Sammlung Göschen ──────
Deutsche Poetik
von
Dr. Karl Borinski

[EA1:d][EA1:c]

Göschen. Je in elegantem 80 Pf.
Leinwandband
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, Stuttgart.
1─9 Klassiker-Ausgaben mit Anmerkungen erster Lehrkräfte und Einleitungen
von K. Goedeke.


1. Klopstocks Oden in Auswahl. 3. Aufl. 2. Lessings Emilia Galotti. 2. Aufl. 3. Lessings
Fabeln nebst Abhandlungen. 3. Aufl. 4. Lessings Laokoon. 3. Aufl. 5. Lessings
Minna von Barnhelm. 11. Auflage. 6. Lessings Nathan der Weise. 5. Auflage.
7. Lessings Prosa. Fabeln. Abhandl. üb. Kunst u. Kunstwerke. Dramaturg. Abhandl. Theologische
Polemik. Philosoph. Gespräche. Aphorismen. 2. Aufl. 8. Lessings litterarische
u. dramaturg. Abhandl. 9. Lessings antiquar. u. epigrammat. Abhandl.


10 Nibelungen und Kudrun
und Mittelhochdeutsche Grammatik von
Dr. Golther. 2. Auflage.
11 Astronomie von A. F. Möbius.
8. Auflage. 30 Fig.
12 Pädagogik von Prof. Dr. Rein.
2. Auflage.
13 Geologie von Dr. E. Fraas. Mit
66 Texifig. 2. Auflage.
14 Psychologie und Logik.
Einführung in die Philosophie von Dr.
Th. Elsenhans. 2. Auflage.
15 Deutsche Mythologie.
Von Prof. Dr. F. Kauffmann. 2. Aufl.
16 Griechische Altertumskunde
von Dr. R. Maisch.
Mit 8 Vollbildern.
17 Aufsatz-Entwürfe
v. Prof. Dr. L. W. Straub. 2. Aufl.
18 Menschliche Körper, der
Bau und Thätigkeiten von Realschuldir.
Rebmann mit Gesundheitslehre von
Dr. Seiler. Mit Abbild. 2. Aufl.
19 Römische Geschichte
von Gymn.=Rektor Dr. Bender.
20 Deutsche Grammatik und
Geschichte der deutschen Sprache von
Dr. O. Lyon. 2. Auflage.
21 Lessings Philotas und die
Poesie des
7j. Krieges. Ausw. v. Prof. O. Güntter.
22 Hartmann von Aue,
Wolfram v. Eschenbach u. Gottfr.
von Straßburg. Auswahl aus dem
höfischen Epos von Dr. K. Marold.
23 Walther v. d. Vogelweide
mit Ausw. aus Minnesang und Spruchdichtung
von Prof. O. Güntter. 2. Aufl.
24 Seb. Brant, Luther,
Hans Sachs, Fischart m. Dichtungen
des 16. Jahrh. von Dr. L. Pariser.
25 Kirchenlied u. Volkslied.
Geistl. u. weltl. Lyrik d. 17. u. 18. Jahrh.
bis Klopstock von Dr. G. Ellinger.
26 Physikal. Geographie von
Prof. Dr. Siegm. Günther. Mit 29 Abbildungen.

27 Griechische u. Römische
Mythologie v. Dr. H. Stending.
28 Althochdtsche Litteratur
m. Grammatik, Uebersetzung u. Erläuterungen
von Prof. Th. Schauffler.
29 Mineralogie v. Dr. R. Brauns,
Privatdozent an der
Universität Marburg. Mit 130 Abbildung.
30 Kartenkunde v. Dir. d. nautischen
Schule E. Gelcich
u. Prof. O. Sauter. Mit gegen 100 Abbild.
31 Deutsche Litteraturgeschichte
von Max Koch, Professor
an der Universität Breslau.
2. Aufl.
Forts. s. nächste Seite. [EA1:b]
Sammlung Göschen. Je in elegantem 80 Pf.
Leinwandband
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung. Stuttgart.
32 Deutsche Heldensage von
Dr. O. L. Jiriczek.
33 Deutsche Geschichte im
Mittelalter von Dr. F. Kurze.
36 Herder, Tid. Herausg. von
Dr. E. Naumann.
37 Themie, anorganische
von Dr. Jos. Klein.
38 Themie, organische von
Dr. Jos. Klein.
39 Zeichenschule mit 17 Tafeln in
Ton=, Farben= und
Golddruck und 200 Voll- und Textbildern
von K. Kimmich. 2. Auflage.
40 Deutsche Poetik von Dr.
K. Borinski.
41 Geometrie von Prof. Mahler.
Mit 115 zweifarb. Fig.
42 Urgeschichte der Menschheit
von Dr. M. Hörnes. Mit 48 Abbildgn.
43 Geschichte des alten
Morgenlandes von Prof. Dr.
Fr. Hommel.
Mit 6 Bildern und 1 Karte.
44 Pflanzenkunde von Dr.
E. Dennert.
Mit 96 Abbildungen.
Jm Anschluß an die „Sammlung Göschen“ sind erschienen:

Klopstock, Messias. Klein 8°. 2 Teile in 1 Bd. M. 2.60.

Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Neue 8°=Ausg. M. 1.20.

Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet. M. 7 Holzschn. Einl. v. K. Goedeke 25 Pf.
ten, Gedichte. Auswahl. Gebunden in Leinwand M. 1.20.

────────────────────────────────────
Erlaß der K. Kultministerial-Abteilung für Gelehrten- und Realschulen.

„Die von der Göschen'schen Verlagshandlung in Stuttgart herausebene
Sammlung von Schulausgaben aus dem Kreise sämtlicher
rfächer, von welcher bis jetzt 21 Bändchen erschienen sind, zeichnet
nicht nur durch ihre äußere Ausstattung, was Druck, Papier und
band betrifft, und den verhältnismäßig billigen Preis von 80 Pf.
das Bändchen vorteilhaft vor ähnlichen Schulausgaben aus, sondern
te sich auch deshalb zur Anschaffung besonders für Schüler empfehlen,
ern ihr Jnhalt die Repetition und das eigene Studium derselben zu
dern geeignet ist.“ Stuttgart, 26. Juni 1890. Dorn.

Lehrerzeitg. f. Thüringen u. Mitteldeutschland:
„Diese dauerhaft und elegant gebundenen kleinen Bücher mit dem
sehr handlichen Format 16/11 cm. sind, wie aus obiger Aufzählung
hervorgeht, für Gymnasien, Realschulen, Lehrerseminare, höhere Mädchenschulen
und verwandte Anstalten bestimmt. Die von berufenster Seite [EA1:a]
geschriebenen Einleitungen und Anmerkungen, die im einzelnen (Band
7─10) getroffene Auswahl, nicht minder der sorgfältige, saubere Druck
verdienen volle Anerkennung. Es ist ein dankenswertes Unternehmen
der Verlagshandlung, in dieser wirklich schönen Ausstattung gediegene
Schulbücher auch für andere Unterrichtsgegenstände mit erscheinen zu
lassen, wie die bekannte, durch den Neubearbeiter noch anschaulicher gewordene
Astronomie von Möbius. Der Preis ist sehr gering.“

Neue deutsche Schule: Ein sehr guter Gedanke, Nibelungen
und Kudrun in geschickter Auswahl darzubieten! Denn beide im Original
in ihrer ganzen Ausdehnung dem Schüler darzubieten ist ein Mißgriff
─ unter vielen anderen Gründen wegen der Gefahr der Langeweile.
Dr. Golther hat seine Aufgabe vortrefflich gelöst: er bringt
das Charakteristische zur Geltung, erläutert die Grammatik des Mittelhochdeutschen
in gedrängter Kürze, fördert das Verständnis für die
Geschichte der deutschen Sprache und fügt ein ausreichendes Wörterverzeichnis
bei.“

Deutsche Lehrerzeitg., Berlin: „Die sogenannte Sammlung
Göschen zeichnet sich schon äußerlich vor manchen Schulbüchern
vorteilhaft aus. Gutes Papier, klarer Druck, handliches Taschenformat
(16 : 11 cm.), dauerhafter, recht hübscher Leinenband und billiger Preis!
Wenn dieses alles das Unternehmen empfiehlt, so noch mehr der treffliche
Jnhalt. Jn knappster, aber doch allgemein verständlicher Form bietet
uns Dr. Fraas die Geologie. Besonders aber hat uns das 14. Bändchen,
welches die Psychologie und Logik enthält, ungemein angesprochen. Elsenhans
versteht es, für diesen Lehrgegenstand Jnteresse zu erregen. Wer
größere Werke nicht durchzunehmen vermag, wer halb Vergessenes auffrischen
will, wer in Kürze Logik und Psychologie in den Grundzügen in leicht
faßlicher Weise sich aneignen will, der greife zu diesem Büchlein. Er wird's
nicht bereuen. Lessings Philotas, der bekanntlich in antikem Gewand
den Geist des siebenjährigen Krieges und vor allem die Denkart Friedrichs
des Großen schildert, und die Poesie des siebenjährigen Krieges sind echt
patriotische und herzerfreuliche Gaben Wir können für die Auswahl
dankbar sein. Nach den vorliegenden Bändchen stehen wir nicht an,
die ganze Sammlung aufs angelegentlichste nicht allein zum Gebrauch
in höheren Schulen, sondern auch zur Selbstbelehrung zu empfehlen.“

Schwäbischer Merkur: Der bekannte Jenaer Pädagog Prof.
Dr. W. Rein giebt in der „Pädagogik im Grundriß“ eine nicht nur lichtvolle,
sondern geradezu fesselnde Darstellung der praktischen und der theoretischen
Pädagogik. Jedermann, der sich für Erziehungsfragen interessiert,
darf man das Büchlein warm empfehlen. Nicht minder trefflich ist die
Bearbeitung, welche der Marburger Germanist Kauffmann der Deutschen
Mythologie gewidmet hat. Sie beruht durchaus auf den neuesten
Forschungen, wie sich an nicht wenigen Stellen, z. B. in dem schönen
Kapitel über Baldr, erkennen läßt. Den tadellosen Druck und die
hübsche Ausstattung der „Sammlung Göschen“ darf man im Hinblick
auf den billigen Preis doppelt betonen.

[E1]

Kleine Bibliothek
zur
deutschen Litteraturgeschichte.

[figure]


Je 80 Pfennig in eleg. Lwdbd.

[figure]

Geschichte der deutschen Litteratur von Prof. Dr.


Max Koch. Sammlung Göschen Nr. 31.

Deutsche Poetik von Dr. K. Borinski.


Sammlung Göschen Nr. 40.

Deutsche Heldensage von Dr. O. L. Jiriczek.


Sammlung Göschen Nro. 32.
Althochdeutsche Litteratur mit Grammatik, Uebersetzung
und Erläuterungen von Prof. Th. Schauffler.
Sammlung Göschen Nr. 28.
Nibelungen und Kudrun in Ausw. und Mittelhochdeutsche
Grammatik mit Wörterbuch von Dr. W.
Golther. 2. Aufl. Sammlung Göschen Nr. 10.
Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und
Gottfried von Strassburg.
Auswahl aus dem höf.
Epos mit Anmerk. u. Wörterbuch v. Dr. K. Marold.
Sammlung Göschen Nr. 22.
Walther von der Vogelweide mit Auswahl aus Minnesang
und Spruchdichtung mit Anmerk. u. Wörterbuch
von Prof. O. Güntter. Sammlung Göschen Nr. 23.
Seb. Brant, Hans Sachs, Luther, Fischart nebst
Auswahl von Dichtungen des 16. Jahrh. mit Anmerk.
von Dr. L. Pariser. Sammlung Göschen Nr. 24.
Kirchenlied und Volkslied. Geistliche und weltl. Lyrik
des 17. u. 18. Jahrh. bis auf Klopstock. Mit Anmerk.
von Dr. G. Ellinger. Sammlung Göschen Nr. 25.

Lessing, Klopstock, Herder. Werke in Auswahl.


Sammlung Göschen Nr. 1/9, 21, 36 etc.

[E2]

Ergänzung zu jeder Litteraturgeschichte. ──────

Graphische Litteraturtafel. Von Dr. Täsar Flaischlen.


Die deutsche Litteratur und der Einfluß fremder Litteraturen auf ihren Verlauf
vom Beginn einer schriftlichen Ueberlieferung an bis heute, in graphischer Darstellung.
Farbige Tafel mit erkl. Text in Karton gefalzt M. 2.─. Drittes Tausend.
Jllustrierte Anzeigen kostenfrei durch die Buchhandlungen.

Neue poet. Blätter: Es ist dem Verfasser gelungen, die ganze deutsche Litteraturgeschichte
graphisch so deutlich und mit einem Blick übersichtlich darzustellen,
wie es keine geschriebene Litteraturgeschichte jemals imstande
sein kann
.... Jn diesem Umstande liegt unserer Meinung nach ein großer
Wert, der das vorliegende Werk für den litteraturgeschichtlichen Unterricht in den Schulen
für die Zukunft geradezu unentbehrlich macht.

──────
Neuere Litteratur. ──────
Freiligrath, ges. Dichtungen. Einzige vollständige Ausg. 6 vornehme Leinwandbände.
5. Aufl. M. 13.─.

Herwegh, Gedichte eines Lebendigen. 11. Aufl. Eleg. geb. M. 4.60.

Jsolde Kurz, Gedichte. 2. stark vermehrte Aufl. Eleg. geb. M. 4.─.


Phantasien und Märchen. Fein kart. M. 3.─.
Jnhalt: Haschisch. ─ Der geborgte Heiligenschein.
─ Sternenmärchen. ─ Die goldenen Träume. ─ König Filz. ─ Vom
Leuchtkäfer, der kein Mensch werden wollte.


Bl. f. litt. Unterhaltg. Alles ist groß, männlich gedacht und gefühlt und
zum Teil mit ganz gewaltiger Phantasie und den kraftvollsten Strichen hingezeichnet ...
Die Sprache ist eine wunderschöne, vollklingend, rauschend und einschmeichelnd.
Es wird wenig Prosaschriften geben, die es diesem Buche hierin gleichthun, weil es
nicht die Alltagssprache des Schriftstellervolkes, sondern die des echten Dichters redet.


Florentiner Novellen. 2. Aufl. 1892. M. 4.─, stilvoller Originalband
M. 5.50. Jnhalt: Die Vermählung der Toten.
─ Die Humanisten. ─ Der heilige Sebastian. ─ Anno pestis.


Basler Nachr. Schon in ihren Gedichten hat sich Jsolde Kurz als Meisterin
der Form, als eine Herrscherin im Reiche der Sprache gezeigt, daß die Erwartungen in
dieser Hinsicht sehr hoch gespannt sein mußten. Wenn möglich, sind diese Erwartungen
noch übertroffen worden. Denn ein solcher Stil und eine solche Beherrschung unserer
Muttersprache ist nur schwer in der zeitgenössischen Litteratur zu finden.

Lingg, Dunkle Gewalten. Epische Dichtungen. Elegant gebunden M. 4.50.


Mörike, Ges. Schriften. 4 eleg. Lwdbände. Bd. I. Gedichte. 11. Aufl. Jdylle vom
Bodensee. M. 5.─.
Bd. II. Erzählungen. 3. Aufl. Hutzelmännlein. Mozart auf der Reise nach
Prag u. s. w. M. 5.─.


Bd. III/IV. Maler Nolten. Roman. 4. Aufl. 2 Bände. Eleg. geb. M. 10.─.


Die Kenntnis, die Schätzung Mörikes gehört heute zur
Bildungsstufe der deutschen Nation.


Jak. Bächtold (Züricher Zeitung). ──────
Druck von Carl Rembold, Heilbronn. [E3]

Sammlung Göschen ────────────────────────────────────
Deutsche Poetik
von
Dr. Karl Borinski

[figure]


Stuttgart
G. J. Göschen'sche Verlagshandlung
1895 [E4]
Das Uebersetzungsrecht vorbehalten.

Jnhalt. ──────


  • Seite
  • Dokumente der Geschichte der Poetik7
  • I. Der Dichter und sein Werk.
    • Litteratur 9
    • Kapitel 1. Die Dichtung als Anlage.
      • § 1. Lehre von der Dichtung10
      • § 2. Dichterisches Vermögen im allgemeinen. Jntuition. Genie10
      • § 3. Dichterisches Vermögen im besonderen11
      • § 4. Die Phantasie11
      • § 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze12
    • Kapitel 2. Die Dichtung als Kunst.
      • § 6. Stellung der Dichtung im Kreise der Künste14
      • § 7. Jdee, Schönheit, Geschmack14
      • § 8. Naturalismus15
      • § 9. „Jdealismus und Realismus“15
      • § 10. Antik und Modern16
      • § 11. Klassisch und Romantisch17
      • § 12. Naturpoesie und Kunstpoesie18
    • Kapitel 3. Begriff des Stils.
      • § 13. Anschaulichkeit21
      • § 14. Typus. Manier22
      • § 15. Dilemma im Stilbegriff22
      • § 16. Die allumfassende poetische Ausdrucksform23
      • § 17. Der Dichter in seinen Persönlichkeiten24
      • § 18. Jnnere und äußere Charakteristik26
      • § 19. Stillosigkeit26
  • II. Jnnere Mittel der Dichtung als Kunst.
    • Litteratur27
    • Kapitel 1. Dichtung und Sprache.
      • § 20. Sprachbildung eine poetische Fähigkeit29
      • § 21. Historisches u. systematisches Verhältnis v. Poesie u. Prosa29
    • Kapitel 2. Mythologie.
      • § 22. Poetische Grundbedeutung der Mythologien30
      • § 23. Mythologisches Bedürfnis31
      • § 24. Wirksamkeit der Mythologien32
      • § 25. Vorteile der klassischen Mythologie32
    • Kapitel 3. Vergleichung.
      • § 26. Psychologische Grundbedeutung des Gleichnisses34
      • § 27. Metapher36
      • § 28. Arten des metaphorischen Ausdrucks36
      • Seite.
      • § 29. Möglichkeit der Vergleichung37
      • § 30. Grammatische Lehre von den Tropen38
      • § 31. Das Beiwort39
      • § 32. Grammatische Grundfunktionen des Wortes in poetischer
        Verwendung40
    • Kapitel 4. Sprachbewegung.
      • § 33. Der poetische Satz41
      • § 34. Allgemeine Bedeutung der Figuration für die Rede41
      • § 35. Festsetzende, pointierende Figuren42
      • § 36. Emphase44
      • § 37. Sentenz46
      • § 38. Bewegungsfiguren46
      • § 39. Klangfiguren49
  • III. Äußere (musikalische) Mittel der Dichtung
    als Kunst
    .
    • Litteratur50
    • Kapitel 1. Metrik.
      • § 40. Allgemeine Begründung der metrischen Form51
      • § 41. Vers52
      • § 42. Metrik und Rhythmik53
      • § 43. Romanische und germanische Versübung54
      • § 44. Nachahmung der antiken Metrik im Deutschen56
      • § 45. Der Takt58
      • § 46. Synkopierung59
      • § 47. Auftakt61
      • § 48. Regelmäßigkeit des Verses62
    • Kapitel 2. Uebersicht der typischen Verse.
      • § 49. Jnnerer Bau des Verses66
      • § 50. Jambische Verse67
      • § 51. Trochäische Verse72
      • § 52. Daktylische Verse73
      • § 53. Anapästische Verse79
      • § 54. Freie Versformen80
      • § 55. Regelmäßige Versgestaltungen im Taktwechsel81
    • Kapitel 3. Strophen.
      • § 56. Dreiteiligkeit der Strophe86
      • § 57. Gebräuchliche antike Strophen87
      • § 58. Der Reim als Vorreim und Nach(End)reim Mittel der
        Strophenbindung89
      • § 59. Arten des Reims91
      • § 60. Reimstrophen92
  • IV. Gattungen der Dichtkunst.
    • Litteratur97
    • Kapitel 1. Lyrik
      • § 61. Musikalische Beziehung99
      • § 62. Der Dichter selbst als Held des lyrischen Gedichts99
      • § 63. Einteilung der Lyrik100
      • § 64. Allgemeinheit der lyrischen Dichtung100
      • Seite.
      • § 65. Stoffwelt des Liedes101
      • § 66. Epigramm102
      • § 67. Chorlied104
      • § 68. Auseinandertreten des Chores105
    • Kapitel 2. Das Drama.
      • § 69. Jnneres Verhältnis der Lyrik zum Drama106
      • § 70. Besonderer Charakter des Dramas107
      • § 71. Bühnentechnik109
      • § 72. Dramatische Komposition110
      • § 73. Exposition und Katastrophe112
      • § 74. Tragödie113
      • § 75. Katharsis113
      • § 76. Analyse der Schillerschen Maria Stuart115
      • § 77. Das Drama mit glücklichem Ausgang117
      • § 78. Das bürgerliche Trauerspiel118
      • § 79. Die Komödie119
      • § 80. Gegensatzfiguren120
      • § 81. Die dramatische Fabel121
    • Kapitel 3. Das Epos.
      • § 82. Verhältnis des epischen zum dramatischen Dichter122
      • § 83. Stellung des epischen Dichters zu seinem Stoff122
      • § 84. Epische Technik123
      • § 85. Epischer Stil125
      • § 86. Gefahren des epischen Stiles127
      • § 87. Nationalepos127
      • § 88. Religöses Epos128
      • § 89. Das Tierepos129
      • § 90. Komisches Epos130
      • § 91. Der Roman131
      • § 92. Komischer Roman132
      • § 93. Jdee des Lebensromans133
      • § 94. Jnhalt und Umfang des Lebensromans. Novelle134
      • § 95. Jnhalt der Novelle vom Falken135
      • § 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans136
      • § 97. Die Fabel138
      • § 98. Die Lehrdichtung139
      • § 99. Dichter und Denker140
[E7]

Dokumente der Geschichte der Poetik. ──────

Platon, Jon, Gespräch mit einem Rhapsoden.

Ders. in seiner Lehre vom Staate (Republik) über die Staatsgefährlichkeit
der Dichter.

Aristoteles, περὶ ποιητικῆς (ed. Christ 1882; Vahlen
Lpz. 1885), um das Jahr 330 v. Chr.

Horaz, epistolarum Lib. II. 3. ad Pisones, an L. Piso und
dessen Söhne (de arte poetica liber), nach Porphyrios Angaben
aus des Dichters letzter Lebenszeit († 8 v. Chr.).

Dante, de vulgari eloquentia libri II (auf vier Bücher angelegt,
an deren Vollendung ihn wohl der Tod [1321] hinderte),
wichtig für die Schöpfung der ersten modernen Dichtersprache
(vulgare illustre, v. latinum) und deren Stil.

Petrarca (1304─1374): Epistolae. Invectivarum contra
medicum quendam libri IV.

M. Hieronymus Vida, Bischof von Alba, aus Cremona,
Poeticorum libri III an den Dauphin Franz, Sohn Franz' I.
von Frankreich. 1520, berühmte Poetik der Renaissancezeit in
formvollendeten lateinischen Versen.

Julius Caesar Scaliger, der Vater des Philologen Joseph
Justus S., Poetica, zuerst Genf, 1561 fol. Verbreitetes Repertorium
der gesamten Renaissancepoetik in allen Kulturländern,
zumal in Deutschland.

Boileau: art poétique 1674. Grundbuch des französischen
Klassizismus.

Pope: Essay on criticisme 1711, Vertreter der klassizistischen
Poetik in England.

Gottsched, Kritische Dichtkunst, 1730 (viermal, stets erweitert, [8]
aufgelegt), Compendium des französischen Klassizismus
in Deutschland.

Bodmer und Breitinger (die Schweizer): Die Diskurse der
Mahlern, 1721. Kritische Dichtkunst und Von dem Wunderbaren
in der Poesie, 1740. Einführung der englischen Muster (Milton)

Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 1767. Ueberwindung
des französischen Geschmacks (Shakespeare).

Goethe und Schiller: Briefwechsel von 1794─1805, Canon
der klassischen Tradition in der deutschen Litteratur.

Geschichte: Quadrio, Storia e ragione d'ogni Poesia,
Bologna, (VII.) vol. 1739─52. ─ Sulzers Theorie der schönen
Künste mit Blankenburgs litterarischen Zusätzen. 3 Bde. Lpz.,
1796─98. ─ Eduard Müller, Geschichte der Theorie der
Kunst bei den Alten. 2 Bde. Breslau, 1834─37. ─ J. A.
Hartung, Die Lehren der Alten über die Dichtkunst. Hamburg,
1845. ─ Hermann Lotze, Geschichte der Aesthetik in Deutschland.
München, 1868. ─ Karl Borinski, die Poetik der
Renaissance in Deutschland. Berlin, 1886. ─ Heinrich von
Stein, Die Entstehung der Aesthetik. Stuttgart, 1887. ─
Friedrich Braitmaier, Geschichte der poetischen Theorie und
Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing. Frauenfeld,
1888. 2 Teile.

[E9]


I. Der Dichter und sein Werk. ──────


Litteratur.

Anne Dacier, sur les causes de la corruption de goût.
Par., 1715 Muratori, riflessioni sopra il buon gusto.
2 Th. Ven., 1736. Batteux, les arts réduits sur un même
principe (in Deutschland übersetzt von Joh. Ad. Schlegel 1752
und Ramler 1758). Alex. Gottl. Baumgarten, Aesthetica,
1750─1758 (erstes Dokument dieser Wissenschaft). K. Ph.
Moritz, Ueber die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig,
1788. Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790. Schiller,
Ueber naive und sentimentalische Dichtung (Horen 1795─96).
Solger, Erwin, Vier Gespräche über das Schöne in der Kunst.
Berl., 1815. Hegel, Vorlesungen über Aesthetik, herausgeg.
von Hotho 1832. Fr. Th. Vischer, Ueber das Erhabene und
Komische. Stuttgart, 1837. Aesthetik, 1845. Mor. Carrière,
Aesthetik (3. Aufl., 1885). Ders., Die Poesie, ihr Wesen und
ihre Formen mit Grundzügen der vergleicheuden Litteraturgeschichte.
2. Aufl., 1883. Herm. Siebek, Das Wesen der
ästhetischen Anschauung. Berlin, 1875. Alfred Biese, Die
Entwicklung des Naturgefühls, 2 Bde. Kiel, 1882, 88. W.
Scherer, Poetik (Nach Vorlesungen). Berl., 1886. Hermann
Baumgart, Handbuch der Poetik. Stuttg. 1887. A. David=
Sauvageot,
le Réalisme et le Naturalisme dans la littérature
et dans l'art. Paris 1889. O. Harnack, Die klassische
Aesthetik der Deutschen. Lpz., 1892. Fr. Brentano, Das
Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung. Lpz. 1892.

[E10]
Kapitel 1. Die Dichtung als Anlage.
§ 1. Lehre von der Dichtung.

Poetik ist Lehre von der Dichtung. Eine Lehre der
Dichtung, wie poesiefremde Menschen in poesielosen Zeiten
sie sich vorstellen, giebt es noch weniger, als Lehre irgendwelcher
anderen Kunst oder rein geistigen, selbständig schaffenden
Thätigkeit.

§ 2. Dichterisches Vermögen im allgemeinen. Jntuition.
Genie.

Die Dichtung stellt im allgemeinsten Sinn den Ausdruck der
erfindenden und gestaltenden Kraft im Geiste dar. Vor der
Dichtung als gesonderter, mit bestimmten Mitteln wirkender
Kunstübung betrachten wir also das dichterische Vermögen
und seine Erscheinungsweise im Menschen überhaupt, dann
im dichtenden Künstler besonders.

Es giebt im menschlichen Geiste eine oberste, bestimmende
Fähigkeit, welche von der unendlich bedingten Vielgestaltigkeit,
in die die Welt für seine Wahrnehmung auseinanderfällt, auf
unmittelbare Erfassung in reiner, unbedingter Einheit hindrängt.
Wir nennen sie Anschauung (Jutuition). Sie
vermittelt die Beziehungen, in denen die Dinge zu einander
und zu ihren inneren Ursachen stehen. Jndem sie die dafür
entscheidenden Merkmale aufdeckt, wirkt sie mithin erklärend
und erfindend, wissenschaftlich und künstlerisch (theoretisch und
praktisch) zugleich. Wo sie sich in einem Menschen in hohem
Grade wirksam zeigt, spricht man eben im Hinblick auf jenes
leitende Vermögen im Geiste (genius) von Genie und
genialer Begabung.

[11]
§ 3. Dichterisches Vermögen im besonderen.

Diese Fähigkeit kann sich allen Bereichen und Zwecken
menschlichen Bestrebens zuwenden. Wo sie sich aber gleichsam
auf sich selbst, auf den Kreis ihrer Vorstellungen, die
Phantasie an sich hingespannt zeigt, im freien Spiele
mit dem Angeschauten ihr Genügen findet, da reden wir von
Dichtung. Dichter in erster Linie ist somit jeder Künstler.
Nur der Stoff, auf den er seine Anschauung sammelt, Last
und Stütze, Gestalt, Bild, Ton, macht ihn je demgemäß zum
Architekten, Bildhauer, Maler, Musiker. Derjenige Künstler,
welcher durch das unmittelbarste Rüstzeug der Mitteilung, die
Sprache, die Fülle der Vorstellungen in der Anschauung
selbst in Bewegung setzt, also der eigentliche Künstler der
bloßen Anschauung
heißt Dichter.

§ 4. Die Phantasie.
(Poetischer Wahnsinn.)

Das ganz besondere Element des Dichters ist demgemäß
das Reich der Vorstellungen, die Phantasie. Sie wird
bei ihm ausgebildeter, regsamer sein müssen, als in irgendwelchem
anderen Geiste. Sonst würde sie ihn nicht ausschließlich
beherrschen. Darin liegt eine Gefahr. Die Alten
sprachen von „poetischem Wahnsinn“ (furor poeticus) und
betrachteten den Dichter im Zustande seines Schaffens als
einen Besessenen. Das war ein Gleichnis, um die gänzliche
Entrücktheit des Poeten in die Welt seiner Vorstellungen zu
bezeichnen. Eine philiströse Anschauung unserer Zeit (Lombroso)
macht aus dem Gleichnis eine Thatsache und zögert
nicht, die geniale Begabung überhaupt mit dem Wahnsinn
in eins zu setzen. Das ist die verkehrte Welt. Jm Genius
entscheidet, wie wir gesehen haben, gerade das, was psychologisch [12]
als Vernunft angesprochen wird. Wenn dem Dichter in
seiner alles verkörpernden, das Ueberschwengliche und Unmögliche
begreifenden Phantasie eine verhängnißvolle Gabe vor
allen zu Teil ward, so ward ihm entsprechend ihrer Höhe
auch das Gegenmittel einer unbestechlichen, alles ordnenden
und zurechtsetzenden Vernunft. Wo diese richtende, einschränkende
Vernunft fehlt oder von eigenwilliger, launischer,
modischer Phantastik überwuchert wird, da fehlt eben auch
nach unserer Schätzung die geniale Qualifikation, oder sie
ward eben dadurch zu nichte gemacht (Stürmer und Dränger,
„Originalgenies“, Naturen wie in Deutschland Lenz, Grabbe
u. a.). Daß Krankheit, Schicksal, Schuld den Dichter wie
jeden andern Sterblichen dem Wahnsinn überliefern können,
beweist nicht im mindesten, daß er als Dichter wahnsinnig
werden muß. Alle in diesem Sinne angestellten Sammlungen
von Anekdoten, Zügen aus dem Leben genialer
Menschen, Statistiken u. dgl. sind unter dem angegebenen
Gesichtspunkt zu beurteilen.

§ 5. Das Temperament und die geistigen Gegensätze.

Entsprechend ihrem Charakter als allgemein geistige
Grundfähigkeit wird die Dichtung in ihrer Erscheinungsweise
auch alle Grundgegensätze der menschlichen Natur besonders
kenntlich zum Ausdruck bringen. Zunächst treten die Temperamentsunterschiede
hervor. Die großen Gegensätze des
Tragischen und des Komischen, des Pathetischen und
des Jdyllischen, des Jubilierenden und des Elegischen,
des Satirischen und des Panegyrischen spiegeln die
Grundstimmungen der Temperamente, des melancholischen und
sanguinischen, des cholerischen und phlegmatischen, in wechselnder
Bedeutung wieder.

[13]

Rein in geistigem Grunde wurzeln dagegen jene Unterschiede
der gesamten Weltauffassung, gleichsam im Habitus
der geistigen Erscheinung, der Persönlichkeit, die Schiller mit
den Bezeichnungen naiv und sentimentalisch erschöpft zu
haben glaubte. Sie betreffen das unmittelbare Verhältnis
des Geistes zum Stoffe seiner Anschauung, der Natur. Jm
Naiven fühlt sich der Geist eines mit der Natur. Jm Sentimentalischen
fühlt er sich mit ihr im Widerstreit. Dort folgt
er unbefangen („naiv“) und unangefochten ihren Spuren, um
ihre unendliche Mannigfaltigkeit in der Einheit seines gegenständlichen
Bewußtseins zum geistigen Bilde (Jdee) zu sammeln.
Hier schwingt er sich, von der Natur bedrängt und zurückgeworfen,
über sie hinaus; begreift sie nur vermittelst der
subjektiven Empfindung („sentiment“), die sie ihm erregt;
bringt das geistige Bild (die Jdee) fertig in sie hinein, als
unerfüllbares Jdeal.

Die Dichtung der alten Völker, namentlich in ihrer kunstmäßigen
Vollendung (Klassizität) bei Griechen und Römern
zeigt den Typus des Naiven. Die Dichtung der Neueren,
die der Natur entfremdet unter verwickelteren, mehr geistigen
Verhältnissen stehen, zeigt den Typus des Sentimentalischen.
Doch kann der Einzelne selbst unter diesen Umständen den
naiven Charakter bewähren und eigentümlich zum Ausdrucke
bringen (Goethe), wie wir wiederum auch in der klassischen
Dichtung der Alten sentimentalische Persönlichkeiten und Momente
nachzuweisen vermögen. Die Bezeichnungen antik und
modern, realistisch und idealistisch sind zunächst diesen
gegensätzlichen Beziehungen entnommen. Wir werden jedoch
bald sehen, wie bei der historischen und systematischen Beurteilung
der Dichtung als Kunst diese natürlichen Gegensätze
sich zu verschieben, ihre Bezeichnungen unter beliebigen Schlagwörtern
einander zu verwischen und auszuschließen suchen.

[14]
Kapitel 2. Die Dichtung als Kunst.
§ 6. Stellung der Dichtung im Kreise der Künste.

Die Dichtung als Kunst wahrt natürlich ihre allgemeine
beziehungsreiche Stellung im Kreise der Schwesterkünste.
Auf der einen Seite in Fühlung mit jeder einzelnen
Kunst, im Stande, sie alle zu deuten und als ursprünglichste
Kunst sich über sie alle hinauszuschwingen durch Energie
der Wirkung, steht sie auf der anderen Seite am nächsten
der völligen Unkunst, dem Bedürfnis, der Lehre, der Prosa.
Denn ihr Ausdrucksmittel, das abstrakte Klangbild zum Zwecke
der Bezeichnung der Dinge, das Wort, ist zugleich der Vermittler
des gemeinen Lebensbedürfnisses und des rein verstandesmäßigen
Wissens.

§ 7. Jdee, Schönheit, Geschmack.

Schwieriger als irgend einer anderen Kunst wird es
demzufolge der Poesie, immer ihre künstlerischen Rechte zu
wahren. Als Aufgabe jeder Kunst erscheint Ausdruck des
unbegrenzten, wirren, wüsten Daseins unter einem bestimmten,
klar und rein in sich abgeschlossenen Bilde. Jhr Prinzip ist
also die planmäßige, in sich übereinstimmende Form. Die
Voraussetzung dazu in unserem Geiste nennt man seit Plato
Jdee (Urbild); ihre sinnliche Erscheinung ist die Schönheit.
Man darf diesen wissenschaftlichen Begriff der Schönheit nicht
mit dem verwechseln, was nach sinnlicher Schätzung gefällt.
Denn das ist individuell verschieden und für das Formungsprinzip
der Kunst ohne Belang. Wohl aber für ihre Aufnahme.
Es bildet sich im Laufe der Zeit überall, wo Kunst
getrieben wird, ein künstlerischer Gemeinsinn (common sense, [15]
bon sens) der Geschmack*), den die Jdee des Künstlers
nicht ungestraft verletzen darf.

§ 8. Naturalismus.

Ein grundsätzlicher, für die Kunst verderblicher Jrrtum
ist es aber, anzunehmen, es sei die Aufgabe der Kunst, das
bloße Dasein in einem beliebigen Ausschnitt wiederzugeben
(falscher Naturalismus). Das Vorgeben, daß man damit
das Schönheitsprinzip in der Kunst mit dem der Wahrheit
vertausche, statt der Jdee nun der Natur folge, ist in diesem
Sinne trügerisch. Denn die vorübergehende Erscheinung des
Thatsächlichen, die Wirklichkeit, kann, wie die bloße Thatsache
der Lüge beweist, weder für das allgemeingültige Prinzip
der Welt, die Wahrheit, in Anspruch genommen werden,
noch bedeutet die subjektive augenblickliche Wahrnehmung eines
Einzelnen die Natur, wie sie sich objektiv der reinen Anschauung
darstellt. Diese reine Anschauung macht aber, wie
wir sahen, das Wesen des großen Künstlers. Jhm stellt sich
die Natur nicht in leerer Aeußerlichkeit, sondern im Kerne,
in ihrer Wahrheit dar. Darum ergreift er uns so tief und
unmittelbar in seinem Werke, wie es das flüchtige, conventionelle
Dasein niemals oder nur in jenen seltenen Augenblicken
vermag, die bereits in diesem Sinne erhöht und verklärt
erscheinen.

