[EA305:f][EA305:e][EA305:d][EA305:c]

Philosophische Aufsätze.


[figure]


Eduard Zeller
zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum
gewidmet. ──────


Inhalt:


Vischer, Widmung.


Helmholtz, Zählen und Messen.


Eucken, Zur Würdigung Comte's und des Positivismus.



Freudenthal, Spinoza und die Scholastik.


Gomperz, Die herkulanische Biographie des
Polemon.


Vischer, Das Symbol.


Erdmann, Zur Theorie des Syllogismus und
der Induktion.


Diels, Ueber die ältesten Philosophenschulen
der Griechen.


Kronecker, Ueber den Zahlbegriff.


Usener, Alte Bittgänge.


Dilthey, Das Schaffen des Dichters, Bausteine
zu einer Poetik.


[figure]


Leipzig,
Fues's Verlag (R. Reisland).
1887.

[EA305:b]

X.
Die Einbildungskraft des Dichters

Bausteine für eine Poetik



von
Wilhelm Dilthey. ──────

[EA305:a][E305]

  Die von Aristoteles geschaffene Poetik war in allen Zeitaltern
bewussten kunstmässigen Dichtens bis in die zweite Hälfte
des 18. Jahrhunderts das Werkzeug der Poeten bei ihrer Arbeit
und das gefürchtete Richtmaass der Kritiker bis auf Boileau,
Gottsched und Lessing. Sie war das wirksamste Hilfsmittel der
Philologie für Auslegung, Kritik und Werthbestimmung griechischer
Dichtung. Sie war zugleich neben Grammatik, Rhetorik und
Logik ein Bestandtheil des höheren Bildungswesens. Dann hat
die aus dem deutschen Geiste geborene Aesthetik in der grossen
Zeit unsrer Dichtung Goethe und Schiller bei ihrem Schaffen geleitet,
Humboldt, Körner und die Schlegel in ihrem Verständniss
gesteigert sowie in ihrem Urtheil gefestigt. Sie hat durch diese
beiden Fürsten der deutschen Poesie das ganze Reich derselben
beherrscht, unter Mitwirkung von Humboldt, Moritz, Körner,
Schelling, den Schlegel, endlich Hegel, als den unter ihnen
wirkenden Ministern der schönen Künste. Sie hat die Philologie
umgestaltet; denn sie hat die rationale Hermeneutik, wie sie im
Streit zwischen dem tridentinischen Katholicismus und den Protestanten
geschaffen und von Ernesti durchgeführt worden war, ergänzt
durch jene aesthetisch begründete hermeneutische Kunst,
deren Regeln Schleiermacher nach dem Vorgange Friedrich Schlegels
aus dem Princip der Form eines schriftstellerischen Werkes
abgeleitet hat. Sie hat eine Werthabmessung und Kritik, welche
den Verstand, die Regel sowie die grammatische, metrische und
rhetorische Technik zu Grunde legte, ergänzt durch jene ästhetische
Kritik, welche von der Zergliederung der Form ausging und [306]
deren bedeutende Ergebnisse bei Wolf, Lachmann und ihren
Nachfolgern vorliegen. Ja diese deutsche Aesthetik hat in
Frankreich und England den Fall der alten Formen beschleunigt
und die ersten ihrer selbst noch ungewissen Bildungen eines
neuen poetischen Zeitalters beeinflusst.


  Heute herrscht Anarchie auf dem weiten Gebiete der Dichtung
in allen Ländern. Die von Aristoteles geschaffene Poetik ist
todt. Ihre Formen und ihre Regeln waren schon gegenüber den
schönen, poetischen Ungeheuern eines Fielding und Sterne, eines
Rousseau und Diderot kraftlose Schatten von etwas Unwirklichem
geworden, Schablonen, von einer vergangenen Kunstweise abgezogen.
Unsere Aesthetik lebt wohl hier und da noch auf einem
Katheder, aber nicht mehr in dem Bewusstsein der leitenden
Künstler oder Kritiker, und da allein wäre doch ihr Leben. Als in
der französischen bildenden Kunst David seine Geltung verlor und
Delaroche sowie Gallait emporkamen, als in der deutschen die
Cartonmalerei des Cornelius in den Schatten der Museen verschwand
und dem wirklichen Menschen von Schadow und Menzel
Platz machte, da war das einst von Goethe, Meyer und den
anderen Weimarer Kunstfreunden vereinbarte Gesetzbuch der
idealen Schönheit in den bildenden Künsten ausser Kraft gesetzt.
Als seit der französischen Revolution immer stärker die
ungeheuren Wirklichkeiten London und Paris, in deren Seele
eine neue Art von Poesie circulirt, die Augen der Dichter wie
des Publicums auf sich zogen, als Dickens und Balzac das Epos
des in diesen Städten kreisenden modernen Lebens zu schreiben
begannen, da war es auch vorbei mit den Grundsätzen der
Poetik, wie sie einst in dem idyllischen Weimar zwischen Schiller,
Goethe und Humboldt berathen worden waren. Aus allen Zeiten
und Völkern dringt eine bunte Formenmenge auf uns ein und
scheint jede Abgrenzung von Dichtungsarten und jede Regel
aufzulösen. Zumal aus dem Osten überfluthet uns elementare,
formlose Dichtung, Musik und Malerei, halb barbarisch, aber
von der herzensrohen Energie solcher Völker, die noch die
Kämpfe des Geistes in Romanen und zwanzig Fuss breiten Gemälden
auskämpfen. ─ In dieser Anarchie ist der Künstler von [307]
der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches
Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der
Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in
colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und
Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten
den Namen der Künstler.


  Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in
denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden
Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der
Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern,
und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie,
Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen
dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen.


  Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden
Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege
voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben
opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche
Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit.
Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft.
Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist
rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der
stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt
und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten
zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens
nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des
Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt
jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von
geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede
Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken.
Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal
im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche
Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein;
jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft,
welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute
die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach
Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie. [308]
Der Künstler und der Dichter fühlen heute, dass eine wahre
und grosse Kunst der Gegenwart einen Inhalt und ein Geheimniss
dieser Zeit auszusprechen hätte, so gewaltig als das, welches
aus den Madonnen oder den Teppichfiguren Raphaels auf uns blickt,
aus den Iphigenien zu uns redet, und er empfindet leidenschaftlich,
um so leidenschaftlicher, je dunkler ihm das Ziel seiner
Kunst vorschwebt, seinen Widerspruch gegen jene Aesthetik mit
rückwärts gewandtem Antlitz, die aus den Werken jener Vergangenheit
oder aus abstracten Gedanken einen Begriff der
idealschönen Formen ableitet und an diesem die productive
Arbeit des ringenden Künstlers misst. Unter denselben Einflüssen
ist die Poesie ganz umgestaltet, aber auch herabgezogen
worden. Grosse Genies der erzählenden Dichtung wie Dickens
und Balzac haben sich dem Bedürfniss eines lesehungrigen
Publicums nur allzusehr angepasst. Die Tragödie krankt am
Mangel eines Publicums, in welchem die ästhetische Reflexion
das Bewusstsein von der höchsten Aufgabe der Poesie wach erhalten
hätte. Die Sittencomödie hat unter denselben Umständen
die Feinheit in der Führung der Handlung und den Adel des
Abschlusses verloren; jenes Moment des Tragischen, das der
grossen Comödie des Molière beigemischt war und ihr die Tiefe
gab, wird nach dem Geschmack der Masse durch eine flache
Sentimentalität ersetzt. In der deutschen bildenden Kunst ist
mit dem Widerstreit gegen die unproductiv gewordene Aesthetik
─ denn unproductiv ist nur die Aesthetik, welche am Ideal
eines Zeitalters nicht mehr mitarbeitet ─ eine Misologie entstanden,
Hass der Künstler gegen das Denken über die Kunst,
ja theilweise gegen jede Art von höherer geistiger Bildung, und
die Folgen dieses Hasses liegen heute den Künstlern selber so
gut als dem Publicum vor Augen.


  Sollen die mächtigen Triebe nicht verkümmern, welche nach
Wahrhaftigkeit, Erfassung von Kraft hinter aller Form und
daraus stammender Energie der Wirkung in unsrer Kunst hindrängen,
dann muss das natürliche Verhältniss zwischen der
Kunst, dem ästhetischen Raisonnement und einem debattirenden
Publicum wieder hergestellt werden. Die ästhetische Erörterung [309]
steigert die Stellung der Kunst in der Gesellschaft, und sie belebt
den arbeitenden Künstler. In einem solchen lebendigen
Milieu arbeiteten die Künstler der griechischen Zeit und der
Renaissance, Corneille, Racine und Molière, Schiller und Goethe.
In der Zeit ihrer höchsten künstlerischen Anstrengungen finden
wir Schiller und Goethe ganz umgeben von einer solchen sie
tragenden ästhetischen Lebendigkeit der Nation, von Kritik, ästhetischem
Urtheil und lebhafter Debatte. Die ganze Geschichte
der Kunst und der Dichtung zeigt, wie das nachdenkliche Erfassen
von Functionen und Gesetzen der Kunst die Bedeutung
und die idealen Ziele derselben im Bewusstsein erhält, während
die niederen Instincte der menschlichen Natur sie beständig
herabziehen möchten. Insbesondere die deutsche Aesthetik hat
den Glauben, dass die Kunst eine unsterbliche Angelegenheit
der Menschheit ist, tiefsinnig begründet. Nur indem das
Dauernde in dieser Aesthetik, insbesondere die Einsicht in die
Function der Kunst für das Leben der Gesellschaft, tiefer begründet
wird, kann auch der Künstler, der Dichter die hohe
Stellung in der Schätzung der Gesellschaft behaupten, die er in
den hundert Jahren von dem verkommenen armen Günther bis zur
Bestattung Goethe's in einer Fürstengruft errungen hat. Aesthetisches
Nachdenken über Ziel und Technik der einzelnen Kunstübung
hat in jeder Blüthezeit der bildenden Kunst oder der Dichtung
die Ausbildung eines festen Styls und einer zusammenhängenden
Tradition in der Kunst wesentlich unterstützt. So sehen
wir aus den Resten von Poetik und Rhetorik der Griechen, wie
sich dort der feste Styl der Dichter und Redner überall Hand
in Hand mit Regelgebung ausgebildet hat. Wir bemerken, wie
die lange Blüthe des französischen Theaters durch das an der
cartesianischen Philosophie genährte ästhetische Raisonnement
gefördert wurde. Und Lessing, Schiller und Goethe bereiteten
ihre Dichtungen durch tiefes ästhetisches und technisches Nachdenken
vor; Wallenstein, Hermann, Meister, Faust wurden
unter der lebendigen Betheiligung dieses Nachdenkens ausgebildet;
ebendasselbe Raisonnement sicherte dann diesen
Werken Verständniss und Aufnahme im Publicum. Kurz, die [310]
Kunst bedarf durchgängig einer Schulung der Künstler und
einer Erziehung des Publicums durch die ästhetische Besinnung,
soll ihr höherer Charakter den gemeinen Instincten der Masse
gegenüber ausgebildet, gewürdigt und vertheidigt werden. Ist
nicht der grosse Styl unsrer Dichtung nur aufrecht erhalten
worden durch die königliche Gewalt unsrer beiden Dichter, die
in Weimar residirten? Vermittelst einer von Weimar aus geleiteten
umfassenden ästhetischen Beeinflussung, unterstützt von
verfügbaren Zeitschriften, nicht ohne den Terrorismus der
Xenien haben sie Kotzebue, Iffland, Nicolai niedergehalten und
das liebe deutsche Publicum in seinem Glauben an Hermann
und Dorothea und die Braut von Messina gehoben und bestärkt.
Dieser Glaube ist demselben nicht natürlich gewesen.


  Die Aufgabe der Poetik, welche sich aus dieser ihrer lebendigen
Beziehung zur Kunstübung selber ergiebt, ist: kann sie
allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln des
Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und wie
verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu
diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die
überall auf den Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit,
allgemeingültige Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen,
die so persönlich beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt
und doch unzerlegbar sind? Die alte Aufgabe der Poetik tritt
hier wieder auf, und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel,
welche uns die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises
zur Verfügung stellt, gelöst werden könne. Und
zwar gestatten die empirischen und technischen Gesichtspunkte
der Gegenwart, dass wir von der Poetik und den nebengeordneten
ästhetischen Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Aesthetik
aufsteigen.


  Auch unter einem zweiten Gesichtspunkte ist eine Poetik
ein unabweisbares Bedürfniss der Gegenwart geworden. Die
unübersehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muss
für die Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Causalerkenntniss
und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werthe
nach taxirt und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte [311]
ausgenutzt werden. Diese Aufgabe kann nur gelöst
werden, wenn neben die Geschichte der schönen Litteratur eine
generelle Wissenschaft der Elemente und Gesetze tritt, auf
deren Grundlage sich Dichtungen aufbauen. „Das Material ist
für beide dasselbe, und kein Fehler der Methode greift tiefer
als der Verzicht auf die Breite der historischen, unter ihnen der
biographischen Thatsachen für den Aufbau der generellen
Wissenschaft menschlicher Natur und ihrer Leistungen, die nun
einmal nur inmitten der Gesellschaft für uns da sind und studirt
werden können. Es ist dasselbe Verhältniss, welches zwischen
der generellen Wissenschaft und der Analyse der geschichtlichen
Erscheinungen in Bezug auf alle anderen grossen Lebensäusserungen
der Gesellschaft stattfindet.“ Der Ausgangspunkt einer
solchen Theorie muss in der Analysis des schaffenden Vermögens
liegen, dessen Vorgänge die Dichtung bedingen. „Die Phantasie
des Dichters in ihrer Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet
den nothwendigen Ausgangspunkt für jede Theorie, welche die
mannigfaltige Welt der Dichtungen in der Aufeinanderfolge ihrer
Erscheinungen wirklich erklären will. Die Poetik in diesem Sinne
ist die wahre Einleitung in die Geschichte der schönen Litteratur,
wie die Wissenschaftslehre in die Geschichte der geistigen Bewegungen.“1)
Künstler und Publicum bedürfen einer solchen
Werthbestimmung der Dichtungen aus einem möglichst sichern
Maassstab. Wir sind in ein geschichtliches Zeitalter eingetreten.
Die ganze Vergangenheit umgiebt uns auch auf dem Felde der
Dichtung. Der Dichter muss sich mit ihr auseinandersetzen
und nur die geschichtliche Ansicht, durchgeführt in einer Poetik,
kann ihn freimachen. Die Philologie ferner, welche den Zusammenhang
der Dichtungen eines Volkes untereinander und
mit der Lebendigkeit des Nationalgeistes zuerst zum Verständniss
gebracht hat, findet sich dabei stets einer historisch begrenzten
poetischen Technik gegenüber, und das Problem des Verhältnisses [312]
derselben zu den allgemeinen Gesetzen der Dichtung
führt sie nothwendig zu den Principien der Poetik.


  So gelangen wir zur selben Grundfrage, nur in historischer
Wendung. Können wir erkennen, wie die in der Natur des Menschen
gegründeten, sonach überall wirkenden Vorgänge diese verschiedenen
Gruppen von Poesie, getrennt nach Völkern und Zeiten,
hervorbringen? Hier berühren wir die tiefste Thatsache der
Geisteswissenschaften: die Geschichtlichkeit des Seelenlebens,
sich äussernd in jedem System der Kultur, das die Menschheit
hervorbringt. Wie ist die hier in den Gleichförmigkeiten sich
äussernde Selbigkeit unseres menschlichen Wesens verknüpft mit
seiner Variabilität, seinem geschichtlichen Wesen?


  Vielleicht hat die Poetik in Rücksicht auf das Studium
dieser Grundthatsache der Geisteswissenschaften, der Geschichtlichkeit
der freien Menschennatur, einen grossen Vorzug vor
den Theorien der Religion oder Sittlichkeit etc. voraus. Auf
keinem anderen Gebiet, ausser dem der Wissenschaft, haben
sich so vollständig die Erzeugnisse der Vorgänge erhalten; sie
liegen in der schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die
wirkenden Kräfte scheinen noch lebendig in dem Erzeugniss zu
pulsiren. Die Vorgänge vollziehen sich heute, wie zu jeder
früheren Zeit; der Dichter lebt vor unseren Augen, Zeugnisse
über sein Schaffen liegen vor. So kann das dichterische
Bilden, seine psychologische Structur und seine geschichtliche
Variabilität besonders gut studirt werden. Die Hoffnung
entsteht, dass durch die Poetik das Wirken der psychologischen
Vorgänge in den geschichtlichen Producten besonders genau aufgeklärt
werden könne. An der Litteraturgeschichte entfaltete
sich bei uns die philosophische Geschichtsbetrachtung. Die
Poetik hat vielleicht eine ähnliche Bedeutung für das systematische
Studium der geschichtlichen Lebensäusserungen.


  Der Aufbau einer solchen Wissenschaft würde auch eine
nicht zu unterschätzende practische Bedeutung für unser höheres
Unterrichtswesen haben. Die älteren Gelehrtenschulen vor der
Umwälzung unserer Philologie durch Humboldts und Wolfs Auffassung
der Griechen unter dem Gesichtspunkte des Humanitätsideals [313]
wollte aus der Lectüre der Schriftsteller ein rationales
Bewusstsein von den Regeln der Sprachen, des Denkens,
des rednerischen und dichterischen Styls sowie eine darauf gegründete
Sicherheit der Technik gewinnen. Dieser berechtigte
Gedanke wurde in der Blüthezeit unseres griechischen Humanismus
durch einen anderen verdrängt, dessen Geltung doch beschränkter
ist. Die geschichtliche Erkenntniss des griechischen
Geistes in seiner Idealität sollte nun zur schönen Menschlichkeit
erziehen. Kehrt die Gelehrtenschule zu ihrem alten Grundgedanken
in einer reiferen, mit unserem geschichtlichen Bewusstsein
ausgeglichenen Form zurück, dann wird sie auch einer
erneuerten Poetik bedürfen, wie einer erneuerten Rhetorik und
einer fortgebildeten Logik.

Die erworbenen Einsichten und die neuen Aufgaben der Poetik.


1. Die Poetik als Formenlehre und Technik.


  Die Poetik, wie sie Aristoteles begründet und die Folgezeit
bis in das 18. Jahrhundert benutzt und bereichert hat, war eine
Formenlehre und eine auf diese gegründete Technik.


  Aristoteles hat überall das Verfahren von Verallgemeinerung,
welche die Formen aus den Einzelthatsachen ableitet und sie
coordinirt, sowie von Zergliederung, welche die Zusammensetzung
dieser Formen aus Einheiten aufzeigt, angewandt: seine Methode
ist descriptiv, nicht ächte Causalerklärung. Und zwar
haben seine Grammatik, Logik, Rhetorik und Poetik augenscheinlich
zur Grundlage die Beobachtungen, Zergliederungen,
Formbegriffe und Regeln, welche in der Kunstübung selber
entstanden und in der schulmässigen Bearbeitung der Sophisten
durchgebildet worden waren. Indem er constante Formen nachweist,
ordnet und so zergliedert, dass man Einheiten zu ersten
Verbindungen und diese zu höheren Systemen zusammentreten
sieht, vermag er überall das Erbgut des Handwerks selbst und
das schulmässige von den Sophisten ausgebildete technische
Wissen zu verwenden. Lehrte doch ein grosser Theil des [314]
griechischen Unterrichts, die Sprache zergliedern bis zu Lauten
als letzten Einheiten, ein metrisch-musikalisches Ganze bis zu
den Grundzeiten, die Beweisführung bis zu den Terminis, alsdann
die Formen, wie sie aus den Zusammensetzungen entstehen,
rubriciren, endlich die Regeln, nach denen in solchen
Formen die verfügbaren Mittel zum Zweck verbunden werden
müssen, erkennen und anwenden. Die Poetik des Aristoteles
war eine Formenlehre und Technik in diesem Verstande; durch
ihre Bruchstücke geht die Auseinandersetzung mit dem Erbgut
der im dichterischen und schulmässigen Betrieb erworbenen
Technik, und dem Verhältniss zu dieser verdankt sie ihre regelhafte
Abgeschlossenheit, ihre lehrhafte Vollendung.


  Wie unzusammenhängend auch der erhaltene Text der
Poetik ist, wie einsilbig über das Verhältniss zu den Vorgängern
und den andern aristotelischen Schriften: die logische Verknüpfung
in dem Erhaltenen gestattet den Schluss, dass diese Formenlehre
und Technik der Poesie nicht von Aristoteles aus allgemeinen
ästhetischen Principien, wie dem der Schönheit oder des künstlerischen
Vermögens abgeleitet, sondern nur durch Abstraction
aus den Dichtungen und deren Eindruck und durch Schluss aus
den technischen Beziehungen zwischen den Mitteln der Nachbildung,
dem Gegenstande derselben und ihren möglichen Weisen
begründet worden ist.


  Die Regeln dieser Poetik sind durchgängig zurückgeführt
auf die Eigenschaften der Dichtung, Nachahmung von handelnden
Menschen im Darstellungsmittel der Rede (zu welchem Rhythmus
und qualitative Tonordnung treten können) in verschiedenen
Weisen der Darstellung zu sein. Dieses Princip der Nachahmung
ist objectivistisch wie das der Logik und Erkenntnisslehre des
Aristoteles, nach welchem Wahrnehmen und Denken einerseits,
Sein andrerseits sich entsprechen und das Sein im Denken dargestellt
wird. Und dieses objectivistische Princip ist der Ausdruck
der natürlichen Auffassung sowohl der Erkenntniss als
der Kunst. Einerseits ist also dies Princip der Nachahmung
der einfachste Ausdruck eines freilich nur in der bildenden
Kunst und Poesie, nicht in Musik, decorativer und architectonischer [315]
Kunst bestehenden einfachsten Thatbestandes von
Kunstübung und Kunstgenuss. Andrerseits ordnet es im Sinne
dieser objectivistischen Weltbetrachtung die Lust an der Dichtung
der an allem Lernen und Schauen unter. Ist so das
Princip nicht ohne weiter zurückreichende Beziehungen, so überwiegt
doch durchaus der Gesichtspunkt des Technikers dabei,
wenn diese Poetik sich daran genügen lässt, als Ursache in der
menschlichen Natur, welche die Entstehung der Poesie bewirkte,
die Freude am Nachbilden und der Wahrnehmung der Nachbildungen,
verbunden mit der an Harmonie und Rhythmus, zu
bezeichnen.


  Alle weiteren Wirkungen, welche die Dichtung hervorzubringen
hat, fliessen dann nach ihr aus der Natur des Gegenstandes,
der nachgebildet wird: des handelnden Menschen. In
diesem Zusammenhang geht die Poetik auf die psychologischethische
Natur des nachzubildenden Vorgangs an bedeutenden
Stellen zurück. So begründet sie die Lehre, welche doch nur
die abstracte Formel für eine Eigenthümlichkeit der griechischen
Tragödie ist, dass die Fabel das Princip und gleichsam die Seele
der Tragödie sei, das Zweite erst die Charaktere, aus dem
ethischen Satze, dass das Ziel des Menschen und seine Eudämonie
im Handeln liegt. Daher können nach ihr in der concentrirten
Nachbildung des Lebens durch die Tragödie die Handlungen
nicht um der Charakterzeichnung willen auftreten. So sieht
ferner diese Poetik das Eigenthümliche der Tragödie in der
besonderen Art von Wirkung, welche der nachzubildende Gegenstand
hervorbringt: der Furcht und dem Mitleid; sie bemerkt ausdrücklich,
dass die Definition, welcher diese Angabe über das
Merkmal der tragischen Wirkung angehört, in vorher Gesagtem
begründet war. Auch diese uns leider verlorene Begründung muss
ethisch-psychologisch aus der Natur des nachzubildenden Vorgangs
dessen Wirkung abgeleitet haben. So darf endlich wol angenommen
werden: wie eine bekannte Stelle des Aristoteles mannigfache
ganz verschiedene Wirkungen der musikalischen Kunst,
Unterhaltung (und zwar verschiedenen Charakters und Werthes),
sittliche Bildung, Reinigung empirisch aufzählt, so hat auch die [316]
Poetik ein Mannigfaches solcher Wirkungen für die Dichtung,
dem Wechsel der von ihr nachgebildeten Gegenstände entsprechend,
angenommen. Die Poetik erkannte also in empirischer
Unbefangenheit das Mannigfache der poetischen Wirkung an.
Aber der Grund dieser Wirkung lag ihr nur in dem Verhältniss
zwischen dem Nachbilden, den Gegenständen desselben
und den Mitteln. Allein aus diesem Verhältniss wurden von
ihr die Formen und Regeln der Dichtung abgeleitet. In diesem
Verhältniss hat sie ihr einheitliches Princip. Sie denkt den
Dichter als nach Regeln zum Zweck bestimmter Wirkung sein
Werk hervorbringend. Sie ist eine Technik, und in ihr herrscht
der Verstand. Von ihrem einfachen Grundgedanken aus hat sie
mit unübertroffener Klarheit die Formen der Dichtung definirt,
deren Theile zergliedert und die Regeln festgestellt, nach denen
diese Theile gebildet und zusammengefügt werden müssen.


  So ist eine Elementarlehre und Technik der Poesie entstanden,
welche durch die Begrenzung des angegebenen Princips
sowie der benutzten schönen Literatur eingeschränkt, aber innerhalb
dieser Einschränkung mustergültig und höchst wirksam
ist. Das Schema ihrer Ableitungen ist folgendes: jede Kunst
Nachahmung; die Künste, welche durch Farben und Form
abbildlich darstellen, werden von denen unterschieden, welche
in Rede, Rhythmus und Harmonie ihre Darstellungsmittel
haben. Unter diesen letzteren wird der Dichtung ihr Rang
bestimmt. In der Weise der Nachbildung ist dann der Unterschied
von erzählender und dramatischer Dichtung begründet.
Insbesondere eine technische Betrachtung der Tragödie wurde
nun durch die Lehre von der Einheit der Handlung, der
Schürzung und Lösung des Knotens, der Peripetie und der Erkennung
begründet, wenn auch die Erörterung der Möglichkeiten
öfters in Casuistik ausartet.


  Auch sofern diese Technik des Dramas, als abstrahirt aus
dem beschränkten griechischen Kreis theatralischer Kunst, bestritten
worden ist, diente sie doch, bei den neueren Dramatikern
das ästhetische Bewusstsein von einer Technik der Bühne
auszubilden. Der Schöpfer des spanischen Theaters Lope de [317]
Vega hat in Betrachtungen über die dramatische Kunst der
Technik des Aristoteles Regeln wie die von der Verbindung des
Ernsten und Lächerlichen, die er aus der Praxis des spanischen
Theaters entnahm, gegenübergestellt und seine eigene Technik
damit gerechtfertigt, dass Regeln und Muster der Alten mit dem
Geschmack seiner Zeitgenossen nicht in Uebereinstimmung zu
bringen seien. Die von Descartes beeinflusste Poetik, Corneille
und Boileau haben in Auseinandersetzung mit der Tradition
der Aristotelischen Theorie die Kunstweise des französischen
Dramas zu einer strengen Technik ausgebildet. Je genauer
man die im Wesenhaften so regelmässige Form der Shakespeare'schen
Tragödie betrachtet, desto mehr möchte man
vermuthen, dass der uns verborgene Vorgang, in welchem das
ältere englische Theater, ja noch die Shakespeare unmittelbar
voraufgehende Kunstweise von Marlowe und Greene, zu dieser
Formstrenge fortgebildet worden ist, nicht ohne irgend eine
Auseinandersetzung mit der vorhandenen technischen Theorie
stattgefunden hat. Am Beginn unserer neueren deutschen
Dichtung stehen Gottsched und der Streit der Aristotelischfranzösischen
Poetik mit der schweizerischen. Lessing gedachte
die Poetik des Aristoteles zu commentiren: er wollte sie in ihrer
Reinheit herstellen und vertreten. Er hat in seinem Laokoon
und seiner Dramaturgie auf der Grundlage dieser Poetik fortgebaut,
im ächten Geiste derselben und doch mit Lessing'scher
Selbständigkeit. Und als der Sturm gegen alle Regeln vorüber
war, als unsere beiden grossen Dichter eine Technik unserer Poesie
herzustellen trachteten, als zwischen ihnen in den neunziger
Jahren jene merkwürdigen Debatten über Epos und Drama stattfanden,
in denen noch nicht ausgenutzte Schätze von Beobachtungen
über dichterische Formen gesammelt wurden: da waren
sie erstaunt und erfreut, sich mit Aristoteles, den sie nun wieder
verglichen, so vielfach einstimmig zu wissen.


  Goethe schrieb am 28. April 1797: „ich habe die Dichtkunst
des Aristoteles wieder mit dem grössten Vergnügen durchgelesen,
es ist eine schöne Sache um den Verstand in seiner höchsten
Erscheinung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich Aristoteles bloss [318]
an die Erfahrung hält und dadurch, wenn man will, ein wenig zu
materiell wird, dabei aber auch meistens desto solider auftritt.“
Und Schiller in seiner Antwort vom 5. Mai 1797 ist ebenfalls mit
Aristoteles sehr zufrieden und freut sich seines Einverständnisses
mit demselben. Er bemerkt mit feinem Spürsinn, wie hier keine
Philosophie der Dichtkunst nach Art moderner Aesthetiker vorliege,
sondern Auffassung „der Elemente, aus welchen ein Dichtwerk
zusammengesetzt wird“, wie sie entstehen müsste, wenn
man „eine individuelle Tragödie vor sich hätte und sich um alle
Momente befragte, die an ihr in Betrachtung kommen“. „Ganz
kann er aber sicherlich nie verstanden oder gewürdigt werden.
Seine ganze Ansicht des Trauerspiels beruhte auf empirischen
Gründen: er hat eine Masse vorgestellter Tragödien vor Augen,
die wir nicht mehr vor Augen haben; aus dieser Erfahrung heraus
raisonnirt er; uns fehlt grösstentheils die ganze Basis seines
Urtheils.“ Das ist richtig gesehen und hätte Schiller dahin führen
können, hinter Aristoteles den technischen Erwerb des griechischen
Künstlers, Erklärers und Kunstrichters zu erblicken. Liest
man weiter, so bemerkt man, wie Schiller hier Parthei ist und
sein Urtheil über Aristoteles günstiger, als unser heutiges lauten
muss. „Und wenn seine Urtheile .. ächte Kunstgesetzte sind, so
haben wir dieses dem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es damals
Kunstwerke gab, die .. ihre Gattung in einem individuellen
Fall vorstellig machten.“ Das ist ganz die bekannte ungeschichtliche
Vorstellung von der Idee, die sich in einem Falle realisirt,
der Gattung, die in einem Exemplar zur Darstellung kommt!


  Ja das Erbgut dieser Poetik ist nicht nur durch Lessing,
sondern auch durch Goethe und Schiller erheblich vergrössert
worden. Lessing hatte mit Aristoteles aus dem Verhältniss der
Darstellungsmittel zu der durch sie bedingten Technik die obersten
Gesetze der bildenden Kunst und weit glücklicher die der
Poesie abgeleitet. Er hatte gegenüber den Franzosen die wahre
Einheit der dramatischen Handlung in mustergültiger Analysis
dargestellt, einstimmig mit dem Aristotelischen Text, aber zugleich
von seinem dramatischen Lebensgefühl getragen. Goethe
hat dann aus der Verschiedenheit der ganzen Position des epischen [319]
und des dramatischen Dichters gegenüber seinem Stoff die
Grundunterschiede ihrer Kunstübung höchst geistvoll abgeleitet,
indem er so die technischen Betrachtungen, die sein und
Schillers Schaffen begleitet hatten, unter Einem Gesichtspunkte
sammelte (über epische und dramatische Dichtung von Goethe
und Schiller, Beilage zum Brief an Schiller vom 23. Decbr. 1797).
„Der Epiker und der Dramatiker sind beide den allgemeinen
Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und
dem Gesetze der Entfaltung, ferner behandeln sie beide ähnliche
Gegenstände und können beide alle Arten von Motiven brauchen;
ihr grosser wesentlicher Unterschied beruht aber darin, dass der
Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vorträgt und
der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig vorstellt. Wollte
man das Detail der Gesetze, wonach beide zu handeln haben,
aus der Natur des Menschen ableiten, so müsste man sich einen
Rhapsoden und einen Mimen, beide als Dichter, jenen mit
seinem ruhig horchenden, diesen mit seinem ungeduldig schauenden
und hörenden Kreise umgeben, vergegenwärtigen.“ Schiller
fügt folgende Unterschiede hinzu. Wie der Erzähler seinen Stoff
als ein Vergangenes vor sich stellt, kann er die Handlung gleichsam
als stillestehend denken; er weiss schon Anfang, Mitte und
Ende; er bewegt sich frei um sie, kann ungleichen Schritt halten,
Vorgriffe und Rückgriffe thun. „Die dramatische Handlung bewegt
sich vor mir, so bin ich streng an die Gegenwart gefesselt,
meine Phantasie verliert alle Freiheit; es entsteht und erhält
sich eine fortwährende Unruhe in mir“ (Schiller zwischen 23.
und 27. Decbr. 1797). Diese Hauptsätze sind bei Schiller und
Goethe mit den werthvollsten technischen Einzelbeobachtungen
verbunden, in denen nur das, was allgemeingültig aus der Beziehung
zwischen dem Hervorbringen, dem Gegenstand und den
Darstellungsmitteln folgt, von dem, was an ihrem Formideal
zeitlich bedingt war, abgesondert werden muss.1) Mitbedingt
durch Herder und Fr. A. Wolf, traten dann fruchtbare Betrachtungen [320]
über die epische Poesie hervor, von Friedrich Schlegel
in seiner Poesie der Griechen und Römer (1797), von A. W.
Schlegel in der von Friedrich abhängigen Recension des Hermann,
von Humboldt in seiner bekannten Schrift, die ebenfalls an Hermann
anknüpft (1798). Stand bei Aristoteles das Epos im Schatten
der von ihm vorgezogenen, zu seiner Zeit noch lebendigen Tragödie,
so haben diese Analysen den durchgreifenden Unterschied
beider Dichtungsarten über die Aristotelische Poetik hinaus erforscht.
Auch hat damals Friedrich Schlegel die Form der Prosadichtung
zuerst mit ästhetischer Genialität untersucht.

2. Untersuchungen über das schaffende Vermögen,
aus welchem die Kunstwerke, darunter auch die
Dichtungen entspringen.


  Diese Poetik als Formenlehre und Technik musste sich unzureichend
erweisen. Die Technik, die so von den griechischen
Dichtern durch Abstraction abgeleitet war, stiess mit der zusammen,
die im spanischen und englischen Theater sowie in dem
neueren Roman steckte, und so musste die Allgemeingültigkeit
dieser griechischen Poetik in Frage gestellt und in den so entstehenden
Streitigkeiten eine Entscheidung aus Principien gesucht
werden. Lange hatte die Mustergültigkeit der griechischen Kunst
dem ästhetischen Raisonnement einen festen Halt gewährt. Wurde
diese zweifelhaft, so musste nun ein solcher Halt in den Principien
aufgesucht werden; er wurde schliesslich in der Natur des Menschen
gefunden. Das Aristotelische Princip der Nachahmung
war objectivistisch, analog der Aristotelischen Erkenntnisstheorie;
seitdem die Untersuchung sich überall in das subjective Vermögen
der Menschennatur vertiefte und die selbständige Kraft
desselben erfasste, die das in den Sinnen Gegebene umgestaltet,
wurde auch in der Aesthetik das Princip der Nachahmung unhaltbar.
Derselbe veränderte Stand des Bewusstseins, der in
der Erkenntnisstheorie seit Descartes und Locke sich äussert,
machte sich auch in einer neuen Aesthetik geltend. Die causale [321]
oder virtuelle Untersuchung suchte auch hier, wie auf dem Gebiete
der Religion, des Rechts, des Wissens, die Kraft oder
Function zu bestimmen, aus welcher Kunst und Dichtung entspringen.
Schon Baco und Hobbes, darin ächte Zeitgenossen
Shakespeares und seiner Schule, erblickten diese Kraft in der
Phantasie. Addison erkannte in der Einbildungskraft das Vermögen,
welches den besonderen Grund dichterischer Gebilde
enthält: eine Art von erweitertem Gesichtssinn, der Ungegenwärtiges
vergegenwärtigt. David Young, Shaftesbury, Dubos, der
lange nicht genug Gewürdigte, haben aus diesem schaffenden
Vermögen die Grundzüge einer neuen Aesthetik abgeleitet. In
Deutschland wurde diese Aesthetik dann ein systematisches
Ganzes. Sie ging aus vom schaffenden Vermögen im Menschen,
ja in der ganzen Natur, dessen Hervorbringung die Schönheit
ist. Was die deutsche Aesthetik, als die höchste Leistung auf
diesem Standort, für den Fortschritt der Poetik gewesen ist, wiefern
sie aber doch auch der Ergänzung bedarf, ist nun kurz zu beschreiben.



  Die Leistungen dieser deutschen Aesthetik können aber nur
richtig geschätzt werden, wenn sie nicht allein in den abstracten
Systemen, sondern auch in der lebendigen Beobachtung und Discussion,
in Herders früheren Schriften, in Goethes und Schillers
ganzer Lebensarbeit, in den literarischen und kritischen Leistungen
der Schlegel u. s. w. aufgesucht werden. Die historisch-kritischen
Arbeiten von Zimmermann und Lotze suchen die Förderung des
ästhetischen Wissens auf diesem Höhepunkte unsrer Dichtung
in den Theorien, die am meisten abstract und am meisten
streitig sind. Die wirkliche Bedeutung dieser Aesthetik für die
Interessen der Dichtung bestand doch darin, dass hier auf der
Höhe unserer Poesie die Dichter und die Philosophen sich
über die hervorbringende Kraft, das Ziel und die Mittel der
Dichtung besannen. Die deutsche Poetik dieser Zeit muss als
ein Zusammenhang erkannt werden, der von den allgemeinsten
ästhetischen Principien bis in die technischen Feststellungen
zwischen Goethe und Schiller sowie in die Analysen von Form
und Composition bei den Schlegel und Schleiermacher reichte, [322]
Sie war ein lebendiges, wirkendes Denken, wirkend auf die
Dichtung, die Kritik, das Verständniss und die literarhistorische
oder philologische Erkenntniss. Und nur sofern philosophisches
Denken wirkt, hat es ein Recht, zu existiren.


  Die erste Errungenschaft dieser deutschen Aesthetik ist
ein wichtiger Satz, abstrahirt aus der Entwicklung, welche die
Poesie in der modernen Zeit durchlaufen hatte und die nun in
der Epoche Goethes und Schillers deutlich überschaut werden
konnte. In dem Vorgang von Differenzirung, in welchem die
einzelnen Systeme der Cultur bei den neueren Völkern seit dem
Ausgang des Mittelalters sich immer entschiedener trennten, hat
sich auch die Kunst als eine selbständige Lebensäusserung von
eigenem Gehalt entwickelt. Und indem nun im 18. Jahrhundert
in Deutschland die Poesie zur herrschenden Macht wurde, indem
sie, durch Selbstbesinnung über die in ihr wirkende seelische
Kraft, ihres genialen Vermögens eine eigene Welt hervorzubringen
inne wurde, indem man die Verkörperung dieses genialen
Vermögens in Goethe genoss, entstand die für die Poesie grundlegende
Erkenntniss: die Poesie ist nicht die Nachahmung einer
Wirklichkeit, welche ebenso schon vor ihr bestände; sie ist
nicht eine Einkleidung von Wahrheiten, von einem geistigen
Gehalt, der gleichsam vor ihr da wäre; das ästhetische Vermögen
ist eine schöpferische Kraft zur Erzeugung eines die
Wirklichkeit überschreitenden und in keinem abstracten Denken
gegebenen Gehaltes, ja einer Art und Weise, die Welt zu betrachten.
So wurde der Poesie ein selbständiges Vermögen,
Leben und Welt zu schauen, zuerkannt; sie wurde zu einem
Organ des Weltverständnisses erhoben und trat neben Wissenschaft
und Religion. Wahrheiten und Ueberspannungen waren
in diesem Satze gemischt, und man darf sagen, dass eine künftige
Poetik grosse Mühe haben wird, Beides zu scheiden.


  Der Erste, welcher die Natur dieser ästhetischen Genialität
in einer Formel zu entwickeln unternahm, war Schiller. Man sehe
von der unvollkommenen Begründung durch eine Trieblehre ab:
für Schiller ist Schönheit lebende, athmende Gestalt. Diese wird
da hervorgebracht, wo die Anschauung im Bilde das Leben [323]
auffasst, oder wo die Gestalt zum Leben beseelt wird. Die
Gestalt muss Leben werden und das Leben Gestalt. „Ein
Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch
lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, dass seine Gestalt
Leben und sein Leben Gestalt sei. So lange wir über seine
Gestalt bloss denken, ist sie leblos, blosse Abstraction; so lange
wir sein Leben bloss fühlen, ist es gestaltlos, blosse Impression.
Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt und sein
Leben in unsrem Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt,
und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön bebeurtheilen“
(Schiller ästh. Briefe. Bf. 15).


  Ich werde den Satz, dass der ästhetische Vorgang die im
Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfasst und so
die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung
darstellt und so das Leben in Gestalt überträgt, dass also Uebersetzung
von Erlebniss in Gestalt und von Gestalt in Erlebniss
hier beständig stattfindet, als das Schiller'sche Gesetz bezeichnen
und dasselbe später psychologisch genauer zu formuliren und zu
begründen suchen. Dem Satze Schillers sind die Aeusserungen
Herders in der Kalligone verwandt, nach welchen Schönheit
gewahrt wird, wenn die im Gefühl als Wohlsein empfundene
Vollkommenheit der Dinge wiederklingt in unsrem eignen
Wohlsein.


  Diese Formel der Einheit von Innen und Aussen, von Lebendigkeit
und Gestalt ist dann bekanntlich zum Vehikel der
Weltansicht, ja des Philosophirens geworden. Die ästhetische
Weltansicht entstand, angeregt durch die Besinnung auf die poetischen
Vorgänge, insbesondere auf das in Goethe gewaltig Wirkende,
vermittelt durch Schillers Energie der Reflexion, und durch
Schelling in Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Speculation
gebracht. Das ästhetische Vermögen erhebt das in uns erlebte Verhältniss
von Innen und Aussen zu lebendiger Energie und verbreitet
es auch über die dem Denken todte Natur. Dies erlebte
Verhältniss wird nun im Identitätssystem zur Formel für den Grund
und Zusammenhang der Welt; so konnte dann natürlich diese
Formel rückwärts wieder als objectives Princip für die Ableitung [324]
der Schönheit in der Natur und des sie heraushebenden und steigernden
Schaffens im Künstler benutzt werden.


  Zunächst entstand die ästhetische Weltansicht Schellings in
der Darstellung des Systems seiner Philosophie von 1801,1) welche
die Welt als das Product des Genius, d. h. der absoluten Vernunft
auffasst, in der Natur und Geist eins sind. Das schaffende Vermögen
Schillers ist hier Grund der Welt geworden. Dann eröffnete
A. W. Schlegel im November 1801 seine Vorlesungen
über schöne Literatur und Kunst, welche nun eine durchgeführte
Aesthetik in unsrem Verstande sind und das Schöne unter einer
verwandten Formel als die symbolische Darstellung des Unendlichen
bestimmen. Darauf begann Schelling mit Hilfe dieser
Vorlesungen Schlegels 1802 seine Vorlesungen über Kunst,
welche aus der „Kunst an sich“, der Wurzel der Kunst im
Absoluten, das Schaffen des Künstlers ableiten, ohne doch zu
dem Reichthum A. W. Schlegels etwas Erhebliches hinzuzufügen.
Die vollkommenste Darstellung dieses metaphysischen Prinzips
der Kunst enthält Schellings spätere Rede über das Verhältniss
der bildenden Künste zur Natur von 1807; der Künstler
muss „dem im Inneren der Dinge schaffenden Naturgeist nacheifern“.
Und die Aesthetik Hegels und seiner Schüler hat
dieses metaphysische Princip durch alle Erscheinungen der
Kunst durchgeführt. Negativ hat diese ästhetische Philosophie
das Verdienst, das Princip der Nachahmung abgethan zu haben.
Dagegen hat ihre positive, Schiller überschreitende Aufstellung
die Grenzen verwischt, welche die ästhetische Lebendigkeit des
Anschauens von dem wissenschaftlichen Denken, dem philosophischen
Erkennen trennen.


  Der zweite Satz dieser Aesthetik enthält die elementare
Begründung des Schiller'schen Gesetzes. Er ist schon von Kant
einleuchtend aus einer Analyse des Geschmacks und des Gefallens
entwickelt worden und kann vermittelst des Satzes, dass
im ästhetischen Eindruck nur gemindert derselbe zusammengesetzte
Vorgang vorliegt wie im ästhetischen Schaffen, auch [325]
auf dieses letztere ausgedehnt werden. Das Geschmacksurtheil
ist ästhetisch, d. h. es hat seinen Bestimmungsgrund in der Beziehung
der Objecte zu den Gefühlen der Lust und Unlust,1)
jedoch ohne dass eine Beziehung zum Begehrungsvermögen hinzuträte;
„die blosse Vorstellung des Gegenstandes in mir ist von
Wohlgefallen begleitet, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung
der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag“;
„das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist
ohne alles Interesse“,2) im Gegensatz zu dem Wohlgefallen am
Angenehmen oder Guten; das Geschmacksurtheil ist bloss contemplativ.
„Geschmack ist das Beurtheilungsvermögen eines
Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen
oder Missfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines
solchen Wohlgefallens heisst schön“.3) Und da es keinen Uebergang
in Begriffen zu Lust oder Unlust giebt, so tritt als weitere
Bestimmung hinzu, dass das ästhetische Wohlgefallen nicht
durch Vermittlung von Begriffen entsteht. So hebt die Kant'sche
Analyse in der Wurzel die Betrachtung auf, nach welcher das
Schöne das Wahre oder ein Inbegriff von Vorstellungen vollkommener
Art in sinnlicher Einkleidung wäre und rückt die
Bedeutung der Gefühle für die ästhetischen Vorgänge in den
Mittelpunkt. Dieser zweite Satz unserer Aesthetik ist besonders
glänzend von Schopenhauer dargestellt worden. Die Aufgabe
ist, Ergänzung und tiefere Begründung hinzuzufügen, indem die
Bedeutung der Gefühle für die Vorgänge des Schaffens, der
Metamorphose der Bilder, der Composition erforscht wird. Dann
erst erhält dieser sicherste Theil der bisherigen ästhetischen
Grundlegung die erforderliche Verallgemeinerung und psychologische
Begründung.


  Ein dritter Satz der deutschen Aesthetik liegt in der
Linie, welche von dem Schiller'schen Gesetz rückwärts zu den Bedingungen
geht, denen die äussere Wirklichkeit entsprechen [326]
muss, um als ein Lebendiges ästhetisch angeschaut werden zu
können. Er liegt also auch in der Linie zur Identitätsphilosophie,
zu einer ästhetischen Metaphysik hin. Hieraus ergiebt
sich schon, dass es sehr schwer sein wird, ihn angemessen zu
formuliren. Von der Plastik Herders, der „Nachahmung des
Schönen“ von Ph. Moritz, die bekanntlich Goethe in Italien beeinflusst
hat, durch Kant, Schiller, Goethe bis auf Schelling, Hegel
u. a. haben sehr verschiedene Formeln für dieses Verhältniss
des künstlerischen Schaffens zur äusseren Wirklichkeit sich entwickelt.
Sie sind entweder sehr dünn und inhaltlos oder dem
Zweifel ausgesetzt. Die Kunst löst beständig eine Aufgabe, für
deren Lösung die Bedingungen in der äusseren Wirklichkeit
liegen müssen. Zwischen der äusseren Wirklichkeit und dem
Auge, das in ihr die Schönheit gewahrt, muss ein Verhältniss
bestehen, welches das Erblicken der Schönheit in der Welt ermöglicht.
Das Schaffen des Künstlers steigert Eigenschaften,
die im Wirklichen schon liegen. Die Aufgabe entspringt, diese
Eigenschaften sowie das hier stattfindende Verhältniss zu erkennen,
und erst die moderne Entwicklungslehre, verbunden
mit der Psychologie, scheinen das zu ermöglichen.


  Ein vierter Satz kann empirisch in unbestimmter
Fassung aus den ästhetischen Eindrücken abstrahirt werden, aber
seine genauere Bestimmung von den entwickelten Sätzen aus
bietet erhebliche Schwierigkeiten.


