabstätte sich zutrug, zum Ausgangspunkt. Wem aber
tauchte, auch ohne daß er es mit Augen sähe, durch das Gedicht selbst
nicht sofort das Bild dieser Scene vor der Seele auf? Wir meinen
einige jugendlich blühende Mädchengestalten in trauernder Haltung zu
erblicken, im Begriff, vom Schmuck des Hauptes eine Locke zu trennen,
um sie der Verstorbenen zu weihen, der alten Sitte der Griechen gemäß
den verstorbenen Freund zu ehren. An diese unmittelbar ─ und dem
Griechen, der dergleichen täglich vor Augen hatte, ganz notwendig ─
sich darbietende Vorstellung knüpft das Epigramm der Sappho an,
indem es den Wert der so traurig Dahingerafften und den Schmerz
um ihren Verlust dadurch erhöhend darstellt, daß es der die Erwartung
erregenden Ankündigung ihres vorzeitigen Todes als Lösung die hyperbolische
Deutung
jenes die Bestattung begleitenden Vorganges hinzufügt,
als ob über solchen Raub des Todes das ganze Volk von Mit= [126]
gefühl ergriffen sein müßte: nicht einzelne Gespielinnen, sondern alle
Altersgenossinnen
trennen mit hellgeschliffenem Stahl das liebliche
Haar vom Haupte und bringen es ihr dar (cf. VII, 489):


Τιμάδος ἄδε κόνις, τὰν δὴ πρὸ γάμοιο θανοῦσαν
δέξατο Περσεφόνας κυάνεος θάλαμος,
ἇς καὶ ἀποφθιμένας πᾶσαι νεοθᾶγι σιδάρῳ
ἅλικες ἱμερτὰν κρατὸς ἔθεντο κόμαν.

Aehnlich, wenn auch noch einfacher, ist das Verhältnis in dem
andern der Sappho beigelegten Epigramm (cf. VII, 505):


Τῷ γριπεῖ Πελάγωνι πατὴρ ἐπέθηκε Μενίσκος
κύρτον καὶ κώπαν, μνᾶμα κακοζο ΐας.

Der epigrammatische Gegensatz besteht hier zwischen der Dürftigkeit
und Geringfügigkeit des vorgestellten ─ nicht wirklich vorhandenen ─
Grabschmuckes, eine Reuse und ein Ruder, und der Jdee eines „Denkmales“;
dieses „Denkmal“ entspricht in seiner Unscheinbarkeit dem
Leben dessen, den es ehrt: μνᾶμα κακοζο ΐας ─. Dadurch aber wird
das Epigramm, über die Enge des erwähnten Falles hinaus, typisch für
jedes ähnliche Verhältnis.

Endlich, bei des Simonides (VII, 249):


Ὦ ξεῖν̓, ἄγγειλον Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε
κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.


spricht Herder selbst von dem „scharfsinnigen Schluß, der durch
jedes ausschmückende Beiwort entnervt werden würde“. Aber warum?
Weil die ganze Wucht des Epigramms hier in der nahen Zusammenrückung
und scharfen Gegenüberstellung der beiden Vorstellungen beruht:
der Tod und der Gesetzesgehorsam, bei einem Spartaner eins dem
andern eng verbunden, Erwartung und Aufschluß hier in die beiden
Hälften eines Pentameters zusammengedrängt.

Mit der Grundlage von Herders Argumentation fällt auch seine
ganze künstliche Einteilung des Epigramms; das von Lessing aufgestellte
Gesetz der epigrammatischen Form bleibt unantastbar bestehen.
Das dunkle Gefühl, daß mit diesem Formgesetz das innere Wesen der
Dichtungsart noch nicht ausgesprochen war, hat Herder zu seiner Polemik
dagegen getrieben, aber er verfehlte dabei von vornherein den für den
Angriff allein offenstehenden Weg.

Eine im Wesen der epigrammatischen Dichtung begründete Einteilung
ergibt sich aus ihrer oben bezeichneten Mittelstellung zwischen [127]
der gnomischen und satirischen Gattung: sie kann sich sowohl der einen
als der andern vorzugsweise zuneigen. Die das Ethos erzeugende Reflexion
oder Beobachtung kann entweder direkt ausgesprochen sein,
als Lösung der nach der betreffenden Seite hin erregten Spannung:
dann entsteht der Sinnspruch, durch den das Epigramm der gnomischen
Dichtung verwandt ist. Oder der Gedanke wird indirekt durch
den komischen Kontrast zwischen Erwartung und Aufschluß hervorgerufen:
dann entsteht das satirisch=humoristische oder auch einfach
komische Epigramm. Weitere Verschiedenheiten möchte es im Epigramm
nicht geben, es sei denn, daß es seine Natur in wesentlichen
Stücken ändert und damit in andere Dichtungsarten überschlägt; von
solchen Pseudo-Epigrammen soll im Weiteren noch gehandelt werden.
Die übliche Einteilung nach dem Jnhalt, wie z. B. in der palatinischen
Anthologie, ist lediglich äußerlicher Natur; in jeder dieser Abteilungen,
seien es nun Grabschriften oder Dedikationen, Liebesepigramme oder
Trinksprüche, darstellende (epideictica) oder ermahnende (protreptica)
Epigramme, Aufschriften auf Statuen oder andere Kunstwerke, können
naturgemäß beide Hauptarten vertreten sein, und beide kommen thatsächlich
überall vor.

Nur insofern ist in der Behandlungsweise ein durchgehender Unterschied
vorhanden, als jener erste, die Erwartung erregende Teil des
Epigramms entweder die Erzählung eines wirklichen oder als wirklich
angenommenen Vorfalls, ebenso die Darstellung eines konkreten Dinges
enthalten oder auch die Reflexion durch die unmittelbare, abstrakte Bezeichnung
eines Spannung hervorrufenden Gedankens in Bewegung setzen
kann. Beide Arten des Verfahrens können sowohl in der gnomischen
als in der satirisch=humoristischen Gattung stattfinden: doch hat naturgemäß
in dieser jene erstere, in jener die letztere den Vorzug.

Jn allen Fällen aber wird der hauptsächlich durch das Epigramm
erzeugte geistige Vorgang, die zur Nachahmung des Ethos berufene Reflexion,
ein Werk der anschauenden Kraft sein müssen, eine durch den
Augenschein unmittelbar und fast spontan sich einstellende Ueberführung;
niemals darf sie als ein abstraktes Resultat logisch=dialektischer Schlußfolgerung
sich ergeben. Wie kann das geschehen auch bei abstrakter
Fassung der beiden Teile des Epigramms? Dadurch, daß es sich allenthalben
und ausnahmslos des Mittels der Vergleichung bedient: auf
dem Vergleich durch den Augenschein beruht überall jenes Grundverhältnis
von Erwartung und Aufschluß, und zwar so, daß entweder
in dem offenbar Unähnlichen das überraschend Aehnliche aufgezeigt
wird, oder in dem unzweifelhaft Aehnlichen handgreiflich [128]
und unerwartet das völlig Verschiedene. Statt der allgemeinen
Begriffe des Aehnlichen und Unähnlichen können ebenso die engeren des
Zusammenstimmenden und Widersprechenden, des Passenden und Unpassenden
oder gleichartige, verwandte Gegensätze eintreten. Was für
ein weites Feld demzufolge in dieser Dichtungsart, gerade wie in der
gnomischen und satirischen, die Anwendung jeder Art von Bildern,
Symbolen
und allegorischen Einkleidungen haben muß, liegt auf
der Hand. Daß dies Verhältnis nicht immer gleich deutlich hervortritt,
liegt nur daran, daß die Sprache des täglichen Lebens selbst mit unzähligen
derartigen Elementen angefüllt ist, welche fast ohne alles Bewußtsein
von ihrer ursprünglich bildlich=allegorischen Natur fortwährend
gleich abstrakten Wendungen gebraucht werden. Durch geistreich=nachdrückliche
Anwendung restituiert ihnen der Dichter ihr ursprüngliches
Recht. Als Beleg mögen einige Beispiele dienen, die den Beweis überflüssig
machen. So die Schillerschen:


Jnneres und Aeußeres.

„Gott nur siehet das Herz.“ ─ Drum eben, weil Gott nur das Herz sieht,

Sorge, daß wir doch auch etwas Erträgliches sehn.


Die Uebereinstimmung.


Wahrheit suchen wir beide: du außen im Leben, ich innen

Jn dem Herzen, und so findet sie jeder gewiß.

Jst das Auge gesund, so begegnet es außen dem Schöpfer,

Jst es das Herz, dann gewiß spiegelt es innen die Welt.

Mitteilung.

Aus der schlechtesten Hand kann Wahrheit mächtig noch wirken;

Bei dem Schönen allein macht das Gefäß den Gehalt.

Das Belebende.

Nur an des Lebens Gipfel, der Blume, zündet sich Neues

Jn der organischen Welt, in der empfindenden an.

oder das Schiller-Goethesche:


Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im Menschen

Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein.

und das folgende Goethesche, welches ganz auf den bedeutungsvollen
Unterschied zwischen dem im gewöhnlichen Leben ganz identisch gebrauchten,
rein abstrakten Ausdruck und dem entsprechenden Verbalbegriff
gebaut ist:

[129]
Schadet ein Jrrtum wohl? Nicht immer, aber das Jrren,

Jmmer schadet's; wie sehr, sieht man am Ende des Wegs.

Allenthalben tritt in die Reflexion, sei es auch nur durch den Ausdruck,
die konkrete Welt und verleiht dem anzustellenden Vergleich die
Anschaulichkeit, bald in dem einen, bald im andern Hauptteile des Epigramms
das Bild eines Gegenstandes, eines Verhältnisses, einer Handlung
andeutend. So fast durchweg z. B. in den Schillerschen „Votivtafeln“,
aus denen die obigen Beispiele angeführt wurden; nur in
sehr wenigen ist Gedanke wie Ausdruck rein abstrakt geblieben, fast
ausschließlich nur da, wo der Dichter sich der ihm fast formelhaft zur
Gewohnheit gewordenen Wendungen aus dem Gedankenkreise seiner
philosophisch=ästhetischen Fortbildung Kantischer Begriffe bedient. So
z. B. im folgenden Epigramm, welches allerdings sich nur an die mit
jenem Vorstellungskreise Vertrauten wendet:


Die moralische Kraft.

Kannst du nicht schön empfinden, dir bleibt doch, vernünftig zu wollen

Und als ein Geist zu thun, was du als Mensch nicht vermagst.

Ebenso in diesem:


Aufgabe.

Allen gehört, was du denkst: dein eigen ist nur, was du fühlest;

Soll er dein Eigentum sein, fühle den Gott, den du denkst.

Aber für diese zwei finden sich sogleich beliebig viele, in denen
verwandte Gedanken durch den gegenständlich anschaulicheren Ausdruck
sich darstellen:


Wirke Gutes, du nährst der Menschheit göttliche Pflanze;

Bilde Schönes, du streust Keime der göttlichen aus.
Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen

Zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie sind.
Hast du etwas, so theile mir's mit, und ich zahle, was recht ist;

Bist du etwas, o dann tauschen die Seelen wir aus.
Jmmer treibe die Furcht den Sklaven mit eisernem Stabe;

Freude, führe du mich immer am rosigen Band!

Abgesehen von denen, welche die Andeutung oder die mehr oder
minder vollkommene Durchführung eines Bildes enthalten, gibt es eine
beträchtliche Zahl von Epigrammen, die gar nicht anders als allegorisch [130]
genannt werden können. Hier ist die konkrete Darstellung eines Dinges,
Verhältnisses, Vorganges in der zweiteiligen Form des Epigramms gegeben,
aber so, daß die volle Wirkung von Erwartung und Aufschluß
sich erst ergibt, wenn man für die konkrete Darstellung die ihr entsprechende
abstrakte Gedankenkombination setzt. Goethe liebt diese allegorische
Art des Epigramms besonders; in den „vier Jahreszeiten
sind sie sehr zahlreich, die ganze Reihe der unter der Ueberschrift
Winter“ vereinigten ist fast durchweg so beschaffen:


Wasser ist Körper und Boden der Fluß, das neuste Theater

Thut in der Sonne Glanz zwischen den Ufern sich auf.
Eingefroren sahen wir so Jahrhunderte starren,

Menschengefühl und Vernunft schlich nur verborgen am Grund.
Nur die Fläche bestimmt die kreisenden Bahnen des Lebens;

Jst sie glatt, so vergißt jeder die nahe Gefahr.
Alle streben und eilen und suchen und fliehen einander,

Aber alle beschränkt freundlich die glättere Bahn.
Durcheinander gleiten sie her, die Schüler und Meister

Und das gewöhnliche Volk, das in der Mitte sich hält.
Lehrling, du schwankest und zauderst und scheuest die glättere Fläche.

Nur gelassen! Du wirst einst noch die Freude der Bahn.
Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der Schüler

Wie der Meister, doch stürzt dieser gefährlicher hin.

u. s. f. Natürlich gilt hier dasselbe Gesetz für die Anwendung der
Allegorie, welches schon oben entwickelt wurde: poetisch ist sie nur, wenn
sie auch als konkrete Darstellung an und für sich selbst Bestand hat;
von jeder andern konkreten Darstellung und auch von jedem derselben
eingefügten Bilde unterscheidet sie sich dadurch, daß sie einmal ein selbständiges,
abgeschlossenes Ganze bildet, sodann aber sowohl im ganzen
als in jedem einzelnen Teile durch die ihr innewohnende Kraft der
Aehnlichkeit entsprechende Gedanken und ihre Verbindung zu vergegenwärtigen
geeignet und bestimmt ist.

Mit Vorliebe bedient sich das satirische Epigramm der allegorischen
Darstellungsweise, indem es seinen eigentlichen Gegenstand gar nicht ausspricht,
sondern ihn ganz und gar durch das gewählte Bild vertreten
sein läßt; so Schiller, indem er das Verhältnis zwischen Kant und seinen
Auslegern im Sinne hat:


Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung

Setzt! Wenn die Könige bau'n, haben die Kärrner zu thun.
[131]

oder Herder in dem Epigramm: „Die Trichternasen“ (der Name
einer Art von Vampyren):


Obskuranten fliegen umher. Mit gebreiteten Flügeln

Schweben bei Nacht sie hin, wo nur ein Lichtchen erscheint;

Gräßlich ist ihr Schatten; die Trichternasen, sie saugen

Schlafenden Menschen das Blut, Blut und die Seele mit aus.

Gar feinfühlend sind diese Gespenster; beraubet der Augen

Siehet das Nachtgeschöpf wie mit dem siebenten Sinn.

Jaget mit Stecken sie fort, laßt auf sie Katzen ─ o nein doch!

Lasset die Sonn' aufgehn, und sie sind alle verscheucht.

Auch hier ist es indessen strenges Erfordernis, daß die Allegorie alles
enthalte, um sowohl den dargestellten Gegenstand oder Vorgang als die
ihm entsprechende Bedeutung vollständig und klar erkennen zu lassen,
und nicht etwa um Geltung zu haben oder um überhaupt verstanden
zu werden, erst des in der Ueberschrift gegebenen Hinweises bedürfe.
Etwas Anderes ist es, wenn die Ueberschrift nur dazu dient, den an sich
in dem Gedichte vollständig gegebenen Jnhalt und die deutlich erkennbare
allgemeine Anwendung durch speziellen Hinweis auf einen einzelnen
bestimmten Fall zu individualisieren, wie in dem eben citierten Epigramm
auf Kant und in der Mehrzahl der Goethe-Schiller'schen „Xenien
geschehen ist. Wo dagegen die Ueberschrift einen unentbehrlichen Teil
des Gedichtes selbst ausmacht, da ist ein wesentliches Gesetz dieser
Dichtungsart verletzt, und man wird sich schwerlich täuschen, wenn man
in solchen Fällen von vornherein annimmt, daß es da auch zugleich mit
noch wichtigeren Erfordernissen, mit dem gewählten Bilde und mit dem
Gedanken selbst, nicht seine Richtigkeit hat. Man betrachte z. B. das
folgende Herdersche Epigramm:


O du Heiliger, bleibt dir immer dein trauriges Schicksal,

Zwischen Schächern gehängt, sterbend am Kreuze zu sein?

Und zu deinen Füßen erscheint das Wort des Propheten

Von der Ochsen und Farrn feisten geselligen Schar.

Heiliger, blick auf mich und sprich auch mir in die Seele:

„Vater, vergib! denn die wissen ja nie, was sie thun.“

Das Gedicht ist völlig unverständlich, und auch als Rätsel betrachtet
könnte es schwerlich jemals irgend einen Menschen auf die Meinung des
Verfassers bringen. Liest man nun die Ueberschrift: „An das Crucifix
im Konsistorium,
“ so ist freilich der satirische Sinn vollauf deutlich,
aber ebenso, daß es weder einen allgemein giltigen Gedanken enthält,
noch, was weit schlimmer ist, eine allgemein mitteilbare Stimmung
oder Empfindung. Was dem Epigramme zu Grunde liegt, sind indi= [132]
viduelle Verstimmungen über persönliche Erfahrungen des Weimarer
General-Superintendenten, vielleicht auch berechtigte, aber um dichterisch
allgemein wirksam im Epigramm verwertet zu werden, dazu hätte im
ersten Teil die Erwartung rege gemacht werden müssen durch die Exposition
desjenigen speziellen Verfahrens oder derjenigen Denkungsweise
der so schlimm charakterisierten Konsistorialräte, welche für den vernichtenden
Aufschluß empfänglich zu machen geeignet wäre. Das Gedicht
würde dadurch nicht allein verständlich geworden sein, sondern es hätte
sich damit aus einer bloßen Gehässigkeit, die es jetzt ist, in ein wirkliches
Epigramm verwandelt, dessen satirische Uebertreibung als Stachel
des Witzes und nicht als Schmähung gewirkt hätte.

Denn das Epigramm will und soll seinen Gegenstand nur von
einer Seite betrachten; eben um dessentwillen ist die Kürze eine seiner
wesentlichen Eigenschaften; wo sich bei den ausgezeichnetsten Epigrammatisten
längere Epigramme finden, da fällt diese größere Ausdehnung
fast ausschließlich dem ersten Teile, der die „Erwartung“ rege macht,
zu und setzt sich in den bei weitem meisten Fällen aus einer Häufung
von Bezeichnungen zusammen, die sämtlich eine und dieselbe Seite der
Sache nur um so schärfer und ausschließlicher hervorkehren. Lessing hat
gezeigt, daß in einer Gattung von Epigrammen, die er die hyperbolische
nennt, sogar auf diese Ausführlichkeit alles ankommt; in den
beiden Beispielen aus dem Martial (XI, 18 und VIII, 33), die
er anführt, beruht die Wirkung auf der Vorstellung äußerster Kleinheit,
die in dem ersten Teil durch eine Reihe sich steigernder Hyperbeln hervorgebracht
wird und welche die kurze Lösung vorbereitet, durch die jetzt
erst das Epigramm seine ethische Färbung erhält. So schließt das erste
derselben, nachdem es sich in Metaphern der Winzigkeit des von Lupus
dem Dichter geschenkten Landgütchens erschöpft hat:


Errasti, Lupe, littera sed una:

Nam quo tempore praedium dedisti,

Mallem tu mihi prandium dedisses.

Und in ähnlicher Weise das andere:


Quid tibi cum phiala, ligulam cum mittere possis,

Mittere cum possis vel cochleare mihi?

Magna nimis loquimur, cochleam cum mittere possis;

Denique cum possis mittere, Paule, nihil.

Mit Recht hebt Lessing hervor, daß Martial sich mit der bloßen Hyperbel
nicht begnügt, sondern „fast immer von der Hyperbel noch zu einer
Betrachtung
fortgehet, die mehr hinter sich hat;“ diese Be= [133]
trachtung und das Mehrere, was sie hinter sich hat, ist eben die ethische
Wendung, die, sei sie nun gnomisch oder satirisch gefaßt, das Epigramm
nicht entbehren kann.

Hier aber ist in Lessings Argumentation eine Lücke geblieben; es
entsteht eine Frage, welche durch seine Behandlung nicht erledigt wird,
und deren Beantwortung noch eine andre ganze Gattung des Epigramms
in ihrer Berechtigung erkennen läßt.

„Es haben,“ heißt es bei Lessing, „dergleichen hyperbolische Sinngedichte
ihre eigene Anmut. Nur müssen sie nicht auf die bloße Hyperbel
hinauslaufen, so wie dieses griechische (a. a. O. XI, 249):


Ἀγρὸν Μηνοφάνης ὠνήσατο, καὶ διὰ λιμὸν
ἐκ δρυὸς ἀλλοτρίας αὑτὸν ἀπηγχόνισεν.
Γῆν δ' αὐτῷ τεθνεῶτι βαλεῖν οὐκ ἔσχον ἄνωθεν,
ἀλλ' ἐτάφη μισθοῦ πρός τινα τῶν ομόρων.
Εἰ δ' ἔγνω τὸν ἀγρὸν τὸν Μηνοφάνους Ἐπίκουρος
πάντα γέμειν ἀγρῶν εἶπεν \̓αν, οὐκ ἀτόμων.


„„Menophanes hatte Feld gekauft, aber vor Hunger mußte er sich an
einer fremden Eiche hängen. Soviel Erde hatte er nicht, daß sein
Leichnam damit bedeckt werden konnte; man mußte ihm seine Grabstelle
auf benachbartem Grunde kaufen. Hätte Epikurus das Feld des Menophanes
gesehen, so würde er gesagt haben, daß alles voller Felder wäre,
nicht voller Atomen.““ „Denn ein solches Sinngedicht,“ fährt er fort,
„besteht offenbar aus nichts als Erwartung: anstatt des Aufschlusses
wird uns das äußerste Glied der Hyperbel untergeschoben, und alle
unsere Erwartung soll sich mit der Unmöglichkeit, etwas Größeres oder
Kleineres abzusehen, begnügen. Dergleichen Spiele des Witzes können
Lachen erregen, aber das Sinngedicht will etwas mehr. Die griechische
Anthologie ist davon voll, da sie hingegen bei dem Martial sehr sparsam
vorkommen.“

Sie sind auch bei Martial so selten nicht, als es scheint, und wenn
die griechische Anthologie und ebenso, kann man hinzufügen, die gesamte
neuere Epigrammen-Dichtung von ihnen voll ist, sollten sie dann schlechtweg
als mißraten auszuscheiden sein? Denn ein Epigramm, dem die
wesentliche Hälfte fehlte, wäre nicht mehr mit Recht ein Epigramm zu
nennen.

Doch so schlimm steht die Sache nicht; schon das Beispiel, welches
Lessing selbst für sich anführt, dürfte er schwerlich richtig beurteilt haben.
Es soll aus nichts als Erwartung bestehen, der Aufschluß soll fehlen,
statt seiner nur das letzte Glied der Hyperbel eintreten? Es darf nur [134]
mit genauestem Anschluß an das Original übersetzt werden, um für sich
selbst zu sprechen:


Ein Landgut kaufte sich Menophanes und hing

Aus Hunger sich an eines andern Eiche auf.

Nicht soviel Erde fand man drauf ihn zuzudecken,

Begraben wurde er für Geld bei einem Nachbarn.

Hätt' Epikur das Gut des Menophanes gesehen,

Er ließ das All von Gütern wimmeln, nicht von Atomen.

Die Erwartung ist offenbar allein durch die beiden ersten Verse
erregt; Lessing übersetzt willkürlich, wenn er die beiden Sätze darin
mit „aber“ verbindet, sie hängen durch καὶ zusammen und zwar notwendig;
die Erwartung wird durch zwei nebeneinander gestellte Thatsachen
erregt: Menophanes kauft sich ein Landgut und hängt sich aus
Hunger auf, noch dazu auf fremdem Grund und Boden. Warum?
Die Lösung erfolgt in den übrigen vier Versen, und zwar dem Jnhalt
nach in den beiden nächsten, welche hyperbolisch die außergewöhnliche
Geringfügigkeit des erkauften Besitzes anzeigen. Der Form
nach wäre das Epigramm damit fertig, es gewinnt aber ungemein durch
das letzte Versepaar, welches durch kolossale Steigerung der Hyperbel
einen sehr komischen Kontrast hervorruft.

Untersucht man aber diese ganze Klasse der lediglichhyperbolischen
Epigramme, deren Wirkung in der That also auf nichts
weiter
beruht, als auf dem durch die Höhe der Steigerung hervorgerufenen
komischen Kontrast, und die nach Lessing „aus nichts als
Erwartung bestehen“ sollen, genauer, so zeigt sich, daß, sofern dieselben
einen größeren Umfang annehmen, derselbe wie in dem eben behandelten
Beispiele vielmehr durch die Erweiterung des zweiten Teiles, also gerade
des Aufschlusses, herbeigeführt wird; dagegen ist die „Erwartung“ auf
den kürzesten Ausdruck beschränkt, meistens ist ihr nur ein Vers, mitunter,
bei oft wiederholtem Thema, nur ein Teil desselben gewidmet.
So enthält in dem folgenden Epigramm der Anthologie nur die erste
Zeile die Exposition, alle andern bilden den Aufschluß, und nur innerhalb
dieses
findet die hyperbolische Steigerung statt (a. a. O. XI, 406):


Τοῦ γρυποῦ Νίκωνος ὁρῶ τὴν ρῖνα, Μένιππε ·
αὐτὸς δ'οὐ μακρὰν φαίνεται εἶναι ἔτι.
Πλὴν ἥξει, μείνωμεν ὅμως· εἰ γὰρ πολὺ, πέντε
τῆς ῥινὸς σταδίους, οἴομαι, οὐκ ἀπέχει.
Ἀλλ' αὐτὴ μὲν, ὁρᾷς, προπορεύεται· ἤν δ'ἐπὶ βουνὸν
ὑψηλὸν στῶμεν, καὐτὸν ἐσοψόμεθα.

[135]
Sieh doch, Menippus, die Nase des geierschnäbligen Nikon;

Da kann er selbst so weit, sicherlich, schon nicht mehr sein.

Kommen wird er jedoch, wir warten; ist's sehr viel, so ist er

Ein Kilometer vielleicht hinter der Nase zurück.

Sie aber wandert voraus, wie du siehst; wenn wir dort jenen hohen

Hügel ersteigen, vielleicht glückt es ihn selbst zu erspähn.

Das Epigramm könnte mit dem zweiten Verse schließen; alle übrigen
sind nur eine Verschärfung der schon vorhandenen Pointe. Ganz ähnlich
ist das Verhältnis bei dem folgenden Beispiel; nur ist es noch kürzer
gefaßt und die hyperbolische Steigerung wird durch wiederholt erregte
Erwartung und Lösung bewirkt (a. a. O. XI, 268):


Οὐ δύναται τῇ χειρὶ Πρόκλος τὴν ῥῖν̓ ἀπομύσσειν·
τῆς ῥινὸς γὰρ ἔχει τὴν χέρα μικροτέραν·
οὐδὲ λέγει Ζεῦ σῶσον ἐὰν πταρῇ· οὐ γὰρ ἀκούει
τῆς ῥινὸς· πολὺ γὰρ τῆς ἀκοῆς ἀπέχει.

Nicht vermag Proklos mit der Hand seine Nase zu schneuzen:

Denn seine Hände, sie sind für seine Nase zu klein.

Auch kann er kein Gott helf, wenn er niest, zu sich sagen; denn niemals

Hört er von ihr; sie ist weit, weit von den Ohren entfernt.

Noch kürzer und mit genau demselben Verhältnis zwischen Erwartung
und Aufschluß hat Lessing denselben Gedanken in einem Jugend-Epigramm
behandelt:


O aller Nasen Nas'! Jch wollte schwören,

Das Ohr kann sie nicht schnauben hören.

Aber wer sieht nicht, daß der Reiz von dergleichen Kleinigkeiten gerade in
dem Scharfsinn und der Feinheit der weiteren Ausführung und in einer
gewissen übermütigen Freude an der Steigerung der Gegensätze ins
Kolossale liegt, daß aber, ob sie nun in äußerster Kürze oder in kunstvoll
ausgedehntester Erweiterung vorgetragen werden, ihr Wesen dasselbe
bleibt, eben jenes, welches Lessing so glücklich mit dem Namen der hyperbolischen
Gattung bezeichnet hat? Jn dem Lessingschen Epigramm genügen
für die Erwartung drei Worte: „O aller Nasen Nas'“, und so kann ein
einziges Beiwort mit kürzester Bezeichnung der Situation für die Exposition
genügen, z. B. wenn ein Epigramm der Anthologie „den kleinen
Menestratus
“ einführt, wie er um die Frühlingszeit sich eben „hingesetzt“
hat (XI, 407), ─ τὸν λεπτὸν θακεῦντα Μενέστρατον
eine Ameise kriecht hervor und schleppt ihn mit sich fort nach einer Erdritze,
eine vorüberfliegende Mücke raubt ihn und entführt ihn, wie der
Adler des Zeus den Ganymedes, er entfällt ihr, aber bleibt mit den [136]
Augenbrauen in dem Netze einer Spinne hängen. Eines der in breiterer
Weise und zwar sehr geschickt und witzig durchgeführten Epigramme des
Martial (XII, 29) enthält als ganze Exposition im ersten Verse die
Bezeichnung des Hermogenes als des ärgsten Serviettendiebes, und der
„Aufschluß“ besteht in den durch zehn Distichen sich häufenden Hyperbeln
über die Ausübung der Manie, die alle nur die Schlußpointe vorbereiten:


At cenam Hermogenes mappam non attulit unquam,

A cena semper rettulit Hermogenes.

Zwischen diesem aber und dem folgenden des Martial (XII, 88) scheint
kein anderer Unterschied zu sein, als daß das letztere statt einer ganzen
Reihe von Hyperbeln nur eine einzige enthält:


Tongilianus habet nasum: scio, non nego Sed jam

Nil praeter nasum Tongilianus habet.

Gegen Epigramme wie dieses ist der Form nach nichts einzuwenden ─
und sie sind zahlreich genug ─ doch läßt sich nicht leugnen, daß sie
recht kahl sind und ungesalzen, wenn nicht eine Würze hinzugethan wird;
eine solche aber kann schon in der Drastik des angewendeten Vergleichs
liegen, wenn z. B. Logau dasselbe Thema folgendermaßen variiert:


Nasalus ist ein großer Herr, schickt ins Quartier und meldt sich an!

Lakay, Trompeter ist es nicht; wer denn? Die Nase kömmt voran.

Mitunter fehlt solche Würze bei Martial ganz, wie z. B. II, 35, wo
er einem Krummbeinigen anrät, seine Füße in einem Trinkhorn zu
waschen; oder sie wird durch das obscöne Element gegeben, wie in dem
widerwärtigen 36. des VI. Buches, nach dem von ihm selbst aufgestellten
und so emsig befolgten Gesetze (vgl. I, 35):


Lex haec carminibus data est jocosis,

Ne possint, nisi pruriant, juvare.

Was freilich das eben citierte Nasenepigramm auf den Tongilianus
angeht, so möchte den Martial hier der Vorwurf mit Unrecht treffen;
warum sollte es nicht über das bloße Spiel des Witzes hinaus den
tieferen, allegorischen Sinn haben, daß, wie auch wir metaphorisch von
einer „feinen Nase“ sprechen, das Geruchsorgan hier für die kritische
Befähigung
steht, und das Epigramm also sagen würde: „Ja, er
mag sie haben, ich weiß es und will es nicht leugnen; aber bei ihm ist
es so weit, daß er aus gar nichts anderm besteht, als aus Kritik.“ Die
Adresse des „Tongilianus“ mag, wenn auch der Name fingiert ist, durch
irgend eine notorische Beziehung den Lesern des Martial diesen Sinn [137]
ganz nahe gelegt haben. Aber auch für uns gewinnt diese Auffassung
Gewißheit, wenn wir das zweite Epigramm des XIII. Buches vergleichen:


Nasutus sis usque licet, sis denique nasus,

Quantum noluerat ferre rogatus Atlas,

Et possis ipsum tu deridere Latinum:

Non potes in nugas dicere plura meas,

Ipse ego quam dixi. Quid dentem dente juvabit

Rodere? carne opus est, si satur esse velis.

Ne perdas operam: qui se mirantur, in illos

Virus habe, nos haec novimus esse nihil.

Non tamen hoc nimium nihil est, si candidus aure,

Nec matutina si mihi fronte venis.
Nichts ist gleich deiner Nase! Es sei, ja du seist ganz Nase,

Riesengroß, zu groß selbst für des Atlas Gesicht,

Ja, du könntest getrost Trotz bieten sogar dem Latinus:

Strenger verklagst du doch meine Gedichtchen mir nicht,

Als ich selbst es gethan. Was nützt es, den Zahn an dem Zahne

Wetzen? Suche dir Fleisch, wenn du dich sättigen willst.

Hier verlierst du die Müh': die sich selber bewundern, für jene

Spare dein Gift! Was sind meine Gedichte? Ein Nichts!

Und doch nicht so völlig ein Nichts, wenn du nur willigen Ohres

Nicht mit zartester Stirn unter den Hörern erscheinst!

Jmmer aber bleibt eine beträchtliche Zahl von Epigrammen übrig, in
denen es an einer solchen tieferen Beziehung fehlt. Wie steht es bei
diesen mit der im Obigen entwickelten Theorie, nach der das Epigramm
gleich der gnomisch=satirischen Dichtung die Nachahmung eines bei dem
Dichter vorhandenen Ethos enthalten muß? Die Theorie läßt uns auch
hier nicht im Stich. Um ein spezielles Ethos handelt es sich in diesen
rein komischen Epigrammen allerdings nicht; das Objekt der Mimesis
ist bei ihnen allen immer ein und dasselbe, es ist die heitere Stimmung,
wie sie jeder treffende Witz, jede glücklich erfundene Anekdote,
auch abgesehen von ihrem etwaigen gnomischen oder satirischen Jnhalt,
durch die bloße Kontrastwirkung erzeugt, und auch diese ist ein berechtigtes
Ethos. Es ist die harmlose Freude an dem völlig freien Spiel der
Phantasie, wie sie ebenso durch die groteske Karikatur, wo dieselbe sich
von Satire möglichst freihält, erzeugt wird; doch sind der Dichtung
hier unendlich weitere Grenzen gesteckt als den bildenden Künsten.
Während diese immer doch die Glaubwürdigkeit der realen Erscheinung
aufrecht erhalten müssen, erzielt jene Art von Dichtung ihre Wirkung
gerade damit, daß sie auf Grund eines einzigen festgehaltenen Aehnlichkeitsmomentes
nun in allem Uebrigen den Kontrast soweit als möglich [138]
treibt und durch solches Phantasiespiel belustigt. Jmmerhin ist das
Genre beschränkt und bedarf besonderer Anmut der Form, um zu gefallen.

Ueberhaupt läßt sich für das Epigramm das Gesetz aussprechen,
daß die Bedeutuug seines ethischen Gehaltes und der Scharfsinn seiner
Gestaltung in Form von Erwartung und Aufschluß in umgekehrt proportionalem
Verhältnis stehen; was auf der einen Seite nachgelassen
wird, muß in um so höherem Grade auf der anderen geleistet werden.
Deshalb suchen wir bei einem Dichter, der den Schwerpunkt seiner Produktion
in diese poetische Gattung gelegt hat, vor allem in seinen Gedichten
die Abspiegelung seiner Gefühls- und Gemütsart, seiner Gesinnung; so
z. B. bei unserem Logau! Was ihn uns wert macht, ist sein charaktervolles
Ethos: sein echt deutsches Herz, seine Vaterlandsliebe, sein patriotischer
Zorn, sein gerader, unbestechlicher und kerniger Sinn, seine herzliche
Freude am Guten, Einfachen, Naturgemäßen, seine herbe Verachtung
alles Falschen, Unwahren, Gekünstelten und Widernatürlichen. Freilich
besitzt er auch den Witz, Scharfsinn und die spezifische Phantasie des
Epigrammatikers in hohem Grade; doch in einer großen Zahl seiner
Stücke, und sehr inhaltreichen, ist die epigrammatische Form nur wenig
ausgeprägt, mitunter so schwach, daß sie nur noch als Sinnsprüche zu
bezeichnen sind. So ist in den folgenden der Gedanke wenigstens noch
in gegensätzlicher Fassung ausgesprochen:


Wer seinem Willen lebt, lebt ohne Zweifel wohl;

Doch dann erst, wenn er will nicht anders, als er soll.

oder:


Witz, der nur auf Vorteil gehet, ist nicht Witz, er ist nur Tücke.

Rechter Witz übt nur was redlich, weiß von keinem krummen Stücke.

und:


Fang alles an mit Wohlbedacht; führ alles mit Bestand:

Was drüber dir begegnen mag, da nimm Geduld zur Hand.

Noch schwächer ist die Form von Erwartung und Aufschluß vorhanden
in Sprüchen wie diese:


Freunde muß man sich erwählen

Nur nach wägen, nicht nach zählen.

oder vollends:


Freude, Mäßigkeit und Ruh

Schließt dem Arzt die Thüre zu.

und:


Wer Sünde weiß zu scheuen,

Der darf sie nie bereuen.
[139]

Aber selbst in ihnen ist jene Form, wenn auch fast verschwindend, wenigstens
noch zu erkennen. Umgekehrt hat die gnomisch=didaktische Spruchdichtung
die entschiedene Neigung, überall sich der epigrammatischen Form anzunähern,
dem Gedanken durch den Gegensatz von Erwartung und Aufschluß
Gestalt zu verleihen; sehr zahlreiche Stellen, z. B. in Freidanks
Bescheidenheit“, können geradezu für Epigramme gelten:


Suln ketzer, juden, heiden,

von Gote sîn gescheiden,

so hât der tiuwel daz groezer her,

ezn sî, daz uns genâde erner.

ebenso das unmittelbar folgende:


Eînes dinges hân ich grôzen nît,

daz Got gelîche weter gît

kristen, juden, heiden:

der keinz ist ûz gescheiden.

Mitunter bestehen ausgedehnte Stellen bei Freidank aus einer ununterbrochenen
Reihe einzelner Epigramme, so in dem Abschnitt: „Von Rôme“:


Swer lebet in des bâbstes gebote,

derst sünden ledic hin ze Gote.

Der bâbest ist ein irdisch Got,

Und ist doch dicke der Rômaer spot.

Ze Rôme ist sbâbstes êre kranc:

in vremediu lant gât sîn getwanc.

Sîn hof vil dicke wüeste stât,

sô er niht vremeder tôren hât.

Swenne alle krümbe werden sleht,

sô vindet man ze Rôme reht.

Und so fort! Auch die Form der priamel findet sich bei ihm, welche
im späteren Mittelalter durch einige Dichter und im Volksmunde zu
selbständiger Ausbildung gelangte; sie ist eine Variante der epigrammatischen
Gattung, bei welcher der erste Teil statt aus einem einzigen
Satz aus einer Häufung von die Erwartung spannenden, gleichartigen
Vordersätzen besteht, die alle ein und denselben, immer in äußerster Kürze
ausgesprochenen, Aufschluß finden, so daß mitunter ein jeder dieser
Vordersätze mit dem Schlußsatz verbunden ein Epigramm darstellen würde.
So in dem folgenden Beispiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert:


Kommt kunst gegangen vor ein haus,

so sagt man ihr, der wirt sei aus;

kommt weisheit auch gezogen dafür,

so findt sie zugeschlossen die thür;
[140]
kommt zucht und ehr derselben maas,

so müßen sie gehn dieselbe straße;

kommt lieb und treu, die wär gern ein,

so will niemand ihr thorwart sein;

kommt wahrheit und klopfet an,

so muß sie lang vor der thür stahn;

kommt gerechtigkeit auch vor das thor,

so findt sie ketten und riegel vor;

kommt aber der pfennig geloffen,

so findt er thür und thor offen.

Auf der einen Seite läuft also das Epigramm in die gnomische
Poesie aus, mitunter bis zum Verschwinden seiner eigentümlichen Form;
auf der andern bleibt diese Form, nicht selten bis zur Künstelei ausgeartet,
allein übrig, wenn über dem bloßen Vergnügen an komischem
Kontrast der Gemüts- und Empfindungsgehalt, das Ethos, daraus
verschwindet: in der Mitte liegen mit glücklicher Verbindung der Form
und des Jnhalts die Meisterwerke dieser Gattung.

Als eine Charakteristik des Besten dieser Gattung könnte das Lob
gelten, welches Körner in einem Briefe vom 11. Oktober 1796 den
Schiller-Goetheschen Xenien spendet: „Für mich ist es ein herrlicher Genuß,
eine solche Reihe von Kindern vor mir zu sehen, die Eure geistige Heirat
zur Welt gebracht hat. Eben aus der Verschiedenheit Eurer Naturen
sind die köstlichsten Mischungen entstanden: hier Klarheit bei tiefem Sinne,
dort Jnnigkeit bei froher Laune; hier üppige Kraft bei strenger Zucht,
dort zarte Empfänglichkeit für die Natur bei dem höchsten Streben nach
dem Jdeale. ─ Was ich bei diesen Produkten vorzüglich ehre, ist das
Spiel im höheren Sinne. Spielend behandelt Jhr die fruchtbarsten
Resultate des schärfsten Nachdenkens und der geprüftesten Erfahrung,
die lieblichsten Bilder der Phantasie, die süßesten Empfindungen, die
widerlichsten Albernheiten; und gleichwohl verliert der Gedanke nichts
an seinem Gehalt, der Stachel der Satire nichts an Schärfe.“

Sehr schön ist in diesem Urteile das Wesentliche hervorgehoben,
worauf die Vorzüglichkeit dieser Art Gedichte beruht: vor allem die
Trefflichkeit des Ethos, welches ihr Gegenstand ist, und sodann,
was sie freilich ebensowenig entbehren können, die Virtuosität in
der Behandlung ihrer spezifischen Form.
──────

[141]

X.

Die Ausartung des Epigramms in den einfachen Sinn- und Denkspruch,
wobei außer der Kürze alle wesentlichen Eigenschaften seiner
Form geopfert sind, bildet nicht die einzige Klasse von Pseudo-Epigrammen:
abgesehen von den lediglich lehrhaften oder den ganz inhaltsleeren,
denen jede Spur von Ethos mangelt, gibt es eine, freilich nur
kleine Anzahl von Pseudo-Epigrammen, welche eben auch nur durch
ihre Kürze sich in diese Dichtungsgattung einzuschleichen suchen, in
Wahrheit aber einer ganz verschiedenen, der epischen Gattung angehören.


Nach der Herderschen Theorie freilich, welche die charakteristische
Form des Epigramms völlig zerstört, wäre dieser Uebergang in der
Natur der Sache liegend und legitim; wie schon oben citiert, sagt er
ausdrücklich: „Wie leicht und bald kann eine Geschichte oder Fabel, die
die Runde und Kürze des Epigramms hat, auch der Gestalt nach ein
solches werden! Man darf die Geschichte nur etwa als Jnschrift auf
den Ort der Begebenheit beziehen und in ihr eine allgemeine
Lehre anschaulich machen, so ist die Fabel Epigramm und
das Epigramm eine Fabel.
“ Dieser Satz folgt bei ihm ganz notwendig
aus dem Grundirrtum, in dem er sich sowohl in Bezug auf das
Epigramm als auf die Fabel befindet: daß nämlich jenes nichts als die
Exposition eines Gegenstandes zu sein brauche, und daß diese
eine in Handlung gesetzte Lehre sei (vgl. Adrastea „Fabel“ Hemp.
Bd. 14, S. 211). So vieles Herder an Lessings Fabeltheorie auszusetzen
findet, in diesem Punkte, in welchem gerade Lessing sich am weitesten
von der richtigen Auffassung der Fabel entfernt hat, ist er ihm treulich
gefolgt. Desto schärfer scheidet Lessing die Gattungen des Epigramms
und der Fabel voneinander, welche Herder an mehr als einer Stelle
gänzlich ineinander fließen läßt (vgl. auch Adrastea 14,221: „eine
Fabel, die Epigramm war,
ward bei den Griechen Epigramm in
elegischem Silbenmaße“). Man lese, wie sich Lessing („Ueber das Epigramm“
I, 2) über diesen Unterschied äußert:

„Das Gegenteil von den zu aller moralischen Anwendung ungeschickten,
kleinen Erzählungen sind diejenigen, welche zwar auch ohne alle
Betrachtung und Folgerung vorgetragen werden, aber an und für sich
selbst eine allgemeine Wahrheit so anschauend enthalten, daß es nur
Ueberfluß gewesen wäre, sie noch mit ausdrücklichen Worten hinzuzufügen.
Von dieser Art ist die folgende bei dem Ausonius:

[142]
Thesauro invento, qui limina mortis inibat,

Liquit ovans laqueum, quo periturus erat.

At qui, quod terrae abdiderat, non reperit aurum,

Quem laqueum invenit, nexuit et periit:

wovon das griechische Original in der Anthologie zu finden. Oder aus
eben dieser Anthologie die von mehreren Dichtern daselbst vorgetragene
Geschichte vom Lahmen und Blinden:


Ἀνέρα τις λιπογύιον ὑπὲρ νώτοιο λιπαυγὴς

Ἦρε πόδας χρήσας, ὄμματα χρησάμενος.

Wer ist so blödsinnig, daß er die großen Wahrheiten, von welchen diese
Erzählungen Beispiele sind, nicht mit ihnen zugleich denke? Und was
auf eine so vorzügliche Art einen Sinn in sich schließt, das wird doch
wohl ein Sinngedicht heißen können?

„Doch auch das nicht. Und warum sollte es ein Sinngedicht
heißen, wenn es etwas weit Besseres heißen kann? Mit einem Worte:
es ist ein Apolog, eine wahre Äsopische Fabel; denn die gedrungene
Kürze, mit welcher sie vorgetragen ist, kann ihr Wesen nicht verändern,
sondern allenfalls nur lehren, wie die Griechen solcherlei Fabeln vorzutragen
liebten. Es kommen deren, außer den zwei angeführten, in
der Anthologie noch verschiedene vor; ─ ─ alle sind mit der äußersten
Präcision erzählt ─ ─ ─.

„Der wesentliche Unterschied, der sich zwischen dem Sinngedicht und
der Fabel findet, beruht aber darin, daß die Teile, welche in dem Sinngedichte
eines auf das andere folgen, in der Fabel in eins zusammenfallen
und daher nur in der Abstraktion Teile sind. Der einzelne Fall
der Fabel kann keine Erwartung erregen, weil man ihn nicht ausgehört
haben kann, ohne daß der Aufschluß zugleich mit da ist; sie
macht einen einzigen Eindruck und ist keiner Folge verschiedener Eindrücke
fähig. Das Sinngedicht hingegen enthält sich eben darum entweder
überhaupt solcher einzelnen Fälle, in welchen eine allgemeine Wahrheit
anschauend zu erkennen, oder läßt doch diese Wahrheit beiseite liegen,
und zieht unsere Aufmerksamkeit auf eine Folge, die weniger notwendig
daraus fließt. Und nur dadurch entsteht Erwartung, die dieses [143]
Namens wenig wert ist, wo wir das, was wir zu erwarten haben, schon
völlig voraussehen.“

Der wesentliche Unterschied liegt also nach Lessing darin, daß die
Fabel durch Erzählung eines einzelnen Falles eine allgemeine Wahrheit
unmittelbar „der Anschauung erkennbar“ macht, während das Epigramm
niemals eine solche Aufgabe sich stellen oder lösen kann, sondern selbst
da, wo es in seinem ersten Teile einen einzelnen Fall erzählt, durch
seinen zweiten Teil die Aufmerksamkeit auf einen Gedanken zu lenken
hat, der wider Erwarten sich darin entdecken läßt, auf eine Beobachtung,
welche ihrer Natur nach der bloßen Anschauung sich entziehen
müßte.

Aber der Unterschied ist noch weit größer und liegt noch tiefer im
Wesen der Sache begründet, als er von Lessings irrigem Standpunkte
in der Fabeltheorie wahrgenommen werden konnte.

Eine Dichtung, welche darauf ausginge, „allgemeine Wahrheiten
zur anschauenden Erkenntnis zu bringen“, oder gar, wie Herder will,
„eine Lehre darzustellen“, gibt es nicht. Selbst da, wo sie sich der Gedankendarstellung
als ihres Mittels bedient, ist das Ziel, auf das sie
hinausgeht, die Erweckung psychischer Vorgänge, ob dieselben nun in
das Gebiet des Pathos oder das des Ethos gehören. Dies sind die
immer sich gleichbleibenden, aber in ihrer Mannigfaltigkeit unerschöpflichen
Gegenstände der lyrischen Poesie mit allen ihren Nebenarten; daß
dieselbe zur Erreichung desselben Zweckes sich auch der Darstellung eines
Vorganges, einer Begebenheit, einer äußeren Handlung bedienen kann,
daß sie in manchen ihrer Arten sogar so verfahren muß, ist im Vorstehenden
verschiedentlich gezeigt worden: ebenso aber auch, daß in allen
diesen Fällen die Darstellung der Handlung nur als Mittel auftritt,
niemals an und für sich der Zweck der Nachahmung ist, und daß deshalb
ihre Erzählung auch nur andeutungsweise erfolgt oder doch ganz
und gar bestimmt durch den eigentlichen Zweck, der jedesmal für die
Nachahmung maßgebend ist.

Es gibt nun aber einen Fall, von welchem bisher noch gar nicht
die Rede gewesen ist, daß die Handlung nämlich zugleich das
Mittel und der Zweck der Darstellung ist,
daß sie selbst den
Gegenstand der Nachahmung
bildet: das dritte der drei Objekte,
in denen überhaupt sich alle Mimesis der Künste erschöpft, neben
Pathos und Ethos: die Handlungπρᾶξις. Dies ist der Fall
in aller epischen Poesie.

Ehe aber die Anwendung dieses Satzes auf die hier gerade vorliegende
Erörterung der Theorie der Fabel gemacht werden kann, muß [144]
hier zuvor die Untersuchung über die außerordentlich weit- und tiefgreifende
Bedeutung des Begriffes der Handlung ─ der πρᾶξις
─ erfolgen. Maßgebend dafür ist die Lehre, welche der klassische Erforscher
dieses ganzen Gebietes, Aristoteles, in seinen psychologischen
und ethischen Schriften entwickelt hat.

Vor allem ist die hier geltende Grundbedeutung festzustellen: in
Analogie mit den Begriffen des Pathos und Ethos hat πρᾶξις == Handlung
─ im Gegensatze zu dem gewöhnlich darunter verstandenen Begriff
der äußeren Handlung ─ für dieses ganze Gebiet zunächst die
Bedeutung eines seelischen Vorganges. So wird das Wort von
Aristoteles, wo es sich um psychologische und ethische Fragen handelt,
immer gebraucht. Es hat dann aber bei ihm noch zwei weitere Bedeutungen:
einmal bezeichnet es die jenem seelischen Vorgange entsprechende,
ihn verwirklichende That, sodann in noch weiterem
Umfange die Gesamtheit der dieselbe begleitenden, unmittelbar sie bedingenden
und durch sie hervorgerufenen, durch sie zu einem einheitlichen
und vollständigen Ganzen vereinigten äußeren
Umstände und Begebenheiten.
Jn allen diesen drei Bedeutungen
schließt sich der deutsche Sprachgebrauch des Wortes „Handlung“ dem
griechischen πρᾶξις genau an.

Für die beiden weiteren Bedeutungen bedarf das keines Beweises,
eher für jene engere Grundbedeutung von Handlung im inneren, geistigen
Sinne. Es ist hier ein näheres Eingehen erforderlich.

Nach Aristoteles sind die Empfindungen ─ die πάθηan
und für sich
unmittelbare und unbewußte Aeußerungen der Lebensthätigkeit
der Seele, Veränderungsvorgänge, die entsprechend den äußeren
auf sie einwirkenden Dingen und Vorgängen naturgemäß, ihrer Anlage
und Beschaffenheit entsprechend, in ihr erfolgen. Sie gehören also an
und für sich
dem vernunftlosen Teile (ἄλογον) der Seele an. Es
kann geschehen, daß sie bei einem Menschen im Wesentlichen auch so
verbleiben: dann werden sie jedesmal, sobald sie durch starke erregende
Ursachen in höherem Grade in seiner Seele stattfinden, notwendigerweise
auch bestimmend sein für das, was er begehrt und wovor er zurückweicht
(δίωξις und φυγή); eben daraus werden bei ihm dann auch in
jedem Falle die Thatimpulse (ὀρέξεις) und Handlungen entstehen.
Von einem solchen Menschen sagt Aristoteles, daß er „nach seinen Empfindungen
lebt und handelt“ (κατὰ πάθος ζῆν und κατὰ πάθος
πράττειν). Ein solches Leben und Handeln steht nach ihm auf einer
sehr niederen Stufe, obwohl damit keineswegs gesagt ist, daß das letztere
im einzelnen Falle objektiv schlecht oder auch an sich objektiv unrichtig [145]
sein müßte; es kann bei einer von Natur gemäßigt beanlagten Seele
und unter gleichmäßigen und günstigen Verhältnissen sogar in vielen
Fällen objektiv maßvoll und richtig sein: nur niemals gut, niemals bewußt
recht, und keinen Augenblick, weil ganz von den äußeren Einwirkungen
abhängig, vor den schlimmsten Abweichungen gesichert. Wo
aber die Empfindungsanlage einer Seele von Hause aus nach irgend
einer Richtung zu den Extremen des Zuviel oder Zuwenig neigt und
die Umstände diese Neigung noch verstärken, da sehen wir dann zügelloses
und leidenschaftliches Begehren, Wollen und dementsprechende
Handlungen (ἀκρατεῖς).

Nun sind aber die Veränderungsvorgänge der Seele, die wir Empfindungen
nennen, an und für sich zwar dem vernunftlosen Teile der
Seele angehörig, sie haben jedoch zugleich die Fähigkeit der Vernunft
Folge zu leisten, gleichsam der Stimme eines Vaters gehorsam (ὡς
ἐπιπειθὲς τῷ λόγῳ ... ὥσπερ πατρὸς ἀκουστικόν); durch die regulierende
Stimme der Vernunft kann es nun im einzelnen Falle geschehen,
daß entweder, wenn die Empfindungsregung von Natur die richtige
und in richtigem Maße vorhanden war, die Willensentscheidung
(προαίρεσις), welche für die Handlung maßgebend ist, nun auch mit
dem Bewußtsein des Rechten und aus den richtigen Gründen erfolgt,
oder daß zu starke Empfindungsregungen durch den Einfluß des vernünftigen
Willens die notwendige Herabminderung auf das richtige Maß
erfahren, den zu schwachen durch die von seiten der Vernunft erfolgende
Geltendmachung starker, berechtigter Beweggründe die erforderliche Steigerung
zum rechten Maße zu teil wird. Wie also richtige Handlungen
nicht zustande kommen können ohne die regelnde und entscheidende Mitwirkung
der Vernunft, so sind sie andrerseits auch nicht denkbar ohne
das Vorhandensein und die Mitwirkung zu Grunde liegender Empfindungen,
die im Verein mit jener die Willensentscheidungen bewirken; die Faktoren,
aus deren Vorhandensein und Zusammenwirken die richtigen Handlungen
hervorgehen, sind aber ebenso, wenn auch in den verschiedensten
Arten der Beschaffenheit und des gegenseitigen Verhältnisses, die notwendigen
Voraussetzungen aller menschlichen Handlungen, auch der
unrichtigen und der schlechten.

Zu diesen beiden gesellt sich nun noch ein dritter Faktor. Bei
jedem Menschen, welcher nicht durch schwere Krankheit oder sonstige bedeutend
hindernde Verhältnisse in seiner Entwickelung gewaltsam gestört
ist, finden doch irgend welche Einflüsse des bewußten Wollens auf den
bloß pathischen ─ empfindenden ─ Teil der Seele statt. Durch die
stetige Wiederholung dieser Einflüsse in nahezu sich gleichbleibender Weise [146]
und Richtung bildet sich im Verlauf normaler Lebensdauer eine bestimmte,
stehende, im ganzen und großen dauernd mit sich selbst übereinstimmende
Beschaffenheit der so modifizierten Pathe ─ Empfindungen ─
heraus, ein bleibendes Verhalten also (ἕξις), welches ein Produkt
der Thätigkeit beider Teile der Seele, des vernunftlosen und vernünftigen
(ἄλογον und λόγον ἔχον) ist, somit also eine individuell verschiedene
Beschaffenheit der gesamten Seele.
Denn dieser Vorgang
findet nicht in Bezug auf nur eine oder mehrere Empfindungen
statt, sondern er betrifft ihre Gesamtheit, sowohl in ihrem gegenseitigen
Verhalten, wo der zu hohe Grad der einen oft den zu geringen der
andern bedingt, als auch in dem besondern Verhältnis einer jeden von
ihnen zu der regulierenden Vernunft. Dieser Gesamtzustand der Seele,
welcher je nach der Art seiner Zusammensetzung und, je nachdem er als
dauernder Zustand oder zeitweilig vorhanden ist ─ denn es können
durch Mitwirkung außergewöhnlicher Empfindungsweisen und damit sich
kombinierender Vernunftvorstellungen natürlich derartige Zustände auch
als vereinzelte und vorübergehende vorkommen1 ─, unendlich zahlreiche
Modifikationen aufweist, den wir daher im Deutschen bald Seelenbeschaffenheit,
bald Seelenzustand, Gemütsart, auch Seelenstimmung
nennen müssen, ist es, den die Griechen mit dem einen
Namen des „Ethos“ bezeichneten. Es geht aus der Natur dieses Begriffes
hervor, muß aber wegen eines eingebürgerten fälschlichen Gebrauches
dieses griechischen Terminus immer von neuem erinnert werden,
daß darunter keineswegs, wie es mit dem lateinischen Ausdruck Moral
geschieht, allein die sittlich richtige Beschaffenheit der Seele oder gar
des Handelns verstanden werde, sondern daß der Ausdruck jedwede
Gesamtbeschaffenheit der Seele, jedweden aus verschiedenen Empfindungskräften
kombinierten, in dieser oder jener Art, bedeutend oder auch
geringer durch Vernunfteinflüsse modifizierten, dauernden oder auch nur
vorübergehenden Seelenzustand bedeuten kann.

Welch einen großen und wichtigen Einfluß neben und mit dem
Pathos, das ja immer für den einzelnen Fall seine an und für sich [147]
ihm zukommende Bedeutung behält, nun auf das Zustandekommen der
Willensentscheidung und der aus derselben hervorgehenden Handlung
die Beschaffenheit des jedesmal obwaltenden Ethos haben muß, liegt
auf der Hand; ebenso aber, daß dieser Einfluß auch umgekehrt stattfindet
und also ein wechselseitiger ist. Denn wer sieht nicht, daß
das Ethos, sei es nun ein vorübergehendes oder vollends dauernder
Natur, durch das Zusammenwirken der Empfindungskräfte und einzelner
oder in langer Reihe fortgesetzter, diesem gegenüber ausgeübter Willensentscheidungen
sich herausbildet, daß es also, wie es einerseits auf
die Handlungen mitbestimmend einwirkt, so andrerseits
wiederum selbst als ein Produkt von Empfindungen und
Handlungen anzusehen ist.

Danach ist also die Handlung in ihrer eigentlichen, engeren Bedeutung
als der wichtigste Vorgang des gesamten Seelenlebens aufzufassen,
gleichsam als seine Blüte oder auch als seine Frucht, der charakteristische
Ausdruck seiner gesamten Beschaffenheit. Als ihre Grundlage
können alle Arten von Empfindungen in ihr zur Geltung und Erscheinung
gelangen: Haß und Liebe, Freude und Schmerz, Furcht und
Mitleid, Zorn und Weichheit, Neid, Mißgunst, Eifersucht oder alle Arten
großmütiger, freigebiger, sorglos vertrauender Regungen; ebenso aber
auch durch die Einwirkungen des vernünftigen Willens auf jene oder
durch den Mangel derselben alle Arten von Ethos: fromme Scheu
oder Hybris, mutige Fassung und Standhaftigkeit oder Verzweiflung
und Schwachmütigkeit, Festigkeit und Leichtsinn, Hochsinn und Engherzigkeit,
Sanftmut und Unversöhnlichkeit, Treue und Wankelmut, Ungestüm
und Besonnenheit und wie die Gegensätze und ihre unzähligen Zwischenstufen
alle heißen, oder auch, ohne daß sie in der Sprache eine
Benennung erhalten haben, doch im Handeln sich als wirksam
erweisen mögen.

Aus alle dem geht klar hervor, wie es zu verstehen ist, wenn wir
bei Aristoteles Sätze finden wie diesen: τὰς δὲ πράξεις περὶ ψυχὴν
τίθεμεν (cf. Eth. Nicom. cap. 8. 1098b 15), „wir fassen die Handlungen
als Vorgänge auf, welche dem Gebiet der Seele angehören“;
die Handlung im engsten und zugleich prägnantesten Sinn ist in der
auf dem Grunde pathischer Vorgänge und ethischer Zustände erfolgenden
Willensentscheidung enthalten: in diesem an sich rein seelischen Vorgange
ist alles gegeben, was zur Beurteilung ihres Wesens, ihrer erklärenden
Ursachen und ihrer notwendigen Folgen erforderlich ist. Dieser an sich
rein psychische Vorgang kann also ebenso wie ein Pathos oder wie ein
Ethos durch Anwendung der dazu geeigneten Mittel nachgeahmt werden [148]
und zwar so, daß durch die Nachahmung, gerade wie bei jenen, alle
Erfordernisse für die Möglichkeit vereinigt werden,
daß in
den Seelen derer, welche diese Nachahmung auf sich wirken lassen, das
Abbild dieses psychischen Vorganges sich wiederholt.

Es mag hier sogleich ausgesprochen werden, was freilich erst an
einer andern Stelle ausgeführt werden kann, daß sich aus diesem Grundverhältnis
unmittelbar der Maßstab dafür ergibt, welches denn nun die
rechten Nachahmungsobjekte für die Kunst seien, d. h. was in der
Kunst als schön gelten wird. Jn der bloßen Wahrheit, d. h. Richtigkeit
der Nachahmung an sich kann dieser Maßstab nicht gegeben sein,
obwohl dieselbe nicht in dem kleinsten Stücke entbehrt werden kann: er
kann nur in dem höchsten und endgültigen Ziele der Kunst (ihrem
τέλος τέλειον) gefunden werden, welches immer unveränderlich dasselbe
ist: daß nämlich, mögen die angewendeten Mittel und der eingeschlagene
Weg der Nachahmung noch so verschieden sein, ihre Auswahl im Beginn,
im Verlauf und in ihrem Abschlusse von der einen leitenden
Hauptabsicht bestimmt sei, daß durch ihre Gesamtheit in der Seele des
Empfangenden das richtige Bild des richtigen Pathos, des richtigen
Ethos, der richtigen Willensentscheidung hervorgebracht werde,
richtig nach ihrer Beschaffenheit, Stärke, ihren Gründen, nach dem
Zeitpunkte und der Stelle, an welcher sie auftreten. Der durchaus unbestimmte
und schwankende Begriff der Jdealität, welcher in der
modernen Aesthetik die Hauptrolle spielt ─ unbestimmt und schwankend
deshalb, weil er im einzelnen Falle für die Auswahl des Nachahmungs=
objektes sich unfruchtbar und sogar als irreleitend erweist ─ bekommt
damit einen greifbaren, für jeden Fall in einer jeden Dichtungsgattung
klar und mit Sicherheit zu bestimmenden Jnhalt. Es ist etwas
Grundverschiedenes, ob durch die Forderung „idealer Darstellung
eine Verschönerung des Gegenstandes derselben verlangt wird, mag sie
nun durch Verstärkung seiner Vollkommenheiten oder durch Fortlassung
seiner Unvollkommenheiten, oder durch beides zugleich erreicht werden:
oder ob für jeden einzelnen Fall von der künstlerischen Darstellung gefordert
wird, daß sie nur erfolgen dürfe, sofern ihr Gegenstand in der
Seele des Künstlers die richtige, die der Natur des Gegenstandes
entsprechende Bewegung erzeugte,
und er denselben also
in der Weise darstellte, daß die Nachahmung dieses Seelenvorganges
bei dem Empfangenden durch das Kunstwerk ebenso hervorgebracht
werde,
wie sie bei ihm selbst, durch die Vorstellung seines
Gegenstandes erregt, vorhanden war. Daß der Hörer eines Liedes also
von derselben Empfindung ergriffen werde, von welcher der Sänger des= [149]
selben erfüllt war, und zwar, daß es gesunde, gute, edle, große,
berechtigte Empfindungen
seien; daß der Vortrag einer Ballade,
einer gnomischen oder satirischen Dichtung in derselben Weise, mit
dem gleichen Erfolge, ein ebenso geartetes Ethos nachzuahmen geeignet
sei; daß endlich die Erzählung einer Handlung, wieder unter genau
denselben Bedingungen, die Gesamtheit der in der Darstellungsweise
des Erzählers
derselben zu Grunde liegenden Seelenbewegungen und
=Thätigkeiten durch die Nachahmung so bei dem Zuhörer wiedererwecke,
daß er mit seinem Empfinden dieser Handlung ebenso gegenübersteht,
als der Dichter, d. i. also, daß er sie richtig aufzunehmen, hinsichtlich
der empfindenden Wahrnehmung
─ d. i. ästhetisch
in den Stand gesetzt werde. Die Art aber, wie in jedem dieser
Fälle die künstlerische Nachahmung zu verfahren hat, welche Objekte sie
also zu erwählen, von welcher Seite sie dieselben darzustellen, was daran
hervorzuheben, was fortzulassen, welche Form sie ihnen zu erteilen hat,
um die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen, das alles ergibt sich jedesmal
von selbst und mit Notwendigkeit zu einem Teile aus dieser Absicht
an sich
und zum andern aus der Natur der dieselbe zugleich
veranlassenden und sich ihr darbietenden Gegenstände

und der für ihre Nachahmung zur Verwendung gelangenden Mittel.
Damit ist für jede Kunstgattung und für jede ihrer Arten die Möglichkeit
einer bestimmten technischen Gesetzgebung eröffnet; das unübertreffliche,
freilich einzig dastehende Muster dafür ist in der Aristotelischen
Lehre von der Tragödie vorhanden. Die Gewähr aber, daß im einzelnen
Falle jene höchste künstlerische Absicht erreicht ist, liegt darin, daß
den innerhalb und vermittelst der ästhetischen Wahrnehmung sich vollziehenden
psychischen Energien, sofern sie die richtigsten und besten sind,
unfehlbar als begleitende und sie gleichsam krönende Erscheinung (τελείωσις
τῇς ἐνεργείας) sich die Freude, das ästhetische Vergnügen ─ die
Hedone ─ zugesellt, und zwar in um so höherem Grade, je höher
geartet der Gegenstand dieser ästhetischen Seelenthätigkeit ist und in je
vollendeterer Weise diese selbst von statten geht.1

[150]

Ohne alle Frage ist also die nach jeder Richtung hin vollständige
Nachahmung einer Handlung der höchste Gegenstand, welchen sich die
Dichtung erwählen kann, denn er ist zugleich der reichste und wendet
sich am unmittelbarsten an das Organ, mit welchem wir alle künstlerische
Nachahmung aufnehmen, an die empfindende Wahrnehmung,
die Aisthesis. Hier trifft, wie schon oben gesagt, das Mittel der
Nachahmung mit ihrem Zwecke gewissermaßen zusammen, insofern beides
durch den Ausdruck Handlung bezeichnet wird, freilich das eine Mal
das Wort seinem engeren, inneren Sinne nach, das andere Mal im
weiteren Sinne verstanden. Denn wie anders kann die Nachahmung 1 [151]
der geistigen, innern Handlung erreicht werden, als durch die Erzählung
der ihr entsprechend in die äußere Erscheinung tretenden That,
und wie anders kann diese vollständig, d. h. mit allen für ihr völliges
Verständnis erforderlichen innern und äußern Umständen dargestellt
werden, als indem zugleich von der Gesamtheit der sie innerlich erklärenden
Empfindungen und Gemütszustände und der äußerlichen Verhältnisse
und Begebenheiten berichtet wird, welche sie bedingen? Und
wie könnte durch Anwendung aller dieser Mittel der Zweck, den eigentlichen
und entscheidenden Akt der innern Handlung mit allen ihm
vorausgehenden und ihn begleitenden Seelenbewegungen in der Seele
des Hörers sich reproduzieren zu lassen, besser erreicht werden, als indem
die Erzählung alles aufbietet, um die Hörer in möglichst genau dieselbe
Lage zu bringen, wie die dem ganzen Umfange der Handlung nach in
dieselbe eingeweihten Zeugen derselben? Daß also die Darstellung
nirgends für die theoretische Analyse der das Gute und Böse abwägenden
Vernunft oder für die dialektische Kritik des über das Rechte oder
Unrechte, das Nützliche oder Schädliche, das Kluge oder Thörichte entscheidenden
Verstandesurteils eingerichtet ist, sondern überall für das
Auge und die empfindende Wahrnehmung des Hörers, daß sie also
lediglich seiner ästhetischen Urteilskraft sich darbietet, deren Urteil
unmittelbar, ohne alle Dazwischenkunft logischer Jnstanzen, in den durch
die Darstellung in Bewegung gesetzten Seelenvorgängen gegeben ist, also
in den nachgeahmten Empfindungen, Seelenzuständen und innern Handlungen,
─ den Pathe, Ethe und Praxeis? Die Sphäre aber der
ästhetischen Urteilskraft ist die Entscheidung über das ästhetische
Vergnügen,
die Hedone; ihr Spruch kann nicht anders lauten als
wohlgefällig“ oder „mißfällig,“ alle andern Urteile, die in die
Sphäre der Vernunft oder des Verstandes fallen, können erst nachträglich
daraus abgeleitet werden. Daß dem aber so ist, daß dieses ästhetische
Urteil so unmittelbar und so ohne alles Bewußtsein von
Gründen gefällt wird, daß es außerdem, sofern es ein richtiges ist, in
notwendiger Uebereinstimmung mit jenen anderen Urteilen erfolgen
muß, das bedarf nach dem im Obigen Entwickelten keines Beweises,
sondern geht als einfachste Konsequenz daraus hervor. Denn wenn
dieses ästhetische Urteil, je richtiger und reicher begründet es ist, in um
so stärkerem Auftreten des ästhetischen Vergnügens sich äußert, wenn
aber im wirklichen Leben die Seelenthätigkeiten, die Pathe, Ethe und
Praxeis, je reicher und mannigfaltiger sie in Wirksamkeit gesetzt werden
und je mehr sie mit den wahren Gesetzen der Vernunft und des Verstandes
sich in Harmonie befinden, desto mehr von dem Gefühl der [152]
wahren Freude begleitet sind, so ist es ja offenbar, daß die Erscheinung
dieser selben Freude, welche die Thätigkeit der empfindenden Wahrnehmung,
der Aisthesis, begleitet, sobald dieselbe durch die künstlerische
Nachahmung in den Stand gesetzt wird, jene Seelenthätigkeiten gleichsam
zu wiederholen, unter allen Umständen den sicheren Rückschluß auf die
Beschaffenheit jener Seelenthätigkeiten gestatten muß: das heißt mit
anderen Worten, daß in dem unmittelbar und ohne Bewußtsein
der Gründe gefällten Urteil über das Wohlgefällige
der Nachahmung ebenso auch die Urteile der Vernunft über
das Gute und die des Verstandes über das Richtige derselben
enthalten sein, daß sie alle drei zusammenstimmen
und daß die beiden letzten aus dem ersten sich entwickeln
lassen müssen.

Nachahmungen, welche die so beschriebene Wirkung haben, sind
schön: was dazu gehört, sie hervorzubringen, worin, mit andern
Worten, das Schöne besteht, kann also durch eine allgemeine Definition
nicht bestimmt werden, sondern auf der einen Seite freilich durch
die Gesetze über die Beschaffenheit der Nachahmungsobjekte, d. i. der
Seelenthätigkeiten und =Beschaffenheiten ─ und diese Gesetze sind allerdings
allgemeiner Natur ─, auf der andern aber, welche für die Ausführung
die entscheidende ist, einzig und allein durch die für jede
Kunstgattung und =Art verschiedenen Vorschriften darüber, welche Wahl
von einer jeden unter den Nachahmungsobjekten zu treffen ist und in
welcher Art dieselben, je nach der Beschaffenheit der zu Gebote
stehenden Mittel,
der empfindenden Wahrnehmung vorzuführen sind.
Das Ergebnis davon ist für jede Gattung und Art der Kunst die
Regel ihrer Form.

Der Satz, welchen Lessing als das Grundgesetz für die gesamte
Dichtung aufstellt: „Handlungen sind der Gegenstand der
Poesie
“, hat also seine Geltung nur für das eine Gebiet derselben,
die Epik in ihrem ganzen Umfange. Wo die Handlung sonst in der
Dichtung auftritt, dient sie derselben nur als Mittel, d. h. sie wird
nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern sie wird nach einer einseitigen
Richtung hin benutzt, um einen abgesonderten Nachahmungszweck
zu ereichen: einen anderen im Liede, einen anderen in der Ballade, in
in der gnomischen Dichtung oder im Epigramm.

Was Goethe in dem inhaltschweren Liede „Gefunden“ („Jch
ging im Walde so für mich hin“ u. s. w.) erzählt, erinnert freilich
den in die Lebensverhältnisse des Dichters Eingeweihten an eine Handlung,
die den Namen im eminentesten Sinne verdient, aber es fehlt ge= [153]
waltig viel daran, daß sie als eine solche in dem Liede dargestellt wäre.
Ja, um für die reizende lyrische Verwendung überhaupt brauchbar zu
werden, mußte sie von dem Dichter nicht allein aller individuellen Beziehungen
entkleidet werden, sondern es mußte ihr Schwerpunkt aus dem
Spezifischen und Wesentlichen der Handlung als solcher, das in der
Natur und Entstehung der Willensentscheidung liegt, hinausgerückt werden,
um sie ganz und gar einer einzigen der sie begleitenden Empfindungen,
oder einer einzelnen Gruppe derselben, dienstbar zu machen. Wenn das
Bild, durch welches sie mitgeteilt wird, so gewählt wäre, daß im Vordergrunde
das Hauptmoment der eigentlichen Handlung stände:
aus zufällig=leichtsinniger Begegnung bildet sich der Entschluß zu einem
Bunde für das Leben heraus: so wäre die Dichtung als Lied unmöglich;
sie würde eingehende, novellistische Darstellung der Handlung unumgänglich
erfordern. Statt dessen hat der Dichter von allen Seelenvorgängen, mit
denen jene Handlung für ihn verbunden war, nur die eine Empfindung
festgehalten: die erhöhte, zart schonende und sorglich hegende
Liebe,
die wir einem unserer Herzensteilnahme würdigen Gegenstande
gerade dann erweisen, wenn wir zuvor im Begriff waren, ihn achtlos
zu verletzen. Um diese schöne und allgemein mitteilbare Empfindung,
wie sie für den Dichter die Erinnerung eines individuellen Erlebnisses
begleitete, den Gesamteindruck deselben bezeichnend, gleichsam wie der
Duft die Blume, nun nachahmend in allen Hörern entstehen zu lassen,
erfand er jenen kleinen Vorgang, der von der eigentlichen Handlung
weiter gar nichts enthält, als was ─ im strengsten Sinne genommen ─
geeignet war, die besondere Färbung, Jntensität und eigenartige Mischung
jener Empfindungsweise zu erwecken. Jmmerhin hat er dazu als Mittel
die Erzählung einer äußeren Handlung verwendet, aber Jnhalt und
Zweck des Gedichtes sind nicht auf die Beschäftigung derjenigen unserer
Seelenkräfte gerichtet, welche beim Handeln in Bewegung geraten, sondern
nur auf den einzelnen Teil derselben, welcher in eben jener Empfindung
beschlossen ist.

Es ist genau das Verfahren des Volksliedes. Mit welcher skrupulösen
Genauigkeit sich Goethe demselben angeschlossen hat, erkennt
man in überraschender Weise, wenn man beachtet, daß das eben besprochene
Lied bis in die allerkleinsten Züge das getreue Pendant zu jenem
Volksliede ist, welches der Dichter in seinen Jugendtagen sich zu eigen
machte: dem „Haidenröslein“. Hier der Jünglingssinn, dort die
Mannesweise; dem gereiften Sinn entdeckt sich der verborgene Wert,
das Jünglingsauge wird durch die Schönheit gelockt, dort zarte sorgende
Schonung, hier übermütig und rücksichtslos vordringende Leidenschaft; [154]
ist dort Gesamtinhalt der Nachahmung: Dauer und beglückende Wärme
der befestigten Neigung, so hier: die verhängnisvolle Mischung von flüchtigem,
stürmischem Genießen und lange dauernden scharfen Schmerzen
in unbeständiger Jünglingsliebe. Die Mittel der Darstellung sind in
beiden Fällen sowohl in der Wahl des Bildes als bis in die Details
der Anordnung und des Ausdrucks genau dieselben.1

Um aber sich zu vergegenwärtigen, was denn nun, im Gegensatze
hierzu, darunter zu verstehen sei, wenn die Handlung selbst, d. h.
also diejenigen Seelenvorgänge, welche beim Handeln in Bewegung sind,
zum Zwecke der Nachahmung gemacht wird, genügt es schon, wenn man
die einfachste, kürzeste und daher am leichtesten zu überschauende Art
der epischen Gattung nach dieser Richtung genauer untersucht: die
Fabel.
──────


XI.

Wieder ist es Lessing, von dessen Definition der Fabel hier ausgegangen
werden muß. Nirgends hat Lessing dem seine Zeit beherrschenden
Jrrtum von der Lehrhaftigkeit der Dichtung und ihrer Bestimmung,
moralische Besserung zu bewirken, einen stärkeren Tribut entrichtet als
hier. Freilich weist er die Fabel mehr der Philosophie und Rhetorik
als der eigentlichen Poesie zu, aber immerhin betrachtet er sie doch als
„Gedicht“, insofern man „das Wesen eines solchen in die bloße Fiktion [155]
setzt,“ und spricht ihr nur „als notwendige Eigenschaft“ den „poetischen“
Ausdruck und „ein gewisses Silbenmaß“ ab, während er auch dieses als
zulässig betrachtet, sofern beides mit solcher Meisterschaft gehandhabt
wird, daß dadurch weder der Kürze noch der strengsten innern Folgerichtigkeit
der Fadeldichtung Eintrag gethan wird.

Seine Definition lautet: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen
Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die
Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man
den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine
Fabel.“ Sie ist ihm also ihrem Ursprung und Zweck nach, wie er selbst
es ausdrückt, „ein Exempel der praktischen Sittenlehre“.

Aus diesem Gesichtspunkt faßt er nun folgerichtig auch alle Eigenschaften
der Fabeldichtung auf und erklärt also ihre Haupteigentümlichkeit,
die Anwendung der Tiere als handelnder Personen lediglich aus
der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere“, deren
das Exempel der Sittenlehre bedürfe, um in möglichster Kürze, mit dem
stärksten Nachdruck und „ohne Erregung der Leidenschaften“, welche „die
Erkenntnis verdunkeln würden“, den moralischen Satz zur anschauenden
Erkenntnis zu bringen.

Schon zu seiner Zeit und sogar unmittelbar nach dem Erscheinen
seiner „Abhandlungen über die Fabel“ erregte er damit bei denen, welche
im Gegensatz zu der bisherigen philosophisch=spekulativen Methode in
der poetischen Theorie und Kritik das Wesen der Poesie in einem
unmittelbaren Schöpfungsakt der erregten Empfindung erblickten, bei
den theoretischen Verkündigern der anbrechenden Genie-Periode, den leidenschaftlichsten
Widerspruch. Kaum ist Lessing jemals wieder mit solcher
Heftigkeit ─ und zugleich mit so viel Berechtigung ─ angegriffen worden,
als es damals durch Hamann geschah, und nur der wunderlich verdeckten
Angriffsweise und der bis zur völligen Unverständlichkeit gehenden
Dunkelheit der Ausdrucksweise desselben ist es zuzuschreiben, daß
diese Thatsache sowohl damals als in der späteren litterarhistorischen
Kritik unbemerkt blieb.1

[156]

Später hat dann Herder an demselben Punke eingesetzt, wie so
oft, mit starkem Gefühl für das Richtige, aber mit schwankender Dialektik
und vielfach entschieden unrichtigen Gründen.

Volle Klarheit hat erst Jakob Grimm in den Gegenstand gebracht,
indem er von der Höhe seiner litterarhistorischen Kenntnis der Ent= 1 [157]
wickelung der Poesie die Fabel als einen Teil der in sich zusammenhängenden
uralten epischen Dichtung erkannte.1

„Die Poesie, nicht zufrieden Schicksale, Handlungen und Gedanken
der Menschen zu umfassen, hat auch das verborgene Leben der Tiere
bewältigen und unter ihre Einflüsse und Gesetze bringen wollen.“

„Ersten Anlaß hierzu entdecken wir schon in der ganzen Natur der
für sich selbst betrachtet auf einer poetischen Grundanschauung beruhenden
Sprache. Jndem sie nicht umhin kann, allen lebendigen, ja unbelebten
Wesen ein Genus anzueignen, und eine stärker oder leiser daraus entfaltete
Persönlichkeit einzuräumen, muß sie sie am deutlichsten bei den
Tieren vorherrschen lassen, welche nicht an den Boden gebannt, neben
voller Freiheit der Bewegung, die Gewalt der Stimme haben, und zur
Seite des Menschen als mitthätige Geschöpfe in dem Stilleben einer
gleichsam leidenden Pflanzenwelt auftreten. Damit scheint der Ursprung,
fast die Notwendigkeit der Tierfabel gegeben.“

Nachdem dann die vielfachen Analogien und engen Beziehungen
zwischen dem Tier- und Menschenleben sehr beredt entwickelt sind, heißt
es weiter:

„Sobald einmal um diesen Zusammenhang des tierischen und
menschlichen Lebens her die vielgeschäftige Sage und die nährende Poesie
sich ausbreiteten, und ihn dann wieder in den Duft einer entlegenen
Vergangenheit zurückschoben; mußte sich da nicht eine eigentümliche Reihe
von Ueberlieferungen erzeugen und niedersetzen, welche die Grundlage
aller Tierfabeln abgegeben haben? Alle Volkspoesie sehen wir erfüllt
von Tieren, die sie in Bilder, Sprüche und Lieder einführt. Und konnte
sich die allbelebende Dichtung des letzten Schrittes enthalten, den Tieren,
die sie in menschlicher Sinnesart vorstellte, auch das unerläßliche Mittel
näherer Gemeinschaft, Teilnahme an menschlich gegliederter Rede beizulegen?“


Und dann der entscheidende Hauptsatz, welcher zu der Lessingschen
Theorie in den stärksten Widerspruch tritt:

„Die Tierfabel gründet sich also auf nichts Anderes als den
sicheren und dauerhaften Boden jedweder epischen Dichtung, auf uner= 1 [158]
denkliche, lang hingehaltene, zähe Ueberlieferung, die mächtig genug war,
sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe
der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem
Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen,
und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderlichen Verhältnissen
menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und
wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt
Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich
aus und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahingetragen.
Es ist eben so widerstrebend echte Tierfabeln zu ersinnen, als
ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen
gebunden ist an einen unerfundenen und unerfindbaren Stoff, über
den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und
festigen.“1

[159]

Aus dieser rein epischen Auffassung der Fabel ergibt sich für
Grimm die Anwendung der Tiere darin von selbst: „Sobald wir eingelassen
sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an
dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen
uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden
Tieren eine Teilnahme zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen,
die uns beim rein menschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen,
daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne,
Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu.“

Es ergeben sich daraus zwei wesentliche Merkmale der Tierfabel,
die in der Wirklichkeit zwar sich widerstreiten, aber deren Vereinbarung
die Tierfabel nicht entraten kann: „Einmal sie muß die Tiere darstellen
als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten
und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar 1 [160]
nichts Befremdliches hat.“ ..... „Dann aber müssen daneben die Eigenheiten
der besonderen tierischen Natur ins Spiel gebracht und geltend
gemacht werden.“

Es versteht sich darnach von selbst, daß der Tierfabel ihrer Natur
nach weder satirische noch didaktische Tendenz beiwohnt. Höchst geistvoll
und treffend, zugleich von einer Tragweite, die sich über das gesamte
epische Gebiet hin erstreckt, ist, was Jakob Grimm über diesen
letzten Punkt, die vorgebliche Lehrhaftigkeit der Fabel, ausspricht:

„Lehrhaft nun ist die Fabel allerdings, doch mich dünkt ihr erster
Beginn nicht Lehre gewesen. Sie lehrt wie alles Epos, aber sie geht
nicht darauf aus zu lehren. Die Lehre mag aus ihr und dem Epos,
um eine Vergleichung zu brauchen, gezogen werden wie der Saft aus
der Traube, deren milde Süße, nicht schon den gekelterten Wein, sie
mit sich führen. Ueberall, wo uns das zur Moral vergorene Getränk
dargeboten wird, ist nicht mehr die frische epische Tierfabel, sondern
bereits ihr Niederschlag vorhanden. Daher quillt auch aus dem Epos
die Lehre eigentlich reichhaltiger nach vielen Seiten hervor, der späteren
Fabel wird eine bestimmte Affabulation entpreßt, die von kleinerem
Bereich in vielen Fällen ihren Stoff gar nicht erschöpft hat; es könnten
ihr noch ganz andere Lehren, als die gewählten, entnommen werden, ja
der nämlichen Fabel sehr verschiedene. Der echten Fabel Jnhalt läßt
eine Menge von Anwendungen zu, aus dem bloßen Epimythium aber
sich noch keine Fabel auferbauen.“

Und so gelangt denn auch, was den „Vortrag“ der Fabel betrifft,
Jakob Grimm zu dem entgegengesetzten Resultat wie Lessing: „Lessings
Jrrtum lag darin, daß er in den besten griechischen Stücken den Gipfel,
nicht in allen schon das Sinken und die sich zersetzende Kraft der alten
Tierfabel erblickte. Zu dieser können die Apologe, die er selbst gedichtet,
sich nicht anders verhalten als ein Epigramm in scharfzielender
Gedrungenheit zu der milden und sinnlichen, von dem
Geiste des Ganzen eingegebenen Dichtung des Altertums.

Das naive Element geht den Lessingschen Fabeln ab bis auf die leiseste
Ahnung. Zwar behaupten seine Tiere den natürlichen Charakter, aber
was sie thun, interessiert nicht mehr an sich, sondern durch
die Spannung auf die erwartete Moral.
Kürze ist ihm die Seele
der Fabel, und es soll in jeder nur ein sittlicher Begriff anschaulich
gemacht werden; man darf umgedreht behaupten, daß die Kürze der Tod
der Fabel ist und ihren sinnlichen Gehalt vernichtet.“

Die Fabel ist ihrem innersten Wesen nach episch, das ist
der Grundgedanke der Grimmschen Auffassung; alle die weiteren von [161]
ihm gegebenen Bestimmungen sind aus diesem Gedanken mit Notwendigkeit
sich ergebende Konsequenzen.

Aufgabe der epischen Dichtung aber ist die Nachahmung einer
Handlung,
und zwar nicht um durch dieses Mittel irgend einen
anderen Zweck zu erreichen, sondern um ihrer selbst willen, so daß
die Nachahmung der äußeren Handlung die Kraft besitzt, den entsprechenden
Seelenvorgang der inneren Handlung, welcher jener äußeren Handlung
zu Grunde liegt, in der Seele des Wahrnehmenden sich wiederholen
zu lassen.

Dieser Gedanke ist es auch, welcher Herdern in seiner weitausgedehnten
Bestreitung der Lessingschen Fabeltheorie überall vorschwebt,
wenn auch stark verhüllt durch die irrtümlichen Grundanschauungen, von
denen er ausgeht.

Auch ihm ist die Fabel „die Darstellung einer in Handlung
gesetzten Lehre
1 und damit „der Grund aller Dichtkunst“. Aber
die auch von Lessing unumgänglich geforderte „Allgemeinheit“ dieser
Lehre ist nach Herders Meinung einzig und allein dadurch zu erreichen,
daß die dargestellte Handlung eine solche sei, in der „das Allgemeine,
das Unwiderstrebliche der Naturordnung und Naturfolge

nach ihren allgemeinen, dauernden Gesetzen“ sich kundgebe.2

Jmmerhin ist ihm, sowie die „dogmatische Poesie bloß eine mit
poetischem Schmuck gezierte Lehre,“ so die „Äsopische Fabel nichts als
eine moralisierte Dichtung“.3 Aber diese „Moral“ darf nur „aus
dem Kreise der Menschheit“ hergenommen sein, und der Ausdruck bedeutet
ihm nicht ein Pflichtgebot, sondern vielmehr „einen besondern,
praktischen Satz, eine Erfahrungslehre für eine bestimmte Situation des
Lebens.4 „Zu Bildung praktischer Klugheit erfand Äsop seine Fabeln,
nicht zum Behuf der Abstraktion einer allgemeinen moralischen Wahrheit.“5
Von diesen Voraussetzungen aus gelangt nun Herder zu der
folgenden Frage: „Wie muß die Handlung der Fabel beschaffen
sein?
Jst's genug, daß das Ganze, das sie erzählt, bloß eine Folge
von Veränderungen sei, deren jede dazu beiträgt, den moralischen
Lehrsatz der Fabel anschauend zu zeigen?
oder muß sie auch
in der Fabel wirkliche Handlung, d. i. eine Veränderung der [162]
Seele mit Wahl und Absicht sein?“1 Herder entscheidet sich für das
letztere; eine bloße „Zusammenstellung einer Gedankenfolge, damit
eine feine Bemerkung Stelle und Ort finde,“ gewährt in seinen Augen
nicht Anspruch auf den Namen einer Fabel, sondern höchstens auf den
einer „sinnreichen Dichtung“.

Damit hat aber Herder gerade den Punkt bestritten, auf dessen
Festhaltung Lessing in seinen Abhandlungen über die Fabel den größten
Wert legt. „Eine Handlung,“ sagt Batteux, „ist eine Unternehmung,
die mit Wahl und Absicht geschieht. ─ Die Handlung setzet außer
dem Leben und der Wirksamkeit auch Wahl und Endzweck voraus und
kömmt nur vernünftigen Wesen zu.“2 Lessing will diese Definition für
den Begriff der Handlung im Epos und Drama allenfalls gelten lassen,
obwohl er nicht unterläßt, nachdrücklich daran zu erinnern, daß „auch
jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen
Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei.“ Aber selbst
diese Erweiterung genügt ihm noch nicht für die Fabel: „neun Zehnteile
aller existierenden Fabeln, meint er, wären auszustreichen,“ wollte
man die Batteuxsche Erklärung als für sie maßgebend anerkennen. Jhm
ist der Begriff der Handlung erfüllt durch „eine bloße Folge von
Veränderungen,
“ und um allem Streit über diese weiteste, dem
Sprachgebrauch wenig entsprechende Fassung aus dem Wege zu gehen,
entschließt er sich den Ausdruck „Handlung“ in seiner Definition der
Fabel ganz fallen zu lassen und verlangt für sie nur die Darstellung
eines „einzelnen Falles,“ von welchem die Fabel gerade so viel,
und nicht mehr, zu erzählen habe, als hinreiche, den „allgemeinen
moralischen Satz,“ welchen sie enthalten solle, „anschauend erkennen
zu lassen.“

Man sieht, nach Lessing ist die Fabel nicht epischer Natur,
sondern sie wendet in ihrem letzten Zweck sich an unsere Erkenntnis,
sie ist lehrhaften Charakters; dieser fundamentale Jrrtum Lessings
beruht aber zu allermeist auf seiner falschen Ansicht über das Wesen
der Handlung.

Es ist nicht schwer zu zeigen, daß sein eigener Beweis sich gegen
ihn wendet. Er lautet folgendermaßen: „„Zwei Hähne kämpfen mit
einander. Der Besiegte verkriecht sich. Der Sieger fliegt auf ein Dach,
schlägt stolz mit den Flügeln und krähet. Plötzlich schießt ein Adler
auf den Sieger herab und zerfleischt ihn.““ „Jch habe das allezeit für [163]
eine sehr glückliche Fabel gehalten, und doch fehlt ihr nach dem Batteux
die Handlung, denn wo ist hier eine Unternehmung, die mit Wahl und
Absicht geschähe?“ Dieselbe ist allerdings vorhanden; ja nur durch
ihr Vorhandensein wird der erzählte Vorgang zu einer
Fabel!
Trotzdem das, was Lessing reproduziert, im Grunde nicht die
Fabel selbst ist, sondern nur die trockenste Jnhaltsangabe derselben, so
konnte doch selbst in dieser das eine Wort nicht unterdrückt werden, auf
das hier alles ankommt und durch dessen Fortlassung freilich die Fabel
in den einfachen Bericht eines wirklichen Vorganges verwandelt werden
würde, aus welchem höchstens durch Allegorie eine Nutzanwendung gezogen
werden könnte, also gerade durch das Verfahren, welches Lessing
am meisten verpönt. Aber indem selbst der Jnhaltsbericht in seiner
äußersten Kürze nicht vergißt zu erzählen: „der Sieger fliegt auf das
Dach, schlägt stolz mit den Flügeln und krähet,“ hat er das Benehmen
des siegreichen Hahnes aus einer Manifestation natürlichen Jnstinktes
zu einer bewußten Handlung erhoben, die mit freier „Wahl
gemäß einem unter dem Gesetz moralischer Verantwortlichkeit gedachten
Charakter erfolgt, zu einer vom Willen eingegebenen „Unternehmung,
welche in der „Absicht“ geschieht den Triumph des Sieges
in der Herausforderung der ihm gebührenden Bewunderung zu genießen.
Diese „mit Wahl und Absicht geschehende Unternehmung“ wird sein
Verderben, wie ganz ebenso eine ähnliche Thorheit etwa einem Feldherrn,
der statt seinen Sieg zu benutzen sich in Siegesfesten bläht, den Untergang
bereiten könnte. Dies ist die Handlung der Fabel, und dieselbe
wird um so besser erzählt sein, je mehr es gelingt, diese Handlung nach
der bezeichneten Richtung durch die ihr innewohnende Kraft wirksam zu
machen, d. h. je mehr die Fabel episch und je weniger sie didaktisch
ist. Jhr Zweck und ihre Kraft besteht dann darin, daß sie das innere
Handlungsmoment
nachahmend in der Seele des Hörers zu erwecken
vermögend ist. Um alle „Lehren“ und „Nutzanwendungen,“ die nach
der positiven und nach der negativen Seite daraus gezogen werden
können, kümmert sie sich weiter nicht. Aber je mehr die „Nachahmung
der Handlung
“ gelungen ist, d. h. je lebhafter der entsprechende
innere Vorgang angeregt ist, desto stärker wird von dieser Bewegung der
Seele aus, in welcher im Grunde der ganze Nachahmungszweck erreicht
ist, der Appell an das Denkvermögen ergehen, sich alle jene „Lehren“
zu eigen zu machen, welche nach J. Grimms schönem Ausdruck daraus
„hervorquellen“ und zwar nach allen Seiten, keineswegs erschöpft durch
„die Enge der Affabulation“.

Genau so steht es mit Lessings zweitem Beispiel: „„Der Hirsch [164]
betrachtet sich in einer spiegelnden Quelle; er schämt sich seiner
dürren Läufte und freuet sich seines stolzen Geweihes. Aber nicht
lange! Hinter ihm ertönet die Jagd; seine dürren Läufte bringen ihn
glücklich ins Gehölze, da verstrickt ihn sein stolzes Geweih: er wird erreicht.““
Lessing fügt hinzu: „Auch hier sehe ich keine Unternehmung,
keine Absicht. Die Jagd ist zwar eine Unternehmung, und der fliehende
Hirsch hat die Absicht, sich zu retten; aber beide Umstände gehören
eigentlich nicht zur Fabel, weil man sie ohne Nachteil derselben weglassen
und verändern kann. Und dennoch fehlt es ihr nicht an Handlung.
Denn die Handlung liegt in dem falsch befundenen Urteile des
Hirsches. Der Hirsch urteilet falsch und lernet gleich darauf aus der
Erfahrung, daß er falsch geurteilet habe. Hier ist also eine Folge
von Veränderungen, die einen einzigen anschauenden Begriff
in mir erwecken.
─ Und das ist meine obige Erklärung der Handlung,
von der ich glaube, daß sie auf alle guten Fabeln passen wird.“ Nur
in dem „falschen Urteile“ des Hirsches soll die Handlung liegen? Dann
würde die Fabel weiter nichts zeigen, als daß ein jeder Jrrtum schädlich
ist, und im Grunde auch das nicht einmal, denn das Geweih würde
den Hirsch ebenso verstrickt haben, wenn er in betreff seiner richtig geurteilt
hätte. Lessing hat sich durch die dürre Kürze des Fabel-Lemmas
irreführen lassen; obwohl selbst dieses die Züge der eigentlichen Handlung,
gerade wie im ersten Falle, nicht unangedeutet lassen konnte. Jenes
„falsch befundene Urteil“ ist ja nur das begleitende Ergebnis einer
„Unternehmung“, welche ihrerseits völlig aus der freien „Wahl“ des
Hirsches hervorgeht und auch keineswegs ohne „Absicht“ geschieht; und
noch mehr, gerade diese „Unternehmung“ ist die vorzügliche Ursache, daß
jenes „falsche Urteil“ für den Hirsch verhängnisvoll wird. Er „betrachtet
sich in einer spiegelnden Quelle“: es ist etwas Anderes als ein
Zufall, es ist eine „Handlung“ der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit,
welche ihn vor diesem Spiegel festhält und ihn zu dem falschen Urteil
über den Wert seiner äußeren Vorzüge und zu der Mißachtung seiner
wahren Kräfte verführt. Diese „Handlung“ wird sein Verderben, denn
sie läßt ihn die gewohnte Vorsicht vergessen, mit der er sonst den Feind
aus der Ferne wittert und sich beizeiten den verachteten „dürren
Läuften“ vertraut; nun ist es zu spät und bei der hastigen Flucht bringt
ihn gerade der Gegenstand seines eitlen Stolzes zu Fall.

Es ist für den Erzähler keineswegs gleichgiltig, ob er den Fabelstoff
so ansieht oder in der Weise, wie es von Phädrus und Lessing geschehen;
während hier die Darstellung, dürftig genug, auf nichts hinausläuft als
den kahlen „Erfahrungssatz“:

[165]
Laudatis utiliora quae contemseris

Saepe inveniri,

nötigt die Auffassung des Fabelstoffs als „wirkliche Handlung
dazu, jene Momente des durch sich selbst bestimmten Willens und
charakteristischen Entschließens und Thuns mit ihren Folgen zu lebendiger
Wirksamkeit zu bringen, d. h. mit andern Worten: episch zu erzählen,
wobei dann jede äußerlich hinzugefügte Nutzanwendung überflüssig wird,
ja vom Uebel, da sie den Kreis der durch die „Handlung“ in Bewegung
gesetzten Gedanken auf einen einzigen Punkt einschränkt, sei derselbe auch
immerhin der wesentlichste.

Lessing selbst hat sich nicht enthalten können, seiner Theorie einen
Zusatz anzuhängen, welcher genau betrachtet den Keim ihrer Auflösung
enthält. „So viel ist wahr“, sagt er, „wenn aus einem Erfahrungssatz
unmittelbar eine Pflicht, etwas zu thun oder zu lassen, folget, so thut
der Dichter besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz
in seiner Fabel ausdrückt. ─ „„Groß sein ist nicht immer
ein Glück.““ ─ Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen,
möchte kaum möglich sein. Die Fabel von dem Fischer, welcher nur
der größten Fische habhaft bleibet, indem die kleineren glücklich durch
das Netz durchschlupfen, ist in mehr als einer Betrachtung ein sehr mißlungener
Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter die Wahrheit von
dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein
nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück, und wehe dem, der
wider seinen Willen groß ward (─ es mag gleich hier eingeschaltet
werden: also doch ohne seine „Wahl“ und wider seine „Absicht“ ─),
den das Glück ohne sein Zuthun (also ohne eine „Unternehmung
seinerseits) erhob, um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen!
Die großen Fische mußten groß werden, es stand nicht bei ihnen, klein
zu bleiben. Jch danke dem Dichter für kein Bild, in welchem ebenso
viele ihr Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen
Umständen unzufrieden machen, und hier macht er doch, daß es die
Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Großsein, sondern die
eitle Begierde, groß zu werden (κενοδοξίαν) sollte er uns als eine
Quelle des Unglücks zeigen. Und das that jener Alte, der die Fabel
von den Mäusen und Wieseln erzählte. „„Die Mäuse glaubten, daß
sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln unglücklich wären,
weil sie keine Heerführer hätten, und beschlossen, dergleichen zu wählen.
Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und
wie teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln
banden sich Hörner auf,

[166]
─ ─ ─ ut conspicuum in praelio

Haberent signum, quod sequerentur milites,

und diese Hörner, als ihr Heer dennoch wieder geschlagen ward, hinderten
sie, sich in ihre engen Löcher zu retten;


Haesere in portis suntque capti ab hostibus;

Quos immolatos victor avidis dentibus

Capacis alvi mersit tartareo specu.““

„Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es aber anders geworden
als dadurch, daß der Dichter die Moral bestimmter und fruchtbarer
angenommen hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln
Größe und nicht die Größe überhaupt zu seinem Gegenstande gewählet;
und nur durch dieses Bestreben, durch diese eitle Größe ist natürlicherweise
auch in seine Fabel das Leben gekommen, das uns so sehr
in ihr gefällt.“

Aber ist es denn wahr, daß nun in dieser Fabel „eine Pflicht
ausgedrückt ist statt eines Erfahrungssatzes?“ Liegt die Sache
nicht vielmehr so, daß eine „Moral“, die Vorschrift einer „Pflicht
auch hier erst durch einen Akt unseres subjektiven Denkvermögens gefolgert
werden muß, und daß objektiv in der Erzählung nichts dergleichen
enthalten ist, sondern, ganz wie in der ersten, ein einfacher
Erfahrungssatz? Nur daß der erste auf die Beobachtung einer einfachen
Thatsache
sich gründet, der zweite auf die Beobachtung einer
Handlungsweise? Lessing hat sich, wie mehrfach in den Fabel=
Abhandlungen, dieser handgreiflichen Erkenntnis verschlossen, weil die
Ueberzeugung von der Unumstößlichkeit seiner irrigen Grundanschauung
zu fest in ihm war. Der Unterschied zwischen der sogenannten Fabel
von den Fischen und der echten Fabel von den Mäusen und Wieseln
ist der, daß die zweite wirkliche Handlung enthält, die erste nicht.
Und es ist überhaupt keine Fabel zu denken, welche nicht eine solche
echte und wirkliche Handlung zum Gegenstande ihrer Nachahmung
hätte. Die Holbergsche Fabel von den Ziegen, welche Lessing so treffend
verurteilt, ist, ganz abgesehen von der Absurdität der Erfindung, hauptsächlich
deshalb verfehlt, weil sie ganz und gar der Handlung entbehrt.
Die Ziegen „thun“ darin nichts, was diesen Namen im entferntesten
verdiente; es heißt zwar von ihnen: „Sie machten dem Teufel so viel
zu thun, daß er sie mit aller seiner Kunst und Geschicklichkeit nicht in
der Zucht halten konnte“, aber damit sind sie eben einfach bei den
Äußerungen ihres natürlichen Jnstinktes geblieben, es ist ihnen nichts
beigelegt, was „Wahl und Absicht“ verriete, sie „handeln“ nicht.

[167]

Daraus geht auch hervor, daß Lessings Einteilung der Fabel falsch
ist: „vernünftige“ Fabeln, „deren Fall schlechterdings möglich
ist
“, kann es nicht geben, oder sie müssen von der Art der Holbergschen
sein. Mag immerhin der Vorgang, den die Fabel erzählt, möglich, ja
direkt der Wirklichkeit entnommen sein, die Art, wie der Fabeldichter ihn
einzig und allein brauchen kann, erhebt ihn in die Sphäre der Freiheit
des Handelns nach bestimmter Absicht und bewußter Wahl; damit „erhöht
der Fabeldichter die Eigenschaften seiner handelnden Personen
(sofern sie nämlich Tiere sind, und nur die Tierfabel trägt den
Namen der Fabel mit Recht) in jedem Falle, gleichviel ob er seine Tiere
reden läßt oder nicht, er legt ihnen immer Reflexionen und Beweggründe
nach dem Maßstabe menschlicher Vernunft und Ethik bei, was mehr ist
als äußere Sprache und ohne innere Sprache nicht zu denken. Nach
Lessing müßten daher wenigstens die Tierfabeln samt und sonders
zu der von ihm als „hyperphysisch“ bezeichneten Gattung gerechnet
werden. Mit wenigen Worten ließe sich der Beweis an den von Lessing
als „vernünftige“ Fabeln citierten Beispielen aus dem Äsop: „Der
Hund und der Gärtner“, „Der Schäfer und der Wolf“ ebenso führen,
wie er vorhin an der Fabel „Die zwei kämpfenden Hähne“ geführt ist;
überall würde die Fabel erst dadurch ihren Sinn erhalten, daß das darin
erzählte Bezeigen der Tiere zur „Handlung“ erhoben, d. h. als aus
freier Wahl und bewußter Absicht hervorgehend gedacht würde; die
beiden andern Beispiele, welche Lessing anführt: „Der Vogelsteller und
die Schlange“ und „Der Hund und der Koch“, sind gar keine Fabeln,
sondern lediglich „Histörchen“, bei denen dasjenige, was den Tieren
zugeschrieben wird, ebensogut durch irgend einen ganz mechanischen Zufall
geschehen könnte, und von denen das letzte obenein auf ein bloßes Wortspiel
hinausläuft.

Unter allen Fabeln Lessings ist nur eine einzige, welche nach
seiner Definition der „vernünftigen“ Fabeln dieser Gattung zuzurechnen
wäre: es ist „Der Falke“;1 sie war im ersten Teile seiner Schriften
1753 gedruckt, von ihm in die Sammlung seiner Fabeln aber nicht
aufgenommen. Jn der That ist die Erfindung derselben so kahl und
matt als der darin enthaltene „allgemeine Satz“: „des einen Glück ist
in der Welt des andern Unglück,“ zur „anschauenden Erkenntnis“ gebracht
durch den Vorgang, daß ein Falke, im Begriff, auf ein Taubenpaar
zu stoßen, unter demselben einen Hasen bemerkt und diesen statt
jenes zur Beute erwählt. Trotzdem der Dichter einiges hinzugethan hat, [168]
was genau genommen die Darstellung schon über das einfach „vernünftige“
Niveau hinaushebt ─ das „unschuldige“ Taubenpaar wird in den „vertrautesten
Kennzeichen“ der „Liebe“ gestört, „schon gurrten sich die zärtlichen
Freunde ihren Abschied zu“ ─, so liegt doch das Wesentliche
des Vorganges nicht hier, sondern in dem Benehmen des Falken. Nun
fehlt es demselben zwar keineswegs an „Wahl und Absicht“, das Raubtier
zieht die größere Beute der kleineren vor, aber diese Handlung ist
so eng in die Grenzen des rein tierischen Jnstinkts eingeschlossen, daß
die poetische Nachahmung ihren Zweck, das innere Handlungsmoment
in einer der menschlichen Seele entsprechenden Weise lebendig in uns
zu erwecken, verfehlt. Diese Lessingsche Fabel ist ebenso schlecht wie
jene Hagedornsche, welche Lessing gleichwohl für seine Theorie als
Beispiel verwendete: „Ein Marder fraß den Auerhahn, den Marder
würgt' ein Fuchs, den Fuchs des Wolfes Zahn.“

Erst wenn die Handlungen der Tiere nach menschlicher Weise in
die Sphäre des Bewußtseins erhoben werden, sind sie ein Stoff für die
Dichtung. Wie anders nimmt sich der Grundgedanke der Hagedornschen
Pseudo-Fabel in der Behandlung des Burkhard Waldis aus, wo der
Hecht, der es unternimmt, die in seinem Binnengewässer unbestrittene
Schreckensherrschaft nun auf das weite Meer auszudehnen, an dem Hay
auf der Stelle seinen Meister findet, oder selbst in Pfeffels „Stufenleiter“,
die mit ihrem Refrain „du bist mein, denn ich bin groß und
du bist klein,“ der kahlen Thatsache, daß die schwächeren Tiere von
stärkeren gefressen werden, erst das Motiv einsetzt, wodurch die lediglich
allegorische Bedeutsamkeit in unmittelbare Wirksamkeit verwandelt
wird. Denn so unbestreitbar Lessing darin recht hat, daß der
Satz „Der Schwächere wird gemeiniglich ein Raub des Mächtigeren“
durch jene Hagedornsche Fabel nicht allegorisch, sondern direkt
ausgedrückt wird, so schief und schielend ist die Anwendung, welche er
von diesem Schlusse auf die Theorie der Fabel macht. Gewiß „hieße es
die Worte auf eine kindische Art mißbrauchen“, wollte man sagen,
daß dieser „einzelne Fall“ eine Allegorie „jenes allgemeinen Satzes“
sei; aber ebenso gewiß ist es ein kindischer Mißbrauch der Fabel ─ dessen
sich Lessing, wie oben gezeigt, auch nicht schuldig machen wollte ─ einen
Satz, den uns die Natur alle Tage und allenthalben und unmittelbar
vor Augen führt, nun noch durch eine Fabel, bei der also doch von
„Erfindung“ keine Rede sein kann, „zur anschauenden Erkenntnis“ bringen
zu wollen. Eine solche Fabel enthielte nichts weiter als die Darstellung
eines natürlichen Gesetzes in einem einzelnen Vorgange; wie wenn man
behaupten wollte eine Fabel gedichtet zu haben, wenn man den Satz: [169]
Gelegenheit macht Diebe“ etwa in folgender Weise der Anschauung
vermittelte: „Ein Rabe flog zur Winterszeit durch die verödeten Gärten,
um sich seine kärgliche Nahrung mühselig hier und dort unter dem
Schnee und Eis hervorzukratzen. Da erblickte er im Hause des Gärtners
durch das geöffnete Fenster ein Stück fetten Käses auf dessen Tisch, welches
jenem zum Frühstück dienen sollte. Eilends flog er hinzu, ergriff es und
trug es in sein Nest.“ Die „Fabel“ ist aus, denn der allgemeine Satz
ist hinreichend illustriert; aber wer möchte solche Trivialitäten als Tierfabeln
anerkennen?

Es ist Lessings Beachtung entgangen, daß alle derartigen Vorgänge
aus dem Naturreiche, wie er selbst sie für die Fabel verwertet
wissen will, an und für sich einer moralischen Bedeutsamkeit
völlig entbehren, daß sie also direkt und unmittelbar jene „allgemeinen,
moralischen Sätze“ auch schlechterdings nicht anders veranschaulichen
können, als insofern dieselben den bloßen Verstand angehen,
d. h. insofern sie nichtmoralische“ Sätze sind, sondern rein wissenschaftliche
Gesetze und thatsächliche Beobachtungen. Ethische Bedeutsamkeit,
seelisches Jnteresse, Wirkung auf unsere Gemütskräfte können rein
tierische Vorgänge und Bezeigungen immer erst durch eine Übertragung
erhalten, welche auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit moralischen Handlungen
vorgenommen wird, also durch Allegorisierung.

Wir gelangen also zu dem doppelten Schluß, daß eine sogenannte
vernünftige“ Fabel einen „moralischen“ Satz niemals direkt darstellen,
sondern immer nur allegorisch andeuten kann, daß sie also
unter allen Umständen eine schlechte Fabel sein muß, daß dagegen die
echte Tierfabel unter allen Umständen eine wirkliche Handlung enthalten
muß, und demgemäß die handelnden Tiere nicht anders als zu
wirklichen Personen, d. h. zu Wesen mit freiem Wollen und
bewußten Absichten, erhöht vorgestellt werden dürfen. Daraus ergibt
sich ferner, wie oben gezeigt, daß die echte Fabel nicht von einem allgemeinen
Satz ausgeht, zu dessen Erweis sie einen einzelnen Fall erdichtet,
und daß sie einer besonderen Affabulation nicht bedarf, sondern daß sie
von einem Vorgange der Tierwelt aussetzt, sei dieser Vorgang nun
ein wirklicher oder im Charakter individuellen Tierlebens erdacht, und
daß ihre Aufgabe darin beschlossen ist, denselben in der
Form einer Handlung zum Gegenstande der Nachahmung
zu machen.

Die Fabel ist also eine epische Dichtung, d. h. die Nachahmung
einer Handlung durch die Erzählung einer Handlung.

Damit wäre ihre Gattung bezeichnet: wodurch aber unter= [170]
scheidet sie sich der Art nach von den übrigen der Epik
zugehörigen Dichtungen?

So sehr sich Lessing dagegen sträubt, so liegt der spezifische
Unterschied der Fabel dennoch darin, daß in ihr Tiere die handelnden
Personen
sind. Die Anwendung der Tiere in der Fabel ist
keineswegs nur ein Mittel, um dem Fabeldichter seine Aufgabe zu erleichtern,
auf welches er nach Gefallen auch Verzicht leisten darf, sondern
sie ist eine ihr durchaus wesentliche Eigentümlichkeit, ohne welche sie
nicht gedacht werden kann; und wenn Lessing als die Vorteile der
Verwendung der Tiere in der Fabel vor allem die „allgemein bekannte
Bestandheit ihrer Charaktere
“ anführt, wodurch umständliche
Berichterstattung vermieden und die eigentümliche, bezeichnende
Kürze dieser Gattung allein ermöglicht wird, ferner „das Vergnügen
der Vergleichung“ und endlich, daß dadurch die „Erregung der Leidenschaften“
ausgeschlossen werde, so trifft das Alles zwar zu, aber das
Wesen der Sache ist damit doch noch nicht ausgesprochen.

Die Beantwortung der Frage nach diesem „Wesen der Sache“,
d. h. die Angabe der inneren Gründe, warum die Fabel auf die epische
Nachahmung von Handlungen der Tiere eingeschränkt sein muß, wird
freilich hier noch nicht erledigt werden können. Sie ist nicht anders zu
lösen, als im Zusammenhange einer Erörterung der gesamten Mittel,
mit denen die Poesie an die Nachahmung von Handlungen überhaupt
heranzugehen vermag, und der verschiedenen Arten, wie sie dieselben
verwendet, sei es in Mythe, Sage, Märchen oder in den verschiedenen
Gattungen des Epos und des Dramas. Um die Darstellung nicht zu
unterbrechen, bleibt diese letzte Frage der Fabeltheorie einer späteren
Erörterung vorbehalten.1

Die Gesetze jedoch für die Form und Vortragsweise der Fabel
ergeben sich schon hier; zugleich die Gründe ihres in absteigender Linie
erfolgten Entwicklungsganges.

Der echten Tierfabel wohnt die Frische, Fülle und Wärme inne,
welche mit der relativen Vollständigkeit der Nachahmung innerer Handlung
notwendig verbunden ist; nun war aber eine allmähliche Entartung
dieser echten Tierfabel unvermeidlich. Wie nahe liegt die Umwandlung
des ästhetischen Urteils in ein Verstandesurteil, und wie natürlich mußte
sich die Anwendung einzelner Züge der Fabel auf Verhältnisse des
Lebens ergeben, um durch das darin enthaltene Beispiel praktische
Erfahrung und nützliche Lehre anschaulich zu machen und zur Erkenntnis [171]
zu bringen! Wie unmittelbar mußte aus solcher Nutzanwendung die
satirische Vergleichung der Tiere und ihres Treibens mit wirklichen
Verhältnissen und Personen folgen! Auf diese Weise erhielt die Fabel
eine neue Gestalt: sie wurde didaktischen und satirischen Zwecken unterthan
gemacht; und eine neue Verwendung: sie wurde ein wirksames
Kunstmittel der Rhetorik. Auf ihre äußere Form übte dieses neue Gestaltungsprincip
die Wirkung, daß aus der Nachahmung der Handlung
alles entfernt werden mußte, was nicht dem Erkenntniszweck des Erfahrungs=
oder Lehrsatzes dienstbar oder was nicht der satirischen Tendenz
förderlich war: sie mußte also in ungebundener Rede auftreten und auf
die knappste Kürze reduciert werden, da ohne Zweifel der Erkenntniszweck
am besten erreicht wird, wenn nichts als das für ihn Wesentliche mitgeteilt
wird.

Dies ist das Wesen und die Form der sogenannten äsopischen
Fabel. Für sie hat also die Lessingsche Definition eine gewisse Berechtigung;
aber man vergesse nicht, doch nur insofern, als diese
äsopische Fabel eben ihrer Form nach nicht mehr zur Poesie
gehört.
Jnsofern umgekehrt selbst dieser Form der echten Fabel unzerstörbar
ein poetischer Kern innewohnt ─ eben das Element der
inneren Handlung, in welchem ihr Wesen beruht ─ trifft die Lessingsche
Definition aber ebensowenig zu, als sie die poetische Form der Fabel
ahnen läßt. Diese Definition läßt sich allenfalls den vorhandenen guten
äsopischen Fabeln anpassen, aber ganz ebenso den allerschlechtesten, seichtesten
Erfindungen, sie trifft das Wesen der Sache so wenig, daß sie
diejenigen, welche sie zur Richtschnur nähmen, nicht vor den gröbsten
Mißgriffen schützen würde.

Überall steht in der Tierdichtung das epische Element, ihre eigentliche
Kraft, mit dem lehrhaften und satirischen in umgekehrtem Verhältnis.
Jn voller Frische und epischer Breite, in ihrer ganzen ursprünglichen
Naivetät und gegenständlichen Bestimmtheit hat sich die Tiersage nur
im Mittelalter ausgestaltet, vor allem in unserem deutschen „Reineke“;
die Satire hat hier nur in ganz geringem Maße und völlig episodisch
Eingang gefunden. Dagegen herrscht in den nachgeahmten Kunstdichtungen
des sechzehnten Jahrhunderts, eines Spangenberg und Rollenhagen,
schon das umgekehrte Verhältnis; das Ganze ist von lehrhaft allegorischer
Tendenz beherrscht und nicht selten überwuchert das gelehrte, didaktischsatirische
Beiwerk auch die epische Darstellung des Einzelnen. Jn der
eigentlich sogenannten Tierfabel ist die epische Haltung, die, im Mittelalter
z. B. bei Boner, für diese Dichtnngsart die herrschende ist, auch
noch im sechzehnten Jahrhundert bei einem Erasmus Alberus und [172]
Burkhard Waldis anzutreffen. „Nach dem Mittelalter,“ so heißt
es in der schon mehrfach citierten Abhandlung von Jakob Grimm, „hörte
die Forterzeugung der echten Tierfabel auf, es blieben nur noch schwache,
in didaktische oder allegorische Form übergehende Nachbildungen des
alten Stoffes zurück. Jn dieser Hinsicht darf für eine schädliche Folge
der Bekanntschaft mit der klassischen Litteratur gelten, daß Äsop und
Phädrus allmählich die einheimische Fabel verdrängen konnten und auf
die Ansicht der Schrifsteller einwirkten.“ Für Frankreich und einen
großen Teil des achtzehnten Jahrhunderts hindurch auch für Deutschland
wurde in der Folge das Beispiel Lafontaines bestimmend. „Wenn
schalkhafter Witz, frivole Anspielung auf den Weltzustand, epigrammatische
Wendung in der Tierfabel an ihrer Stelle sind, so muß er ein trefflicher
Fabulist heißen. Aber selbst einzelne naive Züge, die ihm allerdings
noch zu Gebote stehen, können nicht die verlorene Einfalt des Ganzen
ersetzen; er ist ohne epischen Takt, und viel zu sehr mit sich beschäftigt,
als daß er bei der Entfaltung des alten Materials, welches er oft zu
Grunde richtet, verweilen wollte. Jene Eigenschaften thun daher nicht
selten eine widerwärtige, störende Wirkung, die sättigende Fülle der
wahren Tierfabel hat er nie erreicht. Seine leichte, gewandte Erzählungsgabe
soll nicht verkannt werden, aber von der äsopischen Natürlichkeit,
selbst der phädrischen Präcision ist er absichtlich gewichen, um in einem
freien und losen Versmaß die Arbeit nach dem Geschmack seiner Zeit
aufzuheitern (égayer l'ouvrage).“

Derjenige, welcher nach ihm den stärksten Einfluß auf die Gestaltung
der Fabel ausgeübt hat, ist Lessing. Trotzdem die Naivetät der
Erfindung seinen Fabeln fehlt und sie nach seiner ausgesprochenen Absicht
vor allem die Erkenntnis einer Wahrheit bewirken sollen, hat sich bei
ihnen das dichterische Vermögen ihres Erfinders stärker erwiesen als seine
Theorie: ganz im Widerspruche zu derselben enthalten nicht wenige von
ihnen ihrem Kerne nach das wesentliche Merkmal der epischen Poesie,
die unmittelbar auf die Empfindung einwirkende Handlung, wenn sie
auch nicht dichterisch, sondern rhetorisch von ihm gestaltet und vorgetragen
sind. Nichtsdestoweniger sind nur einzelne darunter, welche noch als
echte Tierfabeln gelten könnten, und diese sind ausschließlich in engster
Anlehnung an äsopische Muster entstanden. Die Mehrzahl entfernt sich
von dem Wesen der Fabel und bildet den Übergang zu einer andern
poetischen Gattung oder gehört derselben geradezu an.

Oft genug liegt in einem bloßen Ausspruch eine Handlung, und
Lessing irrt, wenn er die Fabel des Phädrus (lib. 1, 10) vom Affen
als Richter im Rechtsstreit des Wolfes und Fuchses als Beispiel für [173]
den Beweis benutzt, daß die Fabel der vollständigen Handlung nicht
bedürfe. Die Handlung ist vollständig: sie liegt in dem Schiedsspruche
des Affen, daß Fuchs und Wolf gleiche Lügner und Spitzbuben seien,
also das Zeugnis des einen gegen den anderen nichts gelte:


Tu non videris perdidisse, quod petis;

Te credo surripuisse, quod pulchre negas.

Die Handlung ist ebenso abgeschlossen, wie in Pfeffels Fabel der Streit
des Ochsen und des Esels, „wer am meisten Weisheit hätte“, durch den
Richterspruch des Löwen: „Jhr seid alle beiden Narren“ sein Ende findet.
Aber die Handlung beruht in beiden Fällen keineswegs nur auf dem
„sinnreichen Einfall“ des Urteilenden, sondern zu ihrem wesentlichsten
Teile auf der Natur des Streites der handelnden Tiere, der zu demselben
die Veranlassung gibt.

Aber gerade das umgekehrte Verhältnis findet bei einem großen
Teil der Lessingschen Fabeln statt; sie enthalten eben nur einen sinnreichen
Ausspruch, der einem Tiere in den Mund gelegt ist, ohne daß
eine Handlung von Tieren oder mitunter auch überhaupt eine Handlung
als Anlaß vorliegt. So z. B. III, 15 „Die Eiche“. „Was für
ein Baum!“ ruft der Fuchs, da er die gestürzte Eiche ansieht und die
Verwüstungen, die sie im Falle angerichtet, „hätte ich doch nimmer gedacht,
daß er so groß gewesen wäre.“ Oder der Fuchs findet die Larve
eines Schauspielers (II, 14): „Welch ein Kopf! Ohne Gehirn und mit
einem offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen
sein?“ Ebenso II, 17: „Der Fuchs sah, daß der Rabe die Altäre
der Götter beraubte und von ihren Opfern mitlebte. Da dachte er bei
sich selbst: Jch möchte wohl wissen, ob der Rabe Anteil an den Opfern
hat, weil er ein prophetischer Vogel ist, oder ob man ihn für einen
prophetischen Vogel hält, weil er frech genug ist, die Opfer mit den
Göttern zu teilen.“ Das gleiche Verhältnis oder doch das ähnliche, daß
einer an sich gleichgültigen Tierhandlung durch eine geistreiche Wendung
ein tiefer Sinn untergelegt wird, waltet sehr vielfach ob; so z. B. in
I, 16 „Die Wespen“, I, 17 „Die Sperlinge“, I, 18 „Der Strauß“,
I, 22 „Die Eule und der Schatzgräber“, I, 24 „Merops“, II, 25 „Der
wilde Apfelbaum“, II, 27 „Der Dornstrauch“, III, 2 „Die Nachtigall
und die Lerche“, III, 12 „Der Strauß“, III, 13, 14 „Die Wohlthaten“,
III, 23 „Die Maus“, III, 25 „Der Adler“, III, 26 „Der junge und
der alte Hirsch“, III, 29 „Der Adler und der Fuchs“, III, 30 „Der
Schäfer und die Nachtigall“.

Diese Beobachtung führt zu einem Resultat, welches, trotzdem es [174]
durch die obigen Ausführungen vorbereitet ist, etwas Überraschendes
enthält: ein großer Teil der Lessingschen Fabeln beruht auf dem Element,
welches er selbst mit der größten Entschiedenheit aus der Theorie
der Fabel ausgewiesen hat, auf der Allegorie.

Niemand wird der sarkastischen Glosse des Fuchses über den an
den Opferspenden sich nährenden Raben (II, 17) einen selbständigen, in
dem Leben der Tiere miteinander begründeten, Sinn zuschreiben; ihre
Bedeutung erhält die angebliche Fabel schlechterdings erst durch die in
die Augen springende Ähnlichkeit des Raben mit einem sportelsüchtigen
Schwarzrock, auf den dann der satirische Zweifel des Fuchses ohne weiteres
Anwendung findet. Handgreiflich liegt die Sache ebenso in III, 15 „Die
Eiche“ und II, 14 „Der Fuchs und die Larve“. Lessing irrt sich in
der Fragestellung, wenn er es einen kindischen Mißbrauch der Sprache
nennt, die allegorische Ähnlichkeit darin finden zu wollen, daß
man einmal ein begriffliches Verhältnis an einem einzelnen Falle beobachtet
und das andere Mal es allgemein und abstrakt erkennt. So
verfährt man freilich bei jedem Gleichnis, jeder Allegorie, jeder Parabel.
Und doch beruhen sie alle auf vorhandener Ähnlichkeit der Subjekte
und ihrer Prädikate, an und in denen das begriffliche Verhältnis sich
manifestiert. Das Entscheidende für die Allegorie ist, daß durch diese
Ähnlichkeit eine konkrete Darstellung geeignet wird an die Stelle einer
anderen oder einer Begriffsdarstellung zu treten, so daß sie für sich
allein noch nicht volle Geltung hat, sondern dieselbe in dem ganzen
Umfange, der ihr zukommt, erst durch die hinzutretende Deutung erlangt.
Die Bezeichnung der Larve als Kopf ohne Gehirn mit offenem
Munde ist die einfache Allegorisierung eines Schwätzers; daß ein Fuchs
die Larve findet und die Allegorie ausspricht, macht aus der Allegorie
keine Fabel. Ebenso ist auch die Geschichte vom Fuchs und der Eiche
nur scheinbar eine Fabel, obwohl hier doch wenigstens dem Charakter
des Fuchses ein Anteil an der Handlung zufällt; dennoch würde auch
diese Erfindung ohne die allegorische Deutung, welcher man beim ersten
Hören sofort inne wird, gänzlich unbedeutend sein. Desto vortrefflicher
ist sie als Allegorie, sie spricht für sich selbst und so that Lessing recht,
die in den „Schriften“ hinzugefügte Deutung wegzulassen:


Jhr, die ihr, vom Geschick erhöht,

Weit über uns erhaben steht,

Wie groß ihr wirklich seid, zu wissen,

Wird euch das Glück erst stürzen müssen.

Die beiden Schemata, wie das eine im ersten und zweiten Beispiele
vorliegt, das andere im dritten, wiederholen sich sehr vielfach: die Alle= [175]
gorie wird entweder geradezu, sei es als Monolog, sei es als Gespräch,
irgend welchen einigermaßen dazu qualifizierten Tieren, mitunter auch
unbelebten Dingen in den Mund gelegt, oder sie wird durch dieselben
gewissermaßen als lebendes Bild oder auch als kleine Scene vorgeführt.
Merops, „mit dem Schwanz voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt,
in die Luft steigend“ ─ eine Allegorie „des Menschen, der gar zu gern
den Himmel erfliegen möchte, ohne die Erde auch nur einen Augenblick
aus dem Gesichte zu verlieren“: das Bild beschreibt ein Adler, ein Uhu
gibt die Deutung (I, 24). Eine Allegorie auf „die heutigen Jtaliener,
die sich nichts Geringeres als Abkömmlinge der alten unsterblichen Römer
zu sein einbilden, weil sie auf ihren Gräbern geboren wurden“, wird
durch einen Wespenschwarm in Scene gesetzt, der aus einem verwesten
Rosse hervordringt und sich seines hohen Ursprungs rühmt (I, 16). Der
mit ausgespannten Fittigen am Boden dahinlaufende Strauß: „Ein
poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den ersten Zeilen ihrer
ungeheuren Oden mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und
Sterne zu erheben drohen und dem Staube doch immer getreu bleiben“
(I, 18).

Eine Reihe vortrefflicher Allegorien, aber keine Fabeln! Vortrefflicher
Allegorien! Das will sagen, lebensvoller Erfindungen, nicht toter
Schildereien. Auch die Allegorie ist eine poetische Darstellung, und zwar
ihrem Namen entsprechend durch das Mittel der Erzählung; selten
hat es Lessing versäumt ─ freilich immer im Widerspruch zu seiner
Theorie ─ durch Erdichtung innerer Handlung seinen Allegorien das
poetische Leben zu verleihen. Mit welcher skrupulösen Sorgfalt, mit
welchem meisterlichen Geschick ist er überall zu Werke gegangen! Der
mit ausgespannten Flügeln laufende Strauß wäre freilich nur ein Bild
gewesen, aber Lessing gibt dem Bilde das innere Leben, indem er seinen
Strauß handeln läßt: er leiht ihm die Absicht zu fliegen und läßt
ihn diese Absicht feierlich und wiederholt ankündigen ─ „das ganze
Volk der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt“ ─
und er läßt ihn dann „gleich einem Schiff mit ausgespannten Segeln
auf dem Boden dahinschießen, ohne ihn mit einem Tritt zu verlieren“.
Eine treffende und höchst lebendige Allegorie, aber alles Leben der Handlung
ist auf Veranlassung der vorschwebenden Deutung in sie hineingelegt:
eigenes, episches Leben, wodurch die tierische Handlung durch
sich selbst ergriffe, besitzt sie keines.

Die Allegorie vermag in den unscheinbarsten Vorgang den tiefsten
Sinn zu legen. Eine alte Kirche wird ausgebessert, die Sperlinge finden
ihre Nester vermauert und fliegen davon: durch die Gesinnungsweise, [176]
die er ihnen dabei unterlegt, macht der Dichter daraus eine unübertreffliche
Satire auf jede Art der kleinlichen Jnteressiertheit und des
engherzigen Partikularismus: „Zu was, schrieen sie, „taugt denn nun
das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!“

So erweckt ihm der Dornstrauch die Vorstellung neidischer Böswilligkeit,
aber dieser Gedanke wird zu einer kleinen allegorischen Erzählung
verarbeitet, in welcher die beiden Attribute auf das Kunstreichste
in Handlung und Gesinnung umgesetzt sind, um so die würdigen Gegenstände
poetischer Nachahmung zu werden. „Aber sage mir doch, fragte
die Weide den Dornstrauch, warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden
Menschen so begierig bist? Was willst du damit? Was können
sie dir helfen? Nichts! sagte der Dornstrauch. Jch will sie ihm auch
nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.“

Einem Einwande wäre hier freilich noch zu begegnen. Lessing hat
es ja selbst zugegeben, daß die zusammengesetzte Fabel eine Allegorie
des wirklichen Vorfalles wäre, auf den sie angewendet würde. Nun kann
aber jede Fabel durch Hinzufügung eines wirklichen analogen Falles zur
zusammengesetzten werden; es wäre also eine jede Fabel an sich zwar
keine Allegorie, eine jede aber würde es im Moment ihrer praktischen
Anwendung. Wenn man nicht die Begriffe in ihrer Eigentümlichkeit sich
aufheben lassen will, so kann das doch nur heißen: die echte Fabel ist
wie jede andere epische Erzählung der gelegentlichen Anwendung
auf analoge wirkliche Fälle fähig, aber der begriffliche Unterschied zwischen
ihr und der Allegorie ist der, daß die letztere eigens und nur zu
diesem Zwecke erfunden ist; und zwar wird dieselbe einer um so häufigeren
Anwendung fähig sein, je allgemeiner die Subjekte und Prädikate des
Verhältnisses sind, für welches ihr Erfinder sie eintreten läßt. Daher
kommt es, daß sie mit besonderem Glücke sich der Typen aus dem Tierreiche
bedienen wird und daß ihr charakteristische Erscheinungen aus der
unbelebten Körperwelt unter Umständen ebenso brauchbar sind, weil sie
mit den Beziehungen, die ihnen eigen sind, leicht für allgemeine Begriffe
und deren Verhältnisse gesetzt werden können.

Jn manchen Stücken, in denen Lessing die Konstituierung einer
wirklichen Handlung weniger gelungen ist, tritt diese vorzügliche Eignung
der Tiere für den allegorischen Gebrauch dennoch so sehr hervor, daß
man, dadurch getäuscht, leicht sich verleiten läßt, sie für wirkliche Fabeln
zu nehmen. So in dem zwölften Stücke des dritten Buches: „Der
Strauß
“ (III, 12). „Das pfeilschnelle Renntier sah den Strauß und
sprach: Das Laufen des Straußes ist so außerordentlich eben nicht; aber
ohne Zweifel fliegt er desto besser. Ein andermal sah der Adler den [177]
Strauß und sprach: Fliegen kann der Strauß nun wohl nicht; aber ich
glaube, er muß gut laufen können.“ Hierin ist nichts enthalten als
ein Doppelurteil über die Natur des Straußes, welches durch die antithetische
Form satirisch=komische Färbung gewinnt, welches aber seine
Existenz wie seine Formulierung lediglich erhalten hat, um allegorisch
den Sinn darzustellen, daß mancher den Ruhm der Virtuosität in zwei
Künsten zugleich genießt, ohne sie in einer zu besitzen, indem die Meister
einer jeden ihn als der andern angehörig betrachten. Diese geistreiche
Erfindung Lessings ist das Prototyp einer Menge von Nachahmungen
und Variationen, aber sie ist so wenig eine Fabel wie das bekannte ihr
nachgebildete Witzwort auf einen modernen Dichter-Komponisten: er sei als
Komponist größer als Goethe und als Dichter größer als Beethoven;
und doch würde auch dieses, in Erzählungsform gebracht, allen Anforderungen
von Lessings Fabeldefinition entsprechen.

Der seltenste Fall bei Lessing ist der, daß seiner Allegorie der erforderliche
Grad von Aehnlichkeit mit dem zu Grunde liegenden Sinne,
also die Deutlichkeit mangelt. Dunkel ist nur die „Tiresias“ überschriebene
Erdichtung (II, 29). Wenn es sich darin nur um die Auffassung
von der Heiligkeit eines Ortes, oder der Heiligkeit überhaupt,
handelte, daß es weibisch, unverständig sei, berechtigte Äußerungen der
Natur als derselben widersprechend zu bekämpfen, daß aber männliche,
werkthätige Bekämpfung der Zwietracht sich sehr wohl mit ihr vertrage,
so läge darin weder besonderer Tiefsinn noch wäre die allegorische Einkleidung
glücklich und treffend gewählt, auch wären dann verschiedene
nähere Umstände, wie der dreifache Kreuzweg, die ominöse Zeitbestimmung
von neun Monaten, überflüssig und störend; liegt der Sinn aber tiefer,
so ist er allerdings so sehr verborgen, daß das Ganze kaum noch als
Fabel gelten kann, sondern als eine tiefsinnige allegorisch=symbolische
Dichtung bezeichnet werden muß.

Jn dem Falle, daß man sich zu der durch den Sprachgebrauch
allerdings nahe gelegten Auffassung verleiten läßt, die Verwandlung
des Tiresias in ein Weib als die Strafe für eine „weibische“ Handlungsweise
zu betrachten und demgemäß seine Rückverwandlung als den
Lohn „männlichen“ Handelns, müssen alle Deutungsversuche scheitern.
Noch weiter freilich führt die von dem Recensenten Lessings in der
Bibliothek der sch. W. u. fr. K. (Bd. 7, St. 1, S. 33 ff.) gegebene Andeutung
ab, der die Erklärung in der Fortsetzung der Geschichte bei Hyginus
findet: Eodem tempore inter Jovem et Junonem fuit jocosa altercatio,
quis magis de re venerea voluptatem caperet, masculus an
femina: de qua re Tiresiam judicem sumpserunt, qui utrumque erat [178]
expertus
. Nichts kann weiter von der schmutzigen Spur, auf welche
diese alberne mythologische Anekdote führt, abliegen, als der edle und
große Sinn, den Lessing in der alten griechischen Fabel zu entdecken
und durch geistreiche Behandlung daraus zu gestalten wußte. Allerdings
ist er dabei über die Grenzen seiner eigenen Fabeltheorie weit hinausgegangen.


Der göttlich=weise Seher ist erhaben über jede Einseitigkeit des
Empfindens und Denkens, er schaut in aller Menschen Brust und Herz,
vermag mit jedem mitzufühlen, die Götter ließen ihn, den Mann, auch
des Weibes Zustand durch eigene Erfahrung kennen lernen. Dieses
Moment, welches bei Hyginus zum Anlaß einer vulgären Travestie benutzt
ist, erkannte Lessing in seiner vollen Bedeutung und vertiefte es
zum Symbol eingreifender und entscheidender Entwickelung der Gesinnung
und Handlungsweise auf dem wichtigsten Lebensgebiete.

Die erste Handlung stellt den gotterfüllten Seher dar, wie er in
dem heiligen Haine eine That vollführt, die der fromme Eifer ihm als
religiöses Gebot erscheinen läßt, die aber dem reinen menschlichen Gefühl
als ein Akt grausamer Jntoleranz und einer die Gesetze der Natur verletzenden
Härte sich kund thut. Durch ein Wunder setzt die Gottheit
ihn in einen Stand, der ihm nicht allein erlaubt, sondern ihn unmittelbar
dazu hinführt, sein Beginnen allein aus dem Gesichtspunkt warmen und
reinen Empfindens zu betrachten: aus dem eifernden Gottesmanne wird
ein Weib! Und um symbolisch anzudeuten, welche unwiderstehlich und
gewaltig wirkenden Kräfte zur Sänftigung und Läuterung echt menschlichen
Gefühls in dem Begriff der „Weiblichkeit“ liegen, läßt der Dichter
ihn einen Zeitraum in dieser Hypostase verharren, welcher die Erfüllung
der höchsten Naturbestimmung des Weibes, Empfangen und Gebären,
umschließt.

So wird der Seher mit geklärter, erhöhter und unendlich erweiterter
Gesinnung zum zweitenmal in dem heiligen Hain einer Probe seiner
Handlungsweise gegenüberstellt: „an eben dem Orte, wo die drei Wege
einander durchkreuzten,“ ist ein ergrimmter Kampf entbrannt; aber aus
dem zornigen Hüter der Tempelsatzungen ist ein kraftvoller Friedensstifter
geworden, der statt das Sakrilegium zu rächen, die Kämpfenden
scheidet. Ein neues Wunder wandelt ihn wieder zum Manne, der nun
erst der wahrhaft „Weise“ ist.

Sollte man zu weit gehen, in der zweimal wiederholten genauen
Bezeichnung des „Ortes in dem heiligen Haine, wo drei Wege
einander durchkreuzten
“, noch eine tiefere Beziehung zu finden?
Sollte der Dichter mit dem heiligen Haine auf das religiöse Gebiet, [179]
mit den drei sich durchkreuzenden Wegen auf drei Konfessionen, mit dem
ersten Teil seiner Fabel auf den heiligen Eifer gegen die Vermischung
der verschiedenen Konfessionen in der Ehe, mit dem zweiten auf das
Eintreten einer friedestiftenden Toleranz in ihrem Streite gedeutet haben?
Wenigstens läge eine so vertiefte Auffassung nicht allein ganz in dem
spezifisch Lessingschen Gedankenkreise, sondern sie geht aus der Form, die
er seinem Stoff gegeben, zwanglos hervor. Der heilige Charakter des
Handelnden und des Schauplatzes seiner doppelten Handlung verweist
auf das religiöse Gebiet: was soll und kann denn der so absichtsvoll
betonte
Umstand, daß die verliebten und die kämpfenden Schlangen
auf jenem dreifachen Kreuzwege sich begegnen, anders bedeuten, als daß
sie eben von verschiedenen Seiten des heiligen Haines, also des Religionsgebietes,
herkommend am Kreuzungspunkte ihrer Wege sowohl
zur Liebesvereinigung als zur Befehdung sich zusammenfinden? Und
wahrlich auf kein geringeres Ziel durfte Lessing die Symbolisierung seines
Mythus hinausführen: der spezifischen Manneskraft gesellt sich die spezifische
Weibesart, dem Feuereifer rascher Sühne vermeinter Gottesverletzung
die „ewig=weibliche“, thätig versöhnende Kraft der Liebe; ihre
Vereinigung ist Toleranz, als das Kennzeichen der Gesinnung und des
Handelns des echten Gottesmannes, des wahren Sehers!

Und noch ein Umstand tritt in diesem kleinen Kunstwerk hervor,
welches die Vorzüge Lessingscher Darstellung, Fülle tiefer Gedanken und
knappste Kürze, so schön in sich verbindet. Das Wunder der Verwandlung
ist im Grunde der Ausdruck einer einfachen und natürlichen psychologischen
Thatsache: in tiefen und reich ausgestatteten Gemütern ist gerade
die Ausübung einer That, die ein irre geleitetes Erkennen im Widersteit
gegen die Natur befiehlt, oft der Anlaß einer plötzlichen und entscheidenden
Umwandlung der Gesinnung zur ursprünglichen Weichheit und Kraft
reinen, menschlichen Empfindens. ──────


XII.

Sehr treffend bemerkt Jakob Grimm, daß die Tierfabel schon von
ihrem eigentlichen Charakter abwich, sobald sie, was sehr frühe geschah,
unter dem Gesichtspunkte der Lehre angesehen und „bei wirklichen Vorfällen
als Gegenstück erzählt wurde, um aus ihr in schwieriger Lage des
menschlichen Lebens eine triftige Nutzanwendung zu schöpfen“. Bei der
Erzählungsweise, die ihr dann eigen wird, urteilt er, „ist der Erfolg
der Fabel dem des Sprichworts oder der Parabel vergleichbar, wie [180]
denn auch diese Benennung selbst auf die Fabel übergeht und der Ursprung
der altdeutschen Ausdrücke bispel oder biwurti ganz eine solche
Beziehung verrät“.

Wenn man die Lessingsche Fabeldefinition beibehält, dürfte es ganz
unmöglich sein, die Grenzlinie zwischen ihr und der Parabel zu ziehen;
denn daß die Unterscheidung, welche Lessing selbst gelegentlich in den
Fabel-Abhandlungen festsetzt und die von da ab bis heute in den Lehrbüchern
festgehalten wird, falsch ist, läßt sich leicht zeigen. Er setzt den
Unterschied der Parabel von der Fabel in ihr Verhältnis zur Wirklichkeit:
„Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel bestehet, muß als
wirklich vorgestellt werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit
desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel“.1 Das wäre also
ein lediglich formaler, ein äußerlicher Unterschied, der durch die geringfügige
Veränderung des Präsens in das Präteritum schon fast ganz beseitigt
würde; von einer inneren Wesensverschiedenheit wäre da keine
Rede. Aber widerspricht nicht sogar in diesem einzigen angeblich differierenden
Punkte die Praxis ganz augenscheinlich dem Lessingschen Satze,
und sogar Lessings eigene Praxis? Wer wird in Zweifel stellen, daß
Nathans Erzählung von den drei Ringen eine Parabel ist, und zwar
ein Muster dieser Gattung? Und doch ist in ihr ein „einzelner Fall
als „wirklich“ vorgestellt, welcher „eine allgemeine moralische Wahrheit
zur anschauenden Erkenntnis bringt“; also nach Lessings Theorie hat
Nathan eine Fabel erzählt. Ganz ebenso müßte die Gleichnisrede des
Evangeliums „Es ging ein Sämann aus zu säen“ und alle ähnlichen,
in denen ein Vorgang im Präteritum erzählt wird, schlechterdings in
die Kategorie der Fabel gerechnet werden. Das wäre ein Unding. Der
Unterschied muß tiefer und im Wesen der Sache begründet liegen, aber,
soweit ich sehe, ist der Versuch dieser Unterscheidung nicht gemacht worden.2

[181]

Jnsofern wird Lessing recht behalten, als offenbar der Begriff der
Parabel (παραβολή) in seiner eigentlichen und weitesten Bedeutung,
d. i. einer ausgeführten Gleichnisrede ─ die also im Unterschiede
von der Metapher ein selbständiges Ganze für sich zu bilden
fähig ist ─ auch die Darstellung eines bloß als möglich gedachten Falles
einschließt: Note: 181.001ff. implizites Werk: Lessings Abhandlung über die Fabel (vgl. Fn. 2 auf S. 162) Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen (über die Fabel) https://textgridrep.org/browse/-/browse/rjf5_0 aber die Erzählung desselben als eines wirklichen Falles ist
diesem ihrem Begriff so wenig fremd, daß sie vielmehr ein notwendiges
Erfordernis ihrer Form wird, sobald dieselbe von ihrer Umgebung sich
loslöst und als selbständiges Ganzes auftritt, sobald sie also zu einer
selbständigen epischen Dichtungsart wird. Als solche allein aber kann
sie mit der Fabel in Parallele gestellt werden, nicht als inhärierender
Teil einer rhetorischen oder lehrenden Darstellung.

Die unterscheidende Eigentümlichkeit der parabolischen
Erzählung ergibt sich von selbst aus dem Wesen der Vergleichung.

Alle echt epische Dichtung stellt ihren Gegenstand, die
Handlung, um ihrer selbst willen dar: wenn aus ihrer Wirkung auf
die empfindende Wahrnehmung, die Aisthesis, sich Urteile des Erkenntnisvermögens
ableiten lassen, so ist dies eine aus der Natur des epischen
Stoffes von selbst hervorgehende Wirkung der demselben innewohnenden
Kraft. Alle aus jeder Art epischer Poesie gezogene Nutzanwendung oder
Lehre ist ihr nur per accidens eigen (nach der Aristotelischen Terminologie
ein συμβεβηκὸς καθ' αὑτό, ein an derselben seiner Natur
nach Stattfindendes); niemals aber bildet der Gedankeninhalt das prius,
das Vorausgehende, sondern immer der Stoff der Handlung; das die
Erfindung bewirkende Vermögen erhält den bewegenden Anlaß von der
sinnlichen Anschauung, nicht vom Jntellekt.

Der entgegengesetzte Fall ist der der Parabel. Während jede
epische Handlung, und so auch die der Fabel, zunächst ihren Bestand für 2 [182]
sich hat und eben darum nun auch mit wirklichen menschlichen Handlungen
in Vergleich gestellt werden kann, empfängt die Handlung
der Parabel erst aus dieser Vergleichung ihren Ursprung.

Hier ist das Vorausgehende das Ding der Wirklichkeit, für welches eine
Vergleichung gesucht wird oder unter Umständen sich von selbst darbietet;
und zwar liegt es im Wesen der Vergleichung, daß sie ohne eine vorausgehende
Thätigkeit des urteilenden Verstandes nicht vor sich gehen kann.
Alle Ähnlichkeit findet nur in Bezug auf einzelne und einseitig
ins Auge gefaßte Beschaffenheiten der verglichenen Dinge statt, und
zwar müssen dieselben, wenn der Vergleich treffend sein soll, die wesentlichen
und hervorstechenden sein: die wesentlichen bei dem wirklichen
Dinge und die hervorstechenden bei der Darstellung des zum
Vergleich erdichteten oder herangezogenen. Der Vorgang, welcher der
Erdichtung einer Parabel vorausgeht, muß also dieser sein: es muß
zuerst ein Erkenntnisurteil über das Wesen des wirklichen Dinges vorhanden
sein, um die wesentliche Beschaffenheit desselben festzustellen, mag
es nun die Form eines Beobachtungs=, Erfahrungs- oder Lehrsatzes
haben; sodann muß an die Phantasie der Auftrag ergehen, die Wahrheit
dieses Erkenntnisurteiles oder die Verkehrtheit seines
Gegenteils zu einem Gegenstande des unmittelbaren Empfindungsurteiles,
des ästhetischen Urteiles zu machen. Das geschieht,
indem sinnliche Gegenstände so ausgewählt oder erdichtet und derart in
Handlung gesetzt werden, daß eine zwar äußerliche aber desto hervorstechendere
Ähnlichkeit zwischen ihnen und denjenigen wesentlichen
Beschaffenheiten des wirklichen Dinges, auf denen das Erkenntnisurteil
beruht, dieser nachgeahmten Handlung nun die gewünschte Kraft verleiht:
in Übereinstimmung mit den Resultaten des maßgebenden Erkenntnisurteiles
die unmittelbaren Empfindungen des Wohlgefälligen,
welche eine Billigung desselben, und des Lächerlich-Verkehrten,
welche eine Verwerfung seines Gegenteiles einschließen, hervorzubringen.
Somit ist also die Parabel:

die durch Erzählung bewirkte Nachahmung einer Handlung,
welche durch ihre äußere hervorstechende Ähnlichkeit
mit der inneren wesentlichen Beschaffenheit wirklicher
Verhältnisse über deren Richtigkeit oder Verkehrtheit die
Empfindungen des Wohlgefälligen und des Lächerlichen
hervorzurufen geeignet ist.

Denn diese Empfindungen sind es, auf denen das billigende oder
verwerfende ästhetische Urteil beruht; je nach dem Gegenstande aber, der
sie erregt, können sie mit einem unendlich verschiedenen Jnhalte erfüllt [183]
sein. Es ist vollkommen irrig, wie öfters geschehen ist, zu behaupten,
die Parabel habe es im Gegensatze zur Fabel mit sogenannten „höheren
Wahrheiten“ zu thun: nach ihrem Wesen, wie es vorstehend definiert
ist, stehen ihr alle Kreise und Verhältnisse des menschlichen Lebens offen,
sobald man für eine an ihnen gemachte Beobachtung, eine daraus gewonnene
Einsicht oder Erkenntnis jedweder Art einer Vergleichung bedürftig
ist. So kann also, je nach der Natur des Gegenstandes, das
Verkehrte darin als lächerlich oder auch als mißbilligungswert entschieden
hervortreten, oder es kann durch die Würde und Wichtigkeit des Urbildes
der Vergleichung die Empfindung so erhoben werden, daß die vis comica
der Erscheinung des Verkehrten fast ganz aufgehoben wird und kaum
ein leises Lächeln das Empfindungsurteil begleitet, während die komplementäre
Empfindung des Wohlgefallens an dem Jnhalte des billigenden
Urteiles mit um so größerer Gewalt die Seele bewegt. Dazwischen
liegen unendlich verschiedene Abstufungen und Mischungsverhältnisse jener
beiden Hauptempfindungen.

Als Beispiele der ersten Art kann manches gelten, was Goethe
unter der Gesamtbezeichnung „Parabolisches“ in die Sammlung seiner
Gedichte aufgenommen hat ─ (nicht alle dort aufgenommenen Stücke
sind jedoch Parabeln) ─ so die Gedichte: „Recensent“, „Dilettant
und Kritiker
“, „Pfaffenspiel“, „Die Freuden“; auch Gellerts
Die beiden Wächter“ wäre hierher zu rechnen, da man der Handlung
dieses Gedichtes doch schwerlich eigene Geltung zuschreiben, sondern
sie nur als zur Vergleichung erfunden ansehen wird. Mittlere Stufen
nehmen ein Gellerts vortreffliche Dichtung „Die Reise“, Chamissos
Kreuzschau“, Rückerts „Parabel“ vom „Mann im Syrerland“.
Zu der zweiten Art endlich gehören Stücke wie Lessings Prosa=„Parabel“
vom Palaste (im Anti-Goeze) und Nathans Erzählung von den
drei Ringen.

Es dürfte nicht überflüssig sein durch einen genaueren Nachweis zu
zeigen, daß selbst hier, wo der Gefühlseindruck des Erhabenen so stark
vorwiegend ist, gerade so wie überall in der Parabel, die hervorgebrachte
Wirkung zum ebenso wesentlichen Teile auf der negativen Empfindung
des Lächerlichen beruht, nur daß man sich gewöhnen muß, diesen Begriff
so weit zu fassen, daß er die lebhafte Empfindung des Verkehrten in
ihrer ganzen Ausdehnung umschließt, sofern sie sowohl von der Empfindung
des Widerwärtigen als des Empörenden oder Furchtbaren frei ist.
Die Sprache hat für diese Empfindung keinen andern Namen als den
des Lächerlichen, d. h. das zum Lachen Anlaß gibt; es ist damit
keineswegs gesagt, daß dieses Lachen nun auch zum Ausbruch kommen [184]
muß: wenn die gegenüberstehende positive Empfindung, die bei jeder
Art des Lächerlichen mitwirkend vorhanden ist, bedeutungsvoll und hoch
geartet entweder an sich selbst, oder es nach der subjektiven Gefühlsweise
des Empfindenden in überwiegendem Grade ist, so mindert sie den thatsächlichen
Ausbruch des Lachens zum Lächeln herab oder unterdrückt ihn
ganz. Daher kommt es auch, daß, obwohl das „Lächerliche“ ein
objektiv feststehender, und seiner Natur nach allgemein gültiger Begriff
ist, das „Lachen“ selbst als eine so gänzlich subjektive Erscheinung auftritt:
der sittlich höchststehende Mensch, bei dem die positiven Empfindungen
am stärksten vorwalten, „lacht“ am wenigsten, der Ungebildete,
bei dem sie am schwächsten sind, am leichtesten; am vielen Lachen erkennt
man den Narren! Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht bei dem
geistig und sittlich am höchsten Stehenden die „Empfindung des
Lächerlichen
“, und zwar die unfehlbar richtige, nichtsdestoweniger in
jedem Falle unmittelbar in der lebhaftesten, entschiedensten und sichersten
Weise sich einstellen muß.

Die Parabel von den drei Ringen ist nach allen Seiten vorzüglich
geeignet die Wahrheit dieser Sätze zu bezeugen; wiewohl an einer jeden
wohlgelungenen Parabel derselbe Nachweis sich führen läßt.

Die Erkenntnis, welche Lessing zu der Erfindung der Gleichnisrede,
welche er seinem Nathan in den Mund legt, bewegte, ist diese: das
Wesen und somit die Wahrheit der Religionen läßt sich
nicht sowohl an der Form ihrer Lehren und Gesetze oder der
Beglaubigung ihrer Überlieferung erweisen, als an der
Wirkung, die eine jede in ihren Trägern hervorbringt.
Diesen
Satz, dessen Erweis vor dem Tribunal der abstrakten Erkenntnis mit tausend
Einwürfen den Kampf aufnehmen muß, galt es dem unmittelbaren, einfachen
und seiner selbst gewissen Urteilsspruch der Empfindung zu unterwerfen.
Dazu mußte er in der Form vor ihr erscheinen, in der allein
er ihr wahrnehmbar und verständlich werden kann: in sinnfälliger
Gestaltung. Die Aufgabe war also, konkrete Gegenstände zu erfinden,
deren hervorstechende äußere Eigenschaften sie geschickt machten, durch vollkommene
Ähnlichkeit mit den Subjekten des Satzes und ihren Attributen
und Prädikaten an deren Stelle zu treten. Es bot sich ihm dazu
die Erzählung Boccaccios von Melchisedek und Saladin dar. Jn Boccaccios
Parabel tritt jedoch nur die eine Hälfte von Lessings Satz hervor:
der Vater macht zu dem echten Ring, welcher das Vorherrschaftsrecht
gewährt, zwei täuschend ähnliche, d. h. der Vorrang der drei Religionen
ist nach ihrer äußern Form und ihrer Ueberlieferung nicht zu entscheiden.
Die wesentlichere Hälfte fehlte; denn Lessing war nicht der Mann, sich [185]
bei einer solchen Frage mit dem Resultat der Unlösbarkeit zu begnügen.
Freilich offenbarte er in der Art seiner Lösung die großartige Unbefangenheit
seines Standpunktes, indem er durch seine Umgestaltung
von Boccaccios Parabel dem echten Ringe die Zauberkraft beilegte durch
seine Wirkung sowohl nach außen als nach innen auf seinen
Träger, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser
Zuversicht ihn trug“. So hatte nun seine Erfindung die genugsam
hervorstechende Ähnlichkeit mit der wesentlichen Beschaffenheit
seiner Ansicht von dem wahren Sachverhalt, um im Verlaufe der erdichteten
Handlung die bestimmte und sichere Empfindung zu erzeugen, wie verkehrt
und lächerlich es sei, auf die richtige äußere Gestalt des Ringes
─ obwohl er einen köstlichen Edelstein umschloß, „der hundert schöne
Farben spielte“ ─ und die Unverdächtigkeit seiner Überlieferung zu
pochen und dabei die Hauptsache ganz zu vergessen, daß das allerwesentlichste
Zeugnis seiner Echtheit ja doch in seiner offenkundigen und mit
allüberzeugender Kraft sich kundthuenden Wirkung gegeben sein müßte.
Der entscheidende Moment für die Empfindung des Hörers ist die
Wendung des Rechtsstreites, da der Richter die Wucht dieses Umstandes,
welcher das vermeintliche Recht aller streitenden Parteien in Unrecht
verwandelt, in seinem Urteile geltend macht: „Nun, wen lieben zwei
von euch am meisten? Macht, sagt an! Jhr schweigt? Die Ringe
wirken nur zurück? und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur
am meisten? ─ O so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe
sind alle drei nicht echt.“ Die Wirkung auf das Empfindungsurteil ist
unmittelbar und unwiderstehlich, und wenn die der Empfindungswahrnehmung
des Verkehrten innewohnende Kraft des Lächerlichen durch die
Darstellungsweise so ganz ungenutzt bleibt, daß sie gar nicht einmal aufkommt
─ „Herrlich! herrlich!“ ruft der Sultan aus ─, so liegt das daran,
daß die dramatische Situation und die darin handelnden Menschen im
allerstärksten Maße darauf angelegt sind, die mit der Empfindung des
Verkehrten zugleich sich einstellende positive Empfindung zu erwecken: die
Empfindung des höchsten, die Seele ganz ausfüllenden Wohlgefallens
an der entgegengesetzten Vorstellungsweise mit allen ihren Konsequenzen,
der denn auch sogleich durch den Schluß der Parabel der volle Ausdruck
gegeben wird. Die mächtige Bedeutung des Gegenstandes leidet keine
andere Behandlungsweise, wenigstens nicht in den Händen unseres Lessing!
Aber man denke sich denselben Stoff in die Hand eines Voltaire gegeben,
ob da nicht das Schwergewicht in der Ausführung darauf gefallen
wäre, die lächerliche Wirkung der Empfindung des Verkehrten
herauszuarbeiten! Oder man stelle sich vor, es handle sich nicht um den [186]
Besitz der höchsten Wahrheit, sondern um den Anspruch auf den Vorrang
der Schönheit, der Klugheit, oder der Ehrlichkeit, des Scharfsinns, der
Geschicklichkeit: hier allenthalben würde, mit um so minderer Wucht die
positiven Empfindungen auftreten, umsomehr die des Lächerlichen frei
werden.

Weit entschiedener schon kommt diese Wirkung in der Lessingschen
„Parabel“ vom „Palaste im Feuer“ zur Geltung, natürlich abermals
bei der entscheidenden Wendung der Handlung: in der Situation, da
die erschrockenen Wächter des Palastes die vermeintliche Feuersbrunst,
jeder nur nach Maßgabe des von ihm verwahrten Grundrisses, löschen
wollen und in dem ereiferten Streit darüber das brennende Gebäude
selbst ganz vergessen, ist von Lessing mit offenbarer Absichtlichkeit das
komische Element herausgearbeitet, ohne daß er freilich es unterlassen
hätte, der positiven Empfindung sogleich zu ihrem vollen Rechte zu verhelfen.
Dieselbe ist ohnehin in diesem unvergleichlichen Stücke von
vornherein und durchweg auf das lebhafteste angeregt, aber allerdings
nicht in der eigentlichen Handlung, welche hier ganz nach der negativen
Seite gewendet ist, sondern in der derselben vorausgehenden, sowohl
ihrem Umfange als ihrer Bedeutung nach weit überwiegenden Schilderung.
Diese Schilderung des Palastes, der ein Bild der Religion darstellt
─ nicht einer bestimmten Religion, sondern der Religion überhaupt
─ ist in ihrer Art ein unübertroffenes Meisterstück: hier herrscht
die vollkommenste Ähnlichkeit in jedem, auch dem scheinbar unwesentlichsten
Worte der Erzählung, kein Beiwort ist müßig oder zum bloßen
Schmucke gewählt; dennoch liegt gerade in diesem Teil der Erfindung
etwas den Forderungen der Kunst Widersprechendes, entschieden Unpoetisches.
Diese Parabel würde die dichterische Kunstform nicht vertragen;
die Prosaform, welche ihr Lessing gegeben, stimmt ganz zu ihrem
Zweck und Wesen: nicht als schöne Dichtung, sondern als rhetorisches
Kunstmittel,
welches Überzeugung bewirken soll, hat Lessing sie
erfunden. Es war daher kein Fehler, weil mit dem Zwecke der Darstellung
nicht im Widerspruch, daß die Jnstanz, vor der sich jene vollkommene
Ähnlichkeit herausstellte, nicht die unmittelbare sinnliche
Wahrnehmung
ist, sondern der vergleichende Verstand und
das Denkvermögen.
Dieser Palast mit dem unermeßlichen Umfang
und der sonderbaren Architektur, mit den wenigen unregelmäßigen
Fenstern und zahlreichen Thoren und Thüren, durch welche ein jeder
auf dem kürzesten Wege gerade dahin gelangt, wo man seiner bedarf,
mit den zahllosen Gemächern, die alle ihr Licht von oben erhalten, der
mit alle dem dennoch gefällt, durch „die Bewunderung, welche Einfalt [187]
und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten
als zu entbehren scheinen“, ist ein schlechterdings unvorstellbares Ding;
dagegen ist jedes seiner Attribute mit dem höchsten Scharfsinn so ausgewählt,
daß der Verstand mit Sicherheit auf die Vergleichung mit den
entsprechenden wesentlichen Beschaffenheiten des vorschwebenden abstrakten
Begriffes der Religion hingewiesen und das Denkvermögen in den Stand
gesetzt wird, dieselben zu einer fest in sich geschlossenen, einheitlichen
Vorstellung zu verbinden. Was jedoch die sinnliche Anschauung des
gewählten Bildes nicht vermag: zu gefallen und die Seele zu bewegen,
das leistet dieses selbe Bild nun dennoch, nachdem es durch den
Gedanken Erleuchtung und Belebung empfangen hat: es zeigt in einer
Überschau
vereinigt eine Reihe der wesentlichsten Merkmale des Begriffs
─ und zwar nur diese mit Ausschluß aller andern, und zwar
diese nicht nur neben= und nacheinander, sondern in notwendiger
innerer Verbindung
─, welche in dieser Verknüpfung nicht
leicht gedacht und daher weder in ihrer wesentlichen Bedeutung noch
in ihrer engen Zusammengehörigkeit erkannt werden.

Der hier vorliegende Fall ist in hohem Grade geeignet, das Verhältnis,
welches zwischen der Allegorie und der Parabel obwaltet,
klarzulegen.

Die Allegorie ist keine Dichtungsart oder überhaupt eine Kunstgattung,
sondern sie ist eine Darstellungsweise. Für dieselbe ist
noch immer Lessings Definition in Geltung, der seinerseits dem Quintilian
folgte, jedoch nicht ohne dessen Erklärung zu modifizieren. Es
heißt bei Lessing (vgl. Abhandl. über d. Fabel: X. S. 30): „Die
Allegorie sagt das nicht, was sie nach den Worten zu sagen
scheint, sondern etwas Anderes Ähnliches.
“ Das Wort „Ähnliches
hat Lessing dem Vossius entlehnt und als Verbesserung
acceptiert. Er hat jedoch die Worte Quintilians mit einer Freiheit
übersetzt, die in der Mehrzahl der Fälle wohl erlaubt ist, hier aber in
einem wesentlichen Punkte den Sinn verändert. Quintilian sagt:
Ἀλληγορία aliud verbis aliud sensu ostendit.1 Das heißt nicht:
Die Allegorie sagt das nicht, was sie den Worten nach zu sagen
scheint u. s. w., sondern: „sie sagt etwas anderes dem Wortlaute [188]
nach und etwas anderes dem Sinne nach;“ oder freier übersetzt:
„Das Wesen der Allegorie ist, daß bei ihr Wortlaut und Sinn
verschieden
sind, nicht zusammenfallen.“ Es zeigt sich dabei beiläufig
wieder, wie weise Wortsparer die Alten waren, denn der Zusatz
des „simile“ ist, wie jeder sieht, ganz überflüssig. Viel wichtiger aber,
und in der That in vielen Fällen von ganz entscheidender Bedeutung ist
die positive Fassung des ersten Teiles der Definition: Allegoria aliud
verbis ostendit
: die Allegorie „zeigt“ ein Doppeltes, das eine den
Worten, das andere dem Sinne nach. Der große Unterschied ist, daß
durch Lessings Fassung der Definition die selbständige Bedeutung dessen,
was die Allegorie „den Worten nach sagt,“ für alle Fälle negiert wird,
während die Fassung der Quintilianischen Erklärung dem in Wirklichkeit
obwaltenden Verhältnis gerecht wird und außer den Fällen, in denen
der Wortlaut der Allegorie für sich genommen ohne Bestand ist, „das
nicht sagt, was er zu sagen scheint,“ auch alle diejenigen einschließt, in
denen ihr selbständiger Jnhalt auch abgesehen von dem Sinne, den er
außerdem noch vertritt, eine größere Bedeutung oder die volle eigene
Geltung hat: auch hier trifft dann immer noch die Definition der Alten
zu ─ ἄλλο λέγον τὸ γράμμα άλλο τὸ ωόημα ─, aliud verbis aliud
sensu ostendit
.

Nichts Geringeres aber hängt von dieser Unterscheidung ab als die
Frage, ob die allegorische Darstellungsweise in der Kunst
erlaubt oder aus derselben zu verbannen sei.
Die Allegorie
nach Lessings Definition ist schlechthin unpoetisch und überhaupt unkünstlerisch.
Wenn sie „das nicht sagen muß, was sie zu sagen scheint,
sondern nur etwas Ähnliches“ ─ und man kann Lessing schwerlich
anders verstehen ─, so geht bei einer solchen Darstellungsweise die sinnliche
Wahrnehmung leer aus, oder doch sie wird nur in Dienst genommen
um dem Verstande ein Material vorzulegen zu dessen Beschäftigung; ob
sie sich des Wortes oder der malerischen und plastischen Nachbildung
bedient, sie bleibt ästhetisch immer indifferent und hat ihre Bedeutung
nur als rhetorisches Kunstmittel oder als Mittel für Kultus- und verwandte
rituale Zwecke.

Ganz anders liegt die Sache, wenn in den Begriff der Allegorie
auch der zweite Fall eingeschlossen wird, daß der Jnhalt der allegorischen
Darstellung zunächst seinen Bestand für sich hat, von allen andern Darstellungsweisen
sich aber dadurch unterscheidet, daß er auf einen von
diesem Jnhalte an sich verschiedenen Sinn hinweist ─ aliud sensu
ostendit
. Jn diesem Falle kann die Kunst sehr wohl von der Allegorie
Gebrauch machen, sie hat von jeher der Anwendung derselben viele ihrer [189]
schönsten Wirkungen verdankt und wird sich ihres Rechtes auf dieselbe
nie begeben; natürlich unterwirft eine jede Kunst die allegorische Darstellungsweise
den in ihrem Bereiche herrschenden Gesetzen.

Für die Poesie sind diese Gesetze aus dem Gesagten leicht zu entwickeln.
Die allegorische Darstellungsweise gibt das, was sie darlegen
will, durch Darstellung eines Andern zu erkennen. Sie thut also weiter
nichts, als was jede bildliche Ausdrucksweise thut, nur daß sie ihrem
Namen, der eine erzählende Darstellungsweise bedeutet, gemäß sich
nicht begnügt, etwa für einen einzelnen Begriff ein ähnliches konkretes
Ding zu setzen, sondern daß sie die Beziehungen und gegenseitigen Einwirkungen
der Begriffe untereinander durch in Handlung gesetzte Dinge
und Wesen darzustellen weiß. Bei diesem Verfahren können nun nach
entgegengesetzten Seiten sehr schlimme Fehler gemacht werden, und sie
sind von den Geistern niederen Ranges, sobald sie sich an die Allegorie
wagten, auch regelmäßig gemacht worden. Da es nämlich bekanntlich
schon schwer ist, in der Rede gute Bilder anzuwenden, da die Durchführung
derselben in der Allegorie aber noch unendlich viel schwieriger
ist, weil treffende Ähnlichkeit sich hier noch viel schwerer festhalten läßt,
so sind die meisten entweder bei einer halben oder nur stellenweise
zutreffenden Ähnlichkeit stehen geblieben und in Folge dessen undeutlich
geworden: d. h. das von ihnen angewandte Mittel trat mit
dem abstrakten Zweck in Widerspruch, sie schufen also ein Häßliches;
oder ─ und dies ist das Häufigere ─ sie ließen den Sinn, den sie
darstellen wollten, in der Weise über die konkreten Mittel der Darstellung
die Herrschaft gewinnen, daß ihre handelnden Wesen und Dinge ihre
Freiheit verloren, d. h. nicht sprachen, handelten, sich gebärdeten, wie es
ihnen ihrer Natur und den vorausgesetzten Verhältnissen gemäß zukam,
sondern wie es durch ein ganz außerhalb liegendes Gesetz, eben das des
in der Jntention des Dichters liegenden abstrakten Sinnes, ihnen diktiert
wurde. Damit wurde aber diese ganze Klasse von Dichtungen der
Sphäre der Kunst völlig entrückt. Nur im Reiche vollkommener Freiheit
und höchster innerer Richtigkeit und Wahrheit gedeiht das Schöne.
Jn jenen fehlerhaften Allegorien regiert überall die verstimmende,
fremdartige Absicht des Quasi-Dichters.

Es ist aber offenbar ein dritter Fall übrig: es ist der, wenn Bild
und Sinn, im Einzelnen und in der Ausführung, durch eine vollkommene
Ähnlichkeit sich fortwährend völlig decken. Der Dichter wählt oder
erfindet seine Dinge und Wesen und ihre Veränderungen, welche die
Handlung bilden, so, daß sie mit sich selbst und untereinander in völliger
Übereinstimmung bleiben und, was mehr ist, daß die Nachahmung der [190]
Handlung an und für sich ästhetisch zu wirken, d. h. unmittelbar die
Empfindung zu erregen vermögend ist. Das was er gibt, muß an sich
selbst in Form und Jnhalt allen Forderungen des Kunstwerks entsprechen.
Dazu kommt nun aber ein „Anderes“: der Dichter hat diesmal nicht
die Absicht, die hervorgerufene Empfindung auf den Jnhalt des „dem
Wortlaute nach“ Dargestellten sich beschränken zu lassen, sondern sein
Zweck ist, „dem Sinne nach“ derselben eine viel weitere Ausdehnung zu
geben. Jhm selbst hat bei jedem einzelnen Teile, bei jeder Fortschreitung
seiner Handlung ein Paralleles, aber Höheres, Jdeelles vorgeschwebt.
Die große, überall vorhandene Ähnlichkeit kann nicht umhin, dem Hörer
sofort sich darzubieten, der nun fortan des doppelten Vergnügens genießt,
an der Anmut der dargestellten Dinge selbst sich zu erfreuen und
mit immer wachsender Teilnahme zugleich des inneren Zusammenhanges
einer bedeutenden Gedankenreihe in echt poetischer Weise, d. i. durch
unmittelbar sich einstellende und mit Gewißheit urteilende Empfindung,
sich bewußt zu werden. Der höchste Zweck der Dichtung wird damit
erreicht: in der Schönheit der angeschauten Dinge, die den Sinnen erscheint,
die höhere Ordnung der geistigen Welt, „in leichten Rätseln“
vorgeführt, zu empfinden.

Die erste Forderung an die Allegorie ist also, daß die Ähnlichkeit
zwischen dem Wortlaut und dem Sinne deutlich und in allen ihren
Teilen unverkennbar sei; dieses Gesetz gilt für jede Allegorie: während
aber für die Allegorie, sofern sie nur auf die Überzeugung zu wirken
bestimmt ist, es genügt, daß diese Ähnlichkeit vorhanden ist, sei es auch,
daß ihr Jnhalt nur im Hinblick auf ihren Sinn erfunden ist und für
sich keinen Bestand hat, ist das höchste Gesetz für die künstlerische
Allegorie,
daß sie durch ihren Jnhalt schon die Empfindungen erweckt,
welche sie hervorrufen will, daß sie aber durch eine vollkommene Ähnlichkeit
dieselben auf ein unmittelbar sich darbietendes Höheres, Allgemeineres
sich erweitern läßt.

Die Beispiele finden sich bei unsern besten Dichtern zahlreich und
es ist oben aus einem andern Gesichtspunkte schon auf einige derselben
hingewiesen: die schönsten bei Goethe, wie „Mahomeds Gesang,
Seefahrt,“ „Deutscher Parnaß,“ „Magisches Netz,“ „Lilis
Park
“ und viele andere, ferner bei SchillerDie Teilung der
Erde,
“ „Das Mädchen aus der Fremde“ u. s. f.

Danach läßt sich nun das Verhältnis der Allegorie zur Parabel
ermitteln. Ohne das allegorische Element läßt sich keine Parabel denken,
aber die Stufe ihres poetischen Wertes bestimmt sich nach der Art, wie
sie dasselbe verwendet: ob sie sich der unkünstlerischen, lehrhaften Allegorie [191]
bedient oder der poetischen, ob ihr Jnhalt eigenen Bestand und selbständiges
Jnteresse besitzt oder nicht. Jn dem einen Falle ist die Parabel
vorwiegend didaktisch, im andern eine echte Dichtung; natürlich sind vermittelnde
Übergänge, Vermischungen beider Arten vorhanden, wie
Lessings antigoezische „Parabel“ davon ein Beispiel ist. Dabei bleibt
aber zwischen der Parabel und der allegorischen Dichtung ein spezifischer
Unterschied bestehen: die Parabel als Dichtungsgattung hat immer
zum Zweck das Wahre oder Verkehrte des der Vergleichung zu
Grunde liegenden Sinnes durch die von ihr nachgeahmte
Handlung unter der Form des Wohlgefälligen oder Lächerlichen
dem Empfindungsurteil vorzuführen;
bei ihr ist also der
Gegenstand Handlung, sie gehört der epischen Gattung zu; die
Allegorie, als selbständige Dichtungsweise, hat einfach den Zweck
durch treffende Ähnlichkeit ihrer Erfindung mit den wesentlichen
Merkmalen ihres Sinnes denselben überhaupt die
Macht über die Empfindung zu verleihen;
ihr Gegenstand ist
also Empfindungserregung, die Handlung ist ihr nur ein Mittel
dazu; sie gehört somit der lyrischen Gattung zu. Man wird nicht
zweifeln, Gedichte wie „Mahomeds Gesang,“ „Seefahrt,“ „Deutscher
Parnaß,“ oder „Die Teilung der Erde,“ „Das Mädchen aus der Fremde,“
für lyrisch zu erklären, und ebenso wenig sie als Muster allegorischer
Poesie anzuerkennen. Dagegen liegt in den anerkannt besten Parabeln
der epische Charakter klar zu Tage; so in den Lessingschen, in Chamissos
„Kreuzschau,“ in Rückerts „Mann im Syrerland“. Bei Gedichten,
welche bald der einen, bald der andern Gattung zugezählt werden, dürften
in jedem Falle diese Unterscheidungsgründe zu fest bestimmten Urteilen
führen: so trägt z. B. Schillers „Pegasus im Joch“ entschieden den
Charakter der Parabel, es ist eine Handlung erzählt, um das durch
dieselbe hervorgerufene Empfindungsurteil auf das ideelle Verhältnis,
für das sie als Vergleichung dient, zu übertragen; dagegen ist z. B. eine
Dichtung, welche immer als Parabel angesprochen wird, HerdersLicht
und Liebe,
1 ebenso entschieden als bloße Allegorie zu bezeichnen, die
Erdichtung einer Handlung, in deren einzelnen Teilen die Ähnlichkeit
mit der Mosaischen Schöpfungsgeschichte festgehalten ist, wird als Mittel
verwendet, um die Empfindungen des „Lichtes und der Liebe,“ welche
diese Schöpfung erfüllen, lebendig zu machen.

Jn ein Wort zusammengefaßt: die Allegorie ist eine Darstellungsweise,
deren sich, wenn sie den Kunstgesetzen gemäß eingerichtet ist, die [192]
Lyrik sehr wohl bedienen kann; sobald die Epik sich ihrer bemächtigt,
also eine durchweg allegorische Handlung zum Gegenstande der
Nachahmung gemacht wird, so entsteht eine Parabel.

Wie schon gesagt, es hindert nichts, daß sowohl die Allegorie als
die Parabel nicht im vollen Sinne poetisch gestaltet werden könnten:
das wird natürlich am meisten der Fall sein, wo das Bild, die Handlung,
der Jnhalt der Darstellung zuerst in der Phantasie des Dichters
vorhanden war und zu diesem sich ihm durch die vorhandene innere
Ähnlichkeit der entsprechende Sinn einstellte; in geringerem Maße da,
wo zu dem Sinn der Dichter das Bild, die ähnliche Handlung erst
suchen mußte. Allein auch hier kann der Dichter, der die Gesetze seiner
Kunst kennt und sie zu befolgen weiß, die Erinnerung an den Ursprung
seiner Erdichtung aus der Reflexion tilgen und rein poetisch wirken.
Von der ersten Art ist Goethes „Mahomeds Gesang,“ von der zweiten
Schillers „Teilung der Erde“. Ein Unterschied bleibt freilich immer,
und Goethe hat ihn in einem seiner Sprüche scharf gekennzeichnet, und
zwar indem er dabei das Verhältnis seiner eigenen Dichtungsweise zu
der seines großen Freundes speziell im Auge hatte:1 „Es ist ein großer
Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder
im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie,
wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt;
die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes
aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen.
Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine
mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“ Nur ist nicht zu übersehen,
daß hier von Goethe in der letzteren Kategorie zwei verschiedene
Fälle zusammengefaßt sind: „sie spricht ein Besonderes aus,
ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen“: der
erste Fall ist allerdings der aller echten Poesie, sie stellt das Besondere
als typisch für das darin liegende Allgemeine dar; der zweite, wobei
wohl an ein Allgemeines „gedacht wird,“ welches nicht in dem Besondern
selbst liegt, sondern dem dieses Besondere ähnlich ist, ohne daß
durch den Hinweis darauf die Selbständigkeit der Darstellung die
geringste Beeinträchtigung erfährt, ist der Fall der vollendet poetischen
Allegorie.
Sicherlich hat Goethe bei seinem Gedicht „Seefahrt
zunächst an sich selbst „gedacht“, an seinen Eintritt in die Weimarer
Verhältnisse und an die Bedrängnisse und Gefahren jener sturm= und
drangerfüllten Jahre, unter denen er mit festem Zielbewußtsein seine [193]
Persönlichkeit und seine Mission bewahrte; wie oft mag ihm das Bild
der festen Steuerung im Sturm vorgeschwebt haben, zumal bei den Besorgnissen
und Anklagen der Freunde, die so laut und vielfach an sein
Ohr schlugen. Aber ebenso sicher konnte er nicht eher zu der poetischen
Nachahmung der durchlebten Seelenzustände fortschreiten, als bis er sie
bei sich selbst von dem individuell Eingeschränkten und Belastenden losgelöst
und zum Allgemeinen erhoben hatte, das ihm bei seinem Gedicht
vorschwebte, woran er „dachte“, eben in seinem Falle einen
Typus erblickend. Aber durch keinen „Hinweis“ ist die Schönheit des
selbständig durchgeführten Bildes, welches seinem poetischen Auge vorschwebte,
entstellt, und so „schaut“ er in dem Besondern zugleich das
Allgemeine: die ihrer Kraft sichere Zuversicht des höhern und stärkern
Geistes, der aus der schützenden Enge hinaus größern Verhältnissen,
einem weiteren Schauplatze zustrebt, hochgeschwellt die Brust von Hoffnungen,
jauchzend in den ersten glücklichen Erfolgen, den sich türmenden
Hemmnissen mutig und besonnen die Stirn bietend, „treu dem Ziel“
und „seinen Göttern vertrauend.“ Alles dieses ist ausgedrückt in dem
Bilde der Seefahrt. Die Ähnlichkeit, vermöge derer das möglich wird,
liegt in den Empfindungen und Seelenzuständen, die in beiden Fällen
rege werden, und die der eigentliche Gegenstand der poetischen Nachahmung
sind; vermittelst jenes Bildes wird dieser Nachahmungszweck
schneller und leichter erreicht.

Es ist also zwischen der „poetischen Allegorie“ und der
eigentlichen Natur der Poesie“ allerdings noch ein Unterschied,
obwohl in jenem Spruche Goethe beide in ein und dieselbe Kategorie
wirft. Es gibt sogar zwischen beiden noch eine Mittelstufe, welche Goethe
mit dem Namen der symbolischen Poesie bezeichnet, und die keiner
mit der Meisterschaft und mit der Vorliebe gehandhabt hat wie er.

Jn der fünften Abteilung der Sprüche über „Kunst“ lauten die
beiden letzten (Nr. 742 und 743)1 folgendermaßen: „Die Allegorie
verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild,
doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig
zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei.“ „Die
Symbolik verwandelt die Erscheinung in Jdee, die Jdee in ein Bild, und
so, daß die Jdee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar
bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich
bliebe.“

Das ist keine Definition, sondern ein tiefsinniger Spruch, der erst [194]
selbst der Definition bedarf. Gemeinsam mit der Allegorie ist der Symbolik,
daß sie wie jene auf Vergleichung beruht, und zwar auf der Ähnlichkeit
eines Konkreten nicht direkt mit einer andern konkreten Erscheinung,
sondern mit dem geistigen Jnhalt derselben; nun aber tritt für denselben,
wenn er ein Begriff ist, der sich „vollständig aussprechen“ läßt,
die Allegorie ein, die demselben entsprechend ebenso fest begrenzt ist; für
die „unaussprechliche“ „Jdee“ dient die Symbolik zum Ausdruck,
die ihrerseits also auch etwas Unerschöpfliches, Jnkommensurables in
sich trägt.

Die Unterscheidung ist ungemein wichtig und für die Beurteilung
der Poesie und der gesamten Kunst von tief eingreifender und ganz entscheidender
Bedeutung. Aber die sehr große Schwierigkeit liegt darin,
den Unterschied von „Begriff“ und „Jdee“ klar und bestimmt zu definieren.
Goethe hat sich oft und mit besonderer Vorliebe über den Gegenstand
ausgesprochen.

Die Zusammenfassung seiner Meinung enthält wohl, was wir in
den „Sprüchen“ (Natur V, Nr. 1016)1 lesen: „Begriff ist Summe,
Jdee Resultat der Erfahrung; jene zu ziehen, wird Verstand, dieses
zu erfassen, Vernunft erfordert.“ Zur Erklärung dienen zahlreiche andre
Stellen der Sprüche, so Nr. 334:2 „Die Jdee ist ewig und einzig;
daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgethan. Alles, was
wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen
der Jdee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern
ist die Jdee selbst ein Begriff.“ Und Nr. 336: „Die Manifestation der
Jdee als des Schönen ist ebenso flüchtig als die Manifestation des Erhabenen,
des Geistreichen, des Lustigen, des Lächerlichen. Dies ist die
Ursache, warum so schwer darüber zu reden ist;“ in demselben Sinne
ferner Nr. 430:3 „Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar,
wir müssen es aus seinen Manifestationen erraten.“

Die Meinung ist also doch wohl die: der Begriff beruht auf einem
bestimmt formulierten Verstandesurteil, zu welchem wir gelangen, indem
wir in der Summe der gleichartigen Einzeldinge die wesentlichen Merkmale
feststellen, die allen gemeinsam sind, ferner die Merkmale, durch
die sie untereinander oder von verwandten Dingen sich unterscheiden.
Jndem wir mit einer Summe zusammengehöriger oder verwandter Begriffe
ebenso verfahren, steigen wir zu höhern Begriffen auf und von [195]
diesen zu noch weiter umfassenden Gesamtbegriffen. Hier ist überall auf
Erfahrung gegründete Bestimmtheit und Klarheit vorhanden, und der
sprachliche Ausdruck stellt den Gedanken vollständig dar. Jndem wir
nun aber zu den höchsten Vorstellungen vorschreiten, gewahren wir, daß
jene begrifflichen Feststellungen wohl geeignet sind zur Kennzeichnung
und Unterscheidung derselben zu dienen, aber keineswegs vermögend ihr
Wesen zu erschöpfen. Weite Gebiete des Gefühls und auch der Erfahrung
sind der deutlichen Erkenntnis verschlossen, und die Vernunft erkennt
die Existenz und unaufhörliche Wirksamkeit von Mächten an, die
dem Verstande unfaßbar und „unbegreiflich“ sind. So ist gerade die
Thätigkeit des Verstandes, welche die vollständige Summe der Erfahrung
zu Begriffen vereinigt, am besten wirksam zu erweisen, daß
die bessere und größere Hälfte der Erkenntnis darüber hinaus noch übrig
bleibt für die bloßen „Schlüsse“ der Vernunft, für das Urteil der
Empfindung,
und weiter hinaus statt der Erkenntnis für die Ahnung
und den Glauben.1 Daraus ergibt sich, daß, wer diese Thatsache
nicht anerkennt, notwendig auch zu begrifflichem Jrrtum gelangen muß,
eine Beobachtung, der gleichfalls Goethe den schlagenden Ausdruck verliehen
hat: „Wer sich vor der Jdee scheut, hat auch zuletzt den
Begriff nicht mehr.

Die Sprache gibt diesen „Jdeen“ Namen, aber diese Namen bezeichnen
sie nur, ohne daß sie vollständig erklärt werden könnten; auch
kann keine Erfahrung ihnen jemals vollständig entsprechen: sie gehen als
das „Resultat“ aus der Summe der Manifestationen hervor, in denen
ihr Wesen sich offenbart. Da sie aber in ihrem Wesen insofern alle
verwandt sind, als sie alle auf eine gemeinsame Quelle hinweisen, so
gelangt eine konsequente Betrachtung dazu, sich die Jdee überhaupt als
eine „ewige und einzige“ vorzustellen, von der die „einzelnen“ Jdeen,
von denen unser Sprachgebrauch redet, nur die Emanationen sind und
zu der sie immer in Beziehung gedacht werden müssen.

Wenn also das Höchste in den Dingen und ihre eigentliche
Vollständigkeit
niemals begrifflich festgestellt und überhaupt niemals
ganz ausgesprochen werden kann, sondern die Vorstellung davon nur im
Ahnen, Glauben und Fühlen als Thatsache vorhanden ist, so ist es klar, [196]
daß dieses Höchste und die eigentliche Vollständigkeit der Dinge auf keine
andere Weise dargestellt werden kann als durch die Kunst, deren Wesen
es ist, durch die Mittel, welche das ganze Naturreich und
Leben ihr darbietet, den Sinnen sich verständlich zu machen
und dadurch die Nachahmung aller jener Seelenvorgänge
zu bewirken, in denen die
Jdeesich den Menschen kund
thut: Empfindungen, Gesinnungen, Handlungen.

Jn ihren größten wie in ihren kleinsten Hervorbringungen ist dies
das Ziel der Kunst; sie erreicht es dort mit Hülfe einer Fülle von Anschauungen,
hier vermag es der echte Künstler auch mit den geringsten
Mitteln durch jene undefinierbare Zaubergewalt, mit welcher wahres Gefühl
auch immer wieder Empfindung erweckt. Die Poesie, und neben
ihr auch die bildende Kunst, hat aber ein Mittel, auch in kleinem Umfange,
wo die direkte Nachahmung der Empfindung des Jdeellen verwehrt
sein würde, dieselbe auf indirekte Weise zu bewirken: dieses
Mittel ist die Symbolik.

Ein Symbol ist ein konkretes Ding, welches durch ein hervorragendes
Merkmal seiner Beschaffenheit geeignet ist, auf eine Jdee hinzuweisen
und so als Kennzeichen derselben zu dienen; so der Ring, ein
ohne Ende in sich geschlungenes Band, ein Hinweis auf die Treue, die
nicht endet, das Kreuz ein Merkmal des christlichen Glaubens, die Krone
und der Kranz Symbole der Herrschaft und des Ruhmes. Die Gewalt,
mit der die Liebe die Seele ergreift, wird symbolisiert durch den das
Herz durchbohrenden Pfeil; ihre Süßigkeit: die Spitze ist in Honig getaucht;
die Flüchtigkeit der Liebe und ihre wechselnden Launen stellen
geflügelte Amoretten dar. Wie herrlich hat Thorwaldsen die „Alter
der Liebe“ in einem seiner schönsten Reliefs ausgedrückt, ein Meisterwerk
symbolisierender Kunst: die geflügelte Psyche mit dem Amorettenkorbe
neben sich, dessen Deckel ein neugieriges Knäblein lüftet, während
ein halberwachsenes Mädchen mit unschuldiger Zutraulichkeit nach dem aus
dem Korbe sich ihr entgegenhebenden Köpfchen langt; Psychen zu Füßen
kniet eine eben erblühte Jungfrau und empfängt mit in heiligem Enthusiasmus
nach oben gerichtetem Antlitz aus ihren Händen den Amor; in
inbrünstigem Kuß preßt ihn die Neuvermählte an die Lippen, die werdende
junge Mutter, in sinnendem Ernst und doch still beglückt die
Augen zur Erde gewandt, trägt ihn, der die kleinen Arme über der
Brust gekreuzt hält, an den Flügelchen in der herabhängenden Linken;
dem vollkräftigen Manne sitzt er triumphierend auf dem Nacken und
drückt ihm mit schwerem Gewicht die breiten Schultern; neckisch entflieht
er dem Greise, der vergebens sehnsüchtig ihn zurückzurufen strebt. Jeder [197]
dargestellte Vorgang erweckt hier die Vorstellung der Jdee der Liebe in
immer andern Manifestationen, jeder genügend, um seinen Gegenstand
zu kennzeichnen, keiner doch ihn aussprechend, vielmehr durch die Art
der Vorstellung die Empfindung und durch sie den Gedanken zu unbegrenzter
Thätigkeit anregend, daher, wie jedes wahre Kunstwerk, für den
Beschauer immer neu!

Ganz ebenso verfährt die poetische Symbolik. Jmmer handelt es
sich bei ihr um jene höchsten Dinge, die eben nicht vollständig im Begriffe
zu fassen und auszusprechen sind, sondern bei denen ein bedeutender
Teil dem Ahnen und Fühlen überlassen bleiben muß. Auf die in
solchen Erscheinungen und Vorgängen sich manifestierende Jdee weist die
poetische Symbolik durch Erzählung eines Vorganges hin, der durch
eine oder mehrere hervorstechende äußere Beschaffenheiten geeignet ist, an
jene Jdee zu erinnern, sie zu „kennzeichnen“, im übrigen nun aber
seine völlige Freiheit behält, ganz verschieden von der
poetischen Allegorie, die zwar auch die innere Selbständigkeit
bewahren muß, aber in allen Fortschreitungen ihrer
Darstellung gezwungen ist, den einzelnen Bestandteilen der
vorschwebenden Begriffsverhältnisse sich genau anzuschließen.

Jndem nun die poetische Symbolik das gewählte Bild in solcher Freiheit,
aber doch immer im Hinblick auf die vorschwebende Jdee, also das
Ähnlichkeitsmoment in den Vordergrund stellend, ausführt, erhält das
Bild etwas Unendliches; es läßt sich nicht aussprechen, wie die Empfindung
der Jdee immer aufs neue dadurch angeregt wird und damit auch
eine unerschöpfliche Kraft immer erneute Gedankenbildung zu erwecken
erlangt. Darin liegt die Erklärung dafür, daß schön und treffend gewählte
Symbole eine geradezu ewige Geltung besitzen können, weil die
Jdee, welche sie erzeugte, wenn auch aus den temporären Erscheinungen
und Verhältnissen geschöpft, die Deutung und Anwendung auf die gleichartigen,
wenn auch äußerlich noch so sehr veränderten und erweiterten
Zustände nicht allein immer wieder zuläßt, sondern zu solcher Erfassung
um so stärker auffordert, je besser sie gelungen ist.1

Solche Dichtungen sind Goethes „Gesang der Geister über den
Wassern“, „An Schwager Kronos“, „Ganymed“, „Die Nektartropfen“, [198]
Schillers „Das verschleierte Bild zu Sais“, „Das Eleusische Fest“, „Der
Pilgrim“, „Die Klage der Ceres“; sie alle enthalten durchgeführte
Symbolik, während die gelegentliche Verwendung des symbolischen Elementes
bei beiden, wie bei allen echten Dichtern, überall in ihrer Poesie
eine große Rolle spielt. Die gesamte Anakreontik zum Beispiel, ebenso
wie alle Reflexionspoesie bedient sich der Symbolik, wie auch des Elementes
der poetischen Allegorie mit Vorliebe.

Naturgemäß findet die Symbolik ebenso wie in der Lyrik, so auch
in den größern Dichtungsgattungen Eingang, wiewohl hier nur episodisch
und nur da, wo die Fülle oder der Umfang der darzustellenden
Jdeen zu groß ist, um direkte Verkörperung erfahren zu können, was
keineswegs nur ein der modernen Poesie eigentümlicher Fall ist. Jm
Epos hat das Altertum zwar nichts aufzuweisen, was an Dante und
Milton erinnern könnte, doch sind die Elemente, aus denen sich sowohl
das griechische als das nordisch=germanische Epos aufgebaut hat,
die Mythen beider Völker, erfüllt von symbolischen Zügen. Das antike
Drama aber beruht in einer seiner großartigsten Schöpfungen zum
wesentlichen Teile auf Symbolik: ein Blick auf des Aristophanes
„Vögel“, „Wolken“, „Wespen“ genügt, um die Überzeugung zu gewinnen,
daß die politische Komödie, wenn sie sich nicht auf Kleinlichkeiten
einschränken soll, sondern die Dinge in großem Stil behandeln
will, bei der Ausdehnung und Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden
Verhältnisse der Symbolik fast nicht entbehren kann, welche die bunte
Masse der Erscheinungen auf ihre Jdeen zurückführt und diese durch
Körper und Dinge vertreten sein läßt, zwischen denen nun die dramatische
Handlung vorgeht, frei nach den dramatischen Gesetzen sich entwickelnd,
überall dennoch den ideellen Zusammenhang kennzeichnend.

Mit höchster Genialität hat Goethe im Faust die Symbolik seinem
Zwecke unterthan gemacht, teils mit der wunderbarsten Kunst sie in die
reale Handlung verwebend ─ so in der Scene mit dem Erdgeiste, in
der Einführung der Figur des Mephistopheles, die dann, einmal gewonnen,
als wirkliche Person in die weitere Handlung hineinwirkt; ebenso
im zweiten Teile in der Beschwörung der Helena und der Erzeugung
des Homunculus ─, teils, indem er für ganze, in sich abgeschlossene
Scenen zur reinen Symbolik griff, freilich gerade sie mit der reichsten
Fülle plastischer Gestaltungskraft und allem Zauberschmuck der Phantasie
ausstattend: solche Scenen sind die Hexenscene und die romantische
Walpurgisnacht im ersten Teile, im zweiten die „Helena“, die klassische
Walpurgisnacht und der ganze Schluß. Wie hätte, um nur bei einem
Beispiele zu verweilen, die Umformung des dem thätigen und genießen= [199]
den Leben entfremdeten Grüblers in den Weltmenschen, welche der erste
Teil verlangt, jemals durch reale dramatische Darstellung gezeigt werden
können? Nicht durch ein ganzes Drama für sich, nur die Form des
Romans könnte eine solche Aufgabe lösen. Die Symbolik verstattet es
dem Dichter in einer einzigen Scene seinen Zweck zu erreichen. Jn
einer Reihe der treffendsten symbolischen Züge, die zum Teil bis an die
Allegorie streifen, erinnert das wüste Gebaren der Meerkatzen und
Affen an die banale Jagd nach Gewinn und Genuß und äußerer Geltung,
wobei in den großen und in den kleinen Gesellschaftskreisen auf
allen Gebieten die Plattheit und Jmpotenz ihr Behagen findet. Auf
diesem Untergrunde treten nun zwei große Jdeen in überwältigender
Kraft und Anschaulichkeit der symbolischen Erscheinung hervor; in dem
banausischen und gemeinen Getreibe vermag den hohen und kraftvollen
Geist nur eine Erscheinung zu fesseln, die er wiederum nur aus der Buntheit
und mitten aus den tausend Nichtigkeiten dieses Getreibes zu ergreifen
vermag: es zeigt ihm im Zauberspiegel die schöne Gestalt. Und
die zweite große Jdee: bei allen tödlichen Gefahren des Weltlebens
gerade für den hoch und reich Begabten ist allein die Berührung mit
ihm vermögend, die Gemüts- und Willenskräfte, die in der Weltentfremdung
leicht erlahmen und eintrocknen, durch Erregung, Kämpfe
und Jrrungen aller Art in Fluß und Thätigkeit zu bringen: ein gefährlicher
Zaubertrank, der aber außer seinem Gifte für den, der ihn
zu vertragen vermag, verjüngende und jung erhaltende Kraft besitzt.

Jm Grunde sind alle Vorstellungen des Wunders, Zaubers und
Gespensterspuks ihrem Kern nach symbolisch; die Erscheinung wird in
ihrer Jdee erfaßt und dieser Jdee wird Gestalt gegeben; wenigstens
werden nur in diesem Sinne ergriffen diese Vorstellungen für die
Dichtung ihren Wert haben. Alle großen dramatischen Dichter haben
sich solcher symbolischer Gebilde frei und unbekümmert um realistische
Einwendungen und trotz derselben immer mit dem Rechte des unzweifelhaften
Erfolges bedient: der viel und oft mit Unrecht geschmähte Deus
ex machina
der Alten, so z. B. der Herakles in des Sophokles
Philoctet“, ist, wenigstens in den Händen des echten Dichters, gar
nichts andres, als die Benutzung des Volksglaubens in diesem Sinne;
mit ganz demselben Rechte wie Shakespeares Gespenster im Hamlet
und Macbeth oder die Erscheinung Klärchens als Freiheit in Goethes
Egmont
ist er die ergreifende Objektivierung mächtiger Jdeenwirkung
im Gemüt.

Der nähere Nachweis aber, wie alle den hier behandelten Elementen,
den verschiedenen Anwendungen des Wunderbaren, dem Para= [200]
bolischen, Allegorischen, Symbolischen, ihre berechtigte Stellung in den
größern epischen und dramatischen Gattungen anzuweisen sei, kann nicht
anders geführt werden, als auf Grund einer eingehenden Untersuchung,
welche schon oben, als für die Erklärung der inneren Notwendigkeit des
Gebrauchs der Tiere in der Fabel erforderlich, in Aussicht gestellt wurde:
eine Untersuchung der Frage:

nach den verschiedenen Gestaltungen und Begrenzungen,
in denen sich der Begriff der Handlung der poetischen Nachahmung
darbietet;

und nach den verschiedenen Arten, in denen diese Nachahmung
erfolgen kann.

Der folgende Abschnitt soll dieser Untersuchung gewidmet sein. ──────


XIII.

Wie oben ausgeführt, stehen die Handlungen einerseits mit den
unmittelbaren und mittelbaren Äußerungen des Seelenlebens ─ Pathos
und Ethos ─, andrerseits mit denen der Vernunft- und Verstandesthätigkeit
─ Dianoia ─ im engsten Zusammenhange; wie weiter ausgeführt,
ist in dem ästhetischen Urteil, an welches die Nachahmung
von Handlungen sich wendet, trotzdem dasselbe sofort und ohne die Vermittelung
bewußter Gründe sich einstellt, nach allen drei bezeichneten
Richtungen ein Verdikt enthalten, eben weil in der Nachahmung des
Handlungsmoments zugleich die Äußerungen des entsprechenden Empfindungsvorganges,
die Bezeichnung der obwaltenden ─ „ethischen“ ─
Seelenbeschaffenheit und das Ergebnis der bestimmenden Denkthätigkeit
mitgegeben sind. Die Vollständigkeit der Nachahmung würde also
erfordern, daß nach allen diesen drei Seiten das für die innere Handlung
Wesentliche darin auch mitgeteilt sei; denn es ist ja wohl klar,
daß in dieser Beziehung ein weiter Spielraum für die Nachahmung übrig
bleibt, ob sie nämlich sich begnügt, jene in der Handlung implicite gegebenen
Momente erraten zu lassen, oder ob sie dieselben explicite vorführt.
Die Art der Nachahmung kann aber auch noch weiter verschieden
sein, je nachdem sie den einen oder den andern jener drei die Handlung
bestimmenden Faktoren in den Vordergrund treten läßt und dafür
die andern vernachlässigt, obschon dieselben natürlich niemals ganz
fehlen
können. Die Beschaffenheit und die Wirkung der Nachahmung
wird in jedem dieser Fälle eine wesentlich andre sein: sie wird entweder
vorzugsweise die Empfindung erregen, oder ethische Stimmung hervor= [201]
rufen, oder endlich an das, was wir mit Benutzung des griechischen
Ausdrucks den praktischen Sinn nennen, an die Lebensklugheit,
den Weltverstand sich wenden.

Nach dem Zweck der Nachahmung wird dann jedesmal die Wahl
der Mittel
und die Art derselben, also ihre Form, sich bestimmen.

Und welches sind die Mittel und Arten der Nachahmung von
Handlungen, über welche die Poesie verfügt? Das Mittel, die „innere
Handlung
“ ─ die Praxis ─ nachzuahmen, ist die Darstellung der
äußern
Handlung“, welche jene zur Erscheinung bringt; ohne diese
bliebe jene ein bloßer Begriff und erlangte niemals Wesenheit. Die
Arten aber, wie diese Darstellung erfolgen kann, sind sehr vielfach:
entweder durch Erzählung oder durch Handelnde, ferner entweder
in gebundener Rede oder in Prosa; dann aber auch der Ausdehnung
nach, entweder im weitesten Umfange oder in den engsten Grenzen
oder auch in einer dazwischen liegenden mittleren Weise; außerdem,
was die Wahl der Personen anbetrifft, entweder so, daß die Handlung
unter Menschen oder unter Tieren oder unter übermenschlichen,
wunderbaren Wesen
vor sich geht; entweder nach dem Maßstabe der
Wirklichkeit oder unter Zulassung des Wunders, und zwar im letztern
Falle entweder nach bestimmten, gesetzmäßigen Bedingungen oder
ohne Einschränkung; endlich entweder so, daß die Richtigkeit des nachgeahmten
Gegenstandes direkt in der Nachahmung zur Erscheinung
komme, wie in der ernsten Poesie, oder indirekt, wie in der komischen.

Jn diesem Mittel, der Darstellung äußerer Handlung, ist
nun der Poesie ein Reich eröffnet, welches sich noch viel weiter erstreckt
als das der Abbildung der sichtbaren Körperwelt, ja dessen Umfang ganz
unermeßlich ist. Doch bleibt nichtsdestoweniger das Verhältnis der Poesie
zu demselben ganz analog dem, in welchem sie der Körperwelt gegenübersteht.
Auch von dieser entleiht sie einen großen Teil ihrer Kraft ─
Glanz, Farbe, Mannigfaltigkeit ─, ja, sie würde völlig verstummen
müssen, wollte sie den Versuch machen, ihrer zu entraten; und dennoch
ist es unbestritten, daß die Körperdarstellung ihr immer nur Mittel zum
Zweck sein darf. Ganz ebenso, obwohl dies keineswegs anerkannt ist,
steht die Poesie zu der Darstellung äußerer Handlung. Auch diese,
nur um ihrer selbst willen erzählt, ist wertlos, ganz wie die bloße
Schilderung körperlicher Gegenstände; aber zu ihrem wahren Zwecke verwandt,
gewährt sie der Poesie ihre stärksten Reize und ihre mächtigsten
Wirkungen.

Wie die Empfindung der Dinge und Wesen der umgebenden Welt
bedarf, welche sie anregen, und wie inmitten derselben nun die eine die [202]
andre hervorruft, sie sich begegnen, antworten und gegenseitig bedingen,
so ist die innere Handlung nur denkbar auf dem Grunde der von allen
Seiten eindringenden Veränderungen der Dinge, Personen und Verhältnisse,
welche wir in ihrer Gesamtheit Ereignisse, Begebenheiten, Schicksale
nennen, innerhalb deren nun die „Handlungen“ sich kreuzen, sich
vereinen und bekämpfen, in nie endender Verkettung sich verschlingen.
Doch läßt die Empfindung als rein innerlicher Vorgang, und insofern
sie in der Willkür des Subjektes gelegen ist, sich wenigstens in der Abstraktion
isolieren und ungemischt für sich allein zur Darstellung bringen;
in Bezug auf die Handlung dagegen vermag selbst die Abstraktion den
Kreis der äußerlichen Veränderungen, auf Grund deren sie stattfindet
und in und mit denen sie vor sich geht, nur einzuschränken, niemals
aber kann die Darstellung derselben entbehren, selbst da nicht, wo die
Handlung in einem rein geistigen Vorgange sich vollzöge, z. B. in der
Fassung eines Entschlusses und der Aufgabe desselben, wie im zweiten
Monologe des Goetheschen Faust. Umgekehrt aber kann ohne das Werk
einer solchen Abstraktion ebensowenig die Darstellung einer Handlung
stattfinden: es kann keine einzelne Veränderung gedacht werden, welche
nicht mit der Gesamtheit aller übrigen in Verbindung stände; um also
eine übersehbare Gruppe derselben darzustellen, muß man dieselbe aus
jener Gesamtheit auslösen, eine Menge der Fäden, durch die sie mit
derselben zusammenhängt, einfach durchschneiden und nur so viele von
den außerhalb des eigentlichen Handlungsvorganges liegenden Veränderungen
mit in dieselbe aufnehmen, als zunächst zur Verständlichkeit desselben
und sodann zur Erreichung des ins Auge gefaßten Nachahmungszweckes
erfordert werden.1

[203]

Aus diesen Grundsätzen lassen sich die Hauptgesetze aller Dichtungsarten,
welche die Nachahmung von Handlungen zu ihrem Gegenstande
machen, ableiten, also sämtliche Formen der epischen und dramatischen
Poesie.

Je einseitiger der Gesichtspunkt ist, von welchem aus die Nachahmung
unternommen wird, desto stärker wird von jenem Vermögen der
Abstraktion Gebrauch gemacht werden, je vielseitiger, desto mehr wird
von den bedingenden und begleitenden Umständen sowie von den äußeren
Folgen der Handlung in die Nachahmung mitaufzunehmen sein, und
bei dem Bestreben einer vollständigen Nachahmung der Handlung wird
jene Abstraktion nur so weit stattfinden dürfen, daß nach jeder der drei
oben bezeichneten Richtungen nichts vermißt werde, d. h. mit andern
Worten, daß der Schein der Wirklichkeit entstehe.

Vollständig ist die Nachahmung, wenn sie bezweckt sowohl die
Empfindung als die Gemütsart und die Ueberlegung des Handelnden ─
Pathos, Ethos, Dianoia ─ im ganzen Umfang ihrer Wirksamkeit zu
reproduzieren; mehr oder minder einseitig, wenn sie, wie oben schon
berührt, zu Gunsten des einen dieser Faktoren die beiden andern, oder
um zweier von ihnen willen den dritten zurücktreten läßt, beziehungsweise
ganz ignoriert.

Die Hülfsmittel für solche verkürzende Abstraktion sind gegeben
einmal in der Möglichkeit, die handelnden Personen zu modifizieren,
sodann in der Freiheit, die Art und Weise, wie sich die Handlungen
derselben nach ihren Bedingungen, Umständen, Wirkungen und Folgen
äußerlich verwirklichen, zu verändern.

Das Erste geschieht, indem die Nachahmung allgemein bekannte,
als typisch geltende
Personen wählt oder indem sie solche Personen
erschafft, die nur genannt zu werden brauchen, um das Wesentliche
ihrer Handlungsweise im Voraus erraten zu lassen; es geschieht ebenso,
wenn sie Tieren oder gar unbelebten Gegenständen Persönlichkeit
verleiht. Sie hat es dadurch in der Hand, diesen oder jenen Faktor der
Handlung nach Belieben zurücktreten zu lassen: so wird z. B. bei einer
Handlung, welche Tieren beigelegt ist, der Faktor der Empfindung
als frei wirkendes Element
so gut wie ganz verschwinden, und demzufolge
auch das den Ausschlag gebende Ethos als vorzugsweise von 1 [204]
der Dianoia bestimmt erscheinen, und zwar von derjenigen Art derselben,
welche auf die Erwägung des Nützlichen gerichtet ist. Wo es also gilt,
Handlungen, welche von dieser einen Seite sich der Beobachtung darbieten,
in eben dieser Einseitigkeit durch die Nachahmung wirksam zu
machen, werden ganz von selbst als die Träger derselben sich die entsprechenden
Tiercharaktere einstellen. So ist die Fabel entstanden, und
zwar, wie natürlich, keineswegs, indem die ersten Erfinder diese Reflexion
anstellten, sondern indem sie durch die Natur der Sache ganz von selbst
sich dazu getrieben fühlten, wenn die Beobachtung der Tierwelt und des
Tierlebens ihnen ihre Analogien mit dem Treiben der Menschen aufdrängte.

Wo dagegen das Naturleben, im Gegensatze dazu, vielmehr die
Empfindung anregte und Stimmungen erweckte, da legte der dichtende
Natursinn in die unbelebten Dinge die Analogien seelischer Energie, wobei
nun umgekehrt in den Handlungen, in die er sich wechselsweise mit ihnen
setzte, der Faktor der überlegenden Denkthätigkeit sich verflüchtigte: so in
allen jenen Gebieten der Sage, in denen Meer und Luft, Wald, Erde,
Strom und Quelle sich mit plastischen Gebilden der Phantasie erfüllen,
welche den tausendfältig von ihnen ausgehenden Empfindungs= und
Stimmungseindrücken in freien und bewußten Handlungen den lebendigen
Ausdruck geben.

Alle diese Mittel erbt die Kunstpoesie von der Naturdichtung und
vermag durch die Erfindung stehender Masken, ferner durch Symbolik
und Allegorie diesen Vorrat noch unendlich zu bereichern.

Das Zweite ─ die Modifikation der Handlung selbst ─ ist zwar
zum Teil schon hierdurch geboten, aber hat darüber hinaus noch seine
besonderen, höchst bedeutungsvollen Gesetze. Der Verlauf der inneren
Handlung ist unter allen Umständen unantastbar:
die Frage
ist hier, wie die Nachahmung mit der äußern Handlung verfährt, ob
sie die Ursachen, den Hergang und die Folgen, aus denen sie sich zusammensetzt,
nach den Gesetzen der Wirklichkeit darstellt, oder
ob sie diese Gesetze verändert.
Diese Veränderung kann entweder
so geschehen, daß nur ein Teil jener Gesetze davon getroffen wird,
unter den so geschaffenen Voraussetzungen nun aber die volle Konsequenz
der realen Entwickelung in Geltung bleibt, oder sie kann in einer gänzlichen
Aufhebung dieser äußern Entwickelungsgesetze bestehen: das erste ist der
Fall in der Fabel und in der historischen Sage, das zweite geschieht
in der mythischen Sage und im Märchen. Aber wenn das Gesetz der
Wirklichkeit aufgehoben wird, so muß ein andres an seine Stelle treten,
denn nichts ist unkünstlerischer ─ und nichts daher auch der Naturpoesie
fremder ─ als die Willkür. Welches ist nun dieses Gesetz?

[205]

Hiermit ist die letzte und zugleich die für den Gegenstand bedeutsamste
Frage gestellt.

Es konnte nach dem Gange der Untersuchung bisher nur von der
Nachahmung einer einzelnen inneren Handlung die Rede sein;
aber ein wie kleiner Teil der Poesie, die es mit der Nachahmung von
Handlung zu thun hat, ist darin beschlossen! Jn der That ist einzig
und allein die Fabel in diesen engen Kreis eingeschränkt; Mythus,
Sage und Märchen können zwar in manchen Fällen sich gleichfalls
damit begnügen, obwohl sie meistens einer viel weitern Ausdehnung
bedürfen werden: aber wie unendlich weit müssen die großen epischen
Gattungen, muß das Drama darüber hinausgehen!

Es scheint, als müßte hier die ganze Theorie von der Nachahmung
der „Handlung“ in dem entwickelten engen Sinne zu nichte werden.
Ohne alle Frage ist hier überall ein ganzer Komplex solcher Handlungen
der Gegenstand der Nachahmung, und zwar in weit ausgedehnter Verschlingung
mit gegebenen Zuständen und äußeren Begebenheiten. Diese
Verschlingung scheint aber gar nicht denkbar, wenn man die Handlung so
scharf, wie es im Obigen geschehen, von ihrer inneren, geistigen Seite
gefaßt, für den Gegenstand der epischen und dramatischen Dichtung erklärt!
Eben durch ihre äußere Gestaltung wirken ja doch die Handlungen
aufeinander und verwickeln und lösen, hemmen und fördern sich
gegenseitig; und vollends, wo bleibt das Element des ganz von außen
hineinwirkenden, von aller bewußten Willensentscheidung völlig unabhängigen
Zufalls, dieses in den epischen und dramatischen Geschehnissen
so hochbedeutenden und ganz unentbehrlichen Faktors?

Gerade diese Einwürfe, alle zusammengenommen, führen zum Ziel!

Aus der ungeheuren Flut der Handlungen und Ereignisse greift
die epische, die dramatische Nachahmung einen Komplex heraus und stellt
ihn als eine einheitliche Handlung dar. Nach welchem Gesetz
wird diese Einheit erkannt und beurteilt?
Niemand hat dieses
Gesetz sicherer erkennen können als es von jeher in allen Schöpfungen
des dichtenden Volksgeistes enthalten war. Nicht in dem wirklichen Zusammenhange
der Ereignisse und Thaten ist es gegeben: er diktiert der
Geschichte ihre Gesetze, die Poesie hat ein anders, um dessentwillen
Aristoteles sie „philosophischer“ nannte als jene. Hören wir zur Bestätigung
des Gesagten, wie einer der größten unsrer deutschen Forscher
über den Gegenstand sich äußert:1 „Die Poesie ist das erste und ein= [206]
fachste und zugleich das großartigste Mittel, welches dem Menschen verliehen
wurde, um ein hohes Gefühl, eine höhere Erkenntnis auszudrücken.
Sie ist die Schatzkammer, in welche ein Volk seinen geistigen Erwerb
niederzulegen und zu sammeln pflegt .... Alles, was es erlebt hat, sei
es nun in wirklichen Ereignissen oder in dem, was der Geist ersonnen
oder ausgedacht hat, oder was ihm auf eine unergründliche Weise, die
ich mich nicht scheue eine geheimnisreiche zu nennen, ist überliefert
worden, das nimmt sie in sich auf. Jene höhere Betrachtung der Ereignisse,
die nicht in einer Sammlung des Geschehenen beruht, sondern in
einem Ergreifen dessen, was Zeugnis vom Geiste gibt,
ist
ihr eigen und macht ihr Wesen aus .... Jhre Wahrheit ist nur
eine geistige und von den Begebenheiten selbst, aus welchen
sie zum Teil hervorgegangen ist, unabhängig.
“ Und an einer
andern Stelle:1Es sind hier (in den Sagen und Märchen) Gedanken
über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter
Glaube und Glaubenslehre in das epische Element,
das sich
mit der Geschichte eines Volkes entwickelt, getaucht und leiblich
gestaltet.
Doch Absicht und Bewußtsein haben dabei nicht gewirkt,
sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Uberlieferung
ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußerte, das
von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverständliche nach der Weise
der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen.“ Wie aber geschieht
es,
daß das „Göttliche und Geistliche des Lebens in das epische
Element getaucht leibliche Gestalt gewinnt“? auf welche Weise wird
dieses „Zeugnis vom Geiste“ ergriffen?

Hören wir auch hier zunächst Wilhelm Grimm, wie er es erklärt,
daß der alte Volksglaube jene Urelemente der epischen Poesie erschaffen,
oder nach seinem schönen Bilde, wie das Sonnenauge des Geistes auf
den farbigen Pfauenspiegel der Dichtung verteilt wurde: „Schon die
Belebung der ganzen Natur kann man als eine fortdauernde Überlieferung
aus frühester Zeit betrachten. Uns ist diese Ansicht nicht befremdend,
da wir wissen, daß das Heidentum überall davon ausgegangen
(Juppiter est quodcunque vides, quocunque moveris drückt sie Lucan
aus);2 für das Volk würde sie es gewiß sein, wenn sie ihm erst sollte [207]
gegeben werden. Der Sonne, dem Mond, den Sternen wohnt vor allem
eine geistige Natur bei, und wenn sie zu den Bedrängten reden, ihnen
Geschenke geben, die sie erretten, so erscheinen sie als angebetete göttliche
Wesen (quorum opibus aperte juvantur. Cäsar, de B. G. VI, 21), wie sie
es in den alten Zeiten der Deutschen wirklich waren. Auch die Bäume
und Quellen, deren Verehrung sich lange fort erhielt, sind hier beseelt
....“ „Weiter reicht schon die höhere Natur, die den Tieren
beigelegt wird. Das Pferd Fallada spricht (wie Mimers Haupt) nach
dem Tode noch zu seiner Gebieterin. Die Raben weissagen, sie wissen,
gleich Odins Raben Huginn und Muninn (d. h. die mit Verstand und
Gedächtnis begabten), was in der Welt geschieht. Ueberhaupt aber
werden häufig die Vögel als Geister betrachtet u. s. f..... Mit dieser
Ansicht von einer allbelebten Natur hängt auch das Übergehen in
eine andre Gestalt
zusammen, und die hier verwandelten Steine,
Bäume, Pflanzen sind eigentlich geistig belebte.“ Es wird dann ferner
nachgewiesen, wie „der Gegensatz des Guten und Bösen häufig durch
Schwarz und Weiß, Licht und Finsternis ausgedrückt“ wird, wie
„das Gute von dem Herrn belohnt, das Böse bestraft“ wird; ─ „er
kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen
findet er verdorben, diesen fromm und nach den Gesetzen lebend. Er
verteilt danach seine Gaben, die jenem zum Verderben, diesem zum
Heil ausschlagen;“ ─ es wird auf die „halbüberirdischen Schwanenjungfrauen“
hingewiesen, die „gleich den Nornen, Wahlküren und Parzen
den goldenen Faden des Schicksals spinnen“ u. s. f.1

Was solchergestalt als höhere Bedeutung allenthalben durch die
Märchenpoesie hindurchschimmert, das ist in weit ausgedehnterem Sinne 2 [208]
der Kern der Mythe und Sage, das Lebenselement der epischen und
dramatischen Dichtung. Von einem höhern Standpunkt betrachtet, erscheint
die epische Volkspoesie nun nicht mehr getrennt von der Geschichte,
sondern mit ihrer inneren Wahrheit eins, eng verbunden mit
Volksgeschichte und Religion.
Mit beiden hat sie gemeinsame
Wurzeln; mit andern Worten: ihre Entstehung fällt in die Zeit, da im
Bewußtsein sich feste und bestimmte Vorstellungen herausbilden von den
ewigen Ordnungen der Natur und den unerschütterlichen Gesetzen des
Lebens, in welchen beiden das Walten höherer Mächte erkannt wird,
mögen diese nun einen Namen haben, welchen sie wollen. Jn der Volksreligion
sammeln sich diese Vorstellungen, die älteste Geschichte besteht in
den sagenhaften Überlieferungen, welche wie krystallinische Gebilde sich
zusammenfügen, indem um den festen Kern jener Vorstellungen sich die
Erinnerungen aller der Begebnisse und Schicksale ordnen, welche jenen
Vorstellungen entsprechen und gleichsam ihre Erfüllung zeigen, und
aller der Gemütszustände und Handlungen, in welchen die nationale
Eigenart nach der Summe ihrer Besonderheit an jenen Begebnissen und
Schicksalen sich thätig und leidend, bestimmend und bestimmt, erweist.
Hier ist älteste Geschichte und älteste Poesie in unauflöslicher Verbindung,
um sodann in den Zeiten klareren Bewußtseins mit dem erwachenden
Vermögen der Abstraktion sich für immer zu scheiden. Jn dieser Entstehungsart
und inhaltlichen Beschaffenheit liegt das Unerfindbare
aller jener alten echten Epen und der ihnen entstammenden dramatischen
Stoffe und das Unnachahmliche der Volkspoesie.

Was ist das Gemeinsame, das aus der gesamten Nationalpoesie so
gewaltig zu uns redet? Es kann nicht treffender bezeichnet werden als
mit den Worten eines unsrer größesten Altertumskenner, da er in einer
Art poetischer Fiction sich in die „Gedanken hineinversetzt, mit denen
ein Jüngling aus der Sokratischen Umgebung ─ einer von denen, die
durch ihn aus dem gebildeten Volksglauben nicht sowohl hinausgeführt,
wohl aber darin befestigt waren ─ seinen Schmerz über den hingeschiedenen
Sokrates tröstete“:1

„Eines Tages schritt er unter mancherlei Gedanken am Jlissus hin,
plötzlich aber stand er vor einem Baume still, der mit seinen seltenen
großen Blättern und Ästen sich herrlich umherbreitete. War es Zufall,
war es halb bewußte Absicht, was ihn diesen Weg geführt: es war jene
Platane, welche, seitdem Sokrates dort dem Phädrus die Naturgeschichte
der Seele entwickelt, im Kreise der Sokratischen Jünger und Freunde [209]
wohl bekannt geblieben. Die Erinnerung an den Hingang des geliebten
Freundes und wie das hatte so kommen können, ergriff ihn von neuem
und stimmte ihn auf das wehmütigste. Ernst stand er an den Baum
gelehnt, der, wie ihm schien, hätte mittrauern sollen, und der gleichwohl
dastand, so herrlich erblüht wie jemals. ─ Aber gerade das erinnerte
ihn bald an die ewigen Gesetze und leitete den Zug seiner Gedanken also:

Die göttliche Ordnung ─ Themis ─ nach welcher die uranfänglichen
Verteilerinnen ─ Moirai ─ einem Jeden geteilt, daß aus dem
All ein schönes Ganzes, ein Kosmos ward, wird nimmer zerstört werden.
Dafür sorgen der die Ordnungen kennt und versteht, der allschauende
Zeus, die Bestimmung ─ Heimarmene ─ und die Notwendigkeit
─ Ananke ─, dafür die Ausgleicherin von Recht und Pflicht ─ Dike ─,
der jede Übertretung der Berechtigung in Recht und Pflicht anheimfällt.
Jhr zur Seite steht der moralische Unwille der Götter und Menschen
über Unbill und Überhebung, die ernste Nemesis, und in ihrem Dienst
die strafvollführenden Erinnyen, von denen Heraklitus sagte: und wenn
die Sonne ihre angewiesene Bahn verlassen wollte, die Erinnyen würden
sie zu finden wissen. Und nicht nur die helle Sonne werden sie zu
finden wissen, auch was im Dunkeln schleicht und das Dunkle sucht,
finden sie aus, die „im Dunkel schreitenden“ Göttinnen. ─ Meine Trübsal
aber, gehört sie nicht auch in die ewige Ordnung?

Hier wurde er aufmerksam auf sich selbst. Er wußte nicht gleich,
was es war, was in seiner Seele sich hervordrängte und zu gestalten
suchte. Es war aber ein geistliches Lied des Sophokles, woran seine
letzten Gedanken ihn erinnert hatten. Es gelang ihm, sich die Worte
herzustellen:

„„Deine Macht, o Zeus, wer der Menschen vermöchte übertretend
sie zu hemmen? die weder der Schlaf ergreift, der alles altert, noch der
Götter unermüdliche Monden: sondern unalternd in Zeit ein Herrscher
wohnst du in des Olympus heiterem Strahlenglanz. Doch hinfort und
in Zukunft wie vordem gilt das Gesetz: dem Leben der Sterblichen
geht längere Frist nimmer dahin frei von Trübsal.““

Er sah in die scheidende Sonne. Die Horen, lächelte er, bringen
die Nacht. Sind sie den Tag uns jemals schuldig geblieben?“

Und derselbe Autor an einer andern Stelle:1 „Was die Götter
thun, infolge einer Moira thun und vollziehen, vielleicht einer noch
schuldigen Ausgleichungsmoira thun, wird als selbstverständliches Menschenlos,
dem man in Frömmigkeit sich zu fügen hat, dahingenommen: je [210]
unbegreiflicher und dem menschlichen Auge verborgener, desto sicherer
darauf hinweisend, wie hoch über uns jene Fäden gesponnen werden,
und daß es in diesem Kosmos Willkür nicht sein kann, sondern Notwendigkeit
und Vorherbestimmung und Gesetz. Und darum müssen die
Götter recht behalten, welche vorherwissen und es nur vorherwissen
können, weil es vorherbestimmt ist, und dessen walten, was die Moira
ist.“ Einen „götterlosen, gottlosen Zufall“ gibt es für diese ernste Auffassung
nicht, der „das Leben durch und durch göttlicher Einwirkung
voll erschien“, und welche den Pindar die „Tyche ─ das Glück, Geschick“
─ als „eine der Moiren“ erfassen ließ. „Jn den Organismus
der göttlichen Gewalten, unter denen sich der Grieche fühlte, war diese
Tyche eingetreten.“1

Die ganze griechische Dichtung eines Homer, Pindar, Äschylus und
Sophokles ist von diesen Grundanschauungen erfüllt, wie sie in gleicher
Weise in den Geschichtsdarstellungen eines Herodot und Thukydides sich
wiederspiegeln. Bei aller großen Verschiedenheit ist unser deutscher
Volksgesang der epischen Zeit auf ganz demselben Boden erwachsen:
was darin dem Leben entnommen und was von der Phantasie hinzugethan
ist, alles dient dazu, ungeheure Thaten und Schicksale, welche
für sich alleinstehend den Sinn überwältigen, das Herz verwirren und
den Mut niederschmettern würden, im Zusammenhange als die Handlungen
eines wohlgeordneten, von unverbrüchlichen Gesetzen gelenkten
Waltens höherer Mächte vorzuführen, die Anlässe blinden Schreckens
zum Gegenstande verehrender Gesinnung und höchster Erhebung zu gestalten.
Damit stimmt Wilh. Grimms Urteil über die älteste deutsche
Dichtung vollkommen zusammen: „Jn jeder Brust wohnt die Ahnung
von Gott, und am wenigsten ist der rohe Naturmensch davon verlassen.
Wie die Sprache in ihrer Entstehung wohlklingend und die erste Erzählung
poetisch und rhythmisch ist, so sind auch seine Begriffe und Anschauungen
der Welt religiös, und er sieht in der ganzen Natur einen
Abdruck und das Regen der Gottheit, die mehr oder weniger hervortritt.“2
Und speciell über das Nibelungenlied:3 „Jn ihm wurde erhalten, was
nicht wieder ersetzt werden konnte, das Bild einer vergangenen Zeit, in
welcher ein großes Leben frei, herrlich und doch wieder so menschlich
erscheint. Denn das ist es, was uns in der Poesie entzückt, jene Ver= [211]
bindung des Göttlichen und Jrdischen: wie der Mensch fest und liebend
steht auf der Erde, sein Haupt aber aufwärts richtet zum Himmel, so
soll die Poesie sein; tief in die Erde dringen ihre Wurzeln, ihre Zweige
geben Schatten und Obdach, ihre Blüten aber steigen hinauf in den
blauen Tag, wo sie im Abendrot stehn, am Tau sich erfrischen, dann
die Sterne schauen und die heilige Nacht. Ein solches Heldenleben ist
in dem Nibelungenlied, wie es blüht in Liebe, Krieg, Zorn und Lebenslust,
endlich sich selbst gewaltsam vernichtet: und darüber weht eine klare
und heitre Ruhe der Dichtung, wie die Sonne auch über eine zerstörte
Welt leuchtet, still und unbekümmert in hellem Glanz. Wer mag ohne
Rührung das Treuliche an Siegfried lesen? oder wie Rüdiger Leib und
Seele hingibt im Kampfe mit seinen Freunden, denen er die Waffen
hinreicht gegen sich selbst, daß den grimmen, Könige spottenden Hagen
die Gabe erbarmt und er absteht vom Streit gegen ihn? oder wie Wolfhart
nicht beklagt sein will, da er von Königs Händen so herrlich tot
liege? Ja, dieser Kampf mit einem ungeheuern Schicksal, das alles unaufhaltsam
hinunterreißt, gehört mit zu dem Größten, das je in der
Poesie aufgestanden, wogegen Homer nichts Ähnliches aufzuweisen hat,
der wohl reicher ist und geschmückter, aber nicht von solcher Tiefe. Dennoch,
wie sich hier ein großes Gemüt offenbart, so scheut sich auch keiner
seine Furcht und alles, was menschlich ist, zu bekennen, denn das ganze
Leben, wie es sich äußert, ist poetisch, nicht das Einzelne darin, und
nur aus dem gemeinsamen Boden kann das Große aufwachsen. Und
diese Unschuld, die nur der Ausdruck des innersten Gemüts, ist, was das
Gedicht so weit erhebt über alle andern, und das allein in einem solchen
Volkslied gefunden wird, weil keine Kunst dahin gelangt.“

Nach dieser Umschau über das Wesen der Handlungen nachahmenden
Dichtung wird sich nun die oben gestellte Frage mit Sicherheit beantworten
lassen: nach welchem Gesetz wird die Einheit des darin dargestellten
Handlungskomplexes erkannt und beurteilt?