§ 9. „Jdealismus und Realismus“.
(Schöner und Charakterisierender Stil.)

Daraus wird man jedoch kaum den Schluß ziehen, als
sei mit dem einheitlichen Formungsprinzip nun auch die [16]
künstlerische Darstellungsweise, der Stil, ein für allemal
gegeben und einheitlich geregelt. So vielumfassend, wie wir
die Anschauung kennen lernten, so verschieden und wechselvoll
kann die Art sein, wie sie in großen künstlerischen Persönlichkeiten
bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten
zum Ausdruck gelangt. Gewiß offenbart sich auch hier im
großen ein Unterschied zwischen den einfachen, festumrissenen
Verhältnissen, die das Altertum, und den vielverschränkten, an
Kontrasten und Schattierungen überreichen, die die neueren
Zeiten der Kunst darbieten. Der religiöse Grundgegensatz
zwischen Heidentum und Christentum tritt hinzu. Shakespeare
führt eine andere Welt vor, als die alten griechischen Tragiker.
Gleichwohl, wenn sie auch anders erscheint und er sie auch
anders vorführt, das künstlerische Formungsprinzip ist dasselbe.
Fr. Theodor Vischer konnte in seiner Aesthetik in
diesem Sinne von direktem (unmittelbarem) und indirektem
(vermitteltem) Jdealismus reden und den Nachweis
dieses Stilunterschieds durch die Geschichte aller Künste durchführen.
(Schöner und Charakterisierender Stil). Heute liebt
man im Gegensatz dazu alles vom Standpunkt des oben als
Jrrtum erwiesenen falschen Naturalismus aufzufassen, der sich
dann auch gern vornehmer Realismus nennt. Realistisch
(naiv im allgemeinen geistigen Verstande) sind aber gerade
die Griechen, deren Kunst das ideale Formungsprinzip am
strengsten darstellt.

§ 10. Antik und Modern.

Das Antike kann demnach sehr wohl als Kunstprinzip
hingestellt werden („gleich einem gewissen Adel unter den
Schriftstellern“ sagt Kant). Jm Gegensatz dazu aber von
einem modernen Prinzip der Kunst („der Moderne“) [17]
reden zu wollen, ist so abgeschmackt wie verkehrt. Denn so
vielfache Abweichungen vom Stil der Alten sich die Kunst
der Neueren ─ theoretisch gewöhnlich im Sinne einer zeitweiligen
künstlerischen Mode (Manier) ─ gestattet hat und,
was den individuellen künstlerischen Stil anlangt, unbedenklich
gestatten darf, so wenig darf man darin ein Prinzip suchen.
Denn dieses ist unweigerlich in der idealen Formung gegeben,
wie nur die Antike sie am strengsten und reinsten, allerdings
auch am einfachsten und kargsten, zum Ausdruck bringen konnte.
Ein absoluter Gegensatz dazu wäre kein Prinzip, sondern eben
nur die Prinziplosigkeit schlechthin.

§ 11. Klassisch und Romantisch.

Den Unterschied des kirchlich organisierten Christentums
gegen das antike Heidentum hob vorwiegend jene moderne
Richtung hervor, die sich als romantische gegenüber der
klassischen aufthat. Die Romantik (im Anfang dieses Jahrhunderts
von Deutschland ausgehend) gab vielleicht am sinnfälligsten
dem von Schiller als sentimentalisch geschilderten
Dichtungscharakter Ausdruck. Sie strebte eine
Empfindungskunst schlechthin an. Sie erhob die von den
Klassizisten seit der Wiedererweckung des Altertums im 15.
Jahrhundert als barbarisch verschrieenen Zeiten des katholischen
Mittelalters zum Vorbild. Sie hat alle Künste der Poesie
dienstbar gemacht, aber auf Kosten aller und der Poesie nur
die eigentliche Empfindungskunst, die Musik, gefördert. Das
Fragmentarische, Andeutende, Symbolische, das Versinken im
Unendlichen des Gefühls, die Abwendung von der Welt selbst
in krankhafter Zerrissenheit (Weltschmerz) hat sie zum Kunstcharakter
der neuesten Zeit erhoben. Schließlich hat sich die
Empfindung in dieser Richtung verflüchtigt, und allein die [18]
rohe Formlosigkeit und Zerrissenheit, die Barbarei, ist geblieben.


Nichtsdestoweniger bleibt die Romantik von allen spezifisch
modernen Kunstrichtungen die einfluß- und verdienstreichste.
Sie hat am eindringlichsten und nachhaltigsten den Blick auf
die schlichten, innigen und großen Gebilde volksmäßigen
Charakters gelenkt, die zwar der bewußten, ausgebildeten Kunst
entbehren, in der Unbeholfenheit und Schmucklosigkeit ihres
Ausdruckes aber ihren großen Jnhalt nur um so stärker hervortreten
lassen. Die alten Heldengedichte der neueren Völker
(bei den Deutschen Nibelungen und Kudrun), das Volkslied
und Volksbuch, Mährchen und Sage, sind seitdem von
dem Banne der klassischen Verachtung gelöst, die sie unbillig
zu ihrem Nachteil mit der Blüte einer glücklicheren Kunstübung
bei den Griechen (Homer) verglich. Jedoch soll man
nun auch das Verhältnis nicht umkehren, und auf Grund des
Unvollkommneren, weil es sich nun seine Geltung erobert
hat, das Vollkommnere verachten.

§ 12. Naturpoesie und Kunstpoesie.

Ob man nun gegenüber diesen Scheidungen auch noch
einen Gegensatz der Dichtung gegen sich selbst als Kunst, den
Begriff einer besonderen Naturpoesie einführen dürfe, ist
schwer und nur unter vielen Einschränkungen einzuräumen.
Natur und Kunst sind keine Gegensätze (Goethe: „Natur und
Kunst sie scheinen sich zu fliehen ─ und haben sich, eh' man
es denkt, gefunden“), sondern im reinen, wissenschaftlichen
Begriffe ist die Kunst nur der höchste, notwendige Ausdruck
der Natur. Die Willkür der zufälligen Naturerscheinung, das
Gewöhnliche, das Gemeine giebt uns nicht die Natur selbst,
sondern nur ihren Schatten. Die Kunst hebt jene Schattenhülle, [19]
unter der sich die Natur dem gewöhnlichen Blicke verbirgt,
und zeigt sie in ihrer strahlenden Reinheit und unausdenklichen
Tiefe.

Wir sprechen hier von Kunst in ihrem wahren Begriff
und nicht von Künstelei und pedantischem Schulkönnen. Den
Widerspruch gegen diese „akademische Kunst“ hatte man im
Auge, als man die freien Aeußerungen scheinbar des dichtenden
Volksgeistes selber, wie sie aus dem Jugendalter der
Völker herüberklingen, als Naturdichtung empfahl. Allein
weder die Bibel noch Homer noch gar die nordische Edda
oder die deutschen Nibelungen wird man sich, wie die seit
einem Jahrhundert darauf gerichtete Forschung immer schärfer
erkennt, als bloßes Zufallsprodukt der Laune dichtender Massen
(„poetischer Zeitalter“) denken können. Es „dichtet sich“ nichts
„selber“. Das einfachste Volslied, das unscheinbarste Märchen,
die geringfügigste Lokalsage setzt in Entstehung und Ausbildung
schon das voraus, was wir Kunst nennen, nämlich
den Niederschlag des vorübergehenden einzelnen Geschehens
in einer einheitlichen Anschauung.

Das Einfache, Trockene und dann in bedeutenden Zügen
wieder Gewaltsame im Charakter dieser Urkunst rührt und
erschüttert uns besonders. Denn wir sehen hier den poetischen
Geist im ersten Ansturm voraussetzungslos mit seinem Stoffe
ringen und erhalten ein Gefühl von der gewaltigen Erregung
und Erhebung des Gemütes, die dazu gehörte.

Den Blick hierbei kritiklos der Vergleichung halber auf
die gegenwärtigen sogenannten „Naturvölker“, die Wilden der
barbarischen Weltteile, zu richten, verwirrt und täuscht in den
meisten Fällen. Der vorgebliche „Naturzustand“ dieser Völker
ist meist ein herabgekommener, an sich niedriger Kulturstand
und hat mit der schönen, primitiven Selbstbildung des Kindheitsalters [20]
der historischen Menschheit nichts gemein, so
wenig die Gassenhauer der modernen Großstädte etwas mit
dem Volksliede gesunder, tüchtiger, einfacher Geschlechter zu
thun haben. Hier ist überall Entartung, nicht Natur.

Die Naturdichtung, wie jede Naturkunst, charakterisiert
im Gegenteil die Richtung auf das Erhabenste und Reinste,
was der Menschengeist zu fassen vermag. Die Urpoesie deckt
sich mit dem Begriff der Urreligion. Homer hat den Griechen
ihre Götter gegeben, und dem Dichter des Altertums blieb
bis ans Ende der Name des Sehers, des Propheten (vates).
Auch die neuere Naturpoesie offenbart im Volkslied*), im
Märchen, im Spruch bei aller Schlichtheit die tiefsten und
weitesten Bezüge des Menschengeistes. Das giebt diesen Gebilden
ihren durch nichts zu ersetzenden Zauber, die ursprüngliche,
noch unverfälschte, unentweihte Frische des Empfindens.

Selbst in der gegenwärtigen, auf die Aufregungssucht
und Banalität des Pöbels spekulierenden Unterhaltungslitteratur
der Menge (früher Ritter- und Räuber=, jetzt meist
Kriminalgeschichten) zeigt sich höchst auffällig ein falsches,
übertriebenes Bedürfnis, zu idealisieren, die Tugend riesengroß,
die Unschuld engelrein, die Bosheit teuflisch geschildert zu
sehen (Schillers Volksstücke: Die Räuber, Kabale und Liebe).
Aehnliches läßt sich von dem sittlich unanstößigen, aber künstlerisch
bedeutungslosen Unterhaltungsstoff der mittleren Stände
bemerken (Familienstücke, „Gartenlauberomane“). Die Frivolität
des Bildungspöbels überkultivierter Zeiten mit Schaustellungen
seiner geistverlassenen Trivialität, cynischen Roheit
und skrupellosen Gemeinheit zu ködern, kann wohl Naturalismus
heißen (im Sinne eines Jrrtums der künstlerischen
Naturanschauung vgl. oben), niemals aber Natur.

[21]
Kapitel 3. Begriff des Stils.
§ 13. Anschaulichkeit.

Wenn man sich nun nach diesen künstlichen, viel mißbrauchten
Scheidungen der Poetik wiederum einen einheitlichen
Gesamtbegriff von der Kunst poetischer Darstellung, dem
Stil, bilden möchte, so wird man sich am besten wiederum
daran halten, was wir im Eingang als den bestimmenden
Faktor des künstlerischen Vermögens an sich hinstellten: an
die Anschauung. Was im Künstler produktiv als unmittelbare
Anschauung thätig ist, wirkt im Kunstwerk auf den
künstlerisch gestimmten Beschauer ebenso unmittelbar als Anschaulichkeit.
Diese muß sich als Bewußtsein von der
treffenden Erschöpfung des Weltinhalts ebenso überzeugend
des Beschauers bemächtigen und die analoge Stimmung in
ihm erwecken, wie sie den Künstler bei seinem Werke beherrschte.
Wo Aeußerlichkeiten und Allgemeinheiten sich breit
machen, der innere Bezug zwischen den dargestellten Erscheinungen
mangelt, eine zufällige, gleichgültige Anordnung, eine
verkehrte, das innere Gefühl herausfordernde Absichtlichkeit
die Jdee von der inneren Notwendigkeit des Angeschauten
nicht aufkommen läßt: überall da ist jene Anschaulichkeit hintangehalten,
gestört, getrübt. Mag der Poet als sogenannter
„Jdealist“ sich auf moralische Stelzen stellen, in tönenden
Phrasen donnern und wüten, oder als „Realist“ am Kleinlichen,
Oberflächlichen haften bleiben und in moralischem und
physischem Schmutze wühlen, er bleibt gleich unzulänglich vor
dem rein künstlerischen Urteil. Er wird vom bloßen Pfuscher
nur im Aufwand seiner Mittel, nicht aber in seiner Wirkung
auf den Kenner unterschieden sein.

Dagegen kann auch ein begrenztes Talent an seiner [22]
Stelle völlig genug thun, wenn es sich auf eine Sphäre beschränkt
oder in einer Form kundgiebt, die der Weite und
Kraft seiner Anschauung vollkommen entspricht. Daher die
Freude, die Goethe vor allen „forcierten Talenten“ an der
engen, aber fest in sich gegründeten Bauernnatur Joh. Heinrich
Vossens bekundete, die wir an Joh. Pet. Hebels und
Fritz Reuters kleinen, aber vollkommen erschauten Welten
haben, die uns die frische Ursprünglichkeit etwa eines Paul
Fleming im 17. Jahrhundert oder Ferd. Freiligraths
im 19. Jahrhundert vor anspruchsvolleren Genossen bereitet.

§ 14. Typus. Manier.

Die Grade der Talente sind verschieden, wie die der
Kennerschaft. Jhre Typen, gleichsam die Elemente, aus
denen die künstlerische Natur zusammengesetzt erscheint, kehren
zu allen Zeiten wieder. Die Litteraturgeschichte, in der das
Technische nicht die Rolle spielt wie in der Geschichte der
übrigen Künste, beruht mehr auf dem äußerlichen Wechsel der
Lebensformen, als auf dem der dichterischen Kräfte. Große
Talente sind niemals häufig, Genies selten, in ihrem Kreise
einzig, Nachahmer die Regel. Diese letzteren entstellen die
ganz persönliche und originale Anschauungsweise der großen
Meister, deren Stil, zu berechneter Nachahmung und Uebertreibung
ihrer charakteristischen Wirkungen (Effekte). Ein
Surrogat aus zweiter Hand, die Manier!

§ 15. Dilemma im Stilbegriff.
Sprache des Dichters und seiner Personen.

Eine Schwierigkeit aber scheint sich in die Bestimmung
des Begriffes Stil einzuschleichen, die wir jetzt hervortreten
lassen können, da wir uns von dem allgemeinen zu den besonderen [23]
Teilen der Poetik, dem Material, den Arten und
Vorwürfen der Dichtung, überzugehen anschicken. Die objektiven
Anforderungen, welche der dichterische Stoff, die Vorführung
des immer besonderen, wechselnden Weltbildes an
den Dichter stellt, scheinen sich zu kreuzen mit der Bewährung
einer persönlichen Eigenart oder eines bestimmten Jdeals
im Stil. Der Dichter redet selbst; aber er redet meist aus
dem Sinne und durch den Mund der von ihm dargestellten
Personen, die allen Ständen und Verhältnissen des Lebens
angehören können. Das ist ja zum großen Teil die Kunst
seiner Darstellung; seine eigenste Kunst, die er vor allen
Künsten voraus hat, bei denen dies besondere Stildilemma in
dieser Form denn auch nicht auftritt.

Gleichwohl beruht die sich ebensooft aufdrängende als
erörterte Schwierigkeit nur auf einer unklaren und äußerlichen
Auffassung des Stoffverhältnisses in der poetischen Kunst.
Weil nämlich der Stoff der Dichtung das bewegte Leben unmittelbar
(zumal im Drama) wiederzugeben scheint, Rede und
Gegenrede, Situationen und Umstände der körperlichen Wirklichkeit
vorführt, übersieht man, dadurch getäuscht, darin befangen,
daß auch dieser allgemeinste und umfassendste Stoff
erst den Durchgang durch eine künstlerische Anschauung gemacht
hat, daß auch er in einer einheitlichen Betrachtung um=
und zusammengeschmolzen ist.

§ 16. Die allumfassende poetische Ausdrucksform
(gebundene Rede).

Der deutlichste Beleg hiefür ist die Durchführung einer
idealen, unwirklichen Ausdrucksform, an der sich in gleicher
Weise die redend eingeführten Personen beteiligen, der gebundenen
Rede,
der gleichartigen Versform (fünf= und [24]
sechsfüßiger Jambus, Hexameter in Drama und Epos), die
alles umspannt. Die Dichter mußten von Natur auf dies
Stilmittel verfallen, das so sinnfällig ihr souveränes künstlerisches
Verhältnis zu ihrem besonderen Stoff ins Licht setzt.
Jn Lied und Oper, wo zu der gebundenen Rede nun auch
gar noch die gänzlich der Wirklichkeit entrückte Musik hinzutritt,
erreicht die künstlerische Selbstherrlichkeit des poetischen
Stils ihren schärfsten Ausdruck. Gerade dies aber ist der
älteste Stil. Dichter und Sänger ist nach dem ältesten Begriff
eins. Die alten Epen (und noch in neuester Zeit
epische Volkslieder etwa der Serben) wurden liedmäßig mit
Begleitung des Jnstruments (der griechischen Lyra, bei den
Serben der Gusla) vorgetragen. Das griechische Drama war
nach unserem Begriff, freilich nicht in unserem Sinne, Oper.

§ 17. Der Dichter in seinen Persönlichkeiten.

Man muß also beachten, daß, wenn der Dichter die
Charaktere seiner Personen unterscheidet, den Alten alt, den
Jüngling feurig, das Weib als Weib, den Helden hoch, den
gemeinen Mann niedrig und jeden wiederum nach seiner besonderen
ganz individuellen Art reden läßt: daß es darum
doch wieder er selbst ist, der alle diese Figuren zu einem ganz
bestimmten Ziele, nach einem ihm vorschwebenden Plane reden
läßt. Jm großen Dichter vollzieht sich dabei die völlige Umschaffung
der zufälligen im Leben stehenden Personen gleichsam
zu ihren Persönlichkeiten im Sinne einer höheren
sittlichen Weltordnung. Aus dem empirischen wird nach
der philosophischen Ausdrucksweise Kants der intelligible
Charakter offenbar.

Es ist das Höchste, was die Dichtung erreichen kann.
Der ohne Vergleich größte Charakterisierer unter allen Dichtern [25]
der Weltlitteratur, Shakespeare, ist gerade nach dieser Richtung
von einer alle konventionellen Schranken überspringenden
Jdealität. Das innerste Geheimnis aller seiner Personen
muß bei Shakespeare heraus, „und sollten die Steine reden“
(Goethe). Daher für den prosaischen Sinn das Uebertriebene,
Künstliche, Gewagte vieler Vergleichungen, die er seinen Gestalten
in den Mund legt, ja mancher seiner Erfindungen
überhaupt, wie etwa im „Sturm“. Daher die gänzlich freie,
für den oberflächlichen Betrachter unmotivierte Art, mit der
er in jedem Moment aus der nüchternsten Schilderung platter,
gemeinster Wirklichkeit zu den höchsten Offenbarungen des
inneren Sinnes überzugehen bereit ist, wohl erkennend und
erwägend, wie die Charakterisierung der Außenseite des Lebens
für den Poeten eben nur durchsichtige Schale bleibt, hinter
der er jeden Augenblick die tiefe Bedeutung des Seins an
sich aufzuhellen vermag. Die Masken des Lebens fallen, der
Spaß des bunten Mummenschanzes von Ehre, Hoheit, Macht,
Reichtum, Rang und Stand hört auf, und der nackte Mensch
in der Blöße seines innersten Strebens, seines Verdienstes
oder seiner Schuld, steht vor der ungeheuren Wahrheit des
inneren Weltzusammenhangs. Makbeth und Richard III.
prägen sich nach dieser Seite vornehmlich ein. Aber auch
ohne tragischen Bezug zeigen die Lustspiele (As you like it
[Wie es euch gefällt], What you will [was ihr wollt], much
ado about nothing [viel Lärm um Nichts], in ganz besonderem
Verstande der „Kaufmann von Venedig“) jene
kristallene Durchsichtigkeit der Charaktere in ihren inneren
Beziehungen, die im „Hamlet“ und „Sturm“ ein visionär
erfaßtes Geisterreich wie selbstverständlich in die Wirklichkeit
hereinragen läßt. Der naturalistischen Bühnenkunst der Franzosen
ist Shakespeare daher immer ein Fremder geblieben, [26]
während er in Deutschland tiefer und weiter einwurzelte als
in seinem Heimatlande.

§ 18. Jnnere und äußere Charakteristik.

Die Franzosen schmeichelten sich, im Gegensatz zu der
„Unregelmäßigkeit“ solcher Stücke wie der Shakespeareschen,
das antike Drama nachgeschaffen zu haben. Aber Lessing wies
ihnen nach, daß sie dessen Grundbedingungen verkannt und
in Aeußerlichkeiten umgesetzt hätten, während gerade Shakespeare
in der Anlage seiner tragischen Charaktere genau auf
antikem Boden steht.*) Die ruhige Einfachheit und gleichmäßige
Größe der antiken Welt gab der poetischen Charakteristik
nicht die Notwendigkeit einer so bewegten Zusammensetzung
und vielfältigen Abstufung an die Hand, wie die Zeit
Shakespeares. Die antike Poetik drängt fast ausschließlich
auf Beachtung der inneren Charakteristik der ἤθη (Seelenzustände).
Nur gelegentlich und spät bei den Römern fällt
auch eine Bemerkung darüber, daß es doch auch ein Unterschied
sei, „Davusne loquatur an heros“, ob der komische
Knecht oder der Held rede. Shakespeare ist Meister in der
genauen äußeren Charakteristik seiner Personen, aber, wie
hervorgehoben, auch nur zu dem tieferen Zweck, das Jnnere
darauf wie auf einer Folie sich um so greifbarer herausheben
zu lassen.

§ 19. Stillosigkeit.

Die Verflachung des Theaters, die mit dessen bürgerlicher
Festsetzung einriß, sieht in der äußerlichen Charakterisierung
ausschließlich den Beruf des Poeten, der so kaum [27]
noch den Dichternamen verdient. Das bunte Kleid des Lebens,
die ganze Aeußerlichkeit, in der der oberflächliche Mensch sich
im Leben herumbewegt, will er auch im poetischen Bilde wiederfinden,
am liebsten den eigenen Stand mit seinen Tagesinteressen
oder die Skandalchronik einer durchschnittlichen, geschminkten
Geselligkeit. Da ist nun freilich äußere Charakteristik
der Lebensgewohnheiten, der ganze Apparat der Umstände (mit
einem schiefen französischen Ausdruck das „milieu“ genannt) das
letzte Ziel rein dekorativ verfahrender Handwerker. Der Stil
hört damit von selbst auf. Es wird alles stoffliche Charakteristik
(„Mache“). Dies ist somit der ganz notwendige Grund
der so viel beklagten Stillosigkeit unserer modernen Bühne
und im Gefolge davon unserer poetischen Litteratur im allgemeinen.


──────


II. Jnnere Mittel der Dichtung als Kunst.


───
Litteratur.

Herder, Vom Ursprung der Sprache Berl. 1774. Wilhelm
von Humboldt, Einleitung in die Kawisprache (Ueb. die Verschiedenheit
des menschlich. Sprachbaues) Berl. Ak. 1836. Dess.
sprachphilos. Werke, hersg. v. Steinthal, Berlin 1883. Jak.
Grimm, Ueber den Ursp. der Sprache, Berl. Ak. 1851. Heyse,
System der Sprachwissensch., hersg. v. Steinthal, Berl. 1856.
Steinthal, Grammatik, Logik und Psychologie in ihrem Verhältnisse
zu einander 1855. Ders. Ursprung der Sprache Berl. 1851.
Max Müller, Vorlesungen über die Wissensch. der Sprache 2 Bde.
Lpz. 1863. Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsychologie und
Sprachwissenschaft 20 Bde. 1860 bis 1890. A. Kuhn, Zeitschrift für [28]
vergleich. Sprachwissenschaft. 1852 ff. (fortgeführt v. Ernst Kuhn und
Joh. Schmidt). Herder, Ueb. die älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
1774. G. Fr. Creuzer, Symbolik u. Mythologie
der alten Völker, besonders der Griechen. 4 Bd. 1810. 2 Aufl.
fotgesetzt von Mone 6. Voll. 1819─23. Fr. Wilh. Jos. von
Schelling,
Ueber die Gottheiten von Samothrace Stuttg. 1815.
Ders. Philosophie der Mythologie (ersch. 1857). Adalb. Kuhn,
Die Herabkunft des Feuers u. d. Göttertranks Berl. 1859 (Mythol.
Stud. I Gütersloh 1886). L. Laistner, Das Räthsel der Sphinx,
Grundzüge einer Mythengeschichte Berl. 1889. 2 Bde. Aristoteles,
Rhetorik, 3 Bücher (ed. Spengel, Lpz. 1867). (Sogenannter)
Longinos, περὶ ὕψους, Ueber das Erhabene des Stils (erstes
Jahrh nach Christus). Cicero, de oratore l. III., Brutus s.
de claris oratoribus, Orator ad M. Brutum. Rhetorica ad
Herennium (nicht von Cicero). Tacitus (?) Dialogus de
oratoribus. Quintilianus, Institutio oratoria (um 90 n. Chr.)
─ Rhetores Graeci ed. Walz (Stuttg. 1832─36 9 Bde.) ed.
Spengel (Lpz. 1853─56 3 Bde.). Spengel, Ueb. das Studium
des Rhetorik bei den Alten. Minden 1842. Volkmann, Die
Rhetorik der Griechen und Römer in system. Uebers. 2 Aufl.
Lpz. 1874. Die Rhetorik, durch die Humanisten einer der meistbehandelten
Schul- und Litteraturgegenstände bis in das 18. Jh.
hinein (Melanchthon, Thesaurus, Vavassor, Veranus, Rollin,
Christ. Weise, Gottsched u. v. a.). K. Phil. Moritz, Grundlinien
zu meinen Vorlesungen über den Stil Berl. 1791. De
l'Allegorie par Winkelmann, Addison, Sulzer. 2 Voll. Paris
1799. Wilh. Wackernagel, Poetik, Rhetorik, Stilistik, herg. von
L. Sieber Halle 1873. Jak. Bauer, Das Bild in der Sprache,
Ansb. 1879. Max Schiessl, System der Stylistik, Straub.
1884. Georg Autenrieth, Beispiele und Regeln zur Rhetorik
Nürnb. 1887. Alfr. Biese, Philosophie des Metaphorischen
Kiel 1893.

[29]
Kapitel 1. Dichtung und Sprache.

§ 20. Sprachbildung eine poetische Fähigkeit.

Wir wenden uns, bevor wir zu ihren besonderen Gattungen
und Vorwürfen übergehen, zunächst zu den Mitteln der
Dichtung als Kunst.
Der allgemeine Träger der dichterischen
Kunst ist, wie schon in Erwägung gezogen wurde, die
Sprache.
Jn unserem Wort dichten steckt das Jntensiv
vom lateinischen dicere (sagen) dictare. Als das unentbehrliche
Werkzeug des allgemeinen Lebensverkehrs scheint
uns jetzt die Sprache nur zufällig und so nebenher auch der
Dichtung ihre Dienste zu leihen. Diese Anschauung ändert
sich von Grund aus, wenn man systematisch der Bildung der
Sprache durch den Menschengeist und historisch ihren ältesten
Urkunden nachgeht. Jn beiden Fällen wird man nämlich
unmittelbar auf das dichterische Vermögen geführt, als dessen
erster, grundbildender Ausfluß die Sprache auftritt. Die
Möglichkeit, Gegenstände und Empfindungen systematisch (durch
artikulirte Klangwerte: die Worte) zu bezeichnen, giebt der
Erkenntnis ein Problem, das nur auf dem Boden der poetischen
Fähigkeiten gelöst werden kann.*)

§ 21. Historisches und systematisches Verhältnis von
Poesie und Prosa.

Die Bestätigung hierfür geben die Urdenkmäler menschlicher
Rede, und zwar in so höherem Grade, je älter sie sind.
Sie sind poetisch, weil die erste Möglichkeit einer sprachlichen
Ausdrucksweise überhaupt auf poetischen Bedingungen (der
Vergleichung, Umschreibung, Verknüpfung) beruht. Erst wenn [30]
diese rein erfindende Stufe der Sprache völlig abgeschlossen,
ihr freies Blühen abgewelkt ist, tritt der Zustand der Emanzipation
der Sprache von der Poesie, die bloße Verkehrsprosa,
ein. Doch selbst diese muß sich eine Kontrolle durch die
künstlerische Sprache (der Bildung) gefallen lassen, weil sie
sonst in ihrem Bezeichnungswerthe rasch sinken und für ihre
eigenen Zwecke unbrauchbar werden würde. An der Dichtung
verjüngt und richtet sich die Sprache zu allen Zeiten auf.

Die Merkmale dieses inneren Verhältnisses zwischen
Dichtung und Sprache liefern zwei in ihrer Eigenart verwandte,
wenngleich in ihren Beziehungen unter ganz verschiedene
Kategorien fallende Erscheinungen: die Mythologie
und die rednerischen Tropen und Figuren.

Kapitel 2. Mythologie.

§ 22. Poetische Grundbedeutung der Mythologien.

Beides, das völkerbeherrschende Reich der Götter
und der die Meinung lenkende Schmuck der Rede, beides
ist Erzeugnis der in der Sprache unmittelbar zur Einwirkung
auf die Menschen gelangenden Dichtung. Die Mythologien
stellen sich bei den verschiedenen Völkern als abgeschlossene, gegebene
Glaubenswelten dar, von den sie vertretenden hierarchischen
Verbindungen, den Priestern, ceremoniös auf das
Peinlichste vertreten, eine die andere ausschließend und mit
Feuer und Schwert verfolgend. Vom Standpunkt der Poetik
sind sie alle gleichermaßen dogmatische Festsetzungen poetischer
Niederschläge allgemeiner überweltlicher (transcendenter) Anschauungsformen.
Jn allen lassen sich die gleichen Bezüge
mehr oder weniger klar, mehr oder minder vernunftgemäß
nachweisen. Bei vielen Völkern (den indogermanischen) stehen [31]
sie in gewisser Stammesverbindung, obwohl man in der Annahme
einer solchen vorsichtig sein muß. Denn das dichterische
Vermögen ist überall das gleiche, wenn auch verschieden wirksam
und ausgebildet.

§ 23. Mythologisches Bedürfnis.

Das gilt für alle Zeiten. Denn es läßt sich auch in
dieser Hinsicht nicht völlig ertöten. Jn der jüdischen Religion
und ihrer rationellen Vollendung dem Christentum, wurde zwar
das Jdeal einer reinen Vernunftreligion aufgestellt und
mit ihrer Durchführung die alten wirksamen Mythologien,
die klassische sowohl als die der germanischen Völker, prinzipiell
auf das entschiedenste bekämpft und dogmatisch unwirksam
zu machen gesucht. Die alten Götterbilder wurden umgestürzt,
um dem Einen Unsichtbaren den Altar aufzurichten.


Gleichwohl ist es weder der jüdischen Religion (wovon
sogar die Bibel, noch mehr die apokryphe und gnostische
Litteratur Kunde giebt), noch dem Christentum gelungen, dem
mythologischen Bedürfnis in ihrem Bereich allen Boden zu
entziehen. Alle Umbildungen in der Kirchengeschichte, vor
allen die bedeutendste und nachhaltigste, die Reformation, treffen
das Ueberwuchern der Mythologie. Allein gänzlich ohne
Mythologie giebt es keine Kirche. Das hat der Protestantismus
oft und eindringlich genug erfahren müssen. Die durchschnittliche
Menschennatur bleibt außer stande, ohne sinnliche
Symbole mit der Gottheit zu verkehren. Die Dichtung giebt
die Probe darauf durch die Art, wie sie einzig religiöse Stoffe
zu behandeln in der Lage ist (Dante, Tasso, Milton, Klopstock).


[32]
§ 24. Wirksamkeit der Mythologien.

Doch muß eine Mythologie lebendig sein, wenn sie auch
nur poetisch wirksam sein soll. Daher zeigt die christliche
Symbolik mit ihren Engeln und Teufeln, Heiligen und Büßern,
dem Heiland mit den Seinen in der höchsten Glorie, poetische
Lebenskraft (Schluß des „Faust“), namentlich mit Unterstützung
der Musik, während die alten heidnischen Mythologien heute leicht
einen leblosen, gekünstelten Eindruck machen. Mit der Wiedererweckung
der Antike in der Renaissancezeit wurde von Dichtern,
Gelehrten und Künstlern um die Wette auch die klassische
Mythologie des Olymps*) für Jahrhunderte zu einer Art
Scheinleben neu erweckt. Dies ging nur an, weil in jener
Zeit mit den alten Dichtern und Philosophen auch eine alte
Sprache, das klassische Latein, in den Lebensverkehr der Gesellschaft
aufgenommen wurde. Mit der Reaktion dagegen
im 17. und 18. Jahrhundert verlor auch der Olymp langsam
wieder seine stehende Geltung in Dichtung und bildender Kunst.
Goethe hat davon nur etwa Amor, Luna und die Musen in
seiner Dichtung übrig behalten.

§ 25. Vorteile der klassischen Mythologie.

Der Gedanke, die antike Mythologie in der Dichtung
durch die nordische als eine germanische und daher heimische**)
zu ersetzen (wie er z. B. Klopstock sogar zur Umarbeitung
seiner Oden veranlaßte***) kann in verschiedener Hinsicht nicht [33]
als ein glücklicher bezeichnet werden. Wir sehen ab von der
ungleich größeren Reichhaltigkeit, Frische und Bestimmtheit
der klassischen Mythologie Homers. Die nordische der Edda
hat dafür ihre erhabenen und rührenden Züge und im ganzen
eine gewisse eisige Unnahbarkeit, die sie besonders geeignet für
die Verkörperung mancher Seiten des Göttlichen macht. Allein
ihr fehlt die Voraussetzung der allgemeinen Kenntnis, wie sie
bei der antiken durch die Schule und eine mehrere Jahrhunderte
lange Bildungstradition doch nun einmal vorhanden
ist. Es scheint auch nicht, daß dies nachgeholt werden kann.
Dazu müßte zum wenigstens ein stärkeres nationales Jnteresse
für Odhin und die Götter und Helden von Walhall in ihrer
ausschließlich nordischen (skandinavischen) Erscheinungsform in
Deutschland vorausgesetzt werden können. Die deutsche nationale
Mythologie ist in der nordischen nicht gegeben. Die Beziehungen
zu ihr zu vermuten, aus Ueberresten in Dichtung,
Sage und Märchen zu erschließen, bleibt lediglich ein schwieriges
Problem der mythologischen Wissenschaft.

Bei epischer oder dramatischer Vorführung einer vergangenen
Lebens- und Kulturform wird der Dichter natürlich ***) [34]
unter allen Umständen auch die betreffende (ägyptische, indische,
iranische u. s. w.) Mythologie, und sei es selbst die entlegenste
(wie etwa die mexikanische oder peruanische) handhaben müssen.
Die Poetik kann hierbei höchstens vor Geschmacklosigkeiten
warnen, zu denen die kritiklose Ausnutzung solcher Kulte mit
fremden, zuweilen abenteuerlichen Namen verführen könnte.
Etwas anderes aber ist es, wenn durch ausschließliche Bevorzugung
solcher Stoffgebiete Mythologien Anspruch auf Festsetzung
im poetischen Bewußtsein erheben. Darin nämlich besteht
die ursprüngliche poetische Bedeutung der Mythologie. Wenn
bei Homer Zeus grollend die ambrosischen Locken schüttelt oder
die rosenfingrige Eos die Thore des Himmels öffnet, so verbinden
sich damit für jede gebildete Anschauung unmittelbare
Vorstellungen von Natureindrücken (des Donners, der Morgenröte).
Nirgends so wie in der klassischen Dichtung steht die
poetische Bedeutung der Mythologie vor ihrer religiösen so
völlig im Vordergrund, so daß man sich nicht wundern kann,
wenn seit der Renaissance die Dichter sie auch in spezifisch
religiösen Gedichten christlichen Jnhalts ganz unbefangen anwenden
(Sannazaros Epos über die Geburt der Jungfrau,
aber in Ansätzen auch schon bei Dante und später bei Tasso).
Hier finden wir das mythologische Bild in dichter Fühlung
schon mit dem allgemein poetischen Bilde, dem Tropus (vom
griechischen τρέπω wenden).

Kapitel 3. Vergleichung (Tropen).

§ 26. Psychologische Grundbedeutung des Gleichnisses.