  Die Aristotelische Technik beanspruchte Allgemeingültigkeit,
und die spätere Poetik hat diesen Anspruch festgehalten. Kant
formulirte diese Voraussetzung eines natürlichen Systems der
Kunst folgendermassen. „Das Geschmacksurtheil sinnet das Wohlgefallen
an einem Gegenstande Jedermann an, und dieser Anspruch
auf Allgemeingültigkeit gehört so wesentlich zu einem
Urtheil, dadurch wir etwas für schön erklären, dass ohne dieselbe
dabei zu denken, es Niemandem in die Gedanken kommen würde,
diesen Ausdruck zu brauchen, sondern Alles, was ohne Begriff gefällt,
würde zum Angenehmen gezählt werden.“ Dieser Satz ist
eine Uebertragung des Begriffs von Allgemeingültigkeit aus dem
Gebiet der Erkenntniss auf das des Geschmackes. Hier wie [327]
dort schwebt Kant ein zeitlos gültiges System von Bestimmungen
vor. Und nicht hier allein, sondern ebenso auf dem Gebiet des
Rechts, der Religion, der Sittlichkeit hat Kant ein natürliches
oder rationales System angenommen, welches zeitlos gültig in
seinen Bestimmungen sei. Daher darf auch die Hypothese Kants
über Ursprung und Entwicklung des Planetensystems so wenig
als seine Ansicht von der geschichtlichen Entwicklung zur vollkommenen
bürgerlichen Verfassung uns bestimmen, seinen Standpunkt
als eine Entwicklungslehre aufzufassen. Im Einverständniss
mit Kant haben Goethe und Schiller eine allgemeingültige
Technik aller Poesie auf der Grundlage der ästhetischen
Begriffe abzuleiten unternommen. Im selben Zuge
lag Schillers idealischer Mensch, der vermittelst des Schönen
in sich die höchste Freiheit herstellt. Und dieser idealische
Mensch ist dann auch bei Goethe, nicht ohne Schillers Mitwirkung,
als Ziel der Entwicklung in seinen beiden grossen,
das Leben umspannenden Dichtungen, dem Faust und Meister,
aufgetreten. Der wunderbare Zauber dieser beiden Werke entspringt
theilweise aus dem Heraufheben eines Strebens im Engen,
Wirklichen, thatsächlich Bedingten, wie es Goethes realistischer
Natur zusagte, zu dieser reinen Idealität. Dieses allgemeingültige
Ideal der Humanität ist, historisch angesehen, der tiefste
Gehalt unserer deutschen Dichtung.


  Diesem Standpunkte gegenüber hat Herder, der Begründer
unserer historischen Schule, die geschichtliche Mannigfaltigkeit des
nationalen Geschmacks nicht minder einseitig geltend gemacht. Er
nahm seinen Ausgangspunkt in dichterischen Werken, die ganz
ausserhalb des Gesichtskreises der technischen Poetik gelegen
hatten. Diese hatte aus den Dichtungen der Alten Formen und
Regeln abstrahirt. Er fand gleichsam die Urzelle der Poesie in
dem Naturlaut und lyrischen Gang des Volkslieds, der hebräischen
Poesie, der Dichtung von Naturvölkern. Er sah den Keim der
Dichtung in dem Musicalischen, Lyrischen. So erfasste er die
dem Anschaulichen gegenüberliegende andere Seite aller Dichtung,
die bisher nicht beachtet worden war. Und hier hat er
mit einziger Zartheit des Gefühls nachempfunden, wie aus der [328]
Sprache eines Volkes naturgewachsen nationale Poesie entspringt.
Hamann schon hatte gesagt: „Das Gebiet der Sprache erstreckt
sich vom Buchstabiren bis auf die Meisterstücke der Dichtkunst
und feinsten Philosophie, des Geschmacks und der Kritik“;1)
Herder sprach aus: „Der Genius der Sprache ist auch der Genius
der Literatur einer Nation“.2) Wie aus der Sprache als ältester
Ausdruck seelischer Lebendigkeit die Poesie hervorgegangen
sei, war früher auch beobachtet worden. Die Alten haben gesehen,
dass die Ausbildung der Poesie der Entfaltung der Prosa
vorausgegangen ist. Blackwell in seinem Leben Homers hatte
ausgesprochen, dass die ältesten Menschen die Töne weit stärker
hören liessen als wir in unsrer jetzigen Rede: ihr Sprechen war
ein Singen: die Ursprache war voll von Metaphern, und die
Regel der Poesie, in Metaphern zu reden, war ursprüngliche
Natur der Sprache. Note: Blackwell: Leben Homers http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10233539_00005.html Diese Beobachtungen hatte Hamann in Sätze
der Aesthetica in nuce zusammengefasst: „Poesie ist die Muttersprache
des menschlichen Geschlechts; wie Gesang älter als
Declamation, Tausch als Handel. Sinne und Leidenschaften
reden und verstehen nichts als Bilder.“ Herder hat von seinem
Aufsatz über die Lebensalter der Sprache ab diesen geschichtlichen
Causalzusammenhang, in welchem die Dichtung naturwüchsig
auf der Grundlage der Sprache in jeder Nation entsteht,
entwickelt. Er hat mit genialer Lebendigkeit übersetzend,
nachbildend, analysirend sich in die alte Poesie der verschiedensten
Völker vertieft. Er ist der Begründer einer geschichtlichen
Erkenntniss der Dichtung in ihrem Verhältniss zur Sprache
und zum nationalen Leben geworden, weil er in Sprache und
Dichtung den Athem nationalen Lebens empfand. So beginnt
mit Herder der Gesichtspunkt einer geschichtlichen Poetik aufzugehen.
Die unendlich wandelbare sinnlich geistige Organisation
des Menschen in ihrem Verhältniss zur Aussenwelt ist ihm die
Bedingung der Schönheit wie des Geschmacks und diese wandeln
sich mit ihr.

[329]

  Herder ist im geschichtlichen Rechte, nicht nur gegen Aristoteles,
sondern auch gegen Kant und Schiller. Aber er erlag
diesen Gegnern, da ihm die Klarheit der Begriffe und die Festigkeit
der Begründung fehlten. Das embryonische Denken des
genialen Mannes hat das Problem, das im Verhältniss der allgemeingültigen
zu den geschichtlich veränderlichen Elementen
der Dichtung gelegen ist, nicht aufgelöst, ja nicht einmal ganz
erkannt, da er in einseitiger Polemik gegen dies rationale System
und die Lehre von der Allgemeingültigkeit sich verloren hat.
Auch die wichtigen Arbeiten Schillers und der Schlegel, welche
in der naiven und sentimentalischen, der classischen und romantischen
Poesie geschichtliche Gestalten der Dichtung erkannten
und schieden, sind von ihnen selbst und den folgenden Aesthetikern
für die Auflösung dieser Frage nicht benutzt worden.


  Auf der Grundlage dieser noch unvollkommen formulirten
und begründeten, ja zum Theil durch einseitige Fassung zu Behauptung
und Gegenbehauptung auseinandergerissenen Sätze
hat nun die deutsche Aesthetik einen sehr grossen Reichthum
tiefer und feiner Einsichten über den ganzen Zusammenhang
der Poesie, von dem Begriff der Schönheit bis zu den
Formen der einzelnen Dichtungsarten, entwickelt. Den dargelegten
Sätzen gemäss hat sie überall den Seelenzustand, der
ein Dichtungswerk hervorbringt, zu der Form, die ihm eigen ist,
in causales Verhältniss gesetzt. Dies war im Ganzen der Fortschritt,
der unzweifelhaft überhaupt die Betrachtung von Werken
in dieser Epoche auszeichnet: man mag daher Philologie und
Kritik dieser Zeit als die ästhetische bezeichnen. Die Analysis
der Form ist dann nach dieser aus dem inneren Seelenleben
erklärenden Methode auf die Mannichfaltigkeit der europäischen
Literatur angewandt worden. Humboldt hat das Epos analysirt
und diese ästhetische Betrachtungsweise in dem Begriff der inneren
Sprachform auch auf die Sprache übertragen. Goethe und Schiller
wechseln beständig zwischen ästhetischer Reflexion und eigenem
Schaffen. Die Schlegel haben zuerst die Form des spanischen
und altenglischen Theaterstücks erkannt sowie die Form des Prosawerks
an Lessing, Boccaccio und Goethe untersucht. Schleiermacher [330]
hat den Plato als philosophischen Künstler von diesem Verfahren
aus verstanden und von ihm aus die Hermeneutik umgestaltet.
Indem Kant, für welchen die Absonderung der Form vom
Stoff und die Beziehung der Form auf die im Geiste wirkende Kraft
überall ein Theil seiner kritischen Methode war, sich mit dieser
Richtung der ästhetischen und philologischen Analyse begegnete,
entstand die grosse Zeit unsrer deutschen Philologie, Kritik und
Aesthetik.


  Doch entstand zugleich in unsrer Dichtung und Poetik
Ueberschätzung der Form, die Schiller'sche Verehrung eines
von der Wirklichkeit getrennten Bezirkes reiner und idealischer
Gestalten, als eines Reiches der Freiheit und Schönheit.
Schiller wurde schliesslich dahin geführt, einen Vorzug der
griechischen Tragödie darin zu sehen, dass ihre Personen „idealische
Masken“ seien, eine Schranke des Wilhelm Meister in
der Prosaform desselben zu erblicken, ja Goethe auszusprechen,
er werde künftig den schönen Gehalt auch nur in metrischer
Form darstellen dürfen. Die romantische Welt des schönen
Scheins stellte sich ein. Otto Ludwig sagt: „Die unnatürliche
Scheidung, die Goethe und Schiller und auf ihren Spuren die
Romantiker in Kunst und Leben gebracht, indem sie das
Aesthetische, das Schöne vom Guten und vom Wahren trennten
und aus der Poesie eine Fata morgana machten, eine geträumte
Insel voll Traumes, die den Menschen mit der Welt und sich
selbst entzweit und ihm mit dem Heimathsgefühle in dieser zugleich
die Thatkraft raubt, die unnatürliche Scheidung, die unserer
Bildung den weiblichen Charakter aufprägte, habe ich für mich
durch das Verständniss Shakespeares überwunden, und mein
ganzes Streben ist, meine Heilung auch auf andere Kranke zu
übertragen.“1) Auch in der Theorie machte sich die metaphysische
Methode höchst nachtheilig geltend. Hatte man jetzt
die Aufgabe, die Seelenzustände, welche die Formen erwirken
und in ihnen sich darstellen, aufzufassen, so hätte hier nur eine
Psychologie, welche das geschichtliche Wesen des Menschen zu [331]
erkennen anleitete, helfen können. Da diese mangelte, wurde
die Uebersicht dieser Seelenzustände nur in genialer Anschauung
oder durch eine willkürliche Methode hergestellt. Dies geht von
der Art, wie Schiller naive und sentimentale Dichtung gegeneinander
absetzte, bis zu der, in welcher die Aesthetik der
Hegel'schen Schule durch eine äusserliche Dialektik die dichterischen
Seelenzustände in Beziehungen zu einander brachte.

3. Probleme und Hilfsmittel einer heutigen
Poetik.


  Die Aufgabe entsteht, die Probleme, welche jene Zeit
ästhetischer Speculation bearbeitete, in den Zusammenhang der
modernen Erfahrungswissenschaft zu stellen, den sehr grossen
Reichthum genialer Beobachtungen und Verallgemeinerungen,
den sie aufgehäuft hat, in dem Geiste dieser empirischen Forschung
zu verwerthen und den Ertrag der technischen Poetik in ein
wissenschaftliches Verhältniss zu dem der ästhetischen Speculation
zu setzen. Welche Hilfsmittel und Methoden stehen uns
dazu zur Verfügung?


  Die Poetik, zurückgeblieben in empirischer Causalerkenntniss
wie sie ist, wird zunächst von den verwandten Wissenschaften
in Bezug auf ihre Methoden und Hilfsmittel zu
lernen suchen.


  Die nächstverwandte Wissenschaft, die Rhetorik, ist leider
auf dem Standpunkt stehen geblieben, den sie im Alterthum erreicht
hatte. Sie ist eine elementare Formenlehre und Technik.
Sie hat noch keinen Schritt gethan, der Causalerkenntniss sich
anzunähern. Und doch wäre sie sowohl in dem eingeschränkten
Verstande der Alten als in dem weiteren einer Theorie der
prosaischen, d. h. Beweis und Ueberzeugung bezweckenden Rede
für die Philologie und die Praxis des Lebens nützlich. Die
Hilfsmittel, welche neben der Grammatik und Metrik der Sinn
für logischen Zusammenhang und die ästhetische Feinfühligkeit
der Philologie gewähren, sind nahezu erschöpft. So wird erst
auf dem Wege der Vergleichung und psychologischen Begründung [332]
festgestellt werden müssen, in welchem Umfang und
welchen Verhältnissen die Elemente des Styls innerhalb eines Individuums
variiren. Damit würde für gewisse Fragen der niederen
und höheren Kritik eine systematische Grundlage der Untersuchung
geschaffen. ─ Nahe verwandt ist dann die Hermeneutik;
aber diese ist zwar von Schleiermacher auf den Standpunkt
ästhetischer Formbetrachtung erhoben worden, jedoch
seitdem hat sie diesen Standpunkt so wenig überschritten als
die Poetik.


  Dagegen sind Grammatik und Metrik Grundlagen der
Poetik und Vorbilder für eine vergleichende Behandlungsweise
derselben, welche zunächst einzelne Causalverhältnisse in ihrer
Gleichförmigkeit feststellt und sich so allmählig einer durchgreifenden
Erkenntniss des ursächlichen Zusammenhangs annähert.


  Doch darf der Unterschied nicht verkannt werden, der zur
Zeit zwischen den Methoden der Grammatik und denen der
Poetik stattfinden muss. Der Grammatiker hat innerhalb der
Lautlehre sehr elementare Veränderungen vor sich, und er vermag
Reihen derselben innerhalb der verschiedenen Sprachen
herzustellen und miteinander zu vergleichen. Er kann das genealogische
Verhältniss zwischen den Sprachen zu Hilfe nehmen.
Er kann die physiologischen Bedingungen für die Gleichförmigkeiten
dieser elementaren lautlichen Veränderungen erkennen.
Die Poetik kann nicht eine genealogische Gliederung der dichterischen
Schulen benutzen. Sie vermag auch nicht die Veränderungen,
die mit einem Typus oder einem Motiv vor sich
gehen, in feste Reihen zu bringen. Die physiologische Seite des
dichterischen Vorganges ist nicht in derselben Weise für die
elementare Begründung der Poetik zu benutzen, als die des
Sprachvorgangs es für die der Grammatik ist. Wohl durchdringt
der Wechsel in Laut, Betonung und Zeitmass alle Poesie
bis hinab in die dichterische Prosa, aber diese Seite der Poesie
ist augenscheinlich weniger zur elementaren Begründung der
Poetik geeignet als die Lautlehre für die der Grammatik. Versuche,
die physiologischen Begleiterscheinungen für höhere dichterische
Vorgänge aufzufinden, wie sie die Franzosen in ihren [333]
Theorien der Hallucination gemacht haben, finden wir vorläufig
noch ergebnisslos. So würde kaum innerhalb der Poetik ein gleich
günstiges Ergebniss als innerhalb der Grammatik erreicht werden
können, wollte man an das Muster der Letzteren sich halten und
bei der äusseren empirischen Beobachtung und der gegenseitigen
Erhellung eines ursächlichen Zusammenhangs durch einen anderen
verwandten, der Verallgemeinerung durch Vergleichung und der
physiologischen Begründung stehen bleiben. Wir müssen versuchen,
durch solche Hilfsmittel soweit als möglich zu kommen;
aber die folgenden Gründe bestimmen uns, den Kreis dieser
Hilfsmittel und Methoden zu überschreiten.


  Der Grammatiker findet die Sprache als ein fertiges System
vor, in welchem so langsam die Veränderungen stattfinden, dass
sie sich der directen Auffassung durch Beobachtung entziehen. Die
hervorbringenden Kräfte in dem sprachbildenden Vorgang sind
zwar dieselben, welche im Seelenleben überhaupt aufgefasst werden
können, aber ihre Beziehung zu dem Sprachvorgang wird durchweg
nicht erlebt, sondern durch Schlüsse gewonnen; hierin ist
die Verwandtschaft der Methode der Sprachforschung mit der
Methode der Naturwissenschaft begründet. Dagegen der lebendige
Vorgang, in welchem die Dichtung entspringt, kann von
dem Keim einer solchen bis zu ihrer vollendeten Gestalt an dem
heute lebenden Dichter beobachtet werden. Und jeder Mensch
von grösserer dichterischer Lebendigkeit ist im Stande, ihn ganz
nachzufühlen. Hierzu kommen die Selbstzeugnisse der Dichter
über den Vorgang des Schaffens in ihnen, die literarischen Denkmale,
welche uns gleichsam die Lebensgeschichte, in welcher hervorragende
Dichtungen sich entfalteten, festzustellen gestatten.
Weiter aber sind dann die Erzeugnisse dieser Vorgänge in einer
ungeheuren, beinahe unübersehbaren Literaturmasse erhalten und
sie tragen eine Eigenschaft an sich, welche sie neben den
Werken der Prosa besonders für die Causaluntersuchung geeignet
macht. Durchsichtig pulsirt gleichsam das schaffende
Leben, das sie hervorbrachte, in den dichterischen Werken.
Vielfach kann noch in ihrer Gestalt das Gesetz ihrer Bildung
erfasst werden. Indem nun unsre Beobachtungen über dichterisches [334]
Schaffen und die ihm verwandte ästhetische Empfänglichkeit,
sowie die Zeugnisse über diese Vorgänge uns
gegenwärtig sind, indem wir die so erlangten psychologischen
Einsichten alsdann in die äussere Geschichte der Ausbildung
von Dichtungen übertragen, indem wir endlich die fertige durchsichtige
Gestalt der Dichtungen zergliedern und hierdurch die
Einsicht in die Genesis vervollständigen und bestätigen: eröffnet
sich auf diesem Gebiet eine hinreissende Aussicht; hier vielleicht
wird es zuerst gelingen, eine Causalerklärung aus den erzeugenden
Vorgängen durchzuführen; die Poetik scheint unter Bedingungen
zu stehen, welche vielleicht ihr zuerst die innere
Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach causaler
Methode ermöglichen.


  Auch kann allein von einem solchen Verfahren gehofft werden,
dass es die centralen Fragen der Poetik, mit denen
wir die ästhetische Speculation ringen sahen, zur Entscheidung
bringe und die Poetik so gestalte, dass sie zur Verwerthung befähigt
wird. Der Zusammenhang zwischen dieser inneren oder
psychologischen Methode, den centralen Fragen der Poetik und
ihrer thatsächlichen Verwerthbarkeit kann hier nur an folgenden
drei Problemen angedeutet werden.


  Der selbständige Werth der Dichtung, die Function, welche
sie in der Gesellschaft hat, kann nach jener äusseren empirischen
Methode niemals aufgezeigt werden. Wollte der Geist sich seine
eigenen Schöpfungen nur als ein objectiv Empirisches gegenüberstellen
und nach der äusseren naturwissenschaftlichen Methode
analysiren: dann träte eine Selbstentfremdung des Geistes seinen
eigenen Schöpfungen gegenüber ein. Die sokratische Selbsterkenntniss
würde einer äusseren descriptiven Methode Platz
machen. Die Poetik wäre ausser Stande, die lebendige Function
der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen und ihr hierdurch
ihren Platz und ihre Würde in derselben zu sichern.


  Die centrale Frage aller Poetik: Allgemeingültigkeit
oder geschichtlicher Wechsel der Geschmacksurtheile, des Schönheitsbegriffs,
der Technik und ihrer Regeln muss beantwortet
werden, soll die Poetik dem schaffenden Dichter nützen, das Urtheil [335]
des Publicums leiten, der ästhetischen Kritik und Philologie einen
festen Halt gewähren. Aber jedes empirische, vergleichende Verfahren
kann nur aus dem Vergangenen eine Regel abziehen,
deren Gültigkeit also geschichtlich beschränkt ist, sie kann nie
das Neue, Zukunftvolle binden oder beurtheilen. Diese Regel
ist nur rückwärts gewandt, enthält aber nicht das Gesetz der
Zukunft. Seitdem die Voraussetzung vom mustergültigen Werth
der antiken Dichtung gefallen ist, können also nur aus der
menschlichen Natur das Gesetz des Schönen und die Regeln
der Poesie abgeleitet werden. Die Poetik hatte zuerst einen
festen Punkt in dem Mustergültigen, aus dem sie abstrahirte,
dann in irgend einem metaphysischen Begriff des Schönen: nun
muss sie diesen im Seelenleben suchen.


  Ein allgemeines Verhältniss zwischen dem Psychologischen
und dem Geschichtlichen erweist sich hier, welches durch alle
Gebiete hindurchgeht. Aus dem dichterischen Vorgang, den
Darstellungsmitteln, deren er sich bedient, den Gegenständen,
die er hinstellt, entspringen die gleichförmigen Bedingungen,
unter denen alles Dichten steht, die allgemein gültigen Regeln,
an die es gebunden ist. Dann treten für die einzelnen Formen
der Poesie besondere Bedingungen hinzu, und so entstehen die
allgemeingültigen Normen der lyrischen, epischen, dramatischen
Dichtung. In diesen Formen, nach diesen Regeln bildet sich
eine poetische Technik aus: Technik der griechischen, der spanischen
oder der altenglischen Bühne. Sie kann ebenfalls in
einer Formen- und Regellehre entwickelt werden. Aber dieselbe
ist historisch bedingt, nicht allgemein menschlich. Ihre Unterlage
bilden Gegebenheiten des geschichtlichen Lebens, des ganzen
Gemüthsstandes, weiterhin Darstellungsgewohnheiten: so entsteht
eine national und zeitlich bestimmte Art, Personen hinzustellen,
Handlungen zu verknüpfen: die Technik, welche nun in der
grossen Poesie von schöpferischen Genies entwickelt wird, bleibt
an dies Alles gebunden und vermag nur in die Züge dieses thatsächlichen
und geschichtlichen Charakters der Poesie Einheit,
Nothwendigkeit und erhöhte Kunstwirkung zu bringen. Daher ist
die Phantasie des Dichters nicht nur in ihrem Stoff, sondern [336]
auch in ihrer Technik geschichtlich bedingt. Als allgemeingültig
betrachtet sich die poetische Technik nur, weil ihr das
historische Bewusstsein fehlt. Auch die altenglischen Dichter,
besonders Shakespeare, haben ohne Zweifel so gut als die spanischen
oder französischen ein langes Nachdenken auf die von
ihnen geschaffene meisterhafte Technik verwandt, und Otto
Ludwig hat sich das grosse Verdienst erworben, diese Technik
mit dem congenialen Tiefsinn eines ächten dramatischen Dichters
zu analysiren; nur dass er ihren geschichtlichen Ursprung
und ihre geschichtliche Begrenzung nicht erkannt hat.


  Auch können die Einzelformen der Dichtung nicht durch
die Methode äusserer Beobachtung und Vergleichung in ihren
inneren Antrieben erklärt und unter allgemeingültige Regeln
gebracht werden. Ein tiefer psychologischer Grundunterschied, Aussprache
des eigenen bewegten Inneren und Hingabe an das Gegenständliche,
geht von den primären Gebilden der Poesie aufwärts.


  So wird die Poetik den Vorzug nutzen müssen, mit den
Hilfsmitteln äusserer Beobachtung, gegenseitiger Erhellung,
Verallgemeinerung durch Vergleichung, Herstellung von Reihen
zusammengehöriger Momente einer Entwicklung und Ergänzung
derselben etc. das psychologische Studium des dichterischen
Schaffens zu verbinden. Wenn in dem Folgenden das Psychologische
überwiegt, weil es sich um die Grundlegung handelt:
so würde bei einer Durchführung der Poetik ersichtlich werden,
welchen Gewinn jene andere Seite der modernen Methode zu gewähren
vermag, insbesondere, wenn die älteste erreichbare Kunde
und die primitiven dichterischen Leistungen der Naturvölker die
Unterlage des vergleichenden Verfahrens bilden.

Beschreibung der Organisation des Dichters.

1. Die Vorgänge in seinem Seelenleben, abgesehen
von seiner besonderen Organisation.


  Als das Einfachste und Nächste erscheint, nach literarischer
oder biographischer Methode die Züge, welche an den Dichtern
gemeinsam hervortreten, zu beobachten, zu sammeln und zu [337]
vereinigen. Sie heben sich auf dem Grunde desjenigen ab, was
in dem Poeten ganz ebenso wie in dem Philosophen, Naturforscher
oder Politiker auftritt. Es wäre überflüssig, hiervon
zu sprechen, wenn nicht sowohl die gräcisirende als die romantische
Richtung diese Thatsache verkannt und den Dichter in
die Wolken idealer Formen oder einer vom Wirklichen abgetrennten
Scheinwelt versetzt hätte.


  Das Object der Dichtung sind nach Aristoteles die handelnden
Menschen. Ist auch diese Formel zu eng, so darf doch gesagt
werden: nur sofern ein psychisches Element oder eine Verbindung
von solchen mit einem Erlebniss und seiner Darstellung
in Verhältniss steht, kann es ein Bestandtheil der Dichtung
sein. Die Unterlage aller wahren Poesie ist sonach Erlebniss,
lebendige Erfahrung, seelische Bestandtheile aller Art, die mit
ihr in Beziehung stehen. Alle Bilder der Aussenwelt können
durch ein solches Verhältniss mittelbar Material für das Schaffen
des Poeten sein. Jede Operation des Verstandes, welche die
Erfahrungen verallgemeinert, ordnet und ihre Benutzbarkeit verstärkt,
dient so ebenfalls der Arbeit des Dichters. Dieser Erfahrungskreis,
in dem der Dichter wirkt, ist nicht von dem
unterschieden, aus dem der Philosoph oder der Politiker schöpft.
Die Jugendbriefe Friedrichs des Grossen wie die eines heutigen
Staatsmanns sind voll von Elementen, welche ebenso in der
Seele eines grossen Dichters gefunden werden, und viele Gedanken
Schillers könnten die eines politischen Redners sein. Eine
mächtige Lebendigkeit der Seele, Energie der Erfahrungen
vom Herzen und der Welt, Kraft der Verallgemeinerung und
des Beweises bilden den gemeinsamen mütterlichen Boden geistiger
Leistungen von sehr verschiedener Art, darunter auch
derer der Poeten. Unter dem Wenigen, was wir von Shakespeares
Lectüre aus seinen Werken schliessen können, ist, dass
er Montaigne geliebt haben muss. Dieses urwüchsige Verhältniss
eines elementaren mächtigen Intellects zu Lebenserfahrung und
Verallgemeinerung derselben muss bei jedem grossen Dichter
bestanden haben. Goethe erklärt: „Darauf kommt Alles an:
man muss etwas sein, um etwas zu machen.“ „Der persönliche [338]
Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim
Publicum hervor, nicht die Künste seines Talents.“


  Lebensvorstellungen sind so überall der Boden, aus welchem
Dichtung die wesentlichen Bestandtheile ihrer Nahrung zieht.
Die Elemente der Poesie: Motiv, Fabel, Charaktere und Handlung
sind Transformationen von Lebensvorstellungen. Man unterscheidet
sofort die Helden, welche aus Bühnenmaterial, Pappe,
Papier und Flittergold angefertigt sind, wie auch ihre Rüstungen
schimmern mögen, von denen, deren Bestandtheile Realität
sind. Die Einzel- oder Allgemeinvorstellungen von Charakteren,
deren Elemente in uns oder in Wirklichem ausser uns sind, erfahren
nur eine Umwandlung, durch welche die Person des
Drama oder des Romans entsteht. Der Nexus der Vorgänge,
den die Erfahrungen des Lebens darbieten, erfährt ebenso nur
eine Umwandlung, um zur ästhetischen Handlung zu werden.
Es giebt keine Theatermoral, keine Auflösungen, die im Roman
befriedigen, doch nicht im Leben; das eben ist das mächtig Ergreifende
an einer grossen Dichtung, dass sie aus einer uns
ähnlichen, nur grösseren und lebendigeren Seele entspringt, als
unsre ist, und so unser Herz erweitert, so wie wir einmal sind,
uns aber nicht in die dünnere, höhere Atmosphäre einer uns
fremden Welt versetzt. Die Leistungen der Einbildungskraft
entwickeln sich nicht in einem leeren Raum; in einer gesunden,
von Realität erfüllten mächtigen Seele sollen sie entspringen
und so das Beste im Leser oder Hörer stählen und stärken, ihn
lehren, sein eigenes Herz besser verstehn, auf einförmigen Strecken
seines Weges verborgenes Leben, gleichsam bescheidenes Grün
zu beachten, und dann auch wieder dem Ausserordentlichen auf
demselben gewachsen zu sein.


  So ist schon der mütterliche Boden aller ächten Poesie ein
geschichtlich Thatsächliches. Eine bestimmte Weise, Menschen
zu sehen, feste Typen, Verwicklung der Handlung und Lösung
in einer vom sittlichen Gefühle der Zeit und des Volkes bedingten
Art, Contraste und Verhältnisse von Bildern, wie eben
die Zeit sie besonders stark empfindet. Alle Technik der Dichtung
kann nur dies natürlich Wirkende in ein Nothwendiges, [339]
Einheitliches, in der Wirkung Concentrirtes umbilden. Die
dichterische Technik ist historisch bedingt.

2. Die elementare Function des Dichters.


  Wie erwächst auf diesem mütterlichen Boden das dichterische
Schaffen? Soll die Antwort auf diese Frage aus den Thatsachen
der Literatur abgeleitet werden, so muss zunächst eine Description
der eigenthümlichen Leistung des Dichters, gleichsam seiner
Function, aus den biographischen und literarischen Thatsachen
gegeben werden, dann können wir die einzelnen Vorgänge, aus
denen diese Leistung sich zusammensetzt, nach ihren besonderen
Merkmalen beobachten und schildern.


  Das Wesen und die Function der Kunst können nicht mit
der idealistischen Aesthetik an dem höchsten Ideal derselben,
das wir heute zu fassen im Stande sind, erkannt werden. Die
meisten Theorien der geistigen Welt aus der Zeit der deutschen
Speculation zeigen diesen Fehler. Was sich unter den günstigsten
Bedingungen entwickelt hat, darf nicht als Antrieb in die ganze
Reihe von Erscheinungen verlegt werden, in denen dieser Lebenskreis
sich entfaltet. Die Kunst ist überall, wo etwas, sei es in
Tönen oder einem festeren Material, hingestellt wird, das weder
der Erkenntniss des Wirklichen dienen noch selbst in Wirklichkeit
übergeführt werden soll, sondern für sich das Interesse des Anschauenden
befriedigt. Von den Umrissen von Rennthieren und
Walfischen, mit denen der Eskimo seine Waffe bedeckt, von
den Götzenbildern der Neger bis zu den Schöpfungen von Goethe
und Raphael ist ein umfassendes Reich sich fortbildender, umwandelnder
Darstellung, welcher Ein Merkmal jedenfalls gemeinsam
ist, dass eben Darstellung als solche und Betrachtung
derselben Befriedigung gewährt. Dies Merkmal, Befriedigung
in der Anschauung des Dargestellten, ist an jedem Kunstwerk
zu bemerken. Wir müssen uns aber hüten, das Wesen der
Kunst in diesem einfachen Merkmal erblicken zu wollen: eine
Gefahr, der Aristoteles nicht entging. Wir müssen uns auch
hüten, was im Kunstwerk mehr sei, in Bausch und Bogen hier
kurzweg aussprechen zu wollen.

[340]

  Der Dichter bildet in einer Folge von Worten ab. Man
könnte denken, die Natur dieses Darstellungsmittels hätte im
Laufe der Zeit bewirkt, dass die Gegenstände, welche besser
durch eine andere Kunst dargestellt werden konnten, derselben
überlassen wurden, die aber, welche dem Darstellungsmittel der
Rede am besten entsprachen, der Dichtung zufielen und deren
Objecte bildeten. So könnte man erklären, dass die Schilderung
der Natur als solche bis hinauf zum vollendet schönen Körper
nicht ein ausreichender Gegenstand der Dichtung ist, obwohl
sie ja im Gemälde das Gemüth aufs Tiefste ergreifen oder im
Marmor das Auge entzücken kann. Gewiss hat der Wettstreit
der Künste in solcher Richtung gewirkt. Aber nicht das Darstellungsmittel
der Rede hat die Poesie von den anderen Künsten
getrennt und ihre Funktion unter diesen inmitten der Gesellschaft
bestimmt, sondern ein ihr eigener kernhafter Inhalt.


  Das vergleichende Verfahren kann gleichsam zu Urzellen,
zu primären und einfachen Lebensformen der Poesie aufsteigen;
indem ich hier diese Untersuchung zurückschiebe, versuche ich
doch diesen kernhaften Inhalt zu beschreiben, wie er von den
einfachen Formen ab aller Dichtung gemeinsam ist. Das Schaffen
des Dichters beruht überall auf der Energie des Erlebens.
In seiner Organisation, die eine starke Resonanz für die Töne des
Lebens hat, wird die todte Notiz eines Zeitungsblatts, unter der
Rubrik „aus der Verbrecherwelt“, der dürre Bericht des Chronisten
oder die groteske Sage zum Erlebniss. Wie unser Leib athmet,
so verlangt unsre Seele nach Erfüllung und Erweiterung ihrer
Existenz in den Schwingungen des Gemüthslebens. Das Lebensgefühl
will austönen in Klang und Wort und Bild; die Anschauung
befriedigt uns nur ganz, sofern sie mit solchem
Gehalt des Lebens und den Schwingungen des Gefühls erfüllt
ist; dies Ineinander, unser ursprüngliches, volles, ganzes Leben,
Anschauung vom Gefühl verinnerlicht und gesättigt, Lebensgefühl
ausstrahlend in der Helle des Bildes: das ist das inhaltliche,
wesenhafte Merkmal aller Poesie. Solches Erlebniss
wird dann erst ganz zum Besitz gebracht, indem es zu anderen
Erlebnissen in innere Beziehung gesetzt und so seine Bedeutung [341]
erfasst wird. Es kann nie in Gedanken oder Idee aufgelöst
werden; aber es kann nun durch Nachdenklichkeit, insbesondere
durch Verallgemeinerung und Herstellung der Beziehungen, mit
dem Ganzen des menschlichen Daseins in Verhältniss gesetzt und
so in seinem Wesen, d. h. seiner Bedeutung verstanden werden.
Erlebniss in diesem Verstande ─ aus ihm setzt sich alle Poesie
zusammen, aus demselben bestehen die Elemente derselben wie
ihre Verbindungsformen. In jeder äusseren Anschauung des
Poeten wirkt lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende
Stimmung; er besitzt und geniesst sein eigenes Dasein in
starkem Lebensgefühl, in den Schwankungen von Lust und Leid,
auf dem klaren, reinen Hintergrunde der Situation, der Bilder
des Daseins. Daher nennen wir eine Natur poetisch, welche,
auch ohne zu schaffen, uns diese schöne Lebendigkeit immer geniessen
lässt. Daher nennen wir das Werk einer anderen Kunst
poetisch, dessen Seele Erlebniss, Lebendigkeit ist, die in Farben
oder Linien, in plastischen Formen oder Accorden als ihren
Mitteln zu uns spricht.


  Die Function der Poesie ist daher zunächst, nur auf das
Primäre angesehen, dass sie diese Lebendigkeit in uns erhält,
stärkt und wachruft. Zu dieser Energie des Lebensgefühls, die
uns in den schönsten Augenblicken erfüllt, dieser Innigkeit des
Blicks, durch welche wir die Welt geniessen, führt uns die
Poesie beständig zurück. Während wir in unsrer wirklichen
Existenz zwischen Begehren und Genuss in unruhigem Wechsel
sind und das sich ausathmende Glück nur ein seltener Festtag
dieser Existenz ist: erscheint der Dichter, bringt uns diese Gesundheit
des Lebens, gewährt uns durch seine Gebilde solche
lang dauernde Befriedigung, ohne bitteren Nachgeschmack, und
lehrt uns, so zu fühlen und so die ganze Welt als Erlebniss zu
geniessen: in allem Diesem der volle, ganze, gesunde Mensch.

3. Diese Function ist durch die grössere Energie
gewisser seelischer Vorgänge bedingt.


  Diese wie jede andere Function eines Menschen oder einer
Classe von Menschen in der Gesellschaft ist nicht das Ergebniss [342]
eines Vorgangs oder ineinandergreifender Vorgänge, welche nur
in dieser Klasse stattfinden, vielmehr wirken hier dieselben Vorgänge,
welche in jedem Seelenleben auftreten, nur in besonderen
Massverhältnissen ihrer Intensität. Die schöpferische Phantasie
des Dichters tritt uns als ein das Alltagsleben der Menschen
ganz überschreitendes Phänomen gegenüber. Dennoch ist sie
nur eine mächtigere Organisation gewisser Menschen, die aus
der ungewöhnlichen Intensität und Dauer bestimmter elementarer
Vorgänge in denselben entspringt. Dasselbe geistige Leben
baut sich aus denselben Vorgängen und nach den gleichen
Gesetzen zu weit von einander abliegenden Gestalten und Leistungen
vermittelst dieser blossen Unterschiede von Intensität,
Dauer und Verkettung auf. So entsteht auch der grosse Dichter,
ein Wesen, das von allen anderen Classen der Menschen in viel
höherem Grade abweicht, als man in der Regel annimmt. Der
biedere dichterische Handwerker zeigt uns freilich nichts von
dieser dämonischen Mächtigkeit und unberechenbaren leidenschaftlichen
Gewalt, mit welcher ein Rousseau, Alfieri, Byron,
Dickens durchs Leben gegangen sind. Die Psychologie hat zunächst
mit der Untersuchung der Gleichförmigkeiten so viel
zu thun gehabt, dass die Erklärung der geistigen Typen wohl
zurückbleiben musste. Und die Literaturgeschichte musste auf
die Mitwirkung des psychologischen Aesthetikers warten; erst
mit seiner Hilfe, nach der Erforschung der poetischen Phantasie,
wird sie gründliche und genaue Bilder der besonderen Art des
Lebens und Dichtens von den Poeten, über die wir ausreichende
Quellen haben, entwerfen können.


  Der Dichter unterscheidet sich zunächst durch die Intensität
und Genauigkeit der Wahrnehmungsbilder, die Mannichfaltigkeit
derselben und das Interesse, das sie begleitet. Das ist
der erste Bestandtheil des Erlebnisses, und er tritt in dem Dichter
mit einer ungewöhnlichen Energie auf. Hiervon liegt der nächste
Grund in der sinnlichen Organisation des Dichters, in dem Auge,
mit dem er in die Welt blickt, dem feinen Ohr, mit dem er
sie vernimmt. Wollen wir den Reichthum genauer Bilder, der
im Dichter sich anhäuft, überzählen, so können wir ihr Auftreten [343]
nicht von ihrem Haften im Gedächtniss trennen. Shakespeare hat
etwa 15000 Wörter, nach M. Müllers Berechnung, zur Verfügung;
ebenso königlich beherrscht Goethe unsere Muttersprache.
Shakespeares Kenntniss von Rechtsgeschäften hat man auf die
Fachkenntniss des Advocatenschreibers zurückgeführt, und von
seinen Schilderungen des Wahnsinns glauben Psychiatriker wie
von der Natur selber lernen zu können. Wir sehen Goethe
heute mit einem Anatomen wie ein Fachmann verhandeln,
morgen mit einem Botaniker, dann mit einem Kunsthistoriker
oder Philosophen. Zu der Anlage kommt die besondere Art
des Interesses. Für den Menschen, dem die Bilder in Verhältniss
zu seinen beabsichtigten Handlungen oder seinen herzustellenden
Erkenntnissen stehen, sind diese Bilder Zeichen für
etwas, das in der Rechnung der Absichten oder in den Relationen
zu dem Erkennbaren eine bestimmte Stelle einnimmt.
Das dichterische Genie ist dem Erlebniss, dem Bilde hingegeben,
mit einem selbständigen Interesse an ihnen, mit ruhiger Befriedigung
in der Anschauung, so oft es auch durch das äussere
Leben oder die Wissenschaft abgelenkt wird. Es ist wie ein
Reisender in einem fremden Lande, der sich den Eindrücken
desselben absichtslos, mit tiefem Behagen und in völliger Freiheit
überlässt. Dies verleiht ihm den Charakter von Naivität und
Kindlichkeit, der an Mozart, Goethe und vielen anderen grossen
Künstlern hervorgehoben wird und sich sehr wohl mit einem
nebenhergehenden System von zielbewussten Handlungen verträgt.


  Der Dichter unterscheidet sich alsdann durch die Klarheit
der Zeichnung, die Stärke der Empfindung und die Energie der
Projection, welche seinen Erinnerungsbildern und den Gebilden
aus ihnen eigen sind. Wenn der Reiz aufhört, kann im
Sinnesorgan die Erregung fortdauern; dann geht die Wahrnehmung
in ein Nachbild über. Wo auch diese Erregung der Sinnesnerven
nicht mehr fortbesteht, kann der Inhalt der Wahrnehmung als
Vorstellung fortdauern oder reproducirt werden. Die Vorstellung,
die ohne Zwischeneintreten einer anderen sich an die Wahrnehmung
anschliesst, steht derselben in Bezug auf ihre Beschaffenheit
am nächsten. Fechner nennt sie das Erinnerungsnachbild. [344]
Treten andere Vorstellungen zwischen den Eindruck
und seine Reproduction, so nimmt die Vorstellung an Sinnfälligkeit,
Deutlichkeit und Vollständigkeit ab. Aber bei verschiedenen
Personen ist nun dieser Unterschied zwischen der
Sinneswahrnehmung und der Vorstellung sehr verschieden gross,
wie dies Fechner durch Befragung festgestellt hat. Von beinahe
farblosen und formunsicheren Erinnerungsbildern, in der That
blossen Schatten von Wirklichkeiten, führen Uebergänge hinauf
zu den bestimmt gezeichneten, intensiv gefärbten und in den
Sinnesraum projicirten Gestalten, deren die Künstler und zumeist
auch die Dichter fähig sind. Balzac sprach von den Personen
seiner Comédie humaine, als lebten sie, und er tadelte,
lobte, analysirte ihre Handlungen, als gehörten sie mit ihm zu
derselben guten Gesellschaft. Dies hatte seinen Grund in seiner
sinnlichen Organisation. Von Kindesbeinen an sah er Erinnerungsbilder
umrissen und farbig wie Wirklichkeit und war so
photographischer Treue in seinen Schilderungen fähig. Zugleich
fand er mit Erstaunen in sich das Vermögen, „wie der Derwisch
in Tausend und eine Nacht Körper und Seele der Personen
anzunehmen, die er darstellen wollte,“ ja er vergleicht dieses
ihn selber erschreckende Vermögen, „seine eigenen moralischen
Gewohnheiten zu verlassen und sich ganz in ein anderes Wesen
zu verwandeln, mit dem Traum eines wachen Menschen oder
mit dem zweiten Gesicht.“1) Hieran erinnert Goethes Aeusserung:
„wenn ich Jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe,
so will ich ihn zwei Stunden reden lassen.“2) Turgenjeff erzählte
Freunden, er lebe so in der Rolle seiner Helden, dass er
eine Zeit hindurch denke, spreche, gehe wie sie; so habe er, als
er Väter und Söhne schrieb, lange wie Basarof gesprochen. Und
über solche angeborenen Befähigungen überhaupt sagte Goethe:
„das ist das Angeborene eines grossen Talents. Napoleon behandelte
die Welt wie Hummel seinen Flügel. Das ist die Facilität, die [345]
sich überall findet, wo ein wirkliches Talent vorhanden ist.“1)
Flaubert erzählt ─ und warum sollte man hier Zweifel in ihn
setzen? ─ „Die Gestalten meiner Einbildungskraft afficiren mich,
verfolgen mich, oder vielmehr ich bin es, der in ihnen lebt. Als ich
beschrieb, wie Emma Bovary vergiftet wird, hatte ich einen so
deutlichen Arsenikgeschmack auf der Zunge, dass ich zwei Indigestionen
davontrug.“2) Und die Biographie von Dickens ist voll
von Beweisen darüber, wie seine Figuren sich in seiner Einbildungskraft
mit einer unvergleichlichen sinnlichen Deutlichkeit bewegten,
zugleich wie sie seinem Herzen nahe standen.


  Der Dichter unterscheidet sich mehr noch als durch die
Energie seiner Erinnerungsbilder von sinnlichen Wahrnehmungen
durch die Kraft, mit welcher seelische Zustände, selbsterfahrene,
an anderen aufgefasste, folgerecht ganze Begebenheiten
und Charaktere, wie sie in der Verknüpfung solcher Zustände bestehen,
von ihm nachgebildet werden. Dem Unterschied der
äusseren Wahrnehmung und der Vorstellung entspricht auf dem
Gebiet der inneren Erfahrung der von Erlebniss und Nachbildung
desselben. In dieser Nachbildung wird auch der eigene
Zustand zum Gegenstand. Zunächst gehen die äusseren Wahrnehmungen,
welche mit einem Gefühls- oder Willenszustande
verbunden sind, in Vorstellungen über; die Bilder der Personen,
der Umgebung, der Situation werden reproducirt, die Vorstellungen,
die mit der Lage verbunden waren: und nun wird
von diesem Vorstellungsinbegriff aus die Nachbildung von Gefühlen
und Willensvorgängen eingeleitet. Selbstverständlich treten
zunächst, wo die Folgen eines Thatbestandes für das Gefühl und
den Willen fortdauern, bei lebhafter Reproduction dieses Thatbestandes
von Neuem die aus der Situation entspringenden
Gefühls- und Willensacte auf. Aber es giebt ferner eine Nachbildung
des Gefühls- oder Willensvorgangs, die sich von dem
Erlebniss so specifisch unterscheidet, als die Vorstellung von
der Wahrnehmung. Freilich mischen sich in sie in der Regel [346]
Neubildungen von Gefühlen oder von Spannungen des Willens
und verleihen diesen Nachbildungen Lebendigkeit, stören aber
andrerseits ihre Reinheit, besonders bei dichterischen Werken.
Solche Einmischungen sind es, welche in dem bürgerlichen
Schauspiel Mitleid und Furcht verfälschen, indem sie Erinnerung
eigener schmerzlicher Lagen oder Befürchtung derselben
aufrufen, und nicht am wenigsten aus diesem Grunde bedarf
die Tragödie der königlichen Helden, welche in reiner Ferne
vom Beschauer sich befinden. Hier treten wir in das eigenste
Gebiet des Dichters: Erlebniss und seine Nachbildung in der
Phantasie. Zunächst ist die Energie dieser Nachbildungen abhängig
von der ursprünglichen Kraft der Gefühle, Affecte und
Willensvorgänge. Alsdann bleiben Nachbildungen derselben in
ganz verschiedenem Grade nach Deutlichkeit, Energie und Mitschwingung
des eigenen Inneren hinter den ursprünglichen Vorgängen
zurück. Da sie von der Erinnerung der äusseren Wahrnehmungen
nirgend getrennt sind, haben wir schon in die Beispiele
von der Energie der Erinnerungsbilder Angaben über die
Stärke dieser Nachbildungen verwoben. Ich füge eine Aeusserung
von Dickens hinzu. Als er sich dem Ende seiner Erzählung Sylvesterglocken
näherte, schrieb er: „seit ich das ausdachte, was
im dritten Theile geschehen muss, habe ich so viel Kummer
und Gemüthsbewegungen ausgestanden, als wäre die Sache etwas
Wirkliches, und bin bei Nacht davon aufgewacht. Ich musste
mich einschliessen, als ich gestern damit fertig war; denn mein
Gesicht war zu dem Doppelten seiner gewöhnlichen Grösse angeschwollen
und gewaltig lächerlich.“1) Goethe erzählt am 18.
October 1786, wie er, zwischen Schlaf und Wachen, den Plan
zur Iphigenie in Delphi gefunden, darin eine Wiedererkennungsscene:
„ich habe selber darüber geweint wie ein Kind.“ Und
Goethe äusserte an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre
Tragödie schreiben könne, doch erschrecke er schon vor dem
Unternehmen und sei beinahe überzeugt, dass er sich durch den
blossen Versuch zerstören könne. Aus der Lebendigkeit der [347]
Nachbildungen entspringt in den Kinderjahren der Dichter die
Verwebung poetischer Figuren aus Märchen, Romanen, Schauspielen
in die Wirklichkeit, die wir von Goethe und Dickens
kennen. Die Grenzen der Phantasie in Bezug auf Nachbildung
hat Goethe, offenbar aus eigener Erfahrung, hervorgehoben. „Die
Phantasie kann sich nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen
denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager,
neblichter, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie,
aber niemals in der charakteristischen Vollständigkeit der
Wirklichkeit.“1)


  Der Dichter unterscheidet sich auch durch die energische
Beseelung der Bilder und die so entstehende Befriedigung
in einer von Gefühlen gesättigten Anschauung. Die
Energie seines Lebensgefühls lässt Zustandsbilder vieler Lagen
seines Lebens entstehen und ihm gegenwärtig bleiben. Goethe
sagt: „Claude Lorrain kannte die reale Welt bis in ihr kleinstes
Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt
seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre
Idealität.“ Dasselbe findet im Dichter statt.2) Als man Chamisso
nach der Bedeutung seines Peter Schlemihl fragte, lehnte
er eine Aeusserung darüber ab und bemerkte: „er wolle mit der
Poesie selten etwas; wenn eine Anekdote, ein Wort, ein Bild
(in diesem Fall eine scherzhafte Unterredung mit Fouqué) ihn
selber von der Seite der linken Pfote bewege, denke er, es
müsse auch Anderen so gehen, und nun ringe er mühsam mit
der Sprache, bis es herauskomme.“


  Aus dem Dargelegten erklärt sich, dass die grossen Dichter
von einem unwiderstehlichen Drange vorangetrieben werden,
Erlebniss irgend einer mächtigen Art, das ihrer Natur gemäss
ist, zu erfahren, zu wiederholen und in sich zu sammeln. So
hat Shakespeare mit dem fieberhaften Puls seiner Helden ein
Leben voll Erfahrungen durchstürmt. Sohn eines wohlhabenden
Landbesitzers, dann Lehrling eines Advocaten, mit achtzehn [348]
Jahren verheirathet, das Jahr darauf mit einer Familie belastet,
fast noch ein Knabe, hinter sich die Erfahrungen von Liebe und
Ehe, in das Meer des Londoner Lebens geworfen, von da ab in
höchst zusammengesetzten Lebenslagen als Schauspieler, Dichter,
Theaterbesitzer, in schwierigen Verhältnissen zu Hof und Adel
Englands, als ein Dreissiger auf der Höhe von Ruhm und Wohlstand,
dann schon als ein Vierziger wohlhabender Landgentleman
in Stratford und ausruhend in seinem stattlichen Hause von dem
Sturm seines Lebens; das Alles im Zeitalter der Elisabeth, in jener
heroischen Epoche Englands, die voll von mächtigen Charakteren
und blutigen Staatsactionen war, durch welche alle hindurch England
zum ersten Seestaate aufstieg; und zwar ereigneten sich
diese Staatsactionen auf den Strassen Londons; das Auge des
Betrachters aber war durch die Schriftsteller der Renaissance
ganz unbefangen, hell und heiter geworden. So finden wir Cervantes
in einer wechselvollen und von Abenteuern erfüllten
Laufbahn als Secretair eines päpstlichen Legaten, als Soldaten
in den verschiedensten Feldzügen, dann in Gefangenschaft.
Aeschylos und Sophokles so gut als die grossen englischen Dichter
haben im thätigen Leben ihr Verständniss der Welt erworben,
und Corneille und Racine lernten am mächtigsten und glänzendsten
Hofe der Welt, heroische Gesinnung und tragische
Schicksale von Königen und Fürsten so zu schildern, dass dies
Zeitalter des Königthums darin seinen Spiegel sah. Auf typische
Weise hat Goethe in Weimar die Freude eines wahren Dichters
über die Erweiterung seiner Erfahrungen im thätigen Leben
ausgesprochen. Und Dickens, der Schöpfer unseres gegenwärtigen
Romans, hat als Lehrjunge, Advocatenschreiber, Reporter
im Parlament und auf allen Strassen Englands, endlich
auf weiten Reisen in zwei Welttheilen, die Gesellschaft und den
Menschen überall von Schulen und Gefängnissen aufwärts bis
zu den Palästen Italiens studirend, jene ungeheure Menge von
Bildern und Erlebnissen angehäuft, über welche er dann so
souverän verfügt hat, wie Rubens über die Farben seiner Palette.