Diese Einheit liegt darin, daß als die handelnde Person nicht
etwa der sogenannte Held oder auch irgend eine andere der
darin auftretenden Personen
betrachtet wird, sondern daß der
Wille und die Entscheidung jener höheren Macht es ist,
welcher das Ende an den Anfang knüpft, mit solcher Festigkeit
und Folgerichtigkeit, daß die ganze, bunt verschlungene
Masse von Ereignissen und Thaten der Einzelnen als die
Verwirklichung eines einzigen Beschlusses der die Schicksale
lenkenden Gewalt erscheint, als die äußere Nachahmung
einer einzigen inneren Handlung.

[212]

Das Schicksal also erscheint als handelnd, und die Handlung
des Dramas wie die des weitest ausgedehnten Epos ist nur dann eine
einheitliche, wenn sie in ihrer Gesamtheit die Nachahmung einer
einzigen Willensentscheidung dieser Macht enthält, einer einzigen
Schicksalshandlung.
Die Vollständigkeit dieser Nachahmung bedingt
unter Umständen, so namentlich immer im Epos, eine geringere
oder auch sehr große Zahl von Episoden, welche, für sich genommen,
in kleinerem Rahmen die Nachahmung von gleichartigen Handlungen
einschließen können: berechtigte Existenz aber haben diese Episoden nur
insofern, als sie integrierende Teile der einen Haupthandlung sind,
unentbehrlich um die Nachahmung der einen, vollständigen Handlung
zu verkörpern. Das ist das wesentliche Kennzeichen des echten
Epos, daß es sich so verhält, des Volks- und Nationalepos. Homer
und die Nibelungen stimmen darin überein; die wesentlichste Schwäche
der meisten Kunstepen tritt darin hervor, daß sie diese Einheit im Ganzen
und in den Episoden außer acht lassen.

So lautet auch das Aristotelische Gesetz über die Komposition
des Epos im 23. Kapitel seiner „Dichtkunst“: ὅτι δεῖ τοὺς μύθους ...
συνιστάναι ... περὶ μίαν πρᾶξιν ὅλην καὶ τελείαν,
ἕχουσαν ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλος, ἵν' ὥσπερ ζῷον \̔εν
ὅλον ποιῇ τὴν οἰκείαν ἡδονὴν ... καὶ μὴ ὁμοίας ἱστορίαις τὰς
συνθέσεις εἶναι, ἐν αἷς ἀνάγκη οὐχὶ μιᾶς πράξεως ποιεῖσθαι
δήλωσιν ἀλλ' ἑνὸς χρόνου, ὅσα ἐν τούτῳ συνέβη περὶ ἕνα \̓η
πλείους, ὧν ἕκαστον ὡς ἔτυχεν ἔχει πρὸς ἄλληλα. Und weiter:
εν τοῖς ἐφεξῆς χρόνοις ἐνίοτε γίνεται θάτερον μετὰ θατέρου,
ἐξ ὧν \̔εν οὐδὲν γίνεται τέλος· σχεδὸν δὲ οἱ πολλοὶ τῶν ποιητῶν
τοῦτο δρῶσιν.

Zu deutsch: Für die epische Nachahmung gilt das Gesetz: „daß
ihre Fabel auf Grund einer einzigen Handlung aufgebaut sein muß,
welche ein Ganzes bilde und vollständig dargestellt sei, Anfang,
Mitte und Ende
umfassend, damit sie, gleichsam wie ein lebendes
Wesen einheitlich und ganz,
die volle künstlerische Wirkung hervorbringe,
deren ihre Gattung fähig ist (so drücken wir nach unserer heutigen
Sprechweise den Sinn der Worte ποιῆ τὴν οἰκείαν ἡδονήν == „den
ihr eigenen Genuß bereite“ aus); die epische Komposition darf nicht der
historischen ähnlich sein, in welcher notwendig nicht die Darstellung einer
einzigen Handlung gegeben werden muß, sondern einer einzigen Zeit
nach den Ereignissen, die sich darin begaben, Einen betreffend oder
Mehrere und in dem Verhältnis eines jeden unter ihnen zu den übrigen
von dem zufälligen Gange der Begebenheiten abhängig.“ Und weiterhin: [213]
„Jn solchen der Reihenfolge nach dargestellten Zeiträumen kann es mitunter
geschehen, daß die Ereignisse eben nur aufeinanderfolgen, ohne
daß ein einheitliches Endziel sich ergibt. Freilich macht die Mehrzahl
unter den Dichtern es nicht anders.“

Wenn diese von Aristoteles so scharf betonte Einheit also dadurch
erreicht wird, daß Anfang und Ende sich zusammenschließen als der
Anlaß und der Vollzug einer einzigen, inneren Handlung, während die
dazwischenliegende Mitte überall der Ausführung derselben dienstbar ist,
und als wirkende Person die das Schicksal lenkende Macht auftritt, mag
dieselbe geradezu persönlich vorgestellt werden, wie bei den Alten,
oder unpersönlich, wie bei den Modernen, so reicht die so gewonnene
Anschauung nun aus, um die Antwort auf die früher gestellte Frage
zu finden: inwieweit es der epischen und dramatischen Darstellung freistehe,
die Gesetze der Wirklichkeit für den äußeren Verlauf der
nachgeahmten Handlung aufzuheben und welchem Gesetz die
Erfindung unterworfen sei, welche an die Stelle derselben
trete.

Es liegt auf der Hand, daß hier jede Veränderung gestattet sein
muß, welche eine Verkürzung des äußeren Ganges der Dinge bewirkt,
sobald sie nur mit dem Geist und Sinn und dem Zwecke der
innern Handlung in Übereinstimmung
ist, geeignet diesen deutlicher
vor Augen zu stellen,
die Verkörperung desselben einfacher zu
gestalten,
den Verlauf, welcher zu ihm hinführt, zu beschleunigen.

Es ist mit diesen Forderungen nur der Charakter bezeichnet, welchen
von jeher und allenthalben das hervorstechendste Element aller Mythen
und Sagen an sich getragen hat, der Charakter des Wunders, dieses
unentbehrlichen Bedürfnisses und „liebsten Kindes“ des Volksglaubens
und der Volksdichtung. Sein Ursprung und Wesen ist die Ahnung und
intuitive Erkenntnis der inneren Wahrheit der Dinge, verbunden mit
der Unkenntnis ihrer realen Begründung, und das Resultat dieser Verbindung:
die mehr oder weniger willkürliche Erfindung eines unmittelbaren
Zusammenhanges zwischen der gegebenen thatsächlichen Voraussetzung
und dem richtig divinierten oder geschauten Endziel; oder nicht
selten auch umgekehrt: zwischen dem thatsächlich vorhandenen Ergebnis
und der geahnten Ursache desselben. So löst der Kindersinn der Völker
sich die Rätsel der Natur und des Menschendaseins, der Vergangenheit
und der Zukunft, des Anfangs und des Endes der Dinge in leicht
überschaulichen und bedeutungsvollen Phantasiegebilden, deren unvergängliche
Schönheit eben darin beruht, daß sie dem Drange nach der
Erkenntnis der inneren Wahrheit des Zusammenhanges der Dinge und [214]
des Lebens entsprossen sind, daß sie oft genug diese Wahrheit selbst enthalten.
Und wenn es nötig ist es noch hinzuzufügen: die darum schön
sind, weil sie aus der richtigen, gesunden, der großen und erhabenen
Empfindung hervorgegangen, nun auch ganz von selbst so zusammengefügt
sind, daß sie notwendig dieselben Empfindungen und
Seelenvorgänge
wieder hervorbringen müssen, unbewußt sie nachahmend,
wie die Kunst sie mit Bewußtsein nachahmt!1

Ursprünglich ist es mit allen diesen Erfindungen der Phantasie ein
heiliger Ernst, um so erhabener, ja starrer, je weiter zurück ihr Alter
liegt: was hindert aber, sich ihrer aufs Neue zu bedienen, auch wenn nun
an die Stelle des Glaubens das Wissen getreten ist, sobald es sich nicht
darum handelt von diesem Wissen Zeugnis abzulegen, sondern eben die
Gesinnungen, Stimmungen und Empfindungen wieder zu erwecken, denen
jene Erfindungen ihre Entstehung verdankten? also in den Künsten, vor
allem in der erzählenden Poesie?

Unendlich ist nun die Mannigfaltigkeit der Mischungen der Realität
und jenes Elementes des Wunderbaren, deren sich der Dichter bedienen
kann, um dem Körper der inneren Handlung die einfachste und durchsichtigste,
das ist: die schönste Gestalt zu geben. Der reichste Gebrauch
dieses edelsten und stärksten Mittels, über welches die Poesie gebietet,
wird in den Zeiten gestattet sein, welche dem Ursprunge desselben am
nächsten liegen: nur in diesen Zeiten gedeiht das echte Epos,
ein Surrogat dafür gibt es nicht. Aber wenn den spätern Zeiten dieser
reinste Quell der Dichtung nicht mehr in seiner Fülle sprudelt, so breiten [215]
sich unversiegbare Adern noch weithin von ihm aus und reichen bis in
die Epochen hellster Aufklärung. Der Dichter mag unbekümmert um
das bessere Wissen seiner Zeit aus ihnen schöpfen. Und verwehrt es
ihm die Natur seines Werkes, im Ernste diese Welt des Wunders sich
dienstbar zu machen, so bleibt ihm noch ihr ganzer, unerschöpflicher
Reichtum, um im Bilde davon Gebrauch zu machen und so dennoch
ihre Kraft zu erborgen.

Endlich bleibt ein, freilich eng umfriedetes Gebiet, auf dem das
Wunder nicht allein in immerwährender Geltung bleibt, ja die Oberherrschaft
führt, sondern in welchem die Phantasie immerfort die Freiheit
behält, es aufs Neue hervorzubringen, das Alte neu zu gestalten und
mit tausendfältiger Erfindung es zu bereichern: das Märchen, welches
mit herzlicher Freude und unzerstörbarer Pietät die alten Sagengebilde
ihrem Kerne nach festhält, wenn ihre Wurzeln im Glauben sich lockern
und endlich ganz verdorren. Eben deshalb scheidet im Märchen die
Realität aus der Verbindung gänzlich aus und es bleibt ihm nur das
Spiel mit den Gebilden der Phantasie: aber ein Spiel, welches den
Ernst der Wahrheit der inneren Handlung darum doch nimmermehr aufgibt;
damit würde auch die Märchenphantasie den Boden verlassen, dem
sie ihren Ursprung und ihr Wachstum verdankt, und das Recht aufgeben,
durch welches sie existiert. Bei dem echten Volksmärchen ist das
undenkbar, für das Kunstmärchen liegt in diesem Umstande das Kriterium
für das Wohlgelungene wie für die Entartung. Beiden aber,
dem Volksmärchen wie dem Kunstmärchen, gemeinsam ist die Möglichkeit,
ja die Nötigung, bei der völligen Scheidung von den Bedingungen der
äußeren Wirklichkeit, auf dem allerkürzesten Wege ihre innere Handlung
zu ihrem Ende zu führen und damit dem inneren Sinn und der Bedeutung
derselben die größte Evidenz und Wirksamkeit zu verleihen;
genauer gesagt: durch die Nachahmung der inneren Handlung, die dabei
in Thätigkeit kommenden Kräfte der Empfindung, Gesinnung und des
Urteils am unmittelbarsten, stärksten und sichersten zu erregen. Deshalb
kann dieses Spiel denen, welche den der Wirklichkeit sich anschließenden
Nachahmungen gar nicht oder doch nur schwerer zu folgen vermögen, die
gesamte übrige Poesie ersetzen, den Kindern und dem unkultivierten Teil
des Volkes, während sie auch für den Hochgebildetsten von ihrem Reize
nichts verlieren.

Eine ähnliche, und doch wieder verschiedene Stellung wie das Märchen
nimmt in der epischen Poesie die Tierfabel ein, für deren Definition
es noch übrig bleibt aus dem Vorstehenden die Konsequenzen zu ziehen.

Sie entstammt wie jenes der Sage: ähnlich wie aus der mythischen [216]
Sagenwelt die Märchenbildung späterer Zeiten sich entwickelte, so aus
der altepischen Tiersage die einem reflektierenden Zeitalter angehörige
Tierfabel; beide behaupten dann eine selbständige Stellung in der Kunstdichtung
aller Litteraturen und Zeiten. Beide stimmen auch darin überein,
daß sie von der Nachahmung der Wirklichkeit absehen und an die Stelle
des Ernstes ein freies Spiel treten lassen, das durch die überall festgehaltene
Analogie mit den inneren Gesetzen des realen Handelns bestimmt
wird. Während aber das Märchen hinsichtlich der Wahl der
Personen und ihrer Handlungen uneingeschränkte Phantasiefreiheit walten
läßt, sind der Fabel durch die Gründung auf die epische Nachahmung
des Lebens und Treibens der Tierwelt feste Grenzen gezogen; hieraus
bestimmt sich ihr ganzes Wesen.

Was für Folgen sich naturgemäß daran knüpfen, daß diese Art
der epischen Nachahmung sich in einer Welt bewegt, in der die handelnden
Personen Tiere
sind, davon ist oben schon die Rede gewesen.
Sie „läßt den Tieren ihr Eigentümliches und erhebt sie doch zugleich
in die Menschenähnlichkeit“,1 sie verfährt wie „der bildende Künstler,
wenn er sich der Tierfabel bemächtigen will: er muß den tierischen Leib
beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck
des Menschen zu verleihen wissen“. Das dürfte für die Dichtung bedeuten:
indem sie den Tieren Sprache beilegt und sie in Zustände und
Verhältnisse versetzt, die denen der Menschen analog sind, erhebt sie
dieselben zur Menschenähnlichkeit in Bezug auf den einen Faktor der
Handlungen, der sich im praktischen Sinn, dem Weltverstand, der Klugheit,
Überlegung äußert, in Bezug also auf die Dianoia; Ethos und
Empfindung werden zwar auch in die Sphäre des Bewußtseins erhoben,
aber in Bezug auf diese läßt ihnen die Dichtung ihre tierische
Eigenart. Wie schon oben bemerkt, wird damit die freie Wirkung
dieser beiden Faktoren so gut wie ganz eliminiert, die Handlungen der
Tiere erscheinen nach dieser Richtung als von vorneherein bestimmt und
gebunden. Frei sind sie nur nach der Seite der „praktischen“ Überlegung
und interessieren daher auch weit weniger die Empfindung, als
sie die übrigen unmittelbar beim Handeln wirksamen Gemütskräfte beschäftigen:
die ethische Gestaltung des Begehrungsvermögens
und die Willensentscheidung (nach der Aristotelischen Terminologie
die ἕξις ὀρεκτική und προαιρετική). Sie beschäftigen sie, das heißt
nicht etwa sie bestimmen ihre Geltung für das Leben ─ damit wäre der [217]
Dichtung eine moralisch=didaktische Tendenz zugesprochen, das Verkehrteste
von allem ─, sondern das heißt: sie setzen sie durch die Nachahmung
in irgend einer Form zeitweilig in Thätigkeit.

Aus dieser Wahl der Personen in der Fabel folgt nun aber das
zweite: die ihr eigene Komposition der Handlung.

Eine andere Art von Einheit muß in ihr herrschend sein, denn
gerade dasjenige, was dieselbe in der ernsthaften epischen Dichtung ausmacht,
daß in ihr das Walten höherer Mächte zur Erscheinung komme,
ist eng an die Freiheit der Empfindung und des Ethos geknüpft, also
an dasjenige, was in der Tiersage und Fabel von vorneherein ausgeschlossen
ist. Bei den Tieren ist im allerhöchsten Maße, ja ganz ausschließlich
das der Fall, was Aristoteles ζῆν und πράττειν κατὰ πάθος
nennt: leben und handeln nach den Jmpulsen der vernunftlosen, bloß
animalischen Empfindung. Wenn also durch die Nachahmung vermittelst
tierischer Handlungen nichtsdestoweniger das Bewußtsein jenes höheren
Waltens, jener unverbrüchlichen Gesetzlichkeit in unserem Empfinden
lebendig gemacht werden soll ─ und zu diesem Zwecke erhebt ja die
Sage und Dichtung die Tiere in die menschliche Sphäre, um auch aus
der Betrachtung ihres Lebens und Treibens uns dieser Empfindungen
teilhaftig zu machen ─, so kann das nur auf indirekte Weise geschehen;
direkt wäre eine solche Anschauung im Tierleben nimmermehr
zu gewinnen, sie könnte nur durch Allegorie hineingelegt werden.

Aus diesem Gegensatze zum ernsten Epos lassen sich die Kompositionsgesetze
der Handlung für die Tierfabel am einfachsten ableiten.

Die vollständige Nachahmung einer einheitlichen Handlung, wie sie
im Epos geschieht, erlangt, indem sie als Einheit im Gemüt zum Bewußtsein
kommt, notwendig die Kraft, diejenigen Empfindungen, welche
mit einem Worte als die Schicksalsempfindungen bezeichnet werden
könnten, in ihrer Reinheit hervorzurufen: denn nach den obigen Ausführungen
besteht diese Einheit darin, daß die Gesetzmäßigkeit des Schicksals
gleichsam wie in einem einzigen Akte hervortritt, und zwar gleichviel,
ob eine einzelne oder ein ganzer Komplex von äußeren Handlungen
dazu erfordert wird. Welches sind nun im Gegensatze zu diesen Schicksalsempfindungen
diejenigen Gemütsvorgänge, welche die unvollständigen
und einseitigen Nachahmungen von Handlungen begleiten, bei
denen Tiere die handelnden Personen sind, und in denen also vorzugsweise
nur das Nützliche oder Schädliche, das Verkehrte oder Zweckmäßige,
das Verständige oder Unverständige der Handlung zur
Erscheinung kommt? Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob die
Entscheidung über alle diese Alternativen unmittelbar oder mittelbar dem [218]
Verstande zufiele, und als ob also auch alle diejenigen Recht behalten
müßten, welche dieser Art von Nachahmung lediglich eine Wirkung auf
die „anschauende Erkenntnis“ ─ die cognitio sensitiva der Baumgartenschen
Ästhetik ─ zuschrieben. Sicherlich wenigstens erklärt sich
aus diesem Anschein sowohl jene irrtümliche Theorie als auch die Ausdehnung
derselben auf das gesamte Gebiet der Poesie, ja der Kunst
überhaupt, jene verhängnisvolle Täuschung, an welcher nicht allein die
„kritische Dichtkunst“ der Schweizer und das System Baumgartens Schiffbruch
litt, sondern von der auch Lessing sich nicht völlig frei zu machen
vermochte. Gewiß ist eine durch die Anschauung vermittelte Verstandeserkenntnis
möglich und es kann auch mit derselben die Bewegung der
Freude im Gemüt ─ die Hedone ─, also was die ältere Theorie
Ergötzen“, die neuere „Vergnügen“ oder „Genuß“ nennt, verbunden
sein, aber eben so gewiß gerät die künstlerische Nachahmung auf
einen Abweg, wenn sie die Komposition der Handlung auf die Erzielung
einer solchen Verstandeserkenntnis einrichtet. Das Vergnügen an
der Nachahmung von Handlungen beruht auf der Beschaffenheit der durch
sie erweckten Gemütsbewegungen, es geht aus der Energie der Aisthesis
hervor und besteht in der mit der Ausübung dieser Energie notwendig
verbundenen Erscheinung
in der Seele, welche den Charakter
der edelsten Freude um so mehr tragen wird, je höher entwickelt
das Vermögen der Aisthesis, der empfindenden Wahrnehmung,
bei dem Wahrnehmenden selbst ist und je höher geartet und zugleich
zweckmäßiger für die Aisthesis gestaltet das der Wahrnehmung sich darbietende
Objekt ist.

Nun gibt es aber jenen genannten Alternativen gegenüber ─ der
verkehrten und zweckmäßigen Handlungsweise, dem klugen und unklugen
Verfahren, dem verständigen und unverständigen, nützlichen und schädlichen
Beginnen ─ ganz bestimmte Empfindungen, welche denselben genau
entsprechen, mit Sicherheit die eine oder die andere anzeigen, die ganz ohne
alle Dazwischenkunft des Verstandes ein untrügliches ─ ästhetisches
─ Urteil über dieselben in sich schließen. Gerade diese Empfindungen
sind es, welche für den beobachtenden Sinn maßgebend sind bei der Auswahl
derjenigen Erscheinungen, Vorkommnisse und Bethätigungen, die
von ihm festgehalten und, zu den Gestaltungen der Fabel verwoben,
dem Andenken überliefert werden. Natürlich sind es auch dieselben, die
wiederum durch diese Überlieferungen hervorgerufen werden, und welche
also die Kunstdichtung für ihre Komposition als maßgebende Zwecke ins
Auge zu fassen hat.

Die vielfältigen Nüancen dieser Empfindungen gruppieren sich um [219]
die beiden entgegengesetzten, aber komplementären Grundempfindungen
des Wohlgefälligen und des Lächerlichen.

Entgegengesetzt sind diese Empfindungen, weil die eine dem
positiven Teil jener Alternativen entspricht, die andere dem negativen;
komplementär verhalten sie sich, weil sie beide die Äußerungen eines
und desselben ästhetischen Urteiles sind, so daß also in jedem Falle die
eine das Korrektiv der anderen bildet.

Jede Bethätigung des Willens, ja des Gedankens, die nach den
bezeichneten Richtungen mit einiger Bedeutung ins Gewicht fällt, ruft,
ganz abgesehen von der Prüfung durch den Verstand und schon vor
derselben, in unserem Gemüte eine unmittelbare Regung des Wohlgefallens
oder Mißfallens hervor, welche natürlich ebensowohl von dem Wesen der
erregenden Ursache als von der Beschaffenheit des von derselben erregten
Gemütes abhängig ist. Es kommt dabei außerdem aber noch ein doppelter
Maßstab zur Anwendung: einmal das Wohlgefallen oder Mißfallen
an dem Verhältnis der in einer Handlung verwandten Mittel
zu dem Zwecke
derselben und sodann das Wohlgefallen oder Mißfallen
an diesem Zwecke und diesen Mitteln selbst. Die Nachahmung
kann je nach den Mitteln, die sie verwendet, sich die Erregung der ersten
Art des Wohlgefallens vorzugsweise zum Zwecke setzen, oder die der
zweiten, oder auch sie kann beide zugleich ins Auge fassen: unter allen
Umständen aber wird sie Sorge tragen müssen, die beabsichtigte Empfindung
möglichst stark und sicher, unmittelbar und unzweifelhaft hervorzubringen.
Es liegt auf der Hand, daß in der Tierfabel, deren Personen
ohne sittliche Verantwortlichkeit handeln, das Wohlgefallen der ersteren
Art im Vordergrunde stehen wird, daß dagegen in den Nachahmungen
menschlicher Handlungen, auch wenn die handelnden Personen als aufs
Äußerste beschränkt dargestellt werden, schon der andere Maßstab in Betracht
kommt, und daß, je höher der Standpunkt derselben angenommen
wird, um so höher und reiner die bezweckte Empfindung des Wohlgefallens
sein wird, und daß Nachahmungen dieser Art zu den allerhöchsten
Wirkungen der Kunst sich erheben können.

So wäre also das in dem bezeichneten Sinne „Wohlgefällige
eine der Hauptquellen des Vergnügens bei dieser Art von Nachahmung.
Wie steht es aber mit der Empfindung des Mißfälligen? Muß diese
nicht in der Nachahmung ebenso unangenehm, verstimmend und also
ebenso zu vermeiden sein wie im Leben? Und wie wäre dennoch eine
der Wahrheit des Lebens sich anschließende Nachahmung denkbar, welche
diese Kehrseite des Wohlgefälligen ganz mit Stillschweigen übergehen
wollte?

[220]

Die Antwort ist diese: das Häßliche, Verkehrte, Unverständige,
Thörichte, Zweckwidrige der Handlungen fehlt in dieser Art von Nachahmung
so wenig, daß es vielmehr einen Hauptteil derselben ausmacht,
mitunter den weit überwiegenden: aber das hier geltende Kompositionsgesetz
läßt die ganze unendliche Vielgestaltigkeit dieses an sich mißfälligen
Elementes nur in der einen Darstellungsweise zu, welche die unangenehme
Wirkung auf das Empfinden in eine angenehme und kunstgemäße
verwandelt, in der Form des Lächerlichen. Das wäre also eine
solche Darstellungsweise des Verkehrten, daß dasselbe
durch die ausgeprägte Einseitigkeit, mit der es hervortritt,
und durch den Zusammenhang und die Umgebung, in die
es gestellt ist, sich unmittelbar und mit Sicherheit dem
Gefühl als das Gegenteil des Richtigen kundgibt.
Der
negative Empfindungseindruck wird dadurch zu einem unfehlbaren Mittel
den positiven zu erwecken, und das Mißfällige des Eindrucks verschwindet
gegen eine um so stärker und höher geartete Empfindung der Belustigung,
je unmittelbarer und vollständiger es gelingt, die positive Kontrastempfindung
anzuregen und je bedeutsamer und höher geartet der Gegenstand
derselben an sich ist. Aus dieser Definition ergibt sich von selbst, daß
die Empfindung des Lächerlichen nicht zustande kommen kann, sobald
die Gegensätze des Wohlgefälligen und Mißfälligen sich nicht ausschließlich
in den eben bezeichneten Alternativen des Klugen und Thörichten,
Zweckmäßigen und Zweckwidrigen, Geziemenden und Ungeziemenden und
des ihnen Verwandten, mit einem Worte des Verkehrten und Richtigen
bewegen. Sowie auf der negativen Seite das Element des
Schlechten, Bösen, Furchtbaren, mit einem Worte des Verderblichen,
als solchem
─ des φθαρτικόν des Aristoteles ─ hinzutritt,
so wird das Gewicht der mißfälligen Empfindung dermaßen verstärkt,
daß es durch die Empfindung der positiven Kontrastvorstellung
keineswegs aufgehoben werden kann, daß also eine Lustempfindung nicht
entstehen kann, vielmehr die Unlustempfindungen der Abneigung, Empörung,
des Schreckens das Feld behalten. Das Mittel, die genannten
Elemente ferne zu halten, liegt entweder allein in der Komposition
der Handlung, indem dieselben ganz ausgeschlossen oder doch
wenigstens hinsichtlich ihrer Wirkungskraft und ihrer Folgen genügend
abgeschwächt
werden, oder zugleich auch in der Wahl der handelnden
Personen, sofern durch dieselbe das Schlechte, Böse, Verderbliche
nicht als solches erscheint ─ wie bei den Tieren der Fabel.

Aus dem Gesagten ist nun leicht abzunehmen, daß die Empfindungen
des Wohlgefälligen und des Lächerlichen, welche oben als komplementäre [221]
bezeichnet wurden, ähnlich wie die Schicksalsempfindungen der Furcht
und des Mitleids, eine reciproke Wirkung aufeinander ausüben, dergestalt,
daß die eine die andere zu berichtigen geeignet ist. Jm Leben wie
in der Nachahmung stellt manches sich der Empfindung zunächst als
wohlgefällig dar, was mit größerem Rechte für sie in die Kategorie des
Lächerlichen fällt, zumal die Nüancen desselben ja so vielfältig sind,
vom leichten Lächeln bis zum Gelächter; und umgekehrt wird manches
zunächst als lächerlich empfunden, was im Verlauf seine Ansprüche auf
das echte und volle Wohlgefallen geltend macht. Wie da die wechselnde
Beleuchtung, in welcher der Gegenstand durch die geschickte Komposition
der Handlung der Empfindung bald von dieser bald von jener Seite
vorgeführt wird, vermögend ist die Empfindung zu klären und zu reinigen
und sie auf den rechten Stand zu führen, bedarf nicht des Beweises.

So wird also der allgemeine Charakter, welcher dieser Art von
Nachahmungen innewohnt, der des Heiteren sein, oder mit dem uns
geläufigeren griechischen Ausdruck bezeichnet, der des Komischen.

Zur Erzielung dieser Gesamtwirkung wird schlechterdings die Handlung
immer auf die Erregung der beiden Grundempfindungen des Wohlgefälligen
und Lächerlichen zugleich eingerichtet sein müssen: eine Darlegung,
welche ausschließlich und fortdauernd nur die eine hervorbringt,
wird notwendig einseitig und ermüdend sein. Doch kann das Mischungsverhältnis
sehr verschieden sein: die Tierfabel zielt durch die vorzugsweise
Nachahmung des Verkehrten der Handlungsweise hauptsächlich auf
die Erregung der Empfindung des Lächerlichen; das Wohlgefällige kommt
in ihr fast nur durch die Darstellung des Zweckgemäßen, Klugen, Schlauen
zur Geltung, das nebenher bei der Verfolgung des Handlungszieles zu
Tage tritt, mag dieses Ziel selbst auch das verkehrteste sein. Die Nachahmung
menschlicher Handlungen, welche hier zunächst sich anschließt,
ist diejenige, bei der die handelnden Personen auf einer niederen Stufe
geistiger und sittlicher Beschränktheit vorgeführt werden, welche sie insofern
dem erhöhten Tiercharakter verwandt erscheinen läßt, als auch bei
ihnen die Voraussetzung höheren Empfindens und sittlicher Verantwortung
absichtlich ferngehalten wird. Von dieser Art mag der dem Homer
zugeschriebene Margites gewesen sein; aus unserer deutschen Litteratur
würde der Eulenspiegel und das Lalenbuch hierher gehören, ebenso
dem Stoffe nach der Pfaffe Amis und der Ahnherr Münchhausens,
der Finkenritter. Das eigentliche komische Epos, welches,
wenn man von dem Roman absieht, in den vorhandenen Litteraturen
aller Völker nur eine kümmerliche Rolle spielt, müßte hier seine Quellen
haben. Auf die bekannte, aber gerade wegen ihrer großartigen Einfach= [222]
heit wenig gewürdigte Einteilung des Aristoteles fällt damit ein helles
Licht, wenn er (Kap. 4 der Poetik) das ernste Epos eine Nachahmung
schöner Handlungen und des Handelns entsprechend gearteter Personen
nennt ─ τὰς καλὰς ἐμιμοῦντο πράξεις καὶ τὰς τῶν τοιούτων
und wenn er das komische Epos und die Komödie als die
Nachahmung der Handlungen der Schlechteren
definiert, soferne
dieselben nämlich lächerlich seien
μίμησις φαυλοτέρων,
οὐ μέντοι κατὰ πᾶσαν κακίαν, ἀλλ' ᾗ1 τοῦ αἰσχροῦ ἐστὶ τὸ
γελοῖον μόριον ─; durch die obigen Ausführungen möchte diese Einteilung
ihre Erklärung und völlige Rechtfertigung finden.

Aber von diesen Anfängen der Gattung, dem Tierepos und dem
komischen Epos, von denen in unserer deutschen Dichtung nur das
erste volle Ausgestaltung gefunden hat, geht eine lange Entwickelungsreihe
aus. Die engen Beschränkungen bezüglich der Wahl der Personen,
in welchen Sage und Volksdichtung sich mit so unfehlbarer Sicherheit
bewegen, konnten in der Kunstpoesie nicht festgehalten werden, die ja
allenthalben das Bestreben einer fortschreitenden Annäherung an die
Wirklichkeit zeigt. Was damit aufgegeben wurde, mußte durch die kunstreichere
Zusammensetzung der Handlung wieder eingeholt werden. Die
ethische Gebundenheit der Personen gestattet die größte Einfachheit der
Handlung; sobald man aber völlig frei handelnde Menschen vorführt,
bedarf es der größten Kunst, um die Nachahmung der Handlungen so
zu gestalten, daß die ernsten Schicksalsempfindungen nicht berührt werden
und die hervorgerufene Wirkung sich nur in den heiteren Gegensätzen
des Wohlgefälligen und Lächerlichen hält. Ein sehr wertvolles Mittel
der Vereinfachung ist hier noch darin gegeben, daß man in Bezug auf
die äußeren Bedingungen der Wirklichkeit eine phantastische Freiheit zu
Gunsten der zu erzielenden Wirkung walten läßt, wie das z. B. die
alte griechische Komödie that und in gewissem Umfange die romantische
Richtung der neueren deutschen Litteratur wieder versucht hat. Wo auch
dieses Hilfsmittel weggefallen ist, wo also sowohl in der Beschaffenheit
der Personen als in den Bedingungen ihres Handelns die Analogie der
vollen Wirklichkeit zum Gesetz gemacht ist, da sind der Komposition die
schwierigsten Aufgaben gestellt, aber auch die höchsten künstlerischen Wirkungen
erreichbar, am meisten dann, wenn es gelingt, in den äußeren
Handlungen sowohl als in den Charakteren die Gegensätze des Wohlgefälligen
und des Lächerlichen so zu verschmelzen und gegenseitig sich [223]
durchdringen zu lassen, daß durch ein und dieselbe Handlung beide Empfindungen
zugleich in Erregung versetzt werden, daß also das Wohlgefallen
nicht ohne Lächeln stattfindet und das Lachen die wohlgefällige
Empfindung nicht aufhebt: das geschieht in der humoristischen Darstellungsweise.


Der Gattung nach gehört also die Tierfabel zum komischen
Epos,
dessen Ziel es ist, durch die Nachahmung von Handlungen die
reinen Empfindungen des Wohlgefälligen und Lächerlichen
zu erregen; ihr Artunterschied besteht darin, daß sie die
Gegensätze des Verkehrten und Zweckgemäßen innerhalb
der ethisch gebundenen Sphäre tierischer Handlungen
zur Empfindung bringt.

Wie weit von diesem Begriffe der Gattung sich die Erneuerung der
äsopischen Fabel entfernt, welche mit Lessings Namen bezeichnet ist,
wurde schon oben erörtert: nach einer andern Seite zweigt sich diejenige
Art sogenannter Fabeln ab, für welche sein älterer Zeitgenosse, Gellert,
das Vorbild wurde. Bei ihm ist umgekehrt das epische Element fast
durchweg festgehalten, dagegen in den bei weitem meisten Fällen selbst
in der äußerlichen Einkleidung von der Anwendung der Tiere als
handelnder Personen gänzlich abgesehen. Damit ist eine ganz neue
Gattung entstanden: die poetische Erzählung, die allerdings als
solche nicht von Gellert erfunden ist, die aber von ihm am meisten der
damals geltenden Theorie der Fabel angepaßt wurde.

Nun gab es eine unbefangene Auffassung der Epik zu jener Zeit
überhaupt nicht; sie war durch Gottscheds Lehre von der Dichtkunst,
und in den letzten Gründen ihrer Theorie auch von den Schweizern,
ganz in den Dienst der Moral und Didaktik gestellt. Welche Form der
Dichtung aber konnte sich leichter solchen Zwecken fügen als die Erzählung
einer einzelnen Handlung, zumal es so unendlich viel geringere
Kunst und Einsicht verlangt, durch eine ernsthafte oder komische Erzählung
eine allgemeine Wahrheit ins Licht zu setzen, als durch eine „poetische
Erzählung
“ den dieser Gattung eigenen ästhetischen Genuß ─ τὴν
οἰκείαν ἡδονήν ─ zu erwecken. Das Erstere haben Hunderte von
Dichtern vermocht, das Zweite ist nur sehr wenigen, den Allerbesten,
gelungen. ──────

[224]

XIV.

Es liegt in der Natur der moralisch=didaktischen, der Fabel verwandten,
poetischen Erzählung, lieber eine komische Färbung anzunehmen
als durch ernsten Vortrag ihren Zweck geradehin zu erreichen.
Der Grund ist leicht einzusehen: daß das Gute einer Handlung auch
von der Einsicht als solches erkannt wird, ist so natürlich und notwendig,
daß wir die Demonstration weder dem Dichter als ein Verdienst
anzurechnen noch ein Vergnügen an der bloßen Demonstration zu finden
geneigt sind. Der Dichter muß also in diesem Falle mehr thun, er muß
das Vortreffliche der Handlung zu einem Gegenstande der Empfindung
zu machen wissen; gelingt ihm das völlig, so hat er sich über die moralische
Tendenz erhoben, seine Erzählung wirkt unmittelbar durch sich
selbst und er ist zum echten Dichter geworden; gelingt es ihm aber nur
teilweise, so ist jenem Mangel wenig abgeholfen, sein Gedicht bleibt
trivial.

So sind denn auch die ernsten Erzählungen bei Gellert die bei
weitem weniger gelungenen. Ein Beispiel der schlechtesten Art ist „Der
Jnformator
“, dem der reiche Bauer in aufrichtiger Anerkennung seiner
vortrefflichen Pflichterfüllung statt der geforderten dreißig Thaler Jahresgehalt
„von Herzen gern“ deren hundert bewilligt. Noch abgeschmackter
freilich ist die Geschichte von „Calliste“, der reichen und schönen Dame
„mit zärtlichem Gemüte,“ welcher der Wundarzt, der „schmachtend insgeheim
Callistens Reiz verehrte,“ durch den Anblick ihres weißen Armes
verwirrt, beim Aderlaß den Puls durchschlägt, und die er dann, in noch
größerer Bestürzung, so schlecht behandelt, daß der Arm amputiert werden
muß, die Wunde brandig wird und schließlich den Tod herbeiführt:


Auch hier blieb noch das große Herz gelassen.

So sprach sie: sterb' ich denn? Wohlan! Er ist nicht schuld,

Er würde gern für mich erblassen.

Gott hat's verhängt, Gott ehr' ich durch Geduld,

Und bin bereit, den Augenblick zu sterben;

(Der Wundarzt trat indem herein),

Sie aber, fuhr sie fort, setz' ich hiemit zum Erben

Von allen meinen Gütern ein,

Sie möchten sonst unglücklich sein.

Sie sprach's und schlief großmütig ein.

So niedrig diese Gattung von Gedichten ist, und so schielend oft
noch obendrein die dargestellte Moral, soviel Behagen fand Gellert an
ihr und mit ihm seine ganze Zeit und zahlreiche Nachahmer, wie Gleim, [225]
Götz, Pfeffel und viele andere. Eine Stufe weniger tief stehen Erzählungen
wie Gellerts „Herodes und Herodias“ und „Monime“;
hier liegt doch wenigstens etwas vor, was wert ist erzählt zu werden,
wenn auch jede Spur poetischer Nachahmung in dem Schwalle von
Moral erstickt wird. Nicht besser steht es mit den „rührenden“ Erzählungen,
in welchen erstlich das Betrübende mit dem Tragischen verwechselt,
und sodann der bloße Jammer über einen in möglichster Breite
mitgeteilten Unglücksfall ─ „das Glück, um andre sich zu quälen“ ─
für einen Akt der Moralität ausgegeben wird. Ein Musterstück dieser
Abart ist bei Gellert „Das neue Ehepaar“: ein junger Ehemann verreist
zur See, seine Frau geht bald darauf am Strande spazieren, findet
seinen ans Land gespülten Leichnam und stirbt aus Schmerz gleichfalls;
dieser nackte Thatbestand, ohne jede weitere Modifikation, jedoch mit
vielen moralischen Reden verbrämt, in mehr als ein hundert und dreißig
Versen vorgetragen.

Betrachtet man das hier obwaltende Verhältnis genauer, so sieht
man darin die gemeinsame Ursache sich darstellen für alle die Jrrtümer,
die in der Theorie und in der Ausübung die erzählende Poesie der ersten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beherrschten. Bei der Entartung
der Dichtung meinte man die verlorene Würde derselben nur in ihrer
bessernden und belehrenden Wirkung erblicken zu müssen, und so geschah
es, daß man den unscheinbaren Nebenzweig der äsopischen Tierfabel nun
plötzlich für die Verkörperung der wesentlichsten Gesetze aller erzählenden
und darstellenden Poesie erklärte, für ihre eigentliche, typische Grundform:
Einkleidung eines allgemeinen moralischen oder lehrhaften Satzes
in die Darstellung oder Erzählung einer Handlung. Daß wenigstens
für die Auffassung der Fabel dies die zutreffende Annahme sei, galt ja
noch Lessing für unbestreitbar.

Nun lag in dieser Auffassung der Fabel zu einem Teile wirklich
etwas Zutreffendes, welches aber durch den beigemischten Jrrtum sogleich
auch für die Theorie der Fabel selbst in ein Falsches verwandelt wurde
und in seiner Anwendung auf die gesamte Poesie vollends zu einer Verirrung
werden mußte.

Dieses Zutreffende war die Erkenntnis, daß es sich in der Tierfabel
um ein Urteil über die Gegensätze des Verkehrten und Nützlichen,
Richtigen und Falschen, Zweckmäßigen und Zweckwidrigen handelt,
mittelbar sogar auch des Rechten und Unrechten, Guten und Bösen:
freilich nur daß dieses letztere sich dem Urteil nicht als solches, sondern
im Lichte jener erstgenannten Gegensätze erscheinend darbietet; vor
allem aber daß es ein Urteil nicht des Verstandes, sondern der [226]
Empfindung ist, ein ästhetisches Urteil, welchem also alle die
genannten Gegensätze auch nur in dem Falle zugänglich werden, wenn
sie eben an die Empfindung sich wenden, die eine Seite derselben in der
Form des Wohlgefälligen, die andre in der des Lächerlichen. Es
ist oben gezeigt worden, wie die Fabel durch die Beschränkung ihrer
handelnden Personen auf die Tierwelt die für diesen Zweck spezifisch
geeignete technische Einrichtung gewonnen hatte.

Nachdem aber der episch=ästhetische Sinn immer mehr verloren gegangen
war, trug die Tradition der äsopischen Fabel noch mehr zu dem
Jrrtum bei, daß man das Ergebnis des ästhetischen Urteils, wie der
Verstand nachträglich es sich zum Bewußtsein bringt, für den eigentlichen
Zweck und Jnhalt der Fabel ansah, und es völlig verkannte, daß
im geraden Gegensatz die Freude an derselben unauflöslich damit verknüpft
ist, zu diesem Resultate auf dem Wege des ästhetischen Urteils
zu gelangen, daß sie die Begleiterin der durch die Nachahmung der
Handlung erregten Empfindungsthätigkeit ist. Die Täuschung war um
so schwerer zu entdecken und hielt um so länger an, als ja das Erkenntnisurteil,
mit welchem man sich begnügte, auf Grund einer
Anschauung gefällt wurde, und als ja ferner ein gewisser Grad von
Freude mit einem solchen Erkenntnisurteil ebensowohl wie mit jeder
andern Thätigkeit des Verstandes
verknüpft ist: nur eine Freude,
die der Art wie dem Grade nach von der ästhetischen ebenso verschieden
ist wie die entsprechenden Thätigkeiten des Verstandes
und der Empfindung es selbst sind.

War nun einmal der Standpunkt für die Theorie der Fabel derartig
verschoben, daß man in ihr die organische Vereinigung des Vergnügens
an der Anschauung und der bessernden und belehrenden Wirkung
auf die Erkenntnis erblickte, so lag es nahe, sie für den Typus der
Poesie überhaupt zu erklären und zunächst das Gesetz für die gesamte
Epik und Dramatik aus ihr abzuleiten: man nehme einen allgemeinen
moralischen Satz, eine allgemeine Jdee des Guten oder des Rechten und
suche oder erfinde eine Geschichte, welche denselben der Anschauung so
vorführe, daß die Erkenntnis jenes Satzes oder jener Jdee mit Leichtigkeit
gewonnen werden könne. Aus einer solchen Grundanschauung von
der Poesie mußte dann die weitere Vorstellung sich mit Notwendigkeit
ergeben, daß auch die Lyrik ihre Würde und damit ihre Berechtigung
nur in der Förderung der Erkenntnis und Uebung des Guten und
Wahren finden könne.

Diese Anschauungen, welche von Gottsched und den Schweizern in
mehr oder weniger grober Form, mit größerer oder geringerer Plattheit [227]
und Beschränktheit ausgesprochen waren, haben in mehr und mehr verfeinerten
Formen noch das ganze achtzehnte Jahrhundert unter ihrer
Herrschaft gehalten, mit alleiniger Ausnahme der wenigen Größten, die
eben dadurch alle andern so hoch überragen: im Grunde haben außer
Lessing nur Schiller und Goethe sich ganz frei davon gemacht.

Keine poetische Gattung hat unter dieser Gesamtanschauung schwerer
gelitten als die epische. Selbst entschiedene und kräftig angelegte Talente
wurden dadurch in den Gellert-Gleimschen Niederungen festgehalten, sobald
sie es mit der ernsthaften „poetischen Erzählung“ versuchten. Wie
ganz andere Züge würde Ewald von Kleists epische Muse tragen,
wenn er um ein Menschenalter später geboren wäre! Man betrachte
nicht allein so ganz auf „tugendhafte“ Rührung abzielende Stücke wie
Emire und Agathokles“ oder die Erzählung von der „Freundschaft
des edlen und tugendhaften Leander und des gleich edlen und
ebenso tugendhaften Selin, sondern auch sein kleines Heldengedicht in
drei Gesängen „Cissides und Paches“, dem es an markigen Stellen
echt epischer Darstellung nicht fehlt, und das dennoch als Ganzes, weil
es nach Plan und Ausführung einzig und allein unter den moralischen
Gesichtspunkt gestellt ist, unschmackhaft wird. Auch tritt in diesem Punkte
keine Wandlung ein bis auf Bürger, bei dem zuerst die Elemente sich
zu scheiden beginnen.

Schon zuvor aber war dieser Scheidung und der Erkenntnis des
wahren Wesens der Epik eine andre Entwickelung zu Hülfe gekommen:
dieselbe vollzog sich auf dem, wie schon bemerkt, von vornherein dafür
günstiger beschaffenen Boden der komischen Erzählung.

Die einfache Unterscheidung des Aristoteles ─ nicht zwar hinsichtlich
des Wesens der ernsten und komischen Poesie, sondern hinsichlich
der Art ihrer Entstehung ─, daß die erstere sich herausgebildet
habe, indem man edle Charaktere und deren Handlungen nachahmte,
die andre, indem sie schlechtere Charaktere und Handlungen
darstellte, zunächst spottweise einzelne Personen angreifend, dann
aber unter dem allgemeinen Gesichtspunkte des Lächerlichen (οὐ
ψόγον ἀλλὰ τὸ γελοῖον δραματοποιήσας, was von demselben Homer
gesagt ist, der καὶ τὰ σπουδαῖα μάλιστα ποιητής genannt wird) ist
tiefsinniger und fruchtbarer als es scheint und als angenommen wird.
Es lassen sich die Grundzüge der Theorie sehr wohl daraus entwickeln.
Der Grund nämlich, um dessentwillen Aristoteles seine Einteilung macht,
ist der, daß in den Bezeichnungen „edle“ und „schlechte“ ─ σπουδαῖοι
und φαῦλοι ─ sämtliche mögliche Arten von Ethos einbegriffen seien,
welche in Handlungen zur Erscheinung kommen können. Da nun aber [228]
jegliche „poietische“ Nachahmung von Handlungen zum Zwecke hat,
durch Thätigkeit der Aisthesis Empfindung zu bewirken, und zwar
als künstlerische Nachahmung das quantitative und qualitative
Maximum
derselben ─ die zugleich richtigste und stärkste ─, so kann
die Handlungen nachahmende Poesie diesen ihren Zweck überhaupt nur
auf zweierlei Art erreichen: direkt, indem sie Handlungen von edlem,
gutem Ethos darstellt, oder, indem sie alle Arten der aus schlechtem oder
doch irgendwie fehlerhaftem Ethos hervorragenden Handlungen für ihren
Zweck verwendet, indirekt.

Von dieser zweiten Art also, aus welcher Aristoteles den Ursprung
der komischen Poesie herleitet, muß hier zunächst gehandelt werden.

Jndem die unendliche Masse der entschieden schlechten Handlungen,
oder die aus falscher Empfindung und verkehrter, ungesunder Gemütsart
hervorgehen, zugleich in ihrem entscheidenden Einflusse auf das Schicksal
der Menschen sich dem Dichter darstellt ─ wodurch reizen sie ihn zur
Nachahmung? Denn sie nur etwa um ihrer selbst willen, um sie getreu
zu wiederholen, nachzuahmen, würde doch nicht künstlerisches Schaffen
─ Poiesis ─ sein. Das mißbilligende, moralische oder intellektuelle
Urteil
kann ihn nimmermehr dazu bewegen; es hat seinen
eigenen abstrakten Ausdruck und bedarf der Denkthätigkeit, aber
keiner Art von Nachahmung. Was ihn dazu anzutreiben vermag, Handlung
und Begebenheit dem Leben nachzuerschaffen, kann allein der
Umstand sein, daß die Wahrnehmung zur naturgemäßen Folge eine
Thätigkeit der Seele hat, welche auf keine andre Art aufs neue
hervorgerufen werden kann, als durch die Reproduktion jener Handlung
und Begebenheit selbst. Solcher Art ist einzig und allein die Empfindungsthätigkeit
der Seele. Während aber im Leben die Beschaffenheit
dieser so hervorgerufenen Empfindungsthätigkeit je nach
den sie erzeugenden Handlungen und Begebenheiten eine verschiedene
und zufällige ist, wählt der nacherschaffende Dichter ─ der ποιητής
─ die Beschaffenheit derselben so aus und bestimmt sie ihrer ganzen
innern und äußern Vollständigkeit nach derartig, daß, welcher Art die
von ihm als Mittel zu seinem Zwecke verwandten Handlungen und
Begebenheiten auch seien, dieser Zweck, die dem Anlaß entsprechende
richtige Empfindungsweise zu erwecken, möglichst vollkommen erreicht
werde.

Es fragt sich nun, wie können schlechte oder fehlerhafte
Handlungen oder doch solche, die aus einem fehlerhaften Ethos
hervorgehen,
und die dieselben bedingenden und begleitenden Begebenheiten
richtige Empfindungsweise hervorrufen? Ferner, wie hat [229]
der Dichter zu verfahren, um der Erreichung seines Zweckes gewiß sein
zu können?

Offenbar kann auf zweierlei Arten dabei verfahren werden, und
beide hat Aristoteles in seiner Skizze von der Entwickelung dieser Art
von Poesie angeführt: die erste ist die tadelnde, spottweise Darstellung
(ψόγος), aus ihr geht die Satire hervor, die zweite ist die lächerliche
Darstellung (τὸ γελοῖον), sie gibt allen Arten der komischen
Epik
und der Komödie die Entstehung.

Die tadelnde Darstellung einer Handlung begnügt sich damit, das
Fehlerhafte derselben so stark hervorzuheben, daß die demselben entgegengesetzte
richtige Gesinnungsweise, die den Darsteller beseelt, durch die
Nachahmung auch in dem Hörer hervorgerufen wird. Der Nachahmungszweck
ist hier das zu erzeugende Ethos, die dargestellte Handlung
Mittel zu diesem Zweck; daher ─ zum sicheren Zeichen dieses Verhältnisses
─ die Einheit solcher Darstellung auch nur in ihrem Ethos
liegt, nicht in der Handlung, so daß die mannigfaltigsten Handlungen,
sofern sie nur durch den Gegensatz zu dem Ethos der Darstellung
gleichartig sind, darin vereinigt werden können. So verfährt die Satire,
die deswegen auch, wie oben erörtert, weit eher dem lyrischen als
dem epischen Gebiete zuzurechnen ist. Je nachdem das Ethos beschaffen
ist, welches der Dichter durch Vorführung von Fällen seines Widerspieles
stark anregen will, kann sie strafenden, ja grimmig anklagenden, auch
erhabenen Charakter annehmen, oder auch, wenn der Dichter die Laster,
Fehler und Gebrechen nicht jedesmal vereinzelt lediglich als Verletzungen
seines Gefühles empfindet, sondern sie nach der innern Vollständigkeit
ihrer Entstehung und Bedingtheit zwar nicht abgeschwächt, aber doch als
Ergebnisse der allgemeinen menschlichen Schwäche auf sich wirken läßt,
kann sie die abgeklärte Färbung eines eben so ernst gehaltenen als gelassenen
und wahrhaft heiteren Ethos annehmen.

Natürlich kann jede Art der Satire mannigfache leisere oder stärkere
Schattierungen des Lächerlichen in sich aufnehmen, aber die eigentliche
Wirkung des Lächerlichen ist in der Poesie schlechterdings
an die Darstellung der Handlung um ihrer selbst willen gebunden,
also in der Poesie an die Gattungen, denen diese
Nachahmung Zweck ist, die Epik und Dramatik.
Denn nicht
seinem ganzen Umfange nach ist das weitausgedehnte Gebiet des Lächerlichen
für die Poesie verwendbar, manche seiner Teile können nur als
Beiwerk von ihr benutzt werden, für ihr Hauptwerk kommt nur eine bestimmt
begrenzte Provinz des Gesamtgebietes in Betracht.

Von den zahlreichen modernen Versuchen den Begriff des Lächerlichen [230]
zu erklären ─ von denen keiner die Aufgabe löst, sondern ein jeder
nur einzelne Attribute des Gesamtbegriffes einschließt ─ kehrt man am
besten zu der ältesten Definition zurück, von der sie alle mehr oder
minder abhängig sind. Obwohl die speziellen Erörterungen des Aristoteles
über das Lächerliche uns verloren sind, so ist doch die beiläufig
von ihm aufgestellte Erklärung desselben gerade in ihrer weiten Fassung
noch immer die einzig stichhaltige, sobald nur jedes Wort darin nach
seinem ganzen Umfange erwogen wird. Jm fünften Kapitel seiner Poetik
heißt es: τὸ γὰρ γελοῖον ἐστιν ἁμάρτημά τι καὶ αἶσχος ἀνώδυνον καὶ
οὐ φθαρτικόν, d. h.: „Das Lächerliche besteht in einer Fehlerhaftigkeit
und Häßlichkeit (Deformität), die weder Schmerz
noch Schaden verursacht.
“ Von den lächerlichen Gegenständen ist
also erstens ausgesagt, daß sie eine dem Richtigen und Schönen entschieden
entgegengesetzte Beschaffenheit haben müssen, sie müssen schlechtweg
fehlerhaft, häßlich sein. Was aber sodann als das näher unterscheidende
Merkmal angegeben ist, verlangt eine zwiefache Auslegung:
die Schmerzlosigkeit und Unschädlichkeit des Fehlerhaften und
Häßlichen kann entweder objektiv, an sich, vorhanden sein, oder subjektiv,
der Vorstellungs= oder auch der Betrachtungsweise des
Wahrnehmenden nach.

Die Sache verhält sich also so: wenn sich ein Ding als entschieden
fehlerhaft oder häßlich
darstellt und zwar so, daß es entweder an
sich keinerlei schmerzliche Empfindung oder schädliche Wirkung hervorbringt
oder doch so vorgeführt und aufgenommen wird, daß derartige
Empfindungen und Wirkungen ausgeschlossen bleiben, so ist das
diese doppelte Beschaffenheit konstatierende Urteil von der
Erscheinung des Lachens begleitet.
Denn dies hat das Lachen
mit der Freude gemeinsam (das übrigens nach aristotelischen Begriffen
direkt den ἡδέα den „freudigen“ Dingen zugezählt wird), daß es eine
Erscheinung ist, welche, sofern sie nicht rein äußerlichen körperlichen
Einwirkungen entspringt, als Begleitung und gewissermaßen abschließendes
Resultat einer Thätigkeit (τελείωσις τῆς ἐνεργείας) auftritt. Man würde
sich ganz innerhalb der aristotelischen Anschauungsweise befinden, und,
wie es scheint, auch in Übereinstimmung mit der Wahrheit und den Thatsachen,
wenn man in diese weiteste Auffassung auch das Lachen überhaupt
als unmittelbaren Ausdruck der Freude miteinbegriffe, doch ist hier nur
im engeren Sinne von demjenigen Lachen die Rede, welches dem „Lächerlichen“
entspricht, und auch dieses erscheint als Begleitung und Abschluß
einer Thätigkeit: diese Thätigkeit ist eben jenes „Urteilen“, welches das
Vorhandensein der das Lächerliche bedingenden Umstände konstatiert.

[231]

Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich von selbst die Unterscheidung
der verschiedenen Arten des Lächerlichen und die Feststellung derjenigen,
welche für die poetische Nachahmung geeignet sind.

Das Urteil über die Fehlerhaftigkeit oder Häßlichkeit der Objekte
und ihre schmerzliche oder schädliche Wirkung ist entweder ein moralisches
oder ein verstandes mäßiges oder ein ästhetisches.

Von diesen drei Arten des Urteils ist, wo es sich um das Lächerliche
handelt, das moralische von vorneherein auszuscheiden: unter dem Gesichtspunkte
der sittlichen, praktisch=vernünftigen Beurteilung muß
alles Fehlerhafte als schädlich erscheinen, und auch dem dieser Beurteilungsweife
entsprechenden sittlichen Gefühl muß alles sittlich Häßliche
schmerzhaft verletzend sein. Für die sittliche Beurteilung kann es also
ein Lächerliches überhaupt nicht geben, und in der Goetheschen Definition:
„das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine
unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird,“1 kann
das Epitheton „sittlich“ in seiner eigentlichen Bedeutung unmöglich verstanden
werden.

Dagegen liegt auf dem Gebiete des Verstandesurteils ein weites
Feld des Lächerlichen. Zwar wird es auch hier schwerlich irgend ein
Fehlerhaftes und Häßliches geben, welches nicht zugleich als schädlich betrachtet
und als das Gefühl verletzend erkannt werden müßte, sobald
der Verstand nach dieser Richtung hin es beurteilt.
Der große
Unterschied aber ist der, daß das moralische Urteil diese Richtung unter
allen Umständen einzuschlagen gezwungen ist, während der Verstand sie
in sehr vielen Fällen ausschließen kann. Dieser Fall ist überall da als
objektiv vorhanden anzusehen, wo die schädliche oder verletzende Wirkung
sehr gering oder der Reflexion sehr fernliegend ist, ferner subjektiv überall
da, wo individuell für den Beurteiler diese Wirkung nicht zutrifft oder
die Reflexion darauf nicht vorhanden ist, oder auch wo beides durch
die momentan angewandte Darstellungs- und Betrachtungsweise
geflissentlich ferngehalten wird.
Auf dem letzteren Verfahren
beruht zu einem wesentlichen Teile die witzige Darstellung.
Andrerseits fällt auf diesem Gebiete ebenso die Wirkung des Lächerlichen
ganz fort, sobald der urteilende Verstand nicht genügend ausgebildet ist,
um die Grundbedingung desselben, das an sich Fehlerhafte und Häßliche
als solches, zu erkennen.

So ist starke Unkenntnis oder Unerfahrenheit auf dem Gebiete des
Wissens, des Könnens oder der Sitte, oder grobes Mißverständnis, [232]
arger Mißgriff auf diesen Gebieten eine Quelle des Lächerlichen, und
zwar um so reicher fließend, je mehr der Urteilende wissend und geschickt
ist, dagegen ganz verschlossen für den Unwissenden und Ungeschickten.
Ferner wird die lächerliche Wirkung durch jede ihr anhaftende Schädlichkeit
oder Schmerzlichkeit objektiv aufgehoben oder sie wird subjektiv beeinträchtigt,
wenn sie dem Einzelnen für seine Person sich derartig fühlbar
macht; und endlich wird das Lächerliche selbst in solchem Falle wieder
hergestellt, sobald der Fall losgelöst von allen andern Beziehungen ganz
allein
unter dem Gesichtspunkte des Mangels an Wissen und Geschick
vorgetragen wird. Weil nun aber von einem Defekt nur da die Rede
sein kann, wo man ein Recht hat Vollständigkeit vorauszusetzen, von
einer Fehlerhaftigkeit (ἁμάρτημα), also nur, wo man Richtigkeit,
von einer Deformität (αἶσχος) nur, wo man Uebereinstimmung
mit Recht erwartet ─ (bei einem Kinde ist Mangel an Wissen und
Sitte kein Fehler, bei einem seiner Gattung gemäß geformten Naturdinge
das unsern Schönheitsbegriffen Widersprechende keine Deformität,
nur mit Unrecht „Häßlichkeit“ genannt nach einer dem Wesen
des Dinges ganz fremden Analogie!) ─, so ist von den modernen Erklärern
in diese eine dem Begriff notwendig anhaftende Eigenschaft das
Wesen des Begriffes selbst gesetzt, indem man das Lächerliche durchweg
als einen Kontrast definierte, entweder wie Lessing als einen Kontrast
von „Mangel und Realität“,1 oder wie Goethe als einen „sittlichen
Kontrast, wo „sittlich“ wohl die Sphäre des Bewußten und
Verantwortlichen bezeichnen soll, oder wie Kant als die „plötzliche
Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts.
2 Alle
diese Zusätze und Einschränkungen gehören also nicht zu dem Grundwesen
des Lächerlichen: ein andres ist es, daß unter den Mitteln das Fehlerhafte
und Deforme als solches darzustellen die Hinzufügung einer
Kontrastvorstellung allerdings zu den wirksamsten gehört; das Grundwesen
des Lächerlichen jedoch liegt lediglich in dem Fehlerhaften und
Deformen, das ohne alle Beimischung als solches sich dem Urteil darbietet.

So ist die Schwäche an sich nicht lächerlich, weil sie da, wo sie
naturgemäß ist, nicht als Fehler erscheint; aber die bloße Körperschwäche
bildet unter Leuten, bei denen Körperkraft ein naturgemäßes und wesentliches
Erfordernis ist, allerdings schon einen Grund der Lächerlichkeit.
An sich ist die Unkenntnis, z. B. des römischen Kalenders, nichts Lächerliches,
bei einem Altertumsforscher jedoch wäre sie ein Fehler und deshalb [233]
lächerlich, freilich nur unbedeutend, wie ja auch der Fehler kein bedeutender
wäre in betreff der römischen Datierung einen Jrrtum zu
begehen. Wenn dagegen jemand auf die Frage, in welche Zeit die Jdus
fallen? den Aufschluß gäbe: „meistens in den März,“ so wäre ein solches
Hamartema, selbst als bloßer Jrrtum des Augenblickes, entschieden komisch,
weil dieses Mißverständnis, ernstlich genommen, nur bei der stärksten
Unkenntnis möglich ist. Eine reiche und sehr viel ausgebeutete Fundgrube
des Lächerlichen eröffnet sich auf diesem selben Boden, wenn ein
Unwissender und Ungeschickter durch den Zufall als Wissender und Geschickter
erscheint und nun mit allerlei Würden, Ämtern und Aufgaben
betraut wird, die ihn in ununterbrochener Reihe die ärgsten Fehlerhaftigkeiten
zuwege bringen lassen. Wird dergleichen der Wirklichkeit entnommen
oder als wirklich dargestellt, so hört das Lächerliche mit dem
Moment auf, wo die Folgen schädlich werden, und es kann sich dann
sogar in das Furchtbare verwandeln, wie wenn ein zum Heerführer ernannter
hohler Günstling Niederlage und Untergang eines Staates verursacht.
Aber selbst mit derartigen, von der Sache untrennbaren, schweren
Folgen kann der Charakter des Lächerlichen durch die Behandlung des
Stoffes gewahrt bleiben, sobald die Darstellung ganz in die Sphäre der
Phantasie verlegt wird, wie im Märchen, oder ganz in die Sphäre
des bloßen Verstandesurteils, wie in der Anekdote: in beiden Fällen
werden alle schmerzlichen und schädlichen Beziehungen eliminiert, und es
bleibt das bloße Faktum der Fehlerhaftigkeit für die Beurteilung übrig.

Daß aber in der That der Begriff des Lächerlichen durch die bloße
Fehlerhaftigkeit und Deformität als solche konstituiert wird und nicht
durch den Kontrast derselben mit der Vorstellung des Erhabenen oder
mit einer zu Tage tretenden Absicht, zeigt sich deutlich, wenn man in
der schon oben angedeuteten Weise jene das Lächerliche konstituierenden
Begriffe genau in der ihnen zukommenden Bedeutung erfaßt. Die Begriffe
des ἁμάρτημα ─ der Fehlerhaftigkeit oder Verirrung ─ und des
αἶσχος ─ der Deformität ─ decken sich keineswegs an sich mit dem
Begriff des bloßen Mangels an Trefflichkeit, Vollkommenheit und Schönheit,
sondern schlechterdings ganz allein da, wo mit Recht diejenige Trefflichkeit,
Vollkommenheit oder Übereinstimmung der äußeren Gestalt vorausgesetzt
wird, von welcher sie abweichen. Das Kamel, die Spinne, der
Tausendfuß, das Krokodil mögen uns unschön erscheinen und wir mögen
sie nach unserm Sprachgebrauch „häßlich“ nennen, die Eigenschaft des
αἶσχος, der „Deformität“, kommt ihnen nicht zu, dem Kundigen wird
im Gegenteil ihre Gestalt als mit ihrer Naturbestimmung in hohem Grade
übereinstimmend erscheinen. Dagegen sind Falstaffs Wanst, Bardolphs [234]
feurige Nase, die Körpererscheinung eines Schaal und Stille oder von
Falstaffs Rekrutenschar Deformitäten und lediglich als solche lächerlich;
ja für eine Anschauungsweise, die das Schmerzliche und Schädliche außer
acht läßt, sind es ebenso alle auffallenden körperlichen Gebrechen, Schiefheit,
Buckeligkeit, Hinken, Magerkeit und Fettheit, oder selbst außergewöhnliche
Größenbeschaffenheit der Nase, die wohl wegen ihrer prominenten
Position von jeher ein bevorzugtes Objekt für die Darstellung
des Lächerlichen gewesen ist. Ganz ebenso kann Fehlerhaftigkeit oder
Jrrtümlichkeit nur da erkannt werden, wo nach dem Wesen, der Beschaffenheit,
Stellung, Amt, Würde der Person oder des Dinges Richtigkeit,
relative Vollkommenheit erwartet werden müssen. Unter den Mitteln,
diese Erwartung zu erregen, ist eins der sichersten und stärksten das Vertrauen
auf den Besitz derselben, die Bestrebung diesen Besitz zu erreichen
oder die Absicht als im Besitz befindlich zu gelten kund zu geben. Aber
es heißt von der Hauptsache auf Nebendinge abirren, den Begriff des
Lächerlichen verengen und seine Erkenntnis verdunkeln, wenn man auf
dieses einzelne, zu seiner Beschaffenheit gehörende Attribut (ein συμβεβηκὸς
καθ' αὑτό) auf einen derartigen Kontrast also, seine Definition
gründet, statt auf seine wesentliche Beschaffenheit (das τί ἐστιν).

Man nehme als das zu allernächst liegende Beispiel das „Verirren“
im eigentlichen Sinne des Wortes. Es hat ─ immer abgesehen von
allem Schädlichen, Gefährlichen, Schmerzlichen, das sich beimischen kann,
sondern das Hamartema nur als solches betrachtet ─ nichts Fehlerhaftes
und also auch nichts Lächerliches, wenn jemand sich in einer
Gegend, die er nicht kennt, verirrt, auch nicht, wenn er etwa auf Ersuchen
seiner Begleiter es übernommen hat, sie nach der Karte zu führen.
Ein anderes aber ist es, wenn er mit Berufung auf seine Fähigkeit nach
der Karte sich zu orientieren sich die Führung angemaßt hat, oder wenn
er behauptet die Gegend gut zu kennen; dann ist mit der Fehlerhaftigkeit
auch die Lächerlichkeit sofort da. Ebenso ist es, wenn jemand auf
ihm wirklich genau bekanntem Terrain sich selbst verirrt oder andre irre
führt; ferner ebenso bei einem Führer von Profession oder einem sonst
irgendwie zum Führer Berufenen, sobald das Ärgerliche und Schädliche
ausgeschieden wird. Allenthalben beruht das Lächerliche auf dem Fehlerhaften
und Deformen als solchem; es kommt nur darauf an, daß dasselbe
an sich stark genug und daß es möglichst evident sei; denn je mehr
es in die Augen fällt, desto schneller wird es durch das Urteil konstatiert
und desto stärker und unmittelbarer ist die lächerliche Wirkung.

Das Vermögen erstens unter den zahlreich vorhandenen Mitteln
jedesmal das geeignetste auszuwählen, um die Fehlerhaftigkeit oder De= [235]
formität der Dinge möglichst stark hervortreten zu lassen, zweitens dieselbe
für das bloße Verstandesurteil zu isolieren, ist der Witz.

Bei allen den unzähligen Formen des Witzes führt die Analyse
zuletzt immer auf diese Wesenselemente. Die sämtlichen Arten des Kontrastes
nehmen, wie schon gesagt, unter den Mitteln der witzigen Darstellung
einen hervorragenden Platz ein: so der Kontrast des Mittels
gegen den Zweck (auf diesen basiert Jean Paul seine Gesamtdefinition
des Komischen, welches nach ihm „eine sinnlich angeschaute Zweckwidrigkeit“
ist), oder der der Erhabenheit und Nichtigkeit (worauf Th. Vischers
Definition hinausläuft), oder zwischen Erwartung und Aufschluß, Absicht
und Erfolg, Ursache und Wirkung. Ebenso gehört zu diesen Mitteln
das Verfahren ein Einigungsmoment für das Unzusammengehörige oder
Widersinnige aufzustellen, „zwischen Unähnlichem das Ähnliche aufzufinden“
(was mitunter als die alleingültige Definition des Witzes acceptiert
ist).1 Unter den Arten dies letztere Verfahren ins Werk zu setzen hat
auch das Wortspiel seinen Platz. Ein Erweis für die Richtigkeit und
Allgemeingültigkeit der einfachen aristotelischen Erklärung des Lächerlichen
liegt aber darin, daß auch bei diesem Verfahren der Zusammenstellung
des Heterogenen
unter einem Gesichtspunkt wirklicher oder scheinbarer
Gleichartigkeit
der eigentliche Witz nur da vorhanden ist, wo
es als Mittel, angewandt ist eine Fehlerhaftigkeit oder Häßlichkeit ─
einen Defekt also an der zukommenden Form ─ augenscheinlich zu
machen. Als Beispiel diene die witzige Bemerkung Börnes: „Als
Pythagoras seinen Lehrsatz erfunden hatte, opferte er eine Hekatombe:
seitdem zittert jeder Ochs, so oft eine neue Wahrheit entdeckt wird;“
oder wenn Schiller von der Poesie der Minnesänger sagt: „es sei hier
immer und ewig der Winter, der geht, der Frühling, der kommt, und
die lange Weile, die bleibt;“ und wenn auf einen Politiker, der seiner
Thätigkeit entsagend über den Ocean ging, das Wortspiel gemacht wurde:
„er wollte lieber überseeisch als überflüssig werden,“ ein Beispiel, das
besonders deutlich zeigt, wie die Qualität des Lächerlichen von dem Urteil
über das vorhandene Hamartema abhängt; denn Bemerkungen wie diese
können nur den über die jedesmal betroffene Person oder Sache entschieden
negativ Urteilenden komisch erscheinen. Freilich kann man sich
über diesen Sachverhalt leicht täuschen, da es eine große Menge sogenannter
„Witze“ gibt, welche das Mittel zum Zwecke machen und die
Fertigkeit des Verfahrens als bloßes äußerliches Spiel verwenden: der [236]
Übergang zu dieser Gattung liegt schon da, wo die witzige Wendung
es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, sondern um nur sich äußern
zu können, dieselbe auch gelegentlich auf den Kopf stellt. Dem bloßen
Spiel aber mit den Mitteln des Witzes fehlt die eigentliche komische
Kraft, sie sind innerlich leer, wirken ganz allein durch die Überraschung
und fallen leicht ins Alberne. Und auch hier kann man noch das
Hamartema als das Grundelement der lächerlichen Wirkung nachweisen:
diese Spiele des Scharfsinnes nehmen am liebsten die Form der
Rätselfrage an, die Wirkung des Lächerlichen, das Lachen selbst tritt
aber stärker bei dem Wissenden als bei dem Ueberraschten ein, zum deutlichen
Zeichen, daß der dabei zu Tage tretende Mangel an Findigkeit,
der das bei der Lösung ganz leicht und einfach Erscheinende zu erfassen
hinderte, für beide Teile das eigentlich Lächerliche ist. Die beliebten
Vexierfragen nach der Ähnlichkeit und den Unterschieden ganz heterogener
Dinge sind dieser Art, sie entbehren fast immer jeden Jnhalts. Dagegen,
wenn von einem modernen Dichterkomponisten gesagt wird, „er war
größer als Beethoven und Goethe, denn er komponierte besser als Goethe
und dichtete besser als Beethoven,“ so liegt darin wirkliche vis comica
für die Verehrer des Mannes wie für seine Verächter, freilich für diese
mehr als für jene.

Ein andres ist es, wenn das Spiel mit der Form des Lächerlichen
sich der phantastischen Hyperbel bedient: dann fällt es nicht mehr
unter das reine Verstandesurteil, sondern gehört einer ganz andern
Gattung zu.

Nach allem, was im Obigen über das Verhältnis des moralischen
und des Verstandesurteils zu dem Wesen des Lächerlichen gesagt ist,
zeigt sich evident die Richtigkeit des Goetheschen Spruches: „Der Verständige
findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast
nichts.
“ Mängel gibt es überall, der vorwiegend mit dem Verstande
Urteilende bemerkt sie alle und deshalb sieht er die Welt unter dem
Gesichtswinkel des Lächerlichen an; der vorwiegend moralisch Urteilende
schätzt vor allem die Dinge nach ihrer Güte, wie ihre Vorzüge ihn erfreuen,
so betrüben ihn ihre Mängel. Nun ist freilich jede von diesen
beiden Arten des Urteils einseitig und im Grunde niemals die eine ganz
ohne die andere vorhanden; es ist klar, daß aus der Vereinigung beider,
wenn beide in hohem Maße ausgebildet sind, die vollständigste und
vollendetste Urteilsweise hervorgehen muß: es ist die des Humors, doch,
wohlgemerkt, nur die humoristische Urteilsweise, noch nicht die humoristische
Gesinnung oder gar die Kraft der humoristischen Darstellung, obwohl
beide natürlich nicht ohne jene vorhanden sein können.

[237]

Es ist oben gesagt worden, daß das Lachen zu den freudigen Dingen
(ἡδέα) gehört und als solches immer mit einer Thätigkeit als deren
Begleiterscheinung und Resultat verbunden ist. Jn welcher Weise das
bei dem Lächerlichen des Verstandesurteils zutrifft, ist klar. Primus
sapientiae gradus est falsa intelligere
: während aber sonst ein jedes
Verstandesurteil, welches das Falsche erkennt, mit Mühe verbunden ist,
durch welche die Freude an der Erkenntnis erkauft werden muß, ist es
die Natur des Lächerlichen, daß sie die Thätigkeit des Verstandesurteils
ganz ohne Mühe, unmittelbar und ohne Erwägung von
Gründen
erfolgen läßt, daß es also ganz dasselbe leistet, was
sonst nur bei dem ästhetischen Urteil geschieht, aber auf verschiedene
Weise.
Es ist nicht richtig, was Goethe dem Lächerlichen
überhaupt prädiciert, daß der Kontrast auch bei dem Verstandes=
Lächerlichen
für die Sinne“ in Verbindung gebracht werde: es ist
die geschickte und reine ─ d. i. witzige ─ Setzung des Fehlerhaften
und Deformen als solchen genügend, um die unmittelbare und mühelose
Verstandesentscheidung zu bewirken und damit eine der ästhetischen ganz
ähnliche aber doch von ihr verschiedene Freude. Deshalb ist auch das
Verstandes-Lächerliche sehr wohl in der Kunst zu verwenden, ohne doch
ihr im Grunde zugehörig zu sein.

Diese Art von Freude, welche aus der blitzartigen Erleuchtung, die
durch das Verstandes-Lächerliche bewirkt wird, resultiert, ist die reine
Freude daran: wie vielfache und höchst verschiedenartige Beimischungen
sich aber derselben zugesellen können, liegt auf der Hand. Zunächst diejenige
Art von Freude, die oft als der eigentliche Grund der Freude
am Lächerlichen bezeichnet ist: die Freude an der Uberlegenheit des
Urteilenden. Man sieht, wie sehr mit Unrecht. Ebenso die zahllosen
Nüancen, die sich der Schadenfreude nähern, der Befriedigung an der
Bekräftigung individuell erwünschter und geteilter Ansichten, Standpunkte,
Überzeugungen, an der Bekämpfung individuell mißliebiger, verhaßter!

Nun aber, wenn es heißt: primus sapientiae gradus est falsa
intelligere
, so lautet es weiter: secundus vera cognoscere; und auch
dieser zweite Schritt zur Weisheit, die Erkenntnis der Wahrheit,
kann durch jenen blitzartig aufleuchtenden Schein des Lächerlichen ermöglicht
werden. Es wäre die höchste und richtigste Art des Lächerlichen,
die beides zugleich bewirkte; denn, wie es neben den vielen falschen
Arten sich zu freuen eine richtige gibt (ὀρθῶς χαίρειν), so gibt es
neben dem „richtigen Lachen“ und dem wahrhaft Lächerlichen
sehr viele, mehr oder minder verkehrte Abarten davon. Vielen erscheint
auf ihrem Standpunkte gerade das Richtige als fehlerhaft und darum [238]
lächerlich, während ihnen das Fehlerhafte und Lächerliche vielleicht Verehrung
oder doch wesentliches Jnteresse einflößt. „Durch nichts bezeichnen
daher die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was
sie lächerlich finden“, wie einer der Goetheschen Sprüche lautet.1 Es
ist die höchste Kraft des echten Witzes durch das Vermögen der Darstellung
das wahrhaft Fehlerhafte und Deforme so evident zu machen,
daß er durch die reine Leuchtkraft des Lächerlichen den Nebel der
subjektiven Vorurteile und individueller Neigung und Abneigung siegreich
durchdringt. Wie sehr dazu die Ausscheidung alles Schmerzlichen, Verletzenden,
schädlich auch nur Erscheinenden notwendig ist, um die Reinheit
jener Leuchtkraft nicht zu trüben, braucht nicht wiederholt zu werden.

So reinigend und kräftig die Darstellung dieses wahrhaft Lächerlichen
wirkt und so wahrhaft erfreuend sie ist, so trügerisch, ja mitunter
verderblich irreführend, ist der falsche Schein desselben, obwohl auch
dieser durch die bloße Form der Darstellung eines, immerhin an
sich falsch gesehenen,
Fehlerhaften und Deformen als solchem noch
die Freude an der unmittelbar und mühelos erfolgenden Urteilsthätigkeit
hervorruft. Ein nicht geringer Teil des Heineschen Witzes ist ganz
von dieser Art.

Dagegen wird dem ganz Urteilslosen oder dem dieser Thätigkeit
Abgewandten in der Selbstgefälligkeit seines Unvermögens leicht bei dem
geringfügigsten Anlaß die behagliche Täuschung sich einstellen, als sei er
überraschend erleuchtet, oder auch ohne allen Grund die Vorstellung, er
habe Gelegenheit zu scharfsinniger Erkenntnis gefunden. Diese Klasse
von albernen Thoren steht weit unter denen, für die das Lachen der
Ausdruck des bloßen Wohlbefindens ist, und welche Goethe im Sinne
hat, wenn er sagt: „Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts
zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen
kommt zum Vorschein.
2 Dieses Lachen ist von einer ganz andern
Art als das dem Verstandes-Lächerlichen entspringende; es ist nur zu
verstehen und zu erklären aus dem Zusammenhange mit demjenigen
Lächerlichen, welches auch in der Poesie seinen Platz, und zwar einen
Ehrenplatz hat. Dieses ist das dem ästhetischen Urteil unterworfene,
das Ästhetisch-Lächerliche.

Wenn man sich des Kantschen Ausdrucks „ästhetisches Urteil“ bedient,
so ist es erforderlich, sich dabei sorgfältig zu erinnern, daß diese
Bezeichnung eine uneigentliche ist. Ein Urteil, bei dem das Bewußtsein [239]
der Gründe, nach denen es erfolgt, absolut ausgeschlossen sein soll, ist
im Grunde keins, die Thätigkeit des „Urteilens“ findet dabei eben nicht
statt. Die Bezeichnung ist von der Analogie hergenommen, daß von
zweien oder mehr Empfindungen, die bei einem Anlasse möglich wären,
die eine wirklich eintritt, also eine Entscheidung für dieselbe getroffen
wird. Der Unterschied aber, um dessentwillen jene Bezeichnung doch
wohl besser vermieden würde, liegt darin, daß ein Schwanken, eine
Wahl zwischen jenen möglichen Empfindungen bei dem sogenannten
„ästhetischen“ Urteil nicht allein nicht angenommen wird, sondern seiner
Natur nach bei ihm nicht vorhanden sein darf. Jn dem unmittelbar,
ohne Jnteresse, ohne Gründe, von selbst mit Bestimmtheit erfolgenden
Eintreten der Empfindung ist das, was Kant das ästhetische Urteil
nennt, gegeben. Dieses so beschaffene, unmittelbare und bestimmte Eintreten
der Empfindung ist, außer von der Natur der „ästhetischen
Wahrnehmung, welche den Anlaß gibt, von zwei subjektiven Faktoren
abhängig: von der Empfindungsanlage des Wahrnehmenden (seiner
δύναμις παθητική) ─ nach welcher er zu dieser oder jener Art zu
empfinden von Natur mehr oder weniger geneigt ist ─ und von der
durch Gewohnheit, Erziehung, Bildung, überhaupt durch die Gesamtentwickelung
erworbenen ständigen Beschaffenheit seines Empfindens
(seiner ἕξις παθητική). Diese letztere ist die Grundlage für die im
Entschließen und Handeln sich äußernde Gesinnungsweise und Gemütsart,
das Ethos: es wird also, ebenso wie das Handeln, so auch die
ästhetische Urteilsweise ein Kennzeichen des in einem Menschen
vorhandenen Ethos sein.

Es fragt sich nun, wie dieses ästhetische Urteil sich dem Lächerlichen
gegenüber verhält. Es wäre also die unmittelbar und ohne
Bewußtsein der Gründe eintretende Empfindung einer Fehlerhaftigkeit
oder Deformität, die weder Schmerz noch Schaden mit sich bringt. Wie
aber steht es mit dem Angenehmen, dem Freudigen dieser Empfindung?
Bei dem entsprechenden Verstandesurteil lag dasselbe in der unmittelbar
und mühelos ─ und deshalb immer überraschend ─ gewonnenen
Klarheit des Erkennens, welche mit der Konstatierung des Fehlerhaften
als solchem notwendig verbunden ist: mit dieser Thätigkeit muß, je reiner
sie ist, in desto höherem Grade die Erscheinung der Freude verknüpft sein.
Von dieser Erkenntnisfreude kann bei dem ästhetischen Urteil nicht die
Rede sein, denn es ist ja kein eigentliches Urteil; es handelt sich bei ihm
keineswegs um das Wahre und Falsche, Verkehrte oder Rechte, sondern
um das Wohlgefällige oder Mißfällige, das Unangenehme,
Widrige
oder Angenehme, Erfreuliche: denn einerseits unterscheiden [240]
sich die Empfindungen selbst untereinander nach diesen Kategorien,
andrerseits kann eine große Zahl von ihnen je nach ihren verschiedenen
Graden und Beschaffenheiten der einen oder der andern dieser Kategorien
zugehörig sein, so die Furcht und das Mitleid, selbst der Zorn, denn es
gibt auch eine berechtigte und wohlthuende Art des Zürnens.

Es gilt also den anscheinenden Widerspruch zu vereinigen, daß die
Empfindung des Fehlerhaften und Deformen, die an sich doch eine mißfällige
ist, zugleich eine erfreuliche sei, denn als eine solche muß die
Empfindung des Lächerlichen doch notwendig vorausgesetzt werden.
Die Lösung ist auf demselben Wege zu finden wie vorher. Das Gute,
Richtige, Übereinstimmende als solches, insofern es Gegenstand des
ästhetischen Urteils wird,
d. h. also, sobald es als solches
unmittelbar empfunden wird,
bringt die wohlgefällige Empfindung
direkt hervor, es erregt direkt die Freude: wir nennen es
dann das Schöne.
Genau so definiert es Aristoteles im neunten
Kapitel des ersten Buches seiner Rhetorik: καλὸν μὲν οῦν ἐστὶν, \̔ο \̓αν
ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν d. h.: „das Schöne ist dasjenige
Gute, welches als solches ein Gegenstand freudiger Empfindung
ist,
“ da nach einer andern Definition des Aristoteles „die Freude
bei der bewußten Wahrnehmung einer in uns vorgehenden Empfindung
stattfindet“ ─ vgl. Rhet. I. c. 11 (1370 a. 27): ἐπεὶ δ' ἐστὶ τὸ
ἥδεσθαι ἐν τῷ αἰσθάνεσθαί τινος πάθους
─.

Wenn nun, indirekt durch die Darstellung des Gegensatzes zum
Guten, also des ἁμάρτημα und ἆισχος, des Fehlerhaften und Deformen,
für die Empfindung dasselbe Resultat erreicht werden soll, nämlich die
Erregung der Freude beim Empfinden, so kann das offenbar
nur unter zwei Bedingungen geschehen, die den bei der Darstellung des
Verstandes-Lächerlichen geltenden völlig analog sind: das Fehlerhafte
und Deforme muß mit Bestimmtheit, unmittelbar und unzweifelhaft
als solches empfunden werden
─ dann wird in
jedem Falle ebenso unmittelbar und untrennbar damit eine Klärung
des Empfindens
verbunden sein, die Gewißheit der wohlgefälligen
Empfindung des entsprechenden Guten als solchem,

der wirkliche oder doch vermeintliche Gewinn der Sicherheit des richtigen
ästhetischen Urteils; und das unmittelbar und mühelos gewonnene Bewußtsein
der Ausübung des rechten ästhetischen Urteils, des zweifellos
richtigen Empfindens muß seinerseits notwendig von der Erscheinung
der Freude begleitet sein. Sodann muß die Darstellung des Fehlerhaften
und Deformen als solchen rein sein, sie muß weder Schmerz
noch Schaden verursachen ─ das bedeutet auf dem Gebiete des ästhe= [241]
tischen Urteils, sie muß in keiner Weise die Empfindung beschweren,
verletzen oder beleidigen, d. h. weder Unbehagen, Widerwillen oder gar
Ekel, noch Besorgtheit, Betrübung, Furcht oder Mitleid hervorrufen.

Damit wäre die Regel für die ästhetische Darstellung des Lächerlichen
gegeben: es bleibt nur die Hauptfrage übrig, auf welche Weise
das Lächerliche überhaupt ein Gegenstand der ästhetischen Beurteilung
wird. Es ist klar, daß das nur geschehen kann, wenn durch die Anschauung
der Fehlerhaftigkeit oder Deformität des lächerlichen Gegenstandes
die entsprechende Empfindung unmittelbar erweckt wird. Jn der
bildenden Kunst erfolgt die Nachahmung der Empfindung des
Lächerlichen
also vermittelst der Nachbildung von Körpern, ihrer Stellung
und ihres Ausdrucks; in der Poesie ist, da die Beschreibung solcher
Körper keine hinreichend deutliche Anschauung gewähren kann, um für
sich allein
jene Nachahmung zu erzielen, das einzig dazu vorhandene
Mittel die Erzählung oder Darstellung von Handlungen,

welche die Eigenschaften des ästhetisch Lächerlichen in der angegebenen
Weise in sich vereinigen. Nun wird, an und für sich genommen,
die Empfindung durch jede an den Handlungen wahrgenommene
Fehlerhaftigkeit oder Deformität verletzt; weil aber die Wirkung des
Lächerlichen allein unter der Bedingung zustande kommt, wenn es als
solches rein dargestellt und empfunden wird, so stellt sich jene Hauptfrage,
wie das Lächerliche ein Gegenstand poetischer Darstellung und
somit ästhetischer Beurteilung wird, dahin: durch welche Mittel wird
bei der Erzählung oder Darstellung von Handlungen das
Fehlerhafte und Deforme derselben für die Empfindung von
dem Eindrucke des Schmerzlichen oder Schädlichen, des Verletzenden
oder Widrigen befreit?

Vor allem müssen bei einer Handlung, welche die Wirkung des
Lächerlichen hervorbringen soll, die Empfindungen der Furcht und des
Mitleids ausgeschlossen sein: sie muß daher erstens in der Hauptsache
einen glücklichen Ausgang haben und auch während ihres Verlaufes
dürfen Befürchtungen des Gegenteils entweder überhaupt gar nicht oder
doch nur in geringem Maße aufkommen. Sofern aber dennoch im Verlauf
oder Ausgang für einen der Beteiligten eine Schädlichkeit oder auch
nur die Befürchtung einer solchen entsteht, so muß dieselbe derart behandelt
sein, daß die Mitleids-Empfindungen dabei aufgehoben werden.
Das geschieht einmal dadurch, daß der Geschädigte als des entstehenden
Nachteils vollauf schuldig dargestellt wird und zweitens dadurch, daß
dieser Nachteil kein verderblicher ist, d. h. nicht so schwer, daß durch
denselben das allgemein menschliche Mitgefühl rege gemacht wird, welches [242]
Aristoteles die φιλανθρωπία nennt, und welches auch dem Verbrecher
noch gezollt wird, der seine verdiente Strafe erleidet. Jnsoweit sind also
die Regeln für die Komposition komischer Handlungen denen der tragischen
Darstellung gerade entgegengesetzt, auch in der Hinsicht, daß zur Erregung
der spezifisch tragischen Empfindungen die Handlung von entsprechender
Größe und Bedeutung sein muß, wogegen die komische Handlung von
minderer Bedeutung sein und sich an geringere Jnteressen knüpfen muß;
was nicht ausschließt, daß sie zeitweise Einzelnen der bei der Handlung
Beteiligten größer erscheinen können. So z. B. sieht in Lessings Minna
der Major Tellheim die Lage sehr ernst an, während für den Zuschauer
von Anbeginn und während des ganzen Verlaufs die Verwickelung als
eine unbedeutende, leicht zu lösende vorliegt und schlimme Befürchtungen
gar nicht in Frage kommen.

Die Fehler gegen diese Hauptgesetze sind verhältnismäßig leicht zu
vermeiden, und doch zeigt sich die in betreff der hier entscheidenden
Empfindungsweise geltende Anschauung nach Zeitverhältnissen und nationaler
Eigenart sehr wesentlich modifiziert, wie durch das Beispiel der
größten Dichter bewiesen wird. Es darf nur an Shakespeares Shylock
und an Molières Tartuffe erinnert werden: für beide, wie für ihr
Publikum, lag eine durch die aktuellen Verhältnisse veränderte Stimmung
vor. Jm ersten Fall wurde durch das gekränkte Rechtsgefühl und die
Erbitterung über schamlosen Wucher der Faktor des allgemein menschlichen
Mitgefühls abgeschwächt; im andern durch die Gewöhnung an ein
System, wo dem Uebermaß von heuchlerischer Jntrigue und Bigotterie
eine schrankenlose Willkür gegenüberstand, das Erschreckende und Empörende
der Handlung zu Gunsten der vorwiegend lächerlichen Wirkung
herabgedrückt.

Aus einem Schwanken zwischen den Mitteln tragischer und komischer
Darstellung und einer Vermischung beider, wodurch die Wirkung der
einen und der andern verdorben und verfehlt wird, ist das sogenannte
genre sérieux hervorgegangen, auf welches näher einzugehen hier jedoch
noch nicht der Ort ist.

Weit schwerer ist es die Darstellung des Lächerlichen von der Beimischung
des Verletzenden, Widerlichen, Ekel erregenden frei zu halten.
So entschieden und untrüglich ein entwickeltes und geläutertes Empfindungsvermögen
durch die seichte, frostige Alltagsnarrheit, Schalheit,
Albernheit, Gemeinheit sich verletzt fühlt, so schwierig ist es mit Bestimmtheit
festzustellen, wo hier die Grenzen liegen, welche nicht überschritten
werden dürfen.

Das entscheidende Kriterium, aus welchem hier alle Bestimmungen [243]
herzuleiten sind, ist, daß das Lachen, sofern es die Kunst sich zum Zweck
setzt, ein freudiger Affekt ist, seiner Art und seinem Anlaß nach von
dem Lachen und dem Lächerlichen des gemeinen Lebens oft ebenso verschieden
wie das bloß Traurige und die entsprechenden niederdrückenden
Affekte von dem Tragischen und der läuternden und erhebenden Empfindung
desselben. Ganz in Übereinstimmung mit der Aristotelischen Kunstlehre,
die überall ein ὀρθῶς χαίρεινein richtiges Freuen
als Kunstwirkung ins Auge faßt, verlangt Lessing von der komischen
Kunst, daß sie „richtiges Lachen“ hervorbringe. Ein solches kann nur
aus dem richtigen Empfinden des Positiven und Negativen im Betragen
und Handeln hervorgehen und muß als solches mit Freude verbunden
sein. Nur derjenige, welcher das Positive im Betragen und Handeln
als solches richtig, also wohlgefällig, empfindet, wird ebenso mit Sicherheit,
unmittelbar und ohne kritische Überlegung das entgegengesetzte
Negative als Fehlerhaftes richtig empfinden, und diese Empfindung wird
von dem freudigen Affekt des Lachens begleitet sein. Umgekehrt wird
derjenige, welcher in solcher Weise das Fehlerhafte und Deforme als
Lächerliches richtig empfindet, ebenso auch für das Positive die sicher
und unmittelbar richtige, und zwar wohlgefällige Empfindung haben.
Die Affekte des Wohlgefallens und des Lachens stehen daher in
einer ganz ähnlichen reciproken Verbindung wie die der Furcht und des
Mitleids. Wo sie beide in der richtigen Weise auftreten, sind sie unauflöslich
aneinander geknüpft, der eine ist die notwendige Ergänzung
des andern; wo diese völlige Richtigkeit beider noch nicht erreicht ist,
dient in wirksamster Weise der eine dazu den andern zu klären und richtig
zu stellen. Je stärker das Wohlgefallen der richtigen Empfindung des
Positiven ist, desto deutlicher tritt das Negative als solches hervor und
erregt um so mehr den entsprechenden Affekt des Lachens; je kräftiger
umgekehrt das Fehlerhafte als solches mit richtigem Lachen empfunden
wird, desto untrüglicher und reiner gesellt sich demselben die rechte Freude
an dem entgegenstehenden Guten, Tüchtigen, Gesunden, Liebenswerten
als solchem hinzu. So sind die Affekte des Wohlgefallens und
des Lachens im vollen Maße geeignet ganz wie die des Mitleids
und der Furcht eine gegenseitige Katharsis zu wirken,
und zu solchem Endziel setzt die darstellende und erzählende
Kunst sie zum Zweck ihrer Wirkung.

Auch darin sind diese komischen Affekte den tragischen gleich, daß,
wie sie in der richtigen Gestalt sich völlig durchdringen, so in falscher
Beschaffenheit sich beeinträchtigen, ja ausschließen. Wer an dem Falschen,
Fehlerhaften Wohlgefallen empfindet, ist für die Empfindung des Lächer= [244]
lichen, welche mit diesem Fehlerhaften als solchem verknüpft ist, natürlich
verschlossen; vielleicht wird ihm das entgegengesetzte Richtige und
Gesunde als lächerlich erscheinen, aber ein solches Lachen wird ─ eine
unausbleibliche Folge seines inneren Widerspruchs gegen die Wahrheit
und Harmonie der Dinge ─ nicht freudig und erheiternd, klärend und
befreiend sein, sondern jederzeit von den unreinen Beimischungen des
Mißwollens und Verdrusses, des Dünkels und der Eitelkeit, hochmütiger
Überhebung und mißachtender Verbitterung durchdrungen. Ebenso
wird, wer das Gesunde und Richtige, das Wohlgefällige und Liebenswerte
als Fehlerhaftes verlacht, nicht allein für die Freude daran unempfindlich
sein, sondern sein Wohlgefallen wird sich auf das Fehlerhafte
lenken, und statt eines Borns der edelsten Erquickung werden seine
Freuden ihm eine Quelle der Erkrankung und des Übels sein.

Noch weiter läßt sich die Parallele und der Gegensatz zum Tragischen
verfolgen. Der tragische Held soll uns menschlich verwandt sein
─ ein ὅμοιος ─, weder ein Bösewicht noch gänzlich schuldlos, soll er
sein Verhältnis zwar keineswegs durch eigene Schuld verdienen, wohl
aber soll dasselbe mit einem Fehler, einem Jrrtum ─ ἁμαρτία
seiner Handlungsweise in ursächlichem Zusammenhange stehen. Ganz
ebenso verlangt das Komische des Betragens und der Handlungsweise
einen uns Ähnlichen, der weder tadellos noch böse ist, aber umgekehrt
wie in der Tragik ist die Hamartie, das fehlerhafte Handeln, hier
nicht Mittel, sondern Gegenstand der Darstellung, und die schlimmen
Folgen desselben, welche dort der eigentliche Gegenstand der Darstellung
sind, werden hier entweder ganz abgewendet, oder bleiben doch harmlos
und dürfen nie zum Verderben ausschlagen. Die Jrrtümer, Schwächen
und Fehler des Handelns werden um so sicherer und deutlicher als
solche empfunden werden, je mehr sie von jedem andern Jnteresse in
der Darstellung gesondert gehalten werden; ein Umstand, welcher die
Erklärung dafür enthält, warum das Komische mit so großer Vorliebe
auf dem Boden des Phantastischen sich ansiedelt. Aber auch unter den
Voraussetzungen der Wirklichkeit bedarf die komische Darstellung eines
solchen Verlaufs der einfachen Handlung oder ist genötigt, sich derartiger
Verwickelungen zu bedienen, daß die möglichen schlimmen Konsequenzen
des Fehlerhaften zwar bemerkt werden, aber nicht eintreten.

Aus alledem ergibt sich als Hauptregel, daß die bösen und schlimmen
Fehlerhaftigkeiten und Deformitäten, die moralischen Vergehungen mit
ihren äußeren Folgen, nicht Gegenstände des Komischen sein dürfen:
wie die Handelnden in jedem Falle solcher Fehler sich völlig bewußt
sind, so kann ihre Darstellung auch niemals eine Klärung des Em= [245]
pfindens bewirken, sondern immer nur die Beleidigung desselben. Dagegen
sind vorzugsweise diejenigen Fehlerhaftigkeiten und Deformitäten
die komischen Gegenstände, welche ihren Trägern unbewußt sind oder
von ihnen doch als solche keineswegs betrachtet werden; nur über solche
kann auch die Empfindungsweise der Wahrnehmenden im Schwanken
sein und eine unmittelbare und völlige Klärung des Empfindens wird
in Bezug auf solche jederzeit mit Freude verbunden sein. Da aber die
so Handelnden als uns menschlich ähnlich erscheinen sollen, so wird jener
Zweck in um so höherem Grade erreicht werden, wenn die so bezeichneten
Fehlerhaftigkeiten nicht schlechtweg nur als solche vorgeführt werden,
sondern im Zusammenhange mit der Gesamtheit ihres Wesens, vorzüglich
mit den positiven Seiten desselben. Es wird dadurch zugleich dem
Empfinden deutlich, wie der Handelnde in der Lage ist, sein Negatives
für ein Positives halten zu können, und es tritt zu der Darstellung des
Lächerlichen die ergänzende und klärende Darstellung des Wohlgefälligen
hinzu. Hierin liegt auch der bedeutende Unterschied, der oft nicht beachtet
wird, zwischen dem bloß Lächerlichen und dem echt Komischen,
das auch durch die deutsche Bezeichnung des Lustigen nicht
adäquat wiedergegeben wird, eher noch durch die der heiteren Darstellung.
Je mehr der Träger des Lächerlichen uns „ähnlich“ ─ ein
ὅμοιος ─ bleibt, je mehr von unserer Achtung, ja von unserer Liebe
ihm erhalten wird, jemehr somit neben dem Lachen das Wohlgefallen
in Geltung treten kann, desto reicher, tiefer und edler ist die komische
Darstellung. Nur so kann eine weiter ausgeführte komische Handlung,
sei sie episch oder dramatisch dargestellt, auf der künstlerischen Höhe
bleiben. Die technischen Forderungen der Gattung fallen übrigens dabei
mit dem allgemeinen Gesetz der poetischen Kunst, welches innere
Wahrheit der Gestalten und Übereinstimmung der Handlungen mit derselben
verlangt, zusammen: ein Charakter, der nur aus Fehlern besteht
oder in allen seinen Äußerungen nichts als nur immer denselben Fehler
aufweist, ist entweder menschlich unwahr oder, sofern im Leben eine
solche Unterjochung des Willens und des gesamten Wesens durch einen
ausschließlich herrschenden Fehler denkbar ist, erscheint er je nach der
Beschaffenheit desselben als furchtbar, mitleidswürdig, als gemein und
abscheulich, in jedem Falle als das Komische zerstörend oder unter dem
künstlerischen Niveau stehend. Kein Dichter hat ungestraft das Grundgesetz
poetischer komischer Darstellung verletzt, welches
neben der lächerlichen Wirkung als unentbehrliches Korrelat
die wohlgefällige fordert.

Anders steht die Sache, wo nicht die Haupthandlung und der [246]
Hauptcharakter, sondern Nebenfiguren und Nebenhandlungen in Frage
kommen. Ganz verliert freilich jenes Hauptgesetz auch hier seine Geltung
nur in selteneren Fällen, aber wie in größeren Farbenkompositionen
auch grelle und, für sich allein angesehen, harte, ja unleidliche
Farbenwirkungen um des Kontrastes willen nicht allein gelitten, sondern
gefordert werden können, so sind in größeren komischen Dichtungen rein
negativ lächerliche Figuren und Handlungen, ja solche, die, für sich
allein genommen, ins Niedrige und Gemeine fallen, nicht allein möglich,
sondern sie können den Gesamtzweck des Dichters höchst wesentlich fördern,
sofern dasjenige, was jenem Hauptgesetz nach sonst in einer und
derselben Person und Handlung organisch vereinigt sein soll, nun hier
gleichsam als in dem großen Organismus der Gesellschaft nebeneinanderstehend
in verschiedenen Personen und Handlungen auseinandergelegt
ist, sofern also das jenen Elementen entgegengesetzte Schöne und Edle
zu rein wohlgefälliger Wirkung in innerlich fest zusammenhängender
Handlung hervortritt. Dies ist das große Geheimnis des wundervollen
Reizes der Shakespeareschen Lustspiele, ihrer klärenden und erhebenden,
ihrer echt erheiternden und im höchsten Grade das Lachen erregenden
Wirkung, ein Geheimnis, das ebenso in der Schönheit und Kraft der
Jngredienzien als in der Feinheit ihrer Mischung besteht, und welches
keiner ihm abgelernt hat. Der pfuscherhaften Nachbildungen freilich
gibt es genug.

Es verlohnt der Mühe einen Blick auf die verschiedenen Abirrungen
zu werfen, die nach- und nebeneinander auf dem Gebiete der komischen
Dichtung stattgefunden haben, und die am besten am Lustspiel sich verfolgen
lassen, da die epische Komik außer im Roman nur sehr wenig
kultiviert ist; es zeigt sich darin, ganz ähnlich wie bei der Tragödie
nur noch unbewußter, ein instinktives Anerkenntnis der die Komposition
gleichsam als Brennpunkte regulierenden Darstellungszwecke.

Für das Tragische sind dieselben die vereinigten Empfindungen
der Furcht und des Mitleids. Der französische Klassicismus trennte
dieselben und bevorzugte dann weit überwiegend die zum Schrecken
(terreur) entstellte Furcht als Regulativ für die Komposition seiner
Tragödien. Jn dem dagegen sich Bahn brechenden Rückschlag der
bürgerlichen Tragödie der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wird
umgekehrt das vereinzelte Mitleid, das eben darum zum peinlichen
Mitgefühl
mit fremdem unverschuldeten Elend entstellte, zum formgebenden
Faktor; und als nun Lessing, auf Aristoteles zurückgehend,
die richtigen Vorstellungen von der tragischen Furcht und dem tragischen
Mitleid wieder herstellt, begeht er doch den bedeutenden Fehler, die [247]
Furcht als im tragischen Mitleid schon enthalten aufzufassen und so
gewissermaßen, wenn auch unabsichtlich, als selbständigen, tragisch wirkenden
Faktor, wenn nicht zu eliminieren, so doch sehr verhängnisvoll
einzuschränken. Schiller macht in seiner Theorie des Tragischen
diesen Fehler nicht nur mit, sondern er verstärkt ihn erheblich und macht
ihn geradezu zum Princip. Goethe freilich ging wenig beirrt durch die
Theorie den Weg seines Genies, und auch in Schiller war die poetische
Kraft stärker als der Fehler des Systems: dennoch, wenn beide hinter
der tragischen Wucht der Alten und Shakespeares zurückstehen, kann die
Theorie diesen Mangel nur aus der Schwächung jenes zweiten Hauptfaktors
der tragischen Wirkung, aus der eingeschränkten Macht= und
Geltungssphäre der tragischen Furcht innerhalb der Komposition der
Tragödie erklären. Vollends bei den bloßen Talenten und den unteren
Graden derselben geht aus diesem Grundfehler der Theorie eine abermalige
völlige Begriffs- und Geschmacksverwirrung hervor: für lange
Zeit ist die tragische Bühne von dem bloßen Bestreben berrscht, den
Jammer darzustellen und die Rührung zu erwecken.

Dieselbe Rolle spielen, gleichsam als die Pole der Bewegung, in
der Komödie die Empfindungen des Lachens und des Wohlgefallens
(γέλως und ἡδονή). Bei Shakespeare ihre untrennbare Vereinigung
und die völlige gegenseitige Durchdringung ihrer Wirkungssphären:
dagegen bei Molière, dem Meister der französischen klassischen
Komödie, das entschieden einseitige Vorherrschen des einen Faktors des,
lediglich negativen, Lächerlichen, am augenfälligsten in seinem Avare,
aber auch sonst, wenn auch nicht so völlig ungemildert, durchweg. Jn
dieser einseitigen Gattung geht das heitere Lachen entweder in das mehr
oder minder dem satirischen Tadel (ψόγος) sich nähernde Verlachen über
oder in die ausgelassene Hingabe an das Lächerliche der Karikatur,
des Skurrilen, Burlesken, Possenhaften; nur einmal ist Molière über
dieses Genre entschieden hinausgegangen, im Misanthrope, aber bei aller
Wahrheit und Feinheit dieses in vieler Beziehung vortrefflichen Stückes,
und obwohl in dem Hauptcharakter die positiven Seiten durchaus überwiegen,
ist die Empfindung, mit der die Handlung den Zuschauer entläßt,
keineswegs die gehobene, geklärte Stimmung, welche das echte
Lustspiel erzeugt, sondern ein Schwanken zwischen Mißbilligung und
Mitleiden und ein Unwille, welcher der pessimistischen Resignation des
Titelhelden fast ein Recht zuzugestehen geneigt ist. An den Ernst dieses
Stückes vornehmlich hat die im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich
einsetzende Entwickelung des genre sérieux angeknüpft: man machte
nun Komödien, in denen das negativ Lächerliche fast ganz verschwand [248]
und gegenüber dem Druck einer verwirrenden oder feindseligen Jntrigue
oder Verwickelung nur die positiven Eigenschaften sich zu entfalten Gelegenheit
erhielten, also statt des reinen und heiteren Wohlgefallens
Rührung erzielt wurde. Jn der That war die Comoedia commovens
oder, wie man sie spottweise nannte, comédie larmoyante von dem
bürgerlichen Trauerspiele fast einzig durch den glücklichen Ausgang
unterschieden. Erst Lessing hat in seiner Minna von Barnhelm mit
der Weisheit des Meisters wieder die beiden Träger des echten Lustspiels,
das Lächerliche und das Wohlgefällige, zur Verschmelzung zu
bringen gesucht; freilich läßt sich nicht leugnen, daß er die komische
Kraft der Shakespeareschen Lustspiele nicht erreicht, und daß die Zaubergewalt
ihrer reinen Schönheit der Lessingschen Dichtung bei all ihrem
Herzerfreuenden und Gemüthstiefen versagt ist.

Blickt man dagegen zurück auf das vor=Lessingsche deutsche Lustspiel,
so zeigt sich da die ganze Niedrigkeit und Ärmlichkeit der ausschließlich
negativen Auffassung des Komischen. Zu geschweigen von der
widerlichen Mischung aus Plattheit und Gemeinheit in den Produkten
des Gottschedschen Kreises, seiner „geschickten Freundin“ selbst und eines
Quistorp, Mylius, Krüger: welche Schalheit und Flachheit auch in den
Stücken eines Elias Schlegel, der alle jene so weit überragt! Selbst
in dem weitaus besten derselben, welches sogar die ersten Spuren der
Erhebung aus jener Dürftigkeit der komischen Darstellung enthält und
wohl um dessentwillen selbst von der Kritik eines Moses Mendelssohn
und Lessing so hoch erhoben wurde, in dem „Triumph der guten
Frauen,
“ ist die Wirkung des Lächerlichen zum größten Teil in die
Darstellung grober moralischer Vergehungen gelegt; die innere Wahrheit
fehlt in den Voraussetzungen wie im Verlauf der Handlung, und die
Art, wie die Verletzungen der ehelichen Treue, um welche die Handlung des
Stückes sich dreht, eben nur ins Licht gesetzt und wie sie sodann als
ausgeglichen angesehen werden, bewirkt weit eher Mißstimmung als
Belustigung.

Noch unter dem Niveau Elias Schlegels und wenig über dem seiner
Vorgänger steht die Gattung, als deren Vertreter man am besten
Gellert bezeichnen kann. Mit einer ebenso schalen und dürftigen Art
des Lächerlichen, das er überall nur unter dem Gesichtspunkt des sittlich
Fehlerhaften erblickt, ist er bestrebt ein positives Element zu verbinden,
als welches er natürlich von seinem Standpunkte nur das Moralische
ansehen kann. Wie das Absurde und sittlich Häßliche für das
Lächerliche, so tritt die Moral als Surrogat für das Wohlgefällige ein,
aus beidem aber ergibt sich eine Kompositions- und Darstellungsmanier, [249]
die wie keine andere einer Anschauungsweise, welche in der Poesie vor
allem das Lehrhafte und moralisch Bessernde suchte, entgegenkam: daher
die große Vorliebe der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die
in einzelnen Ausläufern noch bis gegen das Ende desselben sich erstreckte,
für die dramatische und für alle Arten der epischen Darstellung des
Komischen.

Auch Lessings Theorie ist noch in dieser moralischen Betrachtung
des Komischen befangen, nicht allein in seinen Jugendschriften, wo er
im ersten Stück der theatralischen Bibliothek diese Ansicht des breiteren
ausführt,1 sondern auch in der Dramaturgie, wo an den wenigen [250]
Stellen, welche von der Komödie handeln, gleichfalls ihre „nützliche“,
bessernde Wirkung betont ist.1 Doch kann es dem tiefer Blickenden
nicht entgehen, daß der Tribut, den Lessing hier seiner Zeit zollte, mehr
im Ausdruck als in der Sache liegt: wie sehr er im Grunde der grob
moralischen Auffassung abhold war, und wie sehr es ihm auch in der
Komödie vor allem auf die Handlung als solche ankam, zeigt auch die
folgende Stelle im 99. Stück der Dramaturgie (cf. L. M. VII, S. 407): 1 [251]
„Jch weiß überhaupt nicht, woher so viele komische Dichter die Regel
genommen haben, daß der Böse notwendig am Ende des Stückes entweder
bestraft werden oder sich bessern müsse. Jn der Tragödie möchte
diese Regel noch eher gelten; sie kann uns da mit dem Schicksale versöhnen
und Murren in Mitleid kehren. Aber in der Komödie, denke
ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt vielmehr vieles.
Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und kalt und einförmig.
Wenn die verschiedenen Charaktere, welche ich in einer Handlung
verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie
nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muß die Handlung sodann
in etwas mehr als in einer bloßen Kollision von Charakteren bestehen.“

Da also Lessing eine bündige Theorie des Komischen und der
Komödie nicht aufgestellt hatte, und da auch Goethe und Schiller im
Lustspiel nicht Wege bahnend und Ziel weisend auftraten, so kann es
nicht Wunder nehmen, daß das einzig dastehende Beispiel der Minna
von Barnhelm der sogleich wieder eintretenden und immer zunehmenden
Verwirrung nicht wehrte; das eine Anerkenntnis freilich blieb als Ergebnis
der Gesamtentwickelung in Geltung, daß gegenüber dem negativen
Pol des Lustspiels dasselbe des positiven nicht entbehren dürfe.
Doch genügt es der beiden Hauptvertreter des nach=Lessingschen Lustspiels
zu gedenken, Jfflands und Kotzebues, um sich zu erinnern,
wie die alten Mißgriffe ihre Herrschaft behaupteten: an Stelle des reinen
Ästhetisch-Lächerlichen in den meisten Fällen das moralisch Häßliche,
Widrige oder Schale, Abgeschmackte, Kleinlich-Absurde, im besten
Falle das bloß Witzige, Verstandes-Lächerliche, an Stelle des Wohlgefälligen
das Moralisierende, vulgär Rührselige; da der Begriff der
richtigen, inneren organischen Verbindung der beiden
Grundelemente
fehlte, mit ihm die Erfassung ihrer gegenseitigen
Katharsis
als der Hauptaufgabe des Dichters, nach der Plan
und Entwickelung der komischen Handlung sich zu gestalten haben, so
trat auf beiden Seiten Entartung ein.

Damit wäre die Untersuchung über das Wesen des Komischen und
die Gesetze seiner poetischen Darstellung zu ihrem Ausgangspunkte zurückgekehrt:
so schwierig die poetische Gestaltung des echt Komischen ist,
dergestalt, daß sie nur selten, unter ganz besonders günstiger Konstellation
der bestimmenden Faktoren vollkommen gelungen ist, so sehr mußte
der mißbräuchlichen Auffassung dieser Darstellungs-Gattung diejenige
Anschauung der Poesie verwandt und günstig sein, welche während des
größten Teiles des achtzehnten Jahrhunderts allenthalben die herrschende
war.

[252]

Für die Abschilderung des Fehlerhaften und Deformen boten sich
in dem rings umgebenden täglichen Leben hundert- und tausendfach die
Vorbilder, umsomehr da man ohne viele künstlerische Wahl fast alle
Arten von Fehlern für die komische Dichtung verwenden zu dürfen
glaubte. Man gewann damit wenigstens eine relative Wahrheit und
einen höheren Grad von Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit der Erzählung;
ferner stellten sich leicht allerlei witzige Wendungen und mannigfache
satirische Anspielungen als Würze auch des an sich völlig Unschmackhaften
ein; endlich glaubte man durch Hervorhebung der Fehler, Untugenden
und Laster am besten dem großen Hauptzweck der Poesie, die
Menschen zur Besserung zu führen, dienen zu können und diesen Zweck
um so sicherer durch die ausdrückliche Beifügung der Moral und durch
möglichst grell hervorgehobene erbauliche oder rührende Züge von Rechtlichkeit,
Tugend und Edelmut zu erreichen.

Zu einer Zeit, als alle Epik so gut wie ganz erstorben war, begann
auf dem so umschriebenen Gebiete ein fleißiger Anbau, zunächst in Versuchen
von geringem Umfange, dann aber auch in weiterer Ausführung,
und indem hierbei, durch die Muster des Auslands gefördert, die Technik
des Erzählens sich vervollkommnete und die Lust daran wuchs, begann
allmählich die Erzählung der Handlung als solche, wenn auch immer
noch an die moralisierende Tendenz geknüpft, über dieselbe die Oberhand
zu gewinnen, und man gelangte auf solche Art in der Epik zu einer
Kunstübung, die, wenn sie auch von der echten Poesie noch weit abstand,
doch viele wesentliche Vorzüge derselben in sich vereinigte. Auf dieser
Stufe stellt sich in den siebziger und achtziger Jahren die eigenartig aus
feinsinniger Beweglichkeit und einer gewissen, etwas altväterisch nüchternen,
Steifheit gemischte Erscheinung Wielands dar. ──────


XV.

Die unvergleichliche Popularität Gellerts beruht auf seiner, im
Sinne der Zeit und ihres poetischen Standpunktes, überaus geschickten
Handhabung der komischen poetischen Erzählung, denn daß die
überwiegende Mehrzahl seiner Gedichte dieser Gattung zugehört und
nicht der eigentlichen Fabel, ist nach dem Vorhergehenden klar. Die
Gattung ist nicht neu: es ist die dem Geschmack der Zeit angepaßte
Einrichtung des alten „Schwankes“ des Meistersängers Hans Sachs.
Zu Grunde liegt als Stoff das Material, das an Anekdoten und einzelnen
komischen Zügen, Apophthegmen, Geschichten sich jahrhundertelang [253]
angehäuft hatte und in den zahlreichen Sammlungen namentlich des
sechzehnten Jahrhunderts aufgespeichert lag, und das dem Erfindungsgeiste
des einzelnen Dichters nach allen Richtungen reichlichen Anlaß zu
Erweiterungen, Umbildungen, Nachahmungen im Sinne seiner Zeitverhältnisse
gewährte. Das Dichtungsmotiv ist hier überall, das Lächerliche
durch die Darstellung zur Geltung zu bringen. Alles kommt also
darauf an, in welcher Weise das geschieht, ob in bloß witziger Art
für den Verstand, oder in lehrhafter Absicht für die Erkenntnis, in
moralischer Tendenz für die Vernunft, um Besserung zu bewirken, oder
in künstlerischer Absicht, also der einzig poetischen Art und Weise,
für die ästhetische Beurteilung, um die wohlgefällige Empfindung, die
Freude an dem Lächerlichen als solchem zu erwecken. Nur die letzte
Art ist die echte und rein epische, da hier die Handlung nur um ihrer
selbst willen erzählt wird und nur durch sich selbst wirkt. Jn seinen
besten und noch heute verbreitetsten Stücken hat Gellert sich dieser poetischen
Art „schwankweise“ zu erzählen genähert; wie weit er gleichwohl
von den guten Mustern der Gattung entfernt bleibt, erkennt man am
besten, wenn man eine seiner bekanntesten und beliebtesten Erzählungen,
die schon bei Hans Sachs sich findet, „Der Bauer und sein Sohn“,
mit dem Original vergleicht: alle seine Änderungen bedeuten Verschlechterungen,
in jedem Detail ist die Motivierung bei Sachs feiner und
überzeugender, durchweg ist die Darstellung frischer, individueller und
unabsichtlicher, eben darum epischer und bei weitem ergötzlicher. Der
Schwank Hans Sachsens trägt die Ueberschrift: „Der verlogen Knecht
mit dem großen Fuchs
“, er sei zum Vergleich hier angeführt:


Ein edelmann in Schwabenlant,

des gschlecht und nam sie ungenant,

ein frommer man, weis und gerecht,

der hat ein verlognen reitknecht,

rumredig mit gschwülstigen worten,

die lant durchloffen an vil orten,

het auch, wie ein alt sprichwort sagt,

ein hunt durch das Welschland gejagt;

darvon tet er groß wunder jehen,

wie er het diß und jens gesehen,

darvon groß brocken er narrirt,

und log, sam wer ims maul geschmirt.

sein junkher war ein weltweis man,

tet sein rumredig lüg verstan,

sagt oft spotweis, wie mag das sein?

so schwur der knecht dann stein und bein,

solichs und solches wer geschehen,
[254]
er hets mit sein augen gesehen;

doch wurt er oft mit worten gfangen,

das er blib in der lug behangen.

darnach der knecht nichts fragen tet,

weil er der lug gewonet het,

doch war er sonst diensthaft durchaus.

eines tages frü ritten sie aus,

da sah der junkher in dem walt

dort laufen einen fuchsen alt

und sprach: schau, schau ein großer fuchs!

der knecht sah den und antwort flugs:

junkher, habt ir ob dem fuchs wunder?

ich bin gwest in eim lant besunder,

darinnen die füchs so groß sint

als in unserm lant ochse und rint.

der junkher sprach: da sint auf glauben

gut futtern die röck und die schauben,

wenn man im lant ein kürsner fünt,

der die belg wohl bereiten künt.

da nun der red geschwigen wart,

der edelman erseufzet hart

und sprach: Herr Got, ste uns heut bei

auf dieser straß, damit wir frei

beleiben von allerlei lügen,

auf das wir sicher kommen mügen

durch das waßer mit unserm leben,

und tu uns heut gut herberg geben.

der knecht sprach: junkher, saget frei,

wo das groß ungestüm waßer sei,

vor dem ir euch gesegnet schlecht?

der junkher sprach: hör, lieber knecht,

ein groß waßer fleußt dort von weiten,

dadurch so müßen wir heut reiten,

das hat die kraft, welicher man

denselben tag ein lug hat tan,

der muß in dem waßer ertrinken,

verderben und zu boden sinken.

der knecht erschrak ob disen worten,

und als sie ritten an den orten,

kamen sie an ein großen bach.

der knecht zu dem junkheren sprach:

o junkher, sagt, ist das der fluß,

drin ein lügner ertrinken muß?

da sagt durch list der edelman:

nein, wir sint noch gar ferr darvon.

der knecht sprach: herr, darumb ich frag,

auf das ich euch die warheit sag,

ich het mich heut weit überdacht
[255]
und meinen fuchs zu groß gemacht,

er war nur so groß seiner höch

als von einem hirschen das rech.
1
der junkher sprach: ich bin sorglos,

der fuchs sei gwest klein oder groß;

merkt wohl des knechts heimlich grisgramen.

nachdem sie an ein waßer kamen,

da sprach der knecht: junkher, ists das

waßer, so trägt dem lügner haß?

der herr sprach: nein, das ists auch nicht.

darauf der knecht sprach: nemt bericht

des fuchsen heut noch meinethalb,

der war nit größer denn ein kalb,

auf das im waßer ich beste.

der junkher sprach: ich frag nit me

nach deim fuchs, sei groß oder klein.

nach dem kamens sie beid gemein

an ein waßer, da der knecht fragt:

ist diß das waßr, davon ir sagt

heut frü, drin die lügner ertrenken?

so ich des fuchs tu recht bedenken,

ist er nicht größer gwesen sider,

denn bei uns hir ist ein schafwider.

der junkher sprach: das waßr ists nicht.

nach dem zu vesperzeit gericht

kamen sie an ein waßer, floß

gar schnell mit wellen breit und groß.

der knecht fragt, obs das waßer wer,

darvon frü hat gesaget er.

der junkher sprach: das ist das recht.

ob dem waßer erschrak der knecht,

weil er sach weder bruck noch schif;

der angstschweiß übr sein angsicht lif,

zittert beide an füß und henden.

als sie zum waßer teten lenden,

da sagt der verlogen knecht:

mein lug muß ich bekennen schlecht,

der fuchs, den ich so groß bescheit,

der war nicht größer auf mein eit

denn der heutige fuchse alt,

den wir frü sahen in dem walt.

des schwanks lachet der junkher ser

und sprach zu seinem knecht: so schwer

ich dir, daß dieses waßer pur

hat kein ander kraft und natur

als andre waßer in der nehen,
[256]
die wir vor haben heut gesehen.

darmit nam ir gesprech ein ent,

schwemmten übers waßer behent.

Die großen Vorzüge von Sachsens Dichtung im Einzelnen nachzuweisen
dürfte überflüssig sein; es sei nur auf die Feinheit hingedeutet,
mit der das Verhältnis zwischen dem „frommen, weisen und gerechten“
Edelmann und seinem „rumredig verlogenen“ Knecht exponiert ist, von
dem wir doch auch erfahren, daß „er sonst diensthaft durchaus
war; durch diesen Zug ist das Jnteresse an dem Träger des lächerlichen
Hamartema und an der Kur, die sein Herr an ihm vornimmt, um ein
Bedeutendes gesteigert; und nun gar das Geschick, mit dem dieselbe
durchgeführt ist, die kunstreiche Steigerung der Spannung, bis zuletzt
gegen Abend sie an das „rechte waßer“ kommen, das „gar schnell mit
wellen breit und groß“ einherfloß, so daß dem Knecht, „weil er sach
weder bruck noch schif, der angstschweiß über sein angsicht lif, zittert beide
an fuß und henden“. Dagegen bei Gellert der „gute, dumme Bauerknabe,
den Junker Hans einst mit auf Reisen nahm, und der, trotz seinem
Herrn, mit einer guten Gabe, recht dreist zu lügen, wieder kam“, und
die ärmliche, keiner weiteren Entwickelung fähige, Erfindung des verhängnisvollen
Steins auf der Brücke! Auch die Art, wie beide die
Moral aus der Geschichte ziehen, ist höchst charakteristisch: Hans Sachs
begnügt sich in seinem „Beschluß“ das Fehlerhafte des Lügens nun
noch ausdrücklich als solches ins Licht zu setzen und eine Warnung
davor hinzuzufügen:


Bei diesem schwank verstet man wol,

ein mensch mit fleiß sich hüten sol

vor lügen, es ist ein groß schant,

wann welch mensch des lügens gewant (gewohnt)

und het ein ungehebe (ungebundene) zungen,

wirt oft zu widerrufen zwungen,

des er an der lügen bestet (stecken bleibt)

und schamrot mit spot darvon geht u. s. w.

Gellert statt dessen will aus dem Ganzen nur die „nützliche
Lehre
“ entnommen wissen:


Du mußt es nicht gleich übel nehmen,

Wenn hie und da ein Geck zu lügen sich erkühnt.

Lüg' auch, und mehr als er, und such' ihn zu beschämen,

So machst du dich um ihn und um die Welt verdient.

Mitunter hält sich Gellert auch von dieser lehrhaften Miene frei
und scheint sich ganz der Lust am Erzählen hinzugeben; aber das geschieht [257]
mit um so mehr Behagen, je mehr er sich in die Enge des philiströsesten
Kleinlebens begibt, und leider tritt hier oft an die Stelle des Anmuthigen
und der maßvollen Feinheit, welche dieses Genre allein erträglich
machen können, das Niedrige und Triviale; man vergleiche in dem
sonst so wohlgelungenen Stück „Die Widersprecherin“ die äußerst geschmacklose
Schilderung der wuthentbrannten Jsmene, ferner Gedichte wie
„Lisette“, „Die kranke Frau“, „Der zärtliche Mann“, „Die Mißgeburt“
und viele ähnliche. Sicherlich hat er mit diesen breit ausgemalten Erzählungen
bei seinen Zeitgenossen den meisten Beifall gefunden, doch sind
ihm ganz im Gegensatze dazu die in knappster Kürze gehaltenen bei
weitem am besten gelungen; so der „Maler“, den er nicht umsonst bei
seiner berühmten Unterredung mit Friedrich dem Großen zum Vortrage
wählte, „Der glückliche Dichter“, bei dem nur die ganze Einleitung zu
streichen wäre, „Die Bauern und der Amtmann“, und solche, deren
komische Kraft lediglich in der Schlußwendung liegt, die sich damit also
dem Epigrammatischen nähern, wie „Der Greis“, „Der Selbstmord“,
„Der gute Rat“, „Der Jüngling und der Greis“.

Mögen nun aber diese verschiedenen Arten der komischen Erzählung
mehr oder weniger von den guten Mustern der Gattung entfernt sein,
nirgends kann es fraglich sein, daß sie vor den ernsten Erzählungen
Gellerts sämtlich bei weitem den Vorrang verdienen, vor der Schwächlichkeit
und Jnsipidität solcher Erfindungen wie „Der arme Greis“ („Um
das Rhinoceros zu seh'n“ u. s. w.) oder „Amynt“, wo als preiswerte
Tugend vorgeführt wird, daß jemand, trotzdem er in Not ist, sich weigert,
für Geld falsches Zeugnis abzulegen.

Wie oben schon angedeutet, ist diese Erscheinung eine allgemeine;
der Grund derselben wird sich mit Leichtigkeit ableiten lassen, wenn es
gelingt, die Definition der epischen Gattung und ihrer Hauptarten festzustellen.
Dieselbe wird nach den bisherigen Entwickelungen auf die
folgenden Grundlagen sich stützen müssen:

Die Epik erzählt Handlungen und zwar als Gegenstand der
Darstellung, nicht als Mittel derselben.

Da Handlungen als solche der Gegenstand der Ethik sind,
so ist ihr eigentlicher Nachahmungszweck die innere Handlung;
da aber diese, um sich überhaupt ereignen und vollends um dargestellt
werden zu können, der äußeren Handlung bedarf, so ahmt die
Epik auch diese nach, aber um der inneren Handlung willen.

Die Faktoren der inneren Handlung und damit also die Elemente
ihrer Nachahmung sind die treibende Empfindung (Pathos), das den
Handelnden erfüllende Ethos (die ihm als dauernder Besitz eigene [258]
Gemütsverfassung, welche, da sie eins der wesentlichsten und
zwar das hervorstechendste Merkmal des Gesamtcharakters ist, häufig
geradezu als Charakter bezeichnet wird) und die eigentlich den Akt
der Handlung konstituierende Willensentscheidung (Entschluß,
Prohairesis).

Die Elemente der äußeren Handlung sind die Begebenheiten
und Schicksale,
an denen jene Faktoren der inneren Handlung sich
äußern, beweisen, erproben und somit auch in der Nachahmung zur
Darstellung gelangen.

Für die Nachahmung von Handlungen kommt es also zunächst
darauf an, daß diese drei Bestandteile ─ also 1) das Pathos und
Ethos, 2) die Prohairesis der Handlung, 3) die bedingenden äußeren
Umstände für beides ─ vollständig in der Darstellung vorhanden
sind, und daß sie ferner in völliger, gegenseitiger Uebereinstimmung
mit
und in organischer Zusammengehörigkeit zu
einander
dargestellt werden.

Werden diese Bedingungen erfüllt, so genügt das für die Wahrheit
und das Jnteresse der Erzählung, aber noch keineswegs für
deren poetische Schönheit. Zu dieser wird vor allem erfordert, daß
die Darstellung eines jeden jener drei Faktoren sich ausschließlich an
das Vermögen der Aisthesis wende, also in der diesem Vermögen entsprechenden
Weise eingerichtet sei, d. h. daß die Erzählung vermittelst
der Vorstellungskraft sinnliche Wahrnehmung hervorrufe, und zwar
nicht sinnliche Wahrnehmung schlechthin, sondern eine solche, welche
unmittelbar und untrennbar mit einer Empfindungsentscheidung
─ einem ästhetischen Urteil ─ verbunden sei. Sodann aber wird
für die künstlerische, schöne Darstellung ebenso notwendig erfordert, daß
die Empfindungsentscheidung, welche zuletzt den Gesamtzweck der
Nachahmung der inneren und äußeren Handlung bildet, eine wohlgefällige
sei, daß sie also Freude errege, und zwar die richtige
Freude,
das ὀρθῶς χαίρειν.1

Aus diesen Voraussetzungen lassen sich die Bestimmungen herleiten,
welcher Art die Handlungen sein müssen, um für die epische Dichtung
sich zu eignen, und wie sie darzustellen seien. Unter allen Umständen
müssen sie nach ihrem Verlauf und Abschluß dazu eingerichtet sein, sei [259]
es direkt oder indirekt, unser Wohlgefallen zu erregen: ausgeschlossen
müssen aber alle diejenigen sein, bei welchen dieses Wohlgefallen lediglich
in der Billigung unseres moralischen Urteils oder der Zustimmung
unseres Verstandesurteils
gegründet ist. Nun sind
aber einigermaßen beachtungswerte oder gar bedeutende Handlungen ─
sofern sie nicht von Kindern oder Wilden, sondern von bewußt handelnden
Personen ausgehen ─ ohne die Thätigkeit des moralischvernünftigen
Willens und des prüfenden und urteilenden Verstandes
nicht zu denken, sie werden also, wenn man sie darstellt, auch zu
einem größeren oder geringeren Teile dem betreffenden Forum der
Beurteilung angehören. Andrerseits ist es klar, daß je stärker als bestimmender
Faktor die Empfindung, das einzelne Pathos, oder die
Gesinnungsweise, Gemütsart, Charakterbeschaffenheit, das Ethos auftritt,
um desto mehr jene andern Faktoren zurücktreten, bis zu dem
Grade, daß sie für die Wahrnehmung und damit für die Darstellung
ganz zu verschwinden scheinen, indem sie nämlich in der zur ständigen
Eigenart (Hexis) gewordenen Gesinnung, im Ethos also, schon enthalten
und gewissermaßen darin aufgegangen sind. Solcher Art ist die Handlung
des Glaukos bei dem Rüstungstausch mit Diomedes in der Jlias,
alle Handlungen Siegfrieds in unsern Nibelungen sind mit diesem Stempel
gezeichnet, oder die Handlungsweise der Freunde in Schillers „Bürgschaft“,
wenn es z. B. dort heißt: „Und schweigend umarmt ihn der
treue Freund und liefert sich aus dem Tyrannen“, ganz ebenso die
Handlungsweise des Schillerschen „Tell“; aber auch die Handlungen
des „klugen und vielgewandten“ Odysseus tragen durchweg dieses
Zeichen des Ethos, trotzdem an ihnen überall die verständige Berechnung
mitarbeitet; dieselbe ist ihm, wie unser Sprachgebrauch es ausdrückt,
„zur zweiten Natur“ geworden.

Eben darum, durch die Unmittelbarkeit, durch welche die Reflexion
ganz oder doch fast ganz in Wegfall kommt, tragen derartige Handlungen
den Charakter der Naivetät und sind am ehesten bei den vollen
und ursprünglichen Naturen früherer Zeitalter oder in möglichst unbeeinträchtigt
erhaltener Einfachheit der Lebensverhältnisse aufzufinden und
darzustellen. Dasselbe ist der Fall bei den Handlungen, welche ganz
oder doch zum weit überwiegenden Teile aus dem Empfindungsimpulse,
dem Pathos, hervorgehen; wie diese, namentlich wo die bedingenden
Umstände bedeutender Art sind, häufig und schnell einen jähen und
heftigen Charakter annehmen werden, so wird auch ihr äußerer Verlauf
ein gewaltsamer sein und leicht werden verderbliche Folgen sich an sie
knüpfen. Es mag schon hier der Hinweis eine Stelle finden, daß der [260]
viel umstrittene Satz im 24. Kapitel der Aristotelischen Poetik, wo der
Jlias ein „pathetischer“, der Odyssee ein „ethischer“ Gesamtcharakter
zugeschrieben wird, auf diesem Wege seine einfache Erklärung
findet. Ganz in der geschilderten Weise handelte der Homerische Achilleus,
durchweg durch leidenschaftliche Jmpulse bestimmt, so wie Horaz ihn geschildert
wissen will:


Impiger, iracundus, inexorabilis, acer

Jura neget sibi nata, nihil non arroget armis.

Und, wie er, so handelt die Mehrzahl der griechischen Helden in der
Jlias; der gesamte äußere Verlauf der Ereignisse vom ersten Anbeginn
bis zum Schlusse des in seinem Gesamtplan zu wundervoller Einheit
gefügten Gedichtes erhält dadurch den Grundcharakter dessen, was
Aristoteles das „Pathetische“ nennt, nämlich des Leidvollen, Gewaltsamen,
Verderblich-Schmerzlichen.
Jm scharfen Unterschiede
hiervon ist in der Odyssee das den Helden erfüllende Ethos bestimmend
nicht allein für alle seine Handlungen, sondern auch für das Ganze
und die Einzelnheiten des Verlaufs der Gesamthandlung, nicht minder
ist in allen übrigen, das Wesentliche dieses Verlaufs mitbestimmenden
Hauptfiguren das sie ihrerseits in ihren Haudlungen überall bestimmende
Ethos entscheidend für den Gang und die endliche Entwickelung des
Gedichtes: es würde genügen, nur Penelope, Telemach, Eumäos
zu nennen, aber auch die Art, wie die meisten Nebenpersonen in die
Handlung eingreifen, ist ebenso als ganz überwiegend durch das einer
jeden von ihnen eigene Ethos diktiert zu bezeichnen; natürlich keineswegs
alles und jedes, was in der Odyssee vorkommt, ebensowenig wie
alles nur in der Jlias pathetischen Charakters sein müßte. Solche
Einseitigkeit wäre gegen die Natur der Dinge, sie ist auch in dem
Aristotelischen Urteil nicht behauptet; was gleichwohl dieses Urteil zu
bedeuten hat, tritt noch mehr hervor, wenn man aus den Gesichtspunkten,
nach denen sich die beiden griechischen Epen so klar voneinander
scheiden, unser deutscher Nationalepos betrachtet: es ergibt sich, daß im
Gegensatze zur Jlias und zur Odyssee die Nibelungen weder den
einen noch den andern Gattungscharakter tragen, sondern daß beide
in den Hauptpersonen und in deren entscheidenden einzelnen Handlungen
in gleichem Maße vertreten sind, ebenso auch im Verlaufe und der
endlichen Entwickelung des Ganzen eine ebenmäßige, höchst kunstvoll verwebte
Verbindung von beiden, daß sie somit nach dieser einen, aber
sehr wesentlichen, Seite
einen noch höheren Rang behaupten, daß
sie noch reicheren und lebensvolleren Gehalt, noch tiefere und universellere [261]
Bedeutung haben als ihre griechischen, in so vieler Hinsicht hoch über
ihnen stehenden, Rivalen.1

Demnach kommt es also für die epische Erzählung in erster Linie
darauf an:

für die Darstellung solche pathetischen oder ethischen oder
ethisch=pathetischen Handlungen auszuwählen;

sodann aber:

Handlungen, welche weder das eine noch das andre im vollen
Maße sind, nur insoweit für die Darstellung zu erwählen, als sie von
jener Seite sich auffassen und vorführen lassen,
dagegen die
Verstandesreflexion und die moralische Erwägung als der
epischen und überhaupt der poetischen Darstellung widerstrebend derselben
ferne zu halten,
es sei denn, daß sie als dienende Glieder
in Nebenhandlungen zur Verwendung kommen.

Einige Beispiele mögen den Satz bekräftigen. Von Gustav
Schwab
gibt es eine poetische Erzählung „Johannes Kant“, der
lange ehe Jmmanuel Kant „den kategorischen Jmperativus fand, dem
kategorischen Jmperativus treu, zwang durch ihn wilde Seelen zu frommer
Scheu“. Dieser, ein Krakauer Doctor theologiae, ein Mann „von reinem
Gemüt und immer gleichem Sinn,“ zog im Alter zum Besuch seiner
schlesischen Heimat aus. Mitten im wilden Walde wird er von Räubern
angefallen und beraubt. Nachdem sie ihm sein Pferd, seine Barschaft
und alles Wertvolle, was er an sich hat, weggenommen, lassen sie ihn
laufen, da er versichert, nichts weiter zu besitzen. Doch, da er entronnen,
fällt es ihm auf die Seele, daß „in seiner Kutte vorderm
Saum“ noch „der güldene Sparpfennig sich versteckt“. Der Gewissensvorwurf
der begangenen Lüge treibt ihn zu den Räubern zurück, sein
Unrecht gut zu machen:


„Das hab' ich böslich vor euch verleugnet, nehmt!“

Den Räubern aber wird's wunderlich im Kopf,

Sie möchten lachen und spotten ob dem Tropf;

Und ihre Lippe findet doch keinen Laut,

Und ihr vertrocknetes, starres Auge taut.

Und in dem bleiernen Schlummer, den er schlief,

Regt sich in ihnen plötzlich der Jmp'rativ,

Der wunderbare, das heil'ge Gebot: „Du sollt ─

Du sollt nicht stehlen!“ und vor der Hand voll Gold

Aufspringen sie, dann werfen sich all' aufs Knie,

Ein tiefes Schweigen waltet; denn Gott ist hie.
[262]

Sie geben ihm dann alles Geraubte zurück, er teilt ihnen den
Segen aus, „wünscht ihnen gründliche Reue“ und reitet von dannen.

Die Handlung ist in treuherzigem, etwas archaisierendem Tone
nicht ungeschickt erzählt; aber der Eindruck des Gedichtes ist mehr verstimmend
als erfreulich: der Grund ist, daß die Handlung eine eminent
moralische ist; moralisch ist die Reue des Kant und sein Entschluß
die Lüge gut zu machen, moralischer Natur ist die durch das Beispiel
bei den Räubern hervorgebrachte Wirkung; das eigentlich Moralische
aber, was hier also die innere Handlung ausmacht, läßt sich nicht
nachahmen, höchstens beschreiben, am wenigsten aber durch die
Nachahmung mitteilen, es ist schlechterdings an das eigene, wirklich
eintretende Handeln
gebunden. So muß jeder Versuch es
zum Gegenstand der künstlerischen Mimesis, sei es poetische oder malerische,
zu machen, an dem Unvermögen, den Nachahmungszweck zu erreichen,
scheitern.

Hieraus erklärt sich das Unbehagen, die Langeweile, der Widerspruch
des ästhetischen Gefühles, welches alle derartigen Produktionen
erregen, alle die Darstellungen von Akten der Tugend, des Edelmutes,
der Feindesliebe, der Selbstverleugnung, sofern sie eben als spezifisch
moralische Akte,
als Triumphe des sittlich bestimmten Willens über
die entgegenstehende Neigung oder hindernde Schwäche, vorgeführt werden,
oder sofern auch nur das spezifisch Moralische an ihnen in den Vordergrund
gestellt wird. Der großen Menge der Geringeren nicht zu gedenken,
sei hier nur Herder erwähnt, welcher in seinen poetischen Erzählungen
über diesen Standpunkt nicht hinausgekommen ist. Freilich
nennt er sie „Legenden“, und stellt sie damit, nach seiner Auffassung
der Legende, von vornherein unter einen fremden Gesichtspunkt. Er
hebt die Bedeutung und innere poetische Wahrheit der religiösen Ueberlieferungen
und kirchlichen Mythen sehr feinsinnig hervor, aber für ihre
poetische Verwendung in der Legende ist ihm nur die Absicht zu „bessern“
maßgebend: „Gäbe es in diesen Zeitaltern keine Muster einer
Tugend,
die wirklich diesen Namen verdiente? keine Seelengröße, die,
über sich selbst gebietend, Gefahren nicht suchte, aber tapfer überwand
und das Leben selbst nicht achtete zur Erlangung des Kampfpreises?“
Und „wären alle jene Überlieferungen ein schwerer, dunkler Traum
langer Jahrhunderte, ein ungeheurer Wahnsinn der Zeiten gewesen, zeiget
ihn als solchen! Hebet die Erzählungen verführter, mißleiteter Seelen
sorgsam aus und merket, wie sie mißleitet wurden, wie sie sich selbst
verführten! Zeiget dies mit aller zarten Teilnahme, mit jedem hilfreichen
Erbarmen, herabsteigend in die Tiefen der menschlichen Natur, [263]
in ihre betrüglichen Tiefen! Wie lehrreich werdet ihr schreiben!
Eine kleine Legende wird mehr Psychologie, mehr Warnung, Rat
und Trost
enthalten, als vielleicht ein ganzes System kalter
pharisäischer Sittenlehre.
Sie wird werden, was ihr Name sagt,
ein durchaus zu Lesendes, eine Legende.“ Man sieht, es geht hier
Herdern aller epische Takt verloren; und wenn er im Übrigen von der
Legende verlangt, „Andacht solle sie einflößen und wirken,“ und weiterhin
das „Engelsgefühl“, von dem sie erfüllt sein soll, ausmalt ─
„Ein ganz eigenes Gefühl ist es, dies süße Gefühl der Andacht. Es
haftet so unabwendbar an und fesselt so ganz, läßt so Vieles unmerklich
hinschwinden
und scheint uns mit wenigen Gedanken
so viel,
mit einem Gedanken alles zu geben!“ ─, so liegt darin
wohl mehr poetischer Sinn, obwohl in nicht unbedenklicher Form geäußert,
allein den Gesetzen der epischen Erzählung widerspricht auch
dieses. Ein Gedicht, welches die Erregung der Andacht zum Nachahmungszweck
hat, ist lyrisch, was etwa darin erzählt wird, dient als
Darstellungs mittel diesem Zweck; dagegen ist für die Epik überall die
Handlung Jnhalt und Zweck. Ein vortreffliches Beispiel für diesen
Unterschied bietet Uhlands schönes lyrisches Gedicht „Die verlorene
Kirche
“ dar. Hier ist die Erregung des Andachtsgefühles Liedeszweck,
die Erzählung der wie in einer Vision geschauten, aber äußerlich
als sagenhafte Überlieferung dargebotenen, Handlung dient diesem Liedzwecke
und erfüllt ihn ganz, wie die Schlußstrophe ihn ausspricht:


Was ich für Herrlichkeit geschaut

Mit still anbetendem Erstaunen,

Was ich gehört für sel'gen Laut,

Als Orgel mehr und als Posaunen,

Das steht nicht in der Worte Macht;

Doch wer danach sich treulich sehnet,

Der nehme des Geläutes acht,

Das in dem Walde dumpf ertönet!

Man vergleiche mit diesem schönen, von andächtiger Stimmung
ganz eingegebenen und ganz erfüllten Liede die lehrhafte Trockenheit
in Beschreibung der Stimmung und in der Erzählung von Herders
Bild der Andacht“, worin er doch, wenn irgendwo, seine Theorie
müßte bewährt haben:


Die höchste Liebe wie die höchste Kunst

Jst Andacht. Dem zerstreueten Gemüt

Erscheint die Wahrheit und die Schönheit nie;

Sie, die aus vielem nicht gesammelt wird,
[264]
Die, in sich eins und alles, jeden Teil

Mit sich belebet und vergeistiget.

Sophronius, der in dem Heidentum

Den Musen einst geopfert, wollte jetzt

Der Mutter Gottes auch ihr Bildnis weih'n.

Wie eine Biene flog er auf der Au'

Der Kunstgestalten; Pallas, Cynthia

Stand ihm vor Augen; Aphrodite sollt'

Jn einer Huldgestalt mit ihnen blüh'n.

Er überlegt' und schlief ermattet ein.

Da stand im Schlaf sie selbst vor Augen ihm,

Die Benedeite. „Sieh mich, wer ich bin,“

Sprach sie, „und gib mir keinen fremden Reiz!

Nur Selbstvergessenheit ist meine Zier;

Nur Demut, Zucht und Einfalt ist mein Schmuck!“

Getroffen wie vom Pfeile wacht' er auf

Und sah fortan auch wachend sie, nur sie,

Wie der, der in die Sonne schaut, das Bild

Der Sonne mit sich träget. Öfters stand

(So dünkt es ihm) sie sichtbar vor ihm da,

Das Kind auf ihrem Arm und Engel ihr

Zur Seite. Als das Bild vollendet war,

Da trat ein Himmelsjüngling zu ihm hin

Und sprach: „Gegrüßet sei, Holdselige!“

Zum Bilde. „Viele Herzen werden dein

Sich am Altar erfreu'n und willig dir

Jhr Jnnres öffnen; denn was Andacht schuf,

Erwecket Andacht. Dir, o Künstler, hat

Die Selige sich selber offenbart.“

Sieht man von dem lehrhaft reflektierenden Eingange ab, so enthält
auch die Erzählung selbst nichts, als die trockene Berichterstattung
von dem Faktum einer andächtigen Entzückung, woran dann abermals
eine didaktische Schlußbemerkung geknüpft ist, daß, was Andacht geschaffen
hat, auch fähig ist, Andacht zu erwecken: was aber die Hauptsache
ist, die Nachahmung jener andächtigen Entzückung, so daß sie
in dem Hörer selbst erweckt wird, ist nicht einmal versucht.

Die Mehrzahl der Herderschen Legenden ist durch die moralisierende
Lehrhaftigkeit der Erzählung schlechthin unerträglich, selbst die beiden
bekanntesten, in alle Sammlungen aufgenommenen, „Die wiedergefundenen
Söhne“ und „Der gerettete Jüngling“ nicht ausgenommen, von
denen höchstens die letztere durch einen etwas höheren Wärmegrad der
Stimmung sich vorteilhaft unterscheidet.

Es muß auffallen, daß die Legende, die doch weiter nichts ist als
eine poetische Erzählung, welche ihren Stoff aus der religiös=kirchlichen, [265]
sagen- und mythenhaften Überlieferung nimmt, in unserer Dichtung so
unzureichende Behandlung gefunden hat. Der Grund ist keineswegs
der, daß, wie behauptet worden ist, die Gattung an sich unpoetisch wäre
─ wie käme es denn, daß fremden Religionen entnommene Stoffe
der höchsten dichterischen Wirkung dienstbar gemacht werden konnten,
wie das in Goethes herrlichem Gedichte „Der Gott und die Bajadere“
und in der „Paria-Legende“ geschehen ist ─, sondern der, daß man die
christliche Legende fast ausnahmslos mit christlich=moralischer oder
dogmatisch=mystischer Tendenz, also unpoetisch, behandelt hat.

Als das klassische Muster der Gattung kann Goethes „Der Gott
und die Bajadere“ gelten, und eine nähere Betrachtung des Gedichtes
eröffnet nach vielen Seiten sehr interessante Perspektiven. Die ethische
Umwandlung, die in dem Magdalenenmotiv enthalten ist, wird hier
auf rein pathetische Weise hervorgebracht, durch die bloße Nachahmung
der Empfindung. Das allgewaltige Pathos reiner Liebe, die stärker ist
als der Tod, bewirkt die Heiligung, welche so, statt dem Hörer nur
äußerlich als durch ein Wunder vollbracht mitgeteilt zu werden, in sein
eigenes Empfinden übergeht:


Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;

Unsterbliche heben verlorene Kinder

Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

Es ist derselbe Gedanke hier in epischer Gestaltung vorgeführt, wie
er im Faust II, 5, 876 lyrisch ausgesprochen ist:


Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen:

..........

Und hat an ihm die Liebe gar

Von oben teilgenommen,

Begegnet ihm die selige Schar

Mit herzlichem Willkommen.

Der Hauptgrund, warum die spezifisch christliche Legende so leicht
mit den Gesetzen der Poesie in Widerstreit gerät, liegt offenbar darin,
daß, während ethnische Religionsgestaltungen fast immer das schon an
sich poetische Bestreben aufweisen, die geistigen Vorgänge durch sinnliche
Verkörperung dem Verständnis sowohl als der Empfindung näher
zu rücken, die christliche Lehre gerade dagegen mit schärfster Entschiedenheit
ankämpft und mit vollstem Recht das rein geistige Gebiet der
spezifisch religiösen und moralischen Empfindungen und Gedanken von
dem Gebiet der sinnlich=poetischen Empfindungen scheidet. Was der [266]
„Sünderin“ in Lukas 7, 36─59 „geholfen“ hat, ist nicht die poetisch
darstellbare Empfindung der Liebe ─ obwohl auch diese als Voraussetzung
mit in ihr thätig sein muß ─, sondern ihr „Glaube“, ein
spezifisch religiöses Ethos, dessen Entstehung für die Poesie nicht
nachahmbar ist ─ höchstens seine Kundgebungen ─, weil es auf einer
einzigartigen Verbindung rein moralischer Potenzen, die also in dem
Bereich des Willens stehen,
mit gänzlich spontanen Empfindungsdispositionen
beruht, welche, da sie das Zusammenwirken
einer großen Zahl unnachweisbarer Faktoren erfordern, als ein unmittelbares
Geschenk der göttlichen Gnade angesehen werden. Deshalb ist
es einzig und allein in seinen Wirkungen nachahmbar; jeder Versuch,
sein Eintreten darzustellen, ist unkünstlerisch, denn er gewährt statt der
Nachahmung nur äußerlichen Bericht eines Faktums. Aus demselben
Grunde eröffnet sich an derselben Stelle, wo die Zugänge zur Dichtkunst
sich schließen, ein weites Feld für die bildenden Künste;
denn diese haben es in der That mit den durch innere Zustände in der
äußeren Erscheinung hervorgebrachten Wirkungen zu thun: deren
Zeichen sind für sie die Mittel der Nachahmung jener.

Sehr lehrreich zeigt sich auch auf diesem Gebiet jedoch wieder, daß
bei der komischen Behandlung der Legende diese Mängel zurücktraten
und Erfreuliches geleistet werden konnte, ein Punkt, der weiter unten in
dem betreffenden Zusammenhange noch seine Berücksichtigung finden wird.

Noch ein frappantes Beispiel, wie hoch die rein epische Behandlung,
d. i. also diejenige, welche die Handlung ganz für sich allein, als
aus dem unmittelbaren Antriebe des Gemüts, aus schönem Ethos,
hervorgehend erzählt, über derjenigen steht, welche auch nur die Vermischung
der ethisch=pathetischen Auffassung mit der moralischen Rücksicht
zuläßt, zeigt die Gestaltung eines nahe verwandten Stoffes durch
Goethe und Bürger. Wie Bleigewichte hängen sich die moralisierenden
Betrachtungen an die im Uebrigen vortreffliche Erzählung in Bürgers
Lied vom braven Mann“; wie rein dagegen die Schönheit des
von allem Beiwerke befreiten Körpers der Handlung in Goethes „Johanna
Sebus
“!

Nach den im Obigen entwickelten allgemeinen Bestimmungen über
die epische Darstellung ergeben sich also die folgenden Faktoren als
maßgebend für die Auswahl und die Komposition der Handlung in den
verschiedenen Hauptgattungen der Epik:

Die Handlung ist entweder eine gute, richtige oder eine
schlechte, fehlerhafte.

Die erste wird als aus gutem, richtigem Ethos und Pathos [267]
entspringend dargestellt, die zweite als aus fehlerhaftem Pathos
und Ethos
hervorgehend.

Da aber die menschlichen Handlungen, im ganzen genommen,
weder unbedingt gut noch ungemischt fehlerhaft
sind, so werden
rein als solche nur einzelne Handlungen dargestellt werden können.

Dagegegen wird bei der Darstellung einer Handlung, welche als
ein größeres Ganzes eine Vielheit einzelner Handlungen umfaßt,
weder ein gutes Ethos frei von jedem Zusatz eines
Fehlerhaften
sein dürfen, noch ein fehlerhaftes ungemischt
mit Bestandteilen des guten.

Nun sind alle inneren Handlungen mit bestimmten Folgen verknüpft,
die sich in der äußeren Handlung darstellen; diese äußeren Folgen,
welche kurz als ihr Ausgang zu bezeichnen sind, hängen aber keineswegs
allein von ihrer Beschaffenheit ab, sondern zu einem
großen Teile von denjenigen äußeren Umständen, innerhalb
derer sie entstehen und mit denen sie nach großen, unabänderlichen,
nicht zufälligen, sondern ewig gültigen Gesetzen
verknüpft sind.

Darnach sind in betreff des Ausganges die folgenden Fälle möglich:
entweder ist die Handlung von ungemischt gutem Ethos und
hat demgemäß einen glücklichen Ausgang: das ist nach dem Obigen
nur in kleinen Gedichten angänglich, die nur einzelne Handlungen
darstellen.

Oder der aus gutem Ethos hervorgehenden Handlung haftet
irgend eine FehlerhaftigkeitHamartie ─ an, ohne doch den
glücklichen Ausgang zu beeinträchtigen; in diesem Falle wird diese
letztere in verschiedener Weise behandelt werden können: entweder um
eine vorübergehende tragische Befürchtung hervorzubringen
oder der an sich ernsten Handlung eine mehr oder minder hervortretende
komische Färbung zu verleihen, oder um beides nebeneinander zu
bewirken.

Oder aber an die dem guten Ethos anhaftende Hamartie
knüpft sich ein unglücklicher Ausgang: in diesem Falle ist die Handlung
tragisch.

Ebenso kann eine aus schlechthin fehlerhaftem Ethos entspringende
Handlung entweder unglücklich ausgehen: eine solche eignet
sich wiederum nur für kleinere Gedichte, die eine einzelne Handlung
geringen Umfanges darstellen.

Oder die von einem überwiegend fehlerhaften Ethos getragene
Handlung, der es aber an Beimischung irgend eines guten [268]
Pathos oder Ethos nicht mangelt, führt zu glücklichem Ausgang:
dies ist der Fall der komischen Handlung.

Mitunter kann geschehen, daß es nur von dem Mischungsverhältnis
und der Behandlung von seiten des Dichters abhängt, ob die Handlung
tragischen oder komischen Charakter erhält: als zwei ebenso hervorragende
als bekannte Beispiele seien dafür aus dem in dieser Beziehung
eng verwandten dramatischen Gebiete des EuripidesAlcestis“ und
ShakespearesKaufmann von Venedig“ angeführt.

Daraus lassen sich die Bestimmungen für die epischen Hauptgattungen
ableiten. Es sei zunächst das Jdyll und das heroische
Epos
in Betracht gezogen, an späterer Stelle sodann das komische Epos. ──────


XVI.

Handlungen, denen richtige Pathe und Ethe, d. h. also nach
dem uns geläufigen Sprachgebrauch ausgedrückt, gesunde Empfindungen
und gute Gesinnungen, zu Grunde liegen, mit glücklichem Ausgang,
richtig, d. h. wahrheitsgemäß, nachgeahmt, ergeben die idyllische
Gattung:
sie erregt unmittelbares, reines Wohlgefallen, abgesetzt
und gehoben durch vorübergehende tragische Affekte
Mitleid oder Befürchtung ─ oder ebenso durch Empfindungen des
Komischen.
Alle Reflexion, moralische wie verständige, ist ganz
oder doch möglichst aus der idyllischen Darstellung auszuschließen, daher
ist ihr Charakter der des Naiven: dasselbe wird erreicht, indem entweder
die Handlung in der größtmöglichen Einfachheit der bedingenden
Lebensverhältnisse aufgebaut wird unter Personen, die auf niedriger oder
mittlerer Stufe der Bildung stehen, oder indem sie von Personen getragen
wird, denen die höchste Kultur zur Natur geworden ist. Goethes
Hermann und Dorothea“ vereinigt beides; bei seiner Jdee eines
heroischen Jdylls“ schwebte Schiller eine Handlung vor, die ganz
von der letzteren Art sein sollte. Es gibt keinen schlimmeren Jrrtum
für die Komposition des Jdylls als die Meinung, daß das Jdyll die
Alltäglichkeit des Lebens abzuschildern habe, daß die bloße Naturwahrheit
der Nachahmung von Scenen des in engem Kreise friedlich sich
vollziehenden Daseins seine Aufgabe sei: die idyllische Handlung ist in
reiner Gestalt ebenso ausnahmweise im Leben anzutreffen und bedarf in
der Dichtung ebenso der höchsten Kunst als die rein tragische. Die
Bedeutung und das Jnteresse der Handlung muß in dem unmittelbaren [269]
und reinen Wohlgefallen an der Entfaltung von Empfindungen, Gesinnungen
und daraus hervorgehenden Willensentscheidungen gefunden
werden, zu der durch den einfachen Verlauf oder durch die Verwickelung
der äußeren Geschehnisse die Gelegenheit gegeben sein muß: dies muß
aber erreicht werden, und darin liegt eine außerordentliche Schwierigkeit,
während diesem einfachen Verlauf oder dieser Verwickelung der äußeren
Geschehnisse, für sich allein betrachtet, nur geringe Bedeutung
beiwohnt, das Jnteresse daran muß also ganz und gar durch jenes
unmittelbare und reine Wohlgefallen an Pathos und Ethos der Handelnden
geschaffen werden; ja, wie der Dichter den etwa aus den
äußeren Umständen sich ergebenden Verwickelungen nicht diejenige Ausdehnung
geben darf, die bis zur Wichtigkeit für weiter
ausgedehnte Kreise, bis zur Größe,
auch nur heranreicht, so
muß er auch durch die ganze Dichtung die etwa aus den anhaftenden
Hamartien resultierenden Empfindungen der Furcht, des Mitleids oder
des Lächerlichen geflissentlich auf einer quantitativ niedrigen Stufe halten,
um der Hauptempfindung des reinen Wohlgefallens keinen Eintrag zu
thun. An diesem Punkte zeigt sich klar, wie der von Aristoteles in
dieses Gebiet eingeführte Begriff der „Größe der Handlung“ ─
μέγεθος τῆς πράξεως ─ aufzufassen ist und wie höchst wesentlich seine
Berücksichtigung für die Unterscheidung der Gattungen und für ihre Komposition
ist. Nichts kann irriger sein, als darin eine Bestimmung der
räumlichen Ausdehnung der Handlung zu finden: dieselbe ist beim Drama
eine durch äußerliche Verhältnisse bestimmte, überall im ganzen und
großen konstante, in der epischen Gattung aber in so weiten Grenzen
variabel, daß eine Bestimmung des Wesens der Handlung darin
unmöglich gesucht werden kann. Der Ausdruck ist, wie in allen Sprachen
üblich, auf die Qualität übertragen und bezeichnet die, nach der
Relation der Wichtigkeit für das Ganze der menschlichen
Schicksale und Handlungen, der einzelnen Handlung ihrem
innern Wesen und ihrer äußeren Erscheinung, ihren Umständen
und ihren Folgen nach zukommende Bedeutung;

eine hervorragende Bedeutung dieser Art wird Größe der Handlung
genannt. Für den Gegensatz ist eine feste Bezeichnung nicht eingeführt;
die Ausdrücke „klein,“ „einfach,“ „unbedeutend“ sind nicht zu gebrauchen,
weil sie sämtlich Mißverständnis erregen würden, es müssen also Umschreibungen
gebraucht werden; für die Beteiligten bleibt auch die idyllische
Handlung immer „bedeutungsvoll,“ nur nach dem absoluten Maßstabe
gemessen darf ihr die „Größenicht zukommen.

Dieser Begriff der „Größe“ und ihres Gegenteils ist für die [270]
Komposition der verschiedenen epischen und dramatischen Gattungen sehr
wesentlich mitbestimmend, so sehr, daß es geschehen konnte, wie aus den
grob äußerlichen Definitionen dieser Gattungen im sechszehnten, siebzehnten
und noch im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ersichtlich,
daß man ihn allein als das hervorstechendste Merkmal der Unterscheidung
im Auge behielt.1 Wenn man aber diesen groben Fehler im Verlauf
des achtzehnten Jahrhunderts dadurch zu korrigieren meinte, daß man
jenen Begriff als Gattungsmerkmal nun gänzlich auslöschen wollte, so
ging man mit der daraus entstehenden Vermischung der Gattungen
nicht minder in die Jrre.

Für die zweite Hauptgattung kommt der Begriff der Größe
der Handlung, neben dem der Einheit und Vollständigkeit in [271]
erster Linie in Betracht; damit zugleich der der guten, d. h. richtigen
und gesunden Beschaffenheit des die Handlung der Hauptsache nach
tragenden Ethos: eine solche Handlung ─ πρᾶξις σπουδαία, τελεία,
μέγεθος ἔχουσα ─ konstituiert die heroisch=tragische, sowohl
epische als dramatische Gattung. Jn der That machen erst diese beiden
Elemente verbunden, durch die in ihrer Natur begründete Wechselwirkung
ja die gewissermaßen zwischen ihnen bestehende gegenseitige Anziehungskraft,
den Charakter dieser Gattung aus. So wie Tüchtigkeit und Adel
des Ethos durch die Größe und Bedeutsamkeit der die Handlung bedingenden
Umstände erst zur vollen Äußerung gebracht wird, ja wie
die Größe und Wichtigkeit der Verhältnisse, in die der Handelnde gestellt
wird, oft erst solches Ethos in ihm emporwachsen lassen, so liegt
umgekehrt in der Kraft und dem Adel, also der innerenGröße
des eine Person charakterisierenden Ethos die Eigenschaft, die Wichtigkeit
und Bedeutung der äußeren Handlung zu steigern, ihr also auch
die äußereGröße“ zu verleihen. Genau dasselbe gilt von den dem
in der Hauptsache tüchtigen und edlen Ethos anhaftenden, fehlerhaften
Beimischungen,
der Hamartie, also den einer im
Grunde edlen Natur eigenen einzelnen, an sich fehlerhaften
oder zum leidenschaftlichen Uebermaß gesteigerten Empfindungen.


Hieraus ergibt sich, daß in der heroisch=tragischen Gattung
der Nachahmungszweck nicht wie in der idyllischen die unmittelbare Erregung
des reinen Wohlgefallens sein kann: diese zeigt uns die seltene
Gunst des Geschickes, wo unter dem glücklichen Schutz vor schwerwiegenden
äußeren Verwickelungen im engen Kreise einfacher Verhältnisse tüchtigedle
Gesinnungen und Empfindungen in Handlungen sich kund thun,
die von entsprechenden günstigen Folgen und erfreulichem endlichen Ausgange
begleitet sind; jene stellt uns vor das inhaltschwerste Rätsel der
vielfach verschlungenen menschlichen Geschicke, wo der Gute, Tüchtige
und Edle, statt erhofften Glückes sich zu erfreuen, sei es durch die geraden
Laufes auf ihn einstürmende Wucht der Verhältnisse oder durch deren
ungeahnte Verwickelung und plötzlich hereinbrechende Entwickelung, dem
Verderben aller Lebenshoffnung, ja dem Untergange verfällt, sei es, doch
erst durch eine Reihe der schwersten Prüfungen zu dem ersehnten Ziele
geführt wird.

Hier ist überhaupt der Ursprung desjenigen Teiles der Sagenwelt
aller Völker zu suchen, aus denen Epos und Tragödie hervorgegangen
sind.

Nur dasjenige bleibt im Gedächtnis der Einzelnen und der Völker [272]
haften, was die Seele in ihrem Jnnersten stark bewegt. Große, erschütternde
Übergänge von Glück in Unglück und von Unglück zum
Glück erhalten sich ihrem Kerne nach im Andenken als einheitliche Vorgänge,
und das Bedürfnis zusammenhängenden Verständnisses und überzeugender
Glaubwürdigkeit fügt ihnen, unbekümmert um die Authenticität
ihres wirklichen Verlaufes, die für jenen Kern erforderlichen Umstände
der inneren und äußeren Vollständigkeit hinzu. Wo wird nun aber
diese Erregung der Seele stärker, jene dichterisch ergänzende Thätigkeit
lebhafter, fruchtbarer, das Jnteresse also tiefer, ja leidenschaftlicher sein,
als bei denjenigen solcher „großen Schicksale“, bei denen das Verderben
nicht sowohl die nach göttlichem und menschlichem Recht erfolgende,
verdiente Strafe ebenso großer Verschuldung ist, als vielmehr unverdient
oder weit über Verschulden die Hervorragendsten und Besten wie mit
Vorliebe treffendes Geschick, das eben darum nicht, wie jenes andere,
als ein das Verständnis und Gerechtigkeitsgefühl befriedigender Ausgleich
erscheint, sondern, dem menschlichen Ermessen unfaßbar, auf das
unmittelbare Eingreifen überlegener Mächte hinweist? Darum steht die
heroisch=tragische Sage, wie gleicherweise in ihrem Ursprunge auch Epos
und Tragödie, überall mit dem religiösen Gefühl in engem Zusammenhange,
so daß beide einander völlig durchdringen. Wenn inmitten der
allgemein herrschenden Ordnung und Gesetzmäßigkeit gerade auf dem den
Menschen am nächsten angehenden und am mächtigsten bewegenden Gebiet,
in dem Schicksal der eigenen Gattung, ihm ein ungeheurer, unlösbarer
Widerspruch entgegentritt, so bleibt ihm, um der Empörung
und Verzweiflung oder der stumpfen Gleichgültigkeit ebenso wie der
sklavischen Angst zu entgehen, nur der Glaube übrig an die zwar
geheimnisvoll aber dennoch nach ewigen, unverbrüchlichen Gesetzen ihres
Amtes waltende Gottheit. Die Religion verlangt diesen Glauben zur
Tröstung im Gemüt, zur Stärkung im Handeln und zur zufriedenen
Ergebung in die Schickungen der Gottheit, die dem Weisen immer zum
Besten dienen. Zur Seite steht ihr die dichtende Sage, in vollem
Einklange mit ihr, aber mit ganz anders gewendeter Richtung, unvermischt
mit ihren Zwecken, völlig getrennt von jener nach Art und Verwendung
der ihr eigenen Mittel. Die Religion wendet sich an den
frommen Glauben, die Philosophie an die vernünftige Erkenntnis, die
Sage und Dichtung an die empfindende Wahrnehmung. Diese aber
vermag weder zu glauben noch zu erkennen, sie will sehen und fühlen.
Daher erwächst der dichtenden Sage und der die Sage sich aneignenden
Dichtung die Aufgabe den Handlungskern des rätselhaften Geschickes
zur Vollständigkeit ergänzt zum Verständnis zu bringen, das ist [273]
in einer für die Anschauung wie das Gefühl befriedigenden
Weise
darzustellen. Zweierlei dem Anscheine nach entgegengesetzte, aber
der Natur der Dinge nach gerade hier unauflöslich auch in der Wirklichkeit
verknüpfte, Beschaffenheiten der Handlung mußten also der Anschauung
wie der Empfindung unmittelbar wahrnehmbar vorgeführt
werden: es mußten einmal, dem Kerne der Handlung gemäß, die Dinge
sich in einer der Erwartung gerade entgegengesetzten Weise ─ παρὰ
τὴν δόξαν1 ─ entwickeln und dennoch nicht nur der Wahrscheinlichkeit,
sondern der Notwendigkeit gemäß ─ κατὰ τὸ εἰκός und κατὰ τὸ
ἀναγκαῖον ─ so also, daß die Dinge nicht nach einander, sondern
eins durch das andre erfolgten, sich gegenseitig einander bedingend und
eins aus dem andern sich entwickelnd ─ δι'ἄλληλα ... ὥστε ἐκ τῶν
προγεγενημένων συμβαίνειν \̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η κατὰ τὸ εἰκὸς γίνεσθαι
τἀναντία· διαφέρει γὰρ πολὺ τὸ γίνεσθαι τάδε διὰ τὰδε \̓η μετὰ
τάδε ─.

So wird das Unerhörte und Widersprechende nicht nur der allgemeinen
gesetzlichen Ordnung eingereiht, sondern es wird als ein besonders
deutlich sichtbares Zeichen der Unverbrüchlichkeit dieser auf ein
höheres Walten mit Notwendigkeit zurückzuführenden Ordnung geschaut
und empfunden.

Die heroisch=tragische Sage enthielte also die Erzählung großer
Thaten der Guten und Bösen und schweren Geschickes, das die Bösen
nach Verdienst ereilt, aber nicht minder auch die Guten und die Besten
trifft und zwar so, daß sie klar zu Tage treten läßt, wie so ganz des
Menschen Glück und Geschick abhängig ist von der Ordnung, in die er
hier auf Erden gestellt ist und der sich keiner entziehen kann.

Nicht bloß die tausendfach ihn einengenden Handlungen und Schicksale
der mit ihm Lebenden bedingen sein eigenes Thun und Ergehen,
sondern schwer und unentrinnbar lasten auf ihm Thaten und Geschicke
der Vorfahren und ganzer, längst vergangener Geschlechter, deren Folgen
schwere Trübsal über ihn verhängen und durch geringen, schwer vermeidlichen
Fehl zerschmetternd auf sein Haupt fallen können. Solchem
verhängnisvollen Fehlen und Jrren sind aber gerade die Stärksten und
Besten am ehesten ausgesetzt, gleichsam auf hoher und schmaler Bahn
wandelnd, die schweren Sturz droht.

Außer diesen allgemeinen menschlichen Zügen zeigt aber die Heldensage
einer jeden Nation die ihr eigenen, besonderen inneren und äußeren
Charakterzüge: auch die Völker haben ihr eigenes Ethos; ein anderes ist [274]
es, welches sich in Achilleus und Patroklos, in Ajax und Diomedes, in
Odysseus und Telemachos abspiegelt, und ein anderes, das uns in
Siegfried und Hagen, in Rüdiger, Dietrich und seinem Waffenmeister
Hildebrand entgegentritt; ebenso zeigt sie in der äußeren Handlung,
nicht nur in Sitten, Gebräuchen und Lebensverhältnissen, sondern auch in
dem Aufbau und Verlauf der Schicksale selbst ein jeder Nation als solcher
zugehöriges, in sich zusammenstimmendes, jedesmals verschiedenes Bild.

Aus solchem Stoffe, und zwar aus dem, welcher nach beiden Seiten
das getreueste und vollständigste Bild zu gewähren geeignet ist, formt
der Sänger des heroischen Epos sein Lied. Für die Komposition gelten
die Forderungen, wie sie oben entwickelt wurden, der Einheit und Vollständigkeit,
der Würdigkeit und Größe der Handlung. Es wird demnach
in seinem Liede nicht an zahlreichen Stellen fehlen, welche unmittelbar
die Empfindung des reinen Wohlgefallens zu erregen imstande
sind, aber der Nachahmungszweck des Kunstwerkes als eines Ganzen
kann nach dem Gesagten ein solches unmittelbares Wohlgefallen unmöglich
sein. Jnhalt und Plan der heroisch=tragischen Handlung setzen als
Vorbedingung der Entstehung des dieser Gattung eigentümlichen, künstlerischen
Genusses ─ der οἰκεία ἡδονή der heroisch=tragischen Dichtung
─ die schmerzlichen Empfindungen schwersten Menschengeschickes,
unschuldigen Leidens und Sterbens. Jmmer wird es eins der glänzendsten
Zeugnisse des Tiefsinnes des griechischen Kunstphilosophen bleiben,
daß er aus der wogenden Menge der durch solchen Handlungsverlauf
aufgeregten Gefühle mit sicherem Griffe die beiden wesentlich maßgebenden,
die spezifischen Schicksalsempfindungen, die Furcht und das
Mitleid,
herausgehoben hat. Wie könnte aber das diesen Empfindungen
anhaftende Schmerzliche und Beunruhigende überwunden werden,
und wie vermöchte die Seele durch sie zu der Erhebung und kraftvoll
in sich gefaßten Ruhe der echten Freude zu gelangen, wenn nicht durch
Auswahl, Ausbau und Darstellung der Handlung ihr die Wirkungskraft
δύναμις ─ eingepflanzt ist, das Schicksal zwar in der ganzen Größe
seiner Furchtbarkeit, aber auch in der erhabenen Verehrungswürdigkeit
seines ewig gesetzlichen Waltens der unmittelbaren Anschauung und
Empfindung offen darzulegen? So fügt also Aristoteles dem großen
Gesetz, daß die heroisch=tragische Handlung in ihrem ganzen Verlauf so
eingerichtet sein müßte, daß die Schicksalsempfindungen der Furcht und
des Mitleids in Thätigkeit gesetzt werden, das abschließende Hauptgesetz
hinzu, daß, bei dem engen Verhältnis der Reciprocität derselben, der
Nachahmungszweck des Ganzen in ihrer wechselseitig durcheinander bewirkten
Herstellung zur Reinheit, in ihrer Katharsis, bestehen müßte.

[275]

Nicht also die Forderung eines moralischen Läuterungsprozesses
in dem Zuhörer
enthält diese vielberufene Katharsis,
sondern das rein technische Kompositionsgesetz: das Schicksal
in seiner reinen und wahren Gestalt der Anschauung vorzuführen,
damit die reine und der Wahrheit der Dinge
entsprechende Empfindung dadurch geweckt werden könne
und müsse.

Diese allgemeinen Bestimmungen mögen hier genügen, das Genauere
über die Empfindungen der Furcht und des Mitleids, über ihr Wechselverhältnis
und die Katharsis wird seine Stelle in dem Abschnitt finden,
der speziell von der Tragödie handelt, die wegen ihrer kunstvoll begrenzten
Form nach allen diesen Richtungen einer sehr detaillierten Gesetzgebung
bedarf. Die epische Darstellung bewegt sich in jeder Beziehung
freier: sie kann sich beliebig weit ausdehnen, sofern sie nur als Ganzes
übersichtlich bleibt, sie ist nicht an einen begrenzten Zeitraum der dargestellten
Handlung, innerhalb dessen stetiges Fortschreiten erforderlich ist,
gebunden, sondern kann beliebig zurück- und vorgreifen, sie wechselt nach
Bedürfnis den Ort und kann auch gleichzeitig Geschehendes nach Gefallen
vorführen, sie vermag die Haupthandlung durch Neben= und
Zwischenhandlungen zu unterstützen, zu erweitern und schmuckvoll zu
bereichern.

So höchst wesentlich aber alle diese Verschiedenheiten von der
Tragödie sind, so steht sie in der Hauptsache ─ was das Nachahmungsobjekt
und den Nachahmungszweck betrifft ─ doch mit ihr auf einem
und demselben Boden, nur die Art der Nachahmung, durch Erzählung
statt durch handelnde Personen, ist verschieden, und aus ihr entspringen
alle die genannten Differenzen.

Die verschiedenen Arten des heroischen Epos werden sich demnach
aus dem verschiedenen Anteil, welcher den die heroisch=tragische Gattung
konstituierenden Elementen gewährt ist, und aus der Art dieses Anteils
bestimmen lassen.

Jm Vordergrunde steht das Element des Verderblichen und
Schmerzlichen der Handlung (des φθαρτικόν und ὀδυνηρόν), welches
nicht entbehrt werden kann. Der Ausgang der Handlung ist darnach
entweder schlechthin unglücklich wie in der Jlias und den Nibelungen,
oder gemischt,1 so daß die Bösen verderben, die Guten glücklich
werden, wie in der Odyssee und der Gudrun; ein rein glücklicher
Ausgang, wie er für die Tragödie durch eine äußerst kunstreiche Fügung [276]
des Baues ermöglicht werden kann, wie z. B. in Goethes „Jphigenie,
ist für das heroische Epos bei der ihm eigenen Breite und Universalität
der Handlung, für die eine so künstlich ausgesonderte Darstellung ausnahmsweise
eintretender Verwickelungen nicht ausführbar ist, undenkbar.
Aus dieser Begründung aber ergibt sich von selbst, daß ein rein glücklicher
Ausgang
für die Kürze der epischen Erzählung einer
einzelnen Handlung
keineswegs ausgeschlossen ist. Ein Beispiel
wäre Schillers „Bürgschaft“.

Aber auch abgesehen von dem Ausgange des Ganzen der Handlung
wird der Charakter des Furchtbaren und Schmerzlichen ihr auch dadurch
aufgedrückt, daß die Darstellung des Leidens, also von Tod, Wunden,
heftigen Schmerzen, einen wesentlichen Bestandteil ihres Jnhaltes ausmacht
─ dasjenige also, was Aristoteles im Kap. 11 der Poetik als
πάθος (auch παθήματα, wie auch sonst im griechischen Sprachgebrauch
üblich) in dem engeren, spezifischen Sinne von „Erleidnis“ bezeichnet;1
πάθος δ' ἐστὶ πρᾶξις φθαρτικὴ \̓η ὀδυνηρὰ, οἷον ὅι τε ἐν τῷ
φανερῷ θάνατοι καὶ οἱ περιωδυνίαι καὶ τρώσεις καὶ ὅσα τοιαῦτα.
Es liegt auf der Hand, daß das Element solcher „schweren Erleidnisse
in der äußeren Handlung zur unumgänglich notwendigen Voraussetzung
hat, daß es durch die in der inneren Handlung wirksamen
Faktoren herbeigeführt sei; dergleichen als durch den Zufall oder durch
bloße Naturkräfte veranlaßt darzustellen, wäre gänzlich undichterisch;
wo sich die Dichter natürlicher Vorgänge zu solchem Zwecke bedienen,
bilden dieselben doch nur den Vollzug innerer, freilich den Göttern zugeschriebener
Handlungen: solcher Art ist Philoktets Erkrankung, der
Tod des lokrischen Ajax, des Odysseus Schiffbruch; in den Nibelungen
findet sich dergleichen nicht.

Wo dies Element des Pathetisch-Leidvollen den Grundcharakter
der Handlung abgibt, wird, wie schon oben bemerkt, als bestimmender
Motor der inneren Handlung das Pathos, im psychologischen
Sinne des Wortes, der Empfindungsimpuls, zur Leidenschaft gesteigert,
vorherrschen; hier wird der Verlauf der äußeren Handlung im Ganzen
und Großen ein einfacher sein können, nach dem gewöhnlichen, wahrscheinlichen
und notwendigen Gang der Dinge sich entwickeln, was nicht
ausschließt, daß im Einzelnen manches wider Erwarten geschieht und [277]
mancherlei Wunderbares sich ereignet. So ist nach des Aristoteles Urteil
die Komposition der Jlias einfach und pathetisch.

Andrerseits wird, wo in der inneren Handlung leidenschaftliche Jmpulse
als bestimmend keine oder nur eine geringe Rolle spielen, dagegen
das Ethos herrschend ist, die feste, ständige Gemütsart und Gesinnungsweise,
deswegen das pathetisch=leidvolle Element zwar keineswegs
ausgeschlossen sein, aber es wird erstlich nicht den Grundcharakter der
Handlung bilden, nicht dem Gedicht, als Ganzes genommen, seine
Färbung geben; sodann aber wird die bewegende Ursache desselben statt
in der inneren in der äußeren Handlung liegen müssen, also in Handlungen,
welche zu der eigentlichen Handlung von außen hinzutretend für
dieselbe bedingend werden, so daß also der Gang derselben statt einfach
zu sein ein verwickelter wird, mögen diese hinzutretenden Handlungen
nun vor der eigentlichen Handlung liegen, oder neben derselben hinlaufen
oder auch während derselben eingreifen, wie in der Odyssee. Die
wirksamsten Formen, in welchen sich solche Verwickelungen äußern, sind
nach des Aristoteles überzeugender Lehre die der Erkennung und die
der Peripetie, des plötzlichen, unglücklichen Umschlages der Handlung
in das Gegenteil des von dem Handelnden Gewollten und Erwarteten.1
Deshalb wird die Komposition der Odyssee von Aristoteles mit Recht
als verwickelt und ethisch bezeichnet.2

Jmmer aber liegt die eigentliche Wirkungskraft des Epos in
dem Gegenstande seiner Nachahmung und dem mit demselben verbundenen
Nachahmungszweck, in der Handlung, welche die reinen Schicksalsempfindungen
zur Geltung zu bringen geeignet ist.
Jn
einer solchen ist Ethos immer enthalten, auch wenn dasselbe nicht durch
eine besonders diesem Zweck gewidmete Darstellungsweise zum Ausdruck
gebracht wird, was, nach dem Obigen, ja doch nur unter gewissen Umständen
aus der Komposition der Handlung als Forderung hervorgeht;
so heißt es im Beginn des 15. Kapitels bei Aristoteles: ἕξει δὲ ἦθος
(sc.: ὁ μῦθος) ἐὰν ... ποιῇ φανερὸν λόγος \̓η ἡ πρᾶξις
προαίρεσίν τινα, χρηστὸν δὲ ἐὰν χρηστήν: „Die Fabel der
Dichtung wird Ethos enthalten, wenn ... die Darstellung oder die (vorgestellte)
Handlung eine Willensentscheidung kundmacht, und zwar ein
gutes Ethos, wenn die Willensentscheidung eine gute ist.“ Eher aber
kann der Mangel in der Nachahmung des Ethos ertragen werden als [278]
der Mangel einer zweckentsprechend eingerichteten Handlung; durch diesen
wird der Nachahmungszweck verfehlt, durch jenen im schlimmsten Fall
doch nur beeinträchtigt. Es ist auch weit schwieriger die Handlung zu
komponieren als die Charaktere der Handelnden durchzuführen. Was
Aristoteles hierüber im sechsten Kapitel der Poetik die Tragödie betreffend
lehrt, gilt ganz ebenso für das Epos: ἀρχὴ μὲν οὖν καὶ οἷον ψυχὴ
ὁ μῦθος τῆς τραγῳδίας, δεύτερον δὲ τὰ ἤθη. ἔστι δὲ μίμησις
πράξεως, καὶ διὰ ταύτην μάλιστα τῶν πραττόντων. τρίτον δἐ ἡ
διάνοια. Zu deutsch: „Grundlage und gleichsam Seele der Tragödie
(wie des Epos) ist die Fabel, erst in zweiter Linie steht die Charakterdarstellung;
denn sie ist Nachahmung von Handlung, und vorzüglich um
der Handlung willen Nachahmung der handelnden Personen. Erst an
dritter Stelle kommt der Ausdruck der Reflexion.“ Dieses Dritte, die
Dianoia, ist als „Ausdruck der Reflexion“ wiedergegeben in Übereinstimmung
mit der von Aristoteles hinzugefügten Erklärung: τοῦτο
δ'ἐστὶ τὸ λέγειν δύνασθαι τὰ ἐνόντα καὶ τὰ ἀρμόττοντα: „sie besteht
in dem Vermögen dem Sachverhalt und der zugehörigen Begründung
den angemessenen Ausdruck zu geben.“

Unter den Fehlern in der Komposition der Handlung steht der
Mangel der Einheit obenan. Nicht in der Einheit des Helden besteht
dieselbe, denn, wie Aristoteles diesen Satz im achten Kapitel ausführt,
unter den tausendfachen und der Gattung nach unendlich verschiedenen
Ereignissen, die dem Raum und der Zeit nach zusammenhängend eintreten,
bildet eine beliebig herausgegriffene Gruppe noch lange keine
Einheit. Und so gehen auch von dem Einzelnen zahlreiche Handlungen
aus, die darum noch durchaus nicht eine einheitliche Handlung bilden.1
Der Begriff der Einheit hängt mit dem des „Ganzen“ und der
Vollständigkeit“ auf das Engste zusammen.

Ein Ganzes ist da vorhanden, wo Anfang, Mitte und Ende vorhanden
ist. Anfang ist dasjenige, was selbst nicht mit Notwendigkeit
als auf etwas Anderes folgend zu denken ist, also ohne Voraussetzungen
aufgenommen werden kann, was aber seiner inneren Natur nach so geartet
ist, daß Neues darauf folgen oder sich daraus entwickeln muß.
Ende ist das Gegenteil davon, was seiner inneren Natur nach so geartet
ist, daß es auf ein Anderes folgt, entweder nach dem Gesetz der
Notwendigkeit oder dem der Gewohnheitsregel, daß es aber selbst nichts [279]
Anderes weiter im Gefolge hat; Mitte dasjenige, was sowohl selbst
notwendig auf etwas Anderes folgt als auch etwas Neues im Gefolge
hat. Nach diesen Regeln ist also bei einer richtig komponierten Fabel
Anfang und Ende keineswegs in das willkürliche Belieben gestellt, sondern
mit Notwendigkeit gegeben.1

Der Begriff der Vollständigkeit verlangt, daß sowohl Anfang
als Mitte und Ende nach allen Richtungen alles der einen Handlung
notwendig Zugehörige enthalten; der Begriff der Einheit erfordert,
daß nichts in der Darstellung der Handlung vorkomme, dessen Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein für den Verlauf derselben gleichgültig
sei, was also fortbleiben würde, ohne die Handlung zu alterieren:
nur dasjenige bildet einen Bestandteil der einheitlichen Handlung, durch
dessen Fortlassung oder auch nur Umstellung das Ganze eine Veränderung
und Erschütterung erleidet.2

Die Forderungen der Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit stehen
für jede epische Dichtung in der ersten Linie, mag dieselbe nun auf den
denkbar größten oder den geringsten Umfang angelegt sein. Dennoch
ist es eine der seltensten Erscheinungen, sie nach ihrer ganzen Strenge,
von der doch die künstlerische Wirkung des Gedichtes abhängt, erfüllt
zu sehen. Jn nichts unterscheidet sich das Kunstepos so sehr von dem
nationalen, dem sogenannten Volksepos, als in diesem Punkte;
beide sind ja der Gattung nach keineswegs verschieden, sie stehen unter
ganz denselben Gesetzen, sondern nur hinsichtlich ihres Ursprunges, und
selbst dieser Unterschied ist, sofern die Kunstdichtung gleichfalls aus dem
Quell der nationalen Sage schöpft, doch ein hauptsächlich quantitativer:
für die Dichter der großen nationalen Epen sprudelte dieser Quell reiner,
voller und lebendiger, sie durften ihn nicht aufsuchen oder den verschütteten
erst mühsam aufgraben; dagegen sind in den sogenannten Kunstepen
die fremden oder doch subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Zu= [280]
thaten bei Weitem häufiger und beträchtlicher. Sowie aber das Grundgesetz
der dichterischen Nachahmung von Handlungen, die Einheit des
Gegenstandes, angetastet wird, so leidet darunter naturgemäß auch der
Nachahmungszweck: die reine Anschauung und Empfindung des Schicksalswaltens
kann da nicht hervorgebracht werden, wo der unabänderlich
feste und streng notwendige innere und äußere Zusammenhang der dargestellten
Dinge nicht vorhanden ist. Je stärker daher der Fehler gegen
das Gesetz der Einheit ist, je mehr dieselbe bloß in die Person statt in
die Handlung verlegt ist, desto mehr muß der Nachahmungszweck ein
äußerlicher werden, desto mehr sich das Jnteresse an den bloßen historischen
Verlauf oder das thatsächliche Ergebnis des Erzählungs=„Stoffes“ heften,
endlich, wo die Einheit so weit aufgehoben ist, daß auch dieses Jnteresse
sich abschwächt, wird nur der Reiz des bunten Wechsels der dargestellten
Veränderungen, der fesselnden Gestalt des augenblicklich den Sinn beschäftigenden
Geschehnisses übrig bleiben. ──────


XVII.

Alle Forderungen, die an die Komposition des Epos zu stellen sind,
werden am vollständigsten durch die homerischen Epen erfüllt. Aber
schon Virgils „Aeneis“ zeigt den Beginn des Sinkens der epischen
Kunst. So kunstvoll vielfach die Erzählung ist, so sorgfältig die Charakterdarstellung,
der Ausdruck der Leidenschaften und Reflexionen, so vermögen
alle diese Vorgänge den Mangel der Einheit nicht aufzuwiegen:
die Verbindung zwischen dem ersten Teile, Aeneas Aufenthalt zu Carthago
und dem Selbstmord der verlasseneu Dido, und dem zweiten, dem Kampf
um Lavinia und Latium, ist eine ganz äußerlich erkünstelte; weder hat
der tragische Abschluß des ersten Teiles im vierten Buche die Kraft
eines Verhängnisses für den Helden, welches für den weiteren Verlauf
der Handlung entscheidend ist, etwa in der Art, wie Siegfrieds Verhältnis
zu Brunhild die gesamte Entwickelung der Handlung in beiden
Teilen des Nibelungenliedes bestimmt, noch werden die einzelnen Teile
des Ganzen durch das Ethos des Helden zusammengehalten, wie in der
Odyssee, wo die ganze Reihe der Abenteuer entweder geradezu durch des
Helden charakteristische Sinnesart hervorgerufen oder in ihrem Ausgang,
ihrer Folge und Verkettung wesentlich durch diese das Ganze beherrschende
Kraft seines Ethos gestaltet wird. Wenn bei Virgils Helden ein solches
Ethos vorhanden ist, so müßte es das negative der Abwesenheit aller [281]
Stärke der Leidenschaft, aller festen Beständigkeit der Gemütsart und
Gesinnung und damit jedes entschiedenen Willens sein, womit er allerdings
am besten geeignet wurde, durch den Verlauf seiner Erlebnisse
den Faden zu liefern, an welchem der Dichter in erwünschter Weise
seine rhetorischen Glanzleistungen und fein berechneten politisch=tendenziösen
Effekte aufzureihen vermochte. Wie konnte damit der hohe Nachahmungszweck
des echten Epos bestehen? Das Beste fehlt dem gepriesenen
römischen Epos, Mark und Rückgrat und die lebendige Seele, statt des
Wesens herrscht der Schein, das Jnteresse ermattet.

Weiter noch entfernt sich das romantische Epos von den strengen
Forderungen der Kunst. Das allgemeine, und zwar das bei Weitem
am meisten den Charakter derselben bestimmende Kennzeichen der gesamten
romantischen Epik ist, daß in ihr durchweg das ethische Moment
überwiegt, aber nicht allein als innerlich wirkendes Moment, Art, Gang
und Komposition der Handlung durchdringend und beherrschend, sondern
als außerhalb stehender Faktor allenthalben die Fabel geradezu
selbst erschaffend.
Das Eigenartige ist, daß dieses Ethos also nicht
ein den einzelnen Gedichten besonders angehöriges ist, sondern daß es
in allen als ein und dasselbe erscheint. Das romantische Ethos
der aus dem christlichen Feudalstaat des Mittelalters sich im Verlauf
des elften und zwölften Jahrhunderts entwickelnden ritterlichen Gesellschaft
des Abendlandes hat ─ in seiner Verbindung germanischer und
keltischer Sinnesart mit den Elementen normännisch=fränkischer, romanischer
und arabisch=orientalischer Kultur, von Tapferkeit mit Abenteuerlichkeit,
von Gottes- und Herrentreue mit phantastischer Mystik und Courtoisie,
von Frauenminne mit Galanterie ─ aus sich heraus, als eine einzige
fortlaufende und gleichartige Aeußerung seines Wesens, die romantische
Sage und Dichtung erzeugt. Wie hell springt der das ganze Wesen
betreffende Unterschied in die Augen, wenn man daneben unser deutschnationales
Epos stellt! Hier ist „germanischer Mythos,“ lebendiger
Leib der Sage, innerlich bewegte Handlung, unmittelbare und reine
Anschauung gewaltigen Schicksals; der kunstlose Sänger ließ mit offenem
Sinne sich von dem mächtigen Zuge leiten, der, dem inneren Sinn der
Sage innewohnend, ihre aus weitem Gebiet gesammelten Erinnerungen
zu einem Mythos, einer einheitlichen Fabel zusammenfügte, und
er hat damit den höchsten und strengsten Anforderungen der Theorie
entsprochen: wirklich kann hier kein Teil der Handlung entfernt oder
an eine andere Stelle gesetzt gedacht werden, ohne daß der Bau des
Ganzen erschüttert würde.

Dagegen ist der Stoff der romantischen Epik von der Natur jener [282]
vielgliedrigen, aber auf niederer Entwickelungsstufe stehenden Organismen,
welche beliebig geteilt werden können, ohne daß damit ihre Lebensfähigkeit
zerstört wird. Die Mehrzahl der Dichter, die aus demselben schöpften,
begnügten sich, ihn lediglich nach der Einheit der Person zu begrenzen,
ohne ihn im Übrigen organisch zu gestalten; von dieser Art sind die
französischen „Romans,“ die so oft unsern mittelhochdeutschen Dichtern
als Quellen gedient haben. Eine höhere Stufe nahmen diejenigen Erzähler
ein, welche eine Gruppe dieser beliebig aneinander gereihten
Einzelhandlungen dadurch zu einer Art von Einheit zu gestalten suchten,
daß sie dieselben äußerlich mit einem Rahmen umgaben. So weiß
Hartmann von Aue den Schein stofflicher Einheit zu erwecken, wenn
er im „Erec“ das Jnteresse auf die endliche Lösung der Enite von der
Strafe für den Zweifel an ihrem Ritter gespannt hält, und wenn er
im „Jwein“ ebenso die Verstoßung des Ritters durch die Königin
Laudine und die schließliche Versöhnung der beiden verwendet: was in
beiden Fällen triumphiert, ist doch wieder nur die Berechtigung des
ritterlich=romantischen Ethos als solchen. Es fehlt daher sehr viel daran,
daß die Natur des Stoffes überwunden wäre, der Abenteuer auf
Abenteuer häuft, nur um der Freude am Geschehen willen und ohne
Stetigkeit des Fortschreitens der inneren Entwickelung, so daß sowohl
Fortlassungen als Veränderungen in großer Ausdehnung vorgenommen
werden könnten, ohne die äußere Einheit des stofflichen Jnteresses zu
alterieren.

Um ein Großes stehen Wolfram von Eschenbach und Gottfried
von Straßburg
voran, weil sie die Einheit ihrer Dichtung
in die innere Struktur verlegten; beiden standen schwer zu überwindende
Hindernisse entgegen, die dem letzteren nach der Natur seines Stoffes
und der glücklichen Leichtigkeit seines Talentes zu einem Teile wenigstens
in weit höherem Grade zu bewältigen gelang als dem andern, der
freilich sich ein weit höheres Ziel gesteckt hatte. Beide treten sie dem
ritterlich=romantischen Ethos, welches bei Beiden reichlich zur
Darstellung gelangt, kritisch gegenüber, indem sie es zu den allgemeinen,
das menschliche Leben beherrschenden seelischen
Mächten in Verhältnis setzen:
dabei ergibt sich in beiden Fällen
ein Schicksalsverlauf, dieser Schicksalsverlauf bildet für beide die
Einheit der epischen Handlung, nach der sie trachteten. Bei Gottfried
ist es die Urgewalt der Liebesleidenschaft, die wie eine Naturkraft der
Konvenienz der ritterlichen Gesellschaft gegenübergestellt ist, sie durchbricht
und vernichtet und in solchem Widerstreit unaufhaltsam zu tragischem
Ausgang hindrängt: tragisch ist der Verlauf, weil ungeachtet [283]
dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der
Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht
ist, sie nichtsdestoweniger durch die Kraft ihrer Wahrheit, durch ihre
Tiefe und ihren echten inneren Reichtum, gegenüber dem diese Gesellschaft
beherrschenden fiktiven Scheinbilde der Empfindung, einen unzerstörbaren
und von jedem gefühlten Rechtsanspruch behauptet, und daß
sie dennoch nach dem unerbittlichen Gesetz, von dessen ewiger und unverletzlicher
Geltung der Bestand aller menschlichen Lebensgestaltung abhängt,
zum Verderben führt. Hier zuerst ist das Naturrecht wahrer
Empfindungskraft zwar nicht als solches proklamiert, aber dieses Naturrecht
ist in Handlung vor Augen geführt und in Widerstreit gesetzt mit
der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie alle stärksten und segensreichsten
Kräfte erweist sich auch diese, von der rechten Stelle und aus der ihr
bestimmten Bahn gebracht, als verhängnisvoll und zerstörend. Anlage
und Neigung führten den Dichter von „Tristan und Jsolde“ aber dazu,
daß er bei weitem größeren Nachdruck auf die Darstellung der Kraft,
Tiefe und Wahrheit der Empfindung legt, die er durchweg mit den
schönsten und lebhaftesten Farben zu malen weiß, als auf die Vorbereitung
und Durchführung des tragischen Elementes der Handlung, auf
dem zuletzt die Einheit, Kraft und Würde der Dichtung beruht;
vielleicht hat das in diesem wesentlichen Punkte vorhandene Unvermögen
des Dichters es am meisten verschuldet, daß sein Epos unvollendet blieb.
Desto stärker und deutlicher war er sich seiner Kraft bewußt; er legt
davon auf dem Höhepunkte der Dichtung, im siebzehnten Abschnitt, wo
das Liebesgeständnis zwischen Tristan und Jsolde erfolgt ist, ein ausdrückliches
Zeugnis ab;1 ja man möchte aus dem Verlaufe dieser Stelle, [284]
sowie auch aus dem Eingange des ganzen Gedichtes schließen, daß es
ihm vor allem darauf ankam, durch seine Erzählung dem erschlafften
Zeitalter gleichsam wie in einem Zauberspiegel ein Bild vorzuhalten, an
dem es erkennen könnte, was echte Liebe und überhaupt echte Empfindung 1 [285]
sei, und wie weit, was ihm dafür gelte, davon entfernt sei. Nach dieser
Richtung gelingt ihm alles so wohl ─ nicht allein in der Haupthandlung,
sondern auch in den Nebenhandlungen (man denke an Riwalin
und Blanscheflur, an Rual li Foitenant und sein ganzes Haus) ─, er 1 [286]
befindet sich hier so ganz in seinem Element, daß er den Ernst des
unerbittlichen Schicksals aus den Augen verliert und mit allen seinen
Reizen und großen Vorzügen unter der Höhe des Epos bleibt, dessen
Würde und Größe unzertrennlich von seiner strengen Einheit sind: diese 1 [287]
strenge Einheit kann durch nichts anderes gegeben werden, als durch
die Vorführung eines Schicksalsvollzuges, der geeignet ist, die reinen
Schicksalsempfindungen zu erzeugen. Es ist nicht so sehr der fehlende
Abschluß,
der diesen Mangel fühlbar macht, als vielmehr die Abwesenheit
des tragischen Bewußtseins bei dem Dichter, das schon
bei der Anlage der Handlung vorausdeutend sich kundgeben und ihren
Fortgang überall erfüllen müßte. Dieses höchste Einheitsgefühl, wie
es z. B. in dem Nibelungenliede mit lebendigster Kraft wirksam ist und
wie es aus dem immerfort gegenwärtigen Bewußtsein des Schicksalsverlaufs
ganz ohne Theorie einfach und mit Notwendigkeit entspringt, vermag
auch allein das überflüssige und darum schädliche Episodenbeiwerk
des Rohstoffes auszuscheiden und die entstellenden Züge, die störenden
Elemente desselben hinwegzuläutern. Ein merkwürdiges Zeugnis, wie
unkritisch und des Wesentlichsten ahnungslos Meister Gottfried und sein
Publikum noch dem Stoff gegenüberstanden, ist die Unbefangenheit, mit
der er im achtzehnten Abschnitte den entsetzlichen Mordanschlag Jsoldens
gegen ihre getreue Brangäne berichtet, die ihr eben das höchste Opfer
gebracht hat, ein Mordanschlag, dem von seiten der Anstifterin nichts
zur That fehlt; und diese Unthat ist nicht allein in der Ökonomie der
Handlung ohne alle Bedeutung, sie kann ohne weiteres einfach gestrichen
werden, sondern, was viel schlimmer ist, sie bleibt auch sittlich und
psychologisch ohne alle Konsequenzen, sie vermag weder dem Dichter das
glänzende Bild seiner Heldin zu trüben, noch hat sie irgend einen Einfluß
auf ihr Schicksal, was selbst in dem primitivsten Märchen unerhört
sein würde. Die einzige Reflexion, zu der sich der Dichter bei
dieser Affaire im Vorübergehen herbeiläßt, ist die folgende (s. v. 12713 ff.):


diu sorchafte Künigîn

diu tete an disen dingen schîn,

daz man laster unde spot

mêre fürhtet danne got.

Umgekehrt liegt das Verhältnis in WolframsParzival“: vor
Allem ist dem Dichter die Durchführung des Schicksalsverlaufs angelegen, 1 [288]
dem, wenn auch äußerlich dem Gedichte die strenge Einheit zu fehlen
scheint, doch im Grunde ein jeder Teil der weitverzweigten Handlung
untergeordnet ist; dagegen ist Wolfram der, in seinem Falle allerdings
weit schwierigeren Aufgabe, die jenen Schicksalsverlauf bedingende psychologische
Entwickelung in Handlung darzustellen, bei weitem nicht in dem
Grade gerecht geworden, wie sein rivalisierender Zeitgenosse Gottfried.
Während dieser es mit der bloßen Andeutung des überlieferten Symboles
sein Bewenden haben läßt und dafür der sachlichen und ethischen
Entfaltung der Handlung in vollster Breite ihr Recht geschehen läßt,
begnügt sich Wolfram an allen wichtigen Wendepunkten der inneren
Handlung fast allein mit der allerdings höchst umständlichen Vorführung
der symbolischen oder auch allegorischen Handlung, der er umgekehrt die
direkte Darstellung psychologisch=ethischer Zustände nur andeutend hinzufügt.
Aber so entscheidend ist jener erste, fundamentale Vorzug, die
Bewahrung der einheitlichen Gesamtanlage, daß ihm nichtsdestoweniger
und trotz der glänzenden Meisterschaft Gottfrieds mit Recht vor diesem
der Preis zugesprochen wird.

Der Parzival ist ein ethisches Epos, das heißt also seine Handlung
ist in ihrem Verlauf nicht so sehr durch die von außen herzutretenden
Geschicke als vielmehr durch die von innen heraus wirkenden
Seelenzustände des Helden bedingt; die Handlung ist ferner eine verwickelte,
und zwar durch Peripetie und Erkennung, welche sich in
diesem Falle auf die Sache bezieht. Der Held geht gerade durch die
Art, wie er sein Ziel zu erreichen strebt, desselben nicht allein verlustig,
sondern er erreicht damit das Gegenteil desselben, welches für ihn mit
einem völligen Glückswechsel verbunden ist; durch die Erkennung des
Zieles sowohl als des wahren Verhältnisses zwischen dessen Beschaffenheit
und seinem Streben wird er dann in den Stand gesetzt, es zu erringen
und damit einen abermaligen, diesesmal günstigen Glückswechsel zu bewirken.
Auch Gottfrieds Epos ─ um zur Vergleichung auch über
dieses ein abschließend formuliertes Urteil hinzuzufügen ─ ist ethisch,
aber seine Handlung ist einfach, sie führt in gerader Linie zu ihrem
Ziel: dieses Ziel mußte schweres Leiden der Betheiligten sein, die epische
Handlung müßte damit den Charakter des Pathetischen ─ des „Leidvollen
in dem oben definierten aristotelischen Sinne ─ erhalten;
aber dieser Grundcharakter der Handlung dürfte sich keineswegs allein
im Ausgange offenbaren, sondern müßte dem gesamten Epos seine
Färbung geben. Daß diese Färbung der Dichtung Gottfrieds fehlt,
zerstört ihren einheitlichen Grundcharakter ─ und würde ihn ebenso
zerstören, wenn auch der Dichter das unglückliche Ende des Helden und [289]
der Heldin noch hinzugefügt hätte ─, und damit ist ihr ein großer
Teil ihres Wertes geraubt. Durch jenen Mangel geschieht es, daß das
Gedicht ohne feste Haltung zwischen dem Wesen der komischen Erzählung,
wo das Frivole ein absichtsvoll verwandtes Darstellungsmittel ist, und
dem des ernsten Epos schwankt, wo es als Frevel erscheint und tragische
Sühnung erfordert: es genügt an das heillose Spiel mit dem Gottesurteil
zu erinnern, das nur als anekdotenartiger Schwank unter Entfernung
aller realen Beziehungen zu ertragen wäre, ferner an den abgefeimten
Betrug mit dem Schwerte in der Minnegrotte und an die
ganze Reihe der eines Bocaccio würdigen Täuschungen des guten, aber
gleichfalls auf der Grenze der komischen Darstellung stehenden Marke.

Dagegen verdankt der Parzival, ungeachtet der freien, nicht selten
an den Humor streifenden Bewegung der Erzählung, der festen Fügung
des Grundplanes die Einheitlichkeit des Tones und die kraftvolle Haltung
des Ganzen und damit seine Bedeutung und die Größe seiner
Wirkung. Die Handlung besteht in der Gewinnung des Gralkönigtums
durch den Helden:
zu den wesentlichsten Erfordernissen
ihrer Darstellung gehört somit, daß sie einerseits die Bedeutung
dieses Gralkönigtums
vorführe, andrerseits die Beschaffenheit
des Helden
dieser Bedeutung gegenüber. Nach diesem einheitlichen
Gesichtspunkte und diesen Erfordernissen ist der Dichter, mag er nun
ganz selbständig gehandelt haben oder ihm von seiner Quelle schon
wesentlich vorgearbeitet sein, bei der Auswahl, Gestaltung und Disponierung
des stofflichen Materials durchweg verfahren, freilich mit unentwickelter
Technik, oft mit unzulänglichen Mitteln. Das Wesentlichste
ist ihm zunächst die Darstellung der ethischen Beschaffenheit seines
Helden: seine Kunst gewährt ihm dazu kein anderes Mittel, als das
naive Verfahren ab ovo zu beginnen und den Hörer mit der Beschaffenheit
und Geschichte der Eltern bekannt zu machen, um ihn über Anlage,
empfangene Grundrichtung und Jugendgeschichte, kurz über die
Gesamtheit dessen, was nach allen Richtungen auf sein Wesen und
Schicksal bestimmend einwirkte, zu unterrichten. Aber selbst in dieser
schwerfälligen und scheinbar nur chronologisch geordneten Vorgeschichte
zeigen sich die Spuren der großartigen Weite und festen Bestimmtheit,
in welcher der Gesamtplan entworfen ist, insofern die wesentlichsten
Züge derselben auf die dem Gralkönigtum beigelegte Bedeutung hinweisen.
Das Gralkönigtum ist das Symbol der Vorstellungsweise, mit welcher
Wolfram von Eschenbach seinerseits sich der herkömmlichen Auffassung
des romantischen Rittertums, wie es auch noch bei Hartmann erscheint,
kritisch gegenüberstellt und sich hoch über dieselbe erhebt. Auf dem kirch= [290]
lichen Boden steht auch jene; Tapferkeit und Treue, Edelmut und reine
Sitte werden auch dort als die höchsten Tugenden erkannt und in
Handlungen bewährt: alles dieses, das spezifisch ritterlich=romantische
Ethos in seinem reinsten Glanze, hat ebenso Wolfram seinem Gawain
verliehen und in einem weit ausgedehnten Teil seiner Dichtung zu
breitester Darstellung gelangen lassen. Aber diese Darstellung dient ihm
nur als Folie für seinen Helden, oder als stolzer Unterbau für die
noch herrlichere Erscheinung des Bildes, das ihn krönen soll. Für
diese höchste Vorstellung fehlen ihm nun jedoch die realen Darstellungsmittel
und er greift zu dem Symbol, das der ahnende Geist der Sage
ihm bietet. Faßt man, ohne sich in die problematische Deutung des
Einzelnen einzulassen, nur die großen, spezifisch unterscheidenden Züge
ins Auge, so ergibt sich das Folgende: an die Stelle der bloßen Kirchlichkeit
tritt eine den ganzen Menschen durchdringende, ethische Vertiefung
des religiösen Bewußtseins
─ wodurch der Parzival
allerdings eine innere Verwandtschaft mit dem Hauptmoment aller
religiösen Erneuerung, also auch der Reformation, erhält. Dadurch bedingt
tritt zu jenem Jnbegriff der ritterlichen Tugend eine neue Forderung
hinzu: die Aufgebung der eigenen Persönlichkeit zu
Gunsten der Allgemeinheit,
die Hingabe an die Heilung des
menschlichen Leidens nicht zum eigenen Ruhme, sondern um jenes Leidens
selbst willen; ─ in der Frage an Amfortas, an der alles hängt
und die, da sie gethan wird, durch ein Wunder die Heilung bewirkt,
liegt höchst treffend ausgedrückt, daß diese gesammelte, höchste Kraft,
sobald sie das Ziel ihrer Bethätigung richtig erkennt und ergreift, des
Erfolges gewiß ist. Durch die Verbindung der höchsten Kraft mit dem
regsten, tiefinnerlichen, religiösen Bewußtsein tritt an die Stelle der
aristokratisch=exklusiven Organisation der ritterlichen Gesellschaft,
die in allem Glanz ihrer Thaten doch immer nur sich selbst
Zweck ist, ein Königtum, welches die Quelle des inneren Heiles und
der äußeren Wohlfahrt für alle Länder, für die ganze Welt ist,
gleichsam ein ideales Kaisertum der ganzen Menschheit, dessen Hoheit
alles sich beugt, von dem die Erhaltung allen Rechtes und Gedeihens
abhängt und das überall, wo demselben Gefahr droht, ordnend eingreift,
ohne einer andern Autorität zu bedürfen als der Kraft seiner Sendung
─ dies letztere die Bedeutung des Verbotes der Frage an die ausgesandten
Gralsritter. Und noch ein höchst merkwürdiger Zug: dieses
ethisch=praktische Jdeal, dem das Rittertum zwar nachtrachtet, das aber
für dasselbe unerreichbar ist, steht der spezifisch ritterlichen Gewöhnung
so gegenüber, daß derjenige, der für dasselbe geboren ist, völlig außer= [291]
halb der ritterlichen Traditionen erzogen werden muß, um es zu erlangen;
ja noch mehr: obwohl die Taufe unbedingt notwendig ist, um
des Grals überhaupt auch nur ansichtig zu werden, so ist doch die
ethische Gesinnungsweise und gewissermaßen die damit verbundene persönliche
Prädestination so sehr das Haupterfordernis für die Gemeinschaft
des Grals, daß die ethnische Kultur, weit entfernt ihre Träger
von derselben auszuschließen, unter Umständen sie vorzugsweise dafür
geeignet erscheinen läßt; ─ zu dem einzigen Begleiter, der ihm auf seinem
Zuge nach dem Gralstempel zur Gewinnung des Königstums gestattet
wird, erwählt Parzival seinen Halbbruder, den Heiden Feirefiß, nach
seiner Taufe verlangt dieser die Pflegerin des Grals zur Gemahlin,
und die Frucht dieses Bündnisses ist der Priester Johannes, der das
Christentum bis in die fernsten Länder des Ostens ausbreitet. Auf
dieses Faktum, das an den Schluß des Ganzen gestellt ist, weist schon
die Vorgeschichte hin:
Gahmurets Orientfahrten, seine Verbindung
mit der Heidenkönigin Belakane haben diese Bedeutung für den Gesamtplan.
Seine zweite Vermählung mit der aus dem Blute der Gralkönige
entsprossenen Herzeloide, zu welcher er halb gegen seinen Willen wie
durch höhere Fügung geführt wird, fördert den Dichter dann zu dem
Hauptgegenstande seines Planes: in dem aus dieser Ehe geborenen
Sohn diejenigen Anlagen und denjenigen Entwickelungsgang vorzuführen,
die allein die Gewinnung des Grals ermöglichen, eine That, die zugleich
die Erlösung von schweren, auf der Gesamtheit lastenden Leiden bedeutet.

Daß Wolfram sich zu dieser Schilderung weit überwiegend symbolischer
und sogar allegorischer Mittel bedient, ist die große Schwäche
seiner Dichtung, die ihm Gottfrieds harten Tadel zuzog, denselben, der
auch heute noch für viele, wenn nicht für die Mehrzahl, Geltung hat,
daß er zu denen gehöre:


die bernt uns mit dem stocke schate,

niht mit dem grüenen meienblate,

mit zwîgen noch mit esten.

ir schate der tuot den gesten

vil selten in den ougen wol.

............

die selben wildenaere

si müezen tíutáere

mit îr maeren lâzen gân:

wir enmúgen ir dâ nâch niht verstân,

als man si hoeret unde siht

sone hâ'n wir ouch der muoze niht

daz wir die glôse suochen

in den swarzen buochen.

Die möchten schatten mit der Stange,

Nicht mit dem grünen Laubbehange,

Mit Zweigen noch mit Ästen:

Jhr Schatte thut den Gästen

Gar selten in den Augen wohl.

............

So wilder Märe Jäger

Müssen Ausleger

Mit ihren Mären lassen gehn:

Wir können so sie nicht verstehn,

Wie man sie reden hört und liest.

Den Klugen auch die Zeit verdrießt,

Daß er im schwarzen Buche

Nach der Glosse suche.
[292]

Aber wenn er die Vollendung der Form nicht erreichte, so war
seine Aufgabe inhaltlich die höchste und schwierigste, welche gestellt werden
kann, für die epische Poesie anders als durch symbolische Darstellung
unlösbar. Der Übelstand lag also in erster Linie in der Wahl des
Stoffes und erst in zweiter in der Darstellungsweise des Dichters, Fehler
und Vorzüge lagen auf derselben Seite. Wie überraschend ist das Talent
frischer, gegenständlicher Erzählung und reicher Charakteristik ─ weit
mannigfaltiger und lebensvoller als sie Hartmann je erreicht hat ─,
das Wolfram in den Gawain betreffenden Partien seines Epos zu entfalten
weiß, dieser scheinbar lose eingefügten großen Episode, welche
dennoch gewissermaßen negativ zur Deutlichkeit der Haupthandlung sehr
wesentlich beiträgt, da sie den ganzen Umfang dessen vor Augen führt,
was an Reiz und Lohn, an Ruhm und Wichtigkeit so lockend und hoch
hervorragend auf Parzivals Wege war, und was alles er um seines höheren
Zieles willen unbeachtet hinter sich liegen ließ. Trotz der unleugbaren
und oft verstimmenden Unbeholfenheit, Dunkelheit und Härte von
Wolframs Darstellung jedoch ist ihm eins gelungen, und dieses eine
ist zuletzt das Wesentlichste: die an den entscheidenden Wendepunkten
der Handlung seinen Helden beherrschenden ethischen
Zustände
hat er trotz alledem so nachzuahmen verstanden, daß überall
eine deutliche Empfindung derselben in den Hörer übergeht. Daß es
diese wichtigste poetische Kraft und daß es die echte epische Einheit besitzt,
bewirkt den Reiz, den das Gedicht ausübt, und sichert ihm seinen
hohen Rang.

Hoch über diesem weitaus hervorragendsten Epos der romantischen
Kunstdichtung aber stehen die deutschen Volksepen, das Nibelungenlied
und die Gudrun. Es kann hier nicht daran gedacht werden in den
großen Streit um die Nibelungenfrage nach seinem ganzen Umfange
einzutreten, wo auf der einen Seite die Autoritäten eines Lachmann
und Müllenhoff, auf der andern die der Gebrüder Grimm und Uhlands
stehen. Nur der Gesichtspunkt der epischen Einheit soll nach dem inhaltlichen
Material, wie der sogenannte gemeine Text es bietet, ins Auge
gefaßt werden.

Es ist die Mär von der „Nibelungen Not“, das Lied von
Chriemhildens Rache, oder wie die Handschrift D. schreibt „daz
Buoch Chreimhilden
“, welches aus einem weit umfassenden, noch
in lebendiger Überlieferung fortbestehenden Sagenkreise der ordnende
Dichter uns überliefert hat. Man wird mit Sicherheit anzunehmen
haben, daß diese Überlieferung eine poetische war, daß sie also in einer
großen Zahl von Liedern erfolgte, ebenso daß diese Lieder als im großen [293]
und ganzen einer Kontinuität zugehörig sich darstellten; mit derselben
Sicherheit aber wird man anzunehmen haben, daß bei den tief eingreifenden
Wandlungen der Sage, welche unmöglich immerfort gleichzeitig sich
über den gesamten vorhandenen Bestand der Lieder erstrecken konnten,
während sie doch durch eine Reihe von Jahrhunderten sich hinziehen, in
diesen Liedern sich die stärksten Divergenzen herausgebildet haben, bis zur
völligen Verwischung einer großen Zahl von Motiven. Vor allem aber
wird festzuhalten sein, daß, wie groß oder wie klein man sich die Anzahl
der vorhandenen und fortgesungenen Lieder denken mag, ein jedes
derselben einzig und allein darin seine Entstehung gehabt, wie auch seine
Fortexistenz haben konnte, daß es ganz ohne alle Rücksicht auf
Vorhergehendes oder Folgendes für sich selbst ein Ganzes
bildete, in sich
also seinen Bestand besaß. Diesen Bestand als Ganzes
empfängt das Lied durch seinen Liedeszweck, durch das τέλος μιμήσεως,
durch die das Nachahmungsmaterial in Bewegung setzende Absicht des
Sängers. Diese ist die organisierende und beseelende Kraft, sie schöpft
aus dem der Zeit des Sängers im Bewußtsein schwebenden Sagenkomplex
und rundet zum Ganzen, indem sie ganz ähnlich wie in der Ballade
für die Erzeugung des nachzuahmenden Ethos alles Erforderliche, wenn
auch in knappster Kürze, herbeischafft und mit der Herstellung desselben
ihr Werk abschließt, so daß ein weiteres nicht allein nicht erfordert,
sondern notwendig wenigstens von dem selbständigen und abgeschlossenen
Organismus dieses Liedes ausgeschlossen wird. Es liegt in der Natur
solcher Lieder, daß nur einzelne Gipfelpunkte aus dem Gesamtgebiete
der Sage in ihnen dargestellt werden können; die verbindenden Bergzüge
und Kämme, die gliedernden Senkungen, Einschnitte und Thäler
werden nicht darin aufgenommen werden können; eben dieses ist der
Grund, warum bei solcher Fortpflanzung des Sagenstoffes in Liedern
die bedeutendsten und eingreifendsten Änderungen der Hauptmotive so
leicht stattfinden können, denn, um in dem früheren Bilde zu bleiben,
man kann auf einen und denselben Gipfel eben von den verschiedensten
Seiten hinaufgelangen. So ist es nicht allein sehr wohl denkbar, sondern
als gewiß anzunehmen, daß es Lieder gegeben haben wird von Siegfrieds
Kampf mit Brunhilde, und zwar zu den verschiedenen Zeiten sehr verschieden
lautende, ebenso von der Jagd im Odenwalde und von Siegfrieds
Ermordung, auch, seitdem die Sage sich so weit entwickelt hatte,
mannigfache Lieder, die den Kampf der Burgunden mit den Heunen
betrafen, aber jedes dieser Lieder für sich bestehend mit neuer, selbständiger
Einführung der Personen und Dinge; dagegen ist es völlig
undenkbar, daß Ereignisse und Teile der Handlung, welche einen ledig= [294]
lich vorbereitenden oder den Zusammenhang vermittelnden
Charakter tragen, jemals als solche der Gegenstand von Liedern gewesen
sein sollten. So z. B. Siegfrieds oder Chriemhildens Jugendgeschichte,
wohlverstanden, so wie sie in unserm Nibelungenepos
behandelt sind;
denn an und für sich genommen, wäre ein
solches Lied von Siegfrieds Jugend freilich sehr wohl denkbar. Aber
wie müßte dasselbe ausgesehen haben? Kann es irgend jemand zweifelhaft
sein, das dieses Lied zum Kerne die bezeichnendsten Abenteuer und
Thaten des jungen Helden gehabt haben und allein um dieses Zweckes
willen gesungen worden sein müßte? Diese also in gegenständlichster
Darstellung hätten seinen Jnhalt abgegeben ohne die Hindeutung auf
irgend ein Folgendes, welche dem Liedeszweck gänzlich fremd gewesen
wäre. Aus anderm Grunde wird der Sachsenkrieg, der schlechterdings
nur in dem epischen Zusammenhange seine Motivierung als für das
Folgende erforderliche Episode hat, eine selbständige Existenz im Liede
schwerlich besessen haben. Von ähnlicher Natur ist die Schilderung der
Feier von Siegfrieds und Gunthers Hochzeit, von Chriemhildens Witwentrauer,
von Rüdigers Werbung, des größten Teiles der Ereignisse auf
dem Zuge der Helden zu Etzel, namentlich die schöne Episode ihrer gastliche
Aufnahme zu Bechlaren, und vieles andere derart.

Man wird hiernach mit Jakob und Wilhelm Grimm, mit Ludwig
Uhland, Simrock und vielen andern der Zwanzig-Lieder=Theorie Lachmanns
entschieden widersprechen müssen. Es ist so unmöglich, daß durch
die Zusammenfügung einer Anzahl von Liedern mit geringen Zusätzen
einiger verbindenden Strophen die festgegründete und wohlgeordnete
Einheit eines Epos entstehen sollte, als daß etwa durch die gemeinsame
Überdachung einer Gruppe der anmutigsten Pavillons, stolzer Schlößchen
und Burgen die symmetrisch gegliederte Architektur eines mächtigen
Palastes geschaffen würde.

Eine ganz andre Frage ist, ob dem epischen Dichter durch solchen
Vorrat von Liedern nicht höchst wesentlich vorgearbeitet sein mußte, und
ob er nicht umfängliche Partien daraus ohne weiteres in seine Dichtung
aufnehmen konnte. Wie die Existenz solcher Lieder ganz ohne Zweifel
ihm den Stoff und noch mehr die mächtig wirkende Anregung zu seinem
Epos gewährte, so überkam er sicherlich damit auch die Form, und bei
vielen und zwar den bedeutsamsten Punkten stellten aus der ihn umschwebenden
Fülle sich ihm kleinere oder auch größere Partien ein, die
er als fertige Werkstücke seinem Bau einzufügen vermochte. Bis so
weit würde man von der Hypothese Lachmanns freilich noch nicht so
sehr wesentlich abgewichen sein; aber die Hauptsache ist diese: nimmer= [295]
mehr konnte auf solche Weise der Grundplan des Ganzen gleichsam ohne
Zuthun des Dichters sich bilden, nimmermehr die Anordnung und Ausarbeitung
des Stoffes ihm so von außen zuwachsen; ganz im Gegenteil
war es seine Hauptaufgabe und eine von den größten Schwierigkeiten,
die er zu überwinden streben mußte, dem von ihm, dem Einzelnen,
erdachten einheitlichen Plane gemäß das oft gewaltig widerstrebende
Material der Sage und die oft zähen Widerstand leistende Struktur
solcher übernommenen Partien umzuformen, anzupassen und einzuordnen,
eine Arbeit, die der Natur der Sache nach ihm nicht immer völlig wird
geglückt sein. Noch weit schwieriger freilich war es für ihn die vorhandenen
großen Lücken in der Motivierung und Ausführung des Stoffes
für den von ihm geschaffenen Plan aus eigener Schöpferkraft auszufüllen;
kein Wunder, daß hier neben Ausgezeichnetem sich auch Schwächeres
vorfindet und daß vielfach, namentlich in den Äußerlichkeiten, der allmächtig
herrschende Zeitgeschmack bestimmend wirkte. So leicht es ist, dasjenige
als „moderner“ auszuscheiden, was entschieden diesen letzteren
Charakter trägt, so vergeblich ist das Bemühen, die angeblichen „alten
Lieder“ zu rekonstruieren, die der Ordner „interpoliert“ haben soll.

Als ein schlagendes Beispiel mag gerade dasjenige Lied gewählt
werden, welches unter allen Lachmannschen Rekonstruktionen den glänzendsten
Anschein des Gelingens an sich trägt, das wahre Muster- und Probestück
seiner Methode, das „vierte“ Lied, welches den Kampf Siegfrieds
mit Brunhild erzählt. Von der siebenten Aventüre fallen hier volle
zwei Drittel der Athetese zum Opfer, von 127 Strophen bleiben nur
42 übrig. Natürlich hat, was stehen gelassen ist, nun einen überaus
schnellen und kühnen Gang, es ist eben nur das rein Thatsächliche
verschont geblieben; damit ist der Schein des Liedartigen gewonnen,
denn das Lied, dessen Zweck die Erweckung des Ethos, die Stimmung,
ist, hat die Weise, die äußere Handlung auf das Minimum in der Darstellung
zu beschränken. Aber eben auch nur dieser Schein ist erreicht!
Wir erfahren auch nicht das Mindeste außer der nackten Thatsache, daß
mit einer sehr starken Jungfrau ein Schwächerer kämpft, um sie zu gewinnen,
und daß durch die Tarnkappe den Blicken der Zuschauer entzogen
ein Stärkerer ihm dabei hilft; jede geringste Spur der inneren
Bedeutung
des Vorganges, auf die allein es dem Liede ankommt,
jedes Anzeichen der Beteiligung der Gemütskräfte von seiten der Handelnden
und Zuschauenden, ebenso jede derartige Wirkung auf die Hörenden
ist sorgfältig ausgelöscht. So fehlt dem „Liede“ auch die Selbständigkeit
und Rundung, es ist lediglich der äußerliche Hergang, der einen Abschluß
findet:

[296]
Sô wol mich dirre maere,‘ sprach Sîfrit der degen,

daz iwer hôhverten alsô ist gelegen,

daz iemen lebet der iuwer meister müge sîn.

nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn.‘

Das „Lied“ selbst aber enthält nichts, wodurch es erlaubt oder, wie
es sein müßte, geboten wäre, an dieses Resultat eine bedeutende
Konsequenz anzuknüpfen, und zwar, wie das Lied es erfordert, um dadurch
in sich selbst getragen zu werden, die Vorstellung einer unmittelbar
erreichten Folge
damit zu verbinden, die ohne alle Rücksicht auf
das, was vorher sich ereignet hat und später sich ereignen wird, für
sich allein das Gemüt des Hörers ganz erfüllt und für sich allein völlig
beschäftigt. So wie Lachmann das vierte Lied hergestellt hat, kann es
nur als das Glied eines großen, wohl disponierten epischen
Zusammenhanges Geltung haben;
doch auch dafür sind ihm nun
wieder die wesentlichsten Teile, gerade alle diejenigen, welche die wichtigste
innere Motivierung enthalten, fortgeschnitten. Nur für denjenigen, der
diesen Zusammenhang ohnehin beständig vor Augen hat, ist es möglich,
über diesen augenscheinlichen Mangel hinwegzusehen; es ist aber unmöglich,
daß ein für sich bestehendes Lied seine wesentlichsten Stützen nicht
in sich, sondern außerhalb haben soll. Dasselbe Verhältnis wiederholt
sich fast allenthalben, wo der Liedertheorie größere Partien zum Opfer
gefallen sind, eine Ausnahme bilden nur die äußerlichen Zusätze, welche
ganz den höfischen Charakter tragen und mit dem eigentlichen Körper
der Sage in keiner organischen Verbindung stehen.

Sieht man von diesen, allerdings störenden, Zusätzen ab, so stellt
sich in unserm Nibelungenliede eine festgeschlossene Einheit dar, die Erfüllung
der schwierigsten Kunstforderung, ein künstlerisches Gelingen, von
welchem keinerlei Argumente je den Nachweis führen werden, daß es in
der Hauptsache dem Zufall zu danken sei.