Der Dichter beruhigt sich nicht bei dem bloßen Naturphänomen,
wie es die äußere Wahrnehmung an die Hand
giebt. Seine Anschauung ist sofort bereit, es auf ein Aehnliches [35]
oder Verwandtes in der Vorstellung zurückzuführen: es fällt
ihm, wie man sagt, etwas dabei ein. Jn der mythologischen
Anspielung nun giebt der Dichter der Phantasie eine Erklärung
für die Wahrnehmung. Es donnert. Der Gott in den
Wolken schüttelt sein erhabenes Haupt. Die Sonne geht auf.
Eine göttliche Jungfrau mit rosig strahlenden Fingern öffnet
ihr das Himmelsthor, hinter dem sie verborgen lag. Jn der
poetischen Vergleichung begnügt sich der Dichter, die Eigenart
der Erscheinung, des Vorgangs in ein möglichst helles
Licht zu setzen. Die lebhafte Phantasie geht gleichsam mit
ihm durch. Homerische Vergleichungen scheinen oft, unbekümmert
um die Erzählung, in die sie eingeflochten werden,
ihre eigenen Wege zu gehen, nur bemüht, ihren Vergleichungspunkt
(tertium comparationis) ganz zu erschöpfen. Der
Dichter spinnt sein Gleichnis aus. Menelaos gewahrt im
dritten Gesange der Jlias seinen Todfeind Paris. So sieht
ein Löwe, ruft der Dichter, seine Beute, einen Hirsch oder
einen Gemsbock voll Freude. Er stürzt sich auf ihn und verschlingt
ihn begierig, mögen auch Hunde und Jäger ihn zu
verscheuchen suchen. Hier führt den Dichter die freudige
Begier in seinem Helden, der sich in Gedanken schon auf den
Feind stürzt, sich in ihn gleichsam verbeißt, auf dies ausgeführte
Bild vom hungrigen Löwen und der Jagd. (Ein schönes
Beispiel auffallend lang abschweifenden Gleichnisses ist das
von der weinenden Kriegsgefangenen, Odyssee VIII 523 ff.)

Es ist der höchste Zweck des Gleichnisses, ein Unsinnliches
zur lebendigen Anschauung zu bringen. Jn dieser Hinsicht
haben wir ja auch ein evangelisches Wort vom Wert und
Bedeutung der Gleichnisreden. Das Evangelium enthält
höchst ausgeführte Gleichnisse, die selbst wieder ausgestaltet
worden sind und das Motiv selbständiger Dichtungen durch [36]
die Jahrhunderte abgegeben haben (der Sämann, der Hausvater,
die klugen und thörichten Jungfrauen, der verlorene
Sohn).

§ 27. Metapher.


Die Ausführung des Gleichnisses dient als Beweis, wie
natürlich und wohlbegründet die Vergleichung an sich in der
poetischen Rede erscheint. Sie ist das Licht der Sprache überhaupt.
Je höher die Rede sich schwingt, je energischer sie
tönt, desto häufiger und stärker fallen die Reflexe. Note: Das kurze
vorübergehende Moment der Vergleichung sind wir seit
Aristoteles (Poetik Kap. 21. Rhetorik III Kap. 11) gewohnt
unter dem Repräsentativbegriff der Metapher (μεταφορά ==
Uebertragung) abzugrenzen. Note: Zweifelsfall: verkürzte Vergleichung oder Übertragung? Übertragung hier nur als wörtliche Übersetzung von Metapher, nicht als Begriffsverständnis; Quelle(n): Aristoteles Poetik1457b (Kap. 21)http://data.perseus.org/citations/urn:cts:greekLit:tlg0086.tlg034.perseus-grc1:1457bAristoteles RhetorikIII, Kap. 11ff.http://data.perseus.org/citations/urn:cts:greekLit:tlg0086.tlg038.perseus-grc1:3.11.1 Die Metapher hält sich nämlich
nicht bei der Einführung der Vergleichung mit so wie,
gleich als ob
und dgl. auf. Sie setzt die vergleichbare
Anschauung einfach zu oder für den verglichenen Gegenstand
ein. Note: Sie nennt das Auge die Sonne des Antlitzes oder
spricht direkt von dem Auge des Himmels als von der Sonne. Note:

§ 28. Arten des metaphorischen Ausdrucks.


Der Arten und Anwendungen des metaphorischen Ausdruckes
können so viele sein, als es Verhältnisse und Beziehungen
der Vergleichung giebt. Note: Aristoteles hat (a. a. O.)
deren vier Hauptklassen abgegrenzt (\̓η ἀπὸ τοῦ γένους ἐπὶ εἶδος
η ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ τὸ γένος \̓η ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ εἶδος
η κατὰ ἀνάλογον). Note: Man muß seinen Ausdruck, der wie
oft bei Aristoteles ziemlich sorglos die richtige logische Unterscheidung
wiederspiegelt, nach seinen Beispielen so verstehen. Note:


Es erfolgt Uebertragung:


1) Vom Besonderen auf das Allgemeine (induktiv). Note: Beispiel:
Das Schiff steht statt liegt vor Anker. Man gebraucht [37]
die allgemeine Anschauung des Stehens für die besondere
des Ankerns. Note: Homer: Odyssee1.1-1.43http://data.perseus.org/citations/urn:cts:greekLit:tlg0012.tlg002.perseus-grc1:1.1-1.43Aristoteles Poetik (zitiert nach)1447ahttp://data.perseus.org/citations/urn:cts:greekLit:tlg0086.tlg034.perseus-grc1:1447a
2) Vom Allgemeinen aufs Besondere (deduktiv). Note: Beispiel: Wohl
zehntausend edle Thaten vollbrachte Odysseus. Statt der
allgemeinen Anschauung sehr viele, unzählbare die
besondere Zahl zehntausend (schwaches Beispiel, weil
dem Griechen μυρίον an und für sich eine unbestimmte Vielheit
bedeutete). Note: Welches Werk? Warum zitiert nach?
3) Vom Besonderen aufs Besondere (comparativ). Note: Beispiel:
Mit dem Erz (Schwert) die Seele schöpfend. Die besondere
Vorstellung des Schöpfens für die des Schneidens. Note: Werkannahme? Zitiert nach?
4) Von einem Verhältnis auf ein anderes (analogisch). Note: Beispiel:
Das Greisenalter verhält sich zum Leben wie der
Abend zum Tage. Man setzt nun das Greisenalter
des Tages
oder den Abend des Lebens, je ein
Verhältnis für das andere ein. Note: Annahmen?

§ 29. Möglichkeit der Vergleichung.


Die letzte Kategorie nennt Aristoteles die analogische
im besonderen, obwohl Analogie (Uebereinstimmung) als Möglichkeit
der Vergleichung überhaupt bei allen Arten der Metapher
vorauszusetzen ist. Note: Wo diese Möglichkeit der Vergleichung,
die Analogie, fehlt oder nur schwer entdeckt werden kann oder
gestört wird, da spricht man von falschem Gebrauch des
Gleichnisses, der Metapher (Katachrese), falschen oder unrichtig
durchgeführten Bildern. Note: Es betrifft aber jene letzte Klasse
des Aristoteles die Vergleichbarkeit des reinen Verhältnisses.
Dafür ward es ihm schwer, in der Terminologie
seiner Sprache ein anderes Wort zu finden, als gerade das
allgemeinste, das er seiner Definition von vorn herein hätte
zu Grunde legen sollen. Daher sichert er sich denn auch bei [38]
dieser seiner letzen Kategorie des metaphorischen Ausdruckes
durch eine lange Ausführung und mehrere Beispiele. Note:

§ 30. Grammatische Lehre von den Tropen.

Es erübrigt, darauf einzugehen, wie im Anschluß
an Aristoteles Rhetoriker und Grammatiker nun versucht
haben, die Lehre von den Tropen auszubauen. Sie wollen
wie so oft klassifizieren, bevor sie untersucht und geschieden
haben. Daher jene öde Reihe starrer Bezeichnungen, mit denen
sich die Poetik schleppt und, indem sie sich damit auseinander
zu setzen sucht, den Lernenden verwirrt. Nichtssagende Flachheiten
wie „Metonymie“ (Namenvertauschung!), eine bare
Hülflosigkeit wie die „Synekdoche“ (Mitbegreifung), Vermengung
der materiellen in die formale Unterscheidung wie
bei der „Personifikation“ (Beseelung eines leblosen Gegenstandes):
all dies ungeschickte Handwerkszeug kann das innere
Verständnis der in den Bildern lebenden poetischen Anschauungskraft
wenig fördern. Es kommt nicht darauf an,
besondere Benennungen für die Einzelheiten dieses Anschauungslebens
zu schaffen (wo man so leicht wohl kein Ende
finden dürfte), als den Vorgängen im ganzen nachzugehen
und sie zu erklären.

Hiezu aber reicht es nicht aus, daß man beobachtet, wie
sich die poetischen Wendungen gleichsam auf der Oberfläche
der Sprache bilden. Es gilt, von unten auf Sprachschöpfung
und Sprachgestaltung zu verfolgen, um zu erkennen, daß das
poetische Bild keineswegs bloß als äußerlicher künstlicher Schmuck
auf den Sprachbaum aufgepfropft wird, sondern dessen eigentümliches,
natürliches Erzeugnis darstellt. Sehr wohl giebt
Fr. Th. Vischer (Aesth. III. 1221) zu „bedenken, daß, was
vom prosaischen Standpunkte bloß anhängender Schmuck, vom [39]
poetischen wesentliche Anschauung des im Worte erstarrten
Bildes ist.“

§ 31. Das Beiwort (Epitheton).

Was man daher im Gegensatz zu den poetischen Tropen
im Sinne der Grammatik und Rhetorik als Figuren bezeichnet,
muß durchwegs in Beziehung auf sie als ihre wesentliche
Voraussetzung aufgefaßt werden. Die ursprünglichste
aller Figuren, das einfache Beiwort (Epitheton, griech. ==
Zugesetztes), vertritt jetzt auf der Grundlage der ausgebildeten
Sprache genau dasselbe, was vor aller Sprache das Wort
an und für sich bedeutete: nämlich die unterscheidende Bezeichnung
eines Dinges, ebensowie die einfache Umschreibung
(gr. Periphrasis) die unterscheidende Bezeichnung eines Vorgangs.
Darum finden wir auch in jenen poetischen Urkunden
aus der menschlichen Urzeit noch durchweg das stehende
Beiwort
im Gebrauch, von den Grammatikern ganz unangemessen
als epitheton ornans (schmückendes
Beiwort) aufgefaßt. Denn es ist eben keineswegs zufälliger
Schmuck der Rede, sondern eine ganz bestimmte anschauliche
Unterscheidung, die damit bezweckt wird, wenn Homer stets
vom „fußschnellen Achilleus“, vom „listenreichen Odysseus“,
vom „gerenischen reisigen Nestor“ spricht; wenn die Bibel statt
des einfachen Ausdrucks „und Gott sprach“ immer ausführt:
„Und Gott segnete und sprach“, „er vertrieb sie und stieß sie
aus“, „er schlug und schmähte sie“, „er antwortete und sprach“,
was ja Homer ganz genau so formuliert:


τὸν δ' ἀπαμειβόμενος προσέφη ─“

[40]
§ 32. Grammatische Grundfunktionen des Wortes in
poetischer Verwendung.

Das Beiwort, die Wurzel des poetischen Vergleiches,
führt also unmittelbar auf das Wort selbst, den Baugrund
der Sprache, und zwar ganz folgerichtig auf das Wort in
seinen beiden grammatischen Grundfunktionen als Substantiv
und als Verbum. Die poetische Sprache zeigt darin schon
ihre unmittelbare Fühlung mit der Sprachschöpfung, daß sie
diese lebendigen Triebkräfte der Sprache möglichst zur Geltung
bringt gegenüber den übrigen erst durch immer schärfere und
feinere Abstraktion aus ihnen gewonnenen Redeteilen, den
Vertretern des Urteils und der reinen Kategorien des Denkens.
Die poetische Sprache umgeht also, ganz verschieden von der
Sprache der Konvention, Partikeln, Umstands- und Verhältniswörter
in ihrem trockenen, verallgemeinernden Gebrauch. Sie
hilft sich lieber mit einer gegenständlichen Beschreibung, einer
sinnlichen Umschreibung, einem entschiedenen Zusatz. Sie vermeidet
aus diesem Grunde die hypothetischen Formen des
Zeitworts in ihrem Abhängigkeitsverhältnis von unterordnenden
Konjunktionen und zieht die abrupte Einführung des abhängigen
Verbums vor. Nicht: „ich sage, daß ich es gethan habe“
sondern „ich sag', ich hab's gethan“. Nur aus diesem Grunde
vermeidet sie das Hilfsverb in seiner rein kategorischen Verwendung
in der Konjugation. Nur darum giebt sie die damit
gebildeten Formen des Perfekts, des Passivs gern verkürzt
mit der Ellipse des Hilfsverbs oder in sinnlicher Verstärkung
durch ein selbständiges Verb. „Was ich verbrochen“ nicht:
„was ich verbrochen habe.“ „Versunken und vergessen!“ nicht
„er ist versunken und vergessen“, „ihr liegt verödet“ statt
„ihr seid verödet.“

[41]
Kapitel 4. Sprachbewegung.
(Figuren.)

§ 33. Der poetische Satz.

Ebenso wie im Ausdruck an und für sich sehen wir in
seiner Aneinanderreihung im Satze die poetische Sprache stets
darauf aus bedacht, mit dem ursprünglichen Leben und Empfinden,
welches ihre Formen schuf, in genauester Fühlung zu bleiben.
Jm geordneten Satze kommt der Ausdruck in Bewegung, die
Sprache in Fluß. Besondere Formen dieser Sprachbewegung
sind es nun, welche die alten Grammatiker mit
Beziehung auf die geordneten Formen der thatsächlichen körperlichen
Bewegung (im Tanze) hier ganz treffend als Figuren
bezeichnet haben. Nur daß sie auch hier im Aussondern und
Bezeichnen ihres richtig begriffenen Vorwurfs sehr unglücklich
verfahren sind. Das Ergebnis davon ist die lächerliche Verwirrung,
die in dem Schwalle „grammatischer und rhetorischer,
Wort- und Sinnfiguren“ der poetischen Kompendien herrscht.

§ 34. Allgemeine Bedeutung der Figuration für die Rede.

Zunächst muß man die dadurch leicht bewirkte Schulmeinung
überwinden, als handle es sich hier um außerordentliche
Kunststücke, die nur vom Poeten oder Redner exekutiert
werden. Wie man sich leicht bei Durchmusterung dieses ganzen,
stellenweise recht seltsamen Registers überzeugen wird, giebt
es keine Figur, die nicht im gewöhnlichen Sprachverkehr unter
ihren gegebenen Bedingungen vorkäme. Manche Verkehrssprachen
bevorzugen und pflegen bekanntlich gewisse Redefiguren,
wie die der Studenten die Hyperbel, die der Juden die Frageform
(interrogatio), die der Diplomaten die Litotes u. s. w.
Die kunstmäßige Rede thut nichts weiter, als daß sie diese
von allen geübten Redeformen nach ihrer ursprünglich gedachten [42]
Wirkung, an rechter Stelle und in der geeigneten Mischung
anbringt. Gleichgiltig oder gar unrichtig angebracht, ergeben
sie Stillosigkeit oder Galimatias, wie wir beides
gegenwärtig in unserer Zeitungslitteratur genugsam beobachten
können, einseitig bevorzugt, Manier.

Beim Versuche, sich unter den Redefiguren zu orientieren,
halte man fest, daß es sich nur darum handeln kann, entweder
die Sprachbewegung zu variieren, sie zu beschleunigen
und aufzuhalten, zu steigern und hinabzuleiten, zu entfesseln
und festzusetzen, oder ihre einzelnen Ruhepunkte zu fixiren,
wie man das ja ganz analog ausdrückt: zu pointieren.

§ 35. Festsetzende (pointierende) Figuren.

Dem letzeren Zweck dienen in diesem Verstande auch die
Tropen, und die meisten der hierhergestellten Figuren sind auch
thatsächlich nichts anderes als Tropen, die nur in ihrer Beziehung
auf den Jnhalt unter eine ganz bestimmte Rubrik
gebracht werden können. So enthält eben die schon berührte
Hyperbel eine fühlbare Uebertreibung des bezeichneten verglichenen
Verhältnisses. Zu ihr gehört daher jedes eigentliche
Schimpfwort, zumal der in der hyperbolischen Sprache beliebte
Tiervergleich. Der Tiervergleich der Urpoesie gehört nicht
hierher. Er ist reiner Tropus. Denn wenn Homer und
die Bibel ihre Helden mit Ochsen und Eseln, die Araber mit
Kamelen, die Veden mit Elefanten vergleichen, so beabsichtigen
sie etwas anderes, als wenn der Student Ochs, Esel, Kamel
oder Elefant zur Vergleichung heranzieht. Das steht dann
vielmehr hyperbolisch als bloße Redefigur für einen hohen,
unmenschlich scheinenden Grad von Dummheit, Störrigkeit,
Schwerfälligkeit, schimpflichen Eigenschaften.

Die Litotes (griech.=Schlichtheit, Einfachheit) will ganz [43]
im Gegensatz dazu nicht alles sagen, was eigentlich gesagt
werden müßte. Sie sagt lieber „nicht gut“, wo eigentlich
„schlecht“ zu sagen wäre, sie sagt lieber „ich bin nicht dieser
Ansicht“ statt „ich bestreite das“. Wenn man also eine Figur
der Negation (Verneinung) einführen will, so ist sie nur
die Grundlage, die eigentliche Voraussetzung der Litotes, die
als solche eine spät, erst im Zustande der Ueberfeinerung in
die Sprache eintretende Redefigur sein wird. Den höchsten
Grad von Feinheit erreicht die Litotes, wenn sie in der Abschwächung
der Meinungsäußerung bis zum graden Gegenteil
dessen fortschreitet, was eigentlich gesagt werden müßte.
Dann wird sie Jronie (griech. wohl zum Stamme EP gehörig
vgl. unser „etwas so sagen“) und liegt, das was eigentlich
zu sagen wäre, recht offenbar, wie man wohl sagt:
schreiend zu Tage, so nennt man die Jronie Sarkasmus
(vom griech. σάρξ Fleisch, „ätzender“ Hohn). Die Jronie
scheint ganz Kulturprodukt, sie kennzeichnet bekanntlich eine so
überfeinerte Litteraturrichtung wie die Romantik, erschien aber
auch bedeutsam im Munde des Sokrates an der großen Wende
des Altertums, da die alte Naturreligion in der Oeffentlichkeit
ihren ersten Stoß erhielt. Nichtsdestoweniger ist die
Jronie keiner Menschen- und Gesellschaftsschicht völlig fremd.
Die Sprache ist ein so durchsichtiger Schleier, daß Jronie
unter gegebenen Voraussetzungen sofort und genau verstanden
wird. Grade der Natur nahe Völker (Bergbewohner, Alpenvölker)
üben sie mit Vorliebe (utzen, schrauben, frotzeln u. s. w.).
Bezeichnet man Jndividuen und Völker dadurch gerade als
natürlich, daß man sagt, sie verstehen die Jronie nicht (wie
die Pommern), so ist es meist wieder Jronie.

[44]
§ 36. Emphase.

Will man ein Repräsentativform aller dieser pointierenden
Rede-Figuren, so hat man sie in der Emphase
(griech. == Andeutung, Hinweisung). Jhr Begriff ist erschöpft
in unserem Ausdruck „etwas mit Bedeutung sagen“. Die
bekannte Phrase „sei ein Mann,“ zu einem Manne gesagt,
wäre sinnlos, wenn wir nicht gerade aus dem Nachdrucke,
mit dem sie gesagt wird, sofort die besondere Bedeutung schlössen,
die hier dem Worte „Mann“ beigelegt wird, nämlich den
Jnbegriff desjenigen, was den Mann als solchen (vor dem
Knaben, dem Greise, dem Weibe) auszeichnet, was ihm ziemt.

Es ist der Jnhalt eines Wortes, im Unterschied von
seiner gewöhnlichen, lediglich bezeichnenden Aufgabe, der hier
wieder durchbricht. Das Wort wird gleichsam noch einmal
geboren, indem es nach dem grammatischen Ausdruck „im
prägnanten (lat. eig. schwangeren, trächtigen) Sinne
auftritt. So kann man nun alle pointierenden Redefiguren
emphatisch nennen. Denn alle legen Nachdruck auf den Jnhalt
eines bestimmten Wortes im Fluße der Rede.

Das sogenannte historische (besser: absolute, Praesens
z. B. verdankt seine Bedeutung als Redefigur lediglich
dem emphatischen Vermögen. Durch dieses nämlich wird es
seiner Rolle als bloße Bezeichnung einer Verbal form (als
charakterisiertes Tempus) entkleidet und in die ursprüngliche
absolute (aoristische) Vertretung aller Verbalform wieder eingesetzt,
aus der, wie die Geschichte der Sprache lehrt, alle
Tempora und Modi durch sogenannte Differenzierung abzweigten.
Also in einer Schilderung: „Der Feind bricht
herein. Entsetzen ergreift die Bewohner.“ Oder imperativisch:
„Du thust's!“ statt „thu's!“ Oder imperativisch futurisch: [45]
„er thut's!“ statt „er ist im Begriffe es zu thun, er wird
es thun!“ Negativisch (in ironischer, höhnischer Wendung):
„Der thut's!“ d. h. „er thut es eben nicht, wird es nicht
thun, es fällt ihm nicht ein, es zu thun.“ Ganz ähnlich ist
es mit Anwendung des Singulars für den Plural bei kategorischer
und genereller Bezeichnung (besonders in der lateinischen
Sprache): „Der Soldat, der Römer“ für „die Soldaten,
die Römer.“

Als unmittelbar zur Emphase im engeren Sinne gehörig
wird man aber schon nach dem bloßen Gehör diejenigen Redefiguren
empfinden, welche zwei oder mehr Worte in gegensätzliche
oder allgemein rückwirkende Beziehung zu einander setzen. Also
Antithese, Oxymoron, Paradoxon sowie Klimax
und Stichomythien. Hier soll nämlich überall die emphatische
Hervorhebung des einen dazu dienen, das andere recht
nach seinen besonderen Bezügen hervortreten zu lassen. Also:
„Du lachst; Jch weine (d. h. du bist im stande, bist so
grausam, so fühllos, zu lachen ...) „Beredtes Schweigen“
(kein gewöhnliches Schweigen, sondern ein Verstummen
aus Gründen, die für sich selber sprechen). „Noch ein solcher
Sieg (der nämlich keiner ist), und ich bin verloren!
„Jch kam, sah und siegte“, eine ungeheure Steigerung bloß
durch Emphase. Die Stichomythien, in denen das Wort
dramatisch zwischen Unterrednern wie ein Ball hin- und hergeworfen
wird, bedienen sich aller dieser Arten von Emphasen
behufs angelegentlicher Erörterung des jeweiligen Wortbegriffs.
Uebermaß der Emphase, die so schließlich alles Nachdrucks
beraubt, abgestumpft wird, dies allein ist es, was die
Häufung solcher Redefiguren (concetti, quibbles) z. B. im
poetischen Modeton gewisser Zeiten (Marinismus*), Euphuismus *)), [46]
Kultismus**) so abgeschmackt erscheinen läßt. Denn
was kann es abgeschmackteres geben, als durch eben die Mittel
einen Zweck zu hintertreiben, durch die man ihn erreichen will?

§ 37. Sentenz.

Schließlich sei noch bemerkt, daß die sogenannte Sentenz
(sinnreicher Ausspruch) zu den Redefiguren zu rechnen,
wie eine gewisse Sorte Poetik pflegt, durchaus keinen Sinn hat.
Denn wenn auch im einzelnen Worte der Sinn besonders
auffällig angebracht werden kann, so versteht es sich eigentlich
von selbst, daß das Ganze der Rede immer „sinnreich“ sei.
Andernfalls würde der werte Poet besser schweigen. Was man in
der theoretischen Sprache Sentenzen nennt, stellt keine Redefigur
dar, sondern allgemeine, aus dem poetischen Vorgang
abstrahirte Gedanken, welche die thatsächlichen Ausführungen
des Dichters oder seiner poetischen Personen durchsetzen.

§ 38. Bewegungsfiguren.

Die Bewegungsfiguren werden es zum Unterschied
von den festsetzenden nicht mit den Wörtern selbst, sondern
mit der Wortfügung zu thun haben. Diese kann durch
die bloße Weglassung oder Häufung der Bindewörter in ihrer
Wirkung schon merklich variirt werden. Erstere, das
Asyndeton, erzeugt den Eindruck einer lebhaften Beschleunigung
(„alles rennet, rettet, flüchtet“), letztere, das
Polysyndeton, den einer ungemeinen Macht der Bewegung
(„und es wallet und siedet und brauset und zischt“).
Eine besondere Energie der Bewegung wird es auch sein
müssen, die im stande ist, die gewöhnliche Folge der Wortfügung [47]
ganz zu verändern (Jnversion). „Nach Korinthus
von Athen gezogen kam ein Jüngling“ (Goethe: Braut von
Korinth); „Wasserholen geht die reine, schöne Frau des hohen
Brahmeu“, „Edel sind wir nicht zu nennen“, „Mich nun
hast du ihrem Körper eingeimpft“ ... (Ders.: Parialegende).

An der großen Freiheit der Wortfügung, welche sich in
Folge der größeren Bestimmtheit ihrer Flexionsformen noch
die alten Sprachen überall erlauben dürfen, hat in den unseren
nur noch die poetische Sprache Anteil. Für gewöhnlich
macht die Erleichterung der Uebersicht und des raschen Verständnisses
bei der mangelnden Flexionsunterscheidung eine
um so strengere Syntax notwendig (besonders im Französischen).
Die poetische Sprache nun ist durch ihre größere
Anschaulichkeit und Eindringlichkeit in der Lage, weit weniger
Umstände mit ihrer Wortfügung zu machen. Sie schickt die
Begründung, die näheren Umstände der eigentlichen Aussage,
das abhängige Wort den regierenden voraus und dergleichen.
Wenn sie auch im Ein- und Durcheinanderschieben abhängiger
Worte nicht mehr die Freiheit hat, wie bei den durch sich
selbst kenntlichen Flexionen der alten Sprachen, so sind Einschaltungen
(Parenthesen) von Ausrufen, Anreden
und Zwischenbemerkungen (à part) ihr ganz gemäß
und viel natürlicher als der strengen Prosa, wo die Parenthese
eher einen steifen, schwerfälligen unbehilflichen Eindruck
hervorruft. Saladin (in Lessings Nathan V letzter Auftritt):


Und wenn er dich verschmäht, dir's je vergißt,

Wie ungleich mehr in diesem Schritte du

Für ihn gethan, als er für dich ... Was hat

Er denn für dich gethan? Ein Wenig sich

Beräuchern lassen! ist was Rechts! ─ so hat

Er meines Bruders, meines Assads, nichts!
[48]

Das macht, daß das Gewand der poetischen Rede gleichsam
leichter, luftiger ist, als das der Prosa, viel rascher, flüchtiger
und dabei tiefere Falten zu werfen vermag, im Ganzen nachgiebiger
gegen jede Art von Drapierung erscheint.

Demgemäß liegen ihr auch die Formen der strengen
grammatischen Jnversion, also namentlich der Frage (interrogatio),
viel näher. Sie greift ohne viele Umstände dazu, wenn
sie auch keine Antwort erwartet und erwarten kann (rhetorische
Frage
); sie fingiert ein Frage- und Antwortspiel
(Dialogismus) im Sprechenden selbst und erzeugt durch
dies alles jene eigentümliche Spannung, jene lebhafte Anteilnahme
am Thema, die z. B. Lessings Stil durch dies Kunstmittel
den trockensten Gegenständen zu Gute kommen zu lassen
wußte.*) „Herr Klotz soll mich eines unverzeihlichen Fehlers
... überwiesen haben.... Mich eines Fehlers? Das
kann sehr leicht sein. Aber eines unverzeihlichen, das sollte mir
leid thun... Denn es wäre ja doch nur ein Fehler... Aber ..
worin bestand er denn nun, dieser unverzeihliche Fehler?“
Oder**) „Sie? Herr Pastor ─ der Sie diesen ehrlichen Mann
mit Steinen verfolgen? .. Und warum? Weil dieser ehrliche
Mann zugleich den schriftlich gegebenen Rat eines ungenannten
Baumeisters, das Gebäude lieber ganz abzutragen ─ gebilligt?
unterstützt? ausführen wollen? auszuführen angefangen? Nicht
doch! ─ nur nicht unterschlagen zu dürfen geglaubt.“ Aus
dem gleichen Grunde scheinen ihr Störungen und Unterbrechungen
der regelmäßigen Wortfolge, Auslassen von Wörtern
und Satzteilen (Ellipsen), Verschweigen von Abschlüssen
(Aposiopesen) nicht nur zulässig, sondern erwünscht, um [49]
grade dadurch ihr Publikum zur Selbstergänzung zu zwingen,
es rascher mit sich fortzureißen. (Virgils „quos ego“ ─!
euch werd' ich ─!) Die poetische Sprache pocht hier gleichsam
auf die Macht, die sie auf den Hörer ausübt. Wir sehen ihr
aus diesem Grunde sogar die mangelhafte (ja falsche) Ausgestaltung
der Satzfolge (Konstruktion) unbedenklich nach, die
wir dem strengen Prosaiker als ein Zeichen von Nachlässigkeit
der Gedankenformung (Anakoluthie) sehr verübeln würden.

§ 39. Klangfiguren.

Es entstünde nun die Frage, in welche der beiden Klassen
jene Art Figuren einzureihen wäre, in denen rein durch den
Wortklang eine Einwirkung auf die Sprachbewegung erzielt
wird. Zählen sie zu den pointierenden oder den bewegenden
Figuren? Sie stellen sich zu den pointierenden, wenn sie wie
das κατ'ἐξοχήν sogenannte Wortspiel (Annominatio) und
der darauf gegründete Witz einen Punkt der Rede besonders
markieren. Sie treten aber wiederum zu den bewegenden,
indem sie bloß durch Wiederholung der reinen Wortklänge
die Wortfügung anregen. Repräsentativform dafür ist die
Anaphora (griech. Zurückführen nämlich desselben Wortes),
die je nach der Stellung in Satz und Vers eine Menge
Unterarten zuläßt, deren Aufzählung mit ihren grammatischen
Titulaturen wir dem Leser ersparen. Also: „Das Wasser
rauscht, das Wasser schwoll“; „so gleicht kein Ei dem
andern,
kein Stern dem andern nicht“ (Mörike) und so
in vielen Variationen. Die eigentümliche Doppelstellung dieser
Art von Figuren ist nun keineswegs zufällig. Sie findet ihre
Begründung darin, daß die bloße Klangform im Wort eben
schon etwas bedeutet, was über den Sinn und die Sinnfügung
in der Sprache hinausgreift in das melodische Gebiet. [50]
Alle Onomatopoesie d. i. Verwendung der Wortklänge
zu bestimmten musikalischen Wirkungen, wie sie namentlich in
der Schäferpoesie des 17. Jh. bis ins Kindische und Lächerliche
getrieben wurde, kann kaum noch zu den Figuren gerechnet
werden, die nach unserer Definition besondere Formen
der Sprachbewegung selbst darstellen. Sie fällt vielmehr bereits
in das Bereich jenes Kunstmittels, welches als der
selbständige Träger der poetischen Sprachbewegung von der
musikalischen Seite her sich der Sprache zugesellt: in das
Bereich des Verses. ──────


III. Äußere (musikalische) Mittel der Dichtung
als Kunst. ──────


Litteratur.

Scriptores metrici graeci ed. Westphal. Antiquae
musicae autores ed. Meibomius. Grammatici latini ed.
Keil. Ueber antik. Metrik August Apel. Lzg. 1815. 17, Gotfried
Hermann (Elementa doctrinae metricae 1816), Wilh.
Christ (Metrik der Griechen u. Römer 2. A. 1879), Roßbach,
Westphal
und Gleditsch. Lzg. 1885. 89. Karl Lachmann,
Ueber Althochdeutsche Betonung und Verskunst (Berliner Akademie
1832. 34. Klein. Schrift. I 358─406. Ed. Sievers
(Altgerman. Metrik) und Herm. Paul (Deutsche Metrik) in des
letzteren Grundriß der germ. Philol. II 1. 9. Abschnitt (1893).
K. Phil. Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie. Berl. 1786.
Fr. Aug. Wolf, Ueber ein Wort Friedrich's II. von deutscher
Verskunst. Berl. 1811. Joh. Minkwitz, Lehrbuch der deutschen
Prosodik und Metrik. Lzg. 1843. Mor. Hauptmann, Natur [51]
der Harmonik und Metrik. Lzg. 1853. Roderich Benedix,
Das Wesen des deutschen Rhythmus. Lzg. 1862. Rud. Westphal,
Theorie der neuhochdeutschen Metrik. Jena 1870. Rud.
Gottschall, Poetik, Die Dichtkunst u. ihre Technik. 2. A. 1870.
Ernst Brücke, Die physiologischen Grundlagen der nhd. Verskunst.
Wien 1871. R. Aßmus, Die äußere Form der nhd.
Verskunst. Lzg. 1882. Aug. Schmeckebier, Deutsche Verslehre.
Berl. 1886. Jakob Minor, Neuhochdeutsche Metrik (umfassendes
Handbuch). Straßburg 1893. W. Wackernagel, Geschichte
des deutschen Hexameters und Pentameters bis auf Klopstock.
Berl. 1831. (Kl. Schr. II). F. Wolf, Ueber die Lais,
Sequenzen u. Leiche. Heidelb. 1841. Wilh. Grimm, zur Geschichte
des Reims. Berl. 1852. 4°. (Kl. Schr. IV). Fr. Zarncke,
Ueber den fünffüßigen Jambus. Lzg. 1865. Aug. Sauer,
Ueber den fünffüßigen Jambus vor Lessings Nathan. Wien 1878.
H. Welti, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung.
Lpzg. 1884.


Kapitel 1. Metrik.

§ 40. Allgemeine Begründung der metrischen Form.

Vers sowohl als Reim, die beiden musikalischen Hilfen
der poetischen Sprache, sind in den Figuren so vorbereitet, daß
man darin den stetigen Uebergang vom poetischen Jnhalt zur poetischen
Form genau verfolgen kann. Anaphora und Anomination
─ regelmäßige und gleichartige Wiederholung des Wortklanges
im Dienste des Wortsinnes ─ hier haben wir fühlbar die
Momente, an denen als geforderte Ergänzung die ganze sonst
so unvermittelt und beziehungslos auftretende Maschinerie der
Verstechnik einsetzt. Man muß sich immer gegenwärtig halten,
daß der musikalische Schmuck der poetischen Rede nicht etwa als
etwas Gegebenes der Musik entlehnt ist. Denn als der erste
Vers sich bildete ─ wo war da die Musik? Sondern umgekehrt: [52]
am Verse und durch den Vers hat sich Musik
gebildet; die Kunst des reinen Klanges ist am Sinn erblüht,
und in seinem Dienste haben sich jene vielgestaltigen Ordnungen
des Klanges auseinandergelegt, die uns jetzt, der ursprünglichen
Tönung baar, als unverständliche Künsteleien
eines launenhaften Wortfügungstriebes in zahllosen dürren
Schemen die Metrik überliefert.

Es gilt also festzuhalten, daß auch die strenge kunstmäßige
Wortfügung in festen, metrischen Gebilden vom Wortsinn
ursprünglich nicht zu trennen ist. Das rein musikalische
Element, das hier hinzukommt, ist der Takt. Der Takt ist der
rhythmische Träger einer Bewegung, zunächst der körperlichen
im Tanze, Marsche. Das wiederkehrende Zeitmaß beschwingt
die Bewegung, die sich danach richtet, macht sie leichter und
dauerhafter. Die Gründe führen weit und liegen tief. Die
Thatsache spricht für sich selbst. Dadurch nun, daß Sprache
eine Bewegung ist, sucht sie am Takt teilzunehmen. Das
Lied und seine sprachliche Unterlage, der Vers, ist gleichsam
ein Tanz der menschlichen Kehle.

§ 41. Vers.

Vers ist ein lateinisches Wort (versus) und entspricht
unserm Worte Wendung. Aus der naheliegenden etymologischen
Erklärung des Grundworts der metrischen Kunst braucht man
jedoch nicht gleich bündig zu schließen, daß aller Vers und
mit ihm jede Poesie vom Tanzlied den Ausgang genommen
habe. Es liegt wie gesagt in der Sprachbewegung als solcher
die Tendenz, auf den Takt als ihren beschwingenden Träger
hinzusteuern. Recht naiv offenbart sich dies in der sehr alten,
ursprünglichen, später vielleicht mit Absicht auf diesem Standpunkt
verharrenden heiligen Poesie der Bibel. Hier äußert [53]
sich das innere Streben nach der Gleichreihigkeit des Takts,
wenigstens in dem ersten Ansatz zur Gegenüberstellung je zweier
zeitlich begrenzter Glieder (Parallelismus). Jn dieser
Weise haben wir uns nun den Ansatz aller Metrik zu denken:
nicht also, daß von streng gleichmäßigen Einzelgliedern
(Schritten) der Vers aufgebaut wurde, sondern so, daß in
parallele Reihen die gleiche Gliederung immer mehr hinein=
gebaut ward. Daß nun auf diesem Wege der zur Begleitung
durch das Lied einladende Tanz mit seinem Gleichschritt den
Ausbau der Gliederung begünstigt haben wird, liegt zu Tage.
Man denke an die große Bedeutung der chorischen (Reigen=)
Poesie bei dem wie für alle Kunst, so auch für die Metrik
wichtigsten Volke, den Griechen.

§ 42. Metrik und Rhythmik.

Wir sprechen nach griechischem Gebrauch noch von Metrik
(Meß
kunst) als dem Prinzip der Verskunst, obwohl man im
Deutschen durch die gröbere Natur der Sprache gezwungen,
nur mehr im allgemeinen auf bloße dynamische Rhythmik
(Taktierung nach Stärke und Schwäche*) eine Verskunst gründen
könnte. Wir können lediglich nach dem Wechsel der betonten
und unbetonten, stärker und schwächer betonten Wortsilben
die Gliederung der Takte, guten und schlechten Taktteil
(nach „Hebung und Senkung“ der Stimmkraft**) bestimmen. [54]
Die Griechen und ihre Schüler, die Lateiner, besaßen in der
feinen Unterscheidung von langen und kurzen Silben in
ihren Sprachen die Mittel, die Takte viel wechselvoller mit
langen und kurzen Silbennoten auszufüllen, im Prinzip unbekümmert,
wohin im Takte die Wortbetonung fiel.