  Andere Dichter haben in der Fülle innerer Erlebnisse
ihre Existenz gehabt, das Auge nach innen gerichtet, auf [349]
eigene subjective Zustände, abgewandt von der äusseren Wirklichkeit
und dem bunten Wechsel von Charakteren und Abenteuern
in ihr. Der gewaltige Typus dieser Art von Dichtern
ist Jean Jacques Rousseau. Wir wissen durch ihn selber,
wie er in seinem 44. Lebensjahr, in der Einsiedelei des Parkes
von La Chevrette, aus den Träumen seines einsamen Herzens,
aus der Liebe zur Gräfin d'Houdetot, die auch nicht viel mehr
als ein Traum war, die Gestalten der neuen Heloise bildete.
Er erfüllte sie aber ganz mit dem mächtigen Strom von Leidenschaft,
den er in sich fand, mit dem Erlebniss einer beseelten
Natur und mit den inneren Traumerlebnissen seines einsamen
Herzens. Tiefer noch hat er im Emil die innere Geschichte
einer Seele geschrieben, welche die Wahrheit im Zeitalter der
Encyklopädisten suchte. Blickt man rückwärts, so war im Alterthum
Euripides ein solcher nach innen gewandter Dichter: er
lebte mit den Schriften der Philosophen. Im Mittelalter Dante;
seine Erlebnisse waren ganz mit den grossen theologischen,
philosophischen und politischen Kämpfen seines Zeitalters verwebt,
und seine Seele war ihr Schauplatz. Finden wir Goethe
im Gleichgewicht des Aussen und Innen, so ist im jungen Schiller
das innere Erlebniss vielleicht überwiegend; die zweite Hälfte seines
kurzen Lebens zeigt auf dem dunklen Grunde der Resignation
die Erhebung der Seele durch philosophisch-geschichtliches Denken
zu freier Idealität als den herrschenden Vorgang in ihm, während
ihm die äusseren Realitäten immer mehr entschwanden.


  Den Dichter unterscheidet endlich, dass sich in ihm die
Bilder und deren Verbindungen frei über die Grenzen des
Wirklichen hinaus entfalten. Er schafft Situationen, Gestalten
und Schicksale, welche diese Wirklichkeit überschreiten. Wie sich
diese Vorgänge in ihm bilden, in denen das eigentlich schöpferische
Werk des Dichters vollbracht wird, das bildet das Hauptproblem
dieser Untersuchung. Die Bezeichnung: dichterische
Phantasie gewährt uns nur ein Wort, in welchem die Vorgänge
selber verborgen bleiben.

[350]

4. Die Einbildungskraft des Dichters in ihrer Verwandtschaft
mit dem Traum, dem Wahnsinn und
anderen Zuständen, die von der Norm des wachen
Lebens abweichen.


  Zunächst müssen wir diese Vorgänge, in denen eine Metamorphose
des Wirklichen sich vollzieht, beobachten, beschreiben,
ihre Aehnlichkeit mit den nächstverwandten Vorgängen und die
Unterschiede von denselben auffassen. Diese nächstverwandten
Vorgänge aber treten im Traum, im Wahnsinn auf, überhaupt
in Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen.



  Es scheint zu den stehenden Sätzen der alten Poetik gehört
zu haben, dass das dichterische Schaffen eine Art von Verrückung
sei; Demokrit, Plato, Aristoteles, Horaz sprechen das
übereinstimmend aus. Von den Romantikern ist dann die Verwandtschaft
des Genies mit Wahnsinn, Traum und jeder Art von
ekstatischem Zustande mehrfach hervorgehoben worden, und
Schopenhauer hat auch hier eine romantische Idee mit naturwissenschaftlichen
Belegen ausgestattet. Er giebt eine vollständige
Personalbeschreibung des Genies; dieselbe ist freilich
sehr subjectiv; er hat sich selber dabei als Modell benutzt.
Hoher, breiter Schädel, energischer Herzschlag, kleine Statur,
kurzer Hals ─ diese Merkmale findet er besonders günstig.
Selbst einen guten Magen muss nach ihm das Genie haben.
Indem die durch ein übermächtiges Cerebralleben bedingte sehr
grosse Intelligenz in dem Genie sich von dem Dienste des Willens
loslöst, entsteht die abnorme Beschaffenheit desselben. Insbesondere
erhebt es sich über die Zeit und die in ihr gegebenen
Relationen, und so entstehen Erscheinungen, die dem Wahnsinn
verwandt sind, da dieser nach ihm eine Erkrankung des Gedächtnisses
ist und daher ebenfalls den Zusammenhang des Zeitverlaufs
aufhebt. Dazu kommt gesteigerte Reizbarkeit des Gehirnlebens,
völlige Fremdheit gegenüber der Denkart der Welt
und der Durchschnittsmenschen. So entsteht die melancholische
Einsamkeit des Genies. Diese trübselige Verherrlichung des [351]
Genies berührt sich, wie man sieht, vielfach mit Byron wie
Alfieri. Dann hat Richard Wagner, im Anschluss an Schopenhauer,
den „Wahn“ glorificirt und so alle höchsten Leistungen
und Opfer in die Nachbarschaft des Pathologischen gebracht.
Die französische Psychiatrie hat aber diese Verwandtschaft von
Genie und Wahnsinn zum Gegenstande einer ganzen Literatur
von psychiatrischen Phantasien gemacht. Ich übergehe, was
über die Aehnlichkeit des Genies mit dem Wahnsinn überhaupt
gesagt werden kann, und hebe nur hervor, worin das Schaffen
des Dichters sich mit den Wahnideen, den Träumen und den
Phantasiebildern in anderen abnormen Zuständen berührt. In
allen diesen Zuständen entstehen Bilder, welche die Erfahrung
überschreiten. Das ist das Merkmal des grossen Dichters,
dass seine constructive Phantasie aus Erfahrungselementen, getragen
von den Analogien der Erfahrung, einen Typus von
Person oder Handlung hervorbringt, der über die Erfahrung
hinausgeht und durch den wir diese doch besser begreifen. Und
zwar ist auch darin der Dichter dem Träumenden oder dem
Irren verwandt, dass er seine Situationen, Gestalten und Vorgänge
in einer Sinnfälligkeit erblickt, welche sie der Hallucination
annähert. Er verkehrt mit den Gestalten, die in seiner
Einbildungskraft allein Heimathrecht besitzen, wie mit wirklichen
Personen, liebt sie, fürchtet für sie. Eine weitere Analogie
liegt in der Fähigkeit, das eigene Ich in das des Helden
umzuwandeln, aus ihm heraus zu reden, ähnlich wie der Schauspieler
thut. In diesem Allem verbirgt sich eins der interessantesten
Probleme der Psychologie.

Versuch einer psychologischen Erklärung des
dichterischen Schaffens.

  Die herrschende Psychologie ist von Vorstellungen als festen
Grössen ausgegangen. Sie lässt deren Veränderungen von aussen
durch Association, Verschmelzung, Apperception eintreten. Ich
behaupte nun, dass das Leben der Bilder in dem Träumenden,
dem Irren, dem Künstler von dieser Psychologie nicht erklärt
werden kann. Denkt man sich durch eine Abstraction blosse [352]
Verhältnisse von Vorstellungen in einem rein vorstellenden
Wesen, so kann kein Mensch sagen, nach welchen Gesetzen
diese sich verhalten würden. Wie die Wahrnehmungen oder
Vorstellungen in dem wirklichen Zusammenhang des Seelenlebens
auftreten, sind sie von Gefühlen durchdrungen, gefärbt,
belebt; die Vertheilung der Gefühle, der Interessen, der so bedingten
Aufmerksamkeit erwirkt mit anderen Ursachen ihr Auftreten,
den Grad ihrer Entfaltung, ihr Erlöschen; Spannungen
der Aufmerksamkeit, die von den Gefühlen her sich bilden und
Formen von Willensthätigkeit sind, ertheilen den einzelnen Bildern
eine triebartige Energie oder lassen dieselben wieder versinken.
Daher ist jede Vorstellung in der wirklichen Seele Vorgang;
die Empfindungen selber, die in einem Bilde verknüpft
sind, wie die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, unterliegen
inneren Veränderungen; auch die Wahrnehmung,
das Bild ist lebendiger veränderlicher Vorgang. Eigenschaften
treten an ihr auf, die hieraus fliessen und die aus der Vorstellung
als solcher nicht verstanden werden können.

1. Elementare Vorgänge zwischen einzelnen
Vorstellungen.


  Unter solchen Umständen treten in der wirklichen, lebendigen
Seele zunächst zwischen den einzelnen Vorstellungen
elementare Vorgänge auf, welche ohne Berücksichtigung der
inneren Veränderungen in diesen Vorstellungen entwickelt
werden können.


  Die erste Classe dieser Vorgänge entsteht zwischen Wahrnehmungen
und Vorstellungen, welche schon im Bewusstsein
sind, in Folge ihres Zusammenbestehens in der Einheit desselben,
sofern die Bedingungen von Interesse und Aufmerksamkeit
in einer bestimmten Richtung wirken. Vorstellungen, welche
so die Aufmerksamkeit aneinanderhält, werden von einander
unterschieden; ihr Abstand wird nach Graden empfunden,
ihre Verwandtschaft, Aehnlichkeit oder Gleichheit. Dies scheint
ebenso eine Art von Empfindung, von Innewerden zu sein, als
das Auftreten der Sinnesinhalte selber, die so zusammengehalten [353]
werden. Und ein solches Innewerden in der Empfindung erfasst
dann weiter elementare Beziehungen zwischen diesen Wahrnehmungen
und Vorstellungen, wie sie in der Angrenzung im
Raum oder dem Aneinanderhaften in der Zeit vorliegen.


  Die zweite Classe dieser Vorgänge ist da wirksam, wo
Wahrnehmungen und Vorstellungen oder deren Bestandtheile
von einander in das Bewusstsein gerufen werden. Hier regieren
das Gesetz der Verschmelzung und das der Association.
Die durchgreifende Bedeutung dieser beiden Gesetze für das
Seelenleben kann mit der verglichen werden, welche die Bewegungsgesetze
für unsere Erklärung der äusseren Natur haben.
Sie bezeichnen elementare Eigenschaften des Seelenlebens, welche
dasselbe durchgreifend von dem Lauf der Natur unterscheiden.
Daher wird jeder Versuch missglücken, diese Gesetze durch
die Analogien der Mechanik näher bestimmbar zu machen. Wohl
müssen von der Aussenwelt Bilder zur Bezeichnung seelischer
Vorgänge entlehnt werden, da diese letzteren spät erst zur Beobachtung
kamen und unter dem Eindruck der schon ausgebildeten
Naturerkenntniss zur Auffassung gelangt sind. Aber
dies darf nicht darüber täuschen, wie ungeeignet im Grunde
diese von dem Räumlichen und seinen Bewegungen entnommenen
Bilder zur Erfassung von Gesetzen sind, deren charakteristische
Merkmale eben durch die ganz abweichende Natur der seelischen
Vorgänge bedingt sind.


  Erstes Gesetz. Wahrnehmungen und Vorstellungen oder
deren Bestandtheile, welche einander gleich oder ähnlich sind,
treten, unabhängig von der Stelle, welche sie im seelischen
Zusammenhang einnehmen, in einander und bilden Einen Inhalt,
der in der Regel mit dem Bewusstsein der verschiedenen Acte
verbunden ist und Verschiedenheiten zwischen den Inhalten, sofern
diese nicht vernachlässigt werden, einschliesst. Im Unterschied
von dem Causalzusammenhang der Aussenwelt sind für
diesen seelischen Vorgang alle Vorstellungen gleich nahe und gleich
fern von einander; auch die am weitesten im seelischen Zusammenhang
von einander abstehenden Vorstellungen treten in
einander, einfach weil sie verwandt sind. Indem dann die Bewusstseinserregung [354]
von dem Gleichen zum Ungleichen nach den
Bedingungen von Interesse und Aufmerksamkeit geleitet wird,
entstehen von einer gegenwärtigen Wahrnehmung oder Vorstellung
aus Reproductionen des Aehnlichen, Verwandten, Ungleichen,
ja Entgegengesetzten.


  Zweites Gesetz. Wahrnehmungen und Vorstellungen oder
deren Bestandtheile, welche in der Einheit eines Bewusstseinsvorganges
vereinigt waren, können sich unter gegebenen Bedingungen
von Interesse und Aufmerksamkeit gegenseitig reproduciren.
Wir bezeichnen dieses Grundverhältniss als Association,
gebrauchen aber diesen Ausdruck in einem engeren
Sinne, da Hume und seine englischen Nachfolger auch die Verkettung,
welche durch Aehnlichkeit oder Contrast eine Reproduction
ermöglicht, einschliessen. Auch dieses Gesetz darf nicht mechanisch
oder atomistisch aufgefasst werden. Denn wir sehen, wie
auf Grund desselben Inhalte auf die verschiedenste Weise in
Wahrnehmung und Denken mit einander verkettet werden und
ein Zusammenhang des Seelenlebens sich bildet, zu welchem
das, was im Bewusstsein vorgeht, jederzeit gleichsam orientirt
ist. So vollziehen sich auch die Reproductionen nicht von Einer
angrenzenden Vorstellung oder Wahrnehmung aus, sondern sie
sind durch diesen ganzen seelischen Zusammenhang bedingt,
in dem zwar die Theile nicht klar und deutlich gesondert, die
Beziehungen nicht zu vollem Bewusstsein gebracht werden,
dennoch aber wirken. Hieraus entspringen Folgen für die Art
der Reproduction zusammengesetzter Bilder, welche auch für
das künstlerische Schaffen wichtig sind. Ferner sind die Faktoren
sehr complicirt, aus deren Zusammenwirken die Reproduktion
entspringt. Die Vorgänge, durch welche sie bedingt ist,
sind folgende: der constituirende Erfahrungsvorgang, in welchem
der Verband von Inhalten gestiftet wurde, dann die späteren
Akte, in denen er ganz oder theilweise wieder vorkam, aufgefasst
mit Berücksichtigung der Zwischenräume zwischen ihnen,
endlich der gegenwärtige Bewusstseinsstand, von dem aus die
Reproduktion stattfand, wieder miteingeschlossen den Zwischenraum,
der ihn vom letzten Vorgang der Reproduktion trennt. [355]
Und an diesen Vorgängen unterscheiden wir als Eigenschaften,
welche die Reproduktion beeinflussen: den Charakter der Inhalte
und Verbindungsweisen, das Interesse, das die Seele diesen in
den einzelnen Akten zuwendet, sowie die dadurch bedingte Bewusstseinserregung,
die Zahl der Wiederholungen und endlich
die Abstände der Zeiten, welche diese einzelnen Akte von einander
trennen. In dem Interesse und der Aufmerksamkeit sind so
Gefühle und Willensspannungen wirksam, Vorstellungen in das
Bewusstsein zu heben.

2. Der Zusammenhang des Seelenlebens und die von
ihm aus erwirkten Bildungsprocesse.


  Wir sehen nun nicht mehr von dem umfassenderen und feineren
Zusammenhang ab, in welchem die einzelnen zunächst wirkenden
Vorstellungen stehen. Nur vermöge dieser Abstraktion konnten
wir die eben dargelegten elementaren Vorgänge aus dem Seelenleben
herausheben. Wir sehen auch nicht mehr von den inneren
Veränderungen ab, welche in den Wahrnehmungen oder Vorstellungen
oder ihren Bestandtheilen stattfinden. Allein vermöge
derselben Abstraktion konnten wir diese Wahrnehmungen etc.
als feste, für sich bestehende Elemente auffassen, die nur unterschieden,
ineinsgesetzt, bezogen, zum Bewusstsein gebracht oder
aus ihm verdrängt werden. In Wirklichkeit ist zumeist, ich
sage nicht immer, ein Vorgang in der Seele zugleich ein Bildungsprocess;
er ist bedingt vom ganzen Zusammenhang des
Seelenlebens, und er enthält, von diesem aus erwirkt, auch innere
Veränderungen an der Wahrnehmung oder Vorstellung oder
einem Bestandtheil derselben.


  Bildungsprocesse sind also alle die zusammengesetzteren
Vorgänge in der Seele, sofern sie vom Zusammenhang des Seelenlebens
aus erwirkt werden und nicht nur feste Vorstellungen
unterscheiden, ineinssetzen, beziehen, in das Bewusstsein heben
oder aus ihm verdrängen, sondern Veränderungen in diesen
Wahrnehmungen oder Vorstellungen zur Folge haben. Und
zwar besteht eine solche Veränderung nie in der Neuschöpfung
von Inhalten, die nirgend erfahren wurden, sondern nur im Ausfallen [356]
einzelner Inhalte oder Verbindungen, in der Verstärkung
oder Verminderung solcher oder in ihrer Ergänzung durch
Inhalte oder Verbindungen, welche nun aus dem Material der
Erfahrung zu einer Wahrnehmung oder Vorstellung hinzutreten.
Hierzu kommen dann noch ein beständiger Wechsel in der Stärke
von Interesse und Bewusstseinserregung, die den einzelnen
Bestandtheilen in einem gegebenen Augenblick zu Theil wird,
die Vertheilung des Gefühlsantheils, welche hiermit in Zusammenhang
steht, sowie die Beziehungen zum Willen.


  Der ganze erworbene Zusammenhang des Seelenlebens
wirkt auf diese Bildungsvorgänge. Er verändert und gestaltet an
den Wahrnehmungen, Vorstellungen und Zuständen, die sich gerade
im Blickpunkte der Aufmerksamkeit befinden, denen also die
stärkste Bewusstseinserregung zu Theil wird. Dieser erworbene
Zusammenhang unseres Seelenlebens umfasst nicht nur unsere Vorstellungen,
sondern auch die aus unsren Gefühlen entsprungenen
Werthbestimmungen und die aus unsren Willenshandlungen entstandenen
Zweckideen, ja die Gewöhnungen unsres Gefühls und
unsres Willens. Er besteht nicht nur in den Inhalten, sondern
auch in den Verbindungen, die zwischen diesen Inhalten hergestellt
sind. Denn diese Verbindungen sind gerade so wirklich,
als die Inhalte es sind. Als Beziehungen zwischen Vorstellungsinhalten,
als Verhältnisse von Werthen zu einander, als Gefüge
von Zwecken und Mitteln sind diese Verbindungen erlebt und
erfahren.


  Und zwar geht durch diesen so verwickelten Zusammenhang
eine Gliederung, welche in der Structur des Seelenlebens
angelegt ist. Aus der Aussenwelt stammt das Spiel der
Reize, das sich im Seelenleben als Empfindung, Wahrnehmung,
Vorstellung projicirt; die so entstehenden Veränderungen werden
nach ihrem Werthe für das Eigenleben im Mannigfachen der
Gefühle erlebt und gemessen; dann werden von den Gefühlen
aus Triebe, Begehrungen und Willensvorgänge in Bewegung
gesetzt; entweder wird nun die Wirklichkeit dem Eigenleben
angepasst und so rückwärts vom Selbst aus die äussere Wirklichkeit
beeinflusst, oder das Eigenleben fügt sich der harten [357]
und spröden Wirklichkeit. So besteht eine beständige Wechselwirkung
zwischen dem Selbst und dem Milieu äusserer Wirklichkeit,
in dem es sich findet, und in ihr ist unser Leben. Die
Wirklichkeit der Wahrnehmungen, die Wahrheit der Vorstellungen
ist in diesem Leben mit einer Werthabstufung
verwebt, welche von den Gefühlen her über die ganze Wirklichkeit
ausgebreitet ist, und von diesen geht dann die Verkettung
zu der Energie und Richtigkeit der Willensäusserungen, die
das System der Zwecke und Mittel bilden.


  So höchst zusammengesetzt nun dieser Zusammenhang des
Seelenlebens ist: er wirkt als ein Ganzes auf die im Blickpunkte
der Aufmerksamkeit befindlichen Vorstellungen oder
Zustände; seine einzelnen Bestandtheile sind nicht klar gedacht
und nicht deutlich unterschieden, die Beziehungen zwischen
ihnen sind nicht zu hellem Bewusstsein erhoben, und doch wird
er besessen und wirkt; das im Bewusstsein Befindliche ist zu
ihm orientirt; es ist von ihm begrenzt, bestimmt und begründet.
Sätze haben in ihm ihre Gewissheit; Begriffe haben durch ihn
ihre scharfe Begrenzung; unsere Lage im Raum und in der Zeit
hat an ihm ihre Orientirung. Ebenso empfangen aus ihm die
Gefühle ihr Mass für den Zusammenhang unseres Lebens. Unser
Wille, welcher zumeist mit Mitteln beschäftigt ist, bleibt vermittelst
desselben Zusammenhangs beständig des Gefüges der
Zwecke gewiss, in welchem die Mittel begründet sind. So wirkt
dieser Zusammenhang in uns, dunkel wie wir ihn besitzen. Er
regulirt und beherrscht glühende Wünsche des Augenblicks, die
das Bewusstsein ganz zu erfüllen scheinen, und neue Begriffe oder
Thatsachen, die noch fremd, ja feindlich ihm gegenüberstehen.

3. Die drei Hauptformen der Bildungsvorgänge
und die Stellung des künstlerischen Schaffens im
Zusammenhang des Seelenlebens.


  Wir nehmen den Unterschied von Vorstellung, Fühlen und
Wollen hier als einen Thatbestand der inneren Erfahrung hin.
Wie wir uns hier bei der Grundlegung der Poetik beschreibend
verhalten und erklärende Hypothesen ausschliessen, dürfen wir [358]
bei diesen empirisch gegebenen Unterschieden stehen bleiben.
Und zwar sind diese drei Classen von Vorgängen in der Structur
des Seelenlebens, die eben dargestellt wurde, mit einander verknüpft.
Aus dieser entsteht nun die Trennung in drei grosse
Gebiete der Bildungsprocesse.


  Die Bildungsprocesse des Denkens und Erkennens verlaufen
zunächst in den dargestellten Vorgängen. Geht man über
das Unterscheiden, Ineinssetzen, Beziehen, Reproduciren der Vorstellungen
und die Verdrängung derselben hinaus, so trifft man
unter diesen Bildungsvorgängen zunächst auf die Apperception.
Sie bildet den einfachsten Fall, in welchem der Zusammenhang
des Seelenlebens auf einen Einzelvorgang wirkt und von diesem
eine Rückwirkung empfängt. Wir verstehen unter Apperception
die durch die Richtung der Aufmerksamkeit vermittelte Aufnahme
von Erfahrungsinhalten, Sinnesempfindungen oder inneren
Zuständen, in den Zusammenhang des Bewusstseins. Zunächst
ist sie also durch ganzes oder theilweises Ineinandertreten der
neuen Erfahrungsinhalte und einer bereits vorhandenen Vorstellung
bedingt. Hierdurch wird die Aufnahme der so entstandenen
Wahrnehmung-Vorstellung in den Zusammenhang, in
welchem sich die Vorstellung schon befand, vermittelt. Und so
kann entweder eine Aenderung in den Erfahrungsinhalten oder
in dem Zusammenhang des Seelenlebens bewirkt werden. Andere
Bildungsprocesse werden von inneren Antrieben aus, die im Spiel
der Vorstellungen liegen, eingeleitet, bemächtigen sich der Wahrnehmungen
und gestalten sie um. Denn eben in dem beständigen
Wechsel äusserer Anstösse von den Wahrnehmungsinhalten
her und innerer Antriebe vollzieht sich die Ausarbeitung unseres
Seelenlebens.1) Ferner finden zwischen bloss reproducirten Vorstellungen
Bildungsvorgänge statt. So charakterisirt ein Dichter
eine erfundene Gestalt durch weitere Züge, welche er der Erinnerung [359]
entnimmt, oder ein Forscher leitet aus Daten, in deren
Besitz er schon war, die Erklärung einer Thatsache ab, die ihm
längst bekannt gewesen.


  Indem nun der Wille diese elementaren Vorgänge und Bildungsprocesse
in energischer Spannung, mit dem Bewusstsein
seines Zieles, lenkt, entsteht jene tiefgreifende Verschiedenheit,
welche von dem Spiel unserer Vorstellungen das logische Denken
trennt. Wenn die Psychologie von der Totalität des Lebens
ausgeht, wenn sie das Ineinandergreifen von Willens- und Vorstellungsvorgängen
erfasst, dann braucht sie nicht das Spiel der
Vorstellungen von dem beziehenden Denken zu trennen und
über den unwillkürlichen Processen eine höhere Form des geistigen
Lebens anzunehmen. Sonderbare Vorstellung! Ein Vorgang
der Verschmelzung und über ihm, ganz in der Wurzel von
ihm getrennt, der logische Vorgang der Gleichsetzung; ein Vorgang
der Ideenassociation und über ihm, aber unabhängig,
logische Verknüpfung der Vorstellungen. In Wirklichkeit ist es
nur gleichsam eine höhere Lage der dargelegten Vorgänge, eine
Zusammensetzung höheren Grades, besonders aber der Antheil des
Willens, was in den Vorgängen des Denkens hinzutritt. So entspringt
zunächst der einfache logische Operationenkreis; von
ihm sind dann die zusammengesetzten logischen Vorgänge, Denkformen,
Denkgesetze, bedingt; diese Entwicklung wird von der
Sprache getragen, welche die Erwerbungen des Seelenlebens
festhält, in Formen fixirt und von einer Generation auf die andere
überliefert. Es entspringen die Wissenschaften, als die mächtigen
Organe der Bildungsprocesse, welche die Vorstellungen zur Darstellung
und Erklärung der Wirklichkeit geeignet machen. Und
hier entstehen auch die Hypothesen: Begriffe und Verbindungen
von Begriffen, welche zum Zweck dieser Erklärung den Kreis
der Erfahrungen überschreiten. Wenn man den Begriff der
Einbildungskraft anwenden will, so würden die Hypothesen [360]
dem Begriff der wissenschaftlichen Einbildungskraft unterzuordnen
sein.


  Wenn so von den Eindrücken der Aussenwelt her Veränderungen
im Vorstellungsleben entstehen, Bildungsprocesse des
Wahrnehmens oder Denkens in ihm angeregt werden und
natürlich auch der Stand der Gefühle sich ändert, so entspringen
hieraus Antriebe, die auf die Aussenwelt zurückwirken. Denn die
Gefühle rufen unter bestimmten Bedingungen des seelischen Zusammenhangs
Willensvorgänge hervor. So entsteht eine andere
Classe von Bildungsprocessen von den Willensvorgängen
aus. Der Willensvorgang entspringt nicht aus den Vorstellungen
und dem Gefühl durch den blossen Hinzutritt des physiologischen
Vorgangs im motorischen System; das beweist die innere Willenshandlung.
Er ist vielmehr für unsere innere Erfahrung eine
ebenso primäre Thatsache als der Gefühlsvorgang. Dies genügt
uns bei unserem beschreibenden Verfahren. Wir unterscheiden
nun äussere Willenshandlungen, welche unserem Innenleben
und seinen Bedürfnissen die Aussenwelt anpassen, und Vorgänge
der Natur beherrschen oder solche der Gesellschaft leiten
wollen, von inneren Willenshandlungen, welche den Gang unserer
Vorstellungen, Gefühle und Leidenschaften lenken. Unsere
äusseren Willenshandlungen bringen das wirthschaftliche Leben,
die Rechts- und Staatsordnung, die Naturbeherrschung hervor.
Aus den inneren Willenshandlungen entspringen unter Anderem
die innere sittliche Bildung und der von dieser getragene religiöse
Vorgang. Denn der religiöse Vorgang ist zwar zunächst auch
mit den äusseren Willenshandlungen verflochten: der Mensch
möchte sich durch seine religiösen Acte das Gelingen seiner
äusseren Handlungen sichern. Er ist auch mit den primitiven
Erkenntnissproblemen verwebt: der Mensch möchte das Dunkel
um ihn, das ihn bedingt und auf ihm lastet, durchdringen. Aber
die inneren Willenshandlungen werden zum eigentlichen Kern
des religiösen Vorgangs bei entwickelterer Cultur. Und nun
stehen mit den Willenshandlungen mannigfache Bildungsprocesse
der Vorstellungen in Zusammenhang. Ihr gemeinsames Merkmal
ist, dass die Inhalte des Willens und die Verhältnisse in ihm [361]
in den Vorstellungen ihren Ausdruck gewinnen. Zunächst ist
ja in jedem Willensact eine Beziehung eines vorschwebenden
Effectbildes zu dem Willen, welche durch die Gefühle bedingt
ist, und dieses Effectbild ist naturgemäss vom Willen aus in
einer die Wirklichkeit überschreitenden Weise geformt. Alsdann
stehen diese Zwecke zu einander in Verhältnissen, welche in
dem Gefüge des Willens von seinen elementaren Antrieben ab
ihren Grund haben. In den Verhältnissen dieser Zwecke zu
dem Mannigfachen der Mittel, sowie andrerseits den Beziehungen
der Willen zu einander in Herrschaft und Abhängigkeit schliesst
der Inbegriff dieser practischen Vorstellungsinhalte und ihrer
Beziehungen ab. Durch Abstraction entstehen practische Kategorien
wie Gut, Zweck, Mittel, Abhängigkeit, und sie werden
auch über unsere menschliche Willenssphäre hinaus angewandt.
Innerhalb der inneren Willenshandlungen entsteht das Ideal.
So entspringen in den Bildungsprocessen dieser Classe ebenfalls
Vorstellungen, welche die Wirklichkeit überschreiten. Wenn man
sie unter den Begriff der Einbildungskraft ordnete, müsste man
von einer practischen Phantasie reden.


  Zwischen diesen beiden Sphären erstreckt sich das weite
Gebiet derjenigen Bildungsprocesse, in denen Vorstellungsinhalte
und deren Verbindungen von den Gefühlen aus bestimmt
und geformt werden, ohne dass aus der Gefühlslage ein Antrieb zur
Anpassung der äusseren Wirklichkeit an den Willen oder des
Willens an diese hervorginge. Dies kann nur in zwei Fällen
eintreten. Vorübergehend wird eine Gleichgewichtslage des
Gefühls erreicht, in welcher gleichsam ein Feiertag des Lebens
eintritt. Festliche Freude, Geselligkeit, Spiel und Kunst erweitern,
steigern und formen solche Gefühlslage. In diesem Fall
strebt die Stimmung, alle Vorstellungen sich zu unterwerfen,
soweit die Gemüthslage ein Verhältniss zur Wirklichkeit mit einschliesst.
Oder eine Gefühlslage enthält zwar eine Spannung in
sich, diese kann aber durch keine äussere oder innere Willenshandlung
aufgehoben werden. Erschütternde unaufhebbare Thatsachen
theilen ihre dunkle Farbe allen Dingen mit und in schwermüthigem
Grübeln entstehen Bilder, die ihnen gemäss sind.

[362]

  Die Bildungsprocesse, welche unter solchen Umständen unter
der Einwirkung der Gefühle innerhalb unserer Vorstellungen
eintreten, beschreiben ebenfalls einen weit ausgedehnten Kreis.
Er reicht von dem Bilde, das der Hypochonder sich von seinem
Augenleiden oder der Tiefgekränkte von seinem Quälgeist entwirft,
bis zu der Venus von Milo, den Madonnen Raphaels und
dem Faust. Hier waltet überall das Grundgesetz, dass Vorstellungen,
die von einer Gefühlslage aus geformt sind, wiederum
diese regelmässig hervorrufen können. Insbesondere suchen die
gesteigerten Gefühlslagen gleichsam eine Entladung in Geberden,
Lauten und Vorstellungsverbindungen, die dann als Symbole dieses
Gefühlsgehalts im Betrachter oder Hörer das Gefühl wieder anregen.
So ruft ein Sinken oder Heben der Stimme, ein bestimmtes
Tempo, Wechsel in Stärke oder Tonhöhe oder Geschwindigkeit,
wie sie aus der Gefühlslage hervorgehen, auch
wieder ein entsprechendes Gefühl hervor; die Schemata entstehen,
deren sich die Musik bedient.


  Diese Bildungsvorgänge ermöglichen, in die Ausbildung der
höheren Gefühle, sowohl innerhalb der Individualexistenz als
innerhalb der Entwicklung der Menschheit, eine Continuität zu
bringen. Auch hier, wie in der Sphäre des Vorstellens und
Denkens, vermag die Willensbetheiligung solche Gestaltung der
Bilder folgerecht zu vollbringen. So entstehen die festen Formen
der Geselligkeit, der Festesfreude und der Kunst. Und auch hier
überschreiten die so entstehenden Bilder die Grenze der Wirklichkeit;
bezeichnen wir das Vermögen zu solchen Vorgängen in
einem Begriff, so ist es die künstlerische, die dichterische Einbildungskraft,
welche hier waltet, und sie ist nun unser Problem.

4. Die Gefühlskreise und die aus ihnen stammenden
ästhetischen Elementargesetze.


  Da diese Bildungsvorgänge von dem Spiel der Gefühle
aus erwirkt werden, so muss in einer Analyse des Gefühls die
Unterlage für ihre Erklärung gesucht werden. Die Bedeutung
des Gefühlslebens für das künstlerische Schaffen hat sich nie der
Betrachtung entziehen können. Aus der Erfahrung von den [363]
Verhältnissen der Formen zu unseren Gefühlen entspringt die
Bedeutung, welche die Verhältnisse der Linien, die Vertheilung
von Kraft und Last und die Symmetrie im architektonischen
und bildlichen Aufbau haben. Aus der Wahrnehmung von
den Beziehungen unserer Gefühle zu dem Wechsel der
Stimme nach Höhe und Tiefe, Rhythmus und Stärke entsteht
der Aufbau der betonten Rede und der Melodie. Aus den
erworbenen Einsichten über die Wirkung von Charakteren, Schicksalen
und Handlungen auf unsere Gefühle bildet sich die ideale
Gestaltung der Charaktere und die Führung der Handlung. Aus
den geheimnissvollen Beziehungen zwischen den gefühlten Unterschieden
des Seelenlebens und dem Mannigfachen der Körperformen
erwächst das Ideal in der bildenden Kunst. So wird die
Analysis des Gefühls den Schlüssel für die Erklärung des künstlerischen
Schaffens enthalten.


  Und zwar treten uns im wirklichen Leben die Gefühle
überall in einer sehr grossen Verwicklung gegenüber. Wie ein
Wahrnehmungsbild sich aus einer grossen Mannigfaltigkeit von
Empfindungsinhalten zusammensetzt, so ist auch ein Gefühlszustand,
aus elementaren Gefühlen entstanden, welche die Analysis
aufzusuchen hat. Ich stehe vor einem Gemälde; die einzelnen
Farben haben ihren Gefühlston; dann tritt das Gefühl der Farbenharmonie,
der Contraste in den Farben, der Schönheit in den Linien,
des Ausdrucks in den Personen hinzu: aus solchem Allem entsteht
das Gefühl, mit welchem Raphaels Schule von Athen mich ganz
erfüllt und befriedigt. Und zwar treten die Gefühle in Formen
auf, welche durch eine bestimmte Art von Zusammensetzung
aus Elementargefühlen gebildet sind. Solche Formen sind Freude,
Wehmuth, Hass. Aber diese Formen stehen untereinander in
keinem ersichtlichen Zweckzusammenhang und lassen sich nicht
in einem System ordnen.


  Die Mannigfaltigkeit der Gefühle zeigt zunächst Unterschiede
des Erregungsgrades. Die Gefühle können in einer
Reihe von Intensitäten geordnet werden, die sich von einem
Nullpunkt der Indifferenz aus in der einen Richtung nach Intensitätsgraden
von Lust, Gefallen und Billigung, in der anderen [364]
nach Graden der Unlust, des Missfallens und der Missbilligung
darstellen. Aber die Gefühle zeigen auch qualitative Unterschiede.
Zur Zeit ist die Frage unauflösbar, ob diese qualitativen
Unterschiede ausschliesslich aus dem Vorstellungsgehalt und dem
Willen entspringen, oder ob unabhängig hiervon in den Functionen
des Gefühlslebens solche Unterschiede ausser denen des
Grades von Lust oder Unlust bestehen. Denn eben in dem Ineinander
dieser Seiten der Seele ist das Leben; wir vermöchten
nicht zu sagen, welche Vorgänge im Vorstellen übrig blieben,
hinweggedacht den Antheil von Gefühl und Wille in Interesse
und Aufmerksamkeit; wir können ebenso wenig sagen, ob die im
Gefühlsvorgang auftretende Leistung für sich genommen nur eintönig
in Graden von Lust und Schmerz bestehen würde. Innerhalb
der gegebenen qualitativen Mannigfaltigkeit der Gefühle
suchen wir die elementaren Vorgänge.


  Die einfacheren Bestandtheile, aus denen sich unsere Gefühle
zusammensetzen, wiederholen sich in ähnlicher Weise, als es die
Bestandtheile der Wahrnehmung, also die Empfindungen thun,
und zwar finden wir, dass im Causalzusammenhang des Seelenlebens
regelmässig aus einer bestimmten Classe von Antecedenzien
eine bestimmte elementare Classe von Gefühlsvorgängen
entsteht. Wie einer Reizclasse ein Kreis von Sinnesqualitäten
entspricht, so entspricht einer bestimmten Classe von
Antecedenzien des Gefühls ein bestimmter Gefühlskreis. So
kann ich die elementaren Gefühle nach Kreisen ordnen, und sie
bilden in diesem Sinne eine übersehbare Mannigfaltigkeit.


  Reizvorgänge ohne die Vermittlung dadurch angeregter
Vorstellungen sind nur Antecedenzien der sinnlichen Lust- und
Schmerzgefühle. Der Zusammenhang ist hier ein Problem der
Psychophysik. Diese sucht die Vermittlungen auf, welche innerhalb
des Körpers von dem Reiz hinüberführen zu dem
Gefühl. Der Uebergang von dem letzten Glied des physiologischen
Vorgangs zum Gefühl selber kann natürlich so wenig
fassbar gemacht werden als der zur Empfindung. ─ In allen
anderen Fällen aber sind seelische Vorgänge die Antecedenzien [365]
der Gefühle. Wohl hat der Uebergang aus einem seelischen
Vorgang als Antecedens zu dem Gefühle als der Folge die Selbstverständlichkeit,
welche immer das innere Gewahren des Erwirkens
begleitet; wohl kommt diesem Zusammenhang der
innere Zwang zu, den wir als Nothwendigkeit bezeichnen; wohl
besteht endlich eine Constanz, mit welcher unter sonst gleichen
Umständen stets ein gegebener Empfindungs- oder Vorstellungsbestand
ein bestimmtes Gefühl erwirkt; aber wie das geschehe und
warum eine bestimmte Classe von Vorgängen gerade mit einer
solchen von elementaren Gefühlen verknüpft sei, darüber wissen wir
nichts; auch klärt dieses Verhältniss die Formel nicht auf, nach
der im Gefühl der Werth eines Zustandes oder einer Veränderung
erlebt wird. Denn Werth ist ja nur der vorstellungsmässige
Ausdruck für das im Gefühl Erfahrene. Aber eben darum ist
uns, da bestimmte Vorgänge mit ähnlicher Constanz Gefühle
erwirken, als bestimmte Reize Empfindungen, in den
elementaren Gefühlen ein Erfahrungskreis aufgeschlossen, als
dessen Gegenstand wir die Werthbestimmungen bezeichnen
können. Wir geniessen in der Lust theils die Beschaffenheit
der Gegenstände: ihre Schönheit und ihre Bedeutung, theils
die Steigerungen unsres eignen Daseins: Beschaffenheiten
unsrer Person, die unsrem Dasein Werth geben. Diese zwiefache
Beziehung ist in der Wechselwirkung zwischen unsrem
Selbst und der Aussenwelt angelegt. Wie wir in den Empfindungen
die äussere Wirklichkeit erfahren, so in den Gefühlen
Werth, Bedeutung, Steigerung oder Minderung des Daseins in
uns oder in Etwas ausser uns.


  Wir durchlaufen die Gefühlskreise, indem wir gleichsam
von aussen nach innen vordringen.


  Den ersten Kreis elementarer Gefühle bilden diejenigen,
welche das Gemeingefühl und die sinnlichen Gefühle zusammensetzen.
Das Charakteristische derselben ist, dass der physiologische
Vorgang ohne Mittelglied von Vorstellungen Schmerz
oder Lust hervorruft. Meynert hat über die einzelnen Glieder
in diesem Causalzusammenhang ansprechende Vermuthungen [366]
geäussert.1) ─ Der zweite Gefühlskreis wird durch die elementaren
Gefühle gebildet, welche aus den Empfindungsinhalten
unter der Bedingung eines concentrirten Interesses
hervorgehen. Schon der Intensitätsgrad der Empfindung steht in
einem gesetzmässigen Verhältniss zu Lust und Unlust. Zu hohe
oder zu geringe Intensitätsgrade wirken unangenehm, mittlere an
sich erfreulich. Alsdann stehen aber auch die Qualitäten der
Empfindung in einem gesetzmässigen Verhältniss zu einem Gefühlston,
der im Fall einer dieser Empfindung zugewandten
concentrirten Aufmerksamkeit sie begleitet. Goethe hat über
die Wirkung einfacher Farben in diesem Sinne Versuche angestellt.
Ebenso besteht eine solche Wirkung der in der Empfindung
einfachen Töne. Die Feststellung, welche Empfindungen hier
elementar, welche aus einer Verschmelzung mehrerer Empfindungen
entstanden, aber durch die Aufmerksamkeit und
Uebung dabei trennbar seien, bietet die bekannten Schwierigkeiten,
welche die Elementartheorie der Musik umgeben. In
der Poesie bedingen diese Gefühle die ästhetische Wirkung,
insofern schon das Vorwiegen weicher Laute in dem Tonmaterial
manchen lyrischen Gedichten, vor Allen Goethes, einen ungesuchten
Reiz giebt. Wir können das ästhetische Prinzip, nach
welchem die einfachen Empfindungselemente, die in der Kunst
verwandt werden, für sich eine solche Wirkung hervorzurufen
geeignet sind, als das des sinnlichen Reizes bezeichnen.


  Der dritte Gefühlskreis umfasst die Gefühle, welche in
Wahrnehmungen entspringen, also durch Beziehungen von
Sinnesinhalten auf einander hervorgerufen werden. So
wirken in Ton und Farbe Harmonie oder Contrast; unter den Raumgefühlen
ist das am meisten durchgreifende das Wohlgefallen an
der Symmetrie und unter den Zeitgefühlen das am Rhythmus; aber
auch die unermessliche Weite des eintönig blauen Himmels oder
des Meeres ruft ein starkes ästhetisches Gefühl hervor. Die Poesie
bringt durch die Beziehungen der Töne zu einander in ihrem
sprachlichen Material, ganz abgesehen von der Bedeutung der [367]
einzelnen Worte, eine sinnliche Freude von grosser Mannigfaltigkeit
und Stärke hervor. In der Untersuchung dieser elementaren
Gefühle hat die Poetik eine ihrer wichtigsten Grundlagen.
Sie muss insbesondere das rhythmische Gefühl in seinem
Ursprung, vermöge dessen es im Lebensgefühl selber wurzelt,
aufsuchen. Denn wie unser Körper aussen überall Symmetrie
zeigt, so geht durch seine inneren Functionen der Rhythmus.
Der Herzschlag wie die Athmung verlaufen in Rhythmen, das
Gehen in einer regelmässigen Pendelbewegung. In langsamerem,
doch auch regelmässigem Wechsel folgen einander Wachen und
Schlaf, Hunger und Mahlzeit. Die Arbeit wird durch den Rhythmus
der Bewegungen erleichtert. Gleichmässig fallende Tropfen,
rhythmisch rückkehrende Wellen, der einförmige Tact, den die
Wärterin dem Kinde hören lässt, wirken beschwichtigend auf
die Gefühle und erregen so den Schlaf. Die Erklärung dieser
umfassenden psychischen Bedeutung der Rhythmik ist ein noch
ungelöstes Problem. Denn dass wir vermittelst des Rhythmus
leichter das Ganze des Empfindungswechsels einheitlich auffassen,
erklärt augenscheinlich nicht die elementare Gewalt des Rhythmus.
Erwägt man das Verhältniss einer einfach auftretenden
Empfindung zu dem Rhythmischen der Bewegungen, wie sie
für Gesicht und Gehör den Reiz bilden, und betrachtet nun die
Freude am Rhythmus als die Wiederkehr eines ähnlichen Verhältnisses
in höherer Ordnung, da die Theile dieses rhythmischen
Verlaufs Empfindungen sind, so bleibt das doch vorläufig eine
unbeweisbare Hypothese. Gerade die Poetik hat hier die Aufgabe,
zunächst empirisch die Thatsachen ihres weiten Gebietes,
vom Lied, der Melodie und dem Tanz der Naturvölker bis
zu der Gliederung des griechischen Chorliedes vergleichend zu
bearbeiten. Dann erst wird die Rhythmik und Metrik, wie sie
von den hochgebildeten Literaturen abstrahirt ist, in den weiteren
Zusammenhang treten, welcher die Mittel zur Entscheidung über
die streitigen psychologischen Hypothesen liefert.


  Wir bezeichnen das Prinzip, nach welchem die Empfindungselemente
des Kunstwerks in Verhältnissen, die das Gefühl wohlthätig [368]
erregen, stehen müssen, als das der wohlgefälligen Verhältnisse
der Empfindungen. Die Lust am Rhythmischen
wie die an Lautverbindungen ist allerdings in der Poesie nicht
nur durch diese elementaren Verhältnisse bedingt, sondern auch
durch die Associationen, die vom Inhalt her dem Rhythmischen
und den Lautverbindungen eine Bedeutung geben.


  Der vierte Gefühlskreis wird gebildet von der grossen
Mannigfaltigkeit der Gefühle, welche aus der denkenden Verknüpfung
unserer Vorstellungen entspringen und abgesehen
von dem Verhältniss ihres Gehaltes zu unserem Wesen durch die
blossen Formen der Vorstellungs- und Denkvorgänge angeregt
werden. In den weiten Umkreis dieser Gefühle fallen die Abstufungen
im Gefühl des Gelingens, welche unser Vorstellen und Denken
begleiten, das angenehme Gefühl von Evidenz und das störende
des Widerspruchs, die Freude an dem einheitlichen Zusammenhang
des Mannigfaltigen, die Unterhaltung, die aus einem überschaubaren
Wechsel entspringt und das Gefühl der Langeweile,
die Freude am Witz und dem Komischen und die Ueberraschung,
welche scharfsinniges Urtheil hervorruft etc.


  Man bemerkt, wie die Zergliederung in Elementargefühle
dadurch für die Poetik bedeutend wird, dass sie die grosse
Verflechtung derselben zeigt, welche im poetischen Eindruck
stattfindet. Indem sich so ein Gefühlskreis an den anderen
schliesst, erklärt sich, wie Elementargefühle, die noch gar nicht
durch den Gehalt der Poesie beeinflusst sind, sich zu einem
Effect verknüpfen können, durch welchen auch ein leidvoller
Inhalt in ein Medium von Wohlklang, Harmonie, Rhythmik,
unterhaltenden und erhebenden Formen des Vorstellens und
Denkens tritt. Und nun erkennt man, wie die Form in der
Poesie ein Zusammengesetztes
und gerade vermöge der
Zusammensetzung der Gefühle höchst Wirksames ist.