So dankenswert und aufklärend die Forschungen über die mythischen
und historischen Bestandteile der Nibelungen für die Geschichte der
Sage sind, so haben sie oft genug für die Auffassung der epischen Dichtung,
wie sie uns nun einmal vorliegt, eher verwirrend gewirkt. Für die
Zeit des Dichters der Nibelungen war die Verschmelzung der mythischen
und historischen Elemente eine vollzogene Thatsache, jedoch so, daß die
ersteren ihrem ursprünglichen Zusammenhange nach zwar völlig verwischt,
in einer großen Zahl von Grundmotiven aber nichtsdestoweniger immer
noch vorhanden waren, ein Umstand, der für sich allein den spontanen
oder gleichsam zufällig sich gestaltenden Aufbau einer neuen Einheit statt
der alten mythischen, deren Existenzbedingungen erloschen waren, un= [297]
möglich machen mußte. Der Dichter stand also einem Sagen- und Liederkomplex
gegenüber, in dem sehr vieles unklar, vieles widersprechend oder
zusammenhanglos war, vieles mächtig ergreifend und mit starken Zügen
auf eine irgendwie beschaffene innere Verbindung hinweisend. Es galt
dieselbe zu erkennen, soweit sie noch vorhanden und erkennbar war,
zum andern Teile sie herzustellen, und zwar auf der Grundlage einer
gegen die Zeit, als jener mythische Zusammenhang in Geltung war,
völlig veränderten Welt- und Lebensanschauung. Jn den
alten Mythen ist das Wunder konstitutiv, die Existenz der Personen
sowie jeder Fortschritt der Handlung beruht darauf; für den Dichter
und seine Zeit ist es aus diesen Regionen fast völlig verdrängt, es wird
noch geglaubt, aber es ist mehr auf dekorative Verwendung beschränkt.
Für den wesentlichen Bestand der Personen und der Handlung wird
Thatsächlichkeit und psychologisch klare Entwickelung verlangt;
in den äußeren Umständen, um entgegenstehende Hindernisse, Gefahren,
Kraftleistungen ins Ungeheure zu vergrößern, ferner um Natureindrücke,
damit zusammenhängende Stimmungen und Ahnungen zu
verkörpern, ist das Fabelhafte und Wunderbare noch vertraut und beliebt.
Natürlich nimmt das kirchliche Gebiet eine Ausnahmestellung ein.
Einer unbefangenen Betrachtung unseres Nibelungenepos kann es nicht
zweifelhaft sein, daß der Dichter desselben eifrig bemüht war, alles, was
aus den alten Liedern noch an mythischen Motiven wie fremdartiges
Urgestein in die Sage hineinragte, so viel als möglich zu tilgen oder,
wo das nicht anging, es doch abzuschwächen oder für den Gang seiner
Dichtung in die Nebenhandlung zu verweisen und für den weiteren
Fortgang der Haupthandlung ohne Folge zu lassen. Menschenschicksale
will er darstellen, sein Siegfried ist trotz Tarnkappe, Unverwundbarkeit
und Drachenkampf, was alles entweder nur schwach betont ist oder
doch nur als symbolische Darstellung der Kraft und Tapferkeit Geltung
hat, ein menschlicher Held, dessen Bedeutung und Jnteresse für uns
in seinen Gesinnungen, Thaten und Schicksalen liegt, die samt und sonders
rein menschlicher Natur sind; so ist es auch mit allen übrigen
Helden des Gedichtes mit alleiniger Ausnahme der Brunhilde, bei der
allerdings das Übernatürliche, was schon in ihrer Person an sich
liegt, nach dem Zusammenhange der Handlung nicht fortzuschaffen war.
Offenbar liegt hierin der Grund für den Umstand, welcher der Kritik
so viel zu schaffen gemacht hat, daß nämlich der Dichter an ihrem persönlichen
Schicksal keinen Anteil nimmt. Sobald sie den verhängnisvollen
Einfluß auf das Schicksal seines Helden ausgeübt hat, verliert er, ganz
nur mit diesem und dessen Folgen beschäftigt, sie aus den Augen; der [298]
Einheitsmittelpunkt des Liedes von der „Nibelungen Not“ ist ein ganz
anderer geworden wie der des alten Mythus und schließt das Motiv
von Siegfrieds Liebe und früherem Verhältnis zu Brunhilde,
worauf jener sich aufbaut, gebieterisch aus.
Die neue
Dichtung beruht vielmehr auf der Voraussetzung des geraden Gegenteiles,
und der Dichter hat sichtlich alle Mühe aufgewendet, diese völlig
veränderte Grundlage des Ganzen auf das deutlichste erkennbar zu
machen. Dort ist der Gegenstand: die Liebe eines Halbgottes zu
einer Halbgöttin, die, da sie verraten oder vergessen wird,
wie ein verzehrendes Feuer ringsum Vernichtung verbreitet;

hier ist es die wandellose Treue der echtesten menschlichen
Liebe, für die es kein Vergessen gibt, die aber in ihrer
übermächtigen Stärke sowohl den Helden als die Heldin
unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Schicksals in
tragische Hamartie verwickelt.

Chriemhild ist die Heldin des Liedes; die Eingangsstrophen, die
sie in den Vordergrund stellen, geben zugleich das Einheitsmotiv des
Ganzen an: aus ihrer Minne erwächst der Nibelungen Not.
Jhr ist sogleich Siegfried gegenübergestellt und es ist eine sehr absichtsvolle
Erfindung des Dichters, durch die er manches völlig verwischte
Motiv der alten Sage ersetzt, daß er von Anbeginn und dann mit öfter
wiederholter Betonung hervorhebt, wie Siegfried trotz seiner überragenden
Persönlichkeit und trotzdem er der Sohn eines unbhängigen Königs
ist, keineswegs etwa den burgundischen Königen dienstbar, doch nach Geschlecht
und Rang jenen bei weitem nicht gleichkommt, so daß seine
Werbung um Chriemhild einem jeden als ein überkühnes Beginnen
erscheint.


nie keiser wart sô riche, der wolde haben wîp,

in zaeme wol ze minne der rîchen küniginne lîp

läßt der Dichter Siegfried von ihr sagen (vgl. Str. 50, die von Lachmann
gestrichen), und von Siegmund, da er des Sohnes Absicht erfährt,
heißt es (Str. 51):


ez was im harte leit,

daz er werben wolde die vil hêrlîchen meit.

Die zahlreichen hierhin zielenden Wendungen gipfeln in Str. 56:


Waz mag uns gewerren?‘ sprach dô Sîfrit.

‚waz ich friuntlîche niht ab in erbit,

daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant.

ich trouwe an im erdwingen beidiu liute unde lant.‘
[299]

Dieser Charakter der Werbung ist für die Folge von der größten
Wichtigkeit. Durch seine bloße Erscheinung wird Siegfried dem vielerfahrenen
Hagen nach dem Rufe seiner Thaten, der ihm vorausgegangen,
kenntlich. Es ist ein entschiedenes Zeichen von epischem Geschick, daß
der Dichter diese Gelegenheit benutzt, um jene Thaten dem Hörer bekannt
zu machen. Die Erwerbung des Nibelungenhortes, der Tarnkappe
und des Balmungschwertes, der Drachenkampf und die Gewinnung der
„hürnenen Haut“, alles früher Hauptmotive, haben als solche in der
neuen Gestaltung keinen Platz, doch sind sie bestimmt, an zweiter und
dritter Stelle eine Rolle zu spielen, und konnten auf keine Weise geschickter
eingeführt werden, als in der summarischen Art, wie es hier
geschieht. Von Lachmann ist die ganze Episode entfernt. Das Verhältnis,
aus dem die Verwickelung und die Katastrophe hervorgeht, ist
somit von vornherein in seinen Grundlinien festgestellt: Siegfried, eines
Königs Sohn, aber aus einem minder angesehenen Hause, kommt an
den glänzendsten Fürstenhof, um die Schwester der drei Könige zu gewinnen,
zu der er nach seiner Geburtsstellung sein Begehren nicht erheben
dürfte. Wegen seiner Stärke gefürchtet, wegen seines Reichtums
beneidet, erhält er, obwohl man seine Absicht erkennt, weder Absage
noch Gewährung; er muß durch außerordentliche Leistungen sich die
Braut erst erwerben. Anfangs trotzt er nur auf seine persönliche Kraft
und Kühnheit und vermißt sich, seinen Wirten im Wettkampfe Land
und Leute abzugewinnen, aber die „Minne“ mildert seinen Übermut;
im Sachsenkriege leistet er den Burgundenkönigen unvergleichliche Dienste,
und da er nun Chriemhild, die den Helden schon lange „durch diu
venster
“ bei den Kampfspielen erblickt und in ihrem Herzen ergriffen
hat, bei der Begrüßung nach dem Siege zum erstenmale erschaut, da
ist sein Schicksal entschieden: si twanc gên ein ander der seneden
minne nôt
. Sein Dienst gehört jetzt den Burgundenkönigen, bis er
sich Chriemhild gewonnen (vgl. Str. 303):


Ich sol in immer dienen,‘ sprach Sîfrit der degen,

‚und en wil mîn houbet nimmer ê gelegen,

ich enwerbe nâch ir willen, sol ich mîn leben hân,

daz muoz iu ze dienste, mîn frou Kriemhilt, sîn getân.‘

Nur so erklärt es sich, daß er, um sein Ziel zu erreichen, ohne Besinnen
sich zum Äußersten bereit zeigt, was von ihm verlangt werden
tann: weit schwerer als jedes andere Abenteuer ist der Kampf gegen
Brunhilde für ihn, weil er von ihm, der gegen Freund und Feind gleich
großgesinnt, treu und ohne Falsch ist, eine Untreue erfordert. Zum [300]
ersten und einzigen Male begeht Siegfried eine Täuschung, und diese
Täuschung wird sein und aller Beteiligten Verderben. Das alte Motiv
von seiner früheren Liebe zu Brunhilde ist ganz aus dem Gedichte verschwunden
─ der Umstand, daß er von ihrem Wohnsitz, von dem Wege
dorthin und von ihren persönlichen Verhältnissen als ein Näherwohnender
und durch abenteuerliche Fahrten Weitumhergekommener Kenntnis hat,
ist für den, der mit dem nordischen Mythus nicht vertraut ist und denselben
nicht geflissentlich in das Epos hineinträgt, noch nicht einmal
ausreichend, auch nur entfernt auf jenes frühere Motiv hinzuweisen.
Mit welch staunenswerter Feinheit hat der Dichter es durch das neue
Motiv ersetzt! Eine tiefe psychologische Wahrheit ist an die Stelle der
äußeren Verwickelung getreten, die durch einen Zaubertrank die alte
Liebe zu Gunsten einer neuen vergessen werden läßt. Der männlichste
Held, so männlich stark wie kindlich offen, so kühn und tapfer wie wahr
und treu, wird durch die „sehnende Minne hingezwungen“, nicht zu
dem männischen Weibe, das an Kraft und Kühnheit es ihm fast gleichthut,
sondern zu dem weiblichsten Weibe, dessen ganze Stärke in seiner
Liebe ist, von der höchsten Anmut, Sanftheit und Zartheit, aber in der
einmal erwählten Liebe zugleich von einer unergründlichen Tiefe der
Ausdauer und Kraft, einer Kraft, die fähig ist, ihr ganzes Wesen auszufüllen
und unter der Gewalt eines tragischen Schicksals es alleinherrschend
völlig zu verwandeln. So braucht es hier nicht des früheren
Verlöbnisses, ja dasselbe ist durch die neue Gestaltung als widersinnig
ganz ausgeschlossen. Eine Fülle der feinsten Beziehungen ergeben sich
vielmehr aus dieser ebenso vereinfachten als psychologisch vertieften Anlage
der Dichtung. Beim ersten Sehen hat der Held, der bisher die
Minne nicht gekannt, sich Chriemhild für das Leben erwählt, unwiderruflich
gehören sie einander an (vgl. Str. 348):


Friuntliche blicke und güetlîchen sehen,

des mohte von in beiden harte vil geschehen.

er trouc si in dem herzen, si was im sô der lîp.

sît wart diu schoene Kriemhilt des küenen Sîfrides wîp.

Umgekehrt liegt es mit unabänderlicher Notwendigkeit in dem
Charakter Brunhildens, die so ganz aus der weiblichen Natur herausgetreten
ist, daß sie nur demjenigen angehören kann, der an Kraft und
Kühnheit ihr Meister ist. Nun ist bei aller seiner Bescheidenheit, der
unzertrennlichen Begleiterin der echten Kraft, Siegfried sich seiner unvergleichlichen
Stärke wohl bewußt, er vertraut fest, das Abenteuer mit
Brunhilde bestehen zu können; dennoch, und obwohl ihm alle Umstände [301]
bekannt sind, hat es ihn nicht im mindesten anzureizen vermocht, für
sich den Kampf zu versuchen und sich die Heldenjungfrau zu gewinnen:
Brunhilde ist bisher unbezwungen! Er weiß aber, daß er siegen
wird, und die innere Stimme sagt ihm voraus, was geschehen wird.
Auch Brunhildens Verhängnis entscheidet sich mit dem Augenblick, da
sie Siegfried zum erstenmale erblickt; es braucht ihr niemand zu sagen,
wer er ist, so gut wie Hagen, sein männlicher Nebenbuhler im
Ruhme der Tapferkeit, erkennt sie ihn sofort
nach dem bloßen
Rufe von seiner Person und seinen Thaten. Bei Hagen ist die Folge
unauslöschlicher Haß, bei ihr unvertilgbare Liebe. Unter allen, die da
kommen, sieht sie nur ihn und zweifelt keinen Augenblick, daß er um
ihretwillen gekommen sei (vgl. Str. 398):


Dô diu küneginne Sîfriden sach,

zuo dem gaste si zühteclichen sprach,

‚sît willekommen hêr Sîfrit her in dize lant.

waz meinet iwer reise? daz het ich gerne bekant.‘

Und nun die Antwort, durch die der Knoten des Verhängnisses
für das ganze Epos geschürzt wird:


Vil michel genâde frou Prünhilt

daz ir mich ruochet grüezen, fürsten tohter milt,

vor disem edeln recken der hie vor mir stât:

wann der ist mîn hêrre: der êren het ich gerne rât.
Er ist künec ze Rîne, waz sol ich sagen mer?

durch dîne liebe sîn wir gevarn her.

er wil dich gerne minnen, swaz im dâ von geschiht.

bedenke dichs bezîte: er erlât dich sîn niht.
Er ist geheizen Gunther, ein künec rîch unde hêr:

erwurb er dîne minne, sone gert er niht mêr.

durch dich mit im ich her gevarn hân:

waerer niht mîn hêrre, ich hetez nimmer getân.‘

Und ganz verwandelt, feindselig, mit finsterm Grolle entgegnet
Brunhild:


ist er din hêrre unde du sîn man,

wil er mîn geteiltiu spil alsô bestân,

behabe er die meisterschaft, sô wird ich sîn wîp:

gewinne aber ich, ez gêt iu allen an den lîp.‘
[302]

Um Chriemhilde zum Weibe zu gewinnen, hat Siegfried sich bereit
finden lassen, Brunhilden in dem trügerischen Kampfspiel zu hintergehen
─ und der Dichter hat es nicht unterlassen, diese schnelle Bereitwilligkeit
noch tiefer und feiner zu motivieren: es reizt ihn, obwohl es ihn
nach dem Kampfpreis keineswegs gelüstet, sowohl das gefährliche Abenteuer
zu bestehen, als den Übermut des Weibes zu strafen, wie es
deutlich in Str. 443 ausgesprochen ist:


Sô wol mich dirre maere,‘ sprach Sîfrit der degen,

‚daz iwer hôhverten alsô ist gelegen,

daz iemen lebet der iuwer meister müge sîn.

nu sult ir, maget edele, uns hinnen volgen an den Rîn.‘

Die erste Täuschung zieht nun die zweite nach; um überhaupt mit
Gunther vor Brunhilde erscheinen zu können, muß Siegfried sich als
dessen Gefolgsmann ausgeben. Wiederholt und mit stärkster Betonung
hebt der Dichter diesen Umstand hervor, dessen er sich in der Folge für
die entscheidende Wendung zur Katastrophe mit dem höchsten technischen
Geschick zu bedienen weiß. Wie grollt Brunhilde innerlich, da sie sich
von dem Manne besiegt sieht, dem ihr Herz wie das Zeugnis ihres
Auges nimmermehr den Sieg zuerkennt.


Prünnhilt diu schoene diu wart in zorne rôt

heißt es (437, 7) in einer von Lachmann ausgeschiedenen Strophe, da der
entscheidende Wurf und Sprung von Gunther mit Siegfrieds verborgener
Hilfe gethan ist. Vergebens sucht sie nach dem Siege ihre Unterwerfung
zu vereiteln oder doch zu verzögern, ein Umstand, den der Dichter für eine
ziemlich lose eingefügte Episode benutzt, die ihm aber erforderlich scheinen
mochte, um das Verhältnis seines Helden zu den Nibelungen und dem
Horte, welches immerhin doch den Hintergrund der ganzen Sage bildet,
und das er für die Folge noch zu benutzen gedachte, seinen Hörern
deutlicher vorzuführen.

Jm weiteren Fortgange entwickelt sich nun alles mit der strengsten
Folgerichtigkeit. Sogleich tritt die Gestalt Hagens in den Vordergrund.
Mit der Scharffichtigkeit der Treue des Lehnsmanns, der seinen Königen
zunächst steht, und des Hasses gegen den Nebenbuhler, der seinen Ruhm
verdunkelt und der nun der Träger eines für den Burgundenkönig
höchst gefährlichen Geheimnisses ist, benutzt er die Umstände auf das
geschickteste, um die vorgegebene Lehnsabhängigkeit Siegfrieds von
Gunther als eine wirklich vorhandene erscheinen zu lassen; auf seinen
schlau ersonnenen Rat bewegt Gunther „um Chriemhildens willen“ den [303]
Helden zu der Botenfahrt nach Worms.1 Es folgt der Empfang Brunhildens
in Worms, und wenn die Str. 550 den Preis vor ihr Chriemhilden
zuerteilt,


dô sprâchen dâ die wîsen, die hetenz baz besehen

man möhte Kriemhilde für Prünhilde jehen,

so sind diese Verse, weit entfernt zu Einwürfen Veranlassung zu geben
(vgl. Lachmanns Anmerk. S. 79), vielmehr dem innersten Sinn der Dichtung
entsprechend. Wie Brunhilde in der Schätzung Siegfrieds und der
wîsen“ hinter Chriemhild zurücksteht, so tritt ihre Person auch für den
Dichter und seine Dichtung in den Hintergrund, sobald die Konsequenzen
jener doppelten Täuschung, der sie zum Opfer fiel, gezogen sind. Auf
die Dauer kann ihr das wahre Verhältnis, daß Siegfried ein freier und
selbständiger König wie Gunther ist, nicht verborgen bleiben; so sucht
auch Gunther nur Zeit zu gewinnen: in Hast und halber Heimlichkeit
verlobt er Siegfried der Schwester, um die gefürchtete Aufklärung zu
vermeiden. Aber wenn Brunhilde den wirklichen Hergang auch nicht
erraten kann, so sagt ihr ein dunkles Bewußtsein, daß jenes unklare
Verhältnis mit ihrem eigenen Schicksale im engen Zusammenhange steht,
um so mehr, als trotz des scheinbaren Sieges in den Kampfspielen
Gunther in ihren Augen fortdauernd vor Siegfrieds herrlicher Erscheinung
verschwindet. Daraus entsteht der Kampf und Zwiespalt in ihrem
Jnnern, aus dem die ganze folgende Entwickelung naturgemäß hervorgeht:2
ihr finsteres, schmerzlich=zorniges Brüten bei dem Hochzeitsmahle,
die immer wiederholte Frage an Gunther um Aufhellung des Dunkels
über Siegfrieds Person, der erneute Kampf in der Brautnacht mit
seinen verhängnisvollen Folgen. Alles das ergibt sich klar, einfach und
notwendig aus der von dem Dichter entworfenen Exposition; jede Spur
eines früheren Begegnisses zwischen Brunhilde und Siegfried hat er sorgfältig
getilgt, von einer wirklichen Unterthänigkeit Siegfrieds ist nicht
die leiseste Andeutung gegeben, mit der größten Klarheit ist vielmehr
die Fiction derselben als die unumgänglich erforderliche Maßnahme dargestellt,
die Siegfrieds Erscheinen an der Seite Gunthers bei der Braut= [304]
werbung ermöglicht. Andrerseits ist es nicht auffällig, sondern nach
dem Vorhergegangenen ganz folgerichtig, daß Siegfried (Str. 598, 2)
ohne zu fragen vorher weiß, daß Brunhilde am nächsten Morgen noch
unbezwungen ist (vgl. Lachmanns Anmerk. zu Str. 576); der zweite
Kampf mit ihr ist die unvermeidliche Folge des ersten, und mit dieser
dritten, schlimmsten Täuschung ist der Knoten völlig geschürzt. Der
Dichter eilt zu der Katastrophe. Noch einmal muß Brunhilde hervortreten:
die Art, wie sie nun, trotzdem für sie in dieser Beziehung ein
Zweifel nicht mehr bestehen kann, auf dem früheren Vorgeben Siegfrieds,
daß er ein Lehnsmann Gunthers sei, besteht, ist wiederum höchst bezeichnend
für das von dem Dichter zu Grunde gelegte Gesamtverhältnis.
Ein dunkles Geheimnis liegt über der Schließung ihres Ehebundes,
durch das sie sich um Liebe und Glück betrogen sieht: sie hält die einzige
Handhabe fest, durch die es ihr gelingen kann, die Hülle zu entfernen.
Nachdem sie Klarheit erlangt, gibt es keine Wahl mehr. Mit feiner und
bewußter Kunst, welche wieder den über den Stoff frei verfügenden
Dichter erkennen läßt, ist für die Ausführung der Rache an Siegfried
mit dem von Brunhilde herkommenden Antriebe nun noch eine Reihe
von Motiven verwebt, die in dem Werkzeuge derselben, in Hagen, ihren
Sitz haben: das, so zu sagen, politische Jnteresse des Lehnsmanns,
welches keinen Flecken auf dem Schilde des Königtums leidet (vgl. 810, 1),
die Begier nach dem Nibelungenhorte (vgl. 1047) ─ der, obwohl das
Lied davon den Namen hat, außer an dieser Stelle nur noch zweimal
motivisch verwendet wird und immer nur in untergeordneter Weise ─
und der eifersüchtige Haß des Nebenbuhlers um den höchsten Waffenruhm.
Mit dem Vollzug der Rache erlischt das Jnteresse an Brunhilde,
die von vorneherein in unserem Liede nur als Nebenfigur aufgetreten
ist, um ungetheilt auf Chriemhild überzugehen. Es muß wunder nehmen,
daß die Kritik auf dieses Verschwinden Brunhildens aus dem Gedichte
ein solches Gewicht gelegt hat, als ob die Einheit des Liedes damit unverträglich
wäre und als ob es epische Forderung sei, daß von allen
hervorragenden Personen das Ende ihres Schicksalsverlaufes mitgeteilt
werden müßte, während doch das gerade Gegenteil von den
Gesetzen des Epos verlangt wird:
strikteste Beschränkung auf die
Durchführung des Einheitsmomentes der Handlung und Ausschließung
der Vollständigkeit in Bezug auf die Schicksale des einzelnen, sogar der
Hauptperson! Berichtet doch die Jlias nicht einmal vom Ende des
Achill, geschweige eines Ajax oder Odysseus oder Agamemnon, und wer
würde darin einen näheren Aufschluß über das Schicksal der Helena, der
Anstifterin des ganzen Krieges, vermissen?

[305]

An diesem schwierigsten Punkte des Gedichtes, wo es gilt die Ermattung
des Jnteresses nach Siegfrieds Ermordung zu verhüten, die
Kontinuität der Handlung und die gespannte Aufmerksamkeit für das
eigentliche Einheitsmoment derselben zu erhalten, zeigt sich abermals mit
Evidenz die Leistung des frei und selbständig disponierenden Dichters;
für diese ganze Partie ist die Liedertheorie eine bare Unmöglichkeit.

Siegfrieds und Chriemhildens Liebe mit ihren Folgen,
Siegfrieds Tod und Chriemhildens Rache,
ist der Gegenstand des
Dichters, eine Handlung von unvergleichlicher Tragik, zu der der Dichter
den Stoff in einem reichen Kreise von Sagen und Liedern vorfand: die
Liebe des männlichsten Mannes zu dem weiblichsten Weibe, aus der unter
der Einwirkung eines schlimmen Verhängnisses für beide und zugleich
für ganze Geschlechter
unabsehbares Verderben erwächst. Und wie
wenig thut im Grunde das bloß äußere Schicksal, ein blindes Ungefähr
bei diesem verderblichen Verhängnis! Wie kunstvoll ist Alles aus den
einfachsten und natürlichsten Faktoren, die ihren Sitz in der Menschenbrust
selbst haben, hergeleitet! Der kindlich offene und männlich wahre
Held, der keiner Lüge fähig ist, läßt sich durch diese Liebe zu Falschheit
und Betrug bewegen, freilich in einem Falle, wo einem unnatürlichen
Verhalten gegenüber ihm die Täuschung am rechten Orte zu sein scheint.
Die in gerader Linie sich entwickelnde Folge seines Fehlers ist sein
tragischer Tod. Nun tritt Chriemhild allein als Trägerin der weiteren
Handlung hervor. Jhr Charakter ist ihre grenzenlose Hingabe an den
herrlichen Gatten. Wer wollte den berechtigten und natürlichen Stolz
auf den Alle überragenden Gemahl, durch den sie freilich äußerlich
seinen Untergang herbeiführt, ihr als tragischen Fehler, oder, wie man
es auszudrücken liebt, als „tragische Schuld“ anrechnen? Damit wird
nur der letzte, abschließende Umstand in der Reihe der durch Siegfrieds
eigenen Fehler bedingten Folgen veranlaßt. Jetzt erst beginnt Chriemhildens
verhängnisvolle Hamartie. Die Art, wie hier das allmähliche
Anschwellen des verzeihlichen Fehlers zur fürchterlichsten Schuld gezeichnet
wird, ist trotz einer gewissen Trockenheit und Steifheit im Ausdruck der
Empfindung, die ja allenthalben im Nibelungenliede hervortreten, bewundernswert.


Das für den Fortgang der Handlung völlig Entscheidende ist, daß
Chriemhild nicht mit ihrem Schwäher nach des Gatten Heimat zieht,
sondern bei ihren Verwandten im Burgundenlande bleibt. Nicht allein,
daß sie im ersteren Falle in der Pflege des Sohnes, in der Ausübung
der Herrschergewalt den Boden gefunden hätte, um für ein neues Leben
Wurzel zu fassen, für die positiven Kräfte ihrer Seele Entfaltung zu [306]
gewinnen, es wäre auch jede Verbindung mit ihrer heimischen Sippe
ein für allemal und unwiderruflich abgeschnitten gewesen. Wie hat der
Dichter diesen unentbehrlichen Entschluß eingeführt? Er schildert zunächst
ihren gewaltigen Schmerz, der ihr die Sinne raubt; dieser Schmerz
ist fortan ihr liebstes, ja ihr einziges Besitztum, neben dem sogar das
eigene Kind ihr nichts mehr gilt. Wenn das allerdings „verletzend“
erscheint,1 so ist es doch die mit tiefer psychologischer Wahrheit erfaßte
Eigenart der übergewaltigen Leidenschaft, mit der ein ganz von der
Liebe ausgefülltes Gemüt in eigensinniger Selbstqual ausschließlich in
der Trauer und dem Schmerz sich Ersatz für das Verlorene sucht, und so
ist es die einzige für die Chriemhild des Liedes zutreffende Charakteristik,
die allein alles Folgende erklärlich macht. Eine Chriemhild, die jetzt für
die Zukunft ihres Sohnes den rechten Muttersinn hätte, wäre aus
hundert Gründen zu der Rache, von der das Lied meldet, nicht fähig.
Nicht freilich, daß die Meinung wäre, dieser Racheplan stünde ihr jetzt
schon vor Augen; wie wäre eine so ungeheure Wandlung möglich in
so kurzer Zeit? Es ist wahr, sie erscheint „ohne Widerstandskraft, ohne
Vorsicht, willenlos“,2 aber es ist die Absicht des Dichters, sie so erscheinen
zu lassen. Nach dem vorangegangenen Paroxysmus des Schmerzes,
der „zum erstenmale die Chriemhild des zweiten Teiles, die Chriemhild
der Rache, auftreten läßt, thatkräftig, entschlossen, umsichtig“,3 ist ein
Zustand der Dumpfheit eingetreten, in dem nur das eine dunkle Gefühl
bestimmend vorwaltet, von der Stelle des Unglücks sich nicht zu entfernen
und sich welt- und selbstvergessen der Klage hinzugeben. Jahrelang
lebt sie so hin, über die das Lied schnell hinweggeht; aber wie
nichts ohne Wandel bleiben kann, so hat der Dichter Sorge getragen,
diese dreizehn Jahre umfassende Zwischenperiode durch eine sehr bedeutungsvolle
Entwickelung zu beleben. Wol vierdhalp jâr hat Chriemhild
in Jammer und Klage zugebracht, daz si ze Gunthêre nie kein
wort gesprach
, da kommt von außen her ein Anstoß an sie heran, der
ihre Gedanken auf ein festes Ziel des Handelns richtet; der Dichter
hat es verstanden, das im Übrigen für seine Dichtung zurücktretende
Motiv des Nibelungenhortes an dieser einen Stelle nun doch in einer
für die gesamte Gestaltung der Handlung entscheidenden Weise zu verwenden.
Um den Hort zu gewinnen, ein Beweggrund, der schon früher
bei ihm wirksam gewesen ist, rät Hagen den Königen die Versöhnung [307]
mit ihrer Schwester an. Aus Chriemhildens Munde läßt das Lied
immer nur das Eine hören, ihren unversöhnlichen Haß gegen Hagen:
nun, da sie sich zu der Versöhnung mit den Brüdern erweichen läßt,
erscheint ihr die Möglichkeit der Rache an dem Todfeinde doppelt näher
gerückt, einmal da sie hoffen kann, die Könige zu seiner Bestrafung zu
bewegen, sodann weil sie nach diesem Friedensschlusse in den Genuß
der ihr zustehenden Rechte treten kann und die Herbeischaffung des
Hortes ihr die Mittel gewährt, sich einen unbedingt ergebenen Anhang
zu verschaffen. Eben diese Gefahr erkennt der bedrohte Hagen sogleich,
und sie liefert ihm den Vorwand, um die Könige zu dem schon früher
von ihm geplanten Raube des Hortes zu bestimmen. Dieser Umstand
aber wirkt entscheidend! Nicht allein daß Chriemhild den geschlossenen
Versöhnungsbund verraten sieht, sie erkennt auch deutlicher als zuvor
das Einverständnis ihres Bruders mit Hagen gegen sie selbst, und daß
sie von den zu ihrem Schaden Verbündeten nimmermehr Genugthuung
zu hoffen habe:


Str. 1081:

Mit iteniven leiden beswaeret was ir muot,

umb ires mannes ende, unt dô si ir daz guot

alsô gar benâmen. do gestuont ir klage

des lîbes nimmer mêre, unz an ir jungisten tage.

So kann denn die Rache sie nur noch gemeinsam treffen, wenigstens
kümmert es Chriemhilden, deren Seele durch die gebrochene Sühne herber
und verbitterter geworden ist als zuvor, nun nicht mehr, ob sie die Anverwandten
mit verderbe. Ein Jahrzehnt geht so hin, eine lange Zeit,
in welcher Gram und Haß, bitterer Schmerz und heißer Zorn unaufhörlich
geschäftig sind, alle Kräfte der Liebe, der Güte, Freundlichkeit
und Weichheit in der Seele der königlichen Witwe aufzuzehren: alles
dient nur dazu, die eine Leidenschaft bis zur furchtbaren Übergewalt
anzuschwellen. So trifft sie Etzels Werbung, der sie die entschiedenste
Weigerung entgegensetzt bis zu Rüdigers Versprechen, sich ihrer Rache
dienstbar zu machen. Dieser Aussicht opfert sie Alles, sie bildet fortan
den Jnhalt ihres Lebens (vgl. Str. 1195─1200):


Str. 1199:

Do gedâhte diu getriuwe 'sit ich vriunde kan

alsô vil gewinnen sô sol ich reden lân

diu liute swaz si wellent, ich jâmerhaftig wîp.

waz ob noch wirt errochen des mînen lieben mannes lîp?

So ist der feste Zusammenhang mit dem zweiten Teile des Liedes
hergestellt, in dem auch die Anhänger der Liedertheorie eine nur durch [308]
verhältnismäßig geringe Äußerlichkeiten unterbrochene Continuität und
großartige Einheitlichkeit erkennen.1 ──────


XVIII.

Es ist bekannt, wie in der Entwickelung der Dichtung das deutsche
Volksepos gegen die Überwucherung der ritterlich=romantischen Dichtung
sich nicht zu behaupten vermochte, ja wie die Stoffe desselben zuletzt [309]
einer der romantischen Poesie verwandten, überwiegend äußerlichen Behandlungsweise
verfielen. Ein schneller Verfall war für diese ganze
Dichtung eine unabwendbare innere Notwendigkeit, da die gesamte
Romantik auf dem irrealen Boden der Phantastik steht. Schon betreffs
der wirklichen Lebensverhältnisse zur Zeit der Blüte jener Poesie zeigt
sich die Herrschaft der Phantasie, die dem spezifisch romantischen Ethos
entspringt, in der Standesexclusivität der ritterlichen Gesellschaft, in der
Negation zahlreicher natürlicher Rechte, auf der ihre Existenz beruht,
und in der Willkürlichkeit ihrer Sitte und ihres Ehrbegriffes. Jn der
Dichtung mußte diese Phantastik eine schrankenlose Steigerung nach der
Seite des dem romantischen Ethos Verwandten, Erwünschten erfahren,
und eine ungemessene Produktion mußte nach dieser Richtung sich entfalten.
Unter dem doppelt fördernden Einfluß der kirchlichen Mystik
und der zunehmenden Verbindung mit dem Orient erlangte das dieser
Stimmung und Gesinnungsweise dienstbare Wunder, welches alle äußeren
Hindernisse der Phantasie aufhebt, eine so ausgedehnte Herrschaft, daß
es geradezu die Wirklichkeit, Natur und ihre Gesetze verdrängt und sich 1 [310]
an ihre Stelle setzte. Es konnte nicht anders sein, als daß dadurch
auch eine Verschiebung des sittlichen Gefühls entstehen mußte, nicht nur
der moralischen Anschauungen; auch die feine und sichere Empfindung
für den innerlich notwendigen, unabwendbar ernsten und ewigen Gesetzen
folgenden Gang der menschlichen Dinge, die Schicksalsempfindung,
mußte abgeschwächt und verfälscht werden. An ihre Stelle tritt Abhängigkeit
von einem konventionell schematisierten Gefühlscodex. Daher
ist diese gesamte Dichtung mit allen ihren spätesten Ausläufern in den
französischen, italienischen und spanischen Ritter- und Schäferromanen,
völlig untragisch. Sie wird je länger je mehr abenteuerlich und
mystisch überspannt, affektiert und von Grund aus unwahr oder geradezu
frivol. Es ist schon oben darauf hingewiesen, wie selbst in der Blütezeit
auch bei den Besten sich merkwürdige Beispiele solcher sittlichen Jndifferenz
finden; so wenn, ganz abgesehen von den zahlreichen Ungeheuerlichkeiten
derart bei Meister Gottfried, in Wolframs Parcival die Bigamie
Gamurets so gut wie gar keinen Anstoß erregt und ganz ohne tragische
Konsequenzen bleibt, denn sein früher Tod wird keineswegs von dorther
motiviert.

Die abgeschmackte Phantastik, Hohlheit und Haltlosigkeit dieser
Poesie erreichte mit dem Ausgange des Mittelalters ihren Gipfel, und
hier setzte des Cervantes geniale Satire ein. Schon lange vor ihm aber
hatte eine neue Entwickelung auf dem Gebiete der epischen Poesie selbst
begonnen. Wenn die Willkür der Phantasie, die in den Ritterromanen
alle Gesetze des Lebens und der Natur durcheinander wirrte, zur Roheit
und zum Unsinn geführt hatte, so war es ein Anderes, wenn diese
Willkür und der Jndifferentismus gegen die Strenge der tragischen
Schicksalskonsequenz mit freiem und klarem Bewußtsein zum Princip
der Komposition gemacht wurden. Ein Epos nach dem strengen Begriff
der Gattung kann freilich so nicht entstehen, da die Einheit im besten
Falle eine lediglich äußerliche sein wird; wohl aber hat die Anmut eines
reichen Geistes hier das weiteste Feld, um in freiem Spiele sich zu entfalten,
„im blühenden Gewand der Fabel Erfahrung und Verstand und
Geisteskraft, Geschmack und reinen Sinn fürs wahre Gute“ gleichsam
„persönlich“ vorzuführen:


Der Quell des Überflusses rauscht darneben

Und läßt uns bunte Wunderfische sehn;

Von seltenem Geflügel ist die Luft,

Von fremden Herden Wies' und Busch erfüllt;

Die Schalkheit lauscht im Grünen halb versteckt,

Die Weisheit läßt von einer goldnen Wolke
[311]
Von Zeit zu Zeit erhabne Sprüche tönen,

Jndes auf wohlgestimmter Laute wild

Der Wahnsinn hin und her zu wühlen scheint

Und doch im schönsten Takt sich mäßig hält.

An dem Ariostischen Epos zeigt sich deutlich die nahe und innerlich
notwendige Verwandtschaft, in der die romantische Epopöe zu
der komischen steht, sofern nur der Dichter nicht selbst im Banne des
romantischen Ethos sich befindet, sondern mit überlegener Freiheit es
als seinen Stoff verwendet. Was beide so nahe zusammen bringt, ist
der Umstand, daß, was dort latent mit unterläuft, starke Hamartie,
fehlerhaftes Ethos und Pathos und dem entsprechendes Handeln ohne
tragische Konsequenzen, der eigentliche Gegenstand der
komischen Poesie ist, sobald es mit Bewußtsein als solches
dargestellt wird.
Die moderne Dichtung hat daher auch nur dann
mit glücklichem Erfolg auf die Romantik zurückgegriffen, wenn sie dieselbe
ironisch und mit komischer Färbung behandelte, während alle Versuche,
sie ernsthaft wieder zur Geltung zu bringen, zu Verwirrungen geführt
haben. Das ist der Sinn des Goetheschen Spruches: „Klassisch
ist das Gesunde, romantisch das Kranke.
2

Es ist daher wohl kaum als ein Zufall zu betrachten, daß gerade
in der Zeit, als die epische Poesie, von allem Zusammenhange mit dem
Leben abgetrennt, völlig der geschilderten Entartung verfiel, sich das
einzige konische Epos großen Stiles, das wir besitzen, zu voller Reife
ausgestaltete. Der Stoff freilich ist uralt, wie bei jedem Volksepos,
und er hatte lange Zeit gebraucht, um sich für diese endgiltige Gestaltung
vorzubilden; aber daß dieselbe gerade in jener Zeit, am Ausgange
des fünfzehnten Jahrhunderts, erfolgte, erscheint wie das Ergebnis einer
logischen Notwendigkeit, ebenso, daß ihr Schauplatz der niederländische
Boden war.

Es liegt in der menschlichen Natur begründet, daß wie „jedes
ausgesprochene Wort den Gegensinn erregt“,3 so eine jede Erscheinung
die Vorstellung ihres Gegenbildes erweckt; daher sind von je an neben
den Darstellungen, in denen die Bewunderung großer Kraft und gewaltigen
Thuns mit der Furcht und dem Mitleid bei ihrem durch Jrrtum
und Fehl herbeigeführten Sturz zur Geltung kam, auch diejenigen
hergegangen, die vielmehr jene Jrrtümer und Fehler selbst zu ihrem [312]
Gegenstande machten und damit entweder das Große und Gewaltige
von seiner lächerlichen Seite zeigten oder geradezu das Gegenteil der
geläuterten Furcht- und Mitleidsempfindungen hervorzurufen suchten:
die Freude an der bloßen Lächerlichkeit des fehlerhaften Handelns mit
gänzlichem Ausschluß aller tragischen Schicksalsvorstellungen. Nur der
Gesichtspunkt des Fehlerhaften an und für sich und seines Kontrastes
ist hier maßgebend, des Zweckmäßigen und Zweckwidrigen im Handeln,
des Thörichten und Klugen, des Dummen und Listigen, des Gewandten
und Plumpen, des Ubertriebenen, Verkehrten, Verzerrten und des Maßvollen,
Gesunden, Normalen; von dieser Seite gesehen, aber eben nur
von dieser einen Seite,
auch des Guten und Bösen, Gerechten
und Ungerechten, Niedrigen und Edlen. Verbannt ist nicht nur der
Maßstab der moralischen Beurteilung, sondern auch jenes mächtige,
rein ästhetische Begehren, welches auf Befriedigung des Gerechtigkeitsgefühles,
Ausgleich der sittlichen Gewalten nach ewigen Gesetzen gestellt
ist, wird geflissentlich außer acht gelassen: an seine Stelle tritt die
bloße Empfindung des Lächerlichen an der fehlerhaften Erscheinung
als solcher und die bloße Freude an der Erscheinung
ihres Gegenteils, beide sich gegenseitig zur Reinheit
herstellend.
Während daher die tragische Darstellung, wenn sie den
wahren Gesetzen ihrer Gattung folgt, sehr leicht den Anschein gewinnt,
als ob sie die Dinge so vorführt, wie sie sein sollten, idealistisch,
wie man es zu nennen pflegt, so erweckt die komische Darstellung umgekehrt
den Schein der Vorführung der Dinge wie sie sind, der sogenannten
realistischen Nachahmung der Wirklichkeit; das Eine wie
das Andere ist in der Gesetzgebung der beiden Kunstgattungen gleich
unbegründet. Beide wählen die Mittel, deren sie sich zu ihren Nachahmungen
bedienen, nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit,
die in der Welt der wirklichen Dinge herrschend sind; hierin
sind sie sich vollkommen gleich, denn auch, wenn sie die Geltung dieser
Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit von gewissen, mehr oder minder
willkürlich aufgestellten Voraussetzungen abhängig machen, so kann das
in der einen Gattung eben so wohl geschehen, wie in der andern. Verschieden
sind sie nur in der Art der Verwendung dieser Mittel, die
ganz und gar durch den eine jede dieser Gattungen konstituierenden
Nachahmungszweck bestimmt wird. Diese Verwendung nun
bringt es mit sich, daß diejenige Wahrheit, welche in der tragischen
Gattung zu Tage tritt, in höherem Grade den Eindruck eines Gesetzes
hervorruft, wie die Dinge verlaufen sollen, obwohl sie in der That
nur der Wirklichkeit entnommen ist. Der Grund davon liegt in dem [313]
Umstande, daß in der Wirklichkeit nur höchst selten diese Wahrheit sich
so dem Auge zeigt,
vielmehr durch tausend Verhältnisse von Zeit,
Ort, Jnteressen aller Art der Erkenntnis entzogen wird; deshalb finden
die echt tragischen Empfindungen nicht leicht ihre Analogie in den
unmittelbaren Erfahrungen der Wirklichkeit. Dagegen sind diese Analogien
für die Empfindungsurteile über das Lächerliche so zahlreich
und naheliegend, daß die sie hervorrufende Darstellung der Wirklichkeit
entnommen scheint, auch wenn sie, wie alle echt komische Kunst es erfordert,
auf einer ebenso streng nur durch die aus dem Nachahmungszweck
sich ergebenden Gesetze diktierten Verwendung ihrer Mittel beruht,
wie es bei der tragischen Kunst der Fall ist.

Daß schon das homerische Epos sein komisches Gegenbild gehabt
hat, bezeugt uns Aristoteles durch die Erwähnung des Margites, von
welchem wir leider nichts Näheres wissen; gemeinsam aber hat das
griechische Altertum mit unserem deutschen Mittelalter die Verwendung
der Tierfabel für diesen Zweck. Es ist schon oben hervorgehoben, wie
äußerst günstig die Gestaltungen der Tiersage sich den Zwecken der
komischen Dichtung fügen, da durch die Analogien mit menschlichem
Ethos und Pathos im Tiercharakter und mit menschlichem Handeln im
tierischen Gebahren das Tierepos in so hohem Grade geeignet ist, Fehlerhaftigkeit
in allen diesen drei Bereichen darzustellen, und da, was die
zweite Hauptforderung des komischen Epos ist, die Rücksicht auf sittliche
Verantwortlichkeit und tragische Schicksalskonsequenz hier von selbst fortfällt.

So ging neben der Heldensage die Tiersage, und neben dem ritterlichen
romantischen Epos begann sich das Tierepos zu formieren. Seine
rechte Zeit aber kam mit dem Dahinsinken der Zustände, denen jenes
seine Blüte verdankt hatte. Die Entartung und Auflösung der ritterlichen
Gesellschaft, der Verfall der feudalen Monarchie und die Verderbnis
der Hierarchie, die von dem aufstrebenden Bürgertum mit Hohn
und Haß begleitet wurden und das Leben mit erbittertem Kampfe erfüllten,
gaben einem echt dichterischen Geiste den Anstoß zu einem der
gelungensten Gebilde der epischen Poesie: indem er mit weiser künstlerischer
Beschränkung sich völlig dem epischen Zuge der Sage hingab
und seine Darstellung einzig von dem Einheitskerne der erwählten Handlung
bestimmen ließ, gestaltete sich ihm die Erzählung von den Thaten,
Bedrängnissen und dem schließlichen Triumphe des verschlagenen und
gewissenlosen Reineke auf dem Hintergrunde der ebenso gewaltthätigen
als schwachen Despotie König Nobels und des rohen und plumpen
Treibens seiner raubgierigen Vasallen, unter schmiegsam bereitwilliger
Assistenz der geistlichen Würdenträger und Bediensteten, zu einem Kunst= [314]
werk von der höchsten, rein komischen Wirkung. Keine von außen
hereingetragene Tendenz stört den Gang der unbefangen und einheitlich
sich entwickelnden Handlung, nirgends unterbricht die Satire das epische
Jnteresse und läßt an die Stelle der ungetrübten Freude an den sich
abspielenden Dingen und ihrer reinen Komik die Bitterkeit und Gehässigkeit
oder das ernste, schwere Ethos der Parteikämpfe treten. Und
gerade durch diese strenge Einschränkung in die Welt der tierischen Jnstinkte,
wie die Sage sie von seiten ihrer Ähnlichkeit mit menschlichem
Fühlen, Denken und Handeln erfaßt hat, löst der Dichter im vollen
Umfange die Aufgabe der komischen Poesie: das Lächerliche darzustellen
─ das ἁμάρτημα οὐ φθαρτικόν und αἶσχος οὐκ ὀδυνηρόν ─ und
die reine Freude daran zu erregen, sowohl die indirekte am Lächerlichen
selbst als das direkte Wohlgefallen an der Vorführung seines Widerspieles.
Denn auch an dieser positiven Seite fehlt es dem Epos vom
Reineke Fuchs“ keineswegs; wie viele solcher positiven Züge, an
denen man seine helle Freude hat, liefert eben jene treu an die Sage
sich anschließende Schilderung von den mannigfachen Äußerungen der
tierischen Jnstinkte! Es sind nicht nur die Erscheinungen virtuoser
Leistungen von Kraft, Mut, List, Gewandtheit, Beharrlichkeit, die so
wirken, sondern auch eine große Zahl von Vorgängen, welche in diesem
von der Vorstellung sittlicher Gesetze so gänzlich unberührten Leben
gerade in ihrer offenen Verbindung mit dem naiven Egoismus um so
wohlthuender anmuten, als sie doch auch von den unmittelbaren Regungen
der Familienliebe, verwandtschaftlicher Treue, kameradschaftlicher Hilfsbereitschaft
Kunde geben. Die ganze Fülle der Erscheinungen des Lebens
und des Ganges der Dinge in einer Zeit, wo Gewalt und List die
Herrschaft haben, führt diese „unheilige Weltbibel“ dem Empfindungsurteil
vor, überall ihm die unzweifelhafte Entscheidung nach der Seite
des Lächerlichen und des Wohlgefälligen bietend, und indem so Lachen
und Freude, Behagen und Heiterkeit in allen ihren Gradationen abwechselnd
das Gemüt bewegen, bewirken sie eine Klärung, die an Kraft
und Bedeutsamkeit der tragischen Katharsis nicht nachsteht, vielmehr,
in ihrer vollen Tiefe erfaßt, als notwendige Ergänzung dieser zur
Seite tritt.

Nach alledem wäre die Definition des komischen Epos die folgende:

Das komische Epos ist die vermittelst der Erzählung erfolgende
Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen,
das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche
Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die
Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlthätigen hervor=
[315]
ruft, die wechselseitige Herstellung beider zur reinen Wirkung
ermöglicht.

Es geht aus dieser Definition hervor, daß selbst diejenigen komischen
Epen, welche eine räumlich ausgedehnte, weit verzweigte Handlung erzählen,
nicht dasjenige enthalten werden, was bei dem heroisch=tragischen
Epos den Begriff der Größe ausmacht: jene Zustände und Verwickelungen,
die eine relativ bedeutende Wichtigkeit für das Ganze haben,
können nicht als fehlerhaft oder verkehrt dargestellt werden, ohne daß
schmerzliche und verderbliche Folgen sich einstellen. Eben darin liegt
der Grund, warum das komische Epos großen Stiles sich der Analogie
des tierischen Treibens mit dem menschlichen Handeln für seinen
Zweck bedient hat, und warum die Versuche, diesen Zweck direkt durch
die Darstellung menschlicher Vorgänge zu erreichen, bei dem Bestreben
jene Klippe zu vermeiden immer ins Kleinliche gefallen sind: ein durch
nichts auszugleichender, die poetische Wirkung an der Wurzel verderbender
Fehler, den man vergeblich durch die Aufwendung des aus dem heroischen
Epos übernommenen, mythologischen und allegorischen Apparates zu
verdecken suchte. Man gelangte damit bestenfalls zur Parodie, deren
komische Kraft einzig in der Verwendung der großen Formen für den
kleinlichen Jnhalt beruht. Neuerdings hat man, um beide Gefahren zu
vermeiden, weder ernst und tragisch zu werden, noch an Nichtigkeiten
die poetische Kraft zu verschwenden, mit Vorliebe den Ausweg eingeschlagen,
den Stoff der Handlung in eine halb romantische oder halb
märchenhafte Phantasiewelt zu verlegen, welche menschlich interessierenden
Vorgängen reichlichen Raum gibt, und doch ihren Ernst durch die Willkürlichkeit
der gewählten Voraussetzungen mildert. Es können die anmutigen
Gebilde der Phantasie hier so gestaltet werden, daß doch
allenthalben die einfache und tiefe menschliche Wahrheit hindurchleuchtet.
Höchst liebenswürdige und an poetischen Schönheiten reiche Schöpfungen
sind auf diese Weise entstanden; es genügt an die Namen V. Scheffels,
J. Wolffs, R. Baumbachs zu erinnern. Aber jene poetische Wirkung,
welche in der Verbindung einfacher und voller gegenständlicher Wahrheit
mit idealer Allgemeingültigkeit beruht, wie sie für das Jdyll in Goethes
„Hermann und Dorothea“ ─ welches doch in seinen komisch gefärbten
Partien den Weg zeigt ─ vorbildlich dasteht, ist für das komische Epos
noch niemals erreicht worden. Jn der breiteren und bequemeren
Form des prosaischen Romans ist auch für dieses Gebiet eine große
Zahl mustergiltiger Schöpfungen vorhanden; aber der Prosaroman ist
viel zu fest an die Detaildarstellung gebunden, als daß er jemals sich
ganz zu der Höhe des Epos erheben könnte, wo ─ das Kennzeichen [316]
aller echten Poesie ─ die Darstellung des Besondern in lebendigster
Gegenwärtigkeit zugleich mit der Wirklichkeit wetteifert und doch überall
das Allgemeine in sich schließt, so daß „wer jenes lebendig erfaßt,
zugleich auch dieses erhält, selbst ohne es gewahr zu werden.“1 Das
geschieht, indem die Poesie ebensowohl durch ihre Form als durch ihren
Jnhalt überall von den Dingen das für die menschliche Seele Bedeutsamste
und Ergreifendste in der prägnantesten Weise nachahmend zum
Ausdruck bringt, und es von seiten seiner entschiedensten und reinsten
Wirkung auf die Empfindungen, Gemütszustände und Entschließungen
darstellt: somit diese Wirkungen, wie sie im Leben wohl auch in manchen
Fällen, jedoch selbst da zerstückt und mannigfach durchkreuzt erfahren
werden, durch die Kunst nachahmt, in vollem und reinem Accord
hervorbringend, was in der Wirklichkeit vielstimmig und mißtönend
durcheinander klingt.

Aber die Hindernisse, welche der Entwickelung des komischen Epos
entgegenstehen, konnten ihrer Natur nach nicht im Wege sein, wo es
die Darstellung einer einzelnen komischen Handlung galt: das ist die
Aufgabe der komischen Erzählung, des Schwankes. Es ist schon
oben hervorgehoben worden, wie diese Gattung sich auf ihrer Höhe nur
so lange hält, als sie ihrem Wesen getreu bleibt, welches in der Reinheit
des epischen Tones
beruht, in der Erzählung um ihrer
selbst willen.
Andererseits aber ist es leicht zu ersehen, wie es geschieht,
daß selbst da ihr eine gewisse Verwandtschaft mit der Moral
und Lehre natürlich ist, die es gestattet, daß ganz unbeschadet jener
epischen Reinheit der Erzählung ihr sogar eine kurze Formulierung
solcher Moral oder Lehre hinzugefügt werden kann. Es geschieht damit
weiter nichts, als daß der lebhaften Empfindung des positiven Widerspieles
der dargestellten Fehlerhaftigkeit, der wohlgefällig empfundenen
„Realität“ gegenüber dem mit Behagen wahrgenommenen Lächerlichen,
nun zu einem kernigen Ausdruck verholfen wird, wodurch sie desto klarer
ins Bewußtsein tritt. So hat Hans Sachs die komische Erzählung
behandelt, und so hat, lebhaft durch ihn angeregt, es Goethe gethan.
Aus seinem herrlichen Gedicht von „Hans Sachsens poetischer
Sendung
“ läßt sich die ganze Theorie der Gattung ableiten.

Wie schön und treffend, daß vor Allem die positive Seite in
der poetischen Begabung des für diese Gattung „gesandten“ Dichters
hervorgehoben wird, recht im Gegensatze zu denjenigen, welche seinen [317]
Beruf nur in dem scharfen Auge für das Fehlerhafte und in der Fähigkeit
es zu zeigen, also nur im Witze, erkennen:


Er hätt' ein Auge treu und klug

Und wär auch liebevoll genug,

Zu schauen manches klar und rein,

Und wieder alles zu machen sein;

Hätt' auch eine Zunge, die sich ergoß

Und leicht und fein in Worte floß;

Des thäten die Musen sich erfreun,

Wollten ihn zum Meistersänger weihn.

Dazu tritt nun die Gesinnungsweise, die hier erfordert wird, das
rechte Ethos, das den Grund dieser Darstellungsweise bilden muß.
Kann es einen kräftigeren und edleren Gegensatz geben, als die Verkörperung,
die Goethe diesem Ethos leiht, gegenüber der äußerlich
glänzenden, innerlich morschen Frivolität, die so oft und immer wieder
unter lautem Beifall sich an seine Stelle setzt?


Da tritt herein ein junges Weib,

Mit voller Brust und rundem Leib;

Kräftig sie auf den Füßen steht,

Grad, edel vor sich hin sie geht,

Ohne mit Schlepp und Steiß zu schwenzen,

Oder mit den Augen herum zu scharlenzen.

Sie trägt einen Maßstab in ihrer Hand,

Jhr Gürtel ist ein gülden Band,

Hätt' auf dem Haupt einen Kornähr-Kranz,

Jhr Auge war lichten Tages Glanz;

Man nennt sie thätig Ehrbarkeit,

Sonst auch Großmut, Rechtfertigkeit.

Und nun die unübertreffliche Schilderung, wie solche Begabung und
Gesinnungsweise die Ausrüstung für die echte komische Dichtung bildet,
in der Einweihung des Dichters durch diese Führerin zu seiner Bestimmung:



Die spricht: Jch habe dich auserlesen,

Vor vielen in diesem Weltwirrwesen,

Daß du sollst haben klare Sinnen,

Nichts Ungeschicklichs magst beginnen.

Wenn andre durcheinander rennen,

Sollst du's mit treuem Blick erkennen;

Wenn andre bärmlich sich beklagen,

Sollst schwankweis deine Sach' fürtragen;

Sollst halten über Ehr' und Recht,

Jn allem Ding sein schlicht und schlecht,
[318]
Frummkeit und Tugend bieder preisen,

Das Böse mit seinem Namen heißen.

Nichts verlindert und nichts verwitzelt,

Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt;

Sondern die Welt soll vor dir stehn,

Wie Albrecht Dürer sie hat gesehn,

Jhr festes Leben und Männlichkeit,

Jhre innere Kraft und Ständigkeit.

Der Natur Genius an der Hand

Soll dich führen durch alle Land,

Soll dir zeigen alles Leben,

Der Menschen wunderliches Weben,

Jhr Wirren, Suchen, Stoßen und Treiben,

Schieben, Reißen, Drängen und Reiben,

Wie kunterbunt die Wirtschaft tollert,

Der Ameishauf durcheinander kollert;

Mag dir aber bei Allem geschehn,

Als thätst in einen Zauberkasten sehn.

Schreib das dem Menschenvolk auf Erden,

Ob's ihm möcht eine Witzung werden.

Hier ist Alles enthalten, was zur Definition der komischen Dichtung
gehört: ihr Gegenstand sind die zahllosen Verkehrtheiten ─ Hamartemata
und Deformitäten ─ des menschlichen Lebens und Treibens,
aber nicht direkt aus der Wirklichkeit entnommen, sondern in ihrer
typischen Allgemeinheit erfaßt, ohne Haß und Zorn, ohne Tendenz und
Tagesinteresse ─ „Mag dir aber bei Allem geschehen, als thätst in einen
Zauberkasten sehen“ ─ dargestellt, also in der idealen Ferne der echt
dichterischen Betrachtung; das Erste und Wesentlichste nun aber, wodurch
alle komische Kunst bestimmt wird ─ und darum hier von dem Dichter
auf das Kräftigste und Deutlichste in den Vordergrund gestellt ─, ist
das „klare und treue Auge“, der feste und gesunde Sinn, das unbestechlich
und rein die Dinge erfassende Empfindungsurteil,

welches, die Darstellung mit dem Ethos und Pathos ihres Urhebers erfüllend,
dieselben auch nachahmend bei dem Hörer erzeugt, zugleich
direkt und indirekt, durch die erweckten Empfindungen des
Lächerlichen und Wohlgefälligen.

Denn über all dem unendlichen Schwall, der von allen Seiten
als sein Material sich ihm zudrängt, der Historia, Mythologia, Fabula,
„weltlich Tugend und Laster Geschicht“, den „Bocks- und Affensprüngen“
und den „lustigen Zwischenspielen“ des Narren, steigt nun zu dem
Dichter „auf einer Wolke Saum“ die „heilige“ Muse herab: „Die umgibt
ihn mit ihrer Klarheit Jmmer kräftig wirkender Wahrheit“, und [319]
ihr weihender Segen läßt „das heilige Feuer, das in ihm ruht, zu
hoher, lichter Glut“ emporschlagen.

So hat denn auch Hans Sachs in dieser vertraulichen Form,
trotz ihrer Derbheit und scheinbaren Niedrigkeit die höchsten Dinge zu
behandeln verstanden, und Goethe, der ihn so glücklich nachahmt, wählte
sie mit Vorliebe, um in der Sache, die ihm die nächste am Herzen und
die höchste war, in der Sache der Kunst, seinen Sinn und seine Meinung
kund zu geben. Ebenso hat, worauf schon oben hingewiesen wurde,
die Legende in dem Gewande der komischen Erzählung sich auf das
Glücklichste dargestellt, während für ihre ernsthafte Gestaltung, sofern sie
ihre Gegenstände in mystisch=gläubigem Sinne und mit religiöser Tendenz
behandelt, in der Poesie kein Raum vorhanden zu sein scheint. Dagegen
benutzt die komisch gefärbte Legende die religiöse Vorstellungsweise mit
ihren Wundern und allem Zubehör, um menschliche Schwäche, als solche
gefaßt und dargestellt, vor dem Empfindungsurteil klar zu stellen, ohne
daß das Lächerliche die damit zugleich erweckte positive Empfindung an
Klarheit und Kraft schädigen könnte, die mitunter sogar dabei in überraschender
Tiefe sich geltend macht. Es genügt an solche Musterstücke
der Gattung zu erinnern wie Hans Sachsens „Sct. Peter mit der Geis“
und „Die ungleichen Kinder Evä“, und an Goethes „Legende vom
Hufeisen“.

Gedichte wie diese thun ihre erfreuliche Wirkung eben dadurch,
daß in ihnen die Gattung rein erhalten ist; wie überall so gibt es
auch auf dem Felde der komischen poetischen Erzählung nicht
vieles derart. Vielleicht für keine Dichtungsart war Bürgers Talent
so glücklich disponiert wie für diese, und seine große Beliebtheit dankt
er vorzüglich den ihm am besten gelungenen komischen Erzählungen, von
welchen vor allen andern „Der Kaiser und der Abt“ als ein Musterstück
der Gattung bezeichnet werden kann. Es zeigt sich auch hier, daß
die komische Poesie ganz ebenso die höchsten Anforderungen an den
Dichter stellt wie die tragische. So unscheinbar vielleicht gerade diese
Gattung der komischen poetischen Erzählung vielen Beurteilern vorkommen
mag, so ist, bei den auf allen Seiten sie umgebenden Gefahren
der Ausartung, sie rein darzustellen, die Sache nur eines sehr bedeutenden
Dichters. Bei Bürger selbst wird die heitere Freude an dem
Dargestellten allzu oft getrübt, wenn nicht ganz aufgehoben, durch das
Parodische und Triviale, ja zuweilen Niedrige und Gemeine, welches
diesem Genre so leicht sich zugesellt, bei den Einen um es als das wohlfeilste
Mittel zum Ersatz für die mangelnde wahrhaft komische Wirkung
zu verwenden, bei den Andern um einer angeblich satirischen Tendenz [320]
damit zu dienen. Jst nun die entschieden satirische Tendenz, so gut
wie die lehrhafte Absicht, an sich dem reinen Charakter der poetischen Erzählung,
auch der komischen, widersprechend, so werden andererseits die
Mittel des niedrig Parodischen, Trivialen, Vulgären durch satirische
Verwendung selbst bei der an sich besten Absicht noch keineswegs etwas
Anderes als sie an sich sind, noch keineswegs der poetischen Verwendung
fähig; als ein abschreckendes Beispiel der Art wäre Schillers Jugendgedicht
Der Venuswagen“ zu nennen, welches, wie noch andere Gedichte
in Schillers „Anthologie“, deutliche Spuren einer ziemlich starken
Beeinflussung durch Bürgersche Ausdrucks- und Darstellungsweise zeigt:
vielleicht ein Grund mehr dafür, daß Schiller zehn Jahre später sich mit
um so entschiedenerer Verurteilung gegen Fehler wandte, die er einst
selbst bis zu einem gewissen Grade mitzumachen sich hatte verleiten lassen.

Es wird ferner nicht leicht sein, sich immer der Grenzlinie genau
bewußt zu sein, welche das Gebiet, wo die poetische Erzählung einer
komischen Handlung als solcher der Zweck ist, von demjenigen scheidet,
wo sie als Mittel der Satire oder didaktischer, moralischer oder verwandter
Tendenzen geradezu oder in allegorischer, symbolischer, parabolischer
Weise angewendet ist. So hat sie Berührungen mit dem
Gleichnis, der Parabel, und, sofern man die Fabel als eine lehrhafte
Dichtung zu behandeln gewohnt war, auch mit dieser, endlich mit
dem ganzen Gebiet der satirischen Dichtung. Goethe hat der „Legende“
vom Hufeisen zwar auch, in der Manier Hans Sachsens, eine Nutzanwendung
beigegeben, aber es wird Niemanden zweifelhaft sein, daß
darin das epische Element in höherem Grade vorwaltet, die Handlung
mehr um ihrer selbst willen erzählt ist, als in Gedichten wie „Dilettant
und Kritiker“, „Der Meister einer ländlichen Schule“, „Kenner und
Enthusiast“ und verwandten, wo zwar auch Handlungen erzählt werden,
aber doch so, daß sie parabolisch als Mittel zur Jdeendarstellung verwandt
sind.

Jn allen Zeiten und Litteraturen ist die wahrhaft wohl gelungene,
das heißt also rein epische „poetische Erzählung“ eine sehr seltene Erscheinung;
bei den deutschen Dichtern des sechzehnten Jahrhunderts ist
sie, abgesehen von den besten Dichtungen des Hans Sachs, nicht vertreten.
Fischart besaß die Gabe der Erzählung in hohem Grade, allein
sie kommt nur gelegentlich und vorübergehend bei ihm zur Geltung;
herrschend ist in seinen Kompositionen die Satire, welche Anlage so wie
Durchführung bestimmt, und leicht gesellt sich ihr die Lehrhaftigkeit hinzu.
Sinn und Verständnis für die künstlerische Form als solche fehlen ihm
ebenso wie die unmittelbare Hingabe an das reine Jnteresse der zu [321]
erzählenden Handlung, das bei aller Kunstlosigkeit der Darstellung so
zahlreichen „Schwänken“ des Hans Sachs ihren Reiz verleiht. Durchweg
finden wir bei den übrigen sogenannten epischen Dichtern des sechzehnten
Jahrhunderts das didaktische und satirische Element im Übergewicht
über das epische; in die sonst nicht ohne Frische vorgetragenen poetischen
Fabelerzählungen des Erasmus Alberus und Burkhard Waldis
drängt es sich ein und erdrückt bei Rollenhagen die Handlung fast
gänzlich. Mehr und mehr verschwindet die poetische Erzählung aus der
Litteratur, und an ihre Stelle tritt die Prosa; es handelt sich weiterhin
lediglich um die Überlieferung des Stoffes der interessierenden Handlung,
wobei ein Rest von künstlerischer Behandlung freilich immer noch
insoweit in Betracht kommt, als der Erzähler, je nach dem Standpunkte,
den er sich erwählt, seinen Vortrag auf Erreichung einer komischen,
strafenden, ermahnenden oder lehrhaften Wirkung zuspitzt. Jn diesem
lediglich stofflichen Sinne kann man alle die zahllosen Überlieferungen
solcher Art, welche allerlei seltsame und unerhörte, überraschende
und neue, immer aber unterhaltende Mitteilungen zu verbreiten
sich zur Aufgabe stellten, unter dem romanischen Namen „Novellen
zusammenfassen, wenn auch das veredelte Kunsterzeugnis, welches wir
unter diesem Namen verstehen, in Deutschland erst der neuen Zeit
angehört.

Jn jenem allgemeinen Sinne des Begriffes der Novelle hebt
Wilhelm Scherer in seiner „Deutschen Litteraturgeschichte“ (vgl.
S. 225 ff.) mit Recht den uralten historischen Zusammenhang derselben
mit der Fabel, Parabel, der satirischen und didaktischen Dichtung hervor:
„Die Lehrdichtung ist auf das Jnnigste mit der Satire und mit der
Novelle verwandt. Lehrgedicht und Satire haben sich von der Predigt
abgezweigt: die strafende Satire bewegte sich in den Formen der Bußpredigt;
in reine Lehrgedichte wurden satirische Charakterbilder eingeschaltet.
Die Fabel ist an sich lehrhaft und episch zugleich; zur Tierfabel
gesellt sich die Menschenfabel, und diese geht unmerklich in die
ernste Novelle oder in den Schwank über. Satire pflegt die Schule
für drastisch=realistische Darstellung zu sein, und dem Drastischen liegt
das Komische nahe. Schwank und komische Satire aber beherrschen die
weitesten Kreise: da jedermann gerne lacht, so ist das Lächerliche immer
volkstümlich.“

„Die Fabeln, Novellen und Schwänke waren in der Pflege der
Spielleute während des zehnten und elften Jahrhunderts, und diese
Kleindichtung bestand gewiß fort, als sich gegen 1100 die edleren und
größeren Gattungen mehr in den Vordergrund der Litteratur drängten. [322]
Für die Fabel brach die antike Tradition nie ganz ab. Die Novelle
war von jeher international, sie war es im zehnten und elften Jahrhundert
insbesondere durch die lateinische Poesie, die über ganz Europa
Macht hatte. Jm zwölften und dreizehnten Jahrhundert erhielt sie
einen starken Zufluß an neuem Stoff aus orientalischen Quellen, wobei
gerade wie bei den Schriften des Aristoteles und der arabischen Philosophie,
spanische und italienische Juden die Vermittelung übernahmen:
indische Erzählungen, die einst ins Persische und daraus ins Arabische
übertragen worden waren, gingen jetzt ins Hebräische und Lateinische
und daraus in die Landessprache über.“

Bayern und Oesterreich sind die „klassischen Länder der Satire, der
Novelle und des Schwankes“. Jn Oesterreich ist Stricker der bedeutendste
unter den deutschen Novellisten des Mittelalters. Die Novelle,
wie er sie behandelt, steht mit der Fabel und Parabel auf einer Linie
und fällt, nach der mittelalterlichen Bezeichnung, in die Gattung des
‚Beispells‘: das ist ein ‚Spell‘, eine Erzählung, mit einem Nebensinn;
woher unser ‚Beispiel‘ kommt: auch jene Erzählungen geben einen einzelnen
Fall, der viele ähnliche vertritt. Stricker hängt seinen Erzählungen
nicht immer, aber meistens eine Moral an, die oft sehr breit wird und
äußerlich jedes vernünftige Maß überschreitet. Er zeigt sich dabei
„streng geistlich und religiös“, was ihn nicht hindert, in seinem „Pfaffen
Amis“ die Geschichte eines geistlichen Schwindlers zu schreiben.

Mehr und mehr tritt schon im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts
und dann weiterhin diese satirische Novellistik in einen bebewußten
Gegensatz gegen die herrschenden Stände; sie schildert den
Verfall des höfischen Lebens, verspottet Adel und Geistlichkeit und entwirft
zugleich ein Bild von den Sitten der bürgerlichen und bäuerlichen
Kreise, von ihren guten und schlimmen Seiten, Tüchtigkeit und
Leichtfertigkeit.

„Die Novellenlitteratur ist nicht zu erschöpfen. Jn ganz Mittel=
und Süddeutschland kommt sie während des dreizehnten Jahrhunderts
in Gang: mit mehr oder weniger Talent, mit mehr oder weniger Erzählungskunst
behandeln die Dichter ihre Stoffe; die angehängte Moral
hat sich bald verloren. Treue und Untreue ist auch hier das große
Thema. Nicht bloß Scherz, Frivolität und Roheit treiben darin ihr
Spiel; auch edle Aufopferung und reine Gesinnung werden gefeiert.“

Jm Anschluß daran heißt es an einer späteren Stelle bei Scherer
(vgl. S. 297 ff.): „Wie im dreizehnten Jahrhundert Fabel und Novelle
unmerklich in einander übergehen und beide mit einer Moral versehen
werden, so ist es auch noch im sechzehnten Jahrhundert. Bei Hans [323]
Sachs fallen die beiden Dichtungsgattungen so gut zusammen, wie ehemals
bei Stricker. Und wie die Moral oft in ein Sprichwort ausläuft,
so kann jetzt auch umgekehrt das Sprichwort an die Spitze gestellt und
durch Fabeln und kleine Geschichten erläutert werden. Das ist die
Form, in welcher das sechzehnte Jahrhundert Lehrgedichte wie Freidanks
Bescheidenheit fortsetzt: allerlei didaktischer, anekdotischer, novellistischer
Stoff, Scherz und Ernst, Poesie und Prosa in buntem Wechsel an dem
Faden von Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten, auch wohl
selbstgemachten Sentenzen aufgereiht.“ ─ Solche Sammlungen machten
Johann Agricola von Eisleben und Sebastian Franck.

„Jndessen hatte sich die Unterhaltungslitteratur in Prosa längst
auf eigene Füße gestellt. Die mittelalterliche Masse von kleinen Erzählungen,
wie sie in den Predigten als Beispiele gebraucht worden
waren, sammelte Johannes Pauli in seinem Buche ‚Schimpf und
Ernst‘, das 1522 erschien. Und die lateinischen, großenteils sehr unanständigen
Schwänke der Humanisten, eines Poggio, eines Bebel wurden die
Grundlage späterer deutscher Sammlungen, die aber auch aus mündlicher
Erzählung, aus Boccaccio und andern Quellen schöpften. Jn den Jahren
1555 bis 1563 traten nicht weniger als acht solcher Sammlungen mit
lockenden Titeln hervor: Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘, Freys ‚Gartengesellschaft‘,
Montanus ‚Wegkürzer‘ und ‚ander Theil der Gartengesellschaft‘,
Lindeners ‚Katzipori‘ und ‚Rastbüchlein‘, Schumanns ‚Nachtbüchlein‘,
Kirchhofs ‚Wendunmuth‘.“

Eine ganz analoge Entwickelung wie die hier geschilderte vollzog
sich im dreizehnten Jahrhundert in Frankreich; nur mit dem höchst bedeutenden
Unterschiede, daß die altfranzösische Heiterkeit und Lust am
Fabulieren hier von früh an den Körper der Erzählung zum Hauptgegenstande
machte und ihn mit Glanz und Anmut zu schmücken wußte.
Wie die deutschen „Schwänke“ geben die französischen „Fabliaux“ ein
getreues Bild des bürgerlichen Lebens der Epoche; wie jene sind sie zur
Satire gegen Adel und Geistlichkeit geneigt, aber eben in der echt französischen
Weise, der es mit solcher Opposition mehr um ein jeu d'esprit
als um bitteren Ernst zu thun war.1 „Neckisch und beißend, aber
durchaus nicht scharf untersuchend, mehr geneigt, über ihre Gegner zu
lachen, als ihre Gründe zu widerlegen, unwiderstehlich zur Opposition
getrieben, ohne jedoch der Autorität entraten zu können, verspotteten
und neckten die Franzosen schon im Mittelalter die Priester, denen sie [324]
ihr Gewissen ohne Widerstand unterwarfen, und die hohen Herren, deren
Macht sie fürchteten.“

„Doch sind nicht alle Fabliaux in demselben Tone gehalten. Es
gibt manche darunter, die durch Kraft und Wahrheit des Gefühls und
ungekünstelte Anmut der Sprache sich zum Range wahrhafter Poesie
erheben: wie das berühmte Fabliau von ‚Aucassin und Nicolette‘.
Diese reizende Erzählung hat poetischen Schwung genug, um sich niemals
in Frivolität zu verirren, und die französische Energie und Heiterkeit,
welche sie überall atmet, hält gleichzeitig die sentimentale Übertreibung
von ihr ferne, die in den Ritterpoesien der Deutschen so oft vorherrscht.“

Die Mehrzahl von ihnen freilich „zeigt mehr gesunden Menschenverstand,
neckischen Frohsinn und bisweilen selbst Frivolität als poetischen
Schwung. Die Sitten des Mittelalters finden sich darin wieder, in
ihrer Plumpheit, wie in ihrer Kraft und Natürlichkeit. Man behandelt
in ihnen die Mönche und Ehemänner ziemlich unsanft, man spottet über
Dummheit und Pedanterie überall, wo man sie findet, ohne weder Geschlecht
noch Stand zu verschonen. Aber die Erfindung ist fast immer
pikant und anziehend, und die Sprache, obwohl weit entfernt von
Boccaccios ausgesuchter Eleganz, läßt im ganzen weder Leichtigkeit
noch Kraft vermissen. Von vielen Fabliaux, die sich unter den Handschriften
der Pariser Bibliothek vorfinden, sind die Verfasser unbekannt
und angesichts ihrer außerordentlichen Menge möchte man fast glauben,
daß alle Welt dergleichen machte, und daß man es oft nicht einmal der
Mühe wert hielt, den Namen des Verfassers darunter zu setzen.“

Hier liegen dicht gedrängt die Keime der modernen Novellistik; es
ist leicht, in der italienischen Entwickelung die verwandten Züge zu
erkennen, und hier bot schon das vierzehnte Jahrhundert in Boccaccios
Dekameron“ in Sprache und Kompositionsweise ein klassisches Muster
für die bewußte Kunst der Erzählung dar, aber doch nur der Prosa=
Erzählung, und eine Kunst, die bei aller technischen Vollendung doch
diesen Namen insofern nur mit starker Einschränkung verdient, als sie
überwiegend auf die Lust am Frivolen und Schlüpfrigen abzweckt.

Einen Dichter aber hat das vierzehnte Jahrhundert hervorgebracht,
der zuerst die volle Kunst der poetischen Erzählung, namentlich der
komischen poetischen Erzählung erreicht hat und der als das echte
Muster derselben gepriesen werden darf: Geoffrey Chaucer. Zwar
zahlt auch er, wie billig, seiner Zeit den Tribut; er ist vornehmlich in
den ernsten Erzählungen nicht frei von ungehörigen Breiten, allerlei
lehrhaften Digressionen und einer Vorliebe „für gewisse scholastische
Diatriben über Moralsätze, die er oft sehr lang und ohne Verhältnis [325]
zur Erzählung ausspinnt.“1 „Von diesen Fehlern sind die komischen
Erzählungen fast ohne Ausnahme völlig frei: sie sind durchgängig vorzüglich
angelegt und haben einen drastischen Verlauf.“ Was ihren absoluten
Kunstwert schmälert, ist die oft übergroße Derbheit nicht nur
im Ausdruck, sondern auch in der dargestellten Handlung selbst. Dennoch
bieten Chaucers Dichtungen gerade von dieser Seite ein besonderes
Jnteresse, weil hier das Resultat des Widerstreites der beiden Nationalcharaktere
sich darstellt, die der Dichter gewissermaßen in seiner Person
vereinigte, und zu deren Verschmelzung er, schon durch die Sprache, wie
er sie formte und handhabte, so viel beigetragen hat: „ein Doppelmensch
mit einem Januskopf, halb höfischer und chevaleresker Franzose, halb
derb naturwüchsiger Angelsachse, der bald das eine Gesicht, bald das
andere uns zukehrt und dadurch die überraschendsten und ergötzlichsten
Kontraste zuwege bringt.“ Es leuchtet ein, daß es für die Entstehung
und schnelle Ausbildung der komischen Poesie eine günstigere Situation
nicht geben kann.

Bunt gemischt aus französischen Elementen und deutschen Bestandteilen
wie seine Sprache ist seine Empfindungs- und Anschauungsweise.
„Jn die feinsten, mit der gewandtesten Hand gezeichneten Charakteristiken
schlägt er plötzlich mit einer plattdeutschen Eulenspiegelei hinein, so derb,
daß einem Hören und Sehen vergeht. Und, was das Schlimmste ist,
an diesen Tölpeleien, die oft, die Wahrheit zu gestehen, genau wie
Eulenspiegels praktische Späße unverantwortlich schmutzig sind, hat er
eine ordentliche Lust. Er übt sie mit vollem Bewußtsein. Es ist fast,
als wollte sich seine angelsächsische Natur (die auch aus seiner Vorliebe
für handfeste Volkscharaktere hervorleuchtet) an der fremdbürtigen französischen
Kultur in ihm recht gründlich dadurch rächen, daß sie dieser
empfindsamen, vornehm thuenden, parfürmierten Hofdame eine Hand
des allernaturwüchsigsten plumpsten Bauernwitzes ins Gesicht wirft.“

„Man wende hier nicht etwa ein, daß solche Polissonnerien keineswegs
bloß plattdeutsch und angelsächsisch seien, daß die Neigung dazu
in dem unentwickelten Schicklichkeitssinn dieser Jahrhunderte überhaupt
liege, daß sie trotz des äußeren Firnisses etikettenmäßiger Formen an
dem Hofe Eduards III., durch die französischen Fabliaux ebenso geläufig
gewesen wie in dem hochgebildeten Jtalien. Man berufe sich dabei nicht
auf Boccaccios ebenso elegante wie schlüpfrige Novellen, deren Nach= [326]
ahmung Chaucer so nahe lag. Man würde dadurch Chaucer im höchsten
Grade unrecht thun. Boccaccio ist bei seiner blendenden und gleichmäßig
gefeilten ─ niemals plumpen Diktion dennoch im Herzen lasciv.
Er ist schlüpfrig, lüstern und darum wirklich unsittlich und gefährlich.
Bei Chaucer dagegen ist von Lüsternheit nirgends die geringste Spur.
Es kommt ihm nicht entfernt in den Sinn, sich in verblümten, aber
eben darum verführerischen Situationen zu ergehen, wie jener es mit
Vorliebe thut. Er läßt zu Zeiten ein unschickliches, sehr unschickliches
Wort fallen, aber er ist nicht unsittlich. Man mag die betreffenden
Stellen roh, ungeschlacht, pöbelhaft nennen, der gebildete Anstandssinn
mag dabei erschrecken: die Unschuld und Tugend ist sicher vor ihm ─
ebenso sicher wie bei den groben Späßen Eulenspiegels und was
sonst aus unserer älteren deutschen Volkslitteratur in dieselbe Rubrik
gehört. Könnte es nach dem eben Gesagten noch zweifelhaft sein, daß
wir es in der That hier mit dem noch unversöhnten Gegensatz der bis
dahin nur den niederen Volksschichten eigenen plattdeutschen Weise und
des feinen Tons der französisch gebildeten adeligen Cirkel zu thun haben,
so würde er uns selbst darüber durch die denkwürdigen Worte belehren,
mit welchen er an einer Stelle der Canterbury-Geschichten sich
wegen dieser groben Manieren entschuldigt (vgl. Prolog des Müllers,
V. 3167): ‚Es sind die Sitten der Bauern, die ich schildere; ich kann
den Bauer nicht adeln; feine Leute mögen diese Geschichten überschlagen;
sie werden genug Anderes nach ihrem Geschmack in dem Buche finden.‘“

Es läßt sich an diese geistreiche Schilderung von Chaucers Eigenart
und historischer Stellung eine tiefer eingreifende Frage und ihre Beantwortung
anknüpfen: die Frage nach der Berechtigung des Elementes
der Derbheit, ja selbst starker Verletzungen des sonst geltenden Anstandes
in der Poesie, die erfahrungsmäßig diese kräftige Würze als Jngrediens
sehr wohl verträgt. Alle Zeiten und Völker haben sich daran ergötzt,
keine Kultur vermag die hier enthaltene komische Kraft abzuschwächen,
und die genialsten komischen Dichter haben von jeher am rückhaltlosesten
davon Gebrauch gemacht. Jn der That läßt sich kein Gebiet denken,
wo so wie hier die Vorstellungen des Fehlerhaften und Häßlichen so
eng und unmittelbar verbunden mit denen des Positiven, Gesunden,
Normalen liegen wie auf dem Gebiet der derben Natürlichkeiten; keines,
auf dem mit den allereinfachsten Mitteln so schnell und so scharf die
überzeugendste Charakteristik erreicht werden kann. Ein und dasselbe
kann hier, je nach den Umständen höchste Unschuld, einfache Natur oder
Roheit, Entartung, Verwilderung bezeichnen; andrerseits sind die lediglich
körperlichen Verhältnisse und Umstände, als allen Menschen gemein= [327]
sam, ganz unschätzbar, um gleichsam als unfehlbar wirkende Reagentien
allen falschen Schein, alles erkünstelte, aufgebauschte Wesen, alle unberechtigte
Konvenienz und Prätension aufzulösen und in ihr Nichts zu
verflüchtigen. Die starke vis comica dieser Dinge liegt zum großen
Teil in dem immerwährenden Kontrast ihrer ewig die gleiche Berechtigung
verlangenden Natur zu der dennoch fortwährend mit allen Kräften aufrecht
gehaltenen Fiktion, als seien vielmehr die künstlichen Zustände, in
denen wir uns bewegen, die allein gültigen und berechtigten. Es ist
daher ganz konsequent gehandelt, daß die komische Dichtung mit Vorliebe
nach den Ständen und Lebenszuständen greift, unter denen jene
Fiktion entweder gar nicht oder doch in bei weitem geringerer Ausdehnung
Geltung hat.

Aber was Chaucer zum wahrhaft großen Dichter macht, ist vor
Allem der Umstand, daß seine Poesie sich keineswegs auf die witzige
oder pikante Hervorhebung des Negativen einschränkt, sondern daß, der
echten Natur des Komischen gemäß, das Positive bei ihm zu seinem vollen
Rechte kommt: „Die Schwungkraft seines Genius durchbricht ─ und
nicht bloß an vereinzelten Stellen ─ die konventionellen Schranken seiner
Zeit und erhebt sich über dieselben zu den reinen Höhen der idealen
Form. Waldesgrün, Maienwonne und Vogelsang sind zwar Stoffe, an
denen sich die mittelalterliche Lyrik müde gesungen hat. Aber Chaucer
weiß sie ebenso anspruchslos wie innig, ebenso wahr als frisch zu erneuen.
Und außerdem erschließt er uns noch andere Schätze, von denen uns
jene Sänger wenig zu künden wissen: die reine Unschuld des jungfräulichen
Herzens, die ungeschminkte und ungekünstelte Frömmigkeit, die
stille Gottergebenheit der Mutter, die für das Leben ihres Säuglings
bebt. Hier gewinnt sein Ausdruck eine Zartheit, Reinheit und Vollendung,
die sich den köstlichsten Perlen aller Litteraturen anreihen läßt.“

Zum höchsten dichterischen Range erhebt ihn aber vor Allem „die
aus der feinsten sinnlichen wie psychischen Beobachtungsgabe entspringende
Fähigkeit, die Wechselbeziehungen zwischen den Details der äußeren Erscheinung
eines Menschen und den dieser Erscheinung entsprechenden
Charakterzügen rasch aufzufassen und scharf und schlagend darzustellen“ ...
„Chaucers Charakteristiken lösen eins der schwierigsten Probleme der
Kunst: sie sind individuell und typisch zugleich; das heißt, sie machen
auf uns einerseits den Eindruck einer konkreten lebendigen Persönlichkeit
und stellen doch andrerseits eine ganze Klasse von Personen dar, und
da sie die Darstellung der äußeren Erscheinung an solche Eigentümlichkeiten
des menschlichen Geistes knüpfen, die zu allen Zeiten, wenn auch
unter anderen Formen, wesentlich dieselben bleiben, so werden wir da= [328]
durch unwillkürlich und wie durch magischen Zwang in diejenigen Zeiten
und Sittenzustände zurückversetzt, deren Schilderung die nächste Aufgabe
des Dichters ist. Wir verstehen den Geist dieser Zeiten selbst in seiner
detailliertesten Entfaltung gleichsam plötzlich und ohne gelehrte Jnterpretation
besser als durch langatmige historische und antiquarische Auseinandersetzungen;
wir verkehren mit dem Ritter und der Priorin, mit
dem Bettelmönch und dem Ablaßkrämer wie mit alten Bekannten, als
sähen wir sie täglich; als hätten wir sie erst gestern gesehen.“

„Es versteht sich von selbst, daß die Beobachtungsgabe des Dichters,
durch den Verkehr mit vielerlei Menschen am Hof, im Felde und auf
Reisen geschärft, ihm unendlich mehr Eindrücke von Unzulänglichem,
Verkehrtem, Hinfälligem zugeführt hat als von Vollendetem, Schönem,
Erhabenem. Er verschließt sich nun zwar weder der aufrichtigen Begeisterung
für das Edle, noch dem tiefen Abscheu gegen das Böse. Er
hält der Tugend einen ebenso getreuen Spiegel vor als dem Laster.
Aber die natürliche Heiterkeit des Dichters, die Grundstimmung seines
Gemütes, wendet sich am liebsten den gemischten und unvollendeten
Charakteren zu, die das Leben bunt und unterhaltend machen ─ und
die einen Spaß vertragen.“

Aber wenn ohne Frage Chaucers Hauptstärke in seiner komischen
Charakterzeichnung liegt, so ist doch weder seine Satire einseitig und
pedantisch oder lehrhaft, noch seine Jronie überhebend oder superklug,
sondern durchweg objektiv und immer heiter: „es liegt darin das gutmütige
Eingeständnis, daß Jedermann hienieden, daß auch er, der Dichter,
sein Stückchen Thorheit trage, daß wir alle des Ruhmes mangeln, den
wir haben sollen, nicht nur weil wir allzumal Sünder, sondern auch ─
mehr oder weniger ─ allzumal Narren sind. Damit ist auf den feinsten
und merkwürdigsten Zug in Chaucers dichterischem Charakter hingewiesen
─ auf einen Zug, der von allen Dichtern der Welt bei ihm zuerst
zur klaren Entfaltung gekommen, der seitdem der eigenste und ohne
Zweifel der liebenswürdigste Zug des englischen Volkscharakters geworden
ist: Chaucer ist der erste Humorist.

Dieser große Dichter hat weder in England noch sonst irgendwo
seinesgleichen gefunden; die humoristische poetische Erzählung wie vollends
das komische Epos sind verkümmerte Zweige am Baum der Poesie geblieben.
Die berühmten, sogenannten Musterstücke der Gattung verdanken
ihr Ansehen entweder ganz und gar dem parodisch=satirischen
Element wie Tassonis „Eimerraub“, Boileaus „Lutrin“ oder Popes
„Lockenraub“, oder sie sind rein satirisch und einseitig eifernd wie
Butlers „Hudibras“, oder lediglich Burlesken wie Kortüms „Jobsiade“, [329]
wenn nicht gar zu alledem noch die Beimischung des frivolen und
obscönen Elementes sich gesellt wie in VoltairesPucelle“.

Besonders zahlreich sind in Frankreich die Erzeugnisse dieser letzteren
Gattung, unter denen ParnysGuerre des dieux antiques et modernes
den ersten Platz einnehmen möchte.

Alle diese Vorbilder haben in Deutschland ihre Nachahmer gefunden,
ohne daß in diesen Produktionen sich irgend etwas über den
Charakter der Schulmäßigkeit erhöbe. Trivialität, Mattheit und Abgeschmacktheit
streiten sich darin um den Preis, und auch Zachariäs
viel genannte „komische Epopöen“ erheben sich nur wenig über dieses
Niveau der Mittelmäßigkeit.

Auf diesem Felde ist die Prosa unbestrittene Siegerin geblieben;
mit dem Ende des vorigen, dem Beginne unseres Jahrhunderts setzt mit
der kunstmäßigen Prosa-Novelle eine ganz neue Entwickelung ein,
welche die gesamte, hier überlieferte Erbschaft antritt. ──────

Nach allem, was in diesen letzten Abschnitten ausgeführt ist, steht
also das Epos seinem Grundwesen nach, das durch den Nachahmungs=
zweck bestimmt wird, mit dem Drama auf demselben Boden; den allgemein
geltenden Vorschriften über Größe und Einheit der Handlung,
vor allem über ihre Wirkung auf die Schicksalsempfindungen, ist das
heroische Epos in gleicher Weise unterworfen wie die Tragödie.
Ebenso gelten die Gesetze über die Anlage der komischen Handlung für
die Komödie wie für das komische Epos.

Der ganze, in der Erscheinung so überaus stark hervortretende
Unterschied der Gattungen beruht demnach auf der Verschiedenheit der
Art und Weise der Nachahmung, die bei der einen durch Erzählung,
bei der andern durch Handelnde geschieht; alle technischen Vorschriften
über die grundverschiedene Einrichtung des Dramas und des
Epos sind aus diesem einen Unterschiede herzuleiten.

Für den weiteren Gang der Darstellung wird es daher ersprießlich
sein, zuerst in die Besprechung des Dramas, seines Wesens und
seiner Gattungen einzutreten und auf Grund der Vergleichung derselben
mit den epischen Haupt- und Nebengattungen die Definition derselben
und die Feststellung ihrer technischen Einrichtung nach Maßgabe der im
fünfzehnten Abschnitte gewonnenen Sätze zu versuchen.──────

[330]

XIX.

Die Nachahmung einer Handlung durch Handelnde ist
ein Drama.

Daraus ergibt sich zunächst, daß diese Art von Nachahmung
äußerlich der Zeit und dem Orte nach beschränkt ist. Während die
epische Erzählung allenthalben vor sich gehen kann, hier unterbrochen
und dort wieder aufgenommen, sind durch die dramatische Nachahmung
Handelnde und Zuschauende an einen bestimmten Ort gebunden und
zwar für eine Dauer, welche durch die überall sich gleich bleibenden
Grenzen der menschlichen Wahrnehmungs- und Genußfähigkeit, sich auf
ein Maximum von etwa drei bis vier Stunden normiert.

Zu dem Nachahmungsmittel des Wortes, welches das Drama
mit dem Epos gemeinsam hat und zwar des durch rhythmisch=metrischen
Wohlklang verschönerten und erhöhten
Ausdrucks, fügt
es als höchst wesentliches zweites Mittel der Nachahmung die Schaustellung
(ὄψις) hinzu, sichtbare Darstellung nicht nur der Bewegungen,
Mienen, Gebärden der Handelnden, sondern auch der unbelebten, für
die Handlung in Betracht kommenden, Körper; und als drittes Mittel,
welches in der modernen dramatischen Kunst entweder nur ganz nebensächlich
verwandt wird, oder, in der Oper ihr dominierend ganz neue
Gesetze gibt, die Musik.

Aus dem Gegenstande und den Mitteln der dramatischen Nachahmung
bestimmt sich nun die Art und Weise derselben, welche nicht
nur die Darstellungsweise der ausgewählten Handlung umfaßt, sondern
auch die Auswahl und Einrichtung dieser Handlung selbst. Denn nach
der Natur der poetischen Nachahmung überhaupt sind nicht alle Handlungen
zu ihrem Gegenstande geeignet, und nach der spezifischen Natur
der dramatischen Mittel nicht alle, die etwa im Epos verwandt werden
können, auch für das Drama passend, wenigstens nicht in derselben Begrenzung
und Anordnung. Ferner was die Darstellungsweise betrifft,
so wird in der lyrischen Poesie eine Handlung lediglich um des Pathos
und Ethos willen dargestellt werden, die in ihr zur Entfaltung kommen,
um ihres Empfindungs=, Stimmungs- oder Charaktergehaltes willen;
die Handlung selbst wird als Mittel dienen, um jene nachzuahmen.
Umgekehrt werden im Drama Pathos und Ethos, Empfindungen und
Charaktere, lediglich dargestellt werden um die Nachahmung des Geschehenden
und dessen, was gethan wird, des eigentlichen Handlungs=Jnhaltes,
zu bewirken; also nur insoweit als sie als Mittel
für den eigentlichen Nachahmungsgegenstand zu verwenden sind.

[331]

Als Haupterfordernis wird die dramatische Handlung mit der epischen
die Vollständigkeit und Einheit gemeinsam haben müssen, wie
sie im Vorangehenden definiert wurden; aber für beide wird doch eine
Modifikation hinzutreten. An der Vollständigkeit darf nichts fehlen:
alle äußeren und inneren Voraussetzungen für den Beginn der Handlung,
der ganze innere und äußere Verlauf derselben, der äußere wie
der innere Abschluß, alles das muß in der Nachahmung gegeben sein,
wobei das Drama allerdings insofern gegen das Epos im Vorteil ist,
als es sehr Vieles, was im Epos durch das Wort berichtet werden
muß, durch ihr zweites Hauptmittel, die Schaustellung, unmittelbar vor
Augen zu führen vermag. Deswegen ist die Vollständigkeit der dramatischen
Handlung eine bei weitem größere als die der epischen; niemals
vermag diese letztere der Wirklichkeit sich soweit zu nähern wie jene,
da, wie früher erörtert, der poetischen Nachahmung der Körperwelt
durch das Mittel des bloßen Wortes sehr bestimmte Schranken gesetzt
sind. Je mehr nun aber durch diese weit umfassendere äußere und
innere Vollständigkeit ─ denn insofern ein sehr bedeutender Teil der
inneren Vorgänge durch äußere Körperveränderungen sichtbar wird,
so kann auch nach dieser Seite die dramatische Vollständigkeit eine ausgedehntere
sein ─ von der dem Drama zugemessenen Zeit von höchstens
vier Stunden notwendig in Anspruch genommen wird, desto geringer
muß der äußere Umfang der nachgeahmten Handlung, die nichtsdestoweniger
eine geschlossene Einheit, ein intaktes Ganze darzustellen hat,
bemessen sein. Zwischen- und Nebenhandlungen, wenn sie nicht unentbehrlich
für die Haupthandlung sind, werden daher auszuschließen sein;
das Maß für diese aber ist allein von demjenigen Gesichtspunkte aus
zu bestimmen, von welchem aus sich die Einheit der Handlung darstellt.
Dieser Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Nachahmungszweck, auf
dessen Erreichung in jedem einzelnen Falle das dramatische Kunstgebilde
abzielt.

Hier nun greifen die am Schlusse des fünfzehnten Abschnittes angestellten
Erwägungen Platz.

Das Handeln beruht auf Empfindungen, Gesinnungen, Erwägungen
und daraus hervorgehenden Willensentscheidungen; in unauflöslich fest
verschlungenem Gewebe ist das Handeln mit dem Geschehen verknüpft:
aus den „Handlungen“, die beides verbunden darstellen, geht
also das Schicksal, Glück und Unglück der Menschen, hervor. Da
nun die Charakterschilderung niemals der Zweck der dramatischen Nachahmung
ist, sondern immer nur eines ihrer Mittel, ihr Zweck dagegen
die Darstellung von Handlungen, den Begriff in dem soeben bezeichneten [332]
Sinne genommen, da aber von diesen Glück und Unglück abhängen,
so ist offenbar der Einheits gesichtspunkt für die dramatischen Handlungen
dieser: daß in jedem Falle das Verhältnis zwischen
der Handlung und jener Alternative von Glück und Unglück,
das heißt also das Schicksal, sich klar darstelle;
und zwar, wie
aus der allgemeinen, für alle Kunst gültigen Gesetzgebung von selbst
hervorgeht, erstens in richtiger Weise und zweitens so, daß diese
Richtigkeit sich unmittelbar der Empfindung kund thue, das
heißt also ästhetisch wahrgenommen werde, oder nach Kantischer
Terminologie ausgedrückt, durch dieUrteilskraftohne den Begriff
des Richtigen dennoch als solche allgemeingültig konstatiert
werde.
Wodurch anders aber kann die Richtigkeit des dargestellten
Schicksalsverlaufs ─ und zugleich, was ja ebenso das unbedingte
gemeinsame Erfordernis aller Kunst ist, der Art und Weise seiner Darstellung
─ sich dem ästhetischen Urteil gegenüber bezeugen als durch die
Richtigkeit, Reinheit, das heißt also absolute Allgemeingültigkeit
derjenigen Empfindungen, welche hervorzurufen dieser dargestellte
Schicksalsverlauf das bei allen nicht völlig anomal Gearteten und
Gesinnten immer in gleicher Weise wirksame Vermögen erhalten
hat!1

[333]

Bei der Kürze der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt,
durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der
Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht
anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein typischer
ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz
der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser
Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also schicksalsvollste Handlung
ist demgemäß die dramatisch beste.

Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen
Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es
also erforderlich sein, jenen Begriff der „schicksalsvollsten“ Handlung
möglichst genau zu präcisieren.

Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst 1[334]
die alte und immer wieder aufs Neue beliebte Ansicht ist, daß mit
einer getreuen Nachahmung der Wirklichkeit, in diesem Falle also von
Handlungen, wie sie sich wirklich ereignet haben und auch vielleicht oft
ähnlich wiederholen ─ die, wie man zu sagen liebt, „dem Leben abgelauscht“
sind ─, der Hauptzweck der Kunst, und vor allem der dramatischen
Kunst, erreicht sei; denn gerade sie habe den Zweck der Wirklichkeit
den Spiegel vorzuhalten und sie so wiederzugeben, wie sie sie
finde.

Wie oft ereignet es sich im Leben, daß schlechte oder unrichtige, ja
verkehrte einzelne Handlungen vom Glück und vom Erfolge begleitet
sind; und nicht nur einzelne, sondern mitunter lange Reihen und weite
Verkettungen und Verzweigungen solcher Handlungen. Es ist aber von
allen Fällen dieser am entschiedensten von jeder Art der dramatischen
Nachahmung auszuschließen: Darstellung einer schlechten Handlung
mit glücklichem Ausgang.
Tragisch kann sie nicht im mindesten
wirken, selbst nicht, wenn in ihrem Verlauf die Befürchtung
schweren Verhängnisses vorübergehend sehr lebhaft erregt würde. Ferner
verletzt sie das Gerechtigkeitsgefühl auf das schwerste; sie erschüttert die
Vorstellung von dem Vorhandensein eines Zusammenhanges von Ursache
und Wirkung in dem Gange der Dinge, der mit dem unser Denkvermögen
beherrschenden Vernunftgesetz in Übereinstimmung ist, und
setzt an die Stelle der Überzeugung von der Geltung eines solchen Zusammenhanges
die Vorstellung, daß Laune, Willkür, unberechenbarer
Zufall allein die Herrschaft haben. Nun hat freilich die Kunst weder
mit unserm Gerechtigkeitsgefühl, noch überhaupt mit unsern sittlichen
oder praktischen Überzeugungen direkt etwas zu thun, sondern allein
sich durch die ästhetische Wahrnehmung an unser Empfindungsvermögen
zu wenden: aber gerade hier würde sie auf jene Weise ihres Zweckes,
die Bedingungen in sich zu vereinen, um uns durch dasselbe
zur Freude zu bewegen,
am meisten verfehlen. Denn statt beglückender
Ruhe und wohlgefälliger Harmonie inmitten stärkster Bewegung
der Gemütskräfte, würde eine solche Nachahmung, die zwar
sicherlich auch bewegend, ergreifend, ja höchst aufregend, „packend“, wie
man es heute gern nennt, wirken kann, nur Beunruhigung, Widerstreit
der Empfindungen, unregelmäßige heftige Leidenschaften erzeugen. Die
virtuoseste Handhabung der künstlerischen Mittel würde damit also nichts
anders bewirken als dieselbe Ruhelosigkeit und Verwirrung, dieselben
fruchtlosen Gemütserregungen, die so oft zu unserm Schaden und Verdruß
durch die Vorgänge des wirklichen Lebens in uns hervorgebracht
werden. Dieselben ihrer Qualität nach! Jhre Jntensität wird [335]
freilich durch den wichtigen Umstand sehr vermindert, daß das Jnteresse
des persönlichen Egoismus unberührt bleibt.

Hierin liegt der Grund, daß diese absolut fehlerhafteste und verwerflichste
von allen Arten der Einrichtung von Handlungen bei der
großen Masse jederzeit am sichersten auf eifrigsten Beifall rechnen kann.
Denn erstlich kommt sie überhaupt dem Leidenschaftsbedürfnis entgegen.
Jn jeder Kraft liegt nach dem Naturgesetz der Drang zu ihrer
Bethätigung; für die körperlichen wie für die seelischen Kraftvermögen
gibt es zuletzt keine größere Qual als absoluten dauernden Mangel der
Bethätigung. Gerade also, wo es an bewußtem, in sich geklärtem,
fest und maßvoll in sich geordnetem Seelenleben fehlt

welches, bei dem stetigen und innigen organischen Kontakt der sämtlichen
Seelenvermögen untereinander, durch die fortwährende, mächtige,
wenn auch unmerklich vor sich gehende Einwirkung der logischen und
sittlichen Kultur auf die mehr und mehr zu einem bleibenden Besitz, zu
einer immerfort innewohnenden Fähigkeit und Fertigkeit (ἕξις ἠθική)
sich gestaltende Empfindungsweise zustande gebracht wird ─, und
je mehr es an solcher, einzig mit Recht so zu nennenden, ästhetischen
Kultur
fehlt, gerade da wird die bloße Beschäftigung der Gemüts=
und Empfindungskräfte, sei sie wie sie sei, am begierigsten verlangt
werden. Je heftiger sie bei der Abwesenheit des egoistischen Jnteresses
sich gestaltet, desto leidenschaftlicher wird sie aufgesucht werden;
denn es ist einmal objektiv bei weitem leichter, dieses Bedürfnis leidenschaftlicher
Erregung zu befriedigen, als klares und reines, maßvolles
und harmonisches Empfinden hervorzurufen, und sodann ist es subjektiv
viel bequemer, sich jenem passiven Genießen hinzugeben, als diese ohne
eigene Bethätigung nicht denkbare Empfindungsweise in sich zur Wirkung
gelangen zu lassen. Nun ist aber jenem Bedürfnis auf keine Weise
leichter genügt als mit der Darstellung, um es mit einem Worte zu
sagen, von schlechten Handlungen, also von Fehlerhaftigkeit aller
Art, Lastern, Verbrechen, Verirrungen und den damit zusammenhängenden
Verwickelungen; und da die Neigung zu dem passiven, bequemen Genuß
an der bloßen leidenschaftlichen Erregung der strengen Konsequenz gern
aus dem Wege geht und weit lieber sich mit der Vorstellung schmeicheln
läßt, daß schließlich doch noch „alles gut werde“, und mit solcher günstiger
Schlußwendung obenein noch sehr leicht das oberflächliche Vergnügen
an dem falschen Schein einer angeblichen moralischen Sinnesänderung
verknüpft werden kann, so ist die Nachahmung schlechter
Handlungen mit glücklichem Ausgange das eigentliche Grundschema

sowohl der epischen als dramatischen Pfuscherei.

[336]

Dieser schlimmste Grundfehler ist keineswegs auf die Massenproduktion
eingeschränkt, die sich an die Jnstinkte der rohen Menge wendet;
auch der verwöhnte Geschmack läßt sich allzu leicht darüber täuschen,
wenn nur die Darstellungsmittel in geschickter oder gar virtuoser Weise
gehandhabt werden, da ja auch ein solcher, im Grunde völlig fehlerhaft
eingerichteter Handlungsverlauf im einzelnen immerhin genugsam
Gelegenheit bietet, die Wirkungen des Rührenden und Furchtbaren oder
auch des Komischen und Erheiternden hervorzubringen; da er ferner der
irrtümlichen Forderung des sogenannten „Realismus“, die auf unmittelbare
Nachahmung der Wirklichkeit und Natur geht, oft am besten zu
entsprechen scheint.

Nun könnte eingewendet werden, daß zwar durch schlechte Handlungen,
bei denen es den Schlechten gut geht, die tragische Wirkung
völlig unmöglich sei, daß aber die komische Darstellung ja in der That
beides erfordere, glücklichen Ausgang und Nachahmung fehlerhafter
Handlungen; das Beispiel wäre die Handlung des komischen Muster=
Epos vom Reineke Fuchs. Allein der hier dargestellte Triumph des
gewissenlosen Virtuosen der ränkevollen Schlauheit ist poetisch allein
dadurch gerechtfertigt und selbst nur möglich, daß die Handelnden Tiere
sind, und dadurch, wie früher ausgeführt, jener eigenartige Maßstab
der ästhetischen Beurteilung bedingt ist, nach welchem das wohlgefällige
Jnteresse unter strengstem Ausschluß jeder anderen Erregung der Empfindung
sich ganz den Manifestationen jener allen übrigen Kräften
überlegenen Meisterschaft in der Verschlagenheit zuwendet, während im
übrigen die komische Darstellung ohne Hindernis zur vollen und freien
Wirkung gelangen kann. Die Bühne aber ist mit ihrer Nachahmung
des realen Lebens durch die Handelnden selbst für die Tierdichtung absolut
verschlossen; sie verlangt, daß in ihren Darstellungen das Gesetz
des Lebens zur Erscheinung komme: dieses Gesetz sagt uns, daß keinerlei
menschliche Fehler ohne Folge bleiben; durch unglückliches Geschick können
sie verhängnisvoll werden, aber auch ohne dasselbe erweisen sie sich jederzeit
als nachteilig. Wenn nun die Komödie schwere Verirrungen vom
Rechten und Verständigen darstellt, oder gar Laster und Verbrechen, mag
sie immerhin dieselben eben nur dem ästhetischen Urteile von ihrer komischen
Seite als verkehrt und thöricht zeigen und sie dem Spotte preisgeben,
so darf sie es niemals versäumen, jene dem Wesen der Sache
nach notwendigen schädlichen, ja selbst verderblichen Folgen im Rahmen
der Handlung, als zu deren Vollständigkeit unentbehrlich, mit vorzuführen.
Wir verzeihen selbst einem Meisterwerk weit eher die Anwendung
gewisser gewaltsamer und unkünstlerischer Mittel zu solchem Zwecke, [337]
als daß wir uns eine Unterlassung dieser Pflicht, die zu den wesentlichsten
dramatischen Forderungen gehört, gefallen ließen. Wenn in
Molières „Tartuffe“ die Nemesis am Schlusse als deus ex machina
in der Gestalt der allgegenwärtigen und allweisen Polizei Ludwigs XIV.
auf dem Schauplatze erscheint, so liegt darin keineswegs allein eine Konzession
an den souveränen Absolutismus des „großen“ Königs, um für
den Spott gegen die Jesuiten Jndemnität zu erhalten, sondern eine
viel größere an das absolute Gesetz der Kunst, um die Darstellung der
im Stücke dominierenden „schlechten“ Handlung für die komische Bühne
überhaupt möglich zu machen.

Es erscheint also als ein Widersinn, selbst wenn noch so viele
Fälle der Wirklichkeit bei schlechten Handlungen den glücklichen Ausgang
zeigen sollten, eine derartige Handlung dramatisch darzustellen;
nicht ausnahmsweiser, sondern gesetzmäßiger Verlauf soll dargestellt
werden.

Aus eben demselben Grunde aber ergeben sich die schwersten Bedenken
auch gegen den gerade umgekehrten Fall, obwohl dieser auf den
ersten Blick ganz einwandsfrei zu sein, ja recht eigentlich das Gesetz zu
repräsentieren scheint, wenn auch nicht das thatsächlich geltende, so doch
dasjenige, von dem man meint, daß es gelten sollte: daß nämlich
gute Handlungen dargestellt werden, die von entsprechendem
gutem Glück begleitet werden.

Unzweifelhaft kommen derartige Fälle in der Wirklichkeit mehr oder
minder oft vor; aber sicherlich ist es ein Jrrtum, dieses Reciprocitätsverhältnis
zwischen der moralischen Güte der Handlungen und dem
äußern Glück, der Gunst der Schicksalsfügungen, als ein notwendiges,
oder auch nur in hohem Grade wahrscheinliches anzusehen und es demgemäß
in einem einzelnen, als typisch geltenden Falle als das gesetzmäßige
darzustellen. So sehr die Menschen zu solchem Glauben, ja zu
derartigen, gewissermaßen als Rechtsanspruch betrachteten Forderungen
geneigt sind, so widerspricht dem doch ebenso die Erfahrung als die
theoretische Doktrin des Sittengesetzes, welche lehrt, daß der Lohn für
moralische Güte nicht von außen erwartet, sondern im innern Bewußtsein
gefunden werden soll.

Dieses innere Glück eines reinen und zufriedenen Bewußtseins ist
freilich durch die moralische Richtigkeit einer Handlung immer gesichert,
aber der äußere glückliche Erfolg doch nur zu dem geringen Teile, als
eben eine von den Quellen möglichen Mißerfolges abgeschnitten ist; es
bleiben aber die bei weitem stärker fließenden einmal der lediglich von
außen wirkenden, unvermeidlichen Ereignisse und unberechenbaren Kom= [338]
plikationen und sodann der selbst der höchsten Kraft und dem stärksten
Willen gesellten Fehler und Mängel an Einsicht, Klugheit, Besonnenheit;
gerade diese entscheiden vornehmlich den äußern Erfolg.

Jmmer also bleibt die für die dichterische Technik ungemein wichtige
Frage zu beantworten: sind Handlungen von reiner moralischer
Güte mit glücklichem Ausgange für die Nachahmung
geeignet? Und wenn sie es nicht sind, welches sind die
Gründe dafür?

Man sollte glauben, daß, wenn solche Handlungen aus einer entsprechenden
Empfindungs- und Gesinnungsweise hervorgehen, nicht aus
einem der entgegenstehenden Neigung mühsam abgerungenen Entschlusse,
sie auch in der Nachahmung erfreulich wirken müßten; und wären sie
obenein nun auch noch für die Handelnden die Quelle ihres Glückes,
so müßte die wohlgefällige Befriedigung sich nur noch steigern. Befragt
man nun zunächst die Erfahrung, so lautet die Antwort insofern völlig
bestätigend, als eine eigene dramatische Gattung offenbar diesen Reflexionen
ihren Ursprung verdankt, die Jahrhunderte hindurch sich unter
großem und allgemeinem Beifall behauptet hat: das sogenannte Schäferspiel
und die ihm verwandten dramatischen Arten. Andrerseits jedoch
lehrt die Erfahrung, daß der Geschmack diese idyllischen Darstellungen
schöner Empfindungen, edler Gesinnungen und tugendhafter Entschlüsse
seit langem entschieden verworfen hat, und daß die dramatische Kunst,
wie es scheint, keineswegs sich bestrebt gezeigt hat, einen Ersatz dafür
zu schaffen.

Ferner: sollte, was dem Epos gestattet ist, dem Drama verschlossen
sein? Sollte es für das Jdyll, welches die höchsten dichterischen Leistungen
aufweist, in der dramatischen Dichtung etwas Entsprechendes
nicht geben, ein Stoff, wie Goethes „Hermann und Dorothea“ für die
Bühne ganz undenkbar sein?

Die Frage ist, ihrer Bedeutsamkeit entsprechend, sehr kompliziert,
und es wird erforderlich sein, sie in ihre einfachen Bestandteile auseinanderzulegen.


Handlungen, die aus absolut vollkommenen Empfindungen,
Gesinnungen und Entschlüssen
hervorgehen, sind
menschlich unwahr, also von jeder Art der Nachahmung auszuschließen.


Dagegen sind Handlungen sehr wohl denkbar, die von einer einzelnen
absolut richtigen Empfindung,
wie der Moment sie
eingibt, diktiert werden. Aber, wie sie sittlich ohne Wert sind, da der
nächste Moment eine andere, ja die entgegengesetzte Empfindung hervor= [339]
rufen kann, so taugen sie, für sich allein gedacht, auch für die
Nachahmung nicht, da sie an sich gar nichts Typisches, Gesetzmäßiges
einschließen und daher auch der Ueberzeugungskraft, der Glaubwürdigkeit
entbehren. Nur in einem Falle besitzen sie diese für die Nachahmung
unentbehrliche Eigenschaft, wenn nämlich die Natur des Handelnden so
begrenzt ist, daß er eben nur so und nicht anders handeln kann. Das
trifft im Grunde einzig und allein bei Kindern zu, bei denen in der
That noch die momentane Empfindung das Handeln bestimmt; dergleichen
Züge sind für die reine Lyrik verwendbar, deren Aufgabe ja die
Nachahmung von Empfindungen ist, und außerdem für die Satire, da
die darin sich darstellende Naivität vortrefflich geeignet ist, durch den
Kontrast die Fehlerhaftigkeit der etwa in Geltung stehenden entgegengesetzten
Sitte oder Handlungsweise augenfällig zu machen. Jn beiden
Fällen war die Handlung nicht um ihrer selbst willen nachgeahmt, sondern
als Darstellungsmittel einem fremden Zwecke dienstbar gemacht.
Ebenso hat die Einführung wilder Völkerschaften oder einfacher Naturmenschen
nur in diesen engen Grenzen ihre Geltung; dagegen ist sie,
wo es die Nachahmung von Handlungen um ihrer selbst willen gilt,
so oft und gern man sich ihrer bedient hat, entschieden zu verwerfen.
Seumes „Canadier“ wird mit seinem „Seht, wir Wilden sind doch
bess're Menschen“ bei niemandem Glauben finden, da wir gar keine Mittel
erhalten uns zu überzeugen, wie die Empfindung, aus der er handelt,
bei ihm zustande gekommen ist, vielmehr wissen, daß die entgegengesetzte
den Wilden die natürliche ist; endlich, selbst wenn wir die Erzählung
auf Treu und Glauben annehmen, keinen Grund haben, aus
solcher Anekdote einen verallgemeinernden Schluß zu ziehen. Ähnliche
Beispiele finden sich in Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“;
sie sind lehrreich, weil dasselbe, was von den schönen Empfindungen
und Thaten dieser edlen Canadier, Huronen und Jrokesen gilt, ganz
ebenso seine Anwendung auf die in so zahlreichen Gedichten gepriesene
Unschuld und Großherzigkeit findet, zu deren Trägern im Gegensatz zu
den verderbten Zöglingen der Kultur die einfachen „Kinder der Natur“
gemacht werden. Dergleichen wird nicht einmal als moralisches Beispiel
zu paränetischen Zwecken brauchbar sein, sondern weit eher verstimmend
als ermunternd wirken. Ästhetisch zu erfreuen, das wohlgefällige
Empfindungsurteil zu erzeugen, vermag die Nachahmung einer Handlung,
sei es durch Erzählung, sei es durch drastische Darstellung, nur, wenn
sie das Bild der Handlung so vollständig vorführt, daß sie im Jnnern
des Wahrnehmenden gewissermaßen sich wiederholt, also mehr leistet, als
selbst die Wirklichkeit, die sie uns meistens nur von außen zeigt. Dazu [340]
genügt es aber nicht, daß nur erzählt oder vorgeführt wird, diese oder
jene schöne Empfindung sei plötzlich da und bringe diese oder jene schöne
That hervor; dergleichen wirkt als bloßer Zufall, läßt uns gleichgültig
oder verdrießt uns sogar, sofern uns zugemutet wird, es als bedeutungsvoll
oder gar als edel anzuerkennen. Warum soll auch ein Jrokese nicht
einmal statt seinen Feind zu skalpieren ihn mit eigener Lebensgefahr
vom Tode erretten? Aber wir verlangen durch die Nachahmung wahrzunehmen,
wie das, und vollends bei einem Wilden, unter den erschwerendsten
Umständen nicht allein möglich, sondern wie es für ihn
eine Notwendigkeit wurde, so zu empfinden und so zu handeln. Mit
einem Worte die Nachahmung einer Handlung kann auch im Rahmen
der einfachen poetischen Erzählung sich niemals darauf beschränken dieselbe
aus einer einzelnen Empfindung, einem bloßen Pathos,
herzuleiten, sondern sie muß sie als ein notwendiges Ergebnis der zum
bleibenden Besitz gewordenen Gesinnungsweise
darstellen,
des Ethos. Diese aber ist unter allen Umständen, auch unter den
denkbar primitivsten Lebensverhältnissen, immer nur das Produkt einer
Kultur, zu welcher innere Kräfte und äußere Ereignisse in anhaltender
Wechselwirkung thätig gewesen sein müssen. Je mehr es der Dichter
versteht uns von dieser ethischen Kultur seines Helden auch in der Kürze
der poetischen Erzählung eine lebhafte Vorstellung zu erwecken, desto
vollendeter ist sein Gedicht, je weniger er dazu gethan, desto mangelhafter.


Aber selbst eine so dargestellte Handlung würde nun doch eben
vornehmlich durch dieses in ihr zur Erscheinung kommende Ethos ästhetisch
interessieren, welches durch die vollständige Nachahmung korrespondierend
in dem Wahrnehmenden lebendig wird, und vorzüglich um
dieses willen käme der dargestellte Schicksalsverlauf in Betracht, wie
z. B. in Schillers „Bürgschaft“. Nun bedeutet aber, wie früher
ausführlich erörtert, der Ausdruck „Handlung“, insofern dieselbe
Gegenstand der Nachahmung ist, also für das Epos und Drama,
keineswegs nur die Äußerungen des inneren Ethos durch den Willensakt,
sondern den Komplex der freilich zu einem Teil damit in innerem
Zusammenhange stehenden, zum andern aber ganz unabhängig davon
eintretenden Ereignisse, also den Schicksalsverlauf: diesen als Einheit
wahrnehmbar zu machen und zur Empfindung zu bringen, und
zwar zur wohlgefälligen, ihn zu einem Gegenstande ästhetischen Genusses
zu machen ist der Zweck des Epos und des Dramas. Für diesen
Hauptzweck ist die Nachahmung des dazu mitwirkenden Ethos ein sekundäres
Hülfsmittel.

[341]

Gerade an dieser Stelle zeigt sich nun aber die höchst bedeutende
Verschiedenheit, welche durch die Art der Nachahmung zwischen den
Bedingungen der epischen und denen der dramatischen Handlung hervorgebracht
wird.

Hier wird Kürze gefordert, dort ist beliebige Breite gestattet:
daraus ergibt sich bei dem gemeinsamen Hauptzweck einen einheitlichen
und in sich vollständigen Schicksalsverlauf
vorzuführen,
daß das Drama sich in der Darstellung des Ethos sorgfältig
auf das beschränken muß, was die Vollständigkeit der Handlung erfordert,
und daß diejenigen Handlungen für das Drama die geeignetsten
sein werden, die zu ihrer Vollständigkeit am wenigsten davon bedürfen,
deren Schicksalsverlauf am selbständigsten, von der ethischen Einwirkung
am unabhängigsten und dennoch gesetzmäßig und ästhetisch wohlgefällig
ist, d. h. die schicksalsvollsten. Züge, welche nur einzelne, richtige
oder sogenannte schöne Empfindungen vorführen, werden also in den
meisten Fällen ganz ausgeschlossen sein; das Drama wird vielmehr, wo
es gezwungen ist, Ethos nachzuahmen, sich auf die markantesten, typischen
Züge beschränken; Nebenhandlungen, welche nur dem Zwecke der
Schilderung von Empfindungen und Gesinnungen dienen, wird es nicht
dulden, ja dieselben überhaupt soviel wie möglich fortlassen und nur
aufnehmen dürfen, wo sie zur Vollständigkeit des Schicksalsverlaufes
unentbehrlich sind, dessen inneren Zusammenhang oder äußeres Fortschreiten
klarlegen.

Diese Sätze scheinen einem modernen Haupt- und Lieblings-Dogma
zu widersprechen: daß es die oberste Aufgabe des Dramas sei Charaktere
zu schildern.
Aber der Begriff des Charakters deckt sich keineswegs
mit dem Jnbegriff der Empfindungs- und Gesinnungsweise, die
nur die Voraussetzung, den Untergrund dessen bilden, worin er sich
zeigt: des Handelns. Das Handeln wird durch die Willensentscheidung
bestimmt, diese ist abhängig von dem, was die Griechen die
Phronesis nennen, eine Vereinigung von richtigem Ethos mit Klugheit,
Einsicht und Besonnenheit.
Auf dem Grunde der gegebenen
Umstände und Verhältnisse läßt das Handeln direkt, ohne weitere
Schilderung, erkennen, inwieweit die Phronesis dazu mitgewirkt hat
oder durch Leidenschaft, egoistisches oder anderes Jnteresse beeinträchtigt
ist. Hieraus erhellt deutlich, daß es für die dramatische Handlung vor
allem andern darauf ankommt, daß die von vorne herein gegebene Lage
der Dinge und ihre weitere Fortentwickelung solche seien, die zu entscheidendem,
also auch charakteristischem Handeln Veranlassung geben,
ja welche dazu zwingen: sei es nun, daß der Handelnde in solche [342]
Verhältnisse gestellt wird, daß durch seine Entschließung sich Glück oder
Unglück für ihn entscheidet, sei es, daß die obwaltenden Verhältnisse
das ästhetische Urteil über die Handelnden hinsichtlich ihrer Lächerlichkeit
oder Wohlgefälligkeit zur entschiedenen Klärung bringen. (Aristoteles
hat gelegentlich, im 11. Kapitel der Poetik, dafür den treffenden, aber
nicht genügend beachteten Ausdruck, daß die Personen in der Tragödie,
namentlich wo die Verwickelung derselben auf Erkennung hinausläuft,
πρὸς εὐτυχίαν \̓η δυστυχίαν ὡρισμένοι sein müßten, gleichsam „auf
die schmale Grenze zwischen Glück und Unglück gestellt“.)

Die dramatische Fabel muß entscheidende Handlungen
herbeiführen; daß sie Gelegenheit gibt Empfindungen und Gesinnungen
zu entfalten, genügt nicht.

Jn allen diesen Punkten verhält sich die epische Handlung gerade
entgegengesetzt.

Wenn das Drama den Gesichtspunkt für den einheitlichen Schicksalsverlauf,
den es darstellt, so wählen muß, daß derselbe in einer enge
begrenzten, nahe zusammenliegenden Gruppe von Veränderungen konzentriert
ist, wo deßhalb alles entscheidend und unmittelbar auf das
Ziel gerichtet sein muß, so muß das Epos seinen Gesichtspunkt aus
einer weit größeren Ferne nehmen, da ihm die Möglichkeit einer allseitigen
und erschöpfenden Darstellung des gleichzeitig und gegenwärtig
Geschehenden nicht gegeben ist, seine Mittel also für so konzentrierte
Handlungen sich als zu schwach erweisen. Dafür gewährt ihm die Breite,
zu der es sich ungehemmt enfalten kann, und die vollkommene Freiheit
der Bewegung, die ihm die Erzählung gestattet, reichlichen Ersatz.

Nicht solche Handlungen also führt es vor, wo durch seltene
Fügungen Alles so gestellt ist, daß durch unmittelbar notwendig erfolgende
Entscheidungen nun vor unsern Augen der Schicksalsvollzug
sich ereignen muß, sondern es erfaßt einen in weiten Räumen
anhebenden, mehr und mehr sich zusammenfügenden, endlich
zum Abschluß gelangenden Schicksalsverlauf in seiner
Einheit; solche Einheit und die von diesem Gesichtspunkt
ganz anders bedingte Vollständigkeit ist der Gegenstand
der epischen Nachahmung.

Es wird daher immer ein Mißbegriff sein, sowohl eine dramatische
Handlung episch erzählen als eine epische Katastrophe dramatisch gestalten
zu wollen, weil die Grundbedingungen für beide wesentlich verschieden
sind.

Jm stärksten Gegensatz zum Drama zeigt also die epische Handlung
vielmehr die allmähliche Genesis des Schicksals, wie aus Kleinem [343]
sich das Große, aus Unbedeutendem das Bedeutende, aus Unbeachtetem
das verhängnisvoll Entscheidende sich gestaltet. Es kann aber gar nicht
anders sein, als daß bei solchem Handlungsverlauf, selbst wenn nur
das private Schicksal des Einzelnen ins Auge gefaßt wird, durch die
Erstreckung in die Weite und in die Breite allenthalben der organische,
innige und notwendige Zusammenhang des Einzelnen mit
dem Ganzen hervortritt,
das Einzelschicksal nicht allein auf dem
Hintergrunde des Schicksals der Gesamtheit erscheint, sondern in sich
das Gesetz repräsentiert, dem auch jenes unterworfen ist, der Einzelne
zum Typus seines Standes, seiner Nation wird, große Wandlungen,
Lösung wichtiger Fragen und Konflikte, die die ganze Zeit angehen, in
ihm sich vollziehen, ja, daß wohl gar die Einzelschicksale zu der Größe
von Entscheidnngen für ganze Völker und Epochen anwachsen.

Auch hier bleibt die Aufgabe, zu deren Lösung nun einmal die
Nachahmung von Handlungen allein die Kraft hat und der sie sich daher
niemals entziehen darf, unverändert: Schicksal und Charakter darzustellen
derart, daß für den die Nachahmung in sich Aufnehmenden der
Anlaß zur Klärung, zur wohlgefälligen Befriedigung, zur Erhebung des
Empfindens geboten wird, mit einem Wort, die Bedingung für die Bethätigung
der ästhetischen Freude. Aber wie anders sind die Mittel,
mit denen die Nachahmung durch Erzählung nun auf diesen Zweck hinzuarbeiten
die Möglichkeit und daher durch ihre technische Gesetzgebung
die Verpflichtung hat!

Da die Aufgabe ist, nicht sowohl das sich vollziehende Schicksal zu
zeigen als vielmehr vorzuführen, wie es wird, wie von langer Hand
her sein Vollzug sich vorbereitet, so ist einerseits darzustellen, wie von
früher Zeit an beginnend und von vielen Seiten her sich verflechtend
die Ereignisse die drohende Verwickelung und, sei es die verhängnisvolle
Katastrophe, sei es die erfreuliche günstige Lösung zuwege bringen;
andererseits sind die den Charakter enthüllenden Thaten hier nicht wie
im Drama unmittelbar vor Augen zu führen, sondern es sind die Voraussetzungen
für diese Charaktere und diese Thaten darzulegen, die
Empfindungs- und Gesinnungsweise der Handelnden ist zu schildern,
wie sie nach ihrer Anlage und nach den Umständen, unter denen ihre
Entwickelung stattfindet, sich herausbilden, nach allen Seiten unter dem
Einfluß der verschiedenartigsten Anregungen sich äußern, so daß die
thatsächliche Fortschreitung der nachgeahmten Handlung schließlich als
das notwendige Ergebnis von alledem betrachtet werden muß.

Daher ist die Darstellung von Empfindungen und Gesinnungen der
Handelnden, umgekehrt wie im Drama, für das Epos ein unbedingtes [344]
Erfordernis; außerdem ist es ebenso erforderlich, das Maß ihrer Einsicht,
Klugheit, Besonnenheit wahrnehmbar zu machen; ihre Denkweise, Ansichten
über alle in ihrem Lebenskreise bedeutsam in Betracht kommenden
Dinge: neben dem Pathos und Ethos also die Dianoia. Hiezu
hat die Erzählung vor allem das Mittel in jedem Augenblick beliebig
weit nach rückwärts greifen zu können, unter Umständen auch
ebenso in die Zukunft,
ein Verfahren, von dem das Drama nur
höchst eingeschränkten Gebrauch machen kann. Ferner steht der epischen
Nachahmung die unbegrenzte Anwendung von Neben- und Zwischenhandlungen
zu allen diesen Zwecken zu Gebote, die gleichfalls im
Drama einzig und allein gestattet sind, sofern sie unmittelbar dem
Fortschreiten der einen Haupthandlung dienen. Wenn die dramatische
Handlung, einmal begonnen, unaufhaltsam zum Ziele eilt, so liebt das
Epos die sogenannten retardierenden Momente: nicht auf schnellen
Vollzug des Schicksals kommt es an, sondern auf größeste Vollständigkeit
in der Breite. Da nun der Einzelne immer in seinen Beziehungen zum
Ganzen gezeigt wird, diese also von irgend einer Seite her mitwirkend
in die Handlung eintreten, so ist im Epos der Prozeß gleichsam des
Wachsens und Reifens des Schicksals notwendig ein langsamerer, der
reichere und kompliziertere Organismen erfordert, um bis in seine intimsten
Verzweigungen wahrgenommen und aufgefaßt zu werden, zahlreiche
Momente scheinbaren Stillstandes der Fortschreitung, in denen die
Pflanze um so mehr sich kräftigt, oder ohne Bild gesprochen, in denen
um so tieferer Aufschluß über das Wesen und Walten des Schicksals
und der dazu wirkenden Faktoren gewonnen wird.

Für alles dieses genügt es, um ein klassisches Beispiel vor Augen
zu stellen, nur mit einem Wort der Odyssee zu erwähnen.

Die Handlung ist die Rückkehr des Odysseus zur Bestrafung der
Freier: der weit überwiegende Teil des Gedichtes wird durch die für
das vollständige Verständnis dieser Handlung erforderlichen Retrospektiven,
Neben- und Zwischenhandlungen und unaufhörlichen Retardationen eingenommen.
Diese Handlung ist deswegen eine für das Epos so ungemein
günstige, der echte Typus episch dargestellten Schicksalswaltens,
weil alle diese Arten von Retardationen in der Natur der Handelnden
und ihrer Situationen mit Notwendigkeit gegeben sind: Jrrfahrten und
Mühsale, die den Helden bei seiner Rückkehr umhertreiben, Listen der
Freier um diese selbst und die Bemühungen des Sohnes für dieselbe
zu hintertreiben, die Treue der Gemahlin, die die Bewerbungen der
Freier hinzuhalten bestrebt ist, die Klugheit des Helden, die alle Mühsale
überwindet und den Vollzug der Rache bis zum rechten Moment verschiebt.

[345]

Ganz ebenso echt episch ist die Handlung der Jlias: der Zorn
des Achilleus, der ihm selbst und den Griechen Verderben bringt, bis
er durch den Tod des Patroklos seine Grenze findet. Der ganze Gang
der Handlung ist durch dieses über ihre gesamte Dauer sich erstreckende
Motiv Retardation; aber nicht etwa eine äußerliche, mechanische Verlangsamung,
sondern eine aus der innersten Natur der Handlung sich
entwickelnde Hemmung, die zur zwingenden Veranlassung wird, daß an
dem daran geknüpften Schicksal des herrlichsten Helden sich Leben und
Walten, Handeln und Schicksal der Fürsten und Völker entfaltet, in
reichster Fülle und dennoch überall jener einen, einfachen Haupthandlung
dienstbar.

So unentbehrlich ist dieses innere Hemmungsmoment für die epische
Handlung, daß wo es organisch nicht vorhanden ist, es äußerlich geschaffen
werden muß: derart sind die willkürlichen, äußerlich und mechanisch
eingefügten Erfindungen, durch die in der Masse der romantischen
Ritterepen die Helden von ihrem Ziele abgetrieben, entfernt gehalten
werden, um sie durch eine beliebig breite und bunte Masse von Abenteuern
umherzujagen. Auch hier zeigt sich wieder die überragende Stellung
des Parcival und Tristan: die Findung des Gral ist ein solches
organisches Hemmungsmotiv von hervorragender Vortrefflichkeit; diese
im Geiste des ritterlich=kirchlichen Zeitalters erfundene Symbolisierung
höchster psychologisch=ethischer Entwickelung erzeugt mit zwingender, überzeugender
Kraft eine Reihe von Handlungen, die trotz ihrer scheinbar
äußerlich=willkürlichen Verknüpfung durch eine organisch zusammenhängende
Reihe innerer Hemmungen zum vollendenden Abschluß hindurchführen;
so zwar, daß an diesem Lebensgange sich die bedeutsamsten Aufgaben
und Strebungen der Epoche darstellen. Von wenigstens ähnlicher Kraft
ist im Tristan der Kampf unbezwinglicher Liebesgewalt gegen alle das
Leben beherrschenden und die Gesellschaft erhaltenden Gesetze der Sitte,
der Treue und der Pflicht, wenngleich dem Dichter hier die Kraft zu
dem unabwendbaren tragischen Abschluß versagte; ein Umstand, der
keineswegs allein in der fragmentarischen Gestalt seines Gedichtes sich
kundgibt, sondern, was weit schwerer wiegt, auch in der Anlage und
Durchführung des Vorhandenen.

Aus alledem ergeben sich leicht die Gründe, warum eine episch angelegte
Handlung der dramatischen Gestaltung widerstreben muß. Selbst
wenn die Katastrophe sich in engere Kreise einschließt, oder wenn es
gelingt ihre Fülle und Breite durch allerlei Kunstmittel zu überwinden,
so muß im Drama doch alles weggelassen werden, um dessentwillen der
eigentliche Körper des Epos vorhanden ist; es vermag nur eine Art [346]
belebter Schaustellung von Einzelmomenten zu geben, die, selbst wenn
die Reihenfolge der Bilder noch so kunstreich verknüpft ist, der weit
angelegten äußeren und inneren Motivierung, zu deren Abschluß sie einzig
und allein bestimmt sind, immer entbehren werden. Jn den Nebenhandlungen
können sich echt dramatische Stoffe finden; so deutet das
Homerische Epos den Stoff zum Ajas wenigstens an (Odyssee: II,
543 ff.). Aber auch derartige, noch so günstige Stoffe sind untauglich,
wenn sie mit der Katastrophe des Ganzen unauflöslich verbunden sind.
An diesem Umstande muß jeder Versuch, den Charakter Rüdigers und
sein tragisches Schicksal zum Mittelpunkt einer dramatischen Darstellung
zu machen, scheitern; tragisch ist der Stoff im höchsten Grade, aber
ebenso im höchsten Grade episch. Ebenso wie Siegfrieds Tod
ist Rüdigers Untergang so unbedingt auf die Voraussetzungen des
Ganzen des Nibelungenepos gestellt, daß der eine und der andere
nicht ohne den Beginn, die Mitte und das Ende desselben vorgeführt
werden kann; geschieht es dennoch, so geschieht es um den Preis, daß
das wesentlichste Bedingnis, das für die künstlerische Nachahmung von
Handlungen überhaupt vorhanden ist, die Vollständigkeit, geopfert
wird. Durch alle derartigen Experimente, die aus dem Jrrtum
hervorgehen, das Tragische müßte immer zugleich auch
dramatisch sein,
geraten alle Dimensionen des Stoffes in eine solche
Verschiebung und Disproportion, daß keine Kunst den inneren Widerspruch
zwischen dem Wesen der Handlung und der ihr fremden Form
aufzuheben imstande ist.

Nach so weitem Umwege kann nun die Untersuchung zu der Frage
zurückkehren, von der sie ausging: Sind gute Handlungen mit
glücklichem Ausgange für die poetische Nachahmung geeignet?


Mit anderen Worten lautet die Frage, da sie für das Epos ja
entschieden ist: Steht dem Jdyll eine analoge dramatische Gattung
gegenüber? Was hat sie für eine Berechtigung, wie
ist ihre Gesetzgebung beschaffen?

Daß auf diesem Gebiete große Unsicherheit herrscht, zeigt schon die
übliche Namengebung. Was Trauerspiel oder Lustspiel ist oder sein
will, gibt sich deutlich genug kund. Nun begegnet aber auf dem Gebiete
zwischen beiden eine große und mannigfach verschiedene Zahl von
Dramen, in denen bald die rührenden, bald die erheiternden Züge
überwiegen, bald auch beide gleichberechtigt nebeneinander auftreten,
oder auch wohl entweder beide vor dem wuchtigen Ernst des Ganzen
zurücktreten oder zu Gunsten einer ganz freien, phantastischen Stimmung [347]
sich verflüchtigen, und für welche alle zum Unterschied von Tragödie
und Komödie eine Reihe von Separatbezeichnungen sich eingebürgert
haben. Da ist die Tragikomödie, das Schäferspiel, Hirtengedicht,
Singspiel,
die sogenannte larmoyante Komödie, das
genre sérieux, das Schauspiel, das sogenannte dramatische
Gedicht.

Das gemeinsame Kennzeichen aller dieser dramatischen Arten ist,
daß sie entweder ganz ohne ein komisches Element oder doch ein solches
nur beiläufig in sich aufnehmend, also entweder ganz ernster Natur oder
doch vorwiegend auf eine wohlgefällige Wirkung angelegt, sämtlich
einen glücklichen Ausgang haben, oder doch wenigstens keine
von ihnen jemals einen perniziösen Verlauf nehmen kann.

Andrerseits aber sind sie sämtlich, insofern sie wirkliche Dramen,
nicht etwa nur Gespräche sind, Nachahmungen von Handlungen durch
Handelnde, sie haben also sämtlich einen Schicksalsverlauf, und zwar
einen einheitlichen und vollständigen, darzustellen. Nach dem im Vorstehenden
Entwickelten setzt sich derselbe aus der Wechselwirkung zwischen
den stattfindenden Umständen und Ereignissen und den durch dieselben
hervorgebrachten oder in dieselben eingreifenden Willensentscheidungen
zusammen; Darstellung von Empfindungen und Gesinnungen, Ansichten
und Meinungen ist nur insoweit gestattet, als sie zur Vollständigkeit
des Handlungsverlaufs erfordert wird, darüber hinaus und um ihrer
selbst willen unbedingt ausgeschlossen.

Für einen solchen Schicksalsverlauf sind zunächst zwei Hauptfälle
zu unterscheiden: entweder derselbe stellt das Hereinbrechen
eines schweren, drohenden Verderbens dar,
dasselbe wird
aber durch die Güte, Vortrefflichkeit, mit einem Worte die Richtigkeit
der den Ausschlag gebenden Willensentscheidung der Haupthandelnden
vermieden: der Ausgang ist glücklich.
Der ganze
Verlauf erregt die Furcht vor dem Eintreffen des drohenden, irreparablen
Unheils, das Mitleid mit denen, die darunter leiden; der glückliche
Ausgang befreit von diesen Empfindungen, nicht ohne daß zuvor ihre
ganze Schwere empfunden ist. Dann fällt die Handlung und ihre ganze
Einrichtung unter die Gesetzgebung der Tragödie, von der eine
derartige Handlung einen ganz besonders komplizierten Fall mit ganz
genau zu bestimmenden Kompositionsregeln bildet. Ein solcher Fall
liegt in GoethesJphigenie“ vor, welche von dem Dichter allerdings,
offenbar eben wegen des glücklichen Ausganges, als „Schauspiel
bezeichnet worden ist.

Oder: die Handlung enthält die Darstellung schweren [348]
drohenden Verderbens überhaupt nicht, nimmt also auch den
entsprechenden Ausgang.

Der erste Fall scheidet für die vorliegende Untersuchung ganz aus;
denn entweder stellt er, richtig komponiert, eine echte Tragödie dar,
oder, fehlerhaft eingerichtet, kann er nur als Anomalie in Betracht
kommen. Eine solche Fehlerhaftigkeit würde überall da vorhanden sein,
wo der Verlauf zwar schicksalsvoll, aber nicht typisch, gesetzmäßig wäre;
wo also ein beängstigendes Geschick nicht den notwendigen
Verlauf nähme, sondern durch Zufall oder Willkür abgewendet
würde.

Der zweite Fall also umfaßt alle hier möglichen Arten und ihre
Abstufungen. Es wird zu vermuten sein, daß dieselben von den Grenzen
des Trauerspiels bis zu denen des Lustspiels hinüberreichen.

Das Wesen der Gattung wird am besten erkannt werden, wenn
man von dem zwischen beiden Grenzen liegenden Mittelpunkte ausgeht.
Derselbe liegt da, wo die Fehler der Handelnden und die Komposition
der Ereignisse weder schwere Befürchtungen und stark ergreifende Rührung
hervorbringen, noch von der Seite des Kontrastes des Lächerlichen
und Wohlgefälligen dargestellt sind, wo weder die tragische noch die
komische Wirkung zum Ziel genommen ist, wo also, da die Herstellung
der Bedingungen für das ästhetische Wohlgefallen der Zweck aller Kunstbestrebung
ist, diese Bedingungen unmittelbar durch die nachgeahmte
Handlung gegeben werden, direkt den ins Auge gefaßten
Nachahmungszweck bilden.

Das wäre also der Fall, für den in der epischen Gattung das
Jdyll eintritt.

Es ist aber auf den ersten Blick klar, daß, so vortrefflich sich die
epischen Mittel für die Darstellung dieses Falles eignen, so schwer die
dramatischen Mittel dafür passend gemacht werden können.

Jm Drama müssen Ereignisse und Entschlüsse möglichst unmittelbar
auf bedeutungsvolle Entscheidungen gestellt sein; je mehr es also seine
Bestimmung erfüllt, desto mehr nähert es sich entweder der tragischen
oder der komischen Wirkung, welche durch die idyllische Darstellung ausgeschlossen
werden. Diese letztere wird vielmehr nichts so sehr vermeiden
als jene prägnanten und acuten Entscheidungen; die Einrichtung der
Handlung wird möglichst ausschließlich dem gewöhnlichen, erwarteten
und natürlichen Verlauf der Dinge gemäß
getroffen
werden, und gerade dadurch, daß das ausgezeichnete Gleichmaß
in den Charakteren der handelnden Personen, die hervorragende
Güte, Gesundheit, Reinheit ihrer Empfindungen
[349]
und Gesinnungen, die Richtigkeit ihres Denkens und Meinens
die Handlung in diesem ruhigen Verlaufe erhält,
wird
das Jdyll jene von ihm bezweckte Wirkung unmittelbaren reinen Wohlgefallens
erreichen.

Alles, was zu solcher Darstellung erfordert wird, leistet das Epos.
Nicht gegenwärtiger, schnell zur Entscheidung fortschreitender Handlungsverlauf,
sondern weit angelegte, allmähliche, naturgemäße Entwickelung
wird dem Jdyll eigen sein; statt alles das auszuschließen, was nicht dem
entschiedenen Fortschreiten der Handlung dienstbar ist, wird es mit Vorliebe
gerade bei dem unscheinbaren Detail verweilen, aus dem die stille,
aber am Ende dennoch das Ganze entscheidend bestimmende, Bedeutung
des Alltäglichen, Stündlichen sich aufbaut; hier wird es mit breitest
ausgeführter Kleinmalerei an ihrer Quelle die Empfindungen, Gesinnungen
und Meinungen in möglichst vielseitigen Äußerungen zeigen, die
keineswegs allein dem gegenwärtig sich vollziehenden Fortschritte der
Handlung gelten, sondern zum mindestens ebenso großen Teile bestimmt
sind durch sich selbst zu interessieren; alle Arten von Retardationen,
Neben- und Zwischenhandlungen, vor allem das in heiterer Ungebundenheit
sich absichtslos bewegende Gespräch sind die dafür bereiten Mittel.1

Aber wenn solche Charakterdarstellung und solche durch die inhaltliche
Vortrefflichkeit des Vorgeführten an sich selbst die Billigung gewinnende,
das Wohlgefallen erzeugende Darstellung von Empfindungen,
Gesinnungen und Meinungen scheinbar schon außerhalb der Handlungsnachahmung
steht, so bestehen in der That für die idyllische Dichtung
gerade hier die strengsten Gesetze, deren Grenzen sie nicht überschreiten
kann ohne ihr Wesen zu vernichten. Es gibt keine sicherere Unterscheidung
zwischen dem echten Jdyll und dem falschen als diese, daß das letztere
sich in die bloße Malerei von Pathos, Ethos und Dianoia verliert,
und daß die erzählte Handlung also nur als ein Notgerüst erscheint,
auf welchem die bunte Pracht schöner Empfindungen, edler Gesinnungen
und weiser Betrachtungen ausgehängt ist; während im echten Jdyll über
alles dieses das klare und ganz fest bestimmte Gesetz des Vollständigkeitsbegriffes
der Handlung
entscheidet. Die Vollständigkeit
der idyllischen Handlung
verlangt, wie aus dem Gesagten [350]
von selbst hervorgeht, daß aus der solcherweise entfalteten inneren Welt
der Handelnden nicht sowohl sich alles das erklärt, was äußerlich geschieht,
als namentlich auch ─ was vielleicht paradox klingt ─ was
nicht geschieht: daß nämlich aus dem Maß, der Richtigkeit und Gesundheit
des Denkens und Empfindens der Handelnden sich dem ästhetischen
Urteil des Wahrnehmenden gewissermaßen durch den Augenschein
erklärt, wie in ihren Schicksalen ─ so lange keine übermächtige fremde
Gewalt von außen eingreift, und diese eben ist ja in der Handlung
ausgeschlossen ─ notwendig das Beängstigende und Mitleiderregende
ebenso fern bleiben muß als das Lachenerregende, und wie aus der
inneren Harmonie naturgemäß das äußere erfreuliche Gedeihen sich entwickelt.
Mit sanfter Gewalt durchdringt uns zugleich das wohlgefällige
Gefühl höchster Befriedigung und die ohne Reflexion entstehende, aber
nicht minder gewisse Ueberzeugung, daß dieselbe Trefflichkeit der Gesinnungen,
die hier als Schöpferin und Erhalterin des Glückes sich
kundthut, gegenüber dem hereinbrechenden Unglück sich als fest und
dauernd bewähren würde.

Dadurch, daß die gesamte ethische Charakteristik also immer eng
an das Ganze der Handlung geknüpft ist, wird das echte Jdyll auch
vor jenem andern schlimmen Fehler der falschen Jdyllendichtung bewahrt,
schlechthin Vollkommenes darzustellen; die kleinen Fehler und
Schwächen der Handelnden und leichte Jrrtümer in ihren Entscheidungen
dienen, indem sie den heitern Ernst mit leisen Zügen des
Rührenden und Komischen durchweben, zugleich zur Erhöhung der
Naturwahrheit der Nachahmung und zur reizvollsten Abwechselung ihrer
Wirkung.

Sofort zeigt sich nun, warum wohl das falsche Jdyll sein dramatisches
Abbild hat ─ denn was ist einfacher als einen dialogischen
Austausch harmonischer Empfindungen, wie Geßners sogenannte Jdyllen
ihn darbieten, in notdürftige Handlung gesetzt auf die Bühne zu bringen!
─ wie aber das echte Jdyll durch jedes einzelne seiner wesentlichen
Erfordernisse den Mitteln der dramatischen Darstellung unerreichbar ist.1
Die eigentliche, thatsächlich fortschreitende Handlung des Jdylls ist viel
zu unbedeutend, oder sie besteht aus einer Reihe von für sich genommen
viel zu unbedeutenden Momenten, als daß irgend eine Veranlassung
vorhanden wäre, die bedeutungsvolle Nachahmung durch Handelnde für [351]
dieselbe erforderlich zu machen, oder daß dieselbe irgendwie gerechtfertigt
wäre; denn eben die bedeutungsreichen und schicksalsvollen Entscheidungen,
in denen solche Veranlassung und solcher Grund liegt, dürfen in der
idyllischen Handlung niemals enthalten sein.1 Andererseits ist die Fülle
der nach Zeit, Ort und Handlungsinteresse weithin nach allen Seiten
zerstreuten Veränderungsmomente, die in der Erzählung durch die Forderung
der inneren Vollständigkeit der Handlung ihre Vereinigung zum
Ganzen finden, für die dramatischen Mittel absolut undarstellbar.

Es scheint demgemäß dasjenige in der dramatischen Nachahmung,
was weder entschieden der Tragödie noch der Komödie zugehört, doch
dem einen dieser beiden entgegengesetzten Pole zustreben zu müssen, so
daß eine besondere dramatische Gattung zwischen den beiden mit
eigener Gesetzgebung nicht vorhanden wäre, sondern es von jenen Polen
aus nur gewissermaßen graduelle Abstufungen gäbe, die, je mehr sie nach
der Mitte zu vorgerückt wären, desto mehr sich einander nähern müßten.
Da hier durchgängig die äußere Handlung von weniger entscheidender
Art ist, das tragische Element ebenso durch den Ausgang gemildert als
das Komische durch den beigemischten Ernst herabgemindert erscheint, so
werden die für jene Gradationen maßgebenden Faktoren vorzugsweise
auf der Seite der inneren Handlung zu suchen sein, in der Beschaffenheit
des dieselbe bestimmenden Ethos und des darin zur Erscheinung
kommenden Maßes von Phronesis; und zwar wird das die Abstufungen
bestimmende Moment vornehmlich in der Art und Weise und dem
Maße der nach beiden Seiten im Handeln stattfindenden Fehlerhaftigkeit
liegen.

Aus diesem Sachverhalt erklärt sich das Schwanken der Theorie
auf diesem Gebiete; denn jene graduellen Abstufungen genügen einerseits
um die Zugehörigkeit der hier in Frage kommenden Dramen zu
einer der beiden Hauptgattungen prinzipiell auszuschließen, andererseits
erzeugen sie, bei dem Mangel eigener, fester Gattungsbestimmungen, die
Neigung jene Stücke der einen oder der anderen ihrem allgemeinen
Charakter nach nun dennoch hinzuzurechnen.

Hier ist also eine genaue Abgrenzung erforderlich: es sind die
Grenzen dieses mittleren Gebietes gegen die Tragödie sowohl als [352]
gegen die Komödie hin festzustellen und es ist weiter zu untersuchen, ob
für das so umschriebene Gebiet ein bestimmtes gemeinsames Prinzip
existiert, welches eine besondere, klar zu definierende Gattung konstituiert.

Diejenigen sogenannten „Schauspiele“, die an die Tragödie
zunächst angrenzen, werden nach den obigen Bestimmungen von der Art
der ethischen Tragödie sein, d. h. solcher, wo das die Befürchtungen
und mitleidigen Empfindungen erregende Schicksal zum überwiegenden
Teile durch die Gesinnungsweise des Handelnden bestimmt wird, ohne
dieselbe also eben gar kein tragisches Element in sich haben würde.
Hier sind nun wieder zwei Hauptfälle zu unterscheiden: daß nämlich
erstens die ethische Fehlerhaftigkeit des Handelnden ihre vollen Konsequenzen
nach sich zieht, diese Konsequenzen aber an sich nicht verderblicher
Natur
sind, sondern für einen Andern zwar wohl unerwünscht,
aber erträglich, für die Gesinnungsweise des Handelnden aber
derart, daß sie sein persönliches Glück zerstören. Man sieht, hier
liegt ein im strengen Sinne tragischer Fall nicht vor,
aber
der Fall nähert sich der wirklichen Tragödie so sehr, daß ihre Bedingungen
für alle diejenigen, welche sich völlig in die Gesinnungsweise
des Handelnden zu versetzen vermögen, allerdings
erfüllt werden.
Dieser Fall ist, als in einem klassischen
Musterbeispiel, in GoethesTasso“ vertreten.

Ähnlich liegt der Fall in GoethesGötz“, den der Dichter in
der späteren Bearbeitung gleichfalls „ein Schauspiel“ nennt. Das tragische
Element des Stückes liegt in dem Widerstreit von Götzens Gesinnungs=
und Denkweise gegen die Bedingungen seiner Zeit, worin
Richtiges und Berechtigtes mit Unberechtigtem und Fehlerhaftem in
nahezu gleichen Teilen vermischt ist, der aber die Wirkung hat, sein
Leben zu einer ununterbrochenen Kette von Unglücksfällen und Mißerfolgen
zu gestalten. Wäre dieses Verhältnis in eine einzige entscheidende
Handlung zusammengedrängt, die aus demselben ein verderbliches Schicksal
hervorgehen ließe, so wie es z. B. unter im Uebrigen gänzlich verschiedenen
Umständen, aber mit ähnlichem Grundverhältnis zwischen dem
Ethos des Handelnden und seinem Schicksal, in Shakespeares
Coriolan“ geschieht, so läge der Stoff zu einer echten Tragödie vor.
Das geschieht aber nicht; Götz von Berlichingen stirbt eines natürlichen
Todes, freilich so, daß sein Lebensmut und seine Lebenshoffnung durch
eine lange Reihe einzelner Widerwärtigkeiten, die ihm von überall her
begegnen, gebrochen sind. Daß die Dichtung in den Nebenhandlungen
von tragischem Stoff überfüllt ist, ändert an der Thatsache nichts, daß
die tragische Decision und Energie der Haupthandlung mangelt.

[353]

Übrigens macht dieser wichtige innere Mangel sich ebenso für den
Tasso“ wie für den „Götz“ in weiteren Konsequenzen geltend.
Wenn auch im „Tasso“ sowohl in betreff der Komposition der nun
einmal erwählten Handlung als der Charakterdarstellung und der Form
des Ausdrucks die höchste Meisterschaft waltet, so ist durch den Mangel
der Energie, welche allein durch die echt tragische Einrichtung der Handlung
verliehen wird, doch die volle Wirkung des Stückes auf einen verhältnismäßig
engen Kreis von Wahrnehmenden eingeschränkt, auf die
immerhin geringe Zahl derer, welche einmal überhaupt auf die Höhe
der darin dargestellten exklusiven Denkweise sich zu erheben und ferner
mit der so höchst subjektiven Empfindungsweise des Helden lebhaft mitzufühlen
vermögen. Die Wirkung auf die Massen von der Bühne aus
kann die Schönheit dieses Dramas niemals erreichen.

Diese Wirkungsfähigkeit fehlt der auf das Kräftigste bewegten
Handlung des „Götz“ nun zwar keineswegs, aber dafür entgeht ihr
die Jntensität der echten Tragik; diese der Haupthandlung unvertilgbar
innewohnende Schwäche war es, die zur Belastung derselben mit zahlreichen
tragischen Episoden führte, die jene Unzulänglichkeit anfänglich
wohl verdecken konnten, ohne daß alle späteren Versuche veränderter
Bühneneinrichtung ihr doch abzuhelfen imstande waren; durch denselben
innerlich wirkenden Grund wurde der Handlung die Konzentration auf
einen Punkt, die echt dramatische Einheit, entzogen und dieselbe in eine
den Bühnengesetzen von Ort- und Zeitbeschränkung schlechterdings widersprechende
Reihe von Einzelbildern auseinandergezogen.

Der zweite Fall des an die ethische Tragödie angrenzenden
„Schauspiels“ ist der, daß zwar ganz wie im ersten das Befürchtung
erregende Element sich aus dem Ethos der handelnden Personen entwickelt,
auch im Verlauf der Handlung die entsprechende Wirkung auf
die Empfindung zur Geltung kommt, daß aber die Konsequenzen
desselben durch den Verlauf der Handlung überhaupt
vermieden werden.

Dabei muß notwendig unterschieden werden, ob diese Vermeidung
eine durch die gesamte Einrichtung der Handlung gerechtfertigte ist,
oder ob sie im Gegensatze zu den Forderungen derselben, also unberechtigt,
willkürlich, gewaltsam
herbeigeführt ist. Dieser letztere
Fall ist es, der schon früher als eine Anomalie bezeichnet wurde, welche
durch fehlerhafte Behandlung eines an sich tragischen Stoffes entstände.

Das hervorragendste Beispiel derart, in allem Übrigen ein Meisterstück,
durch diese anomale Kompositionsweise aber von Grund aus verfehlt,
ist Goethes „Stella“, „ein Schauspiel für Liebende.“

[354]

Alle Kunst der Ausführung des Einzelnen, Wahrheit und Kraft
der Charakteristik, Glut der Leidenschaft, Geschick des scenischen Aufbaues,
kann gegen die fehlerhafte Einrichtung der Handlung dieses
Stückes nichts ausrichten; denn dieselbe besteht, wie gesagt, von Grund
aus und konnte durch den ins Tragische veränderten Abschluß ─ eine
Veränderung, die sich ja leicht bewirken ließ ─ keineswegs verbessert
werden. Diese Umwandlung, die Goethe im Jahre 1805 vornahm und
in der das Stück 1815, vierzig Jahre nach seinem Entstehen, aufs Neue
erschien, machte aus einem fehlerhaften Schauspiel eine sehr fehlerhafte
Tragödie; man fühlt sich versucht dem Urteil der Frau von Stein beizustimmen,
die das Stück nicht gerade liebte, aber dessen erster Gestalt
entschieden den Vorzug gab.

Goethe ließ sich zu dem tragischen Abschluß durch die schweren
moralischen Bedenken bestimmen, die gegen die erste Fassung mit Recht
erhoben waren; aber der Schluß hob nicht die Voraussetzungen auf, die
von jenen Bedenken nicht weniger getroffen werden. Goethe hatte guten
Grund des Stück „ein Schauspiel für Liebende“ zu nennen, denn
die drei Personen, unter denen es vor sich geht, handeln nicht nur
einzig und allein aus dieser Leidenschaft, sondern alles, was wir von
ihren früheren Handlungen, von ihrem gesamten Denken und Empfinden
hören, ist durch die Alleinherrschaft derselben bestimmt, und zwar so,
als ob diese Leidenschaft eine blinde Naturgewalt wäre, deren jeweiliger
Einwirkung jede andere Rücksicht unbedingt zu weichen habe. Wohl
kann die alles überwindende Macht der Liebe die bewegende Kraft einer
tragischen Handlung sein; aber dann muß das spezifisch=tragische Element
in die Schicksalsverhältnisse gelegt sein, die eben nicht anders
überwunden werden können als durch die höchste Entfaltung dieser Gewalt.
So ist es in Shakespeares „Romeo und Julie“ geschehen.
Aber in „Stella“ ist nicht der Heroismus der Liebe gezeigt, der im
Gefühl seiner inneren Berechtigung kühn den schwersten Hindernissen
Trotz bietet, sondern thörichte Ueberschwenglichkeit überspannter Empfindung:
wenn die Heldin des Stückes um einer „Grille“ des Mannes,
den sie kaum erblickt hat, genug zu thun, einem nichtigen „Stolz“, der
es ihm reizend erscheinen läßt, „sein Mädchen heimlich als Beute für
sich zu haben“, alles hinter sich läßt, alle ihre Pflichten vergißt und
sich aller Selbstachtung ohne Besinnen begibt. Daß sie damit in ihr
Unglück rennt, ist jammervoll, aber keineswegs tragisch. Noch viel
untragischer, auf dem Boden der Tragödie sogar höchst widerwärtig, ist
Fernando, den die wechselnden Paroxysmen zweier Liebesleidenschaften,
die bei ihm ganz an die Stelle des Willens getreten sind, ohne [355]
einander auszuschließen, bald auf die eine bald auf die andere Seite
gezogen haben und vor unseren Augen fortfahren wie einen Spielball
hin und her zu werfen. Seine haltlose Schwäche, mit der er Frau
und Tochter im Stiche läßt, die Geliebte verdirbt und dann wieder sich
bereit zeigt diese aufzugeben um jenen zu folgen, wirkt, statt tragisch zu
ergreifen, empörend; poetisch, oder was dasselbe ist, ästhetisch erträglich
wird sie nur unter einer Bedingung, und diese Bedingung verlangt,
wie sich sogleich zeigen wird, gebieterisch den Ausgang des „Schauspiels
und schließt die tragische Wendung aus. Ganz eigentlich dem
Schauspiel angehörig ist die dritte Person des Dramas, deren Rolle
auch in der „Tragödie“ vollständig unverändert geblieben ist: Cäcilie.
Auch bei ihr ist die einzige bestimmende Empfindung die Liebe, aber
eine Liebe, die von aller Selbstsucht frei auf Versöhnung im weitesten
Umfange bestrebt ist, bereit, nicht nur das eigene, durch den Ehebund
geheiligte Recht aufzugeben, um das Glück des Gatten und seiner Geliebten
zu retten, sondern die Heiligkeit des Ehebundes selbst. Jhre
wohlmeinende gutmütige Toleranz stellt sich das ideale Glück einer
Familie vor, die aus ihr selbst und ihrer erwachsenen Tochter, dem
Gatten und Vater und dessen also notwendig illegitim mit ihm verbundener
zweiter Frau besteht: ein freundliches, alles angestiftete Unheil
ausgleichendes Kompromiß, welches allein denkbar ist auf der allerdings
durch das ganze Stück bei allen Beteiligten sich als gleichmäßig vorhanden
erweisenden Grundlage, daß sie sämtlich den leidenschaftlichen
Liebesaffekt als über allen Lebensgesetzen stehende, berechtigt regierende
Naturgewalt anerkennen. Mit diesem Kompromiß schließt das „Schauspiel
für Liebende“ ab, während in der „Tragödie“ ein solches alle
Teile zufriedenstellendes Arrangement nur deswegen nicht zustande kommt,
weil Stella in voreiliger Verzweiflung, ehe sie von diesem rettenden
Auswege verständigt ist, ihrem Leben ein Ende gemacht hat. Nach ihrem
ganzen Naturell mußte sie darauf eingehen, wenn sie nur rechtzeitig
davon erfuhr; auch nach dieser Seite ist also die erste Fassung die
konsequente, die spätere eine gekünstelte und nach jeder Richtung hin
unbefriedigende: denn nun hat Stella sich ohne Not geopfert, Fernando,
zum vierten oder fünftenmale inkonsequent, überläßt abermals Weib
und Kind einem ungewissen Schicksal, und Cäcilie ist trotz all ihrer
weitherzigsten Gutmütigkeit durch einen fatalen Zufall abermals vor die
Thüre gesetzt.

Der Strenge der tragischen Schicksalsforderungen und =Bedingungen
ist durchweg arg widersprochen; deswegen ist die Wirkung der „Tragödie“
Stella auch eine überwiegend peinliche.

[356]

Die einzige Bedingung, unter der das Drama mit den Schönheiten,
die es enthält, zu seiner Geltung gelangt, ist, daß es von dem
Standpunkt aus betrachtet wird, von welchem aus es empfunden und
gedichtet wurde, der allerdings nicht der absolute, ästhetisch normale,
künstlerisch berechtigte ist, sondern ein relativer, wenn man will, pathologischer.
Die Dichtung ist ein Niederschlag der Anschauungsweise, die,
der Sturm- und Drangzeit überhaupt charakteristisch angehörig, um die
Zeit, als „Stella“ entstand, auf ihrem Höhepunkte war: daß die starke
Leidenschaft das Beste sei, was der Mensch in sich habe, daß ihrer
heiligen Stimme zu folgen ein Gebot der Natur sei, daß Sitte, Gesetz,
staatliche und gesellschaftliche Jnstitutionen und Gewohnheiten, wo sie
ihr widersprächen, im Unrecht wären. Aus diesen Gefühlen und Gesinnungen
handeln alle Personen der „Stella“. Der große Vorzug nun
und das „Goethesche“ des Gedichtes ist, daß dieses Gefühl und
diese Gesinnung überall mit der Wahrheit und Reinheit, dem Feuer
und dem Seelenadel sich darstellen, die unter allen ihm allein eigen
waren. Pathologisch blieb der Standpunkt, den er mit seiner Zeit damals
teilte, nichtsdestoweniger; denn wie der Dichter selbst, bei aller
Frische und Fülle der Empfindung, nach den verschiedensten Seiten gleichzeitig
und bald hierhin bald dorthin seine leidenschaftliche Neigung
wandte, so gründete er die Handlung dieses Dramas auf die willkürliche
und unwahre Voraussetzung, daß die unbedingte Hingabe an die Leidenschaft,
wenn diese nur wahr empfunden sei, von der Fülle und dem
echten Adel der Seelenkräfte Zeugnis gebe. Allein aus dieser leidenschaftlich=sentimentalen
Anschauungsweise der Epoche der siebziger Jahre
ist die „Stella“ verständlich und erträglich.

Nun aber erwäge man, daß hier nicht etwa wie später in „Kabale
und Liebe“ das Naturrecht der Leidenschaft gegen unerbittlichen Zwang
in Kontrast gesetzt ist; in den äußeren Umständen liegt nichts, was die
Seelen hindert sich ganz dem Gefühle hinzugeben, vielmehr ist mit
fleißigem Bedacht alles darauf eingerichtet, dem freiesten Zuge des
Herzens die Wege zu ebnen: und die Überzeugung ergibt sich, daß nur
ein späteres, dem Zug und Gange des Stückes ganz fremdes Zugeständnis
des Dichters an Forderungen der Sittlichkeit die Umwandlung
ins Tragische herbeiführen konnte, während die ursprüngliche glückliche
Lösung mit innerer Notwendigkeit durch die eigentümlichen Voraussetzungen,
nach denen die handelnden Personen denken und fühlen, bedingt
ist.

Das für die vorliegende Frage wichtige Ergebnis ist also dieses,
daß der das Stück beherrschende Darstellungszweck, der seine Entstehung [357]
veranlaßte, nicht die Vorführung des großen unerbittlichen Schicksalsgesetzes
ist, sondern die Nachahmung einer Handlung, in der die triumphierende
Macht der Liebesleidenschaft offenbar werden sollte, das sympathetische
„Neigen von Herzen zu Herzen“, in dem trotz aller ihm eigenen Schmerzen
doch die Freuden überwiegen, das in seiner unendlichen Fülle die Kraft
zeigen sollte die selbstgeschaffenen Leiden zu überwinden. Es ist keine
treffendere Erklärung des Stückes denkbar, als die der Dichter selbst in
der zweiten Hälfte der Strophe gegeben hat, die er 1776 in das für
Lili bestimmte Exemplar schrieb:


Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe

Ein Herz das andre zieht,

Und daß vergebens Liebe

Vor Liebe flieht!

Das Schicksalswalten, das zum Bewußtsein und zur
Empfindung zu bringen
die eigentliche Aufgabe der Tragödie ist,
wird mit seinem furchtbaren Ernste ferngehalten; an seiner Stelle bemächtigt
ein jugendlich trunkenes Gefühl sich der Herrschaft über den
Schauplatz: sich selbst in seiner angemaßten Berechtigung darzustellen
greift es zu dem Mittel der dramatischen Nachahmung. Diesen Zweck,
mag er immerhin seinem Jnhalte nach ein verfehlter sein, erfüllt das
Schauspiel“ Stella, die „Tragödie“ vernichtet ihn, und ohne den
Fehler zu korrigieren, erschafft der tragische Abschluß nur einen unerfreulichen
Zwiespalt: der sittliche Ernst, der ihn diktiert, steht in einem
Widerspruche zu dem innern Leben des ganzen Stückes, der nicht
allein dessen Ablauf verändert, sondern es seiner gesamten Anlage nach
aufhebt.

Demgemäß ergeben sich aus dieser ganzen Abschweifung die folgenden
Resultate:

Durch die gänzliche Vermeidung der tragischen Schicksalskonsequenz,
also durch den rein glücklichen Ausgang,
wird in allen Fällen die Gesetzgebung, Einrichtung und
der Wirkungszweck der Tragödie aufgehoben, die dramatische
Nachahmung also auf einen ganz veränderten Boden
gestellt, außer in einem einzigen Falle.

Dieser eine Fall ist der schon von Aristoteles festgestellte,
daß durch ein drohendes furchtbares Verderben im
Verlaufe der Handlung alle Bedingungen der Tragödie
erfüllt werden, die Furcht und Mitleid erregende Schicksalsverwickelung
aber auf einer Verkennung beruht, welche
[358]
durch rechtzeitige Erkennung also gelöst wird. Es ist der
schon erwähnte Fall der „Jphigenie“; er findet seine nähere Erörterung
in dem Abschnitte von der Tragödie, von der er eine besondere
Art,
nach des Aristoteles Meinung sogar die vollkommenste bildet.

Jn allen andern Fällen wird durch den glücklichen Ausgang trotz
des etwa vorhandenen scheinbar tragischen Ernstes der Handlung eine
von der Tragödie auf das Strengste geschiedene Gattung bedingt, die
also nach dem Obigen in ihrem Wesen nach dem Lustspiele zu gravitieren
wird.

Es gilt das Wesen dieser Gattung zu erkennen; dasselbe stellt sich
in dem Zwecke der Handlungsnachahmung dar; aus dem Zwecke der
dramatischen Nachahmung
ist in allen Stücken die Gesetzgebung
derselben zu bestimmen.


XX.

Das Gebiet der Tragödie reicht so weit, als dieser Zweck darin
besteht, durch gesetzmäßigen Verlauf der Handlung die Ubermacht des
Schicksals über die menschliche Kraft zu zeigen und demgemäß die Furcht
vor demselben zu erwecken und das Mitleid mit denen, die darunter
leiden. Jhr Gebiet hört also an dem Punkte auf, wo das Schicksal
nicht mehr als die unwiderstehliche Ubergewalt erscheint, sondern wo
eine gesetzmäßig verlaufende Handlung solche Schicksale zeigt, in denen
umgekehrt die menschliche Kraft maß- und formgebend ist. Dort sind
die Umstände stärker als der Mensch:
solche Süjets, richtig
behandelt,
erhalten die Kraft die tragischen Empfindungen und
durch sie die ästhetische Freude zu erwecken; hier ist der Mensch
stärker als die Umstände:
wenn nun derartigen Süjets dasselbe
Vermögen, die ästhetische Freude zu erwecken mitgeteilt werden soll,
aber nicht durch die tragischen Empfindungen, so entsteht die Frage:
welche Empfindungen zu bewirken sind denn sie durch den
ihnen innewohnenden Nachahmungszweck bestimmt?

Das Gemüt des Wahrnehmenden bleibt hier von Furcht und
Mitleid frei,
es ist daher ganz der Beurteilung des Verhältnisses
zwischen dem Verhalten und den Willensentscheidungen
der Handelnden und ihren Umständen und Geschicken
zugewandt;
da dieses Urteil nun aber kein logisches, sondern
ein ästhetisches ist, also nur entweder nach der Seite des Wohlgefallens
oder der des Mißfallens entscheidet, da ferner der letzte Endzweck
aller künstlerischen Veranstaltung doch immer ist, die Bedingungen [359]
für die Entstehung der Hedone, der ästhetischen Freude, hervorzubringen,
so kann es nicht anders sein, als daß in diesem Falle die
wohlgefällige Empfindung selbst, die durch den Handlungsverlauf
erregt wird, unmittelbar in den Nachahmungszweck
mit eingeschlossen sein muß, denn ohne dieselbe könnte
eine derartige Handlungs-Komposition nimmermehr die
Kraft (δύναμις) erhalten, freuderregend zu wirken.

So würde an dem Punkte, wo das Trauerspiel aufhört, das
Lustspiel ─ den Begriff der Lust in dem soeben bezeichneten Sinne
genommen ─ beginnen.

Hier aber erst trifft die Untersuchung auf den Kern der Frage:
auf die Frage nämlich, wie kann es geschehen, daß vermittelst der
Empfindung des Wohlgefallens an dramatisch nachgeahmten Handlungen
der Zweck der Kunst, den Anlaß zu der höchsten ästhetischen Lust zu
schaffen, erreicht wird?

Die Grenze ist eine scharfe und unzweifelhafte; jenseits derselben
verfolgt das Drama seinen höchsten Zweck, wo es dem Jnhalte
nach, wenn auch in ganz verschiedener Weise, den höchsten religiösen
Vorstellungen parallel läuft: es stellt das gewaltige, göttliche
Schicksal dar. Diesseits
der Grenze stellt es zwar auch Schicksal
dar, denn alle Handlung ist von Schicksal begleitet und ist
selbst ein Teil des Schicksals, aber es zeigt statt der zerschmetternden
göttlichen Gewalt, deren Anerkennung im Gesamtempfinden die
Tragödie erzielt, jenen ganzen übrigen Teil des Schicksals,
wo das Handeln unmittelbar oder trotz widriger Umstände
und mancherlei Jrrungen zum erwünschten Ende führt.

Welcherlei Handlungen derart sind nun geeignet, die der dramatischen
Gattung eigene Hedone zu erregen?

Jm Handeln zeigt sich die höchste Äußerung aller vereinigten
Seelenvermögen gleichsam wie die Blüte und die Frucht der Pflanze
ist die Gesinnung und das daraus hervorgehende Handeln das Resultat
und die Repräsentation des gesamten geistigen Organismus. Es gibt
nun eine Tugend des richtigen, guten Handelns, für die der Grieche
eine besondere Bezeichnung hat, die Phronesis, die aber im Deutschen
durch die Worte Besonnenheit, Verständigkeit, maßvoller Sinn,
noch nicht erschöpfend bezeichnet wird, sondern die zugleich die Einsicht
und die Herzensgüte einschließt, die Klarheit des Denkens und
die Gesundheit des Empfindens. Aristoteles definiert diese
Tugend der Phronesis als: das zum bleibenden Besitz gewordene
verstandesbewußt wahrheits gemäße Verhalten im
[360]
Handeln in Bezug auf das menschlich Gute.1 Empfindung,
Vernunft und Willensbestreben
kommen dabei gleichmäßig in
Betracht, ihnen allen muß das Attribut der Richtigkeit, der Übereinstimmung
mit der Wahrheit innewohnen, und zwar muß das alles nicht
nur in Bezug auf einzelne Handlungen stattfinden, sondern als eine
unverlierbare Beschaffenheit (ἕξις), für die es kein Vergessen gibt,
dem ganzen Wesen eingeprägt sein. Das wäre nicht der Fall, wenn
die Phronesis nur auf verstandesbewußter Entscheidung im Handeln
beruhte, also nur Einsicht, Verständigkeit wäre.2

Obgleich demgemäß die Phronesis ohne die bewußte Mitwirkung
des Verstandes und der Vernunft, und zwar beider in wahrheitsgemäß
bestimmter Thätigkeit, nicht denkbar ist, so beruht sie ihrem Wesen nach
doch darauf, daß die Empfindungs- und Gesinnungsweise ebenso, also
auch das Begehrungs- und Willensvermögen, mit solcher Verstandes=
und Vernunftthätigkeit sich in völligem Einklange befinden, so daß also
diese in jene völlig übergegangen, in allen Äußerungen jener fortwährend
gegenwärtig ist. So kann es geschehen, daß, obwohl in Wahrheit
die Willensentscheidungen nicht ohne Überlegung und bewußte Wahl
nach Vernunftgründen vor sich gehen, sie dennoch als unmittelbare
Wirkungen der Empfindungskräfte, als unbewußt und notwendig erfolgende
Manifestationen der ethischen Gesamthaltung erscheinen: die
Folge davon aber ist, daß sie demgemäß auch unmittelbar,
ohne das Dazwischentreten der logischen Reflexion, in ihrer
vollen Eigenart durch das Empfindungsvermögen aufgenommen,
durch das Empfindungsurteil richtig geschätzt
werden können, daß sie rein ästhetisch wahrnehmbar und
wirksam sind.

Dazu aber ist notwendig, daß die handelnden Personen nicht
allein nach ihrer Empfindungs- und Gesinnungsweise und
ihrem Begehrungsvermögen
(πάθος, ἦθος, ὄρεξις) so beschaffen
sind,
wie die Tugend der Phronesis es voraussetzt, sondern daß diese
Beschaffenheit in bestimmten Willensentscheidungen zu Tage
tritt, und zwar innerhalb so gearteter Umstände,
d. h. also
in einer derartig eingerichteten äußeren Handlung, daß die=
[361]
selbe gerade diese ihre so beschriebene Beschaffenheit in das
hellste Licht setzt.

Das erste liegt im Bereich der epischen Nachahmung, die für die
Darstellung ethischer Beschaffenheit weiten Raum bietet; das zweite,
welches für die Nachahmung der Handlung die höchste Vollständigkeit
verlangt, kann allein durch die dramatische Darstellung geleistet
werden.

Es wäre also die Aufgabe, durch Nachahmung von Handlungen,
in denen Phronesis zur Erscheinung kommt, das wohlgefällige Empfindungsurteil
hervorzurufen.

Nun äußern sich aber alle Seelenvermögen, die bei der Beurteilung
solcher Handlungen in Thätigkeit kommen, nicht allein positiv, sondern
mit derselben Stärke, Bestimmtheit, mit derselben unfehlbaren
Sicherheit auch negativ. Nicht allein, daß das Leben diese Thätigkeit
fortwährend gleichmäßig nach beiden Seiten anregt, so sind auch die
positiven und negativen Äußerungen, die sich notwendig gegenseitig
komplementär bedingen, unaufhörlich darin begriffen, einander wechselseitig
zu berichtigen, zu klären, in sich selber zu befestigen. So steht im
Bereich des Verstandes gleichberechtigt der Bejahung des Richtigen die
Verneinung des Falschen, Verkehrten gegenüber, im Bereich der Vernunft
der Billigung des Guten und der damit verbundenen Freude die
Verwerfung des Schlechten, Bösen, und der damit verbundene gerechte
Zorn und Abscheu; das Begehrungsvermögen zeigt sich eben so stark
und entschieden in der Verfolgung (δίωξις) des rechten Zieles, wie in
der Abwendung, Flucht (φυγή) von dem unrichtigen; die Empfindungen
und Gesinnungen endlich nehmen alle diese Stimmen für und wider in
sich auf und treten in der entsprechenden Form und Weise in die Erscheinung.
Wie nun mit jeder dieser richtigen und gesunden Lebensäußerungen
des Empfindungsvermögens, die aus dem richtigen Grunde
in der richtigen Form und dem rechten Grade an der rechten Stelle
erfolgen, notwendig Lustgefühl, Freude, Hedone verbunden
ist
─ wie denn die Hedone immer und überall als Begleiterscheinung
der Thätigkeit auftritt und zwar im höchsten Grade und der reinsten
Weise bei dem Maximum der höchsten und reinsten ─, also mit der
klar erkannten Verneinung, der gegründeten Mißbilligung, dem gerechten
Zorn ebenso wie mit ihrem positiven Gegenteile: so wird notwendig
dasselbe auch stattfinden bei der Thätigkeit der ästhetischen
Wahrnehmung gegenüber der Nachahmung von Handlungen,
die aus solchen Empfindungsäußerungen hervorgehen, und
des dabei sich zur Klarheit herausbildenden ästhetischen Ur=
[362]
teils. Auch hier wird die positive und die negative Bethätigung unauflöslich
verbunden und komplementär bedingt sein, in reciproker
Wirkung
werden beide sich aneinander berichtigen und sich wechselseitig
läutern,
bis sie zur Reinheit, also zu ihrem qualitativen
Maximum hergestellt, zu einer Quelle reiner und hoher
Freude werden
(der οἰκεία ἡδονὴ τῆς τοιαύτης μιμήσεως, der
dieser Gattung von Nachahmung eigenen Freude).

Es wäre also die Aufgabe neben der wohlgefälligen Empfindung
an dem Teile der Handlung, in dem die Äußerungen der Phronesis
unmittelbar zur Erscheinung kommen, andrerseits durch die Vorführung
ihres Widerspiels die entgegengesetzten Empfindungen zu erwecken und
durch die wechselseitige Einwirkung beider auf einander sie beide zur
Reinheit herzustellen. Die durch solche Katharsis erzeugte Ruhe,
Harmonie und Erhebung der Seele wäre dann der Abschluß, auf den
der Zweck des Ganzen gerichtet sein müßte, mit andern Worten: die
bestimmte Art des ästhetischen Genusses, den eine derartige Nachahmung
hervorzubringen hätte.

Aus dem innersten Grunde der Sache ist es nun klar, warum in
solcher dramatischen Nachahmung die tragische Entwickelung absolut ausgeschlossen
sein muß: das Vorwalten der Phronesis ist es ja gerade,
wodurch das Wesen der Tragik unter allen Umständen aufgehoben wird.
Ja, selbst ein dennoch unglücklicher Ausgang würde daran nichts ändern;
eine solche Handlung müßte Trauer erwecken, wäre aber für die Tragödie
unbrauchbar, wie z. B. der Opfertod Christi kein tragischer Stoff
ist. Freilich würden solche Stoffe, wie die Wirklichkeit ohne Zweifel sie
bietet, ebenso für die hier in Betracht gezogene dramatische Nachahmung
zu verwerfen sein, weil eben durch die Trauer, mit der sie das Gemüt
belasten, dasselbe seine Freiheit verliert.

Dagegen werden nur wenige weitere Schritte in der Untersuchung
zeigen, wie enge diese dramatische Gattung mit dem, im gewöhnlichen Sinne
so genannten, Lustspiel, also mit der Komödie, innerlich zusammenhängt.

Nächst der höchsten Aufgabe, das Gemüt richtig zu stellen gegenüber
dem ungeheuern Rätsel der über allem Menschenwillen thronenden
Macht, durch das bloße teilnehmende Anschauen die rechte Ehrfurcht
vor seinem Walten erstehen zu lassen und das damit verbundene echte
Mitgefühl mit dem unausweichlichen menschlichen Leiden, ist die andere
und vielleicht eben so hohe Aufgabe, das übrig bleibende Gebiet des
Lebens zu zeigen, innerhalb dessen „reine Menschlichkeit“ die Wechselfälle
des Geschickes zu bezwingen vermag, und wo Glück und Unglück als
die ebenmäßigen Ergebnisse der Handlungen sich erweisen.

[363]

Hier dürfen demgemäß die Furcht- und Mitleidaffekte nur sekundär
und vorübergehend ins Spiel kommen; nichts ist in dieser dramatischen
Gattung so sorgfältig zu vermeiden, als daß die Komposition der Handlung
sie zu stark anwachsen oder etwa gar das dominierende Jnteresse
ihnen zufallen läßt. Die für diesen Zweck zu verwendenden Mittel sind
sehr mannigfach.

Das Hauptmittel wird immer sein, daß die Richtigkeit und Kraft
in der Gesinnungs- und Handlungsweise, also die Phronesis, in der am
meisten bestimmend hervortretenden Person derart überwiegend sind, daß
die Sicherheit des entsprechenden Erfolges von vorneherein gegeben ist:
ein Umstand, der in alle Verzweigungen der Handlung hinein sich fortwährend
geltend machen, den Ton und die Haltung des Ganzen fortdauernd
beeinflussen, gleichsam die Atmosphäre des Stückes bilden wird,
die dem Zuschauer ein leichteres und freieres Atmen gestattet. Jn
einfachen Handlungen, die ohne Verwickelungen durch ihre eigene
Wucht zu ihrem Ziele gelangen, wird dies das einzige zur Verwendung
kommende Mittel sein; am meisten bei großen historischen Stoffen,
die für eine derartige dramatische Behandlung vorzüglich sich eignen.
Als Beispiele dienen SchillersWilhelm Tell“,1 der zweite Teil
von ShakespearesHeinrich IV.“ und sein „Heinrich V.“; hier
wie dort ist der Held nicht allein der Typus männlicher Kraft und
Entschlossenheit, sondern zugleich der Repräsentant der Tüchtigkeit eines
ganzen Volkes, dessen gute Sache uns mit fester Zuversicht erfüllt.

Anders liegt die Sache bei verwickelten Süjets. Ganz wie bei
der Tragödie besteht auch hier die Verwickelung entweder in Peripetie
oder in Erkennung, oder einer Vereinigung beider Formen, nur daß
umgekehrt die Peripetie hier damit sich vollzieht, daß der Handelnde
durch die Willensentscheidungen, durch die er meint, sein Unglück zu
besiegeln, sein Glück bewirkt, und daß ebenso die Erkennung die Befürchtung
eines nicht vorhandenen Mißgeschickes in die Glücksgewißheit
verwandelt. Es liegt auf der Hand, daß in diesen Fällen die Erregung
von Befürchtungen und mitleidigen Rührungen nicht vermieden werden
kann, sondern vielmehr durch die Kompositionsweise der Handlung geboten
ist: aber hier zeigt sich mit einer für die Erkenntnis dieser ganzen
Gattung sehr förderlichen Evidenz, auf wie ganz andere Weise die sichere
Klarheit des Genies diese Fälle behandelt als die bloße Routine, welche
die Gattungen vermengt, weil sie keiner gerecht zu werden vermag. [364]
Das Genie ist unerschöpflich in Hilfsmitteln, um jenen Befürchtungen
und Rührungen das Beängstigende und Beklemmende zu nehmen und
sie für den Zuschauer womöglich ganz aufzuheben; dagegen pflegen die
mittelmäßigen Dichter, in der Meinung, die Vorzüge des Tragischen mit
der behaglich=freudigen Wirkung des befriedigenden Ausganges zu vereinen,
jene bedrohlichen Momente so viel als thunlich zu verstärken und
namentlich die Rührungen zu steigern, als ob das schwelgerische Verweilen
darin für sich selbst den Kunstzweck bildete, während nichts so
sehr geeignet ist, ihn völlig zu vereiteln. Gilt es doch, das Empfindungsurteil
so frei als möglich zu halten für die innige Freude am
richtigen Thun und für das rechte Gefühl des Verkehrten, mag dasselbe
nun in edlem Unwillen sich ausdrücken, im ruhig überlegenen Lächeln
besserer Einsicht oder in unwiderstehlich ausbrechendem Lachen.

Auch hier ist Shakespeare der unvergleichliche, nie genug zu bewundernde
Meister. Natürlich wird in seinen, dieser Gattung zugehörigen,
Stücken jenes Wesentlichste nirgends fehlen, daß diejenige
Person, der die entscheidende Einwirkung auf den Verlauf des Ganzen
zufällt, mit der Gesundheit und dem natürlichen Geburtsadel der Seele
ausgestattet sei, die den Grundbestand der Phronesis ausmachen; ebensowenig
fehlt es in der Mehrzahl seiner Komödien. Es genügt, die
Namen Jmogen, Porzia, Jsabella, Helena, Prospero zu nennen;
und wer fühlte sich nicht gedrungen, ihnen sogleich Lessings Nathan
und Recha zu gesellen? Für die Komödie sprechen ebenso die Namen
Viola und Sebastian, Beatrice und Hero, Rosalinde und Orlando,
und neben ihnen nicht minder Lessings Minna, Tellheim
und Franziska.

Dieses Haupterfordernis also hat die verwickelte Handlung mit
der einfachen gemein. Für die Form der Erkennung aber kommt am
meisten das fast durchgehends angewandte Mittel in Betracht, daß die
Unkenntnis wichtiger Umstände und Verhältnisse nicht als eine vom
Schicksal verhängte vorausgesetzt, sondern daß sie durch absichtliche
Veranstaltung
in der freundlichen Absicht hervorgebracht wird, um
durch ihre Verwandlung in Kenntnis die bestehenden Hindernisse desto
glücklicher zu überwinden. Mag nun im Gefolge derartiger Verwickelung
selbst für die Mehrzahl der Beteiligten Befürchtung und Rührung, sogar
der Schein ernstester Tragik entstehen, so bleibt Alles doch eben für den
Zuschauer nur Schein, der glückliche Erfolg ist gesichert und die vollste
Gemütsfreiheit für ihn gewahrt. Zu solcher weislichen Täuschung gesellt
sich die dieser dramatischen Gattung eigene Art von Peripetie
von selbst hinzu, wenn, durch jene veranlaßt, die davon Betroffenen in [365]
freier Entschließung das für die Wahrung ihrer Jntegrität scheinbar
unvermeidliche Unglück erwählen, und dasselbe sich durch die Erkennung
ihnen in das freiwillig verloren gegebene Glück verwandelt. Ein Blick
auf die als Beispiele angezogenen Stücke zeigt, wie mannigfacher Variationen
diese eine Form fähig ist. So hat in „Maß für Maß“ der
Herzog die ganze Verwickelung fortwährend in seiner Hand, die ganze
Tragik derselben existiert nur scheinbar für die Beteiligten, sie kann das
Gemüt des Zuschauers keinen Augenblick ernstlich belasten, wohl aber
hat sie zur Folge, daß der auf das Präziseste bestimmten Handlungssituation,
die sie erschafft, gegenüber sich fast alle denkbar möglichen
Arten des Verhaltens hinsichtlich der geforderten Wahrheit und Richtigkeit
im Fühlen, Denken, Begehren und Handeln in typischer
Weise auf das Klarste dem Empfindungsurteil darstellen. Die Erkennung
bringt der Heldin das verdiente Glück, den Bedrohten Rettung;
die Peripetie zeigt, wie gerade die härteste Entsagung der Heldin den
sichersten Weg zu diesem Glücke ebnete, während sie auch für Angelo
keineswegs eine Wandlung von Glück in Unglück bedeutet, sondern, indem
sie ihm die verdiente tiefe Demütigung zuzieht, durch Abwendung
der verderblichen Folgen seiner Verirrung ihm die Möglichkeit der Umkehr
gewährt; zugleich wird damit dem Zuschauer das volle Gefühl der
befriedigten Nemesis erregt, mit welchem Ausdruck die Griechen die
Empfindung des gerechten Unwillens bezeichnen. Ein unvergleichliches
Muster dieser ganzen Gattung.

Schon an dem Beispiele von „Maß für Maß“ tritt eine fernere
dieser Gattung eigentümliche Eigenschaft hervor, deren genaue Erörterung
wichtig ist, weil aus dem starken Vorwalten derselben, in ähnlichen
Fällen wie der vorliegende, höchst verwirrende Schlüsse für das Wesen
der ganzen dramatischen Dichtung gezogen sind.

Bei dieser speziellen Gattung hat die Komposition des Stückes
den Zweck, durch Handlungen, in denen die Phronesis und die Abweichungen
von derselben bis in ihr Gegenteil hinein zur Erscheinung
kommen, vermöge ästhetischen Urteils die Empfindungen des Wohlgefallens
und der Nemesis in wechselseitiger Läuterung zur höchsten Klarheit
und Gewißheit herzustellen und so der Seele in freudiger Erhebung
den Genuß vollster Kraftentfaltung nach dieser Seite hin zu verschaffen.
Dazu können nun zwar die verschiedenartigsten bedeutenden Handlungen
den Anlaß geben: es kann sich dabei um Vaterlandsgefühl, um Freiheitsliebe,
um Gatten- und Freundestreue, um jedwedes wichtiges Lebensverhältnis
handeln; überall bedeutet ja doch die Phronesis die den
bleibenden Besitz bildende, das ganze Wesen durchdringende Wahrheit [366]
und Richtigkeit des Fühlens, Denkens und Begehrens. Da aber eine
jede Handlung und jede Verflechtung von Handlungen diese Fähigkeiten
nicht zugleich in ihrer Universalität herausfordert, sondern vorzugsweise
nach einer einzelnen Seite hin, wenn auch niemals einseitig oder
vereinzelt, so kann es hier geschehen, daß durch den Handlungsverlauf
nicht allein das Verhalten bestimmten Lebensverhältnissen gegenüber
eine besonders scharfe Beleuchtung erfährt ─ was diese Gattung mit
der Tragödie und überhaupt mit aller dramatischen Dichtung gemein
hat ─, sondern daß, da bei der Phronesis die Richtigkeit der Einsicht
eine so große Rolle spielt, eine bestimmte theoretische Frage in
den Mittelpunkt der Handlung tritt, „praktisch“ darin zur Erledigung
kommt, eine Möglichkeit, die zwar in der Komödie gleichfalls vorhanden
ist, die aber der Tragödie notwendig ganz fern liegt. Nur bei der verhältnismäßig
geringen Zahl von so gearteten Dramen hat es einen
Sinn von der Jdee des Stückes zu sprechen, die zwar keineswegs den
„Gegenstand“ der Nachahmung bildet, wohl aber den Mittelpunkt der
Handlung, die demselben dienstbar gemacht ist. Nun aber hat man, was
bei diesen einzelnen Dramen so augenfällig zu Tage tritt, auf die ganze
dramatische Gattung ausgedehnt, und es ist zu einem sehr weit verbreiteten
Jrrtum geworden, eine jede dramatische Dichtung auf die ihr
zu Grunde liegende „Jdee“ zu untersuchen. Es ist höchst verkehrt, eine
spezifische „Jdee“ des „Ödipus“ oder der „Antigone“, im „Othello
oder in „Romeo und Julie“, selbst des „Ajas“ oder „Coriolan
zu konstruieren; mit vollem Rechte dagegen wird man sie in des
ÄschylusEumeniden“ erkennen, wie später des Näheren zu erörtern.
Entweder nämlich findet man in allen jenen Tragödien ein und dieselbe
Jdee, daß unter verhängnisvollen Umständen ein kleiner Fehl den edelsten
Menschen ins Verderben stürzt, welche eben die Jdee der Tragik
selbst ist, oder man gelangt zu Sätzen wie diese, daß leidenschaftliche
Liebe, Eifersucht, leicht verletztes Ehrgefühl, zu weit getriebene Pietät
oder Wißbegier zum äußersten Unglück führen, die erstlich nicht „Jdee“
zu nennen sind und zweitens der Wahrheit entbehren, denn alles Derartige
wird eben verderblich nur durch die Macht der tragischen Verhältnisse.


Jn wenigen Stücken tritt die „Jdee“ als Trägerin der Handlung
so deutlich hervor wie in Shakespeares „Maß für Maß“: daß nämlich
der durch den Titel ausgedrückte starre Rechtsgrundsatz der rücksichtslosen
Vergeltung mit wahrer und reiner Menschlichkeit unvereinbar ist,
gleichmäßig dem richtigen Denken und dem reinen Fühlen widerstrebend,
und daß diejenigen, die seine Durchführung am strengsten verlangen, [367]
ihm selbst am ehesten verfallen. Diese Jdee trägt die Handlung, aber
sie ist keineswegs der Gegenstand der Darstellung, der hier wie
überall in der Gattung, der das Drama zugehört, vielmehr der folgende
ist: an der so aufgebauten Handlung reine Menschlichkeit in möglichst
weitem Umfange und gleicherweise die Abweichungen davon in bestimmtester
Klarheit zur Äußerung und damit zur Empfindung zu
bringen.

Es liegt auf der Hand, daß durch solche in der dramatischen
Komposition von Anfang bis zu Ende sich geltend machende Anlage ein
weiteres Mittel gegeben ist, die tief aufwühlende tragische Erregung
nicht aufkommen zu lassen, an deren Stelle von Anbeginn die aufmerksame
Betrachtung und das ruhig abwägende Empfindungsurteil sich
behauptet.

Ein ganz analoger Fall liegt im „Kaufmann von Venedig
vor; auch hier bildet den Mittelpunkt der scheinbar aus den heterogensten
Elementen bunt zusammengewebten Handlung eine Jdee, die durch den
lebensvollen Reichtum dieser kunstvollen Komposition in wahrhaft universeller
Weise nach allen Richtungen hin entfaltet ist. Es ist die Jdee
der wahrhaft richtigen Schätzung und Haltung, der echten Phronesis
also, gegenüber der Frage des Erwerbes und Besitzes, die, in ihren
tiefgreifenden Beziehungen zu den wertvollsten Lebensverhältnissen vorgeführt,
Gelegenheit gibt sowohl die edelste Erfüllung ihrer Forderungen
zu zeigen als die Abweichungen davon bis zu ihrer empörendsten Verneinung.
Jm Vordergrunde steht, wie der Titel es anzeigt, der königliche
Kaufmann, dessen reicher Gewinn aus großartiger Vermittelung
des Warenaustausches fließt zum allgemeinen Nutzen ohne irgend Jemandes
Schädigung; seine edle Natur, die ihn zu unbegrenzter Freigebigkeit
treibt, schützt ihn doch nicht völlig vor den Gefahren überreichen
Besitzes: allzugroßer Sorglosigkeit und jener ohne Anlaß die Seele belastenden
Traurigkeit, die als Begleiterin des Überflusses allzu leicht
sich einstellt und die das Stück so bedeutsam an ihm hervorhebt. Ja,
dieselbe ist ein höchst wesentlicher Faktor für den Aufbau des Ganzen:
diese Apathie und Gleichgültigkeit gegen die eigenen Jnteressen ist die
einzige Stimmung, welche das Eingehen auf den wunderlichen und insidiösen
Vertragsvorschlag Shylocks als möglich erscheinen läßt. Es ist
überflüssig das in diesem Gegner Antonios bis zur äußersten Konsequenz
entworfene Gegenbild nachzuzeichnen; an ihm führt die Handlung eine
der vollendetsten Peripetien durch, welche die Bühne kennt. Mit welcher
Kunst aber ist die zweite Haupthandlung in diese erste hineingewoben!
Die vollendetste Symbolik, das heißt die den reizvollen Schein des [368]
Lebens mit der tiefsten Bedeutsamkeit verbindet, ist hier vom Dichter
zu Hülfe genommen: ein weiteres dieser dramatischen Gattung in hohem
Grade zu statten kommendes Darstellungsmittel. Die rechte Empfindungs=,
Gesinnungs- und Handlungsweise, wie sie der Frage des Besitzes
gegenüber sich äußert, wird hier allen Proben unterworfen, durch
die sie sich in dem Verhältnis wahrer Freundschaft, echter Liebe und
darauf gegründeter Ehe bewähren kann. Die Wahl des Kästchens, wodurch
Porzia allein gewonnen werden kann, hat, deutlich ausgesprochen,
diesen symbolischen Sinn; ebenso das Spiel mit den Ringen, das zudem
durch die damit verbundene Täuschung und Erkennung in einer
für die dramatische Komposition höchst glücklichen Weise verwertet wird.
Denn in dieser Verwickelung verflechten sich nun beide Haupthandlungen,
die Peripetie der einen mit der Erkennung der andern, zu einem
einzigen Knoten, dessen Lösung das Ganze zum Abschluß bringt, indem
sie zugleich für die das Ganze erfüllende Jdee die reinste Klärung einschließt;
und zwar zu einem Teile durch die Jndignation über die Verfehlungen
gegen dieselbe und zu einem weit größeren durch die reiche
Freude an der Harmonie der vollen Einstimmung mit ihr. Es ist ein
Jrrtum, wenn man gemeint hat, daß in der Rechtsfindung Porzias
ihr Charakter, sowie das ganze Stück, gipfeln: der materielle Jnhalt
des Spruches rührt von dem gelehrten Bellario her; aber es ist ein
sehr schöner Gedanke des Dichters, diese Rettung gegen das formale
Recht, welches, wenn auch im Widerspruche gegen das Gefühl, gerade
in Bezug auf Besitzverhältnisse die strengste Aufrechthaltung fordert,
durch den klugen, klaren Weibessinn zu vermitteln, der hier der Stimme
der Natur und der Gerechtigkeit zugleich Geltung verschafft.

Es ist der Triumph der Shakespeareschen Kunst, in der ihm Keiner
gleichkommt, daß, wenn er durch die scharfe Ausprägung der Handlung
an der in den Mittelpunkt gestellten Jdee die schöne Gesundheit und
Richtigkeit seiner Charaktere sich glänzend entfalten läßt, er durch den
unvergleichlichen Reichtum seiner Handlungskompositionen zugleich die
weitesten Konsequenzen dieser Jdee zeigt und die Totalität der Charaktere
in ihrer ganzen Fülle vorzuführen weiß. Wie in einem mit künstlerischer
Weisheit angelegten Gemälde heben die mannigfaltigen Farbennüancen
sich gegenseitig, und neben den tiefdunkeln Schatten strahlt die Leuchtkraft
der hellen Gestalten in um so entzückenderer Frische. So ist im
„Kaufmann“ die nebengeordnete, Lorenzo und Jessica betreffende Handlung
nicht allein als verstärkendes und erklärendes Motiv für die
extreme Aktion Shylocks wirksam, sondern sie dient zugleich sehr wesentlich
der Hauptidee, indem sie die totale Zerstörung aller Pietätsverhält= [369]
nisse durch die Alleinherrschaft der Erwerbs- und Besitzesleidenschaft
offen legt; ferner, wie in einer Art von Peripetie gerade das Uebermaß
dieser Leidenschaft ihren Gegenstand selbst zerstört, und endlich, wie es
das gleichsam prädestinierte Schicksal so zusammengehäuften Besitzes ist,
durch die achtloseste Verschwendung zerstreut zu werden. Jn Jessicas
Handlungsweise steckt ein tragischer Keim, was mit Unrecht geleugnet
worden ist;1 gerade deshalb, weil er durch keine Behandlungsweise hinwegzubringen
ist, hat ihn der Dichter lieber ganz ignoriert, was in einer
Nebenhandlung angeht, sonst unmöglich wäre. Dieses Jgnorieren übersehen
zu machen, wendet der Dichter auf diese sonst zurücktretenden
Figuren reichen Schmuck der Anmut, der Laune und des Geistes. So
dienen sie obenein mit Graziano und Nerissa als willkommene Folie
für Bassanio und Porzia: dieses das Ganze am herrlichsten schmückende
Juwel, das unter dem Lichte der die Dichtung erfüllenden Jdee seinen
Glanz gleichmäßig nach allen Seiten hin ausstrahlt.

Wie enge der Zusammenhang dieser dramatischen Gattung mit dem
eigentlichen Lustspiel ist, zeigt eine Vergleichung des „Kaufmann von
Venedig“ mit Lessings „Minna von Barnhelm“, deren Ähnlichkeit größer
ist als es auf den ersten Blick scheint. Freilich kommt nur die eine
Hälfte der Shakespeareschen Handlung in Betracht: wie hier ist auch
bei Lessing die Stellung zu der Frage des Besitzes der ideelle Kern der
Handlung; Liebe und Eheschließung bei obwaltender Ungleichheit des
Besitzes, daraus entstehende Verwickelung sind hier wie dort die Motive
der Komposition; statt der Freundschaft bildet die Ehre den Prüfstein;
ein schalkhaft=anmutiges Verwechselungsspiel, wozu in beiden Stücken
das Symbol der Treue, der Ring, verwendet wird, das dort nur die
Trefflichkeit der auf beiden Seiten herrschenden Gesinnungsweise zu Tage
legt, dient hier dem gleichen Zweck in hervorragender Weise und hilft
zugleich der Handlung zu dem heitern Abschlusse. Tragische Elemente
fehlen in der Anlage dieser Handlung gänzlich; aber ebenso entbehrt
sie der eigentlich komischen, obwohl Lessing selbst das Stück ein „Lustspiel“
nennt und es auch immer dafür angesehen worden ist. Der
neugierige Wirt und der Glücksritter Riccaut sind nur episodisch, und
wenn Just, Werner und Franziska echte Lustspielfiguren sind, so sind
doch auch sie nur nebengeordnet und vor allem, es sind positive Charaktere,
sie wirken weniger komisch als erfreulich; der Hauptcharakter und [370]
die Haupthandlung haben nichts Lächerliches an sich, sie sind durchaus
ernst. Durch die Darstellung des Fehlerhaften als solchem wohlgefällig
zu wirken ─ die eigentliche Aufgabe der komischen Kunst ─ ist nicht
der Nachahmungszweck dieser Dichtung; ihre im höchsten Grade erfrischende
und klärende, wahrhaft erfreuende Wirkung beruht auf einer
Einrichtung und Durchführung der Handlung, die dem Stücke den Platz
mitteninne zwischen jenen ernsten Dramen und der Komödie anweisen.
Die Schicksalsverwickelung spannt die Erwartung sehr ernstlich, ohne sie
jemals tragisch zu beunruhigen, und ihr Verlauf dient in vorzüglicher
Weise dazu, an der delikaten Frage, die im Mittelpunkte steht, die reine
Anschauung gesundester und richtigster Gefühls- und Handlungsweise
und mannigfaltiger, wenn auch fast durchweg aus edler Jntention hervorgehender
Abweichungen davon der Empfindung zu vermitteln und ihr
so die Möglichkeit höchster hedonischer Bethätigung zu gewähren.

Sicherlich steht diese dramatische Gattung an ergreifender Gewalt
der Tragödie nach; doch vermag sie diesen Verlust hereinzuholen und
ebenbürtig ihr zur Seite zu treten, vermöge der ihr eigentümlichen
Fähigkeit die Resultate reichster Erfahrung und tiefster Einsicht durch
die nachgeahmte Handlung im Gefühl lebendig zu machen: ohne Vermittelung
der Reflexion die Empfindung mit dem Jnhalt echter Weisheit
zu nähren und die wahre Freude an ihrer reinen Erscheinung zu
erwecken.

Es gibt eine merkwürdige Dichtung Shakespeares, aus seiner spätesten
Zeit, deren unaufgeschlossene Rätsel sämtlich sich lösen, wenn man als
den Gegenstand der durchaus symbolischen Komposition die Darstellung
des Wesens und Wirkens jener dramatischen Gattung selbst erkennt.

Daß „Der Sturm“ eine Menge symbolischer Elemente enthält,
hat die Kritik von jeher anerkannt: Prosperos ganze Erscheinung,
zahlreiche gewichtige Worte aus seinem Munde, die Gestalt Ariels,
vornehmlich die seltsame Erfindung Calibans tragen diesen Stempel
mit größester, jeden Zweifel ausschließender Deutlichkeit. Doch, wie fast
überall gegenüber der symbolischen Dichtung, ist die Erklärung bei dem
bloßen Bilde, das der Dichter für seine Jdeen gewählt hat, stehen geblieben,
als ob damit schon der Jnhalt gefunden sei; so hat hier die
am meisten frappierende Figur des Caliban die Deutung dabei festgehalten,
daß es sich um das Verhältnis der Übergewalt sowohl als
der Schwächen der Kultur zu den kannibalischen Urzuständen der Wilden
handle, und daß die Einheit der mannigfaltigen Vorgänge des Stückes
darin bestände, in diesem Verhältnis die Gegensätze von berechtigter und
unberechtigter Usurpation zu zeigen, oder noch allgemeiner, von Beson= [371]
nenheit und Weisheit auf der einen, von Bosheit und bestialischer Roheit
auf der andern Seite.

Es ist dabei gänzlich übersehen, daß eine derartige Erklärung ihre
Aufgabe, die Einheit der Handlung zu zeigen, keineswegs erfüllt, daß
sie sich darauf beschränkt, einzelne Charakterzüge der handelnden
Personen in Verbindung zu bringen, dagegen den Zusammenhang der
drei Handlungen selbst, aus denen das Stück sich zusammensetzt, also
das eigentliche thema probandum, außer Acht läßt.

Das einigende Moment der Handlung des Stückes ist, wie der
Titel es ankündigt, der Sturm, den Prospero durch seine Kunst erregt;
alles, was ferner geschieht, geht in Konsequenz dieses Sturmes
vor sich: die durch denselben erschütterten Gemüter der vermöge jener
Veranstaltung in seine Gewalt Gegebenen setzt Prospero nach seinem
Willen in weitere Bewegung mit Hülfe desselben Ariel, der auch dort
seine Befehle vollzog. Jn diesen Wirkungen besteht die Handlung
des Stückes. Nicht
dasjenige, was durch diese Handlungen
erzielt wird, ist ihr Gegenstand, sondern sie selbst sind es. Zunächst
also bei allen durch Prosperos Zaubersturm in das Machtgebiet
seiner Jnsel Eingeschlossenen eine tiefgehende Erschütterung, die, je nach
der Verschiedenheit ihrer Gemütsart, bei den Einen schmerzliche Niedergeschlagenheit,
tiefe Einkehr in sich selbst erzeugt, die Vorboten eingreifender
Sinneserneuerung, bei den Andern Verstockung und Bereitschaft
zur äußersten Bosheit; dagegen zeigt Gonzalo die heitere Ruhe und
hülfsbereite Fassung einer in sich gefestigten, treuen Seele; und in den
Trägern der Nebenhandlung äußert sich eine Mischung von burlesker
Angst und possenhafter Roheit. Die weitere Entwickelung enthält nun
weiter nichts als eine gesteigerte Äußerung dieser Dispositionen durch
Ariels luftige Vorspiegelnngen, und das endliche Ergebnis resümiert
sich für die Haupthandlung in folgendem: Zwischen Ferdinand und
Miranda knüpft sich ein durch in äußerster Kürze angedeutete Prüfungen
gefestigter Liebesbund; in Alonso kommt aufrichtige Reue zum entschiedenen
Durchbruch, während Antonios und Sebastians Bosheit lediglich
entlarvt wird, ohne daß sie äußerlich bestraft oder innerlich umgewandelt
oder auch nur erweicht erschienen. Das ist alles! Dazu
kommt freilich das Andere, daß Prospero sich mit diesem Erfolge völlig
zufriedengestellt erklärt, daß er seiner Zaubergewalt, da sie ihren Zweck
erfüllt hat, entsagt, Ariel, seinen Werkmeister, entläßt und der Restituierung
in seine vollen Rechte sicher ist. Wenn so der äußere Verlauf
der Haupthandlung ein höchst dürftiger ist ─ denn im Grunde geschieht
nichts außer einer Verlobung; das Attentat Antonios bleibt unvollendet [372]
und hat zudem für das Schlußergebnis auch nicht die geringste Bedeutung,
alles andere sind rein innerliche Vorgänge ─ so ist der
Jnhalt der parallel laufenden Nebenhandlung noch viel geringfügiger:
aus der Verbrüderung Calibans mit seinen Spießgesellen entsteht, da
der in der Trunkenheit geplante Mordanschlag gar nicht einmal ernstlich
versucht wird, in der That nichts als der Diebstahl einer Anzahl von
Kleidungsstücken, die am Schlusse wieder ausgeliefert werden. Eine
innere Verbindung dieser ganzen Partie des Stückes mit der Haupthandlung
fehlt ganz und gar; nur insofern ist sie allerdings der andern
völlig ähnlich, als die Personen derselben ganz ebenso wie dort in ihren
Seelenzuständen von den Wirkungen, die Prosperos Zaubergewalt durch
Ariels Vermittelung über sie ausübt, abhängig gezeigt werden.

Shakespeares Kunst war reich genug, um diese Scenen so seltsam
und lustig auszustatten, daß die Dürftigkeit der Handlung dadurch verdeckt
wurde: aber wo ist in allen seinen Stücken das zweite Beispiel
einer Handlung, die für sich selbst so unbedeutend und zwecklos wäre
als dieser Kleiderdiebstahl Stephanos und Trinculos, auf den
nichtsdestoweniger am Schlusse von Prospero mit besonderem Nachdrucke
hingewiesen wird? Es zeigt sich hier wie überall in Anlage und Ausführung
des Ganzen, daß bei aller Gegenständlichkeit der Darstellung
der eigentliche Zauber, den es ausübt, tiefer liegt, von einem im Jnnern
verborgenen Jdeengehalt ausgehend, der die Form des ganzen Organismus
inhaltlich erschaffen hat und jede Bewegung desselben bestimmt.

Aus dem Reiche, worin er herrschen sollte, verstoßen, sammelt
Prospero in der Einsamkeit seines Eilandes die Schätze tiefster Einsicht
in das Wesen der Dinge und einer Weisheit, die ihm statt der verlorenen
Herrschergewalt im Leben die Macht über das Reich der Geister
verleiht. Dort hat er sich eine Tochter von wunderbarer Schönheit
auferzogen, die unter seiner Leitung in Sinn und Gemüt als sicheren
Besitz das lautere Gold seiner Lebensweisheit aufnimmt. Die Handlung
des Stückes beginnt nun mit dem Sturm, den seine Kunst erregt, um
„seine Feinde, die durch seltene Schickung das güt'ge Glück seinem
Strande genähert hat“, in seine Gewalt zu bringen. Diesen Sturm
schildert die Eingangsscene in voller Anschaulichkeit; Miranda ist in
tiefster Seele erschüttert von dem furchtbaren Anblick, „stets noch tobt's
ihr im Gemüt“ von seinen Schrecknissen: sogleich aber beruhigt sie
Prospero: „Fasse dich! Nichts mehr von Schreck! Sag' deinem weichen
Herzen: Kein Leid geschah.“ Und auf ihren erneuten Jammerruf noch
einmal: „Kein Leid“. Er legt den Zaubermantel ab, um in ruhiger
Exposition ihr die Lage und seine Absicht zu erklären. Auch die folgende [373]
Scene ist noch ausschließlich der Vorbereitung der Handlung gewidmet,
die erst mit dem Auftreten Ferdinands ihren Anfang nimmt: sie orientiert
in umfassender Weise über das Wesen Ariels und Calibans, die in
höchst absichtlichem Gegensatz einander gegenübergestellt werden, und
über ihr Verhältnis zu Prospero, ihrem Meister und Herrn. Diese
sehr breit und sorgfältig ausgeführte Scene enthält den Schlüssel des
Ganzen.

Es ist hier der Ort und Raum nicht für überzeugende Herleitung
und eingehende Begründung der Einzelheiten dieser wunderbaren Komposition;
es können nur die Resultate gegeben werden.

Ariel und Caliban, beide sind Geschöpfe der Phantasie; daß
sie zu einander im Verhältnis des Gegensatzes stehen, der eine in Beziehung
auf den andern gedacht ist, zeigt der Dichter unverkennbar an.
Eigens um beide einander gegenüberzustellen, läßt er Ariel, den Prospero
fortgeschickt, noch einmal zurückkommen in Gestalt einer Wassernymphe;
„ach, schönes Luftbild! Schmucker Ariel, hör' insgeheim!“
redet Prospero ihn an, um sogleich sich an Caliban zu wenden: „Du
gift'ger Sklav, gezeugt vom Teufel selbst mit deiner bösen Mutter!
komm heraus!“ Aber nicht nur hat die Phantasie diese Gestalten
geschaffen, sie selbst hat in ihnen Gestalt angenommen! Die
immerfort sich wandelnden Formen, in denen Ariel erscheint, gehören
sämtlich den herrlichen Bildungen der griechischen Mythologie an, es
sind die unvergänglichen Verkörperungen des als psychisches Leben aufgefaßten
Naturwaltens, ewig schön und richtig, verständlich und zauberhaft
ergreifend für alle Zeiten, weil der mit regstem Sinn erfaßten
reinen Betrachtung entsprungen. So ist denn auch sein „zierlich
Spüken“ durch die ganze Dichtung hin nichts als die bald reizvoll,
bald drohend sich kund thuende Kondensation und Abbreviatur wirklicher
Naturvorgänge und damit verbundener psychischer Bewegungen. Der
Einsicht seines weisen Meisters dienstbar leitet er, unermüdlich geschäftig,
die ganze Handlung des Stückes nach dessen Weisung.

Dagegen ist Caliban von widrig zwitterhaft monströser Gestalt, nur
fähig zu Schändlichkeit und Bosheit; seine verworfene Sklavennatur kann
nur durch despotische Zucht niedergehalten und so allein seine brutale
Kraft zu grobem Dienste verwertet werden. Der Lebensodem Ariels
ist Freiheit und Grazie, die Sphäre Calibans knechtische Gebundenheit
und über die Grenzen der Natur hinausgehende
Häßlichkeit.

Nimmt man nun die Geschichte beider hinzu, so enthüllt sich die
wunderbar tiefsinnige und reizvolle Symbolik des Dichters.

[374]

Wir erfahren, daß Caliban aus einer Verbindung des Teufels
mit der Hexe Sycorax hervorgegangen ist, einer Hexe, die „so stark war,
daß sie den Mond in Zwang hielt, Flut und Ebbe machte, und außer
ihrem Kreis Gebote gab“; auf der Jnsel, die Prospero zu seinem Reich
gemacht, hat sie den mißgeschaffenen Sohn zurückgelassen. Jhr Diener
war damals auch Ariel, doch „allzu zart geschaffen, entzog er sich ihrem
groben Dienst, und ward durch ihre unzähmbare Wut mit ihrer stärkeren
Diener Hülfe in einer Fichte Spalt verschlossen“. „Ein Dutzend
Jahre hielt diese Kluft ihn peinlich eingeklemmt. Sie starb in dieser
Zeit;“ von dort hat ihn Prosperos Kunst befreit; unter dessen Gebot
entfaltet er nun allen Reichtum seiner unerschöpflichen Kräfte in freudigster
Thätigkeit. Nur ein Verlangen ist mächtiger in ihm, als diese
Freude, Prospero zu dienen: die Sehnsucht nach unbedingter Freiheit
in seinem eigenen Reich, den Elementen.

Das scharf ausgeprägte Bild Ariels und sein Verhältnis zu
Prospero erhellt mit seinem leuchtenden Farbenglanz diese ganze Erdichtung
bis in alle ihre Einzelheiten.

Die reine Güte und tiefe Weisheit, aus dem Reiche, wo sie herrschen
sollte, dem thätigen Leben, verbannt, verstoßen, gerade weil sie
dem Höchsten nachtrachtet, rettet sich auf die unbewohnte Jnsel, wo die
Luft- und Elementargeister ihr bisher uneingeschränktes Spiel treiben.
Kein Zweifel, daß dieses Gebiet den weiten Bereich des mächtigen Phantasiewaltens
bezeichnet, kein Zweifel aber auch, daß Shakespeares Genius
sich hier keineswegs zu einem Spiel mit allgemeinen allegorischen Begriffen
herabläßt, sondern daß er einen ganz bestimmten, ihn selbst auf
das Nächste und Bedeutsamste angehenden Vorgang zu farbenreichem,
dramatischem Leben erhöht hat.

Es ist derselbe Gedanke, dem Schiller in seinen „Künstlern“ die
folgenden Worte geliehen hat:


Von ihrer Zeit verstoßen, flüchte

Die ernste Wahrheit zum Gedichte

Und finde Schutz in der Camönen Chor.

Jn ihres Glanzes höchster Fülle,

Furchtbarer in des Reizes Hülle,

Erstehe sie in dem Gesange

Und räche sich mit Siegesklange

An des Verfolgers feigem Ohr.

Aber was Schiller in seiner pathetischen Weise allgemein abstrakt ausgedrückt
hat, ist von Shakespeare in lebendigem Vorgange individualisiert.
Er führt uns gleichsam in die Werkstätte seiner ausgereiften [375]
dramatischen Kunst und zeigt uns das Wesen der dort thätigen Kräfte
bei ihrer Arbeit und in ihren Wirkungen.

Es greift also jener Sinn der echten Phronesis, um seine Geltung
im Leben zurückzugewinnen, sich kund zu thun, zu dem Mittel, durch
Kunst die Geister nach seinem Willen zu zwingen, die dunkeln und
wunderbaren Kräfte der Phantasie sich unterthan zu machen. Noch ist
dies Gebiet wüst, unangebaut; was findet er dort vor? Jene Kräfte,
welche die Kunst zu heilsamster Übung erzieht, sind auch zuvor in starker
Thätigkeit; aber sich selbst überlassen, sind sie verwildert und wirken
höchst unheilvoll. Die Hexe Sycorax, die Mond und Flut bezwingt,
ist das Bild des wüsten, dunkeln Wahnes, der in der langen Nacht
des Mittelalters dem „gift'gen Moor“ der Unwissenheit und Trägheit,
der rohen Sinnlichkeit und feigen Angst entstieg; Bosheit und Sünde
gesellen sich ihr zu: mit jener Hexe erzeugt der Teufel das groteske
Gebilde des sklavisch niedrigen Aberglaubens. Häßlich, abschreckend
von Gestalt, tierisch und gefährlich in seinen Äußerungen,
von Angst erfüllt und Angst denen erregend, denen er überlegen ist,
den seiner Macht Entzogenen ein Gegenstand der Verachtung und des
Hohnes, ist Caliban das unübertrefflich erfundene Symbol dieser
kranken Ausgeburt verwilderter Phantasie: ein „gift'ger Sklav“ dem
weisen Prospero, ein „Mondkalb“ und „Monstrum“ dem trunkenen
Stephano, dem schwachköpfigen Trinculo ein Schreckensgebild und eine
„marktbare Kuriosität“ den weltmännischen Kavalieren des Hofes.

Dieser rohe Aberglaube hat so lange die Gemüter beherrscht und
jede freiere Regung daraus verbannt; in der überlegenen Weisheit und
klaren Einsicht, die einer heiteren, bewußt sich selbst gestaltenden Thätigkeit
der Einbildungskräfte freies und segensreiches Walten eröffnet,
sieht er die gehaßte und gefürchtete Usurpation, die ihn unterjocht, aus
seinem Besitze verdrängt. Jhn unterjocht, nicht aber ihn vernichtet, der
nicht zu vernichten ist! Mit höchst bewundernswerter Feinheit hat
Shakespeare dieses Verhältnis bis ins Kleinste ausgestaltet. Die vielhundertjährige
Herrschaft des Aberglaubens hat ihm eine Macht über
die Gemüter verliehen, die der Dichter keineswegs gesonnen ist zu entbehren;
ja er verdankt, wie Prospero dem Caliban, seinem Studium
mancherlei willkommene Kunde. Er lehrte ihn gewissermaßen sprechen
und erfuhr von ihm manches fruchtbare Geheimnis, wie die Gemüter
zu fassen, zu erschüttern, zu bändigen sind. So nimmt er ihn denn
auch in seine Dienste, aber in die engsten Grenzen schließt er ihn ein,
und gebraucht ihn nur zu streng bemessener, mechanischer Verrichtung,
die durch seinen höheren Zweck erst die Bedeutung erhält. Nicht an= [376]
ders steht Caliban zu Prospero; lediglich um dies Verhältnis zu zeigen
läßt Shakespeare den Prospero ihn herbeirufen; und auf Mirandas
Gegenrede: „er ist ein Bösewicht, den ich nicht anseh'n mag,“ erwidert
jener: „Doch, wie's nun steht, ist er uns nötig: denn er macht
uns Feuer, holt unser Holz, verrichtet mancherlei, das Nutzen
schafft.
“ Dazu nun Calibans wütender Ausbruch: „Dieses Eiland
ist mein, von meiner Mutter Sycorax, das du mir wegnimmst. Wie
du erstlich kamst, da streicheltest du mich und hielt'st auf mich, gabst
Wasser mir mit Beeren drein, und lehrtest das große Licht mich kennen
und das kleine, die brennen tags und nachts; da liebt' ich dich, und
wies dir jede Eigenschaft der Jnsel: Salzbrunnen, Quellen, fruchtbar
Land und dürres. Fluch, daß ich's that, mir! Alle Zauberei der Sycorax,
Molch, Schröter, Fledermaus befall' euch. Denn ich bin, was
ihr habt an Unterthanen, mein eigner König sonst; und stallt mich hier
in diesen harten Fels, derweil ihr mir den Rest des Eilands wehrt.“
Das Folgende hebt diesen Zusammenhang der fiktiven Natur des Aberglaubens
mit dem Material, dessen die Dichtkunst sich bedient, noch
deutlicher hervor, während seine grob gemeine Natur ihn dennoch aus
ihrer Gemeinschaft ausschließt.1 Nur ein frappanter Zug sei noch erwähnt:
Prospero hat den niedern Gesellen aus seiner Zelle verwiesen
und ihn in enges Gefängnis gesperrt, weil „er versucht, die Ehre seines
Kindes zu schänden“, der holdseligen „Miranda“, die das „Wundergebild“
der Schönheit selbst ist. Dazu nun die keines Kommentars bedürfende
Erwiderung des Unholds: „Ho, ho! Jch wollt', es wär' gescheh'n.
Du kamst mir nur zuvor, ich hätte sonst die Jnsel mit Calibans
bevölkert.“

Wenn Prospero somit den Sklaven nur zu gröberem und mechanischem
Dienst für seine Zwecke heranzieht, so ist andrerseits dieser selbst
─ und, wie er, sind es die mit ihm Verbrüderten ─ der vollen, von
ihnen aufs Höchste gefürchteten Wirkung seiner mächtigen Kunst preisgegeben.
Die Dichtung schwelgt geradezu darin, an den verschiedensten
Stellen und in den grellsten Farben die ängstigende, stechende, geißelnde,
krampfig folternde Pein zu schildern, mit der die rächende Kunst die
Äußerungen jener dumpfen Verstocktheit und boshaften Brutalität verfolgt,
mögen sie nun in verderblichen Anschlägen sich gefährlich zeigen [377]
oder in unschädlich platter Gemeinheit sich verächtlich und lächerlich darstellen.
Denn natürlich ist das in Caliban verkörperte schlimme Princip
an zielbewußter, höchst gefährlicher Konsequenz dem Pöbel, um dessen
Gunst es buhlt, den es sich dienstbar macht, da es seiner rohen Kraft
bedarf, und den es doch beherrscht, bei weitem überlegen; ein paar
bunter „Lumpen“, ihm zur Lockspeise aufgehängt, genügen, um dessen
plumpe Gier abzuleiten und ernstes Unheil zu verhüten.

Dagegen nun in Ariel die reizende Verkörperung jener gefälligen
Formen, worin einst die griechische Phantasie, in deren Gestalten er
nicht müde wird, sich immer aufs Neue zu kleiden, und dann die ihr
verwandte, anmutig dichtende Kraft im modernen Volksglauben die
ganze Fülle der Naturprozesse und seelischen Vorgänge als von geistigen
und zugleich zu persönlichen Wesenheiten verdichtete Energien geleitet
vorstellte: dieser ganze Jnbegriff hier als eine einzige, unendlicher
Verwandlungen fähige Person gedacht! Es ist gleichsam der Urstoff
der Poesie selbst,
der durch die Elemente verbreitet ist, unendlich zart
und doch von gewaltigen Kräften, jetzt mit sanfter Musik die Gemüter
gefangen nehmend, dann sie zum Wahnsinn reizend und wieder mit
heiligen Weisen sie beschwichtigend; „mit ihrer Hülfe“ vermag, wer diese
Geister beherrscht, den Naturkräften zu gebieten, „am Mittag die Sonne
zu umhüllen, die grüne See mit der azurnen Wölbung in Kampf zu
setzen“, „Grüfte zu sprengen und Todte zu erwecken.“

Die Symbolik des Stückes löst sich nun von selbst auf.

Es ist leicht verständlich, was Shakespeare im Sinne hat, wenn
er auch Ariel als einen abhängigen Diener der Hexe Sycorax anführt,
den anmutigen und ganz der Wahrheit des Natur- und Seelenlebens
vertrauten Wahnglauben der Poesie. Die leicht gaukelnde Phantasiethätigkeit,
deren Lebensatem die Freiheit ist, wird zur Entfaltung
der ihr innewohnenden grenzenlosen Macht allein fähig durch die strenge
und planvolle Leitung der Weisheit. Ohne ihre ebenso liebevolle als
unbeugsame Herrschaft liegt die poetische Phantasie in unlösbarem Banne,
unterjocht von den finstern und verderblichen Fiktionen des dumpfen
Aberglaubens. „Ein allzu zarter Geist“ ist Ariel von der schnöden
Hexe „in ihrer höchsten, unbezähmbaren Wut“ in das engste Gewahrsam
verschlossen, wo er für ewig gebannt geblieben wäre, wenn ihn nicht
Prospero's aus „seinen geliebten Büchern“ geschöpfte tiefe Kunde erlöst
und zu neuem Leben erweckt hätte: ein herrliches Bild für die
Zaubergewalt, mit der aus langem Schlafe die Wunder der Poesie
gleichsam wie auf einen Schlag zum höchsten, reichsten Leben erweckt
wurden, zu Shakespeares dramatischer Welt!