Es ist klar, daß diese Betonung, wie jetzt noch im Süden,
mehr musikalisch nach Höhe und Tiefe unterschieden gewesen
sein muß, da Stärke und Schwäche ja gute und schlechte Taktteile
auseinanderhielt. Während unsre Deklamation also
im Prinzip tonlos erscheint, war die antike tonreich und bot
schon an und für sich ohne Komposition ein lebhaft bewegtes
Notenbild. „Einst wird kommen der Tag“ lautet nach dem
Prinzip unserer Deklamation zunächst nur in rhythmischen
Schlägen:


[figure]

ἔσσεται ἧμαρ ὅταν
dagegen melodisch unterschieden etwa


[figure]
§ 43. Romanische und germanische Versübung.

Diese singende Deklamation, die uns störend, ja abgeschmackt
erscheint, hat sich denn auch im Süden erhalten, und
die Verskunst der Romanen gründet darauf, obwohl **) [55]
auch sie die strenge Messung der Silbe hat aufgeben müssen,
die Freiheit, ihre Accente beliebig über den Vers und keineswegs
bloß auf die guten Taktteile zu verteilen. Es hat lange
gedauert, bis man (nachhaltig erst durch Opitz) zum theoretischen
Bewußtsein dieser Unterschiede gekommen ist. Die Schwere
und Korrektheit unserer Wortbetonung, die sich unter allen
Umständen auf dieselben Silben, die Stammsilben wirft, hindert
uns die andre Weise mitzumachen. Der alte deutsche Vers
beschränkte sich ganz ausschließlich auf Jnnehaltung einer bestimmten
Anzahl von starken Betonungen (Stäben), die er ursprünglich
noch durch gleichen Anlaut (Allitteration) kenntlich
machte, ohne gleiche Taktierung. Später wurden unter dem
stetigen Einfluß der antiken und romanischen Metrik die Takte
mehr ausgebaut, die Anzahl der den starktonigen Versstäben
(Hebungen) beigegebenen schwach betonten Silben (Senkungen)
beschränkt und ausgeglichen. Allein die Freiheit, den Schwachton
(die Senkung) ganz auslassen zu dürfen, eine ganze Silbennote
in den Takt zu setzen, behielt der deutsche Vers gleichsam
als Wahrzeichen des ausschließlichen Starkton=(Hebungs)=
prinzips in ganz anderer Ausdehnung bei, als sie sich analog
in der antiken Silbenmessung findet. Ein viersilbiger Vers wie


[figure]

hat vier Takte genau wie der zehnsilbige


[figure]
[56]

Doch war man feinhörig genug, zu Trägern so starker Betonung
auch immer nur metrisch lange Silben auszuwählen,
d. h. solche mit langem Vokal oder gehäuftem Konsonantenschluß.
Das alte Deutsch verfügte nämlich noch über eine
Menge kurzer Stammsilben, die eben durch die schwere Betonung
im Laufe der Zeit gleichsam ausgeweitet, lang geworden
sind.

Also T̄́age, K̄́lage, nicht mehr: t̆́age ̆́klage.

§ 44. Nachahmung der antiken Metrik im Deutschen.

Man sieht also, daß es im älteren Deutsch, namentlich
in dem noch mit sehr vielen nebeneinander liegenden (heute
verschliffenen) kurzen Ableitungssilben versehenen Althochdeutsch
ganz leicht war, antike metrische Verse zu bauen. Gleichwohl
unterließ man es keineswegs bloß aus „mönchischer und
barbarischer Unwissenheit“, sondern weil man über das Bedürfnis
der strengen Stammsilbenbetonung auch im Verse
nicht hinwegkonnte. Die humanistischen Schulmeister der
Renaissancezeit, die hochmütig auf „die alte Reimerei“ herabsahen,
verfehlten es grade, da sie sich darüber hinwegzusetzen
wagten zu einer Zeit, wo der Bestand an kurzen Silben, zumal
neben einander liegenden, schon stark zusammengeschmolzen,
beziehungsweise geschwunden war. Jhre Mißbetonung:


Ḗs m̆acht ā́ll̄ein̄́ig d̄er Ḡ́laub' d̄ie Ḡ́läub̆iğen s̄el̆ig ..

Ā́llw̄eg ī́m M̄ens̄́chen s̄chafft ḗr k̄ein M̄́üs

s̆en b̆ei īhm ĭst &c.;

Ēin V̆oğel h̄́och s̄chweb̄́et, d̄er n̄́icht w̄ie ānd̆er̆e l̄eb̆et.

wie das Außerachtlassen der festen Betonung dem deutschen
Ohre nun einmal erscheint, wurde also nicht einmal mehr [57]
durch leichte und flüssige Metrik im Verse ausgeglichen.*)
Diese sklavische und völlig unangemessene Art der Nachahmung
des antiken Verses wurde auch schließlich überwunden, und alle
Rückfälle darein bleiben für den, der in dieser Materie klar
blickt, von vornherein aussichtslos.

Man fand schließlich das Auskunftsmittel, die antike Metrik
der deutschen Sprache anzueignen, dadurch, daß man ihre
Schemen in analogen rhythmischen nachbildete.

Man muß dabei nur nach Kräften bemüht sein, nicht durch
allzu grobe Verstöße gegen den ursprünglichen Sinn dieser
Metren die Analogie illusorisch zu machen, also nicht durch
allzugroße Schwere in den unbetonten Silben, allzu große
Leichtigkeit der betonten die Beziehung auf die eigentlich notwendigen
strengen Längen und Kürzen gradezu herauszufordern.
Der Daktylus „Holzklotzpflöck“ in Hexametern, wie Platen sie
parodirt, ist freilich kaum geeignet, im Hörer den Eindruck
antiken Metrums hervorzurufen. Ebenso wenig sollen die
festen metrischen Schemen durch sprachliche Opfer, Silben=
verstümmlung und Abwerfung (syllabische Synkope
und Apokope: g'sagt, neid't; hab's, d'Vater, d'Mutter),
Silbenzusammenziehung (Synalöphe: so'n Mensch == so ein
u. dgl.) erzwungen werden. Auch der Hiatus, das Aufeinandertreffen
zweier Vokale zwischen zwei Worten, bei uns
des stummen Ausgangs=e's (heutē ērwartet; zur Statuē ēntgeistert),
ist im Auge zu behalten, den das feinere Gehör der
Alten durchgängig vermied oder durch Verschleifung tilgte.

Die gelegentliche Schwierigkeit dieser Aufgabe kann jedoch
nicht abhalten, so klassische künstlerische Gebilde, wie sie
in den antiken Metren vorliegen, der Dichtung zu bewahren. [58]
Alle Kläffereien „nationaler“ Verswächter von der Zeit an,
da Klopstock durch sein hexametrisches Gedicht die Eintönigkeit
des alexandrinischen Stelzenschritts zu unterbrechen wagte,
vermögen auch nicht von dieser Aufgabe abzuschrecken. Jene
Metren bewähren ihre alte Anziehungskraft immer wieder.
Sie haben überdies das Gute, auch der rhythmischen Verskunst
stets gegenwärtig zu halten, daß sie eine Kunst und
keine mechanische Silbenbrauerei vorstelle, in der jeder Sud
durch die nationale Versgewerbefreiheit gerechtfertigt werde.

Unsere gegenwärtigen rhythmischen Schemen sind nicht
bloß wie in den älteren Perioden der Dichtung unbewußt nach
dem klassischen Muster gemodelt, sondern sie sind theoretisch und
praktisch in einer mehrhundertjährigen Uebungszeit durch die
Schule der antiken Metrik gegangen. Man bedient sich also
herkömmlich in der neuhochdeutschen Verskunst der antiken
metrischen Terminologie, obschon man weiß, daß sie nur auf
ihr Schema, nicht aber streng auf ihr inneres Prinzip anzuwenden
ist. Für die Schemen selbst ist dieser Unterschied
ganz ohne Belang. Denn sie stellen zunächst Taktarten und
Taktreihen nach einem regelmäßigen Wechsel von schweren
und leichten Silben dar, gleichviel ob dieselben als lange
und kurze oder als betonte und unbetonte gegen einander
abgewogen werden.

§ 45. Der Takt.

Der Takt legt sich von Natur in zwei Hauptarten auseinander,
den gleichartigen und den ungleichartigen, je nachdem
die Taktglieder in gradem oder in ungradem Verhältnis zu
einander stehen. Also gleiche Taktarten:

[59]
[figure]

usw. je nach dem Zeitmaß.


Ungleiche Taktarten:

[figure]


usw. je nach dem Zeitmaß.


Gleiche Taktreihen:

[figure]

Ungleiche Taktreihen:

[figure]

Der Rhythmus von 2 oder 3, Doppelschlag oder Dreischlag
bleibt vermöge seiner grundlegenden Einfachheit in weitaus
den meisten Fällen ausschließlich das konstitutive Element
des Takts. Jhre Kombination zum Fünf- und Siebenschlag
wird immer den Charakter des Besonderen, außergewöhnlich
Bewegten an sich tragen.

§ 46. Synkopierung.

Versetzung des schweren Taktgliedes auf den schlechten
Taktteil (Synkope) erscheint als Störung des Taktes:

[60]
[figure]

Sie kann ihrer Natur nach nur vorübergehend sein. Setzt
sie sich fest, so wird sehr bald das schwere Taktglied seine
Rechte auf die Beherrschung des Taktes an erster Stelle geltend
machen. Das leichtere Taktglied, das sich den Vortritt im
Takte alsdann nur noch anmaßt, wird aus ihm herausgedrängt,
in den sogenannten Auftakt verwiesen werden. Aus der
synkopischen Reihe


[figure]


u. s. f.
wird sehr bald


[figure]

werden. Aus


[figure]

wird

[figure]

Während nun in der reinen Musik Synkope und Auftakt
keinen Anspruch auf prinzipielle Bedeutung erheben, sind
sie in der Verskunst von grundlegender Bedeutung für ihre
Handhabung und ihre vornehmsten Typen. Die Verwendung
der Synkope bedeutet für den Dichter in seinem Verse mehr,
als für den Tonkünstler in seinem melodischen Satze. Für
diesen ist sie nur schöner Wechsel, für den Dichter in erster
Linie eine Hilfe zur Unterbringung der metrisch oder rhythmisch [61]
selbständigen Wortfügungen in die Taktreihe. Ganz
besonders der deutsche Dichter bedarf ihrer. Bei der Natur
seiner Sprache, deren Wortfügungen starrer als die der klassischen
Sprachen (zumal der griechischen) ihren Lautbestand,
auf das hartnäckigste aber grade ihren Tonfall gegenüber allen
Anfällen des Verses wahren, würde es ihm anders oft kaum
möglich sein, größere Vorwürfe charakteristisch im Verse zum
Ausdruck zu bringen. Schon vor Einführung des gleichmäßigen
Ausbaus der Verstakte durch die antike Metrik finden wir
daher die versetzte Betonung mit Bewußtsein im deutschen
Verse angewandt, später freilich (bei den Meistersingern) zu
ratloser Mißbetonung verkehrt.

Um den regelmäßigen Gang der Taktreihe dabei so wenig
als möglich zu stören, ist es ein alter Kunstgriff, solche nötig
werdenden Synkopierungen nach Möglichkeit an den Anfang
des Verses zu verlegen, wie so oft bei Schiller:


[figure]

Hier wirkt die Pause in der Mitte (vor und) ähnlich synkopisch,
um eine leichte Silbe aus dem guten Takte zu rücken. Jedoch
auch am Schluß stellen sie sich ein, wie beides in dem Verse:


[figure]
§ 47. Auftakt.

Der Auftakt muß darum im Verse von einschneidenderer
Wirkung sein, als in der Tonreihe, weil die Taktkette
im Verse enger und gleichförmiger aneinanderschließt, als bei [62]
der melodischen Ausgestaltung in der musikalischen Periode.
Der Auftakt erscheint hier als sich fortpflanzendes Glied der
Kette, während er in der Musik gleichsam nur den Atem
vorausnimmt. Er begründet auf diese Weise in der strengen
Metrik gesonderte Versgeschlechter sowohl im geraden als im
ungeraden Takt. Dem daktylischen (d. i. dreigliedrigen,
von δάκτυλος, Finger) Geschlecht


[figure]

tritt das anapästische (eigentlich Widerschlag, ἀναπαίω)
gegenüber, durch einsilbigen Auftakt (Anakrusis) eingeführt,
was sehr lebhaft für die Beziehung zur synkopischen Reihe
spricht:


[figure]

Dem trochäischen (d. i. laufenden, schnellen von τροχός,
τρέχω) Geschlecht


[figure]

entspricht auf der andern Seite das jambische (wohl gleichfalls
von der raschen Bewegung des Verses, vergl. Christ
a. a. O. p. 317 ἰάπτειν senden [von Geschossen], erst danach
ἰαμβίζειν; mythologische Erklärung: Jambe, Persönlichkeit
des eleusinischen Demeterkults).


[figure]
§ 48. Regelmäßigkeit des Verses.

Die Regelmäßigkeit der streng gegensätzlichen Verstypen
bezeichnet am kenntlichsten die Einwirkung der antiken Metrik [63]
auf die deutsche. Denn der alte Starkton= (Hebungsvers)
kannte sie nicht, so sehr er schließlich naturgemäß auf sie hinstrebte
(Konrad von Würzburg). Er konnte den (ein= oder
mehrsilbigen) Auftakt setzen und beliebig weglassen (in der
Liederdichtung nur an die regelmäßige Wiederkehr im Ton
gebunden), desgleichen, wie wir schon wissen, den Schwachton
(die Senkung). Jm Schwachton (bei der Senkung) aber hielt
er prinzipiell an der Einsilbigkeit fest, so sehr er dabei auf
Apokope und Verschleifung angewiesen ist und so offen mancher
Dichter (Ulrich von Lichtenstein) den Ansatz zum daktylischen
Rhythmus macht. Man denke nur an Walthers bekanntes
Tanzlied


únder der línden

an der heide.

Es hat nicht geringe Mühe gekostet, den deutschen Vers
auf die höhere Stufe zu heben. Es bedurfte des ganzen Gewichts
der Schulautorität, wie nur das 17. Jahrhundert sie
aufzuwenden hatte, um dem regulären Opitzischen Verse den
Sieg über den alten freien Hebungsvers zu sichern. Als
„Knittelvers“ wirkte er gleichsam unter der Decke fort, stets
bereit, in entgegenkommenden Jndividualitäten (Wieland, Heine)
wieder ganz unverhüllt an die Oberfläche zu kommen. Und
das trifft zunächst nur den regelmäßigen trochäischen und jambischen
Gang der Verse! Welche Mühe das daktylische und
anapästische Maß hatte und noch hat, nicht etwa durchzudringen,
nein, sich überhaupt noch zu halten, dafür liefern die Belege
die erregten Daktylendebatten selbst bei den entschiedenen
Freunden der Opitz'schen Verskunst im 17. Jh. und die nicht
minder lebhafte, immer wieder (bei Klopstocks Messias, der
Homerübersetzung durch Stolberg und Voß) erneute Diskussion
über den Hexameter im 18ten. Unsre Zeit möchte ja auch [64]
metrisch am liebsten wieder ganz in die Urwälder zurück. Doch
ist der wirkliche tiefere Anteil an der Dichtung in ihr so gering,
daß die antimetrischen Tendenzen erst gar nicht weiter in
Betracht kommen.

Die Entscheidung der alten metrischen Streitigkeiten wird
nach dem bloßen Ueberblick über die Sachlage, wie wir ihn
objektiv zu geben versuchten, dem Denkenden leicht fallen. Für
einen „reinen urteutschen“ Vers sich zu begeistern, bloß weil
er des gesetzmäßigen Baus, zu dem die Verskunst aufstrebt,
entbehrt: das heißt, mit der graziösen Ungebundenheit zugleich
die plumpe Ungeschicklichkeit theoretisch sanktionieren. Die
strengen metrischen Typen bloß deshalb verbannen, weil sie
bereits in vordeutscher Zeit zur Entfaltung gelangt sind,
heißt der Verskunst den Reichtum und die Vielseitigkeit ihrer
Wirkungen verkümmern. Denn in jenen metrischen Typen
haben sich eben entgegengesetzte Grundstimmungen des Gemüts
auseinandergelegt, soweit sie in reiner Bewegung zum Ausdruck
gelangen können: Energie des Vorwärtsstrebens oder
Nachdruck des Beharrens je nach Graden und Schattierungen.
So grenzt sich der lebendige Jambenschritt von selbst ab gegen
die schwere Gehaltenheit der Trochaeen, der feierliche Schwung
des daktylischen Hexameters spricht für sich selbst, wie der ungestüme
Anprall chorischer Anapäste. Man soll daher in der
Vermischung dieser metrischen Gegensätze innerhalb des Verses
nie so weit gehen, daß sie in ihrer Grundbedeutung schließlich
vollständig aus der Verskunst verschwinden. Heinrich Heines
Anmut in der Verswillkür darf nicht darüber hinwegtäuschen,
daß unter unseren Verhältnissen sein freier (nicht
immer gleichmäßiger) Hebungsvers den Schritt zur Reimprosa
macht:

[65]
Du schö́nes Físchermä́dchen,

Tréibe den Káhn ans Lánd:

Kómm zu mír und sétze dich níeder (4 Hebungen)

Wir kósen Hánd in Hánd.

Jch stánd in dúnklen Trä́umen

Und stárrte ihr Bíldnis án,

Und das gelíebte Ántlítz

Héimlich zu lében begánn.

Wir sind ohnedies schon in unserer Versgestaltung arm
zu nennen gegenüber der Fülle und Gediegenheit, mit der
die Griechen alle Möglichkeiten taktischer Combination in
metrischer Zusammenstellung erschöpft haben. Während wir
uns auf die angeführten allereinfachsten Takte als Grundlage
des Verses (Versfüße) beschränken, hatten die Alten in
der feinen Unterschiedenheit ihrer Silbenwerthe die Handhabe
zur Darstellung zusammengesetzter Taktarten, von denen
sie mit sicherem Urtheil nur die metrisch eindringlichen,
charakteristischen herausgriffen. Nur die alten haben daher
die Metrik wirklich ausbauen können, und nur die antike
Metrik, im Zusammenhang behandelt, kann so die richtige
Vorstellung metrischer Systematik geben. Soweit also in der
deutschen Dichtung in Nachahmung klassischer Muster complicirtere
Metren verwendet werden, wird zu ihrem bloßen Verständnis,
geschweige denn zu ihrer Beherrschung, speziellere
Kenntnis der antiken Metrik vorauszusetzen sein. Wir beschränken
uns hier auf das durch die Versübung der letzten
Jahrhunderte allgemein Angenommene und Verbreitete.

[66]
Kapitel 2. Uebersicht der typischen Verse.

§ 49. Jnnerer Bau des Verses.

Vers nennen wir eine in sich abgeschlossene wiederkehrende
(vergl. oben versus!) metrische (rhythmische) Taktreihe. Jhre
Takteinheiten charakterisirt die Metrik als Füße (Schritte).
Als ästhetisches Grundgesetz für die Versgestaltung gilt für
alle Versgeschlechter, daß die einzelnen Wörter nicht regelmäßig
mit den Versfüßen zusammenfallen, sondern nach Möglichkeit
über sie hinausgreifen, sie durchbrechen.

Also jambisch nicht:


Wohlán | frischáuf | gewágt

sondern:


Wir wól | len's freú | dig wág | en

Wir haben hier nun wieder einen fühlbaren Ausdruck der oben
im Eingange der Metrik erörterten idealen Zusammengehörigkeit
von kunstmäßiger Wortfügung und Wortsinn. Die Sinnglieder,
die Wörter, sollen nicht aus den Versgliedern gleichsam
herausfallen, sondern sich in sie verschlingen, in sie
förmlich verkettet sein. Und wie mit dem engsten Sinnglied,
dem Worte, steht es auch mit den weiteren, Satzteil und Satz.
Der mit ihnen verbundene Ruhepunkt soll lieber innerhalb
der Glieder des Verses einschneiden (Caesur), als durch
den Zusammenfall mit ihnen den Vers auseinanderreißen
(Diärese). Also:


Hinaús | in eú | re Schát | ten, ‖ ré | ge Wíp | fel ‖ Caesur.

Doch sind gerade in der hier mit angeführten Versart die
Caesuren oft diäretisch:

[67]
Der Mór | gen kám; ‖ es scheúch ‖ ten seí | ne Trít | te

Ja, die Verse selbst untereinander soll so der einheitliche
Sinn über den metrischen Versschluß hinaus verknüpfen
(Enjambement
).


Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte

Den leisen Schlaf, ...

Doch nicht so, daß der Sinn in unablässiger Unruhe ohne
Unterlaß über den Versschluß hinweghastet, sondern den ihm
hierin gebotenen natürlichen Ruhepunkt auch immer wieder benutzt.
Dies war die Weise der Alten. Verbot des Enjambement
gemeinsam mit klaffender Versdiärese kennzeichnet
den herrschenden Vers des französischen Classizismus, den
Alexandriner (siehe denselben S. 69). Uebermaß der Enjambements
findet sich zwischen den durch Caesuren des Ausrufs,
der Ellipse, der Frage ganz im Sinne aufgegangenen Versen
des Lessingschen Nathan.

Als katalektisch unterscheidet die antike Metrik solche
Verse deren letzter Fuß unvollständig bleibt, von den vollständig
ausklingenden (akatalektischen) und den um eine Silbe
überzähligen (hyperkatalektischen):


Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo

(vierfüßiger Trochäus, akatalektisch),


Rückwärts, rückwärts, stolzer Cid

(Desgl. katalektisch),


Der Morgen kam, es scheuchten seine Schritte

(fünffüßiger Jambus, hyperkalektisch).

§ 50. Jambische Verse.

Jambische Verstypen: Ordnen wir sie nach der
Anzahl der Versfüße, so stößt uns zunächst der jambische [68]
katalektische Viertakter, als ein früher, namentlich im Anfang
des vorigen Jahrhunderts in Deutschland grassirender Vers
auf. Es ist der Anakreontische Vers der auf ihn eingeschworenen
zahllosen platonischen Verehrer des alten wein=
und liebefrohen griechischen Sängers. Nach Kästners Parodie:


Gedankenleere Prosa

Jn ungereimten Zeilen

Jn Dreiquerfingerzeilen

Von Mädchen und von Weine

Von Weine und von Mädchen ...

Der vollständige jambische Viertakter erinnert uns an jenen
Achtsilbenvers, der vor Opitz Auftreten Jahrhunderte
lang der anerkannte Normalvers der deutschen Dichtung war,
der herabgekommene, oft jämmerlich mißbetonte einförmige
Erbe des alten wechselreichen, epischen Verses mit vier Hebungen*).
Es ist der Vers des Seb. Brandt, Hans Sachs,
Fischart**), der volkstümliche Vers der deutschen Reformation,
später verächtlich Pritschmeistervers genannt. Der fünffüßige
Jambus
ist der bekannte Jdealvers des deutschen
Dramas. Als solchen haben ihn die englischen Dramatiker des
16. Jh. eingeführt (blancvers d. i. ungereimter Vers), und durch
Shakespeare kam er in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
schließlich auch auf die dem Verse überhaupt wenig entgegenkommende,
deutsche Bühne. Jn der Lyrik hat diese zwischen
Knappheit und Ueberweite gerade die rechte Mitte haltende
Form der Verszeile nach romanischem Muster schon mit und
vor Opitz festen Fuß gefaßt (vers communs gemeine Verse). [69]
Der fünffüßige Jambus mit vollständigem oder hyperkatalektischem
Abschluß ist der gewöhnliche Vers berühmter Strophenformen,
des Sonetts, der Terzine, der Stanze. Jnnerhalb
der letzteren ward er auch epischer Vers in Dantes Terzinen
und den Stanzen des italienischen cinquecento (Ariost,
Tasso), vom Reime wieder emanzipiert bei Milton. Der Vers
bedarf noch keines entschiedenen Einschnitts, um ihn übersichtlich
zu machen. Doch stellen sich Caesuren gern im zweiten
oder dritten Fuße ein:


Heraús | in Éu | re Schát | ten, ‖ ré | ge Wíp | fel

Ein hó | her Wíl | le, ‖ dém | ich mích | ergé | be

Der sechsfüßige Jambus war der Dialogvers der antiken
Tragödie. Als solcher heißt er auch Senar oder, da
erst zwei jambische Füße (Dipodie) ein kennbares jambisches
Metrum ausmachten, auch Trimeter. Er unterscheidet sich
kennbar von dem bereits berührten, ihm äußerlich gleichenden
französischen Alexandriner, daß er jener Diärese am
Schluße des dritten Versfußes, die der Alexandriner zur
Regel erhob, grundsätzlich ausweicht.


Trimeter:

Js mé | ne tráu | te Schwés | ter, ‖ viél | gelíeb | tes Háupt,


Alexandriner:

Js mé | ne teú | res Haúpt ‖ als nä́ch | ste mír | verwándt

Man fühlt, wie der Vers dadurch auseinanderklafft und jenen
wohlweise nüchternen Parallelklang erhält, der ihn den Spitzfindigkeiten
und Witzspielen der französischen Poesie empfahl,
beim höheren Aufschwung aber notwendig den Eindruck des
auf Stelzen Geschraubten hervorrufen muß. Dieser Eindruck
wurde noch verstärkt durch die unausweichliche Zusammenkoppelung [70]
der Verse zu aufeinderfolgenden Reimpaaren. Dadurch,
daß er die ununterbrochene Folge der Alexandriner und
die stete parige Reimung mied, suchte in neuerer Zeit
Freiligrath dem arg in Mißkredit geratenen früheren
Herrscherverse wieder aufzuhelfen.


Spring an mein Wüstenroß aus Alexandria! ..

Das ist der Renner nicht, den Boileau gezäumt

Und mit Franzosenwitz geschulet!*)

Die hier von Freiligrath beliebte poetische Etymologie
des Alexandriners ist insofern auch wissenschaftlich nicht ganz
abzuweisen, als gerade in der Zeit seines Aufkommens (13. Jh.)
arabischer Einfluß wohl in Betracht zu ziehen ist, der damals
der europäischen Ausdrucksweise eine Menge von Wörtern
lieh (gerade solche an der Anfangssilbe al kenntliche, sonst
mannigfach entstellte). Ein altfranzösisches Gedicht über Alexander
den Großen oder dessen Verfasser werden sonst als
Taufpathen des berühmten und berüchtigten Verses genannt.

Gänzlich unstatthaft wird gewöhnlich auch die altdeutsche
epische Langzeile, mit ihrem neueren Vertreter allgemein als
Nibelungenvers bezeichnet, einfach als „sechsfüßiger Jambus“
aufgeführt Das giebt ein falsches Bild von der Entstehung
und dem Charakter dieses Doppelverses. Denn er
ist aus der rein äußerlichen Combination zweier metrisch selbstständiger,
nur durch den Stabreim in den zwei oder drei entschiedensten
Hebungen zusammengehaltener Verse entstanden.
So im alten Hildebrandsliede:


w̄élaga nu w̄áltant got w̄êwurt skihit

ih wallôta s̄úmaro enti wintro s̄éhstic ur lante

[71]

W̄ohlan denn, w̄altender GottW̄ehsal geschieht

Jch wanderte S̄ommer und Winters̄echzig außer Lande

Daraus nun wurde nach dem oben erörterten taktischen
Ausbau ein Doppelvers von je drei Hebungen, der aber dadurch,
daß der erste Teil hyperkatalektisch ist (später auch durch
besonderen Reim) gegen die Zusammenziehung in einen Vers
von sechs Hebungen gesichert blieb. So tritt er uns in der
Strophe der alten Volksepen Nibelungen und Kudrun*) entgegen,
in welcher noch dazu der jemalige Schlußvers der
Strophen mit vier bezw. in der Kudrun fünf Hebungen die
alte Hebungsfreiheit im Gedächtnis halten zu wollen scheint.
Also die bekannte, schon mit Binnenreim ausgestattete Eingangsstrophe
des Nibelungenliedes:


Uns íst in álten mǽrenwúnders víl geséit

von hélden lóbebǽrenvon grốʒer árbéit

von fröúden, hốchgezî́tenvon weínen únd von klágen

von küéner récken strî́ten muget ír nu wúnder hœ́ren ságen.

Die Erneuerer der alten Heldenstrophe in unserem Jahrhundert
(Uhland) hielten sich bis auf den letzten Vers, dessen
eigenwillige Hebungsüberzahl sie modernem Uniformbedürfnis
opferten, genau an dies Muster. Es erscheint jetzt im regulären
rhythmischen Gewande als Folge zweier jambischer Dreitakter:


Es stand vor alten Zeiten ein Schloß so hoch und hehr

von denen jedoch der erste durch seine überzählige Silbe dafür
sorgt, daß er niemals mit dem folgenden zu einem Sechstakter
mit Diärese in der Mitte (Alexandriner) verschmelzen kann.

[72]
§ 51. Trochäische Verse.

Trochäische Verse. Die weitaus bemerkenswertesten
unter ihnen sind die von ihrer Herrschaft in der spanischen
Litteratur so genannten spanischen vierfüßigen Trochäen.
Durch Herders Nachdichtung der Cidromanzen*) und die lebendigen
Einwirkungen des großen spanischen Theaters im Zeitalter
der Romantik hat der früher wenig gepflegte Vers auch
in Deutschland die ihm gebührende vornehme Stellung errungen.
Kürzer als der fünffüßige Jambus und daher heilsam
zum Lakonismus anregend, von Natur streng und schwer
gegenüber dem leicht allzu glatt fließenden jambischen Viertakter
(Achtsilbenvers) bietet er gerade der deutschen Wortmacherei
im Verse ein vortreffliches Gegengewicht. Freilich
verfällt er auch gerade im Deutschen wiederum am leichtesten
der ihm anhaftenden Gefahr der Monotonie, da die deutschen
zweisilbigen Wörter alle von Haus aus Trochäen sind und der
Vers daher leicht in lauter Diäresen auseinanderfällt:


Rǘckwärts | Rǘckwärts | stólzer | Cíd.

Die Dichter, die ihn im Epos verwendeten, haben daher
zugleich mit Nutzen von dem Vorbild der spanischen epischen
Romanzen Gebrauch gemacht und epische Gedichte in spanischen
Trochäen in kürzeren liedmäßigen Abschnitten angelegt. Auf
der Bühne kann man ihn trefflich unterscheidend beleben, indem
man ihn im gewöhnlichen Dialog ungereimt, bei lyrischem
und phantastischem Aufschwung aber gereimt verwendet. So
meisterhaft Grillparzer in dem tiefsinnigen Phantasiespiel „Der
Traum ein Leben“. Ueberhaupt kann man bemerken, daß
neben dem mehr rationalen Charakter des fünffüßigen Jambus
sich der spanische Trochäus auf der Bühne als vorteilhafte [73]
Ergänzung nach der Seite der Phantasie, des Visionären,
Zauberischen, Märchenhaften darbietet (so in Ferd. Raimunds
Märchendramen). Das liegt vielleicht an den oben berührten
Eigenschaften seiner Kürze bei der Gehaltenheit seines Rhythmus,
die den Ausdruck des Andeutenden, Ahnungsreichen begünstigen.


Jm Gegensatz dazu bringt die Combination trochäischer
Viertakter zu einer trochäischen Langzeile von acht Füßen
(trochäischer Oktonar) durch den überweiten Rahmen
für die gewichtigen Rhythmen leicht den Eindruck der Geschwätzigkeit
hervor. Die Alten verwendeten sie daher nur in kurzer
Folge zu einer chorischen Zugabe, wie etwa Sophokles am
Schlusse des „König Oedipus“. Während Opitz im 17. Jh.
mit der Einführung dieses damals nach ihm benannten versus
Opitianus bei tragischen Vorwürfen (in seiner „Judith“) keinen
guten Griff machte, hat in unserem Jahrhundert Platen
ihn sehr glücklich zu den komischen Apostrophen seiner Aristophanischen
Lustspiele benutzt, für die ihm die chorische Parabase
des antiken Dramas das Muster bot:

„Scheint sie auch geschwätzig, laßt sie; denn es ist ein alter Brauch,
Gerne plaudern ja die Basen und die Parabasen auch.“

Fünffüßige Trochäen, bei denen eine Diärese nach
dem zweiten Fuße, eine Caesur im dritten Fuße sich gleich
bemerkbar macht, sind der Vers der schönen serbischen
Volkslieder,
die Goethes ganz besonderen Beifall fanden.
(Vgl. seine frühe Uebersetzung des Klaggesang von der
edlen Frauen des Asan Aga
aus dem Morlakischen.)

§. 52. Daktylische Verse.

Daktylische Verse: Jhre oben berührte heftige Bestreitung
von Seiten der nationalen Metriker findet ihren [74]
hauptsächlichen Zielpunkt in dem vornehmsten aller antiken
metrischen Schemata, dem Verse Homers, dem Hexameter.
Dies wundervolle Maß, welches der Genius der Metrik selbst
eingegeben zu haben scheint, in möglichst reiner Gestalt auch
der modernen Dichtung zu gewinnen, ist seit dem Beginn
einer tieferen Beschäftigung mit den Alten das Ziel der Poesiefreunde
aller Länder gewesen. Nur die Deutschen haben es
erreicht, im Vorzug vor den Romanen, da ihre Sprache in
ihrer strengen Rhythmik wenigstens die für den Vers unerläßlichen
festen taktischen Stützpunkte bot. Vorher mußten
freilich auch hier die schon erörterten metrischen Jrrtümer in
Bezug auf die Silbenmessung überwunden werden.

Der Hexameter bedarf der festen Stützpunkte vor jedem
andern Versmaß wegen seiner wechselnden Bewegung bei
völliger Einheit seines Grundtaktes. Diese seine wesentliche
Schönheit würde eben bei jedem Verwischen seines Schemas
verloren gehen. Der Hexameter ist, wie schon sein Name
besagt, aus sechs und zwar daktylischen Metren zusammengesetzt.
Er stellt nach unseren obigen Ausführungen das
klassische Compromiß der einfachsten ungleichen Taktreihe (3×2)
in der gleichen Taktart dar. Einfach in der Mannigfaltigkeit, so
ruft er ähnliche Ordnungen der griechischen Archtitektur vor
die Anschauung. Die grade Taktart weist auf sein direktes Erblühen
aus ursprünglichster Rhythmik; die Freiheit, den Gleichtakt
ganz, als Spondeus (d. i. Weihe-Opfervers von σπονδή,
σπένδω),

[figure]

oder aufgelöst, als Daktylus

[figure]


zu gebrauchen, auf den schon erfolgten Durchbruch aus der
archaischen Gebundenheit strenger Urform zu blühendem Leben.
Das daktylische Maß, der Moment des Schwunges, soll nie
ganz im Verse zurücktreten. Daher bleibt ihm der vorletzte Takt, [75]
der fünfte Fuß, unter allen Umständen eingeräumt. Um die
Bewegung aber wiederum zusammenzuhalten, sie gleichsam nicht
über die Ufer treten zu lassen, ist der letzte Fuß als Daktylus
katalektisch, also ein Trochäus oder stellvertretender Spondeus.
Dies ergiebt den wohlbekannten hexametrischen Abschluß


[figure]

der dem Gehör sich so aufdrängt, daß man ihn in der ernsten
antiken Rede vermeiden mußte, etwa wie wir einen unfreiwilligen
Reim. Ueber unsere Befugnis, das antike Schema
des Daktylus und Spondeus nur rhythmisch, aber nicht metrisch
streng nachzubilden, haben wir schon bei Gelegenheit des
prosodischen Unterschiedes der Sprachen gehandelt. Jn Bezug
auf die besondere Aufgabe sei hier bemerkt, daß es immer
noch besser ist, die spondeische Senkung durch eine zu schwache
Silbe auszudrücken, also einen kenntlichen Trochäus für einen
Gleichtakt passieren zu lassen, als daktylische Senkungen allzustark
zu bepacken. Der Grund dafür ist, daß nach dem
oben auseinandergesetzten Prinzip der deutschen Verskunst die
rhythmisch unbetonte Silbe keine positive metrische Bedeutung
hat, ein wirklicher Spondeus in unserer Nachbildung
daher nur illusorisch erscheint. Wohl aber kann sie eine negative
Bedeutung durch ihre allzugroße Schwere erlangen, indem
sie dann, wie auseinandergesetzt, an der Stelle der Kürze dem
antiken Schema allzusehr widerspricht. Jn dem Hexameter


Únd es ságte daraúf der gúte Váter mit Náchdruck

ist z. B. der vierte Fuß gute der deutlichste Trochäus im
metrischen Sinne. Er vertritt aber ohne allzu großen Widersinn
in unserem rhythmischen Schema einen antiken Spondeus.
Dagegen gäben Daktylen wie folgende

[76]
Víel Volk mit Stréitaxt und Rǘstung führt múthvoll zum

Kámpfplatz Held Héktor

einen seltsamen Hexameter, obwohl er rhythmisch richtig gebildet
ist. Dazu kommt, daß nach Paul Heyse, der selbst in der
Ueberwindung hexametrischer Schwierigkeiten (in seinem Epos
„Thekla“) Hervorragendes geleistet hat, das viele daktylische
Gehüpfe dem Tone der deutschen Erzählung zuwider ist.*)
Geradezu widersprechend dem rhythmischen Prinzip, also in
unserem Sinne falsch erscheint aber umgekehrt die rhythmisch
unbedeutende Silbe im guten Taktteil an hervorragend betonter
Stelle. Was in dem oben angeführten Hexameter am leichten
Anfang des Verses hingeht, nämlich die Betonung des und
wird im nachstehenden zum Anstoß:


Léidend, getö́dtet únd verhérrlichet, wíeder erhö́ht hat.