  Daher ist dieser Gefühlskreis sehr wichtig, und die Poetik
trifft hier wieder auf Probleme von grosser Tragweite. Denn aus
der Beziehung der Vorstellungen auf einander im Denken entspringen
die für die Poesie so wichtigen Formen und Formbestandtheile:
der Witz, das Komische, das Gleichniss, die Antithese [369]
sowie das Verhältniss der Ueberschaubarkeit und Einheit eines
Mannigfachen im Denken zu dem in diesem Mannigfaltigen gegebenen
Reichthum. Dies Verhältniss ermöglicht uns, gleich fern
von Zerstreuung und langweiliger Monotonie, in receptivem Verhalten
Befriedigung zu finden.1) Ebenso entspringt hier das
folgende vom Verhältniss der Vorstellungen im Denken ausgehende
Gefühl: „wenn von einander abweichende Anlässe, sich
eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im
Sinne der Lust, gewahr zu werden, dass sie wirklich auf eine
übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust,
gewahr zu werden, dass sie auf eine widersprechende Vorstellung
führen.“2) Natürlich müssen hierbei die Beziehungen
zwischen Vorstellungen im Denken, wie Gleichheit und Unterschied,
Einstimmigkeit und Widerspruch, so weit in klares Bewusstsein
erhoben werden, dass eine Wirkung dieser Beziehungen auf das
ästhetische Gefühl möglich wird.3) Fassen wir dies Alles zusammen,
so gefällt ein Kunstwerk, weil die Formen der Vorstellungs-
und Denkvorgänge, welche seine Auffassung im
Empfangenden hervorruft, noch abgesehen von der Beziehung
des Gehaltes zu den inhaltlichen Antrieben, von Lust begleitet
sind. Ich bezeichne dies als das Princip des Wohlgefälligen
aus der denkenden Verknüpfung der Vorstellungen.
Geschichtlich bedeutende Einzelprincipien sind in ihm enthalten:
Einheit des Interesses, „Viel aus Einem und in Einem“ von
Leibniz, Einheit im Mannigfaltigen, Verstandesangemessenheit.
Das ausgehende siebzehnte und das anhebende achtzehnte Jahrhundert
haben dies Princip besonders der Kunst und Poesie zu [370]
Grunde gelegt. Damals kam seine Bedeutung für das Kunstwerk
durch die in ihm enthaltenen Formeln vollständig, obwohl
einseitig zum Bewusstsein. Man versteht aus dem Geiste dieser
Zeit das von Montesquieu formulirte Geheimniss ihrer Poesie,
in Einem Worte Viel zu sagen. Ein grosser Gedanke ist nach
ihm ein vielumfassender, der mit Einem Schlage eine Fülle von
Vorstellungen zum Bewusstsein bringt. Hier ist das Grosse in
die Form des denkenden Auffassens aufgelöst. Das war der Geist
der Poesie von Voltaire und Friedrich dem Grossen.


  Wenn das Mannigfache dieser elementaren Gefühle in der
Form der Dichtung, welche natürlich zum Gehalt in Beziehung
steht, zusammen wirkt und auch das grausamste und bitterste
Schicksal in eine Sphäre von Wohllaut und Harmonie erhebt
─ was in so manchen Versen des Homer oder Shakespeare
oder auch in der Prosa der Wahlverwandtschaften erfahren
werden mag ─: so treten wir jetzt in die Gefühlskreise ein, in
welchen die aus dem Gehalt der Dichtung stammenden ästhetischen
Wirkungen liegen. Der fünfte Gefühlskreis entsteht
von den einzelnen, durch das ganze Leben hindurchgreifenden
materialen Antrieben aus, deren wir in Gefühlen nach
ihrem ganzen Inhalt inne werden. Diese Gefühle treten hervor,
wenn die elementaren Triebe von dem sie umgebenden Milieu
oder auch von inneren Zuständen aus Hemmungen oder Förderungen
erfahren. Verwoben mit unseren Instincten, aus den
Wurzeln der sinnlichen Gefühle aufsteigend, durchziehen sie die
ganze moralische Welt. Aus den Tiefen des sinnlichen Gefühls
reichen aufwärts der Nahrungstrieb, der Trieb der sinnlichen
Selbsterhaltung oder Wille zu leben, der Trieb der Fortpflanzung
und die Liebe zur Descendenz. Diese sind die starken Federn in
der Uhr des Lebens, die Muskeln, welche die Fortbewegung
des ungeheuren Geschöpfes: Gesellschaft erwirken. Nahe an die
sinnliche Gewalt dieser Antriebe reicht die Macht von Triebfedern
heran, die einer höheren Region angehören. Was sich als
Selbstbewusstsein darstellt, ist, nach der practischen Seite angesehen,
Streben nach Erhaltung und Vervollkommnung der
Person sowie Selbstschätzung; dies sind nur verschiedene Seiten [371]
desselben Thatbestandes, und Gefühle der mächtigsten Art
knüpfen sich an denselben. Indem Hemmungen und Förderungen
hinzutreten und Relationen aufgefasst werden, entstehen die
meist sehr zusammengesetzten Einzelgefühle von Eitelkeit, Ehrgefühl,
Stolz, Scham, Missgunst etc. Und ebenso mächtig durchherrscht
die Gesellschaft die andere Gruppe von Gefühlen, in
denen wir Leid und Lust Anderer als unsere empfinden und das
Leben Anderer gleichsam in unser eigenes Ich aufnehmen:
Sympathie, Mitleid, Liebe. Die ganze feinere Beweglichkeit und
Empfindbarkeit der Gesellschaft beruht zunächst auf diesen beiden
grossen Zügen des menschlichen Fühlens.


  Die Poesie hat ihren elementaren Stoff in diesem Gefühlskreis.
Je tiefer Motiv und Handlung in diese Wurzeln des
Lebens hinabreichen, desto sinnlich gewaltiger bewegen sie.
Das Erleben der grossen elementaren Antriebe der menschlichen
Existenz, der aus ihnen entspringenden Leidenschaften
und der Schicksale derselben in der Welt, nach ihrer kernhaften
psychologischen Mächtigkeit, ist die eigentliche Basis alles dichterischen
Vermögens. Es macht zunächst der Grundlage nach
den grossen Dichter, dass in seiner viel mächtigeren Seele diese
Antriebe breiter, massiver wirken als in den Seelen seiner Leser
oder Zuhörer; von da entsteht die Erweiterung und Steigerung
der ganzen Lebendigkeit, welche die am meisten elementare
Wirkung aller Poesie auf diesen Leser oder Hörer ist. Wenn
man mit Fechner Principe (Gesetze) formulirt, welche das Schaffen
regeln und in dem Schönen verwirklicht sind, dann muss
hier ein Princip der Wahrhaftigkeit, im Sinne einer
mächtigen Wirklichkeit der dichterischen Person und der elementaren
Antriebe in ihr, aufgestellt werden.1) Dasselbe wird in
allen Künsten Gültigkeit haben. Denn auch wo gar keine äussere
Wahrheit im Sinne von Abbildung eines Wirklichen angestrebt [372]
wird, wie in Architektur und Musik, ist die Abstammung der
Formen aus dieser Mächtigkeit eines kernhaften Menschen, nicht
aus blosser Nachahmung des Lebens Anderer oder gar der von
ihnen geschaffenen Formen, das, was einem Tonwerk oder einem
Kirchenbau seine Wahrhaftigkeit giebt.


  Aber der Wille, in welchem diese Triebe sich auswirken und
Leidenschaften hervorrufen, hat allgemeine in diesen Trieben und
Leidenschaften sich äussernde Eigenschaften, deren wir nun
auch innewerden. Die Eindrücke, in denen wir sie fühlen, sind
von dem eben geschilderten Gefühlskreis verschieden, so nahe
vielfach die Verwandtschaft ist. Der letzte Gefühlskreis
entsteht also, indem wir der allgemeinen Eigenschaften der
Willensregungen innewerden und ihren Werth erfahren.
Die sehr grosse Mannigfaltigkeit in diesem Gefühlskreis entspringt
aus dem Mehrfachen dieser Eigenschaften, aus den Relationen,
in welche sie gleichsam zersplittern, aus den Verschiedenheiten
des Erfahrens, je nachdem wir uns nur dieser Eigenschaften
mächtig fühlen oder ihren Werth im Urtheil über uns selbst
erfahren oder im Urtheil über Andere den Werth des fremden
Willens bestimmen. Wir zählen nun äusserlich auf. Das frohe
Gefühl unserer Kraft. Innewerden des folgerichtigen Festhaltens
an dem unserem Willen Wesenhaften im Wechsel der
Umstände, hindurchgreifend durch die Zeit und sie für den
Willen vernichtend: also Charakter oder Consequenz. Daran sich
anschliessend: Treue, Muth, Nichtachtung der Gefahr oder des
Leidens, verglichen mit dem vom Charakter Erfassten. Reichthum
des in den Willen aufgenommenen Lebensgehaltes, der in der Einheit
desselben geordnet und in freudiger Erweiterung des Lebensgefühls
genossen wird. Die Folgerichtigkeit, für die auch die Bindung
einem anderen Willen gegenüber, unabhängig von der Zeit,
fest bleibt und welche diese Bindung anerkennt, durch was für
Acte von Empfangen, Geniessen oder Festsetzen sie auch entstanden
sein mag: also die Rechtschaffenheit und Pflichttreue.
An sie schliesst sich Dankbarkeit, Verehrung etc. Und wie ich
selbst mich als Person schätze und die Sphäre meines
Rechtes behüte, so finde ich mich auch gezwungen, Personalität [373]
mir gegenüber als Selbstwerth anzuerkennen und in ihrer Sphäre
zu schützen: so entstehen Recht und Gerechtigkeit. Mannigfache
Gefühle schliessen sich hieran, von dem Antrieb zur Ahndung
des Unrechts bis zu dem der Billigkeit. Endlich ist in der Kraft
des Willens, als das Höchste, angelegt, dass die Person sich hingeben
und aufopfern kann für die Sache oder die Menschen, mit
denen sie durch starke Triebe verbunden ist: die höchste Eigenschaft
des Willens, seine eigentliche Transcendenz, da er dem
Gesetze der Erhaltung durch diese Eigenschaft entnommen und
über den ganzen Naturlauf durch sie erhoben ist.


  Die von Herbart aufgestellten sittlichen Ideen sind nur
schattenhafte Abstracta, welche aus der Auffassung der Eigenschaften
und ihres Werthes an dieser dem Verstande nie ganz
durchdringlichen Lebendigkeit unseres Willens entspringen. Da
wir diese Lebendigkeit nur in solchen einzelnen Eigenschaften
auffassen und in ihrem Werthe schätzen können, da die innere
Structur, in welcher diese Eigenschaften verwebt sind, sehr schwer
und vielleicht nie ganz erkennbar ist: konnte bei Herbart die
Darstellung in elementaren Ideen entstehen, wie er sie am sittlichen
Urtheil aufgefasst hatte.


  Die Gefühle, welche hier entstehen und in vielfachen
Brechungen bald als Bewusstsein eigenen Werthes, bald als
Urtheil über andere Personen, bald als Genuss der Anschauung
solcher Vollkommenheiten in reinen Typen auftreten, sind nun
für das dichterische Auffassen von sehr hervorragender Bedeutung.
Indem in dem Dichter die Bilder dieser grossen Eigenschaften
des Willens und die aus ihnen stammenden Gefühle
wirksam sind, wird ein Lebensideal die Seele seiner Dichtung1).
Dieser Vorgang der Idealisirung gestaltet Charaktere und Fabel.
Zugleich geht von hier eine Idealität in der Führung der
Handlung aus, die in dem Willen gegründet ist: sie giebt besonders
den Dramen Schillers den grossen gehaltenen Athem in [374]
der Handlung. Und da diese Idealität sich durch nun zu
erörternde Vorgänge auch den Formelementen mittheilt, die in
anderen Künsten frei verknüpft werden, so stammt aus diesem
Gefühlskreis ein allgemeines Princip aller Kunstwirkung,
welches man als das der Idealität bezeichnen mag.


  So gehen von all' diesen Gefühlskreisen elementare ästhetische
Wirkungen aus und jede Kunstwirkung ist zunächst auf eine
Zusammensetzung derselben gebaut. Ein Theil der Principien
(Gesetze), welche Fechner aus der empirischen Betrachtung der
ästhetischen Wirkungen abstrahirt hat, ist in dem Vorigen
psychologisch abgeleitet worden, aber diese Ableitung hat zugleich
gezeigt, dass neben sie andere Principien mit demselben Rechte
hätten gestellt werden können. Hiermit fassen wir zuerst festen
Fuss in dem Umkreis der ästhetischen Gesetze, die, unabhängig vom
Wechsel des Geschmacks und der Technik, aus der immer
gleichen menschlichen Natur ihre beständige Gültigkeit empfangen.
Wir erkennen jetzt, dass das Problem, welches die moderne
Poetik sich stellte und das zuerst in dem Gegensatz von Herder
und Kant hervortrat, lösbar ist. Aus der Analysis der menschlichen
Natur ergeben sich Gesetze, welche unabhängig vom
Wechsel der Zeit den ästhetischen Eindruck wie das dichterische
Schaffen bestimmen. Die Bewusstseinslage in einem Volke zu
einer gegebenen Zeit bedingt eine poetische Technik, welche
sich in Regeln darstellen lässt, deren Gültigkeit durch diese
Bewusstseinslage begrenzt ist; aber aus der menschlichen Natur
entspringen Principien, die so allgemein gültig und nothwendig
den Geschmack und das Schaffen beherrschen, wie die logischen
das Denken und die Wissenschaft. Die Zahl dieser Principien,
Normen oder Gesetze ist unbestimmt; sind sie doch nur Formeln,
welche die Bedingungen der einzelnen ästhetischen Wirkungselemente
verzeichnen, und nun ist die Zahl dieser Wirkungselemente
unbegrenzt, schon wegen der unbegrenzten Theilbarkeit
des Ganzen der ästhetischen Wirkung. Einige elementare Gesetze
waren in den Gefühlskreisen gegeben; indem nun aber die
elementaren Gefühle in höhere Verbindungen eintreten, entstehen
auch höhere Gesetze der Poetik.

[375]

5. Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang
des Gefühlslebens und einige aus ihnen
stammende höhere Gesetze der Poetik.


  Wir betrachteten, wie aus einzelnen Classen von Ante
cedenzien einzelne Gefühlskreise entstehen. Diese elementaren
Gefühle stehen nun aber in Verhältnissen zu einander. Wie
Empfindungen als Vorstellungen reproducirt werden, so
werden auch Gefühle zurückgerufen. Und da diese Gefühle
in Antriebe übergehen können, liegt in ihnen selber eine Ursache
der Veränderung. Aus diesen drei Causalverhältnissen
entspringen Gesetze der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen
Schaffens, die hier für die Poetik zu begründen sind.


  Die Art, wie elementare Gefühle sich verbinden, ist
von der verschieden, in welcher Empfindungen oder Vorstellungen
sich verknüpfen. Unsere Gefühle verschmelzen in der Unterschiedslosigkeit
des Gemein-, des Lebensgefühls, wo sie nicht von den
Vorstellungen auseinandergehalten werden. Indem Lustgefühle
von ganz verschiedenen Antecedenzien und verschiedenem Charakter
durch einen Gegenstand angeregt werden, wächst die
Stärke der Lust; indem also aus den dargestellten Gefühls
kreisen ästhetisches Gefallen am einzelnen Klang, an der Ton
folge, am Rhythmus, an der Verknüpfung der Bilder zur Ein
heit und an der Mächtigkeit derselben zusammentreten, entsteht
eine Stärke des Totaleffectes, die wir wie eine Einheit fühlen. Es
ist höchst bemerkenswerth, wie an sich kleine Wirkungen des
Einzelklangs, des Reims, des Rhythmus einen erheblichen poetischen
Effect, in der Verbindung mit ästhetischen Wirkungen aus
dem Inhalt, hervorbringen. Löst man das schönste Gedicht in
Prosa auf, so ist seine ästhetische Wirkung beinahe verloren.
Hieraus hat Fechner das folgende ästhetische Princip ableiten zu
dürfen geglaubt, welches dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches
Gesetz zum Hintergrunde haben würde. (I 50) „Aus
dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen,
die für sich wenig leisten, geht ein grösseres, oft viel grösseres
Lustresultat hervor, als dem Lustwerthe der einzelnen Bedingungen [376]
für sich entspricht, ein grösseres, als dass es als
Summe der Einzelwirkungen erklärt werden könnte; ja es kann
selbst durch ein Zusammentreffen dieser Art ein positives Lustergebniss
erzielt, die Schwelle der Lust überstiegen werden, wo
die einzelnen Factoren zu schwach dazu sind; nur dass sie vergleichungsweise
mit anderen einen Vortheil der Wohlgefälligkeit
spürbar werden lassen müssen.“


  Das obige vom lyrischen Gedicht hergenommene Beispiel
Fechners kann ohne die Annahme dieses auffälligen Gesetzes
daraus erklärt werden, dass die Abwesenheit der mit dem Gefühlsausdruck
im Gedicht regelmässig verbundenen Hilfsmittel
von Rhythmus und Reim auf Grund unserer Gewöhnung ein
Gefühl des Mangels, sonach ein Unlustgefühl hervorbringt,
welches die Lust an dem Gefühlsgehalt mindert oder aufhebt.
Man kann das an den bekannten Streckversen Jean Pauls
beobachten. Ebenso verhält es sich in dem anderen von Fechner
erwähnten Falle, in welchem Versmass, Rhythmus und Reim ohne
für uns fassbaren Gefühlsgehalt eine geringe Wirkung hervorbringen.
Dazu kommt, dass aus der Beziehung des Gefühlsgehalts
zu der ihm angemessenen Form ein neues Gefühl entspringt,
das die Luststärke erhöht. So möchte vorsichtiger das
Princip Fechners ersetzt werden durch ein anderes der Totalwirkung,
nach welchem ein mannigfaches elementares Gefühl
sich zu einer Totalstärke summirt, welche durch die Beziehungen
dieser elementaren Gefühle aufeinander noch erhöht wird, da
aus diesen ein die Totalsumme des Gefallens vermehrendes
Gefühl hinzuwächst.


  Auf der Unterlage des so entstandenen Gefühlszustandes hebt
sich die Veränderung unserer Bewusstseinslage in einem
neuen Gefühl ab. Tritt ein Lebensreiz auf, so wird eben der
Uebergang aus der bestehenden Gefühlslage von uns in einem
neuen Gefühl erlebt. Hieraus ergiebt sich zunächst die Bedingung,
unter welcher ganz allgemein der ästhetische Eindruck auftritt.
Fechner bezeichnet das Verhältniss, welches diese Bedingung ausdrückt,
als Princip der ästhetischen Schwelle. „Für
jeden bestimmten Grad der Empfänglichkeit und Aufmerksamkeit [377]
wird es einen bestimmten Grad der äusseren Einwirkung geben,
der dazu überstiegen werden muss, hiemit eine zugehörige bestimmte
äussere Schwelle; aber wie sich jene innern Bedingungen
ändern, wird eine grössere oder geringere äussere Einwirkung
dazu nöthig werden, mithin die äussere Schwelle steigen oder
fallen“ etc.1) Und wenn nach diesem Verhältniss der Reiz ein Gefühl
hervorzurufen vermag, so ist dieses dann in Stärke und Art von
den Relationen zu der vorhandenen Gefühlslage sowie zu anderen
gleichzeitig auftretenden Reizen bedingt. Man kann dies Princip
als das der Relativität der Gefühle bezeichnen. Fechner
leitet folgende ästhetische Einzelprincipe ab. Das des ästhetischen
Contrastes, nach dem „das Lustgebende um so mehr Lust giebt, je
mehr es in Contrast mit Unlustgebendem oder weniger Lustgebendem
tritt und das Unlustgebende um so mehr“ etc.2) Das der ästhetischen
Folge, nach welchem bei der (positiven) Fortschrittsrichtung
von der kleineren zur grösseren Lust oder von grösserer
zu kleinerer Unlust das gesammte Lustresultat grösser oder das
Unlustresultat kleiner ist, als bei der umgekehrten (negativen)
Fortschrittsrichtung3). So kann das den Genesenden begleitende
Gefühl der Besserung, so viel Unlust auch noch in seiner Lage
sein mag, doch dieselbe compensiren oder überbieten. Und da
die Kunst vielfach nur im Zusammenhang mit Unlustreizen die
Lustreize ins Spiel setzen kann, wirkt dasselbe Verhältniss in dem
Princip der ästhetischen Versöhnung dahin, dass bei richtiger
Anordnung Unlustreize durch nachfolgende Lustreize compensirt
werden können; so wird ein disharmonischer Accord in einen
harmonischen aufgelöst, und eine Lage voll Gefahr und Noth
wird in der Dichtung zu glücklichem Ende geführt: in dieser
nachfolgenden Lust schwindet die Unlust4). Endlich bestehen
Eigenschaften der Gefühle in Bezug auf ihre Dauer, ihr Wachsen [378]
und Abnehmen, welche ebenfalls die ästhetische Wirkung
regeln und von Fechner im Princip der Summirung, Abstumpfung,
Ue bersättigung, Gewöhnung wie des Wechsels behandelt worden
sind.


  Wir gehen weiter. Von der Verbindung und Abfolge der
elementaren Gefühle und den so entstehenden Verhältnissen
wenden wir uns zu dem Problem ihrer Reproduction oder
Erneuerung. Wir betreten hier ein sehr dunkles Gebiet. Der
Reproduction auf Grund von Association, die zwischen Vorstellungen
obwaltet, entsprechen hier Vorgänge, die doch zugleich
auf eine andere Art des Verhaltens von Gefühlen zu
einander und zu Vorstellungen hinweisen. Hier halten wir uns an
das Einfache und Sichere. Gefühle werden von den Bedingungen
aus, welche sie ehemals hervorgebracht haben, so lange diese
Bedingungen zu den Lebensbedürfnissen des Individuums dasselbe
Verhältniss behalten, erneuert, mag man diese Erneuerung als
Reproduction oder als eine wiederholte Entstehung aus denselben
Antecedenzien auffassen. Die Thatsache eines Verlustes ruft so
lange ein Schmerzgefühl bei der Wiederholung der Vorstellung
hervor, als mit diesem Verlust eine Verminderung des Selbst
verbunden bleibt; ist dies nicht mehr der Fall, so wird
der Verlust gleichgültig vorgestellt. Indem nun aber eine Vorstellung
mit einer anderen, welche einen Reiz für das Gefühl
bildet, nach den Gesetzen der Association und Verschmelzung
in Beziehung steht, wird diese erste Vorstellung durch ein
Princip der Association Träger eines Gefühlsgehaltes. Jedes
Ding, das durch das Leben uns verbunden ist, ist ja für uns
wie erfüllt mit Allem, was wir über dasselbe erfahren haben
oder was über ein ihm ähnliches Ding erfahren worden ist.
Was kann nicht ein Duft, den wir einathmen, ein wehendes
Blatt im Herbstwinde uns sagen! Dies dürre Blatt, das langsam
zum Boden getragen wird, enthält als sinnliches Bild wenig, das
einen ästhetischen Eindruck hervorrufen könnte; aber all die
Gedanken, die von ihm aufgerufen werden, erneuern in uns
Gefühle, die sich zu einem starken ästhetischen Eindruck vereinigen.
Hierzu kommt, dass durch eine Art von Uebertragung [379]
der Gefühlsgehalt von einem Theil des Vorstellungsgefüges in
einem Bilde, innerhalb dessen er entstand, sich auch auf die
anderen Theile verbreitet, die zu ihm in keinem Verhältniss
standen. Ein grosser Theil aller ästhetischen Wirkungen ist
durch diesen Vorgang bedingt. Sofern der ästhetische Eindruck
wie das Schaffen von diesem Vorgang der Erregung ästhetischen
Gefallens durch Association (und Verschmelzung) abhängt, kann
hierauf ein Princip der Association begründet werden; dies
formulirt Fechner: „nach Massgabe, als uns das gefällt oder missfällt,
woran wir uns bei einer Sache erinnern, trägt auch die
Erinnerung ein Moment des Gefallens oder Missfallens zum
ästhetischen Eindrucke der Sache bei, was mit anderen Momenten
der Erinnerung und dem directen Eindruck der Sache
in Einstimmung oder Conflict treten kann“1).


  Dies Princip ist für alle ästhetischen Eindrücke ungemein
wichtig. Die unmittelbaren, mit Empfindungen verknüpften
Gefühlseindrücke erhalten durch Association eine beständige
Unterstützung. Zum sinnlichen Wohlgefallen an den Tönen
kommt von hier aus in der Musik das Princip der Bedeutung
von Tönen und Rhythmen, da der Wechsel in Stärke und Höhe der
Töne oder in Schnelligkeit ihrer Abfolge psychologisch zu dem
Wechsel der Gefühle in gesetzmässiger Beziehung steht. Dies
kann schon am Kinde wie am Thiere wahrgenommen werden. Ein
sehr fruchtbares Gebiet experimenteller Psychologie und Aesthetik
eröffnet sich hier. Auch für die Poetik ist dieses Princip von
grosser Bedeutung. Denn das Erlebniss, welches den kernhaften
Gehalt aller Dichtung bildet, enthält immer einen Gemüthszustand
als ein Inneres und ein Bild oder einen Bildzusammenhang,
Ort, Situation, Personen, als ein Aeusseres: in der ungelösten
Einheit beider liegt die lebendige Kraft der Poesie.
Daher repräsentirt nun das Bild selber oder ein ihm verwandtes
einen Gemüthsgehalt; der Gemüthsgehalt versinnlicht sich in
diesem oder einem verwandten Bilde. Jede Art von dichterischem
Gleichniss, von dichterischer Symbolik läuft an diesem Faden. [380]
Wenn Shakespeare die innere Gebundenheit der Seele Hamlets
an den Schatten seines Vaters und an seine Pflicht gegen ihn
vorstellen will, rufen diese inneren Zuständlichkeiten ihm machtvolle
äussere Bilder vor die Seele, welche zu ihnen gehören.


  Wir gehen wieder weiter. Eine fernere Ursache des
Wechsels unserer Gefühle ist diesen ganz eigenthümlich und in
den Beziehungen derselben zu den Antrieben begründet,
die über das Innewerden des Trieblebens, des Willens und der
Hemmungen und Förderungen desselben hinausreichen. Dies
Innewerden der Zustände des Willens in Gefühlszuständen hat,
wie wir sahen, die elementaren Gefühle der beiden letzten
Kreise zur Folge. Nun wird andererseits der Willensvorgang
stets von Gefühlen in Bewegung gesetzt, und diese gehen beständig
in Antriebe, Begehrungen und Willensakte über. Wie
in manchen Zuständen vom Empfinden, vom Innewerden ein
unmerklicher Uebergang in Gefühle stattfindet, so auch von
diesen, in dem Umkreis von Verlangen und Regung gar verschiedener
Art, in Willensvorgänge. Wir lehnen auch hier
Hypothesen ab, und uns genügt, um das Recht der Sonderung
für die empirische Betrachtung zu begründen, die innere Erfahrung
von der Verschiedenheit der Vorgänge und die Thatsache,
dass das Mass der Gefühlsstärke keineswegs das der
Willenskraft ist; können doch starke Gefühle mit sehr schwachen
Willensvorgängen verbunden sein. Der Uebergang unserer Gefühle
in unsere Willensvorgänge steht nun unter dem Gesetz:
wir streben, die Lustgefühle festzuhalten und von den Unlustgefühlen
aus mindestens in eine Gleichgewichtslage zu gelangen.
Der nächste Weg aus den Unlustgefühlen in die Gleichgewichtslage,
wie ihn der Wille sucht, besteht in der Anpassung der
Bedingungen des Lebens an die Bedürfnisse des Inneren: so
entstehen die äusseren Willenshandlungen. Auf einem anderen
aber sucht der Wille sich selber einer Wirklichkeit anzupassen,
die er nicht ändern kann. Das Innere strebt, sich mit unverrückbaren
äusseren Bedingungen in Einklang zu setzen. Dies
geschieht durch innere Willenshandlungen. So ist Anfangs der
religiöse Vorgang vorwiegend eine Weise, bei den räthselhaften [381]
umgebenden Mächten Entfernung des Schweren und Drohenden
oder Erreichung des Erwünschten zu erwirken, also eine äussere
Willenshandlung; darin aber liegt eben die Entwicklung der
Religion zum Höheren, dass dann im Gemüth selber, in den
sittlichen Kräften, in der inneren Willenshandlung der Umkehr
die Versöhnung mit dem Unbezwinglichen gesucht wird. Daher
muss der Aberglaube Platz machen, soll wahre innerliche Religiosität
sich mächtig entfalten. Durch das tiefste Ringen des
Willens werden so beständig die aufgedrungenen Unlustempfindungen
der Gleichgewichtslage oder Lust entgegengeführt.


  Wie anders verläuft dieser Fortgang von den Unlustgefühlen
aus in dem ästhetischen Schaffen, im ästhetischen Eindruck!
Hier, wo sich Alles in der Phantasie abspielt, hindert nichts,
von der Unlust in die Gleichgewichtslage frei überzugehen, wie
alle Disharmonien im Musikstück in Harmonien aufgelöst werden.
Aus dem Princip der Wahrhaftigkeit folgt, dass die Dichtung,
als Abbild der Welt, den Schmerz nicht entbehren kann, ja dass
eben die höchsten Lebensäusserungen der Menschennatur, ihre
Verklärung, nur im Leid sichtbar gemacht werden kann. Hierin
ist doch schliesslich das Recht der Tragödie gegründet, dass nur
in ihr die höchste Macht und Verklärung des Willens zum Ausdruck
gelangen kann. Aber aus der dargestellten Tendenz der
Unlustzustände, in die Gleichgewichtslage oder in Lust überzugehen,
ergiebt sich nun das ästhetische Princip der Versöhnung,
nach welchem jedes Dichtwerk, das nicht nur vorübergehende
Empfindungen ausdrücken, sondern eine andauernde Befriedigung
hervorbringen will, in der Gleichgewichtslage oder in einem Lustzustande,
jedenfalls also in einem versöhnenden Endzustande
schliessen muss, läge auch dieser Endzustand nur in dem Gedanken,
der über das Leben erhebt. Selbst das Schema des metaphysischen
Mythos, wie Plotin oder Spinoza oder Schopenhauer ihn
gedichtet haben, zeigt diese Rückkehr in den Frieden und die
versöhnte Einheit. Das lyrische Gedicht, sofern es nicht Einen
Ton erklingen, sondern einen inneren Vorgang sich ausleben
lässt, strebt einer solchen Gleichgewichtslage zu, am schönsten
das Goethes. Von der Tragödie Shakespeares ist oft genug [382]
gründlich gezeigt worden, dass sie diesem ästhetischen Princip
entspricht, und es ist in dem so untechnischen Bau des Faust
doch ein einziger Vortheil, dass er ganz und voll diesem Schema
des Gefühlsvorgangs entsprechend verläuft. Auch die epische
Dichtung grosser Form, als welche in irgend einer Art die
ganze Welt und deren Ordnung erblicken lässt, muss einer Sinfonie
gleichen, in welcher eine Disharmonie nach der anderen
sich auflöst und schliesslich in mächtigen harmonischen Accorden
das Ganze ausklingt1).


  In diesem Verhältniss ist zugleich das wichtige ästhetische
Princip der Spannung mitbegründet. Freilich ist die Spannung
etwas sehr Mannichfaches. In ihr ist auch die innere Nachbildung
vorandrängender Antriebe, der Angst, der Erwartung
etc. wirksam. Ebenso kann ein Denkvorgang, in welchem eine
gestellte Frage zur Antwort strebt, Spannung bewirken, besonders
in demjenigen Roman, dessen Knoten in einer Thatsache
vor seinem Beginn liegt, wo dann die Erkenntniss dieser Thatsache
die Auflösung herbeiführt. Wie von dem Motiv eines
solchen Fortgangs die Erfindung ausgehen kann, zeigt eine
Aeusserung Goethes, Manzoni führe durch Angst zur Rührung;
wäre er jünger, so würde er Etwas schreiben, wobei er den
Affect der Angst in Bewegung setzen, durch die vortreffliche
Art, wie der Held sich benehme, Bewunderung damit verbinden
und die Angst in Bewunderung sich auflösen liesse2). Uebrigens
wäre das Motiv manchen Ritterromans dann von Goethe wieder
zur Wirkung gebracht worden.

6. Die Gesetze, nach denen sich unter dem Einfluss
des Gefühlslebens die Vorstellungen frei über die
Grenzen des Wirklichen hinaus umwandeln. Das
Schaffen des Dichters. Die Hilfsmittel der poetischen
Technik.


  So entstehen elementare Gefühle, verbinden, verstärken und
erneuern sich, die Unlust ruft Antriebe hervor, in die Gleichgewichtslage [383]
oder die Lust überzugehen; die Lust strebt, sich zu
erhalten: und dies ganze Gewebe der Gefühle, wie es von Vorstellungen
und Antrieben bedingt ist, wirkt wieder auf die
Bildung der Vorstellungen, auf die Kraft der Antriebe zurück.
Haben wir hieraus ästhetische Principien elementarer Natur und
dann solche zweiten Grades ableiten können, so blicken wir
nun tiefer in die Entstehung eines poetischen Werkes und seines
Eindrucks, wenn wir die Veränderungen betrachten, welche
Vorstellungen und Vorstellungselemente unter dem Einfluss der
Gefühle erleiden und durch welche sie über die Grenzen des
Wirklichen hinaus umgebildet werden. Denn zunächst knüpft
sich an Bewusstseinsbestandtheile, wie sie sind, ein ästhetischer
Eindruck; diese Eindrücke summiren, verknüpfen und verstärken
sich: die Principien, nach denen das geschieht, haben wir abgeleitet.
Nun aber beruht die mächtige Wirkung der Kunst,
der Dichtung eben darauf, dass nicht nur die Bestandtheile
unseres Bewusstseins, die der Lauf des Lebens bringt und die von
ästhetischer Wirkung sind, von uns genossen, sondern Bilder
geformt
werden, die in noch reinerer Art ästhetische
Lust
hervorbringen, unbekümmert um ihr Verhältniss zur Wirklichkeit,
allein hervorgebracht, um diesem Bedürfniss nach gefühlter
Lebendigkeit genugzuthun. Hier entsteht das am meisten
schwierige Problem der psychologischen Grundlegung einer Poetik.
Wir versuchen es aufzulösen.


  Hierbei versetzen wir uns, entsprechend dem Dargelegten,
in die Wirklichkeit einer von Lebenserfahrungen und Nachdenken
über diese erfüllte Seele ─ denn so ist auch die des
Dichters.


Alle Gebilde des Seelenlebens setzen sich aus Wahrnehmungen
als ihren Elementen zusammen; auch
Dichtungen.


  Der Beweis dieses Satzes liegt darin: auch wo
Willensregungen, wissenschaftliche Erfindungen oder künstlerische
Bilder das Wirkliche überschreiten, werden wir doch in
ihnen keinen Bestandtheil finden, der nicht aus einer Wahrnehmung [384]
gezogen wäre. Ich bin in Bezug auf die Verbindungen
zwischen diesen Bestandtheilen derselben Ansicht. Es
ist nach dieser wesentlich die innere Erfahrung, die, in die
äusseren Wahrnehmungen tretend, Substanzen, die in Causalbeziehungen
stehen, uns setzen lässt; doch ist der Beweis zu
umständlich, um hier geführt werden zu können.


  Wenn der Physiker den Begriff des Atoms bildet, kann er nur
Erfahrungselemente nach ihren aus der Erfahrung gewonnenen
Beziehungen combiniren, sowie von anderen absehen, die sonst mit
ihnen verbunden sind. Und wenn Homer, Dante oder Milton
diese Erde überschreiten und uns Olymp und Unterwelt, Himmel
und Hölle sehen lassen, so müssen sie für die sinnlichen Bilder
aus dem Glanz des Himmels, der uns hier entzückt, dem
Dunkel und den Gluthen, die hier erschrecken, Farben und
Eindrücke nehmen; sie müssen für die Seligkeit der Götter und
der reinen Engel wie für die Ohnmacht der Abgeschiedenen
oder die Qualen der Verdammten die inneren Zustände von
Lust und Leid zusammensetzen und steigern, die sie in sich selbst
erlebt haben. Wenn uns Walter Scott oder Conrad Fr. Meyer in
historische Zustände, welche den unseren ganz fremd sind, versetzen,
kann kein elementares Gefühl, keine Vorstellung dazu benutzt
werden, die nicht aus unsrer Gegenwart und den in ihr erlebten
Zuständen geschöpft wäre. Den psychologischen Grund hiervon
haben schon Locke und Hume zu formuliren versucht. Wir vermögen
kein Element des Seelenlebens zu erfinden, sondern müssen
jedes aus dem Erfahren entnehmen. Diese Formel ist freilich
nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, von denen später zu
reden sein wird.


  Aus diesem Satze ergiebt sich als Regel für das künstlerische
Schaffen, dass zwischen der Aufgabe des Dichters und der Energie,
dem Umfang und Interesse der Erfahrungen, welche das Material
für die Lösung seiner Aufgabe enthalten sollen, ein angemessenes
Verhältniss bestehen muss. Also schon in dieser Rücksicht muss
der Künstler, der Dichter geboren sein. Der Dichter steht unter
dem Gesetz, dass nur die Mächtigkeit und der Reichthum seiner
Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren. So entsteht [385]
ein Princip, nach welchem für die specifischen Wirkungen des Dichters
zunächst in dem Umkreis, dem Reichthum und der Energie
seiner Erfahrungen der Grund aufgesucht werden muss. Hier
trennt sich von dem objectiven der subjective, ja pathologische
Dichter.


  Die aus diesen Elementen bestehenden Bilder des
Wirklichen und die in der Wirklichkeit enthaltenen
Verbindungen solcher Bilder wandelt das Schaffen des
Dichters frei, uneingeschränkt von den Bedingungen
der Wirklichkeit, um; dieses Schaffen ist daher dem
Traum und den ihm benachbarten Zuständen sowie dem
Wahnsinn verwandt.


  Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen,
dem Irren und dem Dichter oder Künstler gemeinsam ist, als eine
freie Gestaltung der Bilder, uneingeschränkt von den Bedingungen
der Wirklichkeit. Die hier bestehende Verwandtschaft
des dichterischen Vorgangs mit den Zuständen, die von der
Norm des wachen Lebens abweichen, betrifft gerade das Wesenhafte
des poetischen Phantasievorgangs. Die wissenschaftliche
Erfindung oder der Entwurf des practischen Genies haben ihr
Mass an der Wirklichkeit, welcher Denken und Handeln sich
anpassen, um zu begreifen oder zu wirken. Dagegen sind die
oben bezeichneten Zustände nicht von der Wirklichkeit in der
Ausbildung der Vorstellungen eingeschränkt.


  Diese Verwandtschaft hat Goethe im Tasso ergreifend dargestellt.
Sie erscheint auch an den beiden grössten subjectiven
Dichtern des vorigen Jahrhunderts und des unseren, an Rousseau
und Byron. Liest man die Geschichte Rousseaus von jenem
9. April 1756 ab, an welchem er die Einsiedelei im Parke von
La Chevrette bezog und „anfing zu leben“, bis zu seinem Tod,
der erst seinen Träumen, seinen Enttäuschungen, ja seinem
Verfolgungswahn ein Ende machte: so ist es unmöglich, seine
Wahnideen von seinen Schicksalen zu trennen. Die dämonische
Reizbarkeit Byrons hat alle Vorgänge seines Lebens phantastisch
vergrössert, und der Vorwurf von Irrsinn ist zwischen ihm und
seiner Frau in ihrem Zerwürfniss hin- und hergeschleudert worden. [386]
Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen
die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele,
die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder
erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen
in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so
nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder
erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von
der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt,
sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich
die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die
Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde
die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluss
des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. „Und die
Kuppen, die sich bücken, und die langen Felsennasen, wie sie
schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen,
winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche
Bande, uns zu schrecken, uns zu fangen; aus belebten derben
Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer.“ Ja das
Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es
nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande
ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine
Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben
sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen
des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam
werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten
des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht: in der
Menschheit aber leben nur Gestalten, Situationen oder Handlungen,
welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen
ganz überschreiten. Endlich kann im Dichter eine Art von
Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person
stattfinden.


  Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände
ein merkwürdiges Problem. Die Natur selbst macht uns
in diesen Zuständen Experimente vor, welche unter sehr verschiedenen
sonstigen Umständen dieselbe Stärke, Sinnfälligkeit
und freie Ausbildung der Einbildungsvorstellungen über die [387]
Grenzen der Wirklichkeit hinaus zeigen. Wir finden uns gezwungen,
in diesen so verschiedenen Fällen Ursachen für die
Abwesenheit der Bedingungen aufzusuchen, welche sonst Vorstellungen
reguliren und in klaren richtigen Verhältnissen zur
Wirklichkeit erhalten.


  Diese Verwandtschaft entsteht aus der Abwesenheit
der Bedingungen, die sonst Vorstellungen reguliren;
jedoch wird sie in dem Träumenden, dem Irren oder
Hypnotischen durch Ursachen ganz andrer Art hervorgebracht,
als in dem Künstler oder Dichter; dort ist
der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens gemindert,
hier wird seine ganze Energie in der Richtung
freien Schaffens verwandt.


  Es giebt eine Structur des Seelenlebens, so deutlich erkennbar
als die des thierischen Körpers. Leben besteht überall
in der Wechselwirkung eines beseelten Körpers mit einer Aussenwelt,
die das Milieu desselben bildet. Aus dem Spiel der
äusseren Reize entspringen beständig Empfindungen, Wahrnehmungen
und Denken. Hierdurch werden auf der Grundlage
des Allgemeingefühls Aenderungen in der Gefühlslage angeregt.
Die Gefühle rufen dann Triebhandlungen, Spannungen des Begehrens
und des Willens hervor. Die einen derselben erwirken
äussere Willenshandlungen, und unter diesen sind die in den
Zuständen des Körpers dauernd angelegten die mächtigsten:
die grossen Antriebe der Selbsterhaltung, des Nahrungsbedürfnisses,
der Fortpflanzung und Kinderliebe; nicht viel weniger
mächtig sind dann, im Willen angelegt, das Ehrbedürfniss, die
geselligen Triebe. Die andern erwirken innere Veränderungen
im Bewusstsein. In dieser Structur ist die Steigerung des Lebens
in der Thierreihe begründet. Die einfachste, nackte Form des
Lebens gewahren wir, wo im Thier die Reizung, in der Gefühl
und Empfindung ungetrennt sind, eine Bewegung hervorbringt.
Im Kinde sehen wir den Uebergang von Reizen durch Empfindungen,
und, von ihnen getrennt, doch an sie angeschlossen,
durch Gefühle, zu Begehrungen, von da zu Bewegungen, noch
ohne ein Einschalten im Gedächtniss gesammelter Vorstellungen. [388]
Aber die Empfindungen lassen Spuren zurück; im Gefühl und
Begehren bilden sich Gewöhnungen aus: allmälig entsteht in
dem sich entfaltenden Seelenleben zwischen der Empfindung
und der Bewegung ein erworbener Zusammenhang des
Seelenlebens.


  In der Erfahrung sind uns nur Vorgänge sowie das Erwirken,
das zwischen ihnen stattfindet und ebenfalls in die unmittelbare
Erfahrung fällt, gegeben. Ist doch in der Art, wie
ein Vorgang von anderen aus erwirkt wird, unser Begriff von
Freiheit wie von Nothwendigkeit begründet. Zusammenhang
der Vorgänge: das ist also der umfassendste Thatbestand,
welcher in unsre psychische Erfahrung fällt oder durch sichere
Combinationen aus ihr abgeleitet werden kann. Mag man behaupten,
dass dieser Zusammenhang von Vorgängen durch hinter
ihm liegende Kräfte oder eine hinter ihm wirkende seelische
Einheit zusammengehalten werde, oder mag man es leugnen:
im einen wie im anderen Falle überschreitet man den Kreis
empirischer Psychologie und flüchtet in transscendente Hypothesen.
Dieser methodischen Einsicht entspricht nun der an
der Erfahrung aufzeigbare Begriff vom erworbenen Zusammenhang
des Seelenlebens und seinen Wirkungen auf die
einzelnen im Bewusstsein verlaufenden Processe. Wir haben
schon oben dargelegt, wie dieser Zusammenhang als ein Ganzes
auf die Veränderungen, die innerhalb des Bewusstseins stattfinden,
wirkt. Obwohl seine Bestandtheile nicht klar und deutlich
vorgestellt und ihre Verbindungen nicht unterscheidbar herausgehoben
werden, regulirt doch das in ihm erworbene Bild der
Wirklichkeit unser Verständniss des gerade unser Bewusstsein
beschäftigenden Eindrucks; die in ihm erworbene Abmessung
der Werthbestimmungen bestimmt das Gefühl des Moments;
das in ihm erworbene System der Zwecke unseres Willens,
ihrer Verhältnisse und der für sie erforderlichen Mittel beherrscht
die Leidenschaften des Augenblicks.


  Es ist natürlich, dass das Wirken dieses ganzen Zusammenhangs
in seiner so grossen Zusammensetzung auf die Veränderungen
im Bewusstsein die schwierigste und damit höchste [389]
Leistung des Seelenlebens ist. Sie fordert auch die grösste
Energie und Gesundheit der Gehirnfunctionen; in der Grosshirnrinde
sind die Bedingungen für die Reproduction von Vorstellungen
und ihren Verbindungen angesammelt; nur die höchste Energie
des Gehirnlebens vermag eine so breite Wirksamkeit dieses
ganzen Apparats zu ermöglichen, dass die entlegensten Vorstellungen
in Berührung und Benutzung treten können. Es ist
auch natürlich, dass das logische Schliessen eine viel geringere
Energie des Bewusstseins verlangt, als diese Wirksamkeit des
erworbenen seelischen Zusammenhangs; denn in ihm treten nur
wenige Begriffe, dazu unter der Mitwirkung der auf sie concentrirten
Aufmerksamkeit, in Beziehung zu einander. Die
grossen Leistungen der Genialität so gut als die Selbstbeherrschung
einer mächtigen Seele sind hier begründet; gerade wenn
nach langer, tiefer Erregung dieses ganzen Zusammenhangs in
angestrengter Arbeit dann das Gehirn geruht hat, entspringen
plötzlich aus der Tiefe dieses erworbenen Zusammenhangs
schöpferische Combinationen.


  Dieser Apparat wirkt wie absichtslos dahin, dass unsere
Vorstellungen und Begierden dem erworbenen Zusammenhang des
Seelenlebens, in welchem die Wirklichkeit repräsentirt ist, angepasst
bleiben. Es sind nun ganz entgegengesetzte Ursachen,
durch welche diese Wirkung des regulirenden Apparates in jenen
Zuständen versagt, die von der Norm des wachen Lebens abweichen,
und durch welche diese regulirende Wirkung da wegfällt,
wenn der Dichter seine die Wirklichkeit überschreitenden
Gestalten und Situationen schafft. In dem ersteren Falle haben
wir es mit einer Minderung der Wirksamkeit dieses erworbenen
Zusammenhangs zu thun, in dem andern mit einer Verwerthung
desselben, welche doch zugleich über die in ihm repräsentirte
Wirklichkeit absichtlich hinausgeht.


  Eine solche Minderung in der Wirksamkeit des erworbenen
seelischen Zusammenhangs liegt zunächst im Wahnsinn
vor. Gegenüber den einzelnen Reizungen, welche die subcorticalen
Centren in die Hemisphären werfen, wirkt die Grosshirnrinde
wie ein Ordnungs-, Hemmungs- und Regulirungsapparat. Nun [390]
versagt in Folge von Schwäche und krankhafter Erregung in
der Geistesstörung die normale Leistung dieses Apparats. Reizungserscheinungen,
wie die Hallucinationen, die an sich vom
Bewusstsein ihres subjectiven Ursprungs begleitet sein können,
erhalten nun, da jener grosse Regulirungsapparat versagt, den
Charakter der Wirklichkeit und werden die Unterlage von
Wahnideen. Pathologische Veränderungen des Gemeingefühls,
krankhafte Minderungen oder Steigerungen desselben, welche
sonst von dem erworbenen Zusammenhang der Werthbestimmungen
aus regulirt und in ihrem subjectiven Ursprung erkannt
werden, treten jetzt aus dieser Controle heraus und werden
ebenfalls Unterlage von Wahnideen. Und nun entstehen, zumal
wenn das Gedächtniss lückenhaft wird, jene Deutungen und
Schlüsse, die von den pathologischen Veränderungen des Gemeingefühls
eingegeben und von Hallucinationen gestützt sind,
und die nun nicht mehr vom erworbenen Zusammenhang des
Seelenlebens, wie er die Wirklichkeit repräsentirt und mit ihr in
Harmonie ist, regulirt werden. Wer kennt nicht den grübelnden
Scharfsinn des Irren, der auf solchen Grundlagen in logisch
richtigen Formen seine Wahnideen beweist? Man hat sich gewöhnt,
das Denken in dem Sinne logischen Schliessens als
höchste Leistung der Intelligenz zu betrachten. Die metaphysische
Philosophie mit ihrem Cultus der Vernunft im Sinne des abstracten
Denkens hat auch hier ihren Einfluss geübt. Es
nimmt dann Wunder, so viel Fähigkeit des Schliessens in einem
zerrütteten Seelenleben erhalten zu sehen. Der Schluss ist ein
Vorgang, durch welchen ich das, was direct nicht mit einander
verglichen oder auf einander bezogen werden kann, mittelbar
durch ein Zwischenglied zur Vergleichung oder Beziehung bringe.
Rechnet man in die Leistung des Schlusses die Auffindung des
Zwischengliedes, so kann ein materiell richtiger Schluss die höchste
Leistung des Seelenlebens, die Wirksamkeit des ganzen erworbenen
Zusammenhangs beanspruchen. Aber das ist gerade am
Irren bemerkbar, dass er stoffarme Schlüsse bildet, dass also
weder die Verknüpfung von Subject und Prädicat im Schlusssatz
der Controle des erworbenen seelischen Zusammenhangs unterworfen [391]
ist, noch der Vorgang der Auffindung des Zwischengliedes.
Seine Schlüsse sind daher materiell oft falsch, ja nicht
selten lächerlich. Sie sind es, weil die Benutzung von Thatsachen,
die seine Erfahrung ebenfalls umfasst hat, fehlt. Er
muss dann, wenn ihm dieser Fehler entgegengehalten wird, um
denselben zu verbessern, zu Einwendungen greifen, welche ihrerseits
denselben Fehler enthalten. Die Berichtigung des Irren
ist aus diesem Grunde in den meisten Fällen aussichtslos. Aber
seine Schlüsse sind dabei in Rücksicht des äusseren Verhältnisses
der gewählten Glieder zu einander unanstössig; er denkt
formell richtig.