[378]

Jst es gleichsam die reine Naturgewalt der poetischen Phantasie,
die in Ariel sich darstellt, so ist sein Verhältnis zu Prospero durch sein
unaufhörlich wiederholtes Begehren nach Freiheit charakterisiert, obwohl
er gleichwohl dessen Dienst liebt und gern verrichtet, und sein Begehren
ihm auch nicht eher erfüllt werden kann, ja ihm schroff und hart verweigert
wird, als bis nach dem völligen Abschluß der Handlung, der
sogar noch jenseits des Stückes liegt. Damit ist auf das Genaueste
das Verhältnis bezeichnet, in welchem die frei waltende poetische
Phantasie
zu dem einsichtigen Willen steht, der sie für seine
Zwecke ins Spiel setzt; von hier aus läßt der gesamte Plan des Stückes
sich klar überschauen. So überraschend es auf den ersten Blick erscheint,
Shakespeare hat in diesem seltsamen Stücke geradezu das Wesen jener
von ihm so meisterlich beherrschten Gattung dargestellt, welche die Mitte
zwischen der Tragödie und dem Lustspiel inne hält. Jns Kurze gefaßt
würde die Deutung nun so lauten:

Jm wirklichen Leben ihres Rechts beraubt findet reine, weisheitsvolle
Einsicht
in das Wesen der Dinge durch die Kunst das
Mittel die verlorene Geltung wiederzugewinnen. Tiefste Kenntnis der
Gesetze und Mittel der Kunst verschafft ihr über sie die Herrschaft; sie
selbst, die goldene Phronesis, enthält, soweit wahres Glück erworben
werden kann, die Gewähr es zu erlangen: „Prospero“ daher der bedeutungsvolle
Name dafür; sein Zauberbuch und Zauberstab sind die
Symbole für das Verhältnis, in das sie zu der poetischen Kunst gedacht
ist: Kenntnis ihrer Gesetze und Herrschaft über ihre Mittel. Und
nun das Zeichen der tiefsten Einsicht Shakespeares in das Wesen der
Kunst: er erkennt es deutlich und wird nicht müde, es auf das Schärfste
hervorzuheben, daß es einen Zwang gegen die Freiheit der poetischen
Phantasie ausüben heißt, wenn sie in den Dienst des Gedankens
gestellt wird. Gleichwohl weiß er sie für seinen Dienst zu gewinnen,
aber seine Herrschaft über sie erhält die glänzendste Rechtfertigung. Jst
in Prospero die höchste Kultur der Vernunft und des Verstandes repräsentiert,
so stellt sich in Miranda die Tochter solcher höchsten Kultur
des Geistes dar, die reinste Klarheit, die volle unbewußte Gesundheit
und doch zugleich in sich selbst völlig sichere Fassung des Gemütes, die
wunderbar schönste Erscheinung, die im Reiche des Seelenlebens erblühen
kann. Aus dieser Anlage der entzückenden Schöpfung des Dichters erklären
sich alle Äußerungen, die er sie thun läßt, am meisten diejenigen,
gegen welche sich der Tadel der Kritik gerichtet hat: jene Äußerungen,
die so seltsam gemischt der unmittelbar sich hingebenden Natur und dem
unbeirrten sicheren Bewußtsein des eigenen Seelenzustandes entspringen, [379]
in dem Munde des eben erblühten Mädchens, wenn man die tiefere
Absicht des Dichters übersieht, allerdings befremdlich:


Fort, blöde Schlauheit!

Führ' du das Wort mir, schlichte, heil'ge Unschuld!

Jch bin eu'r Weib, wenn ihr mich haben wollt,

Sonst sterb' ich eure Magd; ihr könnt mir's weigern,

Gefährtin euch zu sein, doch Dienerin

Will ich euch sein, ihr wollet oder nicht.

Es ist in Miranda gleichsam der reine Grundstoff verkörpert, aus
dem die ganze Reihe der entzückenden Frauengestalten in Shakespeares
„Schauspielen“ geschaffen ist. Aber welch ein Zeugnis für seinen Kunstverstand,
daß er es unwiderleglich vor Augen führt, wie der vernünftige
Gedanke die Poesie zu seinem Dienste zwingt, nicht um sich selbst zur
Herrschaft zu bringen, sondern um jene wunderbare Tochter aus der
Einsamkeit, in der sie ward, zum Glück und zu der gebührenden Geltung
im Leben zu führen. Denn allein auf dieses Ergebnis zweckt die ganze
Handlung ab. Auch die symbolische Prüfung und schwere, wenn auch
kurze Dienstbarkeit, der Mirandas künftiger Gatte unterworfen wird,
findet hierdurch ihre Erklärung; wenn auch ein freies Geschenk, so
kann der köstliche Preis doch nicht mühelos gewonnen werden: ein
höchst treffendes Symbol dafür, daß die dramatische Kunst, so wie ihre
hohen Freuden nicht mühe- und schmerzlos genossen werden können, so
weit mehr noch von dem, der sich zum Herren ihrer reichen Schönheit
aufschwingen will, hartes Ringen, ja schweres Seelenleid fordert. Hier
gilt selbst nicht der Adelstitel des Genies als Grund des Erlasses, so
wenig der Prinzenrang Ferdinands ihn vor der strengen Probe Prosperos
zu schützen vermag.

Dieser herrlichen Tochter ist Prosperos rastloses Bemühen während
der ganzen Handlung gewidmet; alle Wirkungen des von ihm erregten
„Sturmes“ gehen darauf hinaus, die Gemüter der davon Ergriffenen
diesem Hauptziele der Handlung, Mirandas Einsetzung in ihre Rechte
durch die Ehe mit Ferdinand, willig oder gezwungen dienstbar zu machen.

Die Wirkung und das Wesen der eigenen Kunst darzustellen, ist
also der Gegenstand dieses wunderbaren Stückes; und zwar nicht der
tragischen oder der komischen Kunst, sondern jener weisheitsvollen Poesie,
die in den ernsten Dramen uns bezaubert, in welchen Shakespeare einzig
dasteht, denen nur Lessings Nathan an die Seite zu setzen wäre.

Kann es im Grunde in Erstaunen setzen, bei demjengen, welcher
die Gesetze seiner Kunst wie kein Andrer in praktische Anwendung gebracht
hat, auch das klare Bewußtsein derselben zu finden?

[380]

Wie der „Sturm“, den Prospero erregt, das Symbol für die
Gewalt ist, mit der die Handlung des ernsten Dramas die Gemüter
der Beteiligten ergreift, wie Ariels Walten die unmittelbare Darstellung
der Macht einschließt, mit welcher die poetische Kunst des Dichters jene
Gewalt verstärkt, ihre Wirkungen vertieft und auf das mannigfaltigste
verwendet, so ist das Ziel dieser Handlung, Mirandas Ehebund, das
Sinnbild für das Ziel solcher dramatischen Schöpfung: der reinen
Schönheit
das ihr gebührende Recht, ihr Anerkennung und Geltung
zu gewinnen, d. i. sie zur vollen Wirkung gelangen zu lassen.

Die hohe Kunst des Dichters hat hier keinen Zweifel gelassen:
die dem äußeren Zusammenhange nach befremdendste Partie des Stückes
ist diesem, das Ganze beherrschenden Zwecke dienstbar, wie sie denn auch
auf den Höhepunkt der Handlung, in den Beginn des vierten Aktes,
wo alle Fäden in einen Punkt zusammenlaufen, gestellt ist. Es ist das
mythologische Festspiel gemeint, welches Prospero veranstaltet, um das
Verlöbnis des jungen Paares einzusegnen.

Doch ist es erforderlich, auf höchst bedeutsame Züge des wunderbaren
Gedichtes hier zunächst noch einen Rückblick zu werfen.

Die Jnsel, auf die das Stück uns versetzt, ist das Zaubereiland
der Phantasie: als solches charakterisiert sie ebenso das wüste Gebahren
Calibans wie Ariels „zierliches Spüken“. Nun ist es aber nötig,
zu erinnern, daß unsere moderne Sprachgewohnheit mit dem Begriff
der Phantasie einen seltsamen Mißbrauch treibt. Wir sprechen von der
Macht, Gewalt, von der schöpferischen Kraft der Phantasie, gerade als
ob in ihr der eigentliche Sitz des künstlerischen Vermögens wäre, ja
wir sehen die Phantasie wohl als die wesentlichste Ausrüstung des Genies
an; während sie doch in Wahrheit nur das Vermögen ist, empfangene
Sinneseindrücke beliebig in der Vorstellung zu wiederholen,
allerdings sie in beliebig anderer und neuer Anordnung und Zusammensetzung
zu wiederholen. Aber die Jnstanz, die diese Wiederholung sowohl
als die neue Anordnung bestimmt, ist nicht in ihr selbst enthalten,
sondern sie liegt außerhalb. Welches ist nun diese Jnstanz?
Es ist nicht eine, sondern es sind die sämtlichen Kräfte der Seele, für
die durch die Phantasie das ungeheure Vorstellungsmaterial in Bereitschaft
gestellt und nach ihrem Gebot neu aufgebaut wird, ohne das
keine von ihnen in Thätigkeit treten könnte; ob der Verstand eine Maschine
konstruiert, oder die Vernunft eine Gesetzgebung ersinnt, oder ob,
wozu im Leben weitaus am meisten die Phantasiethätigkeit in Anspruch
genommen wird, die Begierden ihre Wünsche formen, ob endlich die
wogenden Empfindungs- und Gemütskräfte in freiem Spiele
[381]
neben der wirklichen Welt sich eine zweite Traum= und
Zauberwelt erschaffen.
Wenn zu solchem Spiele als der bestimmende
Leiter die Vernunft und als der ordnende Aufseher der Verstand
hinzutritt, so entsteht die Kunst.

Sicherlich ist regste Bereitwilligkeit und reichste Fülle der Phantasie
ein unentbehrliches Attribut des Genies, Vernunft und Verstand treten
ihr nur regulierend gegenüber, und gewiß wird Goethes Mahnung
immer gelten, „daß die alte Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen
ja nicht beleidige“; aber die Macht, von der sie zur Bildung des Schönen
den Jmpuls empfängt, die eigentlich schöpferische Kraft, ruht in der
Tiefe des Empfindungslebens der Seele; ja diese innerste Kraft der
Seele ─ „innere Wärme, Seelenwärme, Mittelpunkt!“ ─ ist es, die
im Grunde allein der Phantasie jene unentbehrliche Regsamkeit
und Fülle verleiht,
d. h. das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen
mit jener feinen Empfindlichkeit, grenzenlosen Aufnahmefähigkeit
und nimmer ruhenden Beweglichkeit ausstattet, die mit Recht als die
Mitgabe des Genies gelten.

Was wir gewohnt sind, Phantasiethätigkeit zu nennen, ist also in
Wahrheit keine Thätigkeit der Phantasie, sondern die Thätigkeit eines
andern Seelenvermögens innerhalb der Phantasie. Eine solche wird
naturgemäß vorzugsweise und am stärksten dann eintreten, wenn wir
der überwältigenden Herrschaft der unmittelbar uns umgebenden Eindrücke,
Jnteressen und der durch sie gesetzten Zwecke entzogen werden;
das geschieht einmal, wenn wir ruhen und sodann, wenn die Veranstaltungen
der Kunst uns dem gewohnten Anschauungs- und Gedankenkreise
entreißen.

Beides trifft für die Personen in Shakespeares „Sturm“ zu. Mit
höchst erstaunlicher Feinheit und Mannigfaltigkeit hat er das Motiv
durchgeführt, an der bunten Gesellschaft, die der durch Prospero erzeugte
Aufruhr der Elemente an den Strand der Jnsel geworfen hat, zu zeigen,
wie ein jeder unter diesem Eindrucke und in der erzwungenen Befreiung
von aller gewohnten Beschäftigung seine Phantasiewelt in Thätigkeit
setzt, oder auch, wie es leicht geschieht, von der einmal erregten sich
unterjochen läßt. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt jedes Wort des
Stückes prägnante Bedeutung. Es sei zum Belege auf die erste Scene
des zweiten Aktes hingewiesen, auf die scheinbar absichtslosen Gespräche
der neapolitanischen und mailändischen Fürsten und Hofleute, in denen
Gonzalo der Hauptredner ist und jene socialistischen Utopien entwickelt,
die damals wie heute ihr aktuelles Jnteresse hatten. Von all den dort
Versammelten ist er der Einzige, dem unter den widrigen Umständen [382]
ein gutes Gewissen und ein reiner Sinn die geistige Freiheit bewahrt;
bei ihm macht der Zauber der Jnsel sich nicht anders geltend, als daß
sein feiner und gewandter Geist die Welt seiner Vorstellungen zu unterhaltendem
Spiele in Bewegung setzt, wenn er das utopistische Jdeal
eines Staates ohne Obrigkeit, ohne Besitz, Handel und Arbeit halb mit
Behagen an dessen Ausmalung, halb mit unverkennbarer Jronie auseinandersetzt,
vorzüglich doch um den König zu erheitern und aufzurichten.
Dagegen ist dieser, von Schmerz und Reue gefoltert, in dumpfes Brüten
versunken; in Antonio und Sebastian endlich verscheucht gewissenloser
Ehrgeiz jedes andere Phantasiebild, als das der eigenen Macht und
Größe, und erzeugt in ihrer Brust den Vorsatz des scheußlichsten Meuchelmordes.
Sie alle, ebenso wie ihre grotesken Gegenbilder, die nur von
Angst und gemeiner Gier gelenkt werden, sind in Prosperos Gewalt
gegeben. Was kann deutlicher sein als der Sinn des Grundzuges, der
nun die ganze Handlung bestimmt? Jn Prospero hat diese ganze phantastische
Zauberwelt ihren Meister; eine überlegene Weisheit bestimmt
die Wirkung all dieser Klänge, von denen rings die Jnsel ertönt, und
der Zaubererscheinungen, die überall nach seinem Willen begegnen, und
macht die Seelen derer, die nicht von tiefgewurzelter Bosheit ganz verstockt
sind, in seinen Händen weich wie Wachs; jene andern aber erschreckt
und foltert er bis zum Wahnsinn.

Weisheit und Kunstverstand müssen in dem Zauberreiche der Phantasie
regieren, um ihre gefährlichen und in fremden Händen leicht höchst
verderblichen Kräfte zum Heile zu verwenden; die schwer zu erfüllende
Bedingung aber ist, daß die festeste Leitung dabei doch der Phantasie
die freieste Bewegung nach ihren eigenen Gesetzen gestatten muß, immer
nur den Schauplatz und die zu lösende Aufgabe ihr anweisend: dafür,
wie wir sahen, in der Dichtung das nicht genug zu bewundernde Bild
der strengen Dienstbarkeit des luftigen Ariel unter Prosperos weiser
Herrschaft, der doch wiederum ohne den tausendgestaltigen Diener nichts
vermöchte; zwischen beiden das Verhältnis zartester, herzlichster Neigung,
die den strengen Gehorsam in schöne Freiwilligkeit verwandelt; darüber
hinaus dennoch immer wieder das unzerstörbare Sehnen der Phantasie
nach völliger Freiheit, ihrer eigentlichen Natur.


Prosper:

„Frei sollst du sein
Wie Wind auf Bergen: thu nur Wort für Wort,
Was ich dir aufgetragen.“


Ariel:

„Jede Sylbe!“

So hat denn nun Ariels unermüdliches Walten in der Verfolgung
des Verbrechens und der Bosheit unserer schweren Jndignation Genüge [383]
gethan, es hat die skurrile Gemeinheit unserer Verachtung und dem
Spott über ihre unbehülfliche Ohnmacht preisgegeben: das Schwerste
bleibt noch zu thun! Was hätte dieses Ganze für Zweck und Sinn,
wenn es nur das Fehlerhafte in seiner Verkehrtheit zeigte, wenn es
nicht gelänge, ihm gegenüber die unmittelbare Freude an der schönen
Erscheinung zu entzünden? Die höchste und reinste Schönheit, von
der Weisheit erzeugt und erzogen, so tritt uns in dem Stücke Miranda
entgegen. Die Weisheit, aus der Welt verstoßen, gewinnt sich die Geltung
in der Welt zurück durch die Schönheit: das ist der Sinn der
Handlung des Stückes; denn Prosperos ganzer Plan gipfelt darin,
Miranda durch den Ehebund mit dem Königssohne in das ihr gebührende
Recht wieder einzusetzen. Leicht verständlich! Denn noch ist ihre Existenz
eine abgesonderte in dem Reiche der Einbildung; es gilt ihr reales
Leben zu verschaffen, sie in die wirkliche Welt der Erscheinungen überzuführen.
Dazu muß Ariel dem Prospero helfen: die Poesie ist der
Weisheit das Mittel, um in der Schönheit ihr Bestes der
Welt dahinzugeben.
So sehr es aber sein Bestreben ist, die herrliche
Tochter den Bewerber finden zu lassen, so ist sie doch nur um den Preis
mühevollen Ringens und strenger Entsagung zu gewinnen. Wie gern
unterwirft sich jener der härtesten Probe: beim ersten Sehen ist er der
holden Erscheinung für immer ergeben: „Die Lebensgeister sind mir wie
im Traum gefesselt ... Mag Freiheit alle Winkel der Erde sonst gebrauchen:
Raum genug hab' ich in solchem Kerker.“ Und nun das Verlöbnis
und das mythologische Spiel zu seiner Feier: „All deine Plage
war nur die Prüfung deiner Lieb', und du Hast deine Probe wunderbar
bestanden. Hier vor des Himmels Angesicht bestät'ge Jch dies
mein reich Geschenk. O Ferdinand! Lächl' über mich nicht, daß ich mit
ihr prahle: Denn du wirst finden, daß sie allem Lob zuvoreilt und ihr
nach es hinken läßt.“ Ferd.: „Jch glaub' es euch, selbst gegen ein
Orakel.“

Man hat die strenge Bedingung Prosperos seltsam gefunden, daß
er bei schwerem Fluche dem Paar die Vereinigung verwehrt, „bevor
der heil'gen Feierlichkeiten jede Nach hehrem Brauch verwaltet werden
kann.“ Dieses Verbot steht im engsten Zusammenhange mit dem nun
folgenden noch befremdenderen Spiele. Der Sinn ist dieser: die Schönheit,
um die es sich hier handelt, ist nicht die des sinnlichen Reizes,
nicht die der heißen, überwallenden Leidenschaft, des stürmischen Entzückens;
sie entstammt der Weisheit; klar, mild, reich und tief, ist sie
über jeden Preis erhaben: es ist die Schönheit der Jdee! Deshalb
die scharfe Bedingung, daß, um sie zu erwerben, das lodernde Feuer [384]
der Sinne erstickt werden muß, um einer reineren, heiligen Flamme zu
weichen. Und wie dem Schoße solcher Schönheit überschwenglich reiche
Frucht entsprießt, so erscheint zu ihrer Weihe im Geleit der die Ehe
schützenden Juno nicht etwa die Venus, sondern Ceres! Venus mit
ihrem üppigen Gefolge ist weit verbannt, während nun jene beiden
Göttinnen dem Paare die reichste Segensfülle verheißen.

Was bedeutet es aber, daß mitten in der heiteren Feier Prospero
plötzlich im heftigsten Zorne auffährt, da er des Mordanschlages
des Caliban und seiner Genossen gedenkt, der um diese Stunde ausgeführt
werden soll?

Auf das Klarste hat hier der Dichter seine Absicht an den Tag
gelegt. Jst doch die Jdee von je und immer dem giftigen Haß und
der tückischen Verfolgung des wüsten Wahnes und der brutalen Gemeinheit
ausgesetzt, die in diesem Zeichen für ewig verbündet sind. Wie sollte
Prospero sich nicht mit heftigem Zorne gegen sie zur Wehr setzen? Er
kennt die geistige Natur der Güter, denen dieser Angriff gilt und weiß
die Gefahr desselben zu ermessen; doch weiß er ebensowohl, daß der
luftige Schein dieser Jdeenwelt das eigentliche Wesen der Dinge bewahrt,
während die reale Erscheinung in flüchtigem Wechsel vorüberflieht.
Darum die leidenschaftliche Abwehr gegen die niedrigen Mächte, welche
diese Güter nicht anerkennen und sie vernichten möchten ─ „nie, bis
diesen Tag,“ sagt Miranda, „sah ich ihn von so heft'gem Zorn bewegt“
─, und darum der tiefe Ernst seiner Entgegnung: „Seid gutes
Muts! Das Fest ist jetzt zu Ende; uns're Spieler, Wie ich euch sagte,
waren Geister, und Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. Wie dieses
Scheines lockrer Bau, so werden die wolkenhohen Türme, die Paläste,
Die hehren Tempel, selbst der große Ball, Ja, was daran nur Teil
hat, untergeh'n; Und, wie dies leere Schaugepräng' erblaßt, Spurlos
verschwinden. Wir sind solchen Stoffs Wie der zu Träumen, und dies
kleine Leben Umfaßt ein Schlaf.“ ─

So weiß er denn auch durch leeren bunten Schein den gefährlichen
Angriff abzulenken, indem er die Gier der plumpen Gesellen durch den
glänzenden Trödel ködert, den Ariel ihnen zum Raube aushängt. Aber
der trügerische Schein wird jenen zum Verderben; Ariel lockt sie in
scheußlichen Sumpf und heißt seine Kobolde „ihr Gebein zermalmen
Mit starren Zuckungen, die Sehnen straff Zusammenkrampfen und sie
fleck'ger zwicken Als wilde Katz' und Panther“.

Das Spiel geht seinem Ende zu; überall sieht Prospero seinen
Entwurf gelungen, und seine Güte löst den schweren Zauber der Wahnsinnsangst,
mit der er den König und sein Gefolge in Fesseln geschlagen, [385]
als er sie so gewaltig ergriffen sieht: „Da sie reuig sind, Erstreckt sich
meines Anschlags ein'ger Zweck Kein Stirnerunzeln weiter:
geh', befrei' sie.
Jch will den Zauber brechen, ihre Sinne Herstellen
und sie sollen nun sie selbst sein.

Es würde zu weit führen, die überschwengliche Fülle der Beziehungen,
die hier und durchweg bei jeder kleinsten Wendung sich ergeben,
erschöpfend darzulegen; nur auf eines sei noch hingewiesen.

Man hat der ergreifenden Rede, mit der Prospero dem mächtigen
Zauber seiner Kunst entsagt, eine höchst specielle Deutung gegeben: es
sei Shakespeares eigenes Zurücktreten von der Bühne, er nehme hier
feierlich Abschied von seiner Kunst. Ganz abgesehen davon, daß das
nicht zutrifft, denn Shakespeare hat nach dem „Sturm“ noch das
„Wintermärchen“ geschaffen, auch konnte er seinen frühen Tod schwerlich
voraussehen und hätte bei längerem Leben sicherlich seiner Muse nicht
den Laufpaß gegeben; aber abgesehen von dem allen: nichts kann verkehrter
sein als eine solche Deutung, die den Rahmen des Stückes ganz
verläßt und etwas Fremdes, ganz Äußerliches in den kunstvollen Organismus
hineinträgt. Die tief bedeutungsvolle Rede erklärt sich auf das
einfachste aus dem Zusammenhange selbst.

Solche großen symbolischen Conceptionen haben das Gemeinsame,
daß sie den Vorgang, den sie schildern, als einen allgemeingültigen,
typischen darstellen, also als den einzigen seiner Art! Was in der
Wirklichkeit in tausenden von Fällen sich vollzieht, immer neu und immer
wechselnd, findet hier sein ewig gleiches Vorbild, und was dort nie
abgeschlossen werden kann, ist hier vollendet und abgethan.

So kann denn also der Prospero, dessen Werk gelungen ist, ─
die Weisheit, die mit der Hülfe der Poesie durch die reine
Schönheit die Jdee in ihre Rechte gesetzt hat
─ nun die zarten
Elfen, mit deren Beistand er die Sonne umhüllt hat und die grüne
See mit der azurnen Wölbung in Kampf gesetzt, Grüfte gesprengt und
Tote erweckt, ihres Dienstes entlassen, ihnen wie Ariel die versprochene
Freiheit wieder zurückgeben: „Doch dieses grause Zaubern
Schwör' ich hier ab; und hab' ich erst, wie jetzt Jch's thue, himmlische
Musik gefordert, Zu wandeln ihre Sinne, wie die luftige Magie vermag:
so brech' ich meinen Stab, Begrab' ihn manche Klafter
in die Erde, Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht, Will
ich mein Buch ertränken.

Wie einfach und wie tiefsinnig! Niemand war weiter davon entfernt,
die Poesie durch den Zwang der Lehre und des Gedankens ihres
Adels und ihrer Kraft zu berauben, als Shakespeare. Aber die voll= [386]
kommene Kenntnis seiner Kunst lehrte ihn, daß es eine dramatische
Gattung gäbe, in der die weisheitsvolle Einsicht unmittelbar zur Erscheinung
kommen kann: eben jenes ernste Drama, welches auf der
Höhe seines Schaffens, in seiner letzten Zeit, ihm so besonders lieb
wurde. Aber wie Prospero seine mächtige Kunst nur durch Ariel und
seine Elfenscharen auszuüben vermag, und wie Miranda, „die Wunderbare“,
der Gegenstand ist, auf den all sein Sinnen und Wirken abzielt,
so hat die Weisheit nur, indem sie mit Hülfe der Phantasie in
der schönen Erscheinung ihre Wirkungskraft offenbart, im
Reiche der Poesie zu gebieten.
Jst ihr das Werk gelungen, so ist
ihre Mission hier erfüllt;
sie legt ihren Herrscherstab von sich und
läßt der Phantasie ihre volle Freiheit, um fortan nur im eigenen Gebiete
zu walten.

Es bleibt noch übrig, einen Blick auf die kontrastierenden Partien
des Dramas zu werfen.

Die lose Einfügung dieser grotesk=komischen Scenen, die für sich
allein nicht zu rechtfertigen wäre, hört auf, als solche zu erscheinen,
wenn sie aus der Symbolik des Ganzen sich erklären.

Wie die freie, das Wohlgefällige bildende Phantasie, so steht dem
weisen Meister auch die Phantasie zu Gebot, die in der dumpfen Region
des Häßlichen, Brutalen, bewußt Boshaft-Gemeinen ihr Element hat.
Hier aber waltet sein Zauberstab mit despotischer Kraft, mit schärfstem
Zwange niederhaltend, was seine Absichten kreuzt, sie von vorneherein
vereitelnd, auch wo er sie gewähren zu lassen scheint, während er es
zugleich versteht, sie mit kluger Absicht für seine Ökonomie zu verwenden.


Derselbe „Sturm“, den er veranstaltet, um die Gemüter, die er
bezwingen will, in seine Gewalt zu bekommen, dient ihm zugleich als
Motor, um die Gemeinheit und die Narrheit ins Spiel zu setzen, um
sie der gewohnten Bande entledigt teils von Angst geschüttelt, teils in
ihrer vollen Ausgelassenheit zu zeigen: nach der Symbolik des Stückes
fallen sie damit dem Repräsentanten jener häßlich=brutalen Phantastik,
dem Ungeheuer Caliban, in die Hände. Es ist abermals eine von
den bewunderungswürdigen Feinheiten der Dichtung, wie sie den brutalen
Trunkenbold Stephano und den schwachköpfigen Narren Trinculo
in der selbstgefälligen Täuschung sich gebärden läßt, als ob sie
mit dem „Ungetüm“ ihr Spiel trieben, während Caliban von den neuen
Herren vermeintlich in Freiheit gesetzt, sofort sie vielmehr unter seine
Gewalt und Leitung bekommt. Er freilich, das verkörperte Princip
seines Wesens, erkennt bald genug, daß er es mit jenen platten Ge= [387]
sellen doch nur zu einer plumpen Farce bringt, und fügt sich lieber, die
Geißel des Meisters fürchtend, dessen scharfer Zucht. Dieser jedoch erreicht
seinen Zweck, jenes edle Dreiblatt, die Bosheit, Gemeinheit und
die dumme Narrheit, sich als solche dem Augenscheine darstellen zu
lassen, vollkommen, indem er sie einfach eine Weile in ihrem Treiben
gewähren läßt und demselben nur die Richtung auf zwei symbolische
Aktionen gibt: den Mordanschlag Calibans und jenen wunderlichen
Kleiderdiebstahl, dem offenbar eine besondere typische Bedeutung vom
Dichter zuerteilt ist.

Beide erklären sich gegenseitig. Was kann verständlicher sein als
der Anschlag, durch den die drei sich der Herrschaft auf der Jnsel bemächtigen
wollen, jenem musikerfüllten Eilande, wo Prospero durch
Ariel herrscht und seiner Miranda die für sie erhoffte Befreiung erwirkt!
Um es kurz zu sagen: jenes durch Caliban vertretene Element
wird in der Ökonomie der dramatischen Werkstatt nicht entbehrt, aber
nutzbar gemacht nur bei strengster Dienstbarkeit; nichtsdestoweniger strebt
es fortwährend selbst darin zu herrschen und die Gemeinheit und Dummheit
sind ihm dafür die geeigneten Bundesgenossen. Denselben Sinn
hat das frühere Attentat Calibans gegen Miranda, gegen die Reinheit
des Gemütes selbst, wodurch er „die Jnsel mit Calibans zu bevölkern“
gedachte. Daß nun aber Shakespeare den Mordplan in den skurrilen
Kleiderdiebstahl auslaufen läßt, ist eine Wendung, durch die seine Absicht
noch schlagender hervorspringt: Mit der absoluten Herrschaft jener
Gesellen in der dramatischen Dichtung hat es gute Wege; wohl aber
gelingt es ihnen, von dem Kostüm der Herrlichkeiten des Meisters, das
für sie zum Raube offen hingehängt ist, was ihnen am lockendsten
in die Augen fällt, zu entwenden und damit herausgeputzt eine
Weile zu stolzieren, um alsbald der verdienten Strafe von der rächenden
Geißel des Geplünderten zu verfallen. Es ist höchst absichtsvoll
und höchst bezeichnend, daß das Stück mit der Exekution jener Drei
und ihres angemaßten Treibens abschließt: das Drama hat seine klärende
Macht auf dem ernsten Gebiet erwiesen, die reine Schönheit in ihre
Rechte gesetzt; nun zeigt es seine reinigende Gewalt gegenüber den
niedrigen Elementen. Wo das Niedrige, in welcher Gestalt immer,
in dem geweihten Zaubergebiete der Kunst sich eigene Herrschaft anmaßt,
mag es auch mit den entwendeten Formen der Kunstübung seine
Roheit umkleiden, da trifft es die schonungslose Verfolgung der echten
Kunst, bis es in ihren strengen Dienst zurückgezwungen ist, wo es dann,
wie das Stück es ausdrückt, höchstens zu lustiger Verbrämung verwendet
wird: „dem Meister die Zelle aufzuputzen“.

[388]
Go, sirrah, to my cell,

Take with you your companions: as you look

To have my pardon, trim it handsomely.

Es mag noch hinzugefügt werden, daß der „Epilog“ die im
Obigen skizzierte Deutung Wort für Wort bestätigt: nun ist der Zauber
zu Ende; was dem Dichter an Kraft bleibt, ist nur die eigene. Zwar,
sein Herzogtum hat er gewonnen, die falschen Nebenbuhler überwunden,
aber, um nicht auf die einsame Jnsel seines Träumens und Dichtens
beschränkt zu bleiben, um Kraft und Wirksamkeit zu erlangen, muß er
die Gemüter seiner Hörer gewonnen haben, sonst ist sein ganzer Plan
vereitelt; dieser Plan war: zu gefallen!


Let me not,

Since I have my dukedom got

And pardon'd the deceiver, dwell

In this bare island by your spell;

But release me from my bands

With the help of your good hands

Gentle breath of yours my sails

Must fill, or else my project fails,

Which was to please.

Zu gefallen“, durch die in Thätigkeit gesetzte Empfindung die
reine und volle Hedone zu erzeugen, ist freilich die Aufgabe aller Kunst;
nur insofern sie dieselbe löst, gelangt sie zu Leben und Wirksamkeit.
Aber in keiner dramatischen Gattung ist der Dichter so darauf gewiesen,
allen Zauber der poetischen Mittel ins Spiel zu setzen, wie in
jener Mittelgattung, die sowohl der Wucht der tragischen Affekte als
der unwiderstehlichen Kraft der ganz auf die komische Wirkung gebauten
Handlung entraten muß, von beiden nur untergeordneten, subsidiären
Gebrauch machen darf. Zwischen den erschütternden Schicksalen und
den dem Lachen preisgegebenen Vorgängen und Verwickelungen liegt
das Gebiet der Zustände und damit verflochtenen Ereignisse, die weder
das eine noch das andere sind, ernst ohne tragisch zu sein, fehlerhaft
ohne der Komik anheimzufallen, schicksalsvoll dennoch in eminenter [389]
Weise, insofern durch die fortlaufende Häufung für sich allein nicht als
verhängnisvoll erscheinender Jrrungen zuletzt doch bedeutende Entscheidungen
sich bereiten. Um derartige ihrer Natur nach lang andauernde,
allmählich anwachsende Entwickelungen in den präcisen Ablauf der vor
den Augen sich ereignenden dramatischen Handlung zu bannen, wird
der Dichter, je bedeutender er sich seine Aufgabe stellt, um so mehr gezwungen
sein, die Hülfe der Phantasie in Anspruch zu nehmen, sowohl
bei seinem Werke als bei den Zuschauern, die dessen Wirkung
erfahren sollen: er wird kühne Verkürzungen, Verdichtungen einer Kette
von Einzelvorgängen zu einem einzigen Ereignis anwenden, er wird zur
Symbolik greifen, des Wunderbaren sich frei bedienen, über Ort und
Zeit hinwegschreiten, hunderterlei in dem äußeren Pragmatismus ignorieren
dürfen, wenn das alles ihm nur hilft der inneren
Wahrheit zu desto sicherer, vollständigerer, reinerer Wirkung
in Anschauung und Empfindung seiner Zuschauer zu
verhelfen,
d. i. im strengen künstlerischen Sinne „zu gefallen“.

Diesen Gesetzen und dieser Technik hat Shakespeare mit der anmutvollsten
Phantasie ein selbständiges Leben erteilt und sie zu dem
Gegenstande der luftigen Handlung seines „Sturms“ gemacht. Er
besaß
die Zauberkraft, diese Symbolik nicht zur frostigen Allegorie
ausarten zu lassen, sondern ihr den Schein frischen, eigenen Lebens zu
bewahren; so fesseln uns die Personen und Vorgänge des Stückes durch
die feste Bestimmtheit der Realität, die volle, warme Jndividualität bei
aller Phantastik ihrer Erscheinung und ergötzen uns abwechselnd durch
das reine Wohlgefallen an sanftem Reiz und edler Würde und
durch die klar und sicher empfundene Mißbilligung des
Fehlerhaften, die hier als eine Mischung aller denkbaren Gradationen
sich darstellt: vom verzeihenden Tadel bis zur stärksten Jndignation, vom
Verlachen bis zur Verachtung und zum Abscheu.

So groß ist Shakespeares Kunst, daß die Wirkung des ganz singulären
Dramas eine allmächtige und von jedermann empfundene ist,
trotzdem der prüfenden Erwägung hundertfältige Bedenken allenthalben
sich entgegenstellen, so lange die strenge Einheitlichkeit der wundervollen
Komposition und ihre mit vollkommener Konsequenz bis in die kleinsten
Züge festgehaltene Durchführung nicht erkannt ist.

Es erscheint wie eine Probe der Rechnung, wenn man untersucht,
wie Shakespeare die im Bilde entworfene Theorie nun in der Praxis
angewendet hat. Das „Wintermärchen“ ist noch nach dem „Sturm“
entstanden und gilt als seine letzte Dichtung; durch die Fremdartigkeit
seiner Form fordert es die theoretische Kritik mehr heraus als irgend [390]
ein anderes der Shakespeareschen Dramen: ein tragelaphisches Zwitterwesen,
halb Trauerspiel und halb Komödie. Jn Wahrheit keines von
beiden; wohl aber geeignet den Typus der Gattung scharf ausgeprägt
zu repräsentieren.

Tragisch ist weder die Figur des Leontes, noch die der Hermione:
der Charakter jenes beruht auf hochgradiger Schwäche und
Verkehrtheit, die lustspielartig wirken würden, wenn sie nicht so ernsthaft
verderblich sich äußerten; das Geschick dieser ist zwar ein beklagenswertes,
aber nicht hoffnungsloses, wie denn in der That es sich zuletzt
zum Guten wendet. Wie kaum ein anderes illustriert dieses Beispiel
das Wesen der mittleren Gattung. Die Eifersucht des Leontes ist weder
die rasend vernichtende Leidenschaft eines Othello, noch die skurril polternde
und ungefährliche eines Moliereschen Lustspielehemanns. Aber
sie ist die krankhafte Grille eines in selbstquälerischer Träumerei befangenen,
in sich selbst schwankenden und daher um so mehr dem Wahne
des Mißtrauens gegen andere preisgegebenen Gemütes, das der Weichheit
ebenso zugänglich ist als im Zorne der Verblendung grausamer
Härte, der rücksichtslosesten Starrheit fähig bei einer doch immer wieder
zur Geltung gelangenden Grundanlage zum Guten und zu liebevoller
Hingabe. Als solche ist diese gesamte Anlage gerade hinreichend, um
nicht nur das eigene Leben, sondern das der Zunächststehenden durch
lang anhaltende schwer lastende Trübsal zu verdüstern. Zur Tragik
jedoch fehlen hier alle wesentlichen Bedingungen, wenn man nicht gerade
dem eingerissenen verkehrten Sprachgebrauche folgend das Tragische einfach
mit jeder Form irgendwelchen Unglücks identifizieren will. Unter
solcher an Krankheit grenzenden Reizbarkeit des Gatten sehen wir Hermione
völlig schuldlos leiden, indem der Dichter, was ein ganzes Leben
mit der unablässigen Quälerei despotischer Laune verdüstern kann, in
einem einzigen jähen Ausbruch zusammenfaßt. Ein solcher Stoff
kann auf keine andere Weise der dichterischen Behandlung
fähig gemacht werden, als indem vor allem ihm das jammervoll
Bedrückende des schlimmen Ausgangs genommen
wird;
in der That war eine derartige Operation die wesentlichste Veränderung,
die Shakespeare an dem von ihm für das Stück benutzten
Novellenstoff vornahm. Das mußte geschehen, ohne der Handlung die
wuchtige Schwere des vollen Ernstes zu nehmen, mit welchem zugleich
sie ihre Wahrheit und damit allen Wert eingebüßt haben würde; es ist
der Mühe wert, genauer zu beachten, wie Shakespeares Kunst hier verfahren
ist. Eine minder durchdringende Kenntnis sowohl der Gesetze
des Schicksals als seiner poetischen Nachahmung würde sich damit be= [391]
gnügt haben, nach der Enthüllung von Hermiones Unschuld und der
Darstellung von des Leontes Sinnesänderung nun Versöhnung, Friede
und Freude eintreten und auf den Jammer die behaglichste Befriedigung
folgen zu lassen. Dagegen läßt Shakespeare die unerbittlichen Konsequenzen
der Handlung in ihrem ganzen Umfange eintreten, er geht bis
an die Grenzen
der tragischen Wirkung, ohne doch auch nur für
einen Augenblick die Wirkung des Ganzen auf die tragischen
Empfindungen zu stellen. Der Sturm, den er erregt, geht zwar mit
all seinen Schrecken vor unsern Augen in Scene, aber er ist nicht der
Gegenstand seiner Komposition, sondern ein Mittel für ihren eigentlichen
Zweck: aus dem Sturme segensvollen Gewinn hervorgehen zu
lassen, aus der starken Erschütterung tief greifende Erneuerung und
endlich obsiegende Klärung. Er muß also Sorge tragen, daß Furcht
und Mitleid bei dem Sturme uns nicht überwältigen; und wenn er
es diesmal nicht so lenken kann, daß Prosperos „Kein Leid“ hier gälte,
so läßt er doch seinen erfindungsreichen Ariel alle Künste aufwenden,
um die drohende Schwüle der tragischen Atmosphäre zu verscheuchen,
das Gewölk schnell herüberziehen zu lassen und durch die sich zerstreuenden
Massen die Aussicht in ein fernes Blau zu eröffnen, das bald mit
goldiger Heiterkeit den ganzen Schauplatz einnimmt. Zu diesen Künsten
gehört vor allem der bei aller Realistik der Darstellung über das Ganze
gebreitete Duft märchenhafter Ferne und der damit verbundenen
Willkür in der Handhabung des äußeren Pragmatismus bei aller
strengsten Folgerichtigkeit der inneren Entwickelung. Alle die vielgenannten,
offenbar höchst geflissentlich begangenen Verstöße gegen Chronologie,
Erdkunde und Kostüm, die keineswegs künstliche Feinheit, sondern
recht primitive Faktur der theatralischen Maschinerie ─ es genügt des
Orakels und des wie gerufen sich einstellenden Bären zu gedenken ─
finden hierin ihre Erklärung. Außer diesem stärksten Mittel trägt die
vielfach entschieden genrehafte Färbung jener ganzen ersten Hälfte des
Stückes, die so gefährlich zur Tragik hinneigt, sehr erheblich dazu bei,
die Stimmung zu entlasten und dem tragischen Affekt zu wehren; es
sei auf die Scene des Leontes mit Mamillus hingewiesen, auf die Scene
der Hermione mit ihren Frauen und mit dem Knaben und endlich auf
die derb=verständige, grobkörnige Tüchtigkeit der Paulina, eines so ausgeprägt
anti=tragischen Charakters, daß sie allein genügen würde, die
Absicht des Dichters kenntlich und wirksam zu machen.

Der strenge Ernst und die volle Wahrheit werden dadurch um
nichts geschmälert. Dergleichen tiefe Schäden, wie sie im Charakter
und der Handlungsweise des Leontes bloßgelegt werden, lassen sich nicht [392]
durch momentane Sinnesänderung heilen, weder subjektiv im Gemüte
des Handelnden noch objektiv bei den davon Betroffenen; auch sind
ihre Konsequenzen unberechenbar und gehen weit über Absicht und Willen
hinaus. An diesem letzteren Punkte liegt ein tragischer Keim in der
Handlung, der mit dem Tode des Knaben Mamillus auch zum Aufsprießen
gelangt, aber doch nur als Nebenschößling, ohne das Gesamtgepräge
der Handlung zu verändern. Die auf den ersten Blick so
seltsam und märchenhaft willkürlich erscheinende Handlungsweise der
Paulina, daß sie die unschuldige Hermione, trotzdem ihre Unschuld erwiesen
und von allen anerkannt ist, trotz der Reue und Verzweiflung
des Leontes, nun dennoch ihm auf sechzehn lange Jahre entfremdet
und sie dem Leben erst zurückgibt, als in der herangeblühten neuen
Generation nach dem Spruche des Orakels „das Verlorene sich wiederfindet“,
entspricht dem symbolischen Sinne nach, wie nach ihrer thatsächlichen
Wirkung auf den Zuschauer, der Wahrheit des Sachverhältnisses.
Zuständen und Ereignissen gegenüber, wie die erste Hälfte des Stückes
sie schildert, ist lange Entfremdung unvermeidlich: die einzige Gewähr
aber der dennoch möglichen einstigen Gewinnung des
Glückes liegt in dem entschlossenen, freiwilligen Verzicht
auf das eigene Genießen und in der stillen gläubigen Hingabe
an die Zukunft.
Dies ist der durchsichtige Sinn des Orakels
und der demselben entsprechenden Jntervention Paulinas, die eben nur
als die scenische Verkörperung dieser Resignation zu betrachten ist. Der
eigentliche Schwerpunkt des Dramas liegt dann aber in der heiterschönen
Heraufführung jener sonnigen Zukunft. Wie der „Sturm
das Mittel ist, Miranda zu erlösen und auf den ihr gebührenden
Thron zu führen, so kehrt hier die dem zerrissenen Ehebunde entsprossene
Wunderblume Perdita Glück verbreitend zurück; und wie in der ersten
Hälfte seines Dramas der Dichter sich nicht gescheut hat, zu den dunkelsten
Farben zu greifen, so verwendet er am Schlusse die stärksten theatralischen
Mittel, um das Freudenfest des wahrhaft und dauernd hergestellten
Friedens und Glückes aufs Höchste zu steigern.

An dem „hübschen Aufputz“ durch das harmlos niedrig Komische
und selbst Possenhafte hat es der Dichter dem Stücke auch nicht fehlen
lassen ─ to trim it handsomely ─ während jeder Laut des Rohen
und Gemeinen strengstens verbannt ist. So stellt es sich in allem seinem
Rezept, wenn man dasselbe symbolisch im „Sturm“ erkennen will, genau
entsprechend dar und damit als die Theorie des „Schauspiels“ in
besonders prägnanter Weise exemplifizierend.

Aus allem Gesagten zeigt sich deutlich, wie diese Gattung nicht [393]
allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt
nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die
Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis
und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier
die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen
Jnstinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den
absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch
zu finden.

Daß Shakespeare sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich
bewußt war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit
und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu
beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines „Sturmes“ bezeugt
zu werden.

Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen
Schönheitssinn Goethes entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten
Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der specifisch
tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst
dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken!
Ob nicht, wenn Lessing dieses Gebiet principiell angegriffen und mit
seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt
hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hülfe
gekommen wäre?

Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des
Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender
Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben,
als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen
Schiller! ──────


XXI.

Nach dieser Durchforschung des Mittelgebietes lassen sich nun die
Bestimmungen, durch welche es gegen die Bereiche der Tragödie und
der Komödie abgegrenzt wird, mit Sicherheit feststellen.

Das auf jenem Mittelgebiet sich bewegende „Schauspiel“ charakterisiert
sich als eine Mischung der in den Hauptgattungen wirksamen
Jngredienzen, doch so, daß es die streitenden Affekte in ein höheres
Lustgefühl auflöst, sich also, das Wort in weiterem Sinne genommen,
überwiegend dem Lustspiele zuneigt. Nicht die übermächtige Wucht des
Schicksals bringt es zur Darstellung und Empfindung, aber es läßt den [394]
schweren Ernst des Schicksals auch nicht so weit aus den Augen, daß
es die Verkehrtheit im Handeln als solche zum Gegenstande der Lustempfindung
macht. Jndem es also weder das Eine noch das Andere
rein und um seiner selbst willen darstellt, erreicht es seine Vollendung,
wenn es beide Elemente zugleich in lebendiger Wechselwirkung
sich gegenseitig durchdringend vorführt, wobei sie, einander
wechselsweise herabmindernd und ausgleichend, ein Neues, Drittes
hervorgehen lassen: die unmittelbare Erscheinung gesunden klaren
Empfindens und maßvoll richtiger Gemütshaltung, echter Phronesis,
daraus bestimmten rechten Handelns und glücklichen Gelingens. Diese
und ihr durch die Handlung bestimmtes Widerspiel ergeben als die
ästhetische Wirkung, auf welche das Schauspiel abzielt, die
Empfindungen der unmittelbaren Freude an der Darstellung
der Phronesis und des aus derselben bestimmten Handelns

und des gerechten Unwillens ─ der Nemesisüber ihre
Verletzungen,
so zwar, daß beide Empfindungen wechselsweise
zu ihrer gegenseitigen, völligen Klärung zusammenwirken.


Jndem die Erregung dieser beiden Empfindungen und ihrer Katharsis
zum Zielpunkte für die Einrichtung und Durchführung der Handlung
genommen wird, ergeben sich daraus die Gesetze für die Technik dieser
dramatischen Gattung.

Obenan stehen die negativen Bestimmungen, daß sowohl die Ausartung
in die Tragik als die in die Komik strengstens zu vermeiden
sind, weil beide durch die Entschiedenheit der durch sie erregten Affekte
die specifisch dieser Gattung entsprechenden Empfindungen verdrängen
würden. Schon das Vorwiegen starker Rührung ebenso wie das
Eindringen des Lächerlichen in den Körper der Haupthandlung
würde dem Zwecke (τέλος) des „Schauspiels“ starken Eintrag thun,
während in den untergeordneten Nebenhandlungen beide ihre Stelle haben
und ihre wohlberechtigte Wirkung thun können.

Für die Einrichtung der Handlung gilt als Hauptvorschrift,
daß eine ernste Schicksalsentscheidung ihren Kern zu bilden
habe, für deren Beschaffenheit aber, umgekehrt wie in der Tragödie,
nicht der Faktor der über den Menschen stehenden, allgewaltigen Fügung
maßgebend ist, sondern die, der Anlage und dem Verlaufe nach,
vielmehr als durchaus in den Bereich ihres Thuns und
Lassens, Erkennens und Verfehlens, ihrer Trefflichkeit
oder, sei es sittlichen, sei es intellektuellen, Verkehrtheit

gestellt erscheint. Hier zeigen sich also, in der Handlung sich nach allen [395]
Seiten enthüllend, ihre Kraft und Wesenheit erprobend, dem Empfindungsurteile
die Güte, Einsicht und Tüchtigkeit als solche und ebenso
ihre Gegenteile, jedes in seiner wahren Gestalt.

Bei solcher Anlage der Handlung kann nun aber der Verlauf
kein anderer sein, als daß die positiven Kräfte in dem Kampfe sich
als die stärkeren erweisen und den Sieg behalten: daß also der Ausgang
notwendig ein glücklicher ist.
Die mit der Hedone
kontrastierenden Empfindungen
verlieren also, nachdem sie ihre
kathartische Wirkung gethan, mehr und mehr ihre negative Beimischung,
durch welche sie in die Klasse der Unlust-Empfindungen gehören, und
einen in ihrer positiven Gestalt sich endlich völlig mit jenem
reinen und hohen Lustgefühl,
welches diese dramatische Gattung,
wenn sie ihre Grenzen innehält, d. h. also die ihr zu Gebote stehenden
Mittel richtig verwendet, als den letzten Zweck aller Kunst ebensowohl
zu erreichen weiß wie die Tragödie und die Komödie.

Die Handlung kann demgemäß ferner ebensowohl eine einfache
sein, ohne Komplikationen nach Maßgabe der in der Exposition gegebenen
Umstände und Charaktere sich bis zum Ende abspielend, als eine verwickelte,
in der durch Peripetie die Dinge einen die Absicht des
Handelnden plötzlich in ihr gerades Gegenteil verkehrenden Verlauf
nehmen, oder durch Erkennung eine ähnliche Wirkung hervorgebracht
wird. Aber die Peripetie und Erkennung des Schauspiels muß
erstlich, wie aus dem Obigen hervorgeht, immer für die Haupthandlung
den Übergang aus Unglück in Glück bewirken, und auch für die
negativen Charaktere nicht Verderben und Vernichtung ihrer Existenz
bedeuten, sondern nur Überweisung und Beschämung im Sinne der
echten Nemesis, und zweitens darf ─ eines der wesentlichsten Gesetze
dieser Gattung ─ die Verwickelung niemals eine von außerhalb übermächtig
hereinbrechende sein, sondern sie muß von der die Haupthandlung
lenkenden Einsicht gekannt oder gar veranstaltet sein, also auch
von ihrem Willen bestimmt werden.

Nach allen Seiten hin wird also der Fortgang der Handlung weit
weniger von der Gewalt der äußeren Umstände abhängig sein, als vielmehr
im Wesentlichen durch die handelnden Personen, durch das ihnen
eigene Wollen, Wissen und Können hervorgebracht werden.

Zwei Elemente, die in der Tragödie zwar auch ihre keineswegs
unwichtige Stelle haben, aber neben dem im Vordergrunde sich vollziehenden,
gewaltigen Gange des Schicksals entschieden zurücktreten, die
Darstellung des Ethos und der DianoiaCharakterschilderung
und Gedankeninhalt ─ werden also im „Schauspiel“ ganz [396]
in erster Linie in Betracht kommen, und zwar, wie aus dem Obigen
sich von selbst ergibt, nicht etwa als accidentielle Schönheiten dieser
Dichtungsart, sondern als konstitutive Hauptteile ihres Aufbaues. Je
mehr die moderne theoretische Betrachtung sich gewöhnt hat, den Schwerpunkt
aller dramatischen Dichtung und besonders der Tragödie in der
Charakteristik der handelnden Personen und in dem Gedankengehalt, in
der zur Geltung gebrachten „Jdee“ zu suchen, desto schärfer muß es
betont werden, daß das A und das O der Tragödie in der die
Schicksalsempfindungen weckenden Handlung liegt, in dem verhängnisvollen
Gange der Ereignisse.
Jmmer wird ein solcher
zu Äußerungen der Leidenschaft Veranlassung geben müssen, und dieselben
werden natürlich für die Eigenart der Handelnden charakteristisch
sein; aber es ist etwas anderes, wenn dieselben nur insofern dargestellt
werden, als eben die Handlung dazu die Veranlassung gibt, oder wenn
umgekehrt die Tragik nur durch die Charakterbeschaffenheit herbeigeführt
wird. Das Letztere, welches der Fall bei der Gattung der ethischen
Tragödie ist, erfordert allerdings eine umfänglichere und eingehendere
Behandlung der Charakteristik; die moderne Tragödie bevorzugt diese
tragische Gattung ganz besonders: immerhin ist auch hier die Schilderung
des Ethos nur Mittel und vorbereitend, der Schwerpunkt bleibt
unveränderlich in der Darstellung des dadurch Hervorgebrachten gelegen,
also in den tragischen Ereignissen selbst. Es ist ein Zeichen der tragischen
Meisterschaft, wenn auch in diesem specifischen Falle jenes vorbereitende
Material zu Gunsten des eigentlichen Gegenstandes so viel als
möglich eingeschränkt wird; Shakespeare leistet an Kühnheit der Abkürzung,
Vereinfachung, ja mitunter der gewaltsamen Kompression solcher
Partien das Äußerste, lediglich um für das eigentliche tragische Werk
─ das ἔργον τραγῳδίας ─ vollen Raum zu gewinnen. Ganz anders
ist im „Schauspiel“, wo vielmehr der Gang der Dinge gemäß dem
Ethos der die Handlung lenkenden Person seine Wendung nimmt, durch
deren ruhiges Gleichmaß die ungestümen Wogen des Schicksals gleichsam
sich sänftigen, die möglichst breite und vollständige Äußerung der Hauptcharaktere
selbst ein wesentlicher Teil der Handlung, ohne welchen sie
gar keinen Bestand haben würde; und nicht minder wie sie die Darlegung
der für die Durchführung solcher Übermacht über das Schicksal
jedesmal in Betracht kommenden Meinungen, Überzeugungen, allgemeinen
Gedanken. Die gesamte Handlung kann sich hier zum Plaidoyer für
eine bestimmte Jdee gestalten, deren konsequente, klar bewußte Vertretung
eben das entscheidende, obsiegende Element in dem Gange der
Dinge ausmacht.

[397]

Gemäß allen diesen Bestimmungen fängt das „Schauspiel“ jenseits
der Grenzen der ethischen Tragödie an und hört diesseits der Grenzen
der Charakter-Komödie auf.

Jn der Tragödie ist das Hamartema in der Form eines
Jrrtums, eines Fehles in der Handlungsweise einer im Übrigen schuldlosen
Person durch die Macht verhängnisvoller Umstände der Anlaß
eines verderblichen Schicksals. Das tragische Schicksal als solches
erweckt die reinen Empfindungen der Furcht und des Mitleids.

Jn der Komödie ist das Hamartema als solches in der
Form augenscheinlicher Verkehrtheit der Handlungsweise, also als Lächerliches,
der Gegenstand des entsprechenden Empfindungsurteils, das in
seiner wohlgefälligen Wirkung durch die Vorführung des gegenüberstehenden
Richtigen zugleich geläutert und gekräftigt wird. Der Ernst
der Schicksalsaffekte weicht vor den reinen Empfindungen des
Lächerlichen und Wohlgefälligen.

Das Schauspiel stellt das Hamartema in allen seinen
Gestalten, als Jrrtum, Fehler, Verirrung und Verschuldung

in seinem unvermeidlich gesetzmäßigen Einfluß auf die Gestaltung
des Schicksals dar, ihm gegenüber jedoch als die stärkere Gewalt die
Macht der Phronesis, welche die Verderblichkeit des Schicksals entweder
aufhebt oder doch auf die Schuldigen beschränkt, so daß die
Wirkung auf das Empfindungsurteil auch nach dieser Seite eine befriedigende,
wohlgefällige ist, während im Übrigen durch sie der Ausgang
zum Glücke gewendet wird. Die durch sie zur Herrschaft gelangenden
Affekte sind einerseits das reine Wohlgefallen, andrerseits die
reine Empfindung der Nemesis in allen ihren Formen, die
durch die Beschaffenheit des Hamartema bedingt werden, also von der
bloßen Mißbilligung bis zur schweren Jndignation und zur
Empörung.

Hierin liegt der Grund, warum die äußere Gestalt des Schauspiels
eine so mannigfache sein kann, so daß der Begriff desselben ein
schwankender geblieben ist, und man die zu dieser Gattung gehörigen
Stücke bald dem Trauerspiele, bald dem Lustspiele zugerechnet oder noch
andere Gattungsnamen für dieselben erfunden hat. Denn es ist klar,
daß die Gesetze dieser Gattung alle Wirkungen vom Furchtbaren
bis zum Heitern
zulassen: nur daß das Furchtbare hier immer allein
auf die Befriedigung des Gefühls der Nemesis abzielen kann, welches
grundverschieden ist von der durch die tragische Katharsis in der Seele
auferbauten Ehrfurcht vor der Majestät des ohne Verschulden hereinbrechenden
Verhängnisses; und daß das Heitere nicht als die Wirkung [398]
der aus der Darstellung des Verkehrten als solchem resultierenden Lächerlichkeit
entsteht, sondern, was etwas ganz anderes ist, aus dem Siege
klarer Einsicht, fester Seelenhaltung und harmonischen Gemütes über
Trübungen, Jrrungen und gefährdende Angriffe aller Art.

So kann es weiter nicht in Erstaunen setzen, in derselben Gattung
so sehr verschiedene Dramen zu finden, wie Shakespeares „Richard III.“
und „der Kaufmann von Venedig“ und wie Lessings „Nathan
und seine „Minna von Barnhelm“.

Es ist das Großartige und Gewaltige, das Erschütternde und
Furchtbare in „Richard III.“, was die Kritik wie die allgemeine
Stimme veranlaßt hat, das Stück als Tragödie aufzufassen. Aber wenn
auch das Schicksal mit machtvoller Stimme aus der Dichtung zu uns
spricht, so ist dieses Schicksal doch unter keinem Gesichtspunkt als ein
tragisches zu erkennen. Jn gewaltthätiger Zeit gelangt ein unerhört
gewissenloser und ebenso energisch kühner Usurpator durch eine Kette
entsetzlicher Verbrechen an sein Ziel und geht, nachdem er eine Weile
sich durch die Mittel der äußersten Tyrannei behauptet hat, in sich selbst
gebrochen an der unerbittlichen Logik der durch ihn selbst geschaffenen
Thatsachen und Verhältnisse zu Grunde, um einer besseren Epoche Raum
zu geben. Darin liegt allerdings eine Peripetie größten Stiles, aber
keineswegs eine tragische; nicht ein uns mit Furcht und Mitleid erfüllendes
Verhängnis tritt uns hier entgegen, sondern der in gerader
Linie sich entwickelnde Vollzug eines einfachen sittlichen
und historischen Gesetzes gewährt unserem Gerechtigkeitsgefühl
die ersehnte Befriedigung.
Wenn irgendwo, so kommt
hier die Empfindung der Nemesis zu ihrem vollen Rechte. Denn auch
die von dem Wüten des Tyrannen Dahingerafften fallen durch die
Konsequenzen der eigenen Schuld, mit der sie sich zu Werkzeugen seiner
Verbrechen oder zu Teilnehmern an seinem verbrecherischen Gewinne
machten. Die jungen Prinzen freilich werden völlig schuldlos geschlachtet,
aber um so weniger ist ihr Schicksal ein tragisches; es dient nur dazu,
die Wucht des auf allen Teilhabern der ungeheuren Schuld lastenden
Fluches zu verstärken und seinen Vollzug zu beschleunigen.

Es gibt vielleicht kein zweites Beispiel, das die positive Macht, die
in der Darstellung des Negativen liegen kann, so deutlich bezeugt, welches
so klar das Reciprocitätsverhältnis zwischen den Nemesisempfindungen
und der hedonischen Wirkung, die der Zweck aller Kunst ist, vor Augen
stellt, als dieses Stück. Jn der Dichtung aller Zeiten und Völker gibt
es keinen zweiten Stoff, der in gleicher gewaltiger Stärke und zugleich
in so unvermittelter Reinheit diese Empfindungen der Nemesis hervor= [399]
riefe: die Empörung über unerhörte Thaten, mit denen das Stück beginnt
und die sich in seinem Verlauf dennoch nicht allein häufen, sondern
in einer fast das menschliche Fassungsvermögen überschreitenden
Weise steigern; und mit ihr den immer übermächtiger aufsteigenden Zorn
über die fortlaufende Kette von glänzenden äußeren Erfolgen dieser
Thaten, den alle Tiefen der Seele erschütternden Fluch, in welchem
dieser empörte Zorn einen nie wieder in dieser zerschmetternden Kraft
erreichten Ausdruck gewinnt und von dem das ganze Stück wiederhallt.
Endlich in der buchstäblichen Erfüllung aller dieser Flüche, da Empörung
und Zorn in vollem Maße Genüge finden, werden die wie in furchtbarer
Brandung sich überstürzenden Wogen der erregten Nemesis-Empfindungen
gesänftigt, und, die Seele beruhigend und zugleich erhebend,
eröffnet sich ein Ausblick auf die geglättete und weithin im Sonnenschein
erglänzende Fläche, die Heitre nach dem Sturm! Das Große
aber in all dieser reichen Kunstentfaltung ist, daß an der Einheit und
Vollständigkeit dieser unvergleichlich gewaltigen Handlung auch nicht
das Geringste mangelt: d. h. mit andern Worten, daß in ihrem Aufbau
volle innere Wahrheit herrscht, so daß das Unerhörte begreiflich, das
Verwickelte einfach, das buchstäblich genaue Eintreffen der geforderten
Schicksalserfüllung natürlich und notwendig erscheint. Selbst das Wunderbare,
dessen sich der Dichter, kühnlich seinem Ariel vertrauend, zur
Herbeiführung der Hauptentscheidung bedient, unbekümmert um die historische
Prägung des Ganzen, überrascht nicht, die sorgloseste Hinwegsetzung
über die äußerliche Wahrscheinlichkeit der Raum- und Zeitverhältnisse
kann nicht Befremden und Anstoß erregen vor der jede
andere Rücksicht verdrängenden Konsequenz des Nemesisvollzuges. Der
hoch erhabene, ästhetische Genuß
daran beruht aber einzig und
allein in der ganz ungewöhnlichen Kraft der Nemesis, mit der das
Stück den Hörer erfüllt, und ihrer Auflösung in die reine Freude an
dem sicheren Bewußtsein der ewig unerschütterlich geltenden Sitten= und
Weltgesetze.

Die Versuche, Richard III. als eine „echt tragische Gestalt“ darzustellen,
entspringen sämtlich aus einer Verkennung des Wesens der Tragik.
Sein überragender Geist und „die Überhebung der Willenskraft“1 machen
ihn ästhetisch und als den Hauptträger der Handlung möglich, was ein
gewöhnlicher niedriger Verbrecher niemals sein kann, aber sie machen
ihn so wenig zu einem tragischen Helden als „die Bewunderung der
Kraft, mit der er seine eigene Natur zu überwinden weiß“, um seine [400]
Zwecke zu erreichen. Alle diese Empfindungen haben mit den tragischen
Affekten nichts gemein; wohl aber dient die Bewunderung, die der
Dichter für seinen Helden zu erwecken weiß und durch welche dieses
„Ungeheuer“, dieser „giftige Molch“ sich dennoch unwiderstehlich ein
starkes ästhetisches Jnteresse der Zuhörer erzwingt, in hohem Maße dazu
den künstlerischen Hauptzweck des „Schauspiels“ zu erreichen. Die Scene
ist der Schauplatz großer historischer Kämpfe; ihr Gegenstand das höchste
Ziel politischen Ehrgeizes; die alle andern Vorgänge überragende
Größe“ dieser Handlung stellt die Frage in den Vordergrund, die zu
allen Zeiten bei den großen politisch=historischen Entscheidungen sich erhoben
hat und immer wieder erheben wird, nicht zwar principiell, aber
desto eingreifender im thatsächlichen Gange des Lebens: die Frage, ob
oder inwieweit die allgemeinen sittlichen und rechtlichen Gesetze bei
solchen die wichtigsten Jnteressen der Gesamtheit bestimmenden Vorgängen
ihre Geltung behalten. Hier hat die abstrakte Theorie ein Ende;
die forschende Vernunft empfängt die Antwort aus dem ehernen Munde
der Geschichte, das Genie des Dichters vernimmt den Wahrspruch und,
die Jdee desselben erfassend, entrollt er die Größe der historischen
Handlung in leichtfaßlichem Bilde, kunstreich ihre Fülle zur Einheit
gestaltend, in ihrem einfach=großen, notwendigen Aufbau kein Glied der
reichen Vollständigkeit ihres inneren Organismus unwiederholt lassend.
So wird das historische Gesetz, das sonst nur dem forschenden Verstande
und der Erkenntnis der Vernunft erscheint, in den Bereich des ästhetischen
Urteils gerückt, ein Gegenstand der unmittelbaren Empfindung.
Die hier entscheidenden, d. h. also im Sinne Kants die das ästhetische
Urteil fällenden Empfindungen sind aber keineswegs die tragischen
des Mitleids und der Furcht gegenüber einem ohne Verschulden und
weit über die Verfehlung treffenden Schicksal, sondern die der lebhaftesten
Mißbilligung gegenüber der sich entrollenden Handlung und der
auf das Stärkste und Reinste gefühlten Billigung gegenüber dem waltenden
historischen Gesetz, welches Recht und Unrecht an die ihm gebührende
Stelle setzt: die sich gegenseitig klärenden Empfindungen
der Nemesis und Hedone.

An dem Beispiel von Shakespeares „Richard III.“ zeigt sich also,
daß die als eine besondere Gattung betrachteten „historischen Dramen
nur insofern eine Abart bilden, als sie ihren Stoff und namentlich die
in der Handlung lebendige Jdee dem wirklichen Lauf der Dinge, oder
doch der als Geschichte aufgenommenen Überlieferung, entnehmen, daß
sie aber nach ihrer technischen Einrichtung völlig unter den Gesetzen des
Schauspiels“ stehen. Der historische Stoff an sich begründet [401]
keine besondere dramatische Technik; er verhält sich zu den Gesetzen der
dramatischen Dichtung ganz ebenso wie jeder andre dem Leben entnommene
oder fingierte Stoff: es wird einzelne Handlungen darunter
geben, welche leicht sich der tragischen Behandlung fügen, andere werden
der komischen Komposition sich darbieten; immerhin werden die Fälle
selten sein, die ohne tief eingreifende Veränderungen die eine oder die
andere zulassen. Weit zahlreicher werden diejenigen historischen Handlungen
sein, welche unter das Gesetz des Schauspiels fallen, weil dieses
seinem innersten Wesen nach, d. h. nach den Empfindungen, auf deren
Erregung und Klärung seine Technik abzielt, es gestattet, die Geltung
einer Jdee zum Gegenstande des ästhetischen Urteils zu machen, mit der
Gewißheit derselben das Gefühl zu erfüllen.

Denn in dem großen Gange der historischen Ereignisse gibt es
unzählige Fälle, in denen bei der Wichtigkeit der einander entgegenstehenden
Jnteressen die Stimmen des Verstandes und des Gefühls einander
widerstreiten oder doch ungewiß in ihrer Entscheidung werden,
andere, in denen es scheint, als ob ihren offenbaren Forderungen Hohn
gesprochen würde, als ob die ewigen Gesetze, nach denen sie entscheiden,
zeitweilig aufgehoben wären. Hier ergreift der Dichter seinen Stoff,
und indem er die Ereignisse von dem Gesichtspunkte jener höheren
Einheit
überblickt, wo sie der berechtigten Forderung jener mächtigen
Stimme des unbeirrten gläubigen Gefühls entsprechen, stellt er sie zugleich
in der inneren Vollständigkeit dar, welche einem solchen
Ausgange für die unmittelbare Sinneswahrnehmung die überzeugende
Gewißheit verleiht.

Es kann hinzugefügt werden, nur durch solche künstlerische Behandlung,
indem also der Dichter seinen Stoff entweder nach den
Gesetzen der Tragödie oder der Komödie oder nach denen des
Schauspiels behandelt, sind historische Handlungen überhaupt der
dramatischen Nachahmung fähig. Jm anderen Falle sinken sie, und
wenn sie in allem Übrigen mit noch so vielem Glanz der Ausstattung
bekleidet werden, zu dem niedrigen Niveau bloßer Staatsaktionen
herab.

Die ganze Reihe von Shakespeares „Historien“ zeigt ihn auch
auf diesem Gebiete als den Meister, der mit allen Gesetzen der dramatischen
Kunst auf das Jnnigste vertraut ist. Ebenso hat Schillers Genius
mit sicherem Meistergriff für die dramatische Behandlung des stark der
epischen Bearbeitung sich zuneigenden Stoffes seines „Wilhelm Tell
in Übereinstimmung mit dem oben entwickelten Gesetze die das Ganze
beherrschende Einheit erfaßt. Jn der Versammlung auf dem Rütli, die [402]
eben dadurch in dem Stücke ihre unentbehrliche Stellung hat,
spricht Stauffacher diesen Einheitsgedanken geradezu aus:


Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last ─ greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.

Und ebenso Tell späterhin auf dem Höhepunkte der Handlung:


Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt;

Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt,

Was du. ─ Er sandte dich in diese Lande,

Um Recht zu sprechen ─ strenges, denn er zürnt ─

Doch nicht, um mit der mörderischen Lust

Dich jeden Greuels straflos zu erfrechen;

Es lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen.

Dennoch zeigt ein vergleichender Blick auf „Richard III.“ die große
Überlegenheit Shakespeares in der Auswahl und Behandlung seines historischen
Stoffes. Es ließe sich an dem Stücke eine besondere Studie
über die Mittel durchführen, die dem geschichtlichen Material die ihm
naturgemäß eigene epische Breite nehmen, an den richtigen Stellen kühn
und fest den Apparat des äußerlichen Hergangs ins Kurze zusammenziehen,
um überall die von innen, aus der Tiefe der Persönlichkeit wirkenden
Triebfedern hervortreten zu lassen und vor Allem in jedem Teile
des Körpers der Handlung gleichsam als die bewegende Seele die in
dem Ganzen lebendige Einheit zu zeigen. Mit welcher höchsten Kunst
ist in dem furchtbaren Herzog von Gloster der ganze Fluch der unheilvollen
Zeit zusammengehäuft! Er selbst nur möglich auf dem Untergrunde
dieser entsetzlichen Vorgeschichte, die gleichwohl durch die Handlnng
des Stückes selbst in allen ihren Teilen unmittelbar vor das Auge
tritt, alle Fäden der weitverzweigten Handlung in ihm sich vereinigend,
jeder weitere Fortschritt derselben unmittelbar oder doch mittelbar durch
ihn allein bestimmt, endlich, nachdem die ungeheuere Spannung ihr
äußerstes Maß erreicht hat, der Sturm bis zum rasenden Wüten des
Orkans gestiegen ist, in seiner Person die lange drohend prophezeite,
zerschmetternde Entladung und aus ihrer Schrecknis der Anbruch eines
neuen, Glück verheißenden Tages!

Ein anders geartetes Musterbeispiel der Gattung ist Lessings
Nathan der Weise“. Auch dieses hat seinesgleichen nicht in aller [403]
Litteratur; niemals vorher oder nachher ist es einem Dichter gelungen,
die der Gattung des Schauspiels eigene Fähigkeit der Jdeendarstellung
bis zu einer so weit gesteckten Grenzlinie auszudehnen, ohne doch die
überall geltenden dramatischen Haupt- und Grundgesetze im mindesten
zu verletzen.

Die historische Schauspielhandlung trägt die durch sie dargestellte
Jdee in sich selbst; hier ist eine ganz frei erfundene Handlung so kunstreich
komponiert, daß sie, obwohl in ununterbrochenem, naturgemäßem
und notwendigem Fortschreiten aus ihrem Kern sich entwickelnd, doch
in jedem ihrer kleinsten Teile der nach allen Seiten hin vollständigen
Darlegung einer großen Jdee dienstbar gemacht ist.

Dadurch würde die Natur der Tragödie ebenso wie der Komödie aufgehoben
werden; das Wesen des Schauspiels wird gerade dadurch erfüllt:
denn die Handlung ist so eingerichtet, daß durch jeden Schritt
ihrer Entwickelung ebenso wie durch ihren Ausgang Mißbilligung und
Wohlgefallen, Unwillen und Freude, kurz alle Arten der Nemesisempfindungen
einerseits und andrerseits die stärkste hedonische Empfindung an
der Erscheinung der echten Phronesis, durchweg an das Verhalten
gegenüber einer ganz bestimmten Frage geknüpft sind.
Es ist
die Frage der Duldsamkeit gegen fremde religiöse Bekenntnisse,
und zwar diese Frage nicht als Theorem aufgefaßt, wo es also
um die bloße dialektische Sonderung abstrakter Begriffe sich handeln
würde, sondern als eine die gesamte Empfindungs=, Gesinnungs=
und Handlungsweise
Pathos, Ethos und Praxis
von Grund aus bestimmende Alternative. Daher ist Lessings
„Nathan“ weder ein Lehrgedicht noch ein Tendenzstück, sondern
ein wirkliches Drama und echte Poesie. Gewisse, oft zitierte und viel
mißbrauchte, briefliche Äußerungen des Dichters können nur den Schein
eines Zweifels daran begründen: wenn er „das Theater als seine Kanzel“
gebrauchte, so war er der Mann, der die Gesetze der dramatischen Kunst
genügend kannte und respektierte, um das in der Weise zu thun, in
der allein er seinen Zweck erreichen konnte, d. h. indem er die Mittel,
deren er sich bediente, ihrer Natur gemäß verwandte, in dem Element,
in dem sie zu wirken bestimmt und geeignet sind. Von ihm am allerwenigsten
sollte man voraussetzen, daß er zu hohem Fluge Schwingen
entfaltet hätte, um dann seinen Weg zu Fuß zurückzulegen. Die vertraulich
burschikose Wendung, daß er der intoleranten Orthodoxie einen
Possen spielen wollte, ist noch weniger geeignet irre zu führen; es war
ihm eine heilige Herzenssache, den reinen Adel einer von der Gesinnung
wahrer Duldung durchdrungenen Handlungsweise zu zeigen, ebenso die [404]
schöne Erscheinung eines in solchen Gesinnungen gebildeten reinen
Empfindens. Unter allen Darstellungsmitteln, deren die Sprache fähig
ist, gab es keines, durch das diese Aufgabe so umfassend und mit so
sicherer, unmittelbarer Überzeugungskraft gelöst werden konnte, als durch
die Nachahmung einer durch diese Empfindungen und Gesinnungen in
Bewegung gesetzten Handlung. Eine solche aber bedurfte notwendig des
Widerspieles der entsprechenden Gegensätze und zwar in mannigfachen
Graden ihrer Abstufung. Die Wirkung ist die um so sicherere Klärung
und Befestigung des dadurch hervorgerufenen ästhetischen Urteils. Von
dieser Seite erhält ein vielumstrittener, ja der meistgescholtene Umstand
in der Anlage der Handlung die rechtfertigende Begründung: so wahr
ist es, daß die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der Nemesisempfindungen
über die Verletzung der Wahrheit, des Rechtes und der Natur am besten
vermögend sind, die Katharsis der entsprechenden positiven Empfindungen
und Gesinnungen zu vollenden, daß es als ein von tiefster Einsicht gelenkter
Meistergriff Lessings zu erkennen ist, wenn er die reinsten
Begriffe der Duldung in die Brust des Juden Nathan legte, als eines
Angehörigen des Stammes, der von beiden herrschenden Bekenntnissen
am meisten Unrecht gelitten hatte. Jst doch die reinste Verkündigung
der Wahrheit zu allen Zeiten von denjenigen ausgegangen, denen ihre
stärkste Verdunkelung die schwersten Leiden auferlegte, und ist doch die
Geschichte des Begründers der Religion der Liebe dafür das beredteste
Zeugnis.

Die Handlung des „Nathan“ ist eine verwickelte, da der Umschwung
zum Glück auf Erkennung beruht; eine Peripetie, im umgekehrten Sinne,
ist insofern vorhanden, als die durch das Vorgehen des Tempelherrn
heraufbeschworene, drohende Gefahr, ganz seiner Absicht entgegen, die
den glücklichen Ausgang herbeiführende Erkennung zuwege bringt, freilich
in einer seine Leidenschaft nicht befriedigenden, aber doch sie beschwichtigenden
Weise. Mit feinstem Kunstverstande hat Lessing alles
gethan, um einmal die aufsteigenden Befürchtungen nicht zur tragischen
Schwere anwachsen zu lassen, und sodann, um die Spannung des stofflichen
Jnteresses an der Handlung rechtzeitig so völlig zu lösen, daß
die spezifischen „Schauspiels“=empfindungen die ungeteilte Herrschaft
behalten.

Die Haupthandlung sowie sämtliche Nebenhandlungen sind mit
unvergleichlichem Geschick ganz unter diesen einen Gesichtspunkt gerückt,
wie ja die Erfindung derselben organisch aus dem Kerne der Erzählung
von den drei Ringen in Boccaccios Novelle erwachsen war.

Gleich in der Exposition zeigt die zweite Scene des ersten Auf= [405]
zuges die ganze Fülle der Einsicht und des Gesinnungsadels, die sich
in Nathan zu der erhebenden und erquickenden Anschauung vollendeter
Phronesis vereinigen, ebenso zweckmäßig für die Jdee des Ganzen, als
zwanglos und dramatisch lebendig. Zugleich enthüllt sich damit die entzückende
Gesundheit, Klarheit und Richtigkeit des Empfindens, zu dem
er seine Recha erzogen hat: ein Bild von der höchsten Schönheit und
wieder „mit strengem Richtmaß nach dem Ziele“ der Jdee des Dramas
gestellt. Für diese beiden, im vollen Sinne des Wortes „idealen
Figuren kann der Verlauf des Stückes nichts Neues hinzubringen: er
kann nur dazu dienen, den Reichtum dieser herrlichen Naturen als eine
Quelle des höchsten hedonischen Wohlgefallens zu entfalten, ihn aus der
Tiefe seines Werdens verständlich zu machen und so durch seine „vollständige
Nachahmung den Hörer mit seiner Segnung zu überschütten.
Nach der Seite der Einsicht leistet darin die siebente Scene des dritten
Aktes, der Mittelpunkt des Ganzen, das Höchste durch die Kunst, mit
der hier der Gedanke ganz der Anschauung fähig gemacht, und diese
letztere zu einem unfehlbar wirkenden Mittel kraftvoller Mitteilung des
erhabensten Ethos gestaltet ist. Zugleich ist durch den Aufbau der Beziehungen
zwischen Nathan und Saladin die Erzählung der Parabel von
den Ringen als ein lebendiges Glied in die Entwickelung des Handlungsverlaufes
eingefügt, und zwar sowohl äußerlich wirkend, indem
die Annäherung Nathans an den Sultan die Erkennung des Tempelherrn
und Rechas vorbereitet, als innerlich, indem sie für Nathans
große und schöne Auffassung der religiösen Duldung den Sultan ganz
gewinnt. Ebenbürtig dieser berühmten Scene ist der siebente Auftritt
des vierten Aktes. Die äußere Veranstaltung der Entdeckung von Rechas
Herkunft hat der Dichter zu benutzen gewußt, um in die Prüfungen
und Kämpfe, durch die Nathans Gesinnungsweise zu dem reinen Golde
geläutert ist, das aus jedem seiner Worte hervorleuchtet, einen tiefen
Einblick zu gewähren. Und wie geschickt ist auch diese ergreifende Erzählung,
die Nathan dem Klosterbruder vertraut, als ein notwendiges
Stück der dramatischen Ökonomie motiviert!

So aber ist die ganze Handlung komponiert: während die dramatische
Verwickelung ohne Aufenthalt fortschreitet und zu ihrer Lösung
eilt, ist jeder Schritt derselben und jede charakteristische Äußerung und
Entschließung der beteiligten Personen doch von der Beschaffenheit, daß
sie dieselben in die deutlichste Beziehung zu der Hauptidee setzt. Alle
Schattierungen der Fehlerhaftigkeit des Verhaltens gegenüber der Gesinnungsweise
der edlen und weisen Duldung Nathans sind da vertreten.
Die vulgär=beschränkte Glaubenstreue der gutmütigen Daja, die sie [406]
ohne vieles Bedenken den für ihren Wohlthäter verhängnisvollsten Schritt
thun läßt, die leidenschaftliche Übereilung, die den vorurteilsfreien
Templer trotzdem durch denselben Jrrtum zu dem gleichen schlimmen
Fehler hinreißt, die Verkörperung der verderblichen Macht der hierarchischen
Verfolgungswut in dem Patriarchen, alle diese Verfehlungen in
die lebhafteste dramatische Handlung gesetzt: sie erwecken die ganze Skala
der Nemesisempfindungen an dem einen Problem der religiösen Duldung
zu immer neuer Kontrastierung mit der in immer reicherer Fülle sich
kund thuenden lebensvollen Erscheinung der wahren und guten, der
schönen Gesinnung in dieser Frage. Nimmt man noch Saladin und
Sittah, den Derwisch und den Klosterbruder hinzu, so treten auch auf
der positiven Seite noch die mannigfachen Nüancen ihrer Vermischung
mit allerlei leicht sich auch der richtigen Erkenntnis zugesellenden Schwächen
hervor. So gelang es Lessing ─ und nichts ist geeignet, den Vorwurf
tendenziös polemischer Haltung, den man seiner reifsten und auch künstlerisch
vollendetsten Dichtung gemacht hat, kräftiger zu widerlegen ─,
die schwerste Aufgabe zu lösen: dem hohen Ernste seines „Schauspieles“
die überlegene Heiterkeit eines über dem Streit der Parteien stehenden
Gemütes zu vermählen. Leise Züge des Komischen und des Humors,
stärkere der Satire sind allenthalben kunstreich in die Handlung verwoben;
sie verscheuchen die Tragik, lassen keine Spur lehrhafter Absichtlichkeit
aufkommen und wahren somit den Charakter der dramatischen
Gattung, deren Aufgabe es ist, die goldenen Früchte der Einsicht der
Empfindung zum freien ästhetischen Genusse darzubieten. Hierin begegnen
sich die bornierte Verschlagenheit Dajas und des Tempelherrn
geradeaus gehende leidenschaftliche Hitze, die schlichte Einfalt des Klosterbruders
und der brutale Fanatismus des Prälaten, der weltscheue Jndifferentismus
Al Hafis und Saladins stolz=nachlässige Verachtung der
ökonomischen Geschäfte, die ihn zwingt, bei dem Juden Nathan sich um
finanzielle Hülfe und gelegentlich auch um die Mitteilung seiner Weisheit
zu bemühen; die leichte Hinneigung der klugen Recha zu romantischer
Schwärmerei, die genrehaften Scenen zwischen Saladin und seiner
Schwester Sittah wirken nach derselben Richtung. Gleichwohl dienen
alle diese Züge, die leisen und die stärkeren und stärksten, an keiner
Stelle dazu, das Komische, Humoristische, Satirische um seiner selbst
willen darzustellen, sondern überall nur, um von der im Mittelpunkt
stehenden Jdee aus die Wechselwirkung der wohlgefälligen und mißbilligenden
Empfindungsurteile ins Spiel zu setzen bis zur vollständigen
Durchführung ihrer Katharsis. Dieselbe gelangt zu um so kräftigerer
Wirkung, als die Weisheit des Dichters in der Lösung der Verwickelung [407]
jede andere leidenschaftliche Anteilnahme ausgeschlossen hat: durch die
reine Flamme der allein die ganze Seele erfüllenden Freude an diesem
Schauspiel, wie am Schlusse alle trennenden Verschiedenheiten des Glaubens,
Standes, Alters und Geschlechtes in der vollen, gegenseitigen, ruhiginnigen
Liebe verschwinden, wird auch bei dem Zuschauer jede Regung
des Hasses, des Streites, ja des in die geheimsten Falten des Herzens
eingenisteten Vorurteils hinweggeläutert.

Es ist oben gesagt worden, daß das Schauspiel die breite Mitte
zwischen der Tragödie und der Komödie einnimmt, daß es aber seiner
Natur nach zum Lustspiel hinneigt. Der Grund liegt nun zu Tage.
Jm Trauerspiel wird die rein hedonische Empfindung erst mittelbar durch
die Katharsis der Furcht- und Mitleidsempfindungen hervorgebracht;
von der Tragödie ist also das Schauspiel durch eine scharfe, wenn sie
erst einmal festgestellt ist, nicht zu verkennende Grenze geschieden. Dagegen
hat das Schauspiel mit der Komödie das eine Ziel der dramatischen
Nachahmung gemeinsam, daß sie beide auf die unmittelbare
Erregung der Lustempfindungen abzwecken; beider Wirkung hängt davon
ab, daß entweder während des ganzen Handlungsverlaufes oder doch
sicherlich beim Abschluß der Handlung die Empfindung lustvoller Befriedigung
direkt zu voller Geltung gelangt. Der große, für jede der
beiden Gattungen die ganz gesonderte Grundlage bestimmende Unterschied
liegt aber darin, daß die gleichzeitig hervorgerufenen und komplementär
wirkenden Affekte, durch deren Verein und Widerstreit mit
den wohlgefälligen Empfindungen die Läuterung beider zum Abschluß
gebracht wird, bei dem Schauspiel die der Jndignation und Nemesis,
dagegen bei der Komödie die des Lächerlichen sind. Man sollte
meinen, dieser Unterschied wäre ein so stark in die Augen fallender, daß
eine Täuschung und daraus hervorgehende Unsicherheit der Grenzen ausgeschlossen
wäre. Dennoch zeigt die nähere Betrachtung, wie schwer es
in manchen Fällen ist, diese Unterscheidung durchzuführen; die Geschichte
der dramatischen Kunst gibt davon ein sehr deutliches Zeugnis in den
Theorien und dramatischen Schöpfungen, durch welche Diderot und
Voltaire die komische Bühne zu reformieren bestrebt waren.

Denn auch die Jndignations- und Nemesisempfindungen haben
mit denen des Lächerlichen nun wieder das Gemeinsame, daß sie beide
durch die Erscheinung des Fehlerhaften, Verkehrten hervorgerufen werden;
nur daß dieses Fehlerhafte im ersten Falle derartig beschaffen ist
und dargestellt wird, daß es ernsthaft wirkt, d. h. als ein Schädliches,
Schmerzerregendes, Verderbliches die Mißbilligung erweckt, Unwillen,
Empörung und das Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit; und [408]
daß im andern Falle die Wirkung überhaupt nur zustande kommt, wenn
das Ernsthafte an der Erscheinung des Fehlerhaften ausgeschlossen
wird,
wenn also alle die genannten Empfindungen, zu Gunsten der
ungetrübten Heiterkeit der rein komischen Affekte, sowohl durch die Wahl
des Gegenstandes, als namentlich auch durch dessen Behandlung sorgfältigst
vermieden werden.

Daß nichtsdestoweniger beide Gebiete sowohl in der Praxis als
auch in der Theorie oft miteinander vermischt wurden, hat seinen
Grund in dem einen großen Übelstande, der allenthalben der Entwickelung
der modernen Poesie sich in den Weg gestellt hat: die Forderung
einer moralisch bessernden Wirkung, die für die gesamte Dichtung
als maßgebend galt, wurde nirgends mit größerem Nachdruck und
mit dem Scheine besseren Rechtes erhoben als für alle Arten der komischen
Poesie, besonders für die Komödie. Damit aber war im Grunde
die Möglichkeit der reinen Erscheinung des Lächerlichen schon vernichtet;
der ernsthafte Zweck, der als das oberste Princip die Gesetzgebung
des Lustspiels bestimmte, verlangte geradezu die Erregung der Mißbilligung,
des Unwillens, des Abscheus gegenüber dem dargestellten Verkehrten
und vertilgte somit jenen fundamentalen Unterschied zwischen
dem ernsten Schauspiel und der heitern Komödie. Aus dieser Verwirrung
vermochte man nicht sich herauszufinden. Man suchte die unterscheidenden
Merkmale also lediglich in einer Reihe von Äußerlichkeiten,
die allerdings stark genug in die Augen fielen, und deren Beobachtung
leicht genug war, die aber dem Verfall der Kunst nicht wehren konnten.

Das Wesentlichste darunter, was seit Scaliger und Opitz als ein
unerschütterliches Dogma feststand, war der Standesunterschied der für
die Tragödie und für die Komödie geeigneten Personen; im engen Zusammenhang
damit stand die Forderung einer „erhabenen“ oder „hohen
Schreibart“ für jene und einer „niedrigen“ oder „gemeinen“ für diese.

Bei Gottsched heißt es darüber im vierten Hauptstück seiner „kritischen
Dichtkunst“, § 13 folgendermaßen: „Weiter können die Fabeln,
teils im Absehen auf ihren Jnhalt, teils im Absehen auf die Schreibart,
in erhabene und niedrige eingeteilet werden. Unter die erhabenen
gehören die Heldengedichte, Tragödien, Staatsromane: darinnen fast
lauter Götter und Helden, oder königliche und fürstliche Personen vorkommen,
deren Begebenheiten in einer edlen Schreibart entweder erzählet
oder gespielet werden. Unter die niedrigen gehören die adelichen und
bürgerliche Romane, die Schäfereyen, die Komödien und Pastorale,
nebst allen äsopischen Fabeln: als worinn nur Adel, Bürger und Landleute,
ja wohl gar Tiere und Bäume in einer gemeinen Schreibart [409]
redend eingeführt oder beschrieben werden.“ Und dem entsprechend Hauptstück
XI, § 17: „Die Personen, die zur Komödie gehören, sind ordentliche
Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stande, dergleichen auch
wohl zur Not Baronen, Marquis und Grafen sind: nicht, als wenn
die Großen dieser Welt keine Thorheiten zu begehen pflegten, die lächerlich
wären; nein, sondern weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man
ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen.“ Dieses letztere
aber möchte Gottsched höchstens „den republikanischen Köpfen“ der alten
Griechen nachsehen; für die modernen Verhältnisse würde es seiner
Grundanschauung, daß die „Moral“ der Komödie zwar nicht „die groben
Laster“ aber die „lächerlichen Fehler der Menschen verbessern“ solle und
daher jeden Anstoß zu vermeiden habe, arg widersprechen.

Aus Gottscheds Definition der Komödie blitzt trotz des ungeschickten
Ausdrucks ein richtiger Gedanke hervor, aber er wird durch jene Theorie
von dem Berufe der Poesie zu bessern und „nützlich“ zu wirken sogleich
wieder im Keime erstickt. Seine Definition lautet (vgl. XI, 13 ff.):
„Die Komödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhaften
Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen,
aber auch zugleich erbauen kann. So hat sie Aristoteles beschrieben und
zugleich erkläret, was er durch das Lächerliche verstände. Er sagt aber
sehr wohl, daß es was ungestaltes oder ungereimtes sey, das doch Demjenigen,
der es an sich hat, keinen Schmerz verursachet: wobey er aus
dem Homer das Gesicht des Thersites zum Exempel anführet. Es ist
also wohl zu merken, daß weder das Lasterhafte, noch das Lächerliche
für sich allein,
in die Komödie gehöret; sondern beydes
zusammen,
wenn es in einer Handlung verbunden angetroffen wird.
Vieles läuft wider die Tugend; ist aber mehr strafbar und widerlich,
oder gar abscheulich, als lächerlich. Vieles ist auch lächerlich: wie zum
Exempel die Harlekinspossen der Jtaliener: aber darum ist es doch
nicht lasterhaft.
Beydes gehört also nicht zum Wesen eines rechten
Lustspiels: denn


Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci,

Lectorem delectando, pariterque monendo.“

Von diesem Standpunkt aus verwirft er dann sowohl die „ganz
tugendhafte Komödie“, wie sie von Gellert verteidigt worden war, als
„die bewegliche und traurige, die von den Franzosen Comedie larmoyante
genennet wird,“ und die er seinerseits lieber als „bürgerliche oder adeliche
Trauerspiele“ bezeichnen möchte. Jn Konsequenz dessen heißt es dann
im § 21: „Von den Affekten ist hier ebenfalls nichts neues zu sagen, [410]
als daß man die tragischen, nämlich die Furcht, das Schrecken und
Mitleiden zu vermeiden habe. Daher hat Destouches viel gewaget,
da er in seinem Verschwender diesen Affekt zu erregen gesucht; doch so,
daß er sich endlich wieder in Freude verwandelt. Jndessen haben Stücke
dieser Art in Paris ziemlichen Beyfall gefunden; und fast eine neue Art
von Komödien zu machen angefangen, die man die heulende (larmoyante)
nennet. So hat man denn des Boileau Regel ganz vergessen, wenn
er in seiner Dichtkunst schreibet:


Le Comique, ennemi des Soupirs et des Pleurs,

N'admet point dans ses Vers de tragiques Douleurs.

Allein, wenn man dergleichen Stücke, wie ich oben gedacht, bürgerliche
Trauerspiele nennet, oder Tragikomödien taufet, so könnten sie
schon bisweilen stattfinden. Alle übrigen Leidenschaften finden in der
Komödie auch statt.“

Die Comoedia commovens, das rührende oder, wie die Gegner
es nannten, das weinerliche, larmoyante Lustspiel entstand aus dem
Gefühl des Überdrusses, den die Einseitigkeit der lediglich die negativen
Bilder aufsuchenden Komödiendichtung notwendig hervorrufen mußte.
Selbst der Meister der sogenannten „hohen Komödie“, selbst Moliè re
ist von dieser Einseitigkeit keineswegs völlig freizusprechen; die Fähigkeit,
das in Wahrheit „ästhetisch“ Lächerliche als solches dramatisch darzustellen,
steht ihm im höchsten Grade zu Gebote: dieser Fähigkeit entspricht
aber bei weitem nicht seine Kunst, der lächerlichen Erscheinung
und Handlung nun das unmittelbar Wohlgefällige, das durch sein bloßes
Dasein Erfreuende, Entzückende gegenüberzustellen. Was das bedeutet,
erkennt man sofort, wenn man auch nur in Gedanken von ihm zu dem
Zauber der positiven Gestalten in Shakespeares Lustspielen hinüberblickt;
wenn man gegenüber der relativen Einförmigkeit der Liebhaber und
Liebhaberinnen in Molières Komödien, seiner Jsabelle, Leonore, Mariane,
Agnes, seiner Valere, Horace, Cleanthe, Leandre und wie sie alle heißen
mögen, des verschwenderischen Reichtums gedenkt, mit welchem Shakespeares
komische Muse ihre Lieblinge ausstattete. Bei Molière stellt sich
der Erinnerung unter all den verschiedenen Namen im Grunde fast die
nämliche Figur dar, bei Shakespeare ist ihr mit jedem neuen Namen
die Vorstellung einer fest umgrenzten, reich entwickelten Persönlichkeit
notwendig verbunden. Hier ist Kraft und Adel, Tiefe und Fülle, hinreißende
Schönheit und köstliche Frische, sanfte Anmut und sprudelnde
Laune, feste, klare Besonnenheit und neckisch=naiver Übermut, alles in
einer Mannigfaltigkeit und zugleich überzeugenden Wahrheit der Mi= [411]
schungen, daß der Dichter, weit davon entfernt etwa nur eine Nachahmung
der alltäglichen Wirklichkeit geben zu wollen, vielmehr in jedem
Falle die Vorstellung des Hörers von der menschlichen Gattung erweitert,
sie erhöht und adelt. So erst gewinnen seine nicht weniger meisterhaften
Darstellungen des Fehlerhaften und Mißgeformten als solchen,
seine lächerlichen Figuren also, ihre volle Wirkung, indem zwischen ihr
und der ihr entgegengesetzten wohlgefälligen Empfindung in jedem Falle
sich die tiefgreifendste und fruchtbarste Wechselwirkung entspinnt; von
daher erhalten diese Dichtungen den nie alternden, mit immer erneuter
Kraft bewegenden, lebendigen Reiz, der sie vor allen andern auszeichnet.

Wenn nun aber schon Molière in diesem wesentlichen Punkte sich
nicht zulänglich erweist, um wievielmehr mußte jene einseitige Richtung
der Komödie seine Nachfolger herabdrücken, die an der Wahrheit der
Empfindung, Schärfe des Blicks, Mannigfaltigkeit der Erfindung, an
Kunst der Darstellung und komischer Kraft so weit hinter ihm zurückblieben.
Da man sich nun nach einem Hülfsmittel umsah, um das
Jnteresse stärker zu erregen, verfiel man, bei dem zunehmenden Streben
nach Naturwahrheit der Nachahmung und bei der neu auftretenden
Tendenz, das Gebiet des Tragischen auf die Darstellung bürgerlicher
Verhältnisse auszudehnen, um so eher darauf, das Element des „Rührenden
in das Lustspiel aufzunehmen, als damit die am dringlichsten gestellte
Forderung, die Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses, erfüllt
wurde. Da man also im Drama überhaupt nur die naturgetreue Nachahmung
der Wirklichkeit erblickte, die Komödie aber herkömmlicherweise
als die Darstellung der Handlungen der „hommes du commun“ galt,
da ferner die Beobachtung allgemeine Anerkennung fand, daß das genre
touchant et attendrissant
hier ebensowohl stattfinden könne als in den
intrigues tragiques“, so hinderte nun nichts mehr, daß Komödien entstanden,
in denen das Lächerliche ganz fehlte und statt dessen bis zu dem
alles wieder ausgleichenden Schluß die Thränen flossen.

Das Räsonnement, mit dem sich Voltaire der eifrig diskutierten
Streitfrage, „s'il est permis de faire des comédies attendrissantes“,
gegenüberstellte, ist höchst bezeichnend für die völlige Äußerlichkeit seiner
Betrachtungsweise. Die Komödie gilt ihm überhaupt als die „représentation
des mœurs
“; daher scheint ihm jedes genre gut, sofern es
nur „gut behandelt ist“, d. h. also in seinem Sinne, sobald es „Sitten“,
gesellschaftliche Zustände wahrheitsgemäß schildert. Jn der Vorrede von
1738 zu seinem Enfant prodigue, welches Lustspiel er als „un mélange
de sérieux et de plaisanterie, de comique et de touchant
“ bezeichnet
─ freilich ist darin das Letztere fast ebenso abgeschmackt und widerwärtig [412]
als das Erstere ─, gesteht er doch allen andern Arten der Komödie uneingeschränkte
Berechtigung zu: il y a beaucoup de très bonnes pièces
où il ne règne que de la gaieté; d'autres toutes sérieuses; d'autres
mélangées, d'autres où l'attendrissement va jusqu'aux larmes
. Oft
zitiert ist die wohlfeile Entscheidung, bei der sich seine Theorie beruhigt:
das beste Genre ist „celui qui est le mieux traité“, und weiter in
derselben Vorrede: „Encore une fois tous les genres sont bons, hors
le genre ennuyeux
.“

Jn seiner Nanine meinte nun Voltaire für die „ganz ernste
Komödie ein solches Muster der „besten Behandlung“ gegeben zu haben,
und nichts kann für die Konfusion und Oberflächlichkeit seiner theoretischen
Begriffe von den Gesetzen des Dramas charakteristischer sein als
die Art, wie er in der Vorrede zu dem Stücke (1749) dasselbe gegen
die Schrift eines Akademikers, de la Rochelle, verteidigt, welche durch
ihre Bekämpfung der rührenden Lustspiele damals Aufsehen gemacht
hatte. Er scheint zunächst freilich jenem beizustimmen, wenn er zugibt:
il condamne avec raison tout ce qui aurait l'air d'une tragédie
bourgeoise. En effet que serait-ce qu'une intrigue tragique
entre des hommes du commun?
ce serait seulement avilir le
cothurne; ce serait manquer à la fois l'objet de la tragédie et de
la comédie; ce serait une espèce bâtarde, un monstre né de l'impuissance
de faire une comédie et une tragédie véritables
.“ Aber
die Ursache der eingetretenen Verwirrung findet er vielmehr darin, daß
die Tragödie über die Grenzen ihres Gebietes hinausgegangen sei, indem
sie auch die Passion de l'amour naïf et tendre in ihren Bereich
gezogen habe, qui seul est du ressort de la comédie. Jn dem ton
familier et quelquefois bas
, den die Tragödie infolgedessen neben den
Accenten des Heroismus angenommen habe, findet er die Ursache, weswegen
in Frankreich eine erträgliche Komödie sich so schwer habe entwickeln
können: c'est qu'en effet le théâtre tragique avait envahi
tous les droits de l'autre. Il est même vraisemblable que cette
raison détermina Molière à donner rarement aux amans qu'il met
sur la scène une passion vive et touchante: il sentait que la tragédie
l'avait prévenu
.

Allerdings verlangt Voltaire am letzten Ende, daß das Element
des Lächerlichen in der Komödie nicht fehlen dürfe: la comédie, peut
donc se passioner, s'emporter, attendrir, pourvu qu'ensuite elle
fasse rire les honnêtes gens. Si elle manquait de comique, si elle
n'était que larmoyante, c'est alors qu'elle serait un genre trèsvicieux
et très-désagréable
. Aber die „Mischung“, auf die er sich so [413]
viel zugute thut, ist bei ihm eine völlig äußerliche, unorganische; das
weit überwiegende Element in seinen Komödien ist eine stark sich vordrängende
tendenziöse Moral, zu deren Exemplifikation eine peinlich
bewegende Handlung in Scene gesetzt wird; die sehr schwächlichen „komischen“
Partien wirken nicht als solche, sondern als widerwärtige Zerrbilder.
So bleibt der Eindruck des Ernstes überwiegend, hauptsächlich
nach dieser Seite hin sind alle sich darbietenden Effekte in möglichst hohem
Grade ausgebeutet, aber dieser Ernst ist kein ästhetisch erfreuender, sondern
durch erkünstelte Rührungen und moralisierende Absichtlichkeit gleich stark
verdrießender; indem nun zugleich auf der andern Seite das diesem
Ernste entsprechende Gegengewicht in der Darstellung des Negativen
fehlt, indem nämlich das Fehlerhafte statt ernsthaft als solches aufzutreten,
als schädlich und verderblich somit den Nemesisempfindungen anheimzufallen,
vielmehr ungeachtet seiner Mißbilligung erweckenden Erscheinung
den Anspruch erhebt, durch Komik zu erfreuen, so entsteht aus
solcher „mélange“ in der That jenes „genre très-vicieux et très désagréable“,
welches Voltaire so siegesbewußt überwunden zu haben meint.

Anders und viel konsequenter verfuhr Diderot, indem er in seinem
Fils naturel“ und seinem „Père de famille“ ein neues Genre zu
erschaffen beabsichtigte, welches den Zwischenraum zwischen der Komödie
und der Tragödie auszufüllen bestimmt war, das „genre sérieux“.
Sein „dramatisches System“ stellt er in dem discours de la poésie
dramatique
in folgenden Definitionen dar: La comédie gaie qui a
pour objet le ridicule et le vice. La comédie sérieuse qui a
pour objet la vertu et les devoirs de l'homme. La tragédie
qui auroit pour objet nos malheurs domestiques. La tragédie qui
a pour objet les catastrophes publiques et les malheurs des grands
.

Es ist hier die sorgfältigste und schärfste Unterscheidung erforderlich;
denn in dem ganzen Diderotschen „Diskurs von der dramatischen
Dichtung“ ist das Wahre und Falsche so vielfältig und so fein gemischt,
daß man seiner eindringlichen Beredsamkeit gegenüber die Waffen strecken
muß, wenn man den Angriff nicht gegen ihre Grundlagen richtet.

Zunächst scheint alles in bester Ordnung. Wenn die „hohe
Komödie“ die negative Seite der menschlichen Handlungen darstellte ─
le ridicule et le vice ─, so verlangt Diderot dagegen, daß auch der
positiven Seite ihr Recht werde, ja, da die menschliche Natur im Grunde
gut sei,1 daß ihre Darstellung vor jener bei weitem den Vorzug haben [414]
solle: also la vertu et les devoirs. Überall, sagt er, werden die
pièces honnêtes et sérieuses ihre Wirkung üben, aber noch sicherer
bei einem verdorbenen Volke als anderswo. Gute Menschen gibt es
überall und: c'est toujours la vertu et les gens vertueux quil faut
avoir en vue quand on écrit
. Übrigens findet er auch in den ernsthaften
Verirrungen, welche die Menschen aus Leidenschaft oder falsch
verstandenem Jnteresse begehen, im Grunde das wahrhaft Lächerliche:
le vrai ridicule des hommes et de la vie. Um die „Pflichten“ nun
in ihrem vollen Umfange zur Darstellung zu bringen, macht er den
Vorschlag, der ihm vor allem andern als ein Verdienst um die Reform
des Theaters angerechnet ist, von dem sogar Lessing ganz besondern
Vorteil gezogen habe: daß der Dichter des ernsthaften Dramas in seinen
Hauptpersonen jedesmal den ganzen Stand derselben wenigstens in
seinen wesentlichsten Beziehungen zeichnen und daraus die Grundlage
seines Werkes machen solle. Er versteht aber unter diesen états,
conditions
des hommes
nicht nur ihre Stellung im bürgerlichen
Leben, sondern auch in der Familie und im Hause. Sein eigenes Beispiel
bezeichnet am besten seine Meinung: c'est ce que je me suis proposé
dans le „Père de famille“, où l'établissement du Fils et de la Fille
sont mes deux grands pivots. La fortune, la naissance, l'éducation,
les devoirs des pères envers leurs enfants et des enfants envers leurs
parents, le mariage, le célibat, tout ce qui tient à l'état d'un père
de famille, vient amené par le dialogue
. Ein zweites Beispiel zeigt
von einer andern Seite, wie er sich die Darstellung der „Stände“ am
wirksamsten denkt, um die Aufgabe des drame honnête et sérieux zu
erfüllen: bringe der Dichter z. B. den Stand des Richters auf die
Bühne, so müsse er die Jntrigue so führen, que l'homme y soit forcé
par les fonctions de son état, ou de manquer à la dignité et à la
1 [415]
sainteté de son ministère, et de se déshonorer aux yeux des autres
et aux siens, ou de s'immoler lui-même dans ses passions, ses goûts,
sa fortune, sa naissance, sa femme et ses enfants
. Überall findet
er die Kraft, die Wärme, die lebhafte Färbung dieser Gattung in den
süßen Rührungen, den starken Sensationen, den Thränen, den attendrissements
sur les malheurs de la vertu
. Er wünscht, daß alle
nachahmenden Künste sich darin vereinen möchten, daß sie im Wetteifer
mit den Gesetzen uns zur Liebe der Tugend und zum Hasse des Lasters
bewegen möchten: pour nous faire aimer la vertu et haïr le vice.
Weit mehr als die Darstellung leidenschaftlicher Jugendliebe empfiehlt
er den Malern, das Bild zweier blinder Ehegatten zu malen, die noch
im hohen Alter zu einander hingezogen, die Augen feucht von Thränen
der Zärtlichkeit sich die Hände drückten und noch am Rande des Grabes
ihre Liebkosungen austauschten.

Aus alledem geht zunächst hervor, daß Diderot in den beiden
wesentlichsten Punkten sich wenig über den beschränkten Standpunkt der
alten Theorie erhebt: daß der Gegenstand der dramatischen Poesie die
Nachahmung der Natur und Wirklichkeit sei, und daß ihr Zweck darin
bestünde, auf die moralische Besserung der Zuschauer hinzuwirken. Die
wahrheitsgetreue Nachahmung ist ihm zugleich die Nachahmung des
Guten, da er ja die menschliche Natur als solche für gut erklärt; die
vérité, die er verlangt, schließt also nach ihm im Grunde schon die
Forderung der vertu als des Gegenstandes der Darstellung ein: c'est
en allant au théâtre
, sagt er von den Zuschauern der „sittlichen“
(honnêtes) und „ernsten“ Stücke, qu'ils se sauveront de la compagnie
des méchants dont ils sont entourés; c'est là qu'ils trouveront ceux
avec lesquels ils aimeraient à vivre; c'est là qu'ils verront
l'espèce humaine comme elle est,
et qu'ils se reconcilieront
avec elle
.

Nun erhebt sich Diderot freilich insofern bedeutend über die
lediglich moralisierende Betrachtungsweise der dramatischen Dichtung ─
und darin liegt auch seine große reformatorische Wirksamkeit ─, daß
er die direkt an die Zuschauer gerichtete moralische Belehrung, ja sogar
die direkt auf dieselben berechnete Wirkung strengstens verwirft. Alles
soll sich allein nach den Beziehungen der handelnden Personen untereinander
entwickeln, und nur die Wirkung der Ereignisse auf diese soll
der Dichter bei der Komposition seiner Handlung im Auge haben. Vor
allen anderen Gattungen soll das ernste Drama getreu der Natur folgen,
d. h. in Diderots Sinne, es soll einen Vorgang, der inhaltlich seinem
Gebiete angehört, genau so wiedergeben, wie er in der Wirklichkeit sich [416]
ereignete oder doch ereignet haben könnte. Jn seinem Fils naturel
macht er in der That die Fiktion, daß die handelnden Personen ein
eigenes Erlebnis in getreuer Wiederholung miteinander in Scene setzen;
so, meint er, müsse sowohl der Ausdruck als das Spiel die höchste
Wahrheit und damit die stärkste Wirkung erreichen. Aber die reformatorische
Bedeutung dieses Beispiels und der gleichzeitig damit aufgestellten
Theorie lag vornehmlich in der Bekämpfung der hergebrachten
Regeln des falschen Klassicismus. Wenn nun jedoch Diderot so weit
ging, alle dramatischen Gesetze, die von der auf die Zuschauer hervorzubringenden
Wirkung hergenommen sind, schon um dessentwillen zu
verwerfen, so entzog er einmal der Theorie den Boden, auf dem sie
allein existieren kann, und trat sodann auch mit seiner eigenen Theorie
in Widerspruch; denn in was anderes setzt er den Zweck der Komödie,
als bei den Zuschauern „Lachen und Verachtung“ zu erwecken, und den
des ernsten Genres, als ihnen die Liebe zur Tugend einzuflößen, die
Bewunderung der Pflichterfüllung und die Rührung über die dabei
erduldeten Leiden? Der Fehler, aus dem alle Verwirrung bei ihm entspringt,
ist eben der, daß diese Zwecke ihm im Grunde sich zu dem einen
einzigen verschmelzen, den er überhaupt aller Kunst setzt, d. i. der Tugend
Bewunderer zu gewinnen. Die Konsequenzen dieses Fehlers treten sogleich
nach beiden Seiten hervor: die Komödie soll sich nicht begnügen,
das Lächerliche vorzuführen, sondern sie soll auch das Laster darstellen
und den Haß desselben erregen, wodurch die Befreiung von dem Ernste
des moralischen Erwägens, ohne welche das ästhetisch Lächerliche gar nicht
bestehen kann, unrettbar vernichtet wird; die heitere Anmut, das
schrankenlose Phantasiespiel der echten Komödie wird unter den strengen
und schweren Bann der Verstandeskritik und des vernünftig=sittlichen
Urteils gebeugt, das Zauberland der wahren komischen Poesie verschlossen.
Umgekehrt bleibt bei der Beschränkung des genre sérieux auf die Darstellung
des honnête, der devoirs und der vertu, da die Meinung doch nicht
ist, daß es lediglich in der Malerei idyllischer Scenen bestehen soll,
diesem nichts übrig als durch die Vorführung tugendhaften Leidens
das Mitleid zu erregen, welches, da seine tragische Vertiefung ausgeschlossen
ist, in die bloße Rührung verläuft. Hier ist der Punkt,
wo der dramatische Dichter Diderot sich mit Jffland und dem ganz
trivialen Rührstück unmittelbar berührt.

Hier zeigt sich ferner auf das Deutlichste, an welcher Stelle, bei
der durchgehenden Verwirrung, die durch Diderots moralisierende Anschauungsweise
in seine dramaturgischen Theorien gebracht wurde, das
Wahre vom Falschen sich scheidet: ebenso tritt klar hervor, wie seine [417]
Theorie ihn mit Notwendigkeit auf das ihm eigentümliche genre sérieux
führen mußte.

Wenn nach seiner Überzeugung alle dramatische Poesie die Absicht
haben soll, „Liebe zur Tugend und Abscheu vor dem Laster einzuflößen,“
so ist sowohl in dem Satze selbst als in hundert Einzelnheiten der Art,
wie er ihn variiert und ausführt, seine Absicht nicht zu verkennen, die
Wirkung des Dramas in die Sphäre der Empfindung zu verlegen und nicht
in die des einfachen moralischen Urteils. Die starke Seite seiner Theorie
liegt nach dieser Richtung hin: daher sein Ruf nach Wahrheit und Natur,
der geradeswegs zum Realismus und zum Naturalismus führt; daher
seine Erkenntnis, daß die tragische Rührung an der Größe des „menschlichen“
Leidens hafte, nicht an dem Umstande, daß der Leidende hohen
Ranges sei, und die daraus entspringende Forderung einer „häuslichen
(domestique) Tragödie neben der eigentlich so genannten; daher
seine Abneigung gegen moralische Sentenzen ebenso als gegen Theatercoups,
künstliche Verwickelungen und wunderbare Lösungen, und statt
alles dessen die Vorliebe für die immer aufs neue als das Beste der
dramatischen Kunst von ihm gerühmten „rührenden Bilder“, zu denen
der einfache Gang der Handlung den Zuschauer führen solle; daher auch
die Sorgfalt, mit der er das stumme Spiel, die Pantomime, als eines
der wesentlichsten Hülfsmittel für die ergreifende Wirkung analysiert, in
seinen eigenen Stücken vorschreibt und als beste Abwehr gegen das Unwesen
der hohlen Deklamation empfiehlt.

Trotz alledem ist die Empfindung, welche nach Diderot durch die
dramatische Poesie bewirkt werden soll, keine freie, keine unbeschränkt
ästhetische;
sie ist und bleibt in ihren Grundbedingungen
eng und unauflöslich an das moralische Urteil gebunden, daher ist sie
sämtlichen dramatischen Gattungen gegenüber, bei allen Verschiedenheiten
derselben, immer die gleiche. Die Komödie stellt die Fehler und
das Laster dar, sie erregt die Verachtung jener durch ihre Lächerlichkeit
und durch seine Häßlichkeit den Abscheu vor diesem. Die Tragödie, sei
es nun die hohe, sei es die „häusliche“, zeigt die unter schrecklichem
Leiden sich bewährende Tugend; durch das stärkste Mitleid erweckt sie
somit die Liebe zu dieser Tugend und den Abscheu vor den Angriffen
gegen dieselbe. Auf dem direktesten Wege aber gelangt der Dichter
zu seinem Ziele, wenn er, ohne das Lächerliche oder das Schreckliche zu
Hülfe zu nehmen, die Pflichterfüllung selbst zum Gegenstande seiner
Darstellung macht, die im Kampfe mit mäßigen Prüfungen die Dinge
zum guten Ende kommen läßt und so zu dem Vergnügen des unmittelbaren
Anschauens tugendhafter Handlungsweise noch den Zauber süßer [418]
Rührungen hinzufügt. Je nachdem nun diese Prüfungen schwererer
Natur sind oder nur leichterer Art, wie sie durch die alltäglichen pflicht=
und tugendwidrigen Sitten und Handlungen der Nebenmenschen hervorgerufen
werden, neigt nach Diderot das „ernsthafte“ Drama entweder
mehr nach der Tragödie hin wie sein „Natürlicher Sohn“, oder mehr
nach der Komödie wie sein „Hausvater“, solcherweise die Mitte zwischen
beiden vollständig ausfüllend.

Damit ist das Wesen aller dramatischen Poesie zerstört; denn das
richtige Verhältnis ist geradezu umgekehrt: während der Gegenstand
aller dramatischen Dichtungsarten immer derselbe ist, nämlich unter
allen Umständen die Nachahmung einer irgendwie das Schicksal enthüllenden
Handlung, besteht er nach dieser Theorie bald darin, Fehler
und Laster darzustellen, bald Pflichten, bald Unglücksfälle; und während
die Verschiedenheiten der Gattungen dadurch entstehen, daß je nach dem
wechselnden Zwecke der Nachahmung die Auswahl und die Einrichtung
der Handlung jedesmal eine andere ist, wird hier allen
Gattungen ein und derselbe Zweck gesetzt, immer nur die Liebe
zur Tugend
und ihr Gegenstück, den Haß des Lasters zu erwecken.

Den ungemein fruchtbaren Begriff der „Handlung“ hat Diderot
verkannt; für das Gebiet der Tragödie entdeckte ihn Lessing durch den
engen Anschluß an Aristoteles, aber auch nur für dieses und ohne die
vollen Konsequenzen daraus zu ziehen; in der Theorie wenigstens kehrte
dann Schiller in bedenklicher Weise wieder sich den Diderotschen Jrrtümern
zu. Das Drama, welches die Handlung, durch Handelnde nachgeahmt,
unmittelbar vor das Auge führt, ist darauf angewiesen, nach
beiden Seiten die höchste Prägnanz in sich zu bergen, sowohl nach der
Seite der inneren als nach der der äußeren Handlung: das von außen
Geschehende und das von innen heraus Gethane, beides muß entscheidend
auftreten und zwar so, daß beides, eng zusammenhängend
und gegenseitig sich bedingend, vereint die Entscheidung bewirkt.
Das Produkt dieser beiden Faktoren nennen wir das Schicksal;
Schicksal darzustellen
ist also die Aufgabe jeder gut ausgewählten
und eingerichteten dramatischen Handlung. Durch den Sprachgebrauch
verführt, sprechen wir nun freilich von „Schicksal“ gemeinhin nur da,
wo eine seltene und ungeheure Entscheidung plötzlich, und zwar besonders
wohl, wenn sie auf unerklärliche Weise hereinbricht; zum mindesten hat
die dramaturgische Terminologie in solcher Weise sich herausgebildet.
Dieser Sprachgebrauch ist aber nicht nur willkürlich, sondern er ist verwirrend,
und es ist kein Grund vorhanden, sich daran zu binden. Wo
wirkliche Handlung vorliegt, da ist auch Schicksal, und das Zu= [419]
sammentreffen des inneren Handlungskernes mit den für die möglichst
vollständige Entwickelung gerade seiner Kraft und Anlage am meisten
geeigneten äußeren Bedingungen vorzuführen, ist die immer sich gleich
bleibende Aufgabe der dramatischen Nachahmung. Die meisten Jrrtümer,
in den dramaturgischen Theorien sowohl wie in der Dichtung, sind
daraus entstanden, daß man diesen so einfachen als natürlichen Satz
außer Augen gelassen hat, daß man also dasjenige der Nachahmung als
ihren Gegenstand substituiert hat, was nur als die Art der Nachahmung
dieses Gegenstandes bestimmend in Betracht kam, und daß man daher
in betreff dieser selbst fehl ging. Schicksalsentscheidung, als Jnbegriff
der Gesamthandlung, also ist dieser Gegenstand und zwar solche,
die der Nachahmung wert ist; dasjenige, wodurch sie in jedem Falle
diesen Wert erhält, bestimmt zugleich den Zweck derselben und ihre Art
und Weise.

Die unglückliche Schicksalsentscheidung erhält diesen Wert
dadurch, daß sie unverschuldetes Unglück statt als einen Gegenstand des
Schreckens und des Jammers vielmehr als eine streng gesetzliche
Äußerung der höchsten, das Ganze ordnenden Mächte vorzuführen vermögend
ist: demgemäß ist der Zweck ihrer Nachahmung, alle Seelenkräfte
in den Empfindungen der Furcht und des Mitleids zur Thätigkeit
aufzuregen und durch ihre Läuterung zum rechten, und damit des vollkommenen
Gleichgewichtes fähigen, Stande zu bringen, wobei dann die
Seele durch die Vollendung dieser Empfindungsenergie gegenüber den
höchsten Dingen, die vorgestellt werden können, auch der höchsten Art
von Freude genießt.

Die glückliche Schicksalsentscheidung kann jenen Wert auf
eine doppelte Weise erhalten. Das, was sie ist, muß sie notwendig
und gesetzmäßig sein: es müssen also in ihr entweder die Keime des
Unglücks gar nicht enthalten sein, vielmehr die maßgebend thätigen
Faktoren der glücklichen Entscheidung gemäß geartet, oder es müssen
den vorhandenen und auch wohl zur vollen Wirksamkeit gelangenden
Unglücksfaktoren um so stärkere die glückliche Entscheidung bedingende
Faktoren gegenüberstehen, die über jene den Sieg gewinnen. Jn beiden
Fällen wird die Empfindung der Freude an der Wahrnehmung der
letzteren überwiegend sein, die Erweckung der unmittelbaren Lustempfindung
also der vornehmste Nachahmungszweck.

Wenn nun aber in dem ersten Falle die das Unglück mit Notwendigkeit
bewirkenden Faktoren ausgeschlossen sind, so bedingt das
Wesen der Schicksalsentscheidung, wie überhaupt schon die Natur der
menschlichen Verhältnisse es mit sich bringt, doch, daß negative Kräfte [420]
mit im Spiele sind, welche Gegenwirkungen ausüben, die zu überwinden
sind; ja dieselben sind von so mannigfacher Art, so tausendfältig mit
den positiven Kräften gemischt, und diese Mischung ist oft so fein, daß
im Leben wie in der Nachahmung nicht nur das Verstandesurteil,
sondern auch die Empfindung sehr leicht getäuscht wird, das Negative
für das Positive ansieht oder nicht selten auch wohl umgekehrt das
letztere für das erstere. So selten die unbedingt erfreuliche Erscheinung
im Leben begegnet, so schwer ist es, sie in der Nachahmung darzustellen:
um nun aber die Scheidung jener zahlreichen Mischungen zu bewerkstelligen,
gibt es ein, wenn es richtig gehandhabt wird, unfehlbar
wirkendes Reagens: es ist das Mittel, jene negativen Faktoren in der
Handlung sich rein als solche mit Evidenz darstellen zu lassen, d. h. sie
als lächerlich vorzuführen. Demgemäß wäre der Zweck dieser Art
von Nachahmung, die ganze Kraft der Seele in den Empfindungen des
Erfreulichen und des Lächerlichen zur Äußerung hervorzurufen, so daß,
indem sie sich gegenseitig zur völligen Reinheit herstellen, auch hier die
notwendige Begleiterscheinung solcher zum qualitativen Maximum gesteigerten
Empfindungsenergie die edelste Freude sein wird.

Es kann geschehen, daß die nachzuahmende Handlung nach der
Beschaffenheit der für die Schicksalsentscheidung wirksamen Faktoren es
erfordert, daß von jenem Mittel der Klärung ein sehr breit in die Erscheinung
tretender Gebrauch gemacht werden muß; aber es erhellt aus
dem Vorstehenden auf das deutlichste, daß es ein Mißgriff ist, das
Mittel anzuwenden, ohne damit zum Zwecke zu gelangen, ja ohne ihn
überhaupt ins Auge zu fassen: also das Lächerliche darzustellen, ohne
die Katharsis desselben und des Erfreulichen in gegenseitiger Wechselwirkung
herbeizuführen, ja ohne dieses letztere überhaupt sich geltend
machen zu lassen. Gerade das aber und noch Schlimmeres liegt vor,
wenn man als den anerkannten Gegenstand der Komödie „le ridicule
et le vice
“ betrachtete und noch heute das Lustspiel lediglich für die
„Darstellung einer lächerlichen Handlung“ ausgibt.

Obwohl die spezielle Begründung dieser Sätze in die Theorie der
Komödie gehört, so ist doch einem Einwande schon hier zu begegnen;
es ist der scheinbare Widerspruch, in welchem zu denselben das Prototyp
des Lustspiels steht, die aristophanische Komödie. Aber Aristophanes
wäre der große Dichter nicht, der er ist, wenn in der That, wie es auf
den ersten Blick scheint, der Gegenstand seiner Nachahmung nur das
„Lächerliche und Verächtliche“, nur „le ridicule et le vice“ wäre. Zu
einer solchen genügen eine beliebige Anzahl mehr oder weniger lose verknüpfter
Scenen, Stücke also, wie die Franzosen sie als pièces à tiroir [421]
bezeichnen; es gäbe da weder bestimmte Grenzen der Ausdehnung noch
feste Gesetze der Einrichtung, überhaupt keine organische Einheit, wie
zu einer solchen Gesetzlosigkeit der komischen Bühne die falsche Theorie
der Komödie thatsächlich geführt hat. Jm stärksten Gegensatze dazu ist
bei Aristophanes überall fest begrenzte Handlung der Kern und
die Seele der Darstellung; damit also auch notwendig Schicksalsentscheidung,
das Wort in dem oben definierten weiten Sinne genommen.
Wie war das nun möglich, da die sämtlichen Stücke des
Meisters der alten griechischen Komödie ganz erfüllt sind von der
schärfsten Satire, ja den direkten heftigsten Angriffen, der grimmigsten
Verfolgung gegen Personen und Dinge der umgebenden Wirklichkeit?
Es scheint, daß eine Dichtungsweise, die entschiedener und einseitiger das
lediglich Lächerliche, Verächtliche, Hassenswerte vor Augen führte, nicht
zu denken wäre.

Das mächtig wirkende Mittel, durch welches Aristophanes diesen
Widerspruch löst, besteht darin, daß er ohne Ausnahme die Handlung
seiner Stücke auf den Boden einer höchst phantastischen Symbolik stellt,
ohne welche diese Art der Komödie undenkbar wäre. Damit wird zunächst
die Handlung den tausendfach bindenden Bedingungen entrissen,
welche die Pragmatik der Wirklichkeit unumgänglich machen würde, zugleich
wird damit der Widerstreit der bei der Schicksalsentscheidung
einander entgegenstehenden inneren und äußeren Faktoren aus einem
Gegenstande des leidenschaftlichen realen Jnteresses, das, dem Forum
des Verstandes und des Vernunfturteiles unterworfen, das Verkehrte als
schädlich und als schmerzlich empfinden lassen würde, zu einem Gegenstande
des freien Spieles für die Aisthesis und die ihr allein zustehende,
unmittelbar aus der Anschauung hervorgehende Empfindungsentscheidung
umgewandelt. Aristophanes erreicht für sein komisches Drama damit
eine ganz ähnliche Exemtion von den die Wirklichkeit der Dinge
beherrschenden Gesetzen und eine ganz ähnliche Kraft, durch die
Kolossalität in der Darstellung des Negativen unmittelbar
die entgegengesetzte positive Wirkung
zu erzeugen, wie auf dem
Boden der erzählenden Gattung des Tierepos sie aufweist; in einfacher
Konsequenz dieses das Ganze seiner Dichtung bestimmenden Grundverhältnisses
sehen wir ihn denn auch mit Vorliebe der Einführung der
Tiermaske und verwandter Erfindungen auf die Scene sich bedienen.

Als das Ergebnis dieser ganzen Erörterung über das Wesen des
Schauspiels stellt sich also dar, daß die sämtlichen diesem Mittelgebiet [422]
angehörigen und unter so vielen verschiedenartigen Namen auftretenden
Gattungen der dramatischen Dichtung entweder von der Tragödie oder
von der Komödie her, und zwar zumeist aus Entartungen der einen
und der anderen, ihren Ursprung haben, so daß der Begriff einer eigenen,
fest in sich zusammengeschlossenen Gattung sich dabei nicht zu entwickeln
vermochte. Man blieb, um die Zugehörigkeit der einzelnen Produktionen
zu bestimmen, bei Äußerlichkeiten stehen, wie bei dem, für das Wesen
des Dramas so ganz und gar nicht entscheidenden Umstand, daß es seinen
Jnhalt der Geschichte entlehnte, und konstruierte demgemäß eine besondere
dramatische Gattung der „Historie“; oder auch man klassifizierte
nach den eingeführten Ständen, Lebenskreisen und Jnteressen, nach
vorwaltenden politischen, religiösen oder sozialen Tendenzen und Jdeen,
oder endlich, noch vager, nach dem Vorwalten des „Charakter“= und
„Sittengemäldes“ oder der „Rührungen“ und „Sensationen“.

Jm Gegensatz dazu hat auf dem Gebiete der Tragödie und
Komödie von jeher und immerfort erneut das Bestreben vorgewaltet,
zu festen Wesensbegrenzungen zu gelangen, freilich mit weit geringerem
Erfolge auf diesem letzteren, welches vielleicht an sich als weniger bestritten
erschien, als in jenem, auf dem naturgemäß die Verschiedenheiten
in den Gesamtanschauungen der Zeiten und Nationen sehr scharf
hervortreten. Offenbar meinte man ─ wenn auch sehr mit Unrecht ─
für die kritische Beurteilung des Komischen einen hinreichenden Maßstab
in den Entscheidungen des Verstandes zu besitzen, unter denen die Möglichkeit
der Abweichung je nach Zeit und Volksart eine so große nicht
ist; dagegen macht sich in der Empfindung und noch mehr in der theoretischen
Beurteilung des Tragischen die ganze ungeheure Verschiedenheit
geltend, welche die Epochen und die Nationen je nach Empfindungsanlage
und nach dem jeweilig erreichten Grade der ethischen Entwickelung
und der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Kultur voneinander
trennt. Es versteht sich von selbst, daß nach diesen Verschiedenheiten
auch das Lächerliche seiner Erscheinung noch in der mannigfaltigsten
Weise variieren wird: aber es bleibt nicht allein der Maßstab seiner
Beurteilung derselbe, sondern, weil der bei weitem größte Teil der
komischen Kunst sich innerhalb der engeren Kreise des Lebens seine
Stoffe sucht, ist die Anwendung desselben eine sehr viel leichtere und
deshalb eine im großen und ganzen gleichmäßigere. Gerade über diese
gewohnten, engeren Kreise den Menschen hinauszuführen, zu höheren
Anschauungen ihn zu erheben ist die Bestimmung des Tragischen:
die Auffassung desselben wird also sowohl durch die Gesamtheit der
religiösen, politischen und auch der litterarischen Traditionen als durch [423]
den jedesmal vorhandenen Lebenszustand immer wieder neu geformt
werden.

Es wird nun die Aufgabe sein, die Wesensbestimmung der
Tragödie und die verschiedenen Auffassungen derselben näher zu
untersuchen. ──────


XXII.

Die Grundlagen für das theoretische Verständnis der Tragödie
hat Lessing neu geschaffen, indem er auf des Aristoteles' Buch „Von
der Dichtkunst“ zurückging. „Jch habe,“ sagt er am Schluß der Dramaturgie,
„von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine
eigenen Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte.
Jndes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen
erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!
),
daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente
des Euklides nur immer sind. Jhre Grundsätze sind ebenso wahr und
gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt
als alles, was diese enthalten. Besonders getraue ich mir von
der Tragödie, als über die uns die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen
wollen, unwidersprechlich zu beweisen, daß sie sich von der Richtschnur
des Aristoteles keinen Schritt entfernen kann, ohne sich ebensoweit von
ihrer Vollkommenheit zu entfernen.“ Und im St. 74: „Zwar mit dem
Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur
auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.“

Lessing verdankt die neuere Ästhetik alles, was sie an Klarheit
und Sicherheit besitzt: dennoch hat man neuerdings ─ sehr zum Schaden
der Sache ─ wieder begonnen, zwischen dem angeblich richtigen Verständnis
der Lehre des Aristoteles von der Tragödie und der richtigen
Erkenntnis der Tragödie selbst einen Unterschied zu machen.

Es scheint auch hier ein Fortschritt, ernstlich auf Lessing zurückzugehen;
seine Sätze bedürfen nicht allzu tief eingreifender Abänderungen,
um sie sowohl mit der Meinung des Aristoteles als mit dem Kanon,
dem die Meisterwerke der modernen Tragödie ebenso wie die der antiken
folgen, in Uebereinstimmung zu zeigen.

Nach Aristoteles ist „die Tragödie die Nachahmung einer
Handlung ernsten Jnhalts und in vollständiger Durchführung
und zwar einer solchen, der das Attribut der
Größe zukommt, in künstlerischem Ausdruck, dessen verschiedene
Arten in den einzelnen Teilen gesondert auf=
[424]
treten, in leibhaftiger (drastischer) Vorführung und nicht
durch Erzählung, welche die Kraft besitzt, durch die Empfindungen
des Mitleids und der Furcht die Läuterung der
entsprechenden Gemütsbewegungen zu vollenden.
“ (\̓εστιν οὖν
τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας, μέγεθος ἐχούσης,
ἥδυσμένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις, δρώντων
καὶ οὐ δἰ ἀπαγγελίας, δἰ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν
τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.)

So hat Lessing die berühmte Definition verstanden: daß darin
das Wesen der Tragödie nach der Wirkungskraft, die ihr zu erteilen
sei, bestimmt werde, und daß diese Wirkung in einer „Reinigung“ der
Furcht- und Mitleidempfindungen zu bestehen habe, durch welche unrichtige
Empfindungen in richtige umgewandelt würden. Sie solle „unser
Mitleid und unsre Furcht“ reinigen und zwar nicht bloß diese, sondern
diese und dergleichen Leidenschaften“, also neben dem Mitleid
alle verwandten philanthropischen Empfindungen, neben der Furcht
z. B. auch Betrübnis und Gram; aber auch nur diese solle sie reinigen,
keine andern „Leidenschaften“. Reinigen solle sie dieselben von dem
Zuviel und Zuwenig und zwar habe das tragische Mitleid die Seele
von den Extremen des Mitleids, die tragische Furcht sie von denen
der Furcht zu reinigen, ferner aber auch das tragische Mitleid den Extremen
der Furcht, und umgekehrt die tragische Furcht denen des Mitleids
in der Seele zu steuern. Lessing nennt diesen vierfachen Prozeß,
kurz aber freilich sehr unglücklich, „die Verwandlung der Leidenschaften
in tugendhafte Fertigkeiten
“.

Durch diesen Ausdruck zumeist hat er seine und auch seines
Meisters Theorie in Mißkredit gebracht; sie scheint freilich dem Vorwurf
Jakob Bernays' einigen Grund zu verleihen, daß Lessing die
Tragödie zu einem „moralischen Korrektionshause mache, das für jede
regelwidrige Wendung des Mitleids und der Furcht das zuträgliche
Besserungsverfahren in Bereitschaft halten müsse“. Zumal, wenn man
Äußerungen dazu nimmt, wie die im 77. Stück der Hamb. Dramat.:
„Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn
man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter
gibt, die selbst daran zweifeln.“ Und wenn es weiter heißt: „Aber alle
Gattungen können nicht alles bessern, wenigstens nicht jedes so vollkommen
wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann,
worin es ihr keine andere Gattung gleichzuthun vermag, das allein ist
ihre eigentliche Bestimmung.“

Lessings gesamte Beweisführung vom 74. bis zum 83. Stück der [425]
Hamb. Dramat. ist gegen die falsche Praxis und Theorie der Franzosen,
vornehmlich des Corneille und Voltaires gerichtet; hier ist er auf der
ganzen Linie siegreich. Es erscheint als überflüssig, diese Ausführungen,
die nicht besser vorgetragen werden können als es von ihm selbst geschehen
ist, und die allbekannt sind, hier noch einmal zu wiederholen. Um so
notwendiger ist es, seine eigenen Jrrtümer in der Jnterpretation der
aristotelischen Definitionen aufzusuchen und klarzulegen, die nach seiner
eigenen, festen Überzeugung eben deshalb auch Jrrtümer über
das Wesen der Sache selbst sein müssen.
Es kann dabei von
dem bekannten Fehler des ihm vorliegenden Textes ─ der das Wort
δρώντων fortließ und auf das οὐ δἰ ἀπαγγελίας ein ἀλλά folgen
ließ, also den Gegensatz enthielt, die Tragödie sei die Nachahmung einer
Handlung „nicht durch Erzählung, sondern durch Furcht und
Mitleid
“ ─ abgesehen werden; dieser Textfehler schuf nur eine
Schwierigkeit mehr für ihn, vermochte aber die richtige Erkenntnis des
Gesamtinhaltes der Definition für ihn nicht zu hindern.

Der Kardinalfehler seiner Auffassung, aus dem wohl alle die
übrigen geflossen sind, ist der folgende: Lessing hat es nicht klar gestellt,
ob unter den Mitleids- und Furchtempfindungen, deren Katharsis durch
die Tragödie bewirkt werden soll, diejenigen Empfindungen zu verstehen
seien, die dem Zuschauer überhaupt eigentümlich sind, mit denen er
zu der Tragödie herantritt,
und die, nachdem er deren Einwirkung
erfahren, er nun weiterhin aus derselben ins Leben mitnimmt,
oder ob es in der von Aristoteles festgestellten Wesensbestimmung
(ὅρος τῆς οὐσίας) sich nicht vielmehr lediglich um
die Bezeichnung derjenigen Wirkungskraft und demgemäß
derjenigen Beschaffenheit handelt, welche der Tragödie
erteilt werden müssen, damit die durch die Dichtung selbst
notwendig aufzuregenden Empfindungen einen in allen
Fällen gleichmäßigen Verlauf nehmen und zu einem nach
den allgemeinen Kunstgesetzen überall gleichmäßig zu fordernden
Abschluß gelangen.

Jn diesem Sinne verstanden widerstreitet die aristotelische Definition
in nichts den Gesetzen der ästhetischen Wissenschaft und Erfahrung,
sie entspricht denselben sogar auf das vollkommenste. Aristoteles hält
ganz ebenso wie Kant das „ästhetische Urteil“ über das Schöne für ein
rein subjektives, d. h.: daß die Empfindung des Schönen und mit
ihr die Freude am Schönen überhaupt zustande komme, ist nach seiner
Meinung am letzten Ende immer davon abhängig, daß die Wahrnehmungs=
und Empfindungsthätigkeit (die αἴσθησις) des Empfangenden [426]
(πεισόμενος) fähig sei, dem in dem Gegenstande gebotenen Anlaß zu
entsprechen. Er drückt, wie schon oben erwähnt, dies Verhältnis so
scharf aus, daß er es überhaupt nicht für die Sache der Kunst erklärt,
die Hedone zu erzeugen, die immer nur durch die Thätigkeit (ἐνέργεια
τῆς αἰσθήσεως) des Einzelnen entstehen könne, sondern nur die Möglichkeit
oder Bereitschaft (δύναμιν) dafür im Objekt hervorzubringen.
Genau gesprochen stellt sie nach seiner Meinung also auch nicht
das Schöne selbst
dar, sondern sie trifft nur die Veranstaltung dazu,
daß dieses Phänomen, welches seine Existenz schlechterdings nur im
Subjekt hat, eben zu dieser Existenz gelange. Ein Satz von der höchsten
Bedeutung für die Lösung der wichtigsten Probleme der ästhetischen
Wissenschaft, welcher mit Kants ästhetischer Theorie nicht allein zusammenstimmt,
sondern geeignet sein möchte, dieselbe in sehr wesentlichen Punkten
aufzuklären und zu ergänzen. Denn erstlich legt er die notwendige
innere Verbindung zwischen den beiden scheinbar so schwer zu vereinenden
Attributen des ästhetischen Urteils offen zu Tage: daß dasselbe nämlich
ein rein subjektives sei und zugleich von a priori bestehender, allgemein
gültiger Verbindlichkeit; sodann zeigt er ebenso einfach als deutlich, wie
dasselbe trotz der von seinem Wesen unzertrennlichen Subjektivität mit
Notwendigkeit an die objektiv vorhandene Beschaffenheit des erregenden
Anlasses gebunden ist, vermöge dessen es zustande kommt und mit dessen
vorzüglicher Beschaffenheit es seinerseits in der entsprechenden vorzüglichen
Beschaffenheit der in Bewegung gesetzten Wahrnehmungs= und
Empfindungsenergie zusammenstimmen muß, um dem Phänomen des
Schönen in der Seele die Existenz zu verschaffen. Die Freude an
demselben ist mit seiner Erscheinung untrennbar und notwendig verbunden,
wie sie nach des Aristoteles eigentümlicher und tiefsinniger
Theorie einer jeden Energie sich zugesellt, sobald dieselbe eine in ihrer
Art vollendete ist.

Die Aufgabe (ἔργον), die die Tragödie nach des Aristoteles Meinung
zu leisten hat, um ihr Wesen zu erfüllen, ist also zunächst die, daß
sie eine Handlung nachahme, welche die Schicksalsempfindungen,
Furcht und Mitleid,
zu erwecken geeignet sei. Durch diese wirkt
sie!
Bloße Nachahmung der Handlung um der Handlung selbst willen
wäre ästhetisch unwirksam und tot, ebenso wie Erzählung nur um der
Erzählung willen oder Schilderung nur um dieser willen. Alles das
liefe nur auf Benachrichtigung hinaus oder auf den passiven Genuß rein
äußerlicher Zerstreuung. Ein Schicksalsverlauf also, der Furcht und
Mitleid hervorrufe, ist in Handlung vorzuführen: ernst=würdig muß
er sein, denn es gilt das Ernsteste und Würdigste vorzustellen, das [427]
überhaupt im Bereiche der Kunst liegt, das Schicksal, wie es nicht etwa
strafend die Schlechten trifft, sondern mit seiner Macht über allen und
den Besten schwebt; vollständig muß er vorgeführt werden, denn nur
so kann er in seiner Wahrheit der Wahrnehmung und Empfindung faßbar
gemacht werden; es muß sich darin um etwas in diesen Sphären
relativ Bedeutendes, um etwas Großes also, handeln, denn die
Schicksalsempfindungen der Furcht und des Mitleids müssen in der
vollen, ihnen eigenen Wucht hervorgerufen werden, die eben nur den
großen Entscheidungen des Lebens gegenüber eintritt. Keine solcher
großen Entscheidungen, in denen die Uebermacht des Schicksals über den
Menschen offenbar wird, mögen sie nun dem Leben angehören oder in
der Phantasie erschaffen sein, wird verfehlen, das Mitleid oder die Furcht
oder auch beide Empfindungen zugleich in uns zur Thätigkeit aufzuregen.
Worauf nun aber alles ankommt, das ist die Frage: wie
müssen diese Empfindungen geartet und beschaffen sein, um
das würdige Ziel der Kunst zu bilden?
Freilich sind diese
Empfindungen, wie eine jede ästhetische Erregung, rein subjektiv;
aber wie ein Gemälde, eine Statue, ein lyrisches Gedicht, die wir
schön nennen, eben darum so heißen, weil sie die Veranlassung in
sich tragen, die durch ihre Wahrnehmung in Bewegung gesetzte Empfindungsthätigkeit
zu einer in ihrer Art vollendeten zu gestalten, so
erhält nun die Tragödie die Bestimmung, nur solche Schicksalsentscheidungen
vorzuführen und ihren Verlauf derartig einzurichten, daß dieselben
alle Bedingungen in sich vereinigen, um den ihnen entsprechenden
Empfindungen in ihrer vollendetsten Gestalt zur Bethätigung den Anlaß
zu gewähren. Es ist ein nie genug zu bewundernder Meistergriff, daß
Aristoteles die für die Beschaffenheit der nachzuahmenden Handlung entscheidende
Norm in die Aufstellung derjenigen objektiven Kompositionsgesetze
gelegt hat, die sich aus der Forderung, für
bestimmt geartete Empfindungen die Erregungsursachen in
sich zu vereinen, nun mit Notwendigkeit ergeben müssen,

und daß er ferner diese Empfindungen selbst und die für sie erforderliche
Modifikation so sicher erkannt hat. Dieses Verfahren zeigt, wie
unzweifelhaft klar ihm die Natur des „ästhetischen Urteils“ vor Augen
stand, daß es nämlich „ohne Begriffe“, ohne die „Reflexion auf irgend
welche logische oder moralische Erkenntnisse“ unmittelbar gefällt wird
und dennoch „allgemein=gültig und allgemein=verbindlich“ ist, eben
weil es in einer durch den objektiv richtig beschaffenen
Erregungsanlaß nun auch objektiv richtig bestimmten Empfindungsentscheidung
besteht.

[428]

Danach ist es nun von selbst deutlich, daß Goethes bekannte
Einwürfe gegen die aristotelische Definition sich nicht gegen diese richten,
sondern nur gegen das durch Lessings Jnterpretation verursachte Mißverständnis
derselben. So, wenn er an Zelter schreibt (am 29. März
1827, vgl. IV, 288): „Die Vollendung des Kunstwerks in sich
selbst
ist die ewige unerläßliche Forderung! Aristoteles, der das
Vollkommenste vor sich hatte, soll an den Effekt gedacht haben! welch
ein Jammer!“ Was er hier unter der Bezeichnung „Effekt“ abwehrt,
nennt er ein andermal „Wirkung nach außen“, indem er dabei
beidemal über die unmittelbare, ästhetische Wirkung hinaus der Kunst
gesetzte weitere Zwecke ins Auge faßt. Jn demselben Sinne schreibt
Zelter am 13. Januar 1830 an Goethe (vgl. V, 367): „Unsre neue
Lehre geht ganz von der Wirkung an sich aus. Das Publikum freilich
will sich solchen Effekt nicht mehr nehmen lassen, um nur etwas für sein
Geld zu haben.... Eure Theoristen verschanzen sich ins Philologische,
wo sie sich zu Hause meinen, und geht man ihnen nach, so ist man
unter lauter Parteien und die Sache bleibt an ihrem Orte. Jst das
Kunstwerk ein echtes Gewächs aus seinem eigenen Wesen, so erkenne ich
Deine Behauptung als voll und rund, wenn die Wirkung sich
von selber findet
und die Probe ist des Exempels.“ Und darauf
nun Goethe am 29. Januar 1830 (V, 380): „Wir kämpfen für die
Vollkommenheit eines Kunstwerks, in und an sich selbst; jene denken
an dessen Wirkung nach außen, um welche sich der wahre Künstler
gar nicht bekümmert, so wenig als die Natur, wenn sie einen Löwen
oder einen Kolibri hervorbringt. Trügen wir unsere Ueberzeugung auch
nur in den Aristoteles hinein, so hätten wir schon recht, denn sie wäre
ja auch ohne ihn vollkommen richtig und probat; wer die Stelle anders
auslegt, mag sich's haben.“

„Zum Scherz und Überfluß laß mich, in Gefolg des Vorigen,
erwähnen: daß ich, in meinen Wahlverwandtschaften, die innige
wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen

bemüht war; deshalb bild' ich mir aber nicht ein,
irgend ein hübscher Mann könne dadurch vor dem Gelüst,
nach eines andern Weib zu blicken, gereinigt werden.
Das
sechste Gebot, welches schon in der Wüste dem Elohim-Jehova so nötig
schien, daß er es, mit eigenen Fingern, in Granittafeln einschnitt, wird
in unsern löschpapiernen Katechismen immerfort aufrecht zu halten
nötig sein.“

„Verzeihung dieses! Denn die Sache ist von so großer Bedeutung,
daß Freunde sich immer darüber beraten sollten; ja ich füge noch [429]
folgendes hinzu: es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant
um die Welt, und ich darf auch sagen um mich, daß er, in seiner Kritik
der Urteilskraft, Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden
das Recht zugesteht: aus großen Principien zwecklos zu handeln. So
hatte mich Spinoza früher schon in dem Haß gegen die absurden
Endursachen geglaubigt. Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke
auszugehen, und haben's auch nicht nötig, denn Bezüge gibt's überall
und Bezüge sind das Leben.“

Diese Briefstellen liefern einen erwünschten Kommentar zu Goethes
Äußerungen über den Gegenstand in seinem Aufsatz vom Jahr 1826
„Nachlese zu Aristoteles' Poetik“. Er übersetzt darin die Schlußworte
der Definition, bekanntlich mit einer starken Versündigung gegen die
griechische Sprache, so daß er, statt zu sagen, daß die Tragödie „durch
Mitleid und Furcht die Katharsis bewirke“, setzt: „daß sie nach einem
Verlauf
von Mitleid und Furcht (διά also gewissermaßen == durch
dieselben hindurch) mit Ausgleichung solcher Leidenschaften
ihr Geschäft abschließt.
“ Von jenem Jrrtum abgesehen, liegt der
Schwerpunkt seiner Auffassung in den letzten Worten: also in dem Eintreten
für die unmittelbare, ästhetischeWirkung an und für
sich
“, die er von der Tragödie fordert, und in der Abweisung der
entfernteren, moralischen Wirkung, die er ihr so wenig als irgend
einer Art der Kunstübung als ein notwendig anhaftendes Attribut
zuzuerkennen vermag. „Keine Kunst vermag auf Moralität zu wirken,
und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt.
Philosophie und Religion vermögen dies allein; Pietät und
Pflicht müssen aufgeregt werden, und solche Erweckungen werden die
Künste nur zufällig veranlassen.“ Nur diese tendenziöse Wirkung
ist es, deren Forderung er von der Tragödie abwehrt, wenn er seiner
Übersetzung die Erläuterung hinzufügt: „Wie konnte Aristoteles in
seiner jederzeit auf den Gegenstand hinweisenden Art,
indem
er ganz eigentlich von der Konstruktion des Trauerspiels redet, an
die Wirkung und, was mehr ist, an die entfernte Wirkung denken,
welche eine Tragödie auf den Zuschauer vielleicht machen würde?
Keineswegs! Er spricht ganz klar und richtig aus: wenn sie durch einen
Verlauf von Mitleid und Furcht erregenden Mitteln durchgegangen, so
müsse sie mit Ausgleichung, mit Versöhnung solcher Leidenschaften
zuletzt auf dem Theater ihre Arbeit abschließen.

Unzweifelhaft also verlangt auch Goethe nicht allein eine „Wirkung
der Tragödie auf den Zuschauer
“, sondern er setzt auch, ganz wie
Aristoteles, als das Ziel dieser Wirkung die Katharsis, „diese aus= [430]
söhnende Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja
sogar von allen poetischen Werken gefordert werde.
“ Jn
diesen Worten liegt die ausdrückliche Erklärung seiner Uebereinstimmung
mit Aristoteles: wie dieser setzt er die Wirkung der Tragödie in die
Erregung von Furcht und Mitleid des Zuschauers, und wie
diesem ist ihm „zum Abschluß dieser Wirkung eine Söhnung,
eine Lösung unerläßlich,
wenn die Tragödie ein vollkommenes
Kunstwerk sein solle.“ Aber indem er im scharfen Gegensatz zu Lessing
diese „Söhnung“ oder „Lösung“ als allein in dem Kunstwerk selbst
liegend erklärt, begeht er den umgekehrten Fehler wie dieser, der die
Katharsis als eine „Reinigung“ der Furcht- und Mitleids=„Leidenschaften“
ganz in die Seele des Zuschauers verlegt. Der rechte Sinn der aristotelischen
Definition, indem er die Mitte zwischen beiden hält, vereinigt
beides: Lessings Jnterpretation, deren Wortlaut bedenklich zu einer
moralischen Auffassung des Dichtungszweckes zu neigen scheint (von
welcher er doch im Grunde ganz frei war), verleitet dazu, die Grenzen
der Definition ungebührlich zu erweitern und die Vorstellung einer
möglichen Folge anstatt des Wesens des Kunstwerks selbst ins Auge zu
fassen; dagegen verengt Goethes Auffassung die Definition, indem sie
den wesentlichen Umstand verkennt, daß die entscheidende Bestimmung
für die objektive Beschaffenheit der tragischen Handlung von Aristoteles
in die Forderung gelegt ist, daß ihr die Kraft erteilt werde, die
reinen Empfindungen der Furcht und des Mitleids hervorzurufen, ─
wo anders also als in der Seele des Zuschauers?

Es liegt in der Natur der dramatischen Kunstgattung, daß dieses
Ziel in seiner Vollkommenheit erst mit dem Abschluß der Dichtung
erreicht werden kann: dies ist es, was Goethe dazu bewogen hat, diesen
Umstand so einseitig zu betonen. Erst mit ihrem Abschluß kann die
Handlungen nachahmende Kunst dasjenige darbieten, was die bildende
Kunst mit eins vor das Auge stellt. Ohne daß freilich damit gesagt
würde, daß den Werken der letzteren nicht ebensowohl das Ziel gesetzt
wäre, eine entsprechende „Katharsis“ zu vollenden. Dieselbe tritt nur
nicht so deutlich hervor wie bei den fortschreitenden Künsten. Der
Sprachgebrauch freilich nennt das Gebilde der Kunst geradehin schön;
aber diese Bezeichnung gehört ihm doch nur insofern, als es vermögend
ist, das Phänomen der Schönheit in der Seele des Beschauers
entstehen zu lassen, denn einzig und allein hier hat dasselbe
seinen Sitz!
Daß es also diejenigen objektiven Beschaffenheiten
in sich vereinigt, welche dem Empfinden den unmittelbaren
und mit innerer Notwendigkeit wirkenden
Anlaß gewähren, [431]
sich in absoluter Reinheit, Gesundheit, Richtigkeit zu bethätigen
und mit dem dieser Empfindungsenergie ebenso notwendig
und unmittelbar verbundenen Bewußtsein,
daß in ihr
der empfindende Teil der Seele seine Natur und höchste Bestimmung
erfülle, sie zu der lebhaftesten und höchsten Freude zu entzünden
und zu erheben.
Daß bei der Betrachtung oder dem Anhören
der Kunstwerke diese Empfindung des Schönen und die Freude
daran sich nicht allein unmittelbar, sondern auch augenblicklich einzustellen
scheint, beruht auf der Täuschung, die einen an sich umfangreichen
und komplizierten Entwickelungsprozeß, der durch Übung und
Gewohnheit allerdings auf den kleinsten Zeitraum zusammengezogen
werden kann, nun auch als das Werk des einen Augenblicks betrachten
läßt. Was in Wirklichkeit dazu gehört, kann jeder an sich selbst beobachten,
sobald er einem bedeutenden, neuen, in seiner Art ihm bis
dahin fremden
Kunstwerk gegenübertritt, ebenso an der Art, wie der
naive moderne Mensch zu der plastischen Kunst der Griechen sich verhält.
Auch hier ist die Bedingung, von der die „Schönheitswirkung
des Kunstwerks abhängig ist, daß zunächst das durch das
Kunstwerk nachgeahmte Seelen-Pathos oder =Ethos in dem Beschauer
zur Thätigkeit angeregt, und sodann durch dasselbe in seiner Sphäre die
Katharsis vollendet werde: d. h. daß das Kunstwerk durch seine ihm
ewig und unzerstörbar anhaftende Beschaffenheit die Kraft bewähre, die
Seele von allem Uebermäßigen des erregten Pathos oder Ethos befreiend
zu entlasten, das Mangelnde schöpferisch darin zu ergänzen, das Unreine
läuternd daraus hinwegzuschmelzen, mit einem Worte: daß es der Seele
den Anlaß biete und sie zugleich mit der Kraft erfülle, die gesunde, die
richtige, die reine Empfindungsenergie in sich zu erfahren.

So allein löst sich auch das Rätsel von der zugleich rein subjektiven
und rein objektiven
Natur dessen, was wir das Schöne
nennen.

Rein subjektiv bleibt immer der Akt, durch den die Entstehung des
Phänomens des Schönen erst eine Wirklichkeit wird: rein objektiv immer
die Bestimmtheit des Anlasses, an den jener Akt mit a priori gewisser
und allgemein verbindlicher Notwendigkeit sich knüpft.

Am deutlichsten läßt sich die Richtigkeit dieser Sätze an dem sogenannten
Naturschönen erkennen. Farbe und Gestalt der einzelnen,
nebeneinander befindlichen und doch wieder inmitten der Gesamtheit mit
allem verbunden dastehenden Naturdinge können als „ein Schönes
nur durch den Sinn des Beschauers empfunden werden, an sich sind
sie es nicht,
sondern enthalten nur den Anlaß, jenen „Sinn“ zu [432]
bethätigen: d. h. eine durch die Empfindungsenergie geleitete
absondernde und wieder zum Ganzen vereinigende Wahrnehmung
auszuüben.
Daß bei dem Kunstschönen im Grunde
genau dasselbe Verhältnis obwaltet, wird nur um des Umstandes willen
schwerer erkannt, daß durch den Schöpfer desselben dieser Wahrnehmungsthätigkeit
des Empfangenden schon vorgearbeitet, das Material
ihr bereit gestellt, und so dieselbe sehr erleichtert ist. Erleichtert ─ aber
keineswegs entbehrlich gemacht! Jmmer wird, damit das Schönheitsphänomen
sich bildet und als die mächtige Kraft, die ihm eigen ist,
unter den übrigen Weltkräften sich wirksam erweise, erst die ureigene
Thätigkeit des empfangenden Subjektes erforderlich sein; nur so kann
die potentielle Energie des Kunstwerks zu der faktischen, aktuell
vorhandenen der Schönheit werden: ganz ähnlich wie die magnetische
Kraft einem Körper doch nur potentiell innewohnt und als solche erst
existent wird, wenn ein andrer für dieselbe empfänglicher Körper mit
ihm in Kontakt tritt.

Der Unterschied in der Wirkung des koexistent und des successiv
vorgetragenen
Kunstwerkes beruht also nur darin, daß bei
jenem die die Katharsis der erregten Empfindungen vollendenden Faktoren
nebeneinander stehen, also scheinbarnicht wirklich! ─ gleichzeitig
wirksam sind, während sie bei diesem aufeinander folgen, und es hier
also offenbar ist, daß sie ihr Ziel erst erreichen, wenn sie alle beisammen
sind und vereinigt, in absoluter Vollständigkeit ihre Kraft ausüben,
d. i. mit dem Abschluß des poetischen Werkes. Es bedarf keines weiteren
Beweises, daß genau dasselbe aber auch bei den Werken der bildenden
Kunst obwaltet: auch diese äußern ihre volle, d. i. ihre kathartische
Wirkung erst, wenn die empfangende Empfindungsenergie die Gesamtheit
der darin potentiell vorhandenen Kräfte abschließend zur einheitlichen
Wirkung verbunden hat, was im einzelnen Falle nicht allein eine längere
Zeit der Betrachtung verlangt, sondern wozu mitunter Menschenalter,
ja selbst Jahrhunderte gehören, bis für die in dem Kunstwerke schlummernde
volle Wirkungskraft die zureichende Empfindungsenergie sich entwickelt.
Oder, wie der Sprachgebrauch es ausdrückt: bis das Verständnis
dafür erwacht oder durch den Genius geweckt wird. Es genügt, an die
beiden größten Beispiele zu erinnern: an die romanische Renaissance des
16. Jahrhunderts und an die Neubelebung der griechischen Kunst durch
Winckelmann.

Es scheint erforderlich, alle diese Erwägungen sich gegenwärtig zu
halten, wenn man nun daran geht, über den vielumstrittenen Begriff
der Katharsis sich Klarheit zu verschaffen.

[433]

Hier gilt es nun zunächst, die Auseinandersetzung mit der Theorie
aufzunehmen, die vor etwa dreißig Jahren Jakob Bernays in seiner
bekannten Abhandlung1 aufstellte, und deren Ansehen in weiten Kreisen
noch in Geltung zu sein scheint oder doch nur halb erschüttert.

Bernays gibt die folgende „umschreibende Übersetzung“ der aristotelischen
Definition: „Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid
und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen
und furchtsamen) Gemütsaffektionen,“ die durch das Folgende dahin
erklärt wird, daß er darunter „die erleichternde Entladung von solchen
Gemütsaffektionen“ versteht. Seine Auffassung der tragischen Kunst,
wie der Musik und eigentlich wohl aller Kunst, gipfelt darin, daß sie
zunächst die Affekte sollicitiere, diese ganz entfessele, sie so gleichsam
sich austoben lasse und somit die erleichternde Entladung, die Katharsis,
von den betreffenden Affekten der Seele gewähre und sie auf solche
Weise zur Ruhe gelangen lasse. Solche Entladung, streng im medizinischpathologischen
Sinne genommen, errege eben durch die damit erzielte
Erleichterung ein Lustgefühl, eine „unschädliche Freude“: dieses ist,
nach Bernays, die Hedone, die Freude, die wir durch die Kunst genießen.

Zu dieser wunderlichen Theorie, die dem Systeme des Aristoteles
ebensosehr widerspricht als unsern modernen Anschauungen, ist Bernays
durch die bekannte Stelle verführt, wo am Schlusse der uns erhaltenen
Schrift des Aristoteles über die „Politieen“ von „der Heilung und
Katharsis“ die Rede ist, welcher die vom Enthusiasmus Überwältigten
durch „die heiligen Lieder“ teilhaftig werden. Daß hier die Katharsis
mit einem medizinischen Vorgange verglichen wird, ist unbestreitbar und
auch niemals bestritten. Lessing ebenso wie Goethe und Herder haben
die Stelle gekannt und erwähnt. Sie ist aber von Bernays in einem
wesentlichen Punkte ─ ja in dem für die vorliegende Frage wesentlichsten
willkürlich gedeutet, und sodann mit dieser unrichtigen
Deutung in einer den Grundlehren der aristotelischen Psychologie,
Ethik und Kunsttheorie widersprechenden Weise
auf
die Definition der Tragödie übertragen worden.

Das läßt sich in Kürze zeigen, auch ohne den philologischen Apparat
der Bernaysschen Abhandlung einer eingehenden Kritik zu unterwerfen,
für die hier nicht die rechte Stelle wäre, die übrigens das
ausgesprochene negative Resultat durchweg bestätigt.2

[434]

Wie gesagt, die Stelle der „Politik“ war von Goethe wie von
Lessing gekannt; aber sie fanden darin nichts, was geeignet war, eine
der Gattung nach neue Bedeutung des Begriffs der Katharsis zu
eröffnen, nur, wie billig, eine der Art nach unterschiedene. Erst Jakob
Bernays machte diese Entdeckung, die man ihm zu so großem Verdienste
gerechnet hat, und durch die er nur erreicht hat, die ganze Frage auf
eine schwer heilbare Weise zu verwirren.

Aristoteles braucht den Ausdruck Katharsis in seinen naturwissenschaftlichen
Schriften sehr oft und zwar durchweg in einem unserm
deutschen Worte „Reinigung“ auf das genaueste entsprechenden Sinne.
Das Objekt derselben sind durchweg die Wesen, an denen die Reinigung
vor sich geht (ζῶα überhaupt, oder τὸ θῆλυ, γυναῖκες); sie besteht in
der Ausscheidung des Überflüssigen und daher dem Organismus
Schädlichen; es kann demgemäß ein Genitiv zur Bezeichnung des auszuscheidenden
Stoffes hinzutreten (z. B. τῶν περιττωμάτων) oder auch
ein identischer Genitiv, der synonym mit dem Begriff der Katharsis selbst
den dieselbe darstellenden Vorgang anzeigt (z. B. τῶν καταμηνίων).
Jn den „Problemen“ (I, 42, p. 864a 23 ff.) definiert er die Katharsis im
engsten medizinischen Sinne als durch Arzneimittel bewirkte Abführung.
An zwei andern Stellen bedeutet καθαίρειν in der Komposition mit ἀπό
aber auch die einfache mechanische Entfernung eines von außen hindernd
anhaftenden Gegenstandes, so Probl. 31, 9 (p. 958b 5) die Lösung das
Auge trübender Stoffe durch im Auge sich bildende Feuchtigkeit oder
(683a 28) einfach das mechanische Wegputzen fremder Körper vom Auge,
wie man es bei manchen Jnsekten beobachtet. Übertragen wird dasselbe
Wort sodann für die Ausscheidung der Schlacke beim Härten des
Eisens (383a 34 und b 4) gebraucht. Weitaus am häufigsten bezeichnet
es, wie schon oben bemerkt, den mit dem Ausdruck καταμήνια charakterisierten
physiologischen Vorgang im weiblichen Körper.

Von entscheidender Wichtigkeit für die philologische Jnterpretation
der Katharsisstelle ist die Frage, wie das Genitiv-Verhältnis in der
Verbindung τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν aufzufassen sei.
Hier scheint es nun für die Bernayssche Theorie zu sprechen, daß bei
Aristoteles nirgends sonst der Genitiv der Person oder Sache, an
welcher die „Katharsis“ sich vollzieht, zu finden ist; er sagt statt dessen:
ἡ κάθαρσις γίνεται mit dem Dativ der Person (τοῖς ζῴοις, ταῖς 2 [435]
γυναιξίν, τοῖς θήλεσιν, ταῖς κυούσαις) oder auch einfach ohne denselben.
Jndessen ergibt eine genauere Betrachtung sofort, mit welcher
Vorsicht derartige Beobachtungen aufgenommen werden müssen, damit
sie nicht zu einem rein mechanischen Verfahren den Anlaß geben und in
die Jrre leiten. Alle Stellen, die hier in Betracht kommen, gehören der
zuletzt erwähnten Sphäre an: hier ist nun der aristotelische Sprachgebrauch
unserem deutschen Gebrauch des Terminus „Reinigung“ vollkommen
analog. Es widerstrebt der strengeren Logik in jeder Sprache,
einen physiologisch sich von selbst vollziehenden Vorgang durch eine Wortverbindung
zu bezeichnen, die ein aktives, von außen bewirktes Herbeiführen
desselben ausdrücken würde. Nicht einmal für die durch „Pharmaka“
erzielte Katharsis im Sinne der Purgation würde Aristoteles sich dieses
objektiven Genitivs der Person bedienen ─ es findet sich in seinen
Schriften nicht Gelegenheit, dies zu konstatieren ─, ebensowenig als die
deutsche Sprache einen solchen Gebrauch gestatten würde. Dafür setzt
sie, ganz wie die lateinische, den Genitiv desjenigen Teiles des
Körpers, an welchem die Reinigung vollzogen wird,
in diesem
Falle also alvi, des Leibes. Es ist in der angegebenen Richtung bezeichnend,
daß Tieren gegenüber der Sprachgebrauch etwas weiter geht;
so findet sich bei Aristoteles der Ausdruck: ἡ βοῦς ... καθαίρεται κάθαρσιν
βραχεῖαν (573a 6). Jn allen Fällen aber bedeutet „Katharsis“
den Vorgang der Entfernung eines Unzugehörigen, Überflüssigen, sei
es nun mechanische Abwaschung oder äußerliches Wegwischen der Unreinigkeit,
sei es Läuterung von Schlacken, sei es Ausscheidung des
περίττωμα, des zur Ernährung nicht verbrauchten aufgenommenen
Stoffes, oder „Ausstoßungüberflüssig produzierter Säfte. Wo
der hinzutretende Genitiv nun nicht ein identischer ist, der den Vorgang
selbst bezeichnet, wie καταμηνίων, gibt er den ausgestoßenen Stoff an,
das περίττωμα, was auch von Aristoteles καθαρμός genannt wird oder
ἀποκάθαρμα: die Ausscheidung.

Es liegt also auf der Hand, daß in solcher Verbindung zu dem
Begriff „Katharsis“ einzig und allein der Genitiv von Stoffnamen
hinzutreten kann,
entweder Bezeichnungen eines gleichartigen,
beliebig teilbaren Stoffes, von dem ein Zuviel (ὑπερβολή) zu beseitigen
ist, um den normalen Zustand herzustellen, oder Bezeichnungen eines
Stoffes, der, einem andern verwandten beigesellt, als eine Unreinigkeit
von demselben abgesondert wird.

Sowohl nach der Logik der Sprache, als vollends nach dem
psychologisch=ethischen System des Aristoteles ist es also ganz unmöglich,
den Genitiv παθημάτων als einen solchen Genitiv des ausge= [436]
schiedenen Stoffes aufzufassen, also mit Bernays die viel umstrittene
Stelle zu übersetzen: „eine Entladung von diesen Affektionen“.
Die Pathe oder Affekte sind Bewegungen der Seele, in denen sich
das Leben derselben äußert, und zwar hängt die Art und Weise jeder
einzelnen dieser Bewegungen einmal von der in der Seele dazu vorhandenen
Anlage ab, sodann von der innerhalb derselben ausgebildeten
Gewöhnung, sich diesen Bewegungen gegenüber zu verhalten. Eine
erleichternde Entladung“ von den Pathe oder Pathemata überhaupt
ist eine nach Aristoteles ganz undenkbare Vorstellung. Gegenüber
der Möglichkeit, ihnen ganz frei die Zügel schießen zu lassen, gibt
es für ihn nur zwei entgegengesetzte Vorstellungen: entweder sie über
das rechte Maß hinaus zu unterdrücken, wobei von einer Katharsis
selbstverständlich nicht die Rede sein kann, oder, worauf sein ganzes
System überall hinausläuft, sie im rechten Maße in Übung und zu stets
bereiter Bethätigung zu halten. Sie aufzuregen, zu „sollicitieren“,
um sie auf solche Art „auszustoßen“, ist eine Vorstellung, die auf
die denkbar stärkste Weise ebenso seinem System als der
Sprachmöglichkeit widerspricht.
Wie aus Hunderten und Tausenden
von Stellen bei ihm zu beweisen ist, würde ein solches „stürmisches
Austoben“ der Affekte für den Augenblick, wie jedes Übermaß,
eine Erschlaffung hervorbringen, für die Folge jedoch, wie jedes Gewährenlassen
des ungezügelten Affektes, eine fehlerhafte Neigung, dazu
zurückzukehren.

Und bedarf es denn etwa eines Beweises, daß diese Ansicht ebenso
mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt als mit den Theorien
unserer modernen Philosophie?

Bernays freilich geht von der grundfalschen Meinung aus, daß,
überhaupt und nach Aristoteles, „alle Arten von Pathos wesentlich
ekstatisch seien
“; „durch sie alle werde der Mensch außer
sich gesetzt!
“ Das wird demselben Aristoteles untergeschoben, nach dessen
Lehre in den Bewegungen der Pathe sich das ureigene Leben der Seele
darstellt, durch die und an denen der Logos und der Nous erst zur
Entwickelung gelangt, wie umgekehrt jene an diesen ihre Lehr= und
Zuchtmeister finden, so daß er ohne die auf solche Weise hergestellte
Metriopathie die Tugend überhaupt nicht für möglich erklärt!

Endlich! Wie ist es denn möglich, es zu übersehen, daß Bernays
mit seiner Theorie gerade in den Fehler, den er bekämpft, nur um so
stärker zurückverfällt? Er zieht dagegen zu Felde, daß die Definition der
Tragödie auf ihre entfernte Wirkung bei den Zuschauern gegründet werde,
und seine eigene Erklärung derselben geht darauf hinaus, daß durch die [437]
ekstatisch=orgiastische Sollicitation von Mitleid und Furcht „die Seelen
der Zuschauer erleichternd von diesen Affekten entladen
würden
“, also erst recht auf eine „entfernte“, das Kunstwerk an sich
weiter nichts angehende „Wirkung“. Zu alledem wäre nach ihm die
Forderung der Katharsis für die Definition der Tragödie, weit entfernt
ihr wesentlichstes Glied zu sein, vielmehr ein überflüssiges und daher
fehlerhaftes Anhängsel. Es ist ja doch klar, daß dieser Zusatz nicht
das Geringste daran ändern würde,
daß das Wesen der Tragödie
eben lediglich in die Nachahmung einer die Furcht und das Mitleid
aufregenden Handlung gesetzt wäre; daß eine solche dann die von
Bernays definierte Wirkung zu äußern imstande wäre, würde doch zu
ihrer Wesensbestimmung nichts weiter beitragen, dem Dichter für sein
Verfahren nicht den leisesten Wink an die Hand geben. Zu dem Rezept
eines Purgationsmittels gehört nur die Angabe der den betreffenden
Reiz ausübenden Jngredienzien, keineswegs aber die Angabe der ihrer
Natur nach notwendig durch ihre Mischung hervorgebrachten Wirkung.
Zu diesen beiden Fehlern verfällt Bernays auch noch in den dritten,
daß er für die Zuhörer des tragischen Kunstwerks eine bestimmte und
zwar fehlerhafte Beschaffenheit voraussetzt, die sie aus dem Leben mitbringen,
auf deren Fortschaffung die Tragödie bedacht und zu welchem
Zwecke sie erfunden sein soll.

Daß diese irrige Ansicht immer noch wieder Anhänger gefunden
hat, ist lediglich der Geschicklichkeit zuzuschreiben, mit welcher Bernays
den philologischen Apparat in der Frage zu Gunsten derselben zu
gruppieren verstanden hat; sehr einsichtsvolle Leute, die aber, eben um
dieses Umstandes willen, sich der Mühe überhoben geglaubt haben, hier
selbst zu prüfen, haben sich deshalb seiner Beweisführung gefangen gegeben:
nicht als ob sie nun, wie er, überzeugt wären, daß dies die richtige
Definition der Tragödie überhaupt sei, sondern daß Aristoteles sie dafür
gehalten habe.

Es ist bei der ganzen Kontroverse übersehen worden, daß der Ausdruck
„Katharsis“ doch nur vergleichsweise auf das psychologische Gebiet
übertragen ist. Es ist einer der schlimmsten Fehler, einen Vergleich
buchstäblich zu nehmen, der immer nur ein Ähnlichkeitsverhältnis, nicht
völlige Gleichheit bezeichnen will. Die Pathe oder die Empfindungen
der Furcht und des Mitleids sind kein gleichartiger Stoff, wie das Blut
oder die Galle, von dem ein überschüssiges Quantum ausgeschieden
werden kann, sie sind daher auch nicht mit diesen in Vergleich gestellt,
sondern mit denjenigen physiologischen Organen oder denjenigen
Körperteilen, an welchen durch Ausscheidung eines
[438]
überflüssigen Stoffes die Reinigung, die Katharsis, sich
vollzieht. Was
durch die Katharsis von ihnen ausgeschieden wird,
nämlich alle die fehlerhaften Beimischungen, durch die ihre richtige, gesunde
Beschaffenheit ─ in welcher allein sie der Anlage und Bestimmung
der Seele entsprechen, demgemäß also Freude, Hedone, bewirken und
damit ein würdiges Ziel der Kunstbestrebung bilden ─ getrübt, und
zwar sowohl nach der Seite des Zuviel als nach der des Zuwenig, getrübt
wird. Derjenige, welcher die Katharsis erfährt, an dem sie sich vollzieht,
ist in beiden Fällen, in dem eigentlichen wie dem uneigentlichen,
nur vergleichsweise so bezeichneten, der Mensch; bei der körperlichen
Katharsis wäre es überflüssig, das Organ zu bezeichnen, an welchem
sich die Katharsis vollzieht, da dasselbe entweder von selbst angezeigt ist,
oder da sich in andern Fällen die Katharsis auf den ganzen Organismus
bezieht: dagegen war es bei dieser Übertragung des Katharsisbegriffes
auf ein ganz fremdes Gebiet unumgänglich erforderlich, den
psychologischen Vorgang zu bezeichnen, auf welchen der Vergleich
der kathartischen Wirkung seine Anwendung finden soll. Denn die Pathe
der Furcht und des Mitleids sind Vorgänge, Bewegungsvorgänge
innerhalb der Seele, die durch Erregung ─ Sollicitation ist ein Ausdruck,
der sehr mit Unrecht von gewissen physiologischen Vorgängen auf
das psychologische Gebiet übertragen ist ─ doch eben hervorgebracht,
nicht fortgeschafft
werden: sollte aber nach übermäßiger Erregung
derselben eine zeitweilige Erschlaffung und dadurch herabgeminderte
Neigung, sich aufs neue ihnen hinzugeben, erzielt werden, so wäre das
ja wieder eine Wirkung, die mit der Tragödie als Tragödie, mit
ihrer Organisation, nicht das Mindeste zu thun hätte, von der in ihrer
Definition zu reden aber der Gipfel der Verkehrtheit wäre. Zu was
für propädeutischen, paränetischen, ja auch medizinischen, psychiatrischen
oder sonst irgendwie tendenziösen Anwendungen kann nicht ein Kunstwerk,
und namentlich ein poetisches, unter Umständen sich geeignet
erweisen, was alles doch das Wesen der Kunst ganz unberührt läßt.

Wird dagegen ─ wie es das gesamte psychologisch=ethische System
des Aristoteles verlangt ─ die Katharsis als eine an den Empfindungsvorgängen
sich vollziehende Ausscheidung dessen gefaßt, was ihnen
Störendes sich beizumischen beginnt, so stellt sich der Schluß der
aristotelischen Definition als ihr wesentlichster Bestandteil
heraus.
Die Forderung, daß die Tragödie eine Furcht und Mitleid
erregende Handlung nachahme, die bei der Bernaysschen Auffassung
allein übrig bleibt und die seit der Erneuerung der aristotelischen Lehre
auch thatsächlich in dieser Lostrennung von der ihr so notwendig zu= [439]
gehörenden zweiten Hälfte der Definition sich überwiegend geltend gemacht
hat, gewährt keinerlei Schutz gegen die gerade hier die Reinheit
der tragischen Gattung am schwersten bedrohenden Ausartungen
und verfehlt daher ihren Zweck.
Je nachdem der
Nachdruck darauf gelegt wird, vor allem das Mitleid zu erregen oder
vornehmlich die Furchtempfindungen hervorzubringen, ist die Tragödie
dann dem Ueberwuchern der Rührung, des Jammervollen oder des
Fürchterlichen, Schrecklichen preisgegeben: in beiden Fällen muß sie
peinlich beengend und belastend wirken, statt erfreuend und erhebend.
Gerade gegen diese Gefahren aber kämpft die aristotelische Lehre am nachdrücklichsten
und höchst erfolgreich an.

So soll nach des Aristoteles unvergleichlicher Theorie, die ─
wie es das Siegel einer musterhaften Definition ist ─ zugleich die
Grunderfordernisse aller künstlerischen Wirkung in sich vereint, die
Tragödie beschaffen sein:

Der Gattung nach soll sie Handlung nachahmen, und
zwar eine solche, die Furcht und Mitleid in Bewegung setzt,

d. h. welche eine große und bedeutungsvolle Schicksalsentscheidung
in sich darstellt,
denn eine solche ist es, und zwar nur
eine solche,
die jene beiden Empfindungen im Verein hervorbringt;
sie konnte auf keine Weise prägnanter und deutlicher bezeichnet werden,
als daß in die Erzielung der Schicksalsempfindungen der
Zweck der Tragödie“ gesetzt wurde. Die Nachahmung erstrebt damit,
es den großen Schicksalen der Wirklichkeit gleichzuthun:

Philosophischer aber als die Geschichte, geht die Kunst über die
Wirklichkeit hinaus! Das Beängstigende und Erschreckende, das
Niederdrückende und Herzzerreißende des Schicksalswaltens
im wirklichen Leben,
alles das in seinen tausendgestaltigen Erscheinungen
wird die tragische Nachahmung, wenn sie ihrem obersten Gesetz,
der Wahrheit, getreu bleiben will, zwar nicht den Ereignissen
nehmen können;
in seiner ganzen Wucht bringt sie es zur Entfaltung
und wirkt also durch Furcht und Mitleid:

Doch bliebe sie dabei stehen, was wäre sie im besten Falle
anders als eine Wiederholung der entsetzlichen und traurigen Erschütterungen,
von denen das reale Leben genugsam und übergenug erfüllt
ist, und über die das Kunstwerk uns befreiend erheben soll?

Hier tritt der Schlußsatz des Aristoteles ein: so hat der Dichter
den Furcht und Mitleid erregenden Handlungsstoff auszuwählen, zu
gestalten (συνιστάναι) und vermöge der dem tragischen Kunstwerk
eigenen künstlerischen Durchführung zu behandeln, daß durch An= [440]
lage, Komposition und Abschluß es die Kraft erhalte, das
in seinem Verlauf unvermeidlich hier und dort erzeugte Übermaß
der einen und der andern tragischen Empfindung durch seine Gesamtwirkung
hinwegzuläutern, die Schicksalsempfindungen
davon befreiend zu entlasten,
dem Hörer somit die Möglichkeit,
Bereitschaft
(δύναμις) herzustellen, daß er der reinen Schicksalsempfindungen
sich erfreue.

Ein späterer Gegner des Aristoteles, den wunderlicherweise Bernays
als Zeugen für seine Theorie heranzieht, der Neuplatoniker Proklos,
hat für diese Wirkung der Tragödie, also für die Katharsis, den synonymen
Ausdruck: τὰς κινήσεις τῶν παθῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν
d. h. „die Bewegungen der betreffenden Empfindungen in harmonischer
Weise herabmindern, zur Harmonie zurückführen“. Und zu noch
stärkerer Bestätigung: Proklos wandte für die aristotelische Katharsis
als gleichbedeutend einerseits den stärkeren Ausdruck ἀπέρασις an
διαμηχανᾶσδαι τῶν παθῶν τούτων ἀπεράσεις τινάς d. h.
„für gewisse Mittel sorgen, die diesen Empfindungen bei Überladung
Abhülfe schaffen
“ ─ andererseits den milderen ἀφοσίωσις == ihnen
beschwichtigend gerecht werden
“; zur Erklärung beider aber fügt
er hinzu: αἱ ἀφοσιώσεις οὐκ ἐν ὑπερβολαῖς εἰσὶν, ἀλλ' ἐν συνεσταλμέναις
ἐνεργείαις == „solche Beschwichtigung liegt nicht in ihrem
Übermaß,
sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigungen“.1

Hier ist nun auch der Ort der viel berufenen musikalischen
Katharsis
zu gedenken, von der die aristotelische Politik handelt, und
aus welcher Bernays seine mißverständliche Auffassung abgeleitet hat.
Aristoteles untersucht an der Stelle das Wesen der Musik hinsichtlich
ihrer Anwendbarkeit für die Erziehung und für noch andere, weiter
gehende Zwecke des Gesetzgebers; er unterscheidet zu diesem Behufe
ethische, die sittliche Kraft spannende, praktische, die Seele zum
Handeln aufregende, und enthusiastische, die Begeisterung weckende,
Lieder. Diesen letzteren schreibt er die Kraft zu, „gleichsam eine
Katharsis
“ im Gemüt zu bewirken, und begründet diese Ansicht fol= [441]
gendermaßen: „Denn die Empfindung, die in einigen Seelen stark auftritt,
ist in allen vorhanden, nur nach dem Weniger oder Mehr verschieden,
wie Furcht und Mitleid, ebenso auch der Enthusiasmus. Denn
es gibt Naturen, die auch diesem Erregungsvorgang vorzugsweise
unterliegen.
Diese sehen wir durch die heiligen Gesänge,
indem sie die Wirkung der die Seele in Entzückung versetzenden Melodien
erfahren, zur Ruhe gebracht, als ob ihnen gleichsam Heilung
zu teil geworden wäre und Katharsis. Ganz dieselbe Wirkung
erfahren natürlich auch (sc. durch die Musik, von der in der ganzen
Stelle die Rede ist) die zum Mitleid oder zu der Furcht besonders stark
Neigenden und überhaupt alle, die irgend einer Empfindung vorzugsweise
unterliegen (παθητικός hat nach Nikom. Eth. II, 7 gerade diese
Bedeutung); von den Übrigen aber erfährt ein jeder so viel
von dieser Wirkung, als die betreffende Empfindung auf
ihm lastet: bei allen wird eine Art von Katharsis vor sich
gehen und sie werden sich freudig erleichtert fühlen.
1

Was hat denn nun Aristoteles mit der „Katharsis des Enthusiasmus
besagen wollen? Dasjenige, worauf er den Nachdruck legt,
ist: daß auch diese Empfindung, die gotterfüllte Begeisterung, gerade
wie Furcht und Mitleid, und die andern Empfindungen alle, in
verschiedenen Stärkegraden erscheine, keineswegs an sich selbst in allen
Fällen eine absolut berechtigte sei. Von diesen verschiedenen Stärkegraden
kann nach seiner Theorie aber nur einer der rechte, richtige,
gesunde, wünschenswerte sein. Welchen nun wird die künstlerische
Nachahmung
sich zum Ziele, als den zu erregenden, setzen,
wenn nicht diesen? Und wie anders kann die Wirkung solcher
künstlerischen Nachahmung sich äußern, als daß, „indem der Hörende
sie in sich erfährt“, sie von dem, „was an der Empfindung ihn belastet
(καθ' ὅσον ἐπιβάλλει αὐτῷ), ihn erleichtert, das Zuviel
(μᾶλλον) ausscheidet (καθαίρει), an dieser Empfindung ihn also
einer Läuterung, gleichsam einer Heilung teilhaftig werden läßt?
Das περίττωμα, das für den erforderten psychologischen Vorgang un= [442]
brauchbar Überflüssige, das Übermaß (ὑπερβολὴ τοῦ παθήματος)
also ist es auch hier, welches ausgeschieden wird ─ genau wie in allen
andern Fällen der Katharsis ─ und für diesen Prozeß kann eine
passendere deutsche Bezeichnung nicht gefunden werden, als in dem Ausdruck
Läuterung“.

Diese Läuterung wird bewirkt durch die schöne Nachahmung des
Enthusiasmus in einer diesem Zwecke geweihten, künstlerischen Musik,
in den „heiligen Liedern“. Das Übermäßige, Falsche, des individuellen,
mehr oder minder krankhaften Enthusiasmus fällt vor dem Eindruck des
echten, wahren in sich zusammen, und die Seele wird davon entlastet.
Freilich ist der eigentliche „Zweck“, dem diese Lieder geweiht sind, immer
der, überhaupt die Entzückung des reinen, schönen Enthusiasmus hervorzubringen;
aber an denen, die von einem Taumel übermäßiger Verzückung
gleichsam „besessen“ (κατακώχμοι) sind, üben sie, indem sie
den Strom der Seelenbewegung in seine rechten Ufer lenken, eine Wirkung,
die für sie einer Kur gleichkommt, so daß also für jene die
kathartische Wirkung „gleichsam eine Heilung“ von Aristoteles genannt
werden konnte.

Übrigens ist das alles nichts spezifisch Aristotelisches, nicht einmal
Hellenisches; es ist vielmehr die klare Definition der Wirkung einer jeden
Kunst, jedes Anschauens der Schönheit und auch jedes Erkennens der
Wahrheit.

Auch haben die Alten den Aristoteles so und nicht anders
verstanden; das beweisen gerade die Äußerungen der Neuplatoniker,
auf welche sich Bernays für seine Theorie so unglücklich berufen hat,
nicht zum mindesten die Stelle bei Jamblichus, mit der die Beweisführung
der Bernaysschen Abhandlung zum Schluß noch einen ihrer
stärksten Trümpfe auszuspielen meint. Jamblichus kämpfte gegen die
aristotelische Katharsistheorie in der Musik lediglich, insofern von ihr
auf den Enthusiasmus Anwendung gemacht wird. Er erkennt
es als „natürlich und menschlich“ an, daß die Musik die
Kraft habe, „Empfindungen einzupflanzen, oder sie von der Wendung
zum Fehlerhaften zu heilen
“: ἐμποιεῖν \̓η ἰατρεύειν τὰ πάθη
τῆσ παρατροπῆς. Aber in seiner mystischen Weise betrachtet er den
Enthusiasmus nicht als einen Empfindungszustand, der überhaupt eines
Übermaßes, einer Abirrung oder fehlerhaften Wendung fähig wäre,
sondern er ist ihm ein unbedingt gotterfüllter Zustand, der in allen
Phasen normal und wünschenswert sei. Deswegen sagt er: bei ihm
„kann von keiner Ausscheidung, Abklärung, Heilung die Rede
sein; denn seinem Ursprunge nach erwächst er in uns nicht als eine [443]
Krankheitserscheinung oder irgendwie in Unmaß und belästigender Überfülle,
sondern vom ersten Anbeginn und in seinem ganzen Verlauf ist
er göttlich“: ἀπέρασιν δὲ καὶ ἀποκάθαρσιν ἰατρείαν τε οὐδαμῶς
αὐτὸ κλητέον· οὐδἐ γὰρ κατὰ νόσημά τε \̓η πλεονασμὸν \̓η περίττωμα
πρώτως ἐν ἡμῖν ἐμφύεται, θεία δὲ αὐτοῦ συνίσταται ἡ πᾶσα ἄνωθεν
ἀρχὴ καὶ μεταβολή. Jamblichus faßt die Katharsis in genauester Übereinstimmung
mit allem, was in Obigem erörtert ist, als einen Vorgang
auf, der das Überflüssige, Störende und also Erkrankung, Verschlechterung
irgend welcher Art Hervorrufende aus einem Körper, einem
Organ oder auch, übertragen, aus einem Bewegungsvorgange fortschafft,
das περίττωμα: also auch er versteht darunter eine Läuterung,
eine Reinigung.
1

Nach dem philologischen Befunde der Sache ─ dessen kritische
Darlegung hier nicht umgangen werden kann, da die Bernayssche
Theorie noch immer wieder Verteidigung gefunden hat ─ stellt sich also
heraus:

1) Daß der Ausdruck „Katharsis“ ursprünglich dem medizinischen
Gebiet angehört ─ eine offenkundige Thatsache, an der weder
Lessing noch irgend ein anderer Erklärer jemals gezweifelt hat ─ und
daß derselbe eine Ausscheidung des Überflüssigen und daher Schädlichen
bedeutet; ebenso auch eine Fortwaschung des von außen störend Anhaftenden:
in beiden Fällen also eine Reinigung.

2) Daß in demselben Sinne der Ausdruck auf ein technischindustrielles
Verfahren übertragen wird: auf die „Läuterung
des Eisens von fremden Bestandteilen.

3) Daß abgesehen von der Übertragung auf das religiöse Gebiet,
wo die Katharsis ebenso eine Fortwaschung des Befleckenden
bedeutet, eine „Lustration“, die weitere Übertragung auf das ästhetische
Gebiet stattfindet, wo, in dem gleichen Sinne wie in allen andern
Fällen, eine Purifikation, eine Reinigung von schädlich Überflüssigem
damit bezeichnet wird, die jedoch gleichnisweise statt an Körpern
geschehend, an gewissen ästhetischen Vorgängen, an Empfindungsbewegungen
sich vollziehend gedacht wird. Eine Empfindungsbewegung [444]
aber wird dadurch von dem Übermäßigen, Falschen, Ungesunden, das
ihr anhaftet, gereinigt, geläutert, daß die richtige, gesunde, daher
dauernd berechtigte Empfindung durch die ihr innewohnende obsiegende
Kraft sich jener gegenüber als die am Schlusse des „Reinigungs“=
Prozesses sich behauptende geltend macht. Solches Endziel der Katharsis
stellt Aristoteles der Tragödie als das Ziel ihrer Wirkung: gegenüber
allen denkbaren Modifikationen der in ihrem Verlauf unvermeidlich aufsteigenden
Furcht- und Mitleidsempfindungen soll sie in ihrer gesamten
Einrichtung das unfehlbar wirkende Heilmittel tragen, das an jenen
die Läuterung vollzieht, sie klärt, zurechtstellt; d. h. mit andern
Worten: sie soll die großen Schicksalsentscheidungen, die ihren Stoff
bilden, so darstellen, daß jedem am letzten Ende die Möglichkeit gewährt
ist, mit seiner Empfindung darüber „völlig ins reine zu kommen“,
dem größten und wichtigsten Lebensrätsel gegenüber den rechten Standort
zu gewinnen und mit dem vollständigsten Einblick darein zugleich harmonische
Beruhigung, Erhebung und das edelste Gefühl der Freude zu erfahren.

Daß aber auch Aristoteles dieses „Gefühl der Freude“, auf das
sich unverkennbar geltend machende Bewußtsein der Übereinstimmung
mit der Natur und Wahrheit setzt, beweist seine Definition der Hedone
in der Rhetorik (s. 1369b 33), wo er den Begriff nicht streng systematisch
entwickelt wie in der Ethik, sondern in kurz und populär gefaßter
Formel bezeichnet. Er nennt die Freude eine κίνησις τῆς ψυχῆς
καὶ κατάστασις ἀθρόα καὶ αἰσθητὴ εἰς τὴν ὑπάρχουσαν φύσιν.
Das heißt nicht: „eine plötzliche Erschütterung und Wiedergewinnung
des seelischen Gleichgewichts“, wie Bernays seiner Theorie von der Ekstase
und Entladung durch Sollicitation zuliebe völlig willkürlich und ganz
falsch übersetzt, sondern: „eine Bewegung der Seele und eine volle
und bewußte Herstellung zu der ihr innewohnenden Natur
“.

Noch eine zweite philologische Frage verlangt zum völligen Erweis
der im Obigen vorgetragenen Auffassung der aristotelischen Definition
eine kurze Erörterung. Die Tragödie soll die Kraft haben, durch die
„Empfindungen“ ─ Pathe ─ der Furcht und des Mitleids die Läuterung
der entsprechenden Gemütsbewegungen“ ─ Pathemata
─ zu vollenden: τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.
Wie νόσοςKrankheit ─ den Namen und damit den Begriff einer
krankhaften Veränderung bezeichnet, νόσημαErkrankung ─ dagegen
das Eintreten derselben in einem einzelnen Falle, der also dem
allgemeinen Krankheitsbilde keineswegs notwendig entsprechen, vielmehr
nach allen Richtungen hin stattfindende, individuelle, so oder so beschaffene
Abweichungen aufweisen wird: so hat Aristoteles die Gewohnheit, mit [445]
dem Ausdruck „Pathos“ den Namen und Begriff eines Veränderungsvorganges
überhaupt zu bezeichnen, mit „Pathema“ die demselben entsprechende,
so oder so beschaffene Verwirklichung an dem Jndividuum.
Er bedient sich der beiden Ausdrücke nach dieser Unterscheidung im allerweitesten
Umfange für alle denkbaren Veränderungsvorgänge auf allen
Gebieten.

Nun liegt es auf der Hand, daß der Begriff eines Veränderungs=
vorganges leicht an die Stelle des Begriffes der dadurch bewirkten
Veränderung treten kann: z. B. die Verpuppung des Schmetterlings,
das Häuten der Schlange, die Veränderungen der Tiere nach den Jahreszeiten,
das Ergrauen, das Dunkeln, das Ausfallen der Haare, das Austrocknen
oder die Versumpfung von Gegenden, überhaupt die mannigfachsten
Vorgänge am Himmel, auf der Erde, im Körper oder in der
Seele können, je nach den Umständen, bald von der einen, bald von
der andern Seite angesehen oder bezeichnet werden. Wenn das Wort
Pathema“ die einzelne Erscheinung eines jeden solcher Vorgänge
bezeichnet, so ist es klar, das der Pluralis davon in manchen Fällen
mit dem Pluralis von Pathos ohne Aenderung des Sinnes mit nur
leichter Nüance
der Wendung abwechseln kann, da es dann durch
die Mehrzahl eben jene Allgemeinheit erhält, die dem Begriff von
„Pathos“ eigen ist. Es würden also in manchen Fällen die Plurale
„Pathe“ und „Pathemata“ nebeneinander vorkommen können, nur niemals,
sobald es dem Autor darauf ankommt, entweder ausdrücklich
die Veränderungsvorgänge oder ausschließlich
deren individuelle Erscheinungen zu bezeichnen.
Dagegen wird
es unmöglich sein, den Singular beider Worte auch nur in annähernd
ähnlichem Sinne miteinander alternieren zu lassen.1

[446]

Nun ist es, gerade wo es auf die Unterscheidung der beiden Begriffe
ankommt, eine der gewöhnlichsten Redewendungen bei Aristoteles,
daß er den begrifflich bezeichneten Veränderungsvorgängen mit den
Worten τὰ τοιαῦτα παθήματα die Angabe der denselben entsprechenden
Verwirklichungsvorgänge folgen läßt. Auf dem Gebiete 1 [447]
der psychischen Empfindungen hat das nun vollends eine höchst prägnante
Bedeutung. Während in vielen Fällen dieser Wechsel im aristotelischen
Sprachgebrauch eben nur ein Zeugnis von der logischen Schärfe
und der Feinheit des Ausdruckes gibt, die dem größten Denker des
Altertums eigen sind, ohne daß wesentliche Verhältnisse des Sinnes 1 [448]
der betreffenden Stellen davon abhingen ─ ein Umstand, in dem die
hinreichende Erklärung dafür zu finden ist, daß bedeutende Forscher
die vorliegende Verschiedenheit des Sprachgebrauchs überhaupt haben
leugnen können ─, ist auf dem psychologisch=ethischen Gebiet diese Unterscheidung
Grundlage für das richtige Verständnis.

[449]

Wie aus des Aristoteles Büchern „Über die Seele“ und aus
seiner nikomachischen Ethik allgemein bekannt ist, betrachtet er die
Pathe“, die Empfindungen, so zu sagen als die elementaren Vorgänge
in der Seele, auf denen alle Lebensäußerungen derselben beruhen. Erst
an ihnen üben der Verstand und die Vernunft, Logos und Nous, als
die der Seele eingeborenen obersten Kräfte, ihr Geschäft, welches darin
besteht, der Bethätigung der Empfindungen das rechte Maß anzuweisen
und das durch dieselbe angeregte Begehrungsvermögen zu den richtigen
Willensentscheidungen zu bestimmen. Der überaus wichtigen Rolle entsprechend,
die Aristoteles den Pathe zuweist, beschäftigen sich alle Disciplinen
seiner Philosophie daher mit ihnen sehr eingehend und, nach
seiner Weise, überall mit den einfachsten Mitteln das hellste Licht verbreitend.
Sein System geht darauf hinaus, die unendlich große
Menge jener elementaren Bewegungsvorgänge der Seele auf eine verhältnismäßig
geringe Zahl von Gattungen zurückzuführen, die er als
die Grundempfindungen mit den durch die Sprache überlieferten Namen
bezeichnet. Jede derselben hat nun ein weites, ja unendliches, Gebiet,
von dem sie umgeben ist und dessen Mittelpunkt sie bildet, sofern man
unter der Bezeichnung des Grundpathos eben die Bethätigung desselben
in der richtigen Weise, aus dem richtigen Anlaß an der richtigen Stelle
versteht. Eine solche normale, gesunde Bethätigung erfüllt die Natur
und Bestimmung der Seele und erweckt als die höchste Vollendung der
nach dieser Seite hin denkbaren Energie in ihr das Gefühl der Hedone,
der Freude. Die Arten der thatsächlichen Verwirklichungen eines jeden
Grundpathos, die Pathemata also, sind ihrer Möglichkeit nach unzählig,
unendlich viele Gradationen sind sowohl nach der Seite des
Zuviel als nach der des Zuwenig denkbar, ebenso hinsichtlich des richtigen 1 [450]
oder unrichtigen Anlasses, der rechten oder unrechten Stelle. Unter
diesen zahllosen Pathemata, die also die unendlich verschiedenen Gestalten,
Formen aufweisen, in denen sich die Grundempfindung verwirklichen
kann, für welche die Sprachen nur verhältnismäßig wenige Bezeichnungen
ausgebildet haben, und zwar die verschiedenen Sprachen
verschiedene, sehr viele sind unbekannt ─ ἀνώνυμα ─ geblieben, gibt
es immer nur eine einzige, die die richtige ist: das Richtige ist eins,
einfach, eingestaltig ─ μοναχῶς ─, das Falsche vielfach, vielgestaltig
πολλαχῶς ─. Auch in dieser einen, allein richtigen Form wird die
Empfindung natürlich, insofern sie sich im einzelnen Falle bei dem einzelnen
Menschen verwirklicht, zu einem Pathema, aber zu einem Pathema, welches
das Wesen des entsprechenden Grundpathos zur vollen, normalen Erscheinung
bringt. Wie kann es nun aber, gegenüber dieser von allen
anerkannten Lehre des Aristoteles, wenn in der Mehrzahl schlechthin
von den einer Grundempfindung entsprechenden Pathemata
─ den τοιαῦτα παθήματα ─ gesprochen wird, zweifelhaft sein, daß
dabei eben an jene unendliche, in ihren Einzelheiten mit
Genauigkeit gar nicht bestimmbare Vielheit der von der
einen Normalform mehr oder minder abweichenden Formen
der thatsächlichen Verwirklichung jener Grundempfindung
zu denken ist, also an ihre unvollkommeneren Erscheinungsformen?
1


Somit zum Schluß dieser unerwünschten, aber durch den Gegenstreit
erzwungenen philologischen Erörterung!

Wenn die Wirkung, auf deren Erzielung die Tragödie eingerichtet
werden soll, durch deren Klarstellung sie also ihrem Wesen nach definiert
wird, von Aristoteles so erklärt ist, daß sie „durch Furcht und Mitleid
die völlige Läuterung der derartigen,
d. h. der diesen
Grundempfindungen entsprechenden Pathemata bewirke
(περαίνουσα
d. i. „völlig“, bis zum Ende durchführe): so sind darin die
höchst objektiven, nur die Kompositionsweise des Kunstwerkes erläuternden
Bestimmungen ausgesprochen, daß:

[451]

1) die durch die Tragödie nachzuahmende Handlung ihrem stofflichen
Jnhalte
nach eine solche sei, welche die Grundempfindungen
der Furcht und des Mitleids zu erwecken vermögend sei;
und

2) die Behandlung dieses Stoffes, Aufbau, Durchführung der
Handlung, Form der Darstellung eine solche sei, daß in dem tragischen
Kunstwerk die Wirkungskraft obwalte, die mannigfachen
Furcht- und Mitleidsempfindungen, die der bloße
Stoff der Tragödie in den vielfältigsten Trübungen, Übertreibungen,
aber auch Verkümmerungen naturgemäß unmittelbar
bei den Zuhörern wach zu rufen nie und nimmer
verfehlen kann, von allen diesen störenden, entstellenden
Beimischungen zu befreien, zu läutern: ihre Wirkung also
damit zu vollenden, daß die von ihr nachgeahmte Handlung
es erzielt hat, den Zuhörer in der höchsten und lautersten
Gemütsverfassung zu entlassen, mit den zur völligen Reinheit
hergestellten Schicksalsempfindungen der echten Furcht
und des echten Mitleids.

Es bleibt nun noch die Aufgabe, diese Empfindungen, die so
Großes wirken sollen, selbst näher zu betrachten. ──────


XXIII.

Es ist oben gesagt worden, daß das Ziel der Wirkung in jeder
Kunst eine Katharsis ist, eine Läuterung des Empfindens, in den bildenden
Künsten wie in der Musik und in der Poesie, und in dieser nicht
nur in der Tragödie und Komödie, sondern ebensowohl auch in der
Lyrik. Nichts ist daher auch gewöhnlicher, als daß von der „heilenden“
Kraft der Dichtung gesprochen wird, gerade wie Aristoteles sie einer
gewissen Art der Musik zuschreibt. Es ist natürlich, daß dieselbe besonders
da hervortritt, und daß von musikalischen und von lyrischen
Wirkungen der Art eben nur da gesprochen werden wird, wo starke,
tiefe, leidenschaftliche Empfindungen der Gegenstand der nachahmenden
Darstellung sind. Hier aber kann als Nebenwirkung, nicht als der
eigentliche Zweck, um dessentwillen sie entstanden sind, auch die Eigenschaft
solcher Kunstwerke hervorgehoben werden, daß sie von der Leidenschaft
belastete, gequälte Gemüter „gleichsam wie eine Kur“ befreien und
ihnen freudige Erleichterung gewähren. Davon handelt eine schöne
Stelle in GoethesWanderjahren“ (Buch 2, Kap. 5), die mit [452]
großem Unrecht als ein Zeugnis für die Bernayssche Theorie in Anspruch
genommen ist. Hier ist die von leidenschaftlichem Schmerz durchwühlte
Erscheinung Flavios geschildert: „sie hatten Orest gesehen, von
Furien verfolgt, nicht durch Kunst veredelt, in greulicher, widerwärtiger
Wirklichkeit.“ An späterer Stelle heißt es dann: „Hier nun
konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen.
Jnnig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem
Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösendem
Schmerz verflüchtigt.“

Natürlich muß die Empfindung, damit an ihr die Läuterung, die
„veredelnde“ Wirkung der Kunst möglich werde, „stark angeregt und
hervorgerufen“ werden, aber, was nun durch diese Wirkungauflösend
verflüchtigt
“ werden soll, ist doch nicht etwa die Empfindung
selbst, sondern es ist das „Seelenleiden“, das Pathematische der
leidenschaftlichen Empfindung: die veredelte, gefaßte, geklärte Empfindung
ist es, die zurückbleibt und an der Stelle der „greulichen, widerwärtigen,
fürchterlichen Wirklichkeit“ nun das Gemüt erfüllt und die
Seele beherrscht. Schöner und treffender kann das Wesen der aristotelischen
Katharsis, als einer psychischen Läuterung, nicht ausgedrückt
werden, als es hier geschehen ist: eine Auflösung und Schmelzung, wobei
das individuell Belastende, häßlich Kranke verflüchtigt und ausgeschieden
wird.

So tritt es denn nun auch klar hervor, warum in der Tragödie
die Forderung der Katharsis die wichtige Stelle einnimmt und in ihrer
Definition kategorisch gestellt wird. Denn die Empfindungen, deren
Nachahmung sie geweiht ist, sind die schrecklichsten, ängstigendsten, die
quälendsten, herzzerreißendsten, die das Leben in seinem Wechsel heraufruft,
die es immer wieder, wenn sie etwa in Schlaf gelullt sind, aufweckt,
und mit denen es keinen verschont. Kann es eine höhere Aufgabe
geben, als gerade sie durch die Kunst zu veredeln und das Bild
der furchtbarsten und ergreifendsten Erscheinung des Lebens für den
Betrachter von den entstellenden Zügen „greulicher Wirklichkeit“ zu reinigen
und in auflösendem Schmerze aus der Empfindung desselben das
leidvoll Verwirrende zu verflüchtigen?

Wenn Lessing von den tragischen Empfindungen immer nur als
von „Leidenschaften“ spricht, so gibt der Ausdruck freilich leicht zu mißverständlichen
Auffassungen Anlaß, aber er ist doch andrerseits nicht
ungeeignet, auf die Macht und Gewalt hinzuweisen, mit der jene Empfindungen
im Leben auftreten. Und wenn von Lessing die letzte Wirkung
der tragischen Katharsis in die Formel gefaßt wurde, daß sie jene [453]
„Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ verwandele, so ist die Wendung
unglücklich genug gewählt und scheint sich höchst bedenklich in das
Moralgebiet zu verirren; sie kann aber dennoch von dem Kundigen in
echt aristotelischem Geiste aufgenommen werden: man verstehe nur darunter
─ und es läßt sich nicht nachweisen, daß Lessing etwas anderes gemeint
habe ─ die Umwandlung der „Leidenschaften“ in diejenigen berechtigten,
d. i. gesunden, richtigen Empfindungen, wie sie von Aristoteles eben
auch als die Voraussetzungen richtigen d. i. „tugendhaften“ Handelns
betrachtet werden. Damit wäre an sich keineswegs behauptet, daß von
der tragischen Kunst eine unmittelbare Einwirkung auf die Moral ausgehe;
daß ein mittelbarer Zusammenhang zwischen beiden Gebieten,
dem ästhetischen und dem moralischen, bestehe, kann nicht geleugnet
werden und ist von allen größten Dichtern aller Zeiten geglaubt worden:
eine Veredelung des Empfindens durch die Kunst, und sei es, daß sie
auch nur wie ein kurzer Sonnenblick einmal das Gemüt erhelle, ist zum
mindesten immer ein Beitrag für eine der wesentlichsten Vorbedingungen
zur Sittlichkeit.

So ist der Hauptsache nach Lessings Wiedergabe der aristotelischen
Definition der Tragödie mehr dem Ausdruck als dem Sinne nach eine
verfehlte. Anders steht es mit seiner Auffassung der „tragischen Affekte“;
hier ist er einem sehr folgenschweren Jrrtum verfallen. Wenn er sich
das große Verdienst erwarb, die berühmten Definitionen des Furcht=
und Mitleidsbegriffs aus der Rhetorik des Aristoteles für das Verständnis
der Poetik herangezogen zu haben, so verdunkelte er das dadurch
geschaffte Licht doch sogleich, indem er das enge Wechselverhältnis,
in welchem nach des griechischen Philosophen überaus feinsinniger Darstellung
die beiden Empfindungen stehen, so interpretierte, als ob der
eine der beiden nun an sich notwendig in dem andern enthalten oder
doch mit ihm untrennbar verbunden sein müsse.

Eine Abweichung von den überzeugenden Lehren des Aristoteles
über die Natur der tragischen Grundempfindungen ist zugleich eine Abweichung
von der Wahrheit.1

Darin hat Lessing vollkommen richtig gesehen, und es ist mit Unrecht
später von Bernays, noch mehr von einigen seiner unbedingten
oder bedingten Anhänger, wieder in Zweifel gezogen, daß Phobos nur
die Furcht bedeuten kann, die wir für uns selber hegen, nicht die
Furcht für andere, z. B. also für den tragischen Helden auf der Bühne. [454]
Die Furcht für andere ist allerdings gar nichts anderes als Mitleiden;
das würde aus den aristotelischen Definitionen klar hervorgehen,
auch wenn er nicht ausdrücklich es mehreremal ausspräche,
„daß das Furchtbare, welches andern geschieht oder bevorsteht,
mitleiderweckend ist
“; und ebenso, daß die darstellenden
Schauspieler, indem sie uns ein Unglück, sei es als ein bevorstehendes,
sei es als ein geschehenes, unmittelbar vor Augen führen,
in besonders hohem Grade unser Mitleid erregen.

Die „Furcht für andere“ ist nur eine besondere Form des Mitleids,
Phobos
aber schlechterdings nur die Furcht für uns selbst.
Eine einfachere und klarere Unterscheidung läßt sich nicht denken, als
die von Aristoteles gegebene Definition der „Furcht“: „eine Unlust
und Beunruhigung aus der Vorstellung eines bevorstehenden
schweren Übels.
“ Dennoch ist auch dieser einfache und klare Satz
durch den Wust schielender Kommentationen verwirrt und getrübt. Sie
konstruieren sich die Unterscheidung eines uns selbst sicher und nahe
drohenden wirklichen Übels und eines Übels, das wir auf der Bühne
anderen drohen sehen, und geraten nun in Zweifel, wie die „wirkliche
und die „tragische“ Furcht auseinanderzuhalten seien. Nichts kann verkehrter
sein. Die Furcht ist in allen Fällen eine wirkliche, eine andere
Furcht kann es nicht geben. Sie kann nur eine stärkere oder eine schwächere
sein; und der Grad der Furcht hängt davon ab, wie nahe uns die
Vorstellung des Übels
gerückt wird. Ob dieser Vorstellung, für
welche
das Übel als ein nahes erscheint (σύνεγγυς φαίνηται), irgend
ein wirklicher Vorgang zu Grunde liegt oder nicht, ist für das Eintreten
der Furcht ganz gleichgültig. Es genügt, daß uns die Vorstellung eines
Unglücks als bloße Möglichkeit nahe genug gelegt wird, um uns
in die Disposition zu versetzen, daß „auch wir es wohl für uns erwarten
könnten, oder einer der uns Zunächststehenden“, und sofort
werden wir von Furcht bewegt sein, von jener „Unruhe und schmerzlichen
Empfindung“, von der die aristotelische Definition redet. Nicht
umsonst ist ihr diese weite Fassung gegeben; und wie sehr entspricht sie
der Wahrheit! Wir brauchen uns nur selbst, oder es braucht nur ein
anderer unsere „Phantasie“ nach jener Richtung in Thätigkeit zu
setzen, so entsteht die Furcht um so stärker, je lebhafter die Vorstellung
des Übels ist, als eines in möglich gedachter Zukunft vorschwebenden,
drohenden: ἡ φαντασία μέλλοντος κακοῦ. Ganz dasselbe kann also
die bloße Erwähnung eines Unglücksfalles leisten, besonders natürlich für
solche, die sich der gleichen Eventualität ausgesetzt fühlen, was bei allgemein
menschlichen
Leiden lediglich von der Sinnesart des Einzelnen [455]
abhängt: in weit höherem Grade aber wird eine lebhafte Schilderung jenes
Falls die gleiche Wirkung hervorbringen, im höchsten Grade eine lebendige
Vorführung desselben, weil erstlich das „furchtbare“ Ereignis der
„Phantasie“ um so näher gerückt wird, und sodann es beiden Darstellungsformen,
der epischen wie der dramatischen, in die Hand gegeben
ist, die für die Furchtempfindung empfängliche Disposition
zugleich bei dem Hörer hervorzubringen.

Um die Konfusion aber vollständig zu machen, hat man nun außer
der „wirklichen“ und der „tragischen“ Furcht noch eine dritte, die
eigentliche“ herausgetüftelt, die nach Aristoteles von der tragischen
ganz verschieden sei, da sie zum Mitleid unfähig mache, es vertreibe
(ἐκκρουστικὸν τοῦ ἐλέου sei). Ein noch schlimmeres Mißverständnis.
Diese Behauptung stellt Aristoteles von keiner Art der Furcht auf, sondern
von einem Schrecklichen, welches geschehen ist, dem δεινόν.
Man sollte meinen, das sei nicht schwer zu verstehen; und dennoch hat
sich auch um diese einfache Bemerkung eine ganze Gruppe mißdeutender
Scholien angesiedelt. Natürlich! Wenn das Schreckliche eingetreten ist,
kann von Furcht nicht mehr die Rede sein; eine Stimmung tritt bei dem
Betroffenen ein, die die Mitleidsempfindung verdrängt, ja sogar das
Gegenteil derselben zu erzeugen fähig ist, die Freude über fremdes
Leid. Noch
aber ist man dem Mitleid zugänglich, solange jenes
Schreckliche droht, eben weil man dann noch Furcht empfindet.

Alle jene angeblich verschiedenen Gattungen der Furcht existieren
weder bei Aristoteles noch existieren sie überhaupt. Sie entsteht
in allen Fällen aus der Vorstellung eines Übels, das sich der Phantasie
als ein obschwebendes (μέλλον) darstellt, mag nun die Phantasie
durch einen wirklichen oder durch einen nur vorgestellten
Vorgang zur Thätigkeit angeregt werden. Ganz und gar also ist das
Eintreten der Furcht von der Vorstellung abhängig: denn es kann ja
auch ein thatsächlich drohendes schweres Übel entweder in der Phantasie
sich fälschlich gar nicht als ein solches darstellen oder mit Bewußtsein
von ihr nicht als ein solches betrachtet werden, und ebenso
kann das umgekehrte Verhältnis eintreten, daß ein gar nicht bevorstehendes
Übel als drohend angesehen wird, oder ein wirklich herannahendes,
aber leichtes irrtümlich als schwer vorgestellt oder mit ganz
richtiger Beurteilung der Sachlage doch individuell so geschätzt wird.

Jm Seelenzustande des Fürchtenden also liegt das Moderamen
dieser Empfindung: nicht allen ist dasselbe furchtbar, sagt Aristoteles,
und nicht in demselben Grade (s. Nikom. Eth. III, K. 10. 1115b 7). Oder,
wie er es im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Rhetorik ausführt: [456]
alles kommt gegenüber einem Ereignis, welches an sich die Bedingungen
für die Entstehung der Empfindung vereinigt, noch darauf an, wie
wir uns zu demselben verhalten:
πῶς διακείμενοί ἐσμεν.

Nun ist aber nichts einleuchtender, als daß dieselben Ereignisse,
die unsere Furcht erwecken, sobald sie unserer Vorstellung als uns selbst
bevorstehend sich darstellen, uns zum Mitleid bewegen müssen, wenn wir
sehen, daß andere davon betroffen werden oder sie drohend über andern
schweben. Lessing hat trotz aller dagegen erhobenen Einwürfe buchstäblich
recht, wenn er im 76. Stück der Hamburger Dramaturgie sagt:
„Aristoteles war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst
errege, auch unser Mitleid erregen müsse, sobald wir andere damit bedroht
oder davon betroffen erblickten; und daß das eben der Fall der
Tragödie sei, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns,
sondern andern begegnen sehen.“

Richtig sagt Lessing auch ferner: Aristoteles habe von einem
Affekte des Mitleids nur gesprochen, sofern er mit Furcht verknüpft
sei; die schwächeren Regungen des Mitleids, die nach Lessing nicht ganz
ohne Furchtempfindung sind, habe er unter dem Philanthropon verstanden,
womit er die Liebe bezeichnet, die der Mensch zu seinesgleichen eben als
Menschen hegt. Lessing that sehr recht, diese allgemein menschliche Teilnahme,
die Aristoteles nicht in seinen Begriff des Eleos hineinzieht, von
dem Begriff des tragischen Mitleids zu sondern, denn unserm gewöhnlichen
Sprachgebrauche nach rechnen wir sie allerdings zum „Mitleide“
hinzu. Wir können „Mitleid“ auch mit dem empfinden, der unter den
wohlverdienten Strafen seiner Laster oder Verbrechen leidet; Aristoteles
nennt diese Empfindung „Philanthropie“ und empfand „Eleos
nur bei dem Anblick oder der nahen Erwartung des unverdienten
Leidens anderer.

Dann aber verfällt Lessing in den großen Fehlschluß, der die ganze
Folgezeit nicht aufgehört hat, die Theorie in die Jrre zu führen:
strenge genommen hätte Aristoteles in eine logische Definition
der Tragödie auch nur die Erwähnung des Mitleids
aufnehmen müssen, da aus demselben ja die Furcht sich von
selbst ergebe;
die aristotelische Definition sei aber keine streng
logische,
er habe die Furcht nur miterwähnt, um an den vierfachen
gegenseitigen Reinigungsprozeß zu erinnern, den Furcht und Mitleid
aneinander auszuüben hätten. Hier ist Lessing einmal in dem felsenfesten
Vertrauen auf seinen Philosophen wankend geworden, und die
Folgen sind recht schlimme gewesen.

Man hat sich nun die beiden Empfindungen nicht anders denken [457]
können, als so miteinander verknüpft, daß mit dem Auftreten der einen
notwendig auch zugleich die andere in Thätigkeit gerate, daß also in
und mit dem Mitleid die Furchtempfindung gegeben sei, daß demzufolge
der Tragödie, wo fremdes Leiden dargestellt werde, nur die Erweckung
des Mitleids zum Ziel gesetzt werden dürfe. Das ist aber ebenso unaristotelisch
als an sich unrichtig.

Aristoteles sagt: „Das Mitleid ist ein Schmerzgefühl über ein vor
unsern Augen jemanden unverdient treffendes, verderbliches und schmerzliches
Übel, welches man auch wohl selbst zu erleiden oder es einen
der Angehörigen leiden zu sehen erwarten könnte, und ebenso findet
es statt, wenn das Übel als ein nahe bevorstehendes erscheint.“1 Damit
ist nicht gesagt, daß man das bemitleidet, was man für sich selbst
thatsächlich fürchtet,
sondern es ist die Beschaffenheit des Übels,
mit dem man Mitleid zu empfinden fähig ist, als eine solche gekennzeichnet,
daß man es fürchten würde, wenn es einem in Wirklichkeit
drohte oder wenn man es als ein solches sich vorstellte. Ganz ebenso
erklärt er hinsichtlich der Furcht: „Kurz gesagt, furchterregend ist alles
das, was, wenn es einem andern geschieht oder bevorsteht, mitleiderregend
ist.“2 Damit ist einfach gesagt, was uns selbst Furcht erregt,
würde, wenn es andern geschähe oder bevorstände, unser Mitleid
in Bewegung setzen.

Das Verhältnis ist also dieses: ein schweres Unglück, unter welchem
wir jemanden unverdient leiden sehen, mag es nun ein wirkliches oder
nachgeahmtes sein, wird unser Mitleid erregen, sobald es so beschaffen ist,
daß bei uns die Vorstellung, auch wir könnten demselben ausgesetzt sein,
möglich ist. Das ist nichts als eine für den Begriff des Mitleids
erforderliche Bestimmung, wie es für den der Furcht erforderlich ist zu
sagen, wir fürchten das, was uns bei andern mitleidswürdig erscheinen
würde. Wie nun bei starker Furcht vor wirklichem, nicht vorgestelltem,
drohendem Übel das Mitleid beeinträchtigt, ja sogar leicht erstickt wird, [458]
so ist für die Entstehung des Mitleids das gleichzeitige thatsächliche
Eintreten der Furcht wenigstens keineswegs notwendig. Es ist gar
nicht erforderlich zum Wesen des Mitleids, daß jene Möglichkeit der
Furchtvorstellung eine Wirklichkeit werde. Wir können sehr starkes
Mitleid empfinden, ohne daß jene Furchtdisposition, welche die
unbedingt notwendige Voraussetzung dazu ist, zur Thätigkeit gelange,
d. h. ohne daß wir thatsächlich fürchten.

Das Eintreten der Furcht hängt von der individuellen Beschaffenheit
und Lage des Einzelnen ab, die darüber entscheiden, ob das Leiden
eines andern, das er vor sich sieht, ihm die Vorstellung erwecke, daß
er selbst davon betroffen werden könnte. Zum Mitleiden aber ist es
vollkommen ausreichend, daß die Umstände jenes fremden Leidens solche
seien, daß für den Fall, daß er sich in die gleiche Lage mit dem
Leidenden setzt, sie ihm als furchterregend erscheinen. Diese Stimmung,
daß wir etwas, womit wir Mitleid fühlen, fürchten würden, wenn
es uns bevorstände, ist aber keine Furcht.

Schon hier ist es evident, welch einen großen Unterschied es für
das Verfahren des tragischen Dichters macht, ob er der Lessingschen
Theorie sich anschließt oder den Jrrtum derselben erkennt. Nach Lessing
genügt es einen Stoff auszuwählen, der Mitleiden erregt; daß der
andern Forderung des Aristoteles Genüge geschehe, wäre damit schon
außer Frage. Dadurch ist das gewaltige und unentbehrliche Korrektiv,
das in dieser zweiten Forderung liegt, einfach eliminiert. Die ganze
Schar der sogenannten rührenden Trauerspiele hat durch diese breit geöffnete
Pforte ihren Einzug gehalten. Auch Schiller erkennt in der
Erweckung der Rührung den einzigen Zweck der Tragödie, und nur die
überwiegende Kraft seines unbeirrbaren genialen Jnstinktes bewahrte ihn
vor den schlimmen Fehlern seiner theoretischen Spekulation. Gerade
gegenüber dem vorwiegend die Rührung, das Mitleiden erweckenden
Stoff gilt es alle Mittel der Kompositionsweise und Darstellung in Bewegung
zu setzen, um die bloßen Stimmungsansätze des korrespondierenden
Affektes zur wirklich eintretenden Furcht zu steigern, die Vorstellung
des Zuschauers also dahin zu bringen, daß er sich demselben
Gesetz unterworfen fühlte, das er hier walten sieht: solcherweise also
das Mitleid in seine richtigen Grenzen einzuschränken und ihm die zum
völligen Gleichmaß gesteigerte Furcht ebenbürtig, zu inniger gegenseitiger
Durchdringung der beiden Empfindungen an die Seite zu stellen. Das
ist aber nur an einem solchen Stoff möglich,
der es zuläßt, zur
Allgemeinheit erhoben zu werden; nur ein solcher kann dazu geformt
werden, das allgemeine, Welt und Menschheit regierende Schicksalsgesetz [459]
nachahmend vor Augen zu führen; damit allein gewinnt er zugleich das
Attribut der Größe, das Aristoteles von jeder tragischen Handlung
verlangt. Verträgt der Stoff aber solche Ausweitung und Erhebung
nicht, ist er auf ein individuelles, durch Einzelzufälle und besondere
pathologische Verhältnisse bedingtes Unglück eingeschränkt, so ist er tragisch
unbrauchbar und zu verwerfen,
obwohl er immerhin noch
Mitleiden und Rührung zu erwecken imstande sein, ja sogar sie in
überaus hohem Grade anzuregen geeignet sein kann. Das eigentliche
Musterstück der Lessingschen Theorie, seine Emilia, ist von dieser Singularität
des darin dargestellten tragischen Falles nicht völlig freizusprechen:
das Mitleid wird durch das Stück in ausgiebigster Weise angeregt, aber
sowohl hinsichtlich der Heldin als für die tragische Hauptfigur, den
Odoardo, fehlt es an sehr wesentlichen Schattierungen, durch die es erreicht
würde, der Handlung das Gepräge eines Schicksals zu verleihen,
das in der Gewalt seines unaufhaltsamen Vollzuges jeden Zuhörer
widerstandslos mit sich fortrisse, einen jeden mit der Ehrfurcht erfülle,
einem für alle geltenden Gesetze sich erschüttert und doch gefaßt gegenübergestellt
zu sehen.

Die antike Tragödie besaß, um dieser Wirkung gewiß zu sein,
ein unvergleichliches Mittel in dem Chore, dessen durch die Macht der
Musik und des feierlichen Tanzes unterstützte Lieder die tragische Wucht
der Handlung in jedem von dem Dichter gewünschten Grade zu verstärken
vermochten. Die moderne Tragödie muß dieselbe Wirkung allein
durch die Komposition der Handlung erreichen.

Es ist schwierig, dieses verborgenste Wesen der Tragödie zu erörtern,
ohne Mißverständnisse zu erregen. Gleich der soeben im tadelnden
Sinne angewandte Ausdruck der „Singularität“ der Handlung gibt
dazu reichlichen Anlaß. Die äußern Umstände der Handlung, ja auch
selbst die Charaktere können so singulär sein, wie nur irgend denkbar,
ohne daß dadurch der echt tragischen Wirkung Eintrag geschieht ─ wie
kann man sich Charaktere von stärker ausgeprägter Eigenart vorstellen
als den Sophokleischen Ajas oder Shakespeares Lear, und ist eine
singulärere Handlung zu ersinnen als die des Ödipus? ─: die Hauptsache
ist, daß das dargestellte schwere Schicksal nicht allein unwiderstehlich
unser Mitleid errege, dessen alles fremde unverdiente Leiden sicher ist,
sondern daß es die Furcht ebenso unwiderstehlich in Bewegung setze,
dieses Schicksal sei die einzelne Erscheinung eines Gesetzes, dem auch wir
notwendig unterworfen seien: es sei also als solches nicht singulär!
Nur solche Umstände der Handlung machen demzufolge
die Handlung untragisch, die das daraus hervorgehende Leidensschicksal [460]
als ein einzelnes, zufälliges erscheinen lassen: ihm würde die Allgemeinheit
fehlen, wir fühlen uns demselben nicht ausgesetzt; obwohl
wir immerhin es bemitleiden werden, erregt es uns die Furcht nur
in geringerem Grade oder auch gar nicht. Ebenso werden alle solche
Singularitäten der Charaktere
die tragische Kraft der Handlung
abschwächen, die das unverdiente Leiden aus einer gewissen Willkür
der Handelnden herleiten, statt daß wir es aus jenen unvermeidlichen
Schwächen fließen sehen, denen auf seine Weise ein jeder sich
ausgesetzt fühlt, so daß er, wenn auch nicht gerade dem vorgestellten
Leiden,
so doch in dem Bilde desselben dem Leiden überhaupt
sich gleicherweise preisgegeben fühlt. Die geringste Beimischung
einer solchen Willkür, die uns den Schluß nahelegt, daß trotz allem,
was geschah, das schwere Leiden noch hätte vermieden werden können,
schwächt unsere Furcht ab, ja kann sie ganz aufheben, mögen wir
immerhin aus dem Charakter der Handelnden
uns diese Willkür
vollkommen erklären können. Das Schicksal erhält damit, soweit
diese Willkür sich erstreckt, den Anstrich eines frei gewählten und verliert
seine Allgemeinheit.

Nichts Verkehrteres kann es geben, als was von den Erklärern
über den Begriff der tragischen Furcht vorgebracht ist, von dem die
einen behaupten, daß er schlechtweg ein Unding sei, die andern, daß es
unmöglich zu ermitteln sei, wie Aristoteles sich denselben gedacht habe.
„Was müßte das für ein wahnwitziger Zuschauer sein,“ heißt es bei
dem einen,1 „der bei dem Anblicke oder bei dem Anhören der berühmten
Sophokleischen Tragödie ‚König Ödipus‘ plötzlich von der Furcht ergriffen
würde, er selbst werde seinen Vater töten, seine Mutter heiraten
und schließlich sich die Augen ausbohren, oder einem seiner nächsten
Verwandten werde solches begegnen?“ Oder wenn ganz ähnlich von
einem andern gesagt wird:2 „Es ist nun aber auch ganz unwidersprechlich,
daß die von der Tragödie anzuregende Furcht von der eigentlichen
durchaus verschieden ist. Die Tragödie kann uns nie und nimmer die
Vorstellung eines uns oder den Unsrigen wirklich und sicher nahe bevorstehenden
Unheils erregen!“ Ob wir es uns so vorstellen oder nicht,
ist lediglich unsere Sache und kümmert die Tragödie gar nicht. Diese
hat in Bezug auf die Furcht weiter nichts zu thun, als uns die Vorstellung
eines schweren Schicksals überhaupt
in der Weise
nahe zu führen, daß an die Stelle der Sicherheit das unruhige Gefühl [461]
(ταραχή) tritt, auch wir seien Ähnlichem ausgesetzt. Das geschieht,
wie die Poetik in Übereinstimmung mit der Erfahrung lehrt, wenn wir
veranlaßt werden, uns deutlich zu machen, der Leidende sei uns ähnlich,
und zwar nicht in Bezug auf die besondern Umstände
seines Wesens oder seiner Begegnisse,
sondern in Bezug auf
den einen Umstand, daß er zu der Möglichkeit des Leidens in
dem gleichen Verhältnis stand wie wir, daß er ohne Verschulden
um kleinen Fehlers willen unvermeidlich schwerem Geschick
verfiel.

Die Unvermeidlichkeit solches Geschickes ist eine Thatsache, die nur
dem Unerfahrenen oder dem Acht- und Sorglosen verborgen sein kann,
der gegenüber aber die rechte Stellung einzunehmen zu allen Zeiten
eines der wichtigsten Anliegen der Menschheit gewesen ist. Die Religion
vor allem ist von jeher hier mit ihren Satzungen eingetreten,
neben und mit ihr sodann durch die unmittelbare Wirkung auf die
Empfindungen die Kunst. Das „furchtbare“ Geschick des Ödipus ist
„für uns“ nicht dadurch furchtbar, daß wir nach der ganz verkehrten
Unterstellung jenes soeben citierten Erklärers genau dasselbe nun als
uns selbst bevorstehend uns vorstellen sollten, sondern durch die Vorstellung
der „vielen Verwirrungen, die die Himmlischen den Erdgeborenen
zudenken, durch den tieferschütternden Übergang von der Freude
zu Schmerzen“.1 Nicht ein „blindes Fatum“ ist es, wie so oft in
völliger Verkennung behauptet wird, das uns hier vorgeführt wird,
noch beruht, nach Schillers sehr verfehltem Ausdruck, die Wirkung des
Stückes auf der „Neugier“ des Ödipus, die wir vor unsern Augen entstehen,
wachsen und sich vollenden sehen,2 noch entspricht das antike
Trauerspiel überhaupt dem Begriff, den man sich in neuerer Zeit von
der sogenannten „Schicksalstragödie“ gemacht hat: vielmehr stellt kaum
irgend eine andere Dichtung das Wesen der Gattung so rein dar als
die Labdakiden-Tragödie des Sophokles; sie steht darin den größten
Schöpfungen des Äschylus ebenbürtig zur Seite.