Die einsilbigen Wörter bilden in dieser Hinsicht eine große
und schon früh erkannte Verlegenheit wie für die Versbildung
überhaupt, so zumal für den deutschen Hexameter.

Die Caesuren haben in diesem kunstvollen Versmaß
bei seiner ansehnlichen Länge eine besondere Wichtigkeit. Sie
fallen in die Mitte des Verses, nicht aber in die genaue
Mitte nach dem dritten Takt, um ihn wie den Alexandriner
platt in zwei genaue Hälften zu zerlegen, sondern um sie
herum, etwas vor die Mitte und etwas darüber hinaus. Als
Penthemimeres (griech. == fünfter Halbteil) in die Mitte
des dritten Fußes:


Wélcher so | weít ge | írrt, ‖ nach der | héiligen | Trója

Zer | stö́rung
[77]

als Hephthemimeres (siebenter Halbteil) in die Mitte des
vierten Fußes:


Vieler | Ménschen | Stä́dte ge | séhn, ‖ und | Sítte ge | lérnt | hat.

Noch näher an die genaue Mitte fällt eine Caesur, die dadurch,
daß sie im dritten daktylischen Fuße gleichsam einen Trochäus
abschneidet:


[figure]

von den Griechen die nach dem dritten Trochäus (τομὴ κατὰ
τρίτον τροχαῖον) genannt wurde:


Sínge den | Zórn, o | Gö́ttin, ‖ des Pelei | áden A | chílleus.

Man achte bei dieser Caesur aus schon erörterten Gründen
darauf, daß nicht im unmittelbar voraufgehenden Fuße sich
gleichfalls eine solche trochäische Teilung finde. Also nicht:
Príamos | Féste zu | tílgen und | wóhl nach | Háuse zu | kéhren
sondern:


Priamos | Stadt zu ver | tilgen &c.;

Ueberhaupt ist das Auseinanderfallen der daktylischen Versfüße
in lauter durch die Caesuren abgetrennte Trochäen zu
besorgen, wie Horaz einmal sicherlich mit Absicht solch einen
Hexameter durchweg so bildet:


dignum|ménte do|móque le|géntis ho|nésta Ne|rónis.

Geradezu vermieden wurde in der klassischen Verspraxis
die trochäische Caesur im vierten Fuße (post quartum trochaeum),
wohl wegen des dem griechischen Ohre monoton
erscheinenden Gleichklangs (homophon mit dem nicht mehr
entfernten Abschluß des Verses). Schiller hat auf die Ausstellung [78]
W.'s von Humboldt*) seine Hexameter durchweg daraufhin
geändert. Also in der Elegie (Spaziergang) V. 116


SiNote: 1ehe da | wiNote: 2mmeln die | MäNote: 3rkte, ‖ der | Krahn von | fröhlichem

| Leben

statt der ersten Form:


SiNote: 1ehe da | wiNote: 2mmeln von | fröhlNote: 3ichem | LebNote: 4en ‖ die | Krahne

die | Märkte.

Eine typische Diärese pflegt sich nur dort einzustellen,
wo ein Auseinanderfallen des Verses nicht mehr zu befürchten
ist, nämlich nach dem vierten Fuße:


Sage hier | von auch | uns ein | weniges, ‖ Tochter Kro | nions.

Wegen seines häufigen Vorkommens in der idyllischen (bukolischen)
Hirtendichtung wird dieser Abschnitt auch allgemein
bukolische Caesur genannt.

Dem Hexameter eine Anakrusis vorsetzen, wie dies Ewald
von Kleist in seinem Frühlingsidyll versuchte, heißt keine bloße
Spielart des Verses schaffen, sondern ihn radikal aus einem
daktylischen in einen anapästischen verwandeln, wenngleich
dadurch, daß man den ersten Fuß nicht daktylisch gestaltet, der
anapästische Einsatz etwas bemäntelt werden kann:


O | dreimal | seliges Volk das keine Sorgen beschweret,

Kein | Neid ver | suchet, kein Stolz! Dein Leben fließet verborgen.

Man hat aber dann durch ein Opfer an Bewegungsfreiheit
immer noch keine Hexameter erzielt. Denn der Charakter
des Hexameters ist in der Mannigfaltigkeit seiner Bewegung
ein streng geschlossener. Er trägt alle Variationen in sich,
und bei jeder, die über sein Schema hinausgeht, muß man
sich darüber klar sein, daß man auch seinen Charakter aufgiebt.

[79]
§ 53. Anapästische Verse.

Anapästische Verse sind charakteristisch für die chorischen
Abschlüsse im antiken Drama. Daß die Alten gerade bei
diesem Anlaß zum anapästischen Verse griffen, läßt namentlich
am Schlusse der Dramen (so aller erhaltenen Sophokleischen
außer, wie schon oben berührt, im König Oedipus) ihre
hohe Kunstweisheit wieder recht hervorleuchten. Denn der
Tonfall der Anapäste, der ja zu den Taktschlüssen hineilt,
hat recht etwas zum Abschluß hindrängendes; auch dann, wenn,
wie im daktylischen Takt die beiden kurzen (leichten) Silben
zu einer langen zusammengezogen sind, oder rhythmisch gegesprochen
jambischer Takt stellvertretend eintritt. Dieser Eindruck
wird noch verstärkt, wenn, wie in den angeführten Mustern,
mehrere vollständige anapästische Reihen schließlich auf eine
unvollständige (katalektische) hinausgeführt und so gleichsam
zum Stocken gebracht werden. Der Typus für diese Anapästen
ist der Viertakter:


Wohl víel | mag scháun | und im Scháu | en der Mensch |

Ausspä́hn |; doch éh | er gescháut | weisságt |

Kein Ménsch | die Geschíck | e der Zú | kunft.

Platens komische Nachahmung in den bereits angeführten
Aristophanischen Lustspielen zieht im Dialog je einen
akatalektischen und katalektischen anapästischen Viertakter zu
einer Langzeile zusammen, um mit den trochäischen Oktonaren
der Parabase abzuwechseln. Der energischere, klassisch geweihte
Rhythmus erlaubt ihm dann, aus der komischen Atemlosigkeit
heraus gelegentlich ernstere Töne anzuschlagen:


Wenn streng der Poet voll feurigen Spotts | der empor sich

schraubenden Ohnmacht
[80]
Schwerfälligen Wahn, der platt wie er ist | den begeisterten

Schwärmer sogar noch

Will spielen, wie einst in die Saiten Apolls | des Silens Maulesel

hineingriff:

Wenn streng der Poet ihn strafte, verdient | er den Dank und

die Liebe der Mitwelt.

Doch wird niemand diese ungeschlachte Verszusammenfügung
im Ernst für ein metrisches Muster nehmen.

§ 54. Freie Versformen.

Wir haben nur historisch bekannte und auffallende Verstypen
geben wollen. Dem Formensinn ist für das Schwingungsmoment,
das er jeweilig in der Versreihe verkörpern will,
nichts verboten und alles erlaubt. Er kann vom Eintakter,
ja von bloßen Taktfragmenten in der Reihe bis zu der größten
Ausdehnung gehen, welche die Versreihe in Hinsicht auf Atem
und Uebersicht verträgt. Meistersingerische Aufzählung solcher
„Töne“ steht der Poetik übel, wie den Dichtern ihre gezierte
und gesuchte Anwendung. Muster reichen und dabei stets
treffenden, ungesuchten Formenspiels ist selbst in der Zeit des
damit bloß prunkenden Minnesangs Walther von der
Vogelweide
*), unter den äußerlichen Versvirtuosen des
17. Jahrhunderts Paul Fleming**), in unserer Zeit,
nachdem die Romantik das romanische Versklangspiel wieder
angeregt hat, besser, als der oft überkünstliche Formschwelger
Rückert, Eduard Mörike mit seiner Kunst, die freie
Gleichform des Volkslieds gleichsam in rhythmischen Momentbildern
auseinanderzulegen. So in dem bekannten Liede des [81]
verlassenen Mägdleins (im Maler Nolten) besonders die
in ihrer Sinngemäßheit metrisch unausschöpflichen Verse der
dritten Strophe:


Plötzlich da kommt es mir,

Treuloser Knabe,

Daß ich die Nacht von dir

und nun mit plötzlichem Wechsel des Rhythmus:


Geträumet habe.

So auch der rhythmische Wechselruf der von Rob. Schumann
chorisch komponierten Ballade „Schön Rohtraut“.*)
Auf die rhythmische Bedeutung der Kehrverse, der sogenannten
Refrains, ist hier besonders zu achten. Doch werden
diese erst in der Lehre von den Strophen verständlich.

Freiheit im Wechsel des Verstakts ist zwischen den ähnlichen
Taktgeschlechtern Daktylus und Trochäus, Anapäst und
Jambus natürlich, wie schon aus der Behandlung des daktylischen
Hexameters und der Anapäste erhellt haben wird. Man
kann leicht bei stärkerer Erregung aus dem jambischen Versgang
in anapästischen, aus trochäischen in daktylischen übergehen.
Die Bewegung erscheint dann nur beschleunigt, nicht
radikal verändert:


Der Ménsch ist fréi gescháffen, ist fréi ─

Únd vereínen, was éwig sich fliéht.
§ 55. Regelmäßige Versgestaltungen im Taktwechsel.

Unsere rhythmische Verskunst scheint auf diese leichteste
Art des Taktwechsels beschränkt, während die antike metrische
ein Reihe gangbarer Verstypen auf reicheren Formen gegen= [82]
sätzlichen Taktwechsels begründen konnte. Den Grund dafür
muß man wohl in der Ausschließlichkeit suchen, mit der
das unbedingte rhythmische Taktieren den einmal eingeschagenen
Gang aufrecht erhält, während der durch das Metrum bedingte
Takt (das Skandieren) weit geschmeidiger sich jeder
Laune des rhythmischen Wechsels anschmiegt. Es charakterisiert
das Verhältnis, daß von der reichen Zahl typischer Gestaltungen,
welche die griechische Metrenphantasie aus der unerschöpflichen
Menge möglicher Kombinationen herausgehoben
hat, grade diejenigen sich unter uns lebendig erhalten, welche
sich rhythmisch durch Wechsel im analogen Takt ─ jambischanapästisch,
trochäisch=daktylisch ─ ausdrücken lassen. So
ward der antike alcäische Hendekasyllabus (Elfsilbenvers)
für uns ein fünffüßiger Jambus mit Anapäst im vierten
Fuße und Caesur im dritten Fuße:


Jch sáh | o ságt | mir, ‖ sáh | ich was jétzt | geschíeht*)

Desgleichen bedeutet der sapphische Hendekasyllabus
(Sapphicus minor) für uns einen fünffüßigen Trochäus mit
Daktylus und Caesur im dritten Fuße:


Áuch wenn | stílle | Nácht ‖ mich um | scháttend | décket

Doch hat Klopstock gerade in der Ode, welcher dies Beispiel
entnommen ist**) (Furcht der Geliebten 1753), den
Daktylus nach der Folge der Verse je im ersten, zweiten
oder dritten Fuße angewandt, jene Caesur aber nicht beachtet,
ebensowenig wie Platen in seiner sapphischen Ode die
Pyramide des Cestius.
***) Einen vierfüßigen katalektischen
Trochäus, der seinen daktylischen Wechseltakt im zweiten Fuße [83]
eintreten läßt, besitzen wir im Glyconeus, einem gleichfalls
aus diesem Grunde noch häufigen Verse:


Fábel | háfte Ge | spíelin | nen*)

Von den sogenannten logaödischen Versen, die aus
daktylischem in trochäischen Gang übergehen, sind für uns
als Ergänzungen der oben genannten zu berühmten Strophenformen
(der alcäischen und sapphischen) wichtig: Der doppelt
daktylisch trochäische Logaödenvers:


Heiß zu den | krönenden | Zielen | fliegen**)

Der sogenannte Adonius (d. i. Vers des Adoniskults,
vgl. oben als hexametrischer Abschluß) aus Daktylus und
Trochäus bestehend:


Dǘrre be | blǘtet***)

Diejenigen Metra der Griechen, die sich für uns nicht
durch rhythmischen Wechsel im analogen Takt ausdrücken lassen,
sind nur aus diesem Grunde in der poetischen Praxis auffallend
in den Hintergrund getreten. Man hat zwar mit den
Cretici (Amphibrachys

[figure]

[figure]

[figure]

und Amphimacer

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[figure]

[figure]

)
und dem Choriambus (Chorius d. i. Trochaeus und Jambus)

[figure]

[figure]

[figure]

[figure]

Verse zu komponieren versucht. Allein diese Versfüße
emanzipieren sich in unserer Rhythmik zu selbständigen
Versen. Jm Amphibrachys gestellte kretische Versfüße verfließen
gegenüber unserem herrschsüchtigen Starktone zu daktylischen
bezw. anapästischen Reihen:


Es wár mal | ein Káiser | der Káiser | war kúrrig

wird leicht zu

[84]
Es wár | mal ein Káis | er der Káis | er war kúr | rig

Der Creticus (Amphimacer) Wínterzeít stellt für uns
einen unvollständigen (katalektischen) Doppeltrochäus dar; der
Choriambus, eine Vereinigung von Trochäus und Jambus,
z. B. Frǘhlingsgesáng bedeutet einen unvollständigen
Doppeldaktylus. Cretici, in einer Zeile fortgeschrieben, wie
dies Rückert versucht, aber auch nicht durchgeführt hat:


Wéil im Féld | Frǘhlingstháu | pérlt am júngen Gráse

Sóll ich nícht | Fréudenquéll | lássen taún vom Gláse?

werden Auge und Ohr stetig stutzen lassen, zumal das Ganze
deutscher Eurhythmie zuliebe doch am Schlusse auf Trochäen
hinausläuft. Angemessener verfuhr z. B. Matthisson, der Cretici
als gereimte Verszeilen verwendet:


Góld'ner Schéin

Déckt den Háin ─

Was die Choriamben anlangt, so scheint der relativ
häufigste Vers aus ihnen der sogenannte kleinere Asclepiadeus
(zwei Choriamben, eingerahmt von einem Trochäus vorn und
einem Jambus hinten) nur deshalb sich leichter bei uns eingeführt
zu haben, weil er für das deutsche Ohr sich mit dem
bald zu besprechenden Pentameter deckt. So verwendet ihn
Klopstock mit dem Glykoneus als zweitem Vers in der dafür
schon herbeigezogenen Ode Der Lehrling der Griechen*)


Wén des | Génius Blíck | áls er gebór | ren wárd

Der Pentameter nämlich ist ein an zwei Stellen,
nach der Hauptcaesur (Penthemimeres) und am Schluß abgebrochener [85]
Hexameter. Durch diesen Abbruch je eines Halbfußes
an den beiden Stellen erhält er vor und nach der
Caesur einen Choriambus und gleicht so bei der deutschen
Trochäenfreiheit im Hexameter durchaus einem kleineren
Asclepiadeus. Als Vers für sich, in längerer Folge, wäre
der Pentameter wegen seiner unablässigen Aufhalte in der
Mitte und am Ende gar nicht zu brauchen. Aber im Wechsel
mit dem Hexameter, dessen beschwingten Gang er nachdenklich
unterbricht, im sogenannten Distichon (Doppelreihe) stellt
er eines der ältesten (vgl. Horaz in der „ars poetica“ über
den Erfinder: „et adhuc sub judice lis est“) und häufigsten
Versgebilde namentlich für elegische und epigrammatische
Vorwürfe dar. Dann bedeutet der Hexameter die Vorbereitung,
die Erwartung der Empfindung, des Gedankens, der
Pentameter die Entladung und Lösung:


Jm Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,

Jm Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

Der Pentameter steht vermöge des starken Einschnittes
zwischen seinen Hälften auf der Grenze jener Versbildungen,
welche die Griechen wegen ihres lockeren oder ganz fehlenden
metrischen Zusammenhanges asynartetisch nannten. Bei
der schon erörterten leichteren Anschmiegungsfähigkeit des
metrischen Systems konnte den Alten die logische Sinnreihe
in diesen Fällen das Maß für den Vers abgeben,
eine Freiheit, die vielleicht auch dem Begriffe des Logaödischen
(λόγος ἀοιδός) zu Grunde liegt. Bei der selbstherrlichen
Natur des rhythmischen Systems ist das für uns nicht mehr
möglich. Auch der Pentameter schon wird für uns mehr
durch den Parallelismus mit dem voraufgehenden Hexameter
zusammengehalten und würde selbständig, außerhalb des [86]
Distichons, für unser Ohr auseinanderfallen. Ein Vers,
wie ihn Horaz (Epoden XI) bildet:


s̄cribere | v̄ersicu | l̄os ‖ amō | re p̄er | cussūm | grav̄i

würde für uns rhythmisch nur Sinn haben, wenn wir ihn
in die beiden Reihen, aus denen er besteht, die daktylische und
die jambische, auseinanderlegen:


Zíerliche Vérselein

Zu schreíben schwér an Liébe kránk ─

Andernfalls fehlt ihm die rhythmische Ordnung. Es wird
für uns ein „Schleuder- oder Streckvers“, der beliebig im
Takte wechselt.

Kapitel 3. Strophen.

§ 56. Dreiteiligkeit der Strophe.

Die letzten Verserscheinungen haben bereits über die
Grenze der einzelnen Versreihe hinausgeführt zu metrischen
Bildungen, in denen der Vers selbst wieder Bestandteil wird.
Man nennt sie Strophen, mit der griechischen Bezeichnung
(στροφή) eben desselben Begriffs, den wir bei versus
erörtert haben, nunmehr die Wiederkehr einer bestimmten
Ordnung von Versreihen ankündigend. Noch viel enger
als der Vers schließt sich der metrische Sinn der Strophe an
die Musik. Es ist nämlich der Charakter des Liedes, der
Abschluß einer nach verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung
wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrenden Tonbewegung,
der Melodie, welcher in der Strophe zum Ausdruck gelangt.

Der weit engere Anschluß, aber auch zugleich der unverhältnismäßig
niedrigere Stand der Musik im Altertum
zeigt sich in der Bedeutung, welche in der antiken Strophe [87]
noch die rein metrischen Verhältnisse für sich in Anspruch
nehmen. Verse von ganz unterschiedener, fein abgetönter
metrischer Bildung wechseln miteinander ab, von denen oft
keiner dem andern gleicht, und die gleichwohl nach einem langen
Umschwung in der zweiten ganz gleich gebauten Strophe
(Antistrophe) auf das peinlichste genau wiederkehren. Derart
waren die chorischen Strophen im antiken Drama, die
ganz auf musikalische Komposition gestellt waren. Aber auch
außerhalb des Rahmens der Bühne wurden sie bei feierlichen
Choraufführungen angewendet, so von dem kunstreichsten und
kühnsten Strophenkomponisten der Alten, Pindar. Die
metrische Kunst ging soweit, daß sie auch bei dieser künstlichen
Chorstrophe sich nicht beruhigte, sondern nach ihrer Wiederholung
in der Antistrophe ihr in einem neuen strophischen
Gebilde, dem Epodos, erst den Abschluß gab. Diese ganze
kunstvolle Dreiheit von Strophe, Antistrophe und Epodos
wird nun festgehalten und schlingt sich durch einen ganzen
Pindarischen Siegesgesang. Die metrische Feinhörigkeit, die
hier bei Sängern und Publikum vorausgesetzt werden muß,
ist unserem, nach ganz anderen Richtungen (der Harmonie) ausgebildeten
Ohre gar nicht mehr verständlich. Doch ein Abglanz
davon belebte noch die poetische Blütezeit des Mittelalters,
in der freilich schon der weit gröbere Reim den Hauptanteil
des strophischen Wechsels übernimmt. Jm Minne=
und dem davon abhängigen Meistersang treffen wir den
alten dreiteiligen Wechsel von Strophen und Epodos gleichsam
verjüngt in der Anlage der Strophe selbst, in Stollen und
Abgesang.

§ 57. Gebräuchliche antike Strophen.

Diese höchste Blüte des kunstvollen Strophenbaues blieb
aber auch im Alterthum nur den genannten höheren poetischen [88]
Aufgaben vorgehalten. Diejenigen Strophen, welche die Lyra
des für sich selbst singenden und sagenden Dichters wählte,
sind zwar metrisch noch immer ohne Vergleich kunstvoller, als
die unsrigen. Doch folgen sie für gewöhnlich ohne die
chorische Dreiheit von Strophe, Antistrophe und Epodos
gleichgebaut eine der anderen. Sie sind kürzer, für gewöhnlich
sogar nur Zwei- und Vierzeilen (Disticha und
Tetrasticha). Es waren schon damals nicht grade die schwierigsten
unter ihnen, welche die größte Beliebtheit erlangten.
Einige besonders glückliche von diesen populären antiken
Strophen haben sich, wie wir schon bei den einzelnen Versreihen
vorbereitend bemerkten, in unsere rhythmische Versübung
hinübergerettet. Als typisch können wir anführen die
sapphische Strophe
(nach der bekannten aeolischen Dichterin
Sappho), die aus drei kleineren sapphischen Versen und
dem Adonius besteht:


Voller Gefühl des Jünglings weil' ich Tage

Auf dem Roß und dem Stahl; ich seh' des Lenzes

Grüne Bäume froh dann und froh des Winters

Dürre beblütet!*)

Die alcäische Strophe (nach dem aeolischen Dichter
Alcäeus), aus zwei alcäischen Elfsilblern, einem katalektischen
fünffüßigen Jambus und dem beschriebenen logaödischen Verse
bestehend, den männlich anstürmenden Charakter so gut darstellend
wie die Strophe Sapphos den weiblichen, ruhig abwallenden:



Der Seraph stammelt und die Unendlichkeit

Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach
[89]
Dein hohes Lob, o Sohn! Wer bin ich,

Daß ich mich auch in die Jubel dränge?*)

Die sogenannte fünfte Asklepiadeenstrophe, aus zwei
kleineren Asklepiadeen (von einem alexandrinischen Dichter
Asklepiades) dem Glykoneus (nach einem dunklen Dichter
Glykon) und vor diesem aus einem um eine Silbe kürzeren
Verse (dem Pherekrateus, nach dem attischen Komödiendichter
Pherekrates) zusammengesetzt:


Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht

Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,

Das den großen Gedanken

Deiner Schöpfung noch einmal denkt.**)

Von den zweireihigen antiken Strophen (Distichen) wollen
wir außer dem schon erörterten κατ' ἐξοχήν sogenannten
(elegischen) Distichon aus Hexameter und Pentameter nur
die dritte asklepiadeische erwähnen. Sie besteht aus
dem kleineren Asklepiadeus und dem Glykoneus. Klopstock
braucht sie in seiner ersten Ode (1747) „Der Lehrling der
Griechen“***):


Wen des Genius Blick, als er geboren ward,

Mit einweihendem Lächeln sah ─
§ 58. Der Reim als Vorreim und Nach(End=)reim
Mittel der Strophenbindung.

Wir haben schon darauf vorbereitet, daß in den neueren
Zeiten der Reim fast ausschließlich den strophischen Wechsel
bestreitet. Die kirchliche Hymnendichtung, welche für uns die
sichtbare Brücke von der antiken zur neueren Versübung bildet,
kann den Uebergang Schritt für Schritt belegen, der von dem [90]
Wechsel künstlicher Metren zu rhythmischer Eintönigkeit und
der dadurch bedingten Forderung eines neuen, rein musikalischen
Formungsmittels führte. Ein solches Mittel hatte die alte
rhythmische Dichtung bereits in einer Art des Reims, dem
schon gekennzeichneten Stabreim oder der Allitteration.
Er ist ein Vorreim, der in jener primitiven Urrhythmik
die Reihen strophisch zusammenhalten konnte, aber bei strengerer
rhythmischen Ausgestaltung, wie wir sahen, in den Vers (die
Langzeile) zurücksank.

Nun stellte sich Ende des ersten Jahrtausends nach Christus,
ganz gewiß selbständig, aber durch orientalischen (arabischen)
Einfluß zweifellos gefördert, der minder wuchtige, aber klangvollere
Endreim ein, um die Verszeilen strophisch zu binden.
Er muß nach seiner Stellung am minder tönenden Wortausgang
eine ganze Silbe für sich in Anspruch nehmen.
Denn im Silbenvokal liegt seine bindende Macht; er kann
daher auch als bloßer Vokalreim (Assonanz) auftreten und
erscheint so wie der Stabreim in manchen dadurch gehobenen
Redewendungen (Wissen und Willen, kurz und gut). Der
gleiche konsonantische Ausgang, so wenig er an sich zur Reimung
beiträgt, gehört aber zum Vollreim, der gleichfalls so auftritt
(Knall und Fall, schlecht [schlicht] und recht). Dagegen
berührt der gleiche konsonantische Anfang von Vollreimsilben
das deutsche Ohr wenigstens, nicht so das romanische, als
Luxus (reicher Reim), da er für uns meist nur das gleiche
Wort oder eine stereotype Endsilbe (heit, keit, schaft) wiederbringt.
Wie in Wíssenscháft ─ Réchenscháft, Éitelkéit
─ Éhrlichkeit. Jn der orientalischen Strophenform der
Gasele ist diese Art Reim über das gleiche Wort (ja sogar
mehrere) hinaus alleiniges Band durch beliebig viel Verse:

[91]
Jm Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her,

Doch irrst du, Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und

her,

Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund,

Jhr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her.

Platen: Motto zu den Gaselen.

Ein ganz gleicher Reim ist so gut wie gar keiner. Denn
er soll eben Verschiedenes wirklich binden, auf den gleichen
Endklang Fernes, ja Entgegengesetztes hinausleiten. So hat
sich uns ja der Reim schon bei den Figuren angekündigt.
Daher die ungesuchte Beliebtheit, in der manche Reime stehen,
Herz und Schmerz, Lust und Brust, aber auch der Tiefsinn,
der sich wie von selbst in viele legt: heute rot ─ morgen tot.

§ 59. Arten des Reims.

Der Reim, als kennbares Band von Rhythmen, muß
insofern an ihrer Natur teilnehmen, als er unter allen Umständen
den Ton, die Hebung tragen muß. Der Reim der
letzten Silbe in zwei trochäischen Wörtern (haben ─ geben)
oder der beiden letzten Silben in daktylischen Wörtern (reinigen
─ seligen) gäbe keine Bindung im Sinne des Reims oder
höchstens in meistersingerischer Mißbetonung. Der Reim setzt an
der letzten Hebung der rhythmischen Reihe ein; ist sie zugleich
die letzte Silbe als männlicher (stumpfer) Reim (Gewált}
─ Gestált), oder ist sie die vorletzte als weiblicher (klingender)
Reim (lében ─ gében) oder endlich im vollständigen daktylischen
Rhythmus als gleitender Reim (stérblichen ─
érblichen). Dies sind die drei rhythmischen Typen des Reims.
Jhre mannigfache Verwendung im Versgeschlinge, als Binnenreim, [92]
Parallelreim, Kettenreim, als ganzer Satzreim (wie in
der Gasele), als Echo und dergl., sowie ihre besondere lautliche
Ausgestaltung, wie die poetische Situation und die Laune des
Dichters sie eingeben mag, gehört keineswegs mehr in die allgemeine
poetische Theorie. Was rein noch freies Phantasiespiel sein
soll und nur als solches anmutig wirkt, kann nur pedantische Verkehrtheit
in lächerliche Begriffe packen wollen. Ueberdies leistet
sie dadurch dem nicht erst zu ermunternden leeren Spieltrieb
im menschlichen Geiste Vorschub, der darin, wie die
Litteraturgeschichte lehrt, leicht über jede erlaubte Grenze geht.
Ganz das Gleiche gilt von der kindlichen Formenspielerei,
die sich der künstlichen Strophenbildung durch das billige Mittel
bloßer Reimveränderung bemächtigt hat.

Zumal der Refrain (Kehrreim), dem ganz kunstlosen
Volksgesange entlehnt (wo er als stehend wiederkehrender Vers
gewisse Grundempfindungen des Liedes gegenwärtig zu halten
hat), gerade dies ganz freie, zwanglose Stimmungsmittel spielt
hier als steifer Zeremonienmeister des Strophenganges eine
große Rolle (Vergl. Sechstinne, Rondeau und dergl.). Wir
verweisen für alle diese Formen und Unformen, welchen Landesmoden
sie nun ihren Ursprung verdanken mögen, auf die jeweiligen
Kapitel der Litteraturgeschichte, die sich mit ihnen zu
beschäftigen hat. Hier wollen wir nur wenige besonders glücklich
getroffene Anlagen der Reimstrophe anführen, welche zugleich
durch ihre Rolle in der Geschichte der Dichtung ganz
unverhältnismäßig über den übrigen Formenkram hervorragen.

§ 60. Reimstrophen.

Das Sonett, eine Strophendreiheit im Geiste der
antiken chorischen Strophen. Zwei parallele vierzeilige Strophen
(quatrains) schließt eine durch neue Reime in sich verschränkte [93]
sechszeilige (zweimal dreizeilige, sixain, Terzette) als Epodos
ab. Der typische Rhythmus ist der fünffüßige Jambus. Die
Reimverschränkung zeigt, durch Buchstaben ausgedrückt, unter
mannigfachen Varianten den Typus:


a b b a
a b b a
c d e ─ c d e
oder c d c ─ d e e


Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,

Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;

Der Widerwille ist auch mir verschwunden,

Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!

Und wenn wir erst in abgemessnen Stunden

Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,

Mag frei Natur im Herzen wieder glühen!

So ist's mit aller Bildung auch beschaffen:

Vergebens werden ungebundne Geister

Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;

Jn der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,

Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Goethe.

Durch ihre Ausdehnung vermag diese Strophenform einen
poetischen Jnhalt vollkommen in sich abzuschließen, wobei ihr
logischer Bau (gleichsam Prämissen und Konklusion) zur angemessenen
Zusammendrängung eines überfließenden Stoffes
förmlich die Anleitung giebt. So ward das Sonett früh
(durch Petrarca) zum bevorzugten Träger des poetischen Tagebuchs,
eine poetische Beichtformel, der die edelsten Geister [94]
aller Völker, auch solche, die sonst poetischer Gestaltung oder
lyrischem Erguß ferner standen (Michel Angelo Buonarroti,
Wilhelm von Humboldt, Shakespeare) ihr tiefstes Fühlen und
innerstes Denken anvertrauten. Freilich hat das Sonett ebenso
auch die Verflachung der Mode oft genug erfahren müssen, namentlich
in dem modesüchtigen 17. Jahrh. Der Klingklang seiner
Reimbindung blieb dann allein übrig, um ein Kompliment
abzuzirkeln, ein Witzchen epigrammatisch herauszuarbeiten. Mit
dem freieren Madrigal ward so das „sonnet orgueilleux“
(Boileau) auch der klassische Vertreter fader, preziöser Salon=
und Kliquenpoesie. Die Variationen, die in solcher Verwendung
mit ihm vorgenommen werden können, mag man
der Litteraturgeschichte entnehmen.

Die Abschlußstrophen des Sonetts leiten uns unmittelbar
auf diejenige Strophenform, die durch Dantes Weltgedicht,
la divina commedia, schon ihre hervorragende Stellung belegen
kann: die Terzine. Denkt man sich den Typus der
fünffüßigen jambischen Dreizeile, wie er in den zwei Terzetten
des Sonetts auftritt, durch Reimverschränkung immer weiter
fortgesetzt, so erhält man das Bild einer Strophe, die durch
zwei Reime eingerahmt mit dem Mittelreim über sich hinausstrebt
und so förmlich immer neuen Atem schöpft: in ihrem
energischen Vorwärtszuge bei großer Gehaltenheit des Rhythmus
so das vorbestimmte Maß für die beschwingte, poetische
Durchführung eines ernsten und kühnen Gedankeninhalts.
Den endlichen Abschluß muß dann natürlich eine einzelne
Reimzeile abgeben, da mit der zweiten Strophe schon wieder
eine neue Reimung anhebt. Dies ist also das Schema:


a b a b c b c d c d e d e....

Die Terzine, durch das große Einleitungsgedicht der gesamten
neueren Litteratur in Jtalien früh (13. Jh.) auf [95]
die höchste Stufe gehoben, fand trotz immer wieder erneutem
Anklopfen in der Renaissancepoesie des 16. und 17. Jh. in
Deutschland lange keine Pflege. Erst das mächtige Einwirken
Dantes im Anfange unseres Jahrhunderts hat sie auch hier
zu Lande populär gemacht. Bekannt ist Chamissos Vorliebe
für diese Form.


Jch saß vor Sonnenaufgang an dem Strande,

Das Sternenkreuz verkündete den Tag,

Sich neigend zu des Horizontes Rande.

Und noch gehüllt in tiefes Dunkel lag

Vor mir der Osten, leuchtend mir entrollte

Zu meinen Füßen sich der Wellenschlag.

Mir war, als ob die Nacht nicht enden wollte ...

(Aus dessen „Salas y Gomez“.)

Die Stanze oder Ottaverime kann ihrer inneren
Anlage nach als der Versuch angesehen werden, die Terzine
strophisch zum Stillstand und Abschluß zu bringen; womit
wir nicht gesagt haben wollen, daß sie sich historisch so gebildet
habe, obwohl ihr zeitliches Auftreten nach der Terzine
im 14. Jh. auch nicht gerade das Gegenteil beweist. Die
Stanze hat sich jedenfalls weit rascher überall Bahn gebrochen
(auch in Deutschland im 17. Jh.) und weit mehr Raum verschafft,
als die Terzinen. Jhre epische Verwendung in den
anmutigen und kühnen Rittergedichten, an denen sich die
italienische Renaissance für ihre antiken Schulstudien schadlos
hielt, machten sie zur modernen Heldenstrophe für alle möglichen
Vorwürfe aus dem Feen- und Schäferlande. Schiller
wagte sogar Virgils Aeneis in sie einzugießen. Goethes Bevorzugung
der Strophe für die tiefsinnigsten Aussprachen seines
Jnnern, wie Byrons dämonisch witziges Geplauder in ihr [96]
haben sie unserem Jahrhundert noch umfassender nahe gebracht.
Das Reimschema der gleichfalls für gewöhnlich im fünffüßigen
Jambus auftretenden Strophe giebt die sechs Verse der beiden
Terzinen fest in sich gebunden und fügt als vollständigen Abschluß
noch zwei neu mit sich reimende Versreihen an. Dies
also ist der Typus:


a b a b a b c c.


Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte

Den leisen Schlaf, der mich gelind umfing,

Daß ich, erwacht, aus meiner stillen Hütte

Den Berg hinauf mit frischer Seele ging;

Jch freute mich bei einem jeden Schritte

Der neuen Blume, die voll Tropfen hing;

Der junge Tag erhob sich mit Entzücken,

Und alles war erquickt, mich zu erquicken.

(Goethe, Zueignung zu den Gedichten.)

Es fällt auf, daß die Stanze im Norden mannigfachen
Variationen ausgesetzt gewesen ist, so daß es fast den Anschein
gewinnt, als ob das nordische Ohr bei längerer Dauer dem
immer gleichen Anfluten der strengen Ottaverime Widerstand
entgegensetze. Wieland und Schiller haben sowohl in der
Länge der Versreihe als in der Folge der Reimung Abweichungen
eintreten lassen, so daß nur die achtreihige dreimal
gereimte Strophe als ihr Schema erscheint. Doch kehrt der
Stanzentypus in der Reimung immer wieder, so daß er durch
die Veränderungen hindurchschimmert. Goethe hat ein großangelegtes
Gedicht in strengen Stanzen (die Geheimnisse) angefangen,
doch nicht beendet. Eine ganz freie Abart, für die
die Stanze nur den Ausgang abgiebt, bildete sich in England,
wo Spencer im 16. Jh. einer neunzeiligen, mit einem Alexandriner [97]
schließenden fünffüßigen Jambenstrophe den dreifach
gereimten Stanzencharakter zugrunde legte. Jn unserem Jahrhundert
hat Byron diese Stanze Spencers im Childe Harold
wieder erneut. ──────


IV. Gattungen der Dichtkunst.
───


Litteratur.