  Niemand kann bestreiten, dass es Uebergänge giebt,
welche continuirlich aus dem gesunden Leben zu dieser Aufhebung
der Regulirung durch den erworbenen Zusammenhang, der
die Wirklichkeit repräsentirt, hinführen. Schon wo im gewöhnlichen
Leben eine sehr grosse Reizbarkeit des Gefühls an einer bestimmten
Stelle des Seelenlebens sich mit einer geringeren
Energie des zusammenfassenden Bewusstseins verbindet, entsteht
eine Verschiebung der wahren Werthe der Dinge, daher stammend
eine einseitige Reizbarkeit und gleichsam eine Willkürherrschaft
eines Vorstellungsinbegriffs. Tadelt Jemand einem Gartenliebhaber
solcher Art seine Tulpen, so kann derselbe ihn hassen.
Wir sind dann geneigt, dies als eine gelinde Verrücktheit zu betrachten.
Die Grenze ist eben allein der pathologische Zustand
des Gehirns, und nur ihr äusseres Merkmal, an das die gerichtliche
Medicin sich doch beim Lebendigen halten muss, liegt in
einer solchen Minderung der Gehirnleistung, die den erworbenen
seelischen Zusammenhang, wie er die erarbeitete Auffassung der
Wirklichkeit sowie die Harmonie des Fühlens und Handelns
mit ihr repräsentirt, nicht mehr ausreichend für die Verantwortlichkeit
des Handelns wirken lässt; dies tritt dann ein, wenn
in Folge solcher Minderung der Energie des Zusammenhangs
die Handlungen des Betreffenden eine Präsenz der erforderlichen
Beweggründe nicht mehr in solchem Grade voraussetzen lassen,
dass dadurch die sittliche Verantwortlichkeit ermöglicht wird.


  Der Traum zeigt ebenfalls Bilder, welche die Grenzen der [392]
Wirklichkeit überschreiten, doch aber vom Glauben an ihre
Realität begleitet sind, und auch hier ist eine solche Herabminderung
der Energie des seelischen Zusammenhangs und eine
begleitende Veränderung der Gehirnleistung die Bedingung.
Mit dem Eintritt und während der Dauer des Schlafes findet
eine Veränderung der Blutbewegung im Gehirn statt1). Die
Leistung der Grosshirnrinde wird modificirt. Zugleich treten
durch die Sinnesorgane nur vereinzelte und unbestimmte Eindrücke.
An diese wie an die innerhalb des Organismus selbst
angeregten Veränderungen knüpfen sich nun Associationen und
Schlüsse, welche nicht durch den erworbenen Zusammenhang
des Seelenlebens bestimmt und regulirt sind. So treten z. B.
Organgefühle, welche im Wachen fest bezogen sind, nun unbestimmt
in ihrer Extension auf, ohne die ursächlichen Beziehungen,
die sonst zu Gebote stehen, und daher rufen nun
etwa Athembeschwerden Bilder eines lastenden Körpers hervor.
Ebenso sind die Verbindungen, welche jetzt zwischen den einzelnen
Traumbildern durch das Denken hergestellt werden,
unregulirt und daher oft sonderbar. Vom Traum führt das
Schlafwandeln, als die Durchführung der Traumhandlung in
einem vollständigen Drama ─ vielleicht das merkwürdigste
Beispiel einer der dichterischen verwandten Einbildungskraft
in den von der Norm des wachen Lebens abweichenden Zuständen
─ hinüber zum hypnotischen Zustande. Auch hier
ist der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens herabgesezt.
Die so zur Herrschaft gelangende Traumhandlung hat hier das
charakteristische Merkmal der Abhängigkeit vom hypnotisirenden
Willen. Der Hypnotisirte ist gleichsam ein Nachahmungsautomat.


  Die Ueberschreitung der Wirklichkeit im Schaffen des
Dichters stammt aus Ursachen von ganz entgegengesetzter Art.
Die ganze Energie einer gesunden und mächtigen Seele ist hier
wirksam; eine reiche und weite Erfahrung wird benutzt; das
Denken hat sie geordnet und verallgemeinert. Die Umgestaltung [393]
der Bilder vollzieht sich also in einer Seele, in welcher der
ganze erworbene Zusammenhang, der die Wirklichkeit repräsentirt,
gegenwärtig und wirksam ist. Zweckbewusster Wille wandelt
die Bilder über die Grenzen des Wirklichen hinaus, daher bestehen
auch erhebliche Unterschiede zwischen der Metamorphose
der Bilder im Schaffen des Dichters und in den Zuständen,
die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Dem
Dichter ist der Zusammenhang der Wirklichkeit gegenwärtig,
und er trennt seine Bilder von diesem Zusammenhang; er unterscheidet
die Wirklichkeit und das Reich des schönen Scheins.
So sehr diese Bilder dem Charakter von Wirklichkeit sich
annähern können, sie bleiben doch stets durch irgend eine feine
Grenze von dieser geschieden. Der Dichter lebt in einer Traumsphäre
während seines Schaffens, in welcher diese Bilder Realität
empfangen; aber sie erhalten dieselbe nicht durch die dunkle
Naturgewalt von Hallucinationen, sondern durch die Freiheit
des schöpferischen Vermögens, welches sich selber besitzt. Und
wie der Zusammenhang des Seelenlebens auf die Gestaltung
dieser Bilder energisch wirkt, wird durch ihn ein dem Zweck
des Kunstwerks entsprechendes Verhältniss derselben zur Wirklichkeit
erhalten; wenn die Bilder dieses verlieren, hören sie
auf, das Gemüth zu bewegen. Das Typische, das Idealische in
der Dichtung ist eine solche Art, vermittelst der Erfahrung dieselbe
so zu überschreiten, dass sie doch mächtiger gefühlt und
tiefer verstanden wird als in den treuesten Copien des Wirklichen.



  Diese Art des Glaubens an Bilder von Unwirklichem und die
so entstehende Illusion können am besten verglichen werden mit
dem, was im spielenden Kinde stattfindet. Die Dichtung ist
dem Spiel verwandt, wie Schiller ausgeführt hat. Die Energie
des Seelenlebens im Kinde wird im Spiel wirksam und frei, da
sie einen anderen Spielraum noch nicht besitzt; der Wille,
welchem noch nicht von der Wirklichkeit ernstliche Zwecke
gegeben sind, setzt sich selber solche, die ausserhalb des Zusammenhangs
der Wirklichkeit liegen. Das Kennzeichen des
Spiels ist dann in dem späteren Leben, dass die in ihm stattfindenden [394]
Handlungen keine Causalität für den Zweckzusammenhang
dieses Lebens haben. So trennt sich das Spiel von dem Ernst
des wirklichen Lebens, und darin stimmt es mit der Kunst, mit der
Dichtung überein. Die Illusion, die so entsteht, ist in den willkürlichen
Seelenvorgängen gegründet und hat daher an dem
Bewusstsein dieses Ursprungs ihre Grenze.


  Auch die Gesetze, nach denen nun in so verschiedenen Zuständen
Bilder und deren Verbindungen sich frei über die Grenzen
des Wirklichen hinaus entfalten, werden leichter aufgefasst, wenn
wir die Vergleichung dieser Zustände zu Grunde legen. Die
Natur selber lässt uns hier, unter sonst ganz wechselnden Umständen,
überall freie Entfaltung der Bilder gewahren.


  Diese Vorgänge sind von denen des Gedächtnisses nicht so
getrennt, als in der Regel angenommen wird. Jedes Erinnerungsbild
wird aus erworbenen Bestandtheilen aufgebaut, aber
die augenblickliche Bewusstseinslage entscheidet darüber, welche
dieser Bestandtheile zum Aufbau des Bildes benutzt werden.
Denn dasselbe Bild kehrt so wenig wieder als an einem Baum
im neuen Frühling dieselben Blätter. Vergegenwärtige ich mir
eine abwesende Person, so entscheidet die Bewusstseinslage, in
der dies geschieht, über die Stellung der Gestalt, den Ausdruck
des Antlitzes.


  Bilder verändern sich, indem Bestandtheile ausfallen
oder ausgeschaltet werden.


  Im Traum und in der geistigen Störung fallen Eigenschaften
der Bilder aus, welche in der Wirklichkeit von denselben unzertrennlich
sind, weil sie in dem erworbenen Zusammenhang des
Seelenlebens, der doch den der Wirklichkeit repräsentirt, gegeben
und durch ihn gleichsam befestigt sind. So bindet sich
der Traum nicht an die Bedingungen der Zeit und des Raums
oder an das Gesetz der Schwere. Der Tobsüchtige verbindet, in
scheinbarer Steigerung des Combinationsvermögens, Bildbestandtheile,
ohne dass ihm dabei die Widersprüche zwischen ihren
Eigenschaften bewusst werden. Dagegen das Schaffen des Künstlers,
des Dichters wirkt durch absichtliche Ausschaltung widerspenstiger
Züge, es erstrebt eine Klarheit und Uebereinstimmung [395]
der Bildbestandtheile, welche freilich für sich nur die flache
Harmonie des leeren Ideals wäre, wirkten nicht andere Gesetze
noch auf die Umgestaltung der Bilder.


  Bilder verändern sich, indem sie sich dehnen oder
zusammenschrumpfen, indem die Intensität der Empfindungen,
aus denen sie zusammengesetzt sind, sich
verstärkt oder vermindert.


  Der Traum lässt die Bilder unter dem Einfluss der
Gefühle sich ausdehnen und verstärken. Abgesehen von
der directen Einwirkung der physiologischen Bedingungen auf
die Empfindungen, sind in ihm die Vorstellungen von der
Concurrenz der Aussenbilder befreit und der Einwirkung des
erworbenen Zusammenhangs der Wirklichkeit in einem gewissen
Grade entnommen. So, dazu noch unter dem Einfluss der Gefühle,
glühen nun in ihm die Farben intensiver, die Klänge, die
er zurückführt, tönen mächtiger oder bestrickender: leise Schallreize
vergrössern sich ins Ungeheure und die Gestalten
wachsen vor unsern Augen ins Weite, oder während des
Traums vermehrt sich die Zahl gleichartiger Bilder. Hoffnung
und Furcht geben ebenfalls den Bildern ein die Beschaffenheit
der Dinge Ueberschreitendes. Melancholie lässt die Farben der
Wirklichkeit verblassen. Die Hypochondrie steigert die Bilder,
in denen die Ursachen der Gemüthsbelastung angeschaut werden,
über das Thatsächliche hinaus. Aber noch enthält im Hypochondrischen
der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens ein
Correctiv, insbesondere durch die Werthbestimmungen. Der Hypochondrische
muss unter Menschen. Die Regulirung seiner Gefühle
findet hier immer wieder statt. Er ist schon kränker,
wenn er die Einsamkeit sucht, um solche Störungen seiner Einbildung
zu vermeiden. Die Geisteskrankheit hat solche Controle
nicht mehr. Nun steigert und erweitert sich im Verfolgungswahn
das Bild der Handlung einer Person, die dem Kranken
den Willen kreuzt, zur Carricatur einer feindlichen Macht etc.


  Derselbe Vorgang von Veränderung der Elemente nach
ihrer Intensität und Ausdehnung unter dem Einfluss der Gefühle
kann nun in dem Dichter beobachtet werden. Insbesondere [396]
gewahrt man an den englischen Dichtern, ja an Geschichtsschreibern
wie Macaulay und Carlyle, wie ihnen das Gefühl
gleichsam in das Auge tritt: schon ein einfacher Brief von
Dickens oder Carlyle oder Kingsley enthält diese nervöse
Steigerung der Wirklichkeit, wie in einem vergrösserenden Spiegel;
die Felsen werden schroffer, die Wiesen saftiger, wenn ihr Auge
darüber hingeht. Und diese Gefühlsgewalt in den Bildern entlädt
sich dann in jenem eigenthümlich englischen Humor, der ebenfalls
durch Steigerungen wirkt und bald das Feine fast verflüchtigt
zu Schatten, bald das Starke launenhaft und bizarr dem
Aeussersten von Kraft oder Wildheit annähert. Bei Shakespeare
und Dickens steigert sich dies zu einer Art von künstlichem
Lichte: die Bilder stehen unter elektrischer Beleuchtung und Vergrösserungsgläser
wirken. Die Verklärung in den Erinnerungsbildern
und die Steigerung in den Zukunftsvorstellungen ist
dadurch bedingt, dass Vorstellungsinhalte sich wie im freien
Raum ausbreiten und umbilden. So bewirkt eine innere Verwandtschaft,
dass das Erinnerungsbild und der Zukunftstraum
dem Dichter seine Vorstellungen vorbereiten.


  Ausschaltung und Steigerung bewirken überall in der
Kunst die Idealisirung der Bilder. Und zwar geschieht das schon bei
den absichtslosen Vorgängen der Erinnerung in einer erregbaren
Seele. Da wird das Bild einer Landschaft oder einer Person
nicht in einem todten Gedächtnissvorgang zurückgerufen, sondern
von unserer Gefühlslage aus baut es sich von Neuem auf.
Nicht alle Bestandtheile der früheren Wahrnehmung gehen in
das neue Gebilde ein, sondern nur was in der gegenwärtigen
Bewusstseinslage interessant ist. Und nicht genau in derselben
Stärke und Ausdehnung, welche dem Wahrnehmungsbilde eigneten,
treten nun die Elemente auf; sie werden vielmehr auch in dieser
Rücksicht einigermassen von ihrem Verhältniss zu der gegenwärtigen
Lage bestimmt. Indem nun in dem Dichter die Absicht
einer getreuen Nachbildung, welche die Erinnerungsbilder
regulirt, wegfällt, dagegen der Wille hinzutritt, diese Bilder für
das Gefühl befriedigend zu gestalten, erzeugen solche Ausschaltungen,
Steigerungen, Minderungen eine fortschreitende [397]
Idealisirung der Bilder. Auch in den höchsten Leistungen der
Einbildungskraft bewirken diese Ausschaltungen die Harmonie
in Charakteren sowie in Handlungen, und die Verstärkungen
steigern den Gefühlsgehalt. Doch beide Hilfsmittel würden nicht
ausreichen, eine Dichtung mit befriedigendem Leben zu erfüllen:
das wichtigste tritt nun hinzu.


  Bilder und ihre Verbindungen ändern sich, indem in
ihren innersten Kern neue Bestandtheile und Verbindungen
eintreten und so diesen ergänzen.


  Eine Phantasie, die nur auslässt, verstärkt oder vermindert,
vergrössert oder verkleinert, ist schwächlich und erreicht nur
flache Idealität oder Carricatur des Wirklichen. Ueberall wo
ein wahres Kunstwerk entsteht, findet eine kernhafte Entfaltung
der Bilder durch positive Ergänzung statt. Dieser Vorgang ist
sehr schwer verständlich. Zunächst wird nach den Gesetzen
der Association und Verschmelzung eine Wahrnehmung
oder Vorstellung dadurch umgebildet, dass eine andere in sie
eintritt oder mit ihr associirt wird. Aber die Association enthält
kein Princip, welches über das Wirken der thatsächlichen
Angrenzung hinausführt, und die Verschmelzung stellt nur Ineinssetzung
her. Erst indem der ganze erworbene Zusammenhang
des Seelenlebens wirkt,
können nun von
ihm aus die Bilder sich umgestalten: unzählbare, unmessbare,
geringmerkliche Veränderungen
in ihrem Kern
finden statt, und aus der Fülle des Seelenlebens entspringt so
die Ergänzung des Einzelnen. So wird aus Bildern und ihren
Verbindungen das Wesenhafte eines Thatbestandes, welches im
Zusammenhang der Wirklichkeit demselben seine Bedeutung
giebt, gewonnen. Selbst der Styl des Künstlers ist auf diese
Weise beeinflusst.


  Für die Dichtung, die vom Erlebniss ausgeht, ist derjenige
Vorgang der Ergänzung besonders wichtig, in welchem ein
Aeusseres durch das Innere beseelt oder ein Inneres
durch das Aeussere sichtbar
und anschaulich gemacht
wird. Inhalte und Beziehungen, die in der inneren Erfahrung erworben
sind, werden in die äussere getragen. Hierauf beruht schon [398]
das metaphysische Bilden innerhalb des natürlichen Denkens. So
entstehen die Beziehungen von Ding und Eigenschaft, von Ursache
und Wirkung, von Wesen oder Essenz zu dem, was für das
Wesen zufällig ist. Die Erstreckung solcher Beziehungsformen
durch unsere Erfahrungen beruht überall auf der Ergänzung des
Aeusseren durch ein oftmals mit ihm verbundenes Innere, auf
Grund der primären Thatsache, dass wir selber Inneres und
Aeusseres zusammen sind. Aus dieser Belebung der Empfindungsaggregate
treten allmälig in einer Entwicklungsreihe,
welche durch Sprache und wissenschaftliches Denken hindurchgeht,
die Kategorien in ihrem abstracten begrifflichen Charakter
hervor.


  Dies Verhältniss des Inneren zum Aeusseren ist überhaupt
die am meisten kernhafte und centrale Verbindung, durch
welche wir unsere Erfahrungen zu einem Ganzen verknüpfen.
Die Art, wie hier Zustand und Bild als Inneres und Aeusseres
sich verweben, wird nicht erworben, sondern ist in dem psychophysischen
Wesen des Menschen angelegt; gleichsam eine
Erweiterung oder Projection des eigenen Lebensbefundes findet
hier statt; diese Anlage wird dann durch das Leben entwickelt.
Hier liegt der tiefste Grund der Sprache, des Mythos, der
Metaphysik, der Begriffe, durch welche wir die Welt concipiren,
ja selbst elementarer Rechtsvorstellungen; so ist die Vorstellung
des Eigenthums der nothwendige äussere Ausdruck für ein Erlebniss
des Willens. Hier liegt nun auch der Grund dafür, dass
der Dichter Bilder zum Ausdruck einer inneren Zuständlichkeit
gestaltet, so dass sie dasselbe innere Leben in Anderen hervorrufen.



  Wir gelangen nun zu einer allgemeineren Betrachtung. Die
Umbildungen, die auf Grund der Gefühle und Antriebe vom
gesammten erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens aus
durch die drei eben angegebenen Arten von Veränderung
erwirkt werden, sind lebendiger Vorgang. Denn das Bild,
das so hervorgebracht wird, entsteht nicht wie durch Einen
Griff, sondern nach dem Gesetz der Aufmerksamkeit als
eines begrenzten Quantums von Kraft vermag das Seelenleben [399]
diese Gebilde nur in einer Zeitreihe hervorzubringen. In
dieser verknüpft es bekannte Elemente, aber in der Art, wie es
sie fügt, die gesuchten festhält und neue anschliesst, liegt das
Constructive, das dem Künstler, wie dem Mathematiker eigen
ist. Da nun im Künstler diese Construction von der Stimmung,
der Gefühlslage ausgeht, hat der Vorgang in ihm etwas Triebartiges;
die Art und Weise, in welcher die Veränderungen stattfinden,
ist Entfaltung. Trieb und Entfaltung entsprechen einander.
An dieser Stelle erkennen wir, dass nicht todte Verhältnisse
von Association und Reproduction das ganze geistige
Leben beherrschen. Das Auftreten eines Bildes ist lebendiger
Vorgang; Bilder kehren nicht einfach wieder. Es giebt ferner
eine Eingewöhnung in bestimmte Beziehungen zwischen Vorgängen.
Wie Bilder die Leichtigkeit der Reproduction gewinnen,
so entstehen auch Gewöhnungen an gewisse Beziehungen, an den
Fortgang von einem Element zum andern. Der Styl eines Künstlers
ist eine solche, in seinem Wesen gegründete Gewöhnung, Gewänder
in Holz oder anderem Material sich vorzustellen und
danach zu bilden, die Körper in das Schlanke zu strecken.


  Wir nennen das gesetzliche Verhältniss, nach welchem an
einen Thatbestand eine befriedigende Erregung des Gefühls oder
ein Bestandtheil einer solchen gebunden ist und entsprechend
das künstlerische Schaffen in der Herstellung eines solchen Thatbestandes
Befriedigung sucht, ein ästhetisches Princip. Ein
solches Princip wirkt im inneren Bilden einer künstlerischen,
einer dichterischen Seele zunächst schon unwillkürlich, ohne die
Absicht, Anderen einen Eindruck zu machen. Sofern ein solches
Princip, wie wir später näher sehen werden, zugleich als Grund
eines befriedigenden Eindruckes auf Andere erscheint, welchem
sich kein Leser oder Hörer zu entziehen vermag, kann die
Formel desselben auch die Gestalt einer Regel annehmen, an
welche allgemein der Eindruck geknüpft ist. So kann das Princip
als allgemeingültige Norm bezeichnet werden. Indem die dargelegten
Principien nun von dem erworbenen Zusammenhang des
Seelenlebens aus in einer dichterischen Seele Transformationen
der Bilder erwirken, welche den Gefühlen eine Befriedigung [400]
gewähren, entstehen hieraus ästhetische Gesetze einer höheren
Ordnung.


  Die Befriedigung im Schaffenden, welche ihn in dem Werke
ausruhen lässt, ist in ihrem Maasse davon abhängig, in welchem
Maasse der ganze von ihm erworbene Zusammenhang seines
Seelenlebens jede ihm mögliche Wirkung auf die schaffenden
Vorgänge und ihr Endergebniss geübt hat. Dem wird alsdann
von Seiten des Eindrucks entsprechen, dass ein dichterisches
Werk nur in dem Grade befriedigt, als es dem, was vom erworbenen
Zusammenhang des Seelenlebens im Hörer oder Leser
aufgeregt und ins Spiel gesetzt wird, auch genugthut. Da nun
dieser erworbene Zusammenhang mit dem Fortschreiten des
Menschengeschlechtes immer verwickelter wird, so muss folgerecht
hieraus sich ergeben, dass das poetische Schaffen und der
poetische Eindruck eine aufsteigende Entwicklung der Poesie
fordern und hervorbringen. Diese Sätze bezeichnen ein Princip,
dessen genauere Formel erst nach der Analyse des ästhetischen
Eindrucks grössere Genauigkeit erhalten kann. Im Einzelnen
sind volle Wirklichkeit der benützten Bestandtheile und ihrer
Beziehungen, Ausschaltung, Steigerung und Minderung, Ergänzung
Principien, an welche nicht nur der Vorgang im Schaffenden,
sondern auch der ästhetische Eindruck gebunden ist. Von dem
Vorherrschen des einen oder anderen dieser Principien ist der
Styl des Dichters abhängig. Hier erkennen wir die psychologischen
Factoren, welche wichtige Stylunterschiede bedingen.
Das bedeutsame ästhetische Gesetz, nach welchem in der Dichtung
besonders die Beziehungen von seelischem Zustand und Bildzusammenhang,
von Innerem und Aeusserem durch Ergänzung
auszubilden sind, hat zur Folge den weiteren Satz, dass alle
Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in
das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit
hineinträgt. So wird von ihr beständig die Totalität des
Erlebnisses wieder hergestellt. In diesen Sätzen und ihrer vorhergegangenen
Begründung haben wir die vollständigere psychologische
Fassung dessen nunmehr vor uns, was ich in der geschichtlichen
Einleitung als das Schiller'sche Gesetz bezeichnet habe.

[401]

Bestätigende Selbstzeugnisse der Dichter.


  Wir verdeutlichen nun das Zusammenwirken dieser Vorgänge
von Ausschaltung, Steigerung und Ergänzung, indem wir
das Gebiet durchmustern, in welchem Bilder frei werden und
sich wie im leeren Raume ungehindert entfalten. Wir schreiten
dabei vom Einfachen zum Zusammengesetzten voran. So gelangen
wir zu den Selbstzeugnissen des ästhetischen Schaffens,
welche wir von Dichtern besitzen. Ich gebe die folgenden;
Andere mögen deren Zahl vermehren, damit eine vollständige
Sammlung derselben entsteht.


  Der einfachste Fall solcher Entfaltung liegt in den
Schlummerbildern. Diese können, mit Goethe zu reden,
als Urphänomene des dichterischen Schaffens betrachtet werden.
Auf die Vorgänge von Unterscheiden, Vergleichen, Verschmelzung,
Association, Apperception etc. können sie augenscheinlich nicht
zurückgeführt werden. Goethe beschreibt sie so1): „Ich hatte die
Gabe, wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem Haupte
mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte
sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie
legte sich aus einander, und aus ihrem Innern entfalteten sich
wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern;
es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch
regelmässig, wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich,
die hervorquellende Schöpfung zu fixiren, hingegen dauerte
sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte
sich nicht. Dasselbe konnt' ich hervorbringen, wenn
ich mir den Zierrath einer buntgemalten Scheibe dachte, welche
denn ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich
immerfort veränderte.“ Vergleiche ich diese und andere Schilderungen
der Schlummerbilder, wie besonders die classische von
Joh. Müller (phantast. Gesichtserscheinungen, S. 20), mit meinen
eigenen Erfahrungen, dann muss ich zur Erklärung von der
stillen Aufmerksamkeit auf das ganze Sehfeld mit seinen farbigen
Nebeln ausgehn; die Vertheilung der Empfindungselemente [402]
in demselben lässt uns unter diesem Einfluss des Aufmerkens
irgend eine gewohnte Verbindung dieser Elemente in sie verlegen,
oder die so angeregte Verbindungsweise macht sich freier
gemäss den eben dargelegten Gesetzen geltend (Goethe S. 127).
Und zwar findet nach unseren psychologischen Darlegungen hier
ein Vorgang statt, der etwas Triebartiges hat und als Entfaltung
der Bilder sich darstellt. Diese Entfaltung über das Wirkliche
hinaus in den Schlummerbildern ist die Verification unsrer
psychologischen Darstellung. In den Wahlverwandtschaften,
welche im Geiste unseres Jahrhunderts die physiologische Bedingtheit
der höchsten Offenbarungen des Gemüthslebens aufzeigen,
wird diese Kraft der Goethe'schen Phantasie auf Ottilien
übertragen: zwischen Schlaf und Wachen erblickt sie in einem
erleuchteten Raum den abwesenden Geliebten in wechselnden
Stellungen und Situationen.


  Zunächst erweitern wir den Umkreis der Betrachtung durch
die angrenzenden Thatsachen. Dem Vorgang in den Schlummerbildern
ist der verwandt, in welchem Arabeske oder Ornament
entstehen. Jedoch ist hier die Willensbetheiligung wirksam,
und so entsteht hier willkürliches Bilden und Schaffen in künstlerischer
Absicht. Die Gewöhnungen des Vorstellens wirken,
Symmetrie und Einheit in der Mannigfaltigkeit herzustellen.
Erfahrungen über mechanische Beziehungen zwischen den Massen,
zwischen Kraft und Last üben ihren Einfluss. Schliesslich überschreitet
aber der Vorgang des Schaffens, wie vielfach er auch
in den Erfahrungen bedingt ist, Alles in diesen Gegebene.


  Diesen Erscheinungen auf dem Gebiet der Gesichtsvorstellungen
entspricht eine andere Reihe aus dem der Gehörsvorstellungen:
das Spielen des Kindes mit dem Tonwechsel.
Wie dasselbe der Ausdruck überschüssiger Kraft ist,
ist es in der Morgenfrühe beim Kinde am stärksten. Höhe und
Tiefe der Töne, Stärke und Schnelligkeit in ihrer Abfolge und
selbst der Vocalwechsel stehen zu den Stimmungen des Kindes in
gesetzmässigen Beziehungen. Auf diesem Verhältniss sind dann
der Ausdruck in der Musik, gewisse natürliche Elemente aller
Sprachen (nämlich das Symbolische im Tonmaterial, das zu [403]
geistigen Vorgängen in festen Beziehungen steht), sowie Betonung
und Rhythmus in der Rede begründet.


  Das beständige Bilden und Umbilden, welches im Dichter
stattfindet, wird fassbarer, wenn man es an diese einfacheren
Thatsachen der Einbildungskraft hält. Wo wir in ein Dichterleben
blicken können, sehen wir, wie von diesem unablässigen
inneren Gestalten und Versuchen nur Weniges zur Ausführung
kommt. Auch das ist im Tasso ergreifend ausgesprochen. Und es
hat sein Analogon in dem unablässigen Wechsel der Gestalten,
welchen der Traum, dieser verborgene Poet in uns, hervorbringt.


  An die Schlummerbilder schliessen sich einerseits die Gestalten
des Traumes, andrerseits die Schöpfungen des Dichters
an. Johannes Müller selber hebt hervor, wie diese Bilder unmerklich
„in die Traumbilder des Schlafes übergehen.“ Die
allgemeine Form des Geschehens im Traum ist die an den
Schlummerbildern beobachtete; die in den Sinnesfeldern gegebenen
Elemente reproduciren die Bilder oder die Gewöhnungen
von Verbindungen zwischen Bildelementen; Transformationen
nach den dargelegten Gesetzen finden statt, und nun führt die
Aufmerksamkeit in dem Zeitverlauf, dessen sie zur Herstellung
der Bilder bedarf, ein triebartiges Entfalten, Umwandlung
eines Bildes in das andere herbei. Ueber das Verhältniss der
Schlummerbilder zu dem Schaffen des Dichters sagt Goethe
in einer an die mitgetheilte Beschreibung angeschlossenen Betrachtung
(S. 127): „man sieht deutlicher ein, was es heissen
wolle, dass Dichter und alle eigentlichen Künstler geboren sein
müssen. Es muss nämlich ihre innere productive Kraft jene
Nachbilder, die im Organe, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft
zurückgebliebenen Idole freiwillig, ohne Vorsatz
und Wollen lebendig hervorthun, sie müssen sich entfalten,
wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehn, um aus flüchtigen
Schemen wahrhaft gegenständliche Wesen zu werden.“


  Hiermit steht das Traumartige in Verbindung, das zuweilen
im dichterischen Schaffen bemerkbar ist. So erzählt Goethe1) [404]
von einigen Balladen: „Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren
im Kopf; sie beschäftigten meinen Geist als anmuthige Bilder,
als schöne Träume, die kamen und gingen.“ Er fügt dann hinzu:
„zu anderen Zeiten ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich
anders. Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und
keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und
wollten augenblicklich gemacht sein, so dass ich sie auf der Stelle
instinctmässig und traumartig niederzuschreiben mich gedrungen
fühlte.“ Dieses Unwillkürliche, ja dies Traumbilden im dichterischen
Schaffen, doch auf der Unterlage ehrlicher Arbeit, die
voraufgegangen, schildert auch Carlyle an Shakespeare: „Shakespeare
ist, was ich einen unbewussten Verstand nennen möchte.
Die Werke eines solchen Mannes wachsen, soviel er auch durch
den höchsten Aufwand bewusster und vorbedachter Thätigkeit
erreichen mag, unbewusst, aus unbekannter Tiefe in ihm hervor.“


  Jean Paul sagt in einer Stelle seiner Vorschule,1) die doch
auch in der Form eines ästhetischen Satzes ein Selbstbekenntniss
des Dichters enthält: „der Charakter selber muss lebendig vor
Euch in der begeisterten Stunde fest thronen, Ihr müsst ihn
hören, nicht bloss sehen; er muss Euch, wie ja im Traume geschieht,
eingeben, nicht Ihr ihm, und das so sehr, dass Ihr in
der kalten Stunde vorher zwar ungefähr das Was, aber nicht
das Wie voraussagen könntet. Ein Dichter, der überlegen
muss, ob er einen Charakter in einem gegebenen Falle Ja oder
Nein sagen zu lassen habe, werf' ihn weg, es ist eine dumme
Leiche.“ Dazu kommt dann in der Anmerkung aus seinen
Briefen S. 147. Hempel Bd. 38 S. 54: „der echte Dichter ist
ebenso (wie der Träumende) im Schreiben nur der Zuhörer,
nicht der Sprachlehrer seiner Charaktere, er schaut sie, wie
im Traum, lebendig an, und dann hört er sie. Viktors Bemerkung,
dass ihm ein geträumter Gegner oft schwerere Einwürfe vorlege,
als ein leibhafter, wird auch vom Schauspieldichter gemacht,
der vor der Begeisterung auf keine Art der Wortführer der
Truppe sein könnte, deren Rollenschreiber er in derselben so [405]
leicht ist.“ Von Richard Wagner wird mir (durch H. von
Stein) die mündliche Aeusserung mitgetheilt, er habe in Paris,
mit den deutschen Sagen beschäftigt, alle seine Stoffe zugleich
vor sich gesehen. Siegfried, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan,
Parzival, auch die Meistersänger, und zwar in ganz bestimmten
Einzelanschauungen, so eine Scene aus den Meistersängern,
eine bestimmte sagenhafte Begegnung.


  Mit den Aeusserungen Goethe's und den verwandten Selbstzeugnissen
ist zunächst das Selbstzeugniss eines russischen Dichters
Gontscharof ganz im Einklang: „immer schwebt mir eine bestimmte
Gestalt und dabei ein Hauptmotiv vor: an seiner Hand
schreite ich vorwärts und ergreife unterwegs, was mir zufällig
in die Hände fällt, d. h. nur was sich darauf näher bezieht. Dann
arbeite ich emsig, fleissig, so rasch, dass die Feder kaum den
Gedanken folgen kann, bis ich wieder auf eine Mauer stosse.
Unterdess arbeitet mein Kopf weiter; die Personen lassen mir
keine Ruhe, erscheinen in verschiedenen Scenen; ich glaube
Bruchstücke ihrer Gespräche zu hören, und schon oft ist es
mir vorgekommen, als seien das nicht meine Gedanken, sondern
als schwebe dies Alles um mich her, und ich brauche nur hinzusehen,
um mich hineinzuversetzen.“


  Andere Selbstzeugnisse gestatten einen noch tieferen Blick in
den Vorgang. Sie erläutern, was wir über den Einfluss der Gefühle
auf das dichterische Schaffen erörtert haben. Stimmung, Gefühlslage
werden in diesen Zeugnissen als Ausgangspunkt
des Vorgangs herausgehoben. Ich beginne mit Schiller1): „Ich
glaube, es ist nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs,
sondern oft nur ein Bedürfniss nach Stoff, ein unbestimmter
Drang nach Ergiessung strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung
erzeugt. Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir
weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen,
als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir
einig bin.“ Bei Entstehung des Wallenstein2): „Bei mir ist die [406]
Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand;
dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung
geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische
Idee.“ Alfieri erzählt von sich in seiner Selbstbiographie,
die meisten seiner Tragödien seien ihm während oder nach dem
Anhören von Musik aufgegangen. Und Kleist bemerkt: „Ich
betrachte die Musik als die Wurzel oder vielmehr, um mich
schulgerecht auszusprechen, als die algebraische Formel aller
übrigen Künste, und so wie wir schon einen Dichter haben
(Goethe), der alle seine Gedanken über die Kunst, die er übt,
auf Farben bezogen hat, so habe ich von meiner frühesten
Jugend an alles Allgemeine, was ich über die Dichtkunst gedacht
habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, dass im Generalbass die
wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind.“
„Wenn ein Werk nur recht frei aus dem Schoos des menschlichen
Gemüths hervorgeht, so muss es auch nothwendig der
ganzen Menschheit angehören.“


  Fügt man das in diesen Bekenntnissen über das Verhältniss
der Gefühle und Stimmungen zu den dichterischen Bildern Enthaltene
an die vorhergehenden über die Entfaltung der Bilder und
ihrer Beziehungen, dann erscheinen mir die öfters schon herausgehobenen
Selbstbekenntnisse Otto Ludwigs nicht mehr so
paradox, obwohl ja Ueberreizung seines Nervensystems nicht
ohne Einfluss auf die von ihm dargelegten Vorgänge dichterischen
Schaffens in seiner Seele gewesen ist. Von den drei
Berichten, welche er darüber gegeben hat1), ist der vollständigste
und klarste der folgende: „Mein Verfahren ist dies: es
geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir
zur Farbe, dann seh' ich Gestalten, eine oder mehre in irgend
einer Stellung und Geberdung für sich oder gegen einander,
und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder
genauer ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische [407]
Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt,
der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab' ich auch,
wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat; versetz'
ich mich in eine Stimmung, wie sie Goethe's Gedichte
geben, so hab' ich ein gesättigtes Goldgelb, ins Goldbraune
spielend; wie Schiller, so hab' ich ein strahlendes Carmoisin:
bei Shakespeare ist jede Scene eine Nuance der besonderen
Farbe, die das ganze Stück hat. Wunderlicher Weise ist
jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der
Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend
einer pathetischen Stellung; an diese schliesst sich aber sogleich
eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr' ich nicht die Fabel,
den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts,
bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus,
schiessen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen
an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies
Alles in grosser Hast, wobei mein Bewusstsein ganz leidend sich
verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen
hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in
der Reihenfolge willkürlich reproduciren; aber den novellistischen
Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen ist mir unmöglich.
Nun findet sich zu den Geberden auch die Sprache. Ich schreibe
auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung
verlässt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein todter Buchstabe. Nun
geb' ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu
muss ich das Vorhandene mit kritischem Auge ansehen. Ich
suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten
ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir
unbewusst, die schaffende Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen
war; dann such' ich ebenso die Gelenke der
Handlung, um den Causalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso
die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen
Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte, und
mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem blossen Instinct
angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im Ganzen
und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr [408]
aus, wie ein Hebbel'sches Stück, Alles ist abstract ausgesprochen,
jede Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterentwicklung
gleichsam ein psychologisches Präparat, das Gespräch
ist nicht mehr wirkliches Gespräch, sondern eine Reihe von
psychologischen und charakteristischen Zügen, pragmatischen und
höheren Motiven. Ich könnte es nun so lassen, und vor
dem Verstande würde es so besser bestehen als nachher.
Auch an zeitgemässen Stellen fehlt es nicht, die dem Publicum
gefallen könnten. Aber ich kann mir nicht helfen, dergleichen
ist mir kein poetisches Kunstwerk, auch die Hebbel'schen Stücke
kommen mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem Kunstwerk,
nicht wie ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch
geworden, es ist ein Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man
aber die Zusammensetzung noch anmerkt.“


  Schliesslich mag solchen Selbstzeugnissen wahrer Dichter
das eines unterhaltenden Fabulanten folgen, wie ein Satyrspiel
auf den Ernst der tragischen Trilogie. Es zeigt, wie die Gestaltung
der Bilder von den Trieben und Begierden aus, die
uns als Wünsche und Hoffnungen umgaukeln, in der Jugend
zumal, der Ausgangspunkt einer geringeren Dichtungsweise
werden könne. Antony Trollope schreibt in seiner Selbstbiographie:1)
„Hier gedenke ich nun einer anderen Gewohnheit,
mit mir von ganz frühen Jahren erwachsen, welche ich selbst
oft mit Missvergnügen betrachtete, gedachte ich der darauf
verschwendeten Stunden, welche jedoch, wie ich vermuthe, dahin
wirkte, mich zu dem zu machen, was ich bin. Als ein Knabe,
ja schon als ein Kind war ich viel auf mich selbst angewiesen.
Ich habe schon, als ich von meiner Schulzeit sprach, erwähnt,
wie es kam, dass andere Knaben nicht mit mir spielen wollten.
So war ich allein und hatte meine Spiele mir selbst zu schaffen.
Irgend ein Spiel war mir nothwendig, damals wie immer. Studiren
war nicht meine Neigung, und ganz müssig zu sein konnte mir
nicht gefallen. So kam es, dass ich immer umherging mit einem
Luftschloss, das sich in meinem Innern fest aufbaute. Weder
war diese Bauarbeit krampfhaft festgehalten, noch beständigem [409]
Wechsel unterworfen von Tag zu Tag. Wochenlang, monatelang,
wenn ich mich recht erinnere, von Jahr zu Jahr, pflegte ich
dasselbe Märchen auszuspinnen, indem ich mich an gewisse Gesetze,
gewisse Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Einheiten
band. Niemals ward etwas Unmögliches eingeführt, noch irgend
etwas, das den äusseren Umständen nach ganz unwahrscheinlich
schien. Natürlich war ich mein eigener Held. Das versteht
sich von selbst beim Bauen von Luftschlössern. Aber ich wurde
nie ein König, ein Herzog, noch weniger konnte ich ein Antinous
oder sechs Fuss hoch sein, da meine Grösse und persönliche
Erscheinung feststanden. Ich war niemals ein Gelehrter,
nicht einmal ein Philosoph. Aber ich war ein gewandter Bursche,
und schöne junge Frauen pflegten verliebt in mich zu sein. Ich
strebte, gütigen Herzens, freigebig zu sein, vornehmer Gesinnung,
geringe Dinge verachtend. Alles zusammen war ich ein viel
besserer Geselle, als ich je erreicht habe. Dies war sechs oder
sieben Jahre lang die Beschäftigung meines Lebens, ehe ich in
den Postdienst trat, und wurde durchaus nicht aufgegeben, als
ich meinen Beruf begann. Schwerlich, denke ich, kann es eine
gefährlichere innere Gewohnheit geben; aber ich habe oft gezweifelt,
ob, wäre es meine Gewohnheit nicht gewesen, ich je
eine Novelle geschrieben hätte. Ich lernte auf diese Weise, ein
Interesse für eine erdichtete Geschichte aufrecht zu erhalten,
über einem von meiner Einbildungskraft geschaffenen Werke zu
brüten und in einer Welt zu leben, ganz und gar ausserhalb
der Welt meines eigenen materiellen Lebens. In späteren Jahren
habe ich dasselbe gethan mit dem Unterschied, dass ich den
Helden meiner früheren Träume abdankte und im Stande war,
meine eigene Identität aus dem Spiel zu lassen.“

Das Typische in der Dichtung.


  Ein letzter wichtiger Zug muss dieser psychologischen Elementarlehre
der Poesie hinzugefügt werden. Bilder und ihre
Verbindungen werden von den Gefühlen aus transformirt; aber
nicht in einem leeren Raume, sondern inmitten des Getriebes
von all den psychischen Processen, welche beständig an unserem [410]
Erfahrungskreis wirken, ja von dem ganzen erworbenen Zusammenhang
des Seelenlebens aus, welcher das unwillkürliche
Schaffen beeinflusst. Bilder und ihre Verbindungen überschreiten
daher wohl die gemeinen Erfahrungen des Lebens; aber was so
entsteht, das repräsentirt doch diese Erfahrungen, lehrt sie tiefer
begreifen und näher ans Herz ziehn.


  Dies ergiebt sich schon aus den früheren Darlegungen, nach
welchen die Unterlage des poetischen Schaffens in den
Vorgängen aufzusuchen ist, die unseren Erfahrungskreis
entwickeln.
Der Dichter hat diese Unterlage seines Schaffens
gemein mit dem Philosophen oder dem Staatsmann. Erfahrung
des Menschlichen ist hier überall die Grundlage, und besonders
Verallgemeinerung, Schlussverfahren werden angewandt, diese
Erfahrung auszubilden. Das naturwüchsige Verhältniss einer
mächtigen Intelligenz zu den Lebenserfahrungen muss auch in
jedem grossen Dichter bestanden haben. Aus Lebensvorstellungen
mussten sich Charaktere, Handlung, Form und Technik bei ihm
bilden. Dies kann nicht energisch genug gegenüber aller Künstelei
betont werden, welche das Schöne von den Erfahrungen des
Lebens absondern möchte. Selbst Schiller, obwohl er auf dieser
abschüssigen Bahn sich befand, hat den Wunsch ausgesprochen,
die Aesthetik möchte dem Begriff des Schönen den des Wahren
substituiren.


  Die Willensbetheiligung, durch welche die Metamorphose
von Vorstellungen erst zu künstlerischer Verwendung kommt
und aus innerlich gehegten Phantasiebildern eine Dichtung
hervorgeht, vermag dem Dichtwerk den Gehalt, der dauernde
Befriedigung gewährt, nur zu geben, indem sie diese Arbeit an
den Lebenserfahrungen in die Phantasiebilder hineinträgt. Nur
in dem Grade, als es gelingt, das Erlebniss so zu gestalten,
dass es viele Erfahrungen in höchster Steigerung enthält, kann
es den welterfahrenen, denkenden Mann beschäftigen und erfüllen.
Zugleich soll das Dargestellte das Gemüth des Lesers
oder Hörers bewegen. Auch dies wird es als blosse Particularität
nicht vermögen. Otto Ludwig empfand ganz den Durst nach
Einzelthatsächlichkeit und Wirklichkeit; dennoch wurde er zu der [411]
Einsicht gedrängt, dass das Singulare als solches nicht das Packende
ist; denn als solches ist es noch mit Zügen vermischt, welche vom
Leser oder Hörer nicht ohne Anstoss nachgebildet werden können
und daher abstossen. Der Realismus, wenn er ergreifen will,
muss durch Verallgemeinerung, durch Aussonderung des Zufälligen,
durch Herausheben des für das Lebensgefühl Wesentlichen
und Bedeutenden wirken; dann haften Sinn und Herz der
Leser an den Bildern, welche er hinstellt, weil diese Leser den
eigenen Herzschlag hier voller empfinden, weil der tiefste Gehalt
ihres eigenen Wesens von diesen Bildern mit umfasst ist und Alles,
was als particular ihnen selber fremd sein könnte, ausgestossen.


  So haben auch die Werke des Dichters Allgemeingültigkeit
und Nothwendigkeit. Aber diese bedeuten hier etwas
Anderes als in den Sätzen der Wissenschaft. Die Allgemeingültigkeit
bedeutet, dass jedes fühlende Herz das Werk nachbilden
und geniessen kann. Was so von der eigenen Lebendigkeit
aus als für den Zusammenhang eines Lebendigen erforderlich
herausgehoben und verknüpft wird, nennen wir das Wesenhafte.
Die Nothwendigkeit bedeutet, dass der in einer Dichtung bestehende
Zusammenhang so zwingend für den Auffassenden ist,
wie er für den schaffenden Künstler war. Indem diesen Anforderungen
genügt wird, tritt an dem Wirklichen das Wesenhafte
hervor.


  Wir bezeichnen das so aus dem Wirklichen herausgehobene
Wesenhafte als das Typische. Das Denken bringt Begriffe
hervor, das künstlerische Schaffen Typen. Diese enthalten also
zunächst in sich eine Steigerung des Erfahrenen, aber nicht
in der Richtung einer leeren Idealität, sondern in der einer
Repräsentation des Mannigfaltigen in Einem Bildlichen, dessen
mächtige und klare Structur die geringeren und gemischten
Erfahrungen des Lebens nach ihrer Bedeutung verständlich
macht. Und zwar ist in dem dichterischen Werke Alles
typisch. Typisch sind die Charaktere; das heisst, das Wesenhafte
in ihrer Structur, gleichsam ihr Bildungsgesetz ist herausgehoben;
aber mit einer Mächtigkeit der Darstellung, auch wo
die Schwäche ihr Gegenstand ist, mit einem über jede Aeusserung [412]
sich verbreitenden Glanze, als ob Niemand vorher diesen Menschen
wirklich gesehen hätte. Typisch sind die Leidenschaften; so ohne
Particularität, aus dem innersten Gesetz der Affecte erwachsen,
erscheint hier der innere Zusammenhang der Momente, in denen
eine Leidenschaft sich in einem Menschen auslebt und ihn verzehrt,
dass das Wesenhafte, siegreich Grosse, das in der Leidenschaft
als Erweiterung der Seele gefühlt wird, vom Zuschauer
oder Hörer ganz nachgebildet und erfahren werden kann.
Typisch ist der Nexus der Handlung in sich und mit dem
Schicksal; Alles, was die Durchsichtigkeit der Causalverbindung
stört, wird entfernt; die nothwendigen Glieder werden auf ihre
geringste Zahl und ihre einfachste Form gebracht; wie die Weltweisheit
der Fabel oder des Sprichworts eine Regel des Geschehens,
einen inneren Nexus der Glieder desselben ausspricht,
so wird in der Dichtung dies richtige Verhältniss der Glieder,
die in einer Handlung nach dem Gesetz derselben verkettet
sind, in grösster Mächtigkeit und Simplicität ausgesprochen. In
der Wirklichkeit ist dieses Alles nirgend in seiner grössten
Energie und unvermischt mit dem Zufälligen; hier dagegen ist
das dem Typus Gleichgültige ausgeschieden und jedes Glied in
seiner höchsten Realität und Leistungskraft herausgestellt. Typisch
ist selbst die Darstellungsweise; denn der Athem, der den Helden,
seine Leidenschaft wie sein Schicksal beseelt, muss von da aus
das ganze Werk bis in seine Rhythmen und seine Bilder beleben.
So wird das Werk ein Individuum. Die rohe Grösse der Zeit
ist im Lear jeder Gestalt und jedem Satze aufgeprägt, und Cordelia
selber ist aus demselben Geschlechte: sie beugt sich nicht.