Unterwerfung unter das Geschick fordert die christlich=moderne
Ethik so gut als die griechische: wenn hier fromme Scheu vor den
Sprüchen der Götter gefordert wird und gläubige Anerkennung einer
von Anbeginn geordneten „Heimarmene“ und einer alles lenkenden und
ausgleichenden „Moira“, so heißt es dort, daß denen, die Gott lieben,
alle Dinge zum Besten dienen müssen, und daß das Vertrauen auf die [462]
göttliche Gerechtigkeit und, nach dem Psalmisten, die „Furcht des Herren“
der Weisheit Anfang sei. Freilich ist das Gebiet der Kunst von dem
der Moral strengstens geschieden; aber hier ist ein Punkt, wo beide sich
berühren: die Tragödie ist gerade aus dem allgemein menschlichen Bedürfnis
entstanden, die Vorstellung furchtbarer Schicksale, wie sie der
Sage und Tradition unverlöschlich sich einprägen, im Gemüte mit
jenen Satzungen der religiösen Ethik zu vereinbaren, so daß die Empfindung
zugleich damit erfüllt und ausgesöhnt, daran erhoben
und beruhigt werde.

Es war eine der griechischen Empfindungsweise tief eingeprägte
Vorstellung, daß nichts so verderblich sei als der Mangel dieser Furcht
und Scheu vor der Macht der Götter; die „Hybris“, die durch Erfolg
und lang anhaltendes Glück genährt in sicherem Selbstgefühl sich der
Abhängigkeit von dem göttlichen Willen enthoben meint, galt ihnen als
der sichere Vorbote unvermeidlichen Sturzes, weil Maßlosigkeit im Handeln
untrennbar damit verbunden ist. Machtfülle und selten hohes
Glück erzeugen die stolze Sicherheit und Überhebung in ihrem Schoße
und erregen damit den bangen Zweifel an ihrer Beständigkeit. „König
Ödipus
“ ist vor allen andern die Tragödie der tragischen Furcht,
wie der Chor in seinem Schlußgesang ihr Ausdruck verleiht:


„Jhr Bewohner meiner Thebe, sehet, das ist Ödipus,

Der entwirrt die hohen Rätsel und der erste war an Macht,

Dessen Glück die Bürger alle priesen und beneideten,

Seht, in welches Mißgeschickes grause Wogen er versank!

Drum der Erdensöhne keinen, welcher noch auf jenen Tag

Harrt, den letzten seiner Tage, preise du vorher beglückt,

Eh' er drang ans Ziel des Lebens, unberührt von Schmerz und Leid.

Jm schroffsten Gegensatz zu der Auffassung, aus der die moderne
„Schicksalstragödie“ hervorging, hielten die Alten schweres, unverschuldetes
Unglück nicht für das Werk eines blinden Zufalls, sondern sie
sahen den für blind an,
der darin, auch wenn er dem Geschick
nicht auf den Grund zu blicken vermochte, nicht gläubig das Walten
der Gottheit erkannte und verehrte. Die griechische Tragödie verlangt
klar bewußte, entschlossene Ergebung in das unabänderliche Gesetz, daß
„nie im Leben waltet das Glück lauter und frei vom Leide“.1

So greift sie freilich auf den Höhepunkten ihrer mit
dieser Furcht uns durchschauernden Wirkungen
zum herbsten [463]
Ausdruck. So, wenn im „König Ödipus“ der Chor seinen Gesang
anhebt:1


Jhr Menschengeschlechter, ach!

Euch, die leben im Lichte, wie

Zähl' ich ähnlich dem Nichts euch!

Denn welcher der Sterblichen

Nimmt ein größeres Glück dahin,

Als soviel ihm der Wahn verleiht,

Bis vom Wahn er hinabsinkt?

Durch dein gräßliches Los gewarnt,

Dein unseliges Mißgeschick,

Armer Ödipus, preis' ich nichts

Glückselig auf Erden.

Tiefernst ist diese Schicksalsauffassung der griechischen Tragödie;
aber es wäre eine Täuschung, sie für pessimistisch=verzweifelt, für fatalistisch=resigniert
anzusehen. Sie ist es so wenig als etwa die von der
modern=christlichen Ethik recipierte Anschauung, daß die „Züchtigungen“
des Schicksals ein Zeichen „der Liebe Gottes“ seien. Daß über die
antike Tragödie so ganz entgegengesetzte Vorstellungen sich verbreitet
haben, dürfte seinen Hauptgrund darin haben, daß man als allgemeine
Lebensmaximen
aufgenommen hat, was doch nur als der
einer bestimmten dramatischen Situation natürlich, ja unausbleiblich
entsprechende Stimmungsausdruck zu fassen ist: einem
furchtbaren Ereignis gegenüber die unmittelbar dadurch aufgeregte Äußerung
heftigst bewegter Furchtempfindung. Wem erschiene in solchen
Momenten nicht das Leben der schwachen Sterblichen nichtig, wertlos,
jedem Ansturm schutzlos preisgegeben? Solche leidenschaftlichen ─ pathematischen
─ Ergüsse, wie die Weisheit des Dichters in sorgfältiger Berechnung
ihrer Wirkung ihnen Platz gewährt, ändern nichts daran, daß
bei dem Dichter wie bei seinen Personen und bei den aufhorchenden
Zuschauern die Grundansicht unerschüttert bleibt ─ die am letzten Ende
ja im Gefühl zur siegreichen Geltung zu bringen der eigentliche Zweck
der Tragödie ist ─: jedes Schicksal entstammt der Μοῖρα ἀπὸ τῶν
θεῶν, dem von den Göttern ausgeführten uralten gerechten und weisen
Schluß der Vorsehung; dem Menschen erwächst das Heil allein in der
willigen, ehrfürchtigen Anerkennung ihrer Macht; vor verhängnisvollem
Fehl bleibt keiner bewahrt; am meisten jedoch der, in welchem das tiefe,
aber gefaßte Mitgefühl mit dem vom Schicksal verhängten Leiden und [464]
die stets rege, aber im Bewußtsein großer allgemeiner Gesetze über
Selbstsucht und Schwäche hoch erhabene Furcht die Besonnenheit des
Sinnes nähren und das rechte Maß der Haltung befestigen.

Nur in solcher Betrachtung lassen sich Äußerungen recht verstehen,
wie die berühmte Chorstrophe aus dem Ödipus Koloneus:


Nie geboren zu werden, ist

Weit das Beste; doch wenn du lebst,

Jst das Zweite, dich schnell dahin

Wieder zu wenden, woher du kamest.

Denn entschwand erst die Jugendzeit,
1
Leichten, thörichten Sinnes voll,

Wer drang weiter noch vielgeplagt,

Wer, nicht mitten in Drangsalsnot?

Mord, Hader, Aufruhr, Kriegeskampf,

Neid und Haß: am düstern Ende

Naht sich verachtet

Öde, kraftlos, aller Freude

Leer, das Alter, dem sich jedes

Wehe des Weh's gesellt hat.

Finden doch diese bang ergreifenden Dissonanzen in den herrlichen
Schlußaccorden des Ganzen ihre voll beruhigende Auflösung! Wenn
nun, nachdem der Bote von dem geheimnisvoll verklärenden Abscheiden
des Dulders berichtet, in dem Wechselgesange des Chors und der Töchter
des Ödipus die Mitleid- und Furchtempfindungen zum vollkommensten
Gleichgewicht (συμμετρία) verschmelzen:


Der Chor:

Hört, ihr geliebten edlen Kinder:
Was ein Gott zum Heil gefügt,
Tragt es, den Schmerz bezwingend; noch dürfet ihr nicht verzagen.

[465]
Antigone:

So war denn Wonne selbst im Leide;
Freundlich erschien mir ja selbst Unfreundliches,
So lang ich ihn nur hielt in meinen Armen.
Vater, ins ewige
Dunkel der Erde gehüllt, o Geliebtester!
Ewig ja bleiben wir, ich und die Schwester, dir
Mit unsrer Liebe nahe!


Chor:

Jhm wurde ─


Antigone:

Jhm wurde, was sein Herz ersehnt.


Chor:

Was ward ihm?


Antigone:

Wie er sich's gewünscht, im fremden Land
Schied er, hat ewig sein
Wohlbeschattet Lager drunten,
Ließ zurück des Kummers Thränen.

Versöhnt mit den Rachegöttinnen ist er vom Lichte geschieden, und
dieser Sühne entspricht ein immerdauernder Segen für das Land, das
den heimatlos Jrrenden schützend aufnahm.

Dieser mit geheimnisvollem Schauer tief ergreifende Schluß des
Ödipus Koloneus zeigt mit voller Klarheit die Wege zum in sich befriedigten
Verständnis auch der Rätsel des „König Ödipus“. Nicht
daß die erste der beiden Tragödien, um recht zu wirken, jener zweiten
bedürfte ─ das wäre ein schlimmes Urteil über ihren Kunstwert; jede
ist in sich vollendet, und ihrer unvergleichlichen Wirkung wird sich niemand
entziehen können, jede enthält auch, so zu sagen, die sämtlichen,
von der Theorie für diese Wirkung geforderten Jngredienzien. Aber
während der „verwickelte“ Aufbau der ersten in typischer Weise die
tragische „Peripetie“ und „Erkennung“ vor Augen führt, und es
der gewaltigen Kunst eines Sophokles bedurfte, um aus dem Jammer
und dem Grausen dieser Handlung den überwältigten Zuschauer zur
Katharsis zu leiten: so stellt die zweite den „einfachen“ Verlauf einer
Handlung dar, die im Grunde nur das „kathartisch“ wirkende Ende
eines jammererfüllten Lebens enthält, und es mußte der ganze Reichtum
sophokleischer Kunstbeherrschung zur Anwendung kommen, um
diesen einfachen Handlungsabschluß mit der starken Bewegung der tragischen
Affekte zu erfüllen. Die beiden Tragödien sind als geradezu
symbolische Zeugnisse für das Wesen aller Grundbestandteile der tragischen
Komposition zu betrachten.

[466]

Die „Anagnorisis“, die Erkennung von Personen oder
Sachumständen, die einen für das Glück der Beteiligten entscheidenden
Umschwung
herbeiführt, und die „Peripetie“, ein
Umschlag des Glückes in Unglück, den der Handelnde gerade
dadurch über sich hereinzieht,
daß er mit aller Kraft auf das
entgegengesetzte Ziel hinarbeitet,
beide Formen der tragischen
Verwickelung, d. h. also die beiden Hauptkennzeichen eines für tragische
Handlung geeigneten komplizierten Stoffes, sind in der Ödipussage
vereinigt vorhanden und zwar in einer nirgends so wiederzufindenden
Reinheit: typische Musterbeispiele. Jede dieser Formen würde
für sich die Brauchbarkeit eines Stoffes für die tragische Komposition
entscheiden, beide zusammen machen diesen Stoff im denkbar höchsten
Grade dazu geeignet.

Die Anagnorisis ist deswegen in so typischer Reinheit dem Stoffe
eigen, weil schon mit dem Beginne der Handlung, ohne ein Verschulden
des Helden, und ohne daß durch die Handlung weiterhin das Geringste
dazu gethan werden braucht, das furchtbarste Schicksal unwiderruflich
besiegelt ist, so daß die Handlung selbst nur in der Herbeiführung eben
der „Erkennung“ besteht.

Diese Herbeiführung selbst aber schließt wiederum die Peripetie
in sich ein; und zwar so, daß die dem Handelnden unausweichlich angewiesene
Richtung seines eifrigsten Bestrebens mit Notwendigkeit auf
den entsetzlichen Umschlag seines glänzenden Glückes in das jammervollste
Elend hinauslaufen muß. Der Umstand, daß hier jede Möglichkeit
einer andern Handlungsweise, jede Wahl, jedes Schwanken oder
Zweifeln des Helden ausgeschlossen ist, macht ebenso die Peripetie der
Ödipussage zur reinsten ihrer Gattung.

Es ist klar, daß die vermöge der Nachahmung durch Handelnde
der Vorstellungskraft in unmittelbarste Nähe gebrachte Wirkung eines
solchen Handlungsstoffes gleich excessiv in Mitleids- und Furchtempfindung
sein muß. Alle stärksten Pathemata des Mitleids bis
zum schmerzlichen Jammer (οἶκτος) müssen hier aufgeregt werden, ebenso
die Pathemata der Furcht bis zum Schauder (φρίττειν). Aber während
in den Händen eines mittelmäßigen Dichters aus solchem Stoff eine
Schauer-Tragödie oder ein Jammer- und Rührstück werden würde oder
auch eine widrige Mischung von beiden, ist es die Sache des Meisters,
durch kunstvolle Behandlung ihm die Kraft zu erteilen, aus dem Sturm
der Affekte zum in sich gehaltenen Gleichmaß der tragischen Empfindungen
zu führen, die schwer belastenden Dissonanzen zur beruhigten
Harmonie aufzulösen, durch die siegende Macht der ewig gültigen Em= [467]
pfindungen der reinen Furcht und des echten Mitleids die ihnen entsprechenden
Pathemata vom leidenschaftlich Trüben, beängstigend Entstellenden
zu läutern: zur Katharsis.

Die Ödipus-Sage stellt dafür die schwerste Aufgabe. Ohne jede,
wirklich so zu nennende „Schuld“ wird Ödipus von dem grausamsten
Schicksal getroffen; es scheint der Fall vorzuliegen, den Aristoteles selbst
als untragisch bezeichnete, weil er das Entsetzliche ─ das μιαρόν
darstellt, das schwere Leiden des völlig Makellosen. Ein vor
seiner Geburt ergangener Götterspruch verurteilt ihn zum grauenvollsten
Geschick, dem er durch eifrigstes Bemühen, statt es zu vermeiden, nur
um so sicherer verfällt.

Der antike Dichter ändert an diesem Thatbestande nichts und
erreicht dennoch die tragische Wirkung auch für unser modernes Gefühl:
ein höchst lehrreiches Zeugnis gegen den Satz, daß wir Neueren kein
Leidensgeschick als ein tragisches empfänden, wenn wir nicht die Ursache
desselben in einer „Verschuldung“ des Leidenden erkennen könnten.
Dieser Satz, ein Axiom der modernen Ästhetik, enthält neben einem
Teil Wahrheit ein weit größeres Teil von Jrrtum, und zwar eines Jrrtums,
der die Grundfesten des tragischen Princips erschüttert.

Ein Unglück, das der Leidende im vollen Umfangverschuldet
hat, ist ganz untragisch! Menschliches Mitgefühl (φιλανθρωπία)
empfinden wir auch mit einem solchen; das tragische Mitleid
verlangt einen unverdient (ἀναξίως) Leidenden. Die Furcht
ferner, die ein durch „Schuld“ herbeigeführtes Unglück erregt, ist diejenige
Furcht, deren die Moral als eines Zuchtmittels für die Schwachen
bedarf, die Furcht vor der Strafe: die tragische Furcht verlangt
einen Leidenden, der in diesem wesentlichsten Punkte uns, den Zuschauern
ähnlich (ὅμοιος) sei, d. h. eben nicht durch eigenes Verschulden
notwendig und mit Recht den damit verketteten Leiden
ausgesetzt. Diese Ähnlichkeit allein kann es bewirken, daß wir
uns dem Schicksal ganz ebenso wie der Leidende bloßgegeben fühlen,
daß wir also unter der Wucht der Vorstellung einer uns selbst bedrohenden
Macht die Furchtbarkeit dieser Macht anerkennen, d. h. daß
wir das Schicksal fürchten. Nur ein unverdientes Schicksal also
ist tragisch, nur die Furcht vor einem solchen ist tragische Furcht.

Nicht aber als eine blinde Zufallsgewalt sollen wir das
Schicksal über uns empfinden und fürchten, sondern als eine göttlich
berechtigte, notwendige
und deshalb um so mehr unvermeidliche
Macht
es anerkennen und verehren. Jn dieser Gestalt hat
die Furcht alles Selbstische, Aengstliche, Leidenschaftliche, Ex= [468]
cessive verloren: es ist die kathartische Furcht, das eine der
beiden Wirkungsziele der Tragödie. Das Schmerzliche und Beunruhigende
der dem Furchtaffekt im gewöhnlichen Leben entsprechenden
Pathemata, wie die Rhetorik des Aristoteles ihrem Zwecke gemäß sie
definiert ─ λύπη καὶ ταραχή ─, ist hier geschwunden, hinweggeläutert;
diese reine Furcht ist eine Bewegung der Seele, die dasjenige Gleichgewicht
in ihr herstellt, in welchem sich die ihr eigene Natur, das Leben,
zu dem sie ihrer Anlage nach bestimmt ist, erfüllt, und zwar nach dieser
Seite in der vollendetsten Weise sich bethätigend und sie mit dem Bewußtsein
dieser Energie durchdringend: mit andern Worten: diese reine,
tragische Furcht ist nicht mehr eine schmerzliche Empfindung,
sondern eine im höchsten Sinne freudige, eine der vollkommensten
Äußerungen der ästhetischen Hedone.

Das ist nun auch einer von den Jrrtümern Lessings, die für die
gesamte folgende Forschung verhängnisvoll geworden sind, daß er das
Verdienst auf die Definitionen des Mitleids und der Furcht in der aristotelischen
Rhetorik hingewiesen zu haben, sogleich durch die Achtlosigkeit
trübte, mit der er die für jenes empirische Gebiet geltenden Kennzeichnungen,
welche bestimmt sind, dem Redner Anweisung zu geben, wie
er auf die Pathemata seiner Zuhörer zu wirken habe, ohne weiteres
auf das ästhetische Gebiet übertrug, wo die Namen jener Pathe doch
die Bestimmung haben, die reinsten und vollkommensten Bethätigungen
des Empfindungsvermögens zu bezeichnen, die eben deshalb würdig sind,
dem Dichter als die Ziele der edelsten Kunstschöpfung zu gelten.

Doch hätten die Späteren wohl Veranlassung gehabt, dieses Versehen
des ersten Entdeckers gut zu machen; statt dessen hat kaum irgend
ein anderer Umstand in dieser ganzen Materie zu so viel Verwirrung
Anlaß gegeben als der anscheinende Widerspruch, daß jene Unlustaffekte
des Mitleids und der Furcht am letzten Ende nun dennoch
Freude hervorbringen sollten; ein Widerspruch, an dessen Lösung sogar
ein Kenner wie J. Bernays geradezu verzweifelt.1

Ganz ebenso ist das kathartisch geläuterte Mitleid nicht
mehr eine schmerzliche Empfindung, sondern eine im höchsten Sinne
hedonische: befreit von dem Jammer und Weh, womit der Anblick
des unverdienten Leidens uns so schwer belastet. Aber die Katharsis
des Mitleids ist ebenso wie die der Furcht nur möglich, wenn das [469]
Leidensschicksal statt als zufälliges, vereinzeltes Ereignis zusammenhanglos
sich darzustellen, als von dem Walten ewiger Mächte gesetzmäßig geordnetes
Verhängnis dem Empfinden sich kenntlich macht.

Hier kann es sich nun nur noch um die Frage handeln: wie geschieht
das? welche Mittel
hat der Dichter anzuwenden, um diese
Wirkung zu erreichen? Das Rätsel aber, wie die schmerzlichen Pathemata
des Mitleids und der Furcht sich in die höchst hedonischen
Pathe
der reinen Schicksalsempfindungen verwandeln, löst sich für den
tiefer Blickenden von selbst, ja der Zweifel macht der Bewunderung
Platz, wie in der einfachen Formel des griechischen Philosophen das
innerste Wesen der Kunst erschlossen ist. Es entdeckt sich hier der Punkt,
dem die Wege von Kants und Schillers Kunstbetrachtung zustreben,
die freilich durch Krümmen führen und durch fremde Gebiete hindurch
abirren.

Wie der andächtig=religiöse Glaube die Resultate höchster Weisheit
in das unmittelbare einfache Empfinden legt und auf solche Weise es
erreicht, was auf andere Art ewig unerreichbar bliebe, sie zum Gemeingut
für alle zu machen: gerade so trifft die Kunst ihre Veranstaltungen,
um vermittelst der Nachahmung von Empfindungen, Seelenzuständen
und Handlungen die Gemütskräfte der Menschen unmittelbar so
in Bewegung zu setzen,
wie diese Bewegungen durch die Hülfe der
klarsten Einsicht, der reinsten Sittlichkeit, der tiefsten Weisheit
bei den Besten und Edelsten sich vollziehen. Solche Energien
der Gemütskräfte können nicht anders als im höchsten Maße
hedonisch, von der reinsten und höchsten Freude begleitet sein.

Jndem vermöge solcher Freude die Kunst die Empfangenden an sich zieht
und diese Bewegungen in sie übergehen läßt, vermag sie freilich weder
Einsicht, noch Sittlichkeit, noch Weisheit unmittelbar mit ihnen zu verbreiten,
aber sie teilt als ein köstliches Geschenk an alle, die ihr nur
den Sinn, den die Natur ihnen mitgegeben hat, zuwenden, ein Gut
aus, zu dessen Erlangung im Leben alle jene höchsten Eigenschaften
der Geistes- und Seelenbildung thätig sein müssen.

Solche Empfindungen kennt auch die Kantsche Philosophie; aber
in scharfem Unterschiede von dem lediglich ästhetischen Wohlgefallen an
der Form rechnet sie dieselben zu den „moralischen Gefühlen“, die
nur auf der Grundlage bereits ausgebildeter moralischer Jdeen, auf
welche sie reflektieren, möglich werden. Ähnlich führt die Schillersche
Ästhetik die „tragische Rührung“ darauf zurück, daß die Jdee des
Moralisch-Guten einen erhebenden Sieg über das selbstsüchtige Jnteresse
davonträgt, der auf das Edle gerichtete Wille über den Körper, der [470]
Geist über die Natur, und daß die Freude an der tragischen Rührung
aus dem Überschuß der mit solchem Siege verknüpften moralischen Lust
über die durch die Vorstellung materiellen Leidens erzeugten Unlustempfindungen
resultiere.

Direkt oder indirekt nehmen diese Theorien ihren Ausgangspunkt
von der Moral; dagegen erklärt die aristotelische Poetik die Wirkung
der Tragödie als eine rein ästhetische und erlangt damit eine weit
über den speciellen Gegenstand hinausreichende Bedeutung nicht nur für
die Kunstlehre überhaupt, sondern für die gesamte Philosophie. Die an
sich „vernunftlosen“ Empfindungen können, um einem von Aristoteles
öfters gebrauchten Bilde zu folgen, im Leben durch den Verkehr
mit dem Verstande und der Vernunft, dem Logos und Nous, dem
sie zu folgen sich gewöhnen, so weit veredelt werden, daß sie von selbst,
so zu sagen freiwillig und gern, das rechte Maß der Bewegung einhalten.
Aristoteles stimmt nun darin mit Kant überein, daß er in solcher zur
ständigen Haltung gewordenen Gewöhnung der Empfindungen noch keine
ausreichende Bürgschaft des sittlichen Handelns erblickt, die immer nur
in der nach dem Vernunftgesetz erfolgenden Willensentscheidung auch
von ihm gefunden wird; aber er erkennt, abweichend von Kant und in
näherer Verwandtschaft mit Schillers ästhetisch=ethischer Anschauung, in
den veredelten Empfindungen nicht nur die sehr wertvollen, sondern die
ganz unentbehrlichen Bundesgenossen für die Erreichung jenes Zieles.
Er räumt ihnen also, im Gegensatz zu der Geringschätzung, in der sie
bei Kant als „sinnlich=pathologische“ Vorgänge stehen, eine hohe Stelle
auch für die Sittlichkeit ein. Daraus ergibt sich von selbst, daß die
Kunst in seinen Augen einen ganz andern, ungleich höheren Wert erhalten
muß, als den die Kantsche Philosophie ihr einräumen kann.1
Aber selbst Schiller, der die Kunst wahrlich hoch hielt, wird in dieser
Beziehung von dem Kunstlehrer der Alten übertroffen, dessen Theorie
von keiner andern auch nur annähernd ersetzt werden kann.

Nach Aristoteles ist die Wirkung der Kunst eine ungemischt
ästhetische,
die keiner Bundesgenossenschaft bedarf, weder in Verstandeserkenntnissen,
noch in moralischen Dispositionen sich ihre Stützen zu
suchen braucht.

[471]

Der Natur und dem Leben gleich, deren Wirkungen auf die
empfindende Seele nachahmend, bringt sie vermittelst sinnlicher
Vorstellungen
die unmittelbar daran geknüpften Seelenbewegungen
hervor: aber verschieden von aller Natur und von jedem
Vorgang des Lebens wählt sie die Vorstellungen, deren sie sich bedient,
so aus und bringt sie so in Verbindung, daß sie die Kraft erhalten,
die von dem Künstler gewollte reine, richtige Empfindung unmittelbar
zu erzeugen.

Daraus erklärt sich auch das Verhältnis der Kunst zur sittlichen
Erziehung von selbst. Die Kunst braucht dieselbe nicht vorauszusetzen,
denn ihre Wirkungen sind unmittelbare; sie kann dieselbe
aber auch nicht ersetzen, denn ihre Wirkungen halten nur so lange an,
als die Vorstellungen dauern, die sie erzeugt, und die Empfindungsweise,
die sie als ein Geschenk mitteilen, ist zwar ihrer Form nach derjenigen
gleich, die als ein Resultat intellektueller und sittlicher Kultur
erworben wird, aber sie vermag dieselbe nicht zugleich mit einzupflanzen.
So würden also die Wirkungen der Kunst zunächst intellektuell wie sittlich
indifferent bleiben. Doch sind mittelbar zwei weitere Folgen von unberechenbarer
Tragweite mit ihnen verbunden. Die mächtige hedonische
Wirkung, welche die reine, gesunde, richtige Empfindung im Gemüte
ausübt, eben weil sie die im höchsten Sinne naturgemäße ist, die wie
durch ein Wunder mit durchleuchtender und durchwärmender Kraft in
der Seele sich ausbreitet, kann nicht anders als wie ein wünschenswertestes
Ziel des Strebens in der Erinnerung zurückbleiben, für die
unverdorbene Natur ein spornender Antrieb, für die schon abgeirrte ein
Vorwurf und eine Mahnung. Sodann kann es keine Frage sein, daß
eine Gewöhnung des Empfindens zum rechten Maße durch die Wirkungen
der Kunst, wenn sie auch zunächst für keinen einzigen Fall die Herrschaft
der Vernunft oder der Einsicht über die Leidenschaften zu sichern vermag,
so doch für unzählige Fälle ihnen ihr Geschäft zu erleichtern geeignet
ist, wenigstens den Widerstand, den sie dabei finden, zu vermindern.

Nach diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage in betreff des
Sophokleischen Ödipus: ─ welche Mittel hat der Dichter angewandt, um
das Entsetzen und den Jammer, die der Stoff erregt, in die wohlthuenden
Affekte der tragischen Furcht und des tragischen Mitleids zu
verwandeln? ─ da jede Mitwirkung fremden Gebieten angehöriger Kräfte
ausgeschlossen ist, folgendermaßen: wie hat der Dichter die Fabel behandelt,
um ihr die Gestalt zu geben, in welcher das Schicksal der
bloßen Empfindung sich als ein göttlich=gesetzliches kund thut,
das eben dadurch die tragischen Pathemata kathartisch entlastet und [472]
zu jener freudigen Erhebung steigert, wie sie jeder Empfindung
verbunden ist, die mit der Vorstellung der Gottheit
sich im Einklange fühlt?

Nur auf diesem Wege eröffnet sich das technisch=theoretische Verständnis
der Ödipus-Tragödien und mit ihm der Einblick in das
Wesen der antiken Tragödie überhaupt.

Die Fabel trägt die starren Züge der urältesten griechischen Mythe,
gleich ihr aber auch das Gepräge einer ins große gehenden Symbolik;
wie Goethe in der klassischen Walpurgisnacht die Sphinx diesen Charakter
bezeichnen läßt:


„Wir hauchen unsre Geistertöne,

Und ihr verkörpert sie alsdann.“

Der Kampf der Titanen gegen die Götter ist ausgekämpft; unbestritten
in ihrer Macht und Herrlichkeit herrschen sie über die Welt
und die Menschen; dennoch bleibt unvertilgbar in dem menschlichen
Geschlecht der Hang, der eigenen Kraft vertrauend gewissermaßen die
Probe zu wagen, ob sie der Allmacht göttlichen Geschickes sich zu entziehen
vermöchte, am meisten, wo jemand überragender Einsicht und
seltener Erfolge sich bewußt ist. Ein solcher ist Ödipus, der die gottgesandte
Sphinx überwunden, ihre dunkeln Rätsel gelöst und aus
eigenem Verdienst sich die höchste Stellung gewonnen hatte. Das
Charakteristische seines Wesens ist das des jugendlich in Rat und
That Sieggewohnten und Selbstvertrauenden.
Von dieser
Seite her hat die Sage diesen Helden erfaßt und ihm sein Schicksal
angedichtet.
Seine Vorgeschichte existiert nicht um ihrer selbst willen
─ wie denn auch die Personen derselben nur schattenhaft angedeutet
geblieben sind, soweit sie nicht in sein Schicksal selbst anteilnehmend
verflochten werden ─, sie ist nur in Bezug auf ihn im Mythos
erwachsen.
Jm denkbar schneidendsten Gegensatz stellte sie den rascher
That Sicheren, Geistesstolzen, Herrschaftgewohnten in eine Schicksalsverwickelung,
die ihn von vornherein rettungslos dem Jrrtum, der
schlimmsten Fehlthat, dem äußersten Elend preisgibt. Dieser, in
nacktester Einseitigkeit ausgeprägte, Grundzug der Ödipussage
macht sie zum Typus der tragischen Fabel,
weil Mitleid
mit solchem Geschick und Furcht vor demselben hier den weitesten Spielraum
gewinnen.

Es ist die tragische Grunderfahrung, daß im Leben Glück und
Unglück nicht nach Verdienst verteilt werden, sondern nach einem unbegreiflichen
Zusammenhang der Dinge, in welchem dennoch den Ratschluß [473]
einer göttlichen Vorsehung anzuerkennen die beste menschliche Weisheit
und der naiv=fromme Glaube zusammenstimmen: diese Grunderfahrung
ist es, die in jener Sage auf die einfachste Formel gebracht ist. Einer
ähnlichen Auffassung begegnen wir in dem herben Worte des Alten
Testamentes, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht
werde bis ins dritte und vierte Glied. Die Ödipussage enthält nichts
anderes als die Resultate der gleichen Anschauungsweise, die einzig aus
dem Grunde uns noch furchtbarer gegenübertritt, weil eben nur das
letzte Glied der Schlußfolge in dramatischer Lebendigkeit uns vorgeführt
wird, während die vorangehenden kaum angedeutet werden. Der Fluch,
der auf Ödipus lastet, und auf den schon sein Name hinweist, ist, daß er
überhaupt geboren ist,
der nach dem Spruch der Götter nicht
hätte entstehen sollen.
Denn wie Ödipus selbst es ausruft, als
ihm endlich die volle Wahrheit sich enthüllt (Oedip. Tyr. v. 1184):


ὅστις πέφασμαι φύς τ' ἀφ' ὧν οὐ χρῆν

„Der sproß, von wem er nicht gesollt“ ─

so hat Jokaste schon früher berichtet (Oedip. Tyr. v. 711 ff.):


χρησμὸς γὰρ ἦλθε Λα ΐῳ ποτ', οὐκ ἐρῶ

Φοίβου γ' ἀπ' αὐτοῦ, τῶν δ' ὑπηρετῶν ἅπο,

ὡς αὐτὸν ἕξοι μοῖρα πρὸς παιδὸς θανεῖν,

ὅστις γένοιτ' ἐμοῦ τε κἀκείνου πάρα.

„Einst ward ein Spruch dem Laïos, ich behaupte nicht

Von Phöbos selbst, nein, aus der Diener Munde nur:

Jhm sei das Los beschieden, durch des Sohnes Hand

Zu sterben, den er zeugen würd' aus meinem Schoß.“

Der Fluch, d. h. die Bestimmung zum Unglück, die nach dem
gewöhnlichen, unabänderlichen Lauf der Dinge einem Menschen durch
Umstände, die selbst vor seiner Geburt liegen, also ohne jedes Verschulden
von seiner Seite, mitgegeben sein kann, wäre auf keine Weise
stärker und eindringlicher auszudrücken als es durch das Symbol
dieser Sage
geschehen ist. Hier zeigt sich auch deutlich, warum die
Sage auf die Vorgeschichte so geringes Gewicht legt, daß sie sich begnügt,
sie eben nur ganz kurz zu erwähnen: es ist ihr eben nichts als diese
Endwirkung
derselben von Wichtigkeit, die auf die mannigfachsten
Arten hervorgebracht werden könnte, für welche alle diese Erzählung als
umfassendes Symbol zu gelten hat. Für die ungeheure tragische Wucht
der Sage genügt es, daß diese Wirkung da ist; ja ihre Wucht wird
durch das isolierte Auftreten dieser Wirkung noch verstärkt.

Die Fiktionen des naiven Volksglaubens sind von einer symbolischen
Gewalt, die ihre Verwendung für die Kunst unentbehrlich macht. [474]
Selbst für die Zeiten, in denen der Glaube an sie längst geschwunden,
behalten sie noch diese durch nichts zu ersetzende Kraft, eben weil sie
Symbole sind, d. h. Kennzeichen für Jdeen, die der realen Erscheinungswelt
entnommen sind.
Eben weil solche Symbole aber
nicht das Wesen der Dinge selbst enthalten, sondern nur die Ähnlichkeit
im großen
mit denselben festhalten, vertragen sie nicht die
volle Beleuchtung der dramatischen Pragmatik, sondern verlangen ein
gewisses Dunkel der Behandlung. So ist Sophokles hier verfahren, und
so hat jeder große Dichter nach ihm sich Dingen derart gegenüber verhalten.


Daher gelingt es auch den Modernen, mögen sie selbst von griechischer
Religion nicht die geringste gelehrte Kenntnis haben, sich völlig mit
der Gesinnung zu durchdringen, die der Dichter das ganze Stück hindurch
vom Chor und allen beteiligten Personen feierlichst bestätigen läßt, daß
hier ein Geschick sich entrollt, das trotz seiner grausigen Abnormität
göttlich gewollt, gesetzlich geordnet und daher gläubig hinzunehmen und
zu verehren ist.

Erst im „Öedipus auf Kolonos“, in welchem die rückwärts
gewandte Betrachtung eine so überwiegende Rolle spielt, läßt der Dichter
Wendungen einfließen, die eine pragmatische Beurteilung der Voraussetzungen
des Ganzen anbahnen. So, wenn Ödipus auf die Vorwürfe
des Kreon erwidert (v. 964 ff.):


θεοῖς γὰρ ἦν οὕτω φίλον,

τάχ' ἄν τι μηνίουσιν εἰς γένος πάλαι.

ἐπεὶ καθ' αὑτόν γ' οὐκ \̓αν ἐξεύροις ἐμοὶ

ὁμαρτίας ὄνειδος οὐδὲν, ἀνθ' ὅτου

τάδ' εἰς ἐμαυτὸν τοὺς ἐμούς θ' ἡμάρτανον

ἐπεὶ δίδαξον, εἴ τι θέσφατον πατρὶ

χρησμοῖσιν ἱκνεῖθ', ὥστε πρὸς παίδων θανεῖν,

πῶς \̓αν δικαίως τοῦτ' ὀνειδίζοις ἐμοί;

ὅς οὔτε βλάστας πω γενεθλίους πατρὸς,

οὐ μητρὸς εἶχον, ἀλλ' ἀγέννητος τότ' ἦν.

So gefiel's den Göttern ja,

Die längst vielleicht Groll hegten wider mein Geschlecht.

Bei mir ja selber fändest du doch nimmermehr

Ein schimpfliches Vergehen aus,
1
mit dem ich so

An mir und meinem Stamme mich versündigte.
[475]
Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst

Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand,

Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir,

Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch

Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war?

Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.):


τοιαῦτα μέντοι καὐτὸς εἰςέβην κακά,

θεῶν ἀγόντων. οἷς ἐγὼ οὐδὲ τὴν πατρὸς

ψυχὴν ἄν οἶπαι ζὡσαν ἀντειπεῖν ἐμοί.

„Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein

Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst,

Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“

Dagegen nun aber die Worte der Antigone, mit denen sie den
tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.):


σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει,

πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες·

κ\̓αν κεῖνα λεύσσῃς, οἶδ' ἐγώ, γνώσει κακοῦ

θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται.

„Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid,

Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest;

Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar,

Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt.“

Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich,
aber freilich schwer zu verbessern. „Schlimmer Zorn“ gibt in Anwendung
auf die Geschichte des Laïos keinen Sinn; das griechische
κακὸς θυμός, wofür kurz zuvor θυμὸς ὀξύς gesagt ist, bezeichnet
das Verhängnisvolle des „raschen Sinnes“, „vorschnell entschlossener,
leidenschaftlich=jäher Gemütsart
“, die menschlichem
und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch „schneller
Mut
“ ist der „Fehler“ (ἁμαρτία) des Ödipus, wie er das Verderben
seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs
gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze
jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling
mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin
Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen,
nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung
mit dem Worte des Kreon im „König Ödipus“:


αἱ δὲ τοιαῖται φύσεις

αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν.

„Solcher Art Naturen sind

Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual.“
[476]

So ist denn auch, damit sich das alles erfülle, eben jener
dem Helden vom Vater her eignende „Fehler“, keine Schuld, kein
schimpfliches Vergehen“ von seiner Seite, die äußerlich den Anstoß
gebende Ursache für die Vollziehung eines tragischen Geschickes, von
dem die Sage unter dem Symbol des die Zukunft kündenden Götterspruchs
doch nur aussagt, daß es in Vorbereitung und Vollendung
leicht durch den jähen, ungestümen Sinn, wie er andrerseits zu That
und Erfolg leitet, herbeigezogen wird. Diesen tief verborgenen,
aber unlöslichen Zusammenhang der
Hamartiedes Helden
mit seinem Leidensschicksal dem Zuhörer zum vollen Bewußtsein
zu bringen,
war die Aufgabe der tragisch=kathartischen
Behandlung des Stoffes durch den Dichter, und zwar nicht so, daß
er damit gleichsam den Schleier von dem geheimnisvollen Rätsel des
Schicksals hinwegzog und an seiner Stelle ein pragmatisch abgestimmtes
Exempel sehen ließ, sondern daß er vom Anbeginn bis zum Ende in den
Leidenden jenen Sinn der leidenschaftlichen Hitze und vermessenen Selbstgewißheit
zur Erscheinung kommen ließ, der, das Gegenteil der
Furcht“, je mehr er den Göttern trotzt, desto mehr ihren
Voraussagungen Recht zu geben scheint.

Jn solcher Absicht hat Sophokles die Charakterzeichnung und
Handlungsweise des Ödipus und der Jokaste erfunden und sie mit
einer Meisterschaft ohnegleichen Schritt für Schritt bis zu einer Stärke
der Äußerung sich steigern lassen, die in der vollkommensten Weise die
Aufgabe löst: ohne daß der Achtung, die der Held erweckt,
und dem Mitleid mit seinem ungeheuren Geschick der geringste
Abbruch geschieht, wird das Gemüt von der geheimnisvolloffenbaren
Verschwisterung seines Fehlers mit seinem Leiden
so tief und innig durchdrungen, wie nur irgendwo, in
einem Othello oder Lear, Shakespeare diese verhängnisvolle
Verkettung zum Bewußtsein bringt; zugleich wird, indem
die Furcht vor der Übermacht des Geschickes den höchsten
Grad erreicht, sie von den Schrecken des blinden Ungefährs
entlastet, und auf die reine Höhe des vollen Einklanges mit
der Anerkennung göttlich weisen und gerechten Waltens
erhoben. Die Katharsis der tragischen Pathemata ist vollendet!


Es hieße die Geduld des Lesers ermüden, sollte nun Zug für
Zug dieses Verfahren des Dichters nachgewiesen werden; alles das liegt
klar zu Tage. Nur darauf dürfte noch ein Hinweis erlaubt sein, mit
welcher Weisheit im Gebrauch der ihm zu Gebote stehenden Mittel [477]
und in welcher unübertrefflichen Schönheit der Meister der antiken
Tragödie es verstanden hat, den Sturm der tragischen Empfindungen,
indem er die Kraft der einen gegen die andre setzt, in seiner
Übergewalt sich brechen zu lassen, um ihrer Läuterung, Klärung, kathartischen
Beschwichtigung Raum zu verschaffen. Mit gewaltiger Wucht, die
durch jedes kommentierende Wort nur abgeschwächt werden würde, ist
in beiden Stücken die mächtige Stimme des Chores für diesen Zweck
verwendet. Was aber das aristotelische Wort von dem Gleichmaß,
der Symmetrie, der Furcht und des Mitleids zu bedeuten hat,
das läßt die wundervolle Weisheit erkennen, mit der Sophokles den
Schluß der beiden Tragödien gestaltet hat.

Ödipus Tyrannos“ ist die Tragödie der Furcht, der unter
den neueren nur Shakespeares „Lear“ zu vergleichen ist. Mit immer
gräßlicheren, entsetzlicheren Schlägen sehen wir die Wut des Geschickes
sich entladen, und als es seine ganze Kraft erschöpft hat, da erfährt es durch
die grimmige, sich gegen sich selbst kehrende Verzweiflung des Getroffenen
noch eine weitere, fürchterliche Steigerung. So weit ist alle höchste
Kunst des griechischen wie des britischen Dichters darauf gewandt, das
überwältigende starre Entsetzen zur tragischen Furcht zu läutern und zu
erheben. Jn dieser Furcht ist freilich das Mitleid notwendig mit eingeschlossen,
aber gleichsam latent, gebunden und überwogen durch die
Schauer, mit denen der Anblick der Schicksalsallgewalt von Angesicht
zu Angesicht die Empfindung ganz hinnimmt. So hat denn der
Dichter die letzte Scene bestimmt diese Starrheit zu lösen und dem
reichen Erguß schmelzenden Mitleids ein breites Bett zu bereiten. Die
Scene, wie dem blinden Ödipus die beiden Töchter zugeführt werden:
„Jhr Götter! Hör' ich meine zwei Geliebten nicht in Thränen schluchzen?“,
wie sie im tiefsten Jnnern die höchste Kraft liebenden Mitgefühls erweckt,
läßt sich wieder nur mit jener, bei aller ihrer Herbigkeit dennoch
wunderbar versöhnenden, Schlußscene des Lear vergleichen, da der greise
König, die Tochter Cordelia tot in den Armen tragend, auf der Bühne
erscheint und ihr den Spiegel vorhält um zu prüfen, ob noch Leben in
ihr sei: „Die Feder regte sich, sie lebt! O lebt sie, so ist's ein Glück,
das allen Kummer tilgt, den ich jemals gefühlt.“

Umgekehrt ist „Ödipus auf Kolonos“ die Tragödie des Mitleids.
Der alternde König, aus der Heimat durch die eigenen Söhne
verjagt, im Bettlergewande umherirrend, nur von der Tochter geleitet,
nirgends eine Ruhestätte findend, nun am letzten Ziele noch von den
Bewohnern des ihm verheißenen Asyls mit Abscheu fortgescheucht, von
Keron bedroht, zuletzt noch der Töchter beraubt, ─ das ist ein Stoff, [478]
der einem Euripides den Ruhm des „tragischsten“ Dichters, der das
Mitleid am heftigsten aufzuwühlen weiß, noch vermehrt haben würde.
Nun aber, zu welcher Höhe echter Tragik weiß die Kunst des Sophokles
am Schlusse diesen Stoff zu erheben! Alle die vorausgehenden, mannigfach
gefärbten Scenen des Jammers sind ihm nur die vorbereitenden
Mittel um zu seinem Endzweck zu gelangen: mit wie von der gegenwärtigen
Rachegottheit selbst geheiligter Urgewalt die Furcht zu erwecken
vor der unsühnbaren Versündigung gegen die Majestät des Unglücks.
Jn der tragischen Kunst aller Völker und Zeiten reicht nichts an die
Furchtbarkeit des Fluches heran, den der zürnende Vater auf den unnatürlichen
Frevel der Söhne legt, und dem die „wohlgesinnten“ Rachegöttinnen
selbst die feierliche Weihe erteilen, da sie den Grollenden auf
geheimnisvolle Weise im Schoße ihres heiligen Haines zur Ruhe eingehen
lassen. Es ist nur eine symbolische Bestätigung dieses tiefernsten
Sinnes, daß der Fürst, der so großem Unglück hülfreich erbarmenden
Schutz gewährt, damit dem ganzen Land ein Pfand des Segens erwirbt.

Wenn hier die Betrachtung zu Lessing zurückkehrt und zu seiner
Verkennung der „Furcht“ als eines selbständigen Faktors der tragischen
Wirkung, ein Jrrtum, von dem oben behauptet wurde, daß er auf die
Komposition der „Emilia Galotti“ von wesentlichem Einflusse gewesen
sei, so drängt sich wie von selbst die Vergleichung zwischen dieser und
der dritten Tragödie der Sophokleischen Trilogie auf, der Antigone;
natürlich nur in dem einen Punkte, auf den es für diese Betrachtung
ankommt, der furchterregenden Beschaffenheit des dargestellten tragischen
Schicksals oder mit andern Worten: hinsichtlich der Frage, ob der selbstgewollte
Tod der Heldin in beiden Tragödien als das Ergebnis eines
von unentrinnbaren Gewalten bestimmten Vollzuges der Ereignisse empfunden
werde oder als eine nur in der Singularität der beteiligten
Personen begründete Notwendigkeit.

Die Frage ist von größerer Bedeutung, als es auf den ersten
Blick scheinen möchte, denn ihre nähere Untersuchung ist geeignet, den
weitgreifenden Unterschied klar zu stellen, der der Gattung nach
zwischen der auf die Größe der Verhältnisse basierten Schicksalsanlage
in der sogenannten heroischen Tragödie und der Enge der das
Schicksal bedingenden Verhältnisse, die für das „bürgerliche Trauerspiel
eine so gefährliche Klippe bildet, vorhanden ist.

Es kann kein eindringlicheres Beispiel gefunden werden, um den
aristotelischen Begriff der „Größe“ (μέγεθος) der Handlung deutlich zu
machen als die „Antigone“ des Sophokles. Es ist ganz unmöglich, sich
diese Handlung auf den kleinen Maßstab bloßen Familienzwistes [479]
reduciert zu denken; alle Motive bestimmen sich von dem großartigen,
mythologisch=historischen Hintergrunde aus, der das Ganze beherrscht.
Selbst Hämons verhängnisvoller Widerstreit gegen den Vater, wie klein
würde er sich ausnehmen gegen das, was Sophokles daraus geschaffen
hat, wenn hier nur die Liebe des leidenschaftlichen Jünglings das
Wort führte, nicht zugleich das Bewußtsein des Fürstensohnes.

Die „Antigone“ ist eine reine Charaktertragödie (ἠθική), in der
also die Wendung zur Katastrophe durch die Sinnesart der Handelnden
entschieden wird, nicht durch die äußere Verwickelung; hierin liegt wohl
der Grund, warum sie von allen antiken Tragödien unserm modernen
Bewußtsein am nächsten steht. Das Tragische liegt in der unheilschwangeren
Situation, in welche die Reinste, Edelste ihres Geschlechts,
χρυσῆς ἀξία τιμῆς λαχεῖν, „goldner Ehren wert“, hineingestellt ist, so daß
der geringste, ja fast rühmlich erscheinende Fehler, aber eben doch ein Fehler,
sie in ein Verderben stürzt, das dann derselbe Fehler vollends über sie herabzieht.
Nicht übler hätte mit dieser Tragödie umgegangen werden können,
als indem man das Theorem von dem „Konflikte der Pflichten“,
auf dem die tragische Handlung beruhen solle, auf sie anwandte, diese
unglückliche Erfindung der modernen Ästhetik, die das Verständnis der
antiken Tragödie sowie der Tragödie überhaupt völlig zu verdunkeln
geeignet ist. Nicht einmal für eine tragische Fabel, die scheinbar dieser
Theorie so wohl sich fügt wie die Orestie, ist sie an ihrer Stelle, wie weiterhin
die Choephoren des Äschylus zu erweisen Gelegenheit geben werden.
Die Formel von dem „Konflikte der Pflichten“ stellt nicht das Gesetz für
den Aufbau der tragischen Handlung dar, sondern einen einzelnen Fall,
der an sich selbst die Erfordernisse des Tragischen noch keineswegs enthält,
sondern nur eine Kategorie der unzähligen Verwickelungen ausmacht, die
das volle Eintreten der Tragik begünstigen. Der Fall, wo zwei Pflichten
zugleich ihre Erfüllung verlangen und zwar so, daß die eine die andere
ausschließt, und die ältere unter zwei gleichartigen oder die höher berechtigte
von dem Handelnden nicht erfüllt werden kann, ohne daß er
damit seinen Untergang oder doch sein Unglück besiegelt, wird sicherlich
das Mitleid in hohem Grade erregen. Aber wählt nun der in solche
Lage Gestellte in wohl erwogener Entscheidung das Rechte um den Preis
selbst seines Lebens, so erregt diese moralisch erhabene That, obwohl
unser sittliches Urteil sie fordert, mit unsrer Befriedigung zugleich unsre
Bewunderung im höchsten Maße; aber je stärker die erhabene Freude ist,
die von jenen beiden moralischen ─ d. h. aus unserm sittlichen Bewußtsein
hervorgehenden ─ Empfindungen ausgeht, desto mehr wird den
reinen, ungemischten tragischen Empfindungen entzogen. Wenn jedoch [480]
durch diese fremde Beimischung das Mitleid nur abgeschwächt wird, so
wird dadurch die Furcht fast gänzlich aufgehoben. Der Tod selbst verliert
seine Schrecken, jedes geringere Opfer erscheint fast als ein wünschenswerter
Gewinn vor jener unvergleichlichen Entzückung der Seele, in die
sie durch die Vorstellung der schönsten Äußerung des sittlichen Vermögens
versetzt wird. Daher haben solche Handlungen im
großen Zusammenhange epischer Schicksalsdarstellung ihre
Stelle; im Drama nur als episodische Nebenhandlungen.

Es wird deshalb immerhin kein Mißbrauch des Wortes sein, solche
Handlungen, wie das ja allgemein üblich ist, noch „tragische“ zu nennen,
weil sie die eine der beiden tragischen Grundempfindungen, das Mitleid
in der besonderen Form der „Rührung“ in hohem Grade erwecken.
Diesem allgemeineren Sprachgebrauch folgend, wird man z. B. den Untergang
Rüdigers von Bechlaren, eine Handlung, die den geschilderten Fall in
vollkommenster Reinheit darstellt, mit Recht „tragisch“ nennen dürfen.
Als Stoff für eine Tragödie ist sie, abgesehen von den früher in anderm
Zusammenhange1 entwickelten Gründen, auch deswegen ungeeignet, weil
der Faktor der tragischen Furcht durch ihre dramatische Bearbeitung nicht
in die Bewegung gesetzt werden kann, welche die Tragödie verlangt.
Als ein Beispiel dafür, wie eine solche Handlung als episodische Nebenhandlung
in einer Tragödie wirkt, kann der Konflikt gelten, in welchem
Schiller seinen Max Piccolomini in „Wallensteins Tod“ einen heroischen
Tod suchen läßt; doch hat der Dichter in genialer Vertrautheit mit dem
dramatischen Grundgesetz, welches den leidenschaftlichen Charakter der
Entschließungen verlangt, Sorge getragen, die Reinheit dieses Aktes der
Selbstopferung, ähnlich wie bei seinem Marquis Posa, durch eine
Beimischung jugendlich ungestümer, wenn auch edler Lebensverachtung
geflissentlich zu trüben.

Für die Tragödie brauchbar gemacht wird ein solcher „Konflikt
der Pflichten“ immer erst, sofern er ein Mittel ist, die „Hamartie
des Helden, den Fehl, den Jrrtum, die Verirrung des Handelnden, als
mit dem ihn unverdient treffenden furchtbaren Leidensgeschick in enger
Verbindung stehend aufzuzeigen: mag nun dieser Konflikt eben durch die
Hamartie erst geschaffen sein, wie im Falle des Coriolan, oder mag
er durch die Hamartie erst seine Wendung zum Verderblichen erhalten,
wie im Falle der Antigone.

Die tragische Hamartie ihres Geschlechtes, der θυμὸς ὀξύς, der
rasche, heftige Sinn, hat sich auf diese echte Tochter des vom Schicksal [481]
zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten
vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie,
aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie
ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten
die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die
Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick
ihres Geschlechtes büßen muß ─ πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον
klagt der Chor mit ihr ─; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch
welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils
hinabstürzt.

Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung
in klaren Worten den Chor hat aussprechen lassen, von den
Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die
Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853─856):


προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους

ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον

προςέπεσες, ὦ τέκνον, πολύ.

πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον.

Donner übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen
Tradition:


„Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel,

Stießest du an Dikes hohen Thron

Gewaltig an, verwegenes Kind!

Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“
[482]

Diese Wiedergabe ist der philiströsen Auffassung entsprungen und
leistet ihr Vorschub, daß Antigone durch „Verletzung des Gehorsams
gegen die Obrigkeit“ eine „Schuld“ auf sich geladen habe, daß die
irrige Haltung, die sie in Verfolgung des gerechtesten, edelsten Zieles
einnimmt, eine schwere Versündigung gegen die Dike, die Vertreterin
der göttlichen Gerechtigkeit, einschlösse. Das Gegenteil sagt der Chor:


Zum äußersten des kühnen Mutes

Vorschreitend auf Dikes hohen Stand,

Abstürztest du, Kind, zu tiefem Fall.

Du büßest alte Schuld der Väter.

Der Chor rühmt den kühnen Sinn, der es unternahm, der verletzten
Dike ihre Gebühr zu schaffen, ja an ihrer Stelle selbst auf die
erhabene Stufe zu treten (ὑψηλὸν βάθρον), von der herab sie ihres
Amtes waltet; aber zugleich gedenkt er der Gefahr so hoch gewählten
Standes, wo ein falscher Tritt den jähen Sturz bringt. Das so mächtig
zu Furcht und Mitleid Bewegende in dem Fall der Antigone ist, daß
ihr Charakter sowie ihr Geschick sie fast unwiderstehlich zu dem Fehler
treiben, der sie verdirbt. Jhr frommer, edler Sinn, durch eine Kette
der grausamsten Leiden so schwer geprüft und so hart gestählt, ist nun
zum äußersten empört: sie weiß gegenüber einem frevelhaften Verbot sich
eins mit den ewigen Gesetzen der Götter und zögert nicht, dem strengen
Gesetz mit offener Gewalt Trotz zu bieten. Wer wollte sie um dieses
schönen Ungestüms willen tadeln, das mit der Größe ihres herrlichen
Wesens untrennbar verbunden ist! Aber von einem Konflikt der Pflichten,
in welchem die eine Pflicht die andere ausschließt, kann hier nicht die
Rede sein. Wohl gebietet die Pflicht ihr, den Bruder nicht unbestattet 1 [483]
den Vögeln zum schmählichen Raube zu lassen: aber für ein ruhig besonnenes
Handeln stand ihr der Weg offen, nur freilich daß solche
ruhige Besonnenheit von der in gerechtem Zorn leidenschaftlich Entflammten,
vom härtesten Unglück unablässig Verfolgten nicht erwartet,
noch weniger verlangt werden kann! Der eigene Sohn des Gegners,
die gesamte Bürgerschaft, der gerade in diesem Falle übermächtige Einfluß
der Priesterschaft, des göttlich verehrten Sehers, alle diese Bundesgenossen
stehen ihr zur Seite; und was das Ansehen des Teiresias vermag,
zeigt gleich die folgende Scene. Auch in dieser Hinsicht findet
sich das Urteil des Chors über das Verhalten der Antigone klar und
bestimmt ausgesprochen, wenn nur die feinabgewogenen Worte richtig
gefaßt werden (V. 871─875):


σέβειν μὲν εὐσέβειά τις,

κράτος δ' ὅτῳ κράτος μέλει

παραβατὸν οὐδαμᾷ πέλει,

σὲ δ' αὐτρ́γνωτος ὤλεσ' ὀργά.

Schön ist's zu üben frommen Sinn,

Doch des Gewalt dem Gewalt gebührt

Verachten, nimmer ist's wohlgethan,

Dich trieb der Zorn ins offene Unglück.

Es ist der „hohe und rasche Sinn“, der sie unbekümmert von
Furcht, ohne Zaudern, ja mit leidenschaftlicher Begier nach der Gefahr
den kürzesten, aber verderblichsten Weg wählen läßt. Derselbe Sinn ist
es dann, der, da die schlimmen Folgen ihrer That sich schnell vollziehen,
sie, wie einst ihren Vater, an den Göttern verzweifeln läßt. Jn solcher
Verzweiflung gibt sie sich selbst den Tod und vereitelt somit eben
durch die verhängnisvolle Hamartie, die ihr Stammeserbteil ist, die
vom Geschick ihr zugedachte Rettung. Auch hier ist die entscheidende
Apostrophe der Antigone wieder durch die herkömmliche Jnterpretation
abgeschwächt, namentlich wird die schneidende Jronie, mit der sie das
ihr zur Last gelegte Verschulden dem ihr zugefügten Unrecht vergleicht,
in das Gegenteil verkehrt (V. 922─928):


τί χρή με τὴν δύςτηνον ἐς θεοὺς ἔτι

βλέπειν; τίν' αὐδᾶν ξυμμάχων; ἐπεί γε δὴ

τήν δυσσέβειαν εὐσεβοῦσ' ἐκτησάμην.

ἀλλ' εἰ μὲν οὖν τάδ' ἐστὶν ἐν θεοῖς καλά,

παθόντες \̓αν ξυγγνοῖμεν ἡμαρτηκότες·

εἰ δ' οἵδ' ἁμαρτάνουσι, μὴ πλείω κακὰ

πάθοιεν \̓η καὶ δρῶσιν ἐκδίκως ἐμέ.

Wie soll ich Unglücksel'ge zu den Göttern noch

Den Blick erheben? Wo um Hülfe flehn? wenn ich
[484]
Die Götter fürchtend Gottesfrevels schuldig bin.

Jst vor den Göttern das gerecht, so sollen wir

Wohl erst im Tod' erfahren, was wir fehlgethan!

Doch fehlen diese: daß sie nur nicht Schlimmeres

Erdulden als sie widerrechtlich thun an mir!

Darin liegt nicht ein Widerruf des Mißtrauens gegen die Götter,
Bereitschaft sich ihrer, wenn auch unverstandenen Schickung zu fügen
und versöhnliche Stimmung gegen den Feind, von dem sie Unrecht
leidet, wie man das alles in diesen Versen gefunden hat, sondern der
herbste Verzicht auf menschliche und göttliche Gerechtigkeit und in verhüllter
Form Wunsch und Drohung schwerster Vergeltung. Das alles
kann ja nicht dem groben Mißverstand dienen, daß dadurch das Schicksal
der Heldin als ein verdientes erschiene, womit es aufhören würde,
tragisch zu sein, aber es erfüllt die tragische Grundbedingung, daß sich
dem tragischen Mitleid die tragische Furcht geselle, und zwar so, daß
zwischen beiden jenes Gleichgewicht, aus welchem allein die Katharsis
hervorgehen kann, vorbereitet wird.

So vollzieht sich jeder Fortschritt der Handlung bis zu dem voreilig
selbstgewählten Tod der Antigone in strengster Konsequenz ihrer
Situation und ihres Charakters. Aber wenn irgendwo, so lassen sich
hier die Gesetze der tragischen Katharsis klar erkennen: mit der einfach
ethisch=tragischen
Entwickelung der Handlung bis zu diesem Punkte
könnte die Tragödie unmöglich abschließen, ohne daß das Mitleid mit
dem unverdienten Leiden der Antigone die durch ihre Hamartie
erzeugte Furcht bedeutend überwöge!
Der Totaleindruck, mit
dem sie ihr Werk vollendete, wäre doch der des herzzerschneidenden Jammers;
die Handlung wäre tragisch unvollständig! Um die
Symmetrie der Furcht mit dem Mitleid vollends herzustellen, bedarf es
der Weiterführung der Handlung über den Tod der Heldin hinaus,
bedarf es der furchtbaren Verwickelung, die in dem einfachen
Vollzug der Haupthandlung nach den unerbittlichen Schicksalsgesetzen
eingeschlossen ist, an deren ewig gleicher Gerechtigkeit der leidenschaftliche
Sinn der Heldin mit Unrecht verzweifelte. Das tiefen Mitleids würdige
Leiden der Antigone zeigt sich als furchtbar für Kreons ganzes
Haus, ihm selbst für immer glückzerstörend! Den Hörer entläßt das
Stück von den kathartisch geläuterten tragischen Empfindungen im Jnnersten
durchdrungen: von der hohen Furcht der Götter und dem reichen
Mitleid mit dem Menschen, der irrend in dem unaufhaltsamen Getriebe
der großen göttlichen Ordnungen dem Leidensschicksal anheimfällt.

Vielleicht ist es nun möglich, in wenigen Worten das klar zu legen, [485]
was oben als die Schwäche von Lessings Mustertragödie, der „Emilia
Galotti
“ bezeichnet wurde. Mit bewunderungswürdiger Meisterschaft
ist in dieser auf das feinste angelegten Charaktertragödie alles erfüllt,
was Lessing von dieser Gattung verlangt: ihre Wirkung ist ganz und
gar auf die Erregung des tragischen Mitleids angelegt, von der
Furchtwirkung ist ihr gerade nur so viel zuerteilt, als erforderlich war,
um das reine Mitleid überhaupt zustande kommen zu lassen; dagegen
ist von den Mitteln die tragische Furcht als selbständige Empfindung
hervorzurufen darin kein Gebrauch gemacht, weil
Lessing die Bedeutung der tragischen Furcht nicht erkannte.

Es ist in dem Stück erstlich die tragische Hamartie der
Heldin viel zu schwach;
daher fehlt ihrem Geschick die Allgemeinheit,
welche die Vorstellung desselben furchtbar macht; zweitens: wenn schon
die Art, wie sie rein äußerlich, durch eine zufällige Unterlassung, Anteil
an dem sie betreffenden Unglück erhält, nur mitleiderweckend, nicht furchterregend
sein kann, so gilt dies noch mehr von ihrem freiwillig gewählten
Tode, der nicht durch die Gewalt der Umstände herbeigeführt, sondern
durch seltene Besonderheit ihres Charakters motiviert wird. Endlich ist
die Tragödie unvollständig, weil sie sich begnügt, das mitleidswerte
Opfer der Handlung vorzuführen ohne die andere, die furchtbare, Seite
des hier thätigen Geschickes zu zeigen: das Gemüt wird durch schmerzliche
Rührung erweicht, ohne durch die Vorstellung der Schicksalsübergewalt
erschüttert, auf sich selbst geführt und zu der Höhe lebhafter und
zugleich harmonisch in sich beruhigter, allseitig thätiger Schicksalsempfindung
erhoben zu werden. Eben jedoch, weil dieser dritte Mangel
aus dem zweiten notwendig, gewissermaßen organisch, sich entwickeln
muß, weil die unzureichend motivierte Katastrophe der Heldin auch die
Wendung der Gesamthandlung zu einem furchtbaren Abschluß entbehrlich
machen muß, deshalb fehlt der Lessingschen Tragödie, die uns
zur überwältigenden Sympathie hinzureißen vermag, mit der tragischen
Größe
ein unentbehrliches Attribut ihrer Gattung.

Lessing hat die Hamartie seiner Heldin so fein angelegt und so
äußerst schwach betont, daß es einer sehr genauen Prüfung des Stückes
bedarf, damit sie überhaupt mit Sicherheit erkannt werde; dieser Umstand
ist es ohne Zweifel, der die Kritik auf die Vermutung brachte,
Lessing habe sich die Handlungsweise seiner Emilia als von einer in
ihrem Herzen aufkeimenden Leidenschaft für den Prinzen bestimmt gedacht,
deren sie sich zwar nicht bewußt, von deren dunkler Gewalt aber
jene sonst schwer zu erklärende Furcht ausgehe, die sie in den Tod
treibt. Das Stück bietet für diese willkürliche Konjektur keinerlei An= [486]
halt, mehrere sehr bedeutsame Äußerungen Emilias sprechen sogar entschieden
dagegen; die von Riemer mitgeteilte Äußerung Goethes über
diesen Punkt bestätigt, daß im Stücke eine bestimmte Andeutung derart
vermißt werde. Wenn Goethe dennoch sich jener Annahme zuneigte,
so zeigt dies um so klarer, daß er die That der Emilia für unzureichend
motiviert erachte, obwohl, wie aus einem seiner Briefe an Herder hervorgeht,1
er die von Lessing dem Stücke zu Grunde gelegte genaue Rechnung
völlig überblickte. Die Hamartie der Emilia besteht, wie von
Kuno Fischer scharfsinnig dargelegt ist,2 lediglich darin, daß sie gegen
die eigene richtige Eingebung sich von ihrer Mutter davon abbringen
läßt, ihrem Bräutigam die Begegnung mit dem Prinzen in der Messe
sofort mitzuteilen; die Kenntnis davon würde den Grafen gewarnt,
den Plan Marinellis durchkreuzt und das Unheil vorderhand wenigstens
verhütet haben. Nun geht alles seinen verhängnisvollen Gang
und zwar so, daß sie sich die Schuld an des Grafen Tode beimißt:
„Und warum er tot ist! warum!“ Das ist genug, um den
Schmerz über ihr Unglück sehr zu verschärfen, aber nicht genug, um
ihren Selbstmordsvorsatz zu erklären. Auch hat Lessing offenbar es geflissentlich
vermieden,
die Motivierung ihrer That in diesem Lichte
erscheinen zu lassen: er hat weder ihrer Liebe zum Grafen Appiani den
leidenschaftlichen Charakter, noch ihrem Schmerz über jene Unterlassung
den heftig sich vordrängenden Ausdruck geliehen, die dazu erforderlich
gewesen wären. Er hat also selbst das Motiv dieser Hamartie
nicht für ausreichend stark gehalten, um es zum Träger der
Handlung zu machen;
es läuft nur das Hauptmotiv verstärkend
nebenher: dieses Hauptmotiv hat er in die kunstreiche Komposition
des Charakters
seiner Heldin gelegt, aus dem allein die Notwendigkeit
dieses Ausganges der Jntrigue resultiert. Das ganz singulär
Eigenartige dieser hohen und edlen Mädchennatur ist, daß, ähnlich einem
überspannten Ehrgefühl in einer edlen Mannesseele, das Gefühl der
Reinheit
sie in solcher Stärke und Reizbarkeit erfüllt, daß eine nur
von außen ihm widerfahrende Trübung genügt, um es zum ausschließlich
herrschenden, jede andere Empfindung verdrängenden werden zu lassen:
daß die Welt auch nur den Angriff gegen dieses Heiligtum unternimmt,
reicht hin, um ihr die Welt und das Leben zu verleiden. Daher die
einzigartige Mischung von unbefangener, durch die Leidenschaft noch nicht [487]
zur Selbständigkeit entfalteter Kindlichkeit, die sich ganz der elterlichen
Leitung vertraut, und einer bis zur Sophistik schwärmerischer Grübelei
sich steigernden, bewußten Hingebung an die Jdee der höchsten sittlichen
Reinheit, die sie in einem Moment aus „der Furchtsamsten“ zu „der
Entschlossensten ihres Geschlechts“ umzuwandeln fähig ist.

Eines solchen Charakters bedurfte Lessing als des stärksten Gegensatzes
gegen die dissolute Lüsternheit des für die Eindrücke des Edlen
sonst nicht unempfindlichen Prinzen, um dem Attentate desselben den
tragischen Ausgang zu geben, wie er ihn nun dem Stoffe geben
wollte.
Eine Änderung dieses Charakters, die den freien Anteil der
Heldin an der Katastrophe vermindert hätte und dafür das Maß der
gegen sie gübten Gewaltthätigkeit hätte verstärken müssen, würde es dem
Dichter unmöglich gemacht haben, die altrömische Virginia-Fabel
von der Größe ihres historisch=politischen Hintergrundes loszulösen; es
wäre damit die Fortführung der Handlung bis zur Erfüllung der furchtbaren
Konsequenzen der fürstlichen Gewaltthat in ihrem ganzen Umfange
notwendig geworden: eine völlig veränderte Anlage der ganzen Komposition!


Man kann daher diesmal dem eigenen Urteil Lessings über sein
Werk nicht zustimmen, wenn er an seinen Bruder schreibt: „Weil das
Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu
dem hervorstechendsten oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter
zu machen? Ganz und gar nicht.“ Ob „hervorstechend“ oder nicht,
und ob „mit Vorsatz“ oder ohne denselben: der Charakter Emiliens ist
das Resultat der Umformung, die Lessing mit dem antiken Fabelstoff
vornahm, und nach diesem Charakter hat er alle übrigen geformt. Um
seinetwillen hat er dem Prinzen eine von Hause aus dem Edlen und
Geistigen zugewandte Natur erteilt, die durch Willensschwäche und den
gefährlichen Genuß willkürlicher Macht entartet ist. Aus dem gleichen
Grunde hat er die Jnitiative des Verbrechens in die Seele eines diabolischen,
von jeder Art der Niedrigkeit angetriebenen Verführers gelegt.
Ganz und gar durch das Bestreben, den Charakter Emiliens zu exponieren
und ihre That als möglich erscheinen zu lassen, ist die Erfindung
der Charaktere Claudias, Odoardos und Appianis bestimmt. Die gutmütig=beschränkte,
kleinlich=alltägliche Gemütsart der Mutter ist rechtschaffen
und tüchtig genug, um die uneingeschränkte Hingebung der
Tochter an ihre Leitung zu sichern, aber weder hochsinnig noch einsichtig
genug, um auf ihr innerstes Denken einen bestimmenden Einfluß zu
gewinnen, noch weniger das Gefährliche ihrer schwärmerischen Anlage
zu erkennen und ihm besonnen zu begegnen. Sie begnügt sich, solche [488]
Anlässe zu vertuschen und im Übrigen die Tochter auf das Hülfsmittel
eifriger Religionsübungen zu verweisen, die jene Anlage noch verstärken
müssen. Mit welcher virtuosen Meisterschaft hat Lessing gleich das erste
Auftreten Emiliens benutzt, zugleich die Handlung wesentlich weiter zu
führen und in diese ganzen Verhältnisse den klarsten Einblick zu gewähren!
Die Art, wie Emilia hier geschäftig ist, die Störung ihrer
Andacht durch die leidenschaftlichen Anträge des Prinzen sich selbst zum
schweren Vorwurf, ihre natürliche Verwirrung, ihr fassungsloses Verstummen
sich zum Vergehen zu rechnen, ist einzig und allein vermögend,
ihre spätere Haltung in der Katastrophe zu erklären. Kann etwas die
für den Verkehr mit der Welt so verhängnisvolle Anlage der Emilia
noch bestärken ─ und mit einer so verderbten Welt, wie sie dieser kleine
Hof mit seiner durch und durch vergifteten Atmosphäre darstellt ─, so
ist es die unzugänglich rauhe Heftigkeit des Vaters, eng verbunden mit
dem überstolzen Hochsinn seines Ehrgefühls, dieses Odoardo, den die
Weisheit des Dichters mit allen Zügen ausstattete, um seine Tochter
als die Erbin seines Geistes, ganz nach seinem Vorbilde zu denken und
zu empfinden gewohnt, erscheinen zu lassen.

Noch ein anderes Motiv hat Lessing wirksam gemacht, um jene
Hyperästhesie des sittlichen Bewußtseins, die für die That Emiliens der
treibende Faktor wird, erklärlich erscheinen zu lassen: es ist die weltfremde
Zurückgezogenheit, in welcher sie Odoardos Strenge und seine
Mißachtung des prinzlichen Hofes fast während ihres ganzen Lebens
erhalten hat. Gerade dadurch, daß die inkonsequente Nachgiebigkeit des
Vaters gegen den Wunsch ihrer Mutter sie zuletzt in jene glänzenden
und durch das Laster angefressenen Gesellschaftskreise einen kurzen, aber
erschreckenden Einblick hat thun lassen, werden die Wirkungen der Vereinsamung,
in der sie erzogen wurde, noch sehr bedeutend verstärkt. Die
wenigen Züge, mit denen der Dichter den Grafen Appiani ausgestattet
hat ─ so meisterhaft jedoch, daß sie ein volles Bild dieses edlen Charakters
gewähren ─, sind ganz in der Absicht erfunden, jene schwärmerische
Neigung in Emiliens Wesen zu nähren. Jn allem übrigen
ihrer und Odoardos Natur ganz gleich, der Mann nach ihrem Herzen
und nach seinem Sinn, hat er noch dazu einem stark ausgeprägten Hang
zur Schwermut in sich Raum gegeben, der in das bisher sorglos unbefangene
Naturell der Braut schnell sich übertragen hat. So fehlt nichts
in dem dramatischen Kalkül: die innere wie die äußere Motivierung ist
lückenlos, alles drängt mit vereinter Kraft zu dem tragischen Ausgang.

Das ändert aber nichts an der nicht zu leugnenden Thatsache,
daß dieser Ausgang objektiv schlechterdings nicht notwendig [489]
ist, daß er einzig und allein aus einer seltenen Singularität in
Emiliens und in Odoardos Charakter erklärlich wird. Die Gesinnung,
aus der sie beide handeln, „daß das Leben das Einzige sei, was
die Lasterhaften haben,“ während sie selbst es willig, ja achtlos dahingeben,
wäre großartig, wäre moralisch erhaben, wenn die
Umstände gebieterisch dieses Opfer verlangten. Nichts kann aber die
scharfe Beobachtung ebenso wie das natürliche Gefühl darüber hinwegtäuschen,
daß der entscheidende Grund für die Darbringung dieses
Opfers ein Sophisma ist! Dies ist der schwache Punkt des
Stückes und es ist der Angelpunkt desselben!

Odoardo. „Jch ward auch so wütend, daß ich schon nach diesem
Dolche griff, um einem von beiden ─ beiden! ─ das Herz zu durchstoßen.

Emilia. Um des Himmels willen nicht, mein Vater! ─ Dieses
Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. ─ Mir, mein Vater, mir
geben Sie diesen Dolch.

Odoardo. Kind, es ist keine Haarnadel.

Emilia. So werde die Haarnadel zum Dolch! ─ Gleichviel.

Odoardo. Was? Dahin wäre es gekommen? Nicht doch, nicht
doch! Besinne dich. ─ Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.

Emilia. Und nur eine Unschuld!

Odoardo. Die über alle Gewalt erhaben ist.

Emilia. Aber nicht über alle Verführung. ─ Gewalt! Gewalt!
Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung
ist die wahre Gewalt. ─ Jch habe Blut, mein Vater, so jugendliches,
so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Jch
stehe für nichts. Jch bin für nichts gut. Jch kenne das Haus der
Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den
Augen meiner Mutter ─ und es erhob sich so mancher Tumult in
meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen
besänftigen konnten. ─ Die Religion! Und welche Religion? ─ Nichts
Schlimmeres zu vermeiden, sprangen Tausende in die Fluten und sind
Heilige! ─ Geben Sie mir, mein Vater, geben Sie mir diesen Dolch.“

Diese Stelle zumeist hat die Hypothese von Emiliens unbewußter
Liebe zum Prinzen hervorgerufen, denn diese allein würde ihre Befürchtung
erklären, ─ wenn sie ernstlich wäre! Es gibt freilich eine Auffassung,
die sie auch ohne jene Annahme für ernstlich gemeint ansieht und
obenein in dieser Wendung den gesunden Realismus des Dichters, seine
unbestechliche Beobachtung der Wahrheit bewundert. Aber das hieße
nicht allein an Lessings Edelsinn zweifeln, was schwer zu verzeihen ist,
sondern seine Einsicht in Frage stellen, was gar nicht zu verzeihen wäre: [490]
eine Unsicherheit seiner Heldin in diesem Punkte würde ihren Charakter
aufheben und damit das ganze Stück über den Haufen werfen. Nicht
die Furcht, sich selbst zu verlieren, läßt Emilia den Tod so begierig suchen
─ diese fleckenlose Natur würde keiner Art der Verführung erreichbar
sein, auch ohne das furchtbare Ereignis, unter dessen Eindruck sie steht,
auch ist der Charakter ihres Bedrohers so angelegt, daß vor dem Adel
dieser reinen Seele sein schlimmes Gelüste die Angriffskraft verlieren
würde ─, ihr Lebensüberdruß entspringt aus dem verwirrten Tumult
ihrer Seele, aus dem namenlosen, starren Entsetzen über den unerhörten
Einbruch in die heilige Welt ihres sittlichen Empfindens. Aber
das ganz Singuläre ihres Wesens ist, daß das Resultat nicht stolze
Empörung ist, nicht Aufraffung zur Abwehr, nicht Umblick nach Rettung,
sondern glühende Scham aus dem Gefühl frevelhafter Antastung und
nur das eine brennende Verlangen, der abermaligen Berührung mit dem
Laster zu entfliehen, die sie wie eigene Verschuldung empfindet. Das
„Und warum er tot ist! warum!“ entspringt nicht allein dem quälenden
Bewußtsein, jene rechtzeitige Mitteilung an den Grafen unterlassen
zu haben, sondern weit mehr noch der verzweifelten Gewißheit,
daß der Reiz ihrer Schönheit die Ursache seines Todes ist: diesen
Reiz fürchtet, verabscheut sie nun wie etwas, wodurch ihre Reinheit in
die Gemeinschaft mit dem Sündigen hineingezogen ist, was zwischen ihr
und ihrer Seele steht, so daß sie sich selbst nicht mehr vertrauen mag,
daß sie nur den einen leidenschaftlichen Wunsch hat, den Körper zu
zerstören, um wie ihre „Heiligen“ das reine innere Leben zu retten.
Aus solcher ungestümen Schwärmerei fließen ihre Worte und ─ noch
aus einem zweiten: es gibt keinen sophistischeren Advokaten als die
schwärmerische Leidenschaft; um den Vater zur Einstimmung fortzureißen,
wählt sie die Gründe und gibt ihnen gerade den, wie soll man sagen,
geradesten, durch seine Unumwundenheit aufreizendsten, Ausdruck, der
der Erreichung ihrer Absicht, ihrer krankhaften Sehnsucht am förderlichsten
ist. Und der Vater? ─ der sie vor sich selbst schützen sollte, mit Aufbietung
seiner ganzen moralischen Kraft sie zur Besinnung bringen? ─
er übernimmt selbst die grausige Vollziehung, überwältigt von demselben
Sturm der Empfindung, der, nur von einer andern Seite her aufgesprungen,
ihn demselben Strudel zutreibt!

Damit hat diese erschütternde, unnennbare Rührung erweckende,
Tragödie ihr Ende. Und mit vollem Recht! Hier ist kein Platz mehr
für weitere Katastrophen. Die Opferung Emiliens und Odoardos geschieht
in der bestimmt ausgesprochenen Absicht, daß die Strafe des
Prinzen in dem zerschmetternden Bewußtsein seiner reuigen Zerknirschung [491]
liegen soll, sie wird dem höheren Richter überlassen. Es scheint, Lessing
habe die Empfindung gehabt, der Prinz käme mit einem kurzen Dolchstoß
des erzürnten Vaters zu wohlfeil fort; es läge eine nachhaltigere
Wirkung darin, wenn die Anklage über ihm schwebend bliebe und die
Vergeltung in die drohende Zukunft eines Lebens voll Qual verlegt
würde, wogegen ein blutiger Tod fast als eine Absolvierung gelten
könnte. Diese Erwägung ist unzweifelhaft richtig; die Tragödie Lessings,
wie sie ist, duldet keine Änderung. Aber der Fehler steckt in der Anlage,
wonach er das großartige Virginia-Motiv auf eine Familientragödie reduzierte
und nur die mitleidswürdige Seite desselben herausarbeitete,
während er die furchtbare vorsätzlich zurücktreten ließ. Gewiß erweckt
der willkürliche Racheakt eines einzelnen Menschen bei weitem nicht die
Vorstellung von der Furchtbarkeit der Schicksalsgewalt, als wenn, wie
in der Antigone, wir diese Gewalt gewissermaßen selbst handelnd auftreten
sehen, wenn wir gewahren, wie eine unsichtbare höhere Macht
den Frevelnden durch seine eigenen Entschließungen zu dem seinen Absichten
am weitesten entgegengesetzten Ziele führt. Deshalb bestand
umgekehrt die Aufgabe für diesen Stoff darin, die Kraft seiner Wirkung
auf die Furchtbarkeit der darin sich vollziehenden Peripetie
zu gründen, der zur Vollendung der echten tragischen Katharsis „symmetrisch“
die mitleidige Rührung sich hinzugesellen mußte über unverschuldetes,
aber durch leichte Hamartie veranlaßtes Leiden. Lessing
basierte seine Tragödie allein auf die letztere; aber es fehlt ihr die Kraft,
die Furchtempfindung ebenbürtig zu erwecken, weil hier die tragische
Katastrophe selbst die Hamartie darstellt, statt durch die Hamartie
unvermeidlich herbeigeführt zu werden. Der am letzten Ende
alles entscheidende Entschluß Odoardos beruht auf einem starken Verstandesirrtum,
den Lessings Kunst begreiflich zu machen wußte, der
aber unter allen denkbaren Hamartien die geringste Kraft besitzt, die
tragische Furchtempfindung in Bewegung zu setzen, da die Vorstellung
der Unvermeidlichkeit, also der Allgemeinheit des damit verbundenen
Geschickes, dabei am schwächsten mitgeteilt wird. Selbst wenn Odoardo
in dem Glauben war, daß seiner Tochter Ehre unrettbar dem Prinzen
preisgegeben war ─ ein Glaube, der, an sich irrtümlich, wohl allenfalls
durch die sophistische Selbstanklage Emiliens in ihm momentan erregt
werden konnte ─, so hatte er mit seinem Entschluß, durch eine Gewaltthat,
bei der er sich selbst opferte, das Netz zu zerreißen, noch immer
die Wahl den Prinzen zu töten und die Tochter zu befreien. Dieser
Ausweg war der in jeder Beziehung zunächst liegende: der für die
Leidenschaft natürlichste, der den Gerechtigkeitssinn minder verletzende, [492]
der weniger grausame; nur die seltsame Verbindung von jäher Hitze und
moralischer Skrupulosität, die Lessing eigens für diesen Zweck komponiert
hat, konnte diese herzzerreißendste aber auch künstlichste Lösung annehmbar
machen.

„Die Zeit in der Tragödie ist furchtbar, wie das Schicksal
selbst,“ sagt Kuno Fischer,1 „und ich kenne kein Trauerspiel, worin mir
diese Furchtbarkeit so eingeleuchtet hätte, wie hier, keines, worin jede
Handlung und jede Unterlassung so wie hier an ihren Zeitpunkt gekettet
wäre. Dies gilt auch von dem Moment, worin Emilia den Entschluß
zu sterben faßt; auch von dem Augenblick, worin Odoardo sie tötet.
Dadurch wird die Notwendigkeit der Handlungen nicht abgemindert,
sondern in Wahrheit erst vollendet.“ Darin liegt ein sehr schwerer
Jrrtum. Eine jede unglückliche Übereilung wird durch den Moment, an
den sie gekettet ist, psychologisch erklärlich; sie wird sicherlich, je mehr sie
das ist, um so beklagenswerter sein, aber in demselben Maße, als das
Mitleid durch die Erwägung wächst, daß nur der Moment, und zwar
nur für einen ganz eigenartigen Charakter, den unglücklichen Entschluß
verschuldete, wird naturgemäß die Furcht, d. h. die Vorstellung, daß das
durch diesen Entschluß bedingte Schicksal als ein allgemein vorauszusetzendes,
unvermeidliches zu gelten habe, abgeschwächt werden: eine
solche That wird, je heftiger sie uus rührt, um so
weniger furchtbar sein.

Äußerungen wie die eben citierte Kuno Fischers bestätigen nur die
Thatsache, daß auf diesem Gebiete eine schwer zu lösende Verwirrung
herrscht, eine Verwirrung, die außer durch Lessings und Schillers irrtümliche
Theorie zum großen Teil durch den nach dem Sprachgebrauch
mit dem Wort „furchtbar“ verbundenen Sinn verschuldet sein mag.
Wir sprechen von einem „furchtbaren Unglück“, wenn jemand bei
der Ersteigung des Matterhorns im Absturz zerschmettert wird, wenn
auf offener See durch einen Schiffsbrand die Bemannung den Tod findet,
oder wenn ein überführter Fälscher seine ganze Familie und sich selbst
ums Leben bringt: und doch kann in keinem dieser Fälle von „tragischer
Furcht
“ die Rede sein, während ein jeder derselben, in entsprechender
Vollständigkeit dargestellt, unser Mitleid in hohem Grade in
Anspruch nehmen wird. Die Lessingsche Erklärung der Furcht paßt auf
jeden dieser Fälle, und der Sprachgebrauch ist auch in seinem vollen
Rechte, sie „furchtbar“ zu nennen; alle diese Ereignisse sind danach
angethan, unsere Furcht zu erregen, sobald wir uns vorstellen, [493]
sie beträfen uns selber. Es ist auch keine Frage, daß diese
„Furchtbarkeit“ in dem Grade wächst als uns die Vorstellung des unglücklichen
Ereignisses näher gerückt wird, d. h. je vollständiger, wahrheitsgetreuer
sie uns vorgeführt wird, z. B. in einem Gemälde, einer epischen
Schilderung: eine Nachahmung durch Handelnde, also eine dramatische,
wenn sie möglich gemacht würde, müßte den höchsten Grad jener
„Furchtbarkeit“ erreichen. Wie geschieht es nun, daß schon die
bildliche oder epische Ausführung eines solchen Vorwurfs, wenn sie nicht
Nebenwerk ist, sondern zum Hauptzweck gemacht wird, ein ästhetischer
Mißgriff
ist, weil sie uns wohl sensationell „impressionieren“ aber
nicht künstlerisch erfreuen und erheben kann, daß vollends die dramatische
Behandlung
eines solchen Stoffes eine Monstrosität wäre?

Die Antwort ist: weil diese Stoffe eben nur insoweit „furchtbar“
sind, als es zur Erregung des Mitleids erforderlich ist, da wir nur solche
Vorfälle bemitleiden können, die unsre Furcht erregen, sobald wir
uns vorstellen,
sie träfen uns selbst. Hier ist die Furcht in das
Mitleid eingeschlossen! Zur Tragik ist aber erforderlich, daß wir
die dargestellten Vorfälle uns so vorstellen! Das ist eine ganz neue,
selbständige Forderung, deren Erfüllung von ganz anderen Faktoren
abhängt, als die Aufgabe mitleidig zu rühren. Sie kann allein
dadurch erreicht werden, daß, ganz abgesehen von dem materiellen Jnhalt
des Dargestellten, die Art und Weise seines Vollzuges die Vorstellung
eines über allen, also auch über uns, unentrinnbar waltenden Schicksals
so unmittelbar dem innern Sinne gegenwärtig macht, daß sie uns zugleich
vor seiner Macht erzittern und sie verehrend anerkennen läßt. Diese
Empfindung ist der kathartische Phobos des Aristoteles, die reine
tragische Furcht. Daß sie diese Empfindung so gewaltig in uns aufzuwecken
vermögen, das macht die Größe der Tragödien des Äschylus
und des Sophokles aus und ebenso der des Shakespeare!

Wie schon früher1 in anderem Zusammenhange so zeigt sich hier
wieder die „Größe“ als ein unentbehrliches Attribut der tragischen
Handlung, die im Verhältnis der Allgemeingültigkeit des durch die
Handlung repräsentierten Schicksalsgesetzes wächst. Die Allgemeingültigkeit
des dargestellten Schicksals vermag allein jene mit hoher Fassung
verbundene Furcht hervorzubringen; aber der Begriff derselben verlangt
die schärfste Begrenzung. Daß Schwäche, Vergehen, Verschuldung
am letzten Ende unglückliche Folgen nach sich ziehe, ist zwar ein allgemeines
Gesetz, aber die Nachahmung solcher „traurigen“ Schicksale kann [494]
furchterregende Geltung doch nur für die kleine Anzahl derer haben,
die sich in einem dem dargestellten ähnlichen Falle befinden oder durch
ihre Disposition sich einem solchen ausgesetzt fühlen. Zudem ist diese
Furcht nur die Furcht vor der Strafe, ein untergeordnetes Surrogat
freier, moralischer Empfindungsweise, und weder diese noch jene ist
Wirkungszweck der Kunst. Solche sogenannten tragischen Sujets erwecken
im besten Falle nur Mitleid, wie Lessings „Miß Sara“, weit häufiger
aber wirken sie peinlich verstimmend, als unwillkommene Wiederholungen
menschlichen Elends, wie Jfflands „Verbrechen aus Ehrsucht“; und
zwar haben sie diese kunstwidrige Wirkung in um so höherem Grade, je
realistisch „wahrer“ sie sind.

Aber ebensowenig kommt jene Allgemeingültigkeit dem unglücklichen
Schicksal zu, das bisweilen an Handlungen der reinsten Moralität sich
knüpft; es ist der große Jrrtum der Schillerschen Theorie, daß sie das
Wesen der Tragik gerade in solchen Handlungen erblickt, die mit dem
Schmerz über das Leiden das überwiegende Vergnügen an der Moralität
der handelnden Personen verbinden. Aber es ist kein allgemeingültiges
Gesetz, daß mit solchen Handlungen solche Geschicke verknüpft sein müssen,
sondern es ist ein singulärer Fall, wenn so etwas geschieht, welcher eine
erhabene Rührung in uns erweckt über die Seelengröße, die um der
Tugend willen den Schmerz sich erwählt, aber keineswegs die Furcht,
daß die drohende Gewalt des hier sich vollziehenden Geschickes auch über
uns schwebe.

Es bleibt also nur der dritte Fall übrig: wenn das Leiden weder
verschuldet
sein darf, noch unverschuldet, so kann es nur ein
solches sein, welches durch einen Fehler ursächlich veranlaßt
wird. Nun ist aber nur großes, schweres Leiden für die tragische
Handlung geeignet, weil nur solches Mitleid und Furcht in vollem
Maße erwecken kann; damit jedoch ein Fehler, ein Jrrtum vermögend
sei ein solches großes, schweres Leiden ursächlich zu veranlassen,
dazu ist entweder die hervorragende Bedeutsamkeit der die Verwickelung
bedingenden Verhältnisse erforderlich oder die seltene
Kraftfülle
der die Handlung tragenden Gemüter: also entweder
heroische Situationen oder heroische Charaktere. Es kann
aber keine Frage sein, daß die einen geeignet sind die andern hervorzubringen,
beziehungsweise ihre volle Kraft zur Äußerung hervorzurufen.
Nimmt nun das „bürgerliche Trauerspiel“ seine Stoffe aus
Epochen, in denen das Bürgertum in großartigen Verhältnissen sich
kräftig wirksam zeigt, so kann es ohne Zweifel jenen Anforderungen
genügen; es trägt dann aber seinen Namen mit Unrecht, weil er nichts [495]
zur Sache thut. Beschränkt es sich aber, seinem historischen Ursprung
gemäß, auf die engen Kreise modernen bürgerlichen Familienlebens, so
scheint die höchste Kunst nicht ausreichend, um es vor jener Einseitigkeit
zu bewahren, in der es die Fähigkeit die rechte tragische Furcht zu erwecken
einbüßt und bei aller Stärke des Mitleids, mit dem es uns
rührt, doch einen Zug von Kleinlichkeit enthält.

Auch die Tragik von Shakespeares „Romeo und Julie“ und
Othello“ bewegt sich ausschließlich auf dem Boden der Familienbeziehungen,
aber es ist instruktiv zu gewahren, wie die Größe und
Würde der Tragik in beiden Stücken schlechterdings daran geknüpft ist,
daß der Dichter für seine heroischen Charaktere auch die entsprechenden
Verhältnisse erfunden hat, in denen allein die ihrer dämonisch kraftvollen
Natur anhaftenden Hamartien das „furchtbar“ Verhängnisvolle
erhalten. Die Eifersucht eines „bürgerlichen“ Othello könnte durch keine
Kunst an der Klippe des Genrehaften vorübergeführt werden; nur in
dem Charakter und in der Situation des Mohren, wie Shakespeare sie
dafür erschuf, erhielt sie die volle Gewalt der „furchtbar“ wirkenden
Hamartie. Mit Recht sagt Lessing von „Romeo und Julie“, daß „die
Liebe selbst an dieser Tragödie mitgearbeitet habe“; aber das Tragische
dieser Liebe liegt nicht in der Urgewalt, mit der sie sich der Seelen der
beiden bemächtigt oder der alles überwindenden, reinen Größe, mit der
sie fortan in ihnen, sie ganz ausfüllend, herrscht, sondern es liegt in
der völligen Achtlosigkeit gegen alle anderen Verhältnisse, gegen jede
außerhalb ihres Bereiches liegende Verpflichtung, die dieser Liebe durch
die Gewaltsamkeit der umgebenden Umstände eigen ist, unter denen sie
so plötzlich hervorbricht. Die Machtstellung der feindlichen Geschlechter,
die den unzähmbaren Haß, der sie entflammt, zu den Dimensionen eines
das ganze Gemeinwesen zerrüttenden Übels heranwachsen läßt, die Gewaltthätigkeit
einer Zeit, in der das bürgerliche Gesetz nur erst einen schwachen
Damm gegen jede Art der Selbsthilfe bildet, sind die unentbehrlichen
Voraussetzungen für den „furchtbaren“ Verlauf dieser Tragödie der Liebe.

Die tragische Handlung bedarf eines typischen Verlaufs,
um den Zusammenhang zwischen der Hamartie
und dem Unglücksschicksal,
d. i. das Element des Furchtbaren,
möglichst rein zur Darstellung zu bringen; jeder
vermittelnd, hemmend, retardierend dazwischen tretende
Umstand trübt diese Reinheit: die unzähligen, einschränkend
bedingenden Verhältnisse des engeren
bürgerlichenLebens
sind ebenso viele derartig die typische Reinheit des
furchtbaren
tragischen Schicksals beeinträchtigende Umstände.

[496]

Es erhellt aus diesem Gesetz, in wie hohem Maße die Erreichung
der echten tragischen Wirkung von der Kunst der Behandlung
abhängt,
sei es nun, daß dieselbe durch die unfehlbar das Richtige
treffende Urteilskraft des Genies regiert wird ─ der seltenste Fall ─,
sei es, daß klare theoretische Erkenntnis das Ansehen einer anerkannten
Regel gewinnt, die auch das minder große Talent vor Mißgriffen zu
schützen vermag.

Ein schlagendes Beispiel dafür ist die Gretchen-Tragödie in
Goethes Faust. Der Stoff an sich ist herzzerreißend, aber nicht
furchtbar im tragischen Sinne: was aus diesem Stoff in der Behandlungsweise
des „bürgerlichen Trauerspiels“ werden kann, davon gibt Leopold
Wagners
„Kindermörderin“ ─ ein Stück, dem es an Proben eines
starken Talentes keineswegs fehlt, wohl aber gänzlich an jenem genialen
Jnstinkt, der die Regel entbehrlich macht ─ ein bedauerliches Zeugnis.
Goethe hat sich wohlweislich gehütet diesen Stoff zum Träger der
tragischen Handlung zu machen ─ etwa einer Tragödie „Faust und
Margarethe“; daß aber die hochbedeutende Episode, zu der er den
Stoff gestaltete, uns mit aller Gewalt der echten Tragik ergreift, mit
der vollen Kraft des Mitleids und der Furcht uns durchschauert, die
eben darum zu der kathartischen Wirkung beruhigten Schmerzes, geklärter
erhobener Schicksalsempfindung sich vereinen: das konnte nur
durch die wundervolle Kunst der Behandlung dieses Stoffes erreicht
werden, die das Detail der Neben- und Zwischenumstände fast völlig
zu verflüchtigen
vermochte, um das Typische der Handlung in ungetrübter
Reinheit erscheinen zu lassen. Es war die einzige mögliche Behandlungsweise,
um diesen widerstrebenden Stoff auf der tragischen Höhe
zu halten und die mächtige Tragik seiner rein menschlichen Wirkung für
das große geistige Gefüge des Ganzen zu gewinnen, zugleich ihn mit der
durch das übersinnliche Element bedingten, dort herrschenden Färbung
des Wunderbaren so völlig zu verschmelzen. Goethes Kunst vermochte
es diese Zwischenhandlung auf dieselbe Höhe poetischer Symbolik zu
erheben, auf welcher die Haupthandlung durchweg sich bewegt; die Tendenz
des spezifisch sogenannten „bürgerlichen Trauerspiels“ geht dahin, diese
Höhen zu vermeiden, ihn in den Niederungen der Realität zu erhalten,
ja sie sucht ihre Triumphe in der möglichst „naturwahren“ Wiedergabe
des alltäglichen Lebens.

Das kann mit mehr oder weniger Geschmack und poetischer Kraft
geschehen; aber auch Lessings „Miß Sara“, Goethes „Clavigo“, Schillers
„Kabale und Liebe“ kranken an diesem Fehler. Alltägliche Schwäche
und Verschuldung, alltägliche Leichtgläubigkeit und Übereilung, alltägliche [497]
Selbstsucht und Gemeinheit sind hier die Ursachen jammervoller Katastrophen.
Die Kunst unserer drei größten dramatischen Dichter hat in
jedem dieser drei Stücke die Alltäglichkeit des Stoffes genugsam geadelt,
um dem lediglich Traurigen die Kraft zu verleihen, uns zu tiefstem Mitleid,
zu überwältigender Rührung hinzureißen: aber die furchtbare Majestät
der über alle gleichmäßig erhabenen Schicksalsgewalt
der Empfindung zu unmittelbarer Gegenwart zu erwecken,
diese höchste tragische Weihe
vermochte sie ihnen nicht zu erteilen. ──────


XXIV.

Mit einem Worte: der Mangel der modernen Theorie der Tragödie
und, bis auf sehr wenige Ausnahmen, auch der modernen tragischen
Dichtung ist, daß sie die Bedeutung der tragischen Furcht als eines
unentbehrlichen, mächtigen und ganz selbständigen Faktors ihrer Wirkung
verkannte. Die klassische Tragödie der Franzosen hatte sich zwar laut
genug auf denselben berufen, aber sie hatte ihn mißkannt; sie faßte den
Phobos als terreur, die tragische Furcht als Schrecken auf, und setzte
statt des Furchtbaren das Fürchterliche, das Gräßliche. Es lag nicht
allein in Lessings theoretischem Jrrtum, sondern in der gesamten
geistigen Entwickelung des 18. Jahrhunderts, daß man nun das Heroisch=
Fürchterliche ganz eliminierte und die Aufgabe der Tragödie allein in
der Darstellung des Mitleidswürdigen, des allgemein menschlich Rührenden
erblickte. Den aristotelischen Satz, daß furchterweckend das Leiden uns
ähnlicher Personen
sei, bezog man, statt darin die Forderung der
Allgemeingültigkeit des dargestellten Schicksals zu erblicken, auf
die Gleichheit der äußeren Lage, wie Stand und sonstige Existenzbedingungen
sie hervorbringen, und sprach die Bevorzugung des bürgerlichen
Elementes in der Tragödie als einen der wesentlichsten Fortschritte
zur Erreichung ihrer vollen Wirkung an.

Niemand wird verkennen, daß dieses Stadium der Entwickelung
unvermeidlich, daß es notwendig und heilsam war. Das heiße und
erfolgreiche Streben nach Wahrheit vor allem in der Nachahmung
der Empfindung und der Charaktere, aber auch in der Darstellung des
Thatsächlichen führte hier den Kampf gegen die Unnatur, die Leerheit,
den widersinnigen Schwulst der unbehülflichen Nachahmung fehlerhafter
oder unverstandener Muster. Diese Richtung hatte temporär und relativ
ihre gute Berechtigung, aber sie verführte zu dem Jrrtum, die Bevor= [498]
zugung des „bürgerlichen Trauerspiels“ als eine absolute Förderung
der tragischen Kunst anzusehen, während sie umgekehrt dem tragischen
Dichter seine Aufgabe in hohem Grade erschwert.

Wenn nun der große Lehrmeister in diesen Dingen, wenn Lessing
gerade dieser Richtung durch den Jrrtum seiner Theorie die stärkste
Unterstützung lieh, so schien es geboten, alle Kraft der Waffen gegen
denselben ins Feld zu führen.

Die Konsequenz jener ganzen Erörterung ist diese: wenn es richtig
ist, daß es eine sehr große Zahl von Handlungen, wirklichen oder nachgeahmten,
geben kann, die unser Mitleid anregen, ohne die in uns vorhandene
Furchtdisposition in Bewegung zu setzen, oder doch dieses nur
bei einer beschränkten Anzahl besonders beschaffener oder situierter Menschen
bewirkend, so werden doch auch Handlungen denkbar sein, wirkliche
oder nachgeahmte, welche, indem sie bei allen nicht extrem Gesinnten,
d. h. Leichtsinnigen oder Verzweifelten, Mitleid erregen, zugleich die
Bedingungen in sich vereinigen, bei diesen allen die vorhandene Furchtdisposition
in eine dem erregten Mitleid gleiche oder ähnliche Bewegung
zu setzen. Solche Handlungen hielt Aristoteles für die Nachahmung in
der Tragödie geeignet; er mußte daher, um sie zu charakterisieren, sich
schlechterdings beider Bezeichnungen bedienen.

Daraus ergibt sich dann weiter, daß, trotz Lessing und allen anderen,
an allen den Stellen, wo in der aristotelischen Poetik „Furcht“
und „Mitleid“ durch die disjunktiven Partikel „weder ─ noch“ und
„entweder ─ oder“ verbunden sind, diesen Partikeln allerdings ihre
eigentliche disjunktive Kraft beiwohnt. Die besten tragischen Handlungen
sind diejenigen, die durch ihren bloßen Verlauf schon beide Affekte gleich
stark erwecken; es gibt aber tragische Handlungen, und zwar sehr geeignete,
welche zunächst den einen von beiden Affekten als den primären
in besonders hohem Grade zu erregen geeignet sind. Tragisch brauchbar
sind solche Stoffe aber nur in dem Falle, daß sie wenigstens die Disposition
für den verwandten Affekt, als den sekundären, herzustellen vermögen:
die Sache des Dichters wird es sein, durch Verstärkung der dahin
zielenden Umstände, durch die Anwendung aller dazu wirksamen
Mittel diese Disposition nun auch wirklich in Thätigkeit zu setzen. Es
bedarf nur eines abermaligen Hinweises auf den antiken Chor, um an
zahlreiche Beispiele zu erinnern, in denen dieses so überaus wichtige
Jnstitut der alten Tragödie sowohl in Bezug auf das Mitleid als
namentlich in Bezug auf die Furcht jene Aufgabe erfüllt; denn bei der
Mehrzahl der tragischen Stoffe ist es das Mitleid, das als der primäre
Affekt überwiegt. Wenn also Aristoteles von den Stoffen spricht, die [499]
zur tragischen Behandlung sich eignen, kann er gar nicht anders als sie
in der weitesten Ausdehnung so bezeichnen, wie er es thut: solche, die
entweder Furcht oder Mitleid“ ─ \̓η ἔλεον \̓η φόβον ─ erwecken;
oder wenn er von den Stoffen spricht, die ganz für die tragische
Behandlung ungeeignet sind: solche, die „weder Mitleid noch Furcht“ ─
οὔτε ἔλεον οὔτε φόβον ─ erregen.

Das erste und allgemeinste Kennzeichen eines tragischen Stoffes
ist, daß er den einen der beiden tragischen Affekte hervorzubringen
vermöge. Die Tragödie fordert aber beide. Die schärfere Prüfung hat
nun zu untersuchen, ob ihm auch die Motive innewohnen, die zu dem
zweiten disponieren. Es ist die Kunst des Dichters, die dafür zu
sorgen hat, daß, was in dem Motiv der Handlung noch unentwickelt
ist, unter seinen Händen zur vollen Entfaltung komme.

Erst durch das ebenbürtige Hinzutreten des zweiten zu dem ersten
Affekte wird in der echten Tragödie der Boden geschaffen, auf dem ihr
„eigentliches Werk“, die Katharsis, vor sich gehen kann. Die beiden
Hauptbedingungen dafür, daß die Handlung beide Empfindungen erwecke,
sind, daß das dargestellte Leidensschicksal ein unverdientes sei
und daß es nach seinen äußeren und inneren Bedingungen die Erfüllung
eines allgemein geltenden Gesetzes repräsentiere, zu dem wir uns
in demselben Verhältnis stehend fühlen, wie der Leidende: daß der
Leidende also in Bezug auf sein Verhältnis zum Schicksal uns ähnlich
sei.

Es liegt in diesen beiden aristotelischen Bestimmungen eine ganz
unerschöpfliche Tiefe; das tritt namentlich hervor, wenn man damit die
Mendelssohnsche Erklärung des Mitleidsbegriffes vergleicht, die mit
Unrecht von Lessing gelobt und bewundert wird: daß nämlich das Mitleid
eine „gemischte Empfindung“ sei oder vielmehr somit eine Erscheinung
auf dem Gebiet der Empfindungen, und zwar gemischt aus der
Liebe zu einem Gegenstande und der Unlust über sein Leiden. Sehr
mit Unrecht ist dann in neuerer Zeit behauptet worden, daß diese Definition
in einem christlich=modernen Gegensatz zu der antiken stehe, die
nur ein „selbstsüchtiges“ Mitleid kenne; durch die Mendelssohnsche
Auffassung sei der Begriff erst veredelt und erweitert. Das Gegenteil
zu behaupten wäre richtiger. Die moderne Erklärung schränkt
den Begriff auf das Pathema eines mehr oder minder selbstsüchtigen
Affektes ein.

Nur da, wo wir lieben, sollen wir Mitleid fühlen? Nach dem
aristotelischen Begriff ist das Mitleid vielmehr vermögend, diese Liebe
zu erwecken,
in jedem Falle die Fähigkeit der Anerkennung und Ach= [500]
tung zu erweitern, die Bereitschaft dazu in uns zu erhöhen. Das trifft
schon für unser Verhältnis zur Tierwelt zu: es genügt, daß wir ein
Tier, das wir vielleicht sonst verabscheuen und zu vernichten geneigt
sind, leiden sehen, um die Teilnahme für dasselbe in uns zu erzeugen,
uns in ihm das mitlebende Geschöpf erkennen zu lassen, unsere achtsame
Aufmerksamkeit auf die Vorzüge seines Baues, auf den Wert seiner
Existenz zu lenken. Um wie viel mehr trifft das alles bei menschlichen
Leiden zu! Schmerzlich trifft uns der Anblick des Leidens und versetzt uns
in eine lebhafte Unruhe, die dem Vorgange unsere ganze Energie zuwendet.
Sogleich nun drängt sich der edleren Seele ─ wie denn Aristoteles
das Mitleid ein Pathos ἤθους χρηστοῦ, die Empfindung „eines gutgearteten
Gemüts
“ nennt ─ die Frage auf, ist das Leiden verdient
oder leidet der Unglückliche weit über Verdienst? und damit zugleich die
Frage nach dem Verhältnis des einzelnen Unglücksschicksals zu der allgemein
geltenden Gesetzmäßigkeit desselben, unter der wir alle gleicherweise
stehen. Zeigt uns nun die vollständige Nachahmung der Handlung
das Leiden als ein unverdientes, bewährt sich die Kraft des Leidenden
im Unglück, so erwächst aus dem dadurch erregten reinen Mitleid
zugleich die Achtung und die Liebe für den Leidenden. Wenn aber
nach der Natur der menschlichen Verhältnisse, je genauer wir beobachten
und je vollständiger uns das Material dazu geboten wird, wir desto
mehr Milderungsgründe entdecken werden, selbst da, wo scheinbar verschuldetes
Leiden uns begegnet, so ist nach alledem das richtige Mitleid,
statt als Voraussetzung die Liebe zu seinem Gegenstande zu haben, vielmehr
eine der wesentlichsten Kräfte, um dieselbe hervorzubringen.
Dieselbe Wirkung aber, die das reine Mitleid auf unser
Verhältnis zu den Nebenmenschen ausübt, nämlich die Achtung vor denselben,
die Liebe zu ihnen zu erhöhen, bringt die reine Empfindung der
Furcht in unserem Verhältnis zur Gottheit hervor, und zwar als unmittelbare,
ästhetische Bewegung, nicht als das Resultat einer moralischen
Erwägung und Entschließung.

Die Herstellung dieser reinen Mitleid- und Furchtempfindung
setzt sich die Tragödie zum Ziel; während die beiden Empfindungen,
sobald sie fehlerhaft beschaffen sind, sich gegenseitig Eintrag thun, ja
unter Umständen einander geradezu ausschließen, ist ihr Verhältnis, sobald
sie in reiner Gestalt auftreten dieses, daß sie notwendig und untrennbar
miteinander verbunden sind: die Nachahmung eines Leidensschicksals,
die das reine Mitleid erweckt, wird zugleich vermögend sein,
auch die reine Furcht zu erzeugen; umgekehrt wird ein Schicksal, das
uns mit dieser Furcht erfüllt, auch das Mitleid in seiner reinsten Ge= [501]
stalt rege zu machen die Kraft in sich besitzen. Jn beiden Fällen aber
ist es die Sache des Dichters, diese Kraft wirksam in die Erscheinung
treten zu lassen. Nach diesem Gesichtspunkt hat er den Aufbau der
Handlung zu gestalten, ebenso wie er für die Vollständigkeit derselben
ihn fest im Auge zu behalten hat. Wie auch die der tragischen Darstellung
zu Gebote stehenden verschönernden Kunstmittel im Dienste dieses
Hauptzweckes der Nachahmung verwandt werden können, ist im vorstehenden
wiederholt angedeutet worden.

Auf die Katharsis der Schicksalsempfindungen zielen also
die sämtlichen Mittel der Darstellung in der Tragödie mit vereinigter
Kraft hin. Jhr Stoff kann nicht eine Handlung sein, die nur Mitleid
erzeugt, ebensowenig eine solche, die nur Furcht erregt: in beiden
Fällen wären diese Empfindungen, eben weil sie allein herrschen, oder
doch insofern die eine von ihnen entschieden vorherrscht, fehlerhaft,
unrichtig, unrein und deshalb untragisch. Der Stoff ist so zu wählen,
daß die mitleiderregende Handlung auch die Merkzeichen an sich trage,
die für die Entstehung der Furcht erforderlich sind, und daß die furchterregende
Handlung auch die Bedingungen in sich trage, die für die
Entstehung des Mitleids unentbehrlich sind. Für die Behandlung
des Stoffes gilt dann das Gesetz, daß in dem einen und in dem andern
Falle die Bedingungen für den komplementären Affekt derartig herausgearbeitet
werden, daß er dem andern ebenbürtig, symmetrisch mit ihm,
zur Geltung gelange: damit, aber auch nur damit, ist die sichere Gewähr
gegeben, daß sie beide in richtiger, reiner Gestalt hervorgebracht
werden, d. h. mit andern Worten, daß die Katharsis der tragischen
Empfindungen erreicht ist.

Denn nur in reiner Gestalt vermögen dieselben jene innige Verbindung
einzugehen, welche ─ eine seltene und große Erscheinung ─
durch die hohe Kunst des tragischen Dichters zuwege gebracht wird.
Es war Lessings Grundirrtum, daß er dieses nur im vollendeten
Kunstwerk eintretende Wechselverhältnis als das allgemein
vorhandene ansah.

Um ein Beispiel anzuführen: die aristotelische Poetik nennt als
eines der Hauptkennzeichen eines tragischen Stoffes, daß derselbe die
Darstellung schweren körperlichen Leidens ─ Pathos im spezifischen
Sinne ─ enthalte. Nun ist gewiß ein jedes derartige Leiden vermögend,
Mitleid zu erwecken, tragisches Mitleid jedoch nur, insofern es ein
unverdientes Leiden ist. Aber auch die weitaus größte Mehrzahl
solcher Leidensfälle wäre an sich noch gänzlich untragisch, wie die
tägliche Erfahrung es lehrt und die Theorie bestätigt: eben weil der= [502]
artiges Leiden die Furcht nicht erweckt. Eine unheilbare Krankheit, die
schweres, äußerlich sichtbares Leiden mit sich bringt und die den Leidenden
ohne sein Verschulden überfallen hat, bewegt uns zu lebhaftem
Mitgefühl, auch wenn nicht, wie im Falle des Philoktet, das Leiden noch
durch Einsamkeit und Hülflosigkeit verstärkt wird. Es ist auch richtig,
daß ein solches Leiden uns furchtbar erscheint, sofern wir uns vorstellen,
es träfe uns selbst ─ eben deshalb bemitleiden wir es ja ─ aber die
Kraft, diese Darstellung als eine unabweisliche thatsächlich in uns zur
Herrschaft zu bringen, wohnt einem solchen Leiden an sich noch nicht bei.
Ganz allein dadurch erhält das schwere körperliche Leiden ─ das „Pathos“
─ des Philoktet die tragische Kraft und Würde, daß es als ein
„von den Göttern über ihn verhängtes“ erscheint: σὺ γὰρ νοσεῖς τόδ'
ἄλγος ἐκ θείας τύχης, „du krankst an diesem Leid durch göttliches
Geschick,“ ruft Neoptolemos dem Philoktet zu. Damit ist dieses, das
Mitleid im höchsten Maße herausfordernde Leiden in eine ganz andere
Sphäre gerückt: nicht durch eigenes Verschulden hat er es sich zugezogen,
auch nicht durch einen blinden Zufall ist er davon befallen, sondern
durch den das allgemeine Schicksalsgesetz, unter dem wir alle stehen, ausführenden
Götterwillen ist es ihm auferlegt, und zwar um einer Hamartie
gegen die Gottheit willen, von der die Sage meldet. Wie aber
Sophokles dieses Motiv der Sage aufgefaßt und behandelt hat, gewährt
abermals einen tiefen Einblick nicht nur in den Kunstverstand der alten
Tragiker, sondern in das Wesen der tragischen Kunst selbst. Es liegt
ihm ganz fern, etwa mit rückgreifender Exponierung des Vorfalles, an
den die Sage die Erkrankung des Philoktet knüpft, die Hamartie desselben
anschaulich zu machen; er läßt vielmehr geflissentlich das Dunkel
des symbolischen Schleiers darüber bestehen und begnügt sich, durch gelegentliche
starke Betonung das obwaltende Verhältnis im Gefühl lebendig
zu machen; nur aber um in der Handlung selbst das Wesen der
Hamartie, um derentwillen sein Held leidet, desto nachdrücklicher
zur Erscheinung
zu bringen: denn diese ganze Handlung dreht
sich darum, der verletzten Eusebeia, der mißachteten Götterfurcht,
gegen den starren Eigenwillen des Mannes zum Siege
zu verhelfen.

So lautet der Beschluß der den Knoten lösenden, den Ausgang
entscheidenden Anrede des in der Wolke erscheinenden Herakles an den
Philoktet:


Doch dies behalte fest im Sinne: wenn du nun

Die Stadt zerstörst, zu fürchten fromm der Götter Macht:

Vor allem andern achtet dies der Vater Zeus.
[503]
Denn Tod der Götterfurcht ist Tod der Sterblichen

Jm Leben: doch sie dauert über ihren Tod.

Mit vollster Deutlichkeit hat der Dichter vom Anbeginn die Handlung
auf diese Entscheidung gestellt: ob die Eusebeia, die fromme Scheu
vor dem Schluß der Götter und die Ergebung in ihren Willen, zur
Geltung gelangt oder der entgegenstehende Trotz, das Mißtrauen und
die Erbitterung gegen das Geschick die Oberhand behalten. „Jnnig
jammert des Mannes mich,“ singt der Chor, „den kein menschliches
Auge, das seiner hütet und wacht, erquickt, wie er ewig allein, ach! am
wildwühlenden Schmerze krankt und not leidet an allem, was heischt des [504]
Lebens Bedarf. Wie nur, o wie trägt es der Arme nur? Furchtbare
Götterhand! Weh, unseliges Staubgeschlecht, maßlos duldend im Leben!“
Und darauf die Erwiderung des Neoptolemos:


Mir scheint hier nichts der Verwunderung wert:

Denn ward mir einige Weisheit auch,

Jst dieses Geschick von den Göttern verhängt,

Brach über ihn ein durch Chryses Zorn;

Auch was er, freundlicher Pflege beraubt,

Jetzt duldet, geschieht nach der Ewigen Rat,

Daß nicht auf Jlions Feste zu früh

Er spanne des Gott's unbezwinglich Geschoß,

Eh' nahte die Zeit, da sie diesem erliegt,

Wie's ihr nach dem Spruche verhängt ist.

Dagegen nun Philoktetes auf die Kunde, daß Patroklos mit den
Besten dahingerafft ist und Thersites zurückkehrt:


Wohl muß er leben, weil ja noch nichts Böses starb.

Mit zarter Sorgfalt hegen das die Himmlischen;

Sie lieben, Tückevolles und Verschlagenes

Zurückzuführen aus des Hades Nacht, und stets

Hinabzusenden, was gerecht und edel ist.

Wie nenn' ich's? Soll ich's loben, wenn ich Götterthun

Bereit zu loben, Götter selbst als schlecht erfand?

Also: das jammervolle Geschick, unter dem wir Philoktet leiden
sehen, beruht auf einer Hamartie, die vor dem Stücke liegt, auf welche
zwar immer wieder aufs neue hingewiesen wird, die aber nach ihren
näheren Umständen im Dunkel bleibt. Tragisch furchtbar wird
dieses Geschick allein dadurch, daß es die Seele des Leidenden zu dem
eisernen Trotze verhärtet hat, der ihn die Fortdauer seiner Qualen der
doch von den Göttern gebotenen Rettung durch seine Feinde vorziehen
läßt. Dies ist die eigentliche, im Stücke selbst wirksame Hamartie
des Helden: durch sie wird der entscheidende Ursachsanteil an dem, dadurch
erst echt tragisch gestalteten, Leiden aus den Händen des dunkeln
Geschickes in die Brust des Handelnden verlegt: dadurch allein erlangt
es die Kraft, die Seele des Zuschauers mit der tragischen Furcht zu
durchbeben, daß er dem gleichen preisgegeben sei, mit der Empfindung:


Wie drohend alles, voll Gefahr, der Menschen Pfad

Umlagert, hier das Ungemach und dort das Glück.

Wer frei von Leid ist, blicke fürchtend auf das Leid

Und wer das Glück hat, schaue frei mit wachem Blick

Jns Leben, daß nicht ungeahnt der Fluch ihn trifft!
[505]

Und ebenso wie durch diese Wendung das Leiden des Philoktet furchterweckend
wird, so wird dadurch das peinlich jammervolle Mitgefühl
mit demselben zum wahren Mitleid geläutert: der Dichter hat damit
das bloße „Pathos“ des schweren körperlichen Leidens zum würdigen
Gegenstand der tragischen Handlung geadelt.

Noch manches andere in dem Stück erklärt sich aus dieser Betrachtung:
so der glückliche Ausgang der Tragödie und die Lösung des
Knotens durch den deus ex machina.

Es liegt hier der Fall vor, von dem im obigen schon mehrfach
die Rede gewesen ist, in welchem die Tragödie zu ihrer kathartischen
Wirkung gebieterisch statt des Ueberganges ─ der μετάβασις ─ vom
Glück zum Unglück vielmehr der Wandlung des Unglücks in Glück bedarf.
Der Fall kann nur in der verwickelten Tragödie statthaben, deren
Handlung also auf Peripetie oder Erkennung oder auf beide zugleich
gegründet ist.

Alles kommt hier auf das Verhältnis des Anteils an, der
an dem tragischen Leiden dem Schicksal zur Last fällt und der auf
Rechnung der Hamartie des Helden kommt. Beide müssen ja immer
zusammenwirken, aber die entscheidende Frage ist, wie weit ein vom
Schicksal verhängtes Leiden sich als solches schon im Beginn der Handlung
und in ihrem Verlauf fühlbar macht. Auch im Ödipus ist das
Schicksal die den Handlungsverlauf bestimmende Macht; aber die Tragödie
ist hier darauf gestellt, daß es über den beispiellos Glücklichen,
seinem Glück stolz und sicher Vertrauenden zerschmetternd hereinbricht.
Doch der Tod, der hülfreiche Bundesgenosse so vieler mittelmäßigen
Dichter, ihren Turmbau mit einem Notdache zu Ende zu bringen, ist
der Übel größtes nicht. Zeigt nun die Handlung ihren Helden von
vornherein unter der Wucht eines solchen schweren Schicksals leidend,
versteht es der Dichter, dadurch die Furcht- und Mitleidempfindungen
in starke Bewegung zu setzen, so würde ein Ausgang, der den Leidenden
vollends erdrückt, keineswegs vermögen, die Symmetrie und Läuterung
derselben, die tragische Katharsis, hervorzubringen. Auf den ersten Blick
könnte dieser Fall für die Jakob Bernayssche Auffassung der Katharsis
zu zeugen scheinen, und es ist zu verwundern, daß die Anhänger derselben
ihn nicht für sich verwertet haben. Man könnte sagen: wenn
es für den Zweck der Tragödie genügt, daß die tragischen Affekte stark
aufgeregt worden sind, so müßte ja wohl die Katharsis in der Entladung
von diesen störenden Affekten und in dem damit verbundenen Gefühl
freudiger Erleichterung bestehen. Nur schade, daß solche „unschädliche
Freude“, wie Bernays sie mit starkem Mißverstand einer Stelle der [506]
aristotelischen Politik nennt,1 dann durch jedwede Nachahmung eines
Leidensfalles erreicht werden würde, durch die sensationellste am meisten.
Die Sache liegt ganz anders; gerade diese Fälle erfordern die höchste
Kunst des Dichters und ergeben, wenn sie gelingen, die vollkommensten
Tragödien.

Die Aufgabe ist, beide Schicksalsempfindungen zur Reinheit herzustellen,
mit andern Worten, die Handlung so zu führen, daß sie beide
Schicksalsempfindungen in der richtigen Gestalt zu erwecken vermögend
sei; in der rechten Art und Weise, im richtigen Maß in Thätigkeit
gesetzt, fallen sie dann beide zusammen, die eine das Korrelat der
andern bildend, nicht mehr eine Beunruhigung der Seele, sondern die
vollendete Äußerung einer ihrer höchsten Kräfte: die vollkommen geartete
Energie ihres ästhetischen Vermögens gegenüber dem größesten
Gegenstande, der in den Bereich desselben fallen kann, gegenüber dem
göttlichen Walten des Schicksals.

Strengste Wahrheit der Handlungsnachahmung ist hier wie überall
die oberste Voraussetzung des Gelingens. Als solche gilt einer sehr
bevorzugten Richtung des modernsten Kunstgeschmackes jener Pessimismus,
der eine ununterbrochene Kette schwerer Leiden, zu deren Zusammenschließung
sich unglückliche Schicksalsumstände mit Schuld oder
auch wohl sogar mit leichterem Jrrtum der Handelnden vereinen, in
seinen Nachahmungen des „realen“ Lebens vorführt, um mit dem
traurigen Untergange jedes Glückes und sogar der Hoffnung das Ende
zu erreichen. Die Wirkung ist, je virtuoser die dazu erforderlichen
Kunstmittel gehandhabt werden, eine um so ergreifendere, fortreißendere ─
überwältigende, „packende“, wie die modernen Lieblingsausdrücke lauten ─
d. h. die tragischen Empfindungsregungen, die in dieser „Provinz“ des
Empfindens auftretenden Pathemata, werden heftig aufgeregt: aber der
Abschluß der Nachahmung, weit entfernt die Klärung, Läuterung, die
Ruhe in der Bewegung zu bringen, erfolgt mit dem Fortissimo der
Steigerung, inmitten der schrillsten Dissonanz. Die antiken Meisterwerke
der Tragik, wie die unseres modernen Klassizismus zeigen eine
andere Auffassung von der Lebenswahrheit der Nachahmung. Nicht
als ob das Leben selbst dergleichen Hergänge uns nicht leider nur allzuhäufig
zeigte! Aber, wie schon gesagt, alles kommt darauf an, daß die
Nachahmung das Verhältnis klar vor Augen stelle, in welchem Schicksal
und Hamartie der Handelnden an dem Leiden ihren Anteil haben. [507]
Diesen Einblick versagt uns das Leben in den bei weitem meisten Fällen
völlig oder es erschwert uns doch das Urteil durch die Überfülle der
zusammenwirkenden Motive im allerhöchsten Grade. Die Dichtung dagegen
gibt die Handlung vollständig, und zwar gibt sie nur die
Handlung, sie aus dem umgebenden Gedränge unendlicher Verzweigungen
in idealer Abstraktion aussondernd. Sie schöpft ihre Wahrheit aus der
Tiefe der religiösen und sittlichen Grundanschauungen, die bei allen
Völkern, alten und neuen, in diesem wesentlichsten Anliegen der
denkenden und fühlenden Menschenseele dieselben sind.
Das
zeigt übereinstimmend Mythus, Sage und Märchen der Volkspoesie wie
die höchstentwickelte Blüte der tragischen und epischen Dichtung. Diese
Grundanschauungen treffen bei aller Verschiedenheit im einzelnen der
Hauptsache nach in dem einen Punkte zusammen: das Schicksal des
Jndividuums wie das der Gesamtheit ist kein zufälliges Aggregat,
sondern es beruht auf einer Ordnung, einem Kosmos,
ebensowohl wie das Gefüge der unbeseelten Welt;
wie
dieses weise ist, so ist jenes gerecht, beide ewig und unerschütterlich.
Wie die Stürme nicht das Vertrauen in die Naturordnung
aufheben, so ist die Überzeugung von dem Walten der sittlichen Weltordnung
so fest im Gefühl, daß selbst durch die scheinbar widersprechende
Erscheinung der Glaube daran nicht wanken gemacht werden kann. Deswegen
vor allem ist die griechische Poesie für immer ein Muster, überall
verständlich, weil sie dieser Überzeugung für die Empfindung den klarsten,
sichersten Ausdruck verliehen, den reichen Jnhalt des Lebens ihr ebenso
mit unbeirrbarem Ernst als mit freudiger Heiterkeit des Sinnes eingeordnet
hat. Mag die moderne Dichtung in ihren Mitteln immerhin
sich dem wechselnden Geschmacke anbequemen, „dem Zeitgeiste folgen“,
wie die Parole lautet, jenen festen Grund kann sie nicht verlassen, ohne
sich ebensoweit von der Richtigkeit, d. i. von der Größe und Schönheit
zu entfernen, von dem Ziele, zu dem hin sie ewig die Führerin des
Zeitgeistes sein soll.

Die Tragödie, die Nachahmung des Leidens, hat nun gerade die
Aufgabe, an den Fällen des Unglücks, die am meisten jenen sicheren
Glauben zu erschüttern geeignet scheinen, die Empfindung in der überzeugendsten
Weise darin zu bestärken und darin zu beruhigen, d. i. die
das Leben so unausweichlich durchsetzenden und so mächtig bestimmenden
Empfindungen der Furcht und des Mitleids auf diesen Grund
zu pflanzen.
Von den „vielen Verwirrungen, welche die Himmlischen
den Erdgeborenen zudenken“, stellt die Tragödie am häufigsten „den
tief erschütternden Übergang von der Freude zu Schmerzen“ dar: wie [508]
es Menschenlos ist, ohne Schuld durch leichten Fehl dem schwersten Geschick
preisgegeben zu sein. Ebenso gehört ihr aber das andere Gebiet,
der nicht minder „tief erschütternde Übergang von Schmerzen zu Freude“.
Hier hebt die Tragödie auf der Stelle an, wo sie sonst ihren Abschluß
findet; sie zeigt uns die Handelnden in schwer lastendes Unglück, in
tiefes Weh, in scharfe Schmerzen verstrickt. Das Leben zeigt genug Beispiele,
wie durch Schuld und Jrrtum solches Unglück ins Endlose fort
gehäuft wird. Nicht die Trostlosigkeit solcher Handlungen kann der
Stoff der „tragischen“ Nachahmung sein; noch weniger die willkürliche
Gefälligkeit einer feilen Phantasie, die, nachdem sie genugsam in den
Bildern des Jammers und Schreckens geschwelgt hat, dann, um die
innere Wahrheit unbekümmert, jenen gewaltsamen Erregungen die erschlichene
Freude an dem sonnigen Glück der belohnten Tugend zu gesellen
bemüht ist. Jn einer Tragödie, die mit dem schweren Leiden des
Handelnden beginnt, muß notwendig der Anteil des Schicksals an
seinem Leiden den seiner Hamartie bei weitem überwiegen, er stellt sich
uns als weit über die Gebühr, über sein Verschulden belastet dar: darin
liegt das specifisch Tragische, uns zu Furcht und Mitleid bewegende
einer solchen Handlung. Einen solchen Zustand aber als dauernden
und endgültigen vorzuführen wäre ebenso unwahr als unkünstlerisch.
Dieser Verlauf würde stattfinden, wenn die ursächlich wirkende Hamartie
unverändert fortbestünde oder gar sich verstärkte. Dem ersten Falle
würde die Entwickelung fehlen, er wäre also für die Nachahmung ganz
ungeeignet; der andere Fall würde eine Handlung bedingen, die zum
Jnhalt die Steigerung eines schon von Anbeginn vorhandenen schweren
Unglückes hat, ein Gegenstand, der nicht anders als Entsetzen erregend
wirken kann. Es bleibt also für diese Art von Tragödien kein anderer
Verlauf, als daß die schon durch die Anlage der Handlung stark aufgeregten
und durch die Verwickelung derselben auf den Höhepunkt gebrachten
tragischen Empfindungen durch die Wandlung des Unglücks in
Glück die kathartische Läuterung und Beruhigung erfahren: diese Katharsis
aber würde gänzlich ausbleiben, wenn jene Wandlung sich nicht in der
überzeugendsten Weise dem Gefühl als die notwendige Konsequenz des
vorgeführten Schicksals darstellte, als ein Ausfluß jenes göttlichen
Schicksalswaltens also, auf dessen Anerkennung und Gefühl die tragische
Katharsis beruht. Dies kann, nach der Lehre des Aristoteles, äußerlich
durch die Form der Erkennung geschehen, wobei eine das Unglück verursachende
Unkenntnis in das Glück bedingende Kenntnis verwandelt
wird. Aber diese Form würde jene große und tiefe Wirkung doch nicht
hervorbringen können, wenn sie lediglich als äußerer Vorgang eingeführt [509]
würde, wenn die Kunst des Dichters es nicht versteht, sie mit einer
inneren Wandlung der handelnden Personen in organische Verbindung zu
setzen. Auch hier kann eine Wandlung von Unkenntnis in Kenntnis
vorgehen, von Befangenheit in Klarheit des Sinns, und die berichtigende
Auflösung einer jeden Hamartie ist eine solche enthüllende Wandlung.
Jn der That erreicht keine dramatische Wirkung die kathartische Kraft
einer solchen Wandlung, wenn sie aus dem Kerne der Handlung hervorgehend
mit siegender Gewalt das schwer herabhängende, drohende Gewölk
des Schicksals zerteilt. Was könnte in dieser Beziehung sich mit
dem Schlußakte von Goethes „Jphigenia“ vergleichen? „Alle menschlichen
Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit,“ so faßte der Meister selbst
das Wesen jener Wirkung in Worte; und was dort dem Fluche eines
ganzen Geschlechtes gegenüber die leuchtende Reinheit einer fleckenlosen
Jungfrau vollbringt, das bewirkt minder grausigem Geschick gegenüber
die Umwandlung der Hamartie im Gemüte des Handelnden zur Phronesis,
zur Klarheit und Richtigkeit des Sinns.

Hiervon ist der Philoktet des Sophokles ein unvergleichliches Beispiel.
Freilich wird die „Wandlung“ seines unbeugsam trotzigen Sinnes
durch eine unmittelbare „Enthüllung“ des göttlichen Ratschlusses entschieden.
Herakles verkündet, auf einer Wolke herabschwebend, den Willen
des Zeus, und „freudig gehorcht“ der Held dem Rufe des göttlichen
Freundes. Aber mit welcher Meisterschaft hat der Dichter diese scheinbar
gewaltsame und willkürliche Lösung vorbereitet, das unmittelbare
Eingreifen des Gottes in die unlösbar erscheinende Verwickelung und
die anscheinend plötzliche und unmotivierte Sinnesänderung des bisher
durch nichts zu bewegenden Helden!

Die ganze, unvergleichlich kunstreiche Anlage der Handlung zielt
auf dieses Ergebnis. Der unbezähmbare Haß des Philoktet gegen die
Anstifter seiner Verstoßung, der ungeachtet seines namenlosen Elends
unbesiegbare Widerstand gegen den Seherspruch, der ihm selbst Rettung,
dem großen Unternehmen seines Volkes den Sieg verheißt, macht seine
Hamartie aus, die jetzt die unwiderrufliche Fortdauer seines Leidens zu
besiegeln droht und die auch als die Ursache desselben angesehen werden
muß: denn was anders hat ihm den Zorn und die Strafe der Götter
zugezogen als der heldenhafte Trotz, der im Vertrauen auf die eigene,
durch den Besitz der unentrinnbaren Pfeile des Herakles zum höchsten
gesteigerte Kraft die Heiligtümer und die sie schützenden Satzungen nicht
achten zu dürfen glaubt? Das auf die gütliche oder gewaltsame Beugung
dieses Sinnes des Helden gerichtete Gegenspiel des Odysseus und
des Neoptolemos führt nun zu einer doppelten Peripetie, d. h. zu einer [510]
Verwickelung, bei der zweimal durch die von ihnen getroffenen Maßnahmen
das Gegenteil von dem erreicht wird, worauf sie hinausgehen.
Der listige, nur von der Staatsklugheit eingegebene Hintergehungsplan
des Odysseus, der die Handlung einleitet und bis auf den Höhepunkt
der Verwickelung führt, scheitert im Augenblicke des Gelingens an der
edlen Wahrheitsliebe und reinen Güte des Neoptolemos, so daß durch
jenen Betrug die Aussicht, den widerstrebenden Helden zu gewinnen, für
immer vernichtet scheint. Aber wer sieht nicht, daß gerade mit diesem
Siege der Wahrheit und Herzensgüte über die Verstellungskünste einer
hinterhaltigen Politik, welcher freiwillig das Spiel verloren gibt, das
Wesentlichste, ja das eigentlich Entscheidende dafür gethan ist, um es zu
gewinnen, den Zorn des Philoktet zu beschwichtigen, seinen Haß zu
mildern, den verschlossenen Sinn dem Rate der Einsicht, der Stimme
der Vernunft, dem Gebote der Gottheit zu öffnen! Noch zwar gehen
die Wellen hoch, aber sie werden sich sänftigen, noch widerstrebt er der
Stimme des neuen Freundes, der mit seiner That sich das Herz des
Mannes gewonnen, aber er wird in dieser gänzlich veränderten Stimmung
der mächtig überredenden Stimme, mit der das Heil des Ganzen
und sein eigenes Heil den Entschluß der Selbstüberwindung von ihm
fordert, nicht mehr lange sich verschließen. Es ist dieselbe ergreifende
Sinneswandlung, wie die kühne That Jphigeniens sie in der Brust des
Thoas zum siegenden Durchbruch bringt. Auf dem Grunde dieser tief
eingreifenden psychologischen Vorbereitung konnte der Dichter nun mit
vollem Rechte von der poetischen Lizenz Gebrauch machen, den noch übrig
bleibenden Vorgang in symbolischer Verkürzung, wie die Sage sie ihm
vorzeichnete, durch das unmittelbare Gebot der göttlichen Stimme sich
vollziehen zu lassen. Das wäre dem betrogenen oder gewaltsam bezwungenen
Philoktet gegenüber unmöglich gewesen; jetzt ertönt des Herakles
Stimme aus der Wolke nur um dem Zuspruch des neugewonnenen
Freundes, dem ohnehin der Sieg gewiß ist, diesen Sieg sogleich zu gewinnen.
Die herrliche Scene zwischen Philoktet und Neoptolemos, die
der Göttererscheinung vorausgeht, steht ebenbürtig neben dem in allen
Stücken verwandten Gespräch zwischen Jphigenie und Thoas, durch
welches Goethes Tragödie zum versöhnenden Ausgang geführt wird.

So ist denn die Verwickelung reif für das Eingreifen des Gottes,
dignus vindice nodus: „Des Herakles Stimme tönt dem Sohne des
Pöas ins Ohr, er sieht sein Bild“:


Jch komme aus Liebe zu dir und verließ

Der Unsterblichen Sitz,

Zu verkündigen dir die Beschlüsse des Zeus
[511]
Und zu wehren den Weg, zu dem du dich schickst:

So vernimm denn meine Gebote!

Vor allem ruf' ich dir zurück mein eignes Los,

Die Mühen alle, deren Bahn durchkämpfend ich

Errang unsterblich Wesen, wie du schauen kannst.

Auch dir, vernimm es, ist bestimmt dasselbe Ziel,

Aus solchen Mühen ruhmgekrönt hervorzugehn.

Du ziehst mit diesem Manne vor die Troerstadt

Und wirst zuerst von deiner bittern Qual erlöst;

Dann als der Helden erster ausersehn im Heer,

Vertilgst du Paris, dieses Leids Urheber einst,

Mit meinem Bogen aus der Zahl der Lebenden

Und stürzest Troja.

Und ὦ φθέγμα ποθεινὸν ἐμοὶ πέμψας, erwidert ihm Philoktet:


Du, der willkommenen Ruf mir gesandt

Und endlich erscheint,

Wie freudig gehorch' ich deinem Gebot!

Und gerührt nimmt er Abschied von dem Ort seiner einsamen Schmerzen
und wendet sich zur Fahrt


Hin, wo das gewaltige Schicksal führt

Und der Freunde Geheiß und des Gottes Gewalt,

Der dies allmächtig verhängte!

Der griechische Dichter faßte das horazische nec deus intersit nisi
dignus vindice nodus inciderit
tiefer, als es nur allzu oft gefaßt wird.
Nicht die Größe der streitenden Jnteressen und die Ratlosigkeit des
Dichters, sie anders zu schlichten, machen den Knoten „würdig der Lösung
durch einen Gott“, sondern dadurch wird die Verwickelung es
wert, daß der Dichter eine Gottheit eintreten lasse, um ihrer
Entscheidung sich anzunehmen
“, daß diese Entscheidung ihrem
inneren Sinne nach mit Notwendigkeit aus dem Stande der
Dinge hervorgehe,
daß sie in den Dingen liege, so daß der Gott
nur als der beschleunigende Helfer erscheine, der den Keim zur schnelleren
Entfaltung bringe.

Um die Resultate zusammenzufassen: der Philoktet ist eine Tragödie,
die auf das „Pathos“ schweren körperlichen Leidens gegründet
ist, sie nimmt einen glücklichen Ausgang; danach könnte es scheinen,
daß in ihrer Wirkung der Mitleidsaffekt vorherrschen müßte und die
Furcht nur insoweit darin eine Rolle spielte, als sie an sich eine unentbehrliche
Voraussetzung für das Auftreten des Mitleids bildet, wie Lessing
das in seiner Theorie der Tragödie gelehrt hat. Dagegen hat die Unter= [512]
suchung gezeigt, daß das Mitleid mit den Qualen des Philoktet zum
„tragischen“ Mitleid allein dadurch gestaltet wird, daß als ein selbständiger
Affekt die Furcht sich ihm zugesellt; daß diese Furchtbewegung in
unserer Seele dadurch entsteht, daß uns als die Quelle seines Leidens
und namentlich als die Ursache der entsetzlichen Fortdauer desselben die
Hamartie des Helden gezeigt wird, so daß wir in dem klaren Bewußtsein
unserer eigenen Fehlbarkeit uns dem Leidenden „ähnlich“ fühlen,
d. h. unbewehrt ähnlichem unverschuldetem und doch nach dem ewigen
Gang der Dinge gerechterweise uns treffendem Unglück preisgegeben;
daß im Verlauf der Tragödie die mehr und mehr miteinander verschmelzenden,
zugleich gegenseitig einander klärenden tragischen Empfindungen ─
einander klärend, weil sie durch die wechselseitige Beleuchtung, welche die
eine durch die andere erfährt, aus dunklen übermächtig uns fortreißenden
Affekten (παθήματα) zu klar bewußten, mit den Erkenntniskräften unserer
Seele in Harmonie, mit der Richtung unserer Willenskräfte in Übereinstimmung
befindlichen Empfindungen werden ─ zur vollendeten Katharsis
gelangen, indem sie mit der Bezwingung der Hamartie und dem
dadurch bedingten glücklichen Ausgang das Pathematische, das Quälende
und Beängstigende ausscheiden und, ohne deshalb ihre nachwirkende Fortdauer
in der Seele des Zuschauers zu verlieren, als in der Ruhe
lebendig thätige Faktoren sich seiner Anschauung des großen
ewig geltenden Schicksalsgesetzes einordnen.

So weit Lessings Fehler! Jn der Hauptsache aber hat er richtig
gesehen: es handelt sich in der That für die durch den Verlauf der
Tragödie zu bewirkende Katharsis um die gegenseitige Läuterung der
Mitleidempfindungen durch die Furcht und umgekehrt dieser durch jene.
Das klingt in der Schulsprache vielleicht manchem fremd, ist ja auch
nicht selten die Zielscheibe wohlfeilen Spottes gewesen; und doch ist es
der durch den bewundernswerten Scharfsinn des griechischen Weltweisen
auf die einfachste Formel gebrachte Ausdruck einer von jedem immer
wieder aufs neue gemachten Erfahrung; aber der Vorgang ist, eben weil
er ästhetischer, nicht intellektueller Natur ist, ein unbewußter.
Jmmer wird die Nachahmung eines bedeutenden Leidensschicksals in
doppelter Weise wirken: sie regt zunächst das Jnteresse für den Leidenden
auf, sodann das Jnteresse für sein Schicksal an sich, das
als ein Teil des allgemeinen Schicksals nicht anders empfunden werden
kann als in direkter Beziehung auf die Person des Betrachtenden selbst.
Jndem nun die Kunst des Dichters je nach dem Lauf der Handlung
bald die eine Wirkung bald die andere in den Vordergrund treten läßt
und je nach Bedürfnis stärker accentuiert, erhält notwendig die fort= [513]
gerissene, pathologische Teilnahme an dem Leiden des einzelnen ein
Gegengewicht an der Beunruhigung, mit der die Vorstellung der Schicksalsübermacht
den Betrachter in Hinsicht auf seine eigene Sicherheit
erfüllt. Umgekehrt wird dieses bange Gefühl der störenden Beimischung
von Schwäche und Selbstsucht enthoben durch die ihm wehrende Ablenkung
zu der Hingabe an das fremde Leiden. Durch dieses Wechselspiel
gewinnt der tragische Dichter die Macht, der das Vermögen keiner
anderen Kunst vergleichbar ist, über die Seelen seiner Zuschauer: in
ihnen, selbst ohne ihr Wissen und Wollen, die stärksten und in ihrem
Beginn widersprechendsten Grundempfindungen, das Jnteresse für sich
selbst und das Jnteresse für andere in der wichtigsten Frage nach der
Stellung gegenüber dem alle beherrschenden Schicksal, in vollem Gleichmaß
zu vereinen, weil er beide zuletzt bis zu der reinsten Quelle ihrer
Nahrung führt, vor das zum Ganzen gerundete, wahrheitsgetreue Bild
des Schicksalsgesetzes in seiner schreckenvollen Majestät und seiner ewigen,
erhabenen Weisheit.

Woher nun der Sturm gegen Lessings Erklärung der tragischen
Katharsis? Man hat sie eine „moralische“ Erklärung genannt; natürlich
mußte sie, mit diesem in der Ästhetik verpönten Stigma gekennzeichnet,
als beseitigt gelten, und das blendende Sophisma der Bernaysschen
„medizinischen“, „psychologisch=hygienischen“ hielt seinen triumphierenden
Einzug, um für eine beträchtliche Zeit fast uneingeschränkt zu herrschen.

Es ist der Mühe wert zu untersuchen, wie es zu erklären sein
möchte, daß ein so gründlicher und geistvoller Forscher zu der Paradoxie
der Sollicitations- und Entladungstheorie gelangen konnte, und daß
dieselbe bei so vielen ausgezeichneten Gelehrten Zustimmung gefunden
hat und noch findet. Die Frage hat eine philologische und eine philosophisch=ästhetische
Seite; manche erkennen die Bernayssche Theorie nur
als die richtige Jnterpretation der aristotelischen Lehre an, ohne ihr deshalb
die philosophisch=ästhetische Richtigkeit zuzusprechen; andere halten,
wie Jakob Bernays selbst, mit der philologischen Frage auch die ästhetische
für entschieden.

Der Versuch, die Genesis der gegnerischen Anschauung zu erklären,
gibt die erwünschte Veranlassung, zum Beschluß dieser ganzen Untersuchung
die Ergebnisse derselben in vervollständigter Ausrüstung und zu
geschlossenem Treffen vereinigt noch einmal gegen sie ins Feld zu führen. ──────

[514]

XXV.

Der Ausgangspunkt liegt in der allgemeinen, philosophisch=ästhetischen
Seite der Frage, denn hier erhob sich der Zweifel, der Bernays
zu der erneuten philologischen Untersuchung des Katharsisbegriffes erst
veranlaßte. Also:

1. Lessing hatte sich das unglücklich gefaßte Wort entschlüpfen
lassen: „bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich,
wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es
Dichter gibt, die selbst daran zweifeln“. Und die „Besserung“ fand er
mit noch mehr verfehltem Ausdruck in der „Verwandlung der tragischen
Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“. Mit Recht hatte
dagegen Goethe seine Stimme erhoben: „Keine Kunst vermag auf
Moralität zu wirken
“; ebenso richtig verlangt er, daß die Tragödie
aus sich selbst erklärt werde, nicht aus einer außerhalb liegenden,
entfernten und ungewissen Wirkung: ihr Werk soll „die Ausgleichung
der tragischen Leidenschaften“ sein. Auf diesem Punkte Fuß gefaßt und
von hier aus die ganze Frage neu angeregt zu haben, ist Bernays'
großes Verdienst.

2. Also „Ausgleichung“ von Furcht und Mitleid! Nach Aristoteles
sind diese Affekte Unlust empfindungen; die Tragödie aber hat
die Aufgabe, Lust hervorzubringen.

Mit Eduard Müller („Theorie der Kunst bei den Alten“) fand
Bernays nun völlig konsequent, daß die „Ausgleichung der tragischen
Leidenschaften“ in der Verwandlung des Unlustcharakters derselben in
Lustgefühl bestehen müßte, daß dieser Prozeß also den Begriff der Katharsis
ausmache. Aber wie hat man sich diesen Hergang zu denken?
Dies blieb die ungelöste Hauptfrage. Hier hatte Bernays den Punkt
gefunden, um den Schacht seiner philologischen Untersuchung abzuteufen.

3. Ob ihm nun hierbei schon eine bestimmte philosophisch=ästhetische
Theorie vorschwebte, oder ob das Resultat seiner Untersuchung ihn erst
auf dieselbe führt, ist gleichgültig; genug, diese Theorie frappierte in
der Fassung, die Bernays ihr gab und in der er sie dem Aristoteles
imputierte, durch den Reiz der Neuheit ganz außerordentlich, obwohl sie
im Grunde mit der die Mitte des 18. Jahrhunderts beherrschenden,
durch Lessing und Schiller überwundenen Kunstanschauung zusammenfällt.
Das Altertum kennt sie gar nicht; nur in losem Zusammenhange
knüpft sie an Platonische Anschauungen an, und zwar gerade in dem
Punkte, den Aristoteles aufs entschiedenste bekämpft hat. Eben deshalb,
weil es die vorlessingsche Theorie ist, konnte eine gewisse Übereinstim= [515]
mung mit derselben auch noch bei dem jungen Lessing gefunden werden;
und so mußte es der Lessing der Dramaturgie sich gefallen lassen, sein
eigenes jugendliches Jch von Bernays wider sich ins Feld geführt zu
sehen. Jn dem Aufsatz „Ergänzung zu Aristoteles' Poetik“ (Rhein.
Museum. N. F. VIII. S. 567) citiert Bernays eine Stelle aus dem
Brief Lessings vom 2. Februar 1757 an Mendelssohn: „Darin sind
wir doch wohl einig, lieber Freund, daß alle Leidenschaften entweder
heftige Begierden oder heftige Verabscheuungen sind? Auch darin, daß
wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größeren
Grads unserer Realität bewußt sind und daß dieses Bewußtsein nicht
anders als angenehm sein kann? Folglich sind alle Leidenschaften, auch
die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm. Jhnen darf ich
es aber nicht erst sagen: daß die Lust, die mit der stärkeren Bestimmung
unserer Kraft verbunden ist, von der Unlust, die wir über die Gegenstände
haben, worauf die Bestimmung unserer Kraft geht, so unendlich
kann überwogen werden, daß wir uns ihrer gar nicht mehr bewußt
sind;“ und ebenso, wie dort weiter ausgeführt ist, kann die durch den
Gegenstand erregte Unlust von der Lust, die in der stärkeren Bestimmung
der Kraft liegt, zu einem Minimum herabgedrückt werden. ─ „Hätte
Lessing,“ fährt Bernays fort, „zehn Jahre später, als er die Dramaturgie
schrieb, diesen Gedankengang eingeschlagen, so wäre er zu einer
ganz anderen und viel richtigeren, nicht zu seiner moralischen, sondern
zu einer psychologischen Auffassung der aristotelischen Katharsis geführt
worden. Es ist dies nicht das einzige Mal, daß Lessing in seinen früheren
Briefen seine späteren Schriften übertrifft.“ Jn diesen Sätzen,
hat man gemeint, sei Lessing dem Kernpunkt der aristotelischen Theorie
am nächsten gekommen: daß nämlich die tragische Lust auf der bloßen
starken Sollicitation der tragischen Affekte beruhe, denn das anhaftende
Unangenehme derseben falle durch das Bewußtsein von der „Unwirklichkeit“
ihrer Gegenstände fort.1 Aber es ist ein handgreiflicher Jrrtum,
wenn behauptet wird, Lessing habe hier die Gedanken des Abbé Dubos,
denn um dessen Theorie handelt es sich, „schlechterdings angenommen“;
gerade dieses verweist er in dem Briefe vom 2. April 1757 seinem
Freunde Nicolai und verlangt, „daß sie, wenn sie nicht leeres Gewäsch
sein sollen, ein wenig philosophischer ausgedrückt werden müßten“.
Allerdings hatte Nicolai sich den „Gedanken des Dubos schlechterdings
angeschlossen“, wenn er (Brief vom 31. August 1756) „das Trauerspiel [516]
für das beste erklärte, welches die Leidenschaften am heftigsten erregte“.
Wenn er somit die Sollicitationstheorie zuerst in Anregung brachte, so
war wenigstens Lessing nicht auf seiner Seite.

Dubos entwickelt die Hauptsätze seiner Theorie, die von der Baumgartenschen
und Schweizerischen Ästhetik im wesentlichen aufgenommen
wurden, gleich im Beginne seiner Réflexions critiques sur la Poésie
et sur la Peinture
, die 1719 zuerst erschienen. Er geht von der Platonischen
Auffassung des Begriffs der Freude aus, die ihm als hors
de contestation
erscheint: les hommes n'ont aucun plaisir naturel
qui ne soit le fruit du besoin
.1 Das ist gerade der Satz, dem, wie
oben schon ausgeführt, die glänzende Polemik des Aristoteles im siebenten
und zehnten Buch seiner Nikomachischen Ethik gilt. Nicht aus der Befriedigung
eines Bedürfnisses geht die Freude hervor, sondern sie ist an
die Ausübung einer Thätigkeit geknüpft, und zwar die höchste an die
vollkommenste.
Ein auf jener Basis aufgebautes System muß daher
in allen Punkten der aristotelischen Kunstlehre widersprechen. So gleich
der nächste Satz: plus le besoin est grand, plus le plaisir d'y satisfaire
est sensible
; wenn Dubos nun fortfährt: L'ame a ses besoins
comme le corps; et l'un des plus grands besoins de l'homme est
celui d'avoir l'esprit occupé
, so ist diese faktische Bemerkung geeignet,
für den Augenblick eine scheinbare Übereinstimmung mit der aristotelischen
Anschauung herbeizuführen, aber nur um in den Konsequenzen
sich sogleich wieder weit von ihr zu entfernen. Bei Dubos handelt es
sich darum, dem Bedürfnis zu genügen, das, durch die crainte de
l'ennui
hervorgerufen, die occupation de l'ame erfordert, die stärkste
Erregung genügt diesem Bedürfnis am besten: bei Aristoteles ist die
Thätigkeit um ihrer selbst willen die Bedingung der Freude, die deshalb
ganz und gar von der Art und Weise der Bethätigung
abhängig ist.
Daher bei Dubos Sätze wie die folgenden (S. 11):
Véritablement l'agitation où les passions nous tiennent, même durant
la solitude, est si vive, que tout autre état est un état de
langueur auprès de cette agitation. Ainsi nous courons par instinct
après les objets qui peuvent exciter nos passions, quoique ces objets
fassent sur nous des impressions qui nous coûtent souvent des
nuits inquiétes et des journées douloureuses: mais les hommes en
général souffrent encore plus à vivre sans passions, que les passions
ne les font souffrir
. Das kann allenfalls als Darstellung des realen
Herganges im Leben Geltung haben, aber als Ausgangspunkt für eine [517]
Gesetzgebung der Kunst muß es zu den falschesten Schlüssen führen.
Was Aristoteles von der Kunst verlangt, ist eben die Katharsis solcher
Pathemata: die Nachahmung der Kunst soll freilich die Empfindungskräfte
der Menschen in Thätigkeit versetzen, nach der sie so sehr verlangen,
aber sie soll dieser Thätigkeit die reinsten Objekte darbieten,
d. h. sie zu der in ihrer Art vollendetsten gestalten. Das verlangt auch
Schiller im Eingange der Abhandlung „Über die tragische Kunst“,
indem er sich die im nächsten Kapitel des Dubos gegebenen Beispiele
fast wörtlich aneignet; aber seine Beweisführung schlägt einen Umweg
ein, der in das moralische Gebiet hineinleitet und bei dem es ohne sehr
starke Verirrungen nicht abgeht. Der Hauptgrund liegt in den falschen
Prämissen, die er sich aus dem Dubos zu eigen gemacht hat.

Mit jeder Art von Bethätigung, besonders der Empfindungen und
Leidenschaften, ist naturgemäß Freude verbunden; aber Aristoteles unterscheidet
die falsche Art sich zu freuen von der richtigen (dem ὀρθῶς
χαίρειν). Er kennt auch eine Art sich am mittelmäßigen zu freuen, eine
unschädliche Freude, die er z. B. in musikalischen Aufführungen „zur
Erholung“ für die Leute niederer Bildung, die „Banausen“, gestattet
wissen will. Dies ist die χαρὰ ἀβλαβής,1 welche Bernays in stärkstem
Mißverstand für das Ziel der hohen Tragödie angesehen hat! Dubos
aber betrachtet die passions und agitations um ihrer selbst willen
als den Zweck der künstlerischen Nachahmung, die heftigsten am meisten,
und weil die schmerzlichen die heftigsten sind, also diese vor allen. Es
erhellt ohne weitere Ausführung auf den ersten Blick, welch einer ungeheuren
Macht diese Gedanken durch den Umstand sicher sind, daß sie
mit der Art, wie im gemeinen Leben die Masse der Menschen thatsächlich
der Kunst nachtrachtet, sich völlig decken. Deshalb hat diese Kunstauffassung,
der unsere große klassische Litteratur den Krieg auf Leben und
Tod erklärte, immerfort die Massen für sich, und sie droht heute unter
der Fahne des angeblichen Realismus und des Naturalismus wieder
das Feld für sich zu gewinnen.

Nach Dubos kommt es also auf weiter nichts an, als daß den
heftigen Emotionen das Schmerzliche, das sie im wirklichen Leben für
den, der sie erfährt, mit sich führen, genommen werde: das geschieht,
indem sie durch Nachahmung unwirklicher Vorgänge „künstlich“ erzeugt
werden. L'art, ne pourrait-il pas produire des objets qui excitassent
en nous des passions artificielles capables de nous occuper
dans le moment que nous les sentons, et incapables de nous causer [518]
dans la suite des peines réelles et des afflictions véritables
? (S. 24).
Und ferner: les peintres et les poétes excitent en nous ces passions
artificielles, en présentant les imitations des objets capables d'exciter
en nous des passions véritables
(S. 25). Diese copie de l'objet soll
gleichsam auch nur eine copie de la passion in uns hervorbringen,
que l'objet y aurait excitée (S. 26). Und: cette impression superficielle
faite par une imitation disparait sans avoir des suites durables,
comme en aurait une impression faite par l'objet même
.
Alle diese Sätze enthalten noch einen unbestreitbaren Teil thatsächlicher
Richtigkeit. Nun aber der wahrhaft ungeheuerliche Schluß, der diese
ganze Anschauungsweise mit einem Schlage und ganz unvermerkt in
eine völlig verkehrte Richtung hineinlenkt: Le plaisir qu'on sent à
voir les imitations que les peintres et les poétes savent faire des
objets qui auraient excité en nous des passions dont la réalité
nous aurait été
à charge, est un plaisir pur
(S. 27). Während
bisher von nichts anderem die Rede gewesen ist, als daß die Jllusion
einer Empfindung von gewissen Attributen der wirklich erfahrenen
frei sein wird, tritt nun die ganz widersinnige Behauptung auf, daß
auch eine an sich unreine und verkehrte Empfindung lediglich dadurch,
daß sie als eine nur der Vorstellung entstammende auftritt, zu einer
reinen und richtigen würde: denn eine solche müßte sie sein,

wenn sie imstande sein sollte, un plaisir pur zu erzeugen.

Hier liegt der tiefere Grund, warum Plato die Dichter aus seiner
Republik ausschließen wollte, weil das Grundprincip, auf welches er
seine Kunstphilosophie baute, des Schutzes gegen den Mißbrauch
entbehrte,
und weil er nicht der Mann dazu war, sich bei der schalen
Ausflucht zu beruhigen, daß der Mißbrauch hier wie überall unvermeidlich
sei, und ein jeder auf seine eigene Weise sich davor zu schützen
habe. Wer sieht nicht, daß aus dem Quell, dem diese Kunstauffassung
entsprang, sich in breitem Strome die beiden Mißbräuche ergießen mußten,
die bis auf unsere große klassische Epoche die Dichtung verdarben: auf
der einen Seite Uebertreibung und Libertinage, auf der anderen
Lehrhaftigkeit und moralisierende Tendenz!

So werden die Faktoren der vertu und der sagesse, da etwas
ihnen Verwandtes in der Beschaffenheit der Empfindungen,
deren nachahmende Erregung diese Art von Ästhetik vorschreibt, nicht
gefordert wird,
unaufhörlich von Dubos als das Korrektiv angepriesen,
durch das die bons poétes dem effet nuisible ihrer Schöpfungen
vorzubeugen haben.

Die émotion, die Aufregung um ihrer selbst willen, ist [519]
das Princip dieser ganzen angeblichen Kunstphilosophie, die damit
weiter nichts gethan hat, als daß sie das Material bezeichnet, innerhalb
dessen die Kunst ihr Wirkungsgebiet und ihre Aufgabe
hat.
Jmmerhin ein Fortschritt gegen eine Kunstdogmatik, welche die
Ziele derselben ganz nach außerhalb verlegte, aber ein Fortschritt, der
zum ersten Anfang zurückkehrte. Keine nachträglich hinzugethanen Einzelvorschriften
vermögen den Mangel dieses Princips zu ersetzen, wenn es
zum Regulativ der Kunstübung erhoben wird. Ja, je höher die
Virtuosität im Gebrauch der Kunstmittel sich steigert, um so größer
werden seine Gefahren, weil seine unheilbare Fehlerhaftigkeit um so
mehr sich der Erkenntnis verschleiert. Niemals waren diese Gefahren
drohender als heute, da diese Richtung einen neuen Rechtstitel und einen
neuen glänzenden Deckmantel in dem Schlagwort des Realismus gefunden
hat, das falschverstandenen Realismus, der sich brüstet, aus
der gemeinen, unbestreitbar vorhandenen Wirklichkeit der Dinge „naturgetreu
die „Emotions“stoffe seiner Nachahmung zu schöpfen. Welch
ein Fest für den Leidenschaftshunger, die berechtigte Forderung des
Schutzes gegen den ennui, das „Sollicitationsbedürfnis“, um nach
erfolgter „Entladung“, „gleichsam einer Kur teilhaftig“, nun wieder
den wahrhaften, ernsten Anforderungen des Lebens sich zuzuwenden!
Das wäre die gerühmte Katharsis des Aristoteles? Der „positivistische“
Aristoteles ist hier der wahre Jdealist! Die ganz unschätzbare Bedeutung
seiner Poetik beruht, weit hinaus darüber, daß er darin für die höchste
Kunstgattung, die Tragödie, unvergängliche Normen aufgestellt hat, darin,
daß in diesem einen Bau das Fundament seiner Kunstphilosophie sich
offenbart, einer Kunstphilosophie, die, ohne der ästhetischen Freiheit der
Kunst Eintrag zu thun, vielmehr sie erst wahrhaft fest begründend, in
ihrem Grundprincipe die hohe, priesterliche Würde der Kunst gegen alle
Angriffe des wechselnden Zeitgeschmackes sicher stellt.

Das ist der eigentliche, tiefere Grund, warum trotz des Spottes
gegen die von dem Gegenstande unzertrennliche philologische Grübelei
die Forschung von diesem Gegenstande nicht loskommt. Von dieser
Wahrheit ist keiner so tief durchdrungen gewesen als Lessing, und sein
genialer Scharfblick hat ihn vom ersten Beginn seiner aristotelischen
Studien auf den richtigen Weg gewiesen.

Jener von Bernays für seine Theorie so ganz ungerechtfertigt in
Anspruch genommene Brief an Mendelssohn ─ ganz ungerechtfertigt,
obwohl alle Welt darin Bernays nachgesprochen hat ─ beweist das am
allermeisten. Merkwürdig! in dem Briefe steht das Gegenteil von dem,
was Bernays und alle seine Anhänger darin gefunden haben. Die oben [520]
citierte Stelle richtet sich gegen Mendelssohns irrtümliche Erklärung der
Jllusion. Mendelssohn hatte das Vergnügen an der künstlerischen Nachahmung
auf die intuitive Erkenntnis der Vollkommenheit derselben
zurückgeführt; diese intuitive Erkenntnis würde uns dadurch zu teil, daß
die vollkommene Nachahmung uns mit demselben Affekte erfüllte wie der
wirkliche Gegenstand, während wir uns doch zugleich der Täuschung bewußt
wären. Lessing weist diese Erklärung an sich zurück; sodann aber
zeigt er, daß der Begriff der Jllusion überhaupt für die künstlerische
Nachahmung gar nicht in Betracht komme. Er bedient sich dabei des
auch schon von Mendelssohn benutzten, so oft und immer wieder mißverstandenen
aristotelischen Beispiels von der gemalten Schlange,1 „die,
wenn wir sie plötzlich erblicken, uns desto besser gefällt, je heftiger wir
darüber erschrocken sind“. Aristoteles spricht an der Stelle nicht von
der Kunst, sondern von dem Ursprung der Kunst und erklärt ihre
ersten rohen Anfänge aus dem Vergnügen, das wir an der Nachahmung
überhaupt empfinden; nicht also von der künstlerischen Nachahmung
ist die Rede, die sich als solche gibt, sondern von der
Nachahmung überhaupt, die im Leben als solche gerade umgekehrt
darauf ausgeht, zu täuschen. Schon diese, sagt Aristoteles, macht
uns Vergnügen, und zwar um so mehr, je gelungener sie ist. Solche
Nachahmungen regten zuerst zu primitiven Kunstversuchen (αὐτοσχεδιάσματα)
an. Die Kunst hat mit jenen auf wirkliche Täuschung berechneten
Nachahmungen weiterhin nichts gemein, als daß auch bei ihr allerdings
noch ein Vergnügen an der Nachahmung als solcher stattfindet,
das aber nur mittelbar und nebengeordnet in Betracht kommt. Genau
ebenso
trennt nun Lessing; er unterscheidet die reale Wirkung der Nachahmung
als solcher von der Wirkung der künstlerischen Nachahmung.
Nur für die erste adoptiert er die Dubosschen Sätze von der Leidenschaft,
die uns ein erhöhtes Bewußtsein unserer Realität verleiht und
von dem Wegfall des mit der Wirklichkeit verbundenen Unangenehmen
eben durch die Nachahmung. Aber ─ sehr bemerkenswert!
hebt er schon hier auch den entgegengesetzten Fall hervor, ja er stellt
ihn sogar in den Vordergrund,
daß auch sehr wohl das Unangenehme
der sollicitierten Leidenschaft jenen Abzug weit
überwiegen könne.
Schon dieses widerspricht der nackten Emotions=
und Sollicitationstheorie diametral; denn es tritt damit an den Kunstphilosophen
die gebieterische Aufgabe heran, schon im Princip die
Qualität der Empfindung festzustellen, deren Auferbauung, reine Her= [521]
stellung, das Kunstwerk sich zum Ziel zu setzen habe. Die Hauptsache
aber ist, daß Lessing solche Uebertragung der Affekte durch die
Nachahmung gar nicht als das Wesen der Kunst ansieht;
sie
sind ihm nur eine untergeordnete Nebenwirkung derselben. Denn so
lautet die Hauptstelle jenes Briefes vom 2. Februar 1757: „Dergleichen
zweite Affekte aber, die bei Erblickung solcher Affekte an andern in
mir entstehen, verdienen kaum den Namen der Affekte; daher ich denn
in einem von meinen ersten Briefen schon gesagt habe, daß die Tragödie
eigentlich keinen Affekt bei uns rege mache als das Mitleiden. Denn
diesen Affekt empfinden nicht die spielenden Personen, und wir empfinden
ihn nicht bloß, weil sie ihn empfinden, sondern er entsteht in uns ursprünglich
aus der Wirkung der Gegenstände auf uns; es ist kein
zweiter mitgeteilter Affekt.“

Er hätte hinzusetzen sollen, das Gleiche geschieht mit dem Affekt
der Furcht. Allein das thut er damals so wenig, als er es später
gethan hat. Jn der Hauptfrage, der Reinigung der tragischen
Affekte,
hat er schon damals die Überzeugung gehabt, die in der Dramaturgie
von ihm gelehrt wird. Am 2. April 1757 schreibt er an
Nicolai: „Aristoteles würde bloß gesagt haben: das Trauerspiel soll
unsere Leidenschaften durch das Mitleiden reinigen,
wenn er
nicht zugleich auch das Mittel hätte angeben wollen, wie diese Reinigung
durch das Mitleiden möglich werde; und dieserwegen setzt er noch die
Furcht hinzu, welche er für dieses Mittel hielt.“ Unmittelbar auf
diese Ausführung folgt die oben citierte Stelle, in der er dann dem
Freunde den Text liest, daß er so sklavisch den oberflächlichen Schlüssen
des Dubos gefolgt sei.

Es schien erforderlich, auf die Gefahr von Wiederholungen hin,
hier noch einmal dieses ganze Verhältnis im Zusammenhange darzulegen,
um zugleich die Art der Entstehung der Bernaysschen Hypothese und
die Gründe ihrer Widerlegung ins Licht zu setzen. Denn wie kann es
bestritten werden, daß dieselbe auf ganz genau demselben Boden steht
wie die Emotionstheorie des Dubos? Wie dieser aus dem Vorhandensein
der Empfindungskräfte ganz mit Recht das Bedürfnis ihrer Bethätigung
folgert, sodann aber, völlig unbekümmert um die Art und
Weise, wie diese Bethätigung zu erfolgen habe, die Aufgabe der Kunst
lediglich in die Befriedigung dieses Bedürfnisses setzt: ebenso nimmt
Bernays von den Furcht- und Mitleidempfindungen an, daß sie die
Seele mit dem Drange in starker Äußerung hervorzubrechen belasten ─
was ja gleichfalls auf richtiger Beobachtung beruht ─, daß sie damit
also störend sich geltend machen; daß dem solchergestalt entstandenen [522]
Bedürfnisse die Kunst mit gleichsam medizinischer Heilung entgegenkomme,
indem sie die durch jenen beunruhigenden Drang störenden Kräfte zu
stärkster Äußerung hervorlocke und durch die damit erzielte Entladung
von ihnen der Seele das freudige Gefühl der Erleichterung und Befreiung
verschaffe. Mit demselben Kardinalfehler wie bei Dubos ist auch
hier das Wesentlichste völlig unterdrückt: von der Qualität der durch
die Kunst zu sollicitierenden Kräfte ist mit keiner Silbe die Rede. Statt
dessen wird vielmehr in den stärksten Ausdrücken verlangt, daß dasjenige,
was die Kunst sollicitierend in Bewegung setzen solle, eben jene
dunkeln, chaotisch die Seele bedrängenden Empfindungskräfte seien, diese
sollen, zu stürmischem Ausbrechen aufgereizt, „entfesselt hervorrasen“.
Doch halt! Von ihnen soll ja als von einer materia peccans die Seele
„entladen“ werden, dieser Stoff soll wie ein Krankheitsstoff durch gleichsam
„homöopathische Kur“ in Bewegung gebracht und „ausgeschieden
werden! Hier scheint also die Stelle zu sein, wo die Würde und die
hohe Aufgabe der Kunst gerettet werden. „Nein im Erstarren such'
ich nicht mein Heil! Das Schaudern ist der Menschheit bester
Teil!
“ ruft Bernays mit Goethe. Schon dieses Schaudern ist eine
Lust, und obenein gewährt solch „lustvolles Schaudern“ nun noch die
Entladung von dem dumpfen Drange, der dazu treibt, so daß wir freudig
erleichtert uns wieder dem Leben zuwenden können, sei es wohlgemut
dem gewohnten Tagesgeschäft, sei es mit befreitem Sinne den höchsten
Problemen des Denkens. Dies ist die Vorstellungsweise der Bernaysianer,
und sie ist nur erklärlich, wenn man annimmt, daß sich dabei als wirkendes
Agens unvermerkt die Vorstellung des wirklichen tragischen
Kunstwerks mit seiner beruhigenden und klärenden
Wirkung unterschiebt,
des wirklichen Kunstwerks, zu dessen Bestimmung
freilich in ihrer Definition nicht der geringste Keim vorhanden
ist. Es ist ein Trugschluß, wenn behauptet wird, daß die Anregung
auch nur durch Vorstellung erweckter Empfindung zu fesselloser Äußerung
jene geträumte Entladung hervorbrächte, die bei derartigen Gefühlsexcessen
höchstens erst mit dem Moment der Erschöpfung eintritt,
der denn doch als Ziel der Kunst nicht wird in Anspruch genommen
werden können. Man denke doch nur an die Wirkung solcher tragischen
Kompositionen wie „Werthers Leiden“, wo nicht einmal die Kraft der
dramatischen Gegenwärtigkeit die Gewalt des Eindrucks verstärkt. Jedes
Ubermaß der Empfindung, ja eine jede fehlerhafte Äußerungsweise
derselben versetzt, weit entfernt davon, die einmal sollicitierte
Bethätigung derselben zur Ruhe zu bringen, vielmehr das Gemüt in
fieberartig, krankhaft nachzitternde Störung seines Gleichgewichtes und [523]
endet erst mit dem Herabsinken seines gesamten Kräftezustandes unter
das Normalmaß. Auch von dieser Seite gesehen, hält die Sollicitations=
und Entladungstheorie in keinem Punkte die Prüfung aus; es fehlt ihr
das Haupterfordernis der Definition, daß darin das regulative Princip
für Wesen und Form
des definierten Gegenstandes gegeben sei.

Aber könnte nicht der von Bernays festgestellte Begriff der Katharsis
zwar an sich für das Wesen der Tragödie unzutreffend, aber
dennoch derjenige sein, den Aristoteles damit verbunden hat? Bernays
selbst freilich hielt ihn zugleich für aristotelisch und für richtig; aber es
gibt bedingte Anhänger seiner Theorie, die nur dem philologisch=hermeneutischen
Teil seines Buches zustimmen und diesen für unwiderleglich
erklären, während sie die damit eruierte Anschauungsweise des Aristoteles
selbst für mehr oder minder verfehlt erklären.

Hier handelt es sich also darum, die Ergebnisse der philologischen
Prüfung der Frage noch einmal zur genaueren Überschau zusammenzustellen.
Obenan steht

4. die berühmte Stelle der Politik über die musikalische Katharsis,
die Bernays den Grundstein seiner Theorie lieferte. Die Stelle setzt
allerdings den Terminus der Katharsis in Parallele mit dem Vollzug
einer Kur und spricht von der „Heilung“ und „Herstellung“ der von
übermäßigem Enthusiasmus Heimgesuchten durch die heiligen Olymposlieder.
Aber zweierlei wird hier von den Bernaysianer völlig übersehen:

a) die Stelle setzt ausdrücklich und mit vollem Recht als
das wirkende Agens dieser kathartischen Heilung dasjenige voraus, was,
wie oben bemerkt, die Bernaysianer stillschweigend und unberechtigt
in ihrer Theorie dafür in Anspruch nehmen: das vollendete Kunstwerk,
das auf Grund eines richtigen Katharsisbegriffes ja doch erst entstehen
soll. Die „heiligen“ Weisen, die den Namen des Olympos trugen,
sind als eine Musik zu denken, durch welche die Seele zum Enthusiasmus
entzückt wurde: „sie allein“, läßt Plato in seinem „Gastmahl“ den Alkibiades
sagen, „vermögen zur Begeisterung hinzureißen und sie lassen
es erkennen, wer nach den Göttern und nach den göttlichen Geheimnissen
Verlangen trägt, weil sie selbst göttlich sind“.1 Eine solche Musik
muß trotz ihres stark erregenden Charakters als maßvoll und schön
vorausgesetzt werden, war sie doch bestimmt, die Seele zu dem Erhabensten
emporzutragen. Wenn nun bei den Griechen der Exceß solcher gottestrunkenen
Stimmungen eine nicht ungewöhnliche Erscheinung war, so [524]
ist nichts natürlicher, als daß Aristoteles in dem Augenblicke, da er eines
überzeugenden Beispiels für die Zweckmäßigkeit und die Berechtigung
der „enthusiastischen“ Musik bedurfte, sich darauf berief, wie diese Weisen
in der Hand des Künstlers es vermöchten, jene Hyperenthusiastischen
gerade in ihrer Stimmung zunächst zu erfassen und diese Stimmung
sodann zum rechten Maße zurückzuführen. Damit „erfahren sie gleichsam
eine Heilung“, denn sie werden von dem Übermäßigen ─ dem
μᾶλλον“, der ὑπερβολή ihres Pathema ─ befreit: dieses wird ausgeschieden,
nicht etwa nur der Enthusiasmus selbst, was ein vollkommener
Widersinn wäre, und dem Zwecke der „heiligen Lieder“ ganz entgegengesetzt.
Diesen Prozeß, der die Empfindung durch Ausscheiden des
Fehlerhaften läutert, reinigt, nennt Aristoteles „Katharsis“.

b) Daß aber Aristoteles an der Stelle gar nicht anders verstanden
werden kann, und daß die Bernayssche Hypothese völlig unmöglich ist,
zeigt der zweite Punkt. Zugegeben selbst, die Enthusiasmuskranken
würden durch die Olymposlieder, nachdem sie mit Hülfe derselben sich
ausgerast, von dem Enthusiasmus erleichternd entladen: wie sollte
es dann denkbar sein,
daß dieser Katharsis ganz in derselben
Weise
auch diejenigen teilhaftig werden, die dem Enthusiasmus mit zu
geringem Aufschwung der Seele ─ dem ἧττον, der ἔλλειψις des Pathos
─ gegenüberstehen? Und doch sagt Aristoteles ganz ausdrücklich,
daß es in Bezug auf den Enthusiasmus ebensowohl ein Zuwenig und
Zuviel gebe, wie in Bezug auf Furcht und Mitleid und die übrigen
Empfindungen, und daß die für die Gemüts „heilung“ geeignete Musik
allen ohne Unterschied zu gute käme. Er sagt es mit so absichtlicher
Betonung, daß eine abweichende Auffassung hier unmöglich ist: jene
Herstellung widerfahre ebenso wie den Enthusiastischen, so auch den der
Furcht und dem Mitleid oder überhaupt irgend einem Affekte vorzugsweise
Zugeneigten, „den übrigen aber ─ d. h. also den nicht in zu
hohem, sondern in zu geringem Grade den betreffenden Affekten Zugeneigten
─ je nach dem Grade, als sie von irgend einem Affekte belastet
werden: bei allen tritt eine Art von Katharsis ein und ein
freudiges Gefühl der Erleichterung“.

An dieser Stelle, scheint es, geben dessenungeachtet viele selbst von
denen, die geneigt sind, der Bernaysschen Theorie zu widerstreben, sich
derselben gefangen, weil sie, wie offenbar Bernays selbst, sich nicht vorstellen
können, wie durch leidenschaftlich erregende Musik an
einer in zu geringem Grade
(ἧττον) vorhandenen Empfindung
eine mit dem Gefühl der Erleichterung verbundene
Läuterung und heilende Herstellung bewirkt werden solle.
[525]
Woher denn also schlechterdings die Entladungstheorie als einziges
Auskunftsmittel übrig bliebe. Gerade damit verfehlen sie das
Verständnis der aristotelischen Empfindungstheorie im wesentlichsten
Punkte,
in demselben Punkte, um dessentwillen
offenbar
von Aristoteles auf die in der verlorenen Poetikstelle gegebene
ausführliche Definition der Katharsis
hingewiesen wird.
Dieser wesentlichste Punkt ist der folgende: wie aus Hunderten von
Stellen der Ethik und Rethorik selbst für die oberflächliche Lektüre sich
ergibt, ist Aristoteles überall von dem mechanischen Verfahren, eine jede
Empfindung, von der er handelt, für sich allein zu betrachten, weit entfernt.
Wie er das übermäßige Vorwalten einer einzelnen Empfindung
dadurch erklärt, daß die entgegenstehenden, mäßigenden Empfindungen
in zu geringem Grade vorhanden sind, so erblickt er den Grund der
zu schwachen Empfindungsregungen in dem hemmenden, übermäßigen
Vorwalten der ihnen entgegengesetzten Affekte.1 Wie ist da nun noch
irgend ein Zweifel über das Fundament der aristotelischen
Ästhetik,
d. i. seine Katharsistheorie, möglich? Von moralischen
Einwirkungen durch die Vernunft und den Willen kann hier freilich
keine Rede sein, mit diesen Kräften hat die Kunst nur mittelbaren und
indirekten Zusammenhang, sondern nur von Einwirkungen der
Empfindungen untereinander;
so nämlich: daß den Nachahmungen
durch die Kunst die Kraft erteilt werde, sowohl das Übermaß des
die Seele gefangen haltenden Affektes durch Auslösung
der entgegenstehenden, wohlthätig beschwichtigenden Empfindungsgruppe
obsiegend herabzumindern,
das Gemüt
also zu erleichtern, den betreffenden Affekt selbst zu läutern, zu
reinigen, als die zu schwache Empfindung durch Überwindung
der disparaten, hemmend entgegenstehenden Affekte,

die aus der Seele gleichsam hinweggeschmolzen werden, zur
Höhe wohlthätig das Gemüt durchströmender Kraftäußerung
zu steigern,
auch hier also einen Läuterungs=, Reinigungsprozeß
zu vollziehen: eine Katharsis in beiden Fällen!

Wo konnte nun die Demonstration und die Definition dieses
Prozesses in einfacherer und überzeugenderer Weise geschehen als in der
Lehre von der Tragödie? Wie schwer, ja fast unmöglich ist es, die ganz
unendliche Mannigfaltigkeit der durch die Musik angeregten Empfin= [526]
dungen, in ihrem weit über die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks
hinausgehenden Reichtum der feinsten Nuancen und Mischungen, auch
nur mit einiger Klarheit und Bestimmtheit zu bezeichnen, vollends ihr
gegenseitiges Verhältnis, das Streiten und Obsiegen überzeugend darzulegen!
Nirgends aber ist das Feld so zubereitet gerade für diese Aufgabe
als in der Tragödie; darum wurde sie in so unvergleichlicher
Weise von dem Meister wissenschaftlicher Geistesforschung dazu verwandt,
um durch ihre Definition das Fundament der gesamten Ästhetik für alle
Zeiten unerschütterlich zu errichten. Jn der Tragödie, obwohl das ganze
Feld aller denkbaren Seelenbewegungen zur Auswahl für die Mittel
ihrer Nachahmung ihr zu Gebote steht, handelt es sich doch nur um
zwei Grundempfindungen, die sie als unmittelbare, „erste“ Affekte
in der Seele des Zuschauers erweckt, das Mitleid und die Furcht,
freilich beide in den unzähligen Abstufungen ihrer Stärkegrade und
sonstigen Beschaffenheiten nach Ursache ihrer Entstehung und Art und
Weise ihrer Äußerung. Zudem stehen nun aber diese beiden Grundempfindungen
gerade in dem engen Wechselverhältnis zu einander, daß
in den zu geringen und in den zu starken Graden ihrer Bewegung sie
einander über die Gebühr verstärken oder hemmen, ja unter Umständen
wechselsweise vernichten,1 und daß sie nur in dem einen Falle zu jener
gleichzeitigen, wohlthätig empfundenen Thätigkeit in der Seele gelangen,
die einen so wesentlichen Teil ihres gesunden Lebens ausmacht, wenn
jede von ihnen in voller Reinheit erscheint. Da dieser ideale Zustand
der reinen Bethätigung für eine jede der beiden Empfindungen also an
die Beschaffenheit der anderen gebunden ist, so kann offenbar die vollkommene
Symmetrie
beider auf keine andere Weise erreicht werden
als durch den reciprok bewirkten Reinigungsprozeß der einen durch die
andere: „die durch das Mitleid und die Furcht sich vollendende
Katharsis der diesen beiden Gebieten angehörigen
Empfindungsäußerungen
“.

Dies ist das typische Beispiel der Katharsis, die nirgends
so klar zur Erscheinung gelangt wie hier, die aber das wesentliche
Moment, die unerläßliche Aufgabe einer jeden rein künstlerischen
Wirkung bildet.
Es gibt Nebenwirkungen der Kunst,
wie z. B. die bloße Ergötzung, und zwar eine an sich selbst „unschädliche
Ergötzung“ für die Müßigen, Erholung für die von harter
Arbeit Überlasteten; ferner wird sie für die Werdenden in der Hand
des Erziehers zu ethischen Zwecken der Anfeuerung des Strebens, der [527]
Anleitung zum Guten und Edlen, zur Zucht und Übung der Gemütskräfte
ein hochbedeutsames Mittel sein; endlich kann sie im Dienste
anderer Mächte, nicht nur des religiösen Kultus, sondern auch des
politischen und geselligen Lebens, für unmittelbare praktische Zwecke
nutzbar gemacht werden: ihre höchste Würde wird sie immer nur da
behaupten, wo sie auf rein ästhetische Wirkung und auf nichts anderes
gerichtet ist als auf diese. Eine solche ungemischt ästhetische Wirkung
wäre die Sollicitation zum Zwecke der Entladung aber keineswegs.
Das Mittel der Wirkung wäre zwar dabei ein lediglich ästhetisches, der
Zweck aber wäre gerade die Negation ästhetischer Bethätigung zu
Gunsten von Ansprüchen, die ganz außerhalb aller Beziehungen
der Kunst im wirklichen Leben liegen.
Wird dies aber geleugnet
und statt dessen als der Endzweck jenes Gefühl „freudiger Erleichterung“
gesetzt, das bei Bernays eine so große Rolle spielt, so gelangt
man zu einem Widerspruch, bei dem sich die Anhänger seiner
Theorie unmöglich beruhigen können: die Freude, die das Endziel der
Tragödie bildet, soll in der Entladung von denselben Affekten ihren
Grund haben, deren möglichst starke Sollicitation während ihrer
Dauer den eigentlichen Genuß des tragischen Kunstwerks
verschafft.

Der Begriff der aristotelischen Katharsis setzt die höchste Würde
der rein ästhetisch wirkenden Kunst in die Herstellung der durch sie erregten
Affekte zur höchsten Reinheit, so daß die Frucht des Kunstwerks
für die Seele die Freude an der möglichst vollkommenen Ausübung
eines der höchsten Vermögen ist, dessen sie durch ihre Organisation teilhaftig
gemacht wurde.

Mit seiner Forderung der Reinigung des Mitleids durch die Furcht
und dieser durch jenes war Lessing also im Recht.

5. Jn den neuplatonischen Zeugnissen steht das Gegenteil von dem,
was Bernays zur Bestätigung seiner Theorie darin zu finden meinte.

a) Obwohl bei Jamblichus der schiefe Gedanke obwaltet, die phallischen
Ceremonien dadurch in Schutz zu nehmen, daß er sie hinsichtlich
ihrer ableitenden Wirkung mit dem Erfolg der tragischen und komischen
(!) Katharsis vergleicht, so schlägt dennoch die Begründung, die
er dafür vorausschickt, gegen Bernays, sogar, wenn man seiner
eigenen
Übersetzung folgt: die gänzlich zurückgehaltenen Affekte werden
um so heftiger; „lockt man sie dagegen zu kurzer Äußerung in richtigem
Maße
hervor (ἄχρι τοῦ συμμέτρου προαγόμεναι, das lautet genauer:
bis zu der Höhe des Gleichmaßes hervorgerufen‘),
so wird ihnen eine maßhaltende Freude (χαίρουσι μετρίως, genauer: [528]
so sind sie von maßvoller Freude erfüllt, durchdrungen,
begleitet
', d. h. also die Freude ist durch ihre Bethätigung gegeben,
nicht durch den Akt der Entladung von ihnen bedingt), sie sind gestillt
und entladen und beruhigen sich dann auf gutwilligem Wege ohne Gewalt
(καὶ ἀποπληροῦνται καὶ ἐντεῦθεν ἀποκαθαιρόμεναι πειθοῖ
καὶ οὐ πρὸς βίαν ἀναπαύονται, hier statt der geradezu falschen Übersetzung
Bernays: ‚und finden volle Befriedigung und, auf
solchem Wege geläutert, gelangen sie willig, nicht gewaltsam
unterdrückt, zur Ruhe
‘)“.

b) Jn der ersten von Bernays aus Proklus angeführten Stelle1
spricht nur der Neuplatoniker, ohne daß die geringste äußere Andeutung
dazu berechtigte, hier ein Citat aus Aristoteles zu vermuten. Nur seiner
eigenen Ansicht zuliebe konnte Bernays ein solches in den Ausdrücken
ἀφοσίωσις τῶν παθῶν und κίνησις τῶν παθῶν erblicken. Das
letztere, „Bewegung der Empfindungen“, ist der durchaus übliche, fast
nicht zu vermeidende Ausdruck an dieser Stelle; was das erstere betrifft,
das Bernays als „Abfindung der Affekte“ wiedergibt, und das sicherlich
sinngemäßer übertragen wird mit „Beschwichtigung derselben“,
so widerspricht Bernays in der Anmerkung dem Text, wenn er dort
(vgl. Anm. 14 S. 199) sagt, daß das Verbum ἀφοσιοῦσθαι in der
Bedeutung „sich mit etwas abfinden“ von „den besten Attikern so gebraucht
worden sei, wie etwa in der heutigen Konversationssprache
animam salvare“ und dagegen im Text die Wendung für „eine aus
dem gediegenen Metall des griechischen Sprachschatzes geprägte Metapher“
erklärt, „deren bedeutungsvolle Lebendigkeit weit über die stilistischen
Mittel des matten Proklos hinausgehe“. Wie dem auch sei, es liegt
nicht der mindeste Grund vor, das Wort, welches in den vorhandenen
Schriften des Aristoteles überhaupt nicht vorkommt, in solchem Sinne
auf diesen Gegenstand angewendet ihm zuzuschreiben.

c) Dagegen ist an der zweiten Stelle desselben Autors (S. 362)
ausdrücklich Aristoteles citiert und schon in dem vorangehenden Satze
aus seinem Sinne gesprochen. Diese Stelle spricht mit lauter Stimme
für Lessings Katharsiserklärung gegen Bernays, wieder sogar in dessen
eigener Übersetzung: Platos Verbannung der Tragödie und Komödie
werde absurd gescholten, „da man ja durch diese Dichtungen die Affekte
maßvoll befriedigen und, nach gewährter Befriedigung, an ihnen
kräftige Mittel zu sittlicher Bildung haben
kann, nachdem [529]
ihr Beschwerliches geheilt worden“ (εἴπερ διὰ τούτων δυνατὸν
ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ
πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν τὸ πεπονηκὸς αὐτῶν θεραπεύσαντας).
Jn diesen Sätzen sind nicht weniger als drei flagrante Proteste gegen
Bernays' Theorie enthalten: sie verlangen nicht Sollicitation der Affekte,
sondern ein festes Maß, innerhalb dessen das der Seele innewohnende
Bedürfnis in betreff ihrer „erfüllt“ werde; mit dieser Erfüllung sind sie
keineswegs aus der Seele fortgeschafft,entladen“, sondern sie
werden vielmehr durch sie „thätig“ ─ ἐνεργά ─ für ihre höchste Bestimmung;
„geheilt“ wird an ihnen nur das, was zuvor Beschwerde
verursachte
τὸ πεπονηκός ─: diese Heilung ist also nicht eine
Ausstoßung der sollicitierten Affekte aus der Seele, sondern sie ist eine
Ausscheidung dessen, was an den Affekten über das verlangte
Maß
hinausging, d. i. eine Läuterung, Reinigung derselben.

d) Die dritte, umfänglichste Stelle des Proklus (S. 362) hat mit
der ersten das gemein, daß hier wieder allein der Neuplatoniker sich
vernehmen läßt, und ein Hinweis auf Aristoteles darin überhaupt nicht
vorhanden ist außer indirekt in einem einzigen Worte. Abermals
lehrt die Stelle in allen Punkten das Gegenteil von Bernays' Behauptungen.


Das dreimal darin vorkommende Wort ἀφοσίωσις, welches äußerliche
Abfindung“ bedeuten soll, bestätige sich, wie Bernays meint,
„auf die unumstößlichste Weise als eines der hervorragendsten Stichwörter
in dem aristotelischen Vortrage“. Die Art, wie Proklus hier die
Sache des Plato führt, ist für die Entscheidung der vorliegenden Frage
allerdings höchst interessant. Jhm gelten die Affekte, Leidenschaften und
die Neigung zu denselben ─ πάθη, παθητικόν ─ überhaupt als der
freien Bethätigung der Vernunft hinderlich; nichtsdestoweniger erkennt er
mit ihrer Existenz auch ihr Recht auf ein gewisses Maß der Bethätigung
an, innerhalb dessen ihnen Genüge geschehen müßte, eben damit der
Geist von ihnen befreit den höheren Dingen sich zuwenden könne. Für
diese ─ platonische, der aristotelischen direkt entgegengesetzte
─ Auffassung der Procedur, die den Affekten gegenüber
stattzufinden habe, gebraucht Proklus den Ausdruck ἀφοσίωσις,1 der
von ihm selbst als eine „maßvolle“ (μετρία) Beschwichtigung, eine [530]
Zügelung“ (χαλινοῦν) der Affekte charakterisiert wird; oder auf
folgende Weise umschrieben: „ihren Bewegungen in wohlgeordneter
Weise Einhalt thun
“ (τὰς κινήσεις αὐτῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν),
ihre „Bethätigung einschränken“ (συνεσταλμέναι ἐνέργειαν). Eben
darum erscheint die Bernayssche Wiedergabe des Ausdrucks „Aphosiosis
durch „Abfindung“ nicht zutreffend; der offenbar bei den Neuplatonikern
feststehend gewordene Terminus hat die ironische Färbung,
die Bernays ihm beilegt, nicht, sondern ist ernst gemeint. Der Unterschied
der neuplatonischen „Aphosiosis=“ oder „Beschwichtigungstheorie“
von der aristotelischen Katharsistheorie springt in die Augen. Jene betrachten
die Affekte als dem höchsten Zustande der Seele hinderlich; ihre
beschwichtigende Befriedigung gestehen sie nur zu, insofern dieselbe ein
nicht anders wegzuschaffendes Bedürfnis ist; dieselbe ist demgemäß
wie die Ausfüllung eines jeden Bedürfnisses nach platonischer Theorie
wohl mit Freude verbunden: aber dieser freudigen Befriedigung sollen
die Grenzen eines streng eingehaltenen Maßes gesetzt werden, sie kann
niemals selbst, für sich, Zweck werden, sondern sie leistet dem störenden
Bedürfnis nur Genüge um mit seiner Beseitigung der Seele die Freiheit
zu geben. Dagegen betrachtet die Katharsistheorie ─ und zwar
nach der Auffassung des Proklus selbst, wie er sie in dem Citat
der zweiten Stelle gibt ─ die maßvolle Befriedigung der Affekte als
ein Mittel dasjenige, was an ihnen störend ist, heilend zu beseitigen
und sie solcherweise zu kräftigen Faktoren für die Erreichung des höchsten
Seelenzustandes umzugestalten. Damit muß die maßvolle ─ künstlerische
─ Befriedigung der Affekte für sich selbst als ein würdiger,
ja ein nicht hoch genug zu schätzender Zweck erscheinen.

Die Differenz ist interessant genug: zeigt sie doch die engste Verwandtschaft
mit dem Gegensatz, in welchen die Schillersche Schönheitslehre
sich zur Kantschen Ästhetik stellte!

Bei der fundamentalen Verschiedenheit der beiden Kunstanschauungen
findet nun aber doch in einem Punkte notwendig ein Zusammentreffen
statt: beide verlangen strenges Maß in den Empfindungsbewegungen,
welche die eine gestattet, die andere um ihrer selbst willen herbeigeführt
wissen will. Ebenso notwendig aber gelangen beide von diesem scheinbar
übereinstimmenden Grundsatz aus in der Praxis zu ganz entgegengesetzter
Beurteilung. Dieser Gegensatz betrifft das gesamte Gebiet der Kunst;
hier kommt er nur in betreff des Dramas zur Sprache. Die Katharsistheorie
verlangt die starke Bewegung der Affekte durch das Trauerspiel
und die Komödie, vorausgesetzt, daß dieselben eben nur „sollicitiert“
werden um im Verlauf der Handlungsnachahmung zur vollendeten [531]
„Läuterung“ zu gelangen. Dagegen muß die „Beschwichtigungs“=
theorie jede stärkere Erregung der Affekte verwerfen, weil sie von der
Möglichkeit einer Läuterung ebensowenig etwas wissen will, als sie die
Existenz der „reinen“ Empfindungsthätigkeit in der Seele als mit ihrer
Vorstellungsweise von dem besten Seelenzustande für vereinbar erachten
kann. Sie muß also sowohl die Tragödie als das Lustspiel für verdammlich
erklären, obwohl ja auch sie die Notwendigkeit maßvoller
Befriedigung der Affekte für ihre Beschwichtigung anerkennt. Nur wird
sie immer behaupten, daß durch die dramatischen Aufführungen das
Gegenteil erzielt werde; deshalb wird sie der aristotelischen Überzeugung
von der Möglichkeit durch die wechselseitige Gegenwirkung stark bewegter
Empfindungen die Läuterung derselben zu bewirken, wobei das Fehlerhafte
derselben ausgeschieden würde, nicht anders sich gegenüberstellen
können als mit ironischer Skepsis. So wird es also völlig gegenstandlos
sich mit der unlösbaren Frage zu beschäftigen, ob Aristoteles selbst für
jene Ausscheidung den drastischen Ausdruck ἀπέρασις (in der Botanik ==
Abzapfung“ überschüssiger Säfte, aber auch für „Ausspeien“, „Erbrechen“
angewandt) gebraucht habe, oder ob derselbe von den Gegnern in
absichtlicher Vergröberung seiner Anschauungsweise gemünzt wurde. Das
letztere ist sicherlich wahrscheinlicher.

Zum Schlusse stehe hier nach Bernays' eigener Übersetzung die
ganze Stelle, die nun für sich selber sprechen mag: „Es erhellt demnach,
daß wir uns sowohl vor Tragödie als vor Komödie, weil sie ohne
Unterschied Charaktere aller Art nachahmen und unter Lustempfindungen
auf die Zuhörer wirken, wohl zu hüten haben, damit ihr Reiz, wenn
er das reizbare Gemütselement zu Mitempfindung hinreißt, nicht das
Leben der Jünglinge mit den aus jener Nachahmung entspringenden
Übeln anfülle und, anstatt eine mäßige Abfindung zu gewähren (richtiger:
„statt die Affekte maßvoll zu beschwichtigenἀντὶ τῆς πρὸς
τὰ πάθη μετρίας ἀφοσιώσεως), ihren Gemütern eine schlimme und
schwer fortzuwaschende Färbung einflöße, welche das Eine und das Einfache
verwischt und das diesen Entgegenstehende, infolge der Neigung
zu allartiger Nachahmung, ausprägt. Richten sich doch jene Dichtgattungen
vornehmlich auf dasjenige Element der Seele, welches zumeist
den Affekten bloßgestellt ist, die Komödie, indem sie das vergnügungssüchtige
Gefühl stachelt (τὸ φιλήδονον ἐρεθίζουσα) und in unmäßiges
Lachen ausbrechen läßt, die Tragödie, indem sie die Trauersucht groß
zieht (τὸ φιλόλυπον παιδοτριβοῦσα) und zu unmännlichen Klagetönen
hinreißt; beide nähren, jede an ihrem Teil, das den Affekten
unterworfene Element in uns
(ἑκατέρα δὲ τρέφουσα τὸ [532]
παθητικὸν ἡμῶν), und sie thun dies um so mehr, je vollständiger
sie ihrer dichterischen Aufgabe genügen. Allerdings wollen auch
wir nicht leugnen, daß es dem Gesetzgeber obliege, gewisse

Ableitungen“ (ἀπεράσεις) jener Affekte zu beschaffen (genauer
jedoch, worauf hier viel ankommt: „Daß freilich der Gesetzgeber
für diese Affekte gewissermaßen einen Abfluß schaffen muß,
sagen auch wir
“: δεῖν μέν οὖν τὸν πολιτικὸν διαμηχανᾶσθαί
τινας τῶν παθῶν τούτων ἀπεράσεις καὶ ἡμεῖς φήσομεν), jedoch
nicht so, daß dadurch der Hang zu ihnen noch verstärkt, sondern vielmehr,
daß er gezügelt und allgemach gedämpft werde (unrichtig
übersetzt für: „daß den Bewegungen derselben in wohlgeordneter Weise
Einhalt gethan werde“ τὰς κινήσεις αὐτῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν);
von jenen Dichtgattungen also, welche außer mit der Mannigfaltigkeit
auch noch mit der Maßlosigkeit in der Hervorlockung jener Affekte behaftet
sind, glauben wir, daß sie nicht von fern zu Abfindungen
dienen können
(πολλοῦ δεῖν εἰς ἀφοσίωσιν εἶναι χρησίμους:
„daß sie nicht entfernt zu ihrer Beschwichtigung dienlich sind.
Überzeugend beweist diese Stelle, daß der „Aphosiosis“ der Begriff der
„maßvollen“ Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses schon an sich
innewohnt.). Denn Abfindungen bestehen nicht in Übermaß, sondern
in gedämpften Wirkungen und haben nur eine geringe Ähnlichkeit
mit dem, wovon sie Abfindungen sein sollen. (Richtiger: „Denn
die Beschwichtigung liegt nicht im Empfindungsübermaß,
sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigung, sie sieht
dem wenig ähnlich, was sie beschwichtigt.
“) Merkwürdig, wie
Bernays in dieser „Aphosiosis“ ein Synonymon der aristotelischen
Katharsis erblicken konnte, noch merkwürdiger aber, wie er in „dieser
Erklärung derselben, die es außer Zweifel setze, daß Proklus dieselbe
wie Aristoteles verstanden habe,“ nicht den in schärfster Form ausgesprochenen
Gegensatz zu seiner eigenen Sollicitations- und Entladungshypothese
erkennen mochte. Die Aphosiosis, die Proklus hier definiert,
enthält ja gerade das Charakteristikum der eigenen, neuplatonischen
Theorie, die von Proklus der aristotelischen Katharsis polemisch entgegengestellt
wird!

e) Ebenso wie alle vorhergehenden von Bernays für seine Theorie angeführten
Zeugnisse verwandelt sich auch die letzte, noch aus Jamblichus
beigebrachte Stelle bei näherer Betrachtung aus der unerschütterlichen Stütze,
für die er sie ausgibt, in eine vernichtende Angriffswaffe. Nicht gegen
die musikalische Katharsistheorie des Aristoteles wendet sich die Polemik des
Jamblichus, sondern gegen ihre Anwendung auf den Enthusiasmus, den [533]
er für „göttlich vom ersten Anbeginn und im ganzen Verlauf“ erklärt
(θεία δὲ αὐτοῦ συνίσταται ἡ πᾶσα ἄνωθεν ἀρχὴ καὶ μεταβολή).
Und wie charakterisiert er nun jenes aristotelische „Heilverfahren“,
welches als „natürlich und menschlich und Menschenwerk vom Göttlichen
(θεῖον) des Enthusiasmus keine Spur habe,“ „weitab davon führe?“

Er bezeichnet es auf das einfachste und treffendste durch die
Kombination zweier Vorgänge: ἐμποιεῖν τὰ πάθη und ἰατρεύειν τὰ
πὰθη τῆς παρατροπῆς, d. h. „Einpflanzung von Empfindungen“
und „Heilung derselben von Abirrung“. Die Art der letzteren gibt
er noch deutlicher durch die Worte an, mit denen er die Anwendung
einer solchen „Heilung“ auf den Enthusiasmus abwehrt: Bei ihm dürfe
von nichts „Krankhaftem“ (νόσημα), „Übermäßigem“ (πλεονασμός)
oder „störend Belastendem“ (περίττωμα) die Rede sein; daher seien
die Ausdrücke ἀπέρασις, ἀποκάθαρσις und ἰατρεἰα, also „Ausscheidung
─ nämlich des „störend Belastenden“ ─, „Abklärung“ ─
natürlich von dem „Übermäßigen“ ─ und „Heilung“ ─ wovon anders
als von dem „Krankhaften“ ─, auf den göttlichen Enthusiasmus
in keiner Weise anwendbar.

Stärker kann der Gegensatz gegen Bernays' Hypothese und deutlicher
die Übereinstimmung mit Lessings „Reinigungs“ theorie nicht ausgesprochen
werden.

Das wäre also der philologische Befund!

Es bleibt noch übrig

6. die specielle psychologische und ästhetische Begründung, mit
welcher Bernays seiner Hypothese Eingang zu verschaffen sucht, nach
ihren beiden stärksten Verirrungen zu kennzeichnen.

Die erste beruht auf einem einzigen Satze, der als fundamentaler
Jrrtum die ganze, mit so glänzendem Geistesschmuck ausgestattete Abhandlung
durchzieht, und den man immer aufs Neue erstaunt ist bei
einem so großen Gelehrten und so scharfen Denker zu finden, wie Jakob
Bernays es war. Freilich, die Leser, die diesen Satz von ihm auf Treue
und Glauben annehmen, werden im weiteren gegen seine Argumente
wehrlos sein; vielleicht erklärt sich hieraus die Nachfolge so manches
sonst selbständigen Denkers, den aber seine Studien nicht zur eigenen
Prüfung der aristotelischen Ethik und Psychologie geführt haben. „Alle
Arten von Pathos
“, heißt es auf S. 176, „sind wesentlich ekstatisch;
durch sie alle wird der Mensch außer sich gesetzt.
“ Man
könnte einen Preis auf die Entdeckung der Stelle setzen, an der Aristoteles
etwas dem Ähnliches sagt. Er findet den Vorgang der „Ekstasis“ ─
─ der „Verrückung“ ─ überhaupt „in der Umwandlung eines Natur= [534]
gemäßen in ein wider die Natur Gehendes (ἔκστασίς τίς ἐστιν ἐν τῇ
γενέσει τὸ παρὰ φύσιν τοῦ κατὰ φύσιν cf. De coel. II, 3 S. 286a
19 wörtlich: „Das Widernatürliche ist gewissermaßen eine „Verrückung“,
die bei dem Entstehungsvorgange des Natürlichen, des Naturgemäßen
stattfindet“). Jn der Schrift „Von der Seele“ sagt er dann freilich gerade
in Bezug auf diese, daß „eine jede Bewegung ‚eine Verrückung des
Bewegten‘ sei, insofern es bewegt werde“ aber er fügt ausdrücklich
hinzu, daß das nur der Fall sei, wenn die Bewegung nicht eine der
Natur des bewegten Dinges nach ihm eigene, zukommende sei (κατὰ
συμβεβηκός), um dann zu dem Schlusse zu gelangen, daß gerade die
Bewegung der Seele eine solche sei, die ihr eigen, ihrem Wesen nach
(καθ' αὑτήν) notwendig bei ihr stattfinde. Die naturgemäße Bewegung
der Seele schließt also keineswegs den Vorgang der „Verrückung“
von ihrem Wesen ein.1 Die strikte Anwendung dieser Sätze auf die
Empfindungsbewegungen der Seele ist von Aristoteles selbst gemacht
und sie widerspricht dem Satze, der die gesamte Auffassung Bernays'
von der Seelenlehre des Aristoteles beherrscht, diametral. Sie findet
sich in der sehr scharfsinnigen und gründlichen Untersuchung, die dieser
im Kapitel 3 des siebenten Buches der phys. auscult. über die Frage
anstellt, ob die Beschaffenheiten der Dinge Veränderungen (ἀλλοιώσεις)
derselben seien. Er verneint dieselbe: die Beschaffenheiten treten zwar nicht
ohne Veränderungsvorgänge ein, sie sind aber nicht selbst solche. Ebensowenig
seien also die Zustände (ἕξεις) des Körpers oder der Seele
„Veränderungen“ (ἀλλοιώσεις) derselben (S. 246a 10 ff.); so also auch
weder Vortrefflichkeit, Tugend, noch Fehlerhaftigkeit, Schlechtigkeit
(οὔτε ἡ ἀρετὴ οὔτε ἡ κακία), sondern die erste sei die Vollendung
eines Dinges (τελείωσις), d. h. also die vollständige Entwickelung desselben
bis zu ihrem Ende, die andere die Störung und „Verrückung
desselben (φθορὰ τούτου καὶ ἔκστασις). Zu der Vollendung ist
also einerseits die Freiheit von störendem Pathos erforderlich, andererseits
aber ebenso das richtige Pathos unentbehrlich
(246b 19:
ἡ μὲν γὰρ ἀρετὴ ποιεῖ \̓η ἀπαθὲς \̓η ὠς δεῖ παθητικόν); umgekehrt
ist die Fehlerhaftigkeit dem störenden Pathos unterworfen und in
der entgegengesetzten Weise dem richtigen Pathos verschlossen (
δὲ κακία παθητικὸν \̓η ἐναντίως ἀπαθές). Hier ist der Ausdruck
„Pathos“ noch im weitesten Sinne genommen; aber die Anwen= [535]
dung auf das „Pathos“ im engeren Sinne als Empfindungsbewegung
wird sogleich gemacht. „Ganz ebenso nämlich sei es mit den
Seelenzuständen. Auch diese entstehen sämtlich durch ein bestimmtes
Verhalten zu den Dingen, die Tugenden also sind die Vollendungen
desselben, die Fehler die „Verrückungen“ davon; die Tugend schließt
ein richtiges Verhalten zu den ihr zugehörigen Pathe ein, die Fehlerhaftigkeit
ein falsches: auch sie können daher „Veränderungen“ nicht genannt
werden.“1 Diese einleuchtenden Ausführungen setzen es ganz
außer Zweifel, wie Aristoteles zu verstehen ist, wenn er in der Ethik
wiederholt dem Manne, der sich selbst beherrscht, fest auf dem Vernunftschluß
beharrt (ἐγκρατής, ἐμμενετικὸς τῷ λογισμῷ) den Unmäßigen,
Zügellosen oder Charakterschwachen (ἀκόλαστος, ἀκρατής) gegenüberstellt,
der „durch das Pathos sich von der Vernunft, von seiner Meinung
wegrücken läßt“ (ἐκστατικὸς τοῦ λογισμοῦ, πάσης δόξης
διά γε τὸ πάθος), also den „durch das Pathos Ekstatischen“.
Vielleicht sind es solche Wendungen gewesen, die Bernays zu der Auffassung
verleitet haben, nach Aristoteles seien „alle Arten des Pathos
wesentlich ekstatisch“, während doch kaum etwas Anderes einen so
wesentlichen Grundzug
seiner gesamten Philosophie bildet als die
Lehre,
daß zu der „Vollendung“ der Seele, auf der sowohl Tugend
als Freude und zu einem bedeutenden Anteil auch das Glück beruhen,
die wohlgeordnete Bethätigung der Empfindungsbewegungen
einer der wichtigsten Faktoren ist: daß also das Pathos, weit entfernt
die Seele ekstatisch „außer sich zu setzen“,2 wie Bernays will, vielmehr
richtig bestimmt, d. h. von aller „Abirrung“ und allem „krankhaften
Übermaß
“ geheilt ─ das geläuterte Pathos ─ die naturgemäße
Entfaltung ihres innersten Wesens ist. Sähe Aristoteles die Furcht=
und Mitleidempfindung an sich selbst als „ekstatisch“ an, so hätte die
Entladungstheorie einen Sinn: da es ihm aber gerade darauf ankommt
die Seele zu diesen Empfindungen in das richtige Verhältnis zu setzen
(εὖ διατιθέναι), so kann das Mittel dazu nur sein, dieselben von den
Beimischungen, die die Gefahr der „Ekstasis“ nahelegen, zu befreien, zu
reinigen. Das geschieht, indem die von außen sie bestimmenden Veränderungsvorgänge
(ἀλλοιώσεις) dementsprechend in der Nachahmung
der Handlung eingerichtet werden, d. h. indem die Katharsis im [536]
Sinne der Reinigung der tragischen Affekte zum regulativen
Princip für die Komposition der Tragödie erhoben
wird.

So steht es mit der Grundlage der psychologischen Motivierung
in Bernays' Theorie; wie aber war es möglich, daß er und seine Anhänger
über die ungewöhnlich starke Zumutung hinwegkommen konnten,
die sie an das ästhetische Gewissen stellt? Auch hier liegt die Erklärung
in einer, freilich unbewußt geschehenden, Unterschiebung.

Wie schon oben bemerkt: die Definition des tragischen Kunstwerks
„Entladung durch Sollicitation“ krankt an dem Kardinalfehler, daß sie
nicht das geringste Regulativ für die Qualität der zu sollicitierenden
Affekte enthält.
Wie verfährt nun aber Bernays? Er
nimmt gleichwohl vorweg in den Beweis für seine Definition der
Katharsis alle die aristotelischen Bestimmungen über die herzustellende
Qualität der Furcht- und Mitleidempfindungen mit
hinein,
welche erst als eine Konsequenz der in dieser selben Definition
gestellten Forderung ihrer Katharsis von Aristoteles erhoben werden.
Er thut das, obwohl mit der hier gestellten Forderung des Gleichmaßes
dieser Empfindungen seine eigene Forderung, daß dieselben fortgeschafft
werden sollen, notwendig in Wegfall kommen muß! Denn in
solcher Gestalt will Aristoteles eben diese Pathe einpflanzen (ἐμποιεῖν),
nicht ausstoßen (ἀποκαθαίρειν), und wer wollte leugnen, daß diese
Forderung ebenso mit der gesamten aristotelischen Philosophie im vollsten
Einklange steht wie mit der gemeinsamen ästhetischen Anschauung aller
nur einigermaßen erleuchteten Kunstepochen?

Für Bernays blieb also nichts übrig, als diese, auch für ihn
unentbehrlichen,
Qualitätsbestimmungen der Mitleids- und Furchtaffekte
aus der bloßen Verkoppelung herzuleiten, in der sie die
aristotelische Definition aufführt: „Mitleid und Furcht!“ Auch er
muß nun eine wechselseitige, berichtigende Einwirkung der
Furcht auf das Mitleid
und umgekehrt des Mitleids auf die
Furcht
annehmen! „Das Mitleid wird also durch seine Verschwisterung
mit der Furcht vor Singularität bewahrt“ (S. 181).
„Andererseits darf die Furcht nie mit so lähmender Gewalt auf den
Zuschauer eindringen, daß sie die zur Teilnahme an einem Andern
nötige Gemütsfreiheit raubt
“ (ibid.). „Der tragische
Dichter soll das Band, welches die beiden Affekte ihrer Natur nach
innerlich verknüpft, stets straff angezogen halten“ (ibid.). Wohl! Aber
was ist damit anders verlangt, als was eben auch Lessing will: eine
reciproke, berichtigend einwirkende Modifikation der einen Empfindung [537]
durch die andre? Welch ein seltsamer Schluß jedoch, daß der Dichter
seine ganze Kunst aufwenden soll, diese „Verschwisterung“ der beiden
Affekte zu bewerkstelligen, lediglich um sie dann gemeinschaftlich hinauszubefördern!


Dieser vollkommene Widerspruch ist es, dessen Unlösbarkeit der
sonst so klaren, scharfsinnigen Darstellungsweise Jakob Bernays' in den
Schlußsätzen seiner berühmten Katharsisabhandlung den Stempel eines
dunklen Mysticismus aufdrückt. Hier liegt in einem nicht zu schlichtenden
Streit die Wahrheit der aristotelischen Bestimmungen über die Qualität
der zu erregenden Furcht- und Mitleidempfindungen zusammengezwungen
mit der Unwahrheit der Bernaysschen Forderung, sie durch
ihre „Hervorlockung“ auszulöschen. „Nur durch die stete straffe Verknüpfung
der beiden Affekte,“ heißt es S. 182, „wird das tragische
Kunstwerk die kathartische, d. h. die ekstatisch=hedonische Erregung
von selbst herbeiführen. Denn wenn das Mitleid so universalisiert
worden, daß der Zuschauer mit dem tragischen Helden zusammenfließt,
so verschwindet vor der Wonne, welche dieses Heraustreten aus dem
eigenen Selbst begleitet, das Gefühl der Pein, welches die bemitleidete
nackte Thatsache an sich erregen könnte, zumal da das nie ganz einschlafende
Bewußtsein der Jllusion jene empirische Pein ohnehin mäßigt.
Dagegen würde auch bei dem wachesten Bewußtsein der Jllusion das
direkt dargestellte Furchtbare immer noch, da die Furcht kein räsonnierender
Affekt ist, erdrückend und peinvoll wirken; die Persönlichkeit des
Zuschauers, statt in ekstatisch=hedonischer Weise sich aufzulösen,
würde vor solchen Schreckbildern sich in sich selber zusammenkrümmen;
und nur wenn die sachliche Furcht durch das persönliche Mitleid vermittelt
ist, kann der rein kathartische Vorgang im Gemüte des Zuschauers
so erfolgen, daß, nachdem im Mitleid das eigene Selbst zum Selbst
der ganzen Menschheit erweitert worden, es sich den furchtbar
erhabenen Gesetzen des Alls und ihrer die Menschheit umfassenden
unbegreiflichen Macht von Angesicht zu Angesicht
gegenüberstelle,
und sich von derjenigen Art der Furcht durchdringen
lasse, welche als ekstatischer Schauder vor dem All zugleich in
höchster und ungetrübter Weise hedonisch ist!
1

Es ist das nicht mit Recht angeeignete, reine Gold der aristotelischen
Weisheit, das dieser seltsamen Legierung mit der „unschädlichen [538]
Freude“ an dem „ekstatischen Aufwallen“ und „momentanen
Ausbrechen in lustvolles Schaudern
“ den Kurs verschafft hat
gegen Lessings vollwichtige, nur im Gepräge verwischte Münze. ──────


XXVI.

Es ist oben davon die Rede gewesen, inwiefern Lessing sich im
Ausdruck vergriffen hat, wenn er von der Verwandlung der tragischen
Leidenschaften in „tugendhafte Fertigkeiten“ sprach und von der Kunst
überhaupt eine „bessernde“ Wirkung verlangte. Gleichwohl lebt in der
Hülle dieser beirrenden Formel der Keim des Richtigen, den Lessing
auch sicherlich zur Entfaltung gebracht hätte, wenn seine Aufmerksamkeit
dem Gegenstande erhalten geblieben wäre. Wie in Wahrheit hier die
Dinge liegen, zeigt sich am besten bei der Untersuchung, wie in Schillers
Händen, der die weitere Pflege übernahm, dieser Keim sich
entwickelte.

Schiller folgte in der Anschauung von dem Wesen der tragischen
Affekte ohne eigene Prüfung der Lehre Lessings; nachdem dieselbe im
vorausgegangenen Abschnitte der Gegenstand der Kritik gewesen, kann
die Darstellung nun ohne Unterbrechung sich der Frage zuwenden, wie
die Theorie der tragischen Kunst durch Schiller fortgebildet ist.

Kein Zweifel! die moralisierende Färbung der Lessingschen Definition
lief der Kunstanschauung Schillers zuwider. An die Spitze
seines Aufsatzes vom Jahr 1792 „Über den Grund des Vergnügens
an tragischen Gegenständen
“ stellt er die Sätze: „Die Künste der
Phantasie und Empfindung zwecken auf Vergnügen ab.“ „Was
alle übrigen Richtungen und Thätigkeiten des menschlichen Geistes nur
mittelbar
erfüllen, nämlich Vergnügen auszuspenden und Glückliche
zu machen, das leisten sie unmittelbar.“ Dieser Zweck aber sei von
dem armseligen Zweck nur „zu belustigen“ weit verschieden. Weil
man beide verwechselt habe, deswegen werde der Kunst als höchster
Zweck das Moralischgute untergeschoben, wodurch sie ihre „Freiheit“
verliere. Nichtsdestoweniger sei „ihr Einfluß auf die Sittlichkeit in die
Augen fallend“, sie „befördere jenen höchsten Zweck der Menschheit in
großem Maße“.

Hier liege ein anscheinender Widerspruch vor, den es zu heben gelte.

Bis dahin hat Schiller von der ihm eigentümlichen Ansicht noch
kein Wort ausgesprochen; dennoch liegt schon in diesen Vordersätzen ein [539]
formaler Jrrtum von so folgenschwerer Bedeutung, daß seine ganze
Untersuchung dadurch in eine falsche Bahn geleitet und auf Hindernisse
geführt wird, die sich als unüberwindlich erweisen. Eine gründliche
Kenntnis des Aristoteles hätte Schiller davor bewahren können.

Der Satz: „die Künste zwecken auf Vergnügen ab“ ist unrichtig:
die Reinheit der aristotelischen Kunstanschauung erträgt selbst diesen
Grad von Teleologie nicht, schon durch sie wird der Zweck des Kunstwerks
aus seinem eigenen Wesen heraus nach außen verlegt. Die Frage
ist oben schon erörtert:1 freilich muß das Kunstwerk so beschaffen sein,
daß es die Bereitschaft für die Freude herzustellen vermöge, aber diese
Freude selbst, „das Vergnügen“, ist abhängig von der Thätigkeit
des Empfangenden;
daß sie wirklich eintrete, ist lediglich Sache dessen,
der das Kunstwerk mit williger Energie seiner Empfindungskräfte aufnimmt,
es behält seine Vollkommenheit auch ohne das Eintreten
dieses äußeren Ereignisses, dieselbe ist also ohne Rücksicht
auf jenes zu bestimmen.

Der Unterschied für die Richtung der Untersuchung ist ein entscheidender!
Jener teleologische Satz zwingt sie die höchsten philosophischen
Fragen in ihren Kreis zu ziehen: die Fragen nach dem Verhältnis
der sinnlichen Natur des Menschen zu seiner geistigen und sittlichen
Anlage, ob Vergnügen und Schmerz der einen mit Gesetz und Verbot
der andern im Einklang oder Widerspruch stehe, ob eine Vereinigung
beider möglich sei und wie sie bewerkstelligt werde? Und diese letzten
und höchsten
Fragen sollen gelöst werden, während die nächste und
wichtigste Vorfrage unbeachtet bleibt,
die Frage nämlich, auf
welche unmittelbaren, in seiner Organisation selbst liegenden Ziele denn
das Kunstwerk gerichtet sein muß, um jenem weiteren, außerhalb liegenden
Zwecke entsprechend zu sein; dennoch ist es die Lösung dieser Frage,
auf der einzig und allein die Gesetzgebung für das Kunstwerk auferbaut
werden kann.

Jn dieser Richtung liegen alle Lessingschen Forschungen auf dem
ästhetischen Gebiet; deshalb sind sie unvergänglich fruchtbringend, selbst
wo er irrte: Schillers spekulativer Sinn, von seinem feurigen Jdealismus
getragen, und freilich von seinem produktiven Genie geleitet, verleiht
seinen ästhetischen Untersuchungen die Kraft zu folgenreicher philosophischer
Anregung und macht sie zu einem unschätzbaren Gewinn für die
geistig=sittliche Bildung, aber die technische Erkenntnis der Dichtkunst,
die τέχνη ποιητική, ist wenigstens auf dem Gebiete des Dramas durch [540]
seine Abhandlung nicht wesentlich gefördert. Etwas ganz anderes ist,
daß umgekehrt seine dramatischen Schöpfungen eine neue reich
strömende und unversiegbare Quelle für diese Erkenntnis eröffneten.

Die Richtigkeit dieser Ausführungen erprobt sich auf Schritt und
Tritt, wenn man die einfachen Grundsätze der aristotelischen Theorie
zum Maßstabe für die Kritik der Schillerschen Aufsätze über die Tragödie
erwählt. Während diese Kritik sonst ins Grenzenlose philosophischer
Spekulation führen muß, entdeckt sich hier jede Krümme der Bahn
von selbst.

Um den Widerspruch zwischen Vergnügen und Sittlichkeit zu heben,
setzt Schiller das „freie Vergnügen“, das nur durch „moralische
Mittel erreicht werden könne“. Die „Kunst müsse durch Moralität
ihren Weg nehmen“ und dennoch dabei ihre „Freiheit“ behaupten,
ohne welche sie ihre höchste Wirkung nicht ausüben könne. Diese „Freiheit“
ist also zunächst lediglich negativ bestimmt: sie bedeutet die Abwesenheit
der moralischen Tendenz, durch welche das „Spiel“ der Kunst
in ein ernsthaftes Geschäft verwandelt werden würde. Zugleich aber
wird schon hier angedeutet, daß der Verfasser ihr auch einen positiven
Jnhalt zu geben beabsichtigt: „eine bündige Theorie des Vergnügens“
würde ergeben, daß das „freie Vergnügen“ der Kunst durchaus auf
moralischen Bedingungen beruhe.
Die Unklarheit und der Fehler
dieses Satzes werden sofort offenbar, wenn man ihm die aristotelische
Grundlehre gegenüberstellt: der Kunst liegt es ob, reine, d. h. richtige
Empfindungen nachzuahmen. Auch die höchste Moralität setzt dieselben
voraus, dadurch werden reine Empfindungen aber noch keineswegs zu
moralischen. Das Moralische ist ohne Willensaktion undenkbar;
gerade aber die Bestimmung des Willens soll die Aufgabe der Kunst
nicht sein, weil sie damit ihre Freiheit verlieren würde.

Gleich der nächste Satz verstärkt den Jrrtum Schillers. „Jedes
Vergnügen, insofern es aus sittlichen Quellen fließt, verbessert den Menschen
sittlich: die Kunst wirkt also nicht deswegen allein sittlich, weil
sie durch sittliche Mittel ergötzt, sondern auch deswegen, weil das Vergnügen
selbst, das die Kunst gewährt, ein Mittel zur Sittlichkeit
wird.
“ Ein unrichtiger Schluß! Das sittliche Vergnügen
ist dasjenige, welches die pflichtgemäße Thätigkeit des Willens begleitet;
ihm verwandt ist das Vergnügen an den durch die Anschauung pflichtgemäß
bestimmter Entschlüsse und Handlungen eben um dieser willen
erregten Empfindungen, die Kant „moralische Gefühle“ nennt: aber
weder das eine noch das andere ist identisch mit dem Vergnügen, „das
die Kunst gewährt
“. Die ersten sind ihr ganz fremd, die zweiten [541]
können höchstens doch nur als Nebenwirkungen der Kunst in Betracht
kommen: das „Vergnügen selbst, das die Kunst gewährt“, ist allein das
Vergnügen der durch die bloße WahrnehmungAisthesis ─ befriedigten
Empfindung, ohne daß diese Befriedigung etwa der Billigung
durch die Vernunft erst bedürfte, ja so völlig unbekümmert um diese
letztere, daß das ästhetische „Vergnügen“ sehr oft als der gefährlichste
Feind sich den „moralischen Gefühlen“ entgegenstellt.

Wie grundverderblich aber dieser falsche Schluß für den ganzen
Verlauf der Untersuchung, für Schillers ganze ästhetische Theorie ist,
tritt schon in dem unmittelbar folgenden Absatz überzeugend hervor,
der das „freie Vergnügen“ definiert. Hier ist nicht ein einziges Wort
richtig!

„Die Mittel, wodurch die Kunst ihren Zweck erreicht, sind so
vielfach,
als es überhaupt Quellen eines freien Vergnügens gibt.“

Das gute Handeln sowie das richtige Erkennen sind Quellen
„freien“ Vergnügens in Schillers Sinn; aber sowohl das rein moralische,
wie das rein dianoetische Vergnügen sind der Kunst völlig
fremd. Die Kunst erreicht ihren Zweck nur durch ein einziges Mittel:
durch reine Thätigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, vollendete
Energie der Aisthesis!
Nur insofern es gelingt den Gehalt
jener anderen „freien“ Thätigkeiten dieser einzigen Quelle des künstlerischen
Vergnügens zuzuleiten, kann er zum Gegenstande desselben umgeschaffen
werden. Die Thätigkeit der Vernunft und des Verstandes, die
eigentliche Arbeit der moralischen und logischen Erkenntniskräfte, ist
also aus der Kunst ausgeschlossen: das hindert nicht, daß die Kunst
von den Resultaten derselben recht eigentlich angefüllt sein
kann.
Die gewaltige Aufgabe des Künstlers ist es, diese Resultate zu
Gegenständen sinnlich wahrnehmbarer Nachahmung zu
machen,
einer Nachahmung, die vermögend sei Empfindungen
und Seelenzustände unmittelbar und zwar richtig bestimmt
zu erregen.

Daher ist der nächste Satz Schillers: „frei ist dasjenige Vergnügen,
wobei die geistigen Kräfte, Vernunft und Einbildungskraft thätig
sind“, insofern damit Wesen und Wirkung der Kunst bezeichnet sein
soll, ebenfalls unrichtig. Die „Einbildungskraft“ ist nur eine von
den Hülfsmächten der Kunst, die sie nur da anruft, wo ihre Mittel
unmittelbarer sinnlicher Einwirkung nicht ausreichen. Die „Vernunftthätigkeit
darf sie im eigentlichen Sinne niemals in Anspruch nehmen.
Hier dürfte es jedoch erforderlich sein einem Trugschluß vorzubeugen.
Wie oft erreicht nicht die Poesie ihre höchsten Wirkungen, indem sie die [542]
obersten Vernunftwahrheiten unmittelbar ausspricht? wie oft thun nicht
die andern Künste mittelbar dasselbe, indem sie auf jene Wahrheiten
hindeuten? Beide verfehlen ihren Zweck, sobald sie an die eigentliche
„Vernunftthätigkeit“, an die Erkenntniskraft mit dem Anspruch sich
wenden, ihrerseits ihre Arbeit zu thun: beide erreichen ihren Zweck
nur, indem, ganz ohne Erkenntnisthätigkeit, die ausgesprochene oder
angedeutete Wahrheit als Ergebnis eines Sinneneindrucks, ästhetisch
aufgenommen, unmittelbar die Empfindung in Thätigkeit
versetzt.
Nehmen wir ein griechisches Chorlied, das den großen
Vernunftgedanken der sittlichen Weltordnung ausspricht: die mächtige
Wirkung geht nicht auf Beweis und Erkenntnis, sondern auf Gestaltung,
Modifikation, sei es Erhöhung sei es Besänftigung, der durch
die Situation aufgeregten Furcht- oder Mitleidsempfindung.