Joh. Jac. Engel, Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten.
Berl. 1804. H. Bone, Ueber den lyrischen Standpunkt
bei Auffassung u. Erklärung lyrischer Gedichte. Paderborn
1852. R. M. Werner, Lyrik u. Lyriker (Beitr. zur Aesthetik
hrsg. v. Th. Lipps u. R. M. Werner). Hamb. 1890. Lope
de Vega, Nueva arte de hazer comedias (Spanisches Theater).
Hédelin d'Aubignac, La pratique du théâtre (Grundbuch
der französischen akademischen Regeln) in 3 Bdn. Amst. 1715.
P. Corneille, Discours sur la tragédie 1660. Conti,
Paragone della Poesia tragica (und Briefwechsel darüber mit
Bodmer) 1746. Lessing, Hamburgische Dramaturgie 1767. Aug.
Wilh. Schlegel, Ueb. dramatische Kunst u. Litteratur 3 Bde.
1809. Jmmermann, Theaterbriefe hersg. v. Putlitz 1851.
H. Hettner, Das moderne Drama 1852. J. v. Eichendorff,
Geschichte des Dramas 1854. Rob. Zimmermann,
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der Tragödie. Breslau 1858. (Zwei Abhandlungen über die
Aristotelische Theorie des Dramas. Berl. 1880.) H. Th. Rötscher,
Dramaturgische Abhandlungen. Lzg. 1867. Ernst Ziel,
Ueber die dramat. Exposition. Rost. 1869. G. Freytag, Die
Technik des Dramas. 3. A. Lzg. 1876. Th. Lipps, Der [98]
Streit über die Tragödie (Beitr. zur Aesth. mit R. M. Werner
Nr. 2. Hamb. 1891.) Döring, Die Kunstlehre des Aristoteles.
Jena 1876. J. G. Ritter, Theorie des Trauerspiels. Lzg. 1880.
Heinr. Bulthaupt, Dramaturgie der Klassiker 1882 (5 A.
1893). E. Zola, le Naturalisme au théâtre. Par. 1881.
W. Henke, Vorträge über Plastik, Mimik u. Drama. Rost. 1892.
Giov. Giorgio, Trissino, La poetica. Vicenza 1529. Pierre de
Ronsard (1524─85, Haupt der französischen Renaiss.=Poeten „la
Pléïade“) Préfaces de la Franciade. Torquato Tasso,
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poëme épique. Par. 1693. Lessing, Laokoon, 1766. Fr.
A. Wolf, Prolegomena ad Homerum, Halis 1795. Wilh.
von Humbold, Ueber Goethes Hermann u. Dorothea. Aesthet.
Versuche Th. I. Braunschweig 1799. Karl Lachmann, Ueber
die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von der Nibelungen Not.
Berl. 1816. Fr. Zimmermann, Ueb. d. Begriff des Epos.
Darmst. 1848. Claes J. E. Aurell, Om balladen och romanzen.
Upsala 1864. K. Borinski, Das Epos der Renaiss.
(in der Vierteljahrsschrift für Renaissance 1885). Boileau,
Dialogue sur les héros de Roman (verfaßt 1664). Huet, de
l'origine des Romans 1670. Gotthard Heidegger, Mythoscopia
Romantica. Zürich 1698. John Dunlop, History
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von Felix Liebrecht. Berl. 1851. P. Heyse (mit Kurz u.
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1872 ff. E. Zola, le Roman expérimental. Par. 1880. Detl.
Fr. v. Biedermann, Der Roman als Kunstwerk. Dresden 1870.
Friedr. Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des
Romans. Lzg. 1883. Leo Gregorovius, Die Verwendung
historischer Stoffe in der erzählenden Litteratur. Münch. 1891.
Weddigen, Das Wesen und die Theorie der Fabel. Lzg. 1893.

[99]
Kapitel 1. Lyrik.

§ 61. Musikalische Beziehung.

Jn der Strophe erreicht die poetische Form den Punkt
der Reife, wo sie das schließende Gefäß für den in sie ausströmenden
Jnhalt wird. Diese vollständige Deckung der poetischen
Absicht mit ihrem engsten Ausdruck scheint nur möglich
in jenem ursprünglichen Momente poetischer Aussprache, wobei
die Beziehung auf das musikalische Moment in ihr noch als
eine notwendige und unmittelbare empfunden wird. Die Gattung
poetischen Schaffens, welche hieran Teil hat, führt ihren
Namen vom Gesangbegleitungsinstrument der Griechen:
lyrische Dichtung, Lyrik.

§ 62. Der Dichter selbst als Held des lyrischen Gedichts.

„Jch singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen
wohnet, das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn,
der reichlich lohnet“ bekennt der Goethische „Sänger“. Er
hat damit den Kern aller Dichtung bloßgelegt, der in der
Lyrik am reinsten, noch völlig unverhüllt vom umschließenden
Weltstoff des Epos und Dramas, zu Tage tritt. Der Dichter
selbst ist der Held des lyrischen Gedichts. Sein Lieben und
Hassen, seine Lust und Qual, sein Erkennen und Wollen selbst
wird Gegenstand der poetischen Anschauung. Sich davon zu
befreien, die Stürme seines menschlichen Jchs aus dem reinen
inneren Selbst auszuscheiden und so zu bemeistern, darum
singt der echte Dichter. Es giebt keine Beziehung und
keinen Zustand menschlichen Gefühls, keinen Grad menschlicher
Leidenschaft, der in der Lyrik nicht zum Ausdruck gelangen
könnte.

[100]
§ 63. Einteilung der Lyrik.

Wir haben hiermit schon die Art der Einteilung für die
Lyrik angedeutet: Dem Grade nach ─ quantitativ
vom kleinsten Lied, dem Ausdruck jeweiliger Stimmung, bis
zur vielumfassende Ode, die in fessellosem Schwunge
frei dahinströmt; dem gegensätzlichen Zustande (der Stimmung)
nach ─ qualitativ gleichsam im Dur und Moll
─ Satire und Elegie; der Beziehung nach (relativ), in
die das Gemüt sein Erkennen und Wollen stellt, nach außen
oder nach innen (expansiv oder contraktiv) weltlich
und geistlich. Man wird nach dieser Einteilung die
alten Scheidungen der Poetik auf dem lyrischen Gebiete verstehen,
ohne sie sich dabei starr und uneingeschränkt zu eigen
zu machen. Hoher Dichtergeist vermag in das kleinste, anspruchlos
gestaltete Lied die Stärke des Ausdrucks, die Fülle
und Breite der Anschauung zu legen, welche die schulmäßige
Klassifizirung der Ode vorbehält. Jn erregten Gemütern
schwankt Hoch- und Niedergang der Stimmung, Lust und
Schmerz, Forderung und Nachlaß, Weltangriff und Weltflucht
viel zu sehr, um sich stets in sauber abgetrennten Kapiteln
gesondert auszutoben. Vollends die Scheidung zwischen geistlichem
und weltlichem Gebiete läßt reine Poesie, sobald sie
einmal die Fesseln der Culte von sich abgestreift hat, am
ehesten verschwinden. Gott in der Welt, die Welt in Gott
suchen und finden zu lehren, ist ja gerade das schöne Vorrecht
des Dichters vor dem Priester.

§ 64. Allgemeinheit der lyrischen Dichtung.

Daß der oben abgehandelte Unterschied zwischen Natur=
und Kunstpoesie in der Lyrik am greifbarsten hervortreten
muß, erhellt schon aus der Kürze und Einfachheit der poetischen [101]
Form im Liede. Jhrer kann sich jedermann im geeigneten
Momente bemächtigen, und sei es auch nur in der
primitiven Fassung der Zwei- und Vierzeile (G'stanzeln,
Schnadahüpferln unserer Gebirgsvölker). Das richtige Volkslied
muß daher ein Jedermannslied sein, von jedermann, für
jedermann gesungen. Höchstens Stand, Beruf, Gewerbe des
Sängers darf anklingen, der sich so zum Chorführer seiner
besonderen Genossen in der allgemeinen Sangeslust macht
(Soldatenlieder, Studentenlieder, „Müllerlieder“, im allgemeinen
Handwerkslieder, Bergreihen). Das Kunstlied vermittelt
die Persönlichkeit seines Verfassers, seine Auffassung
der Welt, seine speziellen Bezüge in ihr, zu seinem
Kreise, seinen Lieben. Doch ist Simon Dachs „Aennchen
von Tharau“ volkstümlich geworden, als Typus der „durch
Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Noth“ erwählten Braut.
Hinwiederum haben die Romantiker gar manches „im Volkston“
gedichtet, was nur innerhalb ihres ganz besonderen
Kreises verständlich wird. Goethes Kraft, gleichsam aus der
Volksseele heraus zu singen, läßt ihn wirkliche Volkslieder
geradezu nach- und weiter dichten („Wie kommt's, daß du
so traurig bist?“); Eichendorff, Uhland, Heine haben dem
Jahrhundert seine verbreitetsten Volkslieder gegeben.

§ 65. Stoffwelt des Liedes.

Betrachten wir die Stoffwelt des Liedes. Wir werden
nicht feststellen können, daß sie eingeschränkter sei, als die der
Poesie überhaupt. Gegenstand des Liedes kann alles sein,
auch das rein Historische, welches sich in objektivierter Behandlung
das Epos zu eigen macht, oder das Szenisch-Aktuelle,
das im Drama, vom Dichter abgelöst, für sich selber wirkt.
Jn der Ballade, einer merkwürdigen volkstümlichen Dichtungsform, [102]
finden wir alle diese Momente zusammenwirkend.
Entschieden lyrischer Charakter (sangmäßiger Strophenbau)
historischer (sagenhafter doch auch bloß anekdotenhafter) Vorwurf,
dramatische (dialogische) Form. (Zumal bei Goethe:
Erlkönig, Fischer, Braut von Korinth, Gott und die Bajadere,
Zauberlehrling, Hochzeitslied, Ballade vom vertriebenen und
zurückkehrenden Grafen. Streng dialogisch: die Müllerinballaden,
welche je den altenglischen, altdeutschen, altfranzösischen,
altspanischen Balladencharakter nachbilden sollen.)

Charakteristikum des Liedes wird nur unter allen Umständen
hier die Einfachheit sein müssen. Einfachheit des
Vorwurfs! Denn es soll in Kürze, in einem zusammenhängenden
Sangesvortrag von einem Einzelnen erschöpft
werden. Daher darf er weder weitverzweigt noch unübersichtlich
sein, wodurch eine Reihe spezieller Stoffe von selbst
sich der Liedbehandlung entziehen werden, welche die Triumphe
dramatischer und epischer Kunst bilden. Doch ersetzt das Lied
vieles durch die ihm ganz besonders gemäße eigentümliche
Art, Umstände, namentlich vorausliegende, anzudeuten, verwickelte
Verhältnisse durch Empfindungsausdruck subintelligieren
zu lassen. Hier wird der Lyriker gelegentlich Lehrer des
Epikers, durchaus aber des wirkungsvollen Dramatikers. Was
Fr. Th. Vischer das Punktuelle des lyrischen Gedichts
nennt, das völlige Ausschöpfen einer einzigen Situation,
erweist sich somit exemplarisch für die gesamte poetische Kunst.

§ 66. Epigramm.

Als das konzentrierteste Produkt der Lyrik und der Poesie
überhaupt gilt uns das Epigramm*) („Jst Poesie eine Art [103]
Raserei, so ist sie in Epigrammen die kürzeste“ Wernicke)
Unter dem Titel „Epigramm“ (Aufschrift) faßt die antike
Poetik alles zusammen, was in der kurzen knappen Form
(gewöhnlich des einfachen Distichon: Hexameter und Pentameter
s. S. 85) sich vereinigt. Da Kürze des Witzes Seele ist,
so wird freilich die komische Pointe gerade hier vorzugsweise
Bewährung suchen, wie wir es noch heute in den Stichelversen
der Bergbewohner beobachten können. Komische Wendung
zumal mit aggressiver Spitze (der „Stachel“ des Epigrammes
vgl. Goethe und Schillers „Xenien“ nach dem
Muster des römischen Epigrammatikers Martial) ist aber
keineswegs der ausschließliche, ursprüngliche Charakter des
Epigramms als eines kurzen „Sinngedichts.“ Getreu
seiner Grundbedeutung als Aufschrift kann es ebenso ernste
und empfehlende Wendungen bringen, als komische und tadelnde.
Grab= und Lobschriften auf Denkmalen sind der sinnfällige
Ausdruck dieser abweichenden Grundrichtungen des Epigramms.
Das Epigramm bildet so den Ausgangspunkt für drei wesentliche
Richtungen der Poesie, die auch unmittelbar ins dramatische
und epische Gebiet übergreifen können: nämlich die
satyrische, die elegische und die panegyrische Richtung.

Jn der Satyre (von lat. satura lanx, volle Schüssel,
jedenfalls unter Einwirkung der Namensform der komischen
Wald- und Feldgottheiten) vereinigt sich gleichsam ein Schwarm
von Stachelversen, um einen einzigen Gegenstand von allen
Seiten anzufallen (Juvenal). Jn der Elegie (Erklärung
ungewiß: von einem klagenden Refrain \̓ε λέγε; εὖ λέγειν?)
knüpft sich eine Reihe ernster, nicht gerade immer schwermütiger
Betrachtungen an eine einzige, gehaltene Empfindung
abschließender Einsicht, notwendiger Resignation. Jhre Form
ist das fortgesetzte Distichon des Epigramms (Elegeion). [104]
(Schillers „Spaziergang“, Goethes „Euphrosyne“). Jm
Panegyrikus (πανηγυρικός sc. λόγος, Lied der allgemeinen
Festversammlung) wird das lobende Wort zur weitausgeführten
Lobrede an Große jeder Art, zu allen Zeiten meist an Machthaber,
an letztere mehr zu Lebzeiten, als nach dem Tode
(poetischer Nekrolog). Erhabenes Muster eines klassischen
Panegyrikus (in dialogisch=dramatischer Form) ist Schillers
„Huldigung der Künste“ (an die Erbprinzessin von Weimar
Maria Paulowna, Großfürstin von Rußland).

§ 67. Chorlied.

Der gerade Gegensatz zum Epigramm, als der litterarischen
Festlegung des Einzelspruches, der Gnome, ist
das Chorlied, die einheitliche Zusammenfassung einer lyrischen
Mehrheit. Jn unserer vielstimmigen polyphonen Musik
(nicht so in der antiken homophonen, einstimmigen) tritt
diese Mehrheit in der harmonischen Vielfältigkeit der Stimmen
sinnfällig hervor. Jn der Poesie aber zeigt sich die Mehrheit
streng zur Einheit zusammengefaßt. Jm Text weichen die
Stimmen nicht, höchstens im Zeitpunkt der Einsätze, von einander
ab. Jm Chor findet sich also eine einheitlich (harmonisch)
gestimmte Gesamtheit ebenso streng zusammen, wie
sich im Epigramm eine abweichend gestimmte Jndividualität
scharf von der Masse heraushebt und sich ihr gegenüberstellt.
Jm Chor schießt jene Punktualität der lyrischen Poesie gleichsam
in Radien nach allen Seiten aus, teilt sich mit. Der
Chor bildet den Umkreis für die lyrische Situation. Daher
ist ihm der Kehrreim (Refrain) so gemäß, in welchem der Chor
die Abschlüsse der Solostrophen oder ihren Grundgedanken
aufgreift, sich so das Einzelgedicht durch Anteil zu eigen
macht. Vergl. Goethe, Kophtisches Lied:

[105]
Kinder der Klugheit, o habet die Narren

Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!

Rechenschaft:


Sollst uns nicht nach Weine lechzen,

Gleich das volle Glas heran,

Denn das Aechzen und das Krächzen

Hast du heut schon abgethan.

und Ergo bibamus.

Jm Chorlied können wir daher ebenso den Ausgang für
jene Richtungen lyrischer Poesie sinden, in denen Massenempfindungen
zum Ausdruck gebracht werden, wie im Epigramm
für die streng subjektiven. Wo gesellige Vereinigung
heiterer und ernster Natur irgendwie vorausgesetzt wird, zielt
das Lied auf chorische Wiedergabe. Namentlich jener Ernst,
in dem jede Gesamtheit sich trifft, bei dem persönliche und
Standesbeziehungen schwinden, die religiöse Erhebung,
erheischt von Natur den chorischen Ausdruck. Geistlicher Sologesang
ist nur am öffentlichen Ort, am besten in der Kirche
selbst, als Zwischensatz zwischen Chören angebracht. Ueber
private Andachtsübungen des Einzelnen gerade vermittels Gesanges
vergleiche man Kants schalkhafte Bemerkungen (Kritik
der Urteilskraft I § 53 und Anm). Der katholische Hymnus,
wie der protestantische Choral sind auf Massenbeteiligung
angelegt und ohne sie wirkungslos.

§ 68. Auseinandertreten des Chores.

Fällt der Chor irgend auseinander, sei es in gegeneinanderstreitenden
Massen (Halbchöre) oder gar in sich ablösende
und selbstständig heraustretende Persönlichkeiten, so hört er
auf, lyrisch zu sein. Er wird, wie es in der Natur des
Vorgangs liegt und die Litteraturgeschichte auf jeder ihrer bezüglichen [106]
Etappen, im Altertum, Mittelalter und in der Neuzeit,
schlagend bestätigt, zum Drama. Jmmer wieder hat
das Drama an chorische Lyrik angeknüpft. Jm Altertum,
wo dieser Uebergang in der Aeschyleischen Tragödie mit ihrer
in der Wucht der Chormassen noch gänzlich eingewurzelten
Handlung höchst anschaulich wird, im Mittelalter, wo aus
der Teilung und Stimmenabsonderung der Oster- und Weihnachtschöre
(Tropen) die kirchliche (Misterien=) Bühne hervorgeht,
selbst in der Neuzeit, wo die Renaissance so lange an
dem musikalisch=dramatischen Chore herumexperimentiert, bis sie
unser modernes musikalisches Drama, die Oper, geschaffen
hat. Der Chor bildet also, wie man sieht, historisch wie
systematisch, die notwendige Vermittlung von der Lyrik zu der
zweiten, wie viele (nach Aristoteles) wollen: höchsten, jedenfalls
im technischen Verstande vollständigsten Gattung poetischen
Schaffens, der dramatischen.

Kapitel II. Das Drama.

§ 69. Jnneres Verhältnis der Lyrik zum Drama.

Wir haben die Entstehung des Dramas damit gekennzeichnet,
daß aus dem Chore Persönlichkeiten selbständig heraustreten.
Schon dies Heraustreten bedeutet eine Thathandlung,
und Handlungen sind es, welche die aus dem lyrischen
Untergrunde losgelösten, poetisch selbständig gewordenen Persönlichkeiten
im Drama durchführen. Jm antiken Drama blieb
der Chor neben diesen handelnden Persönlichkeiten, den
„Actoren“, als eine Art von lyrischer Gesamtpersönlichkeit
bestehen, welche die Handlung verfolgt, sogar so, daß sie
mit den handelnden Personen in Verkehr tritt, ohne jedoch [107]
in die Handlung selbst einzugreifen. Ein sprechender Beleg
für das innere Verhältnis der Lyrik zum Drama.

§ 70. Besonderer Charakter des Dramas.

Jst die Lyrik die Dichtung der Persönlichkeit, so
wird das Drama, wie wir sehen, streng vermittelt durch den
Chor, zur Dichtung der Persönlichkeiten. Und zwar
nicht mehr wie im Chor der Persönlichkeiten mit einander,
sondern der Persönlichkeiten gegen einander. Das Drama
bedeutet in der Dichtung die Auseinandersetzung handelnder
Persönlichkeiten in einem bestimmten Falle, mit ausschließlich
auf diesen Fall bezüglichen Voraussetzungen und notwendig
daraus folgendem Endergebnis. Eine Folge von
Scenen, d. h. dargestellter Lebensvorgänge, giebt noch kein
Drama. Das poetische Jnteresse muß schlechterdings die ganze
Scenenfolge unter sich zusammenfassen und auf einen bestimmten
Mittelpunkt beziehen, um die dem Drama eigentümlichen
poetischen Wirkungen zu erzielen. Dies ist die dem Drama
eigentümliche Punktualität des poetischen Schaffens, die Einheit
des Jnteresses,
und alles was man seit des Aristoteles
ersten wichtigen Sätzen über diese Frage behauptet und
gestritten hat, geht darauf zurück. Ein irriger Schluß daraus
sind die durch Lessings Kritik*) aus dem dramaturgischen
Kanon beseitigten drei Einheiten der Franzosen (des Orts,
der Zeit und der Handlung), welche äußerliche Forderungen
der theatralischen Natürlichkeit (daß ein Vorwurf sich binnen
24 Stunden an demselben Flecke abspiele) an die Stelle der
dramatischen Konsequenz setzen.

[108]

Das Jnteresse richtet sich im Drama nicht mehr auf die
Persönlichkeit des Dichters, der das Weltbild in sich trägt,
sondern es geht auf Persönlichkeiten, die, von ihm losgelöst,
das Weltbild „durchführen“, in ihrem Handeln zur Darstellung
bringen. Daß hinter diesen Personen der Dichter steht, tritt
vollständig zurück. Man soll es vergessen. Man soll ihn,
den Dichter vor allen Dingen, seine besondere Geistesanlage,
sein besonderes Verhältnis zu Welt und Menschen vollständig
vergessen eben über der Welt und den Menschen, die er im
Drama sich gestalten läßt. Diese Welt, diese Menschen tragen
ihre Bezüge, ihren Charakter in sich. Es ist die höchste
Kunst des Dramatikers, diese Welt und ihren Charakter so
zum Ausdruck zu bringen, wie er in sich ist. Nicht jeder
Mensch, der die Welt eben so sieht, wie sie dem platten Auge
erscheint, sieht die Welt, wie sie ist, wie sie eigentlich in sich
ist. Das ist es, was uns so überwältigend an den entscheidenden
Stellen großer Dramen überkommt, daß uns dann
für Momente die Binde vom Auge fällt und wir uns wie
im Kern der Welt fühlen. Jn Shakespeare ist diese besondere
dramatische Kraft des Poeten so stark wirksam, daß seine
Person jetzt nach dreihundert Jahren beinahe so zur Mythe
geworden ist, wie dem Altertum bereits der Name seines
großen Epikers, des Homer. Ein blinder Bettelpoet, meint
man, könne den Glanz des Homerischen Epos nicht ersonnen
haben, ein ungelehrter Schauspieler nicht die Tiefe des
Shakespeareschen Dramas.

Das Drama ist also seiner poetischen Jdee nach ein
Weltbild für sich (ohne poetische Rahmen), und die Personen
in ihm handeln unter sich (ohne den Dichter). Das was
dieses Kunstwerk zusammenhält, muß demnach ganz in dasselbe
hineinfallen. Strenger als in jedem andern poetischen [109]
Gebilde, wird hier die künstlerische Anordnung und Auswahl
des Stoffes sein müssen.

§ 71. Bühnentechnik.

Hierin begegnet sich der Poet im Dramaturgen mit dem
Techniker, der in dem engen Rahmen eines Theaterabends
(2─3 Stunden) auf einem beschränkten, vielfach bedingten
Lokal (der Bühne) vor einer bunt zusammengewürfelten Menge
von sehr verschiedener Bildung und Fassungskraft ein Stück
Welt lebendig und greifbar machen soll. Die Forderungen
des inneren Baues (der Konstruktion) des Dramas werden
verstärkt durch diejenigen seiner äußeren Einrichtung bei der
Aufführung (seiner Oekonomie). Zeit und Raum müssen
nach Kräften ausgenutzt werden, ohne daß mit der Zeit Langeweile
oder Ermüdung, im Raume Leere oder Verwirrung
eintrete. Die Handlung legt sich daher in Hauptstücke (Akte)
und diese wieder in einheitliche Auftritte (Scenen) auseinander,
in denen immer wieder je ein bestimmter Entscheidungspunkt
die Spannung in Atem hält und zugleich nach
Möglichkeit alles für das Gesamtbild Notwendige an seinem
Teile angebracht wird. Zwischen die Akte trat als Abwechselung
bei den Alten der Chor in rein lyrischer Verwendung,
bei uns gegenwärtig Ruhepausen, mitunter noch mit Jnstrumentalmusik
ausgefüllt. Der Bühnenraum bestreitet bei erhobenem
Vorhang (während der Akte) das Phantasiebild des
Zuschauers. Dies fordert die Handlung, er darf daher nicht
leer bleiben („scène vide“), es fordert Uebereinstimmung, er
darf daher nicht willkürlich sein, zumal in unserer Zeit, die
von den ursprünglichen allgemeinen scenischen Andeutungen
zu sehr bestimmter, oft unnötiger, überladener Dekoration
fortgeschritten ist.

[110]
§ 72. Dramatische Komposition.

Das Jnteresse muß nach Stärke und Umfang zusammengehalten
werden: es darf nicht geschwächt, es darf nicht verzettelt
werden. Diesem Zwecke dient das entschiedene, durch
keine Abschweifungen aufgehaltene Hinaufführen der Handlung
auf ihren natürlichen Höhepunkt, auf dem die in ihr
zum Ausdruck gelangenden persönlichen Gegensätze voll aufeinanderprallen
und so den geforderten Abschluß der Handlung
in einem auffallenden Ereignis (sei es des Hasses oder der
Liebe: Tod oder Versöhnung) notwendig herbeiführen. Man
nennt diesen Höhepunkt der Handlung nach Aristoteles Peripetie,
d. h. ihren Umschlag ins Widerspiel der Begebenheiten
(Aristot. cap. 11. 1452a 23 sq. ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων
μεταβολή). Man wird nämlich leicht bemerken, daß
die Handlung im dramatischen Sinne immer so gebaut ist,
daß die im Anfange sich gut anlassende schließlich ihr Widerspiel
ins Schlechte erfährt, und umgekehrt anfängliche Trübsal
sich am Schlusse glücklich ausgleicht. Grade dadurch wird
der für fremde Schicksale notwendige, gleichsam materielle
Anteil (die Spannung) gesichert und diejenigen Handlungen,
die in diesem Sinne der Peripetie entbehren (Aristoteles' einfache
Handlungen im Gegensatz zu den verwickelten mit
Peripetie) werden nicht diesen besonderen dramatischen Eindruck
machen. (Sophokles' Oedipus in Kolonos).

Die Peripetie ist besonders eindringlich, wenn in ihr die
Personen der Handlung ganz sicher auf dem Punkte zu stehen
meinen, wo sich ihr Geschick ins Gute beziehungsweise ins
Schlimme wenden muß, während der Zuschauer aus den angesponnenen
Fäden das Gegenteil unabwendbar herankommen
sieht. So hat Aristoteles schon das Beispiel des Oedipus [111]
herangezogen, der den alten Hirten, den einzigen lebenden
Zeugen seiner Aussetzung, kommen läßt, um, wie er hofft, endgültig
von der Furcht vor dem Fluche befreit zu werden, aber
grade durch ihn die Gewißheit seiner Herkunft und damit die
furchtbare Begründung des Fluches erfährt. Wir können hier
als ebenso auffallend die „Braut von Messina“ unseres Schiller
anführen, in der die feindlichen Brüder beide die friedliche
Begleicherin ihres Geschicks gefunden zu haben wähnen, während
der wissende Zuschauer ahnt, daß es die eigene Schwester
und die letzte, tödliche Entfesslerin ihrer Rivalität sein müsse.
Hinwiederum findet die ausgestoßene, um den ermordeten
Vater und die geschändete Familienehre trauernde Elektra auf
den Höhepunkt der Verzweiflung den Mann, den sie als
rächenden, schützenden Bruder erkennt. Ebenso findet bei
Goethe der von Furien verfolgte Orest in dem Augenblicke,
da er geopfert werden soll, die Schwester Jphigenie als versöhnende
Priesterin der ihn heilenden Göttin.

Es ist schon aus diesen Beispielen klar, daß Erkennungen
(Aristoteles: ἀναγνωρίσεις) in der Peripetie eine
große Rolle spielen werden. Und zwar nicht bloß Erkennungen
der entscheidenden Personen an sich, sondern der um sie verflochtenen
besonderen Bezüge und Verhältnisse, die den Gang
des Dramas bestimmen. Die Dramatiker sichern sich gern
die augenfällige Bewährung, Bestätigung der Erkennung durch
Ringe, Briefe, körperliche, sonst verhüllte Kennzeichen, Male,
Wundnarben. Doch darf dies äußere Erkennen nur ein letztes
Siegel des inneren Erkennens der Sympathie, der gemütlichen
Bezüge sein, nicht umgekehrt diese sich an jene anspinnen.
Jn diesem Sinne grade eine auf das Trügliche der Erkennungsmerkmale
gegründete Peripetie sollte die des unvollendeten
Schillerschen „Demetrius“ werden.

[112]
§ 73. Exposition und Katastrophe.

An der Peripetie pflegt besonders scharf hervorzutreten,
welche Sorgfalt der Dramatiker auf eine geschickte Einführung
der vollständigen Vorgeschichte seiner Handlung, die Exposition,
zu verwenden hat. Jedes fehlende, aber auch jedes
überflüssige, vornehmlich aber jedes schief, d. h. ohne geraden
Bezug auf das untrennbare Gewebe der Handlung eingeführte
Moment wird im Verlaufe des Dramas fühlbar und demnach
die Wirksamkeit, ja die Möglichkeit der Peripetie hemmen.
Ein klassisches Beispiel, wie ein Motiv durch seine Emanzipation
von der ursprünglichen Handlung diese überwachsen
und in ihrer eigentlichen Jdee zu nichte machen kann, ist das
der Freundschaft des Marquis Posa in Schillers „Don Carlos“.
Aehnlich Weislingen in Goethes „Götz“. Doch hat Schillers
dramatische Lebendigkeit es vermocht, die Jntention seines
Helden so unmerklich und so fortreißend in die seines Freundes
hinüberzuführen, daß die Veränderung der Direktive des
Dramas kann an der Peripetie, freilich wohl an dem für
Carlos notwendig nachteiligen Abschluß des Dramas fühlbar
wird. Goethes „Götz“ teilt sich durch die Weislingenaffaire
in zwei gleichmäßige Kronen, von denen freilich die
eine so schön der andern als Folie dient, daß das Stück an
poetischer Wirksamkeit gewinnt, was es an dramatischer Schlagkraft
verliert. Man bezeichnet diese Konzentrirung des dramatischen
Fadens um einen bestimmten Mittelpunkt treffend mit
dem Bilde von der Schürzung des dramatischen
Knotens.
Mit der Peripetie beginnt sich nun dann dieser
Knoten zu entwirren, und es tritt das zu Tage, was als sein
notwendiges Ende von Anfang an in ihn gelegt war, die
Katastrophe.

[113]
§ 74. Tragödie.

Dieses griechische Wort (Katastrophe) hat nun, und zwar
vom Drama her, ganz die Bedeutung eines unglücklichen, erschütternden
Ausgangs angenommen. Ja, man bezeichnet einen solchen
Ausgang geradezu als tragisch, d. h. als den Ausgang einer
Tragödie. Das griechische Wort Tragödie würde demnach
einfach ein Drama mit unglücklichem Ausgang bedeuten.
Dies bedeutete es jedoch den Griechen selber nicht. Die
Griechen nannten ein Drama mit glücklichem Ausgange ebenso
gut Tragödie, ganz einfach darum, weil bei ihnen das Wort
noch die außerpoetische Bedeutung einer religiösen Kultushandlung
(des Bacchusopfers, eines Bockes τράγος) besaß,
während es für uns sich völlig mit der dramatischen Aufführung
deckt. Aus der Bedeutung aber, die das Wort angenommen
hat, kann man unschwer entnehmen, daß der tragische
Ausgang seiner Jdee nach ein unglücklicher sein muß. Etwas
von diesem Bewußtsein scheint trotz seiner sonstigen, die allgemeine
griechische Anschauung wiedergebenden Theorie die
berühmte Definition des Aristoteles von der Tragödie
(6. Kap. seiner Poetik) zu erfüllen. Dieselbe läuft
bekanntlich auf die merkwürdige Bestimmung der Aufgabe der
Tragödie hinaus, daß sie durch Mitleid und Furcht
eine Reinigung von solchen Leidenschaften
(τὴν
τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν) bewirke.

§ 75. Katharsis.

Diese Aristotelischen Worte von der Katharsis haben
die reichste und mannigfaltigste Auslegung erfahren. Ganze
Zeitalter und fast alle bedeutenden Geister haben sich mit dem
ihnen zugrunde liegenden Problem auseinandergesetzt. Aus
allen ihren mitunter stark abweichenden Erklärungen geht zum [114]
mindesten das eine hervor, wie eigentümlich, um nicht zu sagen
wunderbar den Menschen ihr ästhetisches Wohlgefallen an dem
Jammergeschick der tragischen Helden erscheint. Der tragische
Held leidet, und er leidet unverdient gerade im Sinne der
höheren Menschlichkeit. Ein auf ihm lastendes Geschick ruft
die Gegenwehr seiner ganzen Natur hervor, und wo der gemeine
Mensch durch Ausweichen und Nachgiebigkeit sich hindurchhilft,
unterliegt der tragische Held durch die Unbeugsamkeit
seines Willens. Diese Unbeugsamkeit des Willens ist die
vielerörterte tragische Schuld, die auf den reinsten, edelsten
Voraussetzungen beruhen kann (Antigone, Romeo und
Julia, Hamlet). Es ist nur die Konsequenz des ungemeinen
Charakters (die schon Aristoteles Poet. Kap. 15 als ὁμαλόν
berührt); es ist das Absolute der Menschennatur, welches in
der Tragödie seine Triumphe feiert. Auch im Schlechten
(Richard III., Makbeth, Wallenstein)! Aber während das
Schlechte, in der Verblendung des egoistischen Strebens befangen,
an den Grenzen, die dem Jch gesetzt sind, scheitert,
an der Unerschütterlichkeit der moralischen Weltordnung sich
bricht, überwindet das Gute die Welt, wenn auch in bitterem
Leiden und im selbstgewählten Tod (der tragische Wahnsinn
und Selbstmord).

So führt die Tragödie das Furchtbare und Mitleiderregende
in höchster Steigerung vor. Aber grade, indem sie
daran das Unzukömmliche, Schwankende, Trügerische des
Lebens klarlegt, im Gegensatz zu der unendlichen Aussicht,
die das unzerstörbare Triebwerk unseres inneren Wesens uns
eröffnet, grrade dadurch erhöht sie uns über das Leiden dieses
Lebens, beruhigt uns im Jnnersten über alle Rätsel des Geschickes.
Furcht und Mitleid, die härtesten aller Affekte, das
Grauen vor dem allgemeinsamen Vernichter Tod und das [115]
Mitgefühl mit dem Leiden aller sind überwunden dadurch,
daß wir in der Tragödie unserer selbst gewiß geworden sind.
Daher die ganz paradoxe, aber noch von jedem gefühlte Beruhigung,
die seelische Befreiung am Schlusse einer wahren
Tragödie, an der selbst unser physischer Organismus teilzunehmen
scheint (Medizinische, physiologische Erklärung des
Katharsis: Entladung).

§. 76. Analyse der Schillerschen Maria Stuart.

Jn Schillers Drama Maria Stuart giebt die Auseinandersetzung
des Wächters der in England gefangenen schottischen
Königin mit ihrer alten Amme Hanna Kennedy über die
grausame und ungerechte Behandlung Marias, zu der diese
selbst hinzutritt, eine lebhaft bewegte Exposition. Jhre früheren
Beziehungen sowie der gegenwärtige Stand der Dinge treten
bei diesem Kampf um die Wahrung ihrer Würde deutlich
hervor. Das Auftreten Mortimers, des in Frankreich für die
katholische Sache in der Person der Maria gewonnenen Neffen
des Kerkermeisters, bringt die Handlung ins Rollen. Jn ihm
ersteht der Maria ein zum Aeußersten entschlossener Helfer,
der mit ihrem mächtigen heimlichen Verehrer, dem Günstling
der Königin Elisabeth, Grafen Leicester, in Unterhandlung
tritt, zugleich so gewandt und verdachtlos, daß Elisabeth und
ihr Staatsminister Burleigh ihn mit einem heimlichen Mordauftrag
gegen die Maria betrauen können. Leicester giebt
den Ausschlag in dem im Staatsrat der Elisabeth zum Ausdruck
kommenden Verlangen, an Maria Gnade walten zu
lassen. Ja, er bestimmt sie sogar, den Bitten der Gefangenen
um eine Zusammenkunft in ihrem Kerkerschloß zu Fotheringhay
nachzugeben.

[116]

Das sind die beiden ersten Akte. Bis hierher läßt sich
Marias Sache sehr gut an. Am Anfang des dritten Aktes
sehen wir sie im Vollgenuß der aus Anlaß der Zusammenkunft
erlangten Freiheit, sich wieder in der Natur, im Parke,
ergehen zu dürfen. Da auf der Höhe des Stückes, in der
berühmten vierten Szene dieses Aktes, erfolgt die Peripetie.
Mit grausamer Kälte und unerträglichem Hochmut tritt Elisabeth
im Gefühl ihrer Macht der tief gedemütigten Feindin
entgegen. Sie stellt sich erstaunt, erzürnt über dies Zusammentreffen;
in unedlem Stolze triumphiert sie über die ihr zu
Füßen sinkende Unglückliche, so daß diese, nicht mehr fähig, an
sich zu halten, nunmehr die ganze Erbitterung, den ganzen
Trotz der durch die illegitime Gegnerin um ihre königlichen
Rechte gebrachten rechtmäßigen Herrin austoben läßt. Nun
ist alles aus. Elisabeth geht in höchster Wut. Ein mißglücktes
Attentat auf sie, bei der Zurückfahrt vom Schlosse
durch einen von Mortimers katholischen Genossen ausgeführt,
reizt die Volkswut gegen die papistische Ruhestörerin und giebt
Elisabeth die lang vermißte Rechtswaffe gegen sie in die Hand.
Die Anschläge Mortimers, des rasenden Verehrers der Maria,
mißlingen, da Leicester, um sich selber vom Verdacht zu reinigen,
ihn festnehmen läßt. Mortimer tötet sich selbst. Leicester
selbst muß die Katastrophe herbeiführen; der feigherzige,
doppelsinnige „Werber um zwei Königinnen“ muß an der
Geliebten selbst die Hinrichtung vollziehen. Und jetzt, Auge
im Auge mit diesem Aeußersten, im Angesicht des Todes erhebt
sich Maria zu jener tragischen Höhe, die „nichts mehr
auf Erden hat.“ Leicester hört ihr Haupt im Nebenraum
vom Blocke fallen und sinkt ohnmächtig nieder. Elisabeth, von
ihren Getreuesten verlassen, in vergeblicher Reue über das in
Leidenschaft verhängte Todesurteil muß den Verlust des Einzigen
beklagen, dem ihr Herz anhing, Leicesters.