  Und da in der Poesie überall Erlebniss, überall ein Innen,
das in einem Aeusseren sich darstellt, oder ein äusseres Bildliches,
das durch eine Innerlichkeit beseelt ist, Stoff und Ziel der Darstellung
bildet, so ist alle Dichtung symbolisch. Ihre Urform
ist das Bildliche, das Gedicht, das einen innerlichen Vorgang in
einer Situation zeigt, das Gleichniss. In diesem Verstande ist das Symbolische
die Grundeigenschaft, die aller Poesie von ihrem Stoffe her
eigen ist. Goethe sagte einmal Eckermann: „Lebendiges Gefühl
der Zustände und Fähigkeit, sie auszudrücken, macht den Poeten.“

[413]

  So zeigt sich nun als das Problem jeder Technik eines
Dichters, dies Typische hervorzubringen. In der Induction der
Wissenschaft ist das Durchlaufen der Fälle nur das Hilfsmittel,
um die Nothwendigkeit des Causalzusammenhangs, die schon
im ersten Falle lag und nur nicht rein ausgesondert werden konnte,
darzustellen. Die unbewusste Arbeit der Lebenserfahrung, die
in dem Dichter vollbracht ist, ehe ihm noch sein Stoff gegenübertritt,
lässt ihn die todte Facticität desselben in einer nothwendigen
Folge von Momenten mit höchster Lebendigkeit und
Einfachheit nachbilden. Auch hier liegt das Nothwendige in der
zwingenden Verknüpfung, welche Hörer oder Leser überzeugend
mit sich zieht, und das Allgemeingültige ist die Art, wie das
Nothwendige dann für Alle da ist.


  Die Personen handeln nothwendig, wenn der Leser oder Zuschauer
fühlt, dass er auch so handeln würde. Die Nothwendigkeit
widerspricht daher nicht dem Eindruck der Freiheit. Vielmehr
wird dieser insbesondere bei Shakespeare echt protestantisch dadurch
gesteigert, dass selbst seine Bösewichter die Forderung des
Sittengesetzes sich vorhalten und wissentlich, willentlich verletzen.
Diese Nothwendigkeit ist also im Einklang mit der
Freiheit; jede wahre und grosse Dichtung lässt uns Beides
zugleich fühlen. Wir fühlen und bilden in uns eine Verkettung
der Gemüthszustände nach, in welcher einer von dem anderen
erwirkt wird und Ein Zug folgerichtiger Leidenschaft durch das
Ganze hindurchgeht. Aber die Art des Erwirkens ist ganz von
der unterschieden, mit welcher Prämissen einen Schlusssatz erzwingen;
das Innewerden dieses anderen Charakters der Verknüpfung
der Glieder ist die Thatsache, die wir als Freiheit
ausdrücken. Aeusserlich stellt sich dies in den Monologen dar,
in welchen ein Entschluss sich vorbereitet. Niemand hat anhaltender
gerungen, dies Zusammen von Nothwendigkeit und
Freiheit in der Tragödie zum Ausdruck zu bringen, als der edle
Schiller, auch darin Kant's bester Schüler, im Wallenstein.


  Die Kategorie des Wesenhaften wird wie die von Substanz
und Ursache, aus der inneren Erfahrung in die äussere übertragen
und bezeichnet zunächst den Inbegriff der Züge, in dem [414]
innere Lebendigkeit die Bedeutung eines Gegenstandes erfasst.
So bringt der Dichter vom Gefühle aus das Wesenhafte im
Singularen oder das Typische hervor. Wie er es aus den oft
krausen Zügen der Wirklichkeit aussondern kann, das ist eben
das grosse Problem, welches nur behandelt werden kann, indem
man von der Natur des Menschenlebens und seiner psychologischen
Analysis ausgeht. Die Fragen nach den Typen der
Menschennatur, der Zahl der poetischen Motive, den Grundformen
der Verkettung der Glieder in der Handlung etc., welche die
Technik bisher nur äusserlich anzufassen vermochte, können
dann einer Auflösung angenähert werden.

Ausblicke auf die Theorie der poetischen Technik,
welche auf diese psychologische Grundlegung gebaut
werden kann.

1. Allgemeingültigkeit und geschichtliche Begrenztheit
der poetischen Technik.


  Wir haben den dichterischen Vorgang zergliedert, und
die Principien abgeleitet, die aus der Natur dieses Vorgangs
allgemeingültig sich ergeben. Ihre Zahl ist unbestimmt.
Der Ausdruck „Princip“, in dessen Wahl wir uns an Fechner
anschliessen, kann auch ersetzt werden durch die Bezeichnungen:
Norm oder Regel oder Gesetz, weil an das im Princip
ausgedrückte gesetzliche Verhältniss das Eintreten des ästhetischen
Eindrucks gebunden ist. Da der Charakter der gegenwärtigen
Psychologie, soweit sie beweisbar ist, der von
empirischer Sammlung, Beschreibung, Vergleichung, partialer
Causalverbindung ist, so kann von einer Ableitung genau definirter
und abgeleiteter Formeln in einer begrenzten Zahl noch
nicht die Rede sein. Der Fall ist derselbe auf den Nachbargebieten
der logischen, ethischen, rechtlichen und pädagogischen
Normen, obwohl die erstgenannten der Erkenntniss offener liegen.
Noch weniger ist es möglich, nach der Methode Fechner's durch
Abstraction aus Kunstwerken und deren Eindrücken diese Principien [415]
oder Normen vollständig in die Hand zu bekommen. Sieht
man nun aber von der Unvollkommenheit in der Auffindung dieser
Principien ab, welche durch den heutigen Zustand der Psychologie
bedingt ist, so entsteht doch auch die weitere Frage, ob auf diese
Principien eine vollständige Technik der Poesie würde gebaut
werden können, welche die poetischen Bestandtheile und die
Regeln ihrer Zusammensetzung feststellte und die Fragen, die
Dichter und Publicum interessiren, entschiede. Könnten wir diese
Fragen bejahen, so würden für die Aufgabe, die wir am Anfang
gestellt haben, die Principien der Auflösung entweder jetzt schon
vollständig beisammen sein, oder von einer künftigen Psychologie
zusammengebracht werden können.


  Es ist die tiefste Frage, die an alles geschichtliche Leben
überhaupt zu richten ist, um die es sich hier handelt. Die Pädagogik
so gut als die Ethik, die Aesthetik so gut als die Logik
suchen Principien oder Normen, welche das Leben in ausreichender
Weise zu regeln im Stande seien; sie wollen sie aus
den Thatsachen, die sich durch die Geschichte der Menschheit
erstrecken, ableiten. Aber die unergründliche Mannigfaltigkeit
und Singularität der geschichtlichen Erscheinungen spottet jedes
Versuchs, solche Regeln abzuleiten, ausgenommen auf dem einen
Gebiet der Logik; denn hier durchschaut das Denken sich selbst
und ist sich ohne Rückstand klar. Andrerseits haben wir jetzt
schon das Ergebniss gewonnen, dass es allgemein gültige Principien
oder Normen giebt, welche allem Schaffen und allem ästhetischen
Eindruck zu Grunde liegen. Die Betrachtungsweise der
historischen Schule, welche nur beschreiben wollte und die verstandesmässige
Leitung durch wissenschaftliche Principien ausschloss,
ist damit für uns abgethan. Glücklicherweise! denn
das Leben verlangt gebieterisch eine Leitung durch den Gedanken;
kann eine solche auf metaphysischem Wege nicht
hergestellt werden, so sucht es einen andern festen Punkt.
Dürfen wir diesen nicht mit der veralteten poetischen Technik
in den Musterbildern einer classischen Epoche suchen, dann
bleibt nur übrig, in der Tiefe der menschlichen Natur selber
und in dem Zusammenhang des geschichtlichen Lebens solche [416]
Nachforschungen anzustellen. Und hier in der That konnten
solche allgemeingültige Normen aufgefunden werden. Durchsichtig,
wie die Natur des poetischen Vorgangs ist, durften wir
hier mit grösserer Klarheit, als auf einem anderen Gebiete bisher
geschehen konnte (das der Logik natürlich ausgenommen), den
Vorgang des Schaffens beschreiben und die Normen desselben
ableiten.


  So bestätigt sich die ausserordentliche Bedeutung der
Poetik, überhaupt der Aesthetik für das gesammte Studium der
geschichtlichen Erscheinungen. Sie liegt darin, dass die Bedingungen
für eine causale Erklärung hier günstiger sind und
die grossen Principienfragen daher hier zuerst zur Entscheidung
gebracht werden können. Aber die Analyse, die hinter uns
liegt, gestattet, einen weiteren Schritt zu thun. Das Verhältniss
der geschichtlichen Mannigfaltigkeit dichterischer Werke zu den
allgemeingültigen Principien, das Problem der Geschichtlichkeit
und doch zugleich Allgemeingültigkeit der poetischen Technik
kann bis auf einen gewissen Punkt aufgelöst werden.

2. Das dichterische Schaffen und der ästhetische
Eindruck.


  Die Aesthetik, und innerhalb ihrer die Poetik, kann unter einem
doppelten Gesichtspunkt aufgebaut werden. Das Schöne ist als
ästhetisches Gefallen und als künstlerisches Hervorbringen
gegeben. Das Vermögen jenes Gefallens nennen wir Geschmack
und das dieses Hervorbringens Einbildungskraft. Wenn die
Aesthetik mit Fechner und der Herbart'schen Schule von dem
Studium der ästhetischen Eindrücke aus erbaut wird, scheint sie
eine andere werden zu müssen, als wenn sie in unsrer Darstellung
von der Analyse des Schaffens ausgeht. Durchweg hat
bisher jenes erste, der technischen Betrachtung günstigere Verfahren
vorgeherrscht. Indem wir uns das Problem einer technischen
Theorie stellen, muss zunächst über das Verhältniss
dieser beiden Ausgangspunkte einer solchen entschieden werden.


  Diese Doppelseitigkeit besteht in allen Systemen der Cultur. [417]
Denn sie entspringt aus dem Verhältniss von Schöpfung und
Aneignung, in welchem alles geschichtliche Leben verläuft. So
ergänzen einander die logische Erfindung und die Evidenz, der
sittliche Beweggrund und das Urtheil des Zuschauers, die inneren
Strebungen der sich bildenden Person und die Forderungen
der Gesellschaft an ihre Ausbildung, Production und Consumtion.
Die einen Aesthetiker gehen von dem Aeusseren zum
Inneren und leiten aus dem ästhetischen Eindruck die Absicht
des Künstlers ab, ihn hervorzurufen, dann hieraus die Entstehung
einer Technik, die ihn bestimmt. Sie gleichen den
Ethikern, welche aus dem Urtheil des unparteiischen Zuschauers
die Entstehung des sittlichen Gesetzes erklären. Die
anderen Aesthetiker gehen von innen nach aussen; sie finden in
dem schaffenden Vermögen des Menschen den Ursprung der
Regel, und sie müssen dann folgerichtig in dem ästhetischen
Eindruck das abgeblasste Abbild jenes schöpferischen Vorganges
sehen. Wie entscheiden wir diese Streitfrage?


  Die Beziehung zwischen Gefühl und Bild, zwischen Bedeutung
und Erscheinung tritt weder in dem Geschmack des
Hörers noch in der Phantasie des Künstlers ursprünglich auf,
sondern in der Lebendigkeit des Gemüthes, welches
seinen Gehalt in Geberde und Laut äussert, die Macht seiner Regungen
in eine geliebte Gestalt oder in die Natur verlegt, und die
Steigerung seines Daseins in den Bildern der Bedingungen geniesst,
von denen sie hervorgebracht ist. In solchen Augenblicken
ist die Schönheit im Leben selbst gegenwärtig, das Dasein
wird zum Fest, die Wirklichkeit zur Poesie; Geschmack
wie Einbildungskraft empfangen die elementaren Inhalte und
Beziehungen aus dieser Wirklichkeit des Schönen im Leben
selber. Die hier gestifteten Beziehungen zwischen Gefühl
und Bild, Bedeutung und Erscheinung, Innen und Aussen
bringen, wo sie in freien Verhältnissen benutzt werden, auf
dem Gebiet der Gehörsvorstellungen die Musik, auf dem der
Gesichtsvorstellungen Arabeske, Schmuck, Decoration und Architektur
hervor. Sofern dagegen das Gesetz der Nachbildung
herrscht, entsteht auf dem einen Gebiete die Poesie, auf dem [418]
anderen die bildende Kunst. Die Eine selbige Menschennatur
lässt nach denselben Gesetzen schaffende Kunst und nachfühlenden
Geschmack entstehen, und beide einander entsprechen.
Zwar ist der Vorgang im Schaffenden viel mächtiger als im Geniessenden,
dazu vom Willen geleitet, aber er ist nach seinen
Bestandtheilen vorwiegend derselbe.


  Es reicht hier aus, diesen Satz innerhalb des Gebietes der
Poesie näher zu entwickeln und zu begründen.


  Der Vorgang, in welchem ich eine Tragödie oder ein
episches Werk aufnehme, ist ein lange dauernder und ausserordentlich
zusammengesetzter: Aggregat aus all den ästhetischen
Bestandtheilen, welche wir durchlaufen haben. Die Gefühle,
welche hier verbunden sind, gehören allen Gefühlskreisen
an. Und zwar enthält dieses Aggregat von Erregungszuständen
jedesmal neben den Gefühlen von Gefallen und Lust auch solche
von Unlust. Dies ist in allen ästhetischen Zusammensetzungen
grösseren Umfangs nothwendig. Denn eine Reihe von reinen Lusteindrücken
macht bald Langeweile. Und da die Poesie das
Leben abbildet, entsteht eine armselige Verwässerung desselben,
wenn man das grosse Agens der Lebens- und Willensbewegung,
den Schmerz, ausschaltet. Jedoch muss die Lust in diesem
Aggregat überwiegen und aus der schmerzlichen Erregung soll
der Hörer oder Leser schliesslich in eine Gleichgewichtslage
oder einen Lustzustand übergeführt werden. Alle Energien
der reichen menschlichen Natur müssen befriedigt sein. Unsere
Sinne sollen ausgefüllt werden durch den Gefühlsgehalt der
Empfindungen, sowie durch die aus ihren Beziehungen entspringenden
Stimmungen. Unsere höheren Gefühle müssen durch
die Bedeutsamkeit des Objects sich mächtig erweitert finden
und harmonisch ausklingen. Und unsere denkende Betrachtung
soll durch die Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit des
Gegenstandes, die Beziehungen desselben zu dem ganzen erworbenen
Zusammenhang des Seelenlebens und die so entstehende
Unendlichkeit des Horizontes, der das bedeutsame Object umgiebt,
ganz beschäftigt und festgehalten sein. Alsdann wird in
dem Werk kein Mangel empfunden. Jedes Bedürfniss ist ihm [419]
gegenüber zum Schweigen gebracht. Das sind die grossen, die
classischen Künstler, welche so eine anhaltende totale Befriedigung
in den Menschen ganz verschiedener Epochen und Völker
hervorbringen. Anderenfalls vermissen wir bald den sinnlichen
Reiz, bald die Macht des Gefühls, bald die Gedankentiefe.


  Doch hat der Eindruck eines dichterischen Werkes, höchst zusammengesetzt
wie er ist, eine bestimmte Structur, welche
durch Wesen und Mittel der Dichtung bedingt ist. Die
Dichtung entspringt, indem ein Erlebniss drängt, in Worten,
sonach in einem Zeitverlauf ausgesprochen zu werden. Dieser
Vorgang ist von einer starken Erregung begleitet und ruft eine
solche im Hörer hervor. Aus den Worten bildet die Phantasie
des Hörers das Erlebniss nach und wird nun ebenfalls, obwohl
schwächer, erschüttert. Hier entsteht also aus dem Stoff von
Worten, in einem gleichsam luftigen und durchsichtigen Elemente,
ein Anschauungsganzes, dessen Theile zu einer Erregung zusammenwirken;
in dieser aber herrscht das Lustvolle vor, und auch
das Schmerzliche wird im Zeitverlauf dem Gleichgewicht oder
der Befriedigung entgegengeführt, wie wir es vom Leben selber
wünschen. Die Zusammensetzung der Lust- und Unlustbestandtheile
ist von der Structur des Vorgangs im Schaffenden bedingt;
dieser ist das Ursprüngliche. Sonach nicht ein kunstvoll arrangirtes
Aggregat von Lustbestandtheilen ist der poetische Eindruck,
sondern er hat seine nothwendige Form.


  Auch können wir weder den Vorgang im Dichter noch den
im Hörer aus der Aufgabe ableiten, möglichst viele
Bestandtheile
von Lust oder Gefallen zu vereinigen. Wohl
fallen in unsere directe Erfahrung nur Vorgänge sowie das Erwirken
eines Vorgangs vom anderen her, aber wir können
Thatsachen des Seelenlebens nicht leugnen, welche hieraus zur
Zeit nicht erklärbar sind. Es besteht in uns ein Bedürfniss
nach starken Erregungen, welche unsere Energie steigern.
Die Menschen erscheinen unersättlich, innere Zuständlichkeit
andrer Menschen oder Völker zu erkunden, Charaktere nacherlebend
aufzufassen, Leid und Freude zu theilen, Geschichten
zu vernehmen: gegenwärtige oder vergangene, oder [420]
auch solche, die nur hätten geschehen können. Dieser innere
Drang ist den Naturvölkern so gut eigen als dem heutigen Europäer.
In ihm haben die Arbeit des Dichters, des Geschichtschreibers
und Biographen sowie der Genuss seiner Hörer und
Leser ihre elementare Grundlage. Und wie an das Grosse in
unsrer Natur auch das Fehlerhafte sich hängt: selbst die verderbliche
Herrschaft der Romanlectüre beruht darauf. Wie in
Hauffs Parodie der Verehrer Claurens bei trocknem Brode die
Beschreibung von Champagnerfrühstücken liest: so würzen sich
Viele die dürftige Suppe ihres Lebens durch die grossen Emotionen,
welche mit geringem Aufwand aus der Leihbibliothek
zu beziehen sind. Das Grausenhafte selbst wird rohen Naturen
eine Quelle der Lust durch einen hässlichen Zug der Menschennatur,
gegenüber von Gefahr und Schmerz Andrer die eigne
Sicherheit hinter dem warmen Ofen verstärkt, verdoppelt zu
fühlen. In diesem Allen liegt zugleich etwas Irrationales, das
nicht aus unserem Wesen wegraisonnirt werden kann. Wir sind
nun einmal kein Apparat, der regelmässig Lust herzustellen und
Unlust auszuschalten sucht, Lustwerthe gegen einander abwägt
und so die Willensantriebe der erreichbaren Lustsumme entgegenlenkt.
Für einen solchen würde freilich das Leben rational, ja
ein Rechenexempel. Aber das ist es nicht. Ja die Irrationalität
des menschlichen Charakters kann an jedem heroischen Menschen,
in jeder wahren Tragödie, an Verbrechern ohne Zahl gesehen werden.
Die tägliche Erfahrung selber zeigt uns dieselbe; wir suchen
nicht die Unlust zu vermeiden, sondern vertiefen uns in sie,
grübelnd, misanthropisch; wir setzen Glück, Gesundheit und
Leben daran, Affecte der Abneigung zu befriedigen, unangesehen
den Lustertrag, von dunklen Trieben gezwungen. Und dieses
Bedürfniss der Menschennatur nach mächtigen, wenn auch mit
starker Unlust vermischten Erregungen, welches nicht auf einen
Apparat für Erzeugung eines Maximums von Lust zurückgeführt
werden kann, wirkt auch in der Zusammensetzung eines mächtigen
poetischen Eindrucks. In dieser muss dann die schmerzliche
Erregung durch die Erweiterung der Seele, welche die Grösse
des leidenden Menschen hervorruft, überboten und ein befriedigender [421]
Endzustand herbeigeführt werden. Daher dienen in der
Tragödie Schmerz und Tod nur, Seelengrösse zu offenbaren.


  Dieses Alles wird aber nur dadurch erreicht, dass aus
diesen beweglichsten, flüchtigsten, durchsichtigsten Stoffen von
Lauten und mit ihnen verknüpften Vorstellungen in der Einbildungskraft
des Auffassenden ein Bildzusammenhang sich aufbaut.
Die grosse Regel des Poeten ist daher, die Einbildungskraft
in einer von ihm beabsichtigten Richtung in Thätigkeit
zu setzen. Der so entstehende Bildzusammenhang muss aber in
seiner Sinnfälligkeit auch Glauben hervorrufen. Denn nur wo
wir an die Wirklichkeit desselben glauben, erlebt unsere Seele.


  Dieser so zusammengesetzte poetische Eindruck muss nun
mit dem Schaffen des Dichters verglichen werden, wie
wir es analysirt haben. So ergiebt sich folgendes Verhältniss.
Der primäre Vorgang ist das Schaffen. Die Poesie entstand aus
dem Drang, Erlebniss auszusprechen, nicht aus dem Bedürfniss, den
poetischen Eindruck zu ermöglichen. Was nun vom Gefühl aus
gestaltet ist, erregt das Gefühl wieder, und zwar in derselben,
nur geminderten Weise. So ist der Vorgang im Dichter dem
verwandt in seinem Hörer oder Leser. Die Verbindung von
einzelnen Seelenvorgängen, in welchen eine Dichtung geboren
wurde, ist nach Bestandtheilen und Structur derjenigen ähnlich,
welche sie dann bei dem Hören oder Lesen hervorruft. Wer
ein Gedicht beurtheilen will, muss nach Voltaire ein starkes
Gefühl haben und mit einigen Funken von dem Feuer geboren
sein, welches den Dichter belebt hat, dessen Kritiker er sein
will. Dieselbe Zusammensetzung von bildlichen Elementen ruft
hier wie dort dieselbe Zusammensetzung von Gefühlen hervor.
Die Beziehung zwischen dem Sinnfällig-Bildlichen, dem gedankenmässig
Allgemeinen und dem Erregungsgehalt bestimmt dort
wie hier die Structur, zu welcher die Bestandtheile verbunden sind.
Die Unterschiede zwischen Schaffen und Empfangen sind ebenfalls
unverkennbar. Das dichterische Schaffen ist viel zusammengesetzter,
seine Bestandtheile mächtiger, die Willensbetheiligung
stärker, und eine viel längere Zeit wird von ihm ausgefüllt, verglichen
mit dem Lesen oder Hören des vollendeten Werkes.

[422]

  Hieraus folgt die Zweiseitigkeit der poetischen
Technik.
In ihr wirkt unwillkürliches unablässiges Bilden und
zugleich die Berechnung des Eindrucks sowie der Mittel, ihn herbeizuführen.
Beides ist im Dichter vereinbar; denn die verstandesmässige
Technik, welche den poetischen Eindruck hervorrufen will,
muss dieselbe Metamorphose der Bilder anstreben, welche aus dem
unwillkürlichen und nicht vollbewussten Bilden von selber hervorgeht;
sie kann dabei die Wirkungen klarer berechnen und
schärfer zuspitzen. Daher finden wir in Dichtern, die auf der
Bühne zu Hause waren, wie die griechischen Tragiker, Shakespeare
oder Molière, den berechnenden Verstand untrennbar mit
dem unwillkürlichen Schaffen verbunden. So ergiebt sich das
technische Gesetz: die Absicht, welche für den Eindruck
die Mittel berechnet, muss hinter dem Scheine ganz unwillkürlichen
Gestaltens und freier Wirklichkeit verschwinden. Bei den grossen
Dramatikern wie Shakespeare und Molière ist der Kunstverstand
allgegenwärtig, doch möglichst verborgen, und auf dieser gänzlichen
Durchdringung des Theatralischen und des Poetischen beruhen
ihre wunderbaren Wirkungen auf dem Theater. Dagegen
Goethe suchte für jedes neue Problem eine entsprechende Form.
Er tadelte dies selbst in Italien an sich als einen Zug von Dilettantismus.
Auch hat er die neuen von ihm geschaffenen Formen
nicht seiner erstaunlichen poetischen Intention entsprechend rein
und völlig ausbilden können, weder im Faust noch im Meister.
Um so reiner und machtvoller tritt bei ihm die poetisch bildende
Phantasie heraus. Schiller hat dies Verfahren Goethe's richtig
so geschildert: „Ihre eigene Art, zwischen Reflexion und Production
zu alterniren, ist wirklich beneidens- und bewundernswerth.
Beide Geschäfte trennen sich in Ihnen ganz, und das eben
macht, dass beide als Geschäft so rein ausgeführt werden. Sie
sind wirklich, solange Sie arbeiten, im Dunkeln, und das Licht
ist bloss in Ihnen: und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt
das innere Licht aus Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände,
Ihnen und Anderen.“


  Die technische Theorie muss sonach von beiden
Seelenvorgängen
und deren innerem Verhältniss im [423]
Dichter ausgehen. Wenn die Poetik vom Eindruck ausgeht,
macht sie die Dichtung mehr oder weniger zum Werk des Verstandes,
welcher Wirkungen berechnet, und das geschah der von
Aristoteles abhängigen Poetik. Erscheint dagegen unbewusstes
Schaffen als die Quelle der dichterischen Form, dann werden Regeln,
erworbene Einsichten sowie verstandesmässige Gliederung verachtet,
und das geschah der zweiten Periode unserer Romantik, den
Arnim und Brentano. Die Poetik öffne beide Thore ihrer Erfahrungen
soweit als möglich, damit keine Art von Thatsache oder Verfahren
ausgeschlossen werde! Indem sie die Eindrücke untersucht,
geniesst sie des Vortheils, den Wechsel derselben willkürlich
vom Wechsel der Objecte aus hervorrufen und das
Complexe des Vorgangs in seine Bestandtheile zerlegen zu
können; hier wird experimentelle Aesthetik möglich, wie sie jetzt
Fechner in Angriff genommen hat. Indem sie vom Schaffen
ausgeht, kann endlich die Fülle des literarhistorischen Stoffes
verwerthbar gemacht werden; jahraus jahrein arbeiten unzählige
Philologen und Literarhistoriker, die Poeten benützbar und verständlich
zu machen; nun trete die Poetik hinzu, nicht die
Boileaus, welche sich die Dichtung unterwerfen will, sondern
die neue, welche sie erklären möchte und in vergleichender Betrachtung,
von den Urzellen der Poesie in den Aeusserungen
der Naturvölker ab, alle Erscheinungen derselben umfasst! Dann
wird in gesunder Wechselwirkung die literarhistorische Empirie
und Vergleichung benutzt werden, die Natur des Schaffens aufzuklären,
seine unveränderlichen Normen zu entwerfen, die Geschichtlichkeit
der Technik zu zeigen und solchergestalt die Vergangenheit
zu begreifen und der Zukunft den Weg zu weisen.
Die aus solcher Arbeitsvereinigung entsprungene Poetik wird der
Literaturgeschichte die Mittel für eine viel feinere Charakteristik
der Dichter schaffen. Möchte dann auch das Uebermass des
persönlichen Klatschs wieder schwinden, in welchem zur Zeit
die Literarhistorie schwelgt!


  Das Ergebniss dieser psychologischen Betrachtungen kann
wieder in Principien oder Regeln dargestellt werden. ─
Wenn man die Gesetze der Metamorphose isolirt auffasst, so [424]
entspricht dem Vorgang der Verstärkung oder Minderung ein
Princip der verschiedenen Betonung der Bestandtheile
im Verhältniss ihres Gewichtes für das Ganze und der höchsten
Energie der herrschenden unter ihnen. Dem Gesetz der Ausschaltung
entspricht ein Princip der möglichsten Annäherung an
reine Befriedigung durch Aussonderung des solcher Wirkung
Widersprechenden. Dem Gesetz der Ergänzung entspricht das
Princip der Herausbildung des Wesenhaften und Bedeutenden
nach der Beziehung von Zustand und Bild. ─
Hält man die Leistungen dieser Gesetze an die Aufgabe, so entstehen
zwei sich ergänzende Principien. Glaubhaftigkeit und
Illusion bildet die Bedingung, unter welcher allein der Dichter
seine Aufgabe lösen kann; so bezeichnet sie eine Grenze, an die
sein Schaffen gebunden ist. Aesthetische Freiheit, die ein
von den Zweckhandlungen des Lebens abgetrenntes, beglückendes
Reich von Gestalten und Handlungen hervorbringt, wirkt in
diesen Grenzen und nach diesen Gesetzen. Wohl wird der
Dichter von dem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens
und den in ihm gegebenen Gesetzen, Werthverhältnissen und
Zwecken der Wirklichkeit bestimmt. Er ist um der Befriedigung
seines Lesers oder Hörers willen an sie gebunden. Aber er ist
der Uebereinstimmung seiner Bilder mit dem Wirklichen nicht
bedürftig. Auf dies Princip der ästhetischen Freiheit hat Schleiermacher
seine Aesthetik gegründet. „Es gehört zur Natur des
Geistes, dass wir diejenigen Thätigkeiten, die durch die Affection
von aussen gebunden werden und in dieser Bestimmtheit ein
äusserlich Gegebenes darstellen, von dieser Gebundenheit befreien
und sie zu einer selbständigen Darstellung erheben, und dies ist
die Kunst1).“ Einseitig betont, begründet dies Princip die Verherrlichung
der Phantasie in der romantischen Aesthetik Ludwig
Tieck's und seiner Genossen. ─ Betrachtet man endlich die Anordnung
der Bestandtheile, die in der Structur des dichterischen
Schaffens und des poetischen Eindrucks angelegt ist, so entstehen
für dichterische Werke grösseren Umfangs Regeln, welche
öfter am Drama entwickelt worden sind. Die Eindruckskraft der [425]
einzelnen Bestandtheile muss zu der Ausdehnung des ganzen
Werkes im Verhältniss stehen. So muss die Handlung der Tragödie
Wichtigkeit und Grösse haben, und selbst das
Komische muss im Lustspiel eine andere Wucht haben als in
einem Witzblatt oder geselligen Scherz. Die Bestandtheile
müssen ferner eine in sich abgegrenzte und geschlossene
Einheit
bilden. Hiervon ist eine Anwendung die berühmte
Regel von der Einheit der Handlung im Drama. Endlich müssen
die Bestandtheile so geordnet sein, dass eine Steigerung ihrer
Wirkungskraft bis zuletzt stattfindet1).

3. Die Technik des Dichters.


  In den bisherigen Entwicklungen herrschte die Psychologie
vor. Nachdem nun eine Grundlegung der Poetik gewonnen ist,
ändert sich die Methode. Die literarhistorische Empirie hat jetzt
die Führung. Sie muss, dem Geiste der modernen Forschung
entsprechend, das ganze Gebiet der Dichtung umfassen und gerade
bei den Naturvölkern die elementaren Gebilde aufsuchen.
Sie muss zwischen diesen Gebilden und Formen Causalverhältnisse
herstellen und findet sich dabei überall auf entwicklungsgeschichtliche
Auffassung angewiesen. So kann sie die Grenzen
der bisherigen Literaturgeschichte nirgend respectiren, sondern
muss auf dem weiten Gebiet menschlicher Cultur Erklärungen
nehmen, wo sie sie findet. Diese muss sie dann durch die Methode
„der wechselseitigen Erhellung“, wie sie Scherer bezeichnet hat,
unterstützen und so durch das Nahe und Zugängliche das Zeitferne
und Dunkle erleuchten. Sie muss die Vergleichung
zur Verallgemeinerung benutzen und Gleichförmigkeiten ableiten.
Hierbei wird sie überall von den Ergebnissen der psychologischen
Grundlegung getragen und kann in keinem Punkte der psychologischen
Erklärung entbehren. Denn eine Poetik ohne Psychologie
benutzt eben populäre und unhaltbare Classenbegriffe und
Sätze, anstatt der wissenschaftlichen und bewiesenen. Doch fällt [426]
der Psychologie von nun ab nur die zweite begleitende Stimme
zu. Da diese Abhandlung den ihr zugemessenen Raum längst
überschritten hat, so beschränken wir uns auf einige besonders
wichtige Anwendungen der psychologischen Grundlegung. Die
Fruchtbarkeit der psychologischen Betrachtung könnte freilich
erst ganz sichtbar werden, wenn es uns vergönnt wäre, von ihr
aus die einzelnen Probleme anzufassen, welche die literarhistorische
Empirie der Poetik aufgiebt und zugleich aufzulösen ermöglicht.
Dürfen wir das später versuchen, so werden wir dann
die Last nicht allein zu heben haben. Die Poetik des unvergesslichen
Scherer wird aus seinen Vorlesungen veröffentlicht
werden, und wie er die Grammatik mit der Poetik verknüpfte und
gerade die für die primären Gebilde und Formen so belehrende
germanische Literatur in einziger Weise bis zur Gegenwart umspannte,
wird uns gewiss von diesem reichen und energischen
Geiste die wichtigste Förderung zu Theil werden. Wie anders
wäre es gewesen, gemeinsam mit dem Lebenden zu arbeiten!


  1. Unser Gegensatz zur bisherigen Poetik ist immer klarer
geworden. Wir verwarfen jeden allgemeingültigen Begriff des
Schönen, aber in der Natur des Menschen fanden wir einen Vorgang
des Bildens. Indem dieser von dem Kern des Erlebnisses
aus in dem Mittel der Sprache wirksam ist, entsteht bei allen
Völkern rhythmische Aeusserung der Gefühle, für die Seele so
nöthig als für den Körper, zu athmen, freie Darstellung und
Umbildung des Erlebten und lebendige persönliche Action in einer
die Seele bewegenden Handlung. Dies schon in der Wurzel
nach Arten geschiedene dichterische Schaffen hat zunächst sein
Maass und unterscheidendes Merkmal darin, dass der so entstehende
Bildzusammenhang dem Schaffenden selber Befriedigung
gewährt; doch wird zugleich dauernde Befriedigung in dem Hörer
oder Leser zum Ziel des Dichters und zum Maassstab seiner
Leistung. Hierdurch erst wird seine Arbeit zielbewusst und erzeugt
wie jede andere zielbewusste Thätigkeit ihre Technik.
Unter poetischer Technik verstehen wir das seines Ziels
wie seiner Mittel bewusste und deren sichere Schaffen des
Dichters.

[427]

  Die Technik des Dichters ist Transformation des
Erlebten zu einem nur im Vorstellen des Hörers oder
Lesers bestehenden Ganzen, welches Illusion erzeugt und
durch sinnliche Energie des Bildzusammenhangs, mächtigen
Gefühlsgehalt, Bedeutsamkeit für das Denken,
sowie durch andere geringere Mittel eine dauernde Befriedigung
hervorbringt.


  Es macht den Charakter des Künstlers aus, dass sein
Werk nicht in den Zweckzusammenhang des wirklichen Lebens eingreift
und nicht von ihm beschränkt ist. Der gewöhnliche Mensch
geht durch das Leben, nur in dem einen grossen Geschäft begriffen,
seine Bedürfnisse zu befriedigen oder sein Glück zu
machen. Alle Gegenstände und Personen haben ihm ein Verhältniss
zu dieser Lebensaufgabe. Das Genie ist den Objecten
ohne Nützlichkeitsrücksichten, daher interesselos hingegeben.
Das Auffassen selber ist sein Geschäft. Der theoretische Kopf
ordnet sein Vorstellen der Wirklichkeit unter, und der praktische
setzt es zu ihr in ein angemessenes Zweckverhältniss. Interesselosigkeit,
daher stammende tiefe Besonnenheit, welcher Alles
Erlebniss wird und die mit stillem und sinnendem Auge auf den
Gegenständen ruht, bilden eine idealere Wirklichkeit, die Glauben
hervorruft und zugleich das Herz und den Kopf befriedigt: das
sind die Merkmale des Dichters.


  Dem entspricht der Vorgang im Hörer oder Leser. Der
Bildzusammenhang, der in ihrem Vorstellen entsteht, enthält
Personen und Handlungen, welche zu denen des wirklichen
Lebens in keinem Verhältniss der Ursache oder Wirkung stehen.
So werden diese Hörer aus der Sphäre ihrer directen Interessen
herausgehoben. Die Kunst ist ein Spiel. In der gegenwärtigen und
dauernden Befriedigung liegt die ganze Wirkung, welche es hervorbringen
möchte. Dass dies Spiel noch andere Wirkungen übe,
darf sich dem Hörer nicht aufdrängen. Solche Befriedigung ist
aber an die Illusion gebunden, welche die Nachbildung zum
Erlebniss der Wirklichkeit macht. Uebereinstimmung des Phantasiegebildes
mit den im erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens
enthaltenen Gesetzen und Werthbestimmungen des Wirklichen,
daraus stammende Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit, [428]
sinnliche Kraft: das ist also die Basis aller echten Kunst. Daher
ist die moderne Technik, welche diese Grundlage gediegen und
tüchtig herzustellen strebt, in vollem Rechte gegenüber den
Gedankenmalern und Ideendichtern. Wie entstünde sonst die
Bewegung des Herzens, welche uns fremde Schicksale wie die
eigenen, erdichtete wie wirkliche erleben lässt? Dann muss
freilich der Gegenstand das Herz wirklich bewegen und durch
seine im Denken erfassbaren Beziehungen bedeutend sein; das
vergessen unsere heutigen Künstler zu oft. ─ Aus diesen Grundeigenschaften
des poetischen Genusses entspringen bemerkenswerthe
Folgen. Die dargestellten Vorgänge rufen nie von
unserer Seite äussere Willenshandlungen hervor. Man erzählt
von Personen, welche das Schauspiel unterbrachen, um den
Bühnenbösewicht zu züchtigen oder die leidende Unschuld zu
retten. Dies setzt immer einen Irrthum über das thatsächliche
Verhältniss der Personen, die spielen, zu denen, welche
von ihnen repräsentirt werden, voraus. Wie sehr auch ein
Vorgang als Wirklichkeit erschüttere: wir verlieren nie das Bewusstsein
der Illusion. Auch können wir, so das Dargestellte
nachlebend, viel schneller aus einem Zustande in den anderen
übergehen als im wirklichen Leben. In wenigen Stunden verfolgen
wir durch erstaunliche Contraste hindurch die Schicksale
einer Romanheldin. In einen einzigen Theaterabend kann ein
blutgieriger Dichter ein halbes Dutzend Todesfälle zusammendrängen.
Dies erklärt sich daraus, dass keiner dieser Vorgänge
uns in allen Gedanken und Gefühlen so fest bindet und nach
den realen Beziehungen unsrer Existenz so mächtig erregt, als
die Vorfälle des natürlichen Lebens thun. Schon die Sympathie
mit dem Zahnweh eines Anderen ist von eigenen Zahnschmerzen
sehr verschieden; kommt das Bewusstsein der Illusion hinzu,
dann wird Schmerz und Lust im Zuschauer dem fremden Schicksal
gegenüber zwar reiner, aber noch schwächer.


  Zu Dichter und Publicum tritt der Kritiker als dritte
Person. Der Vorgang in ihm ist derselbe, als in einem idealen
Leser oder Hörer. Er sollte es wenigstens sein! Wie kommt es nun,
dass der Kritiker den Fehler in einem Charakter bemerkt? Von [429]
einer Lage aus wird ein Gefühlszustand im Helden erwirkt, von
dem Gefühl aus ein Willensvorgang; das liest der Kritiker in
dem Gedichte; wie er es aber nachzubilden strebt, entsteht ein
stiller unbezwinglicher Widerstand. Derselbe stammt aus der Tiefe
des erworbenen Zusammenhangs seines Seelenlebens, welcher an
diesem Punkte dem des Dichters überlegen ist. Oder wie erkennt
er das Fehlerhafte einer Lösung? Die versöhnte Stille der erregten
Gefühle will sich nicht einstellen. Wieder wirken aus dem
erworbenen Zusammenhang seines Seelenlebens Einsichten in
die Beziehungen der Werthe sowie der Zwecke, ohne dass er
dessen sich ausdrücklich bewusst ist, und sind den Einsichten
des Dichters überlegen. Nicht nachträgliche Reflection, sondern
dieses starke Erleben macht den Kritiker so gut als den
Dichter. Daher ist tiefes Urtheil über einen Dichter etwas dem
schöpferischen Vermögen Verwandtes. Lessing war nicht darum
ein grosser Dichter, weil er der grösste Kritiker war, sondern
die Energie des schaffenden Vermögens und die Schärfe des
analysirenden Verstandes bildeten zusammen den grössten Kritiker,
und der Dichter in ihm nützte dann die Kunstgriffe, die
dem Kritiker klar geworden waren: so verstärkte er durch bewusste
Technik das schöpferische Vermögen.


  Dass eine solche Transformation des Erlebnisses möglich
ist, hat seinen Grund darin, dass die Wirklichkeit dem
schaffenden Vermögen Stoffe, nämlich Lebenswendungen oder
Charaktere, darbietet, in denen es, wenn auch noch mit Unbrauchbarem
gemischt, die Mittel zu solchen Wirkungen findet. Nach
Goethe und Schelling ist auch der vollkommenste menschliche
Körper nur in einem vorübergehenden Momente schön und eben
diesen verewigt die bildende Kunst. So tritt auch das poetisch
Bedeutende nur selten und flüchtig auf, aber der Dichter wird
es belauschen und festhalten. Das für das Gefühl Allgemeingültige
ist nirgend frei von den Störungen des Zufalls; Lebensfülle
ist in Zeit, Raum und Causalzusammenhang eingeengt
und gepresst: der Dichter muss aus seiner mächtigen Lebendigkeit
ergänzen, erhöhen und reinigen.


  Als Bestätigung dieser Auffassung der Poesie können zwei [430]
Stellen von Schiller und Goethe dienen. Schiller definirt den
Dichter. „Jeden, der im Stande ist, seinen Empfindungszustand
in ein Object zu legen, sodass dieses Object mich nöthigt, in
jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf
mich wirkt, nenne ich einen Dichter.“ Ist diese Definition zu
eng, weil sie den von der eignen Subjectivität ausgehenden
Dichter nicht einschliesst, so sagt Goethe vollständiger: „Lebendiges
Gefühl der Zustände und Fähigkeit es auszudrücken, macht
den Poeten.“


  2. Auch das Verfahren, durch welches die Technik zur
Erkenntniss gebracht
wird, muss sich in der modernen
Poetik ändern. So viel die heutige Poetik den beiden älteren
Methoden verdankt, und so lebhaft wir dies im ersten Capitel
hervorgehoben haben: sie muss den entscheidenden Schritt thun,
eine moderne Wissenschaft zu werden; sie muss die hervorbringenden
Factoren erkennen, ihr Wirken unter wechselnden
Bedingungen studiren und vermittelst dieser Causalerkenntniss
ihre praktischen Aufgaben lösen.


  Die Erkenntniss der Technik gründet sich auf eine
Causalbetrachtung, welche die Zusammensetzung der
poetischen Gebilde und Formen nicht nur beschreibt,
sondern wirklich erklärt. Sie leitet aus dieser die allgemeingültigen
Principien der poetischen Wirkung in
unbestimmter Zahl ab und stellt sie als Regeln oder
Normen dar. Sie zeigt, wie in diesem ursächlichen
Zusammenhang von Vorgängen, nach Gesetzen des Seelenlebens,
den poetischen Normen entsprechend, erst unter
den Bedingungen eines bestimmten Zeitalters und eines
Volkes eine poetische Technik entsteht und sonach nur
eine relative und geschichtliche Geltung hat. So begründet
die Poetik die Literaturgeschichte und findet
erst in dieser ihren Abschluss.


  Wir bilden einen Begriff, welcher die Causalbetrachtung
der gegenwärtigen Poetik mit der Formzergliederung der älteren
verknüpft. Ein von Humboldt geprägtes Wort in eigenem Sinne
nützend, nennen wir die Vertheilung der Veränderungen, [431]
welche an Erlebnissen nach den dargestellten Gesetzen stattfinden,
sonach Neubildungen der Bestandtheile, entstehende
Verhältnisse von Betonung, Stärke und Ausdehnung sowie umgeschaffene
Beziehungen die innere dichterische Form.
Diese ist in jedem einzelnen Falle ein Singulares. Verbindet
man das Verwandte in Gruppen, so tritt diejenige
innere dichterische Form hervor, welche einer Anzahl poetischer
Individuen gemeinsam ist, und das Problem entspringt, sie
aus dem Gemeinsamen der Bedingungen zu erklären. Andrerseits
ergiebt die Vergleichung einzelne elementare Gleichförmigkeiten,
welche sich in einem Kreise constant erhalten, und hier
entsteht, aus den einfachsten erreichbaren Thatsachen, die Aufgabe,
das regelmässige Antecedens einer solcher Gleichförmigkeit
aufzusuchen oder auch regelmässig gleichzeitige Erscheinungen
zu beobachten und den Zusammenhang hiervon zu erforschen.


  Die Vorgänge im Dichter gestalten die Bilder in der
Richtung dauernder Befriedigung um, und dann sind die so entstandenen
Bildelemente Träger von poetischen Wirkungen auf
Andere. Diese constanten Ursachen, aus welchen poetische
Wirkungen entspringen, haben wir als Principien entwickelt.
Dieselben können auch in Regeln oder Normen umgewandelt
werden. Ihre Zahl ist unbestimmt: denn jede constante Ursache
poetischer Wirkungen kann in die Formel eines solchen Princips
gebracht werden. Wir haben bei der Darstellung solcher Formeln
darauf Rücksicht genommen, den schon von der Aesthetik entwickelten
und unter diesen besonders den historisch bedeutsamen
ihre Stelle anzuweisen.


  Liessen sich nun aus der Verbindung dieser Regeln Ziele
und Mittel der Dichtungsarten vollständig ableiten, dann entstünde
eine allgemeingültige poetische Technik. Doch schon
die Unterschiede der drei Dichtungsarten lassen sich nur empirisch
an den uns erreichbaren ursprünglichen Unterschieden aufzeigen,
die wir bei den Naturvölkern antreffen. Die Lebensäusserungen,
in denen Lyrik, Epos und Drama hier zuerst auftreten, sind
psychologisch betrachtet so zusammengesetzt, und ihre psychologische
Deutung ist noch so unsicher, dass zur Zeit keine Hoffnung [432]
einer psychologischen Interpretation dieser Unterschiede
besteht. Es wäre verfehlt, diese Arten constructiv aus Wesen,
Ziel und Mitteln der Dichtung abzuleiten, und wenn viele
Aesthetiker das Drama für eine höhere Einheit von Lyrik und
Epos erklärt haben, so zeigt ein Blick in die Nachrichten von
den Naturvölkern, wie sehr sie irren. Auch kann die Technik
der einzelnen Dichtungsart nicht aus deren Ziel und Mitteln
abgeleitet werden. Dies kann Jeder erproben, indem er das
Verhältniss der Principien des poetischen Eindrucks zu einander
zu bestimmen sucht, nach ihnen Eindrücke möglichst wirkungsfähiger
Art ausgewählt und geordnet denkt und unter den Möglichkeiten,
welche die einzelnen Momente der inneren Form,
Stimmung, Fabel, Handlung, Charaktere etc., enthalten, eine
möglichst günstige Auswahl anstrebt. Dann macht sich die Unbestimmtheit
der Principien, der Mangel einer Abgrenzung ihrer
Zahl, einer Messbarkeit ihrer Werthabstufung und einer sicheren
Anordnung derselben nach inneren Beziehungen geltend. Also
ist eine allgemeingültige Technik der Poesie unmöglich. Dies
bestätigt sich an den wenigen Techniken der einzelnen Dichtungsarten,
die wir besitzen. Otto Ludwig hat mit dichterischem
Tiefsinn, nur vielleicht mit zu gesteigerter ästhetischer Feinhörigkeit
aus dem innersten Studium Shakespeare's eine allgemeingültige
Technik des Dramas zu abstrahiren unternommen. Er hat tiefer
als irgend ein Kenner Shakespeare's vor ihm in dessen technische
Geheimnisse geblickt. Er hat erwiesen, wie fein, fest
und folgerichtig die Technik dieses grössten Dramatikers ausgebildet
war. So kann man sein Buch als einen indirecten sehr
ingeniösen Nachweis davon ansehen, dass Shakespeare mit technischem
Bewusstsein die so ausserordentlich vollkommene Form des
classischen englischen Dramas geschaffen hat. Aber die allgemeingültige
Technik, welche er für den Gebrauch der Dramatiker
seiner Tage, zumal für seinen eigenen Gebrauch, gesucht
hat, fand er nicht. Was er als eine solche hingestellt hat, ist
nur ein in den Wolken sich verlierendes Idealbild der geschichtlichen
Technik Shakespeare's, und so musste auch die Liebe zu
demselben unfruchtbar bleiben. Gustav Freytag hat in seiner [433]
Technik des Dramas die Form der geschlossenen Handlung
wieder zur Geltung gebracht, die in dramatischem Unwesen verloren
gegangen war. Sein Buch ist in der schneidigen Consequenz
seines Grundgedankens ein wahres Handbuch dramatischer
Dichtung und Kritik. Er entwickelt aus den Anforderungen an
die wirkungsvollste Form der Handlung die Regeln des Dramas.
Diesem Körper der Handlung setzt er dann erst nachträglich
die tragische Seele ein. So hat er nur eine bestimmte, begrenzte
Form des Dramas abgeleitet, in der eine einheitlich geschlossene
Handlung durch ihre Stadien regelrecht hindurchgeführt wird. In
diesen Grenzen hat Freytag schöne Bemerkungen über die fünf
Theile des Dramas und die zwischen ihnen befindlichen drei
dramatischen Momente gemacht. Aber schon die verwickelteren
Formen der Tragödie Shakespeares lassen sich nicht auf Freytags
Schema der geschlossenen Handlung zurückführen. Denn
geht man der Linie nach, die von dem einfachen straffen Bau des
Macbeth zu dem verwickelten und scheinbar auseinanderfallenden
des Lear hinführt, so tritt ein merkwürdiger Unterschied der
tragischen Form hervor. Lear und Hamlet zeigen einen Reichthum
von Episoden und scharf aufgesetzten Contrasten gegen
die tragische Grundstimmung, der sich keineswegs zureichend aus
der Absicht erklärt, die Haupthandlung durch den Gegensatz zu
erleuchten. Ja sie enthalten vollkommen durchgeführte zweite
Handlungen, die den Zusammenhang durchbrechen und ebenfalls
um einer blossen Contrastwirkung willen nicht da sein können.
Man sieht bald, dass diese Stücke als Seelengemälde eine
strenge causale Verkettung weder bedürfen noch zulassen. Man
bemerkt zwischen den causal nicht miteinander verbundenen
Vorgängen ein inneres Verhältniss besonderer Art. In Hegels
Idee ist für dasselbe nur ein Vergleich und dazu ein unangemessener
Vergleich, nicht ein wirkliches Verständniss gefunden.
Schon Herder macht darauf aufmerksam, wie hier jeder Charakter,
ja jede Scene in so eigner Färbung erscheint, dass
man sie in kein anderes Stück versetzt denken könnte. Die
geheimnissvolle Seele des Dramas, welche in solchen Thatsachen
sich kundgiebt, tritt nicht etwa aus der Individualität des Dichters [434]
in die geschlossene Form der Handlung ein, sondern selbstherrlich
bestimmt sie das Gefüge einer Form, in welcher sie sich
auszuleben vermag. Man kann also nur aus dem geschichtlich
erarbeiteten Gehalte des Dramas die ihm zugehörige Form ververständlich
machen. Sie ist nicht allgemeingültig, sondern
relativ und geschichtlich.