Ja sogar hinsichtlich der Einbildungskraft findet etwas Verwandtes
statt, durch dessen Verkennung viele Wirrnis erzeugt ist. Wo die Poesie
in Schilderung und Erzählung der Unterstützung durch die Einbildungskraft
benötigt ist, geht ihre Absicht keineswegs auf deren eigentliche
Thätigkeit, möglichst exakte und vollständige Vorstellung der Gegenstände ─
das würde zur beschreibenden Poesie und nur stofflich wirkender Erzählung
führen ─, sondern sie begehrt ihrer Vorstellungen nur von der
einen Seite, durch welche sie der nachgeahmten Empfindung, Stimmung,
Gesinnung Nahrung bieten oder sie der künstlerischen Absicht gemäß modifizieren.
Hierdurch erhalten die „poetischen“ Vorstellungen ihre Lebendigkeit
und Kraft, nicht durch die im Grunde mechanische Thätigkeit der
Einbildung.1

Jnfolge dieser Theorie, daß zum „freien Vergnügen“ die „geistigen
Kräfte“ thätig sein müssen, schließt Schiller die „sinnliche Lust, wo
die Empfindung unmittelbar auf ihre sinnliche Ursache erfolgt“,
ganz vom Gebiete der Kunst aus. Solche sinnlichen Eindrücke könnten
nur insofern künstlerisch wirken, als „die Planmäßigkeit ihrer Anordnung
durch die Vorstellung erkannt werde“. Damit wäre nichts Geringeres
aus der Kunst ausgeschlossen als der Reiz, und zwar der Reiz im [543]
weitesten Sinne dieses Wortes. Jn der von Schiller definierten unmittelbar
sinnlichen Weise wirkt der Klang auf die Empfindung, und
doch ist er das Element der Musik und des verschönerten Ausdruckes
in der Poesie, wirkt Gestalt und Farbe sowohl in der malerischen und
plastischen als in der drastischen Darstellung: hier überall ist unmittelbare
„sinnliche Lust“ mächtigste und unentbehrliche Bundesgenossin der
vollen ästhetischen Kunstwirkung. Freilich müssen diese Mittel der Kunst
wie überhaupt alle ihre Mittel „planmäßig geordnet“ sein; diese Planmäßigkeit
kann auch bis zu einem gewissen Grade „erkannt“ werden;
aber solche Erkenntnis ist die Arbeit des kritischen Verstandes, der Erwerb
eines theoretisch geschulten „Geschmackes“, nimmermehr jedoch die
Vorbedingung des unmittelbaren Genusses, der Kunstwirkung überhaupt.

Als Konsequenz alles dessen nun die schlimmste Schlußfolgerung:
„Die allgemeine Quelle jedes, auch des sinnlichen Vergnügens, ist Zweckmäßigkeit.
Das Vergnügen ist sinnlich, wenn die Zweckmäßigkeit nicht
durch die Vorstellungskräfte erkannt
wird, sondern bloß durch das
Gesetz der Notwendigkeit die Empfindung des Vergnügens zur physischen
Folge hat. Das Vergnügen ist frei, wenn wir uns die Zweckmäßigkeit
vorstellen
und die angenehme Empfindung die Vorstellung
begleitet.“

Es ist einer der häufigsten, aber auch gefährlichsten, logischen Fehler,
den Schiller hier gemacht hat, allerdings in Übereinstimmung mit einem
System, das in seiner Zeit herrschend war und noch heute seine Anhänger
hat: der Fehler die Angabe von Eigenschaften, die einem Dinge
seiner Natur nach zukommen, für die Definition seines Wesens zu halten.
Wie wenn jemand mit Recht sagt, daß in einem schönen Musikstück keine
Fehler gegen Takt und Harmonie sein dürften, und man nun definieren
wollte: schöne Musik beruht auf Takt und Harmonie. Oder wenn aus
dem Satze: ein schönes Gebäude müsse symmetrisch angeordnet und
zugleich wohl übersichtlich sein, gefolgert würde: Schönheit der Architektur
beruht auf Symmetrie und Übersichtlichkeit. Gleichwohl ist dies geschehen
und der Fehler geht zurück bis auf das Mißverständnis eines
aristotelischen Satzes, das auf diesem Felde viel Unheil angerichtet hat.
Jm siebenten Kapitel der Poetik sagt er gelegentlich, zur Schönheit gehöre
Ordnung, aber außer dieser sei auch die Größe des schönen
Gegenstandes nicht eine beliebige; d. h. also die hervorragende Ausdehnung
─ was Größe an sich bedeutet ─ bestimmt sich bei einem
jeden Gegenstande nach dem ihm eigenen Wesen; die damit gegebenen
Grenzen
darf das Kunstwerk weder nach der Seite des „zu klein“ noch
des „zu groß“ überschreiten, ohne den Anspruch auf Schönheit zu ver= [544]
lieren. Diesen zuvor schon ausgesprochenen Gedanken resümiert er
kurz in den Worten: „zum Schönen gehört Größe und Ordnung“ ─
τὸ γὰρ καλὸν ἐν μεγέθει καὶ τάξει ἐστί. Diese Worte hat man
für eine aristotelische Definition der Schönheit ausgegeben und ─
so ungeheuerlich es ist ─ sie als eine solche acceptiert und in Geltung
erhalten! Das Wesen des Schönen also soll in „Größe und Ordnung“
bestehen; da aus dem ersten Teil dieser angeblichen Definition nicht
viel zu folgern war, so verweilte man mit um so größerem Nachdruck
auf dem zweiten: aus dem Princip der „Ordnung“ also galt es den
Schönheitsbegriff zu entwickeln. Dazu mußte man sich diese Ordnung
als die höchste denken, gewissermaßen als ein Abbild der großen Weltordnung,
so also, daß sie in allen, auch in ihren kleinsten Äußerungen
jene absolute Zweckmäßigkeit darstellte, die man in der göttlichen
Schöpfung bewunderte.

Dieser Vorstellungsweise schloß sich Schiller an und machte also
den Fehlschluß mit, daß, weil dasjenige, was mit Recht Vergnügen bereitet,
nicht anders beschaffen sein kann, als daß es sowohl dem ihm
selbst innewohnenden Zweck entspreche als dem Zwecke des Menschen,
wie man sich denselben auch denke, konform sei, eben diese Zweckmäßigkeit
nun auch der Grund des Vergnügens sein müsse. Diese Zweckmäßigkeit
kann zwar an und für sich auch ein Gegenstand des Gefallens sein,
aber nur indem sie erkannt wird: dieselbe aber zu erkennen ist einzig
und allein das Werk des kritischen Verstandes. Statt dessen macht
Schiller gerade die „Erkenntnis“ der Zweckmäßigkeit zur Vorbedingung
des ästhetischen Genusses; obenein soll dieselbe durch die „Vorstellungskräfte
erfolgen, denen dazu gar nicht das Vermögen beiwohnt.

Wie es nicht anders geschehen kann, führt dieses falsche Princip
sofort zu arger Verwirrung. Die Kunst erzeugt ein freies Vergnügen;
alles freie Vergnügen beruht auf Zweckmäßigkeitsvorstellung; daher
sind alle Zweckmäßigkeitsvorstellungen Gegenstände der Kunst! Sie erschöpfen
sich nach Schiller „in folgende Klassen: Gut, Wahr, Vollkommen,
Schön, Rührend, Erhaben“. Es ist klar, daß nach dem Vorangehenden
nun jede dieser „Klassen“ für fähig erklärt werden müßte, Gegenstand
der Kunst zu sein. Wäre diese Konsequenz von Schiller mit Entschiedenheit
gezogen, so hätte ihm der Fehler seines Systems an diesem
Widersinn sich entdecken müssen. Denn die Darstellung des Guten oder
des Wahren für sich allein hätte er wohl nicht als Gegenstand der
Kunst gelten lassen. Aber er verschleiert sich diese unbequeme Folgerung
vor sich selbst durch die stilistische Wendung, daß „in derselben
Kunstklasse mehrere, ja oft alle Arten des Vergnügens zusammenfließen [545]
können“. Vermittelst dieses Uberganges kommt er darüber hinweg,
daß die „Zweckmäßigkeitsvorstellungen“ des Guten und Wahren für sich
allein oder auch beide zusammen gar nichts mit der Kunst zu thun
haben, und wirft, ohne darüber weiter ein Wort zu verlieren, diese beiden
Klassen mit dem Schönen zusammen. Das bedeutet denn doch aber:
daß das Gute und Wahre nur insofern es zugleich schön ist, Gegenstand
der Kunst sein kann, daß also nicht alle Zweckmäßigkeitsvorstellungen
dazu die Qualifikation verleihen. Dagegen behauptet er, daß
das Rührende und das Erhabene allerdings einem „ganz verschiedenen
Felde“ angehöre wie das Schöne, wenn es auch „unmöglich sei,
es von dem Schönen durchaus zu trennen“. Man sieht, hier herrscht
völlige Unklarheit. Wie kann es auch anders sein, wo der Versuch
gemacht wird das logische Gebäude von der Kuppel beginnend zu errichten,
statt von den Fundamenten aus! Denn nicht anders verfährt
man, wenn man von der Begriffsbestimmung des Schönen aus die
Kunst und die Künste konstruiert, statt durch Erforschung des Wesens
und der Aufgabe der einzelnen Künste zur sichern Erbauung der Grundpfeiler
zu gelangen, welche die das Ganze überdachende Wölbung tragen,
aus denen sie organisch erwächst!

Es ist die unausbleibliche Folge dieser falschen Methode, daß
Schiller, trotz der Jntuitionen seines großartigen Genies, in der Theorie
hier so ratlos zwischen den Begriffen des Guten und Schönen, des
Schönen und Rührenden umherschwankt. Statt von dem festen Grund
auszugehen, daß das Gute wie das Wahre, das Rührende wie das
Erhabene doch nur insofern Gegenstände der nachahmenden
Künste sein können, als sie zu willkommenen Gegenständen
für die durch die unmittelbare Sinneswahrnehmung vermittelte
reine Empfindungsthätigkeit umgeschaffen werden,

─ d. h. mit andern Worten: als sie gefallen, ἡδεῖα für die
Aisthesis sind
─; statt infolgedessen die Frage so zu stellen: wie hat
nach den ihr eigenen Mitteln eine jede Kunst zu verfahren,
damit
sie das Wahre, Gute, Rührende, Erhabene mit Sicherheit zu
einem Gegenstande unmittelbarer freudiger ─ d. i. richtiger
Empfindungsenergie gestalte: statt so den einzig zum Ziele führenden
Weg des Aristoteles zu beschreiten, läßt er durch seine vorgefaßte
Theorie sich verleiten, das Schöne einzig und allein in der vollkommenen
Zweckmäßigkeit der äußern, körperlichen, Erscheinung zu erblicken,
wodurch nun alle abweichenden oder gar widersprechenden Erscheinungsformen,
deren die Künste sich bedienen, zu jenem vorgefaßten Schönheitsbegriff
in einen unlösbaren Gegensatz treten, während doch wieder [546]
alle Kunstformen sich in demselben vereinen sollen.1 Jener eng formale
Schönheitsbegriff läßt sich nicht einmal für die bildende Kunst durchführen,
obwohl in dieser doch wenigstens ein Gebiet vorhanden ist, das
demselben völlig entspricht: denn die in Ruhe befindliche Gestalt kann
als summarischer Ausdruck, gewissermaßen als das Ergebnis, nach allen
Seiten oder doch nach einzelnen Richtungen vollendeter Seelenbeschaffenheiten
aufgefaßt werden. So kann eine Götterstatue, ein Madonnenbild
jenem Schönheitsbegriff entsprechen. Aber wie ist es mit einem
Kruzifix, einer Kreuztragung, Geißelung oder vollends einem jüngsten
Gericht? Und doch steht die Frage für die Malerei noch günstig, weil
ein Gemälde um schön zu sein das leidenschaftlich erregende Moment
mit dem klärenden, das pathematische mit dem kathartisch wirkenden
in eine Schau verschmelzen
muß.

Nun aber erzählte, dramatisch dargestellte Handlungen! Der Versuch
eine einzelne,vollkommen schöne“, Handlung, losgelöst
für sich,
episch oder dramatisch darzustellen, ist nur von der Mittelmäßigkeit
angestellt worden; er ist nie geglückt und kann niemals
glücken. Die That, die den Mittelpunkt einer solchen Handlung bildete,
müßte vollkommen gut sein, d. h. im höchsten Sinne pflichtgemäß und
zugleich durch eine dem Gebote der Pflicht vollkommen entsprechende
Empfindung eingegeben; und zwar müßte, was die Hauptsache ist, ohne
die der That die wirkliche moralische Güte nicht innewohnen kann, diese
Empfindung nicht als momentane Regung auftreten, sondern als feste,
ständige Gesinnungsweise sich kundthun. Die Malerei kann eine solche
durch die bloße Gestalt nachahmen; die Poesie dagegen vermag durch
die Erzählung einer einzelnen That die moralisch vortreffliche und zugleich
schöne Gesinnung nicht für die Anschauung und Empfindung
überzeugend nachzuahmen ─ dazu gehört immer das große Ganze
einer Reihe von einzelnen Situationen und Handlungen ─, sondern sie
bringt es nur dazu, die Handlung dem moralischen Sinn, d. i. also
dem Forum der Vernunft, zur Beurteilung vorzulegen. Mit andern
Worten, sie hört mit solchem Versuch auf Poesie zu sein und wendet
poetische Hülfsmittel zu erbaulicher, paränetischer, belehrender Wirkung an.

Dagegen ist in jedem größeren Ganzen einer Handlungsnach= [547]
ahmung für solche einzelne „Züge“ eine Stelle, die eben darum jedoch
nicht Nachahmungszweck derselben sein können, sondern wie alle anderen
an ihrer Stelle dazu mitzuwirken haben, die Gesamtwirkung zu
erreichen. Nur in einem Falle können sie mit dem Gesamtzweck des
Ganzen parallel gehen: das geschieht, wie oben schon ausgeführt wurde,1
im Jdyll, welches auf möglichst reine, unmittelbar hedonische
Wirkung ausgeht und im Schauspiel, das dieselbe durch kathartische
Ausgleichung mit den Nemesisempfindungen zu erreichen sucht. Jn
beiden Dichtungsgattungen aber ist das Gegenspiel der Darstellung unvollkommener,
also im Sinne jener Theorie „unschöner“ Handlungen
unentbehrlich; dasselbe ist in noch viel höherem Maße bei den
übrigen größeren Dichtungsgattungen der Fall, am meisten bei den
tragischen: hier also mußte jener formale Schönheitsbegriff
ganz versagen,
und es wurde erforderlich nach einem andersgearteten
Princip sich umzusehen. Wie aber dieses fremde Princip nun mit
dem allgemeinen Gesetz, daß die Kunst schön sein solle, versöhnen? oder,
wenn das nicht anging, doch wenigstens mit der Forderung, daß es,
ebenso wie das Schöne, Vergnügen zu schaffen geeignet sei?

Die bloße Emotionstheorie konnte Schiller nicht genügen, ebenso
wie er die Sollicitations- und Entladungshypothese weit abgewiesen
haben würde. Seine Einteilung des freien Vergnügens nach dem
Zweckmäßigkeitsbegriff führt ihn dazu, das gesuchte Princip für die
tragische Dichtung in den Begriffen des Rührenden und Erhabenen
zu finden. Dies scheint ein glücklicher Griff, da der eine ebensoleicht
auf den Begriff des Mitleids wie der andere auf den der Furcht
hinüberleiten könnte. Beides hätte sofort eintreten müssen, wenn Schiller
wenigstens hier nun die Frage gestellt hätte: auf welche Weise wird
denn das Rührende und das Erhabene Gegenstand rein ästhetischer
Wirkung, d. i. unmittelbar durch die Sinneswahrnehmung erregter
Empfindung? Da er auch an dieser entscheidenden Stelle die Frage
unterläßt, so ist der weitere Gang der Abhandlung rettungslos der
Verirrung in das moralische Gebiet verfallen.

Er bleibt bei dem Zweckmäßigkeitsschema. Das Rührende und Erhabene
„bringen Lust und Unlust hervor,“ nämlich Lust über eine Zweckmäßigkeit,
welche über eine Zweckwidrigkeit, die unsern Schmerz hervorruft,
den Sieg davon trägt. Beides definiert Schiller in ziemlich engem
Anschluß an Kant; das Erhabene aus dem Gefühl unserer geistigen
und vernünftigen Übermacht über unsere sinnliche Ohnmacht: „ein er= [548]
habener Gegenstand ist eben dadurch, daß er der Sinnlichkeit widerstreitet,
zweckmäßig für die Vernunft und ergötzt durch das höhere Vermögen,
indem er durch das niedrige schmerzt;“ die Rührung durch
den Schmerz über ein Leiden, das als solches doch „eine Zweckwidrigkeit
in der sinnlichen Natur ist,“ das aber „für unsere vernünftige
Natur dadurch zweckmäßig, also Lust hervorbringend wird, weil es
zweckmäßig für die menschliche Gesellschaft ist“. „Jene Unlust selbst
wird dadurch also zweckmäßig,“ d. h. sie wird in Lust verwandelt.

Darnach sind also diese beiden Empfindungen keineswegs rein
ästhetisch, d. h. unmittelbar zu ihrer Thätigkeit durch die bloße Anschauung,
wie die Kunst sie zu geben vermag, angeregt, sondern es
sind moralische Gefühle, d. h. Gefühle, die durch eine selbständige
Handlung der Vernunft
hervorgerufen sind. Die Vernunft
spricht gegenüber den unmittelbaren, d. i. rein ästhetischen
Empfindungen,
welche das Leiden hervorruft, und die nach
dem Schillerschen Gedankengange im Falle des Rührenden Regungen
des schmerzlichen Mitleids, im Falle des Erhabenen der schmerzlichen
Furcht
sein müssen, ein autonomes, ihren eigenen unabänderlichen
Gesetzen entstammendes, Urteil: die darauf folgende hohe
Befriedigung des Gefühls, die Freude an diesem freien Akt der sittlichen
Urteilskraft ist das moralische Gefühl des Rührenden und des
Erhabenen nach der Kant-Schillerschen Definition. Hier sehen wir also
allerdings eine Klärung, Reinigung der schmerzlichen Affekte, der tragischen
Pathemata, aber wir sehen sie bewerkstelligt durch eine von
außen her erfolgende selbständige Handlung des Vernunftvermögens:

dagegen ist die ästhetische Katharsis des Aristoteles
eine Veredelung der tragischen Affekte an ihrer Quelle in
dem eigenen Gebiet der bloßen Empfindungsenergie und
nach ihren eigenen Gesetzen,
daher durch keine andere Mittel bewirkt
als die an die Sinneswahrnehmung sich wendende Nachahmung,
d. i. durch die Kunst.

Es kann nicht anders sein, als daß dieses falsche Princip nun
auch im einzelnen zu lauter unrichtigen Aufstellungen führt, sowohl
in den allgemeinen Sätzen als in den Beispielen.

Wohlverstanden allerdings: diese Sätze als moralische Thesen
sind unanfechtbar, auf Wesen und Ziele des tragischen Kunstwerks angewandt,
sind sie am falschen Platz, für den Gebrauch also, den Schiller
von ihnen macht, sind sie unrichtig. „Das Leiden des Tugendhaften
rührt uns schmerzlicher, weil dem besondern Zweck, daß die Tugend
glücklich mache, widersprochen wird; demnach, weil die Naturzweckmäßig= [549]
keit noch immer problematisch ist, die moralische dagegen immer für uns
erwiesen, so geht die „Erkenntnis“ der letzteren uns über alles. Daher
„kann das höchste Bewußtsein unserer moralischen Natur nur in einem
gewaltsamen Zustand, im Kampfe, erhalten werden, und das höchste
moralische Vergnügen
wird jederzeit von Schmerz begleitet sein“.
Die Tragödie soll also „diejenige Dichtungsart sein, die uns die
moralische Lust in vorzüglichem Grade gewährt
“ und „ihr
Gebiet soll alle möglichen Fälle umfassen, in denen irgend eine Naturzweckmäßigkeit
einer moralischen,
oder auch eine moralische
Zweckmäßigkeit der andern, die höher ist,
aufgeopfert wird.“

Diese Sätze verderben die tragische Kunst an ihrer Quelle, denn
sie machen aus einer Handlungsnachahmung, die uns die Wahrheit des
Schicksalsgesetzes auf eine unsere Empfindung zugleich in kraftvollste
Thätigkeit setzende und zum Gleichmaß lebensvoller Ruhe erhebende
Weise vor Augen führt, die Darstellung eines moralischen Exempels,
das unser natürliches, unmittelbares Empfinden zur Prüfung, Belehrung
und Besserung vor das Tribunal des „Principes unserer Vernunft,
des Palladiums unserer Freiheit“ verweist.

„Hüon und Amanda, an den Marterpfahl gebunden, beide aus
freier Wahl bereit, lieber den fürchterlichen Feuertod zu sterben, als
durch Untreue gegen das Geliebte sich einen Thron zu erwerben“ ─
dieser Auftritt soll als Beispiel höchster Tragik uns „ein himmlisches
Vergnügen“ bereiten, weil „er die siegende Macht des sittlichen Gesetzes,“
„Übereinstimmung im Reich der Freiheit“ zeigt. Dieser Auftritt,
an und für sich genommen, ist genau ebenso untragisch wie
der freudige Tod eines Märtyrers seines Glaubens. Wer die Hüon=
und Amandafabel zur tragischen umgestalten wollte, müßte den Schwerpunkt
in die Darstellung des Leidens dieses edlen Liebespaares, insofern
dasselbe als eine Folge ihrer Hamartie erscheint, legen; der Ausgang
müßte dann ein unglücklicher sein; die Auffassung der Leiden als
einer zur Besserung auferlegten Prüfung würde dem Wesen der Tragödie
auf das Entschiedenste widersprechen. Man müßte sich also die Handlung
der Atmosphäre des Wielandschen „Oberon“, die durch eine
Mischung moralischer Tendenzen mit romantischer Willkür gebildet wird,
vollständig entrückt denken, was ohne fundamentale Änderungen derselben
wohl schwerlich angehen würde.

Mit derselben Verschiebung des wesentlichen Gesichtspunktes erblickt
Schiller das Tragische in der Coriolanfabel, wie Shakespeare sie
darstellt, in dem Siege des Pflichtgefühls in der Brust des Helden
über sein Jnteresse, während es doch in dem Schicksalsgewebe liegt, [550]
das den Helden durch seine Hamartie in eine Lage verstrickt, die, ihn
rings mit Verderben umgebend, sogar jenen Sieg der Pflicht mit dem
Untergang verkettet.

Was soll man vollends dazu sagen, wenn Schiller auch in dem
folgenden Zuge ein tragisches Motiv anerkannt wissen will: „Es ist nicht
nötig, daß ich lebe; aber es ist nötig, daß ich Rom vor dem Hunger
schütze, sagt der große Pompejus, da er nach Afrika schiffen soll und
seine Freunde ihm anliegen, seine Abfahrt zu verschieben, bis der Seesturm
vorüber sei!“ Jn dieser Linie liegt eine der schlimmsten Gefahren
für die tragische Komposition: die Strenge des großen, einheitlichen
Gesetzes für den Aufbau der Tragödie dem vereinzelt
wirkenden moralischen Rührungseffekt aufzuopfern.
Der
jugendliche Schiller ist an dieser Klippe oftmals gescheitert; sein zur
Vollkraft gelangtes Genie hielt die hohe See trotz mancher Fehler seiner
Karten und Meßinstrumente. Dem Halbtalente aber, das so gerne
gerade den jugendlichen Schiller sich zum Vorbilde erwählt, ist jene Gefahr
um so verderblicher, weil es so sehr viel leichter ist, heroischmoralische
Brillantwirkungen zu erzielen, als den künstlerischen Plan
anzulegen und unbeirrt durchzuführen, der durch das hohe Ziel
der ästhetischen Katharsis in jedem seiner Teile übereinstimmend bedingt
ist.

Ebenso irreleitend für die tragische Dichtung ist die nach der
andern Seite gezogene Konsequenz: „nicht weniger tragischergötzend als
das Leiden des Tugendhaften ist das Leiden des Verbrechers.
„Reue, Selbstverdammung, selbst in ihrem höchsten Grade, in der Verzweiflung,
sind moralisch erhaben,“ weil sie Zeugnisse für die supreme
Hoheit des Sittengesetzes seien. Der weitere Erweis dürfte hier überflüssig
sein; es genügt, an die bedenkliche Verwandtschaft zu erinnern,
in der diese Theorie zu jener Praxis steht, die niemand schärfer gegeißelt
hat als Schiller selbst in den Versen von der Tugend, die zu
ihrem Teile kommt, wenn das Laster abgewirtschaftet hat. Das Beispiel
von Shakespeares Richard III., das Schiller in etwas anderm Zusammenhange
hierbei anführt, beweist, wie oben1 schon erörtert, nichts
für seine Behauptung. Die Handlung ist nicht tragisch, sondern sie
gehört dem Schauspiel an. Daß in diesem die Handlung eine Kette
von Verbrechen darstellen kann, die der Vergeltung auf irgend eine
Weise zueilen, ist unwidersprechlich; allein Aufgabe und Wirkungszweck
ist hier auf ebenso rein ästhetische Grundsätze gestellt wie in der Tragödie [551]
und würde durch die Herrschaft des moralischen Gesichtspunkts ebenso
schwer geschädigt, ja vernichtet werden wie dort.

Zu welcher Unerträglichkeit moralischer Sophisterei diese unglückliche
Zweckmäßigkeitstheorie führen kann, zeigt das Beispiel, welches
Schiller für den Konflikt der Pflichten anführt. „Wenn der Korinthier
Timoleon einen geliebten, aber ehrsüchtigen Bruder Timophanes ermorden
läßt, weil seine Meinung von patriotischer Pflicht ihn zur
Vertilgung alles dessen, was die Republik in Gefahr setzt, verbindet, so
sehen wir ihn zwar nicht ohne Entsetzen und Abscheu diese naturwidrige
Handlung begehen; aber unser Abscheu löst sich bald in die höchste
Achtung der heroischen Tugend auf.“ Warum? Weil es „gerade solche
Fälle sind, wo unser Verstand nicht auf seiten der handelnden Person
ist, aus welchen man erkennt, wie sehr wir Pflichtmäßigkeit über
Zweckmäßigkeit, Einstimmung der Vernunft über die Einstimmung
mit dem Verstande erheben!

Es gäbe nur eine Art die Geschichte Timoleons tragisch zu behandeln:
wenn der Dichter aus dem vergossenen Bruderblut die Erinnys
sich erheben ließe, welche die Überhebung „seiner Meinung“ von
patriotischer Pflicht über das Gesetz der Natur rächte. Wie richtig hat
das Shakespeare in seinem „Brutus“ erkannt, auf dessen Hamartie und
Untergang er die Tragik seines „Julius Cäsar“ sich aufbauen ließ!

Jn dem Sinne aber, wie Plutarch die Geschichte Timoleons erzählt,
wäre sie nur für das Schauspiel brauchbar: auch hier nicht
auf moralische Beurteilung zugespitzt ─ deren große Mißlichkeit für
diesen Fall Schiller selbst ausführlich erörtert ─, sondern auf die unmittelbar
billigende oder reprobierende Stimme unseres natürlichen Empfindens
eingerichtet, so zwar, daß durch die bloße Anschauung die
beruhigte, geklärte Antwort aller gewährleistet würde. So ist Schiller
selbst in seinem „Wilhelm Tell“ verfahren. Natürlich müßte in dem
weit schwierigeren Falle des Timoleon der Dichter sehr viel hinzuthun,
um erstlich durch Belastung der gegenüberstehenden Seite die That unabwendbar
und sodann durch die dazu geeignete Verwickelung den Bruder
als den einzig berufenen Thäter mit Evidenz erscheinen zu lassen.

Schiller schließt mit der Bemerkung, die sein Zweckmäßigkeitsprincip
zu bestätigen scheinen könnte, daß auch „geistreiche Bosheit“,
insofern sie uns eine „Naturzweckmäßigkeit“ vorstelle, uns vergnüge. Die
Bemerkung ist richtig, aber aus einem andern, allgemein ästhetischen
Grunde: weil nämlich die Anschauung einer jeden bedeutenden Kraftentfaltung
an sich die Empfindung zu einer ihrer Natur gemäßen, daher
wohlgefälligen Bethätigung veranlaßt. Diese Kraftentfaltung besteht nun [552]
in dem von Schiller erörterten Fall gerade in der hervorragend geschickten
Wahl zweckentsprechender Mittel. Die Bemerkung hat für die
dramatische Technik ihre Wichtigkeit, aber in untergeordneter Weise; das
Wesen des Dramatischen oder gar des Tragischen wird durch diese vermeintliche
Bestätigung der Zweckmäßigkeitstheorie nicht berührt.

Das Ergebnis der Schillerschen Untersuchung ist demnach, daß er:
1) den Affekt des Mitleids in moralische Rührung umwandelt; 2) den
Affekt der Furcht, da er die Wirkung des Erhabenen gleichfalls nur in
dem Siege des moralischen Bewußtseins erblickt, ganz eliminiert; und
daß er: 3) das Vergnügen an der Tragödie, die Umwandlung also der
Unlustempfindung, die mit dem Tragischen verbunden ist, in eine Lustempfindung
in dem moralischen Gefühl der Befriedigung über den Sieg
des Vernunftprincips erkennt.

Auf denselben Grundanschauungen, obwohl nicht ohne Widersprüche
gegen die Hauptargumente des ersten Aufsatzes und mit teilweise
neuer Begründung, baut er seine zweite Abhandlung, „Über die
tragische Kunst
“, auf.

Er setzt von der, oben entwickelten, Emotionstheorie des Dubos
aus, indem er dessen Beispiel aus dem Lukrez und seine Hauptargumente
sich aneignet. Er erkennt in der allgemein verbreiteten Lust an
der Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses ein allgemeines psychologisches
Gesetz, nach welchem „das rohere Naturgefühl“ zu dem Anblick
von Schmerzen und Gefahren sich unwiderstehlich hingezogen fühlt,
dem aber ebenso der verfeinerte, sittlich gebildete Mensch folgt, wenn
er „an dem peinlichen Kampf entgegengesetzter Neigungen oder Pflichten,“
„in der Sympathie mit dem reinen moralischen Schmerz eine nur desto
süßere Lust empfindet“. Er geht auch noch einen Schritt weiter mit
Dubos: „natürlicherweise gelte dies nur von dem mitgeteilten
oder nachempfundenen
Affekte.“ Aber hier trennt er sich entschieden
von Dubos und allen dessen Nachbetern: jene meinen doch, daß
der Nachempfindung des an sich schmerzlichen Affektes das Schmerzliche,
welches der Affekt in Wirklichkeit mit sich bringe, nicht anhafte, daß
also für den nachempfundenen Affekt lediglich die Lust übrig bleibe, die
ihm als Befriedigung des Leidenschaftsbedürfnisses notwendig eigen sei.
Ohne dieser Theorie Erwähnung zu thun, bestreitet sie Schiller auf das
Entschiedenste, „es könne niemand sich einfallen lassen zu behaupten, daß
dadurch die unangenehmen Affekte an und für sich in Lust gewährende
verwandelt würden; es sei genug, wenn diese Zustände des Gemüts
bloß die Bedingungen abgeben, unter welchen allein gewisse Arten des
Vergnügens für uns möglich sind.“

[553]

Die Sache liegt also seltsam genug so: Schiller macht den schlimmsten
Jrrtum des Dubos mit, er hält nämlich die durch die Tragödie
bei den Zuschauern erregten Hauptaffekte für mitgeteilte, nachempfundene,
statt zu erkennen, daß Mitleid wie Furcht, von der er
freilich gar nicht spricht, erste, ursprüngliche Empfindungen seien,
was schon von Lessing mit Nachdruck hervorgehoben war; dann aber ist
er nahe daran, diesen Jrrtum wenigstens in seinen Folgen zu korrigieren,
wenn er den falschen Schluß ablehnt, daß die angenommene
sekundäre Natur des Mitleids das Schmerzliche desselben in ein Wohlgefälliges
verwandeln werde. Denn auf diese Weise wird die Frage,
wie diese Umwandlung erfolgt, wieder eine offene. Aber er greift auch
hier wieder sofort zu dem moralischen Surrogat, das nun einmal seiner
sittlich so hoch gespannten Natur zunächst lag. So verschließt er sich
denn den Weg zu der einfachen, klaren, ästhetischen Auffassung um so
fester, als eine gewisse Ähnlichkeit der Resultate ihn in der Täuschung
befestigt, eine Ähnlichkeit, die jedoch die Fehlerhaftigkeit der Theorie in
keinem Punkte zu verhüten vermag. Denn natürlich ist der richtige
Affekt
derselbe, ob er nun unmittelbar, rein ästhetisch, als solcher entsteht
oder doch durch bloße Einwirkung sinnlicher Wahrnehmung, also
durch rein ästhetische Mittel zuwege gebracht wird, oder ob durch bewußte
Einwirkung von Vernunftvorstellungen, durch das Gegengewicht
sittlicher Erziehung diese Arbeit geleistet wird. Wenn es aber darauf
ankommt, gerade jene ästhetischen Mittel und die Art ihrer
Anwendung zu bestimmen,
so leuchtet es ein, daß die Annahme,
die Veredelung des Affektes sei eine moralische Leistung, genügend
ist, um den Erfolg einer von diesem Princip geleiteten Untersuchung
von vornherein zu vereiteln.

Gerade so aber verfährt Schiller. Seine Sätze sind an sich vollkommen
korrekt, nur gehören sie ausschließlich dem Gebiet der Ethik an
und haben mit der Frage nach der unmittelbaren Wirkung der
Kunst nichts zu thun. Er leitet Lust und Unlust der Affekte von ihrer
Beziehung auf unser sinnliches oder sittliches Vermögen her. Die Freiheit,
die dem Affekte gegenüber behauptet wird, rührt her von dem
Übergewicht „des moralischen Sinnes über die eigennützige Anhänglichkeit
an das individuelle Jch“, von „der Obergewalt des allgemeinen
Vernunftgesetzes über den Glückseligkeitstrieb“. „Eine solche Verfassung
des Gemüts ist am fähigsten, das Vergnügen des Mitleids zu
genießen und selbst den ursprünglichen Affekt in den Schranken des
Mitleids zu erhalten,“ wobei also Schiller, seinem Grundirrtum zufolge,
das Mitleid als „mitgeteilten“ Affekt mit dem Schmerz über [554]
eigenes Unglück kontrastiert. Alles schön und richtig, aber das alles
ist Wirkung der Philosophie, ist Weisheit, und die Kunst, so mächtig sie
ist, vermag leider weder die eine noch die andere durch ihre Darstellungen
mitzuteilen. Das erkennt freilich auch Schiller an: „diese erhabene
Geistesstimmung ist das Los starker und philosophischer Gemüter;“ demungeachtet
macht er jene Schlußfolgerung zur Grundlage für die Entwickelung
seiner Theorie der tragischen Kunst. Der Fehlschluß, durch
welchen er dazu bewogen wird, ist dieser: das durch praktische Philosophie
geläuterte Mitleid ist mit Vergnügen verbunden: das tragische
Mitleid gleichfalls: folglich muß das tragische Mitleid das durch den
moralischen Sinn von seinen eigennützigen Bestandteilen befreite sein,
und das Mittel, wodurch die tragische Kunst dieses Ziel erreicht, ist
der Angriff auf die Sinnlichkeit, um dem moralischen Bewußtsein zur
Freiheit zu verhelfen. Also ein Schluß wie dieser: eine gute Predigt
wirkt erhebend; ein gutes Trauerspiel gleichfalls; folglich sind dieselben
Mittel, welche für eine gute Predigt in Anwendung kommen, auch zu
gebrauchen, um ein gutes Trauerspiel zu machen. Nicht um ein Haar
anders verfährt Schiller. Er sagt:


1) Der traurige Affekt bewirkt in moralischen Gemütern um so
mehr Vergnügen, je vollständiger sie den eigennützigen Trieb
unterdrücken.


2) „Wir kennen aber nicht mehr als zweierlei Quellen des
Vergnügens, die Befriedigung des Glückseligkeitstriebes und
die Erfüllung moralischer Gesetze“ (in der vorigen Abhandlung
kannte er außer dem sinnlichen Vergnügen doch noch sechs
Quellen des „freien Vergnügens“, worunter das Wahre und
Schöne noch eine Stelle hatten!).


3) Da die Freude am Tragischen eine sinnliche nicht ist, muß sie
eine moralische sein. „Aus unserer moralischen Natur also
quillt die Lust hervor, wodurch uns schmerzhafte Affekte in der
Mitteilung entzücken und, auch sogar ursprünglich empfunden,
in gewissen Fällen noch angenehm rühren“ (wobei der letzte,
verwirrende Zusatz wieder aus der Verkennung des Mitleids
als sekundären Affektes herrührt).

All diese endlose Konfusion löst das eine aristotelische Wort: „Die
Hedone ist die Vollendung jedweder Energie;
“ es gibt also
so viele Arten der Hedone als es Energien gibt. Und also ebensoviele
Quellen
derselben. Die Hedone der Kunst ist unter allen
aber die einzige, welche allgemein mitteilbar ist:
denn während
die sinnliche Hedone an den gegenwärtigen Genuß des Gegen= [555]
standes gebunden ist, erfordern alle übrigen Energien freien, selbständigen
Entschluß und Willen. Die Kunst macht durch die Nachahmung die
Dinge, insofern sie die Energie der Empfindungen erregen, gegenwärtig
für die Aisthesis: indem sie die Dinge der Aisthesis in solcher Gestalt
vorführt, daß die dadurch erregte Energie der Empfindungen eine vollkommene,
d. i. eine richtige sei, gibt sie die Gelegenheit dazu, auf
diesem Gebiet mühelos der höchsten Freude zu genießen.

Noch eine Bemerkung wird hier an der rechten Stelle sein. Für
die Schöpfungen der Kunst gattet sich also das Vergnügen an der bloßen
Aktivität der Empfindung an sich, von dem Schiller und seine Vorgänger
so viel sprechen, mit der Freude an dem qualitativen Maximum
(dem ἀκρότατον) dieser Aktivität, welches von dem dynamischen
Maximum derselben sehr verschieden ist. Für die praktische Beurteilung
der Werke der Kunst ist dieser Satz von höchster Wichtigkeit; denn nichts
ist gewöhnlicher als daß in ihrer Schätzung das dynamische Maximum
mit dem qualitativen verwechselt wird, ja daß um der damit verbundenen
heftigeren Erregung, sensationellen Wirkung willen, dem ersteren vor
dem letzteren der Vorzug gegeben wird, während umgekehrt das qualitative
Maximum, d. i. die höchste Richtigkeit, wegen der maßvollen Begrenzung
seiner Wirkung oft genug geringere Beachtung findet. Doch
sind die Mischungsverhältnisse, die hier stattfinden können, sehr verschiedenartige;
so kann es geschehen, daß eine an sich richtige Empfindungsweise,
wenn sie den Druck lang anhaltender Hemmung mit plötzlichem
Durchbruch überwindet, zunächst gerade in excessiver Stärke sich
berechtigten künstlerischen Ausdruck und allgemeinste Geltung verschafft.
Für Goethes Genius ist es das eigentlich Charakteristische, daß vom
Anbeginn durch eine unbeirrbare Jntuition seine Schöpfungen auf keine
andere Wirkung als jene rein ästhetische gestellt sind, und daß seine
Entwickelung eben nur in der Richtung von dem dynamischen zu dem
qualitativen Maximum der reinen, ästhetischen Wirkung sich bewegt.
Dagegen zwingt der hochgespannte moralische Jdealismus Schillers
seine ganze gewaltige dichterische Kraft von Hause aus in den Dienst
sittlich kräftigender und erhebender Wirkung, und seine Entwickelung
liegt darin, daß er mehr und mehr dazu vorschreitet, die Lösung dieser
Aufgabe auf das rein ästhetische Gebiet zu verlegen und rein ästhetische
Mittel dafür zu verwenden. Seine dramaturgischen Aufsätze geben ein
deutliches Zeugnis, wie starke Hindernisse er dabei zu überwinden hatte.

Die völlige Unrichtigkeit der Schillerschen Deduktion des Tragischen
zeigt sich auch darin, daß nach derselben der Komödie gegenüber der
Tragödie eine ganz inferiore Stellung angewiesen werden müßte. Schiller [556]
argumentiert folgendermaßen: „Der mitgeteilte Affekt überhaupt hat
etwas Ergötzendes für uns, weil er den Thätigkeitstrieb befriedigt; der
traurige Affekt leistet jene Wirkung in einem höheren Grade, weil er
diesen Trieb in einem höheren Grade befriedigt. Nur im Zustand seiner
vollkommenen Freiheit, nur im Bewußtsein seiner vernünftigen Natur
äußert das Gemüt seine höchste Thätigkeit, weil es da allein eine Kraft
anwendet, die jedem Widerstand überlegen ist.“ Dieser Zustand müsse
für ein vernünftiges Wesen der befriedigendste und mit einem vorzüglichen
Grade von Lust verknüpft sein. „Jn einen solchen Zustand
versetzt uns der traurige Affekt, und die Lust an demselben
muß die Lust an fröhlichen Affekten in eben dem Grad übertreffen,
als das sittliche Vermögen in uns über das sinnliche
erhaben ist.

Zu solchem Widersinn kann eine falsche Theorie führen! Wie
schön entspricht dagegen die aristotelische Lehre dem sokratischen Wort,
daß die Komödie dieselbe Kunst erfordere wie die Tragödie, und wie
völlig entspricht ihr das Beispiel Shakespeares!

So gelangt denn also Schiller, ohne des Affektes der Furcht mit
einem Wort zu gedenken, zu dem Schluß: „die tragische Kunst ahmt die
Natur in denjenigen Handlungen nach, welche den mitleidigen Affekt
vorzüglich zu erwecken vermögen.“

Danach schreitet er nun zu der Untersuchung vor, „unter welchen
Bedingungen das Vergnügen der Rührung am gewissesten und stärksten
erzeugt zu werden pflege.“ Auch hier operiert er nur mit den Begriffen
der Zweckmäßigkeit und Zweckwidrigkeit; es würde daher eine Analyse
dieser Partie nur zur Wiederholung des schon früher Gesagten führen;
auch hier gipfelt die Untersuchung darin, den Fall als die Krone des
Tragischen zu bezeichnen, wo für alle Beteiligten ein reiner Konflikt der
Pflichten, für den die höchste Moral den Ausschlag gibt, die Ursache
des Leidens ist, weil hier das moralische Vergnügen durch keine Vorstellung
moralischer Zweckwidrigkeit getrübt wird.

Nur eine Stelle erfordert noch scharfe Beleuchtung: es ist die
Stelle, wo Schiller an dem in greifbarster Gestalt sich darbietenden
Postulat der tragischen Furcht, durch den Glanz seines moralischen
Leitgestirns geblendet, achtlos vorübergeht.

Sein tragisches Jdeal des schuldlosen Leidens moralisch erhabener
Wesen wird ihm doch durch einen Schatten, „eine Wolke des Schmerzes“
getrübt: das ist die „zweckwidrige“ Vorstellung der Schicksalsnotwendigkeit,
welche „der höchsten Würdigkeit zum Glück“ das Unglück zuteilt.
Nirgends zeigen sich die verderblichen Folgen jenes Lessingschen Jrrtums, [557]
der die Furcht ganz im Mitleid verschwinden ließ, handgreiflicher als
hier. Eine einigermaßen deutliche Vorstellung von der Natur dieses
Affektes hätte Schiller mit Notwendigkeit aus dem Gewebe, in das er
sich mehr und mehr verstrickt, befreien müssen. Sie hätte ihm den
primitiven Charakter der tragischen Affekte entdecken müssen, statt daß
er sie als mitgeteilte behandelt; zugleich damit hätten sie sich ihm
als spontane, reine Empfindungen darstellen müssen, in Entstehung
und Verlauf ganz unabhängig von moralischer Erkenntnis, vielmehr
geeignet diese erst anzuregen, auf sie hinzuführen!
Jst doch
die Furcht einer der mächtigsten Faktoren des religiösen Empfindens!
Aber gleichviel, ob mit der Heiligkeit des religiösen Gebotes
umkleidet und durch sie gefordert, oder durch die künstlerische Nachahmung
des Schicksalslaufes unmittelbar erzeugt: immer ist diese
„Furcht“ die Vorläuferin und Vorbedingung der Philosophie, „der
Weisheit Anfang“, niemals das erst durch moralische Kultur ermöglichte
Ergebnis. Schiller, da er in seiner Rechnung unbewußt auf die
Unentbehrlichkeit dieses Koefficienten stößt, ersetzt ihn durch die Forderung
einer teleologischen Erkenntnis des Weltenplans!

Die merkwürdige Stelle muß hier im vollen Wortlaut wiedergegeben
werden: „Wie viel auch schon dadurch gewonnen wird, daß
unser Unwille über jene Zweckwidrigkeit kein moralisches Wesen betrifft,
sondern an den unschädlichsten Ort, auf die Notwendigkeit abgeleitet
wird, so ist eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal immer
demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen. Dies
ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der griechischen
Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen
diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird

und für unsere Vernunft fordernde Vernunft immer ein unaufgelöster
Knoten zurückbleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe,
welche der moralisch gebildete Mensch erklimmt, und zu welcher die
rührende Kunst sich erheben kann, löst sich auch dieser, und jeder Schatten
von Unlust verschwindet mit ihm. Dies geschieht, wenn selbst die Unzufriedenheit
mit dem Schicksal hinwegfällt ─ (wie nahe kommt Schiller
hier der Forderung des gereinigten, berechtigten Affektes! der aber nichtsdestoweniger
doch Affekt bleibt: lebendige, mit Wärme die Seele durchströmende
Thätigkeit des Empfindens! Elementarkraft, aber zur
Wirkung an rechter Stelle in das rechte Bett gelenkt!) ─ und sich in
die Ahnung oder lieber in deutliches Bewußtsein einer teleologischen
Verknüpfung der Dinge,
einer erhabenen Ordnung,
eines gütigen Willens
verliert ─ (der Jrrtum verschleiert sich für [558]
Schiller auch namentlich dadurch, daß er der Forderung der moralischphilosophischen
Thätigkeit immer sogleich die des entsprechenden moralischen
Gefühls hinzufügt, wie hier der Forderung des „deutlichen
Bewußtseins teleologischer Verknüpfung der Dinge“ die des Bewußtseins
erhabener“ Ordnung, eines „gütigen“ Willens. Damit
wird der Grundfehler nur im Ausdruck gemildert und um so gefährlicher
gemacht, denn an seinem Wesen wird damit nichts geändert.) ─
Dann gesellt sich zu unserem Vergnügen an moralischer Übereinstimmung
die erquickende Vorstellung der vollkommensten Zweckmäßigkeit im
großen Ganzen der Natur, und die scheinbare Verletzung derselben, welche
uns in dem einzelnen Falle Schmerzen erweckte, wird bloß ein Stachel
für unsere Vernunft, in allgemeinen Gesetzen eine Rechtfertigung
dieses besondern Falles aufzusuchen
und den einzelnen
Mißlaut in der großen Harmonie aufzulösen. Zu dieser
reinen Höhe tragischer Rührung hat sich die griechische Kunst
nie erhoben, weil weder die Volksreligion, noch selbst die
Philosophie der Griechen ihnen so weit voranleuchtete.
Der
neueren Kunst, welche den Vorteil genießt, von einer geläuterten Philosophie
einen reineren Stoff zu empfangen, ist es aufbehalten, auch diese
höchste Forderung zu erfüllen und so die ganze moralische Würde
der Kunst zu entfalten. Müssen wir Neueren wirklich darauf Verzicht
thun, griechische Kunst je wieder herzustellen, da der philosophische Genius
des Zeitalters und die moderne Kultur überhaupt der Poesie nicht
günstig sind, so wirken sie weniger nachteilig auf die tragische Kunst,
welche mehr auf dem Sittlichen ruht. Jhr allein ersetzt vielleicht
unsere Kultur den Raub, den sie an der Kunst überhaupt verübt.“ ──────


XXVII.

Wie singt doch der Chor in des ÄschylusPrometheus“?


μηδάμ' ὁ πάντα νέμων

θεῖτ' ἐμᾷ γνώμᾳ κράτος ἀντίπαλον Ζεῦς,

μηδ' ἐλινύσαιμι θεοὺς ὁσίαις θοίναις ποτινισσομένα

βουφόνοις παρ' Ὠκεανοῦ πατρὸς ἄσβεστον πόρον,

μηδ' ἀλίτοιμι λόγοις·

ἀλλά μοι τόδ' ἐμμένοι καὶ μήποτ' ἐκτακείη.

ἡδύ τι θαρσαλέαις

τὸν μακρὸν τείνειν βίον ἐλπίσι, φαναῖς

θυμὸν ἀλδαίνουσαν ἐν εὐφροσύναις. φρίσσω δέ σε δερκομένα
[559]
μυρίοις μόχθοις διακναιόμενον.

Ζῆνα γὰρ οὐ τρομέων

αὐτόνω γνώμᾳ σέβει θνατοὺς ἄγαν, Προμηθεῦ.

φέρ' ὅπως ἄχαρις χάρις, ὦ φίλος, εἰπὲ ποῦ τίς ἀλκά;

τἰς ἐφαμερίων ἄρηξις; οὐδ' ἐδέρχθης

ὀλιγοδρανίαν ἄκικυν,

ἰσόνειρον, ᾇ τὸ φώτων

ἀλαὸν γένος ἐμπεποδισμένον; οὔποτε θνατῶν

τὰν Διὸς ἁρμονίαν ἀνδρῶν παρεξίασι βουλαί.

ἔμαθον τάδε σὰς προςιδοῦσ' ὀλοὰς τύχας, Προμηθεῦ.

τὸ διαμφίδιον δέ μοι μέλος προςέπτα

τόδ' ἐκεῖνό θ' ὅ τ' ἀμφὶ λουτρὰ

καὶ λέχος σὸν ὑμεναίουν

ἰότατι γάμων, ὅτε τὰν ὁμοπάτριον ἕδνοις

ἄγαγες Ἡσιόναν πιθὼν δάμαρτα κοινόλεκτρον.
Nimmer errege den Sinn

Zeus, der allwaltende mir zum Trotzkampf gegen ihn!

Säumt' ich doch nie, Göttern zu nahen mit Feststieropfern nach heiligem Brauch

An der nieversiegenden Flut des Okeanos! Spräche ich

Nimmer ein frevelndes Wort!

Bliebe dies doch fest in mir, für immer unzerstörbar!
Süß ist's, getrösteten Muts

Langen Lebens Dauer genießen, vom hellen

Strahl des Frohsinns immer die Seele erfüllt. Doch schaudert es mich, seh' ich dich an,

So von tausend Qualen entsetzlich zerfleischt. Denn nur dem Rat

Folgend des eigenen Sinns

Ehrst du, Zeus nicht fürchtend, Menschen allzuhoch, Prometheus.
Und dein Dank ist Undank! Wo ist helfende Kraft? wie käme, sprich Freund,

Von den Tagesgeschöpfen Beistand? Sahst du denn nicht,

Wie so schwächliches Unvermögen,

Schattenhaftes, eingeengt hält

Alle die blinden Geschlechter der Menschen? Wie sollte doch jemals

Sterbliches Trachten die Harmonie des Vaters Zeus erschüttern!
Das erkannt' ich im Angesicht deines Verderbengeschicks, Prometheus.

Doch herüber ertönt das Lied mir, weit verschieden,

Jenes Lied, das ich einst gesungen

Hochzeitsfestlich deinem Brautbett

Am Gestade der Fluth, als mit schmeichelndem Wort und mit Reichtums

Gaben Hesione du, die Schwester, heimgeführt als Gattin.

Es schien erforderlich den unübersetzbaren Ausdruck „Die Harmonie
des Zeus“ in der Wiedergabe beizubehalten: „die ewig feste, ewig zusammenstimmende
Ordnung des Zeus“! Und im „Anschauen“ des Prometheusschicksals
wird der Chor zugleich durch das Mitleid mit dem Ge= [560]
quälten und durch die Furcht vor dem „Allwalter“ von der Gewißheit
dieser „Harmonie“ in frommem Gefühl durchdrungen: denn das „eigenwillige“
Vertrauen auf seine Kraft hat den Prometheus zum Widerstreit
gegen Zeus gereizt, daß er, der „Furcht“ vergessend, gegen Zeus' Beschluß
der Menschen Sache führte.

Schillers Dichtungen beweisen, daß er später eine andere Anschauung
von der Religion, Philosophie und Poesie der Griechen gewann,
als die hier citierte Stelle sie im flagranten Widerspruch gegen
die offenkundigsten Zeugnisse aufweist. Er kannte, als er diese Abhandlungen
schrieb, die griechischen Tragiker noch nicht von der Quelle her,
und dort allein kann man sie kennen lernen. Vielleicht ging ihm jene
Ansicht gerade aus der irrigen Auffassung des äschyleischen Prometheus
hervor, dieser tiefsinnigsten Schöpfung des größten griechischen Tragikers;
wie er ja auch des Sophokles Ödipus so sehr verkannte, daß er darin
eine Bestrafung unzeitiger, zu weit getriebener „Neugier“ erblicken konnte.
Der „gefesselte Prometheus“, das einzige uns erhaltene Stück
der Prometheustrilogie, bildete das Mittelglied dieser großartigen Komposition.
Damit ist es gegeben, daß die Verwickelung der Gesamthandlung
darin auf ihren Höhepunkt gelangen mußte: die Lösung
derselben kann hier nicht erwartet werden, vielmehr muß hier das
furchtbare Geschick zur Vollendung ausreifen, für dessen Ausgleichung
als Abschluß des Ganzen die dritte Tragödie erfordert wird. Die
Katharsis des Ganzen bringt erst das dritte Stück; um die Katharsis
der mittleren Tragödie zu vollenden, das also zu erreichen, wodurch
allein dieses Stück zu einem Ganzen, einem selbständigen Kunstwerk
geschaffen werden konnte, mußte der Dichter sich die Aufgabe stellen,
mit dem dargestellten, furchtbar=ungeheuren Schicksal die Empfindung
zu versöhnen, ihren Widerstand dagegen zu überwinden, d. h. also die
hier aufs stärkste erregten Mitleid- und Furchtgefühle ihres Übermaßes
zu entlasten und sie zur „Symmetrie“ zu führen.

Das konnte nur auf eine Weise geschehen: indem das entsetzliche
Geschick, das über Prometheus hereinbricht, nicht als Willkürrache, auch
nicht als Verhängung einer „blinden Notwendigkeit“ der Wahrnehmung
dargestellt und von der Empfindung aufgenommen wird, sondern als
der unerbittliche Vollzug ewigen göttlichen Waltens, der wie über Prometheus
so über aller Welt und über uns fortwährend, Unterwerfung
fordernd, schwebt: so die rechte Vereinigung von fürchtender
Scheu und vertrauender Ehrfurcht unmittelbar in unserm
Empfinden zu thätiger Kraft erweckend.
Und wiederum dieses
konnte nur erreicht werden: indem das furchtbare Leiden des Prometheus [561]
nicht als die durch verbrecherische Schuld verwirkte Strafe erschien,
sondern als der tieferschütternde Fall des Hochherrlichen, aller Ehren
Würdigen, der dennoch durch seine Verfehlung, seine „Hamartie“ unvermeidlich
notwendig wird: so die rechte Versöhnung leidenschaftlichen
Mitgefühls mit dem aus der Anschauung göttlicher
Schicksals=
Harmoniemächtig aufsteigenden Gefühl
beruhigter Befriedigung als im unmittelbaren Empfinden
sich vollziehende Thatsache bewirkend.

Deshalb bildet jenes Chorlied von der „Harmonie des allwaltenden
Zeus“, das im Mittelpunkte der Tragödie steht, auch deren eigentlichen
Schwerpunkt. Wenn nun Schiller daran vorübersah ─ und daß
er es that, bezeugen seine Worte ─, so mußte sich ihm damals wie
das Verständnis des Prometheus, so das der griechischen Tragik überhaupt
völlig verschieben. So hat er vielleicht gerade das jenem Chorlied
vorangehende Gespräch des Prometheus mit dem Chor bei seinem
Urteil über die griechische Tragödie im Sinne gehabt; wenigstens hat
es so sehr wie kaum irgend eine andere Stelle den Anschein, dieses
Urteil zu bestätigen. Prometheus hat den Okeaniden die lange Reihe
der Wohlthaten aufgezählt, die er den Menschen erwiesen und schließt:


Die ganze Fülle fass' ich in dies eine Wort:
Was Menschen können, wissen, haben sie durch mich!


Chor:

So höre auf, den Menschen ohne Maß und Ziel
Zu dienen! Denke doch des eignen Mißgeschicks!
So kann ich freudig hoffen dieser Bande dich
Befreit und neben Zeus dich wieder in Kraft zu sehn.


Prometheus:

Niemals! Die endbestimmende Moira hat nicht so
Mein Los zu wenden mir verhängt. Erst lang gequält,
Unendlich schmerzgefoltert, lös' ich diesen Zwang
Denn stärker ist Notwendigkeit als alle Kunst.


Chor:

Doch wer sitzt an dem Steuer der Notwendigkeit?


Prometheus:

Die Moiren sind's und die wachsamen Erinnyen.


Chor:

So wären diese stärker als die Macht des Zeus?


Prometheus:

Auch Zeus entgeht doch endlich dem Verhängnis nicht.


Chor:

Was wäre ihm verhängt, als Herrschen in Ewigkeit?


Prometheus:

Hör' auf zu fragen! Keinem Dringen gäb' ich nach.

[562]
Chor:

Ein heiliges Geheimnis scheint's, das du verwahrst.


Prometheus:

Denkt des nicht weiter! Noch ist weit entfernt die Zeit,
Dies laut zu künden. Drum sei's tief im Jnnersten
Verborgen: denn bewahr' ich's wohl, so werd' ich noch
Der Schmach der Fesseln ledig und des Leides frei.

Wer hier das Problem so faßt, als spräche Prometheus den Sinn
des Dichters und des Gedichtes aus, für den muß freilich die Tragödie
ein unlösbares Rätsel sein; wer also meinte, Äschylus und mit ihm
die griechischen Tragiker überhaupt hätten diese Auffassung von der
Welt und dem Schicksal: über Zeus und den Göttern steht Ananke,
die Notwendigkeit, als eine dunkle Macht, die unfaßbare Beschlüsse eines
unbegreiflichen Verhängnisses blind ausführt, eines Verhängnisses, dessen
in undurchdringlicher Nacht die geheimnisvollen Moiren walten, so daß
alles, was es im Himmel und auf Erden gibt, fortwährend in Frage
gestellt ist, unsicher, früher oder später dem Untergange geweiht. Das
wäre jene „blinde Notwendigkeit“, die nach Schillers damaliger Ansicht
den Boden bildet, auf welchem die Tragik der Griechen stände. Die
Meinung hat ja noch heute ihre Anhänger, noch immer wird von dem [563]
„Fatum“ geredet, das dort regieren soll, von den „antiken Schicksalstragödien“,
denen das „Princip der sittlichen Verantwortlichkeit“ und
„der Zusammenhang menschlicher Schuld und menschlichen Leidens“ unbekannt
sein soll. Wobei denn freilich nur schreckhaft bange Furcht und
schmerzlich peinliches Mitleid gedeihen könnten, und womit die echte
Tragik unrettbar vernichtet wäre!

So aufgefaßt, muß der Schluß des „gefesselten Prometheus“ als
eine entsetzliche, unlösbare Disharmonie empfunden werden, denn das
Leiden des Helden erscheint ebenso willkürlich als zwecklos herbeigeführt,
wenn die Macht, die es verhängt, bestimmt sein soll, derselben „Notwendigkeit“
zum Opfer zu fallen, die wir hier blind ihres Amtes walten
sehen. Ja, die schrille Disharmonie wird durch diese Aussicht in endloses
Verderben noch verstärkt.

Wie anders stellt sich in Wahrheit die Handlung dieser unvergleichlichen
Tragödie dar, auch ohne daß man versucht sie durch Hypothesen
über den Jnhalt des vorangehenden und folgenden Stückes, „des
feuerbringenden“ und des „befreiten Prometheus“, zu ergänzen! Größeres
ist nie erdacht als diese hochsymbolische Dichtung, wo dennoch der Gedanke
in nichts über das Bild hinausgeht, sondern durch die bloße
Darstellung des Mythus zur vollen, reinen Wirkung auf die Empfindung
gebracht wird, des Mythus freilich, wie ihn der Dichter nach den Gesetzen
seiner Kunst umzugestalten gewußt hat.

Die symbolische Deutung verlangt die Thätigkeit der Reflexion,
und es wäre eine schlechte Tragödie, die ihre Wirkung nur auf
diesem Umwege erreichte. Sinne und Empfindungen sind es, an
welche sie sich zu wenden hat. Es ist also zweierlei zu untersuchen:
die symbolische Bedeutung des Stoffes, welche den Dichter dazu bewog,
ihn zu wählen, und die dramatische Technik, durch die er den Stoff zu
einer tragischen Handlung gestaltete.

Die Prometheussage verkörpert den uralten, noch heute immer
wieder auflebenden Kampf der Autonomie des vorausschauenden Verstandes
gegen die Forderung, eine göttliche Übergewalt anzuerkennen
und in bereitwilliger Selbstbeschränkung sich ihr zu unterwerfen. Die
Zeit, in der Äschylus zu diesem Stoffe griff, sah aus dem Besitz einer
reichen Kultur den Beginn einer kühnen Emancipation des philosophischen
Denkens von der altehrwürdigen Tradition des Götterglaubens sich entwickeln.
Damit trat also das Bestreben auf an die Stelle des gläubigen
Aufschauens zu dem persönlichen Walten des Zeus und der Götter, an
die Stelle der heiligen Scheu vor ihrer Macht, der frommen Furcht
vor ihrem Zorne die aus der selbständigen Beobachtung des Weltlaufs [564]
und des Zusammenhanges der Dinge geschöpften Begriffe zu setzen.
Hier steht obenan das Gesetz der „Ananke“, das Gesetz eiserner, undurchbrechlicher
Naturnotwendigkeit, das keine Ausnahme leidet,
dem also die Götter und Zeus an ihrer Spitze ebenso unterworfen sein
müssen, wie jedes Ding und Wesen. Aber hierbei konnte und kann
die grübelnde Vernunft sich nicht beruhigen: die Frage verlangt Antwort,
woher dies Gesetz seinen Ursprung hat, wer über seinen Bestand
und seine Ausführung wacht, „wer das Steuer der Ananke führt“.
Hier ist, wie nicht anders möglich, die Philosophie von jeher bei dem
„Jgnorabimus“ angelangt, aber sie hat den Verzicht auf bestimmte Erkenntnis
verschieden ausgedrückt. Am liebsten begnügte sie sich, auf die im
sittlichen Volksbewußtsein lebendigen Vernunftideen zurückzugehen und
diese in abstrakter Fassung zu einer höchsten, letzten Jnstanz zu
formulieren, um sie so außerhalb der Jndividualität und Willkür göttlicher
Personen gestellt zu denken. Obenan steht hier die in der Vorstellung
der „wachsamen Erinnyen“ verkörperte Forderung einer
jede Verletzung ihrer Majestät rächenden Gerechtigkeit, „Themis“. Aber
darüber hinaus gibt es einen minder deutlich hervortretenden, dennoch
geahnten, hin und wieder auch erfaßbaren Zusammenhang im dichten
Gedränge der wechselnden Erscheinungen; es ist eine in der Organisation
des menschlichen Geistes begründete Forderung hier im Gegensatz zu
den in dem Lauf der Dinge sich häufenden, scheinbaren Widersprüchen
eine feste, unwandelbare Ordnung vorauszusetzen.1 Aber es ist ein
großer Unterschied, ob diese Ordnung in gläubigem Vertrauen fromm
empfunden, in von solchem Sinn geformten Bildern freudig angeschaut
wird, oder ob reiches Wissen und klares Erkennen sie aus dem Gewußten
und Erkannten durch analogisches Schlußverfahren folgert, oder
endlich ob an der Stelle des einen wie des andern die bloße Anerkennung
einer allem überlegenen Macht steht, die aber unergründlich
geheimnisvoll keinen Blick in das ewige Dunkel ihres Wesens gestattet:
Verhängnis!

Nun ist es aber der Sinn des Redenden, der dem Worte seine
Prägung verleiht; ihre Neigung zum Bildlichen, Personifizierenden behielt
die griechische Sprache im Munde eines jeden, ob er nun diesem oder
jenem Standpunkte Ausdruck verlieh. Danach ist es klar, daß Bezeichnungen
wie die „Moiren“, die „Pepromene“, „Heimarmene“, [565]
selbst der Name der „Erinnyen“ etwas wesentlich Verschiedenes bedeuten,
je nachdem sie in diesem oder jenem Zusammenhange gebraucht
werden. Es genügt daran zu erinnern, daß die „Eumeniden“, wie
der Schluß des gleichnamigen äschyleischen Stückes sie uns zeigt, ganz
andere geworden sind als wie sie im Beginne desselben auftreten.
Vollends jene Schicksalsbezeichnungen der Moiren, Pepromene, Heimarmene,
kann ebensowohl das naivgläubige Vertrauen gebrauchen, das
diese Mächte im Walten der Götter eingeschlossen erblickt und verehrt,
wie die philosophische Erkenntnis, die sie auf ihre höchsten Begriffe anwendet,
und ganz ebenso auch jene, nur in der Negation des specifisch Religiösen
bestimmte, sonst resignierte, dunkel fatalistische Vorstellungsweise.

Äschylus war nicht der Mann die Existenz dieser ungeheuren rationalistischen
Opposition einseitig tendenziös zu bekämpfen, deren Unsterblichkeit,
Unbesiegbarkeit er vielmehr auf das Augenfälligste anerkennt.
Eine höhere, und allein der Kunst würdige Aufgabe war es, das Göttliche,
der Kraft des Zeus Verwandte, darin zur Erscheinung zu bringen,
wie es endlich wieder sich ihm versöhnt. Aus dieser Entwickelung hatte
das mittlere Stück der Trilogie die Krisis des erbittertsten Kampfes
darzustellen.

Der Geist, der sich selbst berät und nur sich selbst vertrauen will,
ist nun so reich entwickelt, daß er in offener Auflehnung der Himmlischen
nicht länger zu bedürfen erklärt. Existieren sie in ihrer Macht
doch nur durch ihn! Er half sie einsetzen gegen die Geltung älterer
Gewalten, die um ihrer willen fallen mußten: so wird er, der allein
meint, ewig sich gleich zu bleiben, auch sie wiederum einst stürzen
sehen. Er allein wüßte das Wort diesem Sturz zu wehren; doch er ist
entschlossen, unbekümmert um die Götter, über ihren Untergang zu
triumphieren. Dieser Geist also wird als in unlösbare Bande geschlagen
vorgeführt, zu unfruchtbarer Thatenlosigkeit verurteilt, solange
sein Trotz gegen die Gottheit anhält! Und dennoch soll die Gottheit
zu ihrer dauernden Geltung dieses Geistes nicht entbehren können; sie
bedarf seines ratenden Aufschlusses, um der schwer drohenden Gefahr
des Sturzes ihrer Macht zu entgehen. Jn diesem Doppelverhältnis
liegt die Gewähr der künftigen Versöhnung begründet: er erlangt Freiheit
und volle Kraft zurück, sobald die Zeit erfüllt ist, sowohl daß die
Götter ihn nicht mehr zu fürchten haben, als auch er selbst für sie
gewonnen wird! ─ Wie tiefsinnig ist diese Vorstellungsweise, welche
die Quintessenz kultur- und religionsgeschichtlicher Entwickelung in
ihrem streitenden und wieder sich einenden Wechselverhältnis darzubieten
scheint!

[566]

Doch was wären der Bühne solche Philosopheme! Sie hat es mit
Gestalten und Handlungen zu thun.

Nicht unter Zeus, sondern ihm nebengeordnet, gleichen Rechtes
fühlt sich Prometheus, den Urgöttern zugehörig, als den gewaltigsten
der Titanen, der Themis Sohn. Jn dem großen Götterkampfe hatten
die Titanen seinen Rat verschmäht; Zeus aber, der ihm folgte, war
der Sieger geblieben. Nach neuen, eigenen Gesetzen (ἰδίοις νόμοις)
herrscht er nun gewaltig über Götter und Menschen. Doch Prometheus
will sich diesem neuen Gesetz nicht fügen, sondern folgt, unbekümmert
um die furchtbaren Strafen, mit denen Zeus die empörten Titanen daniedergeworfen,
„ohne Furcht vor Zeus dem eigenen Sinn“.1 Welches
aber ist das Vergehen, wodurch er nun für sich die entsetzlichste Strafe
verwirkt? Jn der Behandlung dieses entscheidenden Umstands ist deutlich
die mit sorgfältigstem Bedacht den Mythus ausgestaltende Hand
des Dichters zu erkennen. Etwas anderes ist es hier, was wir aus
dem Munde des Prometheus selbst erfahren, und etwas anderes, was
wir den bedeutungsvollen Fragen des Chors entnehmen und vor allem
den tiefernsten Mahnungen des Okeanos. Ohne Zweifel hat die höchst
wichtige Rolle, die Äschylus dem Okeanos zuteilte, aus dem vorangehenden
Stücke, und vielleicht auch aus dem folgenden, helles Licht erhalten;
aber auch aus dem, was der „gefesselte Prometheus“ selbst
bietet, ist sie zu verstehen. Wir erfahren in dem Stück das eine über
die Handlung des früheren, daß Okeanos an dem Unternehmen des
Prometheus in seinem ganzen Umfange mitbeteiligt war, so
jedoch, daß er dabei vollkommen straflos ausgehen konnte, ohne
also zu der „neuen Herrschaft des Zeus“ sich irgendwie feindlich
zu stellen!
„Jch beneide dich,“ spricht Prometheus zu ihm, „wie du
so ganz frei von Vorwurf dastehst, außerhalb jeder Anklage, obwohl
du doch an allem mit teilgenommen, alles mit mir gewagt
hast
“.2 Jedes weitere Wort des Gesprächs der beiden, das von Prometheus
in zunehmend gereiztem Tone geführt wird, trägt den Charakter
der bitteren Jronie des in stürmisch rücksichtslosem Vorwagen Gescheiterten
gegen den besonnenen Genossen, der in weiser Mäßigung die [567]
verderbliche Klippe vermied. „Gib dir doch um mich nur keine Mühe!
Überlaß mich meinem Schicksal! Sieh dich sorglich vor (πάπταινε!),
daß dir nicht etwa selbst noch etwas Schlimmes widerfährt.“ Trotz
alledem bleibt Okeanos dem Gatten seiner Tochter gegenüber unerschütterlich
bei seinem freundlich dringenden Mahnen zur Mäßigung und
zum Nachgeben, in der gewissen Zuversicht, daß Zeus ihm zuliebe sich
zum Verzeihen werde bewegen lassen: „Ja freudig, freudig rühm' ich
mich, daß Zeus die Gabe mir nicht weigern wird, er löst dich sicherlich
aus dieser Qual!“1 Nur um so wilder lodert Haß und Zorn gegen
Zeus in Prometheus empor, und er schließt die lange Rede der Anklage
wider ihn aufs neue mit der bittern Apostrophe an Okeanos: „Du
kennst das alles und brauchst meine Belehrung nicht; so sorge für dich
selbst, wie du es ja verstehst. Doch ich will dies mein Schicksal auskosten
bis zum Ende, bis einst die Wut in Zeus' Sinn zahm geworden
ist.“2 Vollends steigert sich dieser Ton in der nun sich anschließenden
Stichomythie. Vergeblich mahnt Okeanos an die besänftigende Kraft
der Rede, „des Wortes, das der Arzt ist für das gärende Zornesgift“,
vergebens beruft er sich auf das eigene Beispiel des Prometheus, der
ja seinen Namen von der „vorausschauenden Fürsorge“ für andere
habe, „wie magst du prometheisch handelnden Wagemut gefährlich
nennen?
lehr mich das!“ (unübersetzbar! ἐν τῷ προμη-
θεῖσθαι δὲ καὶ τολμᾶν τίνα ὁρᾷς ἐνοῦσαν ζημίαν; δίδασκέ
με.): Finster=trotzig setzt Prometheus aller Überredung entschlossene Abwehr
entgegen, bis zuletzt der eigentliche Grund seiner Weigerung, der
solange in scheinbar dankender Anerkennung der gebotenen Hülfsbereitschaft
verschleiert war, in offenem Hohne hervortritt. Ok.: „So schickst
du kurzerhand mich meines Wegs zurück.“ Pr.: „Jn Feindschaft stürzen
könntst du dich um meinethalb!“ Ok.: „Du zielst auf ihn, den neuen
Herrscher des Weltenthrons?“ Pr.: „Ja, sorge doch nur, daß nichts
je das Herz ihm kränkt.“ Ok.: „Dein Unglück, o Prometheus, soll
mein Lehrer sein!“ Pr.: „So geh! fahr wohl! und bleibe stets bei [568]
diesem Sinn!“ Ok.: „Schon auf dem Wege trifft mich dieses herbe
Wort.“1

Diese auf das feinste ausgeführte Scene enthält den Schlüssel zum
Verständnis einer der wesentlichsten Voraussetzungen des Ganzen. Es
läßt sich deutlich erkennen, wie Äschylus den starren Zügen des alten
Mythus Leben verliehen hat.

Mit „unerbittlicher, unbeugsamer Kraft“ (κράτος) herrscht Zeus
„nach neuen Gesetzen“ (νεοχμοῖς νόμοις κρατύνει). Diese „Kraft
─ Kratos ─ tritt als Person in der Eröffnungsscene des Stückes auf,
den mitleidbewegt zögernden Gott Hephästos bei dem grausigen Werk
der Fesselung und Anschmiedung des Prometheus an den Fels nach
Zeus' Gebot zu unnachsichtlicher Ausführung anzuhalten. Der Jnhalt
des Stückes ist es, die „diamantne“ Härte dieser neuen Herrschergewalt
als urgesetzlich ─ θεμιτόν, die „mit der Themis in Übereinstimmung“ ─,
in „Harmonie“ mit Moira und Pepromene ─ dem uranfänglich
verhängten Schicksalsgesetz ─ zu zeigen. Es ist gewissermaßen der reine
Grundstoff der Tragödie, der hier prototypisch behandelt wird, man
könnte das Stück die Tragödie der Tragödien nennen: das scheinbar
Unerträgliche, unerhört Jammervolle, entsetzlich Schreckenerregende wird
an dem eigentlichen Ort dieser Empfindungen als ein Glied
der ewigen Ordnung zu Anerkennung gebracht. Zunächst freilich kann
es in dem Stücke sich nicht anders darstellen, als wie es dem ursprünglichen,
noch nicht kathartisch geläuterten Gefühl erscheint. So finden
die Seufzer des Hephästos um den verwandten Gott, den Freund, tief
schmerzlichen Wiederhall. Um wie viel mehr wird der Chor der naheverwandten
Okeanostöchter, da er die Qual des furchtbar gestraften
Gottes erblickt, in lauthallende Mitleidsklagen ausbrechen und schwerste
Anschuldigung erheben gegen „den eisernen Sinn“ des neuen Gewaltherren,
der die alten Herrscher des Himmels wider das Recht ─ ἀθέτως
gestürzt hat und nicht aufhören wird „sein zorniges Herz zu ersättigen“,
bis es „irgend einer List gelingt das übelgewonnene Reich ihm wieder
zu entreißen“ (παλάμᾳ τινὶ τὰν δυσάλωτον ἕλῃ τις ἀρχάν).

[569]

Diesem Chor nun gibt Prometheus den Bericht über die Ursache
seines Leidens, welches Vergehen es sei, das von Zeus so über alle
Gebühr gestraft werde. Natürlich ist nach seiner eigenen Meinung seine
Handlungsweise gerechtfertigt, nicht strafbar. So erzählt er denn, daß
Zeus, sobald er nur den Thron des Vaters, zu dem ihm Prometheus
verholfen, eingenommen, die Herrschaft der Welt unter die Götter verteilt
habe, der unseligen Sterblichen aber habe er nicht geachtet,
sondern er habe das ganze Geschlecht zu Grunde gehen
lassen, ein anderes neues an seine Stelle setzen wollen. Da
sei keiner der Himmlischen ihm entgegengetreten,
nur er,
Prometheus, habe es gewagt. Durch ihn seien die Menschen vor der
Vernichtung bewahrt! Dafür, für sein Mitleid mit ihnen, treffe ihn nun
mitleidslos die schmachvolle, unbarmherzige Strafe. Wie verträgt es
sich mit dieser Erzählung, daß Prometheus später selbst den Okeanos
den Genossen seiner That nennt, der „mit ihm alles gewagt
habe?
Warum ferner hätte Zeus, der doch die Gewalt besitzt,
nachgegeben, da er doch in Wahrheit die Menschen nicht vertilgt?
Der Schicksalsspruch, den Prometheus von seiner Mutter Themis weiß,
daß ein Ehebund dem Zeus einst Verderben bringen werde, wenn er
nicht, gewarnt, ihn vermeide, spielt nicht, wie gemeint worden ist, hierbei
eine Rolle. Denn erstlich hat er an sich nichts mit den Menschen
zu thun, und sodann tritt dieses Motiv erst am Schlusse des Stücks in
Wirksamkeit, wo es sich um Aufhebung oder Verschärfung der Strafe
handelt; daß es für ihre Verhängung bestimmend gewesen sei, wird
nirgends mit einem Worte erwähnt. Es gibt nur eine Lösung dieser
Widersprüche, die aber ebenso einfach ist, als hinreichend, um nach allen
Seiten befriedigende Aufhellung zu verschaffen: Äschylus faßte den
Mythus so, daß jene Anklage des Prometheus, Zeus habe die Menschen
vertilgen wollen, nur die Übertreibung seines erzürnten Gemütes
ist, daß also die nach seiner Meinung unzulängliche Fürsorge
für seine Lieblinge ihm als gleichbedeutend mit ihrer
Vernichtung gilt.
Wie anders erscheint nun der ganze Kampf! Der
selbstherrliche Geist des klug vorausschauenden Verstandes, eine der alten,
gewaltigen Urkräfte, empört sich gegen das unerbittliche, eiserne
Gesetz langsam allmählicher Entwickelung,
welches Zeus' weise
Herrschaft den Menschen bestimmt, und welches jenem als hassenswürdig
grausamer Beschluß sie zu verderben gilt. Daß dem aber so sei, dafür
liegt das vollgültige Zeugnis in dem Anteil, den an diesem ganzen
Vorgange Äschylus dem Okeanos zugedichtet hat. Jn vollem Einverständnis
mit Zeus,
dem er fest vertraut, in Freundschaft ver= [570]
bunden ist, bei dem sein Rat großes Gewicht hat, war mit und
neben Prometheus Okeanos als Anwalt der Menschen
aufgetreten,
„Teilnehmer seines Werks und Wagnisses“. Aber da
er sich mit dem von Zeus zugemessenen Lose der Menschen begnügte,
nichtüber das Geschick hinaus sie fördern“ wollte, erhielt
er einerseits sich die Gunst und Liebe des Allgewaltigen, anderseits
aber galt er fortan dem rücksichtslos entschlossenen Gegner des Zeus
als ein mattherzig vorsichtiger Helfer, dessen Hülfe er
für nichts rechnet, sich allein das Verdienst des ganzen
Werkes zuschreibend!

So erklärt sich nun alles! Die Scene zwischen Okeanos und
Prometheus, die den Höhe= und Wendepunkt des Stückes darstellt,
bestätigt Wort für Wort diese Auffassung. Sie bringt auch in der
Haltung des Chors einen Umschwung hervor, jedoch nicht ohne
daß derselbe schon vorher eingeleitet wäre. Denn dem vollen Mitleidserguß
folgt bei dem Chor nun die zweifelnd bedenkliche Frage: „Und
bist du nicht noch weiter vorgegangen, wie du's sagst?“ Prometheus: „Jch
nahm den Menschen die Blindheit gegen ihr Geschick“.1 Freilich konnte
er ihnen kein anderes „Heilmittel dieser Krankheit“ geben als die Hoffnung,
die für das wirkliche Geschick ja auch „blind“ ist; doch der Chor
erkennt auch darin ein großes, wertvolles Geschenk. Dann erst erwähnt
Prometheus seines eigentlichen Frevels, der auch in der Eingangsscene
von „Kratos“ als die Ursache seiner Fesselung genannt wird:
des Feuerdiebstahls, der Verleihung des Feuers an die Sterblichen,
durch das sie alle Künste lernen, das ihnen das Mittel zu aller Vervollkommnung
wird. Auch hier also hat Äschylus durch die wohlbedachte
Steigerung Sorge getragen das symbolische Verständnis unverfehlbar
nahe zu legen, daß die Verleihung des göttlichen Feuerfunkens
an die Menschen die Weckung jenes Sinnes bedeutet, der dem religiösen
Gefühl der Griechen zu allen Zeiten als der Gottheit am schwersten
verhaßt galt: des Sinnes, der auf die erhöhte Kraft, die er= [571]
worbene Geschicklichkeit sein Vertrauen stellt, als ob er
im Besitz der göttlichen Gabe der Götter nun nicht weiter
bedürfe: der Hybris.

Was aber bei den Menschen Hybris wäre, ist bei den Göttern
Empörung; deswegen ist Prometheus dem Kratos verhaßt als: ὁ θεοῖς
ἔχθιστος θεός „der den Göttern feindlichste Gott!“ Deswegen ändert
sich auch die Stimmung des Chors sofort, als er dies vernommen:
„Siehst du nicht, Daß du gefehlt hast? Wie du fehltest, das zu
sagen ist Mir keine Freude, dir ein Schmerz. So schweigen wir Davon;
Du aber sinne auf Lösung deiner Qual“.1 Und nun in der Erwiderung
des Prometheus die Worte: „Das hab' ich alles wohl gewußt.
Mit klarem Vorsatz fehlte ich, ich leugn' es nicht.“2
Nur das Eine gibt er zu, daß er die Folgen so schwer sich nicht vorgestellt
habe. Das Prototyp der tragischenHamartie“! Auch
darin das Urbild derselben, daß der bewußte Fehl, den er im Augenblicke
der That für recht hält und auch später nicht bereuen will, ihm
mit der Achtung und Liebe derer, die ihn umgeben, das tiefe Mitleid
derselben erwirbt; so nicht allein der Okeaniden, des Okeanos, sondern
anch des Hephästos, trotzdem doch dieser es war, dem er den Feuerfunken
raubte! Überall erscheinen hier gewissermaßen die reinen Grundformen
der tragischen Komposition: so, wenn Okeanos den tiefen Schmerz
ausspricht, den er um Prometheus fühlt, mit melisch erhöhtem Wort
in den Klagegesang des Chors einstimmend, und ihm seine Hülfe zusagt:
denn Prometheus habe keinen zuverlässigeren Freund als ihn;
nichts gäbe es, dem nach Schicksalsgebühr er einen größeren Anteil
zolle als seinem Leiden (ein merkwürdiger, unübersetzbarer Ausdruck:
οὐκ ἔστιν ὅτῳ μείζονα μοῖραν νείμαιμ' \̓η σοί· „dem er eine
größere Moira
zollen möchte“, d. h. also doch, daß dieser „Anteil“
in der vollen Erkenntnis des Schicksalsgesetzes begründet ist, nach welchem
Prometheus unverdient und dennoch wohlbegründet leiden
muß!). Aus dieser Gesinnung fließen die tief eindringlichen Ermahnungen
des besonnenen Freundes, der in weiser Erkenntnis sich willig der neuen [572]
höher berechtigten Ordnung gefügt hat, der Vertreter der Selbsterkenntnis,
Selbstbeschränkung und freiwilligen Unterordnung gegenüber dem unbezähmbaren
Stolz des sich allein vertrauenden Eigenwillens: „Erkenne
selbst dich, wandle dich zu neuem Sinn!“1 „Wirf deinen Trotz ab!
Zähme deine Zunge! Beuge dich!“ Aber wie wäre Prometheus zu erschüttern,
dessen ganzes Wesen darin beruht, daß er eben jene „Harmonie“
des Zeus nicht anerkennt, in der er nur eine Gewaltherrschaft (τυραννίδα)
erblickt! Seinen unabänderlichen Sinn gibt er gleich im ersten Monologe
klar zu erkennen:


Weh, weh! Zu der jetzigen Pein noch die Qual

Die die Zukunft bringt! Wo seh' ich das Ziel?

Wann erscheint mir das Ende der Mühsal?

Jedoch was sag' ich? Weiß ich alles doch vorher

Genau, was mir bevorsteht; unerwartet wird

Kein Leid mir kommen. Aber das verhängte Los,

So leicht als möglich muß es tragen, wer erkennt:

Nichts hilft's zu streiten wider die Notwendigkeit!

Das wäre freilich jenes dunkle Verhängnis, jene unaufgeschlossene
„Notwendigkeit“, die Schiller in der Schicksalsauffassung der antiken
Tragödie für das letzte Wort hält. Der Kern der äschyleischen Prometheustragödie
ist, daß diese Auffassung als die Zeus verhaßte, gottfeindliche
ihren Träger ins Verderben stürzt: denn ganz wie Sophokles im ähnlichen
Falle, macht Äschylus zwar das mythische Motiv zum Träger
der Fabel, hier also den Feuerdiebstahl des Prometheus, zugleich aber
zeigt er die damit gegebene tragische Hamartie durch die gesamte Handlung
hin in lebendiger Wirksamkeit. Jener blinde Verhängnis= und
Notwendigkeitsglaube ist eben die ewig sich wiederholende Grundformel,
die der ohnehin der eigenen Natur und Sinnesrichtung zu folgen ent= [573]
schlossene Wille dem geltenden Gesetz, und sei es auch das höchste, das
göttliche, entgegenstellt; es ist nur ein anderer, den Schein allgemeiner
Berechtigung suchender, Ausdruck für das Übergewicht
eines machtvollen Willensimpulses, der nur sich selbst
anerkennt, gegen den kategorischen göttlichen Jmperativ.

Dieser aber ist dem griechischen Volksglauben wie der griechischen
Tragödie, ebenso dem alten Epos, und wie sehr z. B. dem Pindar,
vertreten durch Zeus, den Herrscher der Götter, dessen Walten, was
es auch dem einzelnen bringe, und wie es auch im einzelnen erscheine,
in unverbrüchlichem ewigen Einklang steht mit der uranfänglichen Gerechtigkeit,
mit der Themis Gebot und der Erinnyen Gesetz, mit der
alles erhaltenden unergründlich weisen Ordnung der Moiren und der
weltenlenkenden Vorsehung, der Pepromene, Heimarmene.

Das ist die „Harmonie des Zeus“, die auf dem Wendepunkt des
Stückes durch das Stasimon des Chors gefeiert wird.

So kann es nicht anders sein, als daß die zweite Hälfte der
Tragödie die zur Katastrophe führende Entwickelung, die Steigerung
des Leidens durch die unbeugsame Hamartie des Helden bringen muß:
zugleich aber damit die Bekräftigung jener „Harmonie des Zeus“, ohne
welche das gehäufte Leiden das Übermaß der tragischen Affekte erzeugen
würde, Entsetzen und Grauen. Wie die erste Hälfte mit ihren Motiven
in dem vorangehenden Stücke wurzelt, so weisen die Motive der zweiten
auf das folgende hin, das mit der Lösung, der Wandlung des Unglückes
in Glück durch eine doppelte „Erkennung“ (ἀναγνώρισις) ─
indem nach beiden Seiten der letzte, tiefste Sinn der trennenden Schicksalssprüche
sich enthüllt ─, einen wohl nie wieder so erreichten Gipfelpunkt
tragischer Wirkung dargestellt haben muß.

Eine Fülle herrlichen Lichtes muß diese letzte Tragödie des „Befreiten
Prometheus“ auf den Zusammenhang des Ganzen ausgegossen
haben; aber, wie schon gesagt, die mittlere Tragödie hat ihren Schwerpunkt
in sich selbst und ist von diesem her zu erfassen. Es ist eine
gewaltige Jdee des Dichters, zuerst die zerschmetternde Übermacht des
Zeus gegen die Empörung sich unaufhaltsam erfüllen zu lassen, indem
er der ungeheuren Bewegung des Mitleids und der Furcht
nichts entgegensetzt als das unbedingte, gläubige Vertrauen
in die Harmonie des Zeus.
Noch bleibt das „Wie“ der Lösung
im Dunkel: um so großartiger, und mit wahrhaft unvergleichlicher Erhabenheit,
wirkt die eherne Strenge des Gedichtes, das gläubig vertrauende
Gewißheit vor dem Erweise fordert; doch nein, nicht fordert
von der Vernunft, oder der religiösen Gewöhnung, sondern [574]
sie hervorbringt im Empfinden durch die Anschauung des Handlungsverlaufes;
demgemäß sie hervorbringt nicht als eine „Jdee“ ─
vor der so vieles und so unrichtiges in Erörterungen tragischer Kunstwerke
gesprochen wird, als ob „Jdeen“ im Empfinden entstehen ─,
sondern als eine mit der Katharsis der tragischen Affekte in diesem
Stücke unauflöslich verbundene Thatsache im Gemüt.

Das „Wie“ der Lösung bleibt im Dunkel, obwohl der zweite Teil
der Tragödie, der mit dem Auftreten der Jo beginnt, den Prometheus
dieser gegenüber die Zukunft enthüllen läßt, wie er sie durch seine
Mutter Themis kennt: aus dem Geschlecht der Jo wird ihm im dreizehnten
Gliede der Retter erwachsen; Zeus aber wird einen Ehebund
schließen, dessen Sprößling, stärker als er selbst und als Poseidon, den
Vater zu stürzen bestimmt ist. Mit wunderbarem Tiefsinn hat Äschylus
diese Verknüpfung der Prometheussage mit dem Jomythus benutzt, um
eine herrliche Entwickelung vorzubereiten. Es wird auch hier erforderlich
sein dem Sinne nachzugehen, in welchem er diesen Mythus umgestaltet
hat, ehe seine dramatische Technik erkannt werden kann.

Dennoch also soll dem Prometheus, obwohl der Chor ihn mahnte,
die Menschen, um derentwillen er all sein Leiden auf sich genommen
hat, könnten ihm nicht helfen, von dem Menschengeschlecht die
Rettung kommen. Doch in geheimnisvoller Weise muß Zeus selbst sich
dem Menschengeschlecht verbinden, um die Rettung möglich zu machen:
der „schwarze Epaphos“, der Ahnherr des Halbgottes Herakles, hat
seinen Namen davon, daß durch die bloße Berührung der Jo Zeus
ihn erzeugte, nachdem er am Ende ihrer Leiden in der Nilstadt Kanobos
sie vom Wahnsinn geheilt hat.1 Hier zeigt sich also die Aussicht auf
eine Schlichtung des Konflikts unter Mitwirkung des Zeus durch menschliche
Kraft, die vernichten zu wollen Prometheus dem Zeus in leiden= [575]
schaftlicher Erbitterung vorwarf. Das ganze Jnteresse lenkt sich damit
auf die Persönlichkeit der Jo! Das mystische Wunder des Mythus konnte
dem dramatischen Dichter nicht genügen: er bedurfte eines inneren
Zusammenhanges,
der aus der Fremdartigkeit der berichteten Ereignisse
hervorleuchtete. Wenn es nun auch uns Modernen für immer
unmöglich sein wird von der Eigenartigkeit des religiösen Empfindens
der Griechen gerade auf diesem uns ganz fernab liegenden Gebiete eine
irgend zureichende Vorstellung zu gewinnen, so sind uns doch die dort
vorhandenen Erscheinungen thatsächlich bekannt, und die Auffassung,
in welcher Äschylus den Jomythus für seine Tragödie in lebendige
Wirksamkeit setzte, läßt sich daraus verstehen.

Der Bericht der Jo von ihrem Schicksal ist bei Äschylus etwas
weit Verschiedenes von der Erzählung eines Liebesabenteuers mit Zeus
und der Eifersucht der Hera. Von Zeus selbst geht ihre Strafe
aus und den Anlaß dazu hat ihr eigenes Verhalten gegeben! So
lautet nach Droysens Übersetzung, die nur an einer Stelle wesentlicher
Berichtigung bedarf, Jos Mitteilung ihres Leidensgeschickes an Prometheus
und den Chor der Okeaniden, der Schwestern ihres Vaters
Jnachus (s. V. 640 ff.):


Jn klaren Worten sollt ihr alles, was ihr wünscht,

Vernehmen. Freilich selbst zu sagen schäm' ich mich,

Von wannen dieses gottverhängte Wetter mir,

Der einst'gen Schönheit grauser Tausch mir Armen kam.

Denn immer schwebten nächtige Traumgestalten still

Herein in meine Kammer, und liebkos'ten mich

Mit leisen Worten: „o, du vielglücksel'ge Maid,

„Was bleibst du jetzt noch Mädchen, da dir werden kann

„Die höchste Brautschaft; Zeus erglüht in Liebe dir

„Vom Pfeil der Sehnsucht; nach der Kypris süßem Kampf

„Verlangt's ihn; du, Kind, weise nicht von dir den Kuß

„Kronions; geh' nun nach der tiefen Wiesenau,

„Gen Lerna, nach des Vaters Herden und Gehöft,

„Daß seiner Sehnsucht ruhn des Gottes Auge mag.“

Und solche Träume kamen mir Vieltraurigen

Jn allen Nächten, bis dem Vater ich zuletzt

Zu sagen wagte meine Träume, meinen Gram.

Der sandte nun gen Pytho, gen Dodonas Wald

Vielfache Frage, zu erkunden, was er thun,

Was sagen müßte, das genehm den Göttern sei.

Bald kamen seine Boten mit vieldeutigen,

Mit unerklärlich rätselhaften Sprüchen heim;

Dann aber endlich kam an Jnachos ein Spruch,

Der unverkennbar ihm gebot und anbefahl,
[576]
Mich auszustoßen aus dem Haus, dem Vaterland,

Daß ich, gotteigen, schweifte bis zum Saum der Welt;

Und wollt' er nicht, glutzuckend fahre dann des Zeus

Blitzstrahl herab, all' sein Geschlecht hinwegzuthun.

Und er, gehorsam diesem Spruch des Loxias,

Trieb mich von hinnen, schloß des Vaterhauses Thor

Mir Weinenden weinend; doch es zwang, es lenkte ihn

Kronions Zügel mit Gewalt zu solchem Thun.

Und alsobald war Leib und Seele mir verkehrt,

Die Stirn, ihr seht es, stiergehörnt; endlos gequält

Vom Stich der Bremse, irren Sprungs, wahnsinnverwirrt,

So floh ich rastlos gen Kechreios' klaren Quell,

Zum Hügel Lerna. Und es kam ein Riesenhirt,

Der erdgeborne, grimme Argos, hinter mir,

Zahllosen Auges spähend, hütend meine Spur;

Doch unerwartet eines schnellen Todes Raub

Sank hin der Leib des Riesen. Wutgestochen flieh'

Jch vor der Gottesgeißel nun von Land zu Land.

Jm letzten Verse übersetzt Droysen μάστιγι θείᾳ „vor der
Göttin Geißel“ statt „vor der göttlichen Geißel“; das stünde im
Widerspruch mit Jos Erzählung, in der von des Zeus Umarmung und
dem Zorn der Hera mit keinem Wort die Rede ist. Dazu steht freilich
in Widerspruch, daß an andern Stellen Prometheus, der Chor, sogar
Jo selbst die Hera als die Anstifterin ihrer Leiden nennt, daß also
dort Äschylus der vulgären Tradition zu folgen scheint. Allein
ganz unverkennbar hat der Dichter absichtlich, mit feinster Kunst, den
Bericht der Jo so gestaltet, daß derselbe, immer noch der hergebrachten
Auffassung offen stehend ─ denn was hindert daran, Hera als die
Anstifterin des Orakelspruchs hineinzudenken, wenn auch Jo nichts davon
zu sagen weiß ─, dennoch dieselbe zu dem ihm vorschwebenden tiefen
Sinne hinüberleitet.

Erst dadurch tritt Jo zu Prometheus in eine innere gegensätzliche
Beziehung und mit der Handlung des Stücks in einen tief begründeten,
großartigen Zusammenhang. Jst Prometheus der gewaltige Vertreter
der allein sich selbst vertrauenden Vernunft, die gegen die Gottheit sich
erhebt, so erscheint in Jo die Vertreterin des gottentzückten Sinnes,
jener auch den Griechen nicht fremden, aber besonders dem Orient eigentümlichen
Übersteigerung des schwärmenden Enthusiasmus,
die nach der entgegengesetzten Seite eine Verirrung von der
echten und rechten Götterscheu darstellte. Wahnsinn, wild ausbrechende
Wut, phantastisch widernatürliche Verkehrung des Menschlichen, irre
Ausartung jeder Gattung sind seine unmittelbaren, unvermeidlichen [577]
Konsequenzen. Es wäre nun freilich ein völlig aussichtsloses Unternehmen,
der Geschichte der Jo, wie das Stück sie vorherverkündigt, ausdeutend
nachgehen zu wollen, der Schilderung ihres irren Laufes durch die vielen
Gebiete des Orients, ihrer endlichen Gesundung und der Zurückverpflanzung
des ihr entsprossenen Geschlechtes nach der Heimat, wo ihm
dann die höchste göttlich=menschliche Mission bestimmt ist. Jndessen
scheint die Vermutung nicht ungerechtfertigt, daß diese uns so fremdartig
berührende Partie des Stückes dem griechischen Publikum, vielleicht
durch Anlehnung an den in das Gemeinbewußtsein übergegangenen
Teil der Mysterienweisheit, vertraut und so für die Absicht des Dichters
ein sehr wirkungsvolles Mittel gewesen sein mag.

Für die dramatische Technik aber, die nicht durch künstliche
symbolische Veranstaltungen
sich an die Reflexion wendet,
sondern die durch persönliche Handlung wirkt, kommen alle
diese Erwägungen durch drei einfache, große Momente zur Geltung:
Jo erscheint als Leidensgenossin des Prometheus, wie er durch den
Zorn des Zeus und die herrschenden Götter verfolgt; verfolgt jedoch
aus dem entgegengesetzten Grunde, nicht wegen des Hasses gegen sie,
sondern wegen einer durch die heiligen Orakelstätten, welche die uralten
Satzungen des Götterrechtes hüten, als unstatthaft und verderblich verurteilten
Liebe, um derentwillen sie, von Wahnsinnsangst gefoltert, in
der Jrre schweifend umhergetrieben wird; eine ferne Zukunft zeigt nach
dem Willen des Geschickes von der mit Zeus versöhnten Jo, die durch
die befruchtende Berührung des Gottes geheilt ist, auch den Befreier
des Prometheus von dem Banne des Zeus ausgehend.

Jn die Haupthandlung des Ganzen fügt sich nun aber dieses
neue Motiv auf folgende Weise ein: nach der felsenfesten Überzeugung
des Prometheus ist seine Befreiung gewiß; aber ebenso gewiß ist
es ihm, daß zuvor Zeus gestürzt sein wird!
Jn beidem meint
er dem untrüglichen Spruch seiner Mutter Themis, der Hüterin unverbrüchlichen
Gesetzes, zu folgen. Aber hier irrt er! Dieser
Jrrtum ist sein Verderben, und das unaufhaltsam daraus
über ihn hereinbrechende furchtbare Leidensschicksal ist der
Jnhalt der Tragödie des
gefesselten Prometheus“!

Denn die Schlußfolgerung, welche die beiden Prophezeiungen der
Themis in die Verbindung gegenseitig sich bedingender Wechselwirkung
bringt, entstammt nicht der Themis, sondern allein seinem eigenen
Sinn. Jch selbst, sagt er sich, werde nimmer nachgeben, ebensowenig
aber Zeus: weiß ich nun von Themis, daß Zeus einen Ehebund begehren
wird, aus dem ein Sohn hervorgeht, stärker wie er, der ihn [578]
stürzen wird, wie er selbst einst seinen Vater Kronos stürzte, weiß ich
ferner, daß mir selbst die Befreiung durch Jos dreizehnten Sproß gewiß
ist, so weiß ich auch, daß zu dieser Zeit die Herrschaft des Zeus
am Boden liegen wird, denn nicht anders ist meine Befreiung möglich.
Diese unzerbrechbar erscheinende Schlußkette gibt ihm den ehernen Trotz
ein, der unerschüttert die zerschmetternden Donner des Zeus über sich
ergehen läßt. Was könnte auch nur annähernd an Macht und Gewalt
dieser äschyleischen Scene an die Seite gestellt werden!

Die gleiche Überzeugung sucht Prometheus auch in Jos Brust zu
erwecken, die ja wie er „den Sturz des Zeus mit Freuden sehen müßte“.
Gelingt es ihm nun auch nicht den in zweifelnden Fragen sich ausdrückenden
Unglauben der Jo ganz zu besiegen, so erreicht er doch ihre
Einstimmung in seine Gesinnung: eine stark betonte Wendung des
Dichters, um durch diese in der Handlung selbst hell hervortretende
Hamartie der Jo die Fortdauer ihrer Leiden, den bald auf offener
Scene wieder ausbrechenden Wahnsinn zu begründen.

Doch wie könnte je der Spruch der Themis sich erfüllen? Wie
könnte je Zeus den Bund schließen, dessen Frucht verderblich, „gegen
die Themis
“, „nicht Themis“ sein würde, wie die griechische
Sprache das ungöttlich Gesetzwidrige so schön zu bezeichnen weiß!

Diese unerschütterliche Gesinnung ist die Grundlage der griechischen
Tragödie, vor allem der Tragödien des Äschylus, der den Chor der
„Schutzflehenden“ so sein Lied beschließen läßt:


Drum wen mag, welches Gottes Beistand

Jch anflehn mit gerecht'rer Bitte?

Der teure Sämann, unsres Stammes Vater ist

Der urgewaltige, wissende ─

Allvater, alllautrer Born des Heils, Zeus!
Er, niemand pflichtgebannt zu dienen,

Jn Allmacht herrschet Er der Höchsten,

Er hat zu niemand über sich empor zu schaun,

Da steht mit seinem Wort das Werk;

Was still im Geist kaum ihm keimt, vollbracht ist's!

Wie konnte dem griechischen Sinn die Auflösung jenes Spruchs
der Themis anders erscheinen, als daß Zeus der Themis folgend von
seinem Begehren absteht, daß gewissermaßen von selbst und notwendig
seine Entscheidung mit dem Willen der Themis eins ist! Pindar er= [579]
zählt den Hergang in dem siebenten seiner isthmischen Gesänge, wie
Themis den Streit des Zeus und Poseidon um die Thetis durch ihre
Warnung schlichtet, und schließt seine Erzählung mit den Worten: „So
zu des Kronos Söhnen sprach die Göttin: sie aber winkten Einstimmung
ihr zu mit den unsterblichen Brauen, und die
Frucht der Worte ging nicht verloren: denn vereint mit
ihr haben die Herrscher, beide selbst, der Hochzeit der
Thetis gewaltet.
1 Diese hohe, unverbrüchliche Einigkeit und Einheit
des Zeus mit der Themis, die der Chor die „Harmonie des Zeus“
nannte, ist der Fels, an welchem der Titanentrotz des Prometheus, der
nimmer sich beugt, zersplittert. Das Stück zeigt in einer Scene, an
deren machtvolle Großartigkeit nichts heranreicht, was je erdacht ist, die
zerschmetternde Katastrophe. Die Wirkung steigert sich dadurch zum
Höhepunkt, daß die Kräfte in lebendigem Ringen dargestellt werden:
nicht etwa also Zeus in Ruhe thronend, der Zukunft kundig und des
Sieges gewiß, sondern besorgt, den Jnhalt der Drohung des Feindes
zu erfahren, obwohl die Gefahr ja nur eine scheinbare sein kann, die,
sobald sie sich kund geben wird, notwendig auch aufhören muß zu bestehen.
So bleibt das Schwergewicht dieser „furchtbaren“ Scene doch
in dem Umstande beruhend, daß mit der Erfüllung der durch Hermes
an ihn gestellten Forderung Prometheus sich selbst, die eigene Hamartie,
überwinden und frei werden würde, daß er aber unbeugsam bleibt, auf
sein uraltes Recht der Selbständigkeit sich berufend und zuversichtlich
dem eigenen Schlusse vertrauend, daß er diese Göttermacht, deren Entstehen
er sah,
auch wieder werde vergehen sehen: denn er allein
vermöge solchem Sturz zu wehren.2 Vergebens mahnt der Chor zur
Mäßigung, zur Furcht des Zeus und zur Scheu vor der Adrastea; er
erhält die bittere Antwort:


Bet' an, verstumme, beuge dich dem je Herrschenden;

Mich aber kümmert minder dieser Zeus denn nichts!

Er schalt' und walte diese kleine Spanne Zeit,

Wie's ihm gefällt; lang bleibt er nicht der Götter Herr!

Und sodann dem Hermes gegenüber, der die Angabe des gefährlichen
Ehebunds verlangt:

[580]
Erhaben tönend, vornehm stolzen Mutes voll

Jst deine Rede nach der Götterknechte Art!

Neu steht in neuer Herrschaft ihr und denkt nun wohl,

Jn eurer Burg zu thronen über allem Leid!

Doch sah ich nicht von dort zwei Kön'ge schon verjagt?

An diesem dritten, deinem Herrn, seh' ich es bald

Geschehn, am schnellsten, schmählichsten; ─ du glaubst doch nicht,

Vor diesen neuen Göttern zittert' ich', beugt' ich mich?

Dran fehlet viel und alles! Du nun aber magst

Desselben Weges, den du kamst, heimeilen; denn

Von jenem allem, was du fragst, erfährst du nichts!

So bricht das Schreckliche über ihn herein! Vom Flammenblitz
des Zeus getroffen versinkt er, während rings im Erdbeben die Felsen
über ihm zusammenstürzen, für Jahrtausende in tiefes Dunkel, um endlich
zum Licht zurückgekehrt, der qualvollsten Marter zu verfallen, die
der unsterblich sich immer wieder ersetzenden Kraft sich täglich erneut.
Auch hier ist es schwer der andringenden symbolischen Bezüge sich zu
erwehren. Der Dichter aber enthält sich jedes, auch des leisesten Hinweises
nach dieser Richtung, sondern läßt nur die Handlung sprechen:
und wie diese mit der stärksten Furchterregung sich beschließt, so verwendet
er hier am Schluß wieder wahrhaft meisterlich den Chor, um
jenem Affekt durch eine ergreifende Äußerung schönsten Mitgefühls die
Wage zu halten. Jn Worten edelster Abwehr verschmäht es der Chor,
nach Herems Rat der herannahenden Katastrophe zu entfliehen und
bleibt hingebenden Mitleids voll dem untergehenden Helden treu zur
Seite. Mit dem erschütternden Aufschrei des Gequälten endet das Stück.

Was an früherer Stelle wiederholt bemerkt wurde, daß in dem
Chor dem tragischen Dichter ein unschätzbares Mittel gegeben ist, die
kathartische Symmetrie der Schicksalsempfindungen herbeizuführen, bewährt
sich im Prometheus auf das vollkommenste. Diesem Stoffe ist
es seiner Natur nach eigen, vornehmlich die Furchtempfindungen in
Bewegung zu setzen: daher fällt von Anfang an wie zuletzt wieder am
Schluß dem Chor die Aufgabe zu, dem Anteil an dem Schicksal des
Helden in ergreifendem Mitleidserguß sich hinzugeben. Ja, dieser Gesichtspunkt
ist es, der offenbar auch die Wahl der Okeaniden zum
Chor für diese Tragödie
bestimmt hat! Das kann nicht hindern,
daß auf dem Höhepunkt des Stückes, da wo die Hamartie des Helden
unwiderruflich sich entscheidet, umgekehrt der Chor der reinen Furcht= [581]
empfindung den höchsten lyrisch=melischen Ausdruck verleiht: in jenem
herrlichen Stasimon, dessen Citat den Ausgangspunkt dieser Analyse
bildete. Dieselbe Aufgabe fällt dem Chor am Beschlusse der die Jo
betreffenden Nebenhandlung zu: während er zuvor nur in die Klage
um ihr Jammergeschick einstimmt, erhebt er hier die Stimme zur
Warnung vor dem Sinn der Jungfrau, die, Männerliebe verschmähend,
ihr Trachten zu hoch gerichtet hat (ταρβῶ γὰρ ἀστεργάνορα παρθενίαν
εἰσορῶσα), aber, echt griechisch, nicht etwa in moralisierendem Tadel,
sondern die Scheu, die Furcht betonend, vor dem unausweichlichen
Geschick dessen, dem die Gottheit solches Trachten ins Herz legte, den
sie „mit solchem Auge ansähe“; das wäre „ein Kampf nicht auszukämpfen,
ein Weg in unwegsame Wildnis“ (ἀπολέμιστος ὅδε γ' ὁ πόλεμος,
ἄπορα πόριμος).

Eine herrliche Kraft verfällt durch die ihrer Eigenart anhaftende
Hamartie einem furchtbaren Leidensschicksal; aber der eigentliche Lebensnerv
dieser Tragödie, wie der Tragödie überhaupt, liegt darin, daß
dies Geschick kein dunkles ist, nicht als „blinde Notwendigkeit“ eine
resignierte Hinnahme verlangt, sondern als Forderung der höchsten,
ewigen Ordnung auf das lebendigste empfunden wird. Hier äußert
diese höchste „Harmonie“ ihre Macht in der Überwindung des gegen
sie gerichteten Angriffs; die dritte Tragödie mußte ihre positive Erfüllung
zeigen und mit ihr die Aussicht über ein weites Meer des
Strahlenglanzes eröffnen: die Herrschergewalt des Zeus in hoher Einigkeit
mit Themis Rat, sicher vor der drohenden Gefahr, in Ewigkeit
bewährt: Prometheus durch der Jo Sprößling seiner Bande ledig, nun
seines verhängnisvollen Jrrtums in tief umwandelnder „Erkennung
inne geworden, vom Zeussohne Herakles dem Vater der Götter und
Menschen zugeführt, nicht länger ihm feindlich, sondern in dem strengen
Walter den Freund des Menschengeschlechtes erkennend: durch die Titanide
Themis er, der Titan, dem obersten Herrscher des Himmels versöhnt. Noch
einmal mußte in dieser Schlußtragödie der Trilogie der Anblick unerhörten
Leidens das Mitleid zum Äußersten treiben, noch einmal die erschütternde
Furcht aufsteigen, daß der unglückliche Lauf der Handlung
zum hoffnungslosen Untergang hineilte: bis dann die „Erkennung“ die
bis ins Jnnerste durchgreifende Wandlung brachte, den Umschwung des
Unglücks zum Glück, und so die vollendetste tragische Wirkung erzeugt
wurde, in der die Freude an der vollkommenen Klärung der Schicksalsempfindungen
─ die Hedone der tragischen Katharsis ─ sich durch die
doppelte, unmittelbar entstehende Freude potenziert, das befriedigte
Wohlgefallen an der Erscheinung des Glückes an sich und das hohe [582]
Entzücken, es als die positive Äußerung der Harmonie des Weltgesetzes
zu empfinden.1

Als das wahre Urbild der tragischen Kunst gewährt der „Prometheus“
des Äschylus einen tiefen Einblick in das Wesen der Weltanschauung,
aus der die Tragödie entstanden ist, und auf deren Grunde
sie allein gedeiht. Die griechische Anschauung von einem Kosmos nicht
nur der natürlichen, sondern auch der geistig=sittlichen Welt steht im
schroffsten Gegensatz zu jeder Art der dualistischen Vorstellungsweise.
Die Verirrung erscheint dieser als das Böse in ewigem Kampf mit
dem Guten, im Princip auf immer von ihm getrennt; das Unglück ist
die Strafe des Abfalls, nach dem Ermessen der göttlichen Zucht je nach
Umständen verhängt oder zugelassen, immer also angesehen als der
Sold der Sünde, die Vergeltung der Schuld. Wo diese Anschauung
in Geltung ist, kann die Tragödie nicht aufkommen oder muß sie wieder
verkümmern. Jn grellen Farben wird sie Schreckbilder des Bösen mit
Glanzbildern des Guten kontrastieren lassen, oder sie wird, einem gebildeteren
Geschmack zuliebe, im besten Glauben zum Dienste „sittlicher
Jdeen“ genötigt, d. h. moralisch=paränetischen Tendenzen unterthan gemacht
werden, wenn sie die Aufgabe erhält, den Sieg des Edlen über
das Niedrige und Boshafte zu zeigen, das gekrönte Laster oder Verbrechen
an den Pranger zu stellen, der verkannten Tugend Verehrer zu
erwecken: Dienste des Büttels, im bessern Falle des einsichtigen Richters,
im besten des philosophischen Sittenlehrers! Aber ein Verzicht auf die
Höhen, aus denen dem Flug des Genius die großartige Einheit in
dem unendlich sich durchkreuzenden Kampf der Kräfte erscheint, und wo
aus tausendfachen Dissonanzen die große Harmonie zu ihm heraufklingt!

Und doch! Jst nicht noch heute die Ansicht im Schwange, wenn
nicht vielleicht die herrschende, daß weit über die antike Tragödie, die
unverschuldetes Schicksal darstellte, sich das moderne, dem christlichen
Bewußtsein entstammte Trauerspiel erhoben habe, das im Lichte [583]
freier sittlicher Verantwortung die Schuld zeige und die nach dem
Sittengesetz sie treffende Strafe? Tragisch also nur das Leiden, sofern
es als adäquate Buße der in freiem Handeln verwirkten Schuld zu erfassen
ist, dergestalt, daß jeder neue Fall einen neuen Paragraphen des
Sittencodex befestigt, indem es die Folgen seiner Übertretung illustriert,
oder vornehmer und im Sinne des Systems ausgedrückt: dergestalt,
daß es den Triumph einer ethischen Jdee verherrlicht, indem es den
Sturz dessen, der sie verletzt, vor Augen führt.

Wie anders die Griechen! Die selbst da, wo sie einmal eine
Schuldtragisch darzustellen unternahmen, das doch nur so
mit dem Gesetz der Tragödie vereinen zu können meinten, daß sie die
Schuld selbst dann als ein „Schicksal“, eine von den Göttern verhängte,
unentrinnbare Fügung erfaßten und darstellten.

Nicht anders faßte Goethe die „Schuld“ auf, sofern sie ein
tragischer Gegenstand, d. i. sofern sie Furcht und Mitleid zu erwecken
vermögend ist, wenn er die Urheberschaft solcher Schuld den „himmlischen
Mächten
“ zuweist:


Jhr führt ins Leben uns hinein;

Jhr laßt den Armen schuldig werden,

Dann überlaßt Jhr ihn der Pein;

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Über die tragische Weltanschauung der Griechen hat einer der berufensten
Kenner des Altertums, der Verfasser der „Populären Aufsätze“,
Karl Lehrs, sich in einer schönen Stelle ausgesprochen, die
den Kernpunkt der Frage trifft, und zwar gerade mit dem Bezug auf
das im obigen behandelte Stück.1 Dieselbe möge daher hier folgen:

„Vom Prometheus des Äschylos will ich auf meine Weise reden
ohne Rücksicht auf andere: nur das muß ich sagen, daß die Erklärung
ihn gar nicht verstanden hat, auch nicht verstehen konnte, welche die
Ähnlichkeiten mit dem Christentum heraufbeschwört, die nicht vorhanden
sind. Die Principien der Äschyleischen Religion und des Christentums,
und nirgends tritt dies entschiedener auf als hier, sind grundverschieden.
Sie sind es in zwei Hauptstücken. Dort steht voran die gesetzmäßige
Notwendigkeit, im Christentum der absolut freie, gegen seine freie
Schöpfung grundgütige Gott: und ebenso die absolute menschliche Freiheit
im Christentum, dagegen bei Äschylos ─ die Grenze, bis zu welcher
der Mensch im Handeln frei handelt, bleibt im Halbdunkel. Hier finden
wir also, merkwürdig gewiß, die Unfreiheit Gottes, ein Begriff, sehr [584]
gangbar bei den Philosophen, aufgenommen in die Volksreligion.1
Während wir hineingezogen werden in die Auffassung: die Welt ist verschlechtert,
wuchs der Grieche auf in der Vorstellung: die Welt ist nicht
schlechter, sie ist nicht schlecht, sie ist wie ihre Notwendigkeit von Anfang
ist. Auch das Unglück des Menschen, auch das Unglück, daß der Mensch
nicht ohne Vergehen sein kann, die dann auch nach den unverbrüchlichen
sittlichen Gesetzen Ausgleichung verlangen, gehört in diese uranfängliche,
abgestufte Notwendigkeit. Die auf einer höheren Stufe stehenden göttlichen
Wesen, wie herrlich und mächtig und wie wohlwollend ihm und
hülfreich und hoffnungsreich, dürfen für ihn, wie für sich, nicht alles.
Nun entsteht durch diese beiden Faktoren eine große Dehnbarkeit innerhalb
der religiösen Vorstellung. Nach Stimmung, Bildung und Bedürfnis
konnte man dem einen und dem andern einen weitern Spielraum,
eine strengere oder erweiterte Sphäre zuweisen und konnte sich
immer noch innerhalb der heimischen Religion fühlen und dem Schmerz
der Wunden enthoben sein, den ein Losreißen von dieser so leicht zurückläßt.
Denn hier glauben wir noch etwas anderes zu verstehen.
Jene Überzerfallenheit mit den göttlichen Dingen, wie sie in denkenden
Männern der neueren Zeit hervorgetreten ist, warum blieb sie dem
Griechen in dieser Weise fremd? Man denkt sich die Lösung dieser
Frage gewöhnlich zu leicht: sie ist Schiller nicht gelungen. Die Schicksale
der Griechen waren nicht so heiter als man nach Analogie ihres
Himmels sich gewöhnlich vorstellt: dies beweist die Geschichte, dies beweist
die Empfindung des tiefen menschlichen Wehes, welche durch ihre
Tragödie geht. Die Ursachen müssen tiefer liegen, und einen Punkt
haben wir hier. Wenn ─ so etwa gingen die beunruhigenden Gedanken
jener neueren ─ wenn jener Gott so frei und so grundgütig
ist, warum hat er das Unglück so schrecklich wuchern lassen in der Welt
und das Verbrechen? Warum hat er dem Menschen diese absolute Freiheit
gegeben seine Welt so schrecklich zu entstellen? Warum gab er
wohl gar einem grundbösen Wesen über den Menschen so viel Macht?
einem Wesen, über welchem der strebsame, wenn auch verschuldete Mensch
sich doch erhaben fühlen muß?2 Die herkömmliche dogmatische Lösung
ergibt wahrlich einen unwürdigen Gott. ─ Äschylos, der den Begriff
der Notwendigkeit aus seiner Religion empfing, löste sich diese Frage [585]
über die göttlichen Gewalten zu seinem befriedigendsten Erstaunen, indem
er gerade den Begriff der Moira vertiefte und gleichsam in eine
unabsehbare Scene ihrer Wirksamkeit hineinschaut. Jhre Jahrtausende
und Jahrtausende hindurch angelegten Fäden, die den Konflikt der
mächtigsten und unbeugsamsten göttlichen Willen aussöhnen
werden, indem diese Fäden angelegt sind auf diese Willen eine beschwichtigende
Wirkung zu üben, und alles, auch das Unerwartetste, sich zusammenfinden
zu lassen, das war es, was ihn in staunende Ehrfurcht
versenkte und den Menschen gar, der etwa vermeinte in diesen unabsehbaren
Großgang eingreifen zu können, so zerschmetternd klein erscheinen
ließ, und so groß, daß auch seine Geringfügigkeit in derselben
mit einbeschlossen ist. Das ist


das gewaltige Schicksal,

Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.

Wie es Schiller mit tiefstem Verständnis und in einem seiner
glücklichsten Augenblicke für das Verständnis des Griechentums gesprochen
hat. Eingreifen zu können! Zeus glaubte es einen Augenblick ─ denn
was sind Jahrtausende in jenen Urzeiten göttlicher, ringender Gewalten
und nach ihren Riesenmaßen, und er ahnte nicht, wie der Gang des
Schicksals auf seinen Willen einwirken werde. Je unabsehbarer aber
eine solche Entwickelung auf Äonen angelegt geschaut wird, um so mehr
macht neben Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit zugleich das Gefühl
eines Planes sich geltend.“ ──────


XXVIII.

Wohl war in Schillers großer Seele die Vorstellung von der echten
Größe der antiken Tragödie lebendig: aber in der theoretischen Erkenntnis
der tragischen Gattung ist er nie zu voller Klarheit gelangt;
auch seine späteren Äußerungen bewegen sich um den entscheidenden
Punkt, ohne ihn zu treffen. Seine gesamte ästhetische Spekulation hatte
eine Richtung eingeschlagen, die ihn mit Notwendigkeit an diesem Punkte
immer wieder vorbeiführen mußte. Das Studium Kants konnte daran
nichts ändern; es diente viel eher dazu ihn in dieser Richtung zu bestärken,
weil es ihm Veranlassung bot, den weitergehenden Jrrtum der
Kantschen Ästhetik zu bekämpfen, woraus naturgemäß eine Befestigung
in seinen eigenen Anschauungen hervorging. Mit ergreifendem Ernst [586]
und unermüdlicher Ausdauer suchte er in der Verbindung der Sinnlichkeit
mit dem Sittlichen, der zwanglosen Wohlgefälligkeit der Erscheinung
mit dem strengen Gesetz der Vernunft, die Formel für den Begriff des
Schönen. Ein unlösbares Problem! Der unkorrigible Fehler lag in
den Prämissen, die ihn zur Aufstellung desselben in dieser Form verleitet
hatten; diese Prämissen aber standen ihm als das Ergebnis der
beiden im vorletzten Abschnitt erörterten Abhandlungen über die tragische
Kunst unerschütterlich fest. Die hohe Würde der Tragödie hatte er sich
nicht anders zu definieren gewußt, als daß er in ihr die Verkörperung
des Sieges erblickte, den die Vernunft über die Sinne davon trägt.
Die edle Freiheit des Schönen konnte er auch ferner sich nur durch
die Negation einer jeden von außen die Erscheinung bestimmenden Bedingung
erklären, sie komme woher sie wolle. Aber die „freie Selbstbestimmung
des Dinges“, die „Heautonomie der Erscheinung“ ist kein
begrifflicher, sondern nur ein gleichnisweiser Ausdruck, aus dem sich
für die „Techne“, das Kunstverfahren, keine andern als höchstens
einige negative Vorschriften ableiten lassen. Die Formel hat etwas
Mystisch-Symbolisches an sich, wodurch sie für den ahnenden Sinn des
Genius ihren Wert erhält, während sie der theoretischen Erkenntnis
geringe Ausbeute gewährt. Vollends unerwiesen und unerweisbar aber
ist der zugleich mit dieser Formel postulierte Satz, daß diese „heautonome
Erscheinung“ der Dinge ─ man kann nicht anders sagen als
vermöge einer prästabilierten Harmonie ─ an sich selbst den höchsten
Forderungen des Vernunftgesetzes entsprechen müsse. Es ist die alte,
aus einer schwärmerisch erhöhten Divination ihre Kraft schöpfende Gewißheit
des platonischen Jdealismus, dem die schöne Gestalt die sinnenfällige
Erscheinung des Guten und des Wahren ist, und der Schiller
an der Schwelle seiner höheren Laufbahn in seinen „Künstlern“ seine
hinreißende poetische Beredsamkeit geliehen hatte. Der dichterischen
Phantasie stehen diese Bilder entzückten Ahnens wohl an, für die theoretische
Untersuchung sind sie trügerisch und für die Bestimmung der
poetischen Technik unfruchtbar. Es sind Symbole, Gleichnisbilder, die,
mit ihrem goldigen Glanze den Wahrheitskern umhüllend, wohl auf ihn
hindeuten, ihn aber nicht zu erkennen geben.

Das Glück, das uns so vieles früher Erkannte neidisch wieder
entzog, hat uns hier den magischen Schlüssel gegönnt, unter dessen
Berührung der Weihrauchnebel verschwindet und der „glühende Dreifuß“
aufsteigt, durch den, wer ihn besitzt, nun „Held und Heldin aus
der Nacht ruft“:

[587]
Der erste, der sich jener That erdreistet;

Sie ist gethan, und er hat es geleistet.

Dann muß fortan nach magischem Behandeln

Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.

Nichts Geringeres hat Aristoteles mit der Enthüllung des Geheimnisses
der tragischen Kunstform
gethan und nichts Geringeres
Lessing, daß er sie aus „dem tiefsten, allertiefsten Grund“ wieder ans
Licht brachte.

Kein Zweifel, daß wenn Schiller die aristotelisch=lessingsche Lehre
von dieser Kunstform richtig erkannt hätte, seine tragische Dichtung noch
früher zu ihrer vollen Größe gelangt wäre, ja, daß wir ihm noch Herrlicheres
zu danken haben würden. Dafür ist ein vollgültiges Zeugnis,
daß auch ohne diese Erkenntnis er durch sein Genie auf den Weg der
Alten geführt wurde: in seiner „Braut von Messina“. Die Lektüre
der antiken Tragiker und sein Umgang mit Goethe brachten ihn auf
diesen Weg. Jn einem nachgelassenen Fragmente untersucht er, welche
von beiden Dichtungsgattungen höher stehe, die Komödie oder die
Tragödie, und entscheidet: „Die Komödie setzt uns in einen höhern
Zustand,
die Tragödie in eine höhere Thätigkeit. Unser Zustand
in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder thätig
noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der
Zustand der Götter, die sich um nichts Menschliches bekümmern, die
über allem schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt.
Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter
dem Zwang von Gesetzen. Es muß also eine höhere, rüstigere Kraft
in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wiederherstellen
können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns
fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir diese Kraft nicht, weil wir
mit nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen
also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern,
weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu
göttlichen Menschen oder, wenn man will, zu leidenden Göttern,
zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten
Tragödien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie
selbst.

Jmmer freilich bleibt der Grundpfeiler seiner Theorie des Tragischen
unerschüttert, daß die sinnenfällige Vorführung des Leidens bestimmt
sei, der Jdee der Vernunftfreiheit zur siegenden Geltung zu verhelfen.
Hier wurzelt sein mächtiges Bestreben die entartete Bühne zu veredeln,
von der er in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische [588]
Dichtung“ ein Bild entwirft, das seine wenig schmeichelhafte Ähnlichkeit
mit den wirklichen Zuständen noch nicht verloren hat: „Jn dem
Tempel Thaliens und Melpomenens, so wie er bei uns bestellt ist,
thront die geliebte Göttin, empfängt in ihrem weiten Schoß den stumpfsinnigen
Gelehrten und den erschöpften Geschäftsmann und wiegt den
Geist in einen magnetischen Schlaf, indem sie die erstarrten Sinne erwärmt
und die Einbildungskraft in einer süßen Bewegung schaukelt.“
Und wie sehr trifft diese Schilderung vollends auf dem Gebiet der
heutigen Romandichtung zu: „Der Last des Denkens sind sie hier auf
einmal entledigt, und die losgespannte Natur darf sich im seligen Genuß
des Nichts auf dem weichen Polster der Platitüde pflegen!“

Aber, wenn Schiller auch mit allen Kräften gegen die Auffassung
der Poesie ankämpft, die sie in den Dienst des „bloß sinnlichen
Bedürfnisses der Erholung“ stellen will, so sehen wir ihn doch jetzt
„gerade umgekehrt“ bemüht „den viel zu weiten Umfang einzuschränken,
den man dem Begriff der Veredelung durch die Poesie
gegeben hatte, weil man sie zu einseitig nach der bloßen Jdee
bestimmte
“. Der Dichter soll sich hüten, dabei „den Begriff der
Menschheit aufzuheben und ihre notwendigen Grenzen zu verrücken“.
Es war der Einfluß Goethes, der ihn die Forderung sinnlicher
Wirkung
in der Kunst fortan als diejenige erkennen ließ, von deren
Erfüllung ihre Wirkung überhaupt vor allem andern abhängig ist.

Kein Weg aber schien ihm ungeeigneter dieses Ziel zu erreichen,
ja keiner, sie weiter von ihrer eigentlichen und höchsten Aufgabe zu
entfernen, als der Weg der „gemeinen Naturnachahmung“, jenes
falsche Bestreben in der getreuesten Wiederholung der Wirklichkeit ein
künstlerisches Verdienst zu suchen. Jm Prolog zum „Wallenstein
hat er seine Meinung hierüber ausgesprochen; er verlangt von der Poesie:
„daß sie das Bild der Wahrheit in das heitere Reich der Kunst hinüberspielt,
die Täuschung, die sie schafft, aufrichtig selbst zerstört und ihren
Schein der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt.“ Wie nun aber diese
Richtung auf seine Ansichten von der dramatischen Technik wirkte, davon
gibt eine interessante Stelle der Briefe Zeugnis, die er mit Goethe über
die Unterschiede des Dramas vom Epos wechselte. Er schrieb dem
Freunde am 29. Dezember 1797: „Wenn das Drama wirklich durch
einen so schlechten Hang des Zeitalters in Schutz genommen wird, wie
ich nicht zweifle, so müßte man die Reform beim Drama anfangen und
durch Verdrängung der gemeinen Naturnachahmung der Kunst Luft und
Licht verschaffen. Und dies, deucht mir, möchte unter anderm am besten
durch Einführung symbolischer Behelfe geschehen, die in allem dem, [589]
was nicht zu der wahren Kunstwelt des Poeten gehört und also nicht
dargestellt,
sondern bloß bedeutet werden soll, die Stelle des
Gegenstandes verträten.
Jch habe mir diesen Begriff vom Symbolischen
der Poesie noch nicht recht entwickeln können, aber es scheint
mir viel darin zu liegen. Würde der Gebrauch desselben bestimmt, so
müßte die natürliche Folge sein, daß die Poesie sich reinigte, ihre Welt
enger und bedeutungsvoller zusammenzöge und innerhalb desselben desto
wirksamer würde.“

Es ist das innerste Lebensprincip der Poesie, das Schiller hier in
kurzem Wort ebenso prägnant als scharf bezeichnet hat. Wie so ganz
die Goethesche Auffassung der Poesie damit zusammenstimmt, wurde in
einem früheren Abschnitt ausgeführt.1 Jn ganz demselben Sinne spricht
Goethe an verschiedenen Stellen der erwähnten Briefe über das Epos
und Drama von der „physisch=poetischen Gewalt der alten Götterbilder,
den Wundergeschöpfen, Wahrsagern, Orakeln der Alten, für die wir,
so sehr es zu wünschen ist, nicht leicht Ersatz finden“; er sieht
sich daher nach den Mitteln um, „symbolisch“ die „Ahnung einer unsichtbaren
Welt und ihres Zusammenhanges mit der sichtbaren“ in seine
Dichtungen, epische wie dramatische, einzuflechten. Und so bleibt auch
Schiller in jenem Briefe nicht bei der theoretischen Bemerkung stehen,
sondern er zieht die Konsequenzen für die dramatische Technik: „Jch
hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus ihr wie aus
den Chören des alten Bacchusfestes
das Trauerspiel in einer
edlern Gestalt sich loswickeln sollte. Jn der Oper erläßt man wirklich
jene servile Naturnachahmung, und obgleich nur unter dem Namen von
Jndulgenz, könnte sich auf diesem Wege das Jdeale auf das Theater
stehlen. Die Oper stimmt durch die Macht der Musik und durch eine
freiere harmonische Reizung der Sinnlichkeit das Gemüt zu einer schönen
Empfängnis; hier ist wirklich auch im Pathos selbst ein freieres Spiel,
weil die Musik es begleitet, und das Wunderbare, welches hier einmal
geduldet wird, müßte notwendig gegen den Stoff gleichgültiger machen.“

Solche Erwägungen waren es, die ihn zu der Wahl des Stoffes
der „feindlichen Brüder“, oder der „Braut von Messina“ bewogen:
ihn zog dazu, wie er an Körner schreibt (9. September 1802),
vornehmlich die Einfachheit des Planes hin und die Möglichkeit hier
mit „einem Schritt näher zur antiken Tragödie“ eine neue Form zu
schaffen, „denn das Stück ließe sich wirklich zu einer äschyleischen Tragödie
an.“ „Jch habe noch bei keiner Arbeit so viel gelernt,“ schreibt er am [590]
18. August desselben Jahres an Goethe; „es ist ein Ganzes, das ich
leichter übersehe und auch leichter regiere; auch ist es eine dankbarere
und erfreulichere Aufgabe, einen einfachen Stoff reich und gehaltvoll
zu machen, als einen reichen und zu breiten Gegenstand einzuschränken.“

Hier ist die moralisierende Rührungstheorie endlich völlig über
Bord geworfen; zum erstenmal hat Schiller sich einen Stoff erwählt,
der, in größter Einfachheit allein auf die Erweckung der reinen
tragischen Affekte angelegt, ihn das Ziel der Tragödie geradeaus ins
Auge fassen läßt. Wie ganz verschieden sind nun seine Ansichten über
das Wesen und die Mittel der dramatischen Nachahmung von denen,
die ihm noch in der Recension über Goethes „Egmont“ für unumstößlich
gelten! Nichts mehr von jenem falschen Streben, in die sittliche
Größe des Helden den Schwerpunkt der tragischen Wirkung zu
verlegen! Und in dem jetzt ihm aufgegangenen bewundernden Verständnis
der antiken Tragödie, ihrer Chöre, der „symbolischen“ Bedeutung
ihrer Götter- und Wunderwelt, welch ein Gegensatz zu dem
Schlußwort der Egmontrecension vom Jahre 1788: „Je höher die
sinnliche Wahrheit in dem Stücke getrieben ist, desto unbegreiflicher
wird man es finden, daß der Verfasser selbst sie mutwillig zerstört.
Egmont hat alle seine Angelegenheiten berichtigt und schlummert endlich,
von Müdigkeit überwältigt, ein. Eine Musik läßt sich hören, und
hinter seinem Lager scheint sich die Mauer aufzuthun; eine glänzende
Erscheinung, die Freiheit, in Klärchens Gestalt, zeigt sich in einer
Wolke. ─ Kurz, mitten aus der wahrsten und rührendsten
Situation
werden wir durch einen Salto mortale in eine Opernwelt
versetzt, um einen Traumzu sehen! Lächerlich würde es
sein, dem Verfasser darthun zu wollen, wie sehr dadurch unserm Gefühle
Gewalt angethan werde (ursprünglich hatte Schiller geschrieben:
„wie sehr er sich dadurch an Natur und Wahrheit versündigt
habe“); das hat er so gut und besser gewußt als wir; aber ihm schien
die Jdee, Klärchen und die Freiheit, Egmonts beide herrschende Gefühle,
in Egmonts Kopf allegorisch zu verbinden, gehaltreich genug, um
diese Freiheit allenfalls zu entschuldigen. Gefalle dieser Gedanke, wem
er will ─ Recensent gesteht, daß er gern einen sinnreichen Einfall entbehrt
hätte, um eine Empfindung ungestört zu genießen.“

Schiller hatte sich aus der Enge dieser naturalistischen Kunstbetrachtung
längst befreit: möchten wir nur nie wieder Ästhetik und
Kritik sich ein Verdienst daraus machen sehen, wenn sie zu dieser Enge
zurückkehren!

Die „größere Bekanntschaft mit Äschylus“ hatte ihm zu dem neuen [591]
Fluge die Kraft gegeben (Brief an W. v. Humboldt vom 17. 2. 1803).
Die Wirkung der „Braut von Messina“ war bei den ersten Aufführungen
eine gewaltige, auch in der breiten Masse des Publikums,
trotz der Ungewöhnlichkeit der angewandten Mittel. Eine höchst bedeutsame
Äußerung Schillers darüber liegt in seinem Bericht von den
ersten Aufführungen an Körner vor (Brief vom 28. 3. 1803): „Über
den Chor und das vorwaltend Lyrische in dem Stücke sind die Stimmen
natürlich sehr geteilt, da noch ein großer Teil des ganzen deutschen
Publikums seine prosaischen Begriffe von dem Natürlichen
in einem Dichterwerke
nicht ablegen kann. Es ist der alte und
der ewige Streit, den wir beizulegen nicht hoffen dürfen. Was mich
selbst betrifft, so kann ich wohl sagen, daß ich in der „Braut von
Messina“ zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödie
bekam. Der Chor hielt das Ganze trefflich zusammen, und ein hoher
furchtbarer Ernst
waltete durch die ganze Handlung. Goethe ist
es auch so ergangen;
er meint: der theatralische Boden wäre durch
diese Erscheinung zu etwas Höherm eingeweiht worden.“

Worin lag diese von Schiller wie von Goethe so hoch gepriesene
Wirkung? Es ist im höchsten Maß instruktiv sich diese Frage zu beantworten.
Um diese Antwort zu erhalten, genügt es, eine Reihe von
Sätzen der das Stück begleitenden Abhandlung Schillers „Über den
Gebrauch des Chors in der Tragödie“ zusammenzustellen. Dabei ergibt
sich die überraschende Thatsache, daß der verborgene Punkt, um
den sich alle Argumente Schillers bewegen, auf den sie alle hinzielen,
das Centrum gerade jener Lücke bildet, die in Schillers theoretischer
Erkenntnis des Tragischen offen blieb. Sie alle gehen dahin, die
mangelnde Forderung der tragischen Furcht und der tragischen Katharsis
zu ersetzen.

Er verlangt zu oberst: Veredelung der tragischen Kunst, das
„Würdigste soll sie sich zum Ziele setzen“.

„Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten hört, daß
das Publikum die Kunst herabzieht; der Künstler zieht das Publikum
herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie durch die
Künstler gefallen. Das Publikum braucht nichts als Empfänglichkeit,
und diese besitzt es. Es tritt vor den Vorhang mit einem unbestimmten
Verlangen, mit einem vielseitigen Vermögen. Zu dem Höchsten
bringt es eine Fähigkeit mit: es erfreut sich an dem Verständigen
und Rechten.
“ Doch nicht etwa, weil es einen gebildeten
Verstand und eine entwickelte Vernunft mitbringt: wohl aber
die Fähigkeit, sein Empfinden der Wahrnehmung des an sich „Ver= [592]
ständigen und Rechten“ zu öffnen und durch die solches Empfinden begleitende
Freude des „Verständigen und Rechten“ als solchen inne
zu werden.

„Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere
und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die
rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der
höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen
Spiel aller seiner Kräfte.“ Ein solches „freies Spiel aller Gemütskräfte“
schließt es aus, daß Verstand und Vernunft direkt in Anspruch
genommen werden, was ohne Arbeit nicht geschehen kann; es
kann nur in der Thätigkeit der Empfindungskräfte erfolgen, insofern
in der richtigen Beschaffenheit ihrer Äußerung ein Resultat im Gemüte
auftritt, das sowohl die Billigung des Verstandes als die der Vernunft
notwendig einschließt.

Noch einmal irrt Schiller im Ausdruck ab: „Der wahren Kunst
ist es Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen
Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der That
frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt,
übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als roher
Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine
objektive Form zu rücken, in ein freies Werk unsers Geistes zu verwandeln
und das Materielle durch Jdeen zu beherrschen.“ Den Worten
nach scheint hier noch die alte Theorie von der Vernunftfreiheit, die
durch die tragische Kunst zum Bewußtsein gebracht werden soll, zu spuken.
Der weitere Verlauf zeigt aber trotz eines gewissen Schwankens im Ausdruck,
das eben durch die mangelnde Sicherheit der theoretischen Erkenntnis
unvermeidlich wird, doch unzweideutig, daß Schiller „jene Kraft,
die erweckt, geübt und ausgebildet“ werden soll, nicht mehr im sittlichen
Vermögen, sondern daß er sie im Empfinden sucht.

„Jm Gemüt“ soll diese Kraft „erbaut und begründet“ werden.
Das erreicht die Kunst, indem sie die „wahre Natur“ darstellt, „indem
sie das Wirkliche ganz verläßt und rein ideell wird. Die
(wahre) Natur selbst ist nur eine Jdee des Geistes, die nie in die
Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst
kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Jdeals ist es
verliehen, oder vielmehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu
ergreifen und in einer körperlichen Form zu binden. Auch sie selbst
kann ihn zwar nie vor die Sinne, aber doch durch ihre schaffende
Kraft vor die Einbildungskraft bringen, und dadurch wahrer sein als
alle Wirklichkeit, und realer als alle Erfahrung.“

[593]

Dasselbe gilt von der Tragödie. „Auch hier hatte man lange
und hat noch jetzt mit dem gemeinen Begriff des Natürlichen zu
kämpfen, welcher alle Poesie und Kunst geradezu aufhebt und vernichtet.“
„Alles Äußere bei einer dramatischen Vorstellung steht diesem
armseligen Begriff der Jllusion entgegen ─ alles ist nur ein Symbol
des Wirklichen.

Die Einführung einer metrischen Sprache ist der erste Schritt
in dem Kampf gegen den Naturalismus in der Tragödie, die Einführung
des Chors wäre der letzte, entscheidende. „Der Chor sollte
uns eine lebendige Mauer sein, die die Tragödie um sich herum zieht,
um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen
Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.“ Die alte Tragödie „fand
den Chor in der Natur und brauchte ihn, weil sie ihn fand“; „in der
neueren Tragödie wird er zu einem Kunstorgan; er hilft die Poesie
hervorbringen“.

Hier beginnt der Hauptteil der Abhandlung: die Aufzählung der
Eigenschaften, um derentwillen dem Chor diese hohe Bedeutung zukommt.
Die wesentlichste freilich entgeht dem Auge Schillers, die außerordentliche
Kraft nämlich, die er den Alten für die Vollendung der
tragischen Katharsis in die Hand gibt; aber es ist im höchsten Grade
interessant zu beobachten, wie alle Argumente Schillers sich vereinigen,
nach diesem tragischen Hauptziele hin zusammenzuwirken.

1) „Der Chor verwandelt die moderne gemeine Welt in die alte
poetische, weil er (indem er die Fabel in die einfachen Formen des
Lebens zurückversetzt) dem Dichter alles das unbrauchbar macht, was
der Poesie widerstrebt und ihn auf die einfachsten, ursprünglichsten und
naivsten Motive hinauftreibt.“

Jndem er „alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung
des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wiederherstellt, und alles künstliche
Machwerk an dem Menschen und um denselben, das die Erscheinung
seiner innern Natur und seines ursprünglichen Charakters hindert, abzuwerfen“
veranlaßt, übt er einen starken äußeren Zwang aus, die
Komposition der Handlung so einzurichten, wie es ohnehin durch die
Aufgabe der Tragödie verlangt wird: die reinen tragischen Affekte möglichst
unvermischt mit fremden Erregungen und störendem Beiwerk hervorzubringen.


2) „Durch den Chor erhält die Reflexion in der Tragödie ihren
Platz. Soll sie aber diesen Platz verdienen, so muß sie das, was ihr
an sinnlichem Leben fehlt, durch den Vortrag wieder gewinnen.“ „Denn
das Poetische liegt grade in dem Jndifferenzpunkt des Jdeellen und [594]
Sinnlichen.“ „So umgibt der Chor die streng abgemessene Handlung
und die festen Umrisse der handelnden Personen mit einem lyrischen
Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weit gefalteten Purpurgewand,
die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen
Würde und hoher Ruhe bewegen.“ „Er verläßt den engen Kreis der
Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten
und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um
die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der
Weisheit auszusprechen. Aber er thut dieses mit der vollen Macht der
Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen
Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter

einhergeht ─ und er thut es, von der ganzen sinnlichen Macht des
Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.“

Lauter feine Beobachtungen und in bilderreicher Sprache treffend
ausgedrückt! Aber es fehlt ihnen das zusammenhaltende Princip, wodurch
alle diese Funktionen des Chors erst zu einem integrierenden
Teile des tragischen Kunstwerks werden, wodurch zugleich auch das
Wie? und das Warum? derselben gegeben ist. Teilt man dem Chor,
wie Schiller es thut, eben nur die Aufgabe zu mit lyrischer Reflexion die
Handlung zu begleiten und so „das tragische Gedicht von derselben zu
reinigen“, so könnte dieselbe gar leicht zu einem bloßen „Prachtgewande“
werden, zu einer schmuckvollen Zuthat, die auch entbehrlich,
mithin ihrem Wesen nach dem Kunstwerk nicht angehörig wäre. Der
Chor leistet alles das, was Schiller von ihm aussagt, indem er als dem
Handelnden nahestehender und doch von seinem Leiden minder betroffener
Beobachter vorzüglich geeignet ist die durch sein Schicksal in Bewegung
gesetzten Affekte auf das lebhafteste zu teilen, ohne von ihnen doch überwältigt
zu werden. Er ist der natürliche Jnterpret unserer eigenen
Empfindungen diesem Schicksal gegenüber, zugleich berufen sie mächtig
in uns aufzuregen und geschickt ihnen das rechte Maß anzuweisen, daß
wir darüber unsre Freiheit nicht verlieren. Schillers Wort von dem
„Jndifferenzpunkt des Jdeellen und Sinnlichen“ ist sehr glücklich gewählt,
wenn man es dahin deutet, daß auf solche Weise der rohe,
elementare Stoff der tragischen Affekte diejenige absolut
berechtigte Form erhält, in welcher er mit den ideellen
Forderungen des Geistes in vollkommene Harmonie tritt.

Das aber ist nichts als eine andere Formel für das Wesen der tragischen
Katharsis.

3) „Der Chor berechtigt den tragischen Dichter zu einer Erhebung
des Tons, die das Ohr ausfüllt, die den Geist anspannt, die das [595]
ganze Gemüt erweitert. Diese eine Riesengestalt in seinem Bilde nötigt
ihn, alle seine Figuren auf den Kothurn zu stellen und seinem Gemälde
dadurch die tragische Größe zu geben.“

Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument ein rein äußerliches
wird, wenn die „tragische Größe“ der Handlung nicht ohnehin eigen
ist, d. h. mit andern Worten, wenn die Handlung nicht die veranlassenden
Elemente für die großartigen Empfindungsäußerungen des
Chors enthält, d. i. wenn sie nicht auf die Erweckung von Furcht und
Mitleid und die Vollendung ihrer Katharsis angelegt ist.

4) „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er
Ruhe in die Handlung ─ aber die schöne und hohe Ruhe, die der
Charakter eines edlen Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüt des
Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten;
es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter
von den Rührungen scheiden, die es erleidet.“

Wie nahe kommt Schiller mit diesen Worten der Forderung der
tragischen Katharsis! Sie in voller Klarheit zu erkennen, daran hindert
ihn ein Rest seiner früheren Kunsttheorie, der sich in der weiteren
Motivierung bemerkbar macht. Daß der Chor die „Gewalt der Affekte
breche“, sei an ihm nicht zu tadeln, sondern gereiche ihm zur höchsten
Empfehlung; „denn eben diese blinde Gewalt der Affekte ist es, die der
wahre Künstler vermeidet“. Aber anstatt nun den richtigen Affekt
selbst als Wirkungsziel in Aussicht zu nehmen, bleibt er mit seiner
Betrachtungsweise bei nebengeordneten oder mehr äußerlichen Argumenten
stehen: träte der Chor nicht mit seiner Würde dazwischen, „so
würde das Leiden über die Thätigkeit siegen“; „wir würden uns mit
dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben“; „dadurch,
daß er die Teile auseinander hält und zwischen die Passionen
mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit
zurück, die im Sturm der Affekte verloren gehen würde“.

Betreffs der Einheitlichkeit des Chors und seiner dramatischen
Verwendung als Person folgt noch die wichtige Bemerkung, die mit dem
Verfahren der antiken Tragiker in völligem Einklange steht, daß zu
unterscheiden sei, „wo der Chor als wirkliche Person und als blinde
Menge mithandelt“, und „wo er als ideale Person auftritt“ und
„immer eins mit sich selbst“ bleibt. Nur hätte Schiller hinzufügen
können, daß bei den Alten auch diese Unterscheidung eine organische
und gewissermaßen von selbst aus der Hauptaufgabe des Chors hervorgehende
war. Bestand diese letztere darin, einmal je nach dem Bedürfnis
des Stoffes den durch denselben minder stark erregten Affekt [596]
gegen den überwiegenden zu kräftigen, also bald dem Mitleid, bald der
Furcht seine Stimme zu leihen, sodann aber für die Herstellung der
Symmetrie der beiden Affekte sein ganzes Gewicht einzusetzen, hier
gewissermaßen seinen ständigen Posten zu fassen: so war mit dieser doppelten
Aufgabe auch seine doppelte Stellung gegeben, bald inmitten der
Handlung und neben dem Träger des Leidens, in seine Empfindungen
einstimmend, bald als über ihn und über die Gesamthandlung sich erhebend
und so natürlich „für alle Tragödien sich gleich bleibend“, „immer eins
mit sich selbst“, „eine ideale Person“.

Trotz dieser Schwankungen der Theorie, durch die Schiller sich
wohl hat bestimmen lassen die Betrachtungen des Chors mitunter zu
weit ins allgemein Sententiöse zu leiten, ist aus diesen Erwägungen
eine Tragödie hervorgegangen, welche in allem Wesentlichen genau den
Forderungen der aristotelischen Definition entspricht. Es dürfte kein
Stück gefunden werden, das dem Vorbild des Sophokleischen Ödipus
so nahe kommt als Schillers „Braut von Messina“.

Die Handlung ist wie dort eine verwickelte, sie beruht auf Erkennung
und damit verbundener Peripetie. Die Erkennung betrifft den
Personenstand, setzt also eine Verheimlichung desselben voraus und
verlegt damit den eigentlichen Anlaß des furchtbaren Geschehnisses in
die Vorgeschichte der Handlung. Hier wie dort ist aus einer Übelthat
ein Fluch für die nachfolgenden Generationen hervorgegangen, der durch
den Versuch der Umgehung in furchtbarer Peripetie gerade erfüllt wird.
Sophokles erwähnt den Frevel des Laïos nicht, weil er die Kenntnis
der Sage1 bei seinen Zuschauern voraussetzte, und weil er ohnehin sicher
sein konnte, daß sie einen Orakelspruch, wie er Laïos zu teil geworden
war, schon an sich nicht anders auffassen konnten als infolge einer
schweren Verletzung der göttlichen Ordnungen ergangen. Dagegen
war es für Schiller unumgänglich geboten, den die Grundlagen seines
Stückes bedingenden Teil der Vorgeschichte, die Frevelthat des „alten
Fürsten“, wiederholt und nachdrücklich zu erwähnen. Das Stärkste sagt [597]
Jsabella selbst unmittelbar nach dem Eintritt der Katastrophe am
Schlusse des fünften Auftritts des vierten Aktes:


Komm, meine Tochter! Hier ist unsers Bleibens

Nicht mehr ─ den Rachegeistern überlass' ich

Dies Haus. ─ Ein Frevel führte mich herein,

Ein Frevel treibt mich aus. ─ Mit Widerwillen

Hab' ich's betreten und mit Furcht bewohnt,

Und in Verzweiflung räum' ich's. ─ Alles dies

Erleid' ich schuldlos; doch bei Ehren bleiben

Die Orakel, und gerettet sind die Götter.

Aber schon am Schlusse des ersten Aufzuges hat der Chor über
den verborgenen Grund des im Fürstenhause heimischen Unglücks genauen
Aufschluß gegeben, da er den heimlichen Bund Manuels mit
Beatrice und den Raub derselben durch ihn in ahnungsvollem Ernste
mißbilligt:


Nicht Wahrsagung reden soll mein Mund;

Aber sehr mißfällt mir dies Geheime,

Dieser Ehe segenloser Bund,

Diese lichtscheu krummen Liebespfade,

Dieses Klosterraubs verwegne That;

Denn das Gute liebt sich das Gerade,

Böse Früchte trägt die böse Saat.
Auch ein Raub war's, wie wir alle wissen,

Der des alten Fürsten ehliches Gemahl

Jn ein frevelnd Ehebett gerissen,

Denn sie war des Vaters Wahl.

Und der Ahnherr schüttelte im Zorne

Grauenvoller Flüche schrecklichen Samen

Auf das sündige Ehebett aus.

Greuelthaten ohne Namen,

Schwarze Verbrechen verbirgt dies Haus.
Ja, es hat nicht gut begonnen,

Glaubt mir, und es endet nicht gut;

Denn gebüßt wird unter der Sonnen

Jede That der verblendeten Wut.

Es ist kein Zufall und blindes Los,

Daß die Brüder sich wütend selbst zerstören;

Denn verflucht ward der Mutter Schoß,

Sie sollte den Haß und den Streit gebären.

─ Aber ich will es schweigend verhüllen,

Denn die Rachegötter schaffen im stillen;

Zeit ist's die Unfälle zu beweinen,

Wenn sie nahen und wirklich erscheinen.
[598]

Dunkle Wendungen von dem „unbekannt verhängnisvollen Samen,
aus dem der unselige Bruderhaß emporwuchs“, von „der unregiersam
stärkeren Götterhand, die dieses Hauses Schicksal dunkel spinnt“,
von dem „eigenen freien Weg, den das Verhängnis mit ihm geht“,
„dem alten Fluch, der lastend auf ihm ruht“ durchziehen das ganze
Stück.

Damit ist die wesentlichste Voraussetzung für die tragische Handlung
gewonnen: ein furchtbares Schicksal kann sich hier entwickeln ohne
Verschulden der Betroffenen. Für die weitere Exposition machte Schiller
von den „symbolischen“ Mitteln, deren hohen Wert er nach den obigen
Citaten so wohl erkannte, einen freien Gebrauch. Träume und Orakel
spielen ihre bewährte Rolle als die poetischen Verkörperungen einerseits
der unruhig fürchtenden Ahnung, andererseits der im voraus sich ankündigenden
Vergeltung. So tief hatte Schiller sich in die hier geltende
specifische Anschauungsweise der antiken Tragödie eingelebt, daß er in
dem lebendigen Gefühl ihrer allgemein menschlichen Wahrheit es für
ein poetisches Grundrecht erklärt, unbekümmert um die Verschiedenheiten
des Glaubens und der Sitte, diese Formen auf alle Zeiten und
Völker zu übertragen. Denn es ist die große sittlich=religiöse Jdee der
tragischen Weltanschauung der Griechen, auf die das Schlußwort der
dem Stück vorausgeschickten Abhandlung zielt ─ es handelt sich darum
die Freiheit zu entschuldigen, mit der er griechische, maurische und christliche
Religionsanschauungen in dem Stücke vermischt habe ─: „Und
dann halte ich es für ein Recht der Poesie, die verschiedenen Religionen
als ein kollektives Ganze für die Einbildungskraft zu behandeln, in
welchem alles, was einen eigenen Charakter trägt, eine eigene Empfindungsweise
ausdrückt, seine Stelle findet. Unter der Hülle aller Religionen
liegt die Religion selbst, die Jdee eines Göttlichen, und es muß
dem Dichter erlaubt sein, dieses auszusprechen, in welcher Form er es
jedesmal am bequemsten und am treffendsten findet.“ Es kann kein
Zweifel darüber bestehen, daß für das hier in Frage kommende Gebiet
des sittlich=religiösen Gefühls eine „bequemere und treffendere“ poetische
Form nicht erdacht werden kann, als die in der griechischen Tragödie
ausgebildete: was in den andern Religionen als Aberglaube, phantastische
Abirrung nur zeitweise und bedingte Geltung hat, im besten Falle doch
nur nebenher geduldet wird, steht dort da mit der ganzen Autorität des
höchsten göttlichen Waltens umkleidet, ein Ausfluß seines innersten
Wesens. Daher wirkt bei den Griechen auch Zweifel oder gar entschiedener
Unglaube und Ungehorsam den Orakeln der Götter gegenüber
als stärkste Jmpietät unmittelbar auf die Empfindung, während die [599]
Übertragung solcher Vorgänge auf andere Religionsgebiete die gewünschte
Wirkung nur erst erzielt, wenn wir mit einer Art bewußter Selbsttäuschung
die in der griechischen Tragödie geläufige Vorstellungsweise darauf anwenden.
Schiller macht von diesem Mittel in der „Braut“ mit größter
Meisterschaft Gebrauch, und wieder ist es der Chor, der ihm zum Gelingen
hilft. Das wäre aber nicht möglich, selbst bei den klassisch Gebildeten
nicht, um wieviel weniger bei den mit den Griechen Unbefreundeten,
wenn in diesen Formen nicht eine allgemein menschliche, unmittelbar
bezwingende Wirkung läge.

Das Geheimnis dieser Wirkung ist das Geheimnis der Tragödie:
es ist die Macht dieser Formen über die Erregung der Furcht=
Empfindungen und ihre Kraft dieselben kathartisch zu läutern.

Daher auch der Umstand, daß der Chor wie von selbst sich als
ihr Träger einstellt. Jedes Wort zur Begründung dieser Sätze ist zugleich
ein Argument zur Erklärung des Baues der Tragödie.

Deswegen also gehört die „Braut von Messina“ zu den nach
Aristoteles am vollkommensten angelegten Tragödien, zu der Gattung
der verwickelten, auf Erkennung und Peripetie basierten Handlungen,
weil mit dieser Anlage die Furcht vor dem durch die Vorgeschichte
bedingten schweren Schicksal von vornherein gegeben ist. Diese Furcht,
insofern sie dem Einzelnen seine unbedingte Abhängigkeit von ganz
außerhalb seiner Willenssphäre liegenden, schon vor seiner Geburt endgültig
festgestellten Faktoren vorstellig macht, ist uneingeschränkter Verallgemeinerung
fähig; sie erhält dieselbe, wenn die Ausgestaltung der
Handlung die irrende Schwäche der Menschen, die das Geschick auf ihre
Weise bezwingen will, gerade als die Vollenderin desselben zeigt. Das
wären die Elemente die tragische Furcht zu stärkster Aktion zu
bringen: die Katharsis aber muß von einer andern Seite
kommen!

Ohne dieselbe wäre die „Braut von Messina“, wie man sie
oft gescholten hat, eine Schicksalstragödie im tadelnden Sinne des
Wortes; sie wäre das, was Schiller früher irrtümlich in der griechischen
Tragödie erblickt hatte, eine Darstellung dunklen Verhängnisses,
von blinder Notwendigkeit regiert. Schiller aber hat, ohne die Aufgabe
sich mit theoretischem Bewußtsein gestellt zu haben, allein durch
seinen Genius und die getreue Beobachtung der Alten geführt diese
Aufgabe in würdigster Weise gelöst. Die gewählte Form in ihrem
engen Anschlusse an die Antike erleichterte ihm dies Gelingen in
hohem Grade.

Er hat es von Sophokles und Äschylus gelernt, den Fluch der [600]
Vorgeschichte seines Stücks unausgesetzt über dem Ganzen schwebend zu
zeigen und doch nun nicht etwa von dorther mechanisch das Verderbliche
hereinbrechen zu lassen, sondern dessen ursächliche Begründung mit
sorgfältigstem Bedacht aus der Hamartie der Handelnden herzuleiten.
Jäher Zorn, leidenschaftlich rascher Sinn (der θυμὸς ὀξύς) und die
so gern sich ihnen als Begleiterin zugesellt, die Heimlichkeit, das sind
die verhängnisvollen Wirkungen des Fluchs, Wirkungen, die in dem
freien Willen der Handelnden ihr Korrektiv finden könnten und die
ohne dasselbe als Jrrtümer und Fehler der Handelnden sich darstellen.
Sie entziehen ihnen nichts von der Achtung, auf der unser tiefes
Mitleid
mit ihnen beruht, wir sehen sie unverschuldet leiden, aber
ihr Leiden erfüllt uns nicht mehr mit dem grauenvollen Entsetzen vor
grausamer Willkür eines unbegreiflichen Fatums, sondern wir erkennen
seinen Zusammenhang und fürchten das Schicksal, dessen hohe Gesetzlichkeit
wir verehren.

Jn dem frevelhaft geschlossenen Ehebund Jsabellas fehlte das Vertrauen;
dem aus Gewissensangst entsprungenen grausamen Befehl des
Gatten die neugeborene Tochter zu töten, setzt sie Täuschung und eine
für das ganze Leben dauernde Verstellung entgegen, die ihr mehr und
mehr den Gemahl entfremden:


Der von des Argwohns ruheloser Pein

Und finster grübelndem Verdacht genagt

Auf allen Schritten ihr die Späher pflanzte.

Dieser Sinn ist auf den erstgeborenen Sohn übergegangen, der,
wie der Vater, „von jeher es liebte, sich verborgen in sich selbst zu
spinnen und den Ratschluß zu bewahren im unzugangbar fest verschlossenen
Gemüte!“ Vor allem aber ist „aus diesem verhängnisvollen
Samen der unsel'ge Bruderhaß emporgewachsen“, der den Boden bildet,
auf dem allein die Handlung sich so ereignen kann.

Diesen Verhältnissen entstammen die Äußerungen banger Furcht,
mit denen der Chor gleich bei seinem ersten Auftreten sein Lied beschließt:


Ungleich verteilt sind des Lebens Güter

Unter der Menschen flücht'gem Geschlecht;

Aber die Natur, sie ist ewig gerecht.

Uns verlieh sie das Mark und die Fülle,

Die sich immer erneuend erschafft;

Jenen ward der gewaltige Wille

Und die unzerbrechliche Kraft.

Mit der furchtbaren Stärke gerüstet
[601]
Führen sie aus, was dem Herzen gelüstet,

Füllen die Erde mit mächtigem Schall;

Aber hinter den großen Höhen

Folgt auch der tiefe, der donnernde Fall.

Darum lob' ich mir niedrig zu stehen,

Mich verbergend in meiner Schwäche. ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─

Die fremden Eroberer kommen und gehen;

Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen.

„Schwere Thaten, des Argwohns und der Rache Kinder“ sind in
dem Bruderstreite geschehen, und noch stehen die beiden unerweicht den
Bitten der Mutter gegenüber, aus deren flammenden Worten sich wohl
erkennen läßt, woher jenen der rasch zum äußersten emporlodernde Sinn
gekommen ist. Da kommt ebenso rasch und unvermutet die Versöhnung;
sehr bald entdeckt sich die Quelle der plötzlichen Wandlung und Erweichung
der Geister: es ist die erhöhende, zu edler Hingabe stimmende
Kraft einer jede andere Regung überwindenden Liebesleidenschaft, die
beide Brüder zugleich ergriffen hat, von beiden bisher sorgfältig geheim
gehalten. Und gleich hier tritt die Hamartie des älteren der Brüder,
Don Manuels, in ihrer ganzen verhängnisvollen Stärke hervor. Der
Raub Beatricens wäre wahrlich mit sehr schwächlichen Gründen motiviert,
wenn nicht die Schwäche dieser Motivierung ihre Stärke wäre:
wenn sie nicht vom Dichter bestimmt wäre den vorschnellen Eigenwillen
auch dieses, sonst so edel entworfenen Charakters in seiner ganzen rücksichtslosen
Gewaltthätigkeit zu zeigen. Der nächste Tag soll Beatrice den
Jhren zurückgeben, einer von ihr nur einmal in frühster Kindheit erblickten,
dennoch über alles verehrten und geliebten Mutter, ihr
„Schicksal soll sich entscheidend lösen“: aber weil „jeder Wechsel den
Glücklichen schreckt, wo Gewinn nicht zu hoffen, Verlust zu fürchten ist“,
reißt er sie „verwegen räuberisch“ aus ihrem Zufluchtsort, um sie vor
allem sich zu gewinnen. Und dieselbe Hamartie in Beatricens Entschluß
ihm zu folgen; derselbe Sinn, der diesem ganzen Geschlecht innewohnt,
dem die eigene Leidenschaftlichkeit als ein Verhängnis gilt, gegen das
es kein Widerstreben gibt!


Wo waren die Sinne?

Was hab' ich gethan?

Ergriff mich bethörend

Ein rasender Wahn?

Den Schleier zerriß ich

Jungfräulicher Zucht,

Die Pforten durchbrach ich der heiligen Zelle!
[602]
Umstrickte mich blendend ein Zauber der Hölle?

Dem Manne folgt' ich,

Dem kühnen Entführer, in sträflicher Flucht.

Und weiter dann:


Vergib, du Herrliche, die mich geboren,

Daß ich, vorgreifend den verhängten Stunden,

Mir eigenmächtig mein Geschick erkoren.

Nicht frei erwählt' ich's, es hat mich gefunden;

Eindringt der Gott auch zu verschlossnen Thoren;

Zu Perseus' Turm hat er den Weg gefunden,

Dem Dämon ist sein Opfer unverloren.

Wär' es an öde Klippen angebunden

Und an des Atlas himmeltragende Säulen,

So wird sein Flügelroß es dort ereilen.

Das ist es, was am Schlusse des ersten Aktes zu jenem mächtigen,
die Furcht im tiefsten Jnnern aufregenden Chorgesange bewegt, der schon
oben citiert wurde.


Aber nicht bloß im Wellenreiche

Auf der wogenden Meeresflut,

Auch auf der Erde, so fest sie ruht

Auf den ewigen alten Säulen,

Wanket das Glück und will nicht weilen.

Und dann weiter die Ahnung, daß aus dieser Heimlichkeit, diesem
segenlosen Bund, diesen lichtscheu krummen Pfaden böse Saat aufgehen
müsse, und der bange Hinweis auf den alten Fluch des Hauses.

Doppelter Ungehorsam gegen das Gebot der Mutter und gegen das
des Geliebten ─ auch sie schreibt die Schuld den Sternen zu: „doch
weiß ich nicht, welch bösen Sternes Macht mich trieb mit unbezwinglichen
Gelüsten“ ─ hat Beatrice den Blicken Don Cesars ausgesetzt und
seine noch heißere, noch dringendere, noch gewaltsamer jedes Hindernis
aus dem Wege schleudernde Leidenschaft erweckt.

Wenn nun in der folgenden Entwickelung die immerfort sich näher
zudrängende Erkennung fast überkünstlich immer wieder hinausgeschoben
wird, so ist auch hierin nicht eine Schwäche der Dichtung zu sehen,
sondern das Ergebnis berechneter Charakteristik: hier ist jeder nur der
eigenen Leidenschaft hingegeben, so ausschließlich, daß er blind und taub
für alles ist, was dem despotischen Wunsch dieser Leidenschaft nicht
schmeichelnd sich fügt. Das ist die eigentliche und rechte Art, um dem
verderblichen Schicksal die breite Bahn zu ebnen, und in Jsabellas
Worten ist dafür der klassische Ausdruck gefunden:

[603]
Den eignen freien Weg, ich seh' es wohl,

Will das Verhängnis gehn mit meinen Kindern.

Vom Berge stürzt der ungeheure Strom,

Wühlt sich sein Bette selbst und bricht sich Bahn;

Nicht des gemessnen Pfades achtet er,

Den ihm die Klugheit vorbedächtig baut.

So unterwerf' ich mich, wie kann ich's ändern?

Der unregiersam stärkern Götterhand,

Die meines Hauses Schicksal dunkel spinnt.

Hier setzt nun voll und voller die lang vorbereitete Mitleid-Empfindung
ein, da immer dunkler die drohenden Wolken um die hoheitsvolle
edle Mutter und ihre hochherzigen Kinder sich zusammenziehen.
Voll berechtigt erscheint ihr Anspruch auf reichste Entfaltung eines herrlichen
Glückes, gering nur ihr Fehl und doch unvermeidlich ein nahe
bevorstehender jäher Sturz. So klagen und bangen wir mit der Fürstin
─ denn diese Furcht für die handelnden Personen ist nur eine Art
des Mitleids ─:


Wann endlich wird der alte Fluch sich lösen,

Der über diesem Hause lastend ruht?

Mit meiner Hoffnung spielt ein tückisch Wesen,

Und nimmer stillt sich seines Neides Wut.

So nahe glaubt' ich mich dem sichern Hafen,

So fest vertraut' ich auf des Glückes Pfand,

Und alle Stürme glaubt' ich eingeschlafen,

Und freudig winkend sah ich schon das Land

Jm Abendglanz der Sonne sich erhellen:

Da kommt ein Sturm, aus heitrer Luft gesandt,

Und reißt mich wieder in den Kampf der Wellen!

Und nun die entsetzliche Katastrophe! und am Schlusse des Aktes
dann der großartige Chorgesang, der an Tiefe und Macht der gleichmäßig
ihn durchströmenden Furcht- und Mitleids-Darstellung sich dem
Erhabensten, das uns von den Griechen überkommen ist, an die Seite
stellt. Es müßte das ganze, unvergleichlich reiche Lied citiert werden,
um zu zeigen, wie hier die beiden Affekte unablässig sich ablösen, um
sich gegenseitig zu vertiefen und zu klären, gleichsam in wechselseitigem
Gegenstreben nach dem gemeinsamen Gleichgewicht suchend. Über dem
Schmerz um den Toten, über dem Jammer mit den Überlebenden,
über dem schmerzlichen Gefühl der menschlichen Gebrechlichkeit ─ „Was
sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, die der Mensch, der flüchtige
Sohn der Stunde, aufbaut auf dem betrüglichen Grunde?“ ─ erhebt
sich der Schauer der Verehrung vor der Majestät der ewigen göttlichen [604]
Ordnung: „Drunten aber im Tiefen sitzen lichtlos, ohne Gesang und
Sprache, der Themis Töchter, die nie vergessen, die Untrüglichen, die
mit Gerechtigkeit messen!“ Und weiter: „Nichts ist verloren und verschwunden,
was die geheimnisvoll waltenden Stunden in den dunkel
schaffenden Schoß aufnahmen ─ die Zeit ist eine blühende Flur, ein
großes Lebendiges ist die Natur, und alles ist Frucht, und
alles ist Samen.

Zu spät erfolgt die Erkennung. Zum zerschmetternden Schlage
hat sich gewandelt, was ein ringsum segenverbreitendes Glück hätte
werden können. Das Unheil ist geschehen, das nicht mehr gut zu machen
ist; es bleibt nur die Aussicht auf noch weiteres Leid und auf ein Leben
voll Schmerz und Entsagung. Hier tritt der Chor mit der ganzen
kathartischen „Heilungskraft“ auf, deren die tragische Kunst fähig ist
und für die sie kein annähernd so mächtiges Organ besitzt als eben ihn.
Die Furcht und mit ihr das Mitleid hebt er hoch empor über die Enge
des schrecklichen Einzelfalles zu dem unmittelbaren Anschauen der ewigen
Gesetze, denen alles Menschenlos gleichmäßig unterworfen ist: wahrlich
nicht um von Furcht und Mitleid die Herzen der tief ergriffenen Zuschauer
zu entladen, sondern um sie gleichsam zu dem reinen Akkord
der rechten Schicksalsempfindungen
zu stimmen!


Durch die Straßen der Städte,

Von Jammer gefolget,

Schreitet das Unglück ─

Lauernd umschleicht es

Die Häuser der Menschen,

Heute an dieser

Pforte pocht es,

Morgen an jener,

Aber noch keinen hat es verschont.

Die unerwünschte

Schmerzliche Botschaft

Früher oder später

Bestellt es an jeder

Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt.
Wenn die Blätter fallen

Jn des Jahres Kreise,

Wenn zum Grabe wallen

Entnervte Greise,

Da gehorcht die Natur

Ruhig nur

Jhrem alten Gesetze,

Jhrem ewigen Brauch,

Da ist nichts, was den Menschen entsetze!
[605]
Aber das Ungeheure auch

Lerne erwarten im irdischen Leben!

Mit gewaltsamer Hand

Löset der Mord auch das heiligste Band;

Jn sein stygisches Boot

Raffet der Tod

Auch der Jugend blühendes Leben!
Wenn die Wolken getürmt den Himmel schwärzen,

Wenn dumpftosend der Donner hallt,

Da, da fühlen sich alle Herzen

Jn des furchtbaren Schicksals Gewalt.

Aber auch aus entwölkter Höhe

Kann der zündende Donner schlagen;

Darum in deinen fröhlichen Tagen

Fürchte des Unglücks tückische Nähe!

Nicht an die Güter hänge dein Herz,

Die das Leben vergänglich zieren!

Wer besitzt, der lerne verlieren;

Wer im Glück ist, der lerne den Schmerz!

Was wäre da noch hinzuzufügen! Das ist die Katharsis, das
ist Wesen und Jnhalt der tragischen Wirkung, wenn es überhaupt eine
gibt, und so hat Aristoteles das ἔργον τραγῳδίας verstanden.

Aber es bleibt dem Dichter noch die große und schwerste Aufgabe,
sie an seinen Personen durchzuführen. Sie ist es, die für jede Tragödie,
die des Namens würdig sein soll, den Aufbau des Schlußaktes zu bestimmen
hat. Auch hierin ist Schillers „Braut von Messina“ ein unübertroffenes
Muster. Ehe der stolze, ungestüme Sinn sich beugt, schwillt
er zum Übermaß. Die verzweifelnde Mutter hat nur wilde Flüche
für den Mörder des Sohnes und bitteren verachtenden Hohn für jede
Form, in der ein frommer Glaube auf irgend welche gerechte Leitung
des Schicksals vertraut: „Lernt die Lügen kennen, womit die Träume
uns, die Seher täuschen! Glaube noch einer an der Götter Mund!“
„Die Kunst der Seher ist ein eitles Nichts; Betrüger sind sie, oder sind
betrogen. Nichts Wahres läßt sich von der Zukunft wissen, du schöpfest
drunten an der Hölle Flüssen, du schöpfest droben an dem Quell des
Lichts.“ Und darauf der Chor:


Weh! Wehe! Was sagst du? Halt ein, halt ein!

Bezähme der Zunge verwegenes Toben!

Die Orakel sehen und treffen ein;

Der Ausgang wird die Wahrhaftigen loben.

Der Eindruck ist ja immerhin ein starker durch den bloßen Gegensatz
jenes eifernden Unglaubens gegen die schreckliche Gewißheit des Zu= [606]
schauers, daß „die Orakel“ recht haben. Dennoch macht sich hier am
stärksten der oben schon erwähnte Umstand geltend, daß dieser Unglaube
an sich für das moderne Bewußtsein nichts Verletzendes hat, wie bei
den Alten, und daß auch in der historischen Atmosphäre des Stückes
er nicht als Gotteslästerung empfunden werden kann. Diese schwache
Stelle hat der Dichter wohl bemerkt; er hat daher Sorge getragen, der
Verzweiflung Jsabellas denjenigen ganz allgemeinen Ausdruck zu leihen,
der Gültigkeit hat für alle Zeiten:


Nicht zähmen will ich meine Zunge, laut

Wie mir das Herz gebietet, will ich reden.

Warum besuchen wir die heil'gen Häuser

Und heben zu dem Himmel fromme Hände?

Gutmüt'ge Thoren, was gewinnen wir

Mit unserm Glauben? So unmöglich ist's,

Die Götter, die hochwohnenden, zu treffen,

Als in den Mond mit einem Pfeil zu schießen.

Vermauert ist dem Sterblichen die Zukunft,

Und kein Gebet durchbohrt den eh'rnen Himmel,

Ob rechts die Vögel fliegen oder links,

Die Sterne so sich oder anders fügen,

Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur,

Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen.

Und der Chor:


Halt ein, Unglückliche! Wehe! Wehe!

Du leugnest der Sonne leuchtendes Licht

Mit blinden Augen! Die Götter leben,

Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben!

Dann folgt der letzte schlimmste Schlag, die Erkennung, die das
Gräßliche enthüllt. Sie weiß nun, daß der überlebende Sohn der
Mörder des toten ist, und daß ihre Heimlichkeit „all dies Gräßliche verschuldet“
hat.


Wie die Seher verkündet, so ist es gekommen;

Denn noch niemand entfloh dem verhängten Geschick.

Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden,

Der muß es selber erbauend vollenden.

Die Peripetie hat sich vollzogen. Sie treibt die Verblendete zu dem
letzten Schritt, der noch übrig bleibt, um auch das noch dem Verderben
zu weihen, was ihr an Glück geblieben ist. Jn jener äußersten Verzweiflung,
die keine Furcht mehr kennt, sagt sie sich von dem Sohne
los, „der ihr den bessern Sohn zu Tode stach“:

[607]
Was kümmert's mich noch, ob die Götter sich

Als Lügner zeigen, oder sich als wahr

Bestätigen? Mir haben sie das Ärgste

Gethan. ─ Trotz biet' ich ihnen, mich noch härter

Zu treffen, als sie trafen. ─ Wer für nichts mehr

Zu zittern hat, der fürchtet sie nicht mehr.

Und weiter bis zu dem oben schon citierten Schluß:


Alles dies

Erleid' ich schuldlos; doch bei Ehren bleiben

Die Orakel, und gerettet sind die Götter.

Schuldlos leidet sie und leiden die Jhren; und nur das schuldlose
Leiden ist das Tragische. Die Fehler, die das Leiden auf die so
furchtbar Betroffenen herabziehen, sind das verhängnisvolle Erbteil ihres
Hauses; in ihnen und in den Umständen, durch die sie so verderblich
werden, liegt der Fluch, unter dem sie leiden: aus beiden zusammen
webt sich ihr tragisches Geschick. Wieder gibt der Chor diesem Verhältnis
den schlagenden Ausdruck, wenn er gegenüber der gefährlichen Größe
sich die bescheidene Einfalt und die Sicherheit des einfachen Naturlebens
erwählt:


Wohl dem, selig muß ich ihn preisen,

Der in der Stille der ländlichen Flur,

Fern von des Lebens verworrenen Kreisen,

Kindlich liegt an der Brust der Natur!

Denn das Herz wird mir schwer in der Fürsten Palästen,

Wenn ich herab vom Gipfel des Glücks

Stürzen sehe die Höchsten, die Besten

Jn der Schnelle des Augenblicks!

Und weiter hin bis zu jenem oft citierten Schlusse, der als der
Gipfel der „sentimentalen“ Anschauungsweise angesehen wird, während
er doch in Wahrheit nur auf die Lösung des Tragischen hinweist,
die allein in der Einfalt reinen, gesunden Empfindens gefunden
werden kann:


Nur in bestimmter Höhe ziehet

Das Verbrechen hin und das Ungemach,

Wie die Pest die erhabenen Orte fliehet;

Dem Qualm der Städte wälzt es sich nach.
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte

Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;

Die Welt ist vollkommen überall,

Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.
[608]

Dem strengen Gesetz der Furchtempfindung ist volles Genüge geschehen:
aber nicht mit dem Eindruck starrer Gesetzlichkeit darf uns die
Tragödie entlassen. Mit der wunderbar schmelzenden Kraft der reinen
Schönheit machen die letzten Scenen den reichen Quell des Mitleids
fließen, das von der Furcht geläutert, ihr innig vermählt, nicht
länger als der „trübe Strom des Jammers“ wild daherrauscht, sondern
das von selbst sein rechtes Bette findet, in welchem es tief und ruhig
strömend sich ergießt. Jn diesen wundervollen Scenen tritt die reine
Schönheit
uns entgegen, denn hier haben alle handelnden Personen
die echte und rechte Katharsis schon in sich erfahren, was sie sprechen und
thun, ist das Ergebnis dieser im tiefsten Jnnern durchlebten Läuterung,
Reinigung, Entsühnung. Hier endlich sind die Leidenschaften ausgeglichen,
und nur die sanfte Stimme reiner, edler Menschlichkeit läßt sich
vernehmen. Doch das rührende Flehen der versöhnten Mutter, die ergreifende
Bitte der liebenden Schwester vermögen das Opfer nicht aufzuhalten,
das der Bruder dem gemordeten Bruder schuldet. Sie können
den festen, klaren Entschluß nicht aufheben, aber sie nehmen ihm die
Bitterkeit: in der erhabenen Ruhe, mit der Don Cesar die Selbstopferung
beschließt, in der fast freudigen Verklärung, in der er dazu schreitet,
liegt schon die Sühnung seiner That. Der Tod drückt nur das letzte
Siegel darauf.

Jn grandioser Einfachheit ertönen in dem Schlußgesang des Chors
wieder die beiden tragischen Grundempfindungen, beide nun zu einem
einzigen, untrennbaren, reinen Klange verschmolzen:


Erschüttert steh' ich, weiß nicht, ob ich ihn

Bejammern, oder preisen soll sein Los.

Dies eine fühl' ich und erkenn' es klar:

Das Leben ist der Güter höchstes nicht,

Der Übel größtes aber ist die Schuld.

Der müßte diese Tragödie schlecht verstanden, noch weniger aber
sie empfunden haben, der hier bei dem Worte der Schuld an das
Verbrechen denken wollte, das seine Strafe gefunden hat: der nicht vielmehr
empfände, wie in diesem einen Worte sich die Gesamtbezeichnung
für die ganze Last zusammendrängt, mit der Schwäche, Verfehlung und
Verwirrnis der Seele auf das menschliche Leben drückt, für alle jene
tausendfachen Gespinste, aus denen in dem Gewebe des Schicksals sich
der überall durchgehende Faden des Unheils zusammenschlingt. Unbehindert
bleibt keiner von diesen verhängnisvollen Fäden: wohl dem,
um den das Schicksal sie nicht so gefahrbringend durchkreuzt hat, daß [609]
ein unsicherer Tritt ihn in ihrem Netze rettungslos verstrickt. Schuldlos
verfiele er so jenem „größten Übel“, der großen, allgemeinen
Schuld des menschlichen Geschlechtes,
ein tragischer Gegenstand
zugleich unseres Mitleids und unserer Furcht!
──────


XXIX.

Faßt man alles in eins zusammen: so ist es die völlige Übereinstimmung
mit dem Gesetz und dem Bau der antiken Tragödie, wodurch
„die Braut von Messina“ ihrem Dichter selbst bei ihrer Aufführung
„zum erstenmal den Eindruck einer wahren Tragödie“ verschaffte und
wodurch Goethe „den theatralischen Boden zu etwas Höherem eingeweiht“
hielt. Es tritt in diesem Stück das Grundwesen des Tragischen
mit derselben Klarheit und in derselben Einfachheit zu Tage wie bei
den großen Alten, unverhüllt durch das reiche Beiwerk, wodurch in der
modernen Tragödie der Blick so leicht irre geführt wird. Daß es aber
trotz reichster, kunstvollster Ausführung in seinem Kerne unverändert
dasselbe bleibt, mag zum Schlusse durch eine Vergleichung der Art und
Weise gezeigt werden, wie die drei großen Tragiker des Altertums und
der größe Tragiker der modernen Zeit ein und dasselbe tragische Problem
behandelt haben.

Es ist unter allen tragischen Motiven das tragischte: schwere
Schuld der Mutter,
die nicht anders gesühnt werden kann als
durch die rächende That des Sohnes! Es ist die tragische Fabel
der Orestie, die Äschylus in den „Choephoren“ und „Eumeniden“,
Sophokles und Euripides in ihrer „Elektra“ behandelt haben; derselbe
Stoff liegt Shakespeares „Hamlet“ zu Grunde.

Diese Vergleichung bietet eine Fülle der interessantesten Gesichtspunkte;
doch gilt es hier nur die eine Frage ins Auge zu fassen: wie
hat jeder dieser Dichter dem Stoff die tragische Wirkung abgewonnen?


Das frevelhaft vergossene Blut verlangt zur Sühne das Blut des
Mörders: diese uralte, ursprünglich allen Völkern gemeinsame Anschauung
verliert selbst in Zeiten, in denen das bürgerliche Gesetz herrschend geworden
ist, niemals ihre Kraft völlig. Gibt es doch sogar noch bei
uns viel umstrittene Grenzgebiete, in denen die blutige Selbsthülfe sich
unausrottbar behauptet. Jn den großen Verhältnissen jedoch, wo das
bürgerliche Gesetz seine Kraft verliert, wo zwingende übermächtige Rücksichten
dennoch Herstellung des Rechtes, Ausgleichung des Frevels ge= [610]
bieten, bleibt die Frage für alle Zeiten eine offene, immer wieder neu
zu lösende. Solche Größe der Verhältnisse, wo eben die einfache Entscheidung
auf gesetzlichem Wege als von vornherein gegeben nicht der
Handlung ihren Verlauf zwangsweise vorschreibt, ist das Feld für die
tragischen Handlungen. Jst nun hier der Handelnde durch die Schuld
der vorangegangenen Geschlechter belastet, wird ihm durch die Umstände
die Aufgabe zugewiesen diese Schuld zu sühnen, sie an den ihm zunächst
stehenden Blutsverwandten gewaltsam, blutig zu sühnen, so stellt eine
solche Handlung den Gipfel des Tragischen dar. Aber jeder dieser Fälle
bietet der Auffassung die verschiedensten Seiten dar, er läßt die mannigfaltigste
dramatische Behandlung zu; und so haben denn auch die genannten
Tragiker ihre Aufgabe in der denkbar verschiedensten Weise gelöst.

Äschylus und Sophokles haben den Stoff in seinem tiefsten Grunde
erfaßt und, indem sie völlig getrennte Wege einschlagen, beide ihn zu
grandioser tragischer Wirkung gebracht; das Stück des Euripides gibt
nur Veranlassung zu zeigen, was alles er an dem großartigen Stoff
verdorben hat. Die handgreiflichen Fehler dieser seltsamen Komposition
sind so grotesk, daß trotz des durchgehenden Ernstes der Behandlung
man an vielen Stellen immer wieder aufs neue versucht wird fast an
absichtliche Parodierung zu glauben. Mit nicht allzugroßen Änderungen
könnte aus dem Stück eine parodische Komödie gemacht werden.1

Sehr treffend urteilt Goethe in einem Brief an Zelter (28. Juli
1803) über den Chor und zugleich über die Epochen der griechischen [611]
Tragödie: „Jn der griechischen Tragödie zeigt sich der Chor in vier
Epochen.“

„Jn der ersten treten zwischen dem Gesang, in welchem Götter
und Helden erhoben, Genealogien, große Thaten, ungeheure Schicksale
vor die Phantasie gebracht werden, wenige Personen auf und rufen
das Vergangene in die Gegenwart. Hiervon findet sich ein annäherndes
Beispiel in den „Sieben vor Theben“, von Äschylus. Dieses
wären also die Anfänge der dramatischen Kunst, der alte Stil.“

„Die zweite Epoche zeigt uns die Masse des Chors als mystische
Hauptperson des Stückes; wie in den „Eumeniden“ und „Bittenden“.
Hier bin ich geneigt, den hohen Stil zu finden. Der Chor ist selbständig,
auf ihm ruht das Jnteresse, es ist, möchte man sagen, die republikanische
Zeit der dramatischen Kunst, die Herrscher und Götter sind
nur begleitende Personen.“

„Jn der dritten Epoche wird der Chor begleitend, das Jnteresse
wirft sich auf die Familien und ihre jedesmaligen Glieder und Häupter,
mit deren Schicksalen das Schicksal des umgebenden Volks nur lose
verbunden ist. Der Chor ist untergeordnet, und die Figuren der Fürsten
und Helden treten in ihrer abgeschlossenen Herrlichkeit hervor. Hier
möchte ich den schönen Stil finden. Die Stücke des Sophokles stehen
auf dieser Stufe. (Hierzu wäre freilich zu bemerken, daß in der Mehrzahl
der uns erhaltenen Stücke auch Äschylus sich auf dieser Stufe
zeigt, was wohl auch von Goethe nicht anders angesehen sein wird.)
Jndem die Menge dem Helden und dem Schicksal nur zusehen muß,
und weder gegen die besondere noch allgemeine Natur etwas wirken
kann, wirft sie sich auf die Reflexion und übernimmt das Amt eines
berufenen und willkommenen Zuschauers.“

„Jn der vierten Epoche zieht sich die Handlung immer mehr ins
Privatinteresse zurück, der Chor erscheint oft als ein lästiges Herkommen,
als ein aufgeerbtes Jnventarienstück. Er wird unnötig und also, in
einem lebendigen poetischen Ganzen, gleich unnütz, lästig und zerstörend,
z. B. wenn er Geheimnisse bewahren soll, an denen er kein Jnteresse hat
und dergl. Mehrere Beispiele finden sich in den Stücken des Euripides,
wovon ich „Helena“ und „Jphigenia auf Tauris“ nenne.“

Die „Eumeniden“ sind von Goethe selbst als der zweiten Gattung
des „hohen Stiles“ zugehörig bezeichnet worden, die „Choephoren“ dagegen
gehören wie die „Elektra“ des Sophokles der dritten, der des
„schönen Stiles“ an; in der „Elektra“ des Euripides ist der Chor ein
gerade so überflüssiges „Jnventarienstück“, wie in den von Goethe angeführten
Tragödien.

[612]

Dennoch ist es die sehr verschiedene Verwendung des Chors, aus
der die durchgreifend verschiedene Behandlungsweise hervorgeht, der
Äschylus im Vergleich zu Sophokles den Stoff unterwirft. Die Träger
der Handlung sind bei diesem wie bei jenem Orestes und Elektra, aber
während der Chor bei Sophokles für die tragische Wirkung nur sekundierend
auftritt, ist ihm bei Äschylus ein wesentlicher Teil an derselben zugewiesen.
Äschylus räumt dem Chor einen sehr weitgehenden Einfluß auf den
Vollzug der Handlung ein und zwar, wie es das Gesetz der Tragödie
mit sich bringt, indem er in seinen Gesängen die beiden mächtig bewegenden
Kräfte der tragischen Furcht und des tragischen Mitleids zu
immer erneuter Wirkung lebendig werden läßt. Zu einem bedeutenden
Teile wird das zur That treibende und auch die That rechtfertigende
Ethos bei ihm durch den Chor vertreten. Sophokles hat dasselbe ganz
und gar in den Charakter seiner Heldin, der Elektra, gelegt.

Daher ist, wie schon früher bemerkt wurde,1 das Motiv des Konfliktes
der Pflichten für den Aufbau der tragischen Handlung bei beiden
Dichtern ganz außer Wirksamkeit geblieben, kaum daß es im Verlaufe
flüchtig auftauchend sich bemerkbar macht.

Bei Äschylus wie bei Sophokles ist die furchtbare That unvermeidlich
notwendig, nach menschlichem und göttlichem Gebot unweigerlich
gefordert und wird auch solcherweise ohne jede Rücksicht, ohne alles
Schwanken in einfach gradaus gehender Handlung vollzogen. Die
wichtige Frage ist, wie stellt es der Dichter an, solche rächende Strafthat
dennoch zur tragischen Wirkung zu erheben? Es sind völlig getrennte
Wege, auf denen beide Dichter zu im Grunde derselben Lösung
gelangen.

Die „Choephoren“ ─ „Grabspenderinnen“ ─ des Äschylus sind
das mittlere Stück einer Trilogie. Durch das vorausgehende erste
Stück, den „Agamemnon“, ist die Unvermeidlichkeit der rächenden That
höchst eindringlich motiviert. Die schwere Blutschuld und der ehebrecherische
Bund der Klytämnestra mit Ägisthos bedingt ihren Untergang
nicht allein durch die persönlich sie selbst angehende Notwendigkeit der
Sühne, sondern das Recht und die Geltung aller göttlichen und menschlichen
Ordnung sind im ganzen Lande erschüttert, zerrüttet, vernichtet,
solange die Gewaltherrschaft des Verbrechens dauert, solange nicht
der rechtmäßige Stamm des Atreus wieder auf den Thron zurückgeführt
ist. Gerade auf diese Seite der durch den Mord des Agamemnon geschaffenen
Lage der Dinge weist der Schluß der ersten Tragödie mit [613]
stärkstem Nachdruck hin, und hierin liegt zum bedeutsamsten Teil die
Exposition der Choephoren begründet: die fürchterliche Strafe, die Apollo
dem Orest androht, wenn er sein Rachegebot unerfüllt läßt, der gräßliche
Fluch, den er für diesen Fall über ganz Argos verhängt, sind nur der
ergreifende, dramatisch nachgeahmte Ausdruck dieses Verhältnisses. Ganz
dasselbe, nur subjektiv nach innen gewandt, gibt auch zu der äußerlich
das Stück exponierenden Handlung den Anlaß: aus der quälenden,
nimmer zu beschwichtigenden Empfindung jenes Verhältnisses, aus der
die Seele mit Grauen erfüllenden Angst, Blut müsse Blut verlangen,
geht jener Traum der Klytämnestra hervor, der sie die „Grabesspende“
veranstalten läßt. Elektra soll die Spende am Grab des Vaters ausgießen,
die sie begleitenden Dienerinnen, die die Grabesspende tragen,
mit ihr einig im Hasse gegen die Königin und gegen Ägisthos, bilden
den Chor. Er gibt vom ersten Auftreten an jenem selben Gefühl den
ergreifenden, objektiven Ausdruck:


Das Blut, vom Mutterschoß der Erde eingeschlürft,

Der Rach' Empfängnis, dickt zum Keim unlöslich sich.

Und hin hält Ate, die ihn bethört, den Schuldigen,

Bis seine Seuch' in Blütenpracht!

Doch, flieht er ─ auch des Brautgemaches Heimlichkeit

Verbirgt ihn nicht; und strömte aller Ströme Flut,

Der Blutthat Schuldmal von ihm hinwegzuspülen her,

Sie strömten immer doch umsonst!
Und diese Liebe liebelos, zu wehren noch dem Weh,

Jo, Erde, Erde!

Spendet, sendet her das gottvergessne Weib!

Mich bangt's, auszusprechen jenes Wort!

Denn welche Sühne gibt es für vergossen Blut?

Jo, du jammerreicher Herd!

Jo, du untergrabnes Haus!

Ja graungemieden, sonnenlos umhüllen Finsternisse das Haus,

Licht wird's nur mit der Herren Tod!

Hoheit, bekämpft, versäumt, mißachtet nimmer sonst,

Dem Volk eingewöhnt sonst

Tief in Ohr und Herzen ─ nun dahin ist sie!

Es bangt jene vor des Glückes End';

Und glücklich sein ist Gott den Menschen, mehr denn Gott!

Doch Dike trifft ─ die einen jäh

Jn ihres Glückes Mittagsglanz;

Was andrer noch in Zwielichts Schoß harret, mahnend schwillt's und reift's;

Andre täuschet die Nacht noch.

Eben als der Zug sich zu dem Grabe Agamemnons bewegt, hat
dort Orestes, aus der Fremde heimgekehrt, eine Locke seines Hauptes [614]
niedergelegt. Nun entwickelt sich die Handlung, schnurgerade zum Ziel
vorschreitend. Sie behält den Charakter der einfachen Anlage, obwohl
sie gleich mit einer „Erkennung“ beginnt. Allein Äschylus hat
auf die dramatische Ausnutzung dieses Verwickelungsmotivs verzichtet;
die Erkennung erfolgt geradehin, ohne Erregung von Spannung, mit,
wie es scheint absichtlich, ganz kunstlosen, fast naiv gewählten Mitteln,
so daß Euripides, in seiner vermeintlichen Überlegenheit, sich durch dieselben
zu jener befremdlichen technischen Kritik veranlaßt sah, die neben
vielen andern Ungeheuerlichkeiten sein Stück interessant macht.

Zu dem allgewaltigen Zeus wendet sich nun das Gebet der wieder
vereinten Geschwister, hülfreich auf ihr Beginnen herabzuschauen; „nicht
bleibt dir, wenn das Geschlecht des Adlers du vertilgst, zu senden glaubhaft
Zeichen an die Sterblichen;“ „Sei unser Hort! Vom Boden richt'
ein hoch Geschlecht empor, das jetzt gar tief dahingesunken scheint!“
Auf das Gebot des Loxias beruft sich Orestes und auf den grauenhaften
Fluch, mit dem er den Ungehorsam gegen seinen Spruch bedroht
hat:


Solch einem Ausspruch muß man glauben und vertraun;

Und traut' ich minder, dennoch muß die That geschehn;

Vielfacher Antrieb strömt vereint auf mich herein,

Des Gottes Auftrag, meines Vaters große Schmach,

Des eignen Lebens Dürftigkeit, das alles läßt

Mich meine Bürger, aller Zeit berühmteste,

Die Überwinder Jlions in Heldenkraft,

Nicht länger unterthänig zween Weibern sehn;

Denn weibisch ist er; ist er's nicht, bald sehen wir's!

Die stärksten eigenen Motive also unterstützen das Gebot des
Götterspruchs; aber die Verantwortung der ungeheuren That ruht ganz
auf diesem. Hier setzt nun der Chor mit aller Macht ein, die Stimme
des Orakelspruchs zu verstärken:


Jhr gewaltigen Moiren, mit Zeus' Beistand

Werd' so es vollbracht,

Wie das Recht mitwandelnd den Pfad zeigt!

„Für feindliches Wort sei feindliches Wort.“

Also ruft Dike, die lautere, laut,

Wenn die schuldige Buße sie eintreibt!

„Für blutigen Mord sei blutiger Mord!

Wer that, muß leiden!“ so heißt das Gesetz

Jn den heiligen Sprüchen der Väter!

Er mahnt an des Toten Seele, die nicht durch die Glut bewältigt
wird, an den zürnenden Schatten, der mit lautem Schmerzschrei Gericht [615]
heischt. So repräsentiert der Chor hier die laute, gebieterische Volksstimme:
„Ja, es ist ein Gesetz, daß sterbend der Strom des vergossenen
Bluts Blut wieder verlangt; und es rufet der Mord die Erinnys wach,
von den früher Erschlagnen die Blutschuld wach, die heraufführt andere
Blutschuld!“

Jn die immer bewegteren Mahnungen des Chors in frommer
Furcht das uralte heilige Götterrecht zu ehren mischt sich, gleichfalls
melisch erregt, das Gelöbnis des Orestes, das Unsühnbare zu rächen,
es mischt sich die Klage der Elektra darein um das unwürdig, schmachvoll,
ehrentblößte Leben, das die Mutter sie erdulden lassen, und weckt
nun auch das Mitleid:


Jn meiner Kammer, eingesperrt wie ein böser Hund,
Vergaß ich das Lachen, brach in bittre Thränen aus,
Froh, wenn ich verhehlte meines Grames nassen Blick!
Was du vernommen, Bruder, schreib' es dir ins Herz!


Chor:

Durchs Ohr bohre tief sich dieses Wort dir
Ein in des Herzens stillen Grund!
Das alles war wahrlich so!
Das andre geh' selbst zu schaun!
Du mußt mit furchtloser Kraft zum Kampf gehn!


Orestes:

Jch rufe dich, Vater, sei den Deinen nah!


Elektra:

Mit ruf' ich dich, Vater, bitterweinend dich!


Chor:

Wir allzumal stimmen lauten Rufes ein!
Erhör' uns, steig' ans Licht empor,
Wider die Feinde hilf du!


Orestes:

So messe sich jetzt Stärk' um Stärke, Recht um Recht!


Elektra:

O Götter, jetzt endet unser Recht gerecht!


Chor:

Mich überströmt Beben, hör' ich euer Flehn!
Das Gottverhängte harret längst;
Flehet ihr drum, so kommt es!
O du des Hauses Fluch!
O des verhängten Mords schneidender, blut'ger Mißlaut!
Weh, weh! gräßliches Amt des Sohnes!
Weh, weh! nimmergestillter Jammer!
„Dessen ein Balsam kann
Nimmer dem Haus' von Fremden, nur von ihm selber kommen
Durch bluttriefenden Hader“: also
Das Lied drunten der dunklen Götter! [616]
Jhr drunten, vernehmt, ihr Sel'gen der Nacht,
Hört dieses Gebet, o erfüllt's! Beistand
Schickt gnädig den Kindern zum Siege!

Kein Wort also des Schwankens zwischen zwei Pflichten! Die
That wird unbedingt gefordert durch das eigene dringendste Jnteresse
der Geschwister, durch das noch stärker mahnende Jnteresse des ganzen
Landes; aber gebieterischer als alles andere fordert Gottesspruch und
Volksstimme die That als Sühnung des geschändeten Rechtes. Für
Orestes bleibt nur den von überallher sich vereinigenden Antrieben gehorsam
zu folgen: denn auch die Art der Ausführung ist ihm vom
Gotte vorgeschrieben.

Wie jene den Agamemnon mit List umbrachten, so soll auch er
mit gleicher List, mit klug verstecktem Plane die That beginnen, „weil
das ganze Haus in Freveln rast
“. Auch hier also ist, was der
Zwang der Umstände ergibt, dem Willen des Gottes zugeschrieben.
Doch auch diese List wird von Äschylus, damit sie nicht unwürdig wirke
─ wie ganz anders doch bei Euripides, der auch hier wieder luxuriert ─
auf das äußerlich ganz Notwendigste beschränkt: dann folgt die geradeaus
zerschmetternd vordringende That.

Das anschließende Stasimon des Chors erweckt aufs neue die
Furcht vor der unerbittlichen Dike, ─ „denn Rechtes Schändung nieder
in den Staub getreten, ist Zeus' ganze Zier; dem Frevler ist er
unerbittlich!“ ─ vor dem Richtschwert der Aisa ─ „die der alten
Blutschuld Kind in das Haus führt“ ─ vor der wachen „listkundigen
Nachterinnys!“

Jn dem Fortgang der Handlung zum Höhepunkt gemahnt die
Oekonomie des Aufbaues an shakespearesche Kunst. Jn der Darstellung
der äußeren Vorbereitungen zur That gewinnt der Dichter Raum, die
gewaltige Spannung der tragischen Affekte durch ein kräftiges humoristisches
Motiv für einen Augenblick zu lösen, das zugleich höchst geschickt
für die Weiterführung der Handlung benutzt wird. Die Fremdlinge
haben im Palast die falsche Meldung von Orests Tode gemacht,
und Klytämnestra, äußerlich eine flüchtige Trauer heuchelnd, im Herzen
hocherfreut, sendet Kilissa, die alte Amme des Orestes, zu Aegisthos
hinaus, um ihn herbeizuholen; er soll selbst die Nachricht empfangen,
aber nicht ohne bewaffnete Begleitung erscheinen. Da kommt nun die
Alte, bekümmert um den Tod ihres Lieblings und voll Unmuts über
die Heuchelei und unnatürliche Freude der Mutter des Totgeglaubten,
und schüttet in der geschwätzigen Weise des Gesindes ihr Herz dem
Chore aus:

[617]
All andres Leid trug ich geduldig bis ans End';

Daß aber mein Orestes, meiner Seelen Lust,

Den aus der Mutter Schoß ich nahm und auferzog,

Mit aller Unruh nächtens, wenn das Kindchen schrie,

Und all den vielen Plagen, die ich vergebens nun

Ertrug ─, denn solch ein unverständig Kindchen muß

Wie's liebe Vieh man ziehn, nicht wahr? mit klugem Sinn;

Da kann es denn nicht sprechen, solch ein Wickelkind,

Ob's Hunger, ob es Durst hat, ob sich naß gemacht,

Der kleine Magen macht was je nach seiner Not;

Das muß voraus man merken, und, glaub' mir, man irrt

Sich auch, und wäscht dem Kinde dann die Windeln rein,

Versieht zugleich der Wäscherin und Amme Dienst;

Und ich versah die beiderlei Geschäfte selbst,

Und hat Oresten seinem Vater aufzuziehn ─;

Nun muß ich Arme hören, daß er gestorben ist,

Muß nun zum Herrn gehn, der geschändet unser Haus,

Und meine Zeitung frohen Sinnes hören wird!

Es wird dem Chore leicht die so Gesonnene zu bestimmen, daß
sie den wichtigsten Teil der Meldung, Ägisthos solle nicht ohne bewaffnete
Begleiter kommen, unterdrückt und sich als halbe Vertraute für den
Plan der That gewinnen läßt.

Noch einmal tritt, unmittelbar vor der Katastrophe, dem Deinon,
der Chor mit einem Stasimon auf, das alle Motive für die That und
alle durch dieselbe aufgeregten Furcht- und Mitleidempfindungen zusammenfaßt:
das Recht, das ihr den Schutz des Zeus sichert, das Leiden
der Elektra, die euphemistisch verhüllte Fürbitte für den Thäter, die
Forderung des Landes, dem die That nur Freude bringt und das tiefe
Mitgefühl für den, dem sie auferlegt ist: „Fester Hand, gleich dem
Perseus ungeschreckt thu' den Deinen, welche das Grab deckt, thu' zugleich
hier den Deinen Liebesdienst, grausigsten; welche des Mordes
Greul gethan, töte sie!“

Jn knappster Kürze wird Ägisthos einzig durch die hybristische
Sicherheit charakterisiert, mit der er unmittelbar vor dem hereinbrechenden
Strafgericht seiner wachsamen Klugheit sich rühmt: „denn meines Geistes
scharfen Blick betrügt man nicht“. Bald erschallt aus dem Jnnern des
Palastes das Jammergeschrei des Erschlagenen.

Es folgt eine Scene, die nirgends ihresgleichen hat, in ihrer
ehernen Kürze übergewaltig erschütternd. Der Dichter ergriff das einzige
Mittel, um den furchtbaren Vorgang auf der Bühne möglich zu machen:
er lieh der Klytämnestra die heroisch entschlossene Kraft, den finster
drohenden Trotz, die allein ihre That verständlich machen und womit [618]
sie bis zum letzten Augenblick ihr Leben und ihre That verteidigt.
Selbst ihre Bitte um Schonung atmet diesen Sinn. Einen Augenblick
schwankt Orest, allein des Pylades Mahnung ─ „hab' alle lieber als
die Götter dir zu Feind!“ ─ und die Erinnerung an den gemordeten
Vater siegen ob, mehr scheut er den Fluch des toten Vaters als die
Flüche seiner Mörderin. „Du! vor der Mutter grimmen Hunden hüte
dich!“ ruft sie dem zum Grausigsten Entschlossenen zu: „die meines
Vaters, lass' ich dich, wie meid' ich die?“ lautet die Gegenrede. „So
klagt die Lebende an ihrem Grab umsonst?“ „Das Grab des Vaters
sendet dir dies Schicksal zu!“ „Weh mir des Drachens, den ich geboren
und genährt!“ „Wohl war ein scharfer Seher deiner Träume Furcht!
Das Ungeheure hast du gethan, so duld' es jetzt!“

Der Chor preist die versöhnte Dike, er dankt der gerechten Gottheit:
„Der in den Himmeln waltet, Ehrfurcht vor ihm!“ (ἄξια
δ' οὐρανοῦχον ἀρχὰν σέβειν.) „Wieder erscheint Licht! Wieder des
Jochs ist dies Haus entlastet! Richte dich auf o Haus! Lange, zu
lange Zeit in Staub gestürzt danieder lagst du! Bald in des Schlosses
Thor ziehet der Feierchor weihenden Sanges ein, wenn den befleckten
Herd jeglichen Bannes getilgt die Sühne.“ Aber schon mischt in die
eigene Freude sich der Laut tiefen Mitleids um das Schmerzenslos
des Befreiers:


Laßt uns beweinen beider doppelt Mißgeschick;

Und weil Orestes traurig jetzt zum Gipfel führt

Die viele Blutschuld, lasset beten uns zugleich,

Daß dieses Hauses Auge nicht ganz brechen mag!

Hiermit ist die Betrachtung bei dem tief verschlungenen, schwer
zu entwirrenden Rätsel des Stückes und des Stoffes überhaupt angelangt.
Voll Weisheit und mit höchstem Kunstverstand hat der Dichter
scharf unterschieden zwischen der objektiven Seite der That und ihrer
subjektiven Seite; diese Unterscheidung ist streng festgehalten in den
Choephoren wie in den Eumeniden, ja die Komposition beider Stücke
beruht darauf. Die Herstellung des Rechtes ist eine objektive, von
Menschen und Göttern unbedingt geforderte Notwendigkeit. Wie nun
aber, wenn dazu statt des unparteiischen Richters der zunächst Jnteressierte
der ausschließlich Berufene ist, statt des Fernestehenden, der ohne jede
Rücksicht zu entscheiden vermag, der nächste Blutsverwandte? So schiene
also dennoch jener „Konflikt der Pflichten“ vorzuliegen, wo keine gewahrt
werden kann, ohne die andere zu verletzen, und wo der edle
Mensch durch reinste Willensentscheidung unrettbar sich zu Grunde [619]
richtet! Wie weit ist Äschylus von dieser schematischen Konstruktion,
von solcher untragischen Auffassung seines Stoffes entfernt, wie viel
tiefer dringt sein Blick in das Wesen der menschlichen Dinge! Vor
allem: eine Wahl gibt es für seinen Helden nicht, der Befehl des
Gottes ist unzweideutig, sein Versprechen, daß der Thäter aller Schuld
ledig sein solle, klar und bündig; das ist gleichbedeutend damit, daß
die That in voller Übereinstimmung mit dem Volksglauben und der
Sitte unternommen wird, und der Thäter ohne Schwanken dazu schreitet.
Von dieser Seite hat er keinen Vorwurf zu fürchten, er darf sogar auf
Ruhm und Ehre rechnen.

Aber wie ganz anders liegt die Sache von ihrer subjektiven
Seite betrachtet! Hier gilt es vor dem unbestechlichen Gericht des
eigenen inneren Bewußtseins zu bestehen. Der Sohn hat das höchste göttliche
und menschliche Richteramt zu verwalten gegenüber der Mutter!
Weh ihm, wenn auch nur der leiseste Schatten irgend eines andern
Beweggrundes, wenn auch nur die geringste eigensüchtige Regung sich
in die Vollziehung dieses Richteramtes mischt neben der lauteren Reinheit
des höchsten Rechtssinnes! Jn solchem höchsten, heiligsten Sinn
wird die That von dem Gotte verlangt: aber es geht über die menschliche
Kraft hinaus, sie in solchem Sinne zu leisten. Dies ist der Punkt,
in welchem Äschylus die tragische Hamartie seines Helden aufgewiesen
hat, und von hier aus erreicht er die gewaltige tragische Wirkung seiner
Dichtung. Diese Hamartie ist für den Helden in der Lage, in die das
Schicksal ihn gestellt hat, unausweichlich, denn sie beruht in der allen
Menschen gleicherweise eigenen Schwäche gegenüber der Aufgabe ein
heilig göttliches Richteramt auszuüben.

Solange die That vor ihm liegt, alle Nerven spannend,
den Sturm aller Empfindungen aufregend, List und Kühnheit in die
stärkste Bewegung setzend, glaubt Orestes ihr gewachsen zu sein, und
er wäre verloren, der Verachtung verfallen, wenn er zweifelte! Dennoch
erfaßt der Dichter seinen Stoff allein aus diesem Punkte, daß diesem
heldenhaft entschlossenen Zugreifen, diesem kühnen, unerbittlichen Vordringen
unausweichlich ein Zusatz menschlichen Jrrtums, menschlichen
Fehls sich anheftet ─ keine Schuld, wie Loxias es verheißen hat,
aber das Bewußtsein der Unzulänglichkeit zu der That, der inneren
Unberechtigung solches Recht zu üben, stark genug um nun
nach der That den Thäter an allen Sprüchen der Götter irre werden
zu lassen, ihn in die schwerste, furchtbarste Zerrüttung zu stürzen,
für die es nur die eine Heilung gibt: unbedingten Verzicht auf
alle äußeren Vorteile der That, irre Flucht aus dem Lande der Väter [620]
und selbstvergessene Hingabe an die sühnende Gottheit, gläubige Unterwerfung
unter ihren Spruch.

Mit feinstem Gefühl für die Absicht des Dichters hat Schiller
in einem Chorlied der „Braut von Messina“ das Verständnis derselben
erschlossen:


Ein andres Antlitz, eh sie geschehen,

Ein anderes zeigt die vollbrachte That.

Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen,

Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen;

Aber ist sie geschehn und begangen,

Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen.

Selber die schrecklichen Furien schwangen

Gegen Orestes die höllischen Schlangen,

Reizten den Sohn zu dem Muttermord an;

Mit der Gerechtigkeit heiligen Zügen

Wußten sie listig sein Herz zu betrügen,

Bis er die tödliche That nun gethan ─

Aber da er den Schoß jetzt geschlagen,

Der ihn empfangen und liebend getragen,

Siehe, da kehrten sie

Gegen ihn selber

Schrecklich sich um ─

Und er erkannte die furchtbaren Jungfraun,

Die den Mörder ergreifend fassen,

Die von jetzt an ihn nimmer lassen,

Die ihn mit ewigem Schlangenbiß nagen,

Die von Meer zu Meer ihn ruhelos jagen,

Bis in das delphische Heiligtum.

So kommt nun am Schlusse des Stückes erst die volle Tragik zur
Geltung. Bis dahin wirkte nur das furchtbar leidvoll („pathetisch“)
Tragische und freilich das Vorgefühl der unvermeidlichen Konsequenzen;
jetzt erst kommt das Mitleid mit dem Sohne, der zu solcher That durch
das Geschick geführt wurde zu voller Kraft und mit ihm die tragische
Furcht vor solchen Gefahren des Schicksals. Die Zweifel erfassen ihn
mit nicht abzuschüttelnder Gewalt; vergebens läßt er die stummen Zeugen
von seiner Mutter Schuld reden, „die Blutflecke, die des Purpurs
Farbe weggefressen haben“.


Nun preis' ich mich, nun jammer' ich laut auf, hier zu stehn

Und anzureden meines Vaters Mordgespinst;

Es quält mich meine That, mein Leid, all mein Geschlecht,

Mit dieses Sieges reicher Schuld verflucht zu sein!
[621]

Und dazu der Chor, die allgemeine Furcht aussprechend:


Kein Sterblicher, der sein Leben in Ruh

Hinwandelt und jeglicher Schuld frei!

O Sohn, Leid kommt

Heut diesem, dem andern morgen!

Der tief ergreifende Schluß bringt die Katharsis dieser Tragödie.
Das Mitleid mit dem Unglücklichen, der von dem Grausen über seine
That in zügelloser Raserei fortgerissen wird, tritt in seine Rechte:
„meines Herzens Entsetzen will sein Lied beginnen, seinen Tanz zum
Schall der Wut!“ ─ Aber es bleibt die Hoffnung, daß der Gott, der
ihn trieb, ihm die Heilung gewähren wird: „denn,“ so ruft er den
Freunden zu ─ und dieses hoch bedeutsame Wort ist geeignet, die Absicht
des Dichters vollends klar zu legen ─ „meiner Kühnheit Liebestrank
(die φίλτρα τόλμης τῆσδε), ihn mischte mir der Pythoseher
Loxias durch seinen Spruch!
“ So verläßt er flüchtig irrend
die Heimat, um „fromm angethan mit dem Ölzweig und dem Kranze“
als Schutz und Entsühnung Flehender zum Heiligtum des Apollo zu
fliehen. Und schon tauchen, ihm allein sichtbar, die schwarzverhüllten
schlangenumzüngelten Gorgonen auf, der Mutter blutempörte Hunde,
um ihn fortzutreiben, während der Chor ihm das trostreiche Wort zuruft:


Es gibt Entsühnung! Wenn du Loxias berührst,

So wird er huldreich dieser Qualen dich befrein!

Damit ist die Orestes-Tragödie zu Ende, denn er hat den
Sinn bewährt, aus dem allein ihm Entsühnung und Heilung hervorgehen
kann. Aber nach der Art, wie Äschylus die Entscheidung nach
außen, in die Hand der Götter gelegt hat, bedarf die Handlung der
Fortführung. Orestes tritt hier nur passiv auf, unter den Göttern
selbst erfolgt die Schlichtung des Streites, wie die Forderung der Dike,
die von Zeus und Apollo ausgeführt ist, mit dem Anspruch der Erinnyen
zu versöhnen sei, die Rache für das neuvergossene Blut verlangen.

Das Stück, das diese Frage zu lösen gedichtet wurde, ist wohl
das merkwürdigste Erzeugnis, welches die dramatische Litteratur hervorgebracht
hat. Es fügt sich in keine der vorhandenen Gattungen der
Tragödie! Der Ausgang ist ein nach allen Seiten glücklicher; sogar
hocherfreulicher, dabei hat die Handlung den einfachsten Verlauf; keine
Spur einer Verwickelung durch Peripetie oder Erkennung, man müßte
denn die letztere im psychologischen Sinne auffassen und sie in der Sinneswandlung
finden, durch welche aus den „Erinnyen“ die „Eumeniden“
werden. Aber das wäre eine gezwungene Deutung, denn wie die Hand= [622]
lung sich als eine einfache, gradaus verlaufende Gerichtsverhandlung
darstellt, so ist jene Sinneswandlung das Resultat eines Vergleiches, der
dem unterliegenden Teil von dem obsiegenden in Anerkennung seines
wohlbegründeten Rechtes geboten wird. Dagegen steht es außer Zweifel,
daß in dem Stücke die Sache der besonnenen, nach den Motiven der
That und nach ihrem inneren Sinne urteilenden Gerechtigkeit, für die
Apollon und Athene einstehen, geführt wird gegen die blinde Rache für
vergossenes Blut, die die Erinnyen vertreten. Eine Jdee also ist es,
die durch dieses Stück der Empfindung zur Gewißheit gebracht wird,1
und das Forum der Empfindung ist es auch, vor dem in durchgeführtem
kontradiktorischem Verfahren das pro und contra abgewogen wird, indem
von beiden Seiten die Affekte das Unwillens, ja der heftigsten Empörung
sich gegenübertreten, bis sie endlich ihre Einigung im gegenseitigen Wohlwollen,
in vollster Befriedigung, ja in hoher Freude finden. Das sind
die charakteristischen Züge des Schauspiels, nicht der Tragödie. Wie
kommt es nun aber, daß dieses Drama nicht allein immer für eine
Tragödie gegolten hat, sondern daß es in der That auch durch und
durch von den tragischen Affekten erfüllt ist, die an Kraft, Tiefe und
kathartischer Wirkung den durch die Tragödie hervorgebrachten nichts
nachgeben? Die ebenso einfache als überraschende Lösung ist die, daß
es die kathartische Läuterung der tragischen Affekte selbst ist,
ihre Reinigung und Entsühnung von dem Gewaltsamen, Überheftigen,
Ungemäßigten, ihre Umwandlung zu klarem, in sich gefestigtem, dauerndem,
schönem Empfinden, die den ideellen Gehalt der vorgeführten Schauspielhandlung
bilden.

Ein tragisches Element bildet allerdings in dem Drama das
„Pathetisch-Leidvolle“, das darin zur Entfaltung kommt: das schwere
Seelenleiden des Orestes und die drastisch furchtbare Erscheinung der
Erinnyen. Aber das sind eben nur tragische Färbungen, das Gemälde
der Handlung selbst enthält die tragische Anlage und Durchführung nicht.

Die Handlung der „Eumeniden“ ist, wozu das Schauspiel seiner
Natur nach neigt, durchweg symbolisch angelegt, wie das schon von
A. W. Schlegel bemerkt ist.2 Durch diese Behandlungsweise gelangt [623]
das Ethische der Handlung nur zu indirekter Darstellung, es ist durch
den symbolischen Vorgang mehr angedeutet als nachgeahmt. Obgleich es
sich um die Entsühnung des Orestes handelt, so tritt dieser doch persönlich
zurück; die Erinnyen selbst sind der Held des Dramas, und ihr Streit
mit den jüngeren Göttern ist der Jnhalt des Schauspiels: Orests Sache
ist damit zugleich die der Götter und Menschen, und von diesem Standpunkt
aus findet die ganze symbolische Verhandlung statt, deren Entscheidung
mit der Heilung und Entsühnung des Orestes und der principiellen
Klärung des in Betreff seiner schwebenden dunkeln, menschliche
und göttliche Gerechtigkeit gleich stark angehenden Problems zugleich die
Läuterung der durch dasselbe so mächtig aufgeregten Empfindungen mit
sich bringt: ─ eine theoretische Darstellung der tragischen
Katharsis
durch das Mittel eines in höchster dramatischer Lebendigkeit
vorgeführten, symbolischen Schauspiels.

Die „Grabesspenderinnen“ betonen mit weit überwiegendem Nachdruck
die Forderung der Dike; wie die Gottheit selbst, so verlangen
sie von Orestes die Ausübung jener hohen Gerechtigkeit, als deren Vollstrecker
er unsträflich erscheint. Daß er die Rache an der Mutter
vollzieht, ist göttliches Gebot, das Wie dieser Vollziehung jedoch findet
ihn in jener allgemeinen Schwäche der irrenden Menschheit, die keinen
Sterblichen solchen Richteramtes würdig erscheinen läßt.

Vom Schicksal gezwungen übernimmt er es, ihm bleibt kein Ausweg,
und so verfällt er durch das Schicksal der verzweifelnden Erkenntnis,
daß er über das dem Menschen Erlaubte Hinausgehendes, daß er Unmenschliches
gethan. Er wird unschuldig=schuldig ein Raub der ihn
mit Wahnsinnsangst folternden Gorgonen. So die „Choephoren“ des 2 [624]
Äschylus, die, wenn sich diese verborgene innere Konstruktion des Stückes,
auf die der Dichter wohlweislich mit keinem Worte direkt hingewiesen
hat, nur der seinen Jntentionen nachgehenden Kritik entdeckt, doch ihrem
zuständigen Forum, dem offen empfänglichen Gefühl, die vom Dichter
beabsichtigte Wirkung mit eindringlichster Stimme kund thun. Äschylus
aber wollte das aufgeworfene Problem nicht verschleiern, sondern ihm
bis auf den Grund gehen.

Die Frage liegt so: Blutrache am Blutsverwandten, von den
Göttern zum Schutz der Dike, der Ausgleich verlangenden Gerechtigkeit,
befohlen, wird von den Erinnyen als neue, unsühnbare Blutschuld
verfolgt; wessen Recht ist das geltende? Die Erinnyen stützen sich auf
das ältere, unzerstörbare Recht des Gewissens, das durch die Götter
nicht aufgehoben werden kann, ja dessen Aufhebung die Götter nicht
wollen können! Des menschlichen Gewissens, das ein Ausdruck ist
des menschlichen Bewußtseins, dem also das Bewußtsein der menschlichen
Schwäche, die göttlichem Richteramt nicht gewachsen ist, untilgbar
innewohnt. Von diesem menschlichen Gewissen wird die That des
Orestes, an und für sich genommen, verurteilt; und daß hierin das
antike Bewußtsein mit dem modernen völlig eins war, das beweist uns
eben die Dichtung des Äschylus, der sich nicht scheute der Frage bis
in ihre innerste Tiefe nachzugehen. Wie führen nun die Götter, Apollon
und Athene, ihre Sache zum Siege? Sie verlegen den Kampf grade
auf das Feld, das die Erinnyen behaupten: aus dem Bewußtsein
des Thäters
rechtfertigen sie die That. Die Schicksalslage war eine
solche, daß es zur Wahrung des Rechtes kein anderes Mittel gab, als
daß der Sohn die Sühnung des auf dem Hause und auf dem ganzen
Lande lastenden Frevels an der Mutter vollzog, denn derjenige, dem
allein solche Sühnung nach göttlicher und menschlicher Ordnung zusteht,
der Vater des Hauses und der König des Landes, war eben der frevelhaft
Erschlagene selbst. Das ist die äußere Rechtfertigung der
That; aus diesem vollberechtigten Sinne heraus erklärt sich auch die
befremdliche, scheinbar so stark sophistische Argumentation, durch die
Apollon das höhere Anrecht des Vaters an solche blutige Sühnung vor
dem natürlichen Recht der Mutter auf Schonung beweist. Es handelt
sich darum, den Grundstein der Rechtsordnung im patriarchalisch=absolutistischen
Staat zu sichern. Aber von weit größerem Belang ist die
innere Rechtfertigung des Muttermörders. Jm Auftrage der Moiren
und des Zeus, des Walters der Dike, hat Apollon ihm die That geboten;
aus reinem Antrieb also hat er sie unternommen; daß er als
Mensch dem ungeheuren Auftrage nicht gewachsen ist, muß er büßen: [625]
es ist eine Schuld, die er der Natur zahlt! Aber er büßt die
That, er zahlt die Schuld, er gewährt der Natur ihr volles Recht!
Ein Orestes, der das nicht thäte, den nicht „des Herzens Entsetzen“
zum Opfer der Erinnyen machte, wäre kein tragischer Held. Ein
harter Politiker wäre er, dem vielleicht in Herrschaft und Sieg eine
Zeit lang glänzender Erfolg zur Seite stehen würde, bis den Gefühllosen
und der Hoheit der Jdee Fremden von einer andern Seite her
Sturz und Verderben ereilen würde. Der tiefe, bis zum Wahnsinn
quälende Schmerz des Orestes ist das eine Moment seiner Reinigung;
das zweite sein festes, hingebendes Vertrauen auf die Gottheit, die er
glaubt. Seine Sühnung und Freisprechung ist keine leere Form, sondern
sie hat den tiefen Sinn, daß auch das fernere Leben des Mannes
von frommer Furcht und heiliger Scheu der Götter erfüllt sein wird,
bei denen er Zuflucht gefunden hat. So läßt der Dichter ihn sprechen,
nachdem seine Freisprechung erfolgt ist:


O Pallas, o du meines Hauses Retterin!

Jn meine Heimat hast mich Heimatlosen du

Zurückgeführet! Heißen wird's in Hellas nun:

Der Mann von Argos ist Argeier wieder, wohnt

Jn seines Vaters Habe wieder; Pallas gab's

Und Phoibos und der dritte allvollendende

Zeus Soter, der vielehrend meines Vaters Los

Wohl sieht der Mutter Vertreter dort, doch mich bewahrt!

Die Stimmen der Richter sind gleich, aber Athene gibt den Ausschlag
zu Gunsten des Rechtes der neuen Götter gegen die ausschließliche,
ausnahmslose Geltung der durch die Erinnyen vertretenen, blinden
Blutrache. Aber nicht soll die Furcht vor ihrer uralten Macht aufhören.
An die Stelle der blutigen Rache, die fortzeugend immer neue
Greuel gebiert, soll ein geordnetes Gericht treten, das höchste und
heiligste, das der Götter Wille und Gesetz auf Erden vertritt. Den
Erinnyen aber oder vielmehr den „Eumeniden“, wie die „Freundlichen“
(εὔφρονες) besser genannt werden, wird auf das feierlichste durch
Athene die ewige, unverbrüchliche Geltung ihres Rechtes verbürgt. Ja
noch mehr! Während sie sonst mit Grausen gefürchtet und verhaßt
waren, sollen sie jetzt geachtet und verehrt werden; was bedeutet das
anders, als dies: aus angstvollem Grauen soll heilige Ehrfurcht werden,
aus grausendem Entsetzen fromme Scheu, die echte, kathartisch geläuterte
Furcht. Die alte Furcht soll abgethan sein!

Am meisten entgegen der dumpfen, schreckhaften Furchtbarkeit der
in grauenhafter Gestalt erscheinenden Gorgonen ist der Gott, dem lautere [626]
Harmonie und helle, hohe Freudigkeit von Stirn und Auge strahlt,
Apollon. Er nennt sie:


Der Nacht ergraute Kinder, Weiber, denen nie

Der Götter einer, nie ein Mensch, noch Tier sich eint,

Des Bösen wegen sind sie da; sie hausen drum

Jm bösen Dunkel unten tief im Tartaros,

Der Menschen Abscheu und der Götter im Olymp.

Und auf den Vorwurf der Erinnyen, daß er dem Muttermörder
Schutz gewährt:


Mit solchem Blutgreul, Seher du, an deinem Herd

Schändest dein Haus du selbstwilligend, selbstberufend,

Der du die Menschen ehrst wider der Götter Recht,

Der Moiren Macht, der uralten, brichst!

erwidert er:


Fort! meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein!

Nein da, wo mörderköpfendes, augauswühlendes

Gericht, wo Mordgemetzel, frevele Fehlgeburt,

Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß,

Wo Aufgespießte jammerlaut, Gesteinigte

Verröchelnd wimmern! Habt ihr nun genug gehört,

Um welche Festlust, dran ihr euch ergötzt, verhaßt

Den Göttern ihr seid?

Eine neue, aus dem inneren Wesen der Dinge urteilende Rechtsauffassung
tritt der alten, starren, mechanisch nur den Thatbestand erfassenden
Racheübung entgegen. Den Muttermörder heißt Apollon „zur
Reinigung sich herzuwenden zu ihm“, während er die Blutthat der Klytämnestra
schonungslos verfolgt: jene wenden umgekehrt ihren ganzen Grimm
auf Orestes und müssen sich von Apollon vorwerfen lassen, daß sie „lau
genug“ sind, den Ehebruch und Gattenmord Klytämnestras „nicht zu
strafen“ oder doch „sichtlich viel gelassener aufzunehmen“. So repräsentieren
die Erinnyen die uralte Naturgewalt des Fluches, der auf
dem vergossenen Blut des Verwandten, Befreundeten ruht, am schwersten
auf dem „niedergeflossenen, unwiederbringbaren Mutterblut“.


Nicht kann Apollon, nicht Athenes heilige Kraft

Dich schützen, daß du nicht von meiner Wut verfolgt

Verkommst, vergissest, wo im Herzen Freude weilt,

Du meine Weide, Blutes leer, ein Schatten bald!
Lebendig mußt du mich laben, nicht geopfert erst!

Hör unser Bannlied, dich zu fesseln und zu fahn
[627]

Und nun erheben sie ihren „furchtbaren“ Gesang, „Verstörung,
Wirrsinn, Wahnsinn bringend, harfenlos, den Sinn zu fah'n, welk zu
dörren Menschenkraft!“ Hier gibt es keine Milderung, kein Vergeben,
kein Vergessen: „Ein irrendes Dunkel umnachtet die Schuld der Gehetzten,
Gestürzten, und von dem Schatten, der finster durch sein Geschlecht
hingeht, redet tausendfacher Mund!“


Denn listenreich sind wir und des Ziels gewiß,

Rächerinnen aller Schuld, furchtbar;

Allunerbittlich jedem Flehn,

Handhabend, verachtet, haßbringendes Amt,

Den Göttern abgewandt, in sonnenlosen Lichtes Dämmrung,

Pfadunerforschlich dem sehenden Auge

Und dem blöden Blick zugleich.
Wo ist ein Mensch, welcher nicht erbangt, erbebt,

Wenn er anhört meines Amtes Satzung,

Von Moira gottbeschieden mir,

Daß ich es völlig erfülle, verhängt!