[117]
§ 77. Das Drama mit glücklichem Ausgang.

Jst also der unglückliche Ausgang im Drama etwas seinem
eigentümlichen Ernste durchaus Gemäßes, ja von ihm Gefordertes,
so darf man ihn doch nicht zum charakteristischen
Merkmal des ernsten Dramas machen, im Gegensatz zu seinem
heiteren Pendant, der Komödie. Dies geschieht und geschah
vielfach. Jm Mittelalter konnte Dante sein heiligen
Ernstes volles Gedicht göttliche Komödie nennen wegen
des glücklichen Ausgangs (im letzten Teil, dem Paradiso). Das
Ankämpfen der edlen Natur des Helden gegen die Härte seines
Geschicks, das freudige, standhafte Ertragen der Schlechtigkeit
und Gemeinheit der Welt kann sittliche Mächte zu seiner
Rettung oder Entschädigung heraufbeschwören, die seine tragische
Schuld vor unseren Augen in ein überweltliches Verdienst
verwandeln. Die Alten gaben Dem Ausdruck dadurch, daß
sie die Person gewordene sittliche Macht, eine Gottheit, am
Schlusse in den Gang der Tragödie eingreifen, die unlöslichen
Fäden des Geschicks entwirren, den lastenden Fluch tilgen
ließen (Deus ex machina wegen der szenischen Einführung
des Gottes auf einer vom Himmel herabschwebenden Maschinerie).
Jm Christentum hat der unsichtbare Gott seine sichtbar gewordenen
Boten, Engel und Heilige, zur Verfügung. Die
Genien und gütigen Feen der Märchenwelt hat es gleichfalls
nicht ihres poetischen Amtes zu entsetzen vermocht. Jn beiden
Fällen wird gerade hier die Beihilfe der Musik mit ihrer das
Wunderbare realisierenden Macht dem Drama erwünscht sein.
Die Oper ist heute der rechte Boden für solche Vermittler
eines glücklichen dramatischen Ausgangs (die dei ex machina
der Gluckschen Opern, der fromme Einsiedler am Schlusse
des „Freischütz“, Carastro in der „Zauberflöte“). Am reinsten [118]
poetisch ist es, wenn die sittliche Macht des Helden sich selbst
rechtfertigt oder ihre rein menschlichen Helfer in Freundschaft
und Liebe wachruft. Derartige verklärte Gebilde hat auch am
vollkommensten Shakespeare geschaffen (Wintermärchen, Cymbeline,
Sturm). Daß sie auch in der Oper zu ihrem Rechte
gelangen können, beweist Beethovens überschwänglich herrlicher
„Fidelio“.

§ 78. Das bürgerliche Trauerspiel.

Mit der Verflüchtigung der dramatischen Spiele zur täglich
gewohnten Zerstreuung und Unterhaltung breiter Volksmassen
muß die Tragödie natürlich viel von ihrer spezifischen
Würde, ihrer gewissermassen transszendentalen Haltung in der
Behandlung der menschlichen Geschicke einbüßen. Das Alltägliche
mit seinen gewöhnlichen Gestalten und kleinlichen Verwicklungen,
mit einer die Neugier oder das Tagesinteresse
anlockenden (sensationellen oder aktuellen) Spitze wird hier
zum Vorwurf des Dramas. Daß der idealere Boden des
Mythos, den das antike Drama immer wieder neu zu gestalten
liebte, oder der historischen Begebenheit verlassen wird, würde
diese dramatische Gattung noch nicht so sehr von der Tragödie
scheiden. Als das sogenannte „bürgerliche Trauerspiel
im vorigen Jahrhundert unter dem Einfluß der demokratischen
Revolutionsbewegung einsetzte, verband man (Diderot und
Lessing) damit die höchsten dramatischen Absichten, die unsere
Klassiker zum Teil bewährten (Lessings „Miß Sarah Sampson“
und „Emilia Galotti“; Goethes „Clavigo“, Stella“; Schillers
„Cabale und Liebe“). Das äußerliche gesellschaftliche Verhältnis,
das den mythologischen und historischen Helden hebt,
macht ihn noch nicht zum tragischen Helden. Was ihn
zum tragischen Helden macht, ist sein eigentümliches Verhältnis [119]
zur Welt, sein besonderes Schicksal, die transszendentale
Freiheit, die er bewährt. Das hebt ihn über die gemeine
Masse und dazu braucht er weder Prinz, noch Heerführer zu
sein, obschon dann das Exponierte seines Standorts das Erschütternde
seines Falles (die „Fallhöhe“) an und für sich
steigert. Das gemeine Gesellschaftsdrama (Jntriguen-Sensations=Rührstück),
in dem familiäre Zerwürfnisse, ehelicher Zank,
häusliches Unglück, Schulden, Krankheit, Vererbung das allgemeine
Elend repräsentieren, entfernt sich vielmehr rein
künstlerisch von der poetischen Aufgabe des Dramas, die das
absolut persönliche Schicksal zum Gegenstande hat.

§ 79. Die Komödie.

Zu dieser Aufgabe kehrt dagegen die künstlerische Form
des heiteren Dramas, die Komödie (von κῶμος fröhliches
Gelage oder κώμη Dorf) wiederum zurück. Sie erwählt sich
das Bereich des allgemeinen Lebens bewußt zu ihrem
künstlerischen Gebiet. Aber indem sie sich darüber erhebt,
indem sie die tausend Mißstände, Unfälle und Verdrießlichkeiten
des Daseins in die Sphäre des Lächerlichen, des vom
rein menschlichen Standpunkt gar nicht ernst zu Nehmenden
rückt, dadurch wahrt sie sich von vornherein jene transszendentale
Freiheit, welche sich die Tragödie, wie wir sahen, gerade durch
das Auskosten der vollen Herbigkeit des Menschengeschickes
erwirbt. Der tragische Held scheitert durch die Größe seiner
Gesinnung an der Kleinheit, Enge und Gebundenheit der
Weltverhältnisse. Demgegenüber zeigt aber nun die komische
Figur,
daß darin die Erbärmlichkeit, Nichtigkeit und Gemeinheit
ebenso wenig zu ihrem Ziele gelangt. Sie wird
gleichermaßen desavouiert, geprellt, bloßgestellt, abgeführt und
giebt so wiederum dem wahren Menschheitsgefühle Gelegenheit, [120]
sich seiner selbst zu gewissern, hier in der Form, daß es
seiner selbst froh wird. Das eben ist das „Erheiternde“,
nach Aristoteles das unschädlich Lächerliche (γελοῖον οὐ
φθαρτικόν) der Komödie.

Es ist ganz natürlich, daß die Komödie von ihrem Anfange
an (in den grotesken politischen Karrikaturen des Aristophanes)
darauf verfallen mußte, den komischen Figuren,
überspannten Narren, eitlen Maulhelden, feigen Prahlhänsen,
Windbeuteln, Schuldenmachern, Parasiten, verliebten Greisen,
Kupplern, feilen Weibern u. s. f. wahre Menschen als Gegensätze
gegenüber zu stellen, die dann im vollen Gefühle der
Ueberlegenheit die Waffen des Witzes, der Schalkheit und
Jronie gegen ihre Umgebung anwenden. So schon der von
Gott Dionysos selber geführte tragische Dichter Aeschylos in
den die neuere Tragödienweisheit verspottenden „Wolken“ des
Aristophanes; so das klassische Muster dieser Art, Prinz Heinz
in der Falstaffkomödie Shakespeares.

§ 80. Gegensatzfiguren.

Die Gegensatzfiguren, in denen die komische Handlung
sich von selbst zu größerem Ernst und vollerem Gefühl erhebt,
vermögen den unlöslichen Zusammenhang zwischen Tragödie
und Komödie auch äußerlich kenntlich zu machen, der den
Platonischen Sokrates (im „Gastmahl“) zu der Behauptung
veranlaßt, daß ein guter Tragödiendichter auch ein guter
Komödiendichter sein müßte. Keiner giebt ihm mehr recht
als der größte aller, Shakespeare, dem diese spezifische Form,
durch Gegensatzfiguren Tragödie und Komödie einander anzunähern,
so eigentümlich ist, daß es dem Schulverstande von
jeher schwer fiel, sie auseinander zu halten, und er lange
Zeit an dieser Weise des spät ganz gewürdigten englischen [121]
Dramatikers den größten Anstoß nahm. Die Tragödie läßt
das Possenspiel zu dadurch, daß ihre Helden zu komischen
Gegensatzfiguren werden oder solche neben sich stellen. (Hamlet,
Merkutio in Romeo). Und die Komödie steigert sich zur
Tragödie, dadurch, daß sie tragische Gegensatzfiguren in sich
aufnimmt. Ein Stück wie Shakespeares „Kaufmann von
Venedig“ erzielt, voll auf dem Boden der Komödie stehend,
geradezu tragische Effekte. Der größte aller Komödiendichter,
Molière, hat in seinem Misanthrope einen sonst komischen
Charakter so scharf als tragische Gegensatzfigur gefaßt, daß
ihm zum tragischen Helden nichts weiter fehlt als die Tragödie.

§ 81. Die dramatische Fabel.

Der abgezogene Vorwurf des Dramas (μῦθος, argumentum,
Fabel, Süjet) stellt rein objektiv eine Geschichte,
eine Erzählung dar und läßt sich, wie jede thatsächliche Weltbegebenheit,
in einen historischen Auszug bringen. Viele
Dramen, diejenigen Shakespeares voran, lehnen sich an derartige
vorhandene Berichte von Historien und angeblichen Begebenheiten.
Ein solcher Berichterstatter nun objektiviert thatsächlich
die Begebenheit, dadurch, daß er sie als vergangen,
als abgeschlossen vorbringt, während der Dramatiker sie als
im Entstehen, als werdend vor unsere subjektive Anschauung
bringt. Der Berichterstatter wird somit der einzige Vermittler,
für uns das Durchgangsmedium für die ganze Begebenheit.
Es wird gar nicht fehlen können, daß im Dichter diese Art
Vermittlung wiederum eine besondere poetische Form annimmt.
Es ist die Form des Epos.

[122]
Kapitel 3. Das Epos.

§ 82. Verhältnis des epischen zum dramatischen Dichter.

Jm Epos kehrt der Dichter, der im Drama ganz hinter
sein Werk zurückgetreten war, wieder gleichsam auf den poetischen
Schauplatz zurück. Er selber trägt wieder seine Schöpfung
vor, bleibt bei seiner eigenen Stimme, wie der Lyriker. Aber
es ist nun nicht mehr seine eigene Angelegenheit, die er
vorträgt. Es ist ─ wie im Drama ─ eine Handlung
fremder Persönlichkeiten, die er aber nun als vollständige Begebenheit
zu unserer Kenntnis bringt. Und seltsam! Während
der Dramatiker in der gegenwärtigen Ausgestaltung seines
Vorwurfs bei aller Selbstentäußerung im Ganzen sich im
Einzelnen doch in jede seiner Persönlichkeiten verwandeln, sein
Subjekt in sie versetzen muß, steht nun der Epiker, obwohl
ihr einziger Vermittler, ihnen allen abgetrennt, streng objektiv
gegenüber. Er berichtet, was er von ihnen gehört und gesehen
hat. Er macht vorstellig, wie er sie gehört und gesehen
hat. Sie selbst aber sind nicht er. Er leiht ihnen nicht
seinen Atem wie im Drama, vergegenwärtigt sie, wie sie
gewesen sein können, sondern führt sie uns vor, ihre
eigenen Worte und Thaten, wie sie gewesen sind.

§ 83. Stellung des epischen Dichters zu seinem Stoff.

Das Drama ist also nach seiner äußeren Erscheinung (als
Thatsächlichkeit auf „den Brettern, die die Welt bedeuten“)
zwar realistischer, seiner eigentlichen poetischen Bedeutung nach
aber idealistischer, als das vorgeblich streng ans Vorhandene
sich anschließende Epos. Nun ist dies Vorhandensein, die
Wirklichkeit der epischen Fakta freilich zunächst nur ein poetisches
Vorgeben. Zwar der ritterliche Erzähler des Mittelalters [123]
versicherte sein gläubiges Publikum, daß er die Begebenheit
in einem Buche so gefunden oder noch besser von einem
Gewährsmann, Augenzeugen so gehört. Aber schon der
freier seines poetischen Amtes waltende Heldensang bezieht sich
nur im allgemeinen auf „alte Mären“, und gar der antike,
seines poetischen Rechts bewußte Sänger ruft die Göttin der
Einbildungskraft, die Muse, an, daß sie ihn durch bloße
Eingebung über die Geschichte seines Helden erleuchte. Diese
Anrufung der Muse (invocatio) ist mit mannigfacher Variation
des Bezugs (auf die christliche Gottheit) von der auf die
antike Kunst zurückgreifenden Geistesbewegung, der Renaissance,
wieder aufgenommen worden. Aeußerlich den Verhältnissen
der Neuzeit und dem Glauben der Dichter nicht recht entsprechend,
im Kerne aber die epische Tradition, das Anrecht
des Dichters auf poetische Ausgestaltung seines Stoffes von
vornherein wahrend.

§ 84. Epische Technik.

Die Ausgestaltung des Stoffes wird begreiflicherweise
schon im rein technischen Verstande wesentlich anders ausfallen
müssen als im Drama. Wo der Dramatiker unter allen Umständen,
selbst wenn er seine Bühne noch so fern von aller
Rücksicht auf das wirkliche Theater in die Luft hineinbaut,
immer das feste, scenisch abgegrenzte Bühnenbild vor die
Augen führt, hat der epische Dichter den freien, alles verknüpfenden
Raum unserer selbstthätigen Phantasie zur Verfügung.
Er wird daher ganz anders mit ihm schalten können
ohne Rücksicht auf Scenen, die er mit einander zu verbinden
hat, ohne Bedenken, woher er die Personen einzuführen und
wohin er sie abtreten zu lassen habe, ohne stete Beziehung
seines Vorwurfs auf das abgesteckte Teilchen Raum und Zeit, [124]
das ihm die Bühne dafür zur Verfügung stellt. Es ist daher
auch meist ein epischer Zug (wie in Shakespeares historischen
Stücken, Goethes Goetz und Faust), der den Dichter dazu
antreibt, im Drama die bühnengerechte Form zu sprengen;
wobei wir freilich bei Shakespeares kaleidoskopischem Scenenwechsel
die völlig kahle, dekorationslose Bühne seiner Zeit zu
berücksichtigen haben. Aristoteles fordert zwar vom Drama,
daß es auch gelesen oder episch (von Einzelnen) vorgetragen
seinen Eindruck mache. Aber mit dieser Forderung, die das
dekorative und schauspielerische Effektstück („Spektakelstück“)
ablehnt, hat er nicht hilflose Dramenschmiede ermuntert, die ohne
Gefühl oder Fähigkeit für die Gesetze des Dramas lediglich
unaufführbare poetische Zwitter in dramatischer Form (Buch=
oder Lesedrama) liefern.

Der epische Dichter darf also weit unbesorgter sich dem
poetischen Formungstriebe an sich hingeben, weit freier vom
geraden Wege der Handlung abschweifen, weit leichter die
Folge seiner Bilder, die nun nicht mehr feste Scenen sind,
sondern in einander übergehen, durcheinander schieben. Keine
äußere Fessel bindet ihn. Die Probe auf diese epische Freiheit
giebt das Auftreten der Romanze, gleichsam eines
herausgesprengten Teilchens aus einem epischen Ganzen (wie
der spanische Romanzencyklus vom Cid, den Herder verdeutscht
hat*). Wie wir in der Ballade den lyrischen Ansatz zum
Drama fanden, so sehen wir hier in der Romanze das Zurückgehen
des Epos in den Kreis des lyrischen Sängers.
(Schillers Romanze vom Grafen von Habsburg**). Und
beides, Ansatz zum Drama, wie Bestand des Epos, enthält [125]
die Jdylle (richtiger: das Jdyll εἰδύλλιον Bildchen),
die, wie ihr Name besagt, ein ruhendes, daher meist einfaches
(ländliches) Bild aus der bewegten Folge epischer
Begebenheit herausnimmt und in seinen besonderen (oft dialogisch
gehaltenen) Rahmen stellt.*) Die Eingangs erörterte
Theorie von der Entstehung des Volksepos aus Einzelgesängen
(romance heißt eigentlich Gesang in der romanischen
Volkssprache) stützt sich in Rücksicht auf die Poetik wesentlich
auf die Freiheit des Epikers und wäre für das Drama unmöglich.
Der epische Dichter schließt auch im Altertum als
Vortragender seine Rhapsodie (wörtlich „abgerissenes Stück
Gesang“), wann es ihm paßt, und der moderne Leser kann
sein Buch aus der Hand legen, wann er mag oder ihn ein
Geschäft abruft, beide, um zur beliebigen Zeit wieder an der
Stelle fortzufahren, wo sie aufgehört haben. Aeußere, kenntliche
Abschnitte, die sich zugleich als Pausen für das
Ruhebedürfnis ankündigen, dienen hier weit mehr der bloßen
Uebersicht, als inneren Gesetzen der Konstruktion, die höchstens
in ganz großen Partien ihre dem Drama analoge Entwicklung
(Exposition, Peripetie, Katastrophe) durchscheinen läßt.

§ 85. Epischer Stil.

Diese Freiheiten sind dem epischen Dichter aus inneren
Gründen seiner Form ebenso notwendig, als dem Dramatiker
die Beobachtung seiner strengeren Regeln. Er, der nicht die
Lebendigkeit der dramatischen Verkörperung, die Thatsächlichkeit
der scenischen Aufführung für sich hat, wird jedes Mittel, [126]
jede Möglichkeit, seine Hörer oder Leser an sich zu fesseln,
immer neu anzuregen, willkommen heißen. Daher empfiehlt
gleich für die Exposition Horaz dem Epiker, sich nicht umständlich
und peinlich an den zeitlichen Hergang seiner Geschichte
zu halten, sondern den Leser gleich mitten in die
Begebenheiten (in medias res) einzuführen, da die epische
Form leicht das Nachholen jeder für die Erzählung wichtigen
Vorbegebenheit auch später an geeigneter Stelle verstattet.
Es ist Pflicht des epischen Dichters, die Scenerie, die äußeren
Umstände seiner Vorgänge lebhaft zu verdeutlichen, die Einzelheiten
im Auftreten der Personen immer wieder neu zu berühren*),
nie zu vergessen, daß einzig er es ist, der alles vor
die Phantasie zu bringen hat. Aus dieser Einzigkeit seiner
poetischen Vermittlung nimmt er nun aber auch das Recht,
alles gleichsam in seine Sphäre zu ziehen, eine Einheit des
Tones über alle Vorgänge, ja auch über die Reden der verschiedenen
Persönlichkeiten auszubreiten, die der ausschließlichen
Charakterisierung im Drama geradezu entgegengesetzt ist. Ganz
besonders eignet diesem epischen Stile die Fähigkeit, auch
mitten in den Ausführungen der handelnden Personen ohne
unmittelbare Rücksicht auf den Austrag ihrer Angelegenheiten
bei den Sachen selbst behaglich zu verweilen, Gleichnisse auszuspinnen,
wie wir das in der Lehre von den Tropen schon
gesehen haben, Gedanken, Betrachtungen, Schilderungen einzuflechten,
in denen der Dichter unter oder hinter seinen
Personenen durchsichtig wird. Dies eben giebt dem epischen
Stile jene eigenthümliche Ruhe und Friedsamkeit, die selbst
schon der Effekt der höchsten poetischen Kunst ist und ihre [127]
beruhigenden Wirkungen auf das Gemüt des Hörers schon
in der Darstellung vorausnimmt.

§ 86. Gefahren des epischen Stiles.

Nur darf die Schilderungsfreiheit nicht so weit gehen,
daß sie zur Bildersucht und Beschreibungswut führt. Dadurch
kommt gerade wieder Unruhe und durch das Zuviel und
das Unpassende der Beschreibung Unbildlichkeit und Verschwommenheit
in die Darstellung. Denn der Dichter kann
und soll niemals geradezu mit den bildenden Künsten wetteifern,
sondern er kann höchstens durch seine besondere Kunst,
die Darstellung der Handlungen und Bewegungen,
die ruhende Darstellung des Malers und Bildners der
Phantasie ersetzen. Aber auch wieder in seiner besonderen
Weise! Nicht alles paßt für den Maler, was der Dichter
in rasch vorübergehender Andeutung dem inneren Auge vorführen
darf (Häßliches, Verzerrtes u. dgl.), und manches, was
beim Maler entzückt, würde in der Beschreibung des Dichters
trocken und langweilig wirken. Diesen Jrrtümern der „malenden
Dichter“ seiner Zeit ist Lessings Laokoon*) entgegengetreten.

§ 87. Nationalepos.

Der Vorwurf des Epos sind eben auch wie beim Drama
Handlungen, nur daß getreu dem veränderten Standpunkte
des Dichters das Schwergewicht weit mehr auf die Begebenheiten
gelegt wird, wie sie geschehen, und weniger auf die
Persönlichkeiten, wie sie sie machen. Der Held wird daher im
Epos mehr von den Begebenheiten getragen, als daß er sich
ihnen überordnet wie im Drama. Die Geschicke der Vielen [128]
(Verbindungen von Menschen, Stämme und Völker) treten daher
im Epos weit mehr in den Gesichtskreis. Sein ältester und
bester Vorwurf sind große Völkerschicksale, wie sie sich in den
Thaten ihrer Helden spiegeln, ein großes geistiges Besitztum
für jede Nation*). Doch muß dies früh und bedeutsam sich
einstellen, wie im Homerischen Epos bei den Griechen**) und
mindestens ähnlich in den deutschen Nibelungen. Was im
natürlich poetischen Jugendzeitalter des Volkes der schaffende
Genius versäumt hat, kann später selbst die beste Kunst schwer
ersetzen (Virgils Aeneis bei den Römern).

§ 88. Religiöses Epos.

Jnsofern das Nationalepos das Schicksal seiner Helden
und des durch sie vertretenen Volkstums unmittelbar an die
göttliche Fürsorge anknüpft, ja zwischen Göttern und göttergleichen,
gotterzeugten Wesen dabei gar keine absolute Unterscheidung
macht (Achilleus, Helena, Siegfried, Brunhilde), erscheint
es bereits seinem Charakter nach als religiöses Epos.
Doch hat die Erhebung des Christentums zur Weltreligion
und damit die Herübernahme der Bibel als historischen Dokuments
seiner Entstehung (Offenbarung!) dahingeführt, alle
daran anzuknüpfenden epischen Bestrebungen unter dem besonderen
Begriffe des religiösen Epos zusammenzufassen. Der
Sündenfall (Miltons „verlorenes Paradies“), die Thaten der
Erzväter („Patriarchaden“), Richter und Könige, die ja schon
in der Bibel selbst den Charakter des nationalen Heldengesangs
tragen, vor allem das Leben des Heilands als höchsten
göttlichen Helden (Evangelienharmonien, Miltons „wiedergewonnenes
Paradies“, Klopstocks „Messias“), so unepisch es [129]
als Passion auch hierbei aufgefaßt werden kann; ebenso die
Geschichte der Seinigen, seiner Eltern, vornemlich der jungfräulichen
Gottesmutter, der Apostel, Heiligen und Märtyrer,
endlich die symbolische und historische Erscheinung des Christentums
als Weltgericht und Weltmacht (Dantes „göttliche
Comödie“, Tassos „befreites Jerusalem“): alles ist unter dem
besonderen Schutze der kirchlichen Autorität zu allen Zeiten im
Ueberschwang episch behandelt worden. Der Mythus, den wir
oben als constitutives Prinzip der Poesie faßten, erscheint uns
hier im epischen Ausbau in mündlicher Ueberlieferung für
das Gebiet des Nationalepos als Sage, für das des
religiösen Epos als Legende. Späte häusliche Absenker
von beiden bilden den Schatz der Kinder= und Hausmärchen
(von den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm
in unübertroffener Weise aus dem Munde des Volkes gesammelt
und wiedergegeben).

§ 89. Das Tierepos.

Eine ganz besondere Stellung in der mythischen Welt
des Epos nimmt das Tierepos ein, das schon im Anschluß
an das Homerische in der griechischen Litteraturgeschichte auftaucht
(βατραχομυομαχία Krieg der Frösche und Mäuse)
und bei allen Völkern, besonders dem deutschen, Verständnis
und Pflege gefunden hat (Reineke Fuchs, von Goethe
erneuert). Es ist wohl möglich, daß sich auch im Abendlande,
wie in Aegypten und im Orient, mythische Symbole in den
Vorstellungen von gewissen Gottheiten geweihten Tieren niederschlugen
und so ursprüngliche Göttergeschichten unter tierischer
Maske fortspielen. Allein die natürliche Auffassung einer
Erniedrigung des Menschlichen in der Tierwelt ließ hier
sehr bald einen Kontrast zum Mythischen (der Erhöhung [130]
der Menschennatur in Götterbildern) und damit eine Parodie
des an die Gottheit geknüpften Heroischen herausfinden. Das
Tierepos wird also in seiner Jdee zu einer Parodie des
Heldenepos. Wie dort das Hohe und Ungemeine der Menschennatur,
so findet hier das Niedrige und ganz Gemeine des
großen Weltverkehrs seinen Sittenspiegel, in dem „das
Menschengeschlecht sich in seiner ungeheuchelten Tierheit ganz
natürlich vorträgt.“ (Goethe.)

§ 90. Komisches Epos.

Wir stehen somit im Tierepos bereits ganz auf dem
Boden eines komischen Epos, das dem heroischen, wie
auf dramatischem Gebiete die Komödie der Tragödie, gegenübertreten
müßte. Doch scheint der breite Rahmen des
Epos, der unbefangener als die Tragödie sogar bei den Alten
(Thersites in der „Jlias“ und die ganze „Odyssee“) das
Komische selbst oder eine leichte komische Beleuchtung (das
Abenteuer des Odysseus mit Polyphem) zuläßt, ein derartiges
Komplement nicht so entschieden zu fordern, wie die Komödie
es für die Tragödie bildet. Alles was daher als komisches
Epos oder unter dem Namen der Epopöe dafür auftritt
(Boileaus „Chorpult“, Popes „Lockenraub“ und die an ihn
anschließenden deutschen Versuche: Zachariäs „Renommist“),
behält im Gegensatze zur poetischen Naturnotwendigkeit der
großen Komödie immer etwas Kleinliches, Gemachtes,
Spielerisches. Das Vornehmen, einen möglichst geringfügigen
Gegenstand, also den Streit zanksüchtiger Pfaffen um ein
Chorpult, den Raub einer Locke, die Contrahage zwischen
einem Jenenser Burschenschafter und einem Leipziger Korpsstudenten
im Tone und mit allen Mitteln des Heldengedichts
zu besingen, macht eigentlich mehr die epische Dichtung überhaupt, [131]
als ihren Vorwurf in diesem besonderen Falle komisch.
Der Begriff des Komischen, auf das Epos angewandt, entäußert
dasselbe alsbald seines Grundrequisits der poetischen
Sprache,
die die Komödie in ihrer idealeren Voraussetzung
sich wohl noch wahren kann. Das Epos tritt, wo es komisch
seiner Jdee nach werden will, mit Notwendigkeit zur Prosa
über, wird zum Roman.

§ 91. Der Roman.

Der Roman ist die Form, in welcher die Auflösung
der Poesie in Prosa überhaupt vor sich geht: er ist noch
poetische Form, aber für eine rein prosaische Sache, er ist
nicht mehr Ausdruck des poetischen Standpunkts selbst, sondern
erörtert, commentiert ihn höchstens, weist auf ihn hin. Die
Hirten=, Zauber- und Abenteuergeschichten des Altertums
(Milesische Märchen; Lucians „Wahre Geschichten“, Longos
„Daphnis und Chloe“; Apulejus goldener Esel, worin das
holde Märchen von Amor und Psyche) zeigen schon früh den
Ansatz zum Prosaroman. Desgleichen die italienische Novellistik
des Mittelalters (Boccaccios „Dekameron“). Was man im
Mittelalter Romane nannte (poetische Werke in der romanischen
Landessprache im Gegensatze zum kirchlichen Latein,) hatte
noch Fühlung mit dem Epos, wenn es auch selbst bei seinen
Klassikern (in Deutschland Hartmann von Aue, Wolfram von
Eschenbach, Gottfried von Straßburg*) den Schwerpunkt
schon völlig in das Aeußerliche der bloßen Begebenheiten
(die „ritterlichen Abenteuer“) verlegt. Doch es wahrt mit
der poetischen Sprache noch immer den poetischen Helden
(den fahrenden Ritter), und ─ merkwürdig ─ erst mit dem
Verlust des poetischen Gewandes, mit der Zunahme der Prosa [132]
in der Romanerzählung beginnt es auch diesen einzubüßen.
Die völlige Vernichtung des epischen Helden in seiner nunmehrigen
traurigen Gestalt des durch die dürre Romanprosa
irrenden vorsündflutlichen „Ritters“ bezeichnet ein unsterbliches
Werk der Weltlitteratur, das erste und zugleich das Meisterwerk
des komischen Romans, Cervantes' Don Quixote.

§ 92. Komischer Roman.

Das giebt einen bemerkenswerten Fingerzeig für das
Bestimmen der eigentlichen Stellung des Romans in der
Poetik. Jm komischen Roman hat in der That das
heroische Epos sein komisches Pendant gefunden, das ihm auf
poetischem Grunde so gegenübersteht, wie die Komödie der
Tragödie. Der poetische Held, dessen Thaten das Epos trägt,
wird in ihm zur komischen Figur, die der unpoetischen
Welt, der platten Wirklichkeit Thaten aufzwingen will, Thaten,
die in ihr überflüssig, verkehrt und somit gerade im Verhältnis
zu dem auf sie verwendeten Ernste um so lächerlicher erscheinen.


Hier zeigt sich nun aber im Unterschied von der Komödie
die Natur des Epos schon darin vorteilhafter für den komischen
Helden, als es hier im Grunde nur die Begebenheiten
sind, die ihn zur komischen Figur machen, keineswegs aber
sein Charakter, sein verkehrtes Streben. Diese sind vielmehr
gut und tüchtig, der Schlechtigkeit der Welt überlegen, und
über sie unbelehrt und gerade nach ihrem inneren Gegensatz
zu ihr unbelehrbar. Daher die Meister des komischen Romans
(nach dem unsterblichen spanischen Schöpfer der Gattung besonders
Engländer, vornehmlich Lorenz Sterne, in Deutschland
Jean Paul) ihre Helden zwar mit jener Jronie behandeln,
welche die Erkenntnis ihres lächerlich erscheinenden [133]
Mißverhältnisses zur Welt nötig macht, im innersten Grunde
aber auf ihrer Seite (ja sozusagen sie selber) sind und
ihren Anteil an ihrem Geschick in jenem besonderen Humor
entladen, der die „lachende Thräne im Wappen führt.“
Wir sehen also, daß die Gegensatzfigur der Komödie gerade
hier erst auf epischem Gebiete sich recht ausleben kann, zu
ihrem poetischen Rechte kommt und so den Kreis der Poesie
in seinem Berührungspunkte mit der Prosa gleichsam abschließt.
Das Epos drohte im Roman der Prosa zu verfallen. Dadurch
aber, daß die Prosa komisch wird, wird sie wieder im Jnnersten
negiert, gerade dadurch wieder zur Poesie. Der komische
Roman ist der Botschafter der Poesie mitten im Gebiete der
Prosa.

§ 93. Jdee des Lebensromans.

Wahre Meisterwerke im Roman überhaupt sind daher
durchwegs im Zeichen des komischen Romans geschaffen und
nur in ihm möglich. Besonders deutlich wird dies an dem
klassischen Produkte dieser Gattung, Goethes Wilhelm Meister,
der nach dieser Richtung als Kanon dienen kann, da er gar
nicht als komischer Roman auftritt und dennoch die beschriebenen
inneren Kennzeichen desselben in verblüffendem
Maße aufweist. Wilhelm Meisters Belehrung über die
Unzukömmlichkeiten der Welt, denen er sein reines Streben
in den wunderlichsten Formen anzupassen sucht, endet mit der
Entsagung, d. h. mit der Einsicht von der Notwendigkeit
ihrer inneren Ueberwindung, durchaus nicht mit der Anerkennung
ihres wirklichen Treibens. Dies würde in sich zusammenfallen,
in allseitiger Empörung und Zerrüttung enden
ohne jenes in ihm verlachte reine Streben des unbelehrt und
in diesem letzten Grunde erfreulicherweise unbelehrbar [134]
Guten und Tüchtigen. Diese höchste Form des Lebensromans
spricht also nur trocken und ernsthaft aus, was der
komische Roman in das Gewand des Humors und der Jronie
kleidet, ohne doch vollständig auf dessen Farben in seiner
Schilderung gänzlich verzichten zu können. Denn der Jrrende
und Suchende, zumal nach einem sonst niemandem ringsum
angelegenen Ziele, wirkt immer lächerlich, mag er auch am
Schlusse wie jener Hirtensohn „statt seines Vaters Eselinnen
ein Königreich finden.“

§ 94. Jnhalt und Umfang des Lebensromans. Novelle.

Man sieht also, daß der Lebensroman von diesem Standpunkte
aus, der in der Prosa die Poesie zur Geltung bringt,
sich aller ihrer Vorwürfe in seiner Weise bemächtigen kann
und dies in unseren Zeiten der Prosa denn auch im ausgiebigsten
Maße thut. Beschränkt er sich hierbei in seiner
Breite und Beziehungsmöglichkeit, die sich früher gern in endlosen
Bänden erging (Gutzkows „Roman des Nebeneinander
(!): „Der Zauberer von Rom“, „Die Ritter
vom Geist“), so wird er zur Novelle. Die Novelle stellt
sich eine einzelne Begebenheit, ein isoliertes Lebensverhältnis
und dessen Durchführung zu einer in ihm spezifisch vorgebildeten
Katastrophe (Paul Heyses Exemplifizierung auf den
„Falken“ in der Novelle des Boccaccio) zum Vorwurf. Hierbei
kann sie in der leicht verfließenden Form die Charaktere
gewisser und reiner, die Situationen strenger und in sich geschlossener
halten, als der uferlose Roman. Die Meisterwerke
der Romankunst sind in diesem Betracht Novellen (Cervantes
novelas exemplares, Goethes Werther und Wahlverwandtschaften,
die reine Novellistik Gottfr. Kellers, Paul
Heyses u. a.).

[135]
§ 95. Jnhalt der Novelle vom Falken.
(Boccaccio, Decamerone II. Teil. Fünfter Tag, 9. Novelle):

Federigo degli Alberighi, ein junger, reicher Florentiner,
liebte eine Dame namens Giovanna. Er verschwendet
sein Vermögen in Festen und exzentrischen Aufzügen, aber
ohne auch nur die Aufmerksamkeit seiner Angebeteten auf sich
zu lenken. Sie, für die er sie giebt, ist die Einzige, die
nicht bei seinen Festen erscheint, in übermäßiger Wahrung
ihrer fräulichen Würde. Federigo richtet sich zugrunde und
muß schließlich auf einem letzten Bauerngütchen höchst eingeschränkt
leben, als einsamer Jäger, nur von einem vorzüglichen
Falken, einem Ausbund von Schönheit und Dressur,
begleitet. Da stirbt Giovannas kranker Mann, ihr Söhnchen
und an dessen Stelle sie zum Erben seines großen Vermögens
einsetzend. Der Zufall fügt es, daß auf einer ihrer benachbarten
Besitzungen der Knabe Bekanntschaft und Freundschaft
mit Federigo und seinem Falken schließt. Er ist ganz voll
von diesem Falken, und als er in eine Krankheit verfällt, weiß
er nur noch von diesem Falken zu sprechen und daß er ihn
haben müsse, wenn er nicht sterben solle. Das veranlaßte
die besorgte Muter, ihrem einstigen reichen Liebhaber einen
Besuch auf seinem Höfchen zu machen. Federigo empfängt
sie und ihre Begleiterin in der höchsten Freude. Aber ach!
Er, der früher Unsummen für sie vergeudet hat, ohne sie zu
sehen, er kann jetzt, wo sie ihm gegenübersitzt, nicht einen
Bissen aufwenden, um ihn ihr vorzusetzen. Kein Geld, kein
Pfand, nichts im Hause vorhanden! Da fällt sein Blick auf
seinen feisten Prachtfalken, und im Nu durchzuckt ihn die Jdee,
diesen zu schlachten, um ihn seiner Gebieterin auftischen zu
können. Gedacht, gethan! Nach dem Mahle bringt Giovanna [136]
zögernd ihr Anliegen vor, und Federigo ist nun vernichtet.
Thränen entstürzen seinen Augen. Er hat sich des Letzten
beraubt, was er der Geliebten hätte zuliebe thun können.
Giovanna, die zuerst glaubt, daß der Schmerz, sich von dem
Falken trennen zu sollen, ihm die Thränen entlockt, ist von
dem Sachverhalt aufs tiefste gerührt. Als das Söhnchen
wirklich stirbt und die Brüder in die reiche Witwe dringen,
sich wieder zu verheiraten, reicht sie nur dem Manne, der
sein Letztes für sie hingegeben hat, ihre Hand. Denn wie sie
den Einwürfen der Brüder über seine Bettelarmut entgegenhält:
„Jch will lieber einen Mann, der den Reichtum nötig
hat, als Reichtum, der einen Mann nötig hat.“

§ 96. Poetisch herabziehende Tendenz des Romans.