  3. Das Erlebniss ist Grundlage der Poesie, und so zeigt
die niedrigste Civilisation überall die Dichtung mit primären
mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden;
solche sind Cultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend
in Pantomime, Gedächtniss der Stammesahnen; hier sind
schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt.


  Da mächtige Erregungen der Seele, sofern sie nicht zu
Willenshandlungen führen, sich in Laut und Geberde, in der
Verbindung von Sang und Dichtung äussern, so finden wir bei
den Naturvölkern die Dichtung an Cultushandlungen und Festfreude,
an Tanz und Spiel gebunden. Der Zusammenhang der
Poesie mit dem Mythos und religiösen Cultus, mit dem Glanz
der Feste und der Freude des Spiels, mit schöner, heiterer
Geselligkeit ist daher psychologisch begründet, in den ersten
Anfängen der Civilisation sichtbar, und er geht dann durch die
ganze Literaturgeschichte.


  Die Lyrik ist überall bei niederer Civilisation vom Gesang
ungetrennt. Die expansive, offene, heitere Natur des Negers
lässt Freude und Trauer in recitativischem Sang austönen, und
Lieder begleiten die mechanischen Thätigkeiten desselben.
Die Literaturgeschichte darf hoffen, die verschiedenen Stufen
der Ausbildung von Rhythmus, Reim und Form im Liede
einmal durch vergleichendes Verfahren feststellen zu können.
Die amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges
haben eine Liedform, in welcher das affectvoll Erregende in einer
einzigen Zeile ausgedrückt ist, und diese wird dann in endlosen
Wiederholungen vom Einzelnen und vom Chore gesungen.
„Wenn ich dem Feinde entgegengehe, zittert die Erde unter
meinen Füssen“, oder „das Haupt des Feindes ist abgeschnitten
und fällt mir zu Füssen“. Eine beliebte poetische Figur ihrer [435]
Lieder ist die Antiphrase, an der ja auch Kinder sich regelmässig
ergötzen; der Dakota lobt einen Tapferen mit den
Worten: „Freund, Du hast Dich von den Ojibway schlagen
lassen“. Die Danakil und Somali haben in der grossen Fülle
ihrer Gesänge einen bestimmten Rhythmus mit einer unvollkommenen
Cadenz und einem unvollkommenen Reim1).


  Epischer Sang geht schon bei den Naturvölkern von den
Thierfabeln bis zu dem epischen Lied als dem Element des
heroischen Epos. In Senegambien besteht ein besonderer erblicher
Stand der Sänger, Griots. Dass ihr epischer Sang auch
nach seinem Inhalt dem des griechischen Rhapsoden verwandt
ist, zeigt ein Bericht über die Weigerung der Königssöhne von
Kaarta, zu fliehen, weil sonst die Sänger Schande über sie
bringen würden. Und am Hofe des Königs von Dahomey wie
in Sulimana haben diese Sänger zugleich das Amt, die Geschichten
der Vergangenheit im Gedächtniss zu bewahren. Die
amerikanischen Eingeborenen im Osten des Felsengebirges erhalten
in der epischen Sage die Erinnerung an ihre Stammesgeschichte,
entwerfen aber auch frei erfundene epische Erzählungen,
die unserer Romanze oder Ballade vergleichbar sind.
So verlässt in einer solchen Erzählung die Seele eines Kriegers
das Schlachtfeld, zu sehen, wie tief man ihn betraure, oder ein
geliebtes Weib kehrt aus dem Jenseits zur Erde, die Trauer
über ihren frühen Tod zu erproben2).


  Die Völker niederster Civilisation zeigen auch auf dem Gebiet
des Dramas Keime und erste Gebilde, welche ganz mit
unseren Nachrichten und Schlüssen über Ursprung und Entfaltung
der dramatischen Kunst bei den höher stehenden Völkern
in Uebereinstimmung sind. Freude und Trauer, Liebe und
Zorn, die grösste Leidenschaftlichkeit, selbst die Religion und
ihr feierlicher Ernst äussern sich bei den Naturvölkern nicht
nur in Laut und Sang, sondern auch in Geberde, rhythmischer [436]
Bewegung und Tanz. So stellen sie die Annäherungen der
Liebe, wie das Zusammentreffen im Kriege dar. Der Tanz geht in
Pantomime über. Dann steigern besonders die indianischen
Stämme die Wirkung durch Anlegung von Masken. Die religiösen
und politischen Handlungen der Indianer finden wir von
solchen Pantomimen begleitet. Soll eine Unterhandlung zwischen
zwei Indianerstämmen stattfinden, so nähern sich die Botschafter
der einen Horde in feierlichem Tanz; sie überreichen die Pfeife
oder das Zeichen des Friedens, und die Sachems des andern
Lagers erwidern dies. Soll die Geburt eines Kindes gefeiert
oder der Tod eines Freundes betrauert werden, so geschieht
auch das hier in pantomimischen Tänzen, welche die Empfindung
des Augenblicks wiedergeben. Ja solche Pantomimen machen
einen Haupttheil des Cultus der Indianer aus. Sie werden vielfach
in Masken und Verkleidungen aufgeführt, und diese Aufführungen
kehren alljährlich wieder. Einundzwanzig solcher
pantomimischen Festtänze haben heute noch die Irokesen. Ein
Bär kommt so aus seiner Höhle hervor, dreimal muss er sich,
nachdem auf ihn Jagd gemacht worden ist, in dieselbe wieder
zurückziehen. Gerade die Thiermaske mit ihrer starken erschreckenden
oder auch komischen Wirkung ist besonders beliebt,
und sie ist der primitive Ausdruck jener Mischung des
Furchterregenden oder Lächerlichen mit dem Hässlichen, die
wir später als eines der wirksamsten poetischen Recepte kennen
lernen werden. Zwischen dem Tanz und der mimischen Darstellung
ist auf dieser niederen Stufe der Civilisation nirgend
eine Grenze. Ich möchte sagen, der Tanz wird hier allmälig
zur Kunstform für die dramatische Pantomime, wie es Metrum
und Reim für die poetische Sprache sind. Bei den Negern von
Akra tritt schon die lustige Person auf, deren Streiche mimisch
dargestellt werden1).


  4. Im Folgenden werden wir durchweg die Technik grösserer
dichterischer Gebilde, epischer oder dramatischer, erörtern.

[437]

  Jedes lebendige Werk grösseren Umfangs hat seinen
Stoff in einem Erlebten, Thatsächlichen und drückt in
letzter Instanz nur Erlebtes, gefühlsmässig umgestaltet
und verallgemeinert, aus. Daher darf in der Dichtung
keine Idee gesucht werden.


  Goethe bemerkt über die Wahlverwandtschaften, dass sie
keinen Strich enthalten, der nicht erlebt ist, aber auch keinen,
so wie er erlebt wurde. Aehnliche Mittheilungen von ihm über
andere Werke sind vorhanden. Die heutige Litteraturgeschichte
hat sich das Verdienst erworben, überall nach der stofflichen
Grundlage zu suchen. Sie fand bald persönliche Erfahrung, bald
Erzählung aus Vergangenheit oder Gegenwart, bald schon dichterische
Bearbeitung, zumal in der Novelle. Zuweilen ergab sich
ein einfacher Stoff, in anderen Fällen eine Combination von
solchen als Grundlage. Ueberall zeigte sich Thatsächlichkeit
als der letzte süsse und feste Kern jedes poetischen Werkes.


  Daher enthält ein dichterisches Werk jederzeit mehr, als in
einem allgemeinen Satz ausgedrückt werden kann, und gerade aus
diesem Ueberschuss fliesst seine packende Kraft. Jeder Versuch,
die Idee einer Dichtung von Goethe aufzusuchen, setzt
sich mit den ausdrücklichen Erklärungen Goethes selber in
Widerspruch. „Die Deutschen machen sich mit ihren Ideen, die
sie in Alles hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Habt
doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben,
euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, erheben,
belehren, zu etwas Grossem entflammen, aber denkt nicht
immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend ein abstracter
Gedanke oder Idee wäre.“ „Wenn durch die Phantasie nicht
Sachen entstünden, die für den Verstand ewig problematisch
bleiben, so wäre an der Phantasie nicht viel.“ „Je incommensurabler
und für den Verstand unfasslicher eine poetische Production,
desto besser.“ Er erfreut sich an dieser Unfassbarkeit
seiner grössten Werke und bemerkt richtig, wie sich in den
bedeutendsten derselben verschiedene Zustände seines Lebens und
wechselnde Ideen über diese zusammengeschoben haben und
so ihre Unfasslichkeit für den Verstand noch gewachsen ist. [438]
Schon aus diesem Grunde ist für ihn selber der Meister „eine
der incalculabelsten Productionen“; „ja, um sie zu beurtheilen,
fehle ihm beinahe selber der Massstab.“ Und den Faust nennt
er ausdrücklich etwas ganz „Incommensurables“ und findet alle
Versuche vergeblich, ihn dem Verstand näher zu bringen. In
welchem Sinne das Erlebte in der Dichtung dennoch zu allgemeingültiger
Bedeutung erhoben
wird, spricht er in
Bezug auf Wilhelm Meister aus. „Die Anfänge entsprangen aus
einem dunklen Gefühl der grossen Wahrheit, dass der Mensch oft
etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt
ist. Und doch ist es möglich, dass alle die falschen Schritte
zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich
im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt,
ja zuletzt in den klaren Worten ausspricht: Du kommst mir vor
wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen
zu suchen, und ein Königreich fand.“


  Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten
werden, wie sie noch gegenwärtig unter dem Einfluss
der Aesthetik Hegels herrscht. Ich wähle ein Beispiel. Der
Versuch, die Idee des Hamlet auszusprechen, ist immer wieder
gemacht worden. Doch kann nur die ganz incommensurable
Thatsächlichkeit, dem Dichter nachstammelnd, beschrieben werden,
welche er in seinem Drama zu allgemeingültiger Bedeutung erhoben
hat. Da er nämlich ein feines und starkes sittliches Gefühl,
im Zusammenhang mit der protestantischen Religiosität
seiner Tage, in sich ausgebildet hatte, gerieth dasselbe vielfach
in widrige Berührung mit den zweifelhaften moralischen Verhältnissen,
in denen er sich emporarbeitete. Hieraus entsprang
ihm neben der Freude einer grossen Natur an der heroischen
Leidenschaft, an dem Glück und Glanz dieser Welt ein sehr
tiefes Gefühl ihrer Gebrechlichkeit und moralischen Schadhaftigkeit.
Das englische Drama vor ihm hat durch die stärksten
Contraste und die verwegensten Effecte, durch blutige Abenteuer
und komische Situationen, durch sinnliche Lebensmacht und
tragischen Tod gewirkt. Shakespeares Energie der sittlichen Gefühle
brachte in dasselbe den inneren Zusammenhang von Charakter, [439]
Leidenschaft, tragischer Schuld und Untergang, sowie die Nebenordnung
verwandter Handlungen, und schuf so die Technik der
classischen englischen Tragödie. Aber dieselbe Stärke seiner
moralischen Gefühle hatte früh Erfahrungen und Urtheile über
den Charakter der Welt, wie sie in seinen Sonetten vorliegen,
zur Folge. Als er nun die Hamletsage kennen lernte, fand er
hier das furchtbarste Symbol für die moralische Gebrechlichkeit
der Welt. Ein zartbesaitetes sittliches Gemüth muss die eigene
Mutter schuldig finden, ja verachten, und den Vater an ihrem
Gemahl, dem König, rächen. Er verknüpfte nun hiermit
Bilder der ihm nur allzu bekannten höfischen Corruption. Hatte
das Problem des Wahnsinns ihn immer beschäftigt, so wob er
dann in die Fabel ein weiteres Symbol menschlicher Gebrechlichkeit;
er liess die schreckliche Verwandtschaft zwischen den
sinnlichen Kräften einer reinen Mädchenseele und den Bildern,
die im Wahnsinn über sie hereinbrechen, in Ophelien gewahren.
Die auf dieser Grundlage in Spiel und Gegenspiel entworfene
Handlung gestattet eine verschiedene Interpretation. Aber soviel
sieht man doch deutlich, wie hier im Erlebniss des Dichters
und in den erschütternden Symbolen für dasselbe ein Kern des
Dramas liegt, der in keinem Satze ausgesprochen werden kann.
In der Seele des erschütterten Zuschauers geht dann Alles
zu einer nur bildmässigen und gefühlten Einheit der tiefsten
Lebenserfahrungen zusammen, und das ist eben, was Poesie ihm
sagen will.


  In dem Verhältniss des Bildens zum Stoff zeigen sich dann
Grenzen der dichterischen Einbildungskraft. Die
Abhängigkeit der epischen Poesie von Mythos und Sage während
der heroischen Zeit der Völker ist von der Philologie im Einzelnen
festgestellt worden. Aber auch von der Tragödie kann
der Satz aufgestellt werden:


  Jede lebendige Tragödie entsteht, indem dem dichterischen
Schaffen eine äussere Thatsächlichkeit, Bericht,
Novelle etc. wie unerbittliche Wirklichkeit gegenübertritt.
Nun strebt die Einbildung, diesem Wirklichen
Einheit, Innerlichkeit und Bedeutung zu geben. In dem [440]
Maasse, in welchem die Sprödigkeit des Factischen sich
als unbezwinglich erweist, entspringt der Handlung und
den Personen hieraus eine besondere Art von Illusion
und Wirkungskraft.


  5. Die Transformation des Stoffes zu dem dichterischen
Werke hat überall mit dem Mittel zu rechnen, in welchem
der Bildzusammenhang erscheint. Von diesem findet sie sich
überall bedingt. Aber hier ist nun entscheidend, dass dies
Mittel nicht einfach in dem sprachlichen Ausdruck, in der Folge
der Worte gesehen werden darf.


  Das Mittel, in welchem der Bildzusammenhang erscheint,
ist nach seinem ersten Momente die Folge der
Worte in der Zeit. Die dichterische Formation dieses
Mittels für das Gefühl ist in der Anordnung der Tonqualitäten,
in dem Rhythmus und in der Periodisirung
gegeben. Da die Energie des Gefühls die metrischen
Verhältnisse bedingt, hat die vergleichende Metrik nicht
von den Beziehungen der Zeitdauer, sondern von denen
zwischen der Energie des vom Gefühl angeregten Stimmvorgangs,
den Widerständen, die er zu überwinden hat,
der steigenden und sinkenden Bewegung etc. auszugehen.
Das andere Moment des Mittels, in welchem der Bildzusammenhang
sich aufbaut und als Ganzes besteht,
ist der durch die Erinnerung ermöglichte Zusammenhang
der Vorgänge in der Phantasie des Hörers oder
Lesers.


  Wir fanden Principien poetischer Wirkung im einzelnen
Ton, in den Verhältnissen der Töne, in dem wechselnden Rhythmus
und den Beziehungen dieser sinnlichen Eigenschaften der
Wortfolge zu dem Spiel seelischer Zustände. Hier gewahren wir
das erste Moment des Mittels, in welchem poetische
Bilder,
die doch zunächst ein innerlicher Besitz des Dichters
sind, auch für einen Leser oder Hörer sichtbar werden.
Die psychologische Interpretation dieses Moments ist von dem
empirischen, vergleichenden Studium solcher dichterischen Darstellungsmittel
abhängig. Aristoteles hat das Band zwischen [441]
dem Gegenstande der Poesie und ihrer metrischen Form noch
nicht gesehen. Ihm stehen als die beiden αἰτίαι φυσικαί der
Dichtkunst der Nachahmungstrieb und der uns gleichfalls angeborene
Sinn für Tact und Harmonie (worin der Sinn für
metrische Form eingeschlossen ist) unvermittelt neben einander1).
Hiervon lag der Grund in seinem einseitigen Princip der Nachahmung.
Unsere psychologische Grundlegung hat den Zusammenhang
aufgezeigt. Das Gefühlsmässige der Handlungen und
Charaktere tritt auch in dem Darstellungsmittel der Sprache,
und zwar durch die Einbildungskraft gesteigert, hervor. Es besteht
ein ursprüngliches Verhältniss zwischen den Bewegungen
der Gefühle, den Spannungen des Willens, dem schnelleren oder
langsameren Ablauf der Vorstellungen und dem Ton, seiner
Stärke, Höhe, schnellen oder feierlichen Abfolge, seinem Steigen
oder Fallen. Die Stärke und Beschaffenheit der Gefühle, die
Energie der Willensspannung, der leichte, ja sich überstürzende
Fluss der Vorstellungen in gehobener Stimmung, das Stocken
derselben im Schmerz stehen in festen physiologisch bedingten
Verhältnissen zur Höhe, Stärke und Geschwindigkeit der Töne.
Diese werden erfahren in der betonten Rede. Wir dürfen annehmen,
dass in den primitiven Zeiten bei grösserer Stärke des
Gefühlsgehaltes die Rede dem Recitativischen näher stand. Von
hier entnahm die Musik die Schemata der Melodieen, wie sich
deutlich aus der nationalen Verschiedenheit derselben nachweisen
lässt. Hier war auch der Ursprung des Metrums,
welches ja zunächst mit dem Recitativischen oder Gesangsmässigen
sowie mit dem Tanze noch verbunden war. So ergiebt
sich, dass nicht die Verhältnisse der Zeitdauer für sich als
primäre metrische Thatsachen zu betrachten sind, sondern die
Verhältnisse von Energie, Widerstand, steigender und sinkender
Bewegung etc. Aber der Versuch, Principien der metrischen
Form zu finden, ist hoffnungslos, so lange mit der feineren
Kenntniss der Sprachen der Naturvölker auch die ihrer metrischen
Formen uns fehlt. Wir unterscheiden mit Mühe die metrische [442]
Wirkung der Wiederholung von Worten, den Refrain, die einfache
Abzählung von Silben etc. (Tylor, Anthrop. S. 343 ff.
Waitz IV 476).


  Das andere Moment des Mittels, in welchem ein
Bild als Ganzes auffassbar wird, ist der durch das Gedächtniss
hergestellte Zusammenhang. Nicht in den verklingenden Worten,
deren eines das andere verdrängt, sondern in dem, was vermittelst
ihrer im Hörer sich aufbaut, ist die Handlung, der
Charakter als Ganzes ausserhalb des Dichters wirklich. In diesem
Mittel stellt sich nun der Verlauf des Seelenlebens auf die angemessenste
Weise dar. Handlung, Seelenvorgang sind das der
Poesie entsprechende Object. Dagegen muss das Simultane des
Bildes erst durch eine Abfolge hergestellt werden, in welcher
die einzelnen Bildbestandtheile festgehalten, erinnert, auf einander
bezogen und an einander gesetzt werden. Da nun nach der
Natur des ästhetischen Eindrucks jeder Moment für sich Befriedigung
gewähren soll, eine längere Schilderung aber durch
unfertige Bestandtheile ermüdet, so muss der Kunstgriff angewandt
werden, durch Handlungen, welche schon in ihren
einzelnen Gliedern das Auffassen befriedigend beschäftigen, den
Bildzusammenhang herzustellen. So wird das Lessing'sche
Gesetz
in Bezug auf seine Fassung und Begründung eine Fortbildung
erfahren müssen. Daraus, dass die Worte einander in
der Zeit folgen, ergiebt sich noch nicht, dass der in der Seele entstehende
Bildzusammenhang auf das Successive einzuschränken sei.


  Der Folge der Worte entspricht am besten die Handlung,
da deren einzelne Glieder schon, jedes für sich,
eine Befriedigung gewähren, während zugleich jedes zum
Aufbau des Ganzen in der Seele etwas beiträgt. Daher
ist die Darstellung des Simultanen nur in dem Verhältniss
Gegenstand der Poesie, als sie entweder naturgemäss
durch Handlungen bewirkt wird (Charakter)
oder durch einen Kunstgriff in die Form der Handlung
gebracht werden kann (äusseres Object, körperliche
Schönheit).


  6. Wir erörtern nun die Verfahrungsweise, durch [443]
welche das dichterische Schaffen unter den Bedingungen
seines Mittels Werke hervorbringt, und hier tritt uns eine
doppelte Richtung des Verfahrens entgegen, welche in der Natur
des Erlebnisses angelegt ist.


  Wie in der Wissenschaft inductives und deductives
Verfahren sich trennen und mannigfach zusammenwirken,
so sind im Erlebniss zwei Arten des Phantasievorgangs
angelegt: der subjective Zustand wird in dem
Symbol eines äusseren Vorgangs versinnlicht, die äussere
Thatsächlichkeit wird verinnerlicht. Hiernach scheiden
sich subjective und objective Dichter.


  Ich habe dieses Grundverhältniss in der Phantasie zuerst
in einer Abhandlung „Ueber die Einbildungskraft der Dichter“1)
entwickelt und auf literarhistorischem Wege zu begründen
unternommen. Schon Schiller stellte zwei Grundstimmungen
der Phantasie, die naive und sentimentalische, einander gegenüber.
Er bezeichnete so nicht Epochen der Literatur, sondern
Grundverfassungen der Dichter. Ich versuchte nun den am
meisten elementaren Unterschied in dem Verfahren
der Phantasie an dem literarhistorischen Material zu erkennen,
da der von Schiller aufgestellte ein sehr zusammengesetzter
und historisch bedingter ist. Die vorliegende Untersuchung
bestätigt psychologisch den durch literarische Methode
aufgefundenen Unterschied.


  Jede zusammengesetzte Untersuchung verknüpft inductive
und deductive Verfahrungsweise. So muss auch jedes grössere
dichterische Werk beide Richtungen des Phantasievorgangs vereinigen.
Doch überwiegt in Dichtern wie Shakespeare und [444]
Dickens ganz die dichterische Belebung der Bilder, welche die
Aussenwelt
ihnen bietet. Shakespeare scheint mit den Augen
aller Menschenarten in die Welt zu blicken. Er lebt mit seinem
Montaigne in der Analyse menschlicher Charaktere und Leidenschaften.
Er liefert in seinen grossen Dramen gleichsam Präparate
der Hauptaffecte. So scheint er ganz in solcher Hingabe
an die ihm gegenübertretende Wirklichkeit aufgegangen zu sein.
Wenn wir das in ihm nur aus seinen Werken schliessen, so sehen
wir es in Dickens. Dieser lebte in derselben Gesellschaft mit
Carlyle und Stuart Mill. Er liebte Carlyle. Aber in ihm war
nichts von dessen tiefsinniger Grübelei über die letzten Fragen
des Lebens. Auffassung der Gesellschaft um ihn, in Liebe und
Hass, unermüdliche Beobachtung der Menschennatur, mit dem
tiefen Blick, den der Glaube an die Menschheit giebt, und die
Ausbildung aller denkbaren Kunstgriffe des modernen Romans,
durch welche er der wahre Schöpfer dieser Kunstform wurde:
das erfüllte sein Leben. Dagegen ist der Faust Goethes aus
Lebensmomenten des Dichters selber zusammengesetzt.
So ist überhaupt in der Regel sein Verfahren. Für ein inneres
Erlebniss findet sich ein allgemein interessirender Vorgang. Mit
einem Schlage, durch Inspiration vollzieht sich eine Verschmelzung,
nud nun beginnt. ein Process langsamer Metamorphose und Ergänzung
an dem gefundenen Symbol. Jahrelang trägt er in dies
Gefäss einer vorgefundenen oder ersonnenen Geschichte seine
Leiden und Freuden, die Conflicte seines Herzens, die tiefsten
Erschütterungen seines Gemüthes. Manchmal ein halbes Leben
hindurch. „Auch bildet Faust keine Ausnahme in Bezug
auf Charakteristik, er ist nur der Gipfelpunkt dieser Kunst.
In Goethe's flüchtigsten Zetteln, in seinen lyrischen Gedichten
erscheint sein wunderbares Vermögen, Zustände auf
ihrem thatsächlichen Hintergrund als Bilder hinzustellen, auf
das zarteste auszudrücken und in Tropen zu veranschaulichen.
Dann stellt er, was ihn bewegt, in dem grossen
Tropus einer Handlung dar, welche in schöner Verkleidung das
innerste Erleben auszusprechen gestattet. Lauter und rein, wie
die Natur selber, stellt er dies Alles hin; nie ist Jemand wahrer [445]
gewesen. So wird Goethe, in seinen Selbst-Darstellungen aufgefasst,
das verkörperte Ideal seines Zeitalters, und Faust ist der
umfassende Tropus, in welchem er sein ganzes Leben erblicken
liess.“ Wie ich in solchen Sätzen in der bezeichneten Abhandlung
die poetische Technik Goethes zu entwickeln gesucht habe, so
könnte auch die der beiden grossen pathologischen Dichter,
Rousseau und Byron, aus solcher Verfahrungsart der Phantasie
anschaulich erklärt werden. In seiner ersten Epoche hat ebenso
Schiller vorwiegend aus seinen eigenen persönlichen Zuständen
das innere Leben seiner Helden geschöpft.


  7. Die Transformation des Stoffes vollzieht sich von
den Gefühlen aus, diese aber sind sehr zusammengesetzt.
Wir nennen ein Aggregat von Gefühlen, dessen Bestandtheile
nicht heftig und stark auftreten, aber längere
Dauer und grosse Expansivkraft haben, eine Stimmung. Gefühlsverbindungen
solcher Art sind nach ihren Eigenschaften für
poetisches Schaffen und poetischen Eindruck geeignet. Wir
nennen sie dann poetische Stimmungen. Die Stimmung,
die in der Hervorbringung eines Werkes wirkt, wird auch durch
das Auffassen desselben hervorgerufen.


  Poetische Stimmungen, Aggregate von Gefühlen, die
nicht heftig wirken, aber andauern und sich allen Vorgängen
mittheilen, bewirken die Veränderungen in den
Bildern nach den dargestellten Gesetzen. Die Mannigfaltigkeit
solcher Gefühlsaggregate ist unbegrenzt. Aber
die geschichtliche Continuität in der dichterischen Technik
hat zur Folge, dass an bevorzugten Punkten dieser
Mannigfaltigkeit, welche für dichterisches Schaffen und
Geniessen besonders günstig sind, poetische Stimmungen
festgehalten, ausgebildet und durch Werke überliefert
werden. Sie stellen sich in den ästhetischen Kategorien
des Ideal-Schönen, Erhabenen, Tragischen, in welches
dann das Hässliche gemischt sein kann, andrerseits des
Rührenden, des Komischen und des Anmuthigen oder
Zierlichen dar.


  Psychologie und Literaturgeschichte werden gemeinsam die [446]
Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen
Stimmungen, dann deren Beziehungen zu einander und besonders
ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu
untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der
Dialektik von Hegel, Solger, Weisse etc., die natürlich in diesen
nachgiebigen, elastischen Thatsachen den ergiebigsten Stoff
fand. Bezeichnet die Kategorie des Schönen den Zustand, in
welchem das Object in völliger Angemessenheit an das auffassende
Seelenleben, ohne Störung und Unlustgefühl, die
Seele erfüllt und gänzlich befriedigt, so schliessen sich nach der
einen Seite Gefühlsaggregate an, welche durch die überragende
Grösse des Gegenstandes ihr Gepräge erhalten, während in den
Seelenzuständen der anderen Seite das Subject sich über dem
Gegenstande fühlt. In beiden Hälften der Linie, deren Mitte
das Idealschöne bildet, entsteht schon hieraus eine Beimischung
von Unlust, und aus deren Auflösung ein eigenthümlich
Angenehmes. In dem einen Fall ist für das Gefühl etwas
Uebergrosses in der Bedeutung des Objectes zu überwinden,
im andern Falle etwas Geringes.


  Die Stimmung, in welcher ein Object erhaben erscheint,
enthält, wie Burke unwidersprechlich erwiesen hat, irgend etwas
von Furcht, Schrecken, Staunen in sich. Sie ist daher stets
mit einer Unlusterregung gemischt. Indem sie aber das Seelenleben
gleichsam zur Grösse des Objectes erweitert, mag diese
Grösse in dem räumlich Unermesslichen oder in dem physisch
Uebermächtigen oder dem Willens- und Geistesmächtigen bestehen:
entspringt eine anhaltende starke Erregung: das eigenthümlich
angenehme Gefühl tritt auf, das wir als Erhebung bezeichnen.
In dem Tragischen ist die Zusammensetzung der Gefühle
eine noch grössere. Denn das Unglück des Helden fügt der
Furcht, welche sein heldenhafter Charakter, zugleich aber auch
das Schicksal als Gegenspieler hervorrufen, das Mitleid bei. „Das
grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn
es den Menschen zermalmt.“ So entsteht eine Steigerung derjenigen
Erregung, die im Erhabenen liegt. Das Tragische nimmt
eine bevorzugte Stellung ein. Denn es verbindet eine ergreifende [447]
Handlung mit einem reinen Schluss, dabei drückt es den
Charakter des Wirklichen aus (wie man denn in ihm ein Gesetz
der wirklichen Welt hat finden wollen) und befriedigt so den
Verstand. In das Tragische kann als ein weiterer Bestandtheil
das Unlustgefühl eintreten, welches durch die ästhetische Kategorie
der Hässlichkeit bezeichnet wird. Die Frage, ob das Hässliche
Gegenstand der Kunst sein könne, entsteht nur aus einer unglücklichen
abstracten Ausdrucksweise. Denn die Eigenschaft des
Hässlichen ist immer ein untergeordneter Bestandtheil an dem
ästhetischen Gegenstande, welchen die Poesie hinstellt; sie wirkt
stets nur indirect ästhetisch, und die in ihr enthaltene Unlust muss
in dem Aggregat der Gefühle überwogen und in der Abfolge
derselben in Befriedigung übergeführt werden. Es giebt sonach
bestimmte ästhetische Orte, an denen das Hässliche auftreten
darf. Einen solchen Ort bezeichnet die Verbindung des Erhabenen
als eines Furchtbaren mit dem Hässlichen. So steigern
schon Bemalungen und Masken der Wilden durch die Hässlichkeit
den Eindruck des Furchtbaren. Dieselbe Steigerung des
Schreckens wird durch Dantes Zeichnung des Cerberus oder des
Höllenrichters Minos und durch die Missgestalt Richards III
hervorgebracht. Von demselben starken Recept haben Victor
Hugo sowie die französischen Romantiker einen übermässigen
Gebrauch gemacht, und Dickens bedient sich desselben für seine
schlimmsten Bösewichter. Die Erhabenheit des Bösen ist das
Dämonische. Auch das furchtbare Böse ist schliesslich erhaben.
Es ist erhaben, wenn Adah, Kains Weib, von Lucifer
sagt: „In seinem Blick liegt eine Macht, die mein unstetes
Auge auf seines heftet.“ Der Mensch, für dessen Willen keine
Schranken sind, wird der Naturgewalt selber ähnlich. Er wirkt
Schrecken um sich. Er ist einsam mitten in der Gesellschaft,
wie das Raubthier. Zu dieser Mischung des Erhabenen, Tragischen
und Bösen kann sich dann noch das Hässliche gesellen.
Die Grenzen des ästhetischen Eindrucks werden hier berührt.


  Wir dachten das Schöne als die Mitte auf einer Linie von
poetischen Stimmungen. Die andere der beiden Seiten wird nun
durch die Stimmungen gebildet, in denen das Gefühl etwas Geringes [448]
an dem Gegenstand überwinden muss. Dem Rührenden
fehlt schon das Siegreiche der Schönheit und so ist ihm ein leises
Unlustgefühl der angegebenen Art beigemischt. Das Komische
entsteht und wird genossen in einer poetischen Stimmung, die
auf derselben Seite liegt. Zwar wird das Lachen durch
ausserordentlich verschiedene Vorstellungen oder Beziehungen
derselben hervorgerufen. Das Lachen, welches das Unfassbare,
das unüberwindlich Plagende oder das Verächtliche erregt, hat
mit dem Lachen, welches die witzigen Gedankenverbindungen
hervorrufen, nur einen schwer errathbaren Grundzug in dem
seelischen Vorgang und den uns unbekannten Zusammenhang von
diesem Seelenvorgang bis zu der erfolgenden plötzlichen Explosion
gemein. In jedem dieser Fälle ruft ein Contrast eine seelische Erschütterung
hervor, welche sich auf dem Gebiete der Respiration
entladet, auf welchem auch andere Seelenzustände sich in
Seufzen, Schluchzen, zornigem Schnauben äussern. Aber die
poetische Stimmung, in welcher das Komische als Situation,
Vorgang oder Charakter entsteht und genossen wird, beruht auf
einer besonderen Art des lachenerregenden Contrastes. Geringes,
Niedriges oder Thörichtes macht sich hier irgendwie
dem Idealen, Schicklichen oder auch nur äusserlich Würdigen
gegenüber geltend. Die bevorzugte Stelle dieser poetischen
Stimmung ist dadurch bedingt, dass sich nur vermittelst ihrer auf
dem Standpunkte des vollen wirklichkeitsdurstigen Realismus
die Discrepanzen des Aeusseren und Inneren, der Ansprüche
und des Werthes, des Ideals und der Erscheinungen durch ein
indirectes Verfahren in einen ästhetischen Seelenzustand auflösen
lassen. Hier ist dann wieder ein Ort, an welchem die
Beimischung des Hässlichen ästhetisch wirksam ist, ja eine
Dosis Unanständigkeit kann in das Recept aufgenommen werden.
Jean Pauls Katzenberger und gar manche Figuren von Dickens
bezeugen das Eine, Situationen bei Sterne und Swift beweisen
das Andere. Wir gleiten auf der Linie des Geringen weiter,
indem wir die Stimmungen betrachten, in denen das zierlich
Anmuthige,
das Naive, das Kleine poetisch hingestellt
oder genossen wird.

[449]

  Die poetischen Stimmungen stehen zu den dargestellten
Gesetzen der Umbildung des Stoffes in Verhältnissen, welche
eine fruchtbare Causalbetrachtung zulassen. Die idealische
Stimmung erwirkt Ausschaltungen, die erhabene Steigerungen,
das Zierliche geniessen wir, indem wir es noch herabmindern:
ein weites Feld psychologisch ästhetischer Forschung thut sich
hier auf.


  8. Wie wir an einem Naturkörper Dichtigkeit, Schwere,
Wärmezustand trennen und nun diese allgemeinen Eigenschaften
aller Körper isolirt untersuchen, wie wir die Functionen
des thierischen Stoffwechsels, der Empfindung und der willkürlichen
Bewegung in der Physiologie des thierischen Körpers
sondern und studiren: so trennen wir an dem dichterischen
Werke Stoff, poetische Stimmung, Motiv, Fabel,
Charaktere, Handlung
und Darstellungsmittel. Die
Causalbeziehung innerhalb eines jeden dieser Momente einer
Dichtung wird studirt werden müssen; auf diesem Wege erst
wird eine Causalerklärung dieser Geschöpfe der Einbildungskraft
möglich. Wir erörtern nun das Motiv.


  An dem Stoff der Wirklichkeit wird durch den
dichterischen Vorgang ein Lebensverhältniss in seiner
Bedeutsamkeit aufgefasst; was so entsteht, ist eine
Triebkraft, durch welche Transformation in das poetisch
Bewegende erwirkt wird. Das Lebensverhältniss, so
erfasst, gefühlt, verallgemeinert und dadurch Wirkungskraft
dieser Art geworden, wird Motiv genannt. In
einer grösseren Dichtung wirkt eine Anzahl von Motiven
zusammen. Unter ihnen muss ein herrschendes
die Triebkraft haben, die Einheit der ganzen Dichtung
herzustellen. Die Zahl möglicher Motive ist begrenzt,
und es ist eine Aufgabe der vergleichenden Literaturgeschichte,
die Entwicklung der einzelnen Motive darzustellen.



  Die Transformation eines Stoffes unter der Einwirkung der
poetischen Stimmungen, deren der Stoff mannigfache und contrastirende
erregen kann, ist nun weiter davon abhängig, dass [450]
die im Stoff enthaltenen Lebensverhältnisse nach ihrer Bedeutsamkeit,
d. h. in ihrem allgemeingültigen Werthe für das menschliche
Gefühlsleben ergriffen werden. Sofern ein Lebensverhältniss
in dieser Bedeutsamkeit aufgefasst wird und folgerecht seine Vorstellung
die Triebkraft empfängt, dichterische Transformation zu
erwirken, nennen wir es Motiv. Sowohl Goethe als Schiller
bedienen sich dieses Begriffes, und Goethe giebt in seinen
Sprüchen wenigstens für das engere Gebiet der tragischen
Dichtung eine Begriffsbestimmung. Dieselbe ist mit der eben
entworfenen in Uebereinstimmung. „Des tragischen Dichters
Aufgabe und Thun ist nichts Anderes als ein psychisch-sittliches
Phänomen, in einem fasslichen Experiment dargestellt, in der
Vergangenheit nachzuweisen“ (Sprüche in Prosa, Ausg. Löper
772). „Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene
des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen
werden, und die der Dichter nur als historische nachweist“
(773). Ein solches Motiv ist die Anziehungskraft des Wassers,
insbesondere der dunklen Wassermassen in der Nacht: Undine
ist seine Verkörperung.


  Motive sind in der Wirklichkeit nur in einer begrenzten
Zahl
gegeben. Das hob schon Gozzi hervor; er hatte behauptet,
es gebe nur 36 (herrschende) Motive zu einem
Trauerspiel, und diese Frage bildete ein Lieblingsproblem
Goethes im Gespräch: mit Eckermann, Schiller und dem
Kanzler Müller ist darüber verhandelt worden. Die so begrenzte
Gliederung der Motive kann nur durch die Verknüpfung
eines vergleichenden literar-historischen Verfahrens mit
psychologischer Analyse bestimmt werden, und ein solches Verfahren
vermöchte denn auch die Entwicklungsgeschichte solcher
Motive zu erfassen.


  In einem grösseren dichterischen Werke wird ein Mannigfaches
solcher Motive verknüpft, doch muss eines derselben vorherrschen.
Vermöge der Heraushebung und bewussten Handhabung
der Motive erhellt sich gleichsam der an sich dunkle Grund
des Erlebnisses, dessen Bedeutsamkeit so wenigstens theilweise
durchsichtig gemacht wird. Ich erläutere dies wichtige Verhältniss [451]
am Faust. Goethe lebte sammt seinen Genossen in dem
Glauben Rousseaus an die Autonomie der Person in der Totalität
ihrer Gemüthskräfte. So fand er in sich als Erlebniss das
Streben des Individuums nach unbegrenzter Entfaltung in Erkenntniss,
Genuss und Thätigkeit. Dies Streben war von dem
muthigen Glauben getragen, dass sich der Mensch „in seinem
dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst“ sei. Da
dieser Zustand aus der geistigen Lage der Zeit entsprungen war,
hatte er eine ausserordentlich starke Erregungskraft und etwas
Allgemeingültiges. Nun fand Goethe das Symbol für ihn in der
Faustsage: ein Gefäss, das allen Drang und Sturm, alle Leiden und
Freuden jener Tage in sich aufnehmen konnte. Dieser dunkelhelle,
partikular-allgemeine Gehalt entfaltete sich nur mit Goethes
Leben selber, da ja das Leben den Gegenstand ausmachte. Der
Dichter erfuhr nach einander den ungestümen Drang der Jugendtage
sowie die in ihm liegenden furchtbaren Gefahren; dann in
Weimar die Reinigung des Herzens durch die Anschauung und durch
den Besitz der Welt im Anschauen allein: jene cognitio intuitiva und
jenen amor dei intellectualis Spinozas auf dem Grunde der Resignation,
welche in dem Poeten zugleich künstlerisches Betrachten
waren. Aus der ästhetischen Erziehung erhob sich ihm dann die
Kraft zu einer reinen ins Ganze gehenden Thätigkeit. Es ist sein
und Schillers Ideal menschlicher Entfaltung, aus den tiefsten
Erfahrungen des eigenen Herzens geschöpft, was so den Gang
des Faustgedichtes bestimmt hat. Nun sind mannigfache Motive
in der Faustsage enthalten gewesen, und andere wurden von
Goethe hinzugedichtet. So erhält die Bedeutsamkeit des Erlebnisses
gleichsam ihre Articulation. Aber wieder sehen wir
an diesem Punkte, dass eine grosse Dichtung in ihrem Kern
irrational, incommensurabel ist wie das Leben selber, welches
sie darstellt. Und das hat Goethe vom Faust ausdrücklich
gesagt.


  9. Indem alle genetischen Momente zusammenwirken,
entsteht in beständigen Umbildungen ein Gefüge der Dichtung,
welches gleichsam vor den Augen des Poeten steht, ehe er die
Einzelausführung beginnen kann. Die aristotelische Poetik bezeichnet [452]
es als μῦθος1), die unsere hat aus der Fabula der
Römer die Bezeichnung Fabel dafür gebildet. In ihr sind
Charaktere und Handlungen mit einander verflochten. Denn die
Person und ihr Thun oder Leiden, der Held und seine Handlungen
sind nur zwei Seiten desselben Thatbestandes. Ohne die Gestalt
des Mörders ist der Vorgang des Mordes eine Abstraction.
Die Einbildungskraft aber lebt nur in Bildern.


  Die Fabel, das ausgebildete Grundgefüge einer Dichtung
von grösserem Umfang steht vor dem epischen oder
dramatischen Dichter fertig da, bevor die Ausführung
beginnt. Sie wird in der Regel von ihm aufgezeichnet.
Die Literaturgeschichte besitzt ein zureichendes Material,
dieses Stadium des Schaffens an solchen Fabeln festzustellen
und deren Grundeigenschaften und Hauptformen
durch vergleichendes Verfahren zu entwickeln.


  Wie überall in der Natur gelangen auch innerhalb des
dichterischen Schaffens nur wenige der vorhandenen Keime zur
Reife. So bewahrt die Literaturgeschichte eine erhebliche Zahl
dramatischer Entwürfe auf, die nicht zur Ausführung gelangten.
Belehrender ist doch die Vergleichung ausgeführter
Dramen mit ihrem Entwurf. Wir können in die Werkstatt von
Schiller, Lessing, Goethe, Kleist, Otto Ludwig so hineinsehen und
einiges von ihren Atelier-Geheimnissen erlauschen. Schiller hat
manchen Entwürfen eine Darstellung der historischen und socialen
Situation vorausgeschickt. Andere Dichter eilen in solcher Darstellung
der Fabel sofort zu den Schlagscenen hin, die den
Kern der dramatischen Wirkung enthalten.


  Der epische Dichter bedarf nicht einer so strengen Führung
der Handlung als der dramatische. Die ihm vorschwebende
Fabel der Handlung scheint daher nicht so nothwendig eine
Aufzeichnung zu fordern. Dass Walter Scott seine Fabel aufzuschreiben
pflegte, scheint aus folgender Stelle in der Einleitung [453]
zu the fortunes of Nigel hervorzugehen. „Hauptmann: Wenigstens
sollen Sie sich Zeit nehmen, Ihre Geschichte zu ordnen.
Verfasser: Das ist ein harter Punkt für mich, mein Sohn.
Glauben Sie mir, ich bin nicht so thöricht gewesen, die gewöhnliche
Vorsicht zu vernachlässigen. Ich habe mein künftiges
Werk zu wiederholten Malen abgewogen, es in Bände und Capitel
eingetheilt und mich bemüht, eine Geschichte zusammenzufügen,
welche sich stufenweise und schlagend entwickelte, die
Spannung erhielt und die Neugier reizte und zuletzt in einer
packenden Katastrophe endigte. Aber ich glaube, ein böser
Geist setzt sich mir auf die Feder, wenn ich anfange zu schreiben
und lenkt sie anders, als ich will. Die Charaktere dehnen
sich unter der Hand, die Vorfälle mehren sich, die Geschichte
stockt, während der Stoff anschwillt; mein regelrechtes Haus
wird zu verschnörkelter Gothik und das Werk ist geschlossen, ehe
ich das Ziel erreiche, das ich mir vorgesteckt.“ ─ Balzac schrieb
nicht nur ein Scenarium nieder, sondern liess es in schmalen
Colonnen auf breiten Fahnen drucken. Aus den Erweiterungen
dieses Scenariums bildete sich in mindestens einem halben
Dutzend Drucken sein Roman (Gautier p. 73). ─ Spielhagen
erzählt Folgendes in seiner Technik des Romans (S. 26), welche
so reich an technischen Einsichten ist, wie eben nur Mittheilungen
eines Dichters es sein können. Vor der Ausarbeitung fertigt er
eine Liste der Personen an, soweit er sie schon kennt, und zwar
mit ihrem Signalement; ebenso entwirft er einen Aufriss des
Planes. Eine detaillirte Aufzeichnung wird dann bald durch
den unwiderstehlichen Drang, zur Ausführung selber überzugehen,
unterbrochen. Die Fabel der epischen Erzählung erfährt während
der Ausführung öfter Veränderungen, als die des Dramas, weil
ihre Glieder nicht so fest gefügt sind. ─ Da nun die Fabel aus
Charakteren und aus Handlungen oder Begebenheiten zusammengefügt
ist, entstehen zwei Grundformen ihrer Structur.
Wir stellen den Satz auf:


entweder hat die Structur der Fabel den Mittelpunkt
der ästhetischen Wirkung und demgemäss des Gefüges
in dem Vorgang innerhalb der Seele des [454]
Helden, oder in der nach Spiel und Gegenspiel vertheilten
Handlung. In Drama wie Roman haben die
romanischen Völker die zweite Form besonders ausgebildet.
Die erste ist bei den germanischen vorwiegend
vertreten.


  Schon bei den Griechen herrscht die Führung der Handlung
im Spiel und Gegenspiel vor. Sie ist zu einem eigenthümlichen
Gleichgewicht von Rede und Gegenrede in der halbmusikalischen
Form ihres Dramas ausgebildet. Die Spanier
haben einen erstaunlichen Scharfsinn aufgewandt, sinnlich mächtige
Situationen zu einer spannenden, in Spiel und Gegenspiel
durch immer neue Theaterstreiche überraschenden Handlung zu
verketten. Eines der glänzendsten Beispiele hiervon ist der „Weber
von Segovia“ von Juan Ruiz de Alarcon. Dagegen sind ihre
Personen vielfach nur Masken. Die klassische französische
Tragödie hat nur die spanische Technik simplificirt, und die französische
Komödie seit Molière hat dieser Form die höchste
Vollendung gegeben: als der am meisten dichterische Ausdruck
des französischen Geistes überhaupt. Auch der Roman der
Franzosen ist in der Regel von einer Krisis aus construirt.
Ebenso sind die Wahlverwandtschaften gewiss nicht eine Novelle,
sondern ein Roman von dieser Structurform. Das Drama und der
Roman der Deutschen und Engländer haben eine Form ausgebildet,
welche zwar vielfach die Kunstgriffe des Spiels und des
Gegenspiels benutzt, aber den inneren Vorgang im Helden
zum Mittelpunkt der poetischen Wirkung macht. Das giebt dem
Helden Shakespeares die wuchtige Ueberlegenheit über die ihn
umgebenden Personen, dass er allein mit sich zu Rathe geht,
mit seinem Gewissen ringt und sich in seiner Verantwortlichkeit
und seinem Wesen fühlt und monologisch ausspricht. Dieselbe
Grundform der Fabel bildet sich in dem neueren Roman aus. Das
erfahrungslose Herz, das in die Welt tritt, der optimistische, noch
mit den Untiefen der Menschennatur unbekannte und der Zukunft
fröhlich entgegeneilende Geist, ihm gegenüber aber die Welt,
─ wer verlangt, dass ich sie charakterisire? ─ auf diesem Gegensatz
baut sich das Epos unserer individualistischen Epoche auf. [455]
Das ist unsere Ilias und Odyssee. Es ist, was immer neu geschieht,
wo ein jugendfrisches Gemüth in die Welt tritt. Es ist,
was wir Alle als unsere verlorene Jugend in dem Wilhelm
Meister oder Copperfield wiederfinden. Schon der Roderich
Random von Smollet ist die Entwicklungsgeschichte eines Knaben,
der sich den eigenen Weg durch das Leben bahnen muss.
Dickens gab dann dem Roman die vollkommenste Form, welche
er bisher erreicht hat. Seine technisch besten Arbeiten haben
in die Entwicklung eines Helden Spiel und Gegenspiel, Spannung
und Krisis eingeführt. So verknüpfen sie die Hilfsmittel beider
Verfahrungsweisen miteinander.