Das ist mein altes Ehrenamt, und keine Schmach trifft mich,

Hausen wir auch in den Tiefen der Erde,

Und in sonnenleerer Nacht!

Hier trifft also die sinnvolle, zur Milde geneigte Auffassung der
Gerechtigkeit mit der unerbittlichen Starrheit des alten unentwickelten
Rechtsbewußtseins in hartem Kampf zusammen. Aber auf seine Höhe
gelangt das tragische Schauspiel erst, als durch Athenes Entscheidung
die Sache des Orest den Erinnyen entzogen und den dazu bestellten
Richtern übergeben ist. Von einer ganz andern Seite läßt nun der
tiefsinnige Dichter den Chor der Erinnyen sich zeigen. Trat vorhin
das Übermaß ihres Wesens, das der klärenden Erwägung Unzugängliche
ihres grausen Waltens hervor, so liegt jetzt die Gefahr vor, daß
ihr Walten an seiner Wurzel geschädigt werde, daß mit dem drohenden
Einbruch in ihre von uralters her geheiligte Sphäre ihr Ansehen eine
unheilbare Abschwächung erfahre, daß die Furcht vor ihnen unter den
Menschen dahinsinke. Auch diese Wendung ist nur ein notwendiger
Zug in der Entwickelung der Schauspielhandlung, aber das Schauspiel
tritt ganz in die Sphäre der Tragödie ein, wenn nun der Chor in
wildbewegter Klage den Sturz aller sittlichen Ordnung verkündet und
in überwältigender Hoheit jetzt, da er die Grundfesten seines Rechtes
erschüttert glaubt, dessen wahren, ewig unzerstörbaren Kern zu erkennen
gibt. Schon hier beginnt die große Jdee dieses Dramas hervorzutreten:
zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig der Nemesisempfindung die [628]
rechte Mitte zu suchen, die Entsetzensangst zu bannen und die echte
Furcht zu finden, die nur da erscheint, wo sie mit dem echten Mitleid
sich gattet!

So strömt nun die leidenschaftliche Klage der Erinnyen hervor:


Alles alte Recht, es stürzt jetzt dahin,

Wenn des gottlosen Muttermörders Schuld

Vor Gericht siegen darf!

Allzumal lockt die Menschen dieser That leichtes Spiel zu gleicher That;

Offenkundig, von Kindeshänden

Freche Gewalt, geahndet nicht, ist hinfort der Eltern Los!
Nicht der Blutmänaden Zorn ferner noch

Menschenschuldspähend schleicht er nach der Schuld;

Allen Mord geb' ich frei!

Und umsonst andre forschend anderswo, schildernd was und wie's geschah,
Suchen dess' ein End' und Abwehr
;


Alle die Mittel, die ein Thor eitel rät, sie helfen nichts!

Bald aber wendet sich ihr Lied von der zürnenden Klage zu dem
erhabensten Ausdruck ihrer ewigen Sendung:


Auch der Schrecken dient zum Heil! Warnend soll er für und für

Hüter sein der Leidenschaft!

Denn es frommt, Maß zu halten durch den Zwang.

Wer, in dessen Herzen nicht

Weilt und Wurzel schlägt die Furcht,

Einzelwesen oder Volk, scheute sonst wohl noch das Recht?
Zügellosem Leben nicht,

Nicht dem bangen Sklavensinn

Sei der Preis!

Gott hat die Stärke der Mitte gesellt, und er blickt

Hinweg von dem andern.

Gleichen Sinnes ruf' ich drum:

Mangelt die Scheu, hat der Frevel gewißlich das Feld;

Geistes Gesundheit

Aber entsprießt der vielgeliebte,

Allen ersehnte Segen!
[629]

Wie hätte der Dichter aber seine Absicht deutlicher kund geben
können, als indem er die Göttin Athene, da sie nun den Areopag, jenes
höchste, heilige Gericht einsetzt, das den Orestes den Erinnyen entzieht,
ihre hochbedeutenden Worte im engsten Anschluß diesem Chorgesange
entnehmen läßt, in welchem die verletzten Göttinnen ihr unzerstörbares
Recht so ergreifend verkünden? Es sei versucht, die Rede in der fast
wörtlichen Übereinstimmung mit dem Chorlied wiederzugeben, wie das
Original sie bietet:


Hier soll fromme Scheu,

Es soll die ihr verwandte Furcht der Bürger hier

Wacht halten und dem Unrecht wehren Tag und Nacht.
─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─

Gleich fern von Zügellosigkeit und Sklavensinn

Zu bleiben, sei dem Volke heiliges Gesetz!

Doch auch des Schreckens sei es völlig nicht befreit:

Denn wer der Menschen, der nichts fürchtet, bleibt gerecht?

Bewahrt ihr fromm euch solche Ehrfurcht, treu dem Recht,

Dann schaffet ihr ein Bollwerk eurem Land, der Stadt

Ein schützend Kleinod, wie die Welt kein gleiches kennt.
─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─ ─

So setz' ich diesen Rat zum unbestechlichen,

Ehrwürdig milden, strenge strafenden und für

Die Schlummernden stets wachen Hüter dieser Stadt.

Damit ist die Versöhnung in nahe glückliche Aussicht gerückt; denn
diese Worte zeigen, daß Athene den Kern des Erinnyen-Rechtes nicht 1 [630]
antasten will. Zwar zunächst scheint die Heftigkeit des Kampfes sich
zum äußersten zu steigern, denn die wirklich nun, und zwar durch
Athenes Stimme erfolgende Freisprechung des Orestes reizt die Gekränkten
zu wild empörter Wut und schrecklichster Drohung. Erst dem
unermüdlich wiederholten Zuspruch der Athene gelingt es, sie zu besänftigen:



Jhr aber wollt nicht schweren Haß auf dieses Land

Ausschütten, nicht so zürnen, nicht Fruchtlosigkeit

Verhängen, Giftschaum niederspeiend, scheußlichen,

Der grünen Saat zerfressenden, schonungslosen Brand.

Denn ich gelob' euch und verspreche feierlich,

Daß ihr an rechter Stelle Sitz und Heiligtum,

An reichem throneshellen Herd zu weilen hier

Euch sollt gewinnen, meinen Bürgern fromm verehrt.

Und weiter, der erneuten Klage gegenüber:


Bring deines Jngrimms schwarzen Wogensturz in Ruh,

Die ehrenhehr du, stadtvereint mir werden sollst.

Und wenn dir einst Erstlinge dieser weiten Au,

Dir Opfer für der Kinder, für der Ehen Heil

Geweihet werden, loben wirst mein Wort du dann!

Vollends deutlich tritt der Sinn der Dichtung in der folgenden
Gegenrede der Göttin gegen die immer erneut andringende Klage der
Erinnyen hervor. Neben der Verehrung der übrigen Götter soll ihnen
ein geordneter Kultus zu teil werden, auch für sie sollen zum heiligen
Hause des Erechtheus empor Festzüge der Männer und Frauen wallen.
Aber diese göttliche Verehrung soll nur jenem berechtigten Kern ihres
Wesens erwiesen sein, den Athenes weiser Spruch unangetastet gelassen
hat. Aufhören soll die wilde Aufreizung zu blutigem Hader, zu verwildertem
Haß, zu jener Trunkenheit fortrasender Wut, die die eigene
Heimat zum Schauplatz erbitterten Kampfes macht, als ob in solcher
Sitte der Blutrache und Geschlechterfehde der Mut der Jugend, die
Kraft der Männer sich erprobe. Jm Kampfe gegen den äußeren Feind
sei fortan die Stelle für den Wettkampf des Mutes und für edle
Ruhmesliebe:


Das nun zu wählen laß von mir dich lehren, daß

Wohlthuend, wohlempfangend, wohlgeehrt, du teil

An meinem Lande nehmst, dem gottgeliebtesten.

Nicht müde wird die Göttin, die immer noch Grollenden mit dem
Zauberwort freundlicher Überredung zu besänftigen, sie geordneter
Verehrung, nimmer erlöschenden Ansehens zu versichern, bis endlich ihr [631]
Zorn weicht und sie sich gewinnen lassen. So werden nun die Furchtbaren
zu den „Wohlwollenden“; der „Eumeniden“ hohe unverbrüchliche
Verehrung soll hinfort dem Lande und dem Volke eine Quelle
reichen, herrlichen Segens sein. Gnadenmild und holdgesinnt rufen die
so Verwandelten nun die Horen und ihre Mutterschwestern, die hohen
Moiren, um ihren vollen Schutz für das Land an, wo sie selbst
Wohnsitz gefunden haben, wo fürder kein Haus ohne sie je gedeihen
soll, wo erhöht wird, wer sie verehrt. Die tiefsinnige Chorstrophe ist
nach ihrem vollen Gehalt unübersetzbar, denn sie umfaßt symbolisch den
großen Gedanken des ganzen Dramas. Es ist eine Bestätigung und
Ausführung des früheren Spruchs: δυσσεβίας μὲν ὕβρις τέκος ὡς
ἐτύμως· ἐκ δ'ὑγιείας φρενῶν ὁ πᾶσι φίλος καὶ πολύευκτος όλβος.
„Der Scheulosigkeit Kind ist der Frevel gewiß; doch aus Gesundheit
des Sinnes kommt allgeliebtes, vielersehntes Glück.“ Dieser selbe Gedanke
wird nun von der Seite der des Gedeihens und des Segens
waltenden Gottheiten ausgedrückt. Nicht fürchterlich rächend soll ferner
der Rechtssinn wirken, sondern wohlthätig sich einfügend in die allgemeine
feste Ordnung. Das wilde Übermaß der die Schicksale begleitenden
Affekte ist in heilige Schranken eingedämmt, daß es nicht
mehr zerstörend hervorbricht, sondern in der hohen Verehrung der „wohlgesinnten
Gottheiten“, der gewaltigen Eumeniden, zu dem „gesunden“
Maß, zu jener „rechten Mitte“ geläutert und gereinigt werde, der
Zeus die Kraft beigesellt und die Glücksgewähr gesichert hat. Die Gesetzeswalterinnen
solchen geordneten Schicksals sind nach griechischer
Religionsvorstellung die Moiren, die Vollzieherinnen aber, die nach
den ewig geltenden Gesetzen die Schicksale wohlthätig zu ihrer rechten
Zeit heraufführen, sind die Horen, die Töchter der Themis.1 Welchen
überwältigenden Eindruck mußte es im Gemüt der griechischen Hörer
hervorbringen, wenn nun die „Furchtbaren“ freundlich gesonnen, ihre
immerwährende, Verderben abwehrende Gegenwart zusagen und, sie selbst,
die bis dahin angstvoll Gefürchteten, von den Moiren und Horen den
Segen für jedes Haus und für jede Stunde, was sie nach der Zeiten
Gesetz in ihrem Schoße berge, herabfleh'n!2

[632]

So mag denn Athene es rühmen:


Wohl hab' ich gethan, vorsorgend dem Volk,

Daß in unsere Stadt ansiedelnd ich auf

Die gewaltigen, schwer zu versöhnenden nahm ─;

Denn zu schaffen der Sterblichen Wohl und Weh

Ward ihnen zu teil;

Wem sie nicht hold, nicht weiß er, woher

Jhn treffen die Schläge des Lebens;

Denn die Schuld von den Vätern ererbet, sie treibt

Jhn in ihre Gewalt; und ein lautlos End',

Ob er laut auch prahlt,

Es vergräbt ihn in grauser Vernichtung!

Und wenn sie so in dem Groll der Erinnyen den Urgrund des
tragischen Geschickes aufgewiesen hat, so zeigt sie in der Gesundung des
Sinnes, in der Klärung des Grausens zur Ehrfurcht den Quell des
Gedeihens und Glücks:

[633]
Von der furchtbaren Schar der Erinnyen seh'

Jch erblühen dem Volk vielteuren Gewinn!

Wenn die Freundlichen ihr mit freundlichem Sinn

Hochehret hinfort,

Wird Land, wird Stadt euch blühn allzeit

Jn der Übung heiligen Rechtes.

Mit dem feierlichen Festzug der Eumeniden zu ihrem neuen Heiligtum
unter dem Jubelruf der Geleitenden schließt das Stück.

Mit wenigem sei nun noch auf das wunderbar großartige Werk
des Sophokles hingewiesen, das in seiner Art so einzig dasteht wie das
des Äschylus; obwohl er den Stoff so völlig verschieden behandelt.

Hier hat die Symbolik keine Stelle, die Handlung ist aus dem
Reiche des Wunderbaren ganz in das rein Menschliche gerückt. Sophokles
hat es vermieden die tiefe, schwer zu lösende Frage der Sühnung
des Muttermordes anzurühren; er umgeht sie ganz und gar, indem er
die Person des Orestes in den Hintergrund treten läßt vor der tragischen
Heldin des Stückes, Elektra. An die Vollziehung der That
durch Orestes wird keinerlei Reflexion geknüpft, ebenso wird der
Spruch des Apollo, der bei Äschylus, mit so starkem Nachdruck
hervorgehoben, den Angelpunkt der Handlung bildet, einfach berichtet,
ohne daß die Stellung des Thäters zu seiner Aufgabe weiter erörtert
würde. Die ganze Motivierung der That ist damit in Elektras Seele
und Charakter gelegt: sie ist die Personifikation jenes unbeugsamen
und unerbittlich auf Vollzug dringenden Ethos, welches mit heroischer,
alles Bedenken ausschließender innerer Gewißheit und Kraft, im Bewußtsein
der inneren Reinheit die Forderung der Nemesis, der
Dike vertritt. Nichts kann sie davon abbringen, keine Lockung von
Glück und Behagen, sie zieht ein düstres Leben lange währender härtester
Entbehrung, schwerster Bedrückung, ja die Aussicht auf das höchste,
schreckhafteste Leiden der Versuchung vor auch nur einen Augenblick
dem ihre ganze Seele erfüllenden Gedanken und Empfinden ungetreu
zu werden. Ja, als die Nachricht von Orestens Tode alle ihre Hoffnungen
daniederschlägt, als nichts als Öde und Verzweiflung mehr
auf ihrem Wege zu liegen scheint, vermag auch das die heroische Kraft,
von der ihre Seele glüht, nicht zu brechen: sie selbst ist nun entschlossen
die That allein zu vollbringen, unbeirrt den Weg zu beschreiten, der
ins Grauenvolle, unerhört Entsetzliche führt. Das heroische Ethos
dieses tragischen Charakters ins hellste Licht zu setzen,
dazu
hat Sophokles die ganze Kraft seiner Kunst aufgeboten.

Es könnte nun scheinen, er habe seine Aufgabe sich so gestellt ─ [634]
und das ist die herkömmliche Auffassung dieser Tragödie ─, daß die
Tragik des Stückes in der Ausführung der furchtbaren Rachethat, die
das Schicksal den Kindern auflegt, beruhe, und daß die Rechtfertigung
der That in der fleckenlosen Reinheit der Gesinnung gegeben sein solle,
die Elektra gewissermaßen zu der Seele der rächenden Sühnung macht,
ihr fast die gleiche Stellung zuweist, die der treibende Wille Apollons
in des Äschylus Choephoren einnimmt. Aus eben dem Grunde hätte
er Orestes, der seine Hand mit der Ausführung des Mordes beflecken
muß, zurücktreten lassen und Elektra, gleichsam als die hohe, reine
Priesterin der Nemesis, zur Heldin seiner Dichtung erwählt.

Jn einer solchen Auffassung läge nichts Falsches; dennoch müßte
sie zum Mißverständnis des Meisterwerkes führen, weil sie nur die eine
Hälfte der Wahrheit enthielte und mit der Unterdrückung der zweiten,
höchst wesentlichen, die Erkenntnis des eigentlichen Zieles der tragischen
Wirkung unmöglich machte.

Es ist leicht zu erkennen, wie der Dichter die höchste Kunst angewendet
hat, um alle erdenkbaren Motive zur Erklärung und zur
Rechtfertigung der That, auf deren Vollziehung Elektras ganzes Sinnen
gerichtet ist, zu vereinigen. Gewiß ist er darin siegreich. Trotzdem ist
es ihm nicht gelungen, das Gefühl heftigen Widerstrebens zu überwinden,
mit dem wir auf die diamantharte Unversöhnlichkeit der Tochter
blicken, welche die Abschlachtung der Mutter mit dem Frohlocken des
befriedigten Gerechtigkeitssinnes begleitet! Nicht für unser modernes
Gefühl ist ihm das gelungen; daß aber die Empfindungsweise der Alten
in diesem für die Beurteilung der Sache wesentlichsten Punkte der unsern
durchaus verwandt war, dafür zeugt die großartige Vertiefung, die
Äschylus der Lösung der Frage zu geben für erforderlich hielt.

Nicht das moderne, sondern das menschliche Gefühl muß durch
die Elektra des Sophokles tief verletzt werden, sobald man sie in der
angegebenen Weise auffaßt; daran kann kein Zweifel sein. Aber rätlich
dürfte es erscheinen, ehe man der Größten einem auch nur in dem einen
Falle den Mißerfolg seiner Absicht vorwirft, zu zweifeln, ob man denn
auch seine Absicht recht erkannt habe.

Selbst die Art, wie einer der besten Kenner und feinsten Beurteiler
des Altertums über den Gegenstand ins reine zu kommen sucht,
kann unmöglich befriedigen. Otto Jahn zieht in der schönen Abhandlung
über „Goethes Jphigenie auf Tauris1 neben der Orestie des [635]
Äschylus auch des Sophokles Elektra in ausführliche Betrachtung. Er
kommt bei beiden zu dem Schlusse, daß sie unserer modernen Denkart
kein Genüge leisten können.

„Vielleicht,“ sagt er, „hat Sophokles, der Meister der psychologischen
Tragödie, nicht geglaubt, durch dichterische Behandlung dieser
Sage den Widerstreit in der Seele des Muttermörders befriedigend lösen
zu können. Mindestens hat er in der Tragödie, welche den Muttermord
des Orestes zum Gegenstand hat, in seiner Elektra, einen ganz
andern Weg eingeschlagen als Äschylus, indem er sich an die ältere
Auffassung des Epos anschloß.“ Dieser erschien, wie O. Jahn ausführt,
die Blutrache als eine große heroische That. „Aber,“ fährt er fort,
„seine Aufgabe war es, dem, was er seinem Publikum als Thatsachen
der Sage vorführte, dichterische Wahrheit zu verleihen. Der Befehl des
Gottes war allerdings ein bedeutendes Motiv, allein um wahrhaft wirksam
zu werden, mußte es als ein Gebot höherer Sittlichkeit nachgewiesen
werden, wie es Äschylus in seiner Weise versuchte. Die größte Schwierigkeit
aber war, die That des Orestes und sein Verhalten zu derselben
begreiflich zu machen und dadurch zu rechtfertigen. Ein wirksames
Mittel war die Darstellung der Klytämnestra als einer Frau, welche
ihre Pflicht als Gattin und Mutter so gänzlich vergessen hat, in Selbstsucht
und Buhlerei so untergegangen ist, daß sie keinen Anspruch mehr
auf Mitgefühl hat. Jndessen, wie sehr sie auch die härteste Strafe verdient
haben mag, der Anstoß, daß der Sohn sie an ihr vollziehen muß,
wird dadurch nie beseitigt. Jeder Versuch aber, seinen Seelenzustand
zu zergliedern und im Verlauf des Dramas aus den verschiedenen
Stimmungen und Erwägungen des Orestes die That hervorgehen zu
lassen, mußte scheitern, denn sobald ihn in irgend einem Moment
Zweifel an der Berechtigung seines Handelns ergriffen, waren diese nur
durch ein Zurückgehen auf überwundene Anschauungen einer roheren
Zeit oder durch Sophismen ohne überzeugende Kraft zu beseitigen. Mit
der Genialität des wahren Dichters ist Sophokles diesen Schwierigkeiten
begegnet, indem er den vom Orakel gebotenen Muttermord als ein
unabänderliches Faktum, Orestes nur als Werkzeug des göttlichen
Willens darstellt, die psychologische Motivierung dagegen in eine Persönlichkeit
verlegt, welche an der That selbst nicht beteiligt, aber von
allen hier einwirkenden Verhältnissen ebenso nahe berührt ist, als der
Thäter selbst. Was Elektra erlebt und empfindet, gibt dem Zuschauer
das Gefühl, daß Orestes berechtigt ist, die grauenvolle That zu vollziehen.“


Und das hieße der Schwierigkeit „begegnen“? und obenein „mit [636]
der Genialität des wahren Dichters“? Es hieße der Schwierigkeit aus
dem Wege gehen,
es wäre die Art des schwächeren Dichters, über
die Tiefe der geöffneten Kluft hinwegzutäuschen und durch die Künstlichkeit
der Behandlung dem Jnteresse die Richtung auf andere, für
das Wesen der Handlung nicht entscheidende Dinge zu geben!

O. Jahn verfehlt nicht, in der sich anschließenden, eingehenden
Jnhaltsangabe des Stückes auf die feinen Kunstmittel hinzuweisen, die
der von ihm hervorgehobenen Absicht des Dichters dienen: das Mitleid
mit der jammervollen Lage der Elektra, das der Chor ergreifend ausspricht,
die Drohung ihrer Bedränger sie lebendig zu begraben, vor allem
die Haltung der Klytämnestra, die durch ihre hochfahrenden Drohungen
gegen die Tochter, zumeist aber durch den Hohn und Übermut bei der
Nachricht von dem elenden Tode des Sohnes „sich vor dem Zuschauer
selbst gerichtet hat, das letzte Band, welches ihre Kinder noch an sie
fesseln konnte, zerrissen, so daß sie auf Mitgefühl keinen Anspruch mehr
machen kann“. Endlich den Entschluß der Jungfrau selbst die Mannesthat
zu vollziehen. „Diese äußerste Anspannung der Leidenschaft macht
es klar, bis zu welchem Grade alle Verhältnisse, wie sie die Natur
zwischen Eltern und Kindern gegründet hat, zerrüttet sein müssen, daß
ein solcher Entschluß in der Brust der Jungfrau entstehen konnte; man
empfindet es als eine Wohlthat, wenn nun Orestes für sie eintritt und
gewissermaßen als der Berufene, die schwere Pflicht auf sich nimmt. Hat
Elektra bisher nur leidenschaftliche Äußerungen der Klage, des Hasses
und der Rache kundgethan, so muß der Zuschauer auch die Überzeugung
gewinnen, daß diese nicht einem herben und harten Gemüt entspringen,
daß ihr Herz auch den weichen und innigen Gefühlen der Liebe und
Zärtlichkeit offen ist. Als Chrysothemis Elektra verlassen hat, tritt
Orestes mit der Urne auf, in welcher sich angeblich die Asche des Gestorbenen
befindet. Elektra empfängt sie mit den rührendsten Klagen
weichsten Schmerzes, und als Orestes ihr dann den Trug offenbart, sich
ihr als Bruder kundgibt, da strömt sie über in jubelnder Freude und
kann sich ihres Glückes mit dem wiedergeschenkten Bruder nicht ersättigen;
auch den treuen Pädagogen, den sie nun erst wiedererkennt, begrüßt sie
mit überquellender Herzlichkeit. Nun erst ist man zu der Gewißheit
gelangt, daß ein echt weibliches, tief empfindendes Gemüt nur durch
schwere Verletzung in dem, was den Kern seiner liebenden Empfindung
und seines sittlichen Gefühles ausmacht, bei starker Leidenschaft und
seltener Energie zu solcher Bitterkeit und Heftigkeit gebracht werden
konnte, nun erst hat man die Überzeugung von der Berechtigung
dieses unauslöschlichen Rachegefühls gewonnen: die That selbst wird dem [637]
Zuschauer entzogen. Während Orestes drinnen Klytämnestra überrascht,
verfolgt Elektra gespannt, was vorgeht, und nimmt durch die herben
Worte, mit welchen sie die Ausrufungen der Klytämnestra begleitet,
namentlich durch das furchtbare Wort, welches sie auf deren Jammern:
‚Weh mir! verwundet!‘ dem Orestes zuruft:


Schlage zweimal, wenn du kannst!

von neuem die Verantwortung für das, was er thut, gewissermaßen
auf sich.
Nachdem die Rache vollzogen ist, verhindert das
Erscheinen des Ägisthus jede nähere Betrachtung über das was geschehen
ist. Sein übermütig rohes Benehmen, das Unwillen und Verachtung
erregt und die verdiente Strafe herausfordert, drängt nicht nur die
Tötung der Klytämnestra zurück, sondern wirft auch den Schatten
des Gefühls,
daß hier nur Gerechtigkeit geübt wird, auf die Genossin
seiner Frevel zurück.“

So richtig diese Hinweisungen an sich sind, dergestalt, daß die
Citierung derselben ein weiteres Eingehen auf die hier hervorgehobenen
Züge überflüssig macht, so höchst unsicher sind die daraus gezogenen
Schlüsse: „nun erst hat man die Überzeugung von der Berechtigung
dieses unauslöschlichen Rachegefühls gewonnen“? als ob dieselbe je einen
Augenblick zweifelhaft sein könnte! Und was für ein gezwungenes und
unhaltbares Argument, daß Elektra durch jene „furchtbaren“ Worte „von
neuem die Verantwortung für das, was Orestes thut, gewissermaßen
auf sich nehme“!

O. Jahn hat auch ein deutliches Bewußtsein von der Schwäche
dieser Konstruktionen gehabt, aber er weist sie dem Dichter zu statt
seiner eigenen, in diesem Falle unzulänglichen Auffassung der Dichtung.
„Sophokles,“ fährt er fort, „hat auch hier seine große Meisterschaft
bewährt, das seiner Natur nach Verletzende in den Hintergrund zu
stellen und als etwas rein Thatsächliches wirken zu lassen, und dadurch
den Zuschauer frei zu machen, um dem künstlerischen Spiel der feinsten
psychologischen Entwickelung mit reinem Genuß zu folgen. Wie sehr
wir aber auch die Kunst bewundern, mit welcher er uns über das
schwierige sittliche Problem hinwegzutäuschen weiß,
so gelangen
wir, denen jenes Thatsächliche eben kein wahrhaft
Thatsächliches mehr ist,
dadurch doch nicht zu vollkommener
Befriedigung.

Schwächer kann die Sache des Dichters nicht geführt werden.
Es ist nicht die wahre Kunst, am wenigsten die des echten Genies,
die über das schwierigste Verhältnis der Handlung statt die Empfindung [638]
mit klärender Gewißheit zu durchdringen, vielmehr das Gefühl in Täuschung
zu erhalten sucht, und es wäre ein Kunstwerk von sehr untergeordnetem
Werte, dessen Wirkung von dem Glauben an die Thatsächlichkeit
seines sagenhaften Jnhaltes abhinge.

Damit noch nicht genug! Auch die Forderungen an Form und
Wesen der Tragödie, wie sie sonst in den tragischen Meisterwerken der
Griechen erfüllt werden, müßten bei einer solchen Auffassung der Sophokleischen
Elektra leer ausgehen. Denn grade die Umstände der Handlung,
die deren tragische Vertiefung zuwege bringen, wären es, für deren
Beseitigung der Dichter alle seine Kunst aufgewandt hätte; es bliebe nur
die gerechte Bestrafung der Schuldigen übrig und zwar so, daß wider
den Willen
des Dichters, der uns die Handlungsweise seiner Heldin
als völlig gerechtfertigt vorführen möchte, die Zuschauer die unabweisbare
Empfindung einer Hamartie derselben erhalten, daß er also die
an sich wenig tragische Wirkung, die er beabsichtigte, nicht einmal
erreichte.

Wie aber, wenn der Dichter grade diese Hamartie, ohne
welche dem griechischen Empfinden das Tragische gar nicht vorstellbar
war, gewollt hat, wenn sie ihm die Grundlage dieses Charakters
bildete, wenn der Aufbau der tragischen Handlung grade durch sie bestimmt
wurde?

Nur die voreingenommene, falsche Meinung, daß man es hier
mit einer Orestie zu thun habe, nicht vielmehr mit der Tragödie
der Elektra,
konnte die Täuschung darüber hervorbringen und erhalten.
Man lese die Tragödie in diesem Sinne, man denke sie sich in diesem
Sinne vorgestellt, und alles gewinnt ein ganz verändertes Ansehen!
Wie erscheint diese Elektra auf der Bühne? Gramdurchfurcht, vom
Leiden verzehrt, die königliche Gestalt von Kummer gebeugt, durch Entbehrung
entstellt, zu Sklavendienst erniedrigt, ein Bild des Schmerzes,
des Jammers, ist sie der Gegenstand tiefsten Mitleids für den Chor,
den Chor der Dienerinnen des Hauses, denen sie zugesellt ist. Orestes
vermag sie in dieser Erniedrigung nicht zu erkennen, und als er sie
erkennt, erfaßt ihn Grauen und er bricht in laute Klage aus: „Du
wärst Elektra! Wäre dies dein edles Bild? Und weiter: „Ha! dieser
gottlos frevelhaft entstellte Leib!“ Aber nicht nur als ein Bild „unsel'gen
Unglücks“ mitleiderweckend erscheint sie, sondern von flammendem
Haß durchlodert, von dem langgenährten Feuer eines Rachegeistes durchglüht,
das nur in dem Blute der Mörder ihres Vaters erlöschen kann:
furchtbar! Hierin das Äußerste vor Augen zu stellen, das die menschliche
Phantasie ersinnen kann, hat der Dichter sich vorgesetzt. Nur so [639]
ist die an Furchtbarkeit alles andere hinter sich lassende Scene zu erklären,
die den Höhepunkt der Tragödie bildet:


Klytämnestra:

Weh, weh! Die Hallen, ach!
Sind leer von Freunden, Mörder drohen rings umher!


Elektra:

Da drinnen ruft man! Hörtet ihr's, o Freundinnen?


Chor:

Ja! Grauenvoll scholl es her! Hört' ich's nicht! Mich schaudert!


Klytämnestra:

Weh mir Unsel'gen! Wo, Ägisthos, weilst du doch?


Elektra:

Schon wieder! Lautes Schreien!


Klytämnestra:

O, mein Kind! mein Kind!
Erbarmen deiner Mutter!


Elektra:

Hast du's denn gefühlt?
Nicht mit dem Sohne und mit seinem Vater nicht!


Chor:

Königlich Haus! O Geschlecht des Jammers! Heute
Rafft dich hinab das Geschick! Du sinkst, du sinkst!


Klytämnestra:

Weh mir! Jch blute!


Elektra:

Triff sie doppelt, hast du Kraft!


Klytämnestra:

Weh! Weh! Noch einmal!


Elektra:

Fiele doch Ägisthos mit!


Chor:

Erfüllt der Fluch! Auferstehn, die das Grab drunten barg!
Denn zurückgefordert Blut entsaugen schlürfend nun
Den Mördern die vorlängst Gestorbnen!

[640]

Wie die verkörperte Ate, wie die Fluch-Erinnys des Hauses
verschärft Elektra das Entsetzliche der That durch ihre Verwünschungen,
während der doch mit seinem Empfinden weit minder beteiligte, ja durch
die erlösende Rache eher zur aufatmenden Freude berechtigte Chor tief
erschüttert, von Furcht und Mitleid bewegt, dem Schrecklichen mit
ernstem, frommem Schauder gegenübersteht. Wie wäre es möglich, daß
dieser grell hervorstechende Zug von dem Dichter ohne eine tief begründete
Absicht verwendet sein sollte?

Sophokles hat die Orestie als solche nicht zum Gegenstande
seiner Tragödie gemacht; die Rachethat des Orestes bildet für die Handlung
seines Stückes nur einen, allerdings unentbehrlichen Umstand.
Der Jnhalt dieser Handlung ist das tragische Leiden der Tochter Agamemnons
in dem durch den Mord des Vaters, durch das schmachvolle
Treiben der Mutter und ihres gleich verächtlichen und gewaltthätigen
Buhlen geschändeten Atridenhause, dieses Leiden verschärft durch ihre
heroische Natur, die unfähig ist der Schande des Geschlechts schweigend
zuzuschauen und nicht, wie sie mit ganzer Seele sie haßt, sie auch mit
grenzenloser Hingebung zu bekämpfen; dieses Leiden zum Gipfel gesteigert
durch den vermeintlichen Tod des Bruders, des geliebtesten
Wesens, und durch den Verlust aller Hoffnung, verbunden mit der
drohenden Aussicht auf äußerste Mißhandlung, ja den qualvollsten Tod:
endlich durch eine erlösende Erkennung all dieses Unglücklichste abgewandt,
das lange, schwere Leiden durch die Erfüllung der ersehnten
sühnenden Rache geendigt, aber geendigt doch nur durch die furchtbarste
Schreckensthat, den Mord der eigenen Mutter! Den Mord selbst zu
vollziehen, erspart ihr das Schicksal, aber ihr tragisches Schicksal
ist es, daß sie nach der Natur ihres Wesens ─ ihrer φύσις, die der
Dichter sie so bedeutsam selbst bezeichnen läßt: die φύσις, die „Natur
dazu den Mord des Vaters zu strafen, hatte sie schon im zartesten 1 [641]
Alter, damals als er geschah, nur die dazu erforderliche Einsicht fehlte
ihr1 ─ und nach der Situation, in die sie gestellt ist, weit über die
Grenze hinaus von der verzehrenden Glut des Sinnes, den die That
erfordert, noch schwerer erfaßt wird, als sogar der Thäter selbst. Wie
könnte auf dem starren Antlitz, das mit Begierde dem Schreckensruf
der unter dem Schwerte zusammenstürzenden Mutter lauschte, je wieder
ein Lächeln erblühen, wie könnte der Mund, der jenes gräßliche „Triff
sie doppelt, hast du Kraft“ auszusprechen vermochte, je wieder zu einem
Laut der Freude sich öffnen! Für Orest, den der Gott zum Werkzeug
berufen, gibt es eine Entsühnung. Die Sage meldet davon, der Dichter
setzt es voraus und berührt die Frage gar nicht: für Elektra ist das
Leiden zwar beendet, aber das Glück, das ihr früh geraubt wurde,
bleibt ihr auf immer entrissen. Einsam, düstren, herben Sinnes, tief
verschlossen und dem hoffenden Leben abgestorben, wird sie den Fluch
weiter forttragen, von dem Schicksal zu dem sterblichen Gefäß der göttlichen
Nemesis erwählt gewesen zu sein.

Die Elektra des Sophokles ist eine ethische Tragödie. Der
Charakter der Heldin ist tragisch; tragisch durch seine Anlage und
durch die Schicksalssituation, die diese Anlage zum verhängnisvollen
Äußersten steigert. Nun aber die wunderbare Kunst, mit der er seine
Aufgabe behandelt! Von ihr ist mit Recht zu sagen, daß sie das Genie
des wahren Dichters zeigt, während es doch nur eine Pseudokunst zu
nennen ist, die den Mangel des Wesentlichsten zu verdecken aufgewendet
würde. Durch das ganze Stück hin zeigt uns Sophokles seine Heldin
vor allem als einen würdigen Gegenstand unseres tiefsten Mitleides!
Wir sehen ihr namenloses Leiden, wir erleben es mit allen seinen Steigerungen,
wir erkennen, wie der heroische Adel ihrer Seele es ist, durch
den es mit seinen immer tiefer einschneidenden Verschärfungen so qualvoll
auf ihr lastet: seine Quellen sind ihre heiße, erhabene Verehrung des
ihr entrissenen Vaters, ihre überquellende Bruderliebe, zu deren
voller, mit überwältigender Rührung ergreifender Entfaltung der Dichter
das Mittel der Anagnorisis zu höchster dramatischer Spannung verwertet
hat, endlich ihre edle Gerechtigkeitsliebe, der den brennenden
Schandfleck der Schmach ungetilgt thatenlos fortwährend vor Augen
sehen zu müssen die höchste Qual ist. Sie leidet und sie leidet unverdient,
ja um dessentwillen, das sie des schönsten Ruhmes wert macht.
Solches tragische Leiden sichert ihr unser volles Mitleid. Hier
wäre jedes Wort des Nachweises überflüssig. Mit gleichem Bedacht aber [642]
hat der weise Dichter durch das ganze Stück hin, von seinem ersten
Beginn bis zum Schlusse, der Darstellung des Edelsinns und des Leidens
die scharf bestimmte Zeichnung der Hamartie hinzugefügt, jener Überschreitung
des Maßes, wodurch ihre Gesinnungsweise so verhängnisvoll
für sie wird. Nicht als ob dieser unversöhnliche Haß, diese stürmende
Heftigkeit, diese unbeugsame Starrheit eine Schuld der Elektra bedeuteten,
durch die sie ihr Leiden verdiente! Aber die wirkende Ursache,
die ihr Unglück zur tragischen Höhe steigert, liegt allerdings in diesem
Fehler ihres Charakters, nur daß dieser Fehler nach menschlicher Weise
von der heroischen Kraft, der imponierenden Größe ihrer Seele untrennbar
ist. Und hierin liegt die Furchtbarkeit dieser düster=tragischen
Erscheinung! Es liegt darin zugleich die Allgemeinheit der tragischen
Darstellung dieses Einzelfalles. Jmmer und überall wird so die fleckenlose
Reinheit dem Verbrechen und dem Laster, in deren Händen die
Herrschaft ist, gegenüberstehen, immer wird das unterdrückte Gefühl der
Gerechtigkeit, dem die Mittel fehlen sich selbst Genüge zu schaffen, mit
diesem unbezähmbaren Trotz, dieser stolzen, ungezügelten Verachtung,
diesem lodernden Jngrimm dem Unrecht und der Schmach, die es nicht
vernichten kann, wenigstens die eigenen Züge zeigen; immer wird der
verzehrende Schmerz um die ungesühnte Schändung und Vertilgung des
Teuersten so in lang genährter Qual auch in der Brust der Edelsten
endlich jede Regung der Milde, jede Spur des Erbarmens mit dem
Feinde nicht des eigenen Glückes, sondern der heiligen Sache, verdorren
lassen, bis nur das eine furchtbare Gebot der schonungslosen Rache
als Herrscher der Seele übrig bleibt!

Dennoch, wie sollte man diese Gesinnung tadeln, die der Rettungsanker
des im Sturm verschlagenen und dem Untergange preisgegebenen
Rechtes ist, der strahlende Stern in der Nacht des Frevels? Wer wollte
der Fügsamkeit, die ohne sich zu erniedrigen doch in besonnener Mäßigung
die Zeit abwartet, wo die Wolken von selbst sich klären werden,
vor ihr den Preis zuerkennen? Diese Gegensätze sind es, die Sophokles
mit höchster Feinheit gegeneinander abgewogen, sowohl durch den Streit
der Schwestern, als durch die Haltung, die er dabei den Chor einnehmen
läßt. Andrerseits legt er dem Chor auch, und zwar gleich von
den ersten Scenen an, den klar ausgesprochenen Tadel des Übermaßes
in den Mund, dem Elektra sich hingibt. Noch stärker erhält dann der
Zuschauer diesen Eindruck in der großen Scene der Elektra mit Klytämnestra,
und nicht umsonst hat der Dichter das Äußerste, Furchtbarste
ihrer Verleugnung des Weiblichen, ja des Menschlichen an den Schluß
gesetzt, wo ihre Aufforderung an Orest, den Leichnam des Ägisthos den [643]
Hunden und Vögeln zum Raub vorzuwerfen, fast befriedigend wirkt
gegenüber der Haltung, mit der sie kurz zuvor beim Mord der Mutter
das Blut der Hörer erstarren machte. Ein Umstand fällt dabei noch
besonders schwer ins Gewicht. Nachdem die Erkennung des Orest erfolgt
ist, liegt die Ausführung der That ganz in den Händen des
Bruders und seiner Begleiter; es wird von ihr nichts zur Förderung
derselben verlangt. Die Handlung geht nach dieser Seite ihren Gang
ohne sie: die eigentliche Handlung des Stückes aber bleibt auch hier
das ethische Verhalten Elektras bei diesem äußern Fortgang der
Ereignisse.

Die ungestüme Heftigkeit ihrer Freude wirkt nicht allein verzögernd
und hemmend, sondern sie würde dem Unternehmen verderblich
werden, wenn nicht die Wachsamkeit des treuen Pflegers es verhütete.
Aber statt in dem furchtbar hohen Ernst des Schreckensmomentes nun
die Empfindung des Schauders zu zeigen, gemischt mit dem befreit auftretenden
Dankgefühl, daß durch das Schicksal die Last ihren schwachen
Schultern abgenommen ist, läßt der Dichter in strenger Wahrheit die
Konsequenz dieses in schwerstem Leidensgeschick zu granitner Härte erstarrten
Frauencharakters sich enthüllen. Es ist eine Feinheit, die wieder
uns den großen Dichter anzeigt, daß Sophokles die Wucht der tragischen
Wirkung eben nur in die Entfaltung dieses so gearteten, tragisch
durch das Leiden fehlgeleiteten Ethos legt und durch keinerlei Andeutung
ihres ferneren äußeren Geschickes dieser Wirkung zu Hülfe kommt. Jhr
schweres Leid liegt fortan in ihr selbst; ihre tragische Größe ist es,
daß es aus dem Adel ihrer Seele und aus dem Heroismus ihres Charakters
in der Lage, die ihr zugewiesen war, unabwendbar erwachsen mußte.

Deshalb konnte in dieser Tragödie von Reue und von den
Erinnyen keine Rede sein, von keiner Sühnung! Jn streng einheitlichem
Aufbau wendet das Stück die Furchtempfindung des Zuschauers
auf denselben Punkt, von dem aus es sein reiches Mitleid
entquellen ließ: aus ihrer völligen Verschmelzung entsteht ihm die ernst
gehobene, in sich geläuterte und gefestigte Stimmung der tragischen
Katharsis.

Die „Elektra“ des Euripides scheint entstanden zu sein, indem
in unverstandener Kritik sowohl der Äschyleischen „Choephoren“ als der
Sophokleischen „Elektra“ der Autor eine Reihe von Umständen, die bei
jenen ihm Anstoß gaben, geflissentlich, zum Teil mit direkter Polemik,
in entgegengesetzter Weise behandelte. So ist eine Art von Karikatur
jener beiden Stücke entstanden, die ernst zu nehmen immer wieder schwer
fallen muß: so stark versündigt sich dieses seltsame Stück gegen alle [644]
Anforderungen des Tragischen. Gewandte Rhetorik und ein gewisser
Schimmer und Schmuck der Diktion ist alles, was man ihm nachrühmen
kann. Die bloße Jnhaltserzählung kann als Beweis genügen, daß
Euripides in dieser angeblichen Tragödie das Unerhörte an Verhöhnung
aller ihrer Gesetze geleistet hat.

Ägisthos, der einen Preis auf den Kopf des Orestes gesetzt hat,
wollte auch Elektra töten; Klytämnestra, die nicht so schlimm war wie
er, „denn einen Vorwand hatte sie beim Gattenmord“, rettet die Tochter.
Um sie aber unschädlich zu machen, verheiratete man sie an einen
mykenischen Bauern, einen redlichen Mann jedoch, der teils aus „Tugend“,
teils freilich aus kluger Vorsicht in ihr die königliche Jungfrau respektiert,
denn Orestes, wenn er doch einmal heimkehrte, würde ihm übel
mitspielen, fände er ihn wirklich als seinen Schwager. Elektra tritt
auf, durch armseligen Aufzug Mitleid erregend, auch in wortreichen
Klagen sich ergießend, aber in friedlicher, dankbar frommer Fassung sich
in ihr Los schickend. Sie dankt dem „Freunde“ für seine zarte
Schonung und verheißt ihm, die Last der häuslichen Arbeit auch fernerhin
gemeinsam mit ihm zu tragen, „im Hause muß ich alles ordnen; kommt
der Tagelöhner heim, so freut er sich, es innen wohlbestellt zu sehn.“
Jn gleicher idyllischer Stimmung erwidert er mit Sentenzen besonnener
Weisheit. ─ Orestes erscheint mit Pylades und exponiert in poetisch
geschmückter Rede seine Absicht, um sich dann, da Elektra zurückkehrt,
im Gebüsch zu verbergen, während jene ein längeres, wohlgesetztes
Klagelied singt. Ganz äußerlich motiviert tritt der Chor mykenischer
Landfrauen auf, um Elektra zu einem Fest der Hera zu laden; er mahnt
sie von ihrem Klagen ab und empfiehlt ihr das Gebet zu den Göttern.
Orestes tritt nun hervor und unterrichtet sich in ausführlicher Weise
im Gespräch mit Elektra über alle Vorgänge im elterlichen Hause, wobei
der Chor ohne den geringsten Anteil assistiert. Obwohl Elektra die
Frauen als unbedingt ergeben und verschwiegen rühmt, zögert Orestes
doch sich ihr zu entdecken. Wie genrehaft die Behandlung des alten
heroischen Sagenstoffes durchweg gehalten ist, dafür statt vieler Proben
ein einziges Zeugnis! Der Landmann erblickt heimkehrend die Männer
im Gespräch mit der ihm vermählten Elektra: „Ha! welche Fremden
seh ich hier an meiner Thür?“ ruft er aus. „Dem Weibe bringt's Unehre,
so mit jungen Männern dazustehn.“ Und Elektra: „Mein Liebster,
sei doch meinetwegen unbesorgt! Du sollst die Wahrheit hören u. s. f.“
Jn dieser Situation nun hält Orestes den Umstehenden eine lange
Rede von mehr als dreißig wohlgefeilten Versen ─ worüber? Über die
echte Tugend des wahren Biedermannes!
Hängt sie vom Gelde [645]
ab? Nein! Jst sie die Begleiterin der Armut? Auch nicht. Nicht Waffenruhm,
nicht adelige Herkunft, nicht Körperkraft entscheiden darüber,
sondern Seele und Geist. Dieser Mann des Volkes gebe davon ein
Beispiel! Der Landmann lädt die Fremden in sein Haus, denn trotz
seiner Ärmlichkeit werde für einen Tag sich das Erforderliche wohl noch
auftreiben lassen, und knüpft daran erbauliche Betrachtungen über den
Wert des Geldbesitzes. Nun zum erstenmale erhebt der allein zurückbleibende
Chor seine Stimme zu einer zusammenhängenden Äußerung.
Er singt ein nach den Regeln der metrischen Kunst komponiertes Stasimon;
aber als ob er direkt die horazische Regel verhöhnen wollte ─
neu quid medios intercinat actus, quod non proposito conducat et
haereat apte
─, preist er in vier prächtigen Strophen und Antistrophen
den Schild des Achilleus, um am letzten Ende der Schlußstrophe
dem das Folgende anzuhängen: „Und solcher lanzenkundigen Männer
König, ihren Gemahl, erschlug das ruchlose Weib. Darum werden dich
die Götter in den Tod senden; ich sehe noch, wie vom Nacken das Blut
dir strömt, den der entseelende Stahl getroffen!“

Die folgende Scene bringt die über jede Vorstellung abgeschmackte
Polemik gegen die skizzenhafte Behandlung, in der Äschylus seiner großartigen
Weise entsprechend den äußeren Hergang der Erkennung mehr
geflissentlich in den Hintergrund gerückt als ausgeführt hat. Ein Greis,
der einst Agamemnons Erzieher war, naht keuchend, „mit des Rockes
Zipfel sein Auge trocknend, welches feucht von Thränen ist;“ er kommt,
die darbende Tochter seines alten Gebieters aus seinem geringen Besitz
mit Mundvorrat zu versorgen, zugleich aber hat er ihr zu melden, daß
er am Grabe des Königs Opferspenden und blonde Haarlocken gefunden:
gewiß sei Orestes heimgekehrt! Und nun entspinnt sich der folgende
Dialog, in welchem die drei von Äschylus kurz angegebenen Erkennungszeichen
durchgehechelt werden:


Der Alte:

Sieh diese Locken, lege sie zu deinem Haar,
Ob dies dem abgeschor'nen gleich an Farbe sei.
Denn, die von eines Vaters Blut entsprossen sind,
Sind meist in allem an Gestalt und Art sich gleich.


Elektra:

Du redest nicht, wie's klugen Männern ziemt, o Greis:
Du meinst, Ägisthos fürchtend, sei mein mutiger
Orestes heimlich angelangt in diesem Land?
Und dann sein Haar, wie glich' es meinem Haare wohl?
Er wuchs im Ringplatz, edler Väter Kind, heran;
So ward es rauher: meines blieb vom Kamme zart. [646]
Auch findest du bei vielen gleiches Haar, o Greis,
Die doch von einem Blute nicht entsprossen sind.


Der Alte:

So tritt in seiner Sohle Spur und prüfe, Kind,
Ob sie mit deines Fußes Maß zusammenstimmt.


Elektra.

Wie könnte hartem Steinesgrund der Füße Spur
Wohl eingedrückt sein? Aber wär' es möglich auch:
Nie könnten doch des Bruders und der Schwester Fuß
Einander gleich sein: größer ist der männliche.


Der Alte:

Doch, wenn Orestes heimgekehrt hier stünde, hast
Du nichts, woran du dein Geweb' erkennen magst,
Jn das ich ihn einhüllend einst dem Tod entriß?


Elektra:

So weißt du nicht mehr, daß ich, als Orestes floh,
Noch Kind war? Aber hätt' ich auch ein Kleid gewebt:
Wie trüg' er, damals Knabe, jetzt dasselbe noch,
Wenn mit dem Leibe nicht zugleich die Kleidung wächst?

Seines vollen Triumphes genießt dann Euripides nicht allein über
Äschylus, sondern auch über Sophokles, der einen Ring als Bestätigungszeichen
benutzt, indem er durch etwas ganz Neues die Erkennung herbeiführt,
durch eine Narbe!

Sogleich wird nun zwischen den dreien ein höchst umständlicher
Plan beraten, wie mit List die Rachethat auszuführen sei, darunter ein
empörendes Detail. Es handelt sich darum, die Mutter zu fangen:
El.: „Geh, Alter, Klytämnestren anzukündigen, geboren hab' ich einen
Sohn, sei Wöchnerin.“ D. A.: „Von lange her schon, oder erst in
jüngster Zeit?“ El.: „Seit zehen Sonnen: heute sei die Reinigung.“
D. A.: „Wohl; aber wie führt dieses ihren Tod herbei?“ El.: „Sie
kommt sogleich, vernimmt sie, daß ich Mutter bin.“ D. A.: „Wie so?
Du meinst wohl, sie bekümmere sich um dich?“ El.: „Gewiß; sie weint
um meiner Kinder edles Los.“ D. A.: „Vielleicht; doch lenke wieder
um aufs Vorige.“ El.: „Nun, kommt die Mutter, ist es traun um sie
geschehn!“ D. A.: „Sie muß hinein, zum Hausesthore selbst hinein!“
El.: „So steigt sie leicht in Hades' düstres Haus hinab.“ ─ Man
weiß nicht, was schlimmer wirkt, die Niedrigkeit dieses sauberen Arrangements,
oder die behagliche Breite, mit der es vereinbart wird: beides
hätte seinen Platz nur in der burlesken Parodie.

Orestes eilt zur Entscheidung, nachdem Elektra in plötzlicher
heroischer Aufwallung ihm erklärt hat, daß sie im Falle des Mißlingens
sich ein „doppelschneidig Schwert in die Brust“ stoßen werde. Jn= [647]
zwischen singt der Chor das zweite Stasimon. Es enthält eine rationalistische
Kritik
der Sage, daß, als Thyestes das Weib des Atreus
berückt hatte, um das goldene Vließ zu gewinnen, die Sonne und die
Sterne ihren Lauf geändert hätten. Der Chor schenkt dem geringen
Glauben,
daß Hyperion seinen goldenen Wagen umgewendet habe,
Leid dem Menschengeschlecht zu bringen wegen eines Sterblichen Schuld.
Solche furchtbaren Sagen aber seien nützlich, die Verehrung
der Götter zu erhalten.
Schluß: Dieser Verehrung hast du vergessen,
als du deinen Gatten mordetest!

Mordgeschrei und Getümmel klingt herüber, mit theatralischer
Gebärde will Elektra schon zum Selbstmord schreiten, da erscheint der
Bote und berichtet in langer Erzählung, einem epischen Glanz= und
Schaustück ─ so viel leichter ist es, ein einzelnes Ereignis spannend
und lebensvoll zu schildern, als eine Handlung aufzubauen ─, von der
Ermordung des Ägisthos. Jetzt beginnt die Polemik gegen Sophokles,
dessen rauhe Größe den zart empfindenden Dichter beleidigt. Der sieggekrönte
Orestes bringt den Leichnam des Ägisthos und befiehlt der
Schwester, ihn den Hunden und Vögeln zum Raube an einem Pfahle
schwebend aufzuhängen. Darauf El.: „Jch muß erröten, aber doch
erklär' ich mich ─“ Or.: „Wovor? O rede! Denn befürchten darfst du
nichts.“ El.: „Auf Tote Schmach zu häufen: Haß wär' unser Lohn.“
Or.: „Hier gibt es niemand, der dich darum schelten wird.“ El.:
„Reizbar, zu Tadel aufgelegt ist unser Volk.“ Und nun geschieht das
Unglaubliche. Zur Leiche tretend hält Elektra ein großes Plaidoyer,
volle fünfzig Verse lang, nach allen feinsten Regeln forensischer Beredsamkeit;
von der Frage aber, was mit der Leiche geschehen soll, sagt
sie kein Wort. Statt dessen gibt sie ein Resumé des Thatbestandes und
knüpft daran einen nicht endenden Schwall der verschiedenartigsten moralischen
Betrachtungen. Z. B: „Doch jeder wisse, der ein fremdes Weib
berückt zu loser Buhlschaft, und sie dann gezwungen nimmt, unglücklich
ist er, wenn er wähnt, sie werde Zucht bei ihm bewahren, die sie früher
nicht bewahrt. Sie ward durch dich unglücklich, du durch ihre Schuld.“
„Schmachvoll ist es, wenn im Haus das Weib gebietet, nicht der Mann.“
„Jene Kinder auch sind mir zuwider, die man nicht dem Mann nach,
dem Vater, sondern nach dem Stamm der Mutter nennt.“ Dann eifert
sie ferner gegen die Ehe eines Mannes mit einem vornehmeren Weibe,
gegen die Jagd nach Größe, nach Schätzen: „Das ist ja nichtig, das
verweilt nur kurz bei uns. Nicht Schätze, nur ein großer, edler Sinn
besteht.“ Endlich das Tollste, was in dieser Situation denkbar ist: „Andeutend
nur ─ denn einer Jungfrau ziemt es hier zu schweigen ─ [648]
sag ich, deutlich doch, das Folgende: Stolz blähtest du dich als des Königshauses
Herr, auf deine Schönheit trotzend; doch mein Gatte sei begabt
mit Mannessinne, nicht mit Mädchenreiz!
Denn Söhne
solcher Männer glühn von Kriegesmut; die schönen Knaben sind ein
Schmuck für Reigen nur.“ Als ob sie mit dieser schönen Rede etwas
zur Sache gesprochen, erwidert Orestes einlenkend: „Wohlan, den Leichnam,
Diener, tragt ins Haus hinein.“ Doch die Parodierung der großen
Vorgänger steigert sich noch höher. Klytämnestra naht, und bei ihrem
Anblick sinkt Orestes der Mut. „Weh! Sie soll ich morden, die mich
aufzog und gebar? Welch Wort des Wahnes, Phöbos, scholl aus
deinem Mund!
“ El.: „Doch, ist Apollon thöricht, wer ist weise dann?
Wie kann's dir schaden, wenn du deinen Vater rächst?“ Or.: „Einst
schuldlos, werd' ich schuldig sein des Muttermords.“ El.: „Und rächst
du nicht den Vater, fehlst du deiner Pflicht.“ Or.: „Doch büß' ich dann
der Mutter, geb' ich ihr den Tod.“ El.: „Wem aber wirst du büßen,
bleibt er ungerächt?“ Or.:Ein böser Geist (ἀλάστωρ) wohl
sprach es, der dem Gotte glich.
“ El.: „Auf heil'gem Dreifuß
sitzend? Nein, das glaub' ich nicht.“ Or.: „Doch glaub' ich auch nicht,
daß der Spruch wahrhaftig sei.“ Auf weiteres Drängen der Schwester
entschließt er sich gleichwohl zur That.

Da wäre ja das Rezept von dem Konflikt der Pflichten in optima
forma
zur Anwendung gebracht. Zudem, die feine Unterscheidung, das
vermeintliche Gottesgebot könnte wohl im Grunde nichts sein als das
herkömmliche, den Fluch fortspinnende, Rachegebot, die Stimme des
Alastors, ist ganz der skeptisch=grübelnden Weise des Euripides entsprechend,
die der modernen Auffassung sehr nahe steht, und offenbar
ein Versuch, die Lösung des Problems nach innen, auf das psychologische
Gebiet zu verlegen. Aber wie elend schwankt dieser schwächliche Versuch
einher zwischen der zielbewußten Größe der gewaltigen Tragödien, deren
angebliche Mängel er zu verbessern und deren Vorzüge er vereinen zu
können meinte.

Ein neues langes Plaidoyer: die Verteidigung der Klytämnestra.
Sie führt außer der Opferung der Jphigenia zu ihrer Entschuldigung
an, daß Agamemnon ihr die Kassandra als Nebenbuhlerin ins Haus
gebracht. Und El.: „Du bist im Rechte, doch es ist ein schimpflich
Recht; denn eine Gattin, ist sie klug, muß überall dem
Gatten nachsehn!
“ Darauf Elektras Anklagerede; als Höhepunkt
derselben das Folgende: „Nicht jeder weiß so gut als ich, wie du, bevor
man deines Kindes Tod beschloß, als eben sich von Hause dein Gemahl
entfernt, am Spiegel schon die blonden Locken ordnetest. Doch wenn [649]
die Gattin, ist der Mann vom Hause fern, sich putzt und schön macht
(εἰς κάλλος ἀσκεῖ), zähle sie den Schlimmen zu u. s. f.“ Und am
Schluß: „Soll Mord den Mord vergelten, muß dein Sohn und ich
vereint, den Vater rächend, dich dem Tode weihn. Denn war das
eine billig, ist auch dies gerecht.“

Klytämnestra aber nimmt das nicht übel; sie ist sehr versöhnlich
und weich gestimmt: „Den Vater stets zu lieben, ist in deiner Art. So
geht es: ein Kind gibt sich ganz dem Vater hin, das andre neigt sich
wieder mehr der Mutter zu. Jch will es dir vergeben: bin ich
selbst doch nicht so gar erfreut,
o Tochter, über meine That!
Dementsprechend bereut sie auch, daß sie Elektra so hart behandelt und
zeigt eine wirklich freundliche Teilnahme für den vermeintlichen Zustand
der Tochter, in dessen künstlicher Fiktion dieselbe mit höchst verletzendem
Raffinement fortfährt. Ja, sie treibt die Verstellung ganz ohne alle
Nötigung so weit, daß sie den Worten, mit denen die Mutter die Härte
ihres Gatten entschuldigt: „So ist er einmal; du ja bist auch ungestüm“,
die Erwiderung entgegenstellt: „Wohl, denn man kränkt mich; aber
bald erlischt mein Zorn!
“ Mit freundlicher Gebärde lockt sie die
Mutter ins Haus zur Schlachtbank, der Eintretenden ruft sie, plötzlich
verwandelt, Worte voll grauenvollen Doppelsinnes nach und folgt ihr,
um bei dem entsetzlichen Werke zu helfen!
Der Chor singt, endlich
einmal, ein der Situation entsprechendes, aber des tieferen Gehaltes
ganz bares, Lied; gleich darauf ertönt von innen das Jammergeschrei
der Ermordeten.

Dann treten die Geschwister mit den beiden Leichen aus dem Hause
hervor, um, aufs neue völlig umgewandelt, jetzt einen vereinten Hauptangriff
auf die „allertragischte“ Rührung der Zuhörer auszuführen. Jn
melischen Rhythmen geben sie unter Ausrufen verzweifelter Reue eine
Schilderung der Katastrophe. El.: „Wohin, wohin, ach, werd' ich gehn?
Zu welchem Tanz, zu welchem Hochzeitfeste? Welcher Gatte wird mich
im Brautgemach empfangen?“ Or.: „Jn andern Sinn ist dein Gemüt
gewandelt nach dem Winde! Fromm denkst du jetzt, und anderes dachtest
du zuvor. Grausam, Liebe, thatest du an mir, dem Bruder, der sich
sträubte, Schwester! Ach, sahst du, wie die Mutter aus dem Kleide
hervor die Brust enthüllte bei dem Mord, die Arme, wehe, wehe mir!
und sich kläglich niederwarf am Boden? Weich ward mir das Herz!“
El.: „Jch weiß es, wohl ergriff dich Schmerz, als du der Mutter Weheruf
vernahmst, die dich geboren.“ Or.: „Ans Kinn die Hand mir
legend, rief sie jammernd mir die Worte zu: ‚Mein Kind, mein Kind,
Erbarmen!‘ und hing sich fest an meine Wangen, daß der Stahl aus [650]
meinen Händen sank.“ El.: „O Grauen! Wie vermochtest du's, der
Mutter Mord mit Augen zu sehen, wie sie hinstarb?“ Or.: „Vor diese
beiden Augen warf ich mein Gewand, hob den Stahl, wie opfernd, auf,
und senkt' ihn ein in der Mutter Brust.“ El.: „Jch rief dich mahnend
auf zur That und faßte selbst zugleich das Schwert!
Der
Chor:
Ja, du verübtest der Thaten schwerste!Or.: „Nimm,
birg in diese Tücher hier der Mutter Leib, deck ihre Wunden zu! (vor
die Leiche tretend) So hast du Mörder dir gezeugt!“ El.: (die Tote
verhüllend) „Sieh, freundlich und nicht freundlich dir, hüll' ich dich ins
Totenkleid, endend das schwere Geschick des Hauses!“

Die Lösung ist des übelgeschürzten Knotens würdig. Ungerufen
erscheinen die Dioskuren und sprechen ein Machtwort. Klytämnestra
büße gerecht, aber Orestes habe unrecht gehandelt, ebenso Apollon.
Phöbos ─, doch ich schweige, denn er ist mein Herr ─ so weise,
sprach er dir unweisen Spruch. Wir müssen uns hier beugen:
fortan mußt du thun, was Zeus und was das Schicksal über dich beschloß.
Elektra führe Pylades als Gatten heim, und du verlaß
Mykene.“ Kastor verheißt dann weiter dem Orest Freisprechung mit
Stimmengleichheit durch den Areopag, „denn Apollon nimmt die Schuld
auf sich.“ „Darüber grollend tauchen sich beim Hügel selbst die grausen
Rachegöttinnen in der Erde Schlund.“ Orestes soll seinen Wohnsitz in
Arkadien nehmen, Elektra mit ihrem neuen Gemahl in dessen Heimat
ziehen, ihr bisheriger Scheingatte mit „reichem Gute“ abgefunden werden.
Ferner wird bestimmt, daß Ägisthos von den Bürgern in Argos bestattet
werde, und daß für Klytämnestra mit Helena zusammen von Menelaos
ein Grab bereitet werden solle. Ohne ersichtlichen Grund teilt dabei
Kastor noch weiter mit, daß Helena gar nicht in Troja gewesen sei,
sondern Zeus statt ihrer „ein hohles Scheinbild nach Jlion sandte, daß
auf Erden Mord und Fehde sei.
“ Vielleicht geschah diese Mitteilung
nur, um diese fatalistische Erklärung solcher irrationalen Schicksale auch
auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Denn auf die sehr berechtigte
Frage des Chors an die Dioskuren, die so unvermutet sich einstellen,
um kurzer Hand das ganze Wirrsal zu ordnen: „Da Götter ihr seid,
was wehrtet ihr nicht von dem Hause die Not?“ antwortet Kastor:
„Dies Leiden erschuf der Verhängnisse Macht und der thörichte (ἄσοφος)
Spruch aus Apollons Mund.“ Und damit man auch über Elektra beruhigt
werde, muß auch diese noch die schwer zu erklärende Frage thun:
„Doch welcher Apoll, welch göttliches Wort trieb mich zu dem Mord
der Gebärerin an?“ um denselben Bescheid zu erhalten: „Gleich thatet
ihr, gleich ist euer Geschick; euch beide verfolgte der gleiche Fluch eurer [651]
Väter.“ Noch folgt ein allseitiger zärtlicher Abschied, namentlich die
höchst rührend in die Breite gezogene Trennungsscene zwischen Orestes
und Elektra. Dann schließt das Stück, indem zuletzt noch die Dioskuren
ihre Legitimation zu dem etwas tumultuarischen Verfahren vorweisen,
mit dem sie den Streit Apollons und der Erinnyen präjudiziert
haben: „Wer Heiligkeit nur und Gerechtigkeit stets im Leben geliebt,
dem stehen wir bei, aus quälender Drangsal retten wir ihn. Drum
möge vor Unrecht jeder sich scheun, er geselle sich nie Meineidigen bei:
so ruf ich den Menschen, ein Gott, zu!“

Und der Chor, der das ganze Stück nur so wenig zur Sache zu
bemerken gehabt hat, was kann er angesichts dieser glatten und im
ganzen doch immerhin vergnüglichen Lösung einer recht bedenklich verwickelt
scheinenden Angelegenheit Verständigeres thun, als, nachdem
Orestes, der eben noch seinem Freunde Pylades und seiner Elektra Glück
gewünscht hat, unter vorläufiger Verfolgung der Erinnyen entflohen ist,
den Zurückbleibenden zuzurufen:


Lebt, freut euch! Wer sich zu freuen vermag,

Und des Unglücks Macht nie trauernd empfand,

Er lebt ein seliges Leben.

Es ist zuzugeben, daß die „Elektra“ vielleicht das schlechteste der
uns erhaltenen Stücke des Euripides ist; aber die Fehler desselben,
wenn auch nicht in so auffälligem, bis an die Grenze der Parodie
gehenden Grade, wiederholen sich auch in seinen übrigen Tragödien.
Faßte man das Wesen derselben in ein Wort zusammen, so müßte das
lauten: Die eigentliche Kraft der tiefen, tragischen Wirkung
ist ihm unbekannt; statt ihrer wendet er seine Kunst dem
einzelnen Rührungsaffekt zu.
So mag er sich den billigen Ruhm
des „Tragikotatos“, des „allertragischten“ Dichters erworben
haben, nicht indem er es verstand, die Aufgabe der Tragödie, die
Katharsis der tragischen Affekte zu bewirken, am würdigsten
zu lösen, sondern indem er auf Kosten des Ernstes und der Wahrheit
des großen Schicksalzusammenhanges seine Zuschauer an der reich besetzten
Tafel des herzzerreißenden Jammers über fremde Leiden sich satt
schwelgen ließ.

Zum Beschluß noch ein Wort über die obengenannte „Hamlet“=
Tragödie Shakespeares, nicht um auf dieses an Rätseln reiche Stück
näher einzugehen, sondern nur um nachzuweisen, inwiefern es mit den
die Orestie behandelnden Tragödien in Vergleich zu stellen wäre, und
welches Resultat ein solcher Vergleich ergibt.

[652]

Es bedarf nicht vieler Worte, um die Ähnlichkeit der Situation
in beiden Fabeln zu kennzeichnen. Hier wie dort ein Königssohn, dessen
Mutter den Mörder ihres Gatten zum Gemahl und auf den Thron
erhoben hat, der dem Sohne gebührt; nur daß die Mitschuld der
dänischen Königin an dem Morde sich auf die Zulassung desselben beschränkt.
Jn beiden Fällen ist die Rache an dem Mörder des Vaters
dem Sohne zur Pflicht gemacht. Dort ist das Verbrechen notorisch und
die Gottheit verlangt bei Androhung schwerster Strafe seine Sühnung;
hier öffnet sich das Grab und der Geist des gemordeten Vaters trägt
dem Sohne feierlich die Rache auf; hier wie dort verlangt zugleich die
Fäulnis des ganzen Staatskörpers die entschlossen durchgreifende Heilung.
Aber während von Orestes der Muttermord gefordert wird, warnt der
Geist seines Vaters den Dänenprinzen: „Doch, wie du immer diese
That betreibst, befleck' dein Herz nicht; dein Gemüt ersinne nichts gegen
deine Mutter; überlasse sie dem Himmel und den Dornen, die im Busen
ihr stechend wohnen.“ Gleichwohl eilt jener ohne Bedenken zur That,
während bei diesem die Wirkung des Auftrags sich in dem Seufzer
kundgibt:


The time is out of joint ─ o cursed spite,

That ever I was born, to set it right.

Shakespeare hat dem Stoffe die Tragik von der entgegengesetzten
Seite abgewonnen, wie die antiken Meister der Tragödie; und er, der
Schöpfer des modernen Dramas, konnte nicht anders verfahren. Für
die moderne Ethik wäre die Blutrache an der Mutter eine Monstrosität;
aber Religion wie Philosophie verbieten die Blutrache überhaupt. Wer
sich weigert, eine derartige Mission zu übernehmen, ist nach ihnen im Recht;
ja, wen auch, ohne daß er sich mit voller Klarheit dessen bewußt wäre,
ein inneres Widerstreben davon zurückhielte, bei dem müßten wir diese
Hemmung der blind auf ihr blutiges Ziel losstürzenden Thatkraft als
die Wirkung sittlicher und intellektueller Kultur auffassen, als das Resultat
der aus einer der beiden Quellen oder aus beiden zugleich entspringenden
Bedenklichkeit des inneren Empfindens. Der Fall, der in der Fabel
von Shakespeares Hamlet exponiert ist, wäre also völlig untragisch,
sowohl wenn der Prinz in pietätvollem Zorn schnell entschlossen hinginge,
um den verräterischen Oheim über den Haufen zu stechen, „sich
waffnend gegen eine See von Plagen“ ─ ob ihm das glückte oder er
dabei umkäme, wäre vom Standpunkte der Anforderungen an das
tragische Kunstwerk ganz gleichgültig ─, als auch wenn er, einem klar
erkannten sittlichen Grundsatz unerschütterlich getreu, die Rache mit [653]
Entschiedenheit ablehnte, „es als edler im Gemüt erkennend, die Pfeil'
und Schleudern des wütenden Geschickes zu erdulden“. Shakespeares
Genie fand ganz unabhängig von dem Handlungsverlauf, der ihm in
seinen Quellen vorlag, diejenige Behandlungsweise, die allein diesem
Stoffe die tragische Vertiefung zu verleihen vermochte.

Wie Sophokles basierte er seine Tragödie der Hauptsache nach
auf eine rein ethische Anlage; aber während jener dieselbe nur durch
höchst geschickte Benutzung des Erkennungsmomentes erweiterte, im
übrigen aber ihr den einfachen Verlauf ließ, errichtete Shakespeare
auf dieser ethischen Grundlage den kunstvollen Bau einer doppelten
Peripetie
von der gewaltigsten tragischen Wirkung, die sowohl den
König mit seinem ganzen Anhange ins Verderben stürzt als auch dem
Helden des Stücks den Untergang bereitet. Die ethische Veranlagung
des Stoffes bildet so gleichsam nur das Feld, auf welchem wir das
Schicksal selbst in erschütternde Aktion treten sehen.

Den vollen Gegensatz zu dem Ethos der Sophokleischen Elektra
hat Goethe in dem herrlichen Bilde seiner „Jphigenie“ erschaffen,
und beide Dichter thaten wohl daran, ein weibliches Gemüt, mit seiner
Fähigkeit in ausschließender Hingabe ganz von einem Gefühl sich leiten
zu lassen, zum Träger der Handlung zu erwählen. Fast wie in der
Kriemhild des Nibelungenliedes hat in der Elektra des Sophokles der
Rachegedanke jede entgegenstehende Empfindung aufgezehrt; in Goethes
Jphigenie erweist das Ethos lauterer Wahrhaftigkeit, klarster Seelenreinheit
und reichster Herzensgüte seine „sühnende“ Kraft gegenüber
„allen menschlichen Gebrechen“. Einen ganz anderen Gegensatz zu dem
Ethos leidenschaftlicher That ersann Shakespeare für seinen Zweck, eine
Charakterbeschaffenheit, die in ihren vielfältigen und feinen Mischungsverhältnissen
schwer zu analysieren ist. Dieser Charakter ist eine freie
Schöpfung seines Genies; seine Quelle bot ihm nichts als die Nachricht
von Hamlets fingiertem Wahnsinn, der dort aber als klug gewähltes
Mittel zu raschester, energischer That sich darstellt.

Das die Seele Hamlets beherrschende Charakter-Ethos steht der
von ihm geforderten That mit stärkster Hemmung entgegen: keineswegs
aber ist es die siegende Kraft eines zu absoluter Reinheit geläuterten
sittlichen Bewußtseins, die ihm die Rolle des Rächers
zu übernehmen verwehrt ─ wie etwa eine rückkehrende Jphigenie an
Elektras Stelle zu treten unfähig gewesen wäre ─, sondern eine zu
höchstem Reichtum des Gedankens und des geistigen Empfindens entwickelte
intellektuelle Kultur ist es, deren Schwergewicht den zur Vollstreckung
erhobenen Arm herniederzieht, ohne daß sie es vermöchte, den [654]
Vorsatz völlig zu überwinden, ja sogar den Antrieb dazu ganz auszulöschen.
Daher sein Zögern und Schwanken! Und daher das Tragische
dieses Schwankens und das Tragische seines verderblichen
Ausgangs: denn die Ursache desselben liegt nicht in einer physischen oder
moralischen Schwäche, die wir geringschätzen müßten, sondern in einer
entgegenstehenden hochbedeutenden Kraft, deren Berechtigung wir anzuerkennen
nicht umhin können, die an sich selbst unsere Bewunderung
in hohem Grade erregt, während wir doch zugleich in der Fehlerhaftigkeit
des durch ihr Dazwischentreten weder kräftig geförderten noch
entschieden sistierten Handelns die Quelle einer Kette von schweren
Leidensschicksalen mit voller Klarheit erkennen.

Das, wodurch Hamlet in der Vollziehung der Rachethat sich gehemmt
fühlt, ist ihm selbst ein Problem; darin liegt das Rätsel,
das die Kontroverse über diese Tragödie nicht zur Ruhe kommen läßt
und das auch Goethe bei seinem tiefen Blick in das Jnnere des Stückes
nicht zu voller Befriedigung und zum Abschluß gelangen ließ.1

Keiner seiner Nachfolger hat das liebevolle Verständnis für die
Wahrheit und den Adel von Hamlets Natur gehabt, wie es Goethe
empfunden und ausgesprochen hat. Nur ein weniges fehlt in seiner
Schilderung, das dem Zünglein der Wage verwehrt zur Ruhe zu gelangen.
Zu sehr stellt er das Hemmnis in Hamlets Natur als einen
Mangel an Kraft, „an sinnlicher Stärke, die den Helden macht“, dar,
zu wenig als eine notwendige Äußerung der in ihm strömenden Kräfte.
Zu wenig ferner bringt er die gerade diesen Charakter notwendig so
furchtbar belastende Natur der ihm bereiteten Schicksalssituation in Anschlag.
Jn dem Zusammenwirken dieser beiden Hauptfaktoren liegt das
Tragische des Stückes: die sinnliche Stärke des Helden fehlt dem
Dänenprinzen nicht an sich, sie fehlt ihm bei dieser Aufgabe,
vor die das Schicksal gerade ihn gestellt hat; sie fehlt ihm gerade um
der Eigenschaften willen, welche dem Menschen wie dem künftigen Könige
die höchste Zierde versprachen. Das Tragische dieser Gestalt und
dieser ganzen Dichtung, das ihr eine so unvergleichliche Macht über das
moderne Empfinden verleiht, ist, daß sie zeigt, wie in dieser groß, edel
und reich angelegten Seele vermöge jener, durch die Schicksalsverwickelung
in ihr hervorgebrachten, inneren Hemmung mit furchtbarer Rapidität
eine schwere Erkrankung
sich entwickelt: die Lähmung der [655]
Thatkraft auf dem Felde, auf das sie gewiesen ist, und infolge davon
die Stockung der zurückgestauten Kräfte der Reflexion und
Empfindung,
die mißgeleitet nun überallhin schädliche, ja verderbliche
Wirkungen verbreiten bis zur zerstörenden Katastrophe. Diese Erkrankung
aber kennzeichnet sich ihrem Ursprung und Wesen nach als ein Übel,
dem die moderne Zeit, mit ihrer Neigung, die Pflege sittlicher, intellektueller
und ästhetischer Kultur hoch über die Übung einseitig bestimmter
Thatkraft zu stellen, sich besonders stark ausgesetzt fühlt. Daher der
große Reiz, den gerade diese Tragödie auszuüben nicht aufhört.

„Mir ist es deutlich, was Shakespeare habe schildern wollen,“
läßt Goethe seinen Wilhelm Meister sagen: „eine große That, auf eine
Seele gelegt, die der That nicht gewachsen ist.“ „Er geht unter einer
Last zu Grunde, die er weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht
ist ihm heilig, diese zu schwer.“ Jst es denn eine „große That“, die
von Hamlet gefordert wird, die Rache an einem feigen Meuchelmörder?
Jst es ihm „zu schwer“, sein Leben zu wagen, oder zaudert er nur
deshalb, weil er den rechten Moment nicht zu finden weiß, er, der, als
der Korsar sein Schiff entert, der erste ist, zum Kampf hinüberzuspringen?
Weshalb also ist er der That „nicht gewachsen“? Das ist es: ohne
ihr mit Bewußtsein „entwachsen“ zu sein, widerstrebt seine Natur derselben
nach ihrer ganzen Anlage aufs äußerste. Die seltenste Begabung
ist ihm zugefallen, die, wenn das Schicksal ihm günstig wäre, ihn zu den
größesten Leistungen befähigen würde; Anlagen, die sonst sich gegenseitig
auszuschließen pflegen, sind vereinigt und zwar jede im höchsten Grade
bei ihm vorhanden: die reichsten, zartesten und feurigsten Empfindungskräfte
und das klarste und durchdringendste Denkvermögen. Wenn sonst
die Zartheit oder die Leidenschaftlichkeit der Gemütsanlage leicht die
Objektivität der Beurteilung beeinträchtigt, wenn umgekehrt hervorragende
Klarheit und Schärfe und damit notwendig zusammenhängende, bedeutende
Kultur der intellektuellen Anlage oft von einer gewissen Kälte
des Fühlens begleitet wird oder sie auch mit hervorbringt, so ist bei
Hamlet beides in so wunderbarer Weise gemischt, es tritt so gleichzeitig
beides mit, neben und zwischen einander hindurch hervor ─ wie nur
bei Shakespeare selbst.

So steht Hamlet in einer Zeit, die „aus den Fugen ist“, die mit
ihren faulen Dünsten ihm Gift entgegenhaucht, Gift, das keinen mit so
tödlicher Lähmung trifft, wie ihn, der die Heilung bewirken soll. Weit
eher ist zu solchem Werk ein Fernestehender befähigt, wie Fortinbras,
und doppelt überzeugend klingt aus dessen, des ganz entgegengesetzt
Gearteten Munde das anerkennende Zeugnis: „Er hätte, wär' er zum [656]
Thron gelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt.“ „Da bricht
ein edles Herz! Gute Nacht, mein Prinz! und Engelscharen singen
dich zur Ruh!“ so ruft der edle und besonnene Horatio ihm nach. Es
ist kein Grund vorhanden, die Lobsprüche in Ophelias Munde für
Übertreibungen mädchenhafter Schwärmerei zu nehmen, denn alles, was
wir über Hamlet hören, stimmt damit genau überein. Von alledem
aber, was die dumpf lastende Schwermut über sein Geschick in ihm das
ganze Stück hindurch hervorbringt, von allem jenem Druck, jener Zerstörung
seines Gemütes und jener Zerrüttung seines Willens erfahren
wir durch das Zeugnis seines schlimmsten Feindes, des Königs, daß es
dem, was er früher war, in allem widerspricht, daß „noch der äußere,
noch der innre Mensch dem gleichet, was er war“. Dem Hamlet
also, wie Ophelia ihn schildert: „des Hofmanns Auge, des Gelehrten
Zunge, des Kriegers Arm, des Staates Blum' und Hoffnung,
der Sitte Spiegel und der Bildung Muster, das Merkziel der
Betrachter!“

Weit entfernt, es an Mut fehlen zu lassen, übertrifft er, wo es
darauf ankommt, alle andern: in der Scene mit dem Geist, die wir
sehen, in dem Gefecht mit dem Korsaren, von dem wir hören; er ist
entschlossen und geschickt im Ringen und Fechten, er zeigt sich dem als
Meister in solchen Künsten bewunderten Laertes zweimal überlegen.
Nur hat er nicht wie jener hierin den Schwerpunkt seines Wesens,
sondern Kraft und schneller Mut sind eingeschlossen und umhüllt von
edler Sitte und von hoher Bildung. Das Stück aber zeigt ihn uns
von vornherein von schweren Wunden getroffen, in einem Zustande des
Leidens, welches seine besten Eigenschaften nicht allein außer Kraft setzt,
sondern wie ein böses Fieber ihre Stärke sich gegen ihn selbst wenden
läßt; die furchtbare Erkenntnis, die es dann gleich in den ersten Scenen
über ihn bringt, steigert dieses Fieber auf seinen Höhepunkt. Es ist
ein Zeichen seiner edelsten Gemütsart, das seine Willenskraft nicht
kompromittiert, wenn der frische Schmerz um den verlorenen unvergleichlichen
Vater und die brennende, vernichtende Scham, daß das
Verehrungswürdigste, die fromme Scheu und die liebevolle Achtung vor
der Mutter, ihm zertreten und geschändet vor die Füße geworfen ist,
wenn dieser Gram und dieser Schmerz vereinigt alle andern Gedanken
aus ihm verscheucht hat und allein das tiefe Gefühl der Vernichtung
aller Fähigkeit, zu achten und zu lieben, in ihm übrig bleibt. Aber
nun sieht er sich umgeben von der gedankenlos und gefühllos zustimmenden
Menge, er sieht sich auf Schritt und Tritt aufs unerträglichste
beleidigt von der rohen und üppigen Schwelgerei der Freudenfeste, mit [657]
denen die Gemeinheit ihren Triumph feiert; er selbst von dem ihm gebührenden
Platz verdrängt und zu müßiger Träumerei verurteilt.

Hier ist die Stelle, wo der Gegensatz zur antiken Auffassung am
schroffsten hervortritt. Für Orestes ist das Recht und sogar die Pflicht
zum Morde des Ägisthos von Göttern und Menschen bekräftigt, nur
der Muttermord gibt ihn den verfolgenden Erinnyen preis. Bei Shakespeare
handelt es sich nicht mehr um Erfüllung eines religiösen Gebotes,
nicht einmal einer allgemein als solche anerkannten sittlichen Forderung,
sondern um persönliche Genugthuung für die Schändung der Ehre und
den tückischen Mord seines Vaters in dem Sinne heißblütigen Rachezornes,
dem der kriegerische Geist seines Vaters ohne jedes Zögern die
schnellste Folge gegeben haben würde. Auch ist Hamlet genugsam von
der Tradition solcher Gesinnungsweise beeinflußt, um im ersten
Augenblicke
ebenso zu fühlen. Der Geist enthüllt ihm den Mord, und
voll Ungeduld ruft er aus: „Eil ihn zu melden: daß ich auf Schwingen,
rasch wie Andacht und des Liebenden Gedanken, zur Rache stürmen
mag.“ Und der Geist: „Du scheinst mir willig: auch wärst du träger
als das feiste Kraut, das ruhig Wurzel treibt an Lethes Bord, erwachtest
du nicht hier.“ Doch schon der nächste Augenblick zeigt, daß
Hamlet sich selbst in dieser Beziehung sehr wenig kennt, und den ganzen
weiteren Verlauf der unvergleichlichen Scene benutzt der geniale Dichter,
um mit unnachahmlicher Feinheit es augenfällig zu machen, wie schon
hier die oben bezeichnete Hemmung in des Prinzen Seele mit voller
Kraft sich geltend gemacht hat. Die einseitige Kraft des persönlichen
Rachegefühls ist nicht in ihm; er wird die übernommene That nicht
anders ausführen als unter dem Eindruck einer erneuten momentanen
Aufwallung. Seine Fähigkeit und Neigung philosophisch zu denken hat
ihn mit übermächtigem Zwang gewöhnt auch philosophisch zu fühlen:
in der Anschauung der großen, allgemeinen sittlichen Verhältnisse geht
die heftige Empfindung der persönlichen Kränkung auf in dem bitteren
Schmerz über die schmachvolle Niederlage des Guten und Edlen überhaupt
in dieser Welt. Wer möchte diese Art zu denken und zu fühlen,
für sich betrachtet, tadeln? Nur darf nicht vergessen werden: es
ist eine Betrachtungsweise, die zur echten Philosophie hinzuführen
vermöchte, aber sie macht den wahren Philosophen noch
nicht,
für den die klare, fest bestimmte Entschließung auf seinem Felde
ebenso erforderlich ist wie für den Mann der That. Hamlets tragisches
Schicksal ist, daß er mit der eminenten Anlage für den einen in eine
Verwickelung gestellt ist, die schlechterdings den andern erfordert, daß
der Sturm der Ereignisse, ohne ihm Zeit zur Klärung zu gewähren, ihn [658]
verwirrend überwältigt, so daß er überall fehlgehend, statt selbst zu
handeln ein blindes Werkzeug in der Hand des Schicksals wird, das in
seinem mächtigen Getriebe mit Schuldigen und Unschuldigen auch ihn
zermalmend erfaßt.

Wie es dieser ganzen Betrachtung vorangestellt wurde: das Problem
ist an sich selbst ein unlösbares! Hat der Einzelne unter Umständen,
die es gebieterisch zu erfordern scheinen, die Pflicht das verletzte
Recht durch blutige That herzustellen sogar gegenüber den nächsten
Blutsverwandten? Die antike Auffassung neigt sich der Bejahung der
Frage zu, die moderne eher der Verneinung; eine bedingungslose
Entscheidung trifft weder die eine noch die andere. Darin aber stimmen
beide überein in solchen Schicksalsverkettungen eine hohe Tragik zu erkennen.
Das Altertum zeigte die Tragik des rücksichtslos zur sühnenden
Rache vordringenden Ethos, Shakespeare führt die Tragik des Zurückweichens
vor dem durch die Notwendigkeit auferlegten Blutrichteramt
vor Augen; beide, indem sie die verhängnisvolle Hamartie ihrer Helden
aus dem besten Teil ihrer Seele herleiten; beide also indem sie ebenmäßig
mit dem Mitleid die Furcht erwecken und so den Zweck der
Tragödie, die Katharsis beider Empfindungen, in vollkommener Weise
erreichen: des echten Mitleids um das Leiden großer und edler Menschen,
die durch menschliches Jrren schwerem Geschick verfallen, und
der echten Furcht, da wir in dem Leiden und Untergang der Guten
und Besten den strengen Ernst und die unentrinnbare Macht des alles
beherrschenden Schicksals scheuen und verehren.

Am meisten ergreifen uns, nach dem Geiste unserer Zeit, diese
echte Furcht und dieses echte Mitleid, wenn wir die Verwickelung
der Handlung erst durch ihr Zusammentreffen mit der Eigenart des
Charakters
des Helden die entscheidende tragische Wendung erhalten
sehen, wie bei Shakespeare, in der verwickelt=ethischen Tragödie:
mit klarerem Bewußtsein thun wir hier den tiefen Blick in das Wesen
des rätselvollen Schicksals. Die moderne Tragödie ist durch die Abwesenheit
des Chors in ihrem Bau vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich
auf die breiteste Entwickelung des ethischen Momentes gewiesen.
Wenn die Alten durch die weisheitsvoll mahnende, tief bewegende
Stimme des Chors den überwältigenden Schmerz um das Leiden, das
Grausen vor dem Verhängnis zu der Reinheit von Furcht und Mitleid
läutern, so durch ihre Tragödie die Katharsis aller in den
Menschen vorhandenen, diesem Gebiet angehörigen Gesinnungen
und Empfindungen bewirkend,
so hat Shakespeare, der
Meister der verwickelt=ethischen Tragödie, den Weg gewiesen, dasselbe [659]
Ziel ohne jenen idealen Mitspieler, den wir nicht wieder zurückführen
können, zu erreichen. Die furchterregende Peripetie der Handlung
zeigt uns die Majestät und Herrschergewalt des Schicksals, um
so mehr, wenn es die Häupter der Besten trifft und durch die besten
Kräfte ihrer Seele sie zu dem verhängnisvollen Fehler
treibt.
Auf der andern Seite ist durch den Anteil der Charakterbeschaffenheit
an der tragischen Wendung der Ausgang genugsam in
das Gebiet der Freiheit und Verantwortlichkeit gerückt, um uns, ohne
daß wir dem Helden das Geringste von unserer Achtung und Liebe
entziehen, das reine Mitleid fühlen zu lassen, das von dem Grausen
über blindtreffendes Verderben ebenso entfernt ist wie von
der lediglich allgemein menschlichen Teilnahme an selbst
verschuldetem Unglück.
──────


XXX.

Es ist in den obigen Darlegungen über das Drama verschiedentlich
von der Komödie die Rede gewesen, ebenso ist in einem früheren Abschnitt
von dem Wesen des Lächerlichen gehandelt; allein es fehlt
noch das abschließende Wort über den Begriff und die Aufgabe dieser
dramatischen Gattung. Dem Versuch dieselben darzustellen soll dieser
letzte Abschnitt gewidmet sein.

Das komische Epos wurde oben definiert: als die vermittelst
der Erzählung erfolgende Nachahmung einer vollständigen und einheitlichen,
das Fehlerhafte und Verkehrte ohne schmerzliche und verderbliche
Wirkung darstellenden Handlung, welche, indem sie die Empfindungen
des Lächerlichen und des Wohlgefälligen hervorruft, die wechselseitige
Herstellung beider zur reinen Wirkung ermöglicht.1

Die innere Begründung dieser Definition ist in dem vierzehnten
Abschnitt gegeben, der die Darstellung der Theorie des Komischen
zur Aufgabe hat.

Das Resultat jener Ausführungen für die hier vorliegende Untersuchung
ist der Satz, daß die Empfindungen des Lächerlichen und des
Wohlgefälligen auf dem Gebiete des Komischen eine ganz analoge
Stellung einnehmen, wie die des Mitleids und der Furcht auf dem [660]
des Tragischen, daß sie also in der Definition der komischen Dichtungsarten
dieselbe Rolle zu spielen berufen sind wie jene in der der
Tragödie.

Dieses Resultat hat sich der bisherigen Darstellung aus der Prüfung
des Wesens der Sache ergeben; der Fall lag hier umgekehrt wie bei der
Definition der Tragödie, wo es galt das rechte Verständnis für die
überlieferte Formel des anerkannten Meisters zu gewinnen. Gleichwohl
gewährt ein günstiger Zufall die Möglichkeit auch hier an der Autorität
des Aristoteles eine mächtige Stütze zu gewinnen; es ist die überzeugende
Kraft der inneren Wahrheit und die im Kern der Sache hervortretende
vollkommene Analogie mit der Anschauungsweise und Methode der aristotelischen
Poetik, die in dem anonym überlieferten Fragment über
die Komödie,
das Cramer als Anhang zum ersten Bande seiner
Pariser Anekdota aus einer Coislinianischen Handschrift mitgeteilt
hat, mit Sicherheit ein Excerpt der in unsern Handschriften der Poetik
des Aristoteles verloren gegangenen Abhandlung über die Komödie erkennen
lassen.

Das Fragment ist in einem zum Teil höchst scharfsinnigen und
mustergültigen Aufsatz von Jakob Bernays eingehend behandelt worden.1
Wir haben es mit einem nicht allein schematisch und gedankenlos verfahrenden,
sondern offenbar ungebildeten Excerptor zu thun, dessen Auszüge
von groben Fehlern und sinnentstellenden Lücken wimmeln, und
dessen eigenmächtigen Zusätzen derselbe Charakter des Ungeschickes und
der Kritiklosigkeit aufgeprägt ist. Dennoch vermochte J. Bernays mit
ebenso gelehrter als feinsinniger Prüfung in dem weit überwiegenden
Teil des Fragmentes die echte aristotelische Überlieferung mit
überzeugender Sicherheit nachzuweisen. Leider aber war seine persönliche
Stellung zu dem kostbarsten Teil des Jnhaltes, zu dem Hauptstück des
Ganzen, der eigentlichen Definition der Komödie nämlich, die uns
das Fragment gerettet hat, von vorneherein präjudiziert durch seine
eigene, schon unerschütterlich feststehende Auffassung des vermeintlich
aristotelischen Begriffes der tragischen Katharsis. Zu der Bernaysschen
Jnterpretation der aristotelischen Definition der Tragödie wollen die
Sätze des Excerptors über die Komödie nun freilich gar nicht passen;
Bernays hat daher grade den wertvollsten Teil des Fragmentes verächtlich
beiseite geworfen. Desto besser, und zwar vollkommen harmonisch,
stimmen diese Sätze mit derjenigen Auffassung der hier in Betracht [661]
kommenden Begriffe, für welche Lessing den Grund gelegt hat:
sie geben uns somit nicht allein den ersehnten Aufschluß über die
Lehre des Aristoteles von der Komödie, sondern sie dienen zugleich
zu erwünschter Bekräftigung der Lessingschen Grundauffassung und
zur Bestätigung der Polemik gegen die von Bernays verfochtene
Theorie.

Der Excerptor, dem es nur darauf ankommt, die Hauptsätze über
die Komödie zusammenzustellen, läßt der im zweiten Paragraphen
folgenden Definition derselben im ersten eine allgemeine Einteilung der
Poesie in ihre Hauptarten vorausgehen, die wertlos ist. Jndessen liegt
in seiner Scheidung einer ποίησις ἀμίμητος von der ποίησις μιμητή
einer nicht nachahmenden Dichtung von der nachahmenden
durchaus keine Veranlassung ihn, wie Bernays es thut, einer abgeschmackten
Versündigung gegen den Aristoteles zu zeihen, der eine
nicht nachahmende“ Poesie gar nicht kenne. Eben daraus erklärt
sich ja diese Schematisierung. Bei Aristoteles selbst lesen wir, daß alle
Kunst und so auch die Poesie nachahmend sei ─ Mimesis; ebenso
aber auch, daß es zahlreiche und große, sogenannte Dichtungen gäbe,
die diesen Namen nur um ihrer Form willen trügen, in Wirklichkeit
aber, da sie keine Nachahmung enthielten, auch nicht als Poesie zu
betrachten seien. Wenn nun der Excerptor von der Betrachtung dessen
ausgehend, was thatsächlich für Poesie gehalten wird, jene Unterscheidung
macht, so liegt darin gar kein Grund ihn gleich im Beginne zu verdächtigen.
Um so weniger aber hat man dazu ein Recht, als die beiden
kurzen Sätze, mit denen er von jener kahlen Einteilung den Übergang
zur Definition der Komödie macht, mitten in den innersten Kern der
Sache treffen. Er hat in der eigentlich so zu nennenden, nachahmenden
Poesie die beiden Hauptgattungen der erzählenden und
dramatischen unterschieden und von der letzteren die dazu gehörigen
Arten aufgeführt. Um nun von dort aus zur Komödie zu gelangen,
hebt er, mit ganz richtigem Gefühl, wenn auch mit unbeholfenem Ausdruck,
den springenden Punkt aus den Erörterungen des Aristoteles
über das Wesen der tragischen Katharsis hervor, deren Erklärung,
ebenso wie die der Komödie in unsern Exemplaren der aristotelischen
Poetik fehlt, die aber sicherlich den Abschluß der Kapitel über
die Tragödie bildete und zugleich den Übergang zur Behandlung
der Komödie herzustellen vorzüglich geeignet war.
Es
kann nach dem Gesamtinhalt des Fragmentes, welches so viel echt Aristotelisches
bietet, kein Zweifel sein, daß wir in diesen geringen und
ungeschickt zusammengelesenen Brocken unschätzbare Reste
[662]
jener Partien der Poetik vor uns haben, deren Verlust mit
Recht so tief beklagt wird.

Die Sätze lauten: ἡ τραγῳδία ὑφαιρεῖ τὰ φοβερὰ παθήματα
τῆς ψυχῆς δἰ οἴκτου, καὶ ὅτι συμμετρίαν θέλει ἔχειν τοῦ φόβου.
ἔχει δὲ μητέρα τὴν λύπην. Also im unbeholfensten Excerptenstil:
„Die Tragödie enthebt die Seele der fürchterlichen Affekte vermittelst
der schmerzlichen Rührung, und weil sie ein Ebenmaß der Furcht
haben will. Zur Mutter aber hat sie die Trauer.

Bernays wird mit diesen inhaltschweren Sätzen sehr leicht fertig.
Er sagt: „Das erste Sätzchen: ‚die Tragödie hebt die Furchtempfindung
durch Mitleid auf‘ zeigt, daß schon vor Lessing jemand die tragische
Katharsis des Mitleids und der Furcht für eine wechselseitige,
der Furcht durch das Mitleid und umgekehrt, genommen
hatte.
Aristoteles wollte sicherlich nicht so mißverstanden
sein, und wer Lessing auch da wo er irre geht zum Führer nimmt,
darf doch dieses Sätzchen wenigstens nicht als eine alte, etwa auf eigenen
für uns verlorenen Äußerungen des Aristoteles fußende Autorität geltend
machen. Denn es verrät nur zu deutlich den auf seinen Kopf angewiesenen
Scholiasten. Das ὑφαιρεῖ gibt sich als eine Umschreibung
für die vielgedeutete, bisher unerledigte Katharsis
zu erkennen
─ (ein unglaubliches Argument! Anstatt also es als
eine solche Umschreibung mit Freuden zu begrüßen, erklärt es Bernays
aus eben dem Grunde, weil es das erfüllt, was man von ihm
erwarten muß,
für ein Anzeichen des unaristotelischen Ursprungs der
ganzen Stelle!) ─, und während Aristoteles immer nur vom tragischen
Eleos redet, hielt der Spätling mit der feierlichen Tragödie nur den
ebenfalls feierlichen οἶκτος verträglich.“

Als einziges Verdachtsmoment bleibt also übrig, daß der Excerptor
οἶκτος statt ἔλεος schreibt, „schmerzliche Rührung“ statt „Mitleid“.
Nichts könnte aber besser die Vermutung bestätigen, daß die fraglichen
Worte aus der aristotelischen Erklärung der tragischen Katharsis herausgegriffen
sind. Der reine „Phobos“ und der reine „Eleos“ ─ die
richtigen, reinen Furcht- und Mitleidempfindungen ─ sind das
Resultat der Katharsis; das Objekt dagegen, an dem sie sich vollzieht,
sind gerade die von dem Excerptor genannten „Pathemata“,
also „die fürchterlichen Affekte“, die übermäßigen Furchtempfindungen
(ὑπερβολαὶ τοῦ φόβου). Diesen stellt die Komposition des tragischen
Kunstwerks ebenso die „Pathemata“ des „Eleos“ entgegen, die wir
im Deutschen unter dem Namen der schmerzlichen Mitleidsäußerungen,
also der „Rührung“ in ihrer Gesamtheit bezeichnen. [663]
Hierfür hat die griechische Sprache das Wort οἶκτος; sie besitzt gar kein
anderes Wort, das hier mit größerem Recht erwartet werden könnte.
Nun ist aber nach der aristotelischen Theorie der Zweck der Tragödie
keineswegs, „Rührung“ und „fürchterliche Affekte“ ─ φοβερὰ
παθήματα und οἶκτος ─ hervorzubringen, mit diesen ─ übrigens
so leicht zu erzielenden ─ Wirkungen ihr „Werk“ (ἔργον τραγῳδίας)
abzuschließen: sondern ihr Ziel ist aus der Gegenwirkung der beiden
Gruppen von Affekten das Gleichmaß beider Empfindungen, die reinen
Pathe also der echten Furcht und des echten Mitleids hervorgehen zu
lassen, d. h. die Katharsis beider Affekte „abschließend zu bewirken“
(περαίνειν). Grade das also „will“ sie: und grade das schreibt der
Excerptor aus: συμμετρίαν θέλει ἔχειν τοῦ φόβου, „sie will
ein Ebenmaß der Furcht haben“. Diesen Satz läßt sogar Bernays
gelten: „Wenn dieses Sätzchen, mit dem Zeichen des Excerptes
(ὅτι) an der Spitze, auch nichts Neues lehrt, so ist es doch vollkommen
im Sinne des Aristoteles gehalten. Denn freilich ‚will die
Tragödie eine Symmetrie der Furcht haben‘, nämlich ein Ebenmaß der
Furcht mit dem Mitleid.“ Aber Bernays schränkt dieses Zugeständnis,
das im übrigen weitab von seiner eigenen Theorie liegt, auf die dürftige
Bemerkung ein, „die Furcht dürfe sich nicht zur Betäubung steigern, bei
der eine reflektierende Empfindung wie Mitleid nicht bestehen könne“.
Er beruft sich dabei auf eine Stelle der Rhetorik (1386a 22), die
nicht allein gar nichts mit der Tragödie zu thun hat, sondern die von
der „Furchtüberhaupt nicht handelt, sondern von einem schrecklichen
Ereignis
δεινόν ─; von diesem sagt Aristoteles, daß
wenn es die Zuhörer des Redners selbst getroffen hat, es sie für die
Empfindung des Mitleids unfähig mache, da sie von dem eigenen Unglück
dann völlig hingenommen seien. Bernays verfehlt also das Verständnis
der Stelle vollständig. Jhr echt aristotelischer Ursprung
wird aber im folgenden noch evidenter. Die beiden soeben erörterten
Sätzchen greifen die beiden wesentlichsten Bestimmungen aus der
aristotelischen Erklärung der Katharsis heraus: 1) das Mittel ihrer
Wirksamkeit, nämlich die wechselseitige Benutzung der durch die Natur
des tragischen Stoffes gegebenen schrecklichen
und traurigen
Seelenbewegungen zur Enthebung der Seele von ihrer Last; und
2) das Ziel ihrer Wirksamkeit: die „Symmetrie“ derselben. Daß
aber in dieser Symmetrie wirklich und gewiß nach der Denkweise
des Aristoteles die Aufgabe der Tragödie beschlossen liegt, ist mit zwei
aristotelischen Worten
unumstößlich zu erweisen. Diese Aufgabe
besteht nach ihm darin in den Zuschauern die Bereitschaft zur [664]
Freudeτὴν δύναμιν τῆς ἡδονῆς ─ herzustellen; was versteht er
aber unter der „Freude“? Er sagt es im dritten Buche seiner Psychologie
im Kap. 7 (431a 10) ἔστι τὸ ἥδεσθαι τὸ ἐνεργεῖν τῇ αἰσθητικῇ
μεσότητι πρὸς τὸ ἀγαθὸν ᾗ τοιοῦτον, d. h. „Sich freuen heißt
das rechte Mittelmaß der Empfindung gegenüber dem Vortrefflichen
als solchem bethätigen
(d. i. insofern und weil es das
Vortreffliche ist).“ Daraus geht unbestreitbar hervor: die Freude an der
Tragödie, der rechte Genuß des Tragischen, beruht auf der Thätigkeit
der tragischen Empfindungen, insofern dieselben durch die Darstellung
einer zu diesem Zweck eingerichteten Handlung zum rechten Mittelmaß,
d. i. in diesem Falle ihre vollkommene Symmetrie, gebracht
werden.

Hieraus erklärt sich zugleich das letzte Sätzchen: ἔχει δὲ μητέρα
τὴν λύπην. Bernays nennt die Worte „ein warnendes Beispiel, wie
ein Kommentator durch scheinbar vernünftiges Verfahren aus seinem
Autor das gerade Gegenteil von dem herausfolgern kann, was er meint.
Mit einer Metapher, die im Griechischen und zumal auf aristotelischem
Gebiet wo möglich noch geschmackloser ist als im Deutschen, besagen sie
‚die Tragödie habe die Unlust zur Mutter‘. Wie ist der gute Unbekannte
hierauf geraten? Die aristotelische Rhetorik, in der er sich auch
sonst noch wohlbeschlagen erweist, verführte ihn.“ Bernays meint nämlich,
der Excerptor habe die dort enthaltenen Definitionen von Furcht
und Mitleid als „Unlustempfindungen“ im Sinne gehabt und in
lächerlichem Mißverständnis übersehen, daß Aristoteles ja von der Tragödie
im Gegensatz dazu verlange, daß sie „Hedone“ bereiten sollte.
Übrigens, fügt Bernays hinzu, „ein Widerspruch, für den es auf formal
logischem Wege keine Lösung gibt.“ Nun, von diesen Dingen ist oben
die Rede gewesen; aber die dort vorgetragenen Ansichten erhalten hier
direkte Bestätigung.

Dem Sinne wie dem Ausdruck nach steht nichts im Wege auch
diese Worte für ein, freilich dem festen Zusammenhange entrissenes,
Citat aus Aristoteles zu halten. Das Wort μήτηρ wird von ihm
mehrere Male metaphorisch gebraucht (s. 192a 14 und 391b 14), ebenso
wendet er nicht selten die Bezeichnung „Vater“ vergleichsweise auf begriffliche
Verhältnisse an. Dem Ausdrucke nach liegt also weder eine
„Geschmacklosigkeit“, noch überhaupt irgend etwas Befremdendes vor.
Dem Sinne nach jedoch kann diese Äußerung sehr wohl in den aristotelischen
Ausführungen über die tragische Katharsis erwartet werden,
ja eine derartige Äußerung kann dort gar nicht gefehlt haben: weist
doch das kurze Wort in prägnanter Weise gerade auf die Lösung der= [665]
jenigen Frage hin, die zu allen Zeiten den Ausgangspunkt aller
theoretischen Untersuchungen über das Wesen der Tragödie
gebildet hat,
auf die Frage, wie die Nachahmung einer traurigen
Handlung Vergnügen bereiten könne. Daß die Tragödie das erste
ist und daß sie das zweite dennoch erreicht, wird durch die thatsächliche
Erfahrung immer wieder aufs neue bestätigt; aber alle Versuche, dieses
unbestreitbare Faktum zu erklären, sind ausnahmslos bis in die neueste
Zeit hin gescheitert: einzig und allein aus den Konsequenzen der aristotelischen
Theorie sind die Mittel für eine solche Erklärung zu gewinnen.
Und zwar mit der größesten Einfachheit. Reinheit d. i. vollkommene
Richtigkeit der Empfindung ist überhaupt im Leben eine seltene Erscheinung,
nirgends aber ist sie seltener und nirgends schwerer zu erreichen
als gegenüber den schweren Schicksalen, von denen man selbst
bedroht wird oder von denen man andere bedroht oder betroffen sieht.
Daher sind die Empfindungen, die durch die Nachahmung derartiger
Schicksale erregt werden, zunächst nicht die reinen, richtigen, ja es
gibt kein Mittel, durch welches die Kunst direkt und unmittelbar
die reinen Schicksalsempfindungen zu erregen vermöchte.

Die Tragödie, die dieses Ziel verfolgt, kann nicht umhin zunächst das
Objekt herzustellen, an welchem nun den Läuterungsprozeß zu
vollziehen, die Katharsis zu vollenden ihr eigentliches Geschäft ist. Die
Erregung der traurigen, schmerzlichen, beunruhigenden Furcht=
und Mitleidaffekte ist die unerläßliche Vorbedingung für die
Erzeugung des hohen künstlerischen Genusses, des „Vergnügens
an tragischen Gegenständen“, der Hedone, welche die gewissen Begleiter
der „Symmetrie“ der Furcht und des Mitleids, ihres durch die
Katharsis erzielten rechten Gleichmaßes
sind. Ohne daß diese
Trauer, dieser Schmerzλύπηvorangegangen, kann von
der tragischen Kunst und von dem Genuß derselben keine Rede sein:
sehr treffend heißt darum der Schmerz gleichsam ihr Erzeuger. Der
Beweis, daß Aristoteles die „Trauer die Mutter des Trauerspiels
genannt habe, ist natürlich nicht zu erbringen; daß aber die
Metapher dem Kern seiner Lehre entspricht, und daß sie daher mit
großer Wahrscheinlichkeit in dem Zusammenhange, in welchem wir sie
bei dem Excerptor finden, für einen Teil der verlorenen Erläuterung des
Aristoteles über die Katharsis gehalten werden kann, dürfte keinem
Zweifel unterworfen sein.

Es bedarf aber keines Hinweises darauf, von welcher Wichtigkeit
der Nachweis der Echtheit dieser Excerpte ist, nicht nur um ihres Jnhaltes
willen, sondern namentlich wegen ihres schwerwiegenden [666]
Zeugnisses für die Echtheit auch des sich daran schließenden zweiten
Paragraphen, der die Definition der Komödie uns überliefert.

J. Bernays hat es durch sein kategorisches Verwerfungsurteil verschuldet,
daß seitdem niemand es der Mühe wert gehalten hat diesen
Schatz zu heben, den er für einen „Kohlenschatz“ erklärt, „eine jämmerlich
ungeschickte Travestie der aristotelischen Definition der Tragödie, obendrein
durch Lücken verstümmelt und durch Fehler verwirrt.“ Die „Lücken
und Fehler“ finden sich bekanntlich in unserer Überlieferung der echten
aristotelischen Poetik nicht minder zahlreich; wären sie dort nur überall
ebenso leicht auszufüllen und zu verbessern, wie es hier glücklicherweise
der Fall ist. Diese Korrekturen liegen so auf der Hand, daß sie in der
Hauptsache nicht einmal eines Wortes der Begründung bedürfen. Sie
sind im folgenden durch stärkeren Druck ausgezeichnet, während die Lesart
der Handschrift in Klammern hinzugefügt ist:

Κωμῳδία ἐστὶ μίμησις πράξεως γελοίας (-ου) καὶ ἀμοίρου
μεγέθους, τελείας (-ου), ἡδυσμένῳ λόγῳ (fehlt), χωρὶς ἑκάσ τ ῳ
(-ου) τῶν μορίων (ἐν) τοῖς εἰδεσι, δρώτων (-ος) καὶ οὐ (fehlt) δἰ
ἀπαγγελίας (ἐ-), δἰ ἡδονῆςκαὶ γέλωτος περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων
παθημάτων κάθαρσιν.

Also: „Die Komödie ist die Nachahmung einer lächerlichen
und Größe nicht beanspruchenden, vollständigen Handlung,
in kunstmäßig erhöhtem Ausdruck, in für jeden ihrer Teile
verschiedener Verwendung der Arten desselben, durch Aktion
und nicht durch Erzählung, welche Wohlgefallen und Lachen
erregt und durch beide die ihnen entsprechenden Empfindungsäußerungen
zu klären die Kraft hat.

Für J. Bernays genügen die folgenden wenigen Worte um diese
fest geschlossene Definition, die sogar eine sehr wertvolle Berichtigung
des uns überlieferten Textes der aristotelischen Definition der Tragödie
bietet, kurzer Hand abzuthun: „Jedermann muß sehen, daß γέλως, eine
Unterart der ἡδονή, nicht mit dieser auf gleiche Linie kann gestellt
werden, daß ἡδονή auch der Tragödie zukommt, also keine unterscheidende
Eigentümlichkeit der Komödie abgibt, daß endlich ἡδονή nie
und nimmer ein πάθημα zu nennen ist ─ kurz das ganze Machwerk
beweist nur, daß der Verfertiger desselben in seinem Exemplar der
Poetik ebensowenig wie wir in dem unsrigen eine Definition der Komödie
vorfand. Die zum Ersatz des Mangels gefertigte verrät durchweg
so wenig Sinn, daß es unnütz wäre viel zu forschen, was wohl mit
dem völlig sinnlosen und offenbar verschriebenen καὶ ἀμοίρου könne
gemeint sein.“ Jn jedem Wort ein Beweis, daß Bernays durch nichts [667]
als durch seine vorgefaßten Meinungen gehindert ist, diesem Paragraphen
dieselbe Anerkennung zu teil werden zu lassen, wie fast dem
gesamten übrigen Text des Fragmentes „über die Komödie“, wo allerdings
jene Bernaysschen Privatmeinungen gar nicht in Betracht kommen.

Was kann klarer sein als jenes angeblich „völlig sinnlose“ καὶ
ἀμοίρου μεγέθους: im Gegensatz zu der tragischen Handlung, die der
Größe“ nicht entbehren darf, weil sonst das „Tragische“ zum lediglich
„Traurigen“ entarten würde, macht die komische Handlung auf „Größe
nicht Anspruch, sie ist ἄμοιροςunteilhaftig“ der Größe. Die
Größe“ d. h., wie oben erörtert wurde, die hervorragende Bedeutung
der ins Spiel kommenden Jnteressen, an und für sich betrachtet, seien
sie sachlicher oder ethischer Natur, würde sogar der reinen Wirkung der
„lächerlichen“ Handlung hindernd im Wege stehen, ja sie aufzuheben
geeignet sein. Die komische Wirkung besteht nur so lange, als der
durch die Handlung augenfällig gemachte Mangel, Jrrtum oder Fehler
nicht schädlich, verderblich erscheint; diese letztere Wirkung tritt aber
um so leichter, ja gewisser ein, je höher die Bedeutung der dadurch in
ihrem Bestand bedrohten Jnteressen ist, d. h. also je mehr die Handlung
auf das Attribut der Größe an und für sich Anspruch hat. Um Beispiele
anzuführen: ein „großes“ Jnteresse würde in Lessings „Minna
von Barnhelm
“ ins Spiel kommen, wenn das ethische Hamartema
in Tellheims Charakter, die übermäßige Reizbarkeit seines Ehrgefühls,
ihn zu einem Schritte hinreißen würde, der durch die von außen hinzutretenden
Umstände zu einem irreparablen, also für das Lebensglück der
Beteiligten verhängnisvollen gemacht würde; damit wäre die komische
Wirkung des Ganzen vernichtet: Jn den „Captivi“ des Plautus
würde es sich um ein „Großes“ handeln, wenn die „Erkennung“ durch
äußere Verwickelung verzögert würde, und Hegio unwissentlich den eigenen
Sohn im Zorn getötet oder verstümmelt hätte, wie er droht es zu thun;
dabei könnte die Komik des Stückes nicht bestehen. Shakespeare ist
zweimal in seinen Kompositionen bis an die äußerste Grenze gegangen:
er hat in seinem „Wintermärchen“ und in „Viel Lärmen um
nichts
“ die Handlung zunächst im Maßstabe der „Größe“ angelegt;
er hat sich damit die schwierige Aufgabe gestellt, die er sich freilich durch
eine Reihe der feinsten Kunstmittel erleichtert, oder besser, überhaupt
lösbar gemacht hat, die scheinbar „große“ Bedeutung der Handlung erst
wieder aufzuheben, um in dem einen Fall die wohlgefällige, im
andern die komische Wirkung frei werden zu lassen.

Die Bestimmung, daß die Handlung der Komödie „unteilhaftig
der Größe
“ ─ άμοιρος μεγέθους ─ sein solle, ist also eine aus [668]
dem Kern der Sache hergeleitete, unentbehrliche Vorschrift für ihre richtige
Komposition, einer der wesentlichsten Bestandteile ihrer Definition. Beiläufig
bemerkt mag die Endung des Kompositums ἀμοίρου den flüchtigen
Abschreiber verleitet haben, durch Assimilation auch den beiden
andern Attributen dieselbe Endung zu geben statt der richtigen, weiblichen:
γελοίου und τελείου statt γελοίας und τελείας zu schreiben.
Diese beiden letzteren Bestimmungen bedürfen keiner Rechtfertigung; daß
die Handlung „vollständig“ sei, ist Grunderfordernis, daß sie „lachenerregend
sei, bezeichnet ebenso ihren stofflichen Grundcharakter, das
Feld ihrer Wirksamkeit, wie für die Tragödie die Bestimmung, daß ihre
Handlung dem „Ernste“ der Schicksalsempfindungen Raum gebe, daß
sie eine „ernsthaft=würdige“ ─ σπουδαία ─ sei.

Daß in dem Folgenden die Worte ἡδυσμένῳ λόγῳ nur durch
ein Versehen ausgefallen sind, bezeugt der Zusatz, von welchem dieselben
in der Poetik begleitet sind und der sich hier wiederfindet. Wenn dieser
Zusatz aber auf den ersten Blick abermals eine Verdrehung des Wortlautes
aufzuweisen scheint, nämlich χωρὶς ἐκάστου τῶν μορίων ἐν
τοῖς εἴδεσι, während in der Poetik steht χωρὶς ἑκάστου τῶν εἰδῶν
ἐν τοῖς μορίοις, so erweist die nähere Untersuchung, daß dieser wegen
seiner Kürze schwer verständliche Satz, der auch in der Poetik fehlerhaft
überliefert ist,
durch die Variante des Excerptors vielmehr
eine wesentliche Berichtigung erfährt. Der Sinn des Satzes ist
im Texte der Poetik erklärt: die Tragödie soll, und dasselbe wird hier
von der Komödie gelehrt, in „verschönertem“ d. i. „kunstmäßig erhöhtem“
Ausdruck vorgetragen werden; die Arten desselben seien „rhythmische
Gliederung
“ (ῥυθμός), „musikalische Begleitung“ (ἁρμονία)
und „Gesang“ (μέλος); die gesonderte Anwendung dieser Arten (das
χωρὶς für dieselben) bedeute, „daß in manchen Teilen die Wirkung
hervorgebracht werde (περαίνεσθαι) allein durch das rhythmische
Wort
(διὰ μέτρων μόνον), in andern wieder durch den Gesang
(καὶ πάλιν ἕτερα διὰ μέλους)“.

Der Sinn jenes Satzes ist also klar, obwohl die Übersetzer und
Kommentatoren die aristotelische Unterscheidung von Harmonia, welches
Wort den musikalischen Klang bedeutet, wie aus einer großen Zahl
von Beispielen des aristotelischen Sprachgebrauchs zu erweisen ist, und
von Melos, welches den Gesang mit und ohne Wort bezeichnet, nicht
erkannt und durch allerlei Änderungen des Textes verwischt haben. Nicht
so klar ist es aber, wie in den durch den Text der Poetik überlieferten
Worten dieser Sinn in präcisem Ausdruck gefunden werden soll. Man
hat zunächst allgemein die Änderung von ἑκάστου in ἑκάστῳ an= [669]
genommen und konstruiert nun: ἡδυσμένῳ λόγῳ, χωρὶς ἑκάστῳ τῶν
εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις „in künstlerischem Ausdruck, gesondert, durch
eine jede seiner Arten, in den Teilen
(sc. der Tragödie)“.
Das erweist sich aber bei genauerer Betrachtung als ein Nonsens. Von
den drei Kunstmitteln des dramatischen Ausdrucks kann nur das erste,
der Rhythmosgesondert“ zur Anwendung kommen, nämlich in
der metrisch gegliederten Rede; derselben kann eine musikalische Begleitung,
z. B. durch die Flöte sich zugesellen, endlich können im
Chorlied alle drei Kunstmittel vereinigt verwendet werden. Es
ist also falsch, daß die Nachahmung „gesondert durch eine jede
der Arten
“ des künstlerischen Ausdrucks „in den Teilen“ der Tragödie
zu geschehen habe; der Sinn verlangt, daß das Wort ἑκάστῳ
nicht dem Begriff der εἴδη sondern dem der μόρια zugeordnet sei: für
die einzelnen Teile findet eine Sonderung der Arten des Schmuckes
statt, für jeden der einzelnen Teile der Tragödie, also Prologos und
Epeisodia, Parodos und die Stasima, ebenso für die Kommoi, ist der
künstlerische Ausdruck seinen Arten nach besonders geordnet. Auf diesen
Wortlaut weist auch die Erläuterung der Poetik zurück durch die Worte
τὸ δὲ χωρὶς τοῖς εἴδεσιν. Es wäre also zu schreiben: χωρὶς ἑκάστῳ
τῶν μορίων τοῖς εἴδεσιν und zu übersetzen: „für jeden ihrer Teile
gesondert nach seinen Arten,
also bald bloßes Metrum, bald zu
diesem Musikbegleitung, bald das Lied allein oder von Jnstrumenten
begleitet, bald dieses mit der metrischen Rede abwechselnd. Also auch
die Lesart des Fragmentes wäre schon verdorben durch die Änderung
des Dativs ἑκάστῳ in den Genitiv, die offenbar durch die fälschliche
Auffassung des χωρίς als Präposition veranlaßt ist, und durch die Einschiebung
des ἐν, die erfolgte, weil man die Stelle nicht mehr verstand.
Aber durch die richtige Verbindung des ἕκαστον gegenüber der unlogischen
Entstellung im Texte der Poetik hat das Fragment einen
unleugbaren Vorzug, der beweist, daß der Excerptor aus einem aristotelischen
Texte geschöpft hat und zwar aus einem älteren als wir ihn
besitzen.

Dieser Umstand, der an sich für den vorliegenden Gegenstand
nicht in Betracht kommt, ist doch für den Beweis der Echtheit der
Definition, in der die Stelle enthalten ist, von nicht zu unterschätzender
Wichtigkeit.

Die drei andern Einwendungen, die Bernays außer der Behauptung
der Sinnlosigkeit des ἀμοίρου erhebt, gehen aber das Wesen der
Sache an. Es sei die dritte zuerst betrachtet: „nie und nimmer sei die
Hedone ein Pathema zu nennen“; sodann die beiden ersten, daß das [670]
Lachen, als eine Unterart der Hedone, mit dieser nicht auf gleiche
Linie gestellt werden könne, daß diese zudem, als auch der Tragödie zukommend,
keine unterscheidende Eigentümlichkeit der Komödie sein könne.

Hier darf im Jnteresse der Sache die schärfste Verurteilung nicht
zurückgehalten werden: diese Bernays'sche Kritik gibt Zeugnis davon,
daß ihm das Verständnis der Begriffe, von denen er spricht, absolut
fehlt. Um das zu beweisen bedarf es keines ausgedehnten philologischen
Apparates; es ist angänglich hier mit wenigen Sätzen auszukommen.

Pathema“ nennt Aristoteles einen jeden Veränderungsvorgang,
wie oben schon erörtert, auf psychologischem Gebiet einen jeden Veränderungsvorgang
in der Seele.
Statt hundert Stellen nur
eine zum Zeugnis aus de interpret. c. I: ἔστι μὲν οὖν τὰ ἐν τῇ φωνῇ
τῶν ἐν τῇ ψυχῆ παθημάτων σύμβολα.1 „Was die Stimme ausdrückt
ist Zeichen der ─ Pathemata ─ Veränderungsvorgänge in der Seele.“
Wer wollte behaupten, daß Lachen und Freude nicht zu diesen „Pathemata“,
diesen Veränderungen der Seele gehörten? Ferner aber
heißt es in der Psychologie des Aristoteles (vgl. περὶ ψυχῆς, II, 2,
S. 413b 23 und 414b 4) ὅπου αἴσθησις καὶ λύπη τε καὶ ἡδονή.
„wo Empfindungsvermögen vorhanden ist, da findet auch Schmerz und
Freude statt“. Also nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren.
Die Hedone, die Freude, ist also mit dem, was wir im Deutschen
im engeren Sinne „Empfindungsvorgänge“ nennen, und was auch
Aristoteles in der Ethik im engeren Sinne mit Pathos bezeichnet,
allerdings nicht auf eine Linie zu stellen ─ und etwas Ähnliches mag
Bernays vorgeschwebt haben ─, aber sie hat mit der λύπη, dem
Schmerz,
die gemeinsame Stellung, daß diese beiden Veränderungsvorgänge,
Pathemata, der Seele mit Notwendigkeit als Begleiterscheinungen
bei einem jeden Empfindungsvorgang sich einstellen.
Jn der Nikomachischen Ethik heißt es II, 6 (1105b 21) λέγω δὲ πάθη
.... ὅλως οἷς ἕπεται ἡδονὴ καὶ λύπη „unter Empfindungen verstehe
ich überhaupt alle die Vorgänge, die von Freude und Schmerz
begleitet sind
“. Aus den ferneren Ausführungen des Aristoteles
erhellt, was übrigens an sich keines weiteren Beweises bedarf, daß die
„Empfindungen“ sich nicht allein untereinander nach diesem Gesichtspunkte
unterscheiden, daß den einen schmerzliche, den andern freudige
Pathemata“ entsprechen, sondern daß auch eine und dieselbe
Empfindung unter Umständen bald den einen bald den andern Charakter
annehmen kann.

[671]

Aber der Bann des Jrrtums, der Bernays' sonst so glänzenden
Scharfsinn gefangen hält, erstreckt sich noch weiter. Offenbar denkt er
bei dem Ausdruck „Hedone“ nur an jene höchste, richtige, reine
„Freude“, deren Wesen, wie es von Aristoteles so herrlich erfaßt und
so unvergleichlich definiert ist, im Obigen wiederholt und ausführlich
dargestellt wurde. Daß dem so ist, zeigt sich darin, daß Bernays zum
Beweise seiner Behauptungen sich auf diejenige „Hedone“ beruft, die
Aristoteles der tragischen Wirkung zum „Ziel“ gesetzt hat. Er vergißt
dabei aber völlig, daß dieser einen einzigen rechten, daher hohen
und reinen, Freude Tausende und aber Tausende von „falschen, schlechten,
schändlichen, krankhaften, schädlichen, schimpflichen, sklavischen, ja tierischen“
Arten der Freude, ─ lauter Pathemata der Seele ─ zur
Seite stehen, sämtlich auf dem specifischen Gebiete des Empfindungslebens
von Aristoteles so bezeichnet (ἡδοναί φαῦλαι, αἰσχραὶ,
βλαβεραὶ, ὀνειδιζόμεναι, ἐπονείδιστοι, νοσηματώδεις, ἀνδραποδώδεις,
θηριώδεις), denen auf der andern Seite ebensoviele Bezeichnungen
des Gesunden, Richtigen, Edlen, auch vielfältiger Mischungsverhältnisse
gegenüberstehen. Ein Blick in den Jndex zu Aristoteles'
Schriften, den wir dem großartigen Fleiß und ausgezeichneten Scharfsinn
Bonitz's verdanken, liefert überreiches Beweismaterial. Es wurde
oben schon zu anderem Gebrauch die unübertreffliche Definition der
aristotelischen Psychologie für die echte Freude citiert: „Sich freuen
(also wahrhaft freuen!) heißt das rechte Mittelmaß der Empfindung
gegenüber dem Vortrefflichen als solchem bethätigen.

Daraus ergibt sich mit absoluter Sicherheit das folgende
Resultat
als ein echt aristotelisches, d. h. als ein solches, das
mit der Anschauungs- und Ausdrucksweise des großen Philosophen auf
das genaueste zusammenstimmt: durch die Aufgabe der Komödie wird
es bedingt, daß sie zu einem Teile darauf eingerichtet sei, unmittelbares
Wohlgefallen
hervorzubringen, d. h. also, daß die von ihr
als Stoff ausgewählten Handlungen zu einem Teile solche Empfindungen
hervorbringen sollen, die unmittelbar und notwendig
von Freude, Hedone, begleitet sind.
Damit aber bereitet sie
sich nur das Feld, auf dem ihre eigentliche Wirkung nun vor sich gehen
soll: nämlich diesen ihren Handlungsstoff so anzulegen und
durchzuführen, daß derselbe die Kraft habe die Bethätigung
jener wohlgefälligen Empfindungen in ihrem rechten Mittelmaß
herbeizuführen.
Um das aber zu erreichen, bedarf sie zugleich
des andern Teiles der von ihr anzuregenden Pathemata.

Dieses sind die Empfindungen des Lächerlichen, die nach [672]
Bernays eine Unterart der Hedone und daher mit dieser nicht auf
gleiche Linie zu stellen sein sollen. Das ist aber grundfalsch, ja diese
Behauptung beruht auf einem der gröbsten logischen Fehler, die überhaupt
begangen werden können.

Leider fehlt uns die aristotelische Definition des γέλως, des
Lachens, bezüglich der er auf die Poetik hinweist, wo wir sie so
schmerzlich vermissen. Nur an wenigen Stellen spricht er vorübergehend
von der Natur des γελοῖον, des Lächerlichen; eine derselben steht am
Schluß des elften Kapitels im ersten Buch der Rethorik, und diese
ist es offenbar, auf die Bernays Bezug nimmt. Hier bespricht Aristoteles,
nicht mit wissenschaftlicher Schärfe sondern absichtlich in einer für den
praktischen Gebrauch eingerichteten Weise (vgl. darüber S. 1369b 31),
die Natur dessen, was dem Menschen „angenehm“ ─ ἡδύ ─ erscheint;
und zwar ausdrücklich, was ihnen so erscheint, keineswegs
was ihnen mit Recht „angenehm oder erfreulich“ ─ ἡδύ kann ja
beides bedeuten ─ erscheinen soll. Er schickt der Aufzählung dieser ἡδέα,
dieser „angenehmen“ Dinge die populär gehaltene und absichtlich für
den hier vorliegenden Zweck dem Begriff die weitesten Grenzen
ziehende Definition der Hedone voraus, die oben schon einmal citiert
ist.1 „Die Freude ist eine Bewegung der Seele und eine volle und
bewußte Herstellung derselben zu der ihr innewohnenden Natur“ (Ὑποκείσθω
δ' ἡμῖν εἶναι τὴν ἡδονὴν κίνησίν τινα τής ψυχῆς καὶ κατάστασιν
ἀθρόαν καὶ αἰσθητὴν εἰς τὴν ὑπάρχουσαν φύσιν). Wie
gleichfalls oben schon bemerkt, paßt diese Erklärung sowohl auf die
echte und rechte Freude, sofern man unter der der Seele innewohnenden
Natur diejenige versteht, die ihrer Anlage nach ihr Wesen ausmacht,
als auch auf jede Form, in welcher die Freude thatsächlich sich äußert,
selbst wenn es die verkehrteste wäre, sofern man an den in jedem einzelnen
Falle thatsächlich der Seele zur Natur gewordenen und als solche in
ihr obwaltenden Zustand denkt. Unter diesem Gesichtspunkt zählt
nun Aristoteles alles das auf, was den Menschen für „angenehm“ gilt,
da es die ihnen gemäße Art der Freude in ihnen hervorbringt. So
sagt er z. B.: Bemühung, Fleiß, Anstrengung ist ihnen unangenehm
(λυπηρόν); sobald sie zur Gewohnheit werden, sind auch sie ihnen angenehm
(ἡδύ); leichter Sinn, Muße, Sorglosigkeit, Spiel, Erholung,
Schlaf gehören zu den „angenehmen“ Dingen. Nachdem er sodann alles
Erdenkliche das unter diesem Gesichtspunkt zu vereinigen ist, aufgereiht
hat, schließt er mit folgenden Worten: „ebenso muß, da ja das Spiel [673]
und jede Erholung zu den angenehmen Dingen gehört und also auch
das Lachen angenehm ist, notwendig das Lächerliche angenehm sein, ob
es nun an Menschen, in Worten oder Handlungen hervortritt“
(ὁμοίως δὲ καὶ ἐπεὶ ἡ παιδιὰ τῶν ἡδέων καὶ πᾶσα άνεσις, καὶ
ὁ γέλως τῶν ἡδέων, ἀνάγκη καὶ τὰ γελοῖα ἡδέα εἶναι, καὶ ἀνθρώπους
καὶ λόγους καὶ ἔργα).

Das sind die Sätze, aus denen Bernays die Behauptung konstruiert,
Aristoteles betrachte das „Lachen“ als eine Unterart der „Freude“!
Danach müßte Aristoteles den Schlaf, den Leichtsinn, das Nichtsthun
ebenfalls für „Unterarten“ der Freude erklärt haben, nicht minder den
Zorn, die Rache, die Wehmut, die Prozeßsucht und noch vielerlei anderes,
denn von allem diesem sagt er ebenso wie vom Lachen, daß es den
Menschen „angenehm“ sei oder sein könne. Nach diesem Schlußverfahren
würde aus dem Vordersatz: „mäßiges Lachen ist gesund“ mit demselben
Recht die Folgerung gezogen werden können, daß es eine Unterart der
Gesundheit sei.

Aristoteles handelt von dieser logischen Operation, eine anhaftende
Eigenschaft zur Wesensbestimmung zu machen, ausführlich im vierten
Kapitel des dritten Buchs seiner Metaphysik; man kann damit beweisen,
daß ein Schiff, eine Wand und ein Mensch ein und dasselbe seien.

Das „Lachen“ kann also sehr wohl mit der „Freude“ auf eine
Linie gestellt werden, um so mehr, da es durch seine Eigenschaft, zu den
angenehmen Dingen zu gehören, in jener nahen Beziehung zu dem
Begriff der Freude steht, die unumgängliches Erfordernis für die Zusammenstellung
von Begriffen ist.

Wie ist nun aber die gegenseitige Beziehung der beiden Begriffe
zu bestimmen? Hier fehlen uns abermals die Licht verbreitenden aristotelischen
Aufschlüsse, die ohne Zweifel an die in der Poetik entwickelte
Definition des Lachens sich angereiht haben; die Erläuterung des Wesens
der komischen Katharsis muß dazu den reichlichsten Anlaß gegeben
haben.

Der Versuch diese Lücke auszufüllen ist oben im vierzehnten Abschnitt
gemacht worden; was dort, namentlich von S. 240 an bis zum
Ende des Abschnittes gesagt ist, müßte hier von Wort zu Wort wiederholt
werden. Die folgende Darstellung nimmt darauf in der Weise
Bezug, als ob diese Wiederholung geschehen wäre. Nur in einem Punkte
bedarf das oben Ausgeführte hier noch einer Ergänzung. Es ist dort
die Natur des Lächerlichen auf Grund der aristotelischen Definition
desselben untersucht: es bliebe noch übrig, die Untersuchung auf den
Vorgang des Lachens selbst zu richten.

[674]

Es muß hier als der Kernpunkt der obigen Erörterungen noch
einmal hervorgehoben und den modernen, verwirrenden Untersuchungen
gegenüber um so stärker betont werden, daß es die fehlerhafte oder
deforme Erscheinung selbst ist,
die das Freudige im Affekt des
Lachens erzeugt, nicht die über dieselbe im Wettstreit der beiden den
Sieg davontragende Kontrastvorstellung. Die unmittelbar, mit
blitzartiger Schnelligkeit eintretende ästhetische Entscheidung, die durch
die augenfällig fehlerhafte, deforme Erscheinung hervorgerufen wird, ist
ein Akt des voll und bewußt richtigen Empfindens, des wirklichen oder
vermeintlichen, da sie ein ästhetisches Urteil über das Negative als
solches
mit Sicherheit, und zwar mühelos, ohne Reflexion und mit
überraschender Evidenz feststellt: als ein solcher Akt des vollen und
bewußt naturgemäßen Empfindens
hat dieser Seelenvorgang
die Eigenschaft des Freudigen. Die Freude ist auch hier die Begleiterin
einer Energie, der Bethätigung des ästhetischen Vermögens.


Daß dem so ist, wird durch eine Untersuchung über den Vorgang
des Lachens selbst noch mehr bekräftigt und außer Zweifel
gestellt.

Es bedarf keines Beweises, sondern nur des Hinweises auf die
Thatsache, daß der Affekt des Lachens über einen viel weiteren Bezirk
ausgedehnt ist als den des eigentlich sogenannten Lächerlichen. Als
überwiegend physiologischer Vorgang wird es durch eine Anzahl
bestimmter Nervenreizungen hervorgerufen, von denen schon Aristoteles
in seinen „Problemen“ gelegentlich handelt, so durch Hautkitzel an gewissen,
dafür besonders empfänglichen Stellen und durch äußere Erschütterung
des Zwerchfells, vorzugsweise wenn beide Reizungen unvermutet
erfolgen (vgl. Arist. Probl. 965a 11 ff.). Sehr treffend hebt
Aristoteles hervor, daß diese Reizungen das Lachen nicht erzeugen, wenn
man sie selbst an sich ausübt, und daß sie ebensowenig oder doch bei
weitem schwächer jene Reflexbewegung des Lachens auslösen, wenn man
sie vorbereitet und mit Bewußtsein erfährt, daher auch bei Erwachsenen
schwächer wirken als bei Kindern, bei Gebildeten weniger als bei Ungebildeten.
Die das Lachen erregende Ursache liegt also weniger in
jenen Reizungen selbst als vielmehr in dem Heimlichen, Unvermuteten
derselben. Von diesem Lachen sagt er daher, es beruhe
auf einer Art täuschender Überraschung, Hintergehung (παρακοπή
τις καὶ ἀπάτη). Auch hier ist es das Resultat einer Bethätigung des
Empfindungsvermögens und zwar, wie die neuere Physiologie lehrt,
einer für den Organismus höchst zweckmäßigen Aktion des Nerven= [675]
systems;1 es wird daher auch sinnlich angenehm empfunden, solange die
Reizung durch Heftigkeit oder Dauer nicht etwa den Charakter des
Schmerzlichen oder Schädlichen annimmt. Es darf aber gegenüber
der medizinischen Forschung, die den Vorgang als rein physiologisch
auffaßt, nicht vergessen werden, daß, wie aus den erwähnten Umständen
hervorgeht, derselbe doch ohne die Mitwirkung des psychologischen
Bewußtseins nicht zustande kommt; das Lachen ist daher
von den reinen Reflexbewegungen, wie z. B. Niesen und Husten, wesentlich
verschieden; diese letzteren treten ebenso wie beim Menschen auch
bei den Tieren auf, jenes kommt nur dem beseelten, menschlichen
Organismus zu.

Zwischen diesem aus vorwiegend physiologischen Ursachen erfolgenden
Lachen und dem Lachen über das Komische mitten inne steht, den Übergang
vermittelnd, das Lachen als unmittelbarer Ausdruck des körperlichen
Behagens und weiterhin der psychischen wohlgefälligen Erregung.
Wenn Aristoteles das Lachen als auf einer Art von Täuschung und
Überraschung
beruhend bezeichnet, so weist dieser Fingerzeig auch hier
auf den rechten Weg. Das Wohlgefühl freilich, von dem es erregt
wird und das es begleitet, beruht nicht auf Täuschung; wohl aber ist
die Bedingung dafür, daß der Affekt des Lachens dadurch erzeugt wird,
daß die wohlgefälligen Erregungen plötzlich und unvermutet stattfinden,
während gleichzeitig das Gemüt von jeder andern, etwa entgegenstehenden
Regung frei ist, oder dieselbe ihm doch völlig fern gehalten
wird. Solch ein Zustand vollkommener Unbewußtheit und Sorglosigkeit
ist vor allem den Kindern eigen, die Jugend ist demselben leicht zugänglich
und ebenso geben sich Leute von geringer Geistes- und Charakterbildung
demselben gern hin; in allen Fällen waltet eine Art von Unkenntnis
oder Vergessen, kurz von Täuschung ob über alles das, was
jenen wohlgefälligen Regungen gegenübersteht. Das Bewußtsein desselben
ist es, was den Ernst hervorbringt, der es verhindert, daß die wohlgefällige
Erregung in den Affekt des Lachens ausbricht.

Aber während diese Art des Lachens leicht ins Kindische und
Alberne ausartet und nur in selteneren Fällen als harmloses Spiel
auch dem Ernste zur Erholuug dient, ist jene dritte Art des Lachens,
wo es durch das eigentlich sogenannte Lächerliche erzeugt wird, ein
Affekt von allgemeiner Macht und Geltung. Der Grund davon ist leicht
einzusehen. Hier ist die Überraschung des Bewußtseins an ihrer [676]
rechten Stelle. Auch hier findet das statt, was Aristoteles „gewissermaßen
als Hintergehung und Täuschung
“ ─ παρακοπή τις
καὶ ἀπάτη ─ zu bezeichnen sich veranlaßt sieht; aber diese „Täuschung“
hat ihre gute Berechtigung, wir lassen sie uns gern und geflissentlich als
solche gefallen. Sie besteht darin, daß wir der überraschend
uns entgegentretenden Erscheinung des Fehlerhaften und
Deformen gegenüber alle Empfindungen des Mißfallens,
Unwillens, Bedauerns,
unter Umständen hohe Grade derselben,
von denen sie an sich begleitet sein müßte, fallen lassen und
sie als eine erfreuliche aufnehmen und festhalten;
und zwar
so, daß wir jene widrigen Empfindungen nicht etwa mit Bewußtsein
aufgeben,
sondern daß der wohlgefällige Affekt des Lachens unmittelbar
und von selbst,
unter Umständen unwiderstehlich und
gegen unsern Willen
in unsrer Seele Platz greift. Das Lachen
beruht also auf einer offenbaren Täuschung unsres Bewußtseins:
jenes gelegentlich von Aristoteles hingeworfene Wort, das ganz
die Form trägt, in der er auch sonst gelegentlich auf fest ausgeprägte
Resultate seiner Untersuchungen hindeutet, ist ein Funke, der, zum Aufglühen
angefacht, die ganze Materie erleuchtet. Denn es zeigt sich sofort,
daß diese Definition jenes aristotelische Siegel der Echtheit an sich trägt,
daß sie den Begriff in seinem ganzen Umfange deckt, daß sie die Fälle des
möglichen Mißbrauchs ebenso bezeichnet, wie sie das Wesen desselben
in seiner richtigen Anwendung enthüllt. Die Bedingung nämlich, unter
der allein die Täuschung des Lachens ihre volle Berechtigung hat, die
fehlerhafte Erscheinung also mit gutem Grunde wohlgefällig aufgenommen
wird, ist die, daß das blitzartig aufleuchtende ästhetische Urteil,
welches das Fehlerhafte und Deforme als solches erkennt,
ein richtiges sei.
Dies wäre das Lachen, welches Lessing unter
dem „richtigen Lachen“ verstand, und das von Aristoteles in Analogie
seines ὀρθῶς χαίρειν sicherlich auch ebenso bezeichnet worden ist.
Die Freude daran beruht darauf, daß diese nach der negativen Seite
hin sich geltend machende Empfindungsthätigkeit eine an sich gesunde,
richtige ist. Die Täuschung darüber, daß die den Anlaß der wohlgefälligen
Empfindung gebende Erscheinung im Grunde dennoch ein
Schädliches, Verderbliches ist, das vor dem Forum des Verstandes,
der Vernunft wie vor dem der ernsten Empfindung
Mißbilligung verdient, ist in diesem Falle zwar auch eine momentan
unwillkürlich
erfahrene: aber das Korrektiv dagegen liegt in
der den Affekt des Lachens begründenden ästhetischen Entscheidung
selbst,
durch das die sichere Gewähr gegeben ist, daß in [677]
jedem ferneren Augenblick das erregende Objekt den zuständigen Jnstanzen
zur verdienten Behandlung übergeben werden kann.

Ganz anders aber steht die Sache in den im Leben ungleich zahlreicheren
Fällen, wo das plötzlich und überraschend durch die vermeintlich
fehlerhafte Erscheinung hervorgerufene Empfindungsurteil, das dieselbe
als solche aufnimmt, kein gesundes und richtiges, sondern ein
mangelhaftes, ja vielleicht grundfalsches ist. Hier ist die durch
das Lachen involvierte Täuschung eine dauernde und deshalb
schädliche,
obwohl der Affekt nichtsdestoweniger seine Natur des Erfreulichen
behält; dasselbe bleibt subjektiv aus denselben Gründen
bestehen, wie bei dem „richtigen“ Lachen, aber objektiv verliert es
seine Berechtigung völlig. Ein solches Lachen, dem also vielleicht grade
die Erscheinung des Richtigen, Gesunden als Veranlassung zu Grunde
liegt, wird freilich, wie schon oben bemerkt,1 wegen seines inneren Widerspruches
gegen die Wahrheit der Dinge, nicht von reiner und klärender
Freude begleitet sein, sondern getrübt durch alle die Unlauterkeiten, die
eben das Empfindungsurteil selbst verfälschen.

Nun ist es aber klar, daß sowohl das richtige, berechtigte Lachen
als das unrichtige, unberechtigte auf zwei verschiedene Arten begründet
sein kann. Der Grund kann entweder subjektiv in der Beschaffenheit
des die Erscheinung aufnehmenden Empfindungsvermögens liegen,
oder objektiv in der Beschaffenheit der demselben unvermutet entgegentretenden
Erscheinung.
Das erste bedarf nicht des Beweises;
das zweite erklärt sich daraus, daß, wie schon oben (s. S. 243 ff.) nachgewiesen
wurde, die Erscheinung des „reinenLächerlichen im Leben
eine ebenso seltene Erscheinung ist und in der Kunst ebenso schwer herzustellen
wie die Erscheinung des reinen Schönen. Wo sie aber auftritt,
wird sie die Kraft besitzen durch ihr bloßes Auftreten unmittelbar,
mit blitzartig erleuchtender Wirkung und mit
unbedingter Gewißheit die subjektiv richtige Empfindungsentscheidung,

d. h. also das richtige Lachen hervorzurufen.
Umgekehrt wird es im Leben irreführende Erscheinungen geben, und
in den Nachahmungen der Kunst werden dieselben nicht minder häufig
sein, die, indem sie mit Unrecht den Affekt des Lachens erzeugen, nicht
allein das subjektiv falsche Empfinden in seiner dauernden
Täuschung bestärken,
sondern auch das an sich gesunde Empfinden
zu momentaner, unberechtigter Täuschung zu verleiten
vermögen.

[678]

Ehe nun die Darstellung dazu vorschreitet, aus dieser Entwickelung
die Konsequenzen für den vorliegenden Gegenstand zu ziehen, mag hier
noch der gewagte Versuch gemacht werden, das Resultat derselben zu
einer Rekonstruktion der aristotelischen Definition des Lachens zusammenzufassen.
Dieselbe müßte also etwa so gelautet haben: Ἔστι μὲν ὁ
γέλως κίνησις ἡδεῖα τῆς ψυχῆς1 καὶ παρακοπή τις καὶ ἀπάτη τῆς
αἰσθήσεως δἰ ἁμαρτήματός τινος καὶ αἴσχους ἀνωδύνου καὶ
οὐ φθαρτικοῦ. „Das Lachen ist eine wohlgefällige Erschütterung
der Seele, die in einer Überraschung und Täuschung
des Empfindungsvermögens durch die weder schmerzlich
noch verderblich wirkende Erscheinung des Fehlerhaften und
Häßlichen besteht.
“ Die „Täuschung“ würde also grade darin bestehen,
daß das Fehlerhafte und Häßliche weder als schmerzlich
noch als verderblich wirkend,
sondern daß es wohlgefällig
empfunden wird.
Jene Bestimmungen des ἀνώδυνον und οὐ
φθαρτικόν in der Definition des Lächerlichen im fünften Kapitel der
Poetik wären also mehr als ein limitierender Zusatz, sie enthielten einen
Hauptteil der Wesensangabe des Begriffes.

Aus alledem ergibt sich aber für die Kunst, die sich die Aufgabe
stellt, eine lächerliche Handlung nachzuahmen und durch „Lachen“ also
zu wirken, die Aufgabe, daß sie alles aufwende, damit die wohlgefällige
Täuschung,
die sie erregt, eine berechtigte, das Lachen,
das sie hervorbringt, ein echt und wahrhaft erfreuendes sei.
Kaum irgendwo ist die Gefahr der Abirrung für Dichter und Zuschauer
so groß als eben hier. Nicht die Gefahr allein liegt vor, die Erscheinungen
und Handlungen hinsichtlich des Fehlerhaften, Deformen,
Häßlichen an ihnen falsch zu beurteilen ─ und welche, fast unbesiegbare
Macht übt hier das Vorurteil in jeder Gestalt, nach Stand,
Sitte, Religion, Partei, Erziehung, Schicksal, kurz nach der Gesamtheit
der Lebensanschauungen und =Gewohnheiten! ─, es liegt auch die nicht
minder große Gefahr vor, eben nur auf das Lächerliche den Blick
zu richten und so ein unvollständiges Bild der Erscheinung oder
Handlung zu entwerfen, also ein innerlich unwahres. Jm ersteren
Falle ist das Vorurteil zu besiegen, im zweiten die Schmähsucht und
die Spottlust.

[679]

Aus der Erörterung dieser wesentlichsten Materie hat der Excerptor
drei einzelne, unverbundene Sätze herausgegriffen, die jedoch,
wenn man die sonst vorhandenen Äußerungen des Aristoteles über den
Gegenstand hinzunimmt, genügen, um den ursprünglichen Zusammenhang
mit Sicherheit wieder herstellen zu lassen.

Der erste dieser Sätze lautet: § 4 Λιαφέρει ἡ κωμῳδία τῆς
λοιδορίας. ἐπεὶ ἡ μὲν λοιδορία ἀπαρακαλύπτως τὰ προςόντα κακὰ
διέξεισιν. ἡ δὲ δεῖται τῆς καλουμένης ἐμφάσεως. „Die Komödie
ist von der Schmähung verschieden: diese spricht die vorhandenen
Gebrechen unverhüllt aus; jene bedarf der sogenannten Emphasis“,
d. i. einer Darstellung, welche dieselben aus dem wiedergespiegelten
Bilde erraten
läßt.

Es kann hier von der Bekämpfung der wiederum völlig verfehlten
Erklärung dieses und der folgenden Sätze durch J. Bernays
abgesehen werden zu Gunsten einer kürzeren direkten Darstellung des
Sachverhaltes.

Jn der Poetik bezeichnet es Aristoteles als den Beginn, gewissermaßen
die Geburt der Komödie, daß man statt in jambischen Spottliedern
die Fehler und Laster bestimmter einzelner Personen direkt
anzugreifen, sich dazu erhob, das Lächerliche solcher Gebrechen überhaupt,
als eine allgemeine Erscheinung, darzustellen. Sie band sich
also nicht wie jene an die Vorkommnisse, die thatsächlich diesem
oder jenem
passiert waren, sondern sie baute die Handlung nach Maßgabe
dessen auf, was geeignet war, das Lächerliche an sich selbst
am besten hervortreten zu lassen
(vgl. Kap. 9 συστήσαντες γὰρ
τὸν μῦθον διὰ τῶν εἰκότων) und legte den handelnden Personen
die nach dieser Rücksicht sich ihr darbietenden Namen bei (οὕτω
τὰ τυχόντα ὀνόματα ὑποτιθέασιν). Trotzdem Lessing in dieser
Sache längst das Richtige gesehen und ausgesprochen hat, wird auch
heute noch selbst diese Äußerung des Aristoteles für die ganz willkürliche
und irrige Annahme als Zeugnis betrachtet, daß er der „neueren“
Komödie vor der „alten“ den Vorzug gegeben habe: diese habe, wie
jedes beliebige Stück des Aristophanes beweise, bestimmte einzelne Personen
unter ihrem wahren Namen verspottet, dagegen habe die neuere
Komödie des Menander allgemeine Charaktere eingeführt. Dagegen
Lessing in der Hamb. Dramat. St. 90, 91: „Man könnte einwenden,
daß dergleichen bedeutende Namen (d. h. die zur Bezeichnung des
Charakters erfunden sind) wohl nur eine Erfindung der neueren
griechischen Komödie sein dürften, deren Dichtern es ernstlich verboten
war, sich wahrer Namen zu bedienen; ..... aber es ist ebenso falsch, [680]
als falsch es ist, daß die ältere griechische Komödie sich nur wahrer Namen
bedient habe. Selbst in denjenigen Stücken, deren vornehmste einzige
Absicht es war, eine gewisse bekannte Person lächerlich und verhaßt zu
machen, waren außer dem wahren Namen dieser Person die übrigen fast
alle erdichtet, und mit Beziehung auf ihren Stand und Charakter
erdichtet. Ja, die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen
nicht selten mehr auf das Allgemeine als auf das Einzelne. Unter
dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzelnen Sokrates,
sondern alle Sophisten, die sich mit der Erziehung junger Leute bemengten,
lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophist überhaupt
war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil
Sokrates als ein solcher verschrieen war. Daher eine Menge Züge, die
auf den Sokrates gar nicht paßten, so daß Sokrates in dem Theater
getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber
wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese nicht
treffende Züge für nichts als mutwillige Verleumdungen erklärt und
sie durchaus nicht dafür erkennen will, was sie doch sind, für Erweiterungen
des einzelnen Charakters, für Erhebungen des Persönlichen
zum Allgemeinen!

Die einzige Ausstellung, die Aristoteles gelegentlich einmal an der
alten Komödie zu machen hat, ist aus moralischen Bedenken hergeleitet
und betrifft das Wesen und den Aufbau derselben nicht im geringsten;
es ist die bekannte Stelle der Nikom. Ethik (IV, 14 S. 1128a 20), wo
davon die Rede ist, daß es für den Anstand ersprießlich sei für
obscöne Witze lieber des verblümten Ausdrucks sich zu bedienen; das
thue die neuere Komödie, die ältere nicht.

Etwas ganz Verschiedenes davon enthält der Satz unseres Excerptors!
Er betrifft das Wesen des Komischen. Wenn die im obigen
gegebenen Definitionen des Lächerlichen und des Lachens richtig sind,
so wird die Wirkung des Komischen aufgehoben oder doch schwer beeinträchtigt,
sobald die Darstellung ihre Absicht Gebrechen zu kennzeichnen
von vorneherein ankündigt, indem sie dieselben „unverhüllt vorbringt“;
sie wird um so besser erreicht, je mehr diese Absicht verschleiert
ist, und demgemäß, sobald sie erraten wird, überraschend
wirkt. Nur so kann die Täuschung, auf der das Lachen beruht, entstehen,
während durch die unverhüllte Schmähung ganz andere Empfindungen
hervorgerufen werden, als das reine Wohlgefallen an der
echten Komik. Daß aber jene Definitionen wenigstens im Sinne des
Aristoteles die richtigen sind, dafür gibt eine in der bisherigen Darstellung
noch nicht benutzte, ausführliche Äußerung des Aristoteles ein [681]
vollgültiges Zeugnis ab. Dieselbe ist zugleich in hohem Grade geeignet,
die allem Vorstehenden zu Grunde gelegte Auffassung von der „poetischen
Nachahmung“ zu bekräftigen.

Jm dritten Buch seiner Rhetorik Kap. 10 und 11 erörtert Aristoteles
die Methoden des schönen und des witzigen Ausdruckes. Als
Mittel den Ausdruck wohlgefällig zu machen gilt ihm überhaupt jedes
Verfahren, welches in größerer Kürze ein leichteres Verständnis
herbeiführt. Note: Es wird sich zeigen, daß er damit dasselbe meint, was wir
im Deutschen unter der erhöhten Lebhaftigkeit des Verständnisses
verstehen; eine solche ist naturgemäß erfreulich (ἡδύ). Jede Vergleichung,
ein jedes Bild, noch mehr eine jede Metapher, die
gradezu für das Verglichene dasjenige einsetzt, womit es verglichen
wird, dient diesem Zweck, ob sie nun die Art für die Gattung,
die Gattung für die Art, eine Art für eine andere, oder ob sie das
noch der Analogie sich ähnlich verhaltende für den eigentlichen Begriff
setzt. Note: Je kürzer der Weg ist, der dabei eingeschlagen wird, je mehr
daher die Seele gezwungen ist nach dem Verständnis zu suchen und je
schneller
sie dabei durch die Methode des Ausdruckes zum Ziele geführt
wird, desto schöner ist derselbe. Die Antithese, die auf Analogie
beruhende Metapher erfüllen jene Aufgabe in hervorragender Weise; Note:
außer ihnen die Anschaulichkeit des Ausdrucks, die die Dinge „vor
Augen stellt
“ (τὸ πρὸ ὀμμάτων ποιεῖν), die Aristoteles auch schlechtweg
Energie“ nennt, da sie nämlich die Dinge sich bethätigend vorführt
(s. 1411b 25: λέγω δὴ πρὸ ὀμμάτων ταῦτα ποιεῖν, ὅσα
ἐνεργοῦντα σημαίνει). Sie zeigt das Belebte in Handlung begriffen,
die das innere Wesen desselben kundgibt, sie verleiht dem Unbelebten
gleichnisweise Leben und Seele (τῷ τὰ ἄψυχα ἔμψυχα λέγειν διὰ
τῆς μεταφορᾶς). Jn solchen Schönheiten liegt der Zauber der Darstellung
Homers:allem verleiht er Bewegung und Leben;
solche energische Anschaulichkeit aber ist Mimesis, ist künstlerische
Nachahmung
“ (κινούμενα γὰρ καὶ ζῶντα ποιεῖ πάντα, ἡ
δ'ἐνέργεια μίμησις).

Diese Sätze gewähren einen tiefen Einblick in die Kunstauffassung
des Aristoteles; sie möchten den Stoff zu einer eigenen Abhandlung
hergeben. Hier sei nur das eine hervorgehoben, daß also nach des
Aristoteles Meinung ein wesentlicher Teil der poetischen Schönheit auf
dieser lebhaft energischen Anschaulichkeit beruht, die dem Zuhörer die
Freude des schnellsten, leichtesten Erkennens gewährt, weil sich vermöge
derselben das innerste Wesen der Dinge unmittelbar dem „Auge“ darstellt.
Wenn er dieses Verfahren nun gradezu „Mimesis“ nennt, [682]
wenn andrerseits aber nach ihm alle Kunst auf Mimesis beruht, so
ergeben sich die weiteren Schlüsse daraus von selbst.

Auch die komische Darstellung, die ja ein Kunstmittel ist,
muß also auf diesem Grunde erwachsen. Das geschieht nach Aristoteles,
indem zu jener metaphorischen, energisch anschaulichen und antithetischen
Darstellung nun noch das Moment der Täuschung sich hinzugesellt.
Die Seele wird gegenüber der sich offenbar gegensätzlich zur
Wahrheit verhaltenden Erscheinung in höherem Grade sich des Erkennens
bewußt und sagt gleichsam zu sich selber: „so liegt's in Wahrheit, ich
war im Jrrtum“ (s. 1412a 17: ἔστι δὲ καὶ τὰ ἀστεῖα τὰ πλεῖστα
διὰ μεταφορᾶς καὶ ἐκ τοῦ προςεξαπατᾶν
== „und aus der
dazu kommenden Täuschung“. μᾶλλον γὰρ γίγνεται δῆλον ὅτι ἔμαθε
παρὰ τὸ ἐναντίως ἔχειν καὶ ἔοικε λέγειν ἡ ψυχὴὡς ἀληθῶς,
ἐγὼ δ' ἥμαρτον“.)

So wird das Fehlerhafte, dessen „unverhüllte“ Erscheinung ihr
Mißfallen erregt hätte, für sie ein Gegenstand des Wohlgefallens. Aus
demselben Grunde hat das leichten Aufschluß darbietende Rätselhafte
(εὖ ᾐνιγμένα) dieselbe Wirkung. Ebenso die Paradoxie (τὸ
παράδοξον) und die komische Verdrehung (ἐν τοῖς γελοίοις τὰ
παραπεποιημένα), desgleichen der spottende Wortwitz (τὰ παρὰ
γράμμα σκώμματα).1 Man wird getäuscht, und empfindet die Täuschung,
die sonst widrig wäre, angenehm, weil sie ein neues Licht gibt.
Dasselbe findet statt, wenn ein Vers statt des erwarteten Wortes ein
ganz widersprechendes bringt: „So schritt er einher, an den Füßen ─
die Beulen“, nicht: „die glänzenden Sohlen“. Natürlich liegt das
eigentlich Lächerliche solcher witzigen Wendungen aller Art immer nur
darin, daß durch die überraschende Täuschung ein in den vorhandenen
Sach- und Personenumständen verborgenes Gebrechen in helles Licht [683]
gesetzt wird: daß sie also „zutreffend“, „passend“ (προσηκόντως) angewendet
werden.

Nach alledem wird also die direkte Verspottung in ähnlicher
Weise der Absicht des komischen Kunstwerks widersprechen wie die unverhüllte
Schmähung. Diesen Gedanken deutet der zweite Satz des
Excerptors an:

§ 5. Ὁ σκώπτων ἐλέγχειν θέλει ἁμαρτήματα τῆς ψυχῆς
καὶ τοῦ σώματος. „Der Spottende will Gebrechen der Seele und
des Körpers verächtlich machen.

Hier hat der Excerptor es unterlassen das gegensätzliche Verfahren
der Komödie hinzuzufügen; dasselbe ergibt sich jedoch aus dem Zusammenhange
von selbst. Der Nachdruck des Satzes ruht auf dem ἐλέγχειν,
dem „verächtlich machen“. Der Spott wird sich also, da seine Absicht
ist, Hamartemata, Gebrechen, kenntlich zu machen, ähnlicher, zum Teil
ganz derselben Mittel bedienen, wie die komische Darstellung: es wird
ihm ebenso auf die Kürze der Form und die Schnelligkeit des
Verständnisses ankommen (vgl. Rhetor. 1412b 21: ὅσῳ \̓αν ἐλάττονι
καὶ ἀντικειμένως λεχθῇ, τοσοὺτῳ εὐδοκιμεῖ μᾶλλον). Er wird also,
ebenso wie auch viele Formen der Schmähung, die Wirkung des Lächerlichen
erzielen, er wird es aber in anderer Absicht und daher auch
in anderer Weise thun, wie die Komödie es kann und soll. Das
Angenehme, wohlgefällig Empfundene, das, wie aus dem obigen Nachweis
hervorgeht, mit jeder Form des Lächerlichen verbunden ist, wird auch
ihm nicht fehlen: aber die solchergestalt erzielte Wirkung ist für den
Spottenden, wie ebenso für die Schmähung, nicht das Endziel; sie
dient ihm nur dazu eine für ihn wichtigere Wirkung zu erreichen,
nämlich von dem thatsächlichen Vorhandensein des Gebrechens,
das er hervorzieht, zu überführen und dasselbe verächtlich zu
machen.
Die Absicht ist also in beiden Fällen am letzten Ende eine
ernste, die als letztes Resultat erregte Empfindung nicht die der Freude,
sondern die der Mißbilligung.

Es springt in die Augen, daß der Fall der Komödie grade
umgekehrt
liegt. Sie wird sich sehr wohl des Spottes, ja mitunter
sogar der direkten Schmähung bedienen können: nur daß es
niemals ihre Absicht sein darf, diese oder jenen zum Endzielτέλος
─ ihrer Komposition zu machen. Dieses ist für sie dasselbe, welches
jede andere Kunst, welches die Kunst überhaupt, mit den einer
jeden zugewiesenen Mitteln der Nachahmung zu erstreben hat: reine
Freude zu erregen,
oder genauer: ihre Komposition so einzurichten,
daß sie die Kraft habe, so zu wirken.

[684]

Das Verfahren, welches sie einzuschlagen hat, um den Fehler zu
vermeiden, in bloßen Spott auszuarten, wird also dasselbe sein, dessen
sie bedarf, um sich über die unverhüllte Schmähung zu erheben. Das
ist auch der Grund, warum es der Excerptor nicht in § 5 noch einmal
anführt. Er hat es mit dem einzigen Wort bezeichnet: „sie bedarf der
sogenannten Emphasis“. Es gilt also diesen Ausdruck recht zu
verstehen.

Es wäre ein Jrrtum, wenn man den Ausdruck „Emphasis
hier in dem engen Sinne verstehen wollte, wie ihn die späteren Rhetoren
eingeführt haben, bei denen sie eine Redefigur bedeutet, „die
ihren Gegenstand nicht selbst ausspricht, sondern ihn durch etwas anderes
erkennen läßt“, oder „die das, was sie ausspricht, durch Nebensinn erweitert“
(vgl. Walz. Rhet. VIII, 543 u. 747).

Bei Aristoteles kommt der Ausdruck in den erhaltenen Schriften
als Bezeichnung einer Redefigur überhaupt nicht vor. Das ist aber
kein Grund, ihn für unaristotelisch zu halten und mit Bernays, der
den betreffenden Satz als aristotelisch anerkennt, „zu vermuten, daß statt
seiner ὑπόνοια zu lesen sei: „verhüllter, verblümter Ausdruck“. Das
wäre eine sehr ärmliche Unterscheidung der Komödie von der Schmähung,
wenn sie nur in der Ausdrucksform glimpflicher verfahren sollte,
nicht im Wesen und in ihrer Absicht anders geartet.

Der Begriff der Emphasis, wie er hier, vielleicht zuerst, von
Aristoteles eingeführt ist, bestimmt nicht die Form des einzelnen Ausdrucks,
sondern das gesamte Verfahren der Komödie, die nicht
mehr wie in ihren ersten Anfängen in nächtlichen Aufzügen, nach Art
der noch heute in manchen Gegenden Deutschlands üblichen „Haberfeldtreiben“,
dem Nachbarn scheltend und spottend seine Sünden
vorhält,1 sondern die sich die Nachahmung einer lächerlichen Handlung
als solcher zur künstlerischen Aufgabe gestellt hat.

Was kann nun Aristoteles dem Worte „Emphasis“ für eine
übertragene Bedeutung geliehen haben? Jn seinen physikalischen und
meteorologischen Schriften gebraucht er es öfters und immer in dem
Sinne von „Spiegelung“, oder „Spiegelbild“; in der Rhetorik
gebraucht er das zu Grunde liegende Verbum ἐμφαίνειν auch in übertragener
Bedeutung und zwar in ähnlicher Weise wie die späteren Rhetoren.
Warum sollte er den Ausdruck nun nicht bildlich auf die [685]
Methode der komischen Nachahmung angewendet haben, zumal da das
Bild ein vortrefflich passendes, übrigens auch uns Neueren keineswegs
fremdes ist? Also: die Komödie darf sich nicht begnügen, die Gebrechen
der Einzelnen,
wie sie im Leben vorkommen (τὰ προσόντα), zu
schmähen oder sie spottend der Verachtung preiszugeben, sie „bedarf
eines andern, mehreren: sie soll sie gleichsam im Spiegel auffangen
und so, losgelöst von der Einzelerscheinung, zum Gesamtbilde
vereinigt,
d. i. ihre Erscheinung an sich, in ihrer
Allgemeingültigkeit
(τὸ καθόλου) nachahmend vorführen. Die
Handlung der Komödie stellt die Gebrechen der Menschen gleichsam
im Spiegelbilde
dar und läßt sie aus dem wiedergespiegelten
Bilde als solche erkennen,
ohne sie direkt zu schmähen und ohne
die Absicht sie verächtlich zu machen. Ja, sie erreicht ihre Absicht um
so besser, je weiter sie sich von der offenen Schmähung und dem direkten
Spott, der nur eine besondere Art der Schmähung ist (vgl. Nikom. Eth.
1128a 30) entfernt hält.

Welches ist denn nun aber ihre Absicht?

Hier tritt der dritte Satz unseres Fragmentes ein, der sich mit
unverkennbarer Deutlichkeit als ein Referat aus dem Texte, den
der Excerptor vor sich hatte, kennzeichnet. Hier sagt er nicht mehr „die
Komödie will dies oder das“, sondern er berichtet, offenbar als Summe
und Resultat einer längeren, ihm vorliegenden Ausführung, deren
Wiedergabe für sein kurz gefaßtes Schema nicht angänglich war, was
Er“, nämlich was sein Autor, was also Aristoteles „will“. Es ist
dem Excerptor aber gelungen, dieses Resultat in aller Kürze schlagend
zusammenzufassen:

§ 6. Σύμμετρα τοῦ φόβου θέλει εἶναι ἐν ταῖς τραγῳδίαις,
καὶ τοῦ γελοίου ἐν ταῖς κωμῳδίαις.

Er will, daß in den Tragödien ein Element vorhanden sei,
das der Furcht, und in den Komödien ein solches, das dem Lächerlichen
ebenmäßig die Wage halte.

Es ist klar, daß dieser Satz aus dem Mittelpunkt der aristotelischen
Erörterungen über das Wesen der Katharsis geschöpft ist. Also: wie
Aristoteles es verlangt, daß in der Tragödie „etwas“ vorhanden sei,
das mit dem Affekt der Furcht in das Verhältnis des Ebenmaßes
trete, das also doch nur ein der Furcht verwandter Affekt sein kann,
fähig ein solches Reciprocitätsverhältnis mit ihr einzugehen, so verlangt
er für die Komödie dem Lächerlichen gegenüber einen solchen verwandten
Affekt, der fähig sei mit ihm in das Verhältnis des Ebenmaßes
zu treten, d. h. sowohl auf jenes in diesem Sinne [686]
einzuwirken als selbst solche Einwirkungen von ihm zu
empfangen.

Die Definition der Komödie in § 2, zu der die Darstellung nun
zurückgelangt, nennt als diesen Affekt die Hedone, die Freude, das
Wohlgefallen.

Wie ist diese Zusammenstellung der Freude mit dem Lachen
zu verstehen? Findet zwischen beiden das im § 6 verlangte Verhältnis
statt? Und wie hat man sich den Vorgang der wechselseitigen Katharsis
vorzustellen?

Das eine ist sicher, daß es viele Arten des Lachens gibt, die
keineswegs gleiche Berechtigung haben, die des edlen, guten, gebildeten
Menschen würdig oder unwürdig sind. Aristoteles spricht davon
öfters (vgl. Nik. Ethik. 1128a 26 ff. und Rhet. 1419b 5 ff.) und verweist
an der letztgenannten Stelle darauf, daß er in der Poetik den
Gegenstand ausführlich behandelt habe. Sicher ist auch, daß Aristoteles
das des „freien, des edlen Menschen würdige“ Lachen der Komödie
als Mittel ihrer Wirkung wird zum Ziel gesetzt haben. Welches ist
aber das Kriterium, nachdem dieses von dem unwürdigen, falschen gesondert
werden kann? Der Vorgang des Lachens selbst ist an sich in
allen Fällen immer derselbe: immer beruht er auf der erwünschten
Überraschung und Täuschung, die das Fehlerhafte zu dem Gegenstande
einer angenehmen Empfindung macht. Die Frage ist also: geschieht
das mit Recht oder mit Unrecht?

Die Beantwortung dieser Frage ist von zwei Rücksichten abhängig:
einmal von dem Wesen des als lächerlich erscheinenden Gegenstandes
an sich, sodann von der Behandlung desselben durch die Art und
Weise seiner Darstellung.

Da das Lachen darauf beruht, daß das überraschend als solches
hervortretende Fehlerhafte uns durch das freudige Gefühl des unmittelbar
damit verbundenen sichern und klaren ästhetischen Erkennens über das
ihm eigene Schädliche oder Schmerzliche hinwegzutäuschen vermag, so
muß also, damit es berechtigt sei, erstlich die dasselbe erregende Erscheinung
wirklich fehlerhaft sein, nicht etwa nur so scheinen, sodann
aber dürfen die entgegenstehenden ernsten Empfindungen, seien es die
des Unwillens, der Furcht oder des Mitleids, oder auch nur die der
Mißbilligung, des Bedauerns oder der Beunruhigung, nicht den Anspruch
auf selbständige, höhere Geltung haben.
Jn diesem
Falle wäre die Täuschung unerlaubt und unwürdig, das Zeichen eines
unachtsamen oder rohen Gemütes.

Da aber nach der Natur der lächerlichen Erscheinung die entgegen= [687]
stehenden ernsten Empfindungen nie ganz fehlen können ─ denn
das Urteil des Verstandes und der Vernunft über dieselbe kann wohl
umgangen und in Vergessenheit gebracht aber niemals völlig aufgehoben
werden ─, so wird es der Kunst der Behandlung bedürfen, um
jene zum Schweigen zu bringen und das ungestörte Wohlgefallen
desto kräftiger sich bethätigen zu lassen.

Jn der Lösung dieser Aufgabe beruht das Geheimnis der komischen
Kunst; aber die Gesetzgebung für dieselbe ist nicht etwa auf die Summierung
einer Menge von Einzelvorschriften gewiesen, die nur durch die
Erfahrung zu sammeln wären, sondern sie folgt wie die der Tragödie
aus einem organischen Princip.

Das allgemeine Mittel, durch dessen Anwendung jener Zweck erreicht
wird, ist nach der Denkweise und Sprache des gewöhnlichen Lebens
leicht zu bezeichnen: es ist die Erregung der heiteren Stimmung.
Denn die Heiterkeit der Seele ist nicht sowohl die Wirkung und
Folge des Lachens als die wesentlichste Voraussetzung für die
Entstehung desselben,
weil grade dieser Zustand der Seele es
ist, der sie dazu disponiert die Erscheinungen und Vorgänge nicht ernst
zu behandeln, d. h. nicht vor das strenge Forum des Verstandes und
der Vernunft zu ziehen, sondern mit ihnen zu spielen, also sich mit
ungestörter, voller Freude der überraschenden Täuschung hinzugeben, die
durch das augenfällige Hervortreten (πρὸ ὀμμάτων πεποιημένον) des
Fehlerhaften als solchen erzeugt wird. „Dem Heitern erscheinet die Welt
auch heiter“, wie Goethe seine „zweite Epistel“ einleitet, die überhaupt
für die hier entwickelte Theorie ein treffliches Beispiel abgibt.

Wodurch aber wird die Heiterkeit der Seele als dauernder
Zustand hervorgebracht als durch die Freude, für deren Erscheinung
und Wirkung im Gemüt sie nur ein anderer Ausdruck ist.1 Wenn
also Aristoteles dem Lachen den Ernst als Gegensatz gegenüberstellt
und mit Gorgias es als ein Mittel der Redekunst empfiehlt, den Ernst
des Gegners mit Lachen, das Lachen desselben durch Ernst aufzuheben
(Rhet. III, 18, S. 1419b 2: τὴν μὲν σπουδὴν τῶν ἐναντίων διαφθείρειν
γέλωτι, τὸν δὲ γέλωτα σπουδῇ
), so ist die Verbindung
von Lachen und Freudeἡδονή und γέλως ─, wie wir sie bei
dem Excerptor finden, als korrelativer Empfindungen mit vollstem
Recht als seiner Lehre entstammend in Anspruch
zu nehmen.
Denn es zeigt sich nun klar, daß wie die beiden Affekte wechselseitig. [688]
sich begünstigen, der eine das Entstehen des andern befördert, so auch
weiterhin die engsten Wechselwirkungen zwischen ihnen stattfinden. Das
Lachen, da es die unmittelbare Erkennung des Verkehrten als solchen
einschließt, ist eines der wirksamsten Mittel, um die Empfindungen jeder
Art zu berichtigen, sowohl ihrem Übermaß zu wehren als ihrem Mangel
abzuhelfen, sie somit der rechten Mitte anzunähern: umgekehrt ist die
rechte Freude, da sie aus der richtigen Bethätigung des Empfindens an
dem Vortrefflichen als solchen hervorgeht, die stärkste Schutzwehr gegen
die großen Gefahren, die mit der Täuschung des Lachens, da es das
Verkehrte als solches wohlgefällig aufnimmt, notwendig verbunden sind.
Kurz gefaßt stellt sich dieses Verhältnis in folgenden Sätzen dar: das
Lachen vermag die wohlgefälligen Empfindungen zu läutern;
die Freude ist das Mittel, die Empfindungen des Lächerlichen
richtig zu stellen, also den entsprechenden Affekt des Lachens
zu läutern;
durch zweckmäßige Auswahl des Stoffs und zielbewußten
Aufbau der Handlung abwechselnd ins Spiel gesetzt und zu
gleichzeitiger Wirkung hervorgerufen vollenden diese beiden
Affekte die Aufgabe der Komödie, sie bewirken die komische
Katharsis.

Welche zwingende Wahrheit in diesen Sätzen liegt, zeigt die Erfahrung
und die Prüfung der komischen Meisterwerke auf Schritt und
Tritt. Schon die bloße Anmut der Form, der Schmuck des künstlerischen
Vortrags (ᾑδυσμένος λόγος) übt als Gegengewicht gegen die
specifisch lächerliche Wirkung, dieselbe zugleich hebend und wohlthätig
hemmend, d. i. sie zum Gleichmaß führend, eine mächtige und
überaus wohlgefällig empfundene Wirkung. Es erhellt hieraus, von
welcher fast unersetzlichen Wichtigkeit die Anwendung des Metrums
für die Komödie ist. Jm Vorübergehen sei daran erinnert, wie die
Anfänge der Erhebung des deutschen Lustspiels im achtzehnten Jahrhundert
mit dem in größester Erbitterung über diesen Punkt geführten
Streit zusammenfallen. Shakespeares überragendes Genie hat auch hier
mit sicherem Griff das Richtige erfaßt: er leiht seinen Komödien allen
entzückenden Wohllaut seiner Verskunst und bewahrt ihnen für die rein
komischen die volle Freiheit des engsten Anschlusses an die Ausdrucksformen
des gemeinen Lebens. Nimmermehr könnte er im Gebrauch des
Niedrig-Komischen und des Burlesken ─ d. h. also doch desjenigen
Lächerlichen, dem wir uns im Grunde mit Unrecht hingeben,
weil die durch dasselbe erregten mißbilligenden Empfindungen
überwiegen
─ so weit gehen, als er mit vollster künstlerischer Berechtigung
wagen darf, wüßte er nicht diesen oft wider unsern Willen [689]
uns überwältigenden Affekten des Lachens den hinreißenden Zauber
reinster, wahrhaft „klärender“ Schönheit gegenüberzustellen. Und das
Herrlichste vermag er zu vollbringen, wenn er diese von den entgegengesetzten
Seiten ausgehenden Lichtwirkungen auf ein und denselben Punkt
vereinigt: wenn das Verkehrte, worüber wir lachen, und das
Vortreffliche, an dem wir uns erfreuen,
die mannigfachen,
negativen und positiven Äußerungen ein und derselben Eigenschaft
des Geistes, des Gemütes, des Charakters darstellen. Lessings
„Minna von Barnhelm“ tritt diesen großen Mustern zur Seite; und
wohl hätte Lessing das Vermögen besessen, seinem Lustspiel auch jenen
höchsten Schmuck der idealen Kunstform zu verleihen, um damit die
Kraft der kathartischen Wirkung noch um ein Bedeutendes zu steigern.

Denn die Jdealität der Nachahmung ist für die Komödie ein
ebenso großes, wenn nicht noch größeres Erfordernis, wie für die
Tragödie; ist dieser schon das grobe Streben nach realistischer
Jllusion,
das Schiller so strenge verurteilt, gefährlich und verderblich,
so wird das Lustspiel dadurch geradezu vernichtet oder doch in den
Niederungen des lediglich „amüsanten“ oder gar „pikanten“ Zeitvertreibes
erhalten. Hier zeigt sich die Größe der Komödien des Aristophanes.
Der Wechsel der Prosarede und des Blankverses bei Shakespeare
steigert sich bei ihm zu dem Wechsel des jambischen Trimeters
als des Ausdrucks der gemeinen Rede und der melisch=chorischen
Rhythmen, als der bis zu den wunderbarsten Wirkungen erhobenen
Form für alle Arten des Reizes, der Anmut, der reinen Schönheit.
Abgewandt dem engen und platten Naturalismus, erobert er der Komödie
den Platz in den weiten Reichen der Phantastik.

Dieser Begriff verlangt aber eine strenge Begrenzung!

Es ist im Verlauf der obigen Darstellung verschiedentlich, der
herrschenden Ansicht entgegen, der Satz aufgestellt, daß die Phantasie
keineswegs eine selbständig schaffende Kraft sei, sondern daß sie nur das
Material liefere für die Kräfte der Empfindung und des Geistes, die
mit diesem Material nun „schaffen“, d. h. das thun, was Aristoteles
ποιεῖν nennt; richtiger nennt er auch diesen AktPoiesis“,
während wir fälschlich die Bezeichnung „Poesie“ auf das durch diesen
Akt „Geschaffene“ eingeschränkt haben.

Die Frage nach Wesen, Berechtigung, Begrenzung des
Phantastischen in der Komödie
wird lösbar, wenn demgemäß untersucht
wird, nach welchen Gesetzen die Empfindungs- und Geisteskräfte
das Material der Phantasievorstellungen zu den komischen „Schöpfungen“
auszuwählen und zusammenzustellen haben? Es wird sich dabei ergeben, [690]
ob sie in ihren komischen Gestaltungen daran gebunden sind, das Vorstellungsmaterial
nach den in der wirklichen Welt vorhandenen Formen
zusammenzufügen, oder ob es ihnen erlaubt ist, dasselbe zu ganz neuen
und unerhörten Gebilden zu formen, und wie weit solche Befugnis
gehen darf?

Diese Gesetze liegen in der aristotelischen Definition der Komödie,
für deren Erhaltung wir dem anonymen Excerptor hoch verpflichtet sind,
eingeschlossen, und es ist nicht schwer, sie daraus zu entwickeln.

Es ist oben gezeigt, daß die reine komische Wirkung nur zustande
kommen kann, wenn die Erscheinung des Verkehrten, Fehlerhaften dem
ernsten Forum des Verstandes und der Vernunft, ebenso der ernsten Mißbilligung
durch die Empfindung entzogen bleibt. Da aber diese Operation
um so schwieriger wird, je bedeutender das dargestellte Fehlerhafte
an und für sich ist, so läuft die komische Kunst Gefahr, um sich
rein zu erhalten, auf das Unbedeutende, Kleinliche eingeschränkt
zu werden, oder, sobald sie weiter greift, die Reinheit ihrer Wirkung
einzubüßen. Der größte Teil der in allen Litteraturen vorhandenen
Lustspiele zeigt den einen oder den andern Grundfehler, oder auch beide
zugleich.

Nun ist aber das Lächerliche, wie aus seiner Definition mit dem
einfachsten Schlußverfahren sich beweisen läßt, an die Wirklichkeit oder
objektive Möglichkeit seiner Existenz keineswegs gebunden, sondern es
wirkt durch seine bloße Erscheinung, sei es nun im Bilde oder durch
Worte nachgeahmt. Daher ist jene ganze, soeben erörterte Schwierigkeit
mit einem Schlage gehoben, sobald die komische Darstellung den Boden
der Wirklichkeit aufgibt, auf diese Weise dem Ernst der Beurteilung
sich entzieht und, indem sie die Erscheinungen und
Vorgänge frei erschafft, lediglich nach den Gesetzen des Lächerlichen
und des unmittelbar Erfreulichen, ihre ganze Wirkung
nur von der Kraft dieser Erscheinungen und Vorgänge als
solcher erwartet.
Nur so vermag sie das Größeste und Wichtigste,
was die Zeit bewegt, in ihren Bereich zu ziehen, indem sie es also nicht
wirklich darstellt, sondern im Spiegelbilde einer nur für diesen
Zweck erschaffenen, also nur als lächerlich, andrerseits erfreulich vorgestellten
Welt, es zu erkennen gibt ─ δι' ἐμφάσεως! ─

So ist Aristophanes verfahren, der auch darum von keinem Nachfolger
erreicht ist, weil seitdem noch niemals wieder die öffentlichen Verhältnisse
und die private Sitte es gestatteten, ihr Bedeutendstes und
Wichtigstes im Spiegel des komischen Kunstwerkes aufgefaßt, der Lust des
Lachens in öffentlicher Schaustellung preiszugeben. Aber eben auch nur [691]
das Bedeutende verlangt und verträgt die Anwendung dieses kräftigsten
Mittels; auf das Kleine übertragen, das seiner nicht bedarf, erregt es
das Mißfallen, das allemal durch das falsche Verhältnis des Mittels
zum Zweck unfehlbar wach gerufen wird. An diesem Grundfehler krankt
die phantastische Komödie Tiecks und Platens, die trotz vieler guter
Einfälle und ungeachtet der Virtuosität, mit der vielfach die Darstellungsmittel
gehandhabt sind, nur mäßig erfreut und die ganze Reihe der
Verstimmungen erregt, die durch die Skala des Willkürlichen, bis
zum Läppischen hin, hervorgebracht wird.

Denn die Grenzen, in welche das freie Walten im Reiche der
Phantasievorstellungen strengstens eingeschlossen ist, sind, da der unerbittliche
Ernst der Wirklichkeit der Dinge aufgegeben ist, gezogen durch den
ebenso unerbittlichen Ernst des Großen und Schönen an und für sich.
Beides vereint, das hohe Bewußtsein von der Würde der in dem dargestellten
Gegenstand in Betracht kommenden absoluten Jnteressen und
das Vermögen, die positive Gestalt desselben unmittelbar herzerfreuend,
d. i. schön, vor Augen zu führen, bildet die unverrückbare Basis, auf
der allein sich erst die Kunst, das Lächerliche als solches nachzuahmen,
entfalten kann. Denn daß der Ernst der Gesinnung, aus dem das
komische Kunstwerk wie jedes andre Gebilde der echten Kunst hervorgehen,
und der es in allen seinen Teilen durchströmen muß, als solcher
nicht hervortrete,
wodurch die komische Wirkung zerstört werden
würde, gleichwohl verborgen mit nicht minderer Kraft wirke, das eben
wird erreicht durch die vollendete Schönheit der Darstellung,

sei es nun, daß dieselbe in der einzelnen Erscheinung des positiv Erfreulichen
ihre Macht kund gibt, oder daß der höchstvollendete Schmuck
der Nachahmung den Zauber des Rhythmus, der Musik, ja auch des
scenischen Apparates zu einer in vollkommenem „Zusammenklange“1 verschmelzenden
Gesamtwirkung vereinigt. Um zu zeigen, wie die „Sym= [692]
metrie“ des Komischen auf diesen beiden Grundpfeilern ruht, müßte der
ganze Aristophanes analysiert und citiert werden, aber jedes seiner Stücke
bietet reiche Gelegenheit, diese Erfahrung zu machen; die volle Wirkung
seiner Kunst kann von uns Modernen freilich nur geahnt werden, da
sie eben an die lebendige Erfahrung jenes großartig „symphonischen“
Gesamteindruckes geknüpft war.

Unter den Neueren kommt ihm Shakespeare dadurch am nächsten,
daß auch er, wie oben schon bemerkt wurde, dem Unvermögen der Komödie
eine „Größe“ enthaltende Handlung nachzuahmen, abzuhelfen
weiß, indem er die Grenzen der Wirklichkeit mehr oder minder weit in
das Reich des Phantastischen hinausrückt. Auch in einer andern Hinsicht
wendet er dasselbe Mittel mit der gleichen Genialität an, wie jener:
das Niedrig-Komische und Burleske durch das Gegengewicht des Wohlgefälligen,
Schönen über Wasser zu erhalten und so das Ganze zu einem
anmutig heitern Spiele zusammenklingend verschmelzen zu lassen. Welch
bedeutende Mitwirkung die Musik zu solchem Ziele leistet, wissen wir
durch Mendelssohns unübertrefflich wohlgelungene Kompositionen zum
Sommernachtstraum“.

So sehen wir die durch Schönheitsgesetze begrenzte Phantastik in
den entgegengesetzten Gebieten des Komischen ihre Herrschaft üben:
sowohl wo es sich darum handelt, den Ernst des Bedeutenden zu mildern,
als wo es gilt, das Spiel mit dem an sich Geringen zu adeln.

Auf dem mittlern Gebiete erwuchs die nacharistophanische Komödie
der Griechen, die sogenannte mittlere und neuere; hier sind Plautus
und Terenz gefolgt, und das ganze moderne Lustspiel hat mit wenigen
Ausnahmen sich in diesen Traditionen entwickelt. Es ist nicht angänglich,
hier diese Entwickelung im einzelnen zu verfolgen; aber eine solche Untersuchung
würde erweisen, daß, was in der Geschichte des Lustspiels keimkräftig
und zukunftsvoll war, was ihm Prosperität in der Gegenwart
und neuen Jmpuls für die Zukunft gegeben hat, in einer Annäherung
an die im Obigen aus der aristotelischen Definition der Komödie
gefolgerten Principien bestanden hat. Die Masken der Comedia del
Arte
, der Harlekin, das deutsche Puppen- und Stegreifspiel bewahrten
ihre unverwüstliche Lebenskraft, weil sie ein Element phantastischer Freiheit
in sich trugen, das gegen die Öde des platten Realismus Abwehr
in sich trug: die aus der Renaissance hervorgehende kunstmäßige Charakterkomödie
verhielt sich zwar abwehrend dagegen, aber schon Molières gesunder
und glücklicher Kunstverstand verschaffte ihm unter andern Formen
wieder Eingang. Es war die Eintönigkeit und Halbheit des bloß lächerlichen
Lustspiels, der Mangel also der Hedone, woraus die Reaktion [693]
der comédie larmoyante und des genre sérieux hervorging; und wenn
diese auch auf verfehlten Jntentionen beruhten, so zeigten sie doch den
Weg zu der rechten Vereinigung, wo die rechte Freude das rechte Lachen
hervorbringt und umgekehrt dieses jene, und beide Affekte in eine Harmonie
verschmelzen, den Weg, den Lessing fand und so erfolgreich beschritt.

Ganz auf demselben Wege liegt, was mit Recht als die Krone
des Komischen gilt, das Humoristische, und es zeigt sich hier, warum
es diesen Ruhm verdient. Mit größter Einfachheit erklärt es sich nach
den obigen Voraussetzungen als die Vereinigung des Lächerlichen
und des direkt Erfreulichen in ein und derselben Erscheinung;

der Humor wäre danach die Fähigkeit, jene beiden Eigenschaften,
in derselben Erscheinung organisch verbunden, zu
erkennen und darzustellen.
Sehr mit Unrecht hat man behauptet,
daß das Altertum den humoristischen Charakter nicht gekannt habe, wie
man ebenso fälschlich gemeint hat, daß für den Charakter, den die Attiker
und Aristoteles als den „ironischen“ bezeichnen, und der freilich etwas
ganz anderes ist, als wir heute darunter verstehen, in den modernen
Sprachen kein dessen Eigenart erschöpfend wiedergebendes Wort vorhanden
sei. Der „Jroniker“ des Aristoteles ist der „Humorist“,
wie sich mit Bestimmtheit nachweisen läßt.

Aus der Abhandlung des Aristoteles in der Poetik über die
komischen Charaktere hat uns der Excerptor den wichtigsten Satz aufbewahrt,
der die überraschend einfache und erschöpfende Einteilung
derselben enthält. Es sind nicht mehr als diese drei: die possenhaften,
die „ironischen“ und die prahlerischen: Ἠθη κωμῳδίας
τά τε βωμολόχα καὶ τὰ είρωνικὰ καὶ τὰ τῶν ἀλαζόνων. Daß
diese Einteilung die aristotelische ist, beweisen verschiedene Stellen der
Ethik und Rhetorik (vgl. 1108a 20 ff.; 1127a 20 ff. und 1419b 5 ff.).
Sie charakterisiert sich jedoch auch durch ihren Jnhalt als solche; die
Art, wie die scheinbar unübersehbare Masse der komischen Charaktere
auf diese übersichtliche Gruppe zurückgeführt wird, trägt das aristotelische
Siegel. Hier verhält sich auch Bernays unbedingt zustimmend.

Alle drei stimmen darin überein, daß sie das Verhalten des
Menschen zu seinen Fehlern und Tugenden
bezeichnen. Als die
richtige Mitte dieses Verhaltens bewahrend, nennt die Ethik den
αὐθέκαστος, „der ganz er selbst ist, wahrhaftig die Lebensweise und
Rede, die Eigenschaften, welche er besitzt, eingestehend, sie weder vergrößernd
noch verringernd“. Dieser Charakter ist ernst, er kommt für
die Komödie also nicht in Betracht. Dagegen müssen sich die komischen
Charaktere, da die Komödie es mit der Darstellung des Fehlerhaften [694]
als solchen zu thun hat, danach klassificieren, wie ein jeder auf die
Fehler als solche sein Augenmerk richtet.
Das kann nur auf
drei Arten geschehen: 1) entweder jemand ist darauf gerichtet, überall
nur das Fehlerhafte als solches hervorzuheben, also was ihm immer
nur möglich ist, als lächerlich darzustellen an sich, an andern, an den
Dingen; das ist der Spaßmacher, der Possenreißerβωμολόχος ─.
Aristoteles nennt ihn unedler („unfreier“) als den „Jroniker“; denn
dieser stelle das Lächerliche um seiner selbst willen für sich dar ─ αὑτοῦ
ἕνεκα ποιεῖ τὰ γελοῖον ─ jener um anderer willen ─ ἑτέρου.
2) Oder jemand ist bestrebt, sein Fehlerhaftes zu verbergen und geschätzte
Eigenschaften zur Schau zu tragen, die er entweder gar nicht
besitzt oder nicht in solchem Maße; das ist der Prahler ─ ἀλαζών ─.
Jm Gegensatz zum Spaßmacher, der überall das Lächerliche hervorkehrt,
will er es überall vermeiden und wird dadurch selbst zum lächerlichen
Gegenstande. 3) Als den dritten nennt die Ethik den, der weder das
eine noch das andre thut, der vielmehr geneigt ist, „sich geringer
darzustellen, als er ist
“, also „seine guten Eigenschaften in Abrede
zu stellen oder zu verkleinern“, und der, was als Ergänzung dazu sich
von selbst ergibt, für das Komische aber besonders in Betracht kommt,
seine Fehler offen als solche gelten läßt, ohne jedoch etwa damit
in Ziererei zu verfallen, wodurch er sich in eine Art von Prahler verwandeln
würde. Jn der Ethik nun schätzt Aristoteles diese Charaktere
nur nach ihrem moralischen Wert und Unwert; sie nach ihrem gesamten
Wesen darzustellen, dafür war die Poetik der geeignete Ort. Daß diese
Darstellung hier vorhanden war, sagt die aus der Rhetorik citierte Stelle
(1419b 7) ausdrücklich.

Es wäre überflüssig, auf die Ergiebigkeit der ersten beiden Kategorien
für die Einteilung der komischen Charaktere ausführlich hinzuweisen;
es liegt auf der Hand, wie die größte Zahl derselben sich in
die Klassen der „Spaßmacher“ und der „Prahler“ von selbst einordnet.
Anders ist es mit der dritten Kategorie der εἴρωνες, der „Jroniker“.
Wenn die Ethik das Verhalten derselben gegen sich selbst angibt und
es vom sittlichen Standpunkte aus würdigt, so mußte die Poetik, wenn
sie den Charakter derselben ästhetisch beurteilt und seine komische
Kraft erläutert, die Gesamthaltung desselben nicht nur gegen sich selbst,
sondern den andern und den Dingen gegenüber in Betracht ziehen. Der
gemeinen Natur der Menschen entgegen geht der „Jroniker“ über seine
Vorzüge hinweg und verweilt bei seinen Fehlern; indem er die letzteren
als solche hervortreten läßt, wirkt er um so komischer, je augenfälliger
er sie macht und doch dabei, die in der Ethik vorgezeichnete Grenze [695]
innehaltend und seiner dem Guten und Edlen zugewandten Natur
folgend, der Wahrheit nahe bleibt. Da aber gerade dadurch, und zwar
ohne daß er diese Wirkung zum Gegenstand seiner Berechnung machte
und also in Affektation und Prahlerei verfiele, das Vortreffliche seines
Wesens, dessen Schaustellung er zu vermeiden gesonnen ist, um so mehr
hervorleuchtet, so ist sein Charakter zu gleicher Zeit um so erfreulicher,
je komischer er auf der andern Seite sich darstellt.

Das Wesen des echten „Jronikers“ übt also die Wirkung einer beständigen
Katharsis der Empfindungen des Lächerlichen und des Erfreulichen;
in allem diesen aber stimmt es völlig mit dem Wesen des
echten „Humoristen“ überein: daher der hohe Rang, der mit Recht
dem einen wie dem andern zuerkannt wird. Dieselbe Übereinstimmung
zwischen beiden zeigt sich aber auch in ihrem Verhalten gegen andre
und gegen die Dinge. Dasselbe läßt sich aus den vorhandenen Prämissen
mit Sicherheit folgern. Die Fähigkeit und Lust die eigenen Gebrechen
zu erkennen und als solche darzustellen, wird den „Jroniker“
oder „Humoristen“ natürlich zum besonders scharfen Beobachter und
gewandten Darsteller der Gebrechen der andern und der Dinge machen;
aber derselbe Scharfblick, der ihn in den Stand setzt, den tief verborgenen
Zusammenhang der eigenen Fehler mit den eigenen Vorzügen zu entdecken,
wird ihm die fremden Mängel nicht anders zeigen als auf dem
Grunde des Tüchtigen, dem sie anhaften, und die Güte seines Wesens,
die sich selbst gern verbirgt, wird ihn um so bereitwilliger sein lassen,
das fremde Gute als solches anzuerkennen. Daraus geht hervor, daß
die „ironische“ ─ immer das Wort in dem attischen, nicht im
modernen Sinne genommen ─ oder humoristische Menschenbetrachtung
und Weltanschauung gleicherweise jenen kathartischen Prozeß von
heiterem Lachen und reiner Freude in sich schließt.

Beiläufig bemerkt, erklärt sich aus diesem Sachverhalt die hohe
Bedeutung, welche die Romantiker, ohne den Begriff deutlich zu erkennen,
der „Jronie“ beilegten.

Aus dem Zusammenhange des ganzen Fragmentes, sowie aus
jedem einzelnen Teile desselben bestätigt sich nach alledem die Richtigkeit
der im § 2 desselben enthaltenen Definition der Komödie; daß sie
aber die aristotelische, wird zudem noch durch den Umstand bekräftigt,
daß die Formeln derselben in den über die Komödie enthaltenen Fragmenten
wiederkehren, die, wie aus vielen Gründen ersichtlich ist, aus
Aristoteles geschöpft haben. So heißt es in dem seinem Jnhalte nach
hervorragendsten Fragment περὶ κωμῳδίας (s. Cramer: Anecd. Paris I. 3
und Bergk: Aristoph. Prolog de comoedica S. XXVIII) in Nr. VIII [696]
§ 12: Ἔστι δὲ ἡ κωμῳδία μίμησις πράξεως καθαρωτέρας παθημάτων,
συστατικὴ τοῦ βίου, διὰ γέλωτος καὶ ἡδονῆς τυπουμένη.
Ebenso kehrt die Zusammenstellung von „Lachen und Freude
bei dem Scholiasten zu Dionysius Thrax in Nr. IX wieder (s. ebenda
S. XXXII und Becker: Anecdot. Gr. S. 747), wo der Begriff des
Heiteren“ dadurch umschrieben wird: τουτέστιν ἱλαρῶς ... ἀντὶ τοῦ
ἐν ἡδονῇ καὶ γέλωτι.

Eine fernere Bestätigung der Echtheit liefert der Umstand, daß
unser Exzerpt in teilweiser Übereinstimmung mit den bei Bergk unter
Nr. VI und VIII abgedruckten Fragmenten, auch die vollständige Angabe
der beiden andern Arten des Lächerlichen enthält, auf die in der
Rhetorik I. K. II. „als in der Poetik gegeben“ verwiesen wird: nämlich
zu den komischen Charakteren nun das komische der Rede und der
Handlungen
(γέλως ἀπὸ λέξεως und ἀπὸ πραγμάτων).

Hier erkennt auch Bernays bedingungslos die unzweifelhafte Echtheit
an und die vortreffliche Erklärung der in kürzestem Schema aufgezeichneten,
höchst wertvollen Bestimmungen ist das eigentliche Verdienst
seines Aufsatzes. Die Resultate derselben werden im folgenden teilweise
benutzt.

Der Excerptor knüpft die Aufzählung der Arten des Lächerlichen
in § 2 an die Definition der Komödie vermittelst einer Wendung an,
deren fehlerhafte Form auf seine Rechnung zu setzen ist, die aber dem
Sinne nach ebenso der aristotelischen Auffassung entspricht, wie das
ähnliche, oben behandelte Wort über die Tragödie: ἔχει δὲ μητέρα τὸν
γέλωτα „die Komödie hat das Lachen zur Mutter“. So kann natürlich
Aristoteles nicht geschrieben haben, aber der Ausspruch, daß die Grundempfindung,
auf deren Boden die Wirkung der Komödie erwächst, die
des Lächerlichen ist, gehört ebenso in sein System, wie er passend ist zu
der Bestimmung der Arten des Komischen überzuleiten.

Die Erregung des Lachens durch den Ausdruck geschieht nach
Aristoteles auf siebenfache Art:1

1) κατὰ ὁμωνυμίαν, der „homonymische Witz“. Es ist die
unerschöpfliche Fundgrube von Wortspielen, die auf verschiedenen Bedeutungen
desselben Wortes beruhen.

2) κατὰ συνωνυμίαν, das synonymische Wortspiel, das
darauf beruht, daß „bei mehreren Worten der Begriff ein und derselbe
ist“.

3) κατὰ ἀδολεσχίαν, der „oft wiederholte Gebrauch ein [697]
und desselben Wortes“. Daß uns hier wie für das ganze übrige
Schema die Beispiele fehlen, für welchen Verlust die oben citierten
Fragmente einen nur sehr spärlichen Ersatz bieten, kann leicht verschmerzt
werden, da ein Blick in den Aristophanes und in den Shakespeare Beispiele
in Fülle liefert.

4) κατὰ παρωνυμίαν, und zwar entweder παρὰ πρόσθεσιν oder
παρὰ ἀφαίρεσιν, paronymische Wortspiele, die durch Verlängerung
oder Verkürzung des gebräuchlichen Wortes zustande kommen.

5) κατὰ ὑποκόρισμα, die Anwendung der Deminutivendung,
die nach Rhet. III, K. 2, da sie die Dinge, sowohl die guten als die
schlimmen, kleiner darstellt, ein Mittel ist, Lachen zu erregen, wofür
die Gründe leicht einzusehen sind.

6) κατὰ ἐξαναλλαγήν mit der Unterabteilung φωνῇ τοῖς ὁμογενέσιν,
komische Wirkung durch Vertauschung verwandter Worte,
die also zu derselben Gattung aber zu verschiedenen Arten gehören; die
Unterabteilung erstreckt diese Vertauschung auch auf die lautlich
verwandten,
dem Sinne nach vielleicht ganz verschiedenen Worte.

7) κατὰ σχῆμα λέξεως, am besten wiederzugeben als das hinsichtlich
der grammatischen Ausdrucksform
Lächerliche; also
Verwechselungen des Genus, der Kasus, Modi, Fehler in der Konstruktion,
die alle erstlich an sich als Fehler lächerlich wirken können, sodann aber
vermöge des durch sie unter Umständen erregten Doppelsinns.

Es folgt dann die Bestimmung des sachlich Komischen, von
welchem acht Arten aufgeführt werden, die hinsichtlich der Weite ihres
Umfanges in absteigender Folge geordnet sind. Ὁ ἐκ τῶν πραγμάτων
γέλως, „das durch die Vorgänge erzeugte Lachen“ entsteht:

1) ἐκ τῆς ὁμοιώσεως und zwar entweder πρὸς τὸ χεῖρον oder
πρὸς τὸ βέλτιον: also aus der Verwechselung, Verkleidung entweder
zu etwas Geringerem oder zu etwas Höherem. Es erhellt
auf den ersten Blick, wie diese Art des sachlich Komischen fähig ist, die
Anlage einer ganzen Komödienhandlung zu bestimmen.

2) ἐκ τῆς ἀπάτης, jede auf welchem Wege immer durchgeführte
Täuschung, sowohl die Jntrigue, welche sich durch das ganze Stück
hinzieht, wie das noch so kurze Betrügen eines Klugen oder Foppen
eines Dummen.

3) ἐκ τοῦ ἀδυνάτου, aus dem Unmöglichen; diese Kategorie
umfaßt das ganze weite Gebiet des Phantastischen, Chimärischen,
Utopistischen,
wo der Widerspruch der Zwecke und Mittel gegen den
gesunden Verstand eine reiche Quelle des Komischen eröffnet.

4) ἐκ τοῦ δυνατοῦ καὶ ἀνακολούθου, aus dem Möglichen [698]
und Verkehrten, Unfolgerichtigen, wo der komische Widerspruch
also nicht in den Zwecken selbst, sondern in den ungereimten Mitteln
und in dem Mangel des Zusammenhanges bei ihrer Anwendung liegt.

5) ἐκ τοῦ παρὰ προςδοκίαν, aus dem Unerwarteten. Wie
leicht ersichtlich, steht diese Kategorie in enger logischer Verbindung mit
den beiden vorangehenden, denn während dort die komische Wirkung
durch das Fehlen der Möglichkeit oder des Zusammenhanges erregt
wurde, ist hier die Möglichkeit sowohl als der Zusammenhang vorhanden,
aber der komische Widerspruch, der das irgendwo versteckte Gebrechen
aufdeckt, besteht darin, daß der Zusammenhang ein anderer ist als
der erwartete.

6) ἐκ τοῦ χρῆσθαι φορτικῇ ὀρχήσει, wörtlich übersetzt: „aus
der Anwendung des gemeinen, plumpen Tanzes
“, aber weiter
zu fassen als: „aus der Anwendung des Burlesken überhaupt“,
denn der Tanz war den Griechen eine nachahmende Kunst und umfaßt
alle Arten, wie durch Körperbewegung, Stellung, Gestikulation
„mimisch“, d. i. eben „nachahmend“ Empfindungen, Gemütszustände,
Handlungen vorgeführt werden können. Es ist daher für uns Moderne
bei dieser Kategorie nicht nur an Scenen wie die Rüpelkomödie im
„Sommernachtstraum“ oder die Doktorpromition im „Malade imaginaire
zu denken, sondern an das burleske, groteske Element als
solches, d. h. also an den augenfälligen Widerspruch der körperlichen
Erscheinung und Bewegung gegen ihre Natur,
soweit
dieser Widerspruch in den, im obigen hinlänglich erörterten, Grenzen
des Komischen bleibt, also weder mitleidserregend noch furchtbar ist.

7) ὅταν τις τῶν ἐξουσίαν ἐχόντων παρεὶς τὰ μέγιστα φαυλότητα
λαμβάνῃ, d. i. „wenn jemand in der Lage zu wählen
das Wichtigste beiseite läßt und eine Geringfügigkeit ergreift.

Diese, sowie die achte und letzte Kategorie überraschen zunächst
einigermaßen, weil sie nur einzelne Fälle zu bezeichnen und sowohl
der Allgemeinheit als des Einteilungsprincips zu entbehren scheinen,
wodurch sie mit dem Vorangehenden in logischer Verbindung stünden.
Die nähere Prüfung ergibt das Gegenteil. Es wird hier der burlesken
körperlichen Erscheinung, die vorher genannt wurde, das Analogon auf
geistigem Gebiete zur Seite gestellt, die in kolossalem Maßstabe auftretende
und daher komisch wirkende Abweichung von der normalen
Urteilsfähigkeit: also burleske Dummheit, für die wir das bezeichnende
Wort „Tölpelhaftigkeit“ besitzen, hier in ihrer komischen
Äußerung charakterisiert.

8) ὅταν ἀσυνάρτητος ὁ λόγος ἦ καὶ μηδεμίαν ἀκολουθίαν [699]
ἔχῃ, „wenn die Rede unzusammenhängend ist und keine
Folgerichtigkeit hat
“, in Weiterführung des vorangehenden als der
äußerste Grad komischer Begriffsverwirrung mit Recht dem
sachlich Komischen eingereiht, nicht, wozu der Anschein verleiten könnte,
dem Komischen des Ausdrucks. Mit Recht bemerkt dazu Bernays:
„je leichter ein unsicher geführtes Einteilungsmesser in solchem Falle
schief schneidet, desto kenntlicher erprobt sich noch hier zuletzt die feste
Hand des Aristoteles.“

Es ist im Obigen viel Veranlassung gewesen, die von Bernays vertretenen
Meinungen zu bestreiten; desto erfreulicher ist es, hier am
Schlusse in dem wesentlichsten Punkt die volle Übereinstimmung mit
ihm hervorheben zu können, wenn er dem zuletzt behandelten Aufsatz
„Ergänzung zu Aristoteles' Poetik“ die folgenden, trefflichen Worte hinzufügt:
„Auch das Geringste, was sich zur Vervollständigung der
Poetik noch auffinden läßt, bekommt Anteil an der eigentümlichen Bedeutung,
welche von den übrigen Schriften des Aristoteles diejenigen
Werke auszeichnet, in denen er die Gesetze menschlichen Denkens und
Dichtens niedergelegt hat. Diese Werke, das Organon und die
Poetik, konnten nicht durch zwei Jahrtausende zu Büchern von bloß
historischem Jnteresse herabgedrückt werden; sie haben den Wert und
die unmittelbare Anwendbarkeit von Lehrbüchern unübertroffen
behauptet.
Für das Organon zeugt Kants Geständnis,
daß die formale Logik seit Aristoteles nicht vorwärts gegangen; und
Lessings begeistertes Anraten vereinigt sich mit Goethes und Schillers
lebendigem Beispiel, um auf die jetzige Poetik, nur ein Torso des großen
aristotelischen Werkes, noch heutige Dichter hinzuweisen. Es entspringt
aber diese unverminderte Brauchbarkeit der Poetik aus der Universalität
ihrer Gesetze
und aus der weisesten Mäßigung im Gesetzgeben.
Jn allem Unwesentlichen ist sie, wie Schiller sich verwundert
ausdrückt, „sogar sehr lax“, und das Wesentliche wird über wandelbare
Sitten und Meinungen hinausgehoben, erscheint verknüpft
mit unveränderlichen Forderungen der Vernunft,
gegründet auf tiefere Erkenntnis der nicht minder unveränderlichen
Leidenschaften.

Mag ein schönes Wort Goethes aus den Noten zum westöstlichen
Diwan den Beschluß bilden und dem Unternehmen des Ganzen gewissermaßen
zur Rechtfertigung dienen:

„Die Besonnenheit des Dichters bezieht sich eigentlich auf die [700]
Form, den Stoff gibt ihm die Welt nur allzu freigebig, der Gehalt
entspringt freiwillig aus der Fülle seines Jnnern; bewußtlos begegnen
beide einander, und zuletzt weiß man nicht, wem eigentlich der Reichtum
angehöre.“

„Aber die Form, ob sie schon vorzüglich im Genie liegt, will
erkannt, will bedacht sein,
und hier wird Besonnenheit gefordert,
daß Form, Stoff und Gehalt sich zu einander schicken, sich ineinander
fügen, sich einander durchdringen.“

Dazu der sich daranschließende Spruch:

„Der Dichter steht viel zu hoch, als daß er Partei machen sollte.
Heiterkeit und Bewußtsein sind die schönen Gaben, für die er
dem Schöpfer dankt: Bewußtsein, daß er vor dem Furchtbaren
nicht erschrecke, Heiterkeit,
daß er alles erfreulich
darzustellen wisse.“

Jn echt goethescher, ebenso einfacher als eigentümlicher Weise ist
damit die schöne, mittlere Haltung bezeichnet, die der wahre Dichter
zwischen den tragischen und den komischen Eindrücken des Lebens selbst
zu behaupten und eben dadurch in seinen Schöpfungen andern mitzuteilen
weiß.

[E701]

Appendix A Kants Kritik der ästhetischen Arteilskraft
in ihrem
Verhältnis zur aristotelischen Philosophie.

(Anhang zu Seite 470.) ──────

Als Ergänzung der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Kritik
der praktischen Vernunft“ und gewissermaßen als ein verbindendes
Mittelglied fügte Kant im Jahre 1790 jenen beiden die dritte hinzu:
Die Kritik der Urteilskraft.“ Bestimmt er in der ersten die
Natur und die Grenzen des Erkenntnisvermögens, stellt er in der zweiten
das durch das Vernunftvermögen bestimmte sittliche Gesetz fest, so ist
in der dritten der Gegenstand der Untersuchung: das Wesen und die
Wirksamkeit des „Gefühls“, als eines zwischen jenen beiden stehenden
Vermögens, zu erkennen. Der Verstand erkennt die Dinge nach den
ihm eingeborenen a priori gültigen Gesetzen; auf diesem allein beruht
die Gewißheit und die Allgemeingültigkeit unserer Erkenntnis; über die
reale Existenz der Dinge erhalten wir durch ihn keineswegs Gewißheit.
Wie den so erkannten Dingen gegenüber sich unser Begehrungsvermögen
zu verhalten hat, dafür gibt uns die Vernunft das unbedingt
verbindliche Gesetz. Wir bemerken nun, daß es eine dritte Art gibt,
wie wir uns zu den Dingen verhalten, wobei wir sie weder mit
unserem Verstande zu begreifen suchen, noch sie zu dem Vernunftsgesetz
oder zu unserem sittlich bestimmten Willen in irgend eine Beziehung
setzen, wobei wir aber nichtsdestoweniger ein ähnliches Bewußtsein haben
mit sicheren und allgemein geltenden Gesetzen uns in Übereinstimmung
zu befinden wie in jenen beiden andern Fällen. Ohne zu erkennen [702]
und ohne uns in den Besitz irgend welcher Begriffe gesetzt zu haben,
fällen wir Urteile, denen wir gleichwohl eine unbedingte Gewißheit
und ewige Geltung zuschreiben, und indem wir die Gegenstände solcher
Beurteilung strengstens von dem Gebiete absondern, in welchem die
Vernunftgesetzgebung herrscht, vindizieren wir ihnen gleichwohl nicht
allein eine völlige Freiheit von allem Zwange des Sinnlichen, wie sie
sonst nur in jenem zu erreichen ist, sondern ein dunkler, aber nur um
so mächtigerer Trieb zwingt uns, sie als mit jenem Reich der Freiheit
in der innigsten Verwandtschaft stehend uns vorzustellen.

Als die Gegenstände einer solchen Beurteilung unterscheidet Kant
das Schöne und das Erhabene; das Vermögen ihrer Beurteilung
nennt er die „ästhetische Urteilskraft“. Die Kritik dieses Vermögens
und die Analysis der Erscheinungen, die diesem Vermögen
unterworfen sind, bildet den Hauptteil seiner „Kritik der Urteilskraft“.


Dieses Buch ist die Grundlage der modernen wissenschaftlichen
Ästhetik geworden; es ist bekannt, wie Schillers ganzes Denken und
Dichten sich im engsten Anschlusse daran entwickelte. Bis auf den
heutigen Tag stehen Kants Sätze im Mittelpunkte der Erörterung, so
zwar, daß von den entgegengesetzten Seiten sich die Angriffe gegen dieselben
richten: hier eröffnete Herder den Reigen mit fast leidenschaftlicher
Polemik, und von dort begann Herbart die Opposition, über die
seine Anhänger noch bedeutend hinausgegangen sind. Nach den üblichen
Schlagworten kennzeichnet sich die eine Richtung als die der idealen,
die andre als die der formalen Ästhetik.

Keiner von beiden genügt Kants Lehre vom Schönen; während
sie den Anhängern der idealistischen Ästhetik, die an die objektive Existenz
des Schönen und seine Jdentität mit dem Guten und Wahren
glauben, als viel zu formal erscheint, halten die formalen Ästhetiker,
die über Kant hinausgehend die Realität der Dinge geradezu leugnen,
und daher das Phänomen des Schönen lediglich als die Wirkung eines
reinen Formenspieles betrachten, die Kantsche Lehre noch für bei weitem
zu idealistisch.

Denn einerseits erkennt Kant allerdings der Schönheit sowie der
Erhabenheit keine selbständige Existenz zu, sondern betrachtet beide nur
als subjektiv in dem Gemütszustande des die Eindrücke Empfangenden
vorhanden. Wie alle Erkenntnis subjektiv ist und uns keineswegs die
wirkliche Beschaffenheit der Dinge an sich lehrt, dennoch uns Gewißheit
gewährend, weil die Gesetze, nach denen sie verfährt, Gewißheit enthalten:
so beruhe die Lust am Schönen und am Erhabenen ganz allein [703]
auf dem Bewußtsein, mit welchem die Art und Weise seiner Beurteilung
das Gemüt erfüllt. Ohne den Gegenstand, der uns als schön oder erhaben
erscheint, nach Begriffen zu bestimmen, ohne ihn nach irgend einem
Zwecke zu messen, sondern lediglich in der Vorstellung oder, wie Kant
es nennt, mit der Einbildungskraft, seine Teile zu einem Gesamtbilde
vereinigend, werden wir durch ein unmittelbar gefälltes Urteil uns seiner
Zusammenstimmung mit den Forderungen des Verstandes bewußt,
Forderungen, die, nach Kant, der Urteilskraft durch eine unbewußte
und unmittelbar sich vollziehende Reflexion auf die überhaupt geltenden
Gesetze des Verstandes immerfort gegenwärtig sind. So kommt das
zustande, was unter einem seltsam paradox klingenden Ausdruck in der
Kritik der Urteilskraft unaufhörlich wiederkehrt und den Eckstein des
ganzen Systems bildet: ein Urteil, welches auf Verstandeserkenntnis
reflektierend Bezug nimmt und doch ohne alle Begriffe gefällt wird, das
ferner eine Zweckmäßigkeit zu lebhaftestem Bewußtsein bringt, ohne
doch irgend einen Zweck dabei ins Auge zu fassen. Die bloße Harmonie
der durch die Einbildungskraft gewonnenen Vorstellung mit dem durch
jene allgemeine Reflexion ins Bewußtsein tretenden, das All beherrschenden
Verstandesgesetze erfülle das Gemüt mit dem Gefühl einer in diesem
Urteile gegebenen Zweckmäßigkeit, einer Zweckmäßigkeit also, die in der
Thätigkeit der Urteilskraft
selbst enthalten ist, nirgend anders
ihren Sitz hat. Jn dieser Zweckmäßigkeit, dieser Harmonie mit dem
allgemein gültigen Erkenntnisgesetz liegt das Princip a priori der Urteilskraft
und daher die allgemein verbindliche Gültigkeit der Geschmacksurteile
über das Schöne und Erhabene.

Es ist leicht zu erkennen, was in diesem System den Jdealisten
Anstoß gibt, ja sie gelegentlich zur Empörung bringt, da sie das Wahre,
Gute, Schöne in den Eigenschaften der Dinge finden, den Jdeen desselben
daher ein von Uranfang her gegebenes Dasein zuschreiben und
die Lust an der Wahrnehmung derselben darauf zurückführen, daß die
Erinnerung oder Ahnung derselben, jedenfalls die Fähigkeit ihrer Aufnahme
eine durch die Erschaffung der Seele mitgeteilte Gabe sei, ein
Beweis ihres göttlichen Ursprungs.

Allerdings läßt es sich nicht leugnen, daß Kant durch sein System
zu befremdenden Konsequenzen sich führen läßt: wenn er z. B. sehr
nachdrücklich behauptet, daß das Naturschöne einer jeden Art des Kunstschönen
weit überlegen sei; ferner, daß „das Gefühl fürs Schöne nicht
allein vom moralischen Gefühl specifisch unterschieden sei, sondern auch
das Jnteresse, welches man damit verbinden kann, mit dem moralischen
schwer, keineswegs aber durch innere Affinität, vereinbar zu [704]
sein scheine“ (S. 165);1 oder „daß die Kunst, wenn sie das Schöne
der Natur nachahme, nur durch ihren Zweck, niemals an sich selbst,
interessieren könne.“ (S. 169.)

Andrerseits aber wehren sich die Formalisten mit aller Kraft
gegen das spekulative Element in Kants System; ihnen gilt jede Einmischung
eines intellektuellen oder reflektierenden Elementes in das rein
ästhetische Urteil schon als eine Verfälschung desselben oder doch als
eine seinem Wesen fremde Zuthat. Sie wollen dasselbe aus der reinen
Perception der bloßen Formen herleiten, die sie auf das strengste von
allen Wirkungen, welche dieselben in den übrigen Seelenvermögen hervorbringen,
zu sondern bestrebt sind. Das Wohlgefallen am Schönen
sei daher auch nicht nach den Gegenständen verschieden, sondern es sei
nur ein einziges und immer dasselbe: die Lust an dem Einklange nach
gewissen Grundverhältnissen zusammenstimmender Formen.

Es gibt einen Punkt, in welchem diese, in allem übrigen von entgegengesetzten
Seiten ausgehenden Angriffe dennoch zusammentreffen.
Beide nämlich legen ihrer Betrachtung die Beschaffenheit des Objektes
selbst zu Grunde, das Schöne ist ihnen eine objektive Erscheinung, der
nach ihrer Meinung eine ideale oder formale Zweckmäßigkeit als Eigenschaft
anhaftet. Eine solche sich vorzustellen, eine objektiv vorhandene
Zweckmäßigkeit ohne den Begriff eines Zweckes, ist nach Kant „ein
wahrer Widerspruch“. (S. 76.) Die Lustempfindung, auf der unser
Urteil, ein Gegenstand sei schön, beruht, setzt er in „nichts als die subjektive
Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden,
welche wohl eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes im
Subjekt und in diesem eine Behaglichkeit desselben, eine gegebene Form
in die Einbildungskraft aufzufassen, aber keine Vollkommenheit irgend
eines Objektes, das hier durch keinen Begriff eines Zweckes gedacht
wird, angebe“ (ibid.). Nun scheint freilich Kant an einer Stelle (S. 93)
dem gegnerischen Standpunkt eine Konzession zu machen, wenn er den
Widerspruch, daß das ästhetische Urteil auf freier Gesetzmäßigkeit der
Einbildungskraft beruhe, während diese doch, obwohl frei produktiv
thätig, an eine bestimmte Form des gegebenen Objektes gebunden sei,
auf folgende Weise zu lösen sucht: „es ließe sich doch noch wohl begreifen,
daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die
Hand geben könne,
die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen
enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen
wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt [705]
entwerfen würde.“ Damit scheint Kant sich auf den Boden der Anerkennung
zu stellen, welche die Gegner an ihm vermissen, daß nämlich
das Schöne allerdings im Objekte gelegen, in einer bestimmten Form
desselben gegeben sei. Allein er hat nichts Eiligeres zu thun, als diese
scheinbare Konzession sogleich wieder aufzuheben. Die Einbildungskraft
könne gar nicht zugleich frei und autonom und doch von selbst gesetzmäßig
sein; das sei ein Widerspruch: das Gesetz gebe allein der
Verstand.
Es bleibt also dabei, daß nach ihm das Schöne nur insoweit
existent ist, als es durch das ästhetische Urteil konstatiert wird,
und daß dieses letztere einzig und allein in der subjektiven Uebereinstimmung
der Einbildungskraft „zu der freien Gesetzmäßigkeit des Verstandes“,
die durch eine unmittelbar geschehende Reflexion im Urteil
zum Bewußtsein gebracht wird, bestände. Jch glaube daher, daß Lotze
entschieden unrecht hat, wenn er sagt: „Jn Wahrheit ist für Kant doch
nicht die Harmonie der Seelenkräfte das Schöne selbst; sie ist vielmehr
die sich selbst genießende ästhetische Lust; schön ist für ihn, wie für den
gewöhnlichen Sprachgebrauch der Gegenstand, dessen Einwirkung auf
uns diese Lust erzeugt.“1 Und: „es ist Kants eigene Meinung, was
man als Bedenken gegen ihn angeführt hat: wenn auch das Wohlgefallen
am Gegenstand nur die harmonische Thätigkeit unseres Jnnern
ist: der Grund, der diese Thätigkeit anregt, liegt doch in dem Gegenstande
selbst.“2 Das eben ist Kants Meinung nicht, sondern das
gerade Gegenteil, und man wirft sein ganzes System über den Haufen,
wenn man das leugnet. Er hat das mit einer Deutlichkeit ausgesprochen,
die keinen Zweifel übrig läßt. So an folgender Stelle (§ 32
S. 143): „Sagen: diese Blume ist schön, heißt ebensoviel, als ihren
eigenen Anspruch auf jedermanns Wohlgefallen ihr nur nachsagen.
Durch die Annehmlichkeit ihres Geruchs hat sie gar keine Ansprüche;
denn einen ergötzt dieser Geruch, dem anderen benimmt er den Kopf.
Was sollte man nun anders daraus vermuten, als daß die Schönheit
für eine Eigenschaft der Blume selbst gehalten werden müsse,
die sich nicht nach der Verschiedenheit der Köpfe und so vieler
Sinne richtet, sondern danach sich diese richten müssen,
wenn sie darüber urteilen wollen, und doch verhält es sich
nicht so.
Denn darin besteht eben das Geschmacksurteil, daß es eine
Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in welcher sie
sich nach unserer Art, sie aufzunehmen, richtet.“ Ebendaher erklärt es [706]
auch Kant für eine Unmöglichkeit, ein objektives Prinzip des Geschmackes
aufzustellen;
ein Satz, der mit der Annahme, daß das
Schöne im Grunde doch in den Gegenständen liege, deren Einwirkungen
wir erfahren, ganz unverträglich ist. Diese letzteren ergeben nach Kant
an und für sich nichts als ein empirisches Urteil der Lust oder Unlust;
das allgemein verbindliche, also a priori gültige, ästhetische Urteil allein
bringt die Schönheit hervor: dieselbe ist ein freier Effekt der harmonischen
Thätigkeit unserer Seelenvermögen; indem wir dieselbe wahrnehmen
und unseren Vorstellungszustand mit Lust empfinden, genießen wir das
durch unser Urteil in uns erzeugte Phänomen der Schönheit, das zuvor
nicht existierte und das aufhört zu existieren, sobald unsere Urteilsthätigkeit
aufhört.

Natürlich fordert das scheinbar Paradoxe diese Anschauungsweise,
deren wahrer Kern nicht leicht zu erkennen ist, den Widerspruch der
Gegner ebenso heraus, als es die Anhänger dazu antreibt, das Anstößige
derselben zu mildern oder ihr Vorhandensein bei Kant überhaupt in
Abrede zu stellen. Was liegt näher als das Zugeständnis, daß, um
jenes harmonische Zusammenstimmen der Erkenntnisvermögen überhaupt
möglich zu machen, sicherlich um es thatsächlich ins Spiel zu setzen, die
Vorstellung eines angemessenen Objektes erforderlich ist, dessen Beschaffenheit
also doch notwendig eine objektiv bestimmte und bestimmbare
sein muß. Es gehört mit zu den vielfachen Schwierigkeiten
des Studiums von Kants Kritik der Urteilskraft, daß man diesen
Schluß unaufhörlich verlangt und erwartet, und in dieser Erwartung
durchaus getäuscht wird. Kaum daß im Ausdruck er vorübergehend
gestreift wird: wirklich gezogen wird dieser Schluß nicht; noch viel
weniger also kommen die ungemein wichtigen Konsequenzen zur Entwickelung,
die sich, sobald er gezogen ist, notwendig an ihn knüpfen
müssen.

Ganz besonders durch diesen Umstand, aber keineswegs allein durch
ihn, wird der seltsame Zustand der Erregung veranlaßt, den, wie ich
vermute, ein jeder empfunden haben muß, der sich jemals anhaltend
mit dem Studium des merkwürdigen Buches beschäftigt hat, oder dasselbe
auch nur versucht hat: ein Zustand, in dem überzeugte Beistimmung
mit ebenso überzeugtem Widerspruch, lebhafteste Bewunderung
mit Zweifel und Mißbilligung unaufhörlich in den härtesten Kampf gesetzt
werden.

Hier ist, in der modernen Ästhetik wenigstens, zum erstenmale
ein fester Boden für bestimmte, wissenschaftliche Erforschung ihrer Probleme
geschaffen durch die scharfe Unterscheidung des ästhetischen Urteils [707]
über das Schöne von der bloß empirischen Empfindung des Angenehmen
sowohl als von den Urteilen, die uns über das Nützliche, das Gute
unterrichten, oder die unsere Erkenntnis bereichern. Der Vermischung
des Schönen mit Nützlichkeitszwecken, mit lehrhaften oder moralischen
Tendenzen ist hier ein für allemal in der Theorie ein Ende gemacht.
Hoch erhoben ist das Wesen des Schönen über das niedrige Niveau der
Ansicht, daß es, lediglich aus der Erfahrung und Gewöhnung sich
bildend, nur relative Geltung habe, die nach Zeiten und Völkern und
Sitten, ja nach Temperament, Jndividualität und Lebensalter unaufhörlichem
Wandel unterworfen sei. Die ästhetische Urteilskraft ist den
höchsten Vermögen des menschlichen Geistes ebenbürtig beigesellt und
ihrem Ausspruch absolute Gewißheit und ewige und allgemeine Gültigkeit
zuerkannt.

Dem gegenüber steht nun aber: daß dieses System vor allem die
Möglichkeit einer objektiven Gesetzgebung, also einer fest bestimmten, durch
den Verstand zu begründenden Kritik des Schönen, ausschließt; daß es
ferner sich nicht begnügt, das Schöne vom Wahren und Guten streng
zu scheiden, sondern daß es „jede Affinität“ zwischen seinem Gebiet
und dem des Guten wie des Wahren leugnet; daß es ─ eins der
schwersten Bedenken ─ die subjektiven Empfindungen und Gefühle
als rein sinnliche Vorgänge auffaßt, bei denen das Subjekt sich passiv
verhält, und die als pathologische Zustände jeder Thätigkeit der höheren
Erkenntnisvermögen und namentlich dem durch die praktische Vernunft
bestimmten Willen als Hindernisse im Wege stehen; daß es demzufolge
„Reiz und Rührung“ als nicht zum Gebiete des Schönen zugehörig
erklärt, und aus allen diesen Gründen zusammen das Schöne nicht in
den Einwirkungen der Beschaffenheit der Dinge erkennt, sondern allein in
dem durch die Thätigkeit der Urteilskraft bedingten Vorstellungszustande.