Ja, der Roman rivalisiert hierbei schon mit den ganz
auf prosaischem Boden stehenden Wissenschaften, zumal denen
der Menschenkunde im weitesten Sinne, der Geschichte, der
Psychologie, der Aesthetik und Kunstwissenschaft, um hier den
philosophischeren Standpunkt der Poesie, das φιλοσοφώτερον
und καθ' ὅλου des Aristoteles (Poet. cap. 9), das in die
inneren Tiefen und wahren Verhältnisse der Stoffe einführt,
zur Geltung zu bringen. Wie kläglich er hierbei als historischer
Roman, Künstlerroman
und namentlich in allerneuester
Zeit als Seelen=(krankheits)=gemälde oft den bezüglichen
Wissenschaften ins Handwerk pfuscht, kann freilich nicht
unbemerkt bleiben.

Es liegt im Roman, das kann nicht verschwiegen werden
und erhellt aus seiner ganzen Stellung innerhalb der Poetik, eine
herabziehende Tendenz, die, sobald ihr der überlegene Standpunkt
des Poeten mangelt, das so eigentümlich auf den
prosaischen Grund gebaute Werk noch unter die Prosa hinabzieht. [137]
Das rein stoffliche Unterhaltungsbedürfnis der Menge,
das sich früher lediglich am Leben genugthat, hat in unseren
abstrakten Lebensverhältnissen durch die gütige Vermittlung
der Buchdruckerkunst hier seine Rechnung gefunden, die nun
schon seit drei Jahrhunderten Myriaden von Fabrikanten ganz
geschäftsmäßig ausnutzen. So wenig dagegen im gesellschaftlichen
Sinne zu sagen ist (wenn nicht eben öffentliches Aergernis
dabei in irgendwelchem Sinne die Polizei einzuschreiten
zwingt, was unter eine ganz andere Rubrik der Betrachtung
fällt), so sehr ist es vom poetischen Standpunkt aus zu beklagen,
daß dadurch der in dieser Welt allzeit hart bedrängten Poesie
in unserer Zeit das Dasein noch mehr verkümmert wird, als
gewöhnlich. Die Aufnahmefähigkeit des Publikums leidet
unter der übermäßigen Quantität des absolut Unpoetischen
und Widerpoetischen, das der Roman in Vertrieb bringt, nicht
bloß im rein ökonomischen Bezuge. Auch der Sinn für das
Poetische muß geradezu abgestumpft werden, dadurch, daß
jahraus, jahrein diese Köder der Phantasie hinuntergeschlungen
werden, welche die gemeinen Voraussetzungen und Erfahrungen
der Menge, ihre stumpfen Anschauungen von Pflicht und Verdienst,
ihre alberne Gier nach äußeren Glücksumständen, ihre
grausame Freude am Schrecklichen und Verbrecherischen in der
Form bunter Jllusionen und spannender Situationen dem
Publikum auftischen. Dieses unterscheidet sich hier bald nicht
mehr nach Rang, Stand und Bildung. Der Roman ist ein
nivellierender Faktor in unserer demokratischen Zeit, zumal
seitdem die Zeitung den Roman unter ihre ständigen Hilfstruppen
zur Vertreibung der Langeweile („unter dem Strich“)
eingestellt hat. Wie derselbe Ton der Unterhaltung hier dem
Salon und der Gesindestube genügt (bald der letzteren noch
der gewähltere), so kann es nicht fehlen, daß auch der höherstehende [138]
Autor in der Romanproduktion wie von selbst auf
ein Niveau geraten kann, das mit dem poetischen so gut wie
nichts mehr gemein hat.

§ 97. Die Fabel.

Die Erzählung an sich, das epische argumentum, wird
so im Roman leicht Selbstzweck, will rein durch sich selbst
(das Aufregende, Lüsterne, Prächtige &c. der Situation), ohne
jeden Bezug auf poetische Jdeen wirken und gerät so unter
die Prosa, soweit diese Mittel des vernünftigen Verkehrs
der Geister ist. Dagegen haben wir den Fall, daß das
epische Argument durch sich selbst ohne jede poetische Beziehung
doch poetisch wirke, wenn es im Ganzen nach einer
Jdee angelegt ist, die sich zwar darin nicht ausspricht, aber
durch naheliegenden Vergleich von uns erschlossen werden
kann. Diesen Fall haben wir in der Fabel. Der spezifische
Vergleichswert der Fabel tritt schon darin hervor,
daß sie weitaus das oben angeführte epische Gebiet der menschenähnlichen
Tierexistenz (Tierfabel) bevorzugt, aber auch das
Unbelebte und rein Abstrakte, alle Reiche der Natur (Blumen,
Bäume, Steine &c.) wie des Gedankens (Personifikationen
aller Art) in ihren Dienst stellt und so zur ausgeführten
Allegorie wird. Daß sie vergleichsweise aufzufassen
sei, sagt eigentlich der Name der Parabel, die zwar auch
ohne diese allegorischen Requisiten eine Geschichte durchführen
kann, doch so, daß man ihrer poetischen Bescheidung und
Deutungssicherheit alsbald ihr lediglich umschreibendes (parabolisches)
Verhältnis zu der in ihr enthaltenen Lehre anmerkt.
Derartig sind die biblischen Parabeln (kluge und thörichte
Jungfrauen, der verlorene Sohn u. s. w.), und ihnen hat mit
Ausnützung des heidnischen Mythus für diesen Zweck Herder [139]
seine Paramythien zur Seite gestellt. Jn der Fabel
hört die Poesie bewußt auf, Selbstzweck zu sein. Sie spricht
ihre Anschauung von der Welt nicht mehr für sich selbst aus,
sondern mit direktem Bezug auf die abstrakte philosophische
Wahrheit. Sie fügt denn auch diese Wahrheit als
Lehre (meist moralischer Art: die „Moral der Fabel“) mit
gutem Recht am Schlusse an. Sie vergiebt sich dadurch nichts.
Die Poesie hat aus ihrem eigensten Schatze (der Vergleichung)
der strengen Lehre etwas geborgt. „Die Wahrheit
braucht die Anmut der Fabel“ sagt Lessing*), der in diesen
Anlehen bei der Poesie zum Vorteil der Wahrheit unerschöpflich
war. Aber der Schwerpunkt ist dadurch in der
Fabel bereits aus dem Bereiche der reinen Poesie gerückt.
Er fällt in die Lehre und Lehrdichtung; an die Fabel
anknüpfend ist jedes äußerlich dichterische Erzeugnis, von dem
sich dies sagen läßt.

§ 98. Die Lehrdichtung.

Es ist lange Zeit hindurch ein folgenschwerer Jrrtum der
Poetik gewesen, diese Grundwahrheit nicht erkannt zu haben
und, durch den pädagogischen Wert der Fabel und ihre Verbreitung
bei allen Völkern (der orientalische Lokman, der
griechische Aesop &c.) verführt, in ihr den Kern aller Poesie
zu erblicken (so auch die sonst um die Berichtigung und
Aufhellung der poetischen Theorie sehr verdienten Schweizer,
Bodmer und Breitinger). Aus diesem Grundirrtum folgte die
für die Stellung und die Ausübung der poetischen Kunst verderbliche
Ansicht, daß die Poesie erlernbar sei und behufs
einer „geschickten Anwendung der Wahrheit“ erlernt werden [140]
müsse. Dies schadete dem Selbstrecht der Poesie und der sehr
besonderen geistigen Stellung des Dichters als Künstler. Es
führte zu der seltsamen Meinung, in der vorgeblichen festen
poetischen Form der Didaktik und mit der Autorität philosophisch
begeisterter Alten (Lucrez, de natura deorum) alles
Mögliche aus allen möglichen Lehrfächern bis zur Kuhpockenimpfung
poetisch zu behandeln. Die Poesie ist nicht die Sprache
des Kompendiums, und in diesem Verstande giebt es keine
Lehrdichtung
für die Poetik. Wohl aber ist die Wahrheit
und ihr Diener, der Gedanke, für den Poeten da.
Jn diesem Sinne sind Ausdrücke wie „Gedankendichtung“
(besonders in der Form der „Gedankenlyrik“) ein für den
Dichter keineswegs schmeichelhafter Unsinn, da sie es so darstellen,
als ob Denken und Dichten Gegensätze und ein Dichten
mit Gedanken nur ein zufälliger besonderer Umstand sei.

§ 99. Dichter und Denker.

Nein, der Dichter denkt, wenn er einer ist. Er „denkt
den großen Gedanken der Schöpfung noch einmal“ wie der
wissenschaftliche Denker. Nur denkt er ihn nicht abstrakt,
methodisch und im historischen Verbande der gelehrten Tradition,
sondern konkret, organisch und in seinem besonderen
Sinne. Diesen seinen besonderen Sinn, den auch der originale
Denker in die Wissenschaft hineinbringt, nur daß er ihn
darin systematisch zum Ausdruck bringt, giebt ihm das tiefe
Gefühl für die Einheit und Jdealität des Weltzusammenhanges,
jenes besondere Organ, aus dem nach jenem Franzosen
auch „die großen Gedanken kommen“: das Herz. Ein erhabenes
Muster für die poetische Bewältigung selbst der abstraktesten
Probleme des Gedankens giebt gerade in diesem
Bezuge die philosophische Dichtung eines deutschen Dichters, [141]
unseres Schiller. Eigenste Bekenntnisse seines schmerzlichen
Ringens um den Dichterberuf sind „die Künstler“,
„Pegasus im Joch“, „die Macht des Gesanges“ im Gegensatz
zum „verschleierten Bild von Sais“ der Wissenschaft.
Er bekennt seine „Resignation“, das Scheitern der
„Jdeale“ an der harten Wirklichkeit, die ewige Unvereinbarkeit
von „Jdeal und Leben“, aber auch seinen Glauben an den
segensreichen Trost der Freundschaft und Arbeit, wie an die
„Würde der Frauen“ gegenüber dem feindlichen Streben des
Mannes. Es ist vor allem eine echt Schillersche Jdee, in
den Gedanken und Reden des Meisters beim Glockenguß den
harmonischen Ausgleich von Natur und Freiheit in der modernen
bürgerlichen Welt dem Sinne des Volkes nahezubringen,
an dem ewig gleichförmigen Feierklang der Glocke, wie über
einem poetischen Grundbaß, das ganze bunte Spiel des Lebens,
den unendlich mannigfaltigen Tanz der Welt aufziehen zu
lassen.

[E142]

Personenregister. ──────


Aeschylus 120.


Aesop 139.

Alcaeus 80.

Anakreon 68.

Apulejus 131.

Ariost 69.

Aristophanes 120.


Aristoteles 7. 36 f. 106.
110 ff. 136.

Asklepiades 89.

Beethoven 118.

Boccaccio 131. 134.

Bodmer 8. 139.

Boileau 7. 94. 130.

Brant (Sebastian) 68.

Breitinger 8. 139.

Byron 95. 97.

Carrière 9.

Cervantes 132.

Chamisso 95.

Clajus 54 Anm.

Christ 50. 62.

Dach (Simon) 101.

Dante 7. 31. 94. 117. 129.

Diderot 118.

Eichendorff 101.

Fischart 68.

Fleming 22. 80.

Freiligrath 22. 70.

Gluck 117.


Goethe 8. 18. 22. 47. 73.
93. 95. 99. 101 ff. 112.
118. 124. 129 ff. 133.

Gongora 46 Anm.


Gottfried von Strassburg
55. 131.

Gottsched 7.

Grabbe 12.

Grimm (Brüder) 129.

Grillparzer 72.

Gutzkow 134.

Hartmann von Aue 131.

Hebel 22.

Heine 63. 64 f. 101.

Heyse 76. 134.

Herder 27. 72. 138.

Homer 18 f. 39. 42. 63.
74. 108. 128.


Horaz 7. 26. 33. 77. 85.
86. 126.


Humboldt, Wilh. v. 27.
78. 94.

Jambe 52.

Jean Paul 103.

Iuvenal 103.

Kästner 68.

Kant 8. 24. 105.

Keller 134.

Kleist Ewald v. 78.


Klopstock 31. 32 f. 58.
63. 82 f. 88 f. 128.

Konrad v. Würzburg 63.

Lenz 12.


Lessing 8. 26. 47. 107.
118. 127. 139.

Lokman 139.

Lombroso 11.

Longos 131.

Lueian 131.

Lukrez 140.

Lyly 46. Anm.

Marini 45.

Martial 103.

Michel Angelo 94.

Milton 8. 31. 69. 128.

Mörike 49. 80 f. 125.

Molière 121.

Mozart 117.

Opitz 56. 63. 68. 73.

Petrarca 7. 93.

Pindar 87.

Platen 57. 73. 77. 79.

Platon 7. 120.

Pope 130.

Raimund 73.

Reuter 22.

Rückert 80.

Sachs Hans 68.

Sannazaro 34.

Sappho 88.

Scaliger 7.


Schiller 8. 9. 17. 20. 57.
61. 77. 95. 103 f. 111 f.
115 f. 118. 141.


Shakespeare 16. 25 f. 94.
108. 120 f. 124.

Spenser 97.

Sterne 132.

Stolberg 63.

Tasso 31. 69. 129.

Uhland 79. 101.


Ulrich von Lichtenstein
63.

Vida 7.

Virgil 49. 95. 128.

Vischer 16. 38 f. 102.

Voss, Joh. Heinr. 22. 63.


Walter v. d. Vogelweide
63. 80.

Wernike 103.

Wieland 63.


Wolfram v. Eschenbach
131.

Zachariae 130.

[E143]

Sachregister. ──────


Abgesang 87.

Act 109.

Adonius 83.

Akademisch 19.

Akatalektisch 67.

Alcaeisch (Vers) 82.

„ (Strophe) 88.

Alexandriner 67. 69. 71.

Allitteration 55. 70. 90.

Anakoluthie 49.

Analogie 37.

Anapäst 62. 64. 79.

Anaphora 49. 51.

Annomination 49. 51.

Anschauung 10 f.

Anschaulichkeit 21.

Antik 13. 16 f. 54. 56.

Antithese 45.

Apokope 57.

Aposiopese 48.

Arsis 53.

Asklepiadeus 84.

Assonanz 90.

Asynartetisch 85.

Asyndeton 46.

Auftakt 60 ff.

Ballade 101 f. 124.

Bibel 19. 35. 42. 52 f.

blanc vers 68.

Caesur 66 ff.

Charaktere 24 f.

Chor 53. 64. 73. 87. 104 f.

Choral 105.

Choriambus 83.

Cidromanzen 72.

Concetti 45.

Cretici 83.

Dàctylus 57. 62. 63. 73.

Dialogismus 48.

Diaerese 66 f.

Dichter 23 ff.

Dichtersprache 29 f.

Distichon 85. 89.


Drama 23. 24. 101 f. 106 ff.
222.

„ antikes 26.

Edda 19. 33.

Einheiten 107.

Elegeion 103 f.

Elegisch 12. 100. 103.

Ellipse 48.

Emphase 44 f.

Enjambement 67.

Epigramm 102 f.

Epitheton 39.

Epodos 87.

Epopoee 130.

Epos 24. 101. 122 ff.

Euphuismus 45.

Exposition 112. 125.

Fabel 138.

Figuren 41 ff.

Freidank 56.

Franzosen 25 f. 47. 107.

Galimathias 42.

Genie 10 f.

Geschmack 15.

Gleichniss 34 ff.

Glykoneus 83. 89.

Grammatiker 38 f. 41.


Hebung(svers) 54 ff. 63.
69 f.
Hexameter 24. 57 f. 63.
74 ff. 85.

Hiatus 57.

Hildebrandslied 70.

Hyperbel 41 f.


Hyperkatalektisch 67.
71.

Humor 133.

Hymnus 105.

Jambus 28. 62. 64. 67 ff.

Idealismus 16. 20 f.

Idee (Ideal) 13 ff. 23.

Interrogatio 41. 48.

Intuition 10 f.

Inversion 47 f.

Ironie 43.

Katachrese 37.

Katalektisch 67.


Katastrophe 112 f. 117.
125.

Katharsis 113 f.

Klassisch 17.

Klimax 45.

Knittelvers 63.


Komisch 12. 103. 117.
119. 130. 132 f.

Komoedie 117. 119 f.

Kudrun 18. 71.

Kultismus 46.

Lehrdichtung 139 f.

Lied 24. 100.

Litotes 41 f.

logaœdisch 83. 85.

Lyra 24. 99.

Madrigal 94,

Märchen 18 f. 131.

Manier 22.

Meistersinger 61. 87.

Melodie 86.

Metapher 36 ff.

Metonymie 38.

Metrik 52 ff.

Milieu 27.

Minnesang 87.

Misterien 106.

Modern 13. 16 f.

Muse 123.

Musik 17. 24. 51 f. 60.

Mystik 30 f.

Naiv 13.

Naturalismus 15. 20. 25.

Naturpoesie 18 f.

Negation 43.

Nibelungen 18 f. 128.

„ Vers 107.

Novelle 134.

Ode 100.

Oromatopoesie 50.

Oper 24. 106. 117.

Oxymoron 45.

Panegyrikus 103 f.

Parabase 73.

Parabel 138.

Paradoxon 45·

Parallelismus 53.

Parenthese 47.

Pathetisch 12.

Pentameter 84 f.

Peripetie 110 f. 116. 125

Periphrasis 39.

[144]

Personification 38.

Phantasie 11 f.

Pherekrateus 87.

Pointieren 42 ff.

Polysyndeton 46.

Praegnanz 44.


Praesens (historisches)
44.

Prosa 29 f. 40.

Quibbles 45.

Realismus 15 f. 21.

Reformation 31.

Refrain 81. 92.

Renaissance 32. 56.

Rhapsode 7. 125.

Rhetorik 53. 57.


Rhetorische Frage s.
Interrogatio.

Reigen 53.

Reim 89 ff.

Reineke Fuchs 129 f.

Roman 54. 131 ff.

Romantik 17 f. 43. 101.

Romanze 124.

Sapphisch (Vers) 82.

„ (Strophe) 88.

Sarkasmus 43.

Satire 100. 103.

Scene 108.

Schäferpoesie 50.

Schönheit 14.

Seher 20.

Senar 69.

Sentenz 46.

Sentimentalisch 13. 17.

Serbische Volkslieder 24.


Singular (emphatischer)
45.

Sonett 92 f.

Sprache 29 ff. 56.


Sprachbewegung 42. 45 f.
50.

Stanze 69. 95 f.

Stichomythie 45.

Stil 16 ff. 21 ff. 87.

Stillosigkeit 26 f. 42.

Strophe 86 ff.

Symbolisch 17.

Synekdoche 38.

Synkope 57. 59 ff.

Syntax 47. 49.

Takt 52. 58 ff.

Tanz 41. 52 f.

Temperament 124.

Terzine 69. 94.

Theater 26 f.

Thesis 53.

Tragisch 12. 113.


Tragiker (griechische)
16.

Trimeter 68.

Trochaeus 62. 64. 72 f.

Tropen (kirchliche) 106.

Typen 22.

Urpoesie 20. 29 f. 42.

Vers communs 68.

Versform 23 f. 50 ff.

Versfüsse 65. 66 ff.

Volkslied 18 ff. 24. 101.

Weltschmerz 17.

Wort 14. 29 f. 40.

Wortspiel 49.

Wunderbare (das) 8.

[E145]

Staatsanzeiger: Das 20. Bändchen, das einen Abriß der
deutschen Grammatik und im Anhange eine kurze Geschichte der deutschen
Sprache enthält, enthält ebenfalls eine gute Uebersicht der deutschen
Sprachlehre und deutschen Sprachgeschichte. Die klare und knappe Darstellung
giebt auf engem Raum einen überraschend reichen Stoff, sie
ist mehr ins Einzelne eingehend, als das kleine Bändchen erwarten läßt.

Pfälz. Kurier: Auch in der griechischen Altertumskunde von
Dr. R. Maisch ist die Darstellung concis und, ohne den wissenschaftlichen
Charakter zu verleugnen, populär im besten Sinne des Wortes.
Druck und Papier sind, wie bei allen Bändchen der „Sammlung
Göschen
“, vorzüglich; der Einband ist gut und geschmackvoll. Dal ei
ist der Preis (80 Pf. jedes Bändchen) so niedrig, daß schwerlich ein
anderes Unternehmen mit der Göschen'schen Sammlung wetteifern
kann. Ja, es ließe sich denken, daß sie, was den Preis betrifft, eine
vollständige Umwälzung in der Schulbücherlitteratur hervorrufen
könnte.

Lehrer-Zeitung: Wenn eine kurzgedrängte physikalische Geographie
aus der Feder eines so tüchtigen Fachmannes, wie es Prof.
Günther in München ist, erscheint, so ist von vornherein zu erwarten,
daß das nur etwas Gutes sein kann. Jeder, der das Buch
liest, wird sehen, daß er sich in dieser Erwartung nicht getäuscht hat.

Ausland: Kaum je ist mir ein Buch zu Gesicht gekommen,
das wie Rebmann's Anthropologie auf so kleinem Raum ein so klares
Bild von dem Bau und den Thätigkeiten des menschlichen Körpers geboten
hätte. Jch kenne wohl eine Anzahl tüchtiger Leitfäden der
Anthropologie, aber keinen, der seine Aufgabe so elementar erfaßt und
mit geringen Mitteln so glücklich gelöst hätte. Jch stehe nicht an,
das Werkchen als ein für den Unterricht höchst brauchbares zu bezeichnen.
Die Herren Naturwissenschaftler an Gymnasien und Realschulen
mache ich auf das kleine Buch besonders aufmerksam.

Littbl. d. dtsch. Lehrerztg.: Wir haben schon mehrfach in
diesen Blättern die „Sammlung Göschen“ warm empfohlen und
müßten nur wiederholen, was wir schon gesagt haben, wenn wir ihre
Gediegenheit bei aller Kürze, ihre schöne Ausstattung bei dem sehr
mäßigen Preise noch besonders hervorheben wollten. Die beiden Bändchen
„Hartmann von Aue &c.“ und „Walther von der Vogelweide“
geben eine Auswahl des Besten aus dem Besten unserer altklassischen
deutschen Litteratur im ursprünglichen Text und gewähren somit für
ein Billiges einem jeden Gebildeten die Möglichkeit, die alten Perlen
unserer Litteratur in ihrer kernigen, krastvollen Ursprache selbst kennen
zu lernen. Einer weiteren Empfehlung bedürfen demnach diese beiden
Bändchen nicht.

Allg. Zeitung (München): Ellinger bietet in „Kirchenlied und
Volkslied, geistliche und weltliche Lyrik des 17. und 18. Jahrhunderts
bis auf Klopstock“ den Schülern ein Handbuch, das den Verständigeren
für den deutschen Unterricht aewiß hochwillkommen ist. Den beiden [E146]
größeren Teilen des Buches sind gut orientierende Einleitungen vorangestellt;
jedem Dichter ist eine kurze Notiz beigegeben, die über sein
Leben und seine Bedeutung unterrichtet; Anmerkungen suchen sprachliche
Schwierigkeiten zu lösen. Dem Büchlein, das seinem Zwecke
völlig entspricht, sei der beste Erfolg gewünscht.

Berl. philolog. Wochenschrift: Steuding, griechische und
römische Mythologie. Die überaus schwierige Aufgabe, den wesentlichsten
Jnhalt auf nur 140 Kleinoktavseiten übersichtlich und gemeinverständlich
darzustellen, ist von dem Verfasser des vorstehenden, in der
bekannten Art der „Sammlung Göschen“ ausgestatteten Büchleins in
höchst anerkennenswerter Weise gelöst worden. Vor allem verdient
die Gruppierung des überreichen Stoffes uneingeschränktes Lob. St.
vertritt eine kerngesunde, von jeder Einseitigkeit freie mythologische
Richtung und ist redlich beflissen gewesen, auch die Forschungsresultate
der neuesten Zeit seinem Leitfaden einzuverleiben. Wir wünschen dem
Büchlein die Verbreitung und Anerkennung, die es verdient.

Zeitschr. f. dtsch. Unterricht: Die „Althochdeutsche Litteratur“
Schaufflers ist eine hocherfreuliche Gabe; sie beruht überall auf den
neuesten Forschungen und giebt im Anschluß an Braune, Sievers, Paul,
Müllenhoff und Scherer u. a. überall das Wichtigste und Wissenswerteste
in knappster Form. Es ist stauneuswert, wie es der Verfasser
verstanden hat, eine Fülle von Stoff in übersichtlicher Anordnung auf
einen geringen Raum zusammenzudrängen, ohne doch jemals dürftig
oder bloß statistisch zu werden.

Natur: Es ist geradezu erstaunlich, wie es der rühmlichst bekannte
Verlag ermöglicht, für so eurom billige Preise so vorzüglich ausgestattete
Werkchen zu liefern. Das vorliegende Bändchen bringt in
knapper und verständlicher Form das Wissenswerteste der Mineralogie
zum Ausdruck. Saubere Abbildungen erleichtern dem Schüler, für den
es in erster Linie bestimmt ist, das Verständnis.

Globus: Es ist erstaunlich, wieviel diese kleine Kartenkunde
bringt, ohne an Klarheit zu verlieren, wobei noch zu berücksichtigen ist,
daß viele Abbildungen den Raum stark beengen. Vortrefflich wird
die Kartenprojektionslehre und die Topographie geschildert; dieselben
finden sich in einer Darstellung, die für Anfänger sehr geeignet ist und
dabei ist noch Platz für geschichtliche Erläuterungen vorhanden.

Nationalzeitg.: Es ist bis jetzt in der deutschen Litteratur
wohl noch nicht dagewesen, daß ein Leinwandband von fast 300 Seiten
in vorzüglicher Druck- und Papierausstattung zu einem Preis zu haben
war, wie ihn die „Sammlung Göschen“ in ihrem neuesten Bande, Max
Koch's Geschichte der deutschen Litteratur für den Betrag von sage
achtzig Pfennige der deutschen Leserwelt bietet.

Deutsche Rundschau: Es wäre höchst ungerecht, die vorliegende
„Geschichte der deutschen Litteratur von Professor Dr. Max
Koch“ nach der Beschränktheit ihres Umfangs zu bemessen. Die Schwierigkeit
bestand vielmehr darin, so Vieles in so knapper Form, in den 278 [E147]
Seiten dieses schmucken Oktavbändchens die übersichtliche Darstellung
eines fünfzehnhundertjährigen geistigen Entwicklungsganges zu geben...
Wir wüßten den Fremden und vielen Deutschen mit ihnen, keinen
besseren Leitfaden durch das blühende Labyrinth deutscher Dichtung
und Prosa zu empfehlen, als diesen kleinen Band.

Prakt. Schulmann: Ein Meisterstück kurzen und bündigen,
und doch klaren und vielsagenden Ausdrucks wie die „Deutsche
Litteraturgeschichte“ von Prof. M. Koch ist auch die vorliegende „Deutsche
Geschichte im Mittelalter“. Dr. Kurze beherrscht ersichtlich die Ergebnisse
der neuesten Forschungen, begnügt sich aber bei der ihm durch
den Raum auferlegten kurzgedrängten Darstellung keineswegs damit,
Thatsachen und Daten trocken aneinander zu reihen, sondern er weist
überall den pragmatischen Zusammenhang nach und bietet von den
geschichtlichen Persönlichkeiten treffende Charakteristiken.

Natur: Diese Sammlung ist unseren Lesern schon durch das
Bändchen über Mineralogie bekannt, und wir wiederholen, daß wir
kaum begreifen, wie der Verlag im stande ist, so viel für so wenig Geld
zu geben. Denn in der Chemie von Dr. Klein empfängt der Schüler
fast mehr, wie er als Anfänger bedarf, mindestens aber so viel, daß
er das Wissenswürdigste als unentbehrliche Grundlage zum Verständnisse
der Chemie empfängt... Das ist sicher mehr, als man für 80 Pfg.
erwarten konnte, und vertritt zugleich das schöne Prinzip der Engländer,
durch wohlfeile kurz gefaßte kleine Leitfäden das Volk zu bilden.

Kunst f. Alle (München): Jn der Folge der mit so großem Beifall
aufgenommenen „Sammlung Göschen“ ist soeben das 39. Bändchen
erschienen, das, wie seine Vorgänger, weiteste Beachtung verdient.
K. Kimmich behandelt in diesem Bändchen, „Zeichenschule“ benannt,
in knapper, kerniger, sachlich=zielbewußter Form das weite
Gebiet des bildmäßigen Zeichens und Malens. Man empfindet auf
jeder Seite und in jeder bildlichen Vorführung, daß der Verfasser Herr
des Stoffes ist. Jn der übermäßig fruchtbaren Produktion kunstgewerblicher
Litteratur ist Kimmichs Zeichenschule auf diesem Gebiet
weitaus das Beste, das bisher geboten wurde. Gleich nutzbringend
und in reichstem Maße bildend für Lehrer, Schüler und Liebhaberkünstler,
möchte ich das wirklich vorzügliche Werk mit warmen anerkennenden
Worten der Einführung in Schule, Haus und Werkstatt
zugänglich machen. Die Ausstattung ist dabei eine so vornehme, daß
mir der Preis von 80 Pfennigen für das gebundene Werk von 138 Seiten
kl. 8° wirklich lächerlich billig erscheint. Nicht weniger als 17 Tafeln
in Ton=, Farben- und Golddruck, sowie 100 Voll- und Textbilder illustrieren
den äußerst gesunden Lehrgang dieser Zeichenschule in feinfühlender
Weise. Möge diese Zeichenschule ihrem vollen Wert nach erkannt
werden und reichen Segen stiften, sie ist ein Schatzkästlein in der
Flut der oberflächlichen Erscheinungen der neueren Fachlitteratur.

[E148]
Notes
*)

Vgl. über Entstehung und Jnhalt dieses Begriffs des Verf. Baltasar
Gracian und die Hoflitteratur (Halle 1894) Teil I., Kap. 4.
*)

Vergl.. Sammlung Göschen Nr. 25. Das neuere Volkslied.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 8. Lessings litterarische und
dramaturgische Abhandlungen S. 40. 47 u. ö.
*)

Vergl. meine Grundzüge des Systems der artikulirten Phonetik. Stuttgart
1891.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 27. Griechische und Römische
Mythologie.
**)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 15. Deutsche Mythologie.
***)

Man vergleiche (Wingolf 1. und 2. Fassung):
1)
Wie Hebe kühn und jugendlich ungestüm,

Wie mit dem goldnen Köcher Latonas Sohn,

Unsterblich sing ich, meine Freunde

Feiernd in mächtigen Dithyramben.
***)

Willst du zu Strophen werden, o Lied, oder

Ununterwürfig, Pindars Gesängen gleich,

Gleich Zeus' erhabnem trunkenen Sohne,

Frei aus der schaffenden Seele taumeln?

2)
Wie Gna im Fluge, jugendlich ungestüm

Und stolz, als reichten mir aus Jdunas Gold

Die Götter, sing ich meine Freunde

Feiernd in kühnerem Bardenliede.

Willst du zu Strophen werden, o Haingesang,

Willst du gesetzlos, Ossians Schwunge gleich,

Gleich Ullers Tanz auf Meerkrystalle,

Frei aus der Seele des Dichters schweben?

Was ist uns neben Hebe ─ „Gna“? Was neben Latonens Sohn Apollo
„Jdunens Gold“? Was „Uller“ neben Zeus und Bachus? und was schließlich
„Ossians Schwung“ neben Pindars Gesängen?
Borinski, Deutsche Poetik.
*)

Nach dem italienischen Dichter Giambattista Marini (1589─1625).
*)

Nach dem Roman des Engländers John Lyly: „Euphues. The
Anatomie of Wit“ (1578). Neudruck, Heilbronn 1887.
**)

Nach dem estilo culto der Spanier (Gongora 1561─1627).
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 9. Lessings antiquar. und
epigrammat. Abhandlungen. Seite 3.
**)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 7. Lessings Prosa. Seite 140.
*)

Nicht nach Höhe und Tiefe („Hochton und Tiefton“), was nichts
weniger als ein unterscheidendes Merkmal unserer Rhythmisirung bedeutet, da
es für den Rhythmus an sich nicht in Frage kommt. Nur auf Metrik oder
Dynamik kann sich selbständiger Rhythmus gründen. (Vgl. des Verf. Grundz.
d. Syst. der artikul. Phonetik. Anm. 40.)
**)

Hebung und Senkung in unserem Gebrauch, gegen den der
Griechen (ἄρσις und θέσις) gehalten, bezeichnet das Entgegengesetzte. Jm
Griechischen und Lateinischen dachte man sich die Messung durch Hebung
und Senkung des Fußes ausgedrückt. Der niedergesetzte Fuß bedeutete alsdann
den Ruhepunkt, die lange Silbe, der aufgehobene den flüchtigen Moment,
die kurze Silbe. Aber dynamisch, nach dem Kraftaufwand bemessen,
**)

kehrt sich das Verhältnis um, wie bei der Stimme besonders klar wird. Dann
ist der Moment der Hebung derjenige, welcher sich geltend macht gegenüber
dem der Senkung. Man sollte also, wie schon der erste Einführer dieser Ausdrucksweise
(Clayus in seiner deutschen Grammatik von 1578) ἄρσις : θέσις
== Senkung : Hebung setzen; oder, um Mißverständnisse ganz zu vermeiden,
sich gewöhnen, von Schwachton und Starkton zu reden. (Also: diese
Silbe trägt den „Starkton“, nicht die „Hebung“. Diese Silbe steht „im
„Schwachton“, nicht „in der Senkung“.)
*)

Vgl. des Verf. Poetik der Renaissance in Deutschland Berl. 1886. S. 30 ff.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 22. Auswahl aus dem höfischen
Epos.
**)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 24.
*)

) Der Alexandriner. Ferd. Freiligraths Gesammelte Dichtungen Stutg.
1886 Bd. I S. 87.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 10. Nibelungen und Gudrun.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 36. Herders Cid.
*)

Vrgl. Platen, der deutsche Hexameter W. W. 2,289. P. Heyse, Epistel
über den Hexameter Gedichte 3. Aufl. S. 348.
*)

Vergl. Briefwechsel mit Humboldt. 2. Aufl. S. 229.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 23. Walter von der Vogelweide.
Vgl. den Wechsel der Verszeilen dort z. B. in No. 13, 35.
**)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 25. Kirchenlied und Volkslied.
S. 20 f.
*)

S. Eduard Mörikes Gesammelte Schriften Stuttgart 1889. 1 Bd.
S. 61, 58. Vgl. auch „An eine Aeolsharfe“ S. 39. „Lied vom Winde“ S. 59.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 1. Klopstock Ode Die beiden
Musen 1752. S. 26.
**)

Desgl. in der Ode „Der Frohsinn“. Samml. Göschen Bd. 1. S. 83.
***)

Werke Stuttg. 1853. II 157 ff.
*)

Klopstock in der Ode „Der Lehrling der Griechen“ 1747, a. a.
O. S. 1.
**)

Klopstock a. a. O. S. 26.
***)

Klopstock a. a. O. S. 83.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 1. S. 1.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Bd. 1. Nr. 30. Klopstock, der
Frohsinn.
*)

Ebend. Dem Erlöser a. a. O. No. 6.
**)

Ebend. Der Zürchersee a. a. O. No. 4.
***)

Vergl. Sammlung Göschen Bd. 1. Nr. 1.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 9. Lessings Antiquar. und
Epigrammat. Abhandl.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 8. Lessings dramaturgische Abhandlungen.
S. 134 ff.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 36. Herders Cid.
**)

Obwohl ursprünglich als „Ballade“ bezeichnet. Nur „Der Kampf
mit dem Drachen“ trägt von Schiller selbst die Bezeichnung „Romanze“.
*)

Ein in neuerer Zeit seltenes Muster im Geiste der antiken Jdyllendichtung
(Theokrit) bietet Mörike, dessen wesentliche Sphäre diese Dichtungsart
bezeichnet, in seiner „Jdylle vom Bodensee“ in 7 Gesängen
(Ed. Mörikes Gesamm. Schr. Stuttg. 1884. Bd. I, S. 325 ff.). Hierbei ist
grade im obigen Sinne das eigentümliche Rahmenbild (Martin und die Glockendiebe)
zu beachten.
*)

Neuere Erzähler, wie Boz Dickens, übertreiben drastischer, meist
komischer Wirkungen halber dies alte epische Grundgesetz, erreichen aber grade
dadurch, vielleicht unbewußt, die leichte Orientierung in ihren vielfach zusammengesetzten,
verwickelten und langen Geschichten.
*)

Vollständig mit Einl. v. K. Gödeke in Sammlung Göschen Nr. 4.
*)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 32. Die deutsche Heldensage.
**)

Vergl. Sammlung Göschen Nr. 16. Griechische Altertumskunde.
*)

Proben in Sammlung Göschen Nr. 22.
*)

Jn der Fabel über die Fabel. Vergl. Sammlung Göschen Nr. 7
Lessings Prosa S. 2.

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TextGrid Repository (2016). ePoetics_Borinski. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7AD-4