  10. Alle weiteren Vorgänge im Dichter sind Umsetzungen
der Erfahrung von den dargelegten Unterlagen aus und
nach den entwickelten Gesetzen. Sie heben Bilder empor, welche
ganz von Gefühlskraft erfüllt und allgemeingültig bedeutsam
sind. Indem sie diese aber der Phantasie eines Hörers oder Lesers
einzuprägen streben, müssen sie die Einbildungskraft in lebendiges
Spiel setzen. Auch darum muss der Zusammenhang der Dichtung
in Charakteren, Handlung und Darstellung der vom Ge
fühl beflügelten Phantasie angemessen sein. Zeit, Raum und
Causalzusammenhang müssen so behandelt werden, dass die
Gestalten sich leicht und ohne Widerstand in der Phantasie
aufbauen und bewegen. Die Worte und Sätze einer Dichtung
gleichen den Farbenklexen auf einem späten Rembrandt: erst
die mitwirkende Einbildungskraft des Hörers oder Lesers gestaltet
daraus Figuren. Der Gehalt einer Dichtung erwächst aus
der Transformation der gefühlsarmen Bestandtheile des Lebens
und ihrer mechanisch unbiegsamen Beziehungen nach Raum, Zeit
und Causalität in eine poetische Welt. Diese ist dann möglichst
aus lauter gefühlswirksamen Bestandtheilen zusammengesetzt.
Die Zeit, welche dieselben trennt und zusammenhält,
wird nicht durch Uhren gemessen, sondern durch das, was geschieht.
So liegt hier nur eine der Poesie eigene freie Verwendung
der natürlichen Zeitbestimmung nach dem Ablauf innerer
Zustände vor. Daher gehört die französische Einheit der Zeit
in eine nüchterne, nach Uhren regulirte Welt, aber nicht in [456]
die der Affecte: sie ist mathematische Prosa. Diese Zeitmessung
der Phantasie wird kunstvoll dadurch unterstützt, dass ausdrückliche
und äusserliche Zeitbestimmungen thunlichst umgangen
werden. In ähnlicher Weise werden die Orte durch die unsinnlichen,
aber starken Beziehungen der Personen und Handlungen
auf einander sich nahe gebracht. Hier wird der Tiefsinn
des Dichters die geographische Bestimmtheit vermeiden und lieber
mit Shakespeare in die Geographie der Märchenwelt zurückkehren.
Der Zusammenhang nach Ursache und Wirkung
wird auf wenige nothwendige Glieder eingeschränkt. Er könnte
so in der Wirklichkeit nicht functioniren, und er soll auch nur den
Schein der Wirklichkeit hervorrufen. Daher konnten scharfe
ästhetische Kritiker die Lücken in dem Causalzusammenhang
des Wilhelm Meister, des Faust, ja der Shakespeare'schen Dramen
leicht aufweisen, aber sie haben damit weder Goethe noch
Shakespeare getroffen, sondern nur gezeigt, dass sie den Unterschied
von Poesie und Prosa nicht verstanden. Wir sollen nur
daran glauben, Folgerichtigkeit zu sehen. Nur der Schein von
Wirklichkeit soll erweckt werden. Und dies geschieht nicht
durch sorgfältige lückenlose Motivirung, sondern durch jene
schlanke Art von Führung der Handlung, welche diese auf
wenige Glieder zurückbringt, dann aber dieselben in breiten,
lebenswahren Scenen ausgestaltet. Eine solche ganz ausgebildete
Scene führt dann von einem Ruhezustand aufwärts zum höchsten
Affect.


  Da aber diese ganze poetische Welt sammt den Personen
und Schicksalen in ihr sich nur in der Phantasie eines Hörers
oder Lesers aufbaut und dort ihre Existenz hat, steht sie zugleich
unter dem Gesetz der Seele, in welche sie tritt; der erworbene
Zusammenhang des ganzen Seelenlebens muss zu ihrer
Auffassung mitwirken. So muss sie den Gesetzen gemäss sein,
welche unser Erkennen an der Wirklichkeit gefunden hat. Sie
muss die Gefühlswerthe der Menschen und Dinge richtig ausdrücken,
wie sie ein reifer Geist am Leben entwickelt hat. Sie
muss ein Verhältniss der Willen und einen Zusammenhang der
Zwecke zeigen, wie ihn männlicher Sinn an seiner Arbeit erworben [457]
hat. Dann entsteht die Glaubhaftigkeit, die Wahrscheinlichkeit,
das Kernhafte in dem Schein des Wirklichen,
deren Personen und Schicksale bedürfen, um in Mitleid und
Furcht zu erschüttern.


  Das Princip der Ausbildung einer Dichtung ist das
Emporheben von Lebensvorstellungen zu poetisch bedeutsamen
Bildern und Beziehungen. Der Nexus der
Handlung oder Begebenheit muss also so viel als möglich
nur gefühlswirksame Bestandtheile enthalten. Zeit
und Raum haben hier nur in den sie erfüllenden Handlungen
und deren Beziehungen ihr Maass. Die Zahl
der Glieder der Handlung ist so sehr als möglich verringert,
die unentbehrlichen sind dann aber breit entfaltet.



  11. Aus diesem Princip ergiebt sich als Hauptregel für die
Technik der Handlung, dass sie nicht eine Abbildung der
Wirklichkeit erstrebt, sondern unter Ausscheidung der dem
Gefühl todten Glieder aus gefühlswirksamen Gliedern in weiser
Oekonomie einen Nexus herstellt, durch welchen der Schein
der Bewegung des Lebens entsteht. Und zwar ist das Gefüge
der Vorgänge im Drama eine einheitliche Handlung, in der
epischen Poesie eine Begebenheit. Aber gleichviel, ob Handlung
oder Begebenheit: beides ist ein Unwirkliches, das Illusion
hervorbringt. Während im wirklichen Leben Alles causal
verkettet auftritt, ist für die Structur der poetischen Handlung
oder Begebenheit das allgemeinste Gesetz, dass dieselbe
Anfang und Ende habe, zwischen diesen aber ein einheitlicher
Zusammenhang ablaufe, dem ähnlich, welchen wir von
dem Leben selber wünschen. Ohne Schmerz und Hemmung wäre
das Bild des Lebens schaal und erlogen, aber dieselben sollen
aufgelöst werden in einem mächtigen und beruhigenden, harmonischen
Schlussaccord. So bedingt die Anforderung einer, den
ganzen Umfang des Werkes erfüllenden, allgemeingültigen Gefühlswirkung
die Structur der Handlung. Sie geht, wo sie ganz
vollständig ist, aus dem Zustand ruhigen Strebens durch innere
und äussere Gegenwirkungen in zunehmender Spannung der [458]
Krisis entgegen, und dann von da abwärts zum versöhnten Ende.
So dachte sich auch die vom religiösen Gemüth beherrschte metaphysische
Begriffsdichtung der untergehenden alten Welt die Handlung
in dem Weltganzen. Selige Ruhe, auftretende gegeneinander
wirkende Kräfte, Schuld und Schmerz, Wiederbringung aller Dinge
in die urerste Seligkeit. Nun ist aber die Art, wie die Versöhnung
herbeigeführt wird, geschichtlich bedingt. Sonach
ist die Form der Handlung oder Begebenheit nicht allgemeingültig,
sondern von dem geschichtlichen Inhalt abhängig.


  Die Technik der Handlung im Drama ist seit Aristoteles
mit grosser Genauigkeit erkannt worden, und Freytag hat sie
zuletzt mit feinem Formensinn behandelt. Er hat zwei Grundgestalten
der dramatischen Form aufgefunden, und dies war eine
der seltenen wirklichen ästhetischen Entdeckungen. Die Handlung
verläuft in Spiel und Gegenspiel. Denn der Held der
Handlung bedarf einer gegenspielenden Gewalt. Diese soll das
Interesse für den Helden nicht paralysiren, sondern ihn nur in
Handlung setzen. Für die so entstehende Handlung ist die
Mitte oder der Höhepunkt des Dramas die entscheidende Stelle.
Bis zu ihm steigt, von ihm ab fällt die Handlung. Und zwar
können sich von dieser entscheidenden Stelle der Construction
ab Spiel und Gegenspiel auf zwiefache Weise vertheilen. Entweder
das Spiel herrscht im ersten Theile vor: dann steigert
sich in dieser ersten Hälfte des Dramas die leidenschaftliche
Spannung des Helden aus den inneren Impulsen seines Charakters
bis zur That; von da ab beginnt die Umkehr; was er
that, wirkt nun auf ihn zurück; indem er der auf ihn eindringenden
Reaction der Aussenwelt allmälig unterliegt, fällt
die Leitung der Handlung von der Umkehr ab dem Gegenspiel
zu. Oder das Gegenspiel überwiegt im ersten Theil:
dann wird der Held von der sich steigernden Thätigkeit ihm
gegenüberstehender Gewalten bis zum Höhepunkt fortgetrieben;
von der Umkehr ab, die damit beginnt, herrscht nun erst die
Leidenschaft des Helden1).

[459]

  Die epische Form des Gefüges von Vorgängen ist Begebenheit.
Diese Begebenheit repräsentirt den ganzen Zusammenhang
der Welt. Ihre allgemeinsten Eigenschaften, wie sie hieraus folgen,
sind von Humboldt tiefblickend, wenn auch mit idealistischer
Einseitigkeit dargestellt worden. Die Anwendung seiner Principien
auf den modernen Roman, welcher der legitime Erbe des
Epos und einer strengen Kunstform fähig ist, hat zuerst Spielhagen
in seinen Aufsätzen über die Technik des Romans unternommen.
Hier liegt eine der Hauptaufgaben der künftigen Poetik.


  12. Die Charaktere erhalten zunächst selbständiges
Leben im Dichter aus einer noch dunkeln Eigenschaft des
Seelenlebens, die wir am Traum beobachten können.
Dann erhalten sie eine zweite Existenz in der auffassenden
Phantasie. Diese bildet aus einem Nexus
von Vorgängen, der für sich nicht lebensfähig wäre,
einen Charakter, indem von den energisch betonten
Punkten stärksten Gefühlsinteresses aus die wesentlichen
Züge anschiessen, die übrigen aber sich in der
Dämmerung verlieren. So entsteht der poetische Schein
einer ganzen Wirklichkeit. Die vergleichende Literaturgeschichte
soll die begrenzte Gliederung typischer
Charaktere, die Entwicklung der einzelnen Typen und
die verschiedenen Verfahrungsweisen der Einbildungskraft
im Bilden und Darstellen derselben entwickeln.


  Im Traum stellen wir unserem eignen Ich andere Personen
gegenüber, erschrecken vor ihnen oder schämen uns vor ihrem
überlegenen Verstande. Eine Wahnsinnige fand sich unaufhörlich
im Streit mit einem Richter, dem sie den Verlust eines
Processes Schuld gab. Dieser Richter war, wie sie sagte, stärker
als sie. Er brachte Argumente und juristische Ausdrücke vor,
die sie nicht zu widerlegen, ja nicht einmal zu verstehen vermochte.
Solche Trennung unseres Seelenlebens und theilweise [460]
Verlegung unseres geistigen Gehaltes in eine fingirte Person
enthält unaufgelöste Schwierigkeiten. Doch ist sie die Grundlage
der Pantomime, des Dramas sowie der selbständigen Lebendigkeit
von Charakteren in der epischen Darstellung. Sie kann
am Schauspieler studirt werden. Dieser versetzt sich so in
fremde Personen, dass für die Zeit seines Spiels theilweise sein
gesondertes Selbstbewusstsein schwindet. Es ist wohl nicht zufällig,
dass zwei Schauspieler, Shakespeare und Molière, ihren
Personen die grösste selbständige Lebendigkeit verliehen haben.


  Ein Charakter wird aus dem gegebenen Stoff zu allgemeingültiger
Gefühlswirkung erhoben, indem Bestandtheile der menschlichen
Natur, welche in Jedem stark anklingen, in den wesenhaften
Beziehungen, durch welche sie einen Causalzusammenhang
bilden, verknüpft werden. Jeder wahrhaft poetische Charakter
ist daher ein Unwirkliches und Typisches. So sind
gerade die wirksamsten Charaktere Shakespeares blosse Präparate
von dem Verlauf einer Leidenschaft in einer für ihre
Entfaltung geeigneten Seele. Die Hauptcharaktere Goethes,
insbesondere Faust, haben in den einzelnen Lebensmomenten die
volle Realität des persönlichen Erlebnisses, aber diese Zustandsbilder
sind nur aneinander gesetzt. Die epische oder dramatische
Darstellung eines Charakters besteht nur in der sinnfälligen Vergegenwärtigung
einzelner Scenen, dagegen existirt der ganze
Charakter nirgend in dem Werke, sondern zunächst im Kopf
des Dichters, dann in der Einbildungskraft des Hörers oder
Lesers. Während er etwas Unwirkliches ist, empfängt er doch
den Schein der Wirklichkeit durch einen Kunstgriff, welcher
das Gewahren desselben dem von wirklichen Personen ähnlich
macht. Das hellste, schärfste Licht des Interesses fällt auf
einzelne gefühlswirksame Lebensmomente: diese stehen in fassbaren
Beziehungen zu einander und lassen eine Einheit des Charakters
ahnen. Wie in der Wirklichkeit werden diese Momente
von weniger betonten aus vorbereitet und so entsteht gleichsam die
Rundung des Lebens. Denn ein Drama wie Emilia Galotti,
das aus lauter affectiven Momenten zusammengesetzt ist, entbehrt
der heiteren Gesundheit des Daseins. Das Wesenhafte, [461]
Typische des Charakters ist hell beleuchtet und alles Andere
scheint mälig in der Dämmerung zu verschwinden. So handelt
der Dichter wie der Maler. Auch er stellt nur hin, was in den
Umkreis des Interesses, der Aufmerksamkeit und der so bedingten
betonten Wahrnehmung fällt. Gerade dadurch wetteifert
er mit dem Gewahren des Wirklichen selber. Ein Maler,
der Alles sehen lassen will, bringt keine Illusion hervor. Solche
Wirkung wird noch verstärkt, wenn, wie in dem Leben selber,
in dem Kern der Charaktere etwas Undurchdringliches zurückbleibt.
Dies ist allemal der Fall, wenn die Phantasie des
Dichters zugleich so mächtig und so realistisch ist, dass sie die
Ecken des Stoffes nicht abschleift und das Unregelmässige in
ihm nicht ausgleicht. Die so entstehende Irrationalität wirkt
äusserst lebendig. Die Gesichtszüge treten dann, halbbeleuchtet
nur, theilweise, räthselhaft und nicht zueinander ausgeglichen,
aus einer geheimnissvollen Dämmerung hervor, wie in einem
Gemälde Rembrandts.


  Die Darstellung der typischen Wesenheit eines Charakters
wird immer nur durch eine sehr grosse Lebendigkeit der
inneren Vorgänge im Dichter ermöglicht, welche unter angenommenen
einfacheren Bedingungen von der
blossen Imagination aus diese Vorgänge ins Spiel zu
setzen
gestattet. Alsdann erwirkt ein Vorgang den anderen
in einer Folgerichtigkeit, welche dies Traumbild der Natur
selber ähnlich macht. So erklären sich die wiederholten
merkwürdigen Aeusserungen Goethes, dass er „die Kenntnisse
mannigfaltiger menschlicher Zustände durch Anticipation besessen
habe.“ „Ueberhaupt hatte ich meine Freude an der
Darstellung meiner inneren Welt, ehe ich die äussere kannte.
Als ich nachher in der Wirklichkeit fand, dass die Welt so
war, wie ich sie mir gedacht hatte, war sie mir verdriesslich,
und ich hatte keine Lust mehr, sie darzustellen, ja ich möchte
sagen: hätte ich mit der Darstellung der Welt so lange gewartet,
bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung
Persiflage geworden.“ „Meine Idee von den Frauen ist nicht von
den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahirt, sondern sie ist [462]
mir angeboren oder in mir entstanden, Gott weiss wie. Meine
Frauencharaktere sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit
anzutreffen sind.“ Er bemerkte sehr wohl, wie die Auffassung
der Structur oder typischen Wesenheit eines Charakters in
dieser inneren Nothwendigkeit begründet ist, mit welcher seine
Züge einander bedingen, und nur den Grund unsrer Kenntniss
hiervon durchschaute er nicht. „Es liegt in den Charakteren
eine gewisse Nothwendigkeit, eine gewisse Consequenz, vermöge
welcher bei diesem oder jenem Grundzug des Charakters
gewisse secundäre Züge stattfinden. Dies lehrt die Empirie
genugsam; es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntniss
davon angeboren sein.“


  13. Die Mittel der poetischen Darstellung
entstehen, indem die Ziele der Dichtung: sinnliche Energie,
welche Illusion hervorbringt, Gefühlswirkung, welche dauernde
Befriedigung erregt, und Verallgemeinerung sowie
Orientirung des Einzelnen am Denkzusammenhang, welche
dem Erlebten Bedeutsamkeit giebt, den ganzen Körper
der Dichtung beleben und bis in das einzelne Wort
hinein, gleichsam bis in die Fingerspitzen dieses Körpers
wirken. So entstehen sinnliche Veranschaulichung, bildlicher
Ausdruck, Figur, Tropus, Metrum, Reim. Die
Poetik hat zu zeigen, wie die im Kern der Fabel
wirksame Natur des dichterischen Schaffens

sich zuletzt in diesen Darstellungsmitteln kundgiebt.
Daher äussert sich die gefühlskräftige Bewegung,
welche die Handlung hervorgebracht hat, schliesslich
auch in den Figuren der Rede. Und daher ist zugleich
das im Kern des Erlebnisses enthaltene Verhältniss von
innerem Zustand und Bildzusammenhang, durch welches
die Fabel zu einem Symbol wird, in grossen Dichtern
so sehr geistige Form ihres Schaffens, dass hieraus
vielfache Mittel der Darstellung entstehen.


  Die Lehre von den Darstellungsmitteln ist in der Rhetorik
und Poetik der Alten von dem Standpunkte der Formbetrachtung
aus mustergültig entwickelt worden. Noch die [463]
Poetik Scaligers verhält sich in ihrer ausserordentlich spitzfindigen
Durcharbeitung dieser Formen zu der Lehre der Alten
wie die classische französische Theorie von der tragischen Handlung
zu Aristoteles.


  So entsteht die schöne Aufgabe, in diesem Gebiete auf der
Grundlage der Sprachwissenschaft Causalerkenntniss, gleichsam
eine dynamische Betrachtungsweise, durchzuführen.
Die Principien für die Lösung dieser Aufgabe wurden in der
psychologischen Grundlegung entwickelt. Ihre Anwendung wird
von dem Satz geregelt: Die Natur des dichterischen Schaffens, die
Motive, Fabel, Personen und Handlung aus dem Stoff gestaltet,
wirkt auch in den einzelnen Mitteln der Darstellung, ja bis
in jeden Laut derselben, und aus ihr müssen die Formen,
welche die classische Rhetorik und Poetik aufzählt, interpretirt
werden.


  Wir erläutern dies zunächst an den Tropen. Der reale
Kern der Poesie, das Erlebniss, enthält eine Beziehung des
Innen und Aussen. „Geist und Kleid“, Beseelung und Versinnlichung,
die Bedeutsamkeit der Gestalt oder Lautfolge und
die bildliche Sichtbarkeit für das flüchtige Seelische: so sieht
überall ein Künstlerauge. Im Stein, in der Blume gewahrt und
liebt es das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus
sich selbst.


  Liegt doch das oberste Princip des Weltverständnisses in der
psychophysischen Natur des Menschen, welche er auf die ganze Welt
überträgt. Und zwar bestehen im Traum und Wahnsinn so gut
als in Sprache, Mythos und metaphysischer Begriffsdichtung feste
gesetzmässige Beziehungen zwischen inneren Zuständen
und äusseren Bildern. Versteht man unter einem natürlichen
Symbol das Bildliche, das in fester, gesetzlicher Beziehung
zu einem inneren Zustande steht, so zeigt die vergleichende
Betrachtung, dass auf Grund unseres psychophysischen
Wesens ein Kreis natürlicher Symbole für Traum und Wahnsinn,
wie für Sprache, Mythos und Dichtung besteht. Wenn
eine Seite durch Druck beim Liegen taub geworden ist, so stellt
der Träumer sich einen neben ihm Liegenden vor, oder wenn [464]
der Druck eine Hand während des Schlafes in lähmungsartigen
Zustand versetzt hat, erscheint dieselbe dem Träumenden als
ein fremder Körper. Griesinger hat hervorgehoben, wie sich
bestimmte innere Zustände und Gefühle des Irren in der Vorstellung
ausdrücken, dass dem Kranken seine Ideen von Andern
„gemacht“ oder „abgezogen“ würden, und Lazarus hat darauf
aufmerksam gemacht, dass bei Naturvölkern entsprechende Vorstellungen
auftreten. So drückt sich in einem Kreis armer,
verkümmerter Symbole der Kreis der inneren Zustände des
Irren aus. Reicher, freier entfaltet sich diese Beziehung in
Sprache, Mythos und Poesie, aber dennoch gesetzmässig. So
ist auch die Zahl der Grundmythen, in welchen aus den Erlebnissen
des eignen Innern das Aeussere, Ferne und Jenseitige
fassbar gemacht wird, begrenzt.


  Dieses Versinnlichen und Beseelen wirkt nun mit der
grössten Energie und Freiheit in der Seele des Dichters. Jeder
Zettel Goethes an Frau von Stein zeigt das: überall Situation,
Gefühl des Zustandes, Tropus, in dem er sich darstellt. Hieraus
ergiebt sich, dass das Bild, die Vergleichung, der Tropus nicht
in der Darstellung hinzutreten, wie Gewand, das über einen
Körper geworfen wird, vielmehr sind sie dessen natürliche Haut.
Das Symbolbilden, das die Seele des dichterischen Vorgangs ist,
erstreckt sich so durch den ganzen Körper der Dichtung bis
in die Personification und Metapher, die Synecdoche und Metonymie.
Der unsern Geschmack oft verletzende Bilderreichthum
Shakespeares oder Calderons ist ungehemmtes Fluthen und
Strömen dieser beständigen, in Glanz und Licht getauchten
Bewegung in einer dichterischen Phantasie. Note: Phantasie als vorsprachlicher Aspekt, Sprachliches als natürliche Haut Einer solchen Causalbetrachtung
können die Formbestimmungen über den Tropus,
welche uns die Alten hinterlassen haben, Ausgangspunkte einer
tieferen Erkenntniss werden.


  Wir erläutern dann an den rhetorisch-poetischen Figuren.
Durch das ganze Schaffen des Dichters geht die
Wirkung der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung. Der
fiebernde Puls in den Charakteren und der Handlung von
Shakespeare, der grosse Athem in Schillers dramatischer Handlung [465]
sind die natürlichen Aeusserungen der Gefühlsweise und
Willensform dieser grossen Menschen. Aus dieser natürlichen
Bewegung der Seele entspringt die Stellung der Worte im
Satz und schliesslich auch die Redefigur. So ist die
Hyperbel wie die Verkleinerung nur die letzte sinnfälligste
Aeusserung jener Gesetze der Verstärkung und Minderung
von Bildern, ihrer Erweiterung und Zusammenziehung unter
dem Einfluss der Gefühle. Das Streben, den Gefühlseindruck
durch den Gegensatz zu steigern, bringt die Contrastirung
der Handlungen oder der Charaktere hervor, welche der
inneren Construction eines Werkes angehört, aber sie klingt
dann schliesslich in der Redefigur der Antithese aus. Bezeichnet
man die innere Form eines Werkes von dem ersten Herausarbeiten
der Motive aus dem Stoff bis zu Tropen, Figuren,
Metrum und Sprache als Styl, so sind verschiedene Versuche
gemacht worden, die Grundunterschiede desselben aufzufinden;
Vischers Unterscheidung der directen und indirecten
Idealisirung
muss als eine wirkliche ästhetische Entdeckung
bezeichnet werden.

4. Die Geschichtlichkeit der poetischen Technik.


  1. Wir bemerkten immer wieder, wie sich aus der Verbindung
der Principien des poetischen Eindrucks die Ziele und
Mittel der Dichtungsarten nicht ableiten lassen. Daher ist
eine allgemeingültige Technik in ihnen nicht enthalten. Man
nehme die Principien des poetischen Eindrucks, man suche nach
ihnen Eindrücke in einer möglichst vollkommenen Art anzuordnen,
man wähle unter den Möglichkeiten, welche die einzelnen
Momente der inneren Form, Stimmung, Motiv, Fabel etc.
enthalten, die am meisten günstigen und einander entsprechenden:
aus diesen formalen Verhältnissen entspringt nirgend eine wirkliche
Entscheidung über eine vollkommenste Art der Verknüpfung
in einem Drama oder Roman; nur Schatten, vorüberschwebende
Möglichkeiten, weder in sich noch in ihren
Beziehungen eindeutig bestimmt. Man zerlege den Eindruck,
den ein Kunstwerk hervorbringt; die Principien desselben sind [466]
höchst zusammengesetzt, die Momente der inneren Form, nach
welchen ihre Zusammenfügung stattfindet, sind sehr mannigfach;
Reinheit und Grösse des Eindrucks sind von diesem Allen bedingt:
aber schliesslich ist derselbe abhängig von dem inneren
Zusammenhang, welcher zwischen einem geschichtlich
erwachsenen Gehalt
und der ihm zugehörigen
Form
besteht. Die Principien des Eindrucks und ihre regelrechte
Verknüpfung zur inneren Form durchwirken das ganze
Werk: aber den Charakter der grossen Kunst giebt ihm der
Zusammenhang, in welchem diese Form sich als untrennbar
zugehörig zu einem geschichtlich erwachsenen, mächtigen Gehalt
erweist.


  So ergiebt sich der erste Satz, welcher die Geschichtlichkeit
der Technik entwickelt. Er drückt unseren Gegensatz
gegen jede formalistische, aber auch gegen jede im Sinne
Fechner's aus Wirkungselementen summirende Aesthetik aus.


  Aus den Principien des poetischen Eindrucks und
aus den wirksamen Möglichkeiten der Verknüpfung
eindrucksvoller Bestandtheile zu einer inneren Form
entsteht der technische Zusammenhang des dichterischen
Werkes, indem ein geschichtlich erwachsener Gehalt mit
diesen Mitteln die ihm zugehörige Form ausbildet.


  2. Wir möchten in das Wesen dieser Geschichtlichkeit der
poetischen Technik eindringen und die Beziehung zwischen dem
historisch erwachsenen Gehalt und seiner Form genauer erfassen.


  Dieser Gehalt stellt sich als eine Einheit dar. Daher
konnte der Gedanke entstehen, der Zusammenhang der Geschichte
könne in logischen Beziehungen zwischen einheitlichen
Standpunkten entwickelt werden. So haben die Hegelianer das
Verständniss der neueren Philosophie durch die Fiction der logischen
Entfaltung eines Standpunktes aus dem andern verdorben.
In Wirklichkeit enthält eine geschichtliche Lage
zunächst ein Mannigfaches von particularen Thatsachen.
Sie stehen spröde nebeneinander und lassen sich
nicht aufeinander zurückführen. Sind sie doch die Folgen von
Gegebenheiten in der ursprünglichen Vertheilung von Wasser [467]
und Land, Gebirge und Ebene, Klima, vielleicht von ursprünglichen
Verschiedenheiten der über die Erde verbreiteten Menschen.
In dem so entstandenen Spiel und Gegenspiel der
geschichtlichen Kräfte summiren sich die Wirkungen zu undurchdringlichen
Thatsachen. Ihre Coordination in einer gegebenen
Zeit bildet zunächst die geschichtliche Lage.


  Zwischen Gruppen dieser Thatsachen stellt der Causalzusammenhang
ein Verhältniss von gegenseitiger Abhängigkeit und
somit von innerer Zusammengehörigkeit her. So stehen Verfassung
und Erziehung eines Volkes zu einer gegebenen Zeit
in solchem Verhältniss wechselseitiger Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit.
Dann bringt jedesmal ein intensiv und
breit wirkender Factor in einer grossen Zahl dieser coordinirten
Thatsachen Effecte hervor, welche diesen allen ein gemeinsames
Gepräge, einen Zug von Verwandtschaft mittheilen. So hat der
rationale und mechanische Geist des 17. Jahrhunderts der Poesie
desselben wie der Staatspraxis und Kriegsführung sein Gepräge
gegeben. Ferner setzt die Arbeit des Menschen überall Thatsachen
in der Einheit eines Zweckganzen in Beziehung zu einander,
und wo ein solches Zweckganze gelungen ist, ruft es viele
Nachbildungen hervor. Diese Ursachen und eine grosse Zahl
von anderen erzeugen in der Coordination von Thatsachen,
welche ein Zeitalter ausmachen, Wechselwirkungen und
Verwandtschaften, in Folge deren diese Coordination
mit einem System verglichen
werden kann. Dies Alles
ist in dem von Comte entworfenen Begriff des sozialen Consensus
enthalten, welcher freilich noch weiter reicht.


  Aber die Einheit in einem Zeitalter und Volke, welche
wir als den geschichtlichen Geist einer Zeit bezeichnen,
entsteht doch auf diesen Grundlagen erst durch die schöpferische
Macht
und Selbstherrlichkeit des Genies. Das Erkennen
oder das künstlerische Bilden stellen in, unter und
zwischen diesen spröden Thatsachen eine nach dieser Coordination
der Thatsachen in einem gegebenen Zeitalter mögliche Einheit
her. Das geschieht durch das am meisten umfassende und
schöpferische Verfahren von Combination, dessen das Genie des [468]
Menschen überhaupt auf dem Gebiete des Sinnens, Betrachtens
und Denkens fähig ist. Das Genie des Herrschers oder des
Staatsmanns bringt die spröden Thatsachen selber in eine nach
ihrer Coordination mögliche Zweckeinheit. Es ist dem des
Künstlers oder Philosophen der Richtung nach entgegengesetzt,
aber dem Umfang und der Grösse nach verwandt.


  Wie in der Religion und Philosophie wird auch in
der Kunst, insbesondere in der Poesie durch einen geschichtlich
schöpferischen Vorgang die Coordination von
Bestandtheilen, die in einer Zeit besteht und in sich
schon Causalverknüpfung und Verwandtschaft enthält,
zu einer das Vorhandene überschreitenden Einheit verknüpft.
So baut sich aus einem ursprünglich Mannigfachen,
Bestandtheilen und deren einzelnen Beziehungen,
durch die Leistung des Genies erst die Einheit
auf, welche wir als Geist eines Zeitalters bezeichnen.


  3. An dieser Stelle können wir nun das Historische mit
dem Psychologischen
zusammenschliessen. Wir entwickelten
einen psychologischen Begriff vom erworbenen Zusammenhang
unseres Seelenlebens und setzten ihn zu dem Schaffen des
Dichters in Beziehung. Dieser erworbene Zusammenhang repräsentirt
in dem grossen Menschen das vorhandene Gefüge der
coordinirten Thatsachen: Sätze, Werthbestimmungen und Zwecke
in einer feinen, richtigen Weise. Er wirkt dann auf die Processe,
welche im Bewusstsein stattfinden. So wird das dichterische
Werk zum Spiegel der Zeit. Shakespeare hat diese
Leistung der Poesie mit künstlerischem Bewusstsein, zunächst
in Bezug auf das Drama, im Hamlet formulirt. „Der Zweck
des Schauspiels war sowohl Anfangs als er jetzt ist, der Natur
gleichsam den Spiegel vorzuhalten; der Tugend ihre eigenen
Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem Jahrhunderte und
Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“ Hier
löst sich das Räthsel, wie ein Zeitalter in Fabeln, Handlungen
und Charakteren seiner Poeten sich selber und uns gegenständlich
werden kann. Der erworbene Zusammenhang des
Seelenlebens in einem grossen Menschen ist causal bedingt und [469]
repräsentirt daher die Coordination der Bestandtheile des Lebens,
Denkens, Fühlens, Strebens einer Zeit. Wie derselbe sich in den
dargelegten Processen aufgebaut hat, wurde das Verwandte in
den Thatsachen, die causale Structur derselben schon in diesem
Zusammenhang erfasst und so hebt derselbe bereits das Wesenhafte
an den Erscheinungen des Lebens heraus. Dieser Zusammenhang
bedingt dann als ein Ganzes, nicht klar und deutlich
nach Bestandtheilen und Beziehungen unterschieden, und
doch wirksam, die Vorgänge im Dichter, durch welche Lebensvorstellungen
emporgehoben werden zu poetischen Bildern. Wie
dies geschieht, haben wir im Einzelnen beschrieben. So repräsentiren
Fabel, Handlung, Charaktere diesen Zusammenhang. Die
Gestalten der Dichtung umgiebt, bedeutsam wie sie sind, ein
geistiger Hauch, der aus dem Zusammenhang des Weltverständnisses
herstammt. Denn durch diesen Zusammenhang ist bedingt,
wie das Wesenhafte in der Structur der Charaktere
herausgehoben ist, wie sie zu einander gestellt sind. Das ist,
was Goethe an den Gestalten seines grossen Gedichts selber
empfand, der „Zauberhauch, der ihren Zug umwittert.“ Es ist
immer der Athem eines geschichtlichen Zeitalters.


  Psychologisch ist diese Leistung des dichterischen
Genies dadurch ermöglicht, dass durch die Coordination
der Bestandtheile eines Zeitalters der erworbene Zusammenhang
des genialen Seelenlebens bedingt ist und
derselbe daher diese Coordination repräsentirt. Dann
sind von diesem erworbenen Zusammenhang die im
Bewusstsein verlaufenden dichterischen Processe und
deren Ergebnisse, Fabel, Handlung, Charaktere, Darstellungsmittel
bedingt und repräsentiren daher ihrerseits
diesen Zusammenhang.


  4. Die Geschichtlichkeit der poetischen Technik ergab sich
schon aus der psychologischen Grundlegung. Denn darin lag
doch ihr bedeutsamstes Ergebniss: die Principien des poetischen
Schaffens
wie der poetischen Wirkung sind
durchgreifende Eigenschaften sehr zusammengesetzter
Vorgänge,
an welche bei dem Schaffenden und Geniessenden [470]
dauernde Befriedigung gebunden ist; so entspringen
sie als eine der Zahl nach unbestimmte Mannigfaltigkeit,
innerhalb deren der Gedanke die Beziehungen
eines logischen Systems nicht herstellen
kann.
In diesem Satze ergab sich uns gegenüber der idealistischen
Aesthetik, die im Grunde eine metaphysische ist, das
Princip einer empirischen und darum psychologischen. Wir gewannen
in diesem Satze andrerseits, indem wir vom Schaffen
des Dichters ausgingen, gegenüber der blossen Aufzählung von
beziehungslosen, ästhetischen Ideen bei Herbart, oder von beziehungslosen
Principien der Lustwirkung bei Fechner, für die
Aesthetik in der psychologischen Analysis des Schaffens und
Verstehens eine tieferreichende Einheit zurück. Aber das nothwendige
Correlat des obigen Satzes ist: Auf Grund der Normen
des dichterischen Schaffens sowie der Principien des poetischen
Eindrucks wird aus dem thatsächlich Mannigfachen des
gegebenen Lebens einer Zeit
und nur durch die
Leistung des dichterischen Genies eine Form, sonach
die Technik einer Dichtungsart hergestellt; so ist
diese geschichtlich bedingt und relativ.


  Ein Durchblick in letzte Fragen thut sich auf. Läge es
in den Kräften des Erkennens und seiner Stellung zur Welt,
ein allgemeingültiges Weltverständniss zu gewinnen, dann würde
sich dieses in den Werken der Dichter wie in unvollkommneren
oder vollkommneren Spiegeln tausendfältig abbilden. Wohl giebt
es Züge allgemeingültiger Art in unserer Erfahrung, die über
uns hinaus in einen inneren Zusammenhang der Welt weisen.
Der Blick in den unermesslichen Raum der Gestirne zeigt uns
die Gedankenmässigkeit des Kosmos. Und wenden wir uns
dann zurück in uns selber, so ist auch da überall, wo ein
Mensch in seinem Willen den Zusammenhang von Wahrnehmung,
Lust, Antrieb und Genuss durchbricht, wo er nicht mehr sich
nur will, die Erfahrung vorhanden, welche ich als metaphysisches
Bewusstsein bezeichnet habe, im Gegensatz zu den
wechselnden metaphysischen Systemen. Hiervon ist auch die
Folge, dass alle grosse und wahre Poesie gemeinsame Züge [471]
zeigt. Sie bedarf ebensowohl des Bewusstseins von der Freiheit
und Verantwortlichkeit unserer Handlungen als dessen von dem
Zusammenhang derselben nach Ursache und Wirkung. Die
Lehre, dass wir in unseren Handlungen von aussen mechanisch
bestimmt seien, wird nie bei einem grossen Dichter dauernde
Ueberzeugung hervorrufen. Aber aus diesen dunklen, unverbundenen
Zügen können weder philosophisches Denken noch
dichterisches Bilden ein allgemeingültiges Weltverständniss ableiten.
Das Weltverständniss, dessen sie fähig sind, ist durch
die geschichtliche Bewusstseinslage bedingt und relativ. Von
diesem ist dann aber die dichterische Form abhängig.


  Denn die dichterische Form entsteht nur durch eine Umbildung
von Lebensvorstellungen in ästhetische Bestandtheile
und Beziehungen. Sie ist also schon durch die Coordination von
Lebensthatsachen und Lebensvorstellungen bedingt, welche den
Charakter eines Zeitalters ausmachen. Wahl wie Ausschaltung
der Bestandtheile, Umbildung derselben, Betonung und Verbindung
im Ganzen sind geschichtlich bedingt. Das Weltverständniss
der Zeit entscheidet, welche Lebensvorstellungen
das Gefühl emporhebt, sowie in welcher Richtung es sie zu
poetischen Bestandtheilen und Beziehungen ausbildet. Es hebt
ein Wesenhaftes in den Charakteren heraus. Es giebt der
Handlung Bedeutsamkeit. Es eröffnet durch Verwandtschaft
und Contrast zwischen den Charakteren weite Perspectiven.
Es schafft eine bestimmte Art von Einheit der Handlung im
Drama. Und dies Alles thut es eben auf Grund der Thatsachen
von Verwandtschaft, Contrast, Structureinheit, Wechselwirkung,
welche ihm das Leben des Zeitalters zur Verfügung
stellt.


  So entsteht der wichtige Begriff von geschichtlichen
Typen der Technik
in einer Dichtungsart. Friedrich Schlegel
hat diese Typen als Schulen bezeichnet, indem er unter dem
Einfluss Winkelmanns aus der bildenden Kunst die Bezeichnung
übertrug. Ich erläutere diesen Begriff am Drama.


  Gustav Freytag hat aus den blossen Beziehungen der
Erregungen innerhalb einer einheitlichen Handlung, die durch [472]
Leidenschaft einem tragischen Ende entgegeneilt, das folgende
Schema der dramatischen Form abgeleitet. Das Drama hat
einen pyramidalen Bau: es steigt von der Einleitung ab durch
die wachsende Wirksamkeit des erregenden Moments bis zum
Höhepunkt und fällt von diesem ab bis zur Katastrophe. So
treten zwischen die drei ursprünglichen Theile, das Aufsteigen,
den Höhepunkt und die Katastrophe, zwei andere, Steigerung
und Fallen. Diese fünf Theile gliedern sich wieder in
Scenen und Scenengruppen, nur dass der Höhepunkt gewöhnlich
in eine Hauptscene gefasst ist. Zwischen diese fünf Theile
treten sondernd und verbindend drei wichtige scenische Punkte:
nämlich zwischen Einleitung und Steigerung das erregende
Moment, zwischen Höhepunkt und Umkehr das tragische Moment,
endlich zwischen Umkehr und Katastrophe als Hülfsmittel
des Baus das Moment der letzten Spannung. So sind
acht Stellen des Dramas zu unterscheiden. Und zwar hat eine
jede dieser acht Stellen wiederum nach ihrer Lage in dem
Ganzen der dramatischen Structur ihre besondere Gestaltung.
Mit dem Behagen des bühnenerfahrenen Technikers und des
scharfen Kopfes hat Gustav Freytag in diesem Formgesetz die
dynamischen Verhältnisse in einer Handlung entwickelt, welche
von einer Leidenschaft aufwärts getrieben wird, dann eine
Gegenwirkung erfährt und so einer Katastrophe entgegeneilt.
Das sind aber nicht die Bedingungen des grossen Dramas überhaupt,
sondern nur eines bestimmten Typus desselben.


  Die Technik des griechischen Dramas ist ebenso
von einem geschichtlichen Lebensgehalt bestimmt, als die des
spanischen oder des englischen. Von dem Dithyrambos der
Dionysosfeste her ist der ergreifende Gehalt der attischen Tragödie,
dass der innerste heilige Kern des Glaubens einem damaligen
attischen Menschen hier plötzlich in sinnlicher Wirklichkeit
und Gefühlsmacht gegenübertrat. Und da nun Stammes- und
Göttersagen ihre Handlung durch mehrere Geschlechter hindurchführten,
entstand auf der Grundlage der Bühneneinrichtung,
der Mitwirkung des Musikalischen, der Gewohnheiten der Redekunst,
aus diesem Allen in dem schöpferischen Kopfe des [473]
Aeschylos die Form und Technik der tragischen Trilogie. Als
das Verständniss für deren Voraussetzungen nach dem Untergang
der alten Geschlechterverfassung und des alten Glaubens
allmälig geschwunden war, löste sich auch ihre Form auf. Entfaltete
sich die attische Trilogie aus einem einfachen Keim zu
massvollen, rhythmischen Verhältnissen, so ist das spanische
und englische Theater umgekehrt von den bunten, rohen und
ungeregelten Abenteuern der Volksbühne zur Schöpfung eines einheitlichen
dramatischen Typus fortgegangen. Diese Entwicklung
vollzog sich bei beiden Völkern durch manche geniale Experimente
hindurch, in der Auseinandersetzung mit der von den Griechen
stammenden Form und Theorie. Und hier wie dort gelang es
einem schöpferischen Kopfe, den Typus einer neuen Form zu
finden. Aber so verschieden wie der Lebensgehalt eines spanischen
Menschen jener Tage und der eines damaligen Engländers,
war die Bühne, welcher Lope und welcher Shakespeare das
Gesetz ihrer Form gab. „In der glücklichen Zeit, da das
glorreiche Königspaar Ferdinand und Isabella Granada eroberte,
da Columbus Amerika entdeckte, da begann die Inquisition
und zugleich unsere Comödie, damit Alle angespornt würden,
gute und heroische Handlungen zu vollbringen, indem sie
Thaten grosser Männer dargestellt sehen.“ In diesem Sinne
bezeichnet Lope in seinem Gedicht „Neue Kunst, in jetziger
Zeit Comödien zu verfassen“ Angelegenheiten der Ehre und
tugendhafte Handlungen als den am meisten geeigneten Stoff
des Schauspiels. Der Typus dieses Dramas ist also nicht durch
einen tragischen Ausgang charakterisirt, sondern geht von einem
Conflict aus durch Spiel und Gegenspiel meist zu einer Krisis,
in welcher die Ehre hergestellt oder die tugendhafte Handlung
belohnt wird. Nicht selten erscheint da katholisch absolutistisch
und äusserlich der Monarch oder sein Vertreter als Theatergott,
die übrig bleibenden Schäden der Ehre zu heilen, oder
die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Das ganze Genie des Dichters
concentrirt sich darauf, die Handlung durch immer neue Theaterstreiche
zu verwickeln, die buntesten Contraste des Lebens
zu verknüpfen und die Spannung bis zum Ziel zu erhalten. [474]
Lope bemerkt ausdrücklich, da der Spanier in wenig Stunden
viel sehen wolle, sei die Einheit von Zeit und Ort nicht aufrecht
zu erhalten, aber die der Handlung müsse gewahrt
werden. „Man darf der Fabel kein Glied nehmen können, ohne
dadurch das Ganze derselben zu verletzen.“ Zwischen der
englischen Volksbühne und Shakespeare liegen viele Versuche,
die Wildheit derselben mit den Mitteln der Bühne des Seneca
und mit den Regeln der Alten zu zügeln: bis Shakespeare kommt
und echt protestantisch den Kern seiner dramatischen Form in
Charakter, Leidenschaft und Gewissen seines Helden findet.


  Von dem Gehalt aus ist die Form einer Dichtung und
die Technik einer Dichtungsart geschichtlich bedingt.
Die Literaturgeschichte hat die geschichtlichen Typen der
Technik in den einzelnen Dichtungsarten zu entwickeln.


  5. Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen
Form und Technik, sowie ihres Eindrucks, sonach des
Geschmacks treten feste gesetzliche Verhältnisse auf,
welche die Literaturgeschichte allmälig durch vergleichendes Verfahren
feststellen wird. An bestimmten geschichtlichen Orten
entfaltet sich, zumeist in sehr rascher Ausbildung, der Typus
einer Dichtungsart und nimmt von seinem Boden Beschaffenheit,
Farbe, Grösse und Form an. Da ein allgemeines Verhältniss
der Summirung dessen, was in Vorstellungen aufbewahrt werden
kann, besteht, nur eingeschränkt durch die Unvollkommenheiten
der Ueberlieferung, bilden und entfalten sich in der Menschheit
die einzelnen Momente der Form. Die poetischen Stimmungen
drücken sich in grossen Werken aus und werden durch dieselben
nicht nur auf das Publicum, sondern auch auf die nachfolgenden
Dichter übertragen. Die Motive werden aus der Fülle der Erlebnisse
herausgehoben und ihre Triebkraft und Verwendbarkeit
zeigt sich. Typen von Charakteren bilden sich aus, ihre
Structur wird durchsichtig, und die Kunst, Charaktere poetisch
anzuschauen, wird den Dichtern durch ihre Vorgänger überliefert.
Von der Führung der Handlung bis zu den äussersten
Feinheiten der Metrik nehmen die Erwerbungen der Technik
zu. Vergleicht man nun die geschichtlichen Typen innerhalb [475]
einer Dichtungsart, so lassen sich zwei Arten von Reihen
bilden, welche constante Beziehungen zeigen. Innerhalb
derselben Nation besteht ein gesetzlicher Fortgang von der religiösen
Erhabenheit des Styls zu einem Gleichgewichtszustande
und von da zu dem Bewegt-Leidenschaftlichen, technisch Effectvollen,
Zusammengesetzten, wie Scaliger, Winckelmann, Fr.
Schlegel gefunden haben. Bildet man aus den Formtypen einer
Dichtungsart eine Reihe, mit Uebergehung der Glieder, welche
durch unvollkommene Aufnahme der früheren Cultur bezeichnet
sind, durch die ganze Continuität unsrer Cultur hindurch, so
tritt auch hier ein sehr wichtiges gesetzliches Verhältniss hervor.
In dem Maasse, in welchem das Leben zusammengesetzter
wird, die Mannigfaltigkeit der Lebensbestandtheile und ihrer
Beziehungen zunimmt, insbesondere immer mehr technische,
gefühlsarme Momente zwischen die gefühlskräftigen eintreten,
bedarf es einer grösseren Kraft zur Hebung des Lebensgehaltes
in die poetische Form. Entsprechend muss die Form wenigstens
innerlich complicirter werden, welche die Aufgabe lösen
soll. Die Unterhaltungsliteratur, welche mit diesem Mannigfachen
formlos spielt, nimmt immer zu. Die dichterischen
Werke, welche durch kunstmässige Simplification zu einer
in sich geschlossenen Form gelangen, bedürfen einer immer
grösseren genialen Leistungskraft.


  Gesetzliche Verhältnisse zwischen diesen dichterischen
Formtypen können durch die Verknüpfung der Poetik
mit der vergleichenden Literaturgeschichte erkannt
werden. Innerhalb eines Volkes besteht eine gesetzmässige
Abfolge der Stylformen. In demselben Verhältniss,
in welchem in der Menschheit die Mannigfaltigkeit
der Lebensbestandtheile zunimmt und technische,
gefühlsarme Momente sich mehren, bedarf es
einer zunehmenden Kraft zur Hebung des Lebensgehaltes
in die poetische Form.


  6. Die Zukunft der Poesie kann nicht aus ihrer Vergangenheit
vorausberechnet werden. Aber die Poetik lehrt uns,
die lebendigen Kräfte der Gegenwart und das Werden einer auf [476]
sie gegründeten Kunst mit geschichtlichem Sinne auffassen und
werthhalten. Denn classisch ist eben nicht, was gewissen
Regeln entspricht, sondern classisch ist ein Werk in dem Maasse,
als es den Menschen der Gegenwart eine vollständige Befriedigung
gewährt und seine Wirkung sich in Raum und Zeit
ausdehnt.


  Die auf Psychologie gegründete Poetik ermöglicht vor Allem,
die Function der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen,
und auf dieser Erkenntniss beruht das Gefühl der Würde
des dichterischen Berufs. Die Poesie war in der älteren Menschheit
von Sprache, Religion, Mythos und metaphysischem Denken noch
nicht getrennt. Eine geschichtliche Gemüthsstellung des Menschen
kann nie ganz in Begriffen ausgedrückt werden. Der Drang, das
Unaussprechliche mitzutheilen, lässt Symbole entstehen. Insbesondere
die Mythen erfassen von einer religiösen Gemüthsstellung
aus die wichtigsten Verhältnisse der Wirklichkeit. Da
diese Verhältnisse überall verwandt sind und das Herz des
Menschen überall dasselbe, gehen Grundmythen durch die
Menschheit. Solche Symbole sind: das Verhältniss des Vaters
zu seinen Kindern, die Beziehung der Geschlechter, Kampf, Raub
und Sieg, Bilder vom Lande der Seligen und dem Paradiese.
Das Aeussere, Ferne und Jenseitige wird hier überall aus
dem Erlebniss des eignen Inneren fassbar gemacht. Verhältnisse,
die durch das Wirkliche hindurch in das Jenseitige
reichen, werden aus solchen Verhältnissen, die dem Gefühlsleben
vertraut sind, gedeutet. Wie die Zahl der Grundmythen
begrenzt