Neben allen diesen Bedenken, denen sich noch manche andere hinzufügen
ließen, ist es aber ein Bestandteil der Deduktion dieses
ganzen Systems, und zwar gerade der wesentlichste, der Hauptpfeiler,
auf dem es ruht, der einen nicht zu besiegenden Zweifel hervorruft.
Jmmer aufs neue kehrt dieser Teil der Beweisführung wieder, in unzähligen
Wiederholungen wird er für jeden neuen Satz als Stützpunkt
in Erinnerung gebracht und aufs neue festgestellt, ohne daß es der
formalen Logik gelänge in unserer inneren Überzeugung ihm einen
Platz zu gewinnen. Wir sollen im ästhetischen Urteil einer Zweckmäßigkeit
uns bewußt werden, ohne daß doch irgend ein Zweck
uns dabei ins Bewußtsein trete;
die Einbildungskraft, will
sagen unser Vorstellungsvermögen, welche die mannigfachen Teile [708]
des Gegenstandes zu einem Ganzen vereinigt, soll sich mit der Reflexion
auf die Verstandesgesetze in uns
zu einem zusammenstimmenden
Urteile verbinden, ohne daß doch irgend ein Begriff dabei in Betracht
käme. „Jm Gemüt“ soll diese Zweckmäßigkeit ohne Zweck,
diese Verstandesmäßigkeit ohne Begriffe, zum Bewußtsein gelangen,
und die Lust an diesem Bewußtsein der harmonierenden Thätigkeit
der Einbildungskraft und des Erkenntnisvermögens überhaupt, nicht
der auf irgend ein Objekt gerichteten Erkenntnis, soll die eine, einzige,
immer sich gleichbleibende Freude am Schönen sein, den tausend=
und abertausendfachen Manifestationen des Schönen gegenüber immer
qualitativ die gleiche, höchstens quantitativ verschieden: das bedeutet
doch also, von den Empfindungen, die durch die Beschaffenheit der Dinge
in uns erzeugt werden, nicht im mindesten modifiziert, sondern ein ewig
sich gleichbleibender Effekt in dem Zusammenwirken der Kräfte unseres
geistigen Organismus. Das widerspricht nicht allein aller unserer Erfahrung
auf das schroffste, sondern auch der Jntuition, die uns von
dem theoretischen Verhältnis dieser Dinge eigen ist. Beiden, dieser
Jntuition wie unserer Erfahrung, ist es nicht fremd, daß es ein solches
Lustgefühl“ in unserem „Gemüte“ gibt, aber wir sind weit entfernt
es mit der Freude am Schönen für dasselbe zu halten. Ein
solches Lustgefühl ist es, welches die verstandesmäßige Erkenntnis des
Richtigen, des Wahren begleitet: dieses bleibt immer dasselbe, mag eine
Rechnung zum Stimmen gebracht, eine mathematische oder physikalische
Aufgabe gelöst, eine philosophische Wahrheit erkannt oder ein neues
Weltgesetz gefunden sein. Diese selbe Lust wird uns durch die Anschauung
unmittelbar
zu teil, wenn uns die Resultate solcher Erkenntnis
in Figuren und Körpern vor Augen treten. Hier wäre die
Zusammenstimmung der Vorstellungskraft mit der Verstandesmäßigkeit,
welche die Kantische Deduktion verlangt; vorhanden: aber freilich im
Gegensatze zu derselben würde sie gerade auf erkannte Begriffe gegründet
sein, nur daß dieselben uns so völlig geläufig geworden wären, daß wir
ohne sie zu „denken“ auf sie „zu reflektieren“ vermöchten.

Von dieser selben Art der Freude an der Übereinstimmung
des Geschauten mit dem Erkannten ist nach Kant die Freude am
Schönen, nur daß statt des „Erkannten“ zu setzen wäre des „der Erkenntnis
Gemäßen“, auf das ohne Begriffe die Reflexion in der Seele
gemacht werden soll.

Hier liegt der unaufgeklärte Punkt in Kants Kritik der Urteilskraft,
der uns in dem ganzen System nirgends zur völligen Ruhe und
Befriedigung gelangen läßt. Es liegt etwas fast mystisch zu Nennendes [709]
in diesem von Kant statuierten Vermögen der „Urteilskraft“, das
uns nur in seiner Wirkung, nicht in seiner Existenz nachgewiesen wird.
Fragt man, wo dasselbe denn nun seinen Sitz hat, so kann man aus dem
System nur die Antwort entnehmen: im „Gemüt“ oder im „Gefühl“,
obwohl diese Frage nirgends eine direkte und ausführliche Beantwortung
findet. Denn im „Gemüte“ oder im „Gefühl“ soll ja die harmonische
Vereinigung der Thätigkeit der Einbildungskraft mit der Reflexion auf
das Erkenntnisvermögen stattfinden und, zum Bewußtsein gelangt, die
Lust“ erzeugen; und zwar die Lustempfindung des Schönen, wenn
die Reflexion auf Verstandeserkenntnis und die des „Erhabenen“,
wenn sie auf das Vernunftgesetz stattfindet, beide Male „ohne Begriffe
von der einen oder dem anderen. Jn dieser Reflexion auf
die a priori geltenden Prinzipien der reinen und der praktischen Vernunft
liegt die allgemein verbindliche Geltung der ästhetischen Urteile
über das Schöne und das Erhabene.

Was haben wir uns nun nach Kant unter diesem Vermögen des
Gemüts zu denken? Vor allem, in welchem Verhältnis haben wir es
zu dem Vermögen der reinen und praktischen Vernunft uns vorzustellen?
Nach sehr zahlreichen Stellen seiner Werke versteht er darunter die
Gesamtheit der Seelenvermögen: um so mehr aber bleiben wir im
Unklaren darüber, welcher Platz in demselben nun der ästhetischen Urteilskraft
zugewiesen sein soll? So viel ist sicher, daß jene beiden Hauptvermögen
der reinen und praktischen Vernunft in strengster Scheidung
von dem Vermögen des „Gefühls“ ihr Geschäft vollziehen, daß denselben
ferner eine direkte Beteiligung an dem ästhetischen Urteil durchaus
nicht zusteht. Wenn nun Kant dennoch annimmt, daß „im Gemüt
eine Reflexion der ästhetischen Urteilskraft auf die Prinzipien
jener Vermögen, wenn auch „ohne Begriffe“ von denselben, stattfindet,
so muß er ─ obwohl das nirgends von ihm näher untersucht oder
auch nur angedeutet wird ─ schlechterdings doch zwischen jenen obersten
Vernunftvermögen und dem „Gefühl“, dem Vermögen, Lust und Unlust
zu empfinden, auf Grund ihrer beständigen Vereinigung „im Gemüt“
irgend ein Verhältnis gegenseitigen Verkehrs für möglich halten, zum
mindesten eine Fähigkeit des Gemütes, die Resultate der Thätigkeit
jener beiden Hauptvermögen, in solcher Weise dem Gefühlsvermögen
zu übermitteln, daß dieses dieselben in sich aufzunehmen
und festzuhalten in den Stand gesetzt werde. Ohne
diese Annahme
bliebe die Kantsche Hypothese von dem Vermögen
der ästhetischen Urteilskraft ein leeres Schema.

Dies ist der Punkt, an welchem die aristotelischen Grundan= [710]
schauungen, deren alleinige Geltung für das ästhetische Gebiet der Verfasser
in dem vorstehenden Buche behauptet hat, zu Hilfe genommen
werden müssen, um zugleich das Dunkle und Unklare des Kantschen
Systems aufzuklären und das Richtige desselben zu bestätigen. Dieselben
sind im Obigen so vielfach erörtert, daß hier ohne Wiederholungen auf
dieselben einfach Bezug genommen werden kann.

Jn der Auffassung zweier Grundbegriffe weicht Kant am weitesten
von Aristoteles ab, der subjektiven Empfindung, Pathos, und
des Gefühls der Lust, Hedone. Unter „Empfindung“ versteht
Kant zunächst nur die sinnliche Wahrnehmung, also was die
Griechen „Ästhesis“ nennen; von dieser „objektiven“ Empfindung unterscheidet
er die „subjektive“, die durch die erstere bewirkte Bestimmung
des Gefühls der Lust und Unlust, und nennt diese „Gefühl“. Hier
bleibt aber eine Lücke, die Kant ignoriert! Bei Kants Einteilung
bleibt dasjenige, was der Sprachgebrauch vorzugsweise unter „Empfindung“
versteht, unberücksichtigt und unbenannt. Liebe, Zorn, Hoffnung,
Mitleid, Furcht sind an sich weder Gefühle der Lust, noch der Unlust,
sondern je nach ihrer Beschaffenheit sind sie von Lust oder Unlust begleitet,
und zwar kann eine jede dieser Empfindungen, sowohl von der
einen als von der anderen begleitet sein. Sie alle und alle ihnen verwandten
Seelenbewegungen geben durch ihr Dasein von einem Vermögen
der Seele Kunde durch dasjenige, was Kant „objektive Empfindungen“,
d. i. sinnliche Wahrnehmungen nennt, affiziert
d. i. verändert, bewegt zu werden, und zwar nicht derartig verändert,
daß sie dabei ihre naturgemäße Beschaffenheit verliert, aus
derselben heraustritt, „ekstatisch“ ihr Wesen verrückt, sondern so,
daß sie diesem in sie gelegten Vermögen, den „objektiven“ Eindrücken
entsprechend sich zu wandeln, naturgemäße Folge leistend, ihre Bestimmung
erfüllt.
Die Erfüllung dieser Bestimmung ist eine ihrer
wesentlichsten Aufgaben, was zu allernächst schon daraus bewiesen wird,
daß ohne dieselbe nicht einmal die physischen, körperlichen Vermögen
ausgeübt und ausgebildet werden könnten. Dasjenige aber, was Kant
Gefühl“ nennt, ist erst eine Folge dieser Erfüllung ihrer Bestimmung,
denn Lust oder Unlust treten als Begleiterscheinungen jener Veränderungsvorgänge
der Seele auf, je nach der Art und Weise, wie dieselben
eintreten und verlaufen. Es bedarf keines weiteren Nachweises, daß die
aristotelische Lehre vom „Pathetikon“, als einem besonderen Vermögen
der Seele, und von den „Pathe“, als den jenem Vermögen entsprechenden
Bewegungsvorgängen, gerade das darbietet, was geeignet wäre, die
Lücke des Kantschen Systems auszufüllen. Um so mehr aber wäre [711]
das der Fall, wenn es sich als richtig erwiese, was Aristoteles von der
ursprünglichen Natur dieses Pathetikon ─ des Empfindungsvermögens
der Seele ─ lehrt, daß es nämlich zwar an sich selbst vernunftlos
ἄλογον ─ sei, daß es aber gleichsam im Verkehr mit den oberen Seelenvermögen
des Verstandes und der Vernunft Einflüsse von jenen in sich
aufzunehmen und sich der Vorschrift jener gemäß selbständig zu gestalten
fähig sei.

Die Frage ist, wie Kant sich zu alledem stellt?

Das „Gefühl“ und alle einzelnen „Gefühle“ betrachtet Kant
lediglich als Bestimmungen der subjektiven Lust und Unlust, demgemäß
als Äußerungen der bloßen Sinnlichkeit, die nur das subjektiv Angegenehme
und Unangenehme anzeigen. Zwischen ihnen und den oberen
Seelenvermögen kann daher nach ihm kein Zusammenhang vorhandeu
sein. Er bezeichnet dementsprechend alle Gefühle und auf dieselben begründeten
Neigungen als „pathologisch“, gelegentlich, sofern sie vorwalten,
geradezu als Krankheiten des Gemüts (so in der Anthropologie
§ 72 und 74), und erkennt das stoische Prinzip der Apathie als einen
„richtigen und erhabenen moralischen Grundsatz“ an (ebendas. § 74).

Aber wenn Kant mit vollem Rechte verlangt, daß die Triebfeder
der sittlichen Handlungsweise von aller sinnlichen Bedingung frei sein
solle, daß die Vernunft sich selbst ihr Gesetz gebe, welches alle Gefühle
und Neigungen unnachsichtlich niederschlagen müsse, um ungeteilt als
Bestimmungsgrund des Handelns zu wirken, so folgt daraus doch nicht,
daß das „Gefühl“ auch in seiner eigenen Sphäre nun immerfort als ein
der Vernunft gegnerisches Vermögen zu gelten habe, daß es nicht vielmehr
einer freiwilligen Einstimmung zu ihren Forderungen fähig sein könne.

Ein Gefühl kennt auch Kant, von dem er nicht allein dieses,
sondern noch viel mehr behauptet, das er geradezu ein „moralisches
nennt und aus der Anerkennung des a priori geltenden Vernunftgesetzes
herleitet: die Achtung; aber da diese Anerkennung seinem
Axiom, daß alle Gefühle pathologisch und sinnlich seien, offenbar widerstreitet,
so sucht er zugleich zu beweisen, daß dieses moralische „Gefühl“
der Achtung im Grunde gar kein Gefühl sei. Es ist eine sehr merkwürdige
Stelle seiner „Kritik der praktischen Vernunft“, wo er diesen
sehr langen und sehr gewundenen Beweis zu führen sucht, der darauf
hinausläuft, daß die Achtung in der That zugleich ein Gefühl und
kein Gefühl sei,
„man dürfe sich nicht wundern, diesen Einfluß
einer bloß intellektuellen Jdee aufs Gefühl für unergründlich zu finden,
und sich damit begnügen zu müssen, daß man a priori doch noch so
viel einsehen könne, ein solches Gefühl sei unzertrennlich mit der Vor= [712]
stellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen
verbunden.“1

Bei diesem Kapitel („Von den Triebfedern der reinen praktischen
Vernunft“) hätte eine ausführliche Bekämpfung der Lehre Kants
von den „Empfindungen“ einzusetzen; sie fände fast in jedem Satze
reichen Stoff. Kant geht von den Sätzen aus: „alle Neigungen zusammen
machen die Selbstsucht (solipsismus) aus. Diese ist entweder
die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen
sich selbst (philautia), oder die des Wohlgefallens an sich selbst
(arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel.2
Aber wer sähe nicht, daß Kant diese „Gefühle“ an sich von vornherein
viel zu niedrig schätzt, da er sie nur von der Seite ihrer Übertreibung
betrachtet und ganz außer acht läßt, daß sie auch in einer
Modifikation nach Grad, Begründung und Art und Weise der Bethätigung
auftreten können, wonach sie nicht allein berechtigt sind,
sondern unbedingt gefordert werden.
Gibt es nicht ein berechtigtes
Wohlgefallen“ des Menschen an sich selbst? und ist
nicht ein solches berechtigtes Wohlgefallen an sich selbst zugleich Voraussetzung
und Resultat gesunder sittlicher Entwickelung, als die begleitende
Empfindung unauflöslich und notwendig mit kräftigem, rechtem Handeln
verbunden? Und ist es mit der „Selbstliebe“ etwa anders beschaffen?
Woher nimmt Kant das Recht von diesen „Gefühlen“ nur in den Ausdrücken
des Tadels, ja der Verachtung zu sprechen, als wären sie
krankhaft und unter allen Umständen auszurotten? Obendrein sind die
Gefühle der „Selbstliebe“ und des „Wohlgefallens an sich selbst“ bei
ihm Kollektivbezeichnungen und umfassen im Grunde alle „subjektiven
Gefühle“, also z. B. auch Hoffnung, Liebe, Vertrauen, Furcht und
Mitleid. Gewiß ist Kant im Recht, sie alle „von dem Beitritt zur
obersten Gesetzgebung auszuschließen“; aber es ist eine ganz falsche
Folgerung
diesen Gefühlen an sich deshalb die Perfektibilität abzusprechen.
Niemand wird das Zutreffende der aristotelischen Beobachtung
verkennen, daß jede dieser Empfindungen denkbar sei und auch
wirklich angetroffen werde in mannigfachen Graden des Übermaßes
und der Unzulänglichkeit, drittens jedoch in einem mitten inne gelegenen
Grade, in welchem ihr das Prädikat der „Richtigkeit“ zukommt, d. h.
sie nach der Stärke, den Gründen und der Art und Weise ihres
Auftretens so beschaffen ist, wie sie beschaffen sein soll. Niemand [713]
wird ferner der überzeugenden Kraft sich verschließen können, mit der
die aristotelische Ethik nach diesen Gesichtspunkten die so vielfach benannten
Empfindungen auf einheitlich geordnete Gruppen zurückführt,
so daß sich auf einen Blick zeigt, wie die gangbaren Bezeichnungen
bald das Übermaß, bald den Mangel, mitunter die rechte Mitte treffen,
während die Sprache andrerseits bald diese bald jene beiden ohne Bezeichnung
läßt.

Kant aber betrachtet das Gefühl so ausschließlich als ein dem
moralischen Gesetz gegnerisches Vermögen, daß er auch bei der Untersuchung
des rein ästhetischen Gebietes sich von dieser Voreingenommenheit
keinen Augenblick frei zu machen vermag. Man kann den Beweis
gegen ihn aus seinen eigenen Worten führen. Jn der „Kritik der
praktischen Vernunft“ heißt es, nachdem der Satz aufgestellt ist, daß von
den Bestimmungsgründen des Willens alles ausgeschlossen werden müsse,
was sich als Objekt des Willens vor dem moralischen Gesetze darbiete,
folgendermaßen:1 „Nun finden wir aber unsere Natur, als sinnlicher
Wesen, so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens
(Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst
aufdringt und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch
seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch
gleich, als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher
und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt
sei. Man kann diesen Hang, sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen
seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens
zu machen, die Selbstliebe nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend
und zum unbedingten praktischen Prinzip macht, Eigendünkel heißen
kann. Nun schließt das moralische Gesetz, welches allein wahrhaftig
(nämlich in aller Absicht) objektiv ist, den Einfluß der Selbstliebe auf
das oberste praktische Prinzip gänzlich aus, und thut dem Eigendünkel,
der die subjektiven Bedingungen des ersteren als Gesetze vorschreibt,
unendlichen Abbruch. Was nun unserem Eigendünkel in unserem eigenen
Urteile Abbruch thut, das demütigt. Also demütigt das moralische
Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den
sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung
als Bestimmungsgrund unseres Willens, uns in unserem
Selbstbewußtsein demütigt, erweckt, sofern als es positiv und Bestimmungsgrund
ist, für sich Achtung. Also ist das moralische Gesetz
auch subjektiv ein Grund der Achtung. Da nun alles, was in der [714]
Selbstliebe angetroffen wird, zur Neigung gehört, alle Neigung aber
auf Gefühlen beruht, mithin was allen Neigungen insgesamt in der
Selbstliebe Abbruch thut, eben dadurch notwendig auf das Gefühl Einfluß
hat, so begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß
daß moralische Gesetz, indem es die Neigungen und den Hang, sie zur
obersten praktischen Bedingung zu machen, d. i. die Selbstliebe, von allem
Beitritt zur obersten Gesetzgebung ausschließt, eine Wirkung aufs Gefühl
ausüben könne,
welche einerseits bloß negativ ist, andrerseits
und zwar in Ansehung des einschränkenden Grundes der rein praktischen
Vernunft positiv ist, und wozu gar keine besondere Art von
Gefühl,
unter dem Namen eines praktischen oder moralischen, als
vor dem moralischen Gesetze vorhergehend und ihm zum Grunde
liegend,
angenommen werden darf.“

Also Kant selbst erkennt ausdrücklich an, daß „das moralische
Gesetz eine positive Wirkung auf das Gefühl ausüben könne
“,
eine „positive“, d. h. eine sowohl freudige als zugleich „in Ansehung
des sie hervorbringenden moralischen Gesetzes“ eine berechtigte. Aber
mag der erzeugende Anlaß sein, welcher er wolle, die Wirkung bleibt
doch immer hervorgebracht in dem Gefühlsvermögen an und
für sich.
Wenn Kant hinzufügt, „es dürfe dazu gar keine besondere
Art von Gefühl
als vor dem moralischen Gesetze vorausgehend
und ihm zu Grunde liegend angenommen werden“, so ist der Satz
ja unbestreitbar, aber er verneint etwas, was gar nicht in Frage
kommt,
und wird zugleich von Kant als Argument für eine Behauptung
angesehen, für welche er nicht das mindeste beweist.

Freilich kann das Gefühl der Freude an dem Gesetz, der
ehrfürchtigen Achtung desselben, nicht dem Gesetze vorausgehen,
da es ja erst durch dasselbe hervorgebracht wird; noch weniger kann
es als ihm „zu Grunde liegend“ gedacht werden, da es die die
Vorstellung des moralischen Gesetzes begleitende, demselben
entsprechende, demgemäß also richtige Bewegung des Gefühlsvermögens
selbst ist.
Es ist und bleibt eine selbständige
Äußerung dieses abgesonderten Vermögens, ein durch die Vorstellung
der reinen praktischen Vernunft, also wahrheitsgemäß, bestimmtes
Pathos; die erregende Ursache gehört dem Vernunftvermögen an, der
Vorgang ist ein ästhetischer und tritt in Übereinstimmung mit der erregenden
Ursache im Gefolge oder auch schon in Begleitung derselben
allemal unmittelbar ein, gleichviel ob der Anlaß im Handeln des wirklichen
Lebens gegeben wird, oder ob durch die Nachahmung desselben
im Spiel die Vorstellung desselben erweckt wird.

[715]

Jn diesem ganzen Kapitel herrscht bei Kant ein durchgehender
Mangel an Klarheit; im Grunde wird er dabei seinem eigenen Prinzip
ungetreu. Das „Gefühl“ der Achtung ─ welches dann freilich wieder
kein „Gefühl“ sein soll ─ erkennt er als Triebfeder des
moralischen Handelns an.
Das konnte nur geschehen, weil er es
nicht unternahm, die intime Verbindung, welche zwei ihrer Natur
nach durchaus getrennte Vermögen bei dem Auftreten der „Achtung
eingehen, kritisch zu scheiden. Das Vermögen der reinen und der
praktischen Vernunft trifft seine Entscheidung: das Resultat derselben,
die Überzeugung, thut in demselben Augenblicke sich dem Gesamtvermögen
der Seele, dem „Gemüte“, kund: die Folge davon ist, daß
mit der Überzeugung sich als unzertrennliche Begleitung die entsprechende
Bewegung des Gefühls verbindet. Nach der Konsequenz
von Kants System sollte nun jene Überzeugung ganz allein die
Triebfeder des Handelns sein: aber ─ ein schönes Zeugnis für den
„fühlenden“ Menschen Kant gegen den systematischen Philosophen ─
die Wahrheit ist stärker als die Einseitigkeit des formalen Rigorismus,
das Feuer der eigenen „Empfindung“, das in diesem ganzen Abschnitt
so herrlich bei ihm hervortritt, überwältigt ihn und zwingt ihm das
Anerkenntnis ab, daß das solchergestalt bestimmte „Gefühl“ einer der
mächtigsten Antriebe des moralischen Handelns sei, „dessen Stimme auch
den kühnsten Frevler zittern macht und ihn nötigt, sich vor dem Anblick
des Gesetzes zu verbergen.“1

Es würde schwierig sein die bei Kant fehlende kritische Scheidung
auf diesem Gebiete vorzunehmen, wenn nicht die Psychologie und Ethik
des Aristoteles den Weg dazu klar vorgezeichnet hätte. Seine Lehre
läßt sich in wenige Sätze zusammengefaßt darlegen.

Wie der Logos niemals sein Geschäft vollziehen und seine Kraft
entwickeln könnte, ohne daß die Ästhesis, die sinnliche Wahrnehmung,
ihm Vorstellungen zuführte, welche die „Phantasia“ für ihn sammelt und
aufbewahrt, wie er ohne dieselbe eine leere Form bleiben und nie in
Thätigkeit gesetzt werden würde, so wäre der Nous (die praktische
Vernunft) ohne die Empfindungsvorgänge in der Seele niemals imstande
seine Aufgabe, den Willen zu bestimmen, zu vollziehen; in einer gänzlich
empfindungslosenapathischen ─ Seele, wenn eine solche gedacht
werden könnte, müßte er für immer unentwickelt bleiben. Einer
jeden Einwirkung von außen her, sei es durch einen Gegenstand, sei es
durch einen Vorgang, entspricht eine Veränderung in der empfindenden [716]
Seele, ein Pathema derselben. Wie diese Pathemata nun auch sonst
beschaffen sein mögen, so scheiden sie sich in zwei Gattungen, sie sind
entweder wohlgefällig oder mißfällig, von Lust oder Unlust begleitet;
sie bestimmen daher das Begehrungsvermögen, entweder positiv oder
negativ, zur δίωξις oder φυγή, zum Streben nach einem Ziel oder zur
Abwendung davon. Diese Pathemata sind an sich dem vernunftlosen
Teil (ἄλογον μορίον) der Seele zugehörig; sie sind verstand=
und vernunftlos, d. h. ohne Anteil an jenen beiden Vermögen,
nicht ihnen widersprechend. Natürlich haben nicht allein die wirklichen
Dinge und Vorgänge, sondern auch ihre Abbilder in der Phantasie
die Kraft, Pathemata (Empfindungen) hervorzurufen und durch sie
also auch das Begehrungsvermögen in Thätigkeit zu setzen. Mit dem
Spiel dieser Kräfte beginnt das Leben der Seele und mit demselben
gelangt sie zuerst zur Entfaltung, Sofort aber beginnen alle diese Bewegungen
und Reizungen nun ihren Einfluß zu üben auf die beiden
Vermögen der Seele, die Aristoteles in völliger Übereinstimmung mit
Kant als von Anbeginn in ihr vorhanden und als die Gewähr ihres
göttlichen Ursprungs betrachtet: auf den Logos und auf den Nous.
Jndem der Logos jenem Spiel zuschaut, vergleicht er nach den ihm
eingeborenen Wahrheitsgesetzen die Bilder der Dinge und erkennt ihr
Wesen als entweder der Wahrheit gemäß oder ihr widersprechend, als
richtig oder falsch. Ebenso beobachtet er die Pathemata oder die ihnen
folgenden Begehrungsbestimmungen und bejaht sie als richtig und verneint
sie als falsch: stellt sich also mit seinem Einfluß dem Begehren
entgegen oder verstärkt es durch sein Gewicht.

Dieser letztere Fall ist es eben, den Kant außer acht läßt. Es
ist aber nach seinem eigenen System unwidersprechlich, daß, sofern das
„Gefühl“ nach dem Grunde seiner Entstehung und nach der Art und
Weise seines Auftretens die Zustimmung des Logos erhält, es nun, ob
zwar immer nach seiner Natur noch subjektiv und an sich ohne das
Recht
a priori Geltung zu beanspruchen, durch die Sanktion eines
a priori entscheidenden Vermögens als objektiv richtig angesehen und
demgemäß nach sicheren Kennzeichen in seiner Beschaffenheit objektiv
festgestellt
werden kann. Derselbe Schluß ergibt aber, daß ein
solcherweise durch den Logos als berechtigt anerkanntes Gefühl nicht
allein ein an sich wohlgefälliges sein, sondern daß die dasselbe begleitende
Freude eine berechtigte sein müsse, und daß diese Berechtigung,
um mit Kant zu reden, a priori erkannt werden könne.

Dasselbe Schlußverfahren findet seine Anwendung auf das Verhältnis
zwischen den „Gefühlen“ und dem Nous, dem praktischen [717]
Vernunftvermögen. Doch ist der Kampf zwischen dem Empfindungsbegehren
und der Vernunftentscheidung ein viel heißerer; denn das der
Vernunft eingeborene Gesetz tritt in sehr vielen Fällen zu der vernunftlosen
Empfindung in schroffen Gegensatz. Aber dieser Kampf ist keineswegs
ein solcher, der nicht anders als mit der „Demütigung“ und
Vernichtung der streitenden Empfindung endigen könnte; dieselbe
kann vielmehr sich dem Gebote der Vernunft unterwerfen, ihm willig
zustimmen, „wie ein Kind auf die Stimme des Vaters hörend und ihr
gehorsamend“. So kann das „Gefühl“ dazu gelangen, ebenso wie
das Verstandesgesetz auch das Vernunftgebot in sich aufzunehmen,
indem es sich gewöhnt, nachdem es in vielen Fällen
der Vernunft gehorsam, das rechte Maß in sich selbst erfahren
hat, nun unmittelbar und von selbst dieses rechte
Maß zu treffen, sich selbstthätig richtig zu bewegen.

Aristoteles bezeichnet ein solches zur Gewöhnung gewordenes Verhalten
mit dem Namen des richtigen „Ethos“. Ein solches Ethos
darf freilich die Bestimmung über das Handeln nicht an sich reißen,
die immer nur dem durch die Vernunft erkannten Gesetze gebührt, aber
ebensowenig darf eine Handlung im vollen Umfange eine „sittliche
genannt werden, bei der nicht zu dem Gebot der Vernunft der Antrieb
des Ethos mitgewirkt hat. Bekanntlich läuft hierauf die Polemik
Schillers gegen Kant hinaus. Kant selbst hat sich offenbar dadurch
täuschen lassen, daß ein solches Ethos seinerseits darauf beruht, daß
durch die in ihm siegend gewordene richtige Empfindungsweise zuvor
andere, individuell=egoistische, Gefühle beschränkt, beziehungsweise
unterdrückt wurden,
sei es, daß dieser Prozeß
schon früher vollendet war oder daß er bei dem Handlungsakte selbst
sich wiederholen mußte.

Das Wesentliche aber ist: Kant hat darin unrecht, daß er die
Möglichkeit eines an sich selbst objektiv richtig bestimmten
Gefühls,
d. h. eines solchen, das aus eigener Bewegung, ohne
die ad hoc zuvor eintretende Bestimmung durch Verstandes- oder Vernunftreflexion
mit den a priori geltenden Gesetzen beider Vermögen in
Übereinstimmung sich befindet, leugnet.

Jm Grunde beruht seine eigene Behauptung auf der Annahme
dieser Möglichkeit, nur daß er durch eine unrichtige Fragestellung an der
Anerkennung jener Möglichkeit verhindert wird. Kant fragt immer nur,
ob es möglich sei, daß von Anbeginn im Subjekt ein Gefühl dem
sittlichen Handeln vorhergehen könne, das auf Moralität gestimmt
sei, und antwortet: „dies ist unmöglich, weil alles Gefühl sinnlich ist; [718]
die Triebfeder der sittlichen Gesinnung muß von aller sinnlichen Bedingung
frei sein. Vielmehr ist das sinnliche Gefühl, das allen unsern
Neigungen zum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigen
Empfindung, die wir Achtung nennen,
aber die Ursache der
Bestimmung
desselben liegt in der reinen praktischen Vernunft,
und diese Empfindung kann daher, ihres Ursprungs wegen, nicht
pathologisch, sondern muß praktisch gewirkt heißen.
1 Wer
wollte das leugnen, Aristoteles gewiß am allerwenigsten!

Aber die Frage ist eine ganz andere, ob, nachdem die Bestimmung
des Gefühls durch die praktische Vernunft einmal
stattgefunden hat,
das so modifizierte Gefühlsvermögen nun nicht
imstande sein soll, sich als solches fernerhin selbständig zu bethätigen?
Die kritische Scheidung der Seelenvermögen kann doch nur
in abstracto vorgenommen werden; in Wirklichkeit sind sie im „Gemüt“
aufs innigste vereinigt, und wie die Vernunft überhaupt
nicht in Thätigkeit und zur Entwickelung gelangen könnte, außer indem
die Gefühle und Neigungen den Anlaß dazu geben, so kann nun die
solchergestalt vor sich gehende Entwickelung des Vernunftvermögens nicht
stattfinden, ohne daß rückwirkend in der Art und Weise der Gefühle,
sich zu bethätigen, eine große Veränderung geschehe: daß das im Beginn
vernunftlose“ Gefühlsvermögen zu einer mehr oder minder
vollständigen Übereinstimmung
mit den Gesetzen des Verstandes
oder der Vernunft erzogen und an sich selbst gewöhnt werde. Die Erfahrung
aber verlangt, daß hier noch mehr zugegeben werden muß, als
auf irgend eine Weise bewiesen werden könnte! Alle Naturanlage der
menschlichen Seele ist nach der Art ihrer Entstehung ein undurchdringliches
Geheimnis: nun ist es aber eine erfahrungsmäßig unbestrittene
Thatsache, daß die Anlage (δύναμις) des Gefühlsvermögens bei den
Menschen in Bezug auf Zahl, Art und Grad der Gefühle, zu denen sie
„von Natur geneigt“ sind, eine sehr verschiedene ist; daß es, um alle
übrigen zu übergehen, einige Menschen gibt, in denen von Natur eine
fast allseitige Anlage vorhanden ist, die gesamte Zahl der verschiedenartigen
Gattungen der Gefühle in sich zu bethätigen, und zwar so, daß
die Natur selbst in sie die Neigung gelegt hat, dieselben in einer Weise
zu bethätigen, die den Forderungen des Verstandes und der Vernunft
auf mehr als halbem Wege entgegenkommt, ja in seltenen Fällen
irrige Forderungen derselben mit unwiderstehlicher Autorität
zu berichtigen.

[719]

Genies und Propheten pflegen wir so begabte Menschen
zu nennen; bei beiden sind wir uns freilich bewußt, daß die noch so
große Naturanlage der Gefühlsbegabung in ihnen doch für sich allein
niemals gesetzgebend werden darf, ohne die Gefahr schwerer Verirrung,
sondern daß gerade sie des innigsten Verkehrs mit dem theoretischen und
praktischen Vermögen und der festen Leitung durch sie am dringendsten
bedarf. Hier böte die Erfahrung aber in der That dasjenige dar,
was Kant für unmöglich erklärt: „ein im Subjekt der Erkenntnis
des Gesetzes vorhergehendes Gefühl, das auf Moralität gestimmt
wäre“.

Unzweifelhaft ist nach alledem das, was Kant unter „Achtung
versteht, ein Pathos zu nennen; wie er auch selbst sie als eine „Wirkung
auf das Gefühl sinnlicher, endlicher
Wesen“ bezeichnet
und mit Recht hervorhebt, daß sie einem höchsten, von aller Sinnlichkeit
freien Wesen nicht beigelegt werden könnte. Ein Pathos also
wäre die Achtung im einzelnen Falle ihrer Bethätigung; als ständig
wirksame Gesinnungsweise wäre sie ein Ethos: immer aber ist sie eine
Gefühlsbethätigung, deren Gegenstand das Gesetz selbst ist
oder aber die sinnliche Wahrnehmung, sei es einer Erscheinung,
sei es eines Vorganges, die objektiv den Forderungen
des Gesetzes entsprechen.
Jm ersteren Falle müßte ihr Reflexion
vorausgehen
und sie wäre ein durch moralische Erkenntnis bedingtes
Gefühl, im zweiten Falle aber wäre sie eine rein
ästhetische Empfindung.

Wenn Kant also von der Achtung (S. 206) sagt,sie sei
nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie sei die Sittlichkeit
selbst,
so hat er im Grunde das selbst behauptet,
was Schillers ästhetisch=moralische Philosophie ihm entgegenstellte.

Ja, er spricht das sogar direkt aus, wenn er (S. 208)
die „Gefühle“ der „Achtung“ und „Ehrfurcht“ vor der Pflicht fordert
und (S. 211) weiter verlangt, daß wir die „Liebe zum Gesetz zum
beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele unserer Bestrebungen machen.
Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch scheuen, verwandelt
sich, durch die mehrere Leichtigkeit, ihm Genüge zu thun, die
ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe,
wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetz gewidmeten Gesinnung
sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre, sie zu
erreichen.“

Damit ist von Kant die Perfektibilität der Gefühle zugestanden,
die Möglichkeit, daß im einzelnen Falle das Gefühl [720]
an sich mit dem übereinstimme, was das a priori geltende Gesetz
fordert, wenn auch es dem Menschen unmöglich ist, in sich eine Gefühlsweise
herzustellen, von der solche Übereinstimmung in allen Fällen
und mit Sicherheit zu erwarten wäre.

Daraus ergibt sich aber, daß seine Sätze von der unbedingt
pathologischen“ Natur der „Gefühle“ falsch sind und daß der
Satz, welcher die Befreiung der Seele von den Gefühlen, die Apathie,
daher für den wünschenswertesten Zustand erklärt, ebenso falsch ist.
Das sind aber Jrrtümer Kants, die nur formalen Fehlern seines
dialektischen Verfahrens entspringen; es zeigt sich, wie es bei diesem
gewaltigen Denker nicht anders seine konnte, daß seine wahre Meinung
vielmehr doch auf der Seite der aristotelischen Doktrin zu finden ist:
daß der beste Zustand der Seele nicht der sei, in dem sie am
wenigsten empfindet, sondern der, in welchem sie von den
qualitativ mächtigsten,
d. h. von den richtig bestimmten
Gefühlen bewegt wird.

Dies aber ist der Satz, der für die Kritik derästhetischen
Urteilskraft
die Grundlage bilden muß.

Durch die Anwendung dieses Satzes sind die Unklarheiten und
Widersprüche in Kants System der Ästhetik mit einem Schlage zu beseitigen.


Es wird hier nur erforderlich sein, die Hauptsätze in Kürze zusammenzustellen,
deren näherer Ausführung das vorstehende Buch gewidmet
ist.

Das „richtig bestimmte Gefühl“ ist von der richtigen, also
berechtigten, Freude begleitet, die eben darum auch a priori als
allgemein gültig, verbindlich für alle zu betrachten ist.

Das mit der Bewegung des richtigen Gefühls verbundene Eintreten
der rechten Freude, als der „Vollendung der ästhetischen Energie“
(τελείωσις τῆς ἐνεργείας), ist die Thatsache, deren Vorhandensein
in dem ästhetischen Urteil
ausgesprochen wird; welches subjektiv
lautet: „das dieses freudige Gefühl erregende Ding
erscheint schön
“, und objektiv:dieses Ding ist schön“.

Die subjektive Gewähr der Richtigkeit des Urteils liegt
lediglich in der Qualität der das Urteil veranlassenden Freude, die,
ein qualitatives Maximum (ἀκρότατον), als solches sich durch
ihr bloßes Erscheinen im Gemüt legitimiert.

Kants Behauptung, das Schöne beruhe auf einem Vorgange
im beurteilenden Subjekt,
ist also insofern richtig, als das ästhetische
Urteil, dieses Ding erscheint schön, allerdings nur die Konsta= [721]
tierung eines subjektiven Vorganges ist, eben der Erscheinung der das
richtig bestimmte Gefühl begleitenden qualitativ höchsten Freude.

Dieser rein subjektive Vorgang ist aber unauflöslich an
die rein objektive Beschaffenheit der ihn hervorbringenden
Erscheinung gebunden.
Nach dem Sprachgebrauch kommt das
Prädikat der Schönheit gerade der objektiven Beschaffenheit der
Dinge oder Handlungen zu, welche vermögend sind, jenen subjektiven
Vorgang hervorzubringen.

Damit er zustande komme, ist erforderlich, daß die Ästhesis,
die Auffassungskraft durch die Sinne (die Kant die Einbildungskraft
nennt), die vorzüglichste sei und an dem am vorzüglichsten für
die Erregung des richtig bestimmten Gefühls geeigneten
Gegenstande ausgeübt werde.

Zwischen beiden besteht aber ein Verhältnis der Wechselwirkung.
Freilich werden die Empfindungsvorgänge zuerst durch das allein erregt,
was die Ästhesis der Seele von den Erscheinungen und Vorgängen vermittelt.
Nun aber existieren sie als selbständige Bewegungen und erhalten
durch den Verkehr mit dem Logos und dem Nous, der unausgesetzt
ihnen offen steht, eine ganz veränderte Natur, ohne daß sie doch
ihre ursprüngliche und engste Verbindung mit der Ästhesis jemals aufzugeben
imstande wären. Aber statt daß sie früher der Ästhesis unterthan
waren und sich nicht zu bewegen vermochten, außer auf deren
Veranlassung, nehmen sie umgekehrt diese jetzt in ihren Dienst und weisen
sie an, setzen sie auch in den Stand dazu, dasjenige an den Dingen und
Vorgängen aufzufinden und zusammenzufassen, was ihrem eigenen höheren
Bedürfnis entspricht, ja sie vermögen zuletzt der die „Ästheseis“ (Wahrnehmungen)
festhaltenden Einbildungskraft den Auftrag zu geben, Dinge
und Vorgänge so hervorzubringen, wie dieselben von ihnen verlangt
werden. Der in seinem Empfinden veredelte Mensch sieht die Dinge und
Vorgänge anders, er weiß mehr darin zu entdecken, sie in anderer Weise
zu verbinden, als er zuvor es vermochte; wir fassen die Ursache in die
Bezeichnung der Wirkung zusammen und nennen ihn „ästhetisch gebildet“.
Der ästhetisch Höchstgebildete vermag aus der wirklichen
Welt eine zweite zu schaffen, die seinem veredelten
Empfinden entspricht: er ist der Künstler, der das Schöne
bildet.

Hier wäre also die, von Kant geforderte, aber nicht erwiesene,
Zusammenstimmung der Einbildungskraft mit den

a priori geltenden Prinzipien des Verstandes und der Vernunft,
ohne daß Begriffe dabei ins Spiel kämen.

[722]

Der Ausdruck derselben wäre das ästhetische Urteil, einfach
gegeben in der vollendeten, d. h. denkbar richtigsten und höchsten
Energie der Ästhesis gegenüber der am vorzüglichsten für
sie geeigneten Erscheinung.

Daher hat Kant unrecht, zu behaupten, daß eine objektive
Bestimmung des Schönen unmöglich sei.
Es gibt auch eine
objektive Gewähr der Richtigkeit des ästhetischen Urteils, daß ein
Ding schön sei, also allen so erscheinen müsse.
Sie liegt
in der Feststellung der Beschaffenheit, die ein Ding oder Vorgang
haben muß, damit sie geeignet seien, der Ästhesis den vorzüglichsten
Anlaß zur Entfaltung ihrer höchsten Energie
zu gewähren.

Diese Beschaffenheit läßt sich zu einem Teile mit vollster
Bestimmtheit feststellen,
zum andern freilich nur aus der
Erfahrung bestimmen:
die Grenze zwischen diesen beiden Teilen
ist bei den verschiedenen Künsten, je nach den Mitteln und
der Art und Weise ihrer Nachahmung eine verschiedene

und nur aus der Untersuchung ihrer Technik kennen zu lernen.

Da die Gegenstände der Nachahmung immer dieselben
sind, Empfindungen, Gesinnungen, Handlungen, so wird
nach dieser Richtung auch immer eine fest bestimmte objektive
Kritik des Schönen durch die Vermögen des Verstandes und
der Vernunft nach ihren
a priori geltenden Gesetzen geübt
werden können.

Jn der Poesie, deren Nachahmungsmittel das Wort ist, wird
die Grenze dieser Kritik daher am weitesten vorgerückt sein.
Schwerer
sind die Nachahmungsmittel der Töne in ihrer harmonischen
und melodischen Anordnung, und der Rhythmen einer solchen
Kritik zu unterwerfen; doch sind auch hier bestimmte Gesetze erkennbar,
nach denen allgemeingültige Wirkungen dieser Art von Nachahmung sich
bestimmen lassen. Die griechische Musik besaß hierfür ein System fest
ausgebildeter Vorschriften. Dem Fortschreiten der ästhetischen Theorie
der modernen Musik ist nach dieser Seite hin noch ein weites Feld
offen. Noch weiter weicht die Grenze in dem Reiche der Formen
zurück, weil Formen und Farben nicht Nachahmungen psychischer
Bewegungen selbst,
sondern im günstigsten Falle nur die Zeichen
derselben sein können, in andern nur durch Analogie und
Supposition als solche betrachtet werden.

Es ist ein radikaler Fehler der Methode, die Kant in seiner Kritik
der Urteilskraft anwendet, durch den sich viele Jrrtümer derselben er= [723]
klären, daß er gerade in diesem ungünstigsten Falle, wo nur durch Analogie
und Supposition der unbelebten Form das Prädikat der Schönheit
erteilt wird, das eigentliche Urphänomen des Schönen anzutreffen
meint und die Beobachtungen, die er dort anstellt, nun auf das ganze
Gebiet der eigentlichen Schönheit ausdehnen zu müssen glaubt, deren
Nachahmungsmittel eine ganz andere Art der Untersuchung verstatten.

Für den Zweck dieses Anhanges ist es nicht erforderlich, das hiermit
Angedeutete weiter auszuführen, doch wird es genügen, um die
Wahrheit des Goetheschen Wortes zu erweisen:1

„Kant hat uns aufmerksam gemacht, daß es eine Kritik der Vernunft
gebe, daß dieses höchste Vermögen, was der Mensch besitzt, Ursache
habe, ‚über sich selbst zu wachen‘. Wie großen Vorteil uns diese
Stimme gebracht, möge jeder an sich selbst geprüft haben. Jch aber
möchte in eben diesem Sinne die Aufgabe stellen, daß eine Kritik der
Sinne nötig sei, wenn die Kunst überhaupt, besonders die deutsche,
irgend wieder sich erholen und in einem erfreulichen Lebensschritt vorwärts
gehen solle.“

[E724]

Appendix B Register. ──────


A.


Agricola, Johann, von Eisleben 323.


Alberus, Erasmus 171. 321.


Alkman, Fragm. 60. S. 24 f.


Allegorie: Berechtigung, Gesetze 91 ff.
188 ff.; Definition 95; Goethe über die
A. 192 ff.; Lessings Definition 91. 187.
188; Quintilians Definition 91. 187 f.;
A. im Epigramm 129 ff.; in Goethes
reflektierenden Gedichten 91. 95 ff. 190;
in der humoristisch=satirischen Poesie 113;
in Lessings Fabeln 174 ff.; Verhältnis
zur Fabel 176, zur Parabel 190 ff., zur
poetischen Symbolik 193 f 197.


Anagnorisis (Erkennung) 277. 364 f.
395. 465 f. 508 f.


Anakreontik 198.


Anaximander 564 Anm.


Anekdote 233.


Anthologie, palatinische, Epigramme
aus derselben 122 ff. 127. 133 f. 134 ff.


Architektur 60 ff.


Ariost 311.


Aristophanes, Komödien 420 f. 679.
689. 690 ff.; die Vögel 198; die Wolken
198; die Wespen 198.


Aristoteles: Anagnorisis und Peripetie
277; Anfänge des Kunsttriebes 32;
Dianoia 278; δυνάμεις τῶν παθῶν 42.
ἔκστασις 533 ff.; Emphasis 684 f.; Energieenlehre
79. 149 f. Anm. 332 f. Anm.;
Enthusiasmus, kathartische Heilung desselben
42 Anm. 433. 440 f. 523 ff.;
epische Handlung: Einheit, Ganzheit,
Vollständigkeit derselben 212 f. 278 f.;
Ethos in derselben 277 f.; ernstes und
komisches Epos 222. 227 f.; Ethos 57 ff.;
Furcht 457; Furcht und Mitleid 274 f.
453 ff.; Harmonie 668; Hedone 7 f. 79.
149 f. Anm. 243. 332 f. Anm. 444.
468 ff. 516. 517. 554 f. 664. 670 ff.
720 f.; Jlias und Odyssee 260. 275
Anm. 277; κατὰ πάθος ζῆν 144. 217;
Katharsis 274 f. 432 ff. 523 ff. 661 ff.;
komische Poesie 222. 227 f.; Komödie 556;
Kunst 57. 332 f. Anm. 470 ff. 539 ff.;
Kunstbetrachtung des Aristoteles 23 ff.
545; Lachen, Lächerliches 672 ff. 686;
λύπη καὶ ταραχή 468; Melos 668;
μιαρόν 467; Mimesis 6 ff. 39 f. 57.
661. 681 f.; Mitleid 457; Mitleid und
Furcht 274 f. 453 ff.; ὄψις 691 Anm.;
Pathos 144 ff. 710 f. 715 ff.; Pathos
und Pathema 276. 444 ff. 670; Philanthropia
456; Phronesis 359 f.; Phthartikon
220; Poesie und Geschichte 205;
ποιεῖν 689; πρᾶξις 144 ff.; μέγεθος τῆς
πράξεως 269. 315. 459. 478 f. 493 ff.
667 f.; Schönes 240 332 f. Anm. 543 f.
720 f.; συμβεβηκὸς καθ' αὑτό 181;
Tragödie: Definition 423 ff. 662 ff.;
Handlung der Tragödie 278; Personen
der Tragödie 342; vollkommenste Tra= [725]
gödie 357 f. 582 Anm. 599. ─ Aristotelische
Fragmente von der Komödie 660 ff.


Äschylus 210. 493; Agamemnon 612;
die Choephoren 479. 609. 610. 611.
612 ff. 623 f. 643. 645; die Eumeniden
366. 565. 609. 610. 611. 621 ff.; die
Schutzflehenden 578; die Sieben vor
Theben 596 Anm.; Prometheus 558 ff.


Äsop, Fabeln, 171; Auffassung im
achtzehnten Jahrhundert 225 f.; Grimm
über dieselben 172; Herder über dieselben
161; Lessings Erneuerung derselben 172.
223; von Lessing citierte 162 ff. 167.


Aisthesis 21. 78. 149 ff. 218. 258.
715. 721.


Ästhetisches Urteil 151 f. 182. 200.
218. 226. 231. 238 ff. 674. 701 ff.


Ästhetisches Vergnügen s. Hedone.


B.


Ballade 49 ff.; Definition 64; episches
und lyrisch=ethisches Element 49 ff. 63 ff.
Verhältnis zur Romanze 71 ff.; Balladen
Bürgers 52 ff., Goethes 50 f.
64 Anm. 66 f. 68, Schillers 51. 64
Anm. 66. 68 ff., Volksballaden 51 ff.
63 f.


Batteux, Definition des Epigramms
117 f., der Handlung 162.


Baumbach 315.


Baumgart „Aristoteles, Lessing und
Goethe“ 149 f. Anm. 333 Anm. 433 f.
Anm. 453 Anm. 525 Anm. 526 Anm.;
„Der Begriff der tragischen Katharsis“
433 f. Anm. 440 Anm. 506 Anm. 537
Anm.; „Die Hamlettragödie und ihre
Kritik“ 654 Anm.; „Goethes Märchen“
95 Anm. 197 Anm.; .„Pathos und Pathema
im aristotelischen Sprachgebrauch“
276 Anm. 445 ff. Anm; „Über Kants
Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ 470
Anm. 701 ff.


Baumgarten Ästhetika 2. 218. 516.


BegriffJdee 194 ff.


Bergk, Fragmente über die Komödie (Prolegg.
zu Aristophanes) 684 Anm. 695.


Bernays, Jakob, über die aristotelischen
Fragmente von der Komödie 660 ff.; über
die aristotelische Theorie der Tragödie
und Lessings Erklärung derselben („Ergänzung
zu Aristoteles' Poetik,“ „Grundzüge
der verlorenen Abhandlung des
Aristoteles über die Wirkung der Tragödie“)
424. 433 ff. 452. 468. 505 f.
513. 514 ff. 661 ff.


Blümner, Kommentar zu Lessings Laokoon
3. 6 f. 12. 15. 16. 17.


Boccaccio, Dekameron 324; Erzählung
von Melchisedek und Saladin 184 f.
404.


Boileau, Allegorieen desselben 95 Anm.;
Lutrin 328.


Boner 171.


Bonitz, Jndex zu Aristoteles 671; „Pathos
und Pathema im aristotelischen
Sprachgebrauch“ 445 Anm.


Born, Bertran de, 72.


Börne 235.


Brinkmeier, „Die provençalischen Troubadours“
72 Anm.


Brockes 26. 85.


Bürger, Balladen 52 ff.: Das Lied von
der Treue 53; Der wilde Jäger 52 f.;
Des Pfarrers Tochter zu Taubenhain
53; Entführung 53; Graf Walter 52;
Lenore 53 ff. ─ poetische Erzählungen
227: Das Lied vom braven Mann 266;
komisch=poetische Erzählungen 102. 319:
Der Kaiser und der Abt 319; Vogel
Urselbst 102.


Buttler, Hudibras 328.


Byron 102; Harold 44 f.


C.


Cervantes 310.


Chamisso, Kreuzschau 183. 191.


Chaucer, Canterbury-Tales 82. 324 ff.


Chor 65 Anm. 459. 498. 542. 658;
Schiller, über den Gebrauch des Chors
in der Tragödie 593 ff.


Cid 75; s. Herder.


Corneille 425.


Cramer, Fragmente von der Komödie
660 ff.

[726]

D.


Dante 198.


Denkthätigkeit s. Dianoia.


Dianoia 77 ff. 200 ff. 216. 278. 395 f.


Didaktische Poesie 77.


Diderot, Dramatisches System (discours
de la poésie dramatique
) 407. 413 ff.;
Fils naturel 413. 418; Père de famille
413. 418.


Dietz, „Leben und Werke der Troubadours“
72 Anm.


Dilthey „Über Gotth. Ephr. Lessing“ 4 f.


Döring, Kunstlehre des Aristoteles 460.
515 Anm.


Drama ahmt Handlung nach 63. 203 ff.
330; Einheit und Vollständigkeit der
dramatischen Handlung 203 ff. 331 ff.;
gute Handlungen mit glücklichem Ausgang
in demselben 337 ff. 346 ff.;
schlechte mit glücklichem Ausgang ausgeschlossen
334 ff.; „historische“ Dramen
400 ff. 422; „Jdee“ im Drama 366 ff;
D. verglichen mit dem Epos 329 ff.
341 ff.


Dramatisches Gedicht 347.


Dubos, Réflexions critiques sur la
Poésie et la Peinture
515 ff. 552 f.


E.


Ekstasis, aristotelischer Begriff 533 ff.


Elegie, griechische, 80.


Empfindung s. Pathos.


Emphasis 679 ff. 690.


Energieen, aristotelische Lehre 79. 149 f.
Anm 332 f. Anm. 469.


Enthusiasmus, kathartische Heilung 42
Anm. 433. 440 f. 523 ff.


Epigramm 115 ff.: Aufgabe 118 ff.;
Batteuxsche Definition 117 f.; Gattungen
127; Herders Theorie 121 ff.
141. 143; hyperbolisches E. 132 ff.;
Lessings Theorie 115 ff. 132 ff. 141 ff.;
Pseudo=E. 139 ff.; technisches Verfahren:
abstrakte, konkrete Darstellung
127 ff.; allegorische 129 ff.; Verhältnis
zur Fabel 141 ff.; Epigramme aus der
griechischen Anthologie 122 ff. 133 ff.,
Goethes 128 f. 130. 131, Herders 119 ff.
131 f., Logaus 136. 138 f., Martials
132 f. 136 f., Schillers 128. 129. 130.
131.


Epos: ahmt Handlung nach 152. 161.
203 ff. 257 f.; aristotelisches Kompositionsgesetz
212 f.; Arten, Beschaffenheit
der darzustellenden Handlung 75. 258 ff.
266 ff.; Einheit derselben 205. 211 ff.;
ausgeschlossen Verstandesreflexion, moralische
Erwägung 261 ff.; Epos verglichen
mit dem Drama 329 ff. 341 ff., mit
der Ballade und Romanze 74 ff., der
Parabel 181 f.; Wesen des E. 205 ff.;
Wunder im E. 213 ff. ─ Heroischtragisches
270 ff.: Gegenstand der
Nachahmung 270 ff.; Einheit, Ganzheit,
Vollständigkeit der Darstellung 212.
277 ff.; Äneis 280 f.; Nibelungenlied
292 ff.; romantisches Epos 281 ff. ─
Komisches 221 ff. 310 ff. 328 f.; Aristoteles
über dasselbe 222. 227 f.; Definition
314 f. 659. ─ Tierepos (Reineke
Fuchs) 171. 313 f. 315. 336. 421. ─
Volksepos 205 ff 212.


Erkennung s. Anagnorisis.


Ethos 21 ff. 57 ff. 146 ff.; in der Ballade
63 ff. 71; im Drama 341; im Epigramm
115. 118 ff. 137 ff; im Epos 200. 203 f.
257 ff. 266 ff. 277 f.; im Schauspiel
395 f.; in der komischen Poesie 228 f.;
in der Lyrik 23 ff.; in der satirisch=humoristischen
Poesie 103 ff.; in der Tierfabel
203. 216 ff.; Reflexionsethos 79 ff.;
allegorische Darstellung desselben 93 ff.;
romantisches E. 71 ff. 281; „ethische“
Handlungen 259 ff. 276 f.


Eulenspiegel 221.


Euripides 478; Alcestis 268; Chrysippus
596 Anm.; Elektra 609. 610. 611.
643 ff.; Phönissen 596 Anm.


F.


Fabel: Anwendung der Tiere in derselben
170. 216 f.; äsopische 161. 167. 171.
172. 223. 225 f.; Entwickelung der F.
170 ff. 215 f.; epischer Natur 156 ff.;
Gellerts F. 223; Grimm über die F. [727]
156 ff. 172. 179 f. 216; Handlung der
F. 204. 205. 217 ff.; Herder über die
F. 141. 143. 156. 161 f.; Lafontaines F.
172; Lehrhaftigkeit der F. 160. 163. 166;
Lächerliches und Wohlgefälliges in der F.
217 ff. 225 ff.; Lessings F. 167 f. 172 ff.
223; Lessings Theorie der F. 101. 141 ff.
154 f. 162 ff. 172 f. 180. 218. 225;
Phädrus' F. 164 f. 172; F. verglichen
mit der Allegorie 176, mit dem Epigramm
141 ff., mit der Parabel 179 ff.


Fabliaux 323 ff.


Finkenritter 221.


Fischart 320 f.


Fischer, Kuno, über Lessings Emilia
Galotti (Lessing als Reformator der
deutschen Litteratur) 486. 492.


Frank, Sebastian, 323.


Freidank, Bescheidenheit 139.


Freude s. Hedone.


Furcht: aristotelische Definition 454;
tragische F. (und Mitleid) 274 f. 453 ff.
497 ff. 536 ff. 662 ff.; verglichen
mit dem Lächerlichen und Wohlgefälligen
108. 220 f. 243 ff. 659 f.


G.


Gellert, Lustspiele 248 f. 409; Parabeln:
Die beiden Wächter 183, Die Reise 183;
poetische Erzählungen 223. 227 (ernste):
224 f. 257 (Amynth 257, Calliste 224,
Das neue Ehepaar 225, Der arme Greis
257, Der Jnformator 224, Herodes und
Herodias 225, Monime 225); (komische):
252 f. 256 f. (Der Bauer und sein
Sohn 253. 256, Der glückliche Dichter
257, Der Greis 257, Der gute Rat 257,
Der Jüngling und der Greis 257, Der
Maler 257, Der Selbstmord 257, Der
zärtliche Mann 257, Die Bauern und
der Amtmann 257, Die kranke Frau
257, Die Mißgeburt 257, Die Widersprecherin
257, Lisette 257.)


Genre sérieux s. Komödie.


Gervinus über Shakespeares „Jessica“
369 Anm.; über Shakespeares „Richard
III.“ 399 Anm.


Geßner, Jdyllen 350.


Gleichnis 181.


Gleim 224. 227.


Gnomische Poesie s. Reflexionsdichtung.



Goethe, Balladen 50 f. 64 Anm.
66 ff.: Ballade vom vertriebenen und
zurückgekehrten Grafen 66 ff.; Der Fischer
50; Der untreue Knabe 68; Der Zauberlehrling
51; Die Braut von Korinth
66; Die wandelnde Glocke 51; Erlkönig
50 f. Hochzeitslied des Grafen 51. ─
Dramen: Clavigo 496; Die Geschwister
350 Anm. 351 Anm.; Egmont 199;
Faust 36. 37. 120. 198 f. 202. 265.
472. 496.; Götz von Berlichingen 352 f.;
Jphigenie 276. 347. 358. 461. 507.
509. 510. 582 Anm. 583. 653; Stella
353 ff.; Tasso 310 f. 352. 353. ─ Episteln
102. 111 f. 687. ─ Epigramme
128 ff.: Schadet ein Jrrtum wohl 129;
Vier Jahreszeiten 130; Wie verfährt
die Natur 128. Xenien, Goethe-Schillersche
131. 140. Hermann und
Dorothea
268. 315. 338. 349 Anm.
Legende vom Hufeisen 319. 320;
Der Gott und die Bajadere 265; Paria=Legende
265. ─ Lyrische Gedichte
23 ff. 36 f. 153 f.: Amor als
Landschaftsmaler 30; An den Mond 257;
Auf dem See 27 f.; Chinesisch=deutsche
Jahreszeiten (8. Lied) 31; Die schöne
Nacht 29; Frühzeitiger Frühling 26;
Gefunden 152 f. 154 Anm.; Heidenröslein
153 f.; Herbstgefühl 26; Kennst
du das Land 26 f.; Meeresstille 26;
Wanderers Nachtlied 23 f.; Willkommen
und Abschied 29. ─ Märchen
von der schönen Lilie (Unterhaltungen
deutscher Ausgewanderter) 197 Anm.
Parabolisches 102. 114. 183. 320:
Der Meister einer ländlichen Schule 320;
Der Recensent 183; Die Freude 183;
Dilettant und Kritiker 183. 320; Kenner
und Enthusiast 320; Pfaffenspiel 183.
Poetische Erzählungen: Hans
Sachsens poetische Sendung 316 ff.;
Johanna Sebus 266. Reflexionsdichtungen
83 ff. 87 ff. 95 ff.: Adler [728]
und Taube 91. 100 f.; An Schwager
Kronos 36. 91. 197; Das Göttliche 87 ff.;
Der Wanderer 62; Deutscher Parnaß 87.
190. 191; Die Nektartropfen 197; Ganymed
36. 197; Geheimnisse 87; Gesang
der Geister über den Wassern 36. 91.
197; Gott und Natur 84; Grenzen der
Menschheit 88 ff.; Harzreise im Winter
91 ff.; Jlmenau 100; Künstlerlied 84;
Lilis Park 190; Magisches Netz 190;
Mahomets Gesang 91. 96 ff. 190. 191.
192; Meine Göttin 36. 91; Metamorphose
der Pflanzen 84 f.; Metamorphose
der Tiere 84. 85; Prometheus 90 f.;
Seefahrt 99 f. 91. 190. 191. 192 f.;
Wanderers Sturmlied 87. 91; Zueignung
87. Goethe über Allegorie
(Sprüche) 95. 193; Allegorie und Symbolik
(dgl.) 193; Allgemeines und Besonderes
(dgl.) 316; über Begriff und
Jdee (Sprüche) 294 f.; über den Chor
und die Epochen der Tragödie (Brief
an Zelter) 610 f.; über den Dichter
(Noten zum west=östlichen Divan) 699 f.;
über die aristotelische Definition der
Tragödie (Briefe an Zelter) 428 f. 433.
434; (Nachlese zu Aristoteles Poetik)
429 f. 514; über Drama und Epos
(Briefe an Schiller) 588. 589; Kants
Kritik der Vernunft (Sprüche) 723;
Kathartische Wirkung der Kunst (Wanderjahre)
451 f.; Klassisches und Romantisches
311; Lachen und Lächerliches 231.
232. 237. 238; Lessings Emilia Galotti
(Brief an Zelter) 486; „Schuld“ 583;
Wort und Gegensinn 311. ─ Werthers
Leiden
43 f. 522.


Gottfried von Straßburg, Tristan
und Jsolde 282 ff. 310. 345.


Gottsched 248; (kritische Dichtkunst):
über die Epik 223. 226; über die Komödie
408 ff.


Götz 225.


Grimm, Jakob, Nibelungen-Theorie
292. 294; „Über das Wesen der Tierfabel“
34 Anm. 156 ff. 172 f. 179 f. 216.


Grimm, Wilhelm, Nibelungen-Theorie
292. 294; „Über das Wesen der Mär=
chen“ 206 f.; über die älteste deutsche
Dichtung („Entstehung der althochdeutschen
Poesie“, v. d. Hagens „Nibelungen“)
210 f.; „Über Geschichte und Poesie“
205 f.


Gudrun-Lied 275. 292.


Guiraut Riquier 72 Anm.


H.


Hagedorn 168.


Haller 26.


Hamann, Polemik gegen Lessing (Aesthetica
in nuce
) 155.


Handlung (πρᾶξις), aristotelischer Begriff
144 ff.; Batteuxsche Definition 162;
Herdersche Theorie 12 ff.; Lessings Theorie
10 ff. 162 ─ Äußere H. 16 ff.;
poetische Nachahmung derselben als
Mittel der Darstellung 18 ff.; im Epos
143. 150 ff. 161. 200 ff. 257 f.; in der
Ballade 49 ff. 63 ff.; in der gnomischen
Poesie 77. 82. 86; in der Lyrik 23 ff.
49. 143. 152 ff.; in der Satire 105. ─
Jnnere H. 16 ff. 144 ff.; poetische
Nachahmung derselben als Gegenstand
der Darstellung 18 ff. 40: in Drama
und Epos 143. 150 ff. 200 ff.; im
Drama 330 ff.; im Epos 257 ff.; im
heroisch=tragischen Epos 270 ff.; im
Jdyll 268 ff. 348 ff.; im komischen Epos
221 ff. 227 ff. 241 ff. 310 ff. ─ „Größe
der Handlung
“ 242. 269 ff. 459.
478 f. 493 ff. 667 f.


Hartmann von Aue, Erec 282;
Jwein 282.


Hecker, „Die Physiologie und Psychologie
des Lachens und des Komischen“ 675 Anm.


Hedone (ästhetisches Vergnügen) 34. 79.
149 ff. 218. 226. 258. 332 f. Anm.
516. 517. 554 f. 670 ff; aristotelische
Definitionen 149 Anm. 332 f. Anm.
444. 554 f. 664. 671. 672. 674; hedonische
Wirkung der Tragödie 468 ff. 664.


Heine 102. 238.


Heinze, Recension von Baumgart „Pathos
und Pathema“ 445 ff. Anm. 450
Anm.


Helmholtz 5.

[729]

Heraklit 564 Anm.


Herder 101. ─ „Briefe zur Förderung
der Humanität
“ 339. ─ Der
Cid
46 ff. 74. ─ Epigramme 119 ff.:
An das Kruzifix im Konsistorium 131 f.;
Der Abglanz 120; Die Trichternasen
131; Licht und Liebe 191; Reformation
120 f.; Wie der köstliche Wein 119 f. ─
Legenden 262 ff.: Bild der Andacht
263 f.; Der gerettete Jüngling 264;
Die wiedergefundenen Söhne 264. ─
Lieder ausStimmen der Völker
52 53 ff. 63 f. ─ Polemik gegen
Lessings Theorie der Handlung

(erstes kritisches Wäldchen) 3. 12 ff. ─
H. über das Epigramm („Anmerkungen
zur Anthologie der Griechen“) 121 ff.;
über die Fabel („Adrastea, Über die
Fabel“) 141. 156. 161 f.


Herodot 210.


Hertzberg, W., über Chaucer (Einleitung
zu Chaucers Canterbury-Geschichten)
325 ff.


Hirtengedicht 347.


Holberg, Fabel von den Ziegen 166.


Hoffmannswaldau 26.


Homerische Epen 64. 210. 212. 227.
280. 681; Jlias 345; pathetischen Charakters
260; Odyssee 345. 346; ethischen
Charakters 260. 277; Pseudo-Homerischer
Margites 221. 313.


Horaz, Episteln 111; „nec deus intersit“
511; „neu quid medios intercinat actus

645; Satiren 102. 109 ff. (I 4
Eupolis atque Cratinus Aristophanesque
poetae
111); Schilderung des Achill
260.


Humor 107 f. 114. 236. 693.


Humoristisch=satirische Poesie s.
Satire.


Hygin, Tiresias 177 f.


Hyperbel, phantastische 236.


J.


Jahn, Otto, über die Elektra des
Sophokles 634 ff.


Jamblichus, gegen die aristotelische
Katharsis-Theorie 442 f. 527 f. 532 f.


Jdeale Darstellung 148 f.


Jdee ─ Begriff 194 ff.; J. im Drama
366 ff. 396. 403.


Jdyll 65. 268 ff. 338. 348 ff. 547.


Jean Paul, Definition des Komischen
235.


Jffland, Lustspiele 251. 416; Der Verbrecher
aus Ehrsucht 494.


Jndignation s. Nemesis.


Jronie, Jroniker, aristotelischer Begriff
693. 694 f.


K.


Kant, 129. 130; K. und Schiller 530.
585 f.; „ästhetisches Urteil“ (Kritik der
Urteilskraft) 238 f.; 425 f.; 701 ff.; über
Begriff und Jdee (Kritik der reinen
Vernunft) 195 Anm.; über das Lächerliche
(Kritik der Urteilskraft) 332; „moralische
Gefühle“ 469 f. 540 f. 548.
Rührendes und Erhabenes 549 f.


Katharsis, komische (des Lächerlichen
und Wohlgefälligen) 105 ff. 220 f. 243 ff.
673. 685 ff., verglichen mit der tragischen
220 f. 243 ff. 659 f.; ─ tragische
(von Furcht und Mitleid) 274 f. 432 ff.
523 ff. 661 ff.


Kleist, Ewald von, Epik dess. 227;
Cissides und Paches 227; Emire und
Agathokles 227; Freundschaft 227.


Klopstock, Jugendoden 42.


Koexistentes und Successives in
bildender Kunst und Poesie 9 ff. 23 ff.
40 f. 45 ff. 432.


Komisches, komische Poesie 221 f.
227 ff.: Aristoteles über dies. 221 f.
227 f. 229; komische Charaktere (aristotelische
Fragmente von der Komödie)
693 ff.; komische Handlung und Rede
(ebendas.) 696 ff. ─ Lächerliches 229 ff.
und Wohlgefälliges in ders. 243 ff. 659 ff.


Komisches Epos s. Epos.


Komischepoetische Erzählung
s. poetische Erzählung.


Komödie 222. 229. 422. 659 ff.: aristotelische
Fragmente von der K. 660 ff.:
Definition 666: ἄμοιρος μεγέθους
667 f.; δεῖται τῆς ἐμφάσεως 679 ff. [730]
690; ἡδονή und γέλως 669 ff. 685 ff.;
K. des Aristophanes 420 f. 679. 689.
690 ff.; Entwickelung der K. 246 ff.
692 f.; Lessing über die K. 249 ff.;
Shakespeares K. 246. 247. 364. 410.
556. 688 f. 692; Theorieen der
K.: Diderots 407. 413 ff., Gottscheds
408 ff., Voltaires 411 ff.; K. verglichen
mit dem Schauspiel 393 ff., mit der
Tragödie 555 f. 587; comoedia commovens
(comédie larmoyante, genre
sérieux
) 242. 247 f. 347. 409. 410 ff.
693.


Körner, über die Goethe-Schillerschen
Xenien (Briefe an Schiller) 140.


Körperwelt, ruhende, Anwendung in
der Poesie 41 ff.


Kortüm, Jobsiade 328.


Kotzebue 251.


Kreyssig, über die Fabliaux (Geschichte
der französischen Nationallitteratur) 323 ff.


Krüger 248.


Kunst, Allegorie in ders. 188 ff.; Gegenstand,
Mittel, Ziel der K. 9 ff. 29. 32 ff.
49 f. 332 f. Anm. 469 ff. 517. 539 ff.
553 ff.; Schönes der K. 148 f.


Kunstbetrachtung, Aristoteles-Lessingsche
6 ff.


L.


Lachen 184. 230. 237 f. 243. 407 ff.
672 ff. 686.


Lächerliches 183 f. 220. 229 ff.; Aristoteles
über das L. 230. 672 ff. 696 ff.;
Goethes Definition 231. 232. 237, Kants
232, Lessings 232; ästhetisch=L. 238 ff.;
das auf Verstandesurteil beruhende L.
231 ff.; moralisch L. 231; verglichen mit
der Nemesis-Empfindung 407; ─ L. und
Wohlgefälliges
in der komischen
Poesie 219 ff. 243 ff.; in der humoristischsatirischen
Poesie 107 ff.; in der Komödie
659 f. 669 ff. 685 ff.; in der Parabel
182 ff.; in der Tierfabel 219 ff. 225 f.:
verglichen mit Furcht und Mitleid 220 f.
243 ff. 659 f.


Lachmann, Nibelungen-Theorie 292.
294 ff.


Lafontaine, Fabeln 172.


Lalenbuch 221.


Landschaftspoesie 377 f.


Legende 262 ff. 319; christliche 265 f.;
Fischarts 320, Hans Sachsens 319,
Herders 262 ff., Goethes 265.


Lehrs, Populäre Aufsätze aus dem Altertum
36 Anm. 38 Anm. 206 Anm. 2.
208 ff. 583 f.


Lessing, Definition der Allegorie 91. 187.
188, der Parabel 180 f., des Lächerlichen
232. ─ Dramen: Emilia Galotti
459. 478. 484 ff.; Minna von Barnhelm
242. 364. 369 f. 398. 667. 689;
Miß Sara Sampson 494. 496; Nathan
der Weise 80. 184 ff. 364. 379. 398.
402 ff. ─ Epigramm: auf eine lange
Nase 135. ─ Fabeln 167 f. 171 ff.
223: Der Adler 173; Der Adler und
der Fuchs 173; Der Dornstrauch 173.
176; Der Falke 167 f.; Der Fuchs und
der Rabe 173. 174; Der Fuchs und
die Larve 173. 174; Der junge und der
alte Hirsch 173; Der Schäfer und die
Nachtigall 173; Der Strauß 173. 175.
176 f.; Der wilde Apfelbaum 173; Die
Eiche 173. 174; Die Eule und der
Schatzgräber 173; Die Maus 173; Die
Nachtigall und die Lerche 173; Die
Sperlinge 173. 175 f.; Die Wespen 173.
175; Die Wohlthaten 173; Merops
173. 175; Tiresias 177 ff. ─ L.s Gesetz
über die Nachahmungsgegenstände
der Poesie und der bildenden
Kunst
9 ff. 23. 29. 30 f. 45 f.;
76. 77. 86. 152. 162. ─ L.s Kunstbetrachtung
2. 3 ff. ─ L.s Parabeln
191: vom Palast im Feuer (Anti=
Goeze) 183. 186 f. 191; von den 3
Ringen (Nathan) 180. 184 ff. ─ L.s
Theorie der Fabel 101. 141 ff. 154 f.
162 ff. 180. 218. 225. ─ Theorie der
Handlung
10 ff. 162. ─ Theorie
des Epigramms
115 ff. 132 ff. 141 ff.
Theorie des Komischen 249 ff.
Theorie des Tragischen (über
die aristotelische Definition der Tragödie)
246 f. 423 ff. 433. 434. 443. 452 ff. [731]
468. 497 ff. 511 ff. 514 ff. 538. 539.
553. 556 f. 587. 661. ─ L. über des
Aristoteles Poetik 423; über die griechische
Komödie 679 f.; Jllusion (Brief an
Mendelssohn) 515. 519 ff.; Kunstanfänge
32; künstlerische Abstraktion
202 f. Anm.; richtiges Lachen 243. 676;
Romeo und Julie 495; schöne Gestalt
546. ─ L. und Dubos (Briefe an
Nicolai) 515. 520.


Logau 136. 138 f.


Lohenstein, Daniel Kaspar von,
Venus 48 f.


Lucian Γλαύκῳ καὶ Νηρῆι 122. 124.


Lyrik 23 ff. 36 ff. 49 f. 143. 152 ff.;
die L. Goethes 23 ff. 36 f. 152 ff.


M.


Mantik 42 Anm.


Märchen 33. 204. 205. 206 ff. 215. 216.
233.


Margites, Pseudo-Homerischer 221. 313.


Martial, Epigramme 132. 133. 136 f.


Meier (Schüler Baumgartens) 2.


Menander 679.


Mendelssohn, Felix, Sommernachtstraum
692.


Mendelssohn, Moses, 10. 248; über
Jllusion 515. 520; Mitleid 499 f.


Metapher 181. 681.


Milton 198.


Mimesis s. Nachahmung.


Minnegesang, deutscher 73.


Mitleid, aristotelische Definition 457;
tragisches M. (und Furcht) 274 f. 453 ff.
497 ff. 536 ff. 662 ff.; verglichen mit
dem Lächerlichen und Wohlgefälligen
108. 220 f. 243 ff. 659 f.


Molière, Komödien 247. 410 f. 692;
l'Avare 247; le Malade imaginaire
698; le Misanthrope 247; Tartuffe

242. 337.


Mucius Scävola 16 ff.


Müllenhof, Nibelungentheorie 292.


Müller, Eduard, Theorie der Kunst
bei den Alten 514.


Musik 59 ff.


Mylius 248.


Mythologie, griechische 35 f. 206
Anm. 2.


N.


Nachahmung, künstlerische, aristotelische
Theorie 6 ff. 39 f. 661. 681 f.;
Gegenstand, Mittel derselben 9 ff. 38 ff.
57. 150 ff.


Nemesis-Empfindung 365. 407 f.


Nibelungenlied 212. 260. 274. 346.
480. 653; Einheit desselben 287. 292 ff.;
W. Grimm über das N. 210 f.


Nicolai ─ Dubos (Briefe an Lessing)
515 f.


Noesis 78.


Novelle, des deutschen Mittelalters 321 ff.;
italienische 324. ─ Prosa-Novelle 329.


O.


Opitz (Definition der Dichtungsarten)
270 Anm.; (über Komödie und Tragödie)
408.


P.


Parabel 179 ff.: Beispiele 183. 184 ff.;
Definition 182; Lessings Definition
180 f.; verglichen mit der Allegorie
190 ff.; mit der Fabel 179 ff.


Parny, guerre des dieux antiques et
modernes
329.


Pathema und Pathos, aristotelicher Begriff
276. 444 ff. 670.


Pathos 15. 21 f. 33 ff. 41 ff. 57 ff.
144 ff. 200. 203. 257 f. 259. 266 f.
533 ff.; δυνάμεις τῶν παθῶν 41 ff.
58. 60 f. Anm. Pathos und Pathema,
aristotelische Scheidung 276. 444 ff. 670;
„pathetische“ Handlungen 259 ff. 276 f.


Peripetie 277. 363 ff. 395. 465 f. 508 f.


Pfaffe Amis 221.


Pfeffel, Fabeln: Ochs und Esel 173;
Stufenleiter 168; poetische Erzählungen
225.


Phädrus, Fabeln 164 f. 172.


Phantasie 380 f. 542 Anm. 689.


Phantastisches in der Komödie 689 ff.


Phidias, olympischer Zeus desselben 18.

[732]

Phronesis 341. 359 ff., Darstellung
derselben im Drama 360 ff.


Pindar, Oden 65 f. Anm. 210. 573.
578 f.


Platen 691.


Plato, Begriff der Freude 516; Jdeenlehre
83. 586; schließt die Dichter aus
seiner Republik aus 518; über die Olymposlieder
523.


Plautus 692; Captivi 667.


Plutarch 9. 551.


Poesie, Gegenstand, Mittel der Nachahmung
9 ff. 23 ff. 38 ff. 59. 62 f. 82.
86. 152.


Poetische Erzählung 76. 223 ff. 261 f.:
Gellerts 224 f.; komisch=poetische E.
(Schwank) 224. 227 ff. 251 ff. 316 ff.;
Bürgers 227. 319 f., Chaucers 324 ff.,
Gellerts 252 ff., Hans Sachsens 252 ff.
316. 319. 320 f.; Goethe, Hans Sachsens
poetische Sendung 316 ff. ─ Fabliaux
s. diese; Novellen s. diese.


Poetische Malerei 23 ff.


Pope 95 Anm.; der Lockenraub 328.


Prohairesis 145. 216. 258.


Proklos über die Tragödie 440. 528 ff.


Provençalen, Sirventes 72. 80.


Pythagoräische Zahlentheorie 5.
564 Anm.


Q.


Quintilian, Definition der Allegorie
91. 187 f.


Ouistorp 248.


R.


Rätselfrage 236.


Reineke Fuchs 171. 313 f. 315. 336.


Reinkens, Aristoteles über die Kunst 460;
Recension von Baumgart „Pathos und
Pathema“ 447 ff. Anm.


Reflexionsdichtung (gnomische Poesie)
77 ff.; Goethes 83 ff.; Schillers 77.
80 ff.


Rochelle, de la, 412.


Rollenhagen 171. 321.


Roman (Prosa=R.) 315 f.


Romans, französische 282.


Romantik 43.


Romantisches Epos 281 ff.


Romantisches Ethos 71 ff. 281.


Romanze 71 ff.: Definition 73; moderne
R. 76; provençalische und spanische R.
und moderne Umdichtung derselben 74;
R.=Cyklen 74 ff.; R. verglichen mit der
Ballade 71 ff.


Rückert, Der Mann im Syrerland 183.
191.


S.


Sachs, Hans, Legenden 319. 320:
Die ungleichen Kinder Evä 319; St. Peter
mit der Geiß 319; Schwänke 252 ff.
316. 319. 320 f.: Der verlogen Knecht
mit dem großen Fuchs 253 ff.


Sage (Mythus) 93. 204. 205. 208;
heroisch=tragische 271 ff.


Satire, satirisch humoristische
Poesie
102 ff. 149. 229. 320; Allegorie
in derselben 113 f.; Beispiele 102.
109 ff.; Definition 108 f.; Gegenstand,
Mittel, Verfahren der Darstellung 102 ff.;
kathartische Wirkung 106 ff.; Schiller
über die S. 103 ff.; S. verglichen mit
der Reflexionsdichtung 102 f.


Scaliger, Julius Cäsar, über die
Arten der Poesie (Poetices libri septem)
270 Anm. 408.


Schäferspiel 338. 347.


Schauspiel 352 ff. 440 Anm.; an das
Lustspiel grenzendes
(Phronesis=
Drama) 358 ff. 421 f. 547; Beispiele
389 ff. 398 ff.; Erkennung und Peripetie
im S. 363 ff.; „Jdee“ im S.
365 ff. 396; stellt Phronesis dar 358 ff.;
symbolische Darstellung seines Wesens
in Shakespeares „Sturm“ 370 ff.;
technische Gesetze 393 ff. ─ An die
ethische Tragödie grenzendes

352 ff.


Scheffel, Victor von, 315.


Scherer, Wilhelm, über die Novelle
(deutsche Litteraturgeschichte) 321 ff.; über
die Tierdichtung (Über J. Grimm) 158 f.
Anm.


Schicksal, Gegenstand der Darstellung im [733]
Drama 331 f. 418 ff (in der Tragödie)
461 ff.; in der heroischen Sage 272 ff.


Schiller, Balladen 51. 64 Anm. 66:
Der Graf von Habsburg 70; Der
Handschuh 70. 74; Der Kampf mit dem
Drachen (51) 74; Der Ring des Polykrates
66. 68 f.; Der Taucher 69 f.;
Die Bürgschaft 66. 68 f. 259. 276. 340;
Die Kraniche des Ibykus 66. ─ Dramen:
Die Braut von Messina 587. 589.
596 ff. 620; Don Carlos 480; Kabale
und Liebe 356. 496; Wallenstein, Prolog
588; Wallensteins Tod 480; Wilhelm
Tell 259. 363. 401 f.; 551. ─
Epigramme: Aus den Votivtafeln:
Aufgabe 128; Das Belebende 128;
Das Werte und Würdige 129; Die
moralische Kraft 129; Die Triebfedern
129; Die Übereinstimmung 128; Jnneres
und Äußeres 128; Mitteilung
128; Sprache 22 Anm.; Unterschied der
Stände 129; Zweierlei Wirkungsarten
129; Kant und seine Ausleger 130;
Xenien, Goethe-Schillersche 128. 131.
140. ─ Reflexionsdichtungen 77.
80. 81: An die Freunde 82 f.; Das
Glück 83; Das Jdeal und das Leben
(Reich der Schatten) 82. 83; Das Mädchen
aus der Fremde 191; Der Genius
82; Der philosophische Egoist 83; Der
Spaziergang 86 f.; Der spielende Knabe
83; Die Führer des Lebens 83; Die
Glocke 86; Die Künstler 78 f. 80 f. 214
Anm. 374. 586; Die Worte des Glaubens
82. 88; Die Worte des Wahns
82; Nänie 83; Natur und Schule 82;
Sprüche des Confucius 82. ─ Symbolische
Gedichte:
Das Eleusische
Fest 198; Das verschleierte Bild zu
Sais 198; Der Pilgrim 198; Die
Klage der Ceres 198. ─ Satirische
Gedichte:
Die Teilung der Erde 102.
113 f. 190. 191. 192; Jeremiade 102.
112. 115; Pegasus im Joch 102. 113.
191; Shakespeares Schatten 102. 112 f.
115; satirische Jugendgedichte 102 (Der
Venuswagen) 320. ─ Auffassung
der griechischen Tragödie
558.
560. 585 ff. ─ S. über die Braut
von Messina
(Brief an Körner) 589.
591 (Brief an Goethe) 589 f. (an Humboldt)
591. ─ S. über die Berechtigung
der Landschaftspoesie

(„Über Matthisons Gedichte“) 37; die
Poesie der Minnesänger
235; die
Satire
(über naive und sentimentalische
Dichtung) 103 ff.; über die
Tragödie
247. 393. 418. 458 469 f.;
Brief an Goethe 588 f.; Prolog zum
Wallenstein 588; „Recension von Goethes
Egmont“ 590; „Über den Gebrauch
des Chors in der Tragödie“ 591 ff.;
„Über den Grund des Vergnügens an
tragischen Gegenständen“ 538 ff.; „Über
die tragische Kunst“ 461. 494. 517.
552 ff. 585 ff.; Über naive und sentimentalische
Dichtung 587 f.


Schlegel, A. W. v., Arion 66; über
des Äschylus Eumeniden (Vorlesungen
über schöne Litteratur und Kunst) 622 f.
Anm.; über des Euripides Elektra
(ebendaselbst) 610 Anm.


Schlegel, Elias, Lustspiele (Triumph
der guten Frauen) 248.


Schlesische Dichter 48.


Schönes 6. 148 ff. 152. 425 f. 430 ff.;
Aristotelische Definition 240. 332 f. Anm.
543 f. 720 f.; Kantsche Theorie 702 ff.


Schuld, tragische, 582 ff.


Schwab, Gustav, Johannes Kant 261 f.


Schwank s. komisch=poetische Erzählung.



Schweizer, Ästhetik derselben 2. 218.
223. 226. 516.


Seume, Der Kanadier 339.


Shakespeare 6. „Historien“ 401. ─
Komödien 246. 247. 364. 410. 556.
688 f. 692: Ein Sommernachtstraum
692. 698; Viel Lärm um nichts 667.
Schauspiele 364: Der Kaufmann
von Venedig 242. 268. 367 ff. 398;
Der Sturm 370 ff.; Heinrich IV. 363;
Heinrich V. 363; Maß für Maß 365.
366 f.; Richard III. 398 ff. 550; Wintermärchen
385. 389 ff. 667. ─ Tragödien
247. 396. 493: Coriolan 352. [734]
366. 480. 549 f.; Hamlet 199. 609. 651 ff.
Julius Cäsar 551. 556; König Lear
459. 476. 477; Macbeth 199; Othello
366. 476. 495; Romeo und Julie 366.
495.


Sidney, Philipp, über die Chevy=
Jagd 63 f.


Simrock, Nibelungen-Theorie 294.


Singspiel 347.


Sinnspruch s. Epigramm.


Sokrates 556.


Sophokles 493.; Ajas 366. 459; Antigone
366. 462. 478 ff.; Elektra 609.
610. 611. 612. 633 ff. 646. 653; König
Ödipus 366. 459. 461 ff. 471 ff. 560.
572. 596; Ödipus in Kolonos 461 ff.
471 ff.; Philoktet 199. 501 ff. 509 ff.


Spangenberg 171.


Sprache 22 Anm. 40.


Spruchdichtung des deutschen Mittelalters
80. 139.


Stricker 322; Pfaffe Amis 221. 322.


Successives und Koexistentes in bildender
Kunst und Poesie 9 ff. 23 ff. 40 f.
45 ff. 432.


Susemihl, Recension von Baumgart,
„Pathos und Pathema“ 446 f. Anm.


Symbol, Symbolik, Symbolische
Poesie
193 f. 196 ff.


T.


Tassoni, Der Eimerraub 328.


Terenz 692.


Theuerdank 95 Anm. 1.


Thorwaldsen, Argustöter 17; Die Alter
der Liebe 196 f.


Thukydides 210.


Tieck 691.


Tierepos s. Epos.


Tierfabel s. Fabel.


Timoleon (bei Plutarch) 551.


Tragödie: aristotelische Definition
423 ff.; (Fragment über die Komödie)
662 ff. 668 f.; Bernayssche Jnterpretation
derselben 423 ff. 468. 514 ff.;
Goethe über dieselbe 428 ff.; Lessings
Erklärung 423 ff. 452 ff. 468. 497 ff.
511 ff. 514 ff. 556 f. ─ Beispiele:
Die Braut von Messina 596 ff.; Die
Ödipustragödien 461 ff. 471 ff.; Emilia
Galotti 485 ff.; Hamlet 609. 651 ff.;
Philoktet 501 ff. 509 ff.; Prometheus
558 ff. ─ Dubos über die Tr.
515 ff. Furcht und Mitleid 274.
453 ff. 497 ff. 536 ff.; Größe der
Handlung
459. 478 f. 493 ff. 667;
Hedonische Wirkung 468 ff. 664.
Katharsis 274 f. 432 ff. 523 ff. 661 ff.;
Schillersche Theorie der Tr. 247.
458. 461. 469 f. 494. 517. 538 ff.
(─ 596); Tr. verglichen mit dem Schauspiel
358 f. 393 ff.; mit der Komödie
555 f. 587.


Troubadours 72.


U.


Uhland: Die verlorene Kirche 263; Lob
des Frühlings 38; Nibelungen-Theorie
292. 294; Romanzen (Bertran de Born,
Der Kastellan von Couci, Don Massias,
König Karls-Lieder, Rolandslieder, Rudello,
Taillefer) 74.


Urteil, ästhetisches, s. Ästhetisch.


V.


Ventadour, Bernard von, 72.


Vergnügen, s. Hedone.


Virgil, Äneis 280 f.


Vischer, Th., Definition des Komischen
(Über das Erhabene und Komische) 235.


Volkslied 49. 51 ff. 153 f.; epischer
Volksgesang 205 ff. 212. 213 f.


Voltaire 185 425; Enfant prodigue
411; Nanine 412; Pucelle
329; Theorie
der Komödie 411 ff.


Vossius 187.


W.


Wagner, Leopold, Die Kindermörderin
496.


Waldis, Burkhard, Tierfabeln 168.
(vom Hecht) 172. 321.


Walther von der Vogelweide 73.


Werder, Hamlet-Vorlesungen 654 Anm.

[735]

Wieland 252; Oberon 549.


Willensentscheidung s. Prohairesis.


Witz 114 f. 235 f.


Wohlgefälliges und Lächerliches
219 ff. 243 ff.; in der Tierfabel 225 f.;
in der Parabel 182 ff.; in der satirischhumoristischen
Poesie 107 ff.; in der
Komödie 669 ff. 685 ff.


Wolff, Julius, 315.


Wolffsche Philosophie 2.


Wolfram von Eschenbach, 282; Parzival
287 ff. 310. 345.


Wunder, das im Epos, Märchen u. s. w.
213 ff.


X.


Xenien, Goethe-Schillersche, 128. 131.
140.


Z.


Zachariä 95 Anm. 329.


Zelter, über die aristotelische Definition
der Tragödie (Briefwechsel mit Goethe)
428.


Zeus, olympischer 18.

[figure]

Appendix C

[E736][E737][E738]

Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart. ────────────────────────────────────


Geschichte der Römischen Dichtung.
Von
Otto Ribbeck.

I. Dichtung der Republik.
VII u. 348 Seiten. gr. 8°. M. 7. ─ ────────────────────────────────────


Sophokles' Tragödien
übersetzt von
Gustav Wendt.

2 Bände. 1884. 8°. VI u. 583 Seiten. Broschiert M. 7. ─ Gebunden M. 9. ─ ────────────────────────────────────


Sophokles' Antigone
verdeutscht in den Formen der Urschrift, mit Erläuterungen und Analysen der einzelnen
Scenen und Chorlieder und einem Versuch über Ursprung und Wesen der
antiken Tragödie
von
Dr. L. W. Straub,
Professor am Eberhard-Ludwigs=Gymnasium in Stuttgart.

1886. 8°. XIV u. 161 Seiten. M. 1. 80. ────────────────────────────────────


Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter.
Vom 5. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert.
Von
Ferdinand Gregorovius.

Dritte und vierte Auflage. 1875─1886. 8 Bände. gr. 8°. M. 83. 50. ────────────────────────────────────


Der Kaiser Hadrian.
Gemälde der römisch=hellenischen Welt zu seiner Zeit.
Von
Ferdinand Gregorovius.

Zweite neugeschriebene und dritte Auflage. 1884. gr. 8°. X u. 505 Seiten. M. 10. ─ ────────────────────────────────────


Geschichte des Altertums.
Von
Eduard Weyer.

Erster Band: Geschichte des Orients bis zur Begründung des Perserreichs.
1884. 8°. XX u. 647 Seiten. M. 12. ─


Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

[E739][E740][E741][E742]
Notes
1.

Vgl. Lessing (Hempel) VI, S. 295, Nr. 12. Blümner, Laokoon, S. 444, K. 11.
1.

Lessing (Hempel) X, S. 38.
2.

Lessing a. a. O., S. 44.
1.

Vgl. Herder (Hempel), Bd. XX, S. 109.
1.

Vgl. Herder, Krit. Wäld. I, 16. (Hempel) Bd. XX, S. 107─110.
2.

Vgl. hierzu R. Haym, Herder I, S. 245─247.
1.

Vgl. Krit. Wäld. I, 17 am Schluß und 18, zu Anfang, a. a. O., S. 120─123.
1.

Vgl. a. a. O. S. 604.
1.

Vgl. a. a. O. S. 604.
1.

Vgl. Aristoteles, Politic. VII, c. 5, 1340a 32: ἔτι δὲ οὐκ ἔότι ταῦτα (sc.
τὰ σχήματα) ὁμοιώματα τῶν ἠθῶν, ἀλλὰ σημεῖα μᾶλλον τὰ γιγνόμενα σχή-
ματα καὶ χρώματα τῶν ἠθῶν. καὶ ταῦτ' ἐστὶν ἐπὶ τοῦ σώματος ἐν
τοῖς πάθεσιν.
1.

Auch durch die Sprache nicht; wie Schiller es ausdrückt:
Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?

Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr.
2.

Schief aber erscheint Lessings Satz, daß die Poesie durch Handlungen andeutend
Körper
nachahmt. Das wäre eine Andeutung der Andeutung! Sondern: wie die
Malerei durch Figuren und Farben die Körper vor das äußere Auge, so bringt die
Poesie, durch Worte ihre Vorstellung erweckend, sie vor das innere Auge; beide verfolgen
dabei den gleichen Zweck (τέλος): vermittelst dieser Körper ihren eigentlichen Gegenstand
nachahmend darzustellen, gleichviel welcher von den dreien es gerade ist.
1.

Vgl. Jakob Grimm, Kleine Schriften: „Ueber das Wesen der Tierfabel.“
1.

Vgl. hierzu: LehrsPopuläre Aufsätze aus dem Altertum“, 2. Aufl.,
Leipzig 1875; namentlich die Aufsätze: „Die Nymphen“, „Die Horen“, „Naturreligion“.
1.

„Eine Rose und ein Mondschein erregen immer eine angenehme Empfindung
und was vermag nicht eine Palme.“ Vgl. Lehrs a. a. O. in dem Aufsatz: „Die
Nymphen“.
1.

Jn solcher Weise hat man sich unzweifelhaft den „Enthusiasmus“ vorzustellen,
von dessen kathartischer Heilung durch die Olympuslieder Aristoteles in der bekannten
Stelle der Politik handelt. (Vgl. hierüber Polit. III, c. 7. 1341b. 32. ─ 1342a. 12.)
2.

Jn derartigen Eindrücken hat die gesamte Mantik ihren natürlichen Grund
und Ursprung.
1.

Vgl. Buch II. Brief an W., 12. Dezember (cf. Hempel, B. XIV, S. 103).
„Jch bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen
man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift
mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier ─ es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das
meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe, wehe! Und
dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Scenen dieser menschenfeindlichen
Jahreszeit.“
„Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich
hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim
herunter mein liebes Thal überschwemmt! Nachts nach Elfe rannte ich hinaus. Ein
fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte
wirbeln zu sehen, über Aecker und Wiesen und Hecken und Alles und das weite Thal
1.

Vgl. Übersetzung von O. Gildemeister, Bd II. Harold, Ges. III, St. 72, 75.
1.
hinauf und hinab. Eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann
der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus
die Flut in fürchterlich=herrlichem Wiederschein rollte und klang, da überfiel mich ein
Schauer und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund
und atmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine
Leiden da hinabzustürmen! dahinzubrausen wie die Wellen. Oh! ─ ..... Wie gerne
hätte ich mein Menschsein drum gegegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen,
die Fluten zu fassen! Ha! Und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal
diese Wonne zu teil? ─“
1.

Vgl. Hoffmannswaldaus und anderer Deutschen auserlesene Gedichte. Leipzig
1695, S. 240. „Venus“ von D. C. V. L.
1.

Vgl. oben S. 22.
1.

Vgl. Herder: „Stimmen der Völker in Liedern“ und „Des Knaben
Wunderhorn
“, bearbeitet von Birlinger und Crecelius.
1.

Die Musik an und für sich, μουσικὴ ψιλή, bloße Musik, also die instrumentale
oder auch die vokale, sofern dieselbe selbständig, ohne Worte, auftritt, vermag
1.

freilich Empfindungen zunächst nicht nachzuahmen, weil der Empfindungsvorgang
jedesmal ein einzelner und demgemäß an bestimmte einzelne Umstände
geknüpft ist, welche der Musik schlechthin undarstellbar sind. Dagegen hat sie die Nachahmung
des Ethos völlig in ihrer Macht. Während die einfache Empfindung eines
bestimmten, in einer fest begrenzten Situation befindlichen oder doch gedachten, Objektes
bedarf, um sich zu verwirklichen, ist das Ethos an und für sich dauernd vorhanden,
und statt daß die ihm entsprechenden Seelenvorgänge der Objekte bedürften, um in
Thätigkeit zu gelangen, sind sie vielmehr imstande, durch ihre eigene Kraft
jene in der Vorstellung hervorzubringen!
Hier genügt also jene oben erwähnte
geheimnisvolle Analogie zwischen den äußeren Bewegungen, Rhythmen und
Klängen vollauf um die Nachahmung zu erreichen, und so entfaltet die Musik auf diesem
unbegrenzten Gebiete ihre ganze, gewaltige Macht, unendlich weit hinaus über das,
was Worte vermögen, die Stimmungen und Gemütszustände zu erregen, zu erhöhen,
sie gegenseitig sich bekämpfen, sich komplicieren, sich ausgleichen und verschmelzen, mit
einem Worte sich voll ausleben zu lassen mit einer Kraft und Tiefe, Mannigfaltigkeit
und Fülle, und wieder mit einer Zartheit und Verfeinerung, welche nicht allein den
Worten, sondern auch den Begriffen unerreichbar und unfaßbar sind.
Hier zeigt es sich nun aber, wie das, was vorhin in betreff der Nachahmung von
Empfindungen aufgegeben werden mußte, nun zu einem höchst wesentlichen Teile wieder
einzuholen ist. Es wurde oben (vgl. S. 42 ff.) von dem auf bestimmten Anlaß sich
ereignenden Empfindungsvorgang die in der Seele dazu als Kraft, Vermögen vorhandene
präexistierende Disposition (δύναμις) unterschieden; diese bloße Dynamis des
betreffenden Pathos bedarf nun keineswegs der Erzählung eines Vorganges oder der
Darstellung einer Situation, welche die individuell begrenzte Erregungsursache abgeben,
sondern sie kann, genau wie das Ethos, dauernd vorhanden sein und vermag aus
sich heraus die Vorstellung der ihr entsprechenden Objekte anzuregen. Solche Empfindungsdispositionen
(δυνάμεις) kann daher die Musik, vermöge jener erwähnten
Analogie der Rhythmen und Klänge mit den Seelenbewegungen, ganz unmittelbar
und in höchster Jntensität, wie keine andere Kunst, weil dies ihr eigentliches
Gebiet ist (οἰκεῖον ἔργον), nachahmen und durch die Nachahmung bei dem Hörer
wiederum erwecken. So bringt also die Musik, wie das Materielle und „praktisch“
Geschehene für sie ja völlig undarstellbar ist, die Empfindungs=Dispositionen ganz
unsubstanziiert hervor; der Hörer kann es dabei bewenden lassen und den künstlerischen
Genuß, die Hedone, in dieser allgemeinen Energie seines Wahrnehmungs=
und Empfindungsvermögens (τῆς αἰσθήσεως) finden: es ist ihm aber
unbenommen, diese allgemeine Disposition, welche durch die Nachahmung der Musik in
ihm hervorgebracht wird, zu substanziieren, in einer nach seinen individuellen Verhältnissen
ins Einzelne gehenden Weise in Thätigkeit zu setzen, d. h. also zu einer nun
erst bestimmt modifizierten Empfindung werden
zu lassen. Das wird um
so mehr geschehen, je mehr Zeit, Umgebung, Umstände, Anlässe ihn direkt darauf hin=
1.

weisen, wie z. B. in Kultus, Festfeier, beim Drama (als Ouvertüre, Zwischenmusik)
u. s. w. Es ist diese Operation zum vollen Genuß der „reinen“ Musik keineswegs
erforderlich;
auch wäre es ein Mißverständnis zu glauben, daß mit dieser Einschränkung
der musikalischen Wirkung auf die allgemeinen Gefühls=Dispositionen
ihre Bedeutung herabgesetzt würde. Ganz im Gegenteil ist jene Operation etwas
Accidentielles, die Wesenheit der Musik liegt nicht auf diesem Gebiet: die
Musik leistet das Höchste der Kunst, wenn sie mit ihren Mitteln, und also nach ihren
eigenen autonomen Gesetzen, in und mit der Nachahmung einer solchen „Empfindungsdisposition“
der Seele nach der betreffenden Richtung den Genuß
ihrer höchsten Kraft und die reichste und doch zugleich gesetzmäßige
Bewegung verleiht,
sei diese Bewegung nun eine einheitliche oder in Streit und
Sieg, Gegensatz und Ausgleich sich vollziehende. Ob daraus nun im wirklichen Leben
auch für den gegebenen Anlaß ein erhöhtes Empfinden und weiter ein entsprechendes
Handeln hervorgeht, ist nicht die Sache der Musik, wie überhaupt nicht die der Kunst,
die überall nur imstande ist, was sie auch allein nur will, die Seele mit dem Genuß
und dem Bewußtsein eines Maximums ihres Vermögens zu erfüllen.
Wenn nun aber die reine Musik doch die Möglichkeit gewährt, die nachgeahmte
Empfindungsdisposition individuell zu substanziieren, so erklärt sich daraus die
Fähigkeit und die Neigung der Musik sich dem Worte zu gesellen. Freilich
liegt darin offenbar eine Beschränkung, die um so größer ist, je singulärer die im
Texte ausgesprochene Empfindung ist, woraus weiter folgt, daß die edelste Vokalmusik
sich gerade an die Texte vom allgemeinsten Empfindungsgehalt anschließen wird, wie
z. B. die Kirchenmusik. Je specieller der Text ist, desto mehr verengert sich das unbegrenzte
Gebiet der Dynamis des betreffenden Pathos, das alle Fälle ihrer Möglichkeit
nach umfaßt, auf einen besondern Bezirk oder gar nur einen einzelnen Fall.
Umgekehrt erklärt sich hieraus der weite Spielraum in der sogenannten Deutung der
reinen Musik! Es sind aber viele solche „Deutungen“, oder richtiger individuelle
Substanziierungen durchaus zulässig, sofern sie nur derselben allgemeineren Empfindungs=
Disposition angehören, was bei scheinbar höchst verschiedenen Deutungen sehr wohl der
Fall sein kann. Freilich kommt dabei der ganz unberechenbare Faktor der in jedem
Falle urteilenden Jndividualität ins Spiel.
1.

Hierin liegt ein untrügliches Merkmal der Unterscheidung der echten Ballade
von der Pseudo-Ballade; die Schillerschen poetischen Erzählungen, die als Balladen
gelten, widerstreben dem Gesange fast ausnahmslos eben so sehr, als die Goethe=
schen dazu auffordern.
1.

Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die „erzählenden“ Partieen in der
Pindarschen Ode und im Chorliede; aber in Wirklichkeit hat man hier nicht
1.

Erzählung vor sich, sondern die bloße Erwähnung von Fakten, welche zu der rein
lyrischen Nachahmung eines Pathos oder Ethos erneuten Anstoß geben.
1.

Vgl. in dem Liede des Guiraut Riquier die zweite Strophe (Fr. Dietz,
Leben und Werke der Troubadours, 2. Aufl., von Karl Bartsch, 1822, S. 415,
und E. Brinkmeier: Die provenzalischen Troubadours, 1822, S. 57):
Quar dompneys, pretz e valors,

Joys e gratz e cortezia

Sens e sabers et honors,

Belhs parlars, bella paria,

E largueza et amors,

Connoyssensa e cundia,

Troban mantenh e cundia

En Cataluenha a tria

Entre 'ls Catalas valens

E las donas avinens.
2.

Vgl. Fr. Dietz a. a. O. S. 33.
3.

Vgl. Fr. Dietz a. a. O. S. 156.
1.

Vgl. „Das Reimgedicht vom Herrn Thopas“: Geoffrey Chaucers
Canterbury-Geschichten, übers. von W. Hertzberg. (Hildburghausen 1866.) S. 463 ff.
1.

Vgl. dazu die betreffenden Ausführungen in LessingsAbhandlungen
über die Fabel
“.
1.

Als eine Sammlung von Musterbeispielen solcher gänzlich fehlerhaften Allegorie
kann z. B. der „Theuerdank“ gelten; ebenso aber auch die Allegorieen, wie sie von
Boileau und Pope angewandt wurden und von ihren deutschen Nachahmern, z. B.
von Zachariä.
2.

Genau das hier Gesagte scheint mir Goethe in einem seiner Sprüche in Prosa
im Auge gehabt zu haben, nur daß er den Ausdruck Allegorie in jenem engeren
Sinne der fehlerhaften Allegorie
versteht: „Es ist ein großer Unterschied,“ sagt
er, „ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das
Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel,
als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der
Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf
hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine
mit, ohne es gewahr zu werden, oder spät.“ Vgl. hierzu meine parallelen Ausführungen
über diesen Gegenstand in der Schrift: „Goethes Märchen, ein politisch=nationales
Glaubensbekenntnis des Dichters
“ (Königsberg bei Hartung 1875),
S. 8 ff.
1.

Vgl. Hempelsche Ausgabe, Bd. 15, S. 497.
1.
'Nen Schatz fand einer, der sich eben hängen wollte,

Froh ließ er die Todesschlinge an dem Ort zurück.

Als aber jener das Gold nicht fand, der es vergraben,

Hing er in der gefund'nen Schlinge sich auf und starb.
2.
Auf dem Rücken daher trug einen Gelähmten ein Blinder,

Brauchte die Beine für ihn, borgte von ihm das Gesicht.
1.

Man denke z. B. an das Ethos der Andacht, welches, seiner eigentlichen Natur
nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört
und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der
Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden
kann; ebenso Großmut, Ehrfurcht, Hingebung u. s. f., sie können als Regungen
─ wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet ─ zeitweilig und
momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen ethischen Dispositionen
für gewöhnlich verschlossen sind.
1.

Ausführlich ist dieser Gegenstand vom Verf. behandelt in seinem Buche: „Aristoteles,
Lessing und Goethe
“, Leipzig, Teubner 1877, im Abschnitt V: „Des
Aristoteles Lehre von der Hedone und dem Kalon“. Die Hauptstelle, auf welche sich
die im Obigen angedeutete Theorie stützt, steht in der Nikomachischen Ethik des
Aristoteles, Buch X, Kap. 4 (1174b, 14─33): Αἰσθήσεως δὲ πάσης πρὸς τὸ αἰσθητὸν
ἐνεργούσης, τελείως δὲ τῆς εὖ διακειμένης πρὸς τὸ κάλλιστον τῶν ὑπὸ τὴν αἴσθησιν·
τοιοῦτον γὰρ μάλιστ̓ εἶναι δοκεῖ ἡ τελεία ἐνέργεια· αὐτὴν δὲ λέγειν ἐνεργεῖν, \̓η ἐν
ᾧ ἐστὶ, μηδὲν διαφερέτω· καθ' ἕκαστον δὲ βελτίστη ἐστὶν ἡ ἐέργεια τοῦ ἄριστα
1.

διακειμένου πρὸς τὸ κράτιστον τῶν ὑφ' αὑτήν· αὕτη δ' \̓αν τελειοτάτη εἴη καὶ ἡδίστη·
κατὰ πᾶσαν γὰρ αἴσθησιν ἐστὶν ἡδονὴ, ὁμοίως δὲ καὶ διάνοιαν καὶ θεωρίαν,
ἡδίστη δ'ἡ τελειοτάτη, τελειοτάτη δ' ἡ τοῦ εὖ ἔχοντος πρὸς τὸ σπουδαιότατον
τῶν ὑφ' αὑτήν. τελειοῖ δὲ τὴν ἐνεργείαν ἡ ἡδονή .... καθ' ἑκάστην δ' αἴσθησιν
ὅτι γίγνεται ἡδονὴ δῆλον· φαμἐν γὰρ δράματα καὶ ἀκούσματα εἶναι ἡδέα. δῆλον
δἐ καὶ ὅτι μάλιστα, ἐπειδὰν ἥ τε αἴσθησις ᾖ κρατίστη καὶ πρὸς τοσοῦτον ἐνεργῇ.
τοιούτων δ'ὄντων τοῦ τε αἰσθητοῦ καὶ τοῦ αἰσθανομένου, ἀεὶ ἔσται ἡδονή ....
τελειοῖ δἐ τὴν ἐνέργειαν ἡ ἡδονὴ οὐχ ὡς ἡ ἕξις ἐνυπάρχουσα, ἀλλ' ὡς ἐπιγιγνόμενόν
τι τέλος, οἷον τοῖς ἀκμαίοις ἡ ὥρα. Zu Deutsch (cf. 1174b, 14─24): „Eine
jede Wahrnehmung wird wirksam in Bezug auf den wahrzunehmenden Gegenstand; in
höchster Vollendung aber geschieht das, wenn sie selbst am besten dazu angelegt ist und
wirksam wird in Bezug auf den schönsten der in ihren Bereich fallenden Gegenstände:
denn in den meisten Fällen scheint die höchstvollendete Wirksamkeit so geartet zu sein ─
ob sie nämlich selbst wirksam genannt wird oder derjenige, in welchem sie vorgeht, ist
gleichgültig ─, überall entsteht die vollkommenste Wirksamkeit so, daß der am vortrefflichsten
dazu Angelegte dieselbe ausübt in Bezug auf das Vollkommenste, was im Bereich
derselben vorhanden ist. Eine solche Wirksamkeit wäre die höchstvollendete und
zngleich auch mit dem höchsten Grad von Freude verbunden. Denn bei einer jeden
Wahrnehmung kann Freude entstehen, ebenso aber auch beim Denken und bei
der Erkenntnis, jedoch mit der höchsten Freude verbunden ist die höchstvollendete,
und die höchstvollendete bei dem, der mit der am besten dazu geeigneten Beschaffenheit
dem Würdigsten gegenübertritt, das in ihrem Bereich vorhanden ist. Es ist aber
die Freude die Vollendung der Wirksamkeit
...“ Wie diese Vollendung
der Energie durch die Hedone zu verstehen sei, führt Aristoteles an dem zunächst sich
darbietenden Beispiel der aus der Wahrnehmung resultierenden Hedone, also
dem ästhetischen Vergnügen“, aus (cf. 1174b 26─33); „denn daß bei jeder
Wahrnehmung Freude entstehen kann, ist klar; wir sprechen ja doch von der Freude
an Gesichts- und Gehörseindrücken; offenbar aber wird dieselbe den höchsten Grad erreichen,
sobald die Wahrnehmung die vorzüglichste ist und in Bezug auf ein eben solches
Objekt wirksam ist; wenn diese beiden so beschaffen sind, dann wird immer Freude entstehen
... Es vollendet aber die Freude die Wirksamkeit nicht wie eine
dieser natürlich innewohnende Beschaffenheit, sondern wie ein vollendender
Abschluß tritt sie zu ihr hinzu, wie zu der Jugendkraft die
Schönheitsblüte
.“
1.

Jn beiden Gedichten, soweit sie der Zeit nach auseinander liegen ─ 1771 und
1813 ─ genau dieselbe Form des Gespräches mit einer Blume, hier des Knaben mit
dem Haidenröslein, dort des Mannes mit dem Waldblümchen, und in völliger Uebereinstimmung
durchgeführt: „Sah ein Knab' ein Röslein stehn, Röslein auf der Haiden“,
und dort: „Jm Schatten sah ich ein Blümchen stehn“; dann die Schilderung: „War
so jung und morgenschön“, dort: „Wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön“; aber
entsprechend dem grundverschiedenen Stimmungscharakter hier der sorglos daherstürmende,
begehrende Knabe: „Lief er schnell es nah zu sehn, Sah's mit vielen Freuden“; dort
die Achtlosigkeit des seiner Gedankenwelt hingegebenen, von Leidenschaften befreiten
Mannes: „Jch ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war
mein Sinn.“ Dem entsprechend weiter hier: „Jch breche dich“, und die Antwort:
„Jch steche dich, daß du ewig denkst an mich“; dort: „Jch wollt' es brechen, Da sagt
es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein?“ Ebenso in beiden Fällen der Ausgang:
„Und der wilde Knabe brach's Röslein auf der Haiden; Röslein wehrte sich
und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach, Mußt' es eben leiden“; dagegen dort:
„Jch grub's mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich's Am hübschen
Haus. Und pflanzt' es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so
fort.“ Ein vollkommener, bis in die kleinste Einzelheit durchgeführter Parallelismus!
1.

Die heftigste Ankündigung seines neuen Evangeliums ging recht eigentlich von
der Polemik gegen Lessing aus: es ist die „Aesthetica in nuce“, „eine Rhapsodie
in kabbalistischer Prose
“, die 1762 in den „Kreuzzügen des Philologen
erschien. Die Sprache der schwungvollsten Begeisterung wechselt darin unaufhörlich
mit der bittersten Jronie, und die heftigsten Sarkasmen brechen unvermutet
überall hervor. „Nicht Leyer! ─ noch Pinsel! ─ eine Wurfschaufel für meine Muse,
die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!“ ─ so beginnt die Rhapsodie, und gleich darauf
folgen die berühmten, so oft citierten Worte: „Poesie ist die Muttersprache des
1.

menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau älter als der Ackerban: Malerey
als Schrift: Gesang ─ als Deklamation: Gleichnisse ─ als Schlüsse: Tausch ─
als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung
ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinnens oder Erstaunens
saßen sie ─ ─ und thaten ihren Mund auf ─ zu geflügelten Sprüchen. ─ ─
Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. Jn Bildern
besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit. So geht
der begeisterte Ton noch eine Weile fort, von den barocksten Einfällen blitzartig durchzuckt.
Und gleich der erste sarkastische Ausfall des kabbalistischen Rhapsoden offenbart
unverkennbar die Adresse, an welche die ganze erbitterte satirische Polemik der Schrift
gerichtet ist. Mit welcher Wut wird der „mordlügnerischen Philosophie“ gedacht, welche
die Natur aus dem Wege geräumt, und nun fordere, daß sie nachgeahmt werde,
um sie zum zweitenmale zu morden, „nachdem sie durch ihre Abstraktionen sie zuvor
geschunden“. Sinne und Leidenschaften werden in die Schranken gerufen gegen die
Lehrbücher „voller Totenbeine, voller hypo=kritischer Untugend“, und gegen
die Philologengelehrsamkeit, welche den Geist durch das Gedächtnis bilden wolle.
Alle diese Ausfälle erweisen sich als mit gegen Lessing gerichtet, wenn man den
an die Spitze des Ganzen gestellten Angriff als ihn treffend erkennt, freilich den Lessing
nur, wie er in seiner Fabeltheorie sich darstellt. Gerade diese Abhandlungen aber
waren, als Hamann jene Schrift abfaßte, vor kurzem erschienen; ihr hervorstechendster
Jrrtum ist die Auffassung des poetischen Elementes der Tiersage als lediglich eines
praktischen Mittels, allgemeine Wahrheiten der anschauenden Erkenntnis
zugänglich zu machen, wozu, wie Lessing sich ausdrückt, die Tiere als handelnde Personen
wegen der allgemein bekannten Bestandheit ihrer Charaktere
besonders geeignet seien. Nun lese man die betreffende Stelle bei Hamann: „Die erste
Nahrung war aus dem Pflanzenreiche: die Milch der Alten der Wein; die älteste Dichtkunst
nennt ihr gelehrter Scholiast (der Fabel des Jothams und Joas zufolge) botanisch;
auch die erste Kleidung des Menschen war eine Rhapsodie von Feigenblättern. ─ ─
Aber Gott der Herr machte Röcke von Fellen und zog sie an ─ unsern Stammeltern,
denen die Erkenntnis des Guten und Bösen Scham gelehrt hatte. ─ Wenn die Notdurft
eine Erfinderin der Bequemlichkeiten und Künste ist, so hat man Ursache, sich mit
Goguet zu wundern, wie in den Morgenländern die Mode sich zu kleiden, und zwar
in Tierhäuten, hat entstehen können. Darf ich eine Vermutung wagen, die ich wenigstens
für sinnreich halte? ─ ─ Jch setze das Herkommen dieser Tracht in der dem
Adam durch den Umgang mit dem alten Dichter (der in der Sprache Kanaans Abaddon,
auf hellenistisch aber Apollyon heißt ─) bekannt gewordenen allgemeinen
Bestandheit tierischer Charaktere,
─ die den ersten Menschen bewog, unter dem
gelehnten Balg eine anschauende Erkenntnis vergangener und künftiger Begebenheiten
auf die Nachwelt fortzupflanzen ─ ─ ─“ Man hat die Stelle für Ernst
genommen und die Hypothese für doch etwas gewagt erklärt. Nichts kann klarer sein,
1.

„Wesen der Tierfabel“ in: „Reinhart Fuchs“ (1834). Erstes Kapitel. Vgl.:
„Auswahl aus den kleinen Schriften J. Grimms“. Berlin 1871. F. Dümmler. S. 348.
1.

als daß sie schon für sich allein betrachtet und vollends im Zusammenhange des Ganzen
ein flagranter Protest gegen die unberechtigte Einmischung kritischer Abstraktionen in das
Mysterium des poetischen Schaffens und Werdens ist, deren Hamann auch einen Kritiker
von dem Range Lessings schuldig glaubte.
Rede, daß ich dich sehe! ─ ─“ fährt er im Tone der höchsten Emphase fort.
1.

Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, daß die neuere Forschung diese Anschauungen
J. Grimms von dem Wesen und der Entstehung der Tierdichtung als überwunden
betrachtet. Jn dem schönen Buche W. Scherers über „J. Grimm“ (2. Aufl.
Berlin 1885) heißt es darüber S. 291 ff. folgendermaßen: „Eine Schöpfung bewußter
Kunstthätigkeit ward von ihm als ein Produkt der bewußtlos schaffenden Naturkraft
des Geistes angesehen und grauer unvordenklicher Ueberlieferung zugeschrieben, was vor
den Augen der bezeugten Geschichte in seiner Entstehung und Ausbildung offenlag.“
„Die ältesten Gedichte vom Wolf und Fuchs sind nicht älter als das zehnte Jahrhundert.
Sie sind von Klostergeistlichen verfaßt und stammen aus Flandern und
Lothringen. Jhre Nachahmung und Erweiterung, die Ausbreitung der poetischen Gattung,
welche sie begründeten, erstreckte sich während des Mittelalters von dort aus nicht
weiter als auf Nordfrankreich. Eine einzige Tierfabel wird bei Gothen und Baiern
schon in viel älterer Zeit erzählt, aber gerade bei ihr ist die Entlehnung aus griechischer
Fabel nicht nur möglich, sondern, wenn man die Chronologie ihres Auftretens verfolgt
und ihrer Umwandlung nachgeht, aus mehr als einem Grunde höchst wahrscheinlich.
Der alte skandinavische Norden, sonst der treueste Hüter der alten Schätze gemeinsamer
nationaler Poesie, weiß nichts von Reinhart und Jsengrim. Das neuere Skandinavien
teilt seine Tiermärchen mit den gar nicht verwandten Völkern der Lappen, Finnen und
Esthen.“
„Der feindliche Gegensatz zwischen Fuchs und Wolf war in griechischen Fabeln
schon gegeben, von denen sich lateinische Bearbeitungen früh im Mittelalter verbreiteten.
Jhn ergriffen die Verfasser jener mittelalterlichen Gedichte und bildeten ihn mit großem
Behagen weiter aus...“
„Zu dem aus Äsopischen Stoffen mit einem Zusatze von allegorischer Satire komponierten
Grundstocke flossen indische Tierfabeln, mit anderen novellistischen Produkten
in die abendländische Litteratur einströmend, hinzu. Die geschulte Gewandtheit der lateinischen
Klosterdichter, die geschickte Kunstübung der nordfranzösischen Poeten verlieh der
Dichtung jenen reizenden epischen Ueberfluß, welcher in Jakob Grimms Augen ihr
einen so hohen Vorrang vor der Äsopischen Fabel verlieh, und welchem ihre Einführung
aus der französischen in die deutsche und niederländische Nationallitteratur verdankt wird.“
1.

Die dieser Hypothese zu Grunde liegenden historischen Thatsachen waren ihrem
wesentlichen Bestande nach J. Grimm bekannt; allein der Umstand, daß einem völligen
Mangel schriftlicher Ueberlieferung aus dem neunten Jahrhundert im zehnten sehr spärliche
lateinische Reste von Tierdichtungen gegenüberstehen, worauf dann im zwölften und
dreizehnten auf einmal eine reiche Fülle solcher Stoffe erscheint, konnte seiner Hypothese
nicht hinderlich sein, sondern hat vielmehr mit dazu beigetragen, sie hervorzubringen.
Man darf nicht übersehen, daß solche negativen Resultate der Forschung, wie sie für
die Vorgeschichte der Tierdichtung vorliegen, mit Sicherheit doch nur erweisen, daß das
Material für die frühere Zeit eben nicht vorhanden ist, mag es nun verloren gegangen
sein oder mag eine feste poetische Tradition überhaupt sich nicht herausgebildet haben.
Dem gegenüber bleibt die Grimmsche Anschauung, die aus dem Wesen der Sache geschöpft
ist, um so mehr in ihrem Rechte, weil eben wegen jenes Mangels der Ueberlieferung
hier eine Hypothese erfordert wird; denn eine solche ist es doch auch nur,
wenn aus dem Grunde, daß die Kunde dieser Entwickelung eine so höchst mangelhafte
ist, der Schluß gezogen wird, die ganze ungeheure Bereicherung der Tiersage im dreizehnten
Jahrhundert sei der bewußten Kunstthätigkeit einzelner Dichter zu danken.
Stellt man sich vor, daß es doch nur Zufälligkeiten waren, die uns die äußerst geringen
Nachrichten über das Vorhandensein alter deutscher Heldenlieder erhalten haben,
und denen wir ferner die ebenfalls im Verhältnis zu dem Sagenmaterial des zwölften
und dreizehnten Jahrhunderts nur spärliche Kunde früherer Entwickelungsstadien desselben
verdanken, und nimmt man nun an, daß diese Zufälle nicht eingetreten wären:
zu welchen Schlüssen würde man dann z. B. in betreff unseres Nibelungenepos gelangen,
wenn man für das Bild, das man sich von dem Werden und Wachsen der
Sage und der Poesie in jenen frühen Zeiten entwirft, jene Methode der Schlußfolgerung,
des quod non est in actis non fuit in mundo, zum Princip erheben wollte!
Ja, man erwäge dafür auch nur einen Vorgang aus neuester Zeit, dessen zu gedenken
hier naheliegt und der sehr lehrreich in dieser Beziehung ist: hätten die Brüder Grimm
die Sammlung der deutschen Volksmärchen nicht unternommen, auf ein wie dürftiges
Maß würde schon heute die Kunde von diesem reichen poetischen Besitz unseres Volkes
reduciert sein
1.

Vgl. Adrastea, „Über die Fabel“ (Hempelsche Ausg. Bd. 14, S. 211).
2.

a. a. O. S. 211.
3.

Vgl. Zerstreute Blätter: Über Bild, Dichtung und Fabel“ (Hempel Bd. 15,
S. 95 und 96).
4.

a. a. O. S. 101 und 103.
5.

a. a. O. S. 106.
1.

a. a. O. S. 107.
2.

Vgl. Lessing, Abhandl. über die Fabel I (Hempel Bd. X, S. 43 u. ff.).
1.

Vgl. Ausg. Lachm.=Mal. Bd. I, S. 197; Anhang zu den Fabeln.
1.

Vgl. den XIII. Abschnitt.
1.

S. a. a. O. (Hempel X, S. 50).
2.

Was in der neuesten, sehr umfangreichen „Deutschen Poetik“ von
Dr. C. Beyer in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich
und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches durchweg, so
unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine
Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz:
„Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches,
vor Augen Liegendes: die Parabel
ist die Analogie (!) für eine
Wahrheit!
Dazu die Erläuterung: „Lehre und einkleidende Anschauung (!)
unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen
Stufe des Lehrhaften
stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel
für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen
Form ... fähig. Bei der Lehre, welche die Fabel gibt, ist es meist ganz
2.

gleichgültig, ob das Tier ein Fuchs oder ein Wolf, ob der Baum ein
Apfelbaum oder ein Birnbaum oder eine Eiche ist
(!!); bei der Parabel
besteht eine bestimmte Wirklichkeit
(!!): die Wirklichkeit menschlicher Verhältnisse,
weshalb sie eine höhere Stufe nach Form und Lehre einnimmt als die Fabel
u. s. w. u. s. w. Von der Allegorie (einer Reihe symbolischer Bezeichnungen
[!]) unterscheidet sich die Parabel dadurch, daß jene nur einen Zustand durch
Bilder in ein klares Licht setzen will, diese aber eine höhere Wahrheit im Bilde
anschaulich macht. Während man daher bei der Allegorie schließlich nur
eine Beschreibung erhält, hat man bei der Parabel eine Belehrung
(!!).“
Als Erklärung der Konfusion dieser fast durchweg wörtlich aus Wackernagels „Poetik,
Rhetorik und Stilistik“ entnommenen Sätze diene der Umstand, daß die Entlehnung
bruchstückweise, ganz willkürlich und ohne Rücksicht auf den Zusammenhang geschehen ist.
1.

Inst. orator. lib. VIII, 6, § 44. Genau: At ἀλληγορία, quam inversionem
interpretantur, aut aliud verbis aliud sensu ostendit, aut etiam interim
contrarium. Jedoch dieses etiam interim contrarium erklärt er selbst im § 54 für
die Jronie. In eo vero genere, quo contraria ostenduntur, ironia est: illusionem
vocant; er betrachtet dieselbe also als eine Unterart der Allegorie.
1.

S. „Blätter der Vorzeit“ (Hempel VI, S. 34).
1.

Sprüche: Ethisches: IV, Nr. 363. S. Hempel XIX, S. 83.
1.

S. Hempel XIX, S. 158.
1.

S. Hempel XIX, S. 219.
2.

Ethisches III. Hempel XIX, S. 75.
3.

Ethisches IV, S. 93.
1.

Damit steht die Lehre Kants in voller Übereinstimmung: vgl. Kritik der
reinen Vernunft
, I. Abth., 1. Buch, 1. Abschn. (Ausg von R. und Sch. Bd. II,
S. 258): „Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der
reine Begriff, sofern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen
Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit
der Erfahrung übersteigt, ist die Jdee oder der Vernunftbegriff.“
1.

Ein ganz herrliches und wahrhaft klassisches Muster solcher poetischen Symbolik,
in großen Partien der Dichtung zugleich ein Muster echt poetischer Allegorie, ist Goethes
Märchen“ von der schönen Lilie in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“,
dessen Deutung der Verfasser in einer eigenen Schrift: „Goethes
Märchen, ein politisch=nationales Glaubensbekenntnis des Dichters

(Königsberg, Verlag der Hartungschen Buchdruckerei, 1875) niedergelegt hat.
1.

Zu einer eingeschränktern Verwendung ─ nämlich mit Bezug auf die Sonderung
des Ernsten und Komischen, welches im wirklichen Leben nicht selten vermischt auftritt
─ führt Lessing diesen Gedanken im 70. Stück der Hamb. Dramaturgie aus: „Jn
der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem,
alles verändert sich, eines in das andre. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit
ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem
Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr
Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit
nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken
des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden
vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger
Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was
wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser
Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern.
Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer Verbindung verschie=
1.

dener Gegenstände, es sei in der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern
oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns
diesen Gegenstand oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände so lauter und bündig,
als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.“
1.

Wilhelm Grimm in einer Rede: „Über Geschichte und Poesie“; siehe
Kl. Schrft. Bd. I, S. 497 ff.
1.

Wilh. Grimm:Über das Wesen der Märchen“; s. Kl. Schrft. Bd. I,
S. 338.
2.

Vgl. hierzu Lehrs: Populäre Aufsätze aus dem Altertum: „Die
Nymphen“, 2. Aufl., S. 111: „So wie der Grieche in die örtliche Natur um sich sah,
in seine Wälder und Grotten, seine Berge und Schluchten, seine Quellen und Wellen
1.

W. Grimm a. a. O., S. 339 ff.
2.

─ so empfing er den Eindruck eines Lebens, eines anmutigen, üppigen Lebens, eines
von ihm unabhängigen Lebens so lebendig, so innig, so hehr, daß sich ihm die empfundene
Wirkung sogleich in göttliche Wirksamkeiten umsetzte, und diese göttlichen
Energien nun nach seiner Weise sogleich als göttliche Gestalten, göttliche Personen hervorsprangen.
So faßte er die räumliche Natur um sich, ähnlich der zeitlichen ─ neben
den Horen die Nymphen. Nun aber bemerke man wohl: der Grieche ist, recht im Gegensatze
eines neuern schroffen Materialismus, der ausgemachteste Spiritualist. An Berg,
Grotte, Fluß, Wellen und so fort interessiert ihn die Materie gar nicht: sie entschwindet
ihm: was ihn angeht, was ihn anspricht und erfaßt, ist die Anmut, die Klarheit und
Regsamkeit der Quelle, die sichere Kraftfülle des Flusses, das schattige Dunkel des
Hains, die üppige Feuchte der Trift, das farbige Wellenspiel des Meeres: kurz diese
und solche gleichsam seelischen Eigenschaften, die wieder auf seine Seele
wirken,
die aber er eben nicht auffaßt als Eigenschaften an einem Körper, sondern
empfindet als Lebensäußerungen, als göttliche Wirksamkeiten.“
1.

S. Lehrs a. a. O. am Schlusse des Aufsatzes: „Die Horen“, S. 90 u. 91.
1.

Lehrs a. a. O. „Zeus und die Moira“ S. 215.
1.

Vgl. a. a. O. „Dämon und Tyche“ S. 177, 178.
2.

Vgl. Wilh. Grimm:Entstehung der altdeutschen Poesie“. Kl. Schr.
Bd. I, S. 123.
3.

Ebend. „F. v. d. Hagens Nibelungen“ S. 67.
1.

Es ist die Anschauung, von welcher Schiller sich durchdrungen fühlte, und
der er in seinen „Künstlern“ den begeisterten Ausdruck verliehen hat, am prägnantesten
in der siebzehnten Strophe:
Was die Natur auf ihrem großen Gange

Jn weiten Fernen auseinanderzieht,

Wird auf dem Schauplatz im Gesange

Der Ordnung leicht gefaßtes Glied.

Vom Eumenidenchor geschrecket,

Zieht sich der Mord, auch nie entdecket,

Das Los des Todes aus dem Lied.

Lang', eh' die Weisen ihren Ausspruch wagen,

Löst eine Jlias des Schicksals Rätselfragen

Der jugendlichen Vorwelt auf;

Still wandelte von Thespis Wagen

Die Vorsicht in den Weltenlauf.

Und derselbe Gedanke, allgemeiner gefaßt, gleich zu Anfang in der dritten und
vierten Strophe.
1.

Vgl. Jakob Grimm:Wesen der Tierfabel“. Ausw. d. Kl. Schrft.
S. 353.
1.

Jm Text steht ἀλλὰ, wofür ich ἀλλ' ᾗ geschrieben habe, um den Sinn der verdorbenen
Stelle herzustellen.
1.

Sprüche in Prosa V, Nr. 414.
1.

Vgl. Dramaturgie Nr. 28.
2.

S. Kant Bd. IV (ed. Rosenkranz). Kritik der Urteilskraft S. 207.
1.

Vgl. hierzu Th. Vischer, Über das Erhabene und Komische, ein Beitrag zu
der Philosophie des Schönen, 1837, S. 198 ff.
1.

Sprüche: Ethisches V, Nr. 413.
2.

Sprüche: Ethisches V, Nr. 415.
1.

Vgl. das von ihm der Übersetzung von Chassirons und Gellerts Abhandlungen
„Über das rührende oder weinerliche Lustspiel“ hinzugefügte Nachwoert (L. M. IV,
S. 156 ff.), welches außer diesem negativen aber auch ein bedeutendes positives Jnteresse
einzuflößen geeignet ist. Es heißt dort: „Jch getraue mir zu behaupten, daß nur dieses
allein wahre Komödien sind, welche sowohl Tugenden als Laster, sowohl Anständigkeit
als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem
menschlichen Leben, am nächsten kommen. Die Klugen und Thoren sind in der Welt
untermengt, und ob es gleich gewiß ist, daß die ersteren von den letzteren an Zahl
übertroffen werden, so ist doch eine Gesellschaft von lauter Thoren beinahe ebenso unwahrscheinlich
als eine Gesellschaft von lauter Klugen. Diese Erscheinung ahmt das
Lustspiel nach, und nur durch die Nachahmung derselben ist es fähig, dem Volke
nicht allein das, was es vermeiden muß, auch nicht allein das, was
es beobachten muß, sondern beides zugleich
in einem Lichte vorzustellen, in
welchem das eine das andre erhebt. Man sieht leicht, daß man von diesem wahren
un deinigen Wege auf eine doppelte Art abweichen kann. Der einen Abweichung hat
man schon längst den Namen des Possenspiels gegeben, dessen charakteristische Eigenschaft
darinnen besteht, daß es nichts als Laster und Ungereimtheiten mit keinen andern
als solchen Zügen schildert, welche zum Lachen bewegen, es mag dieses Lachen nun ein
nützliches oder ein sinnloses Lachen sein. Edle Gesinnungen, ernsthafte Leidenschaften,
Stellungen, wo sich die schöne Natur in ihrer Stärke zeigen
kann, bleiben aus demselben ganz und gar weg;
und wenn es außerdem
auch noch so regelmäßig ist, so wird es doch in den Augen strenger Kunstrichter dadurch
noch lange nicht zu einer Komödie. Worinne wird also die andre Abweichung
bestehen? Unfehlbar darinnen, wenn man nichts als Tugenden und anständige Sitten
mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche Bewunderung und Mitleid erwecken,
beides mag nun einen Einfluß auf die Besserung der Zuhörer
haben können oder nicht.
Lebhafte Satire, lächerliche Ausschweifungen, Stellungen,
die den Narren in seiner Blöße zeigen, sind gänzlich aus einem solchen Stücke verbannt.
Und wie wird man ein solches Stück nennen? Jedermann wird mir zurufen:
das eben ist die weinerliche Komödie! Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel
will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel willnur
rühren; die wahre Komödie will beides
... die wahre Komödie allein
ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen
und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften.
Was sie
1.

Die Hauptstellen sind die im 28. und 29. Stück der Dramaturgie (L. M. VII,
S. 121, 122): „Wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische
Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit,
jeder Kontrast von Mangel und Realität ist lächerlich.
Aber lachen und
verlachen ist sehr weit auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Geegenheit
seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so bekannt
dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch neuerlich Rousseau gegen
den Nutzen der Komödie
gemacht hat, nur daher entstanden, weil er ihn nicht
gehörig in Erwägung gezogen. Molière, sagt er z. E., macht uns über den Misanthropen
zu lachen, und doch ist der Misanthrop der ehrliche Mann des Stückes; Molière
erweiset sich also als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich
macht. Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist, und
das Lachen, welches aus der Situation entspringt, in die ihn der Dichter setzt, benimmt
ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste.“ ─ ─ Und ferner: „Die Komödie
will durch Lachen bessern;
aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen
Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen
sich diese lächerlichen Unarten finden. Jhr wahrer allgemeiner Nutzen liegt
in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche
zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der
Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmeren oder mit guten
Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes leicht und
geschwind zu bemerken.
Zugegeben, daß der Geizige des Molière nie einen Geizigen,
der Spieler des Regnard nie einen Spieler gebessert habe: eingeräumt, daß das
Lachen diese Thoren gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die
Komödie. Jhr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen kann, die Gesunden
in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem Freigebigen ist der Geizige lehrreich;
auch dem, der gar nicht spielt, ist der Spieler unterrichtend; die Thorheiten,
die sie nicht haben, haben andre, mit denen sie leben müssen; es ist ersprießlich,
diejenigen zu kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich
wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch eine
schätzbare Arznei; und die ganze Moral hat kein kräftigeres, wirksameres
als das Lächerliche
.“
1.

bei dem einen nicht durch die Scham erlangt, das erlangt sie durch die Bewunderung;
und wer sich gegen diese verhärtet, dem macht sie jene fühlbar. Hieraus scheint die
Regel des Kontrastes oder der Abstechung geflossen zu sein, vermöge welcher man
nicht gern eine Untugend aufführt, ohne ihr Gegenteil mit anzubringen; ob ich gleich
gerne zugebe, daß sie auch darinne gegründet ist, daß ohne sie der Dichter seine Charaktere
nicht wirksam genug vorstellen könnte.“
1.

Jn Oberdeutschland für Hirschkuh, Ricke.
1.

Die Entscheidung darüber, ob diese Freude die richtige sei oder nicht, erfolgt
durch theoretische Untersuchung; sie wird nach objektiv und absolut geltenden
Gesetzen, die vom „Geschmacksurteil“ nicht abhängen, gefällt und ist die Sache der
wissenschaftlichen ästhetischen Kritik.
1.

Vgl. die nähere Ausführung über das Nibelungenlied, S. 292 ff.
1.

So Jul. Cäsar Scaliger in seinen Poetices libri septem über das Epos
mit Beziehung auf Horaz I, 6, 1: Epicorum materia declaratur, dux, miles, classis,
equus, victoria (cf. lib. I, c. 41) und über das Drama (cf. I, c. 6): Tragoedia,
sicut et Comoedia in exemplis humanae vitae confirmata, tribus ab illa differt,
Personarum conditione, fortunarum negotiorumque qualitate, exitu. Quare stylo
quoque differat necesse est. In illa e pagis sumpti Chremetes, Davi, Thaides
loco humili: Initia turbatiuscula: fines laeti. Sermo de medio sumtus. In Tragoedia
Reges, Principes, ex urbibus, arcibus, castris. Principia sedatoria: exitus
horribiles. Oratio gravis, culta, a vulgi dictione aversa, tota facies anxia,
metus, minae, exilia, mortes. Es sind genau die Vorschriften, nach denen sich die
französische klassische Tragödie gebildet hat. Auch die Pastoralia poemata leitet Scaliger
aus dem ständischen Princip ab (cf. I, c. 4): Vetustissimum Poematis genus ex
antiquissimo vivendi more ductum esse par est. Tria vero saeculorum genera:
Pastoris, Venatoris, Aratoris. Ac venatores, quia sunt in motu, minus ad verba
propensi existunt. Quin neutiquam faustum putamus in venatu loqui: nedum
ut cantus aptus judicetur. Reliqua duo genera cantiones suas meditata sunt.
Jn derselben Weise definiert Opitz in dem „Buch von der teutschen Poeterey“
Kap. 5, daß „ein Heroisch getichte gemeiniglich weitleuffig sei und von hohem wesen
rede“; ... „die Tragedie ist an der majestät dem Heroischen getichte gemesse, ohne das
sie selten leidet, das man geringen standes personen und schlechte sachen einführe: weil
sie nur von Königlichem willen, Todschlägen, verzweiffelungen, Kinder- und Vätermörden,
brande, blutschanden, kriege und auffruhr, klagen, heulen, seuffzen und dergleichen
handelt“; ... „die Comedie bestehet in schlechtem wesen und personen: redet
von hochzeiten, gastgeboten, spielen, betrug und schalckheit der knechte, ruhmrätigen Landtsknechten,
buhlersachen, leichtfertigkeit der jugend, geitze des alters, kupplerey und solchen
sachen, die täglich unter gemeinen leuten vorlauffen. Haben derowegen die, welche heutiges
tages Comedien geschrieben, weit geirret, die Keyser und Potentaten eingeführet;
weil solches den regeln der Comedien schnurstracks zuwieder laufft“; ... „die Eclogen
oder hirtenlieder reden von schaffen, geißen, seewerk, erndten, erdgewächsen, fischereyen
und anderem feldwesen; und pflegen alles worvon sie reden, als von Liebe, heyrathen,
absterben, buhlschafften, festtagen und sonsten auf ihre bäwrische und einfältige art vor
zue bringen.“
1.

Vgl. hierzu und zum folgenden Aristoteles, Poet. Kap. 9 und 10.
1.

Vgl. Aristoteles, Poet. Kap. 13.
1.

Vgl. hierüber wie überhaupt über den Gebrauch dieser Termini die Abhandlung
des Verfassers: „Pathos und Pathema im Aristotelischen Sprachgebrauch.
Königsberg i. Pr. 1873 (bei Wilhelm Koch), durchweg und speciell Abschnitt IV,
S. 28─40.
1.

Vgl. hierzu Aristoteles, Poet. Kap. 13 und 14; denn die hier enthaltenen
Bestimmungen haben für das Epos ebensowohl Geltung als für die Tragödie.
2.

a. a. O. Kap. 24.
1.

Vgl. Kap. 8: Μῦθος δ' ἑστὶν εἷς, οὐχ ὥσπερ τινὲς ὄιονται, ε\̓αν περὶ ἕνα ᾖ·
πολλὰ γὰρ καὶ ἄπειρα τῷ γένει συμβαίνει, ἐξ ὧν ἐνίων οὐδέν ἐστιν ἕν· οὕτω δὲ
καὶ πράξεις ἐνὸς πολλαί εἰσιν, ἐξ ὧν μία οὐδεμία γίνεται πρᾶξις.
1.

Das ist die fast wörtliche, dem Sinne jedoch genau entsprechende Übersetzung
von Aristot. Poet. Kap. 7: ὅλον δ'ἐστὶ τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ μέσον καὶ τελευτήν.
ἀρκὴ δ'ἐστὶν ὅ αὐτὸ μὲν μὴ ἐξ ἀνάγκης μετ' ἄλλο ἐστί, μετ' ἐκεῖνο δ'ἕτερον
πέφυκεν εἶναι \̓η γίνεσθαι· τελευτὴ δἐ τοὐναντίον \̔ο αὐτὸ μετ' ἄλλο πέφυκεν εἶναι,
\̓η ἐξ ἀνάγκης \̓η ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, μετὰ δἐ τοῦτο ἄλλο οὐδέν· μέσον δὲ \̔ο καὶ αὐτὸ
μετ' ἄλλο καὶ μετ' ἐκεῖνο ἕτερον. δεῖ ἄρα τοὺς συνεστῶτας εὖ μύθους μἠθ' ὁπόθεν
ἔτυχεν ἅρχεσθαι μηθ' ο῟που ἔτυχε τελευτᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι ταῖς εἰρημέναις ἰδέαις·
2.

Vgl. a. a. O. Kap. 8 am Schlusse: χρή οὖν καθάπερ καὶ ἐν ταῖς ἅλλαις μιμητικαῖς
ἡ μία μίμησις ἑνός ἐστιν, οὕτω καὶ τὸν μῦθον, ἐπεὶ πράξεως μίμησίς
ἐστι, μιᾶς τε εἶναι καὶ ταύτης \̔ολης, καὶ τὰ μέρη συνεστάναι τῶν πραγμάτων
οὕτως ὥστε μετατιθεμένου τινὸς μέρους ἤ ἀφαιρουμένου διαφέρεσθαι καὶ κινεῖσθαι
τὸ ὅλον· \̔ο γὰρ προσὸν \̓η μὴ προσόν μηδὲν ποιεῖ ἐπίδηλον, οὐδὲν μόριον τοῦ ὅλου ἐστίν.
1.

Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung
der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun,
in wie absichtlicher Weise Gottfried seine Schilderung der echten Liebe der konventionellen
Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan
und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.):
ich hân von in zwein vil gedâht

und gedénke hiute und alle tage;

swenne ich liebe und senede klage

vür mîniu ougen breite

und ir gelegenheite

in mînem herzen ahte,

sô wahsent mîn trahte

und muot mîn hergeselle,

als er ín die wolken welle.

swenn' ich bedenke sunder

Über beide hab' ich viel gedacht

Und denke heut und allezeit:

Wenn ich Liebeslust und Leid

Mir will vor Augen breiten,

Jhr Wechseln und ihr Streiten

Jm Herzen zu betrachten,

So wächst mein sehnlich Trachten

Und Mut, mein Heergeselle,

Als ob er in den Himmel schwelle.

Wenn ich der Wunder denke,
1.

daz wunder und daz wunder,

daz man an liebe funde

der ez gesuochen kunde;

was fröude an liebe laege,

der ir mit triuwen phlaege:

sô wirt mîn herze sâ zestunt

groezer danne setmunt;
*
und erbármet mich diu minne

von allem mînem sinne,

daz meistic alle, die der lebent

an minnen hangent und klebent

und ir doch niemen rehte tuot.

wir wellen alle habent muot

und mit minnen umbe gân.

nein, minne ist niht alsô getân,

als wir s' ein ander machen

mit välschlîchen sachen.

wir nemen der dinge unrehte war,

wir saejen bilsensâmen dar

und wellen danne, daz uns der

liljen und rôsen ber.

entriuwen, des mac niht gewesen;

wir müezen daz her wider lesen,

daz dâ vor gewerket wirt,

und nemen, daz uns der sâme birt.

wir müezen snîden unde maen

daz selbe, daz wir dar gesaen.

wir bû'wén die minne

mit gegelletem sinne,

mit valsche und mit â'kúst

und suochen danne an ir die lust

des lîbes unde des herzen:

sone birt si niuwan smerzen,

unguot und unfruht unde unart,

als ez an ir gebûwen wart.

als ez uns danne riuwe birt

und innerhalp des herzen swirt

und toetet uns dar inne,

sô zîhen wir's die minne

Mich wundernd drein versenke,

Die an der Liebe fände,

Wer zu suchen nur verstände,

Was Freud' an Liebe läge,

So man sie mit Treuen pfläge:

So wird das Herz mir gleich zur Stund

Größer fast als Septimund,

Und erbarmt mich dann die Minne

Von ganzem Herzenssinne,

Daß die Meisten, die da leben,

An Minne haften und kleben,

Und der ihr Recht doch niemand thut.

Wir haben alle guten Mut

Zu wandeln auf der Liebe Bahn.

Nein, Minne ist nicht so gethan,

Wie wir uns weis wohl machen

Mit trügerischen Sachen.

Man nimmt der Dinge übel wahr,

Sät Bilsen aus im Februar,

Und wundert sich am Erntetage,

Daß er Rosen nicht und Lilien trage.

Jn Treuen, das mag nimmer sein,

Wir heimsen andre Frucht nicht ein,

Als wir in das Feld gestreut,

Wir ernten, was der Same beut.

Wir müssen schneiden und mähen,

Was wir in den Acker säen.

Wir bauen die Minne

Mit galligem Sinne,

Trug und Falschheit in der Brust,

Und fordern dann von ihr die Lust

Des Lebens und der Herzen.

So bringt sie uns nur Schmerzen,

Unsüße Frucht von arger Art,

Die von uns selbst gezogen ward.

Hernach wenn uns die Reue trifft,

Uns in dem Herzen schwiert ihr Gift

Und tödtet uns darinne,

So zeihen wir's die Minne
*

Das Wort ist unerklärt; Simrocks Übersetzung „Septimund“ folgt der Konjektur
septimunt == Siebengebirge (andere verstehen es als „Septimer“).
1.

unde schuldegen sî dar an,

diu schulde nie daran gewan.

............

des guoten vinden wir dâ niht,

des unser iegelicher gert

und des wir alle sîn entwert:

daz ist der staete friundes muot,

der staetecliche sanfte tuot,

der die rô'sen bî dem dorne treit

die senfte bî der arebeit;

an dem ie lît verborgen

diu minne bî den sorgen,

der an dem ende ie fröude birt,

als ofte als er beswaeret wirt,

den vindet man ie lützel nuo:

als vórwérke wir dar zuo.

Ez ist vil wâr, daz man dâ saget:

„Minn' ist getriben unde gejaget

in den endelôsten ort.“

wir haben an ir niwan daz wort:

uns ist niwan der name beliben

und haben ouch den alsô zetriben,

also verwortet unde vernamet,

daz sich diu müede ir namen schamet

und ir daz wort unmaeret;

si swachet unde swaeret

ir selber ûf der erde;

diu êrelôse unwerde,

si slîchet under hûsen biten

und treit von lasterlichen siten

gemanicvaltet einen sac .....

..............

Minn', aller Herzen Künigin,

diu frîe, diu eine

diu ist umb' kouf gemeine,

wie habe wir unser hêrschaft

an ir gemachet zinshaft!

wir haben ein boese conterfeit

in daz vingerlîn geleit

und triegen uns dâ selbe mite.

ez ist ein armer trügesite,

Und geben ihr die Schuld daran,

Die nie daran die Schuld gewann.

............

Wir finden nichts von dem Genuß,

Des unser Jeglicher begehrt

Und der uns billig bleibt verwehrt.

Den Genuß gibt stäter Freundesmut,

Der sanft zu allen Stunden thut,

Der bei dem Dorn auch Rosen trägt

Und Süßigkeit bei Schmerzen hegt,

Jn dem bei allen Sorgen

Die Minne liegt verborgen,

Der stäts am Ende Freude schenkt,

Wie oft er auch in Kummer senkt:

Den findet man so selten nun,

Die Ernte bringt das falsche Thun.

Es ist wohl Wahrheit, was man sagt:

„Vertrieben wird und ausgejagt

Die Minne bis zum fernsten Ort.“

Von ihr verblieb allein das Wort,

Uns ist der Name nur geblieben,

Den haben wir auch so zerrieben,

So abgejagt und lahm gehetzt,

Ermüdet schämt sie sein sich jetzt.

Das Wort macht ihr Beschwerde,

Sie ward sich auf der Erde

Schier selbst zuwider und zur Last,

Sie ist da ein unwerter Gast.

Sie geht von Haus zu Hause bitten

Und führt mit lästerlichen Sitten

Angefüllten Sack herum u. s. w.

............

Minn', aller Herzen Königin,

Mit ihren freien Gaben,

Jst nun um Geld zu haben.

Wir würd'gen unsre Herrlichkeit

An ihr herab zur Zinsbarkeit:

Wir fassen einen falschen Stein

Jns edle Gold am Fingerlein

Und trügen so uns selber auch.

Welch armsel'ger Lügenbrauch,
1.

der friunden alsô liuget,

daz er sich selben triuget.

wir falschen minnaere,

der Minnen trügenaere,

wie vergânt uns unser tage,

dáz wir únsérre klage

sô selten liebez ende geben!

wie vertuon wir unser leben

âne liep und âne guot!

nu gît uns doch daz guoten muot,

daz uns ze nichté bestät.

swaz iemen schoener maere hât

von friuntlichen dingen,

swaz wir mit rede vür bringen

von den, die wîlen wâren

vor manegen hundert jâren,

daz tuot uns in dem herzen wol

und sîn derselben state sô vol,

daz lützel iemen waere

getriuwe unde gewaere

und wider den friunt ân â'kúst,

ern möhte sus getâne lust

von sîn selbes sachen

in sînem herzen machen,

wan uns daz selbe z' aller zît

mit jâmer under füezen lît,

dâ von ez allez ûf erstât:

deist triuwe, diu von herzen gât;

diu treit sich uns vergebene an;

sô kêre wir daz ouge dan

und trî'bén die süezen

unwertlich under füezen;

wir haben si mit unwerde

vertreten in der erde;

ob wir si gerne suochten dâ,

wir enwízzen alles gâhes wâ.

sô guot, sô lônbaere

triuw under friunden waere,

war umbe lieben wir si niht?

ein blic, ein inneclîch gesiht

ûz herzeliebes ougen

Wer Freunden also lüget,

Daß er sich selber trüget!

Wir Minner falscher Sinne,

Verfälscher wahrer Minne,

Wie vergehn uns unsre Tage,

Daß wir unsrer Klage

So selten liebes Ende geben!

Wie verthun wir unser Leben

So ohne Lieb' und wahres Gut.

Gibt es uns doch guten Mut,

Wo es auf fremdem Felde sprießt.

Was jemand schöner Mären liest

Von freundlichen Dingen,

Was wir zur Sprache bringen

Von solchen, die da waren

Vor manchen hundert Jahren,

Das thut uns in dem Herzen wohl

Und sind des gleichen Fugs so voll,

Daß selten jemand wäre,

Der Treue trüg' und Ehre

Und dem Freund kein Falsch in seiner Brust,

Er möchte sogethane Lust

Jn Herzen und in Sinnen

Sich selber wohl gewinnen.

Denn unter unsern Füßen liegt

Mit Jammer kläglich hingeschmiegt,

Wovon so holdes Glück entsteht:

Das ist Treue, die von Herzen geht;

Die trägt sich uns vergebens an:

Die Augen kehren wir hiedann

Und treten leider die Süße

Gleichgültig unter die Füße.

Die wir da liegen ließen

Und in die Erde stießen,

Wollten wir sie suchen dort,

Wir wüßten kaum sogleich den Ort.

So guten Lohn die rechte

Treu' unter Freunden brächte,

Warum lieben wir sie nicht?

Ein Blick von holdem Angesicht

Aus den geliebten Augen
1.

der leschet âne lougen

hunderttusend smerzen

des lîbes unde des herzen.

ein kus in liebes munde,

der von des herzen grunde

her ûf geslichen kaeme,

ahî, waz der benaeme

seneder sorge und herzenôt!

Mag doch zu löschen taugen

Hunderttausend Schmerzen

Des Leibes und der Herzen.

Ein Kuß von liebem Munde,

Der von des Herzens Grunde

Heraufgedrungen käme,

Ach, wie viel benähme

Der sehnlich Leid und Herzensnot!
1.
Str. 399 und 400, beide von Lachmann gestrichen.
1.

Die Hdschft. C. führt das zu Grunde liegende Verhältnis in den Strophen 497,
5─8 und 499, 5─8 noch besonders deutlich aus, vgl. namentlich 499, 7─8:
dô widerredete ez Sîfrit, der vil küene man

unz daz in Gunther sêre vlêgen began.
2.

Alle von Lachmann an dieser Stelle erhobenen Einwendungen, vgl. namentlich
die Anmerkungen zu Str. 375, 576, 577, fallen damit in sich selbst zusammen.
1.

Vgl. Scherer, Gesch. d. dtsch. Litt. S. 118.
2.

Vgl. Scherer a. a. O.
3.

Ebendaselbst.
1.

Aber selbst was hier schwereres Bedenken erregt hat, erscheint nicht stichhaltig.
Es mögen drei der wesentlichsten Punkte in Betracht genommen werden: 1) Die von
Lachmann mit XVI, c und XVII, b bezeichneten Lieder sollen denselben Gegenstand
behandeln und daher einander ausschließen, weil in beiden von einem durch Chriemhild
veranlaßten Angriffsversuch der Heunen erzählt wird, der beidemale aus Furcht vor
Hagen und Volker unterbleibt. Jn der bloßen Wiederholung eines mißglückten Versuchs
liegt doch kein Grund dazu; ebensowenig darin, daß beidemale Hagen es ist,
welcher ihn abweist, da doch gegen ihn allein zunächst Chriemhildens Angriffe sich richten.
Dächte man in der That sich eine größere Anzahl den Gegenstand behandelnder Lieder,
so hätte abermals der Dichter mit großer Einsicht sein Material gewählt; die so erreichte
Steigerung ist geradezu unentbehrlich zu nennen. Noch meint es Chriemhild so
wenden zu können, daß Hagen allein von ihrer Rache gefällt wird: welch eine herrliche
Scene, wie sie nun durch ihr persönliches Auftreten den offenen Streit mit ihm zu
erregen sucht (vgl. 1702 und 3, 1708 und 9, 1725─27); dagegen dann der grimmige
Trotz des gewaltigen Helden (1714─24), mit dem er die Gefahr erkennend und sie
kühn herausfordernd zugleich ihr am besten begegnet. So muß nun die Königin zu
schlimmeren Mitteln ihre Zuflucht nehmen. Schon bei dem Heimgange am Abende
werden die Burgunden von drohenden Scharen der Heunen umdrängt (vgl. 1758─61),
dann folgt in der Nacht der heimtückische Überfall, den die Wachsamkeit Hagens und
Volkers vereitelt. Wie der Dichter es verstanden hat, den beiden Scenen bei der Ähnlichkeit
ihres Jnhaltes Mannigfaltigkeit und jeder ein ganz eigenartiges Gepräge zu
verleihen, der ersten durch die persönliche Begegnung zwischen Chriemhild und Hagen,
wo gleichsam mit eins der ganze Horizont sich mit drohenden schwarzen Wetterwolken
bedeckt, und wie er dann in der zweiten dem ersten Zucken der unheimlichen Blitze jenes
Bild voll der höchsten Anmut vorangehen läßt ─ Hagen und Volker die Schildwacht
haltend und Volker die Helden in den Schlaf geigend ─, wäre überflüssig des Näheren
auszuführen. Das letzte Mittel ist fehlgeschlagen: nun bleibt nur der offene Kampf
gegen alle. Vgl. 1786:
dô fuogte si ez anders: vil grimmer was ir muot.

des muosen sît verderben helde küene unde guot.

2) „Sogar die Beziehungen, welche die Fabel selbst bedingt, sind ohne Sorgfalt durchgeführt:
wenn z. B. Jring auftritt und, offenbar mit Liebe geschildert, gleich nach
seinem Tode gänzlich vergessen wird,“ heißt es bei Lachmann in den Anmerkungen S. 1.
Als ob es, wie schon oben ausgeführt, die Sache des Epos wäre, statt sich strengstens
1.

auf den Kern der Handlung zu beschränken, auch nur für die Hauptpersonen Vollständigkeit
der sie betreffenden Mitteilungen zu erstreben. Und Jring gehört nicht
einmal zu diesen. Zu welchem Extrem cyklischer Stoffanhäufung würde das hier vermißte
Verfahren führen! 3) Wie viele Strophen des Gedichtes werden von Lachmann
erbarmungslos dem in Str. 1861, 3 enthaltenen „Widerspruche“ geopfert, einem seiner
Hauptargumente gegen die einheitliche Komposition des Liedes! ‚Ich was ein wênic
kindel, do Sîfrit vlôs den lîp,‘ sagt dort Dankwart; und es ist natürlich eine Ungereimtheit,
daß er, Hagens Bruder, Chriemhildens Oheim, nach allem, was die früheren
Gesänge von ihm melden, bei Siegfrieds Ermordung im jugendlichen Knappenalter gestanden
haben soll. Vielmehr ist er schon zu jener Zeit als ein älterer Mann zu denken,
und seitdem sind zwanzig Jahre verflossen. Nun erwäge man aber unbefangen die
Situation! Dankwart ist genau von dem bevorstehenden Überfall der Heunen
unterrichtet
(vgl. 1864, 65), er kennt alle Nebenumstände des Mordplanes und ist
auf den grimmigsten Kampf gefaßt. Höhnend ruft er, als er Blödel den Kopf heruntergeschlagen,
ihm nach: ‚daz sî dîn morgengâbe zuo Nuodunges briute, der du mit
minne woldest phlegen. Man mac si morgen mehelen einem andern man: wil
er die brûtmiete, dem wirt alsam getân.‘ Nun stelle man sich den graubärtigen,
grimmen Recken vor, dem von vorneherein und nun vollends nach allem, was geschehen
ist, nichts ferner liegt, als dem unvermeidlichen Kampf aus dem Wege zu gehen oder
gar sich persönlich zu exkulpieren, wie kann man aus seinem Munde die Worte ‚ich
was ein wênic kindel, dô Sîfrit vlôs den lîp: ine weiz niht waz mir wîzet des
künic Etzelen wîp,‘ anders verstehen wie als offenbaren Spott, Hohn ins Angesicht
des Feindes! Und ebenso das folgende: ‚so enwelt ir niht erwinden? sô riwet
mich mîn vlêgen: daz waere baz gespart‘: wie kann man darin die höhnende
Jronie verkennen und jenen grimmigen Humor, der in solchen Lagen den Recken der
deutschen Volksepen eigentümlich ist!
1.
Vgl. Goethes Tasso I, 4.
2.

Vgl. Goethe, Sprüche VII, Nr. 602.
3.

cf. Goethe, Sprüche V, 410.
1.

Vgl. Goethe, Sprüche. Ethisches IV, Nr. 363 und Kunst I, 671.
1.

Vgl. hier und im folgenden Kreyssig, Gesch. d. französ. Nationallitteratur,
1866, S. 38 ff.
1.

Vgl. hier und für das folgende den feinsinnigen Übersetzer der „Canterbury=
Geschichten
“ Chaucers: Wilhelm Hertzberg in dessen Einleitung zu denselben
S. 53 ff. (Hildbhs. Bibl. Jnst. 1866.)
1.

Diese einfache Bestimmung enthält den Schlüssel nicht allein für das Verständnis
einer Anzahl schwieriger Stellen bei Aristoteles, sondern geradezu der wesentlichsten Eigentümlichkeit
seiner Kunstanschauung: damit zugleich aber wird sie geeignet in der dunkeln
und viel umstrittenen Frage nach dem Wesen des Schönen und seiner Wirkung,
ob dieselbe ästhetisch=hedonisch oder ethisch sei, auf das Vergnügen oder auf sittliche
Erhebung, Läuterung, Besserung abzielend, die wünschenswerteste Ordnung und
Klarheit zu schaffen. Jn der Nikomachischen Ethik des Aristoteles findet sich der, scheinbar
unsern begründetsten Vorstellungen diametral zuwider laufende Satz, daß die Behauptung,
die Aufgabe der Kunst bestünde keineswegs darin, Freude hervorzubringen,
in der That richtig sei (cf. 1153a: τὸ δὲ τέχνης μὴ εἶναι ἔργον
ἡδονὴν μηδεμίαν εὐλόγως συμβέβηκεν). Die Begründung dieses Satzes liegt in der
aristotelischen Definition der „Freude“ (Hedone): daß sie nämlich ohne eine Bethätigung,
eine Energie, nicht zu denken sei, sondern immer nur als Begleiterscheinung
einer solchen auftrete und zwar mit der Vollendung der Energie, d. h. der vollendetsten
gegenüber dem vollendetsten Gegenstande, sich notwendig einstelle (vgl. oben S. 149, 150).
Er definiert sie daher kurzweg als die „Vollendung der Energie“ (τελείωσις τῆς ἐνεργείας).
Es ist also eine höchst scharfsinnige und sehr wesentliche Unterscheidung, daß
der Zweck des Kunstwerkes, aus dem allein die Gesetzgebung für dasselbe abgeleitet
werden kann, keineswegs in die Erregung der Freude zu setzen sei, sondern
daß seine Aufgabe ganz allein darin bestehen könne, die Bedingungen dafür in
sich zu vereinigen, die Möglichkeit und Veranlassung dazu zu gewähren,

daß bei dem Empfangenden eine Energie wachgerufen werde, welche sodann
1.

erst, und zwar sofern sie eine vollendete ist, die Freude naturgemäß und notwendig mit
sich bringt. Freude findet bei jeder Art einer so beschaffenen Bethätigung statt; diejenige
Art der Energie, für welche das Kunstwerk den Anlaß schasft, ist
die ästhetische, die Bethätigung der durch die Wahrnehmung erweckten
Empfindung.
(Aristoteles drückt das kurzgefaßt so aus: οὐδὲ γὰρ ἄλλης ἐνεργείας
οὐδεμιᾶς τέχνη ἐστὶν, ἀλλὰ τῆς δυνάμεως.) Das Kunstwerk muß also diejenige
Beschaffenheit haben, welche der Energie der Ästhesis ein in vorzüglicher Weise für
ihre Bethätigung geeignetes Objekt in solcher Form vorführt, daß diese Bethätigung
auch in der vollendetsten Art erfolgen kann. Ob dieselbe aber erfolgt, ist eine Frage,
durch welche die Gesetzgebung des Kunstwerks durchaus nicht berührt wird: sein ἔργον,
seine Aufgabe, ist lediglich, die Möglichkeit einer solchen zu bereiten: τὴν δύναμιν.
Seine Wirkungen sind völlig objektiv, die Freude ist eine subjektive
Erscheinung, deren Entstehung davon abhängt, ob der Empfangende (πεισόμενος) das
Seinige dazu thut, jene Kraft, welche die Möglichkeit dazu gewährt (eben die im Kunstwerk
vorhandene δύναμις), in sich zur vollen Geltung gelangen zu lassen. Jst dieses
aber richtig, so kann weder die Definition der tragischen Kunst noch die
irgend einer anderen
auf den Begriff des durch dieselbe hervorgebrachten „Vergnügens
basiert werden, sondern lediglich auf die für jede Gattung und Art der
Kunst gesondert zu bestimmende Wirkungskraft, welche dem einzelnen
Kunstwerke gegenüber der Wahrnehmungs- und Empfindungsenergie
zu erteilen ist.
War aber der Begriff der Hedone, des „Vergnügens“, aus
der Definition der Kunst auszuschließen, so konnte auch der Begriff der Schönheit
in ihr keine Stelle finden: denn nach Aristoteles ist „das Schöne das Gute, sofern
es eben als Gutes Freude erweckt
“ (cf. Rhet. I. c. 9: καλὸν μὲν οὖν
ἐστὶν ... \̔ο \̓αν ἀγαθὸν \̓ον ἡδὺ ᾖ, ὅτι ἀγαθόν). Auf das Glücklichste ist in dieser
Definition des Schönen die absolute Natur desselben bezeichnet, während zugleich durch
dieselbe gegeben ist, daß in den einzelnen wirklichen Fällen die Frage, ob es nun auch
als Schönes erscheine, durch die Beschaffenheit des empfangenden Subjektes, also einen
nach Zeit, Nationen, Jndividuen variablen Faktor, entschieden wird. (Vgl. über diesen
Gegenstand das Nähere in der Schrift des Verfassers: „Aristoteles, Lessing und
Goethe.
“ Leipzig 1877. S. 66 ff. u. 71 ff.)
1.

Das alles trifft in Goethes „Hermann und Dorothea“ im vollen Umfange
zu, obwohl die thatsächlich fortschreitende Handlung darin sich innerhalb weniger Stunden
abspielt. Jusofern wäre die Handlung dieses Jdylls für die dramatische Bearbeitung
so geeignet, wie die keines andern. Aber es gibt auch keines, das die Absurdität eines
solchen Gedankens mit derselben Evidenz hervortreten ließe.
1.

Es könnte eingewendet werden, daß in Goethes „Geschwistern“ ein solches
idyllisches Drama dennoch vorläge; der Nachweis des Gegenteiles wird weiter unten
geführt werden.
1.

Ein solches bedentungsschweres Ereignis ist in den „Geschwistern“ die Erkennung,
auf welche die ganze Handlung gebaut ist. Alle beteiligten Personen sind
durch die hochgradige leidenschaftliche Spannung, in welcher die Handlung sie vorführt,
auf die schmale Grenze gestellt, daß diese Erkennung über ihr Lebensschicksal
entscheidet.
1.

cf. Aristoteles: Nikomach. Ethik. Buch VI, c. 5 1140 b 20: ὥστ' ἀνάγκη
τὴν φρόνησιν ἕξιν εἶναι μετὰ λόγου ἀληθῆ περὶ τὰ ἀνθρώπινα ἀγαθὰ πρακτικήν.
Vgl. außer c. 5 auch namentlich die c. 6 und 7 des VI. Buches.
2.

A. a. O. 1140 b 29: ἀλλὰ μὴν οὐδ' ἕξις μετὰ λόγου μόνον· σημεῖον δ'ὅτι
λήθη τῆς μὲν τοιαῦτης ἕξεώς ἐστι, φρονήσεως δ'οὐκ ἔστιν.
1.

Ein Stück, welches freilich bei der überwiegend epischen Natur seines Stoffes
im Übrigen eine ganz anomale Stellung innerhalb seiner Gattung hat.
1.

Am entschiedensten von Gervinus, in der das Stück betreffenden Abhandlung
seines Buches über „Shakespeare“; vgl. 3. Aufl. I. S. 293: in Jessica's Flucht ist
ihm „das Unrecht Recht“.
1.

Es zeigt durchweg die grenzenlose Macht hoher Bildung und Kunst über die
in tierischer Dumpfheit gebundene Phantasie; wenn auch widerwillig, selbst haßerfüllt,
beugt sich die wüste Roheit ihrem Machtgebot, durch die Furcht vor ihrer drohenden
Strafgewalt bezwungen: „Jch muß gehorchen; seine Kunst bezwänge Wohl meiner
Mutter Gott, den Setebos, Und macht ihn zum Vasallen.“
1.
Die Schlegelsche Übersetzung:
„Geh', Schurk', in meine Zelle,

„Nimm deine Spießgesellen mit: wo du

„Vergebung wünschest, putze nett sie auf“ ─

ist hier undeutlich; das „sie“ der letzten Zeile ist doppelsinnig, da es leicht auf die
„Spießgesellen“ bezogen wird, und das „you“ dürfte wohl als an alle drei gerichtet
zu verstehen und mit „ihr“ zu übersetzen sein.
1.

Vgl. Gervinus, Shakespeare I. S. 340 ff.
1.

Der Satz steht für Diderot unerschütterlich fest; aber das naturphilosophische
Argument, das er dafür vorbringt, ist mehr von rhetorisch=brillanter Wirkung als von
1.

irgend welcher Beweiskraft für das Gebiet, auf welchem, umgekehrt wie in dem Walten der
Naturkräfte, das Gesetz der sittlichen Verantwortlichkeit für den Einzelnen und jede
seiner Handlungen herrscht: „La nature humaine est donc bonne?“ „Oui, mon
ami, et très-bonne. L'eau, l'air, la terre, le feu, tout est bon dans la nature; et
l'ouragan qui s'élève sur la fin de l'automne, secoue les forêts, et frappant les
arbres les uns contre les autres, en brise et sépare les branches mortes; et la
tempête qui bat les eaux de la mer et les purifie; et le volcan qui verse de
son flanc entr'ouvert les flots de matières embrasées, et porte dans l'air la
vapeur qui le nettoie. Ce sont les misérables conventions qui pervertissent
l'homme et non la nature humaine, qu'il faut accuser. En effet, qu'est-ce qui
nous affecte comme le récit d'une action généreuse? Où est le malheureux
qui puisse écouter froidement la plainte d'un homme de bien?“
1.

„Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der
Tragödie.“ Abhandl. der Histor. Phil. Gesellsch. in Breslau. 1. Bd. 1857.
2.

Der Verfasser hat in zwei Schriften diesen Nachweis unternommen, einmal
2.

in einer Abhandlung der „Jahrbücher für klass. Phil.“, 1875, Heft 2: „Der
Begriff der tragischen Katharsis
“; sodann in der 1877 bei Teubner erschienenen
Schrift: „Aristoteles, Lessing und Goethe“.
1.

Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb.
für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen,
daß sie die Möglichkeit gewährten: ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ
ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν (1486a 31), d. h. also: „daß man
durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten
Maße Spielraum zu gewähren
und sie solcherweise für die sittliche Bildung in
Thätigkeit zu erhalten.
“ Also nicht solle man „von ihnen entladen“ werden,
sondern sie sollen in der rechten Weise erregt und lebendig erhalten werden!
1.

1342a 4: \̔ο γὰρ περὶ ἐνίας συμβαίνει πάθος ψυχὰς ἰσχυρῶς τοῦτο ἐν
πάσαις ὑπάρχει, τῷ δἐ ἧττον διαφέρει καὶ τῷ μᾶλλον, οἷον ἔλεος καὶ φόβος, ἔτι
δ'ἐνθουσιασμός. καὶ γὰρ ὑπὸ ταύτης τῆς κινήσεως κατακώχιμοί τινές εἰσιν. ἐκ δὲ
τῶν ἱερῶν μελῶν ὁρῶμεν τούτους ὅταν χρήσωνται τοῖς ἐξοργιάζουσι τὴν ψυχὴν
μέλεσι, καθισταμένους, ὥσπερ ἱατρείας τυχόντας καὶ καθάρσεως, ταὐτὸ δὴ τοῦτο
ἀναγκαῖον πάσχειν καὶ τοὺς ἐλεήμονας καὶ τοὺς φοβητικοὺς καὶ τοὺς ὅλως παθητικοὺς.
τοὺς δ' ἄλλους καθ' ὅσον ἐπιβάλλει τῶν τοιούτων ἑκάστῳ, καὶ πᾶσι
γίγνεσθαί τινα κάθαρσιν, καὶ κουφίζεσθαι μεθ' ἡδονῆς.
1.

Will man noch weitere Bestätigung, so wird dieselbe durch einen Ausspruch
des Jamblichus, der in den Scholien des Syrianus zu der Metaph. d. Aristot. (op.
Arist. ed. Becker, V, 891 a 15) aufbewahrt ist, über die Wirkung der mathematischen
Beweismethode geliefert: „daß durch sie ein Organ in jedes Menschen Seele, das durch
andere Beschäftigungen verdorben und abgestumpft war, gereinigt und neu belebt
wird“: ὄπως ἐξ αὐτῶν ὄργανόν τι τῆς ἑκάστου ψυχῆς ἐκκαθαίρεταί τε καὶ ἀναζωπυρεῖται,
ἀπολλύμενον καὶ τυφλούμενον ὑπὸ τῶν ἄλλων ἐπιτηδευμάτων.
1.

Das Nähere über die Frage ist in des Verf.s Schrift: „Pathos und Pathema
im Aristot. Sprachgebrauch
“ (Königsberg 1873) nachzusehen, die eine Bekämpfung
der gleichnamigen Abhandlung von Bonitz im fünften Hefte seiner „Aristotel. Studien
(Wien 1867) enthält. Die im Obigen angegebenen Unterschiede im Gebrauch
der beiden Ausdrücke sind von dem Verf. in der citierten Schrift als von Aristoteles
durchweg festgehalten nachgewiesen. Da es aber in einem Teil der einschlägigen
Litteratur üblich geworden ist, mit Berufung auf eine bestimmte Recension jener Schrift
die Resultate derselben als hinfällig zu betrachten, so kann es, bei der Wichtigkeit der
Frage, nicht umgangen werden, die Einwürfe dieser Recension hier in kurzem zu widerlegen.
Dieselben bestehen in einfachen Behauptungen ohne eingehendere Begründung
und richten sich seltsamerweise zum Teil gerade gegen Stellen, in denen der behauptete
Unterschied am schärfsten hervortritt. Die Recension erschien im Litter. Centralblatt, 30,
8, 1873 (S. 1091 ff.) und ist von M. Heinze unterzeichnet. Die dort angeführten
Stellen seien hier der Reihe nach vorgelegt: 1) „Meteor. I, 14, 352a 18, wo die
1.

Versumpfung und Austrocknung von Landstrecken παθήματα genannt werden, seien
nicht diese allgemeinen Vorgänge gemeint, die ibid. II, 3, 356b 34 πάθη heißen,
sondern weil vorher von Argos und Mykene die Rede ist, die in den einzelnen Fällen
hervorgebrachten einzelnen Erscheinungen. Der Verf. hat aber nicht berücksichtigt, daß diese
specielleren Fälle zu einer Verallgemeinerung erweitert sind, ibid. 352a 15, wo es heißt:
ταὐρὸ δεῖ νομίζειν τοῦτο συμβαίνειν καὶ περὶ μεγάλους τόπους καὶ χώρας ὅλας,
so daß das darauf folgende τοιαῦτα παθήματα nichts heißen kann, als „derartige
Vorgänge“, ganz allgemein gefaßt und gleichgesetzt werden muß dem erwähnten πάθη
im zweiten Buch.“ ─ Ein ganz unglaublicher Einwurf! Gerade der Umstand, der hier
angeblich „übersehen“ sein soll, dient ja dem Verf. als Stützpunkt; die Stelle ist für
sich allein im höchsten Grade für seine Ansicht beweisend. Aristoteles polemisiert an der
Stelle gegen diejenigen, welche Versumpfung und Austrocknen von Länderstrecken auf eine
Veränderung des Universums zurückführen und erklärt sie seinerseits aus lokalen Ursachen.
Er führt zum Beweise Argos und Mykene an, in denen beiden Sumpf und Trockenheit
gewechselt haben, und fügt hinzu, daß, was hier auf kleinem Terrain stattgefunden habe,
man doch „ebenso beurteilen müsse, wenn es sich auf großen Strecken und
in ganzen Ländern ereigne
“. Durch diesen Zusatz soll nun der Schluß des Verf.
seine Kraft verlieren, daß es sich also, wie in Argos und Mykene, so nun hier in
ganzen Ländern um die in den einzelnen Fällen zu Tage tretenden einzelnen Verwirklichungen
des in Rede stehenden Vorganges handle!! Dagegen braucht nun
Aristoteles an der Stelle des zweiten Buches, wo er am Abschluß der Untersuchung
über den jenen einzelnen παθήματα zu Grunde liegenden allgemeinen Vorgang
das Resultat noch einmal zusammenfaßt, den Ausdruck πάθος (nicht πάθη, wie der
Rec. schreibt), und hier wird derselbe gebieterisch gefordert, es könnte πάθημα
hier durchaus nicht stehen: τῶν κατά τινα χρόνον ὑπερβολῶν γιγνομένων ὕδατος
τοῦτ' ἐστὶ τὸ πάθος == „Dies also ist der Vorgang bei den zeitweilig entstehenden
Ueberschwemmungen.“ 2) „Ebensowenig ist irgend ein Unterschied zwischen den beiden
Worten Metaph. I, 4, 985b 12 zu statuieren, wo die παθήματα keineswegs speciellere
Vorgänge sind, als die πάθη.“ Eine Begründung fehlt. Eine solche versucht Susemihl
in der Jenaer Litt. Zeit. 1875, Nr. 4, (S. 60 ff.) hinzuzufügen, indem er
sagt: „was der Verf. hier vom μανόν nnd πυκνόν redet, ist völlig unbegreiflich, die
hier weder πάθη noch, wie er will παθήματα, sondern ἀρχαὶ τῶν παθημάτων genannt
werden.“ Völlig unbegreiflich ist vielmehr, wie es möglich ist, ebenso den Aristoteles
wie den Verfasser an dieser Stelle mißzuverstehen. Die Stelle lautet: οἱ \̔εν ποιον̃ντες
τὴν ὑποκειμένην οὐσίαν τἆλλα τοῖς πάθεσιν γεννῶσιν, τὸ μανὸν καὶ πυκνὸν
ἀρχὰς τιθέμενοι τῶν παθημάτων, d. h. auf deutsch: „Diejenigen, welche
eine als Einheit zu Grunde liegende Materie annehmen, lassen alles andere durch
die Veränderungen
derselben entstehen, indem sie das Dünne und das Dichte
als die Uranfänge der entstehenden Veränderungen
(i. e. Veränderungs=
zustände) annehmen.“ H. wie S. scheinen die Stelle nicht verstanden zu haben, weil
1.

sie vielleicht, der sonst geltenden Gewohnheit folgend, ὰρχή auch hier mit „Princip“
übersetzen wollen, wodurch dann freilich die Stelle dunkel würde und in solcher Dunkelheit
auch der Unterschied von πάθος und πάθημα nicht mehr zu erkennen wäre. Die
„Pathe“, die Veränderungsvorgänge sind nach Aristoteles eine Art von Bewegung ─
κίνησις ─ oder können doch ohne eine solche nicht entstehen; nun sind doch offenbar
das μανόν und πυκνόν, das Dünnere und Dichtere, keine Bewegungen, sondern
Zustände der Materie. Sie selbst setzen also, um in der einheitlichen Materie
entstehen zu können, eine Bewegung voraus, die den einen der beiden Zustände
hervorbriugt, als dessen Gegensatz dann der andere hervortritt. Daß alles dieses, was
sich a priori von selbst ergibt, aber auch die Meinung des Aristoteles ist, steht in
seiner Schrift π. φυσικ. ἀκροάς. I, c. 5 und namentlich c. 6 deutlich zu lesen; gerade
in diesem Punkte kennzeichnet er die Unklarheit jener naturphilosophischen Systeme (vgl.
besonders 189a 20 ff.). Unmöglich also könnte Aristoteles diese Zustände der Materie
die „Uranfänge der Pathe“, der Veränderungsvorgänge, nennen; er kann von
ihnen schlechterdings nicht anders sprechen, als daß er sie, im Sinne jener Philosophen,
als die uranfänglichen, ersten der hervorgebrachten Veränderungen, der
Veränderungszuständeπαθημάτων ─ bezeichnet; nur daß jene unlogischerweise die
beiden disparaten Zustände schon an sich der einheitlichen Materie zuschreiben, und
Aristoteles dagegen nachweist, daß für diesen angeblichen „Uranfang“ wieder nach
einem andern „Uranfang“ zu suchen sein würde: ἔσται γὰρ ἀρχὴ τῆς ἀρχῆς.
3) Metaph. IV, 14. 1020b 19. Hier bemängelt H. nur die Übersetzung „Veränderungszustände
für παθήματα, dagegen ist dies die einzige Stelle, mit der sich ein
dritter Rec. J. H. Reinkens, im Bonner Theol. Litter. Blatt 1874, Nr. 26
(S. 617 ff.) beschäftigt, ohne indessen, da „der Raum ihm fehle“, seinen Widerspruch gegen
die Auffassung des Verf. in der Hauptfrage zu begründen. Jn einem Punkte hat der
Verf. seine Auffassung der sehr schwierigen Stelle nach den Erinnerungen des Rec. berichtigt,
aber das Ergebnis für die vorliegende Frage wird dadurch nicht im mindesten
geändert. Das 14. Kap. des vierten Buches der Metaphysik handelt von der Einteilung
des ποιόν, der Beschaffenheit. Dieselbe liegt entweder in den Unterschieden des
unveränderlich den Dingen anhaftenden Wesensδιαφορὰ τὴς οὐσίας ─ oder in
den Wandlungen, denen sie ihrem Wesen nach unterworfen sind. Diese nennt
Aristoteles πάθη und führt als Beispiele Unterschiede der Wärme, der Färbung, der
Schwere an. Er fügt hinzu: „Auch in Bezug auf Tugend und Fehlerhaftigkeit, überhaupt
das Schlechte und Gute“ haben solche Veränderungsvorgänge statt: ἔτι κατ'
ἀρετὴν καὶ κακίαν καὶ ὄλως τὸ κακὸν καὶ ἀγαθόν. Während er also Wärme, Kälte,
Schwere, Leichtigkeit geradezu πάθη nennt, thut er das hinsichtlich des ἀγαθόν und
κακόν, der ἀρετή und κακία nicht, sondern sagt, daß hinsichtlich ihrer die Veränderung
statthabe; bei der Zusammenfassung der Einteilung heißen sie dann geradezu:
τῶν παθημάτων μέρος τι, also: „eine Art verwirklichter Veränderungen“, oder „gewissermaßen
Veränderungszustände“. Völlig korrekt und in bestem Einklang mit dem
1.
gesamten aristotelischen Sprachgebrauch! Schwere und Leichtigkeit, Wärme und Kälte
bezeichnen allerdings das Wesen, die wirkende Kraft des Veränderungsvorganges selbst,
sie können daher „Pathe“ genannt werden; nicht so aber das Gute und Schlechte,
die Vortrefflichkeit oder Fehlerhaftigkeit, die immer nur die Ergebnisse, die bewirkten
Veränderungen sind, „Pathemata“, zu deren „Bewirkung“ die denkbar verschiedensten
Veränderungsvorgänge, je nach dem Wesen des Dinges, thätig gewesen sein können.
4) Die vierte und letzte Stelle, die M. H. anführt, de part. an. III, 4, 667a 33 ff.
und von der S. meint, daß von H. daran „unwiderleglich gezeigt sei“, wie Aristoteles
zwischen den beiden Ausdrücken nicht den kleinsten Unterschied mache, spricht vollends
für die Ansicht des Verf. Jn der ganzen, ziemlich langen Stelle ist die Rede davon,
daß das Herz das wichtigste aller inneren Organe sei, das keinen bedeutenden Veränderungsvorgang
χαλεπὸν πάθος ─ ertragen könne, ohne daß der Tod eintrete.
So sei bei Opfertieren auch niemals an ihm ein derartiger Veränderungsvorgang
erkennbar ─ ὦφθαι τοιοῦτον πάθος ─ (also niemals ein schwerer Erkrankungsprozeß),
wie das bei den andern inneren Teilen der Fall sei. Hier weist das τοιοῦτον π.
also auf das χαλεπὸν π. zurück und beidemal bedeutet es den Erkrankungsprozeß,
den Veränderungsvorgang. Es wird dann erzählt, daß Nieren, Lunge, Leber und
Milz bei der Sektion oft voll von Steinen, Auswüchsen und Blutgeschwüren gefunden
würden und hinzugefügt „und noch viele andere Krankheitserscheinungen
kommen an ihnen vor
“: hier steht παθήματα. Von denselben wird weiter
gesagt, daß sie an Lunge und Leber, da wo sie mit dem Herzen kommunizieren, nicht
vorkommen. Dann heißt es zum Schluß: „Bei Tieren aber, die an einer offenbaren
Krankheit und derartigen (d. h. also krankhaften νοσώδη) Veränderungsvorgängen
τοιαῦτα πάθη ─ zu Grunde gegangen sind, zeigen sich, wenn man sie
seziert, auch am Herzen krankhafte Prozesse (Veränderungsvorgänge) ─ νοσώδη πάθη.
Es wird also am Anfang und Schluß von Krankheitsvorgängen gesprochen, die
auch mit dem Ausdruck νόσος ─ Krankheit gleichartig verbunden werden; sie heißen πάθη,
wo dagegen in der Mitte ausdrücklich die durch solche Prozesse im Körper erzeugten
Erscheinungen, die λίθοι, φύματα, δοθιῆνα, benannt werden, heißen diese in
allgemeiner Zusammenfassung παθήματα. Diese sind keine Krankheit, sondern
werden durch einen Krankheitsprozeß hervorgebracht. Deutlicher kann der Unterschied
gar nicht hervortreten. H. und S. haben die Stelle nicht verstanden. ─ Noch führt
S. zwei Stellen an, auf die näher einzugehen aber nicht der Mühe wert ist, wenn
Aristoteles Poet. c. 24 (1459b 11) sagt, „auch das Epos bedürfe der Erkennungen, der
Peripetien und der παθημάτων“, ganz wie die Tragödie, so hat er hier eben die
epische Schilderung der Fälle schweren Leidens ins Auge gefaßt und sie von der Seite
ihrer Verwirklichung in der Erscheinung benannt, während er im c. 11 den Leidensvorgang
als solchen
im Sinne gehabt und generell mit πάθος bezeichnet. Für die
Sache macht das gar keinen Unterschied, aber die Variation des Ausdrucks ist völlig
verständlich und gibt nicht den geringsten Anlaß, die Verschiedenheit der Termini in
1.

Zweifel zu ziehen. Wenn es endlich Pol. I, 5 (1254b 24) heißt, daß die Tiere den
παθήμασιν unterworfen sind (ὑπηρετεῖ), so ist es nach allem Gesagten außer Zweifel,
daß hier Aristoteles unmöglich πάθεσιν schreiben konnte; es muß nur Wunder
nehmen, daß ein so ausgezeichneter Kenner des Aristoteles wie S. das nicht einsieht.
Nicht von den „Empfindungen“ werden die Tiere beherrscht, sondern von den in
jedem einzelnen Falle in ihnen Platz greifenden, verwirklichten Empfindungseindrücken.
Wer sähe aber nicht, daß nach alledem dem Worte πάθος die
Kraft inne wohnt, den Empfindungsvorgang seinem Begriff und Wesen nach
zu bezeichnen, daß dagegen dem Worte πάθημα die Färbung anhaftet, die individuelle,
mehr oder minder deteriorierte, nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig
abweichende Form der Verwirklichung desselben verstehen zu lassen. ─ Das sind die
sechs Einwendungen, welche nach der Meinung eines Teiles der Kritik die aus einem
überreichen Material gewonnenen Resultate der Abhandlung des Verf. widerlegen sollen.
1.

Dennoch sind nach Heinzes Vorgang von den oben genannten Recensenten
der cit. Schrift des Verf. diese Zweifel erhoben. Der Grund mag sein, daß der Verf.,
auf die Kraft der aristotelischen Gedanken vertrauend, in jener Abhandlung das Streben
nach Knappheit vielleicht zu weit getrieben hat. Nur so vermag er sich das Stutzen
und die scharfen Reprobationen zu erklären, die es bei den Rec. hervorgerufen hat,
wenn er der Kürze wegen ohne eingehendere Begründung in den am meisten dazu
auffordernden Fällen dort den Ausdruck παθήματα durch „Erscheinungsformen
des Pathos oder durch „unvollkommene Erscheinungsformen“ umschrieben hat.
1.

Vgl. zum Folgenden die oben schon citierte Schrift des Verf. „Aristoteles,
Lessing und Goethe
“, 1877, besonders den zweiten Abschnitt S. 15 ff.
1.

Ἔστω δὲ ἔλεος λύπη τις ἐπὶ φαινομένῳ κακῷ φθαρτικῷ καὶ λυπηρῷ τοῦ
ἀναξίου τυγχάνειν, \̔ο κ\̓αν αὐτὸς προςδοκήσειεν \̓αν παθεῖν \̓η τῶν αὐτοῦ τινὰ, καὶ
τοῦτο, ὅταν πλησίον φαίνηται. Man hat den letzten Zusatz in starkem Mißverständnis
so aufgefaßt, als wollte Aristoteles sagen, es sei dem Mitleidsgefühl besonders günstig,
wenn man selbst das Übel für sich als nahe bevorstehend zu fürchten habe, während er
gerade umgekehrt die starke persönliche Furcht vor thatsächlicher Bedrohung als dem
Mitleid hinderlich bezeichnet.
2.

ὡς δ' ἁπλῶς εὶπεῖν, φοβερὰ ἐστιν ὅσα ἐφ' ἑτέρων γιγνόμενα ἤ μέλλοντα
ἐλεεινα ἐστιν. Der Zusatz ἤ μέλλοντα bestätigt die in der vorausgehenden Anmerkung
erhobene Einwendung gegen die übliche Jnterpretation.
1.

Reinkens: „Aristoteles über Kunst“, 1870, S. 222.
2.

Döring: „Kunstlehre des Aristoteles“, 1876, S. 314.
1.

Vgl. Goethes Jphigenie, IV, 1.
2.

S. Schillers Abhandlung „Über die tragische Kunst“ gegen den Schluß.
1.

Sophokles' Antigone, S. 607 ff.
1.

König Ödipus: V. 1155 ff. (nach Donners Übersetzung).
1.

Oedip. Col. v. 1230 ff.
Ὡς εὖτ' \̓αν τὸ νέον παρῇ

κούφας ἀφροσύνας φέρον,

τίς πλάγχθη πολύμοχθος ἔξὼ,

τίς οὐ καμάτων ἔνι;

Die vier Verse sind mit Unrecht von den Herausgebern für verdorben erklärt
und von den Übersetzern willkürlich verändert worden. Der conj. aor. sec. παρῇ ist
von παρίημ abzuleiten == „nachließ“; das ἔξω des dritten Verses im adverbialen
Sinne von räumlich (übertragen zeitlich) „darüber hinaus“ mit πλάγχθη zu verbinden.
Also höchst ausdrucksvoll: „Wenn erst die Jugend nachließ (ebbte, entschwand),
wer wurde darüber hinaus verschlagen u. s. w.“ Die Verse sind
nicht allein dem rechten Sinn des Ganzen gemäß, sondern sie haben demselben einen
hochpoetischen Ausdruck verliehen.
1.

„Für den es auf formal logischem Wege keine Lösung gibt“, sagt er in dem
Aufsatz „Ergänzung zu Aristoteles' Poetik“, der das Fragment des Anonymus
über die Komödie behandelt (vgl. Rhein. Museum, N. F., VIII, S. 566).
1.

Eingehender hat der Verf. den Gegenstand behandelt in einer Abhandlung zu
Kants Geburtsfeier am 22. April 1886 (vgl. Altpreuß. Monatsschrift, Bd. XXIII,
Heft 3/4, 1886: „Ueber Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft“). Dieselbe
wird in etwas erweiterter Gestalt im Anhange mitgeteilt, um über das Verhältnis
der den Verf. leitenden Grundsätze, wie sie in diesem Buche entwickelt sind, zu
den Principien der Kantschen Philosophie näheren Aufschluß zu geben.
1.

Donner übersetzt ἁμαρτίας ὄνειδος mit „den Flecken eines Frevels
doppelt verfehlt: ἁμαρτία == „Jrrtum, Verfehlung“ wird Ödipus nicht abweisen,
wohl aber ὄνειδος == „Schmach, Schimpf, Schande“. Er hat „geirrt“, wie
jeder Mensch, aber „nicht schimpflich geirrt“.
1.

Vgl. oben S. 346.
1.
Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen
teilen, daß dabei das πολύ sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen;
zudem ist aber auch die Verbindung προςέπεσες ἐς ὑψηλὸν Δίκας βάθρον sprachlich
schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von προςπίπτειν
„herabfallen“, genauer „davor, daneben niederfallen“ widerstrebt dem
Bilde, daß dieser „Fall“ „auf“ den „hohenStandort (eigentlich βάθρον ==
Fußgestell“ einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene
Bedeutung des Verbums im Sinne von „anfallen“, „gegenstoßen“ nicht statthaft
sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen
Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung
der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen
göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen „gewaltigen Anstoß“ gegen
Dikes „hohen Thron“ aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des ἔσχατον θράσους ==
„des äußersten Trotzes“ oder „der äußersten Verwegenheit“ für diese Vergehung
unzutreffend. Dagegen ergibt sich die einfachste, durchweg aufs beste passende Wortverbindung
und zugleich der schönste Sinn, wenn man das ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον
appositionell oder zeugmatisch zu dem ἐπ' ἔσχατον θράσους hinzunimmt, sodann
1.

προςέπεσες absolut auffaßt und im eigentlichsten Sinne des Verbums übersetzt: „du
fielest daneben nieder“ (wie sonst in Verbindung mit γόνυ oder βωμοῖσιν oder
auch mit dem Dat. oder Accus. der Person == „davor“ oder „daneben“ niederfallen).
Die wörtliche Übersetzung lautet dann: „Jndem du zu der äußersten Kühnheit vorschrittest,
bis auf das hohe Fußgestell der Dike“ ─ d. h. also: zu dem Äußersten der
Kühnheit vorschrittest, dieses Fußgestell zu besteigen, dich selbst auf die hohe Stelle des
Standbildes der Göttin zu erheben, selbst des Amtes der Dike zu walten
„stürztest du neben demselben herab, πολύ weitab, um ein Bedeutendes.“ Das Bild
des Sturzes von dem hohen Piedestal, das sie in hohem, kühnen Mute
einzunehmen sich vermaß,
ist ebenso schön in sich geschlossen als höchst ausdrückend
für die Situation: sie getraute sich des Höchsten, in offenem Kampf gegen
die Herrschergewalt das Amt der Dike, des göttlichen Rechtes, zu vertreten:
dabei fiel sie!
Dieses „Abstürzen“ drückt zugleich objektiv den
völligen Mißerfolg
aus und subjektiv die Hamartie der Antigone.
1.

S. „Aus Herders Nachlaß“, Bd. I, S. 43.
2.

S. Kuno Fischer: „G. E. Lessing als Reformator der deutschen Litteratur“
(Stuttgart, J. G. Cotta, 1881), Bd. I, S. 230 ff. und S. 248 ff.
1.

A. a. O. S. 257.
1.

Vgl. o. S. 270 ff. u. 427.
1.
Philoktet: V. 1140─1445
τοῦτο δ' ἐννοεῖσθ', ὅταν

πορθῆτε γαῖαν, εὐσεβεῖν τὰ πρὸς θεούς·

ὡς τἄλλα πάντα δεύτερ' ἡγεῖται πατήρ

Ζεῦς· ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς

κἄν ζῶσι κἄν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται.

Der für das ganze Stück hochbedeutsame Schluß der Stelle ist bei den Herausgebern
sinnentstellend interpunktiert, es gelten daher V. 1444 und 45 als unecht oder
werden durch Hinzufügung einer Negation emendiert, deren der gewöhnliche Text allerdings
bedarf, um überhaupt einen notdürftigen Sinn zu geben. Also statt:
ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνήσκει βροτοῖς·

κ\̓αν ζῶσι κ\̓αν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται.

schreibt man ο ὐ γὰρ εὐσέβεια. So übersetzt auch Donner:
„Die Götterfurcht stirbt mit den Menschen nicht dahin;

Sie leben oder sterben, sie blüht unverwelkt.“

Das wäre eine schwächliche Mahnung des Herakles, die den starren Philoktet
nur durch den Hinweis auf die segensreiche Frucht der guten That zu beugen suchte.
Die ungewöhnliche Verbindung, in der Sophokles das Verbum συνθνήσκειν gebraucht
hat, ist dem Verständnis hinderlich gewesen; es heißt „vereint, zugleich sterben“ (wie
bei Äschylus, Choe: 979), wobei also, wenn eben weiter nichts ausgedrückt werden soll,
als daß der Tod des einen notwendig mit dem des andern verbunden ist, es gleich
gilt, welcher von beiden als Subjekt und welcher im Dativ genannt wird: A. stirbt
mit B. zugleich oder B. mit A.
Nun hat Sophokles statt zu sagen „die Menschen gehen zu Grunde mit dem
Aufhören der Götterfurcht“, „sie sterben zugleich mit der Götterfurcht dahin, auch wenn
sie fortleben“, „ein solches Leben ist nur ein Scheinleben“, mit höchstem Nachdruck sich
so ausgedrückt: „das Absterben der Götterfurcht ist verbunden mit dem Absterben der
Menschen, mögen sie immerhin noch am Leben bleiben“, „sobald sie stirbt, sterben
mit ihr
die Menschen dahin, auch wenn sie leben“, wie dem Philoktet selbst auf Lemnos
ein solches Los lebendigen Todes zugefallen war; „Tod der Götterfurcht ist Tod
der Sterblichen im Leben“. Der griechische Dichter hat dem einfachen Verbum die
Prägnanz erteilt, dieses hypothetische Verhältnis auszudrücken, wofür wir der Umschreibung
bedürfen: „die Götterfurcht stirbt nicht ab, ohne daß nicht der Mensch zugleich
mit abstürbe
“.
1.

Vgl. den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrbücher für
klass. Phil. 1875, H. 2. „Über den Begriff der trag. Katharsis“, S. 101.
1.

So auch Döring, „Kunstlehre des Aristoteles“, 1876, S. 341. „Hier kommt
Lessing, ohne es zu ahnen, der aristotelischen ἐκ φόβου καὶ ἐλέου ἡδονή nahe.“
1.

Vgl. Nouvelle édition (Dresde 1760). T. I, S. 5 ff.
1.

S. Arist. 1342a 16 ff.
1.

Vgl. Arist. Poetik, Kap. 4.
1.

Plato, Symp., p. 215: μόνα κατέχεσθαι ποιεῖ καὶ δηλοῖ τοὺς τῶν θεῶν
τε καὶ τελετῶν δεομένους διὰ τὸ θεῖα εἶναι.
1.

Vgl. die näheren Ausführungen hierüber in dem oben mehrfach citierten Buch
d. Verf. „Aristoteles, Lessing und Goethe“ an vielen Stellen, namentlich S. 7 ff.,
18 ff. und S. 40─44.
1.

Vgl. „Aristoteles, Lessing und Goethe“, namentlich S. 23 und S. 31 ff.
1.

Vgl. Plato ed. Bas. 1534, p. 360 ff. und in der Ed. Acad. Reg. Bor. des
Aristoteles T. V, p. 1486.
1.

Der Ausdruck „Beschwichtigung“ erscheint insofern als der passendste, als
damit beides zugleich bezeichnet wird: die maßvolle Befriedigung des Affektes,
wodurch ihm Genüge geleistet wird und, was die Hauptsache ist, die dadurch erfolgte
Tilgung desselben, gewissermaßen die „Entsühnung“ davon.
1.

S. De anim. I, 3. 406b 12. ὥστ' εἰ πᾶσα κίνησις ἔκστασίς ἐστι τοῦ
κινουμένου ᾗ κινεῖται, καὶ ἡ ψυχὴ ἐξίσταιτ' \̓αν ἐκ τῆς οὐσίας, εἰ μὴ κατὰ συμβεβηκὸς
αὑτὴν κῖνει. ἀλλ' ἔστιν ἡ κίνησις τῆς οὐσίας αὐτῆς καθ'αὑτήν.
1.

247a 1 ff: ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν τῆς ψυχῆς ἕξεων. ἅπασαι γὰρ καὶ αὗται
τῷ πρός τι πῶς ἔχειν, καὶ αἱ μὲν ἀρεταὶ τελειώσεις, αἱ δὲ κακίαι ἐκστάσεις.
ἔτι ἡ μὲν ἀρετὴ εὖ διατίθησι πρὸς τὰ οἰκεῖα πάθη, ἡ δὲ κακία κακῶς. ὥστ'
οὐδ' αὗται ἔσονται ἀλλοιώσεις.
2.

Das wäre recht eigentlich das ἀλλοιοῦσθαι, das Aristoteles bestreitet.
1.

Daß die Berufung B's. auf das φρίττειν „Schaudern“ in c. 14 der Poetik
(p. 1453b) auf totalem Mißverständnis beruht, ist vom Verfasser in der öfters citierten
Abhandlung der N. Ph. Jahrb. p. 85 nachgewiesen.
1.

S. S. 332 ff.
1.

Diese Sätze widersprechen freilich den gangbaren Theorien von dem Hauptanteil
der „Phantasie“ an den Schöpfungen und auch an dem Genusse der Kunst.
Aber man vergesse nicht, daß durch den Sprachgebrauch dieser Begriff ein höchst komplizierter
geworden ist, der die sämtlichen, die bloße Einbildungskraft eigentlich
erst bestimmenden,
Kräfte schon einschließt: also je nach Umständen Verstand, Vernunft,
Empfindung, ja das ganze Ensemble dieser, d. h. der seelischen Kräfte überhaupt,
wie oben (s. S. 380 ff.) schon ausgeführt wurde. Jn theoretischen Untersuchungen ist
dieser Begriff daher nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen.
1.

Es kann hier nicht verschwiegen werden, daß auch Lessing sich von diesem
Fehler nicht frei gehalten hat, wenn er im Laokoon die „schöne Gestalt“ zum Princip
der malerischen und bildenden Kunst macht, wodurch, wie auf der Hand liegt, der sogenannten
Kunst des Ausdrucks in gefährlicher und ungebührlicher Weise Luft und
Licht benommen wird. Allein Lessing hatte in der Dramaturgie schon den Weg beschritten,
der aus diesem leidigen Dilemma herausführt.
1.

S. S. 268 ff. und 338 ff.
1.

S. S. 398 ff.
1.
S. Äsch. Prom. V. 505─525:
βραχεῖ δὲ μύθῳ πάντα συλλήβδην μάθε

πᾶσαι τέχναι βροτοῖσιν ἐκ Προμηθέως.

χο. μή νυν βροτοὺς μὲν ὠφέλει καιροῦ πέρα,

σαυτοῦ δ'ἀκήδει δυστυχοῦντος· ὡς ἐγὼ

εὔελπίς εἰμι τῶνδέ σ' ἐκ δεσμῶν ἔτι

λυθέντα μηδὲν μεῖον ἰσχύσειν Διός.

Πρ. οὐ ταῦτα ταύτῃ Μοῖρά πω τελεσφόρος

κρᾶναι πέπρωται, μυρίαις δὲ πημοναῖς

δύαις τε καμφθεὶς ὧδε δεσμὰ φυγγάνω

τέχνη δ'ἀνάγκης ἀσθενεστέρα μακρῷ.

χο. τίς οὖν ἀνάγκης ἐστὶν οἰακόστροφος;

Πρ. Μοῖραι τρίμορφοι μνήμονές τε Ἐρινύες.

χο. τούτων ἄρα Ζεύς ἐστιν ἀσθενέστερος;

Πρ. οὔκουν \̓αν ἐκφύγοι γε τὴν πεπρωμένην.

χο. τί γὰρ πέπρωται Ζγνὶ πλὴν ἀεὶ κρατεῖν;

Πρ. τοῦτ' οὐκέτ' \̓αν πύθοιο μηδὲ λιπάρει.

χο. ἦ πού τι σεμνόν ἐστιν \̔ο ξυναμπέχεις.

Πρ. ἄλλου λόγου μέμνησθε, τόνδε δ' οὐδαμῶς

καιρὸς γεγωνεῖν, ἀλλὰ συγκαλυπτέος

ὅσον μάλιστα· τόνδε γὰρ σώζων ἐγὼ

δεσμοὺς ἀεικεῖς καὶ δύας ἐκφυγγάνω.
1.

So bei Anaximander τὸ χρεώνdas Notwendige“; bei Heraklit
die „Heimarmene“, das festbestimmte Maß der ewig wechselnden Veränderungen; bei
den Pythagoräern die Zahl als Grundlage der kosmischen Harmonie.
1.

Vgl. V. 543 ἰδίᾳ γνώμᾳ, wo für ἰδίᾳ, des Versmaßes wegen als Glosse
verdächtig, vermutet ist αὐτόνῳ „nach dem Sinn der eigenen Vernunft“; oder οἰόφρων
γνώμαν „eigenwilligen Sinnes“.
2.

S. V. 330, 331:
ζηλῶ σ' ὁθούνεκ' ἐκτὸς αἰτίας κυρεῖς,

πάντων μετασχὼν καὶ τετολμηκὼς ἐμοί.
1.

V. 338, 339:
αυχῶ γὰρ αὐχῶ τήνδε δωρεὰν ἐμοί

δώσειν Δί', ὥστε τῶνδέ σ' ἐκλῦσαι πόνων.
2.

S. V. 373 ff.:
σὺ δ' οὐκ ἄπειρος, οὐδ' ἐμοῦ διδασκάλου

χρῄζεις· σεαυτὸν σῶζ' ὅπως ἐπίστασαι.

ἐγὼ δὲ τὴν παροῦσαν ἀντλήσω τύχην,

ἔς τ' \̓αν Διὸς φρόνημα λωφήσῃ χόλου.
1.

S. V. 387 ff.:
Ωκ. σαφῶς μ' ἐς οἶκον σὸς λόγος στέλλει πάλιν.

Πρ. μὴ γάρ σε θρῆνος οὑμὸς εἰς ἔχθραν βάλῃ.

Ωκ. ἦ τῷ νέον θακοῦντι παγκρατεῖς ἕδρας;

Πρ. τούτου φυλάσσου μή ποτ' ἀχθεσθῇ κέαρ.

Ωκ. ἡ σὴ, Προμηθεῦ, συμφορὰ διδάσκαλος.

Πρ. στέλλου, κομίζει, σῶζε τὸν παρόντα νοῦν.

Ωκ. ὁρμωμένῳ μοι τόνδε ἐθώϋξας λόγον.
1.

V. 248:
θνητούς γ' ἔπαυσα μὴ προδέρκεσθαι μόρον.

Der Vers ist von Droysen durch unrichtige grammatische Auffassung der Negation ins
Gegenteil verkehrt: „Jch nahm's den Menschen, ihr Geschick vorauszusehn“;
während es doch heißen muß: „ihr Geschick nicht vorauszusehn“. Als ob die Menschen
zuvor diese Gabe besessen hätten! Vielmehr sagt Prometheus von ihnen, daß sie „sehend
nicht sahen, hörend nicht hörten, wie Traumesgestalten ohne Sinn durch das lange
Leben gingen“. Er hat also ihren Sinn erweckt, über das Gegenwärtige
hinauszublicken
!
1.

S. V. 259 ff.:
οὐχ ὁρᾷς ὅτι

ἥμαρτες; ὡς δ' ἤμαρτες οὔτ' ἐμοὶ λέγειν

καθ' ἡδονὴν σοί τ' ἄλγος· ἀλλὰ ταῦτα μὲν,

μεθῶμεν, ἄθλου δ' ἔκλυσιν ζήτει τινα.
2.

S. V. 265 ff.:
ἐγὼ δὲ ταῦθ' ἅπαντ' ἠπιστάμην.

ἑκὼν ἑκὼν ἥμαρτον, οὐκ ἀρνήσομαι.
1.

S. V. 309:
γίγνωσκε σαυτὸν καὶ μεθάρμοσαι τρόπους

νέους.
2.
S. V. 98 ff.:
φεῦ, φεῦ, τὸ παρὸν τό τ'ἐπερχόμενον

πῆμα στενάχω, πῆ ποτε μόχθων

χρὴ τέρματα τῶνδ' ἐπιτεῖλαι.

καίτοι τί φημι; πάντα προὐξεπίσταμαι

σκεθρῶς τὰ μέλλοντ', οὐδέ μοι ποταίνιον

πῆμ' οὐδὲν ἥξει. τὴν πεπρωμένην δὲ χρὴ

αἶσαν φέρειν ὡς ῥᾷστα, γιγνώσκονθ' ὅτι

τὸ τῆς ἀνάγκης ἔστ' ἀδήριτον σθένος.
1.

S. V. 848 ff.:
ἐνταῦθα δή σε Ζεὺς τίθησιν ἔμφρονα

ἐπαφῶν ἀταρβεῖ χειρὶ καὶ θιγὼν μόνον.

ἐπώνυμον δὲ τῶν Διὸς γέννημ' ἁφῶν

τίξεις κελαινὸν Ἔπαφον.

Dort gibt des Geistes Gesundung Zeus, mit sanfter Hand

Schmerzlosem Druck dich nur berührend, dir zurück.

Du aber wirst von Zeus' Berührung so benannt

Den schwarzen Epaphos ihm gebären.

Den gleichen Bericht gibt der Chor in den „Schutzflehenden“, V. 573 ff.: daß
nach „untrüglichem Zeugnis“ ─ ἀψευδεῖ λόγῳ ─ Jo durch Berührung und göttlichen
Anhauch den Sproß des Zeus empfangen habe.
1.
Nach Droysens Übersetzung: Hiketides V. 590 ff.
1.

S. Pindar, Jsthm. VII, V. 27─47. Am Schluß V. 46, 47, nach Boeckhs
Emendation: φαντὶ γὰρ ξύν' ἀλέγειν καὶ γάμον Θέτιος ἄνακτε.
2.

S. V. 913, 914:
τοιῶνδε μόχθων ἐκτροπὴν οὐδεὶς θεῶν

δύναιτ' \̓αν αὐτῷ πλὴν ἐμοῦ δεῖξαι σαφῶς.
3.
S. V. 937 ff., nach Droysens Übersetzung.
1.
S. V. 953 ff.; zum Teil nach Droysens Übersetzung.
1.

Es ist der Fall, den Aristoteles in der viel umstrittenen Stelle des Kap. 14
seiner Poetik als denjenigen bezeichnet, der die beste Tragödie ergibt: daß ein drohendes
Furchtbares durch Erkennung abgewendet wird, durch Erkennung, die nach ihm
sich auf Personen, Dinge, Handlungen, Verhältnisse erstrecken kann. Es ist der
einzige Fall einer Tragödie mit glücklichem Ausgang; jede gute Tragödie,
die glücklich ausläuft, muß so gebaut sein! Nicht anders ist die Komposition von
GoethesJphigenie“ beschaffen: ist der äußere Gang der Handlung durch die Personenerkennung
der Geschwister bestimmt, so ist der wesentlich innere Verlauf ganz
allein herbeigeführt durch Jphigeniens Enthüllung des in Wahrheit obwaltenden
Verhältnisses und die damit vollbrachte Umwandlung.
1.

Siehe den Aufsatz „Zeus und die Moira“. 2. Aufl. 1875, S. 207.
1.

Auf diesem Punkte treten Spinozismus und Griechentum aneinander und
hier ist der Einigungspunkt für Goethes Liebe zu beiden und Ruhen in beiden.
2.

Kenner von Byron werden sich hierbei an Manfreds back to thy hell!
erinnern. ─ Faust!
1.

Vgl. oben S. 193 ff.
1.

Der Fluch, daß, wenn ihm ein Sohn geboren werden sollte, er durch diesen
sterben würde, ging von Pelops aus, dessen Sohn Chrysippus er geraubt und geschändet
hatte. Seine Ehe mit Jokaste war zuerst kinderlos; das Orakel, das er um
Rat anging, gab ihm jenen Spruch zur Antwort. Trotz dreimaliger Warnung erzeugte
er „dem schlimmen Rat der Lüste folgend“ den Sohn, der ihm verderblich
wurde. (Vgl. Äschyl. Septem V. 744─752; Euripid. Phöniss. V. 13─21; und
Aristophanes Grammat. zu den Phöniss. des Euripid. ed. Nauck II, S. 393 ff. Jn
einer besonderen Tragödie, Chrysippus, hatte Euripides den Stoff behandelt: vgl. die
Ausgabe von Nauck III, S. 234, wo auch die weiteren Zeugnisse angegeben sind.)
1.

Schon A. W. Schlegel äußert sich in ähnlicher Weise darüber (s. A. W.
Schlegels Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Teil II. Geschichte der klassischen
Litteratur. Heilbronn, 1884 in den Neudrucken deutsch. Litt. Denkm. S. 371):
„Das Stück des Euripides ist ein seltenes Beispiel poetischer Unvernunft. Warum
narrt z. B. Orest seine Schwester so lange, ohne sich ihr zu erkennen zu geben? ─
Was etwa von tragischen Anklängen vorkommt, ist nicht sein eigen: es gehört dem
Mythus, seinen Vorgängern und der Observanz an. Durch seine Jntentionen ist es
wenigstens keine Tragödie, sondern vielmehr ein Familiengemälde in der modernen
Bedeutung des Worts geworden. Die Effekte mit der Dürftigkeit der Elektra z. B.
sind elend. Alle Vorbereitungen zu der That sind äußerst leichtsinnig; die That wird
gleich nach der Vollbringung durch die schwächlichste Reue wieder ausgelöscht. Von den
Lästerungen gegen das Orakel will ich gar nichts sagen. Da das ganze Stück dadurch
vernichtet wird, so sehe ich nicht ein, wozu es Euripides überhaupt geschrieben, wenn
es nicht war, um die Elektra an den Mann zu bringen, und den alten Bauer, zur
Belohnung seiner Enthaltsamkeit, sein Glück machen zu lassen. Jch wünschte nur, daß
die Vermählung des Pylades mit der Elektra vor sich ginge und der Bauer eine erschreckliche
Summe Geldes ausgezahlt erhielte: so würde alles zur Satisfaktion der
Zuschauer, wie eine moderne Komödie, endigen.“
1.

S. oben S. 479.
1.
S. V. 1011, 12: ἀλγῶ μὲν ἔργα καὶ πάθος, γένος τε πᾶν,
ἄζηλα νίκης τῆσδ' ἔχων μιάσματα.
1.

Vgl. oben S. 366.
2.

Obwohl dessen Deutung viel zu sehr am äußerlichen haften bleibt! S. a a. O.,
S. 338: „Eumeniden: Tragische Höhe gleich Anfang. ─ Orestes ganz als Werkzeug
vom Schicksal gelenkt. Das freie Handeln in eine höhere Sphäre übergegangen.
Pallas eigentlich Hauptperson. Die Kollision des Heiligsten als Zwist in der Götterwelt
ausgedrückt. ─ Symbolische Deutung des Ganzen. ─ Titanen überhaupt
die dunkeln Urkräfte. Die jüngeren Götter, was mehr in den Kreis des Bewußtseins
2.

tritt. ─ Die Eumeniden ─ furchtbare Gewalt des Gewissens, insofern es keinen Vernunftgründen
weicht. Apoll, Gott der Jugend, der edlen Aufwallung der Leidenschaft,
der kühnen That. Pallas, besonnene Weisheit, Gerechtigkeit, Milde. Anlaß zu
zu der allegorischen Deutung schon in den ersten Scenen. (Das Schlafen im Tempel
symbolisch, ebenso die Erscheinung der Klytämnestra und mehrmals ihre Anreden ganz
symbolisch.) Recht des Flüchtlings. Weise Veranstaltung der Priester. ─ Verherrlichung
Athens. Zuerst Delphi als religiöser Mittelpunkt. Kann den Orest doch nur
für den ersten Moment schützen, nicht ganz frei machen. Athen das Land der Gesetzmäßigkeit
und Menschlichkeit. ─ Einsetzung des Areopag, ein unbestechlicher, aber
dennoch milder Gerichtshof. Das weiße Steinchen der Pallas. Aus einem entsetzlichen
Cyklus von Verbrechen geht eine Anstalt hervor, die ein Segen für die Menschheit
wurde. ─ Bedeutung der Aufnahme der besänftigten Furien in das athenische
Gebiet. Nicht zu überschreitende Grenze im menschlichen Gemüt, ehrfurchtsvolle Vermeidung
um innern Frieden zu bewahren.“ Das hier Angedeutete ist in den „Dramaturgischen
Vorlesungen“ ausgeführt, ohne verändert oder erweitert zu werden.
1.
Die Droysensche Übersetzung, nach der sonst mit geringen Abänderungen
citiert ist, konnte für diese beiden letzten Strophen als ungenau und unzulänglich nicht
benutzt werden. Die vom Verfasser gegebene Übersetzung folgt dem Hermannschen
Text, nur im Beginne der ersten Strophe die ursprüngliche Lesart herstellend (V. 510, 511)
und in V. 512 das unrichtige δειμαίνει der Handschrift statt, wie G. Hermann, in
δειμανεῖ in δεῖ μένειν umändernd. Noch dürfte die Wiedergabe von V. 522, 523 zu
rechtfertigen sein: παντὶ μέσῳ τὸ κράτος θεὸς ᾤπασεν ἄλλ' ἄλλᾳ δ' ἐφορεύει. „Jeder
Mitte hat Gott die Kraft beigegeben, auf anderes aber blickt er anders.
1.

G. Hermann in den Anmerkungen Bd. II, S. 612 erklärt: „alia enim aliter
gubernat
“, i. e. alia aliis rebus pro suo arbitrio attribuit. Scholiastes, quid
in mente habuerit, non ausim dicere. Verba ejus haec sunt, ἄλλα ἄλλως ἐφορᾷ
ὁ θεός· ἔσθ' ὅπη δέους. G. Hermanns Jnterpretation ergibt keinen scharf auschließenden
Sinn, noch weniger Droysens „Ob andres anders er scheide“. Die Worte
sind jedoch keineswegs ein müßiger Zusatz, sondern von wichtiger und fest eingefügter
Bedeutung. Jn dem ganzen Gesange handelt es sich um die Furcht: sie soll weder
fehlen
noch zu stark, knechtisch, sklavisch, sein. Der Mitte (dem μέσον) allein wohnt
die Kraft bei. Sie also sieht der Gott günstig, gnädig an und stattet sie reich aus.
Dazu die emphatisch ausgedrückte Ergänzung: „anderes“, d. i. was über die Mitte
hinaus
oder unter ihr liegt, „sieht der Gott anders, mit anderem Auge, an“, d. i.
ungnädig, er versagt ihm die Kraft. Der verhüllte Ausdruck deutet den Zorn
des Gottes an, im Gegensatz zu seinem Segen. Also: „und er blickt hinweg
von dem andern!
“ Der Scholiast hat ganz richtig interpretiert: „Der Gott sieht
auf anderes anders hin: ἔσθ' ὅπη δέους, d. h.: „es handelt sich darum, auf welche
Stelle der Furcht
sc. er blickt;“ nämlich auf ihr Zuviel oder Zuwenig. Die
symmetrische“ Fortführung der Stelle durch die Erinnyen bestätigt diese Auffassung
auf das vollkommenste: ξύμμετρον δ'ἔπος λέγω u. s. w.
1.

Die Moiren galten als Schwestern der Themis; nach in die Theogonie eingeschobenen
Versen werden sie jedoch auch als Töchter derselben angenommen. Äschylus,
der sie mit Bezug auf die Horen ματροκασιγνῆται nennt, kann sowohl das eine
als das andere im Auge gehabt haben, denn das Wort kann ebensowohl „Mutterschwestern“
bedeuten als „Schwestern von der Mutter her“. (Vgl. G. Hermann:
Äschyl. Bd. II, S. 641 ff.)
2.

Diesen Eindruck würde auch die gelungenste Übersetzung nicht wiederzugeben
2.
vermögen. Doch sei eine möglichst genau dem Wortlaut folgende Wiedergabe versucht,
um die im obigen Texte vertretene Auffassung zu rechtfertigen (vgl. Äschyl. ed.
G. Hermann, V. 943─952):
ἀνδροκμῆτας δ'ὰώρους ἀπεννέπω τύχας,

νεανίδων τ'ἐπηράτων

ἀνδροτυχεῖς βιότους δότε, κύρι' ἔχοντες,

θεαί τ' ὦ Μοῖραι, ματροκασιγνῆται,

δαίμονες ὀρθονόμοι,

παντὶ δόμῳ μετάκοινοι,

παντὶ χρόνῳ δ'ἐπιβριθεῖς

ἐνδίκοις ὁμιλίαις,

πάντᾳ τιμιώταται θεῶν.

Menschen vor der Zeit entraffend Schicksal halt' ich fern!

Doch der Liebe Bund, o schenkt

Menschenerhaltende Dauer, ihr Göttinnen, waltend

Des Amtes, und Moiren, schwestergesellt, auch ihr,

Hütend der Ordnung Gesetz,

Heimisch an jeglichem Herde,

Segens für jegliche Zeit reich

Jedem Bund nach heil'gem Recht,

Überall der Götter höchst verehrte!

Für das griechische Ohr war der Gedanke an die „Horen“, obwohl sie nicht
genannt, sondern nur ihrem Wesen nach bezeichnet sind, schon durch den Gegensatz zu
den τύχαι ἄωροι des ersten Verses, ebenso durch das Epitheton παντὶ χρόνῳ
δ'ἐπιβριθεῖς gegeben, ganz abgesehen davon, daß sie mit den Moiren in Gemeinschaft
zu denken als die das von jenen geordnete Geschick den Menschen bringen, eine der
gewohntesten Vorstellungen der griechischen Religion war.
1.

S. O. Jahn, „Populäre Aufsätze aus der Altertumswissenschaft“ (Bonn 1868).
S. 376 ff.
1.
Auch hier konnte mit der Übersetzung nur Wiedergabe des Wortlauts erstrebt
werden; denn wer vermöchte die ungeheure Wirkung des griechischen Originales nachzuahmen?

Κλ. αἰαῖ· ἰὼ στέγαι
φίλων ἔρημοι, τῶν δ'ἀπολλύντων πλέαι.
Ηλ. βοᾷ τις ἔνδον· οὐκ ἀκούετ', ὦ φίλαι;
Χορ. ἤκουσ' ἀνήκουστα δύστανος, ὥστε φρῖξαι.
Κλ. οἴμοι τάλαιν· Αἴγισθε, ποῦ ποτ' ἄν κυρεῖς;
Ηλ. ἰδοὺ μάλ' αὖ θροεῖ τις.
Κλ.ὦ τέκνον, τέκνον,
οἴκτειρε τὴν τεκοῦσαν.
1.

Ηλ.ἀλλ' οὐκ ἐκ σέθεν
ᾤκτειρεθ' οὗτος, οὐδ' ὁ γεννήσας πατήρ.
Χορ. ὦ πόλις, ὦ γεννεὰ τάλαινα, νῦν σε
μοῖρα καθαμερία φθίνει, φθίνει.
Κλ. ὤμοι πέπληγμαι.
Ηλ.παῖσον, εἰ σθένεις, διπλῆν.
Κλ. ὤμοι μάλ' αἶθις.
Ηλ.εἰ γὰρ Αἰγίσθῳ γ' ὁμοῦ.
Χορ. τελοῦσ' ἀραί. Ζῶσίν οἱ γᾶς ὑπὸ κείμενοι.
παλίρρυτον γὰρ αἷμ' ὑπεξαιροῦσι τῶν
κτανόντων οἱ πάλαι θανόντες.
1.

ἀλλ' ἦ φύσιν γε, τὸν δὲ νοῦν ἥσσων τότε. (V. 1023.)
1.

Ausführlicher ist der Gegenstand vom Verfasser in einer besondern Schrift
behandelt, die von der Polemik gegen K. Werders „Hamletvorlesungen“ ausgeht:
Die Hamlettragödie und ihre Kritik.“ (Königsberg 1877.)
1.

S. oben S. 314. Durch einen Druckfehler steht dort „des Wohlthätigen“,
statt: „des Wohlgefälligen“.
1.

S. Rheinisches Museum, N. F. VIII, S. 561 ff.: „Ergänzung zu
Aristoteles' Poetik
“.
1.

S. Aristot. περὶ ἑρμηνείας, S. 16a 3.
1.

Vgl. oben S. 444.
1.

Vgl. die erste Abteilung der sehr anregenden Schrift von Dr. Ewald Hecker:
„Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen.“ Berlin 1873.
1.

Vgl. oben S. 244.
1.

Als solche, als κίνησις τῆς ψυχῆς, muß Aristoteles den γέλως definiert
haben, da er gelegentlich, in einer Stelle der ersten Analytik (I, 36, S. 48b 33)
es abweist, daß das Lachen als ein Symptom aufzufassen sei: ὥστ' ού σημεῖον
ὁ γέλως.
1.

Es mag hier ein Verbesserungsvorschlag für das von Aristoteles von dieser
Art des Wortwitzes gegebene Beispiel seine Stelle finden, der, wie es scheint, nur ausgesprochen
werden darf, um sich zu empfehlen. Theodorus sagt zu dem Zitherspieler
Nikon „θράττει σε“, „er stört dich“. Dann heißt es weiter: „er thut nämlich so,
als ob er ‚θράττει σε‘ sagen wollte, und täuscht ihn, indem er etwas anderes sagt.“
Das Witzige des Wortes soll darin liegen, daß Nikon „ein Thracier“ genannt wird,
denn er war der Sohn einer thracischen Sklavin. Der Text hat in dieser Gestalt
keinen Sinn, denn einmal läßt er den Theodorus gar nichts anderes sagen, als
das, dessen Erwartung er erregen will, sodann ist die witzige Anspielung darin nicht
erkennbar. Offenbar hat Aristoteles das Futurum von θράσσω geschrieben,
und Theodorus hat erwarten lassen: „θράξει σεund gesagt:Θρᾷξ εἶς“, oder
vielleicht auch: „Θρᾷξ εἶ σύ.“
1.

Vgl. Bergk: Aristophanes Prolegg. IV, 1, S. XXV; VIII, 2, S. XXVII;
IX, 2, S. XXXIII, wo in den dort abgedruckten Fragmenten περὶ κωμῳδίας diese
Anfänge ausführlich geschildert sind.
1.

Wie auch Aristoteles χαρὰ, τέρψις und εὐφροσύνη im Gegensatz zu Prodikus
für gleichbedeutende Bezeichnungen der ἡδονή erklärt. Vgl. Topica II. 112b 21 ff.
1.

Auch hiervon hat die Poetik des Aristoteles gehandelt, wie uns ein von dem
Excerptor aus jener Erörterung herausgegriffenes Wörtchen verrät. Es ist von der
Wirkung der Musik die Rede gewesen, deren Erörterung der musikalischen Theorie
zugewiesen wird (Μέλος τῆς μουσικῆς ἔστιν ἴδιον· ὄθεν ἀπ' ἐκείνης τὰς αὐτοτελεῖς
ἀφορμὰς δεήσῃ λαμβάνειν); sodann heißt es von der οψις, der Scenerie, der
Aristoteles für die Tragödie mindere Bedeutung beilegt ─ die Tragödie müsse ihre
Wirkung auch gelesen thun ─, daß sie für diese dramatischen Nachahmungen, also
für die Komödie, „einen großen Vorteil zu Gunsten der Uebereinstimmung, des
Zusammenklanges‘ des Ganzen gewähre“. Ἡ ὄψις μεγάλην χρείαν τοῖς δράμασι
τὴν συμφωνίαν παρέχει. Für den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks συμφωνία
in solchem Sinn bei Aristoteles vgl. u. a. Pol. 1334b 10.
1.

Vgl. zum Folgenden den o. a. A. von Bernays, S. 24 ff.
1.

Ausgabe von Rosenkranz und Schubert, IV.
1.

S. Lotze,Geschichte der Ästhetik in Deutschland“, 1868, S. 65.
2.

Ebendaselbst, S. 65, 66.
1.

S. VIII, S. 206.
2.

S. VIII, S. 197.
1.

S. VIII, S. 198 ff.
1.

S. S. 205 ff.
1.

S. VIII, S. 200.
1.

S. Sprüche in Prosa: Kunst VI, Nr. 760.
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TextGrid Repository (2016). ePoetics_Baumgart. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7A9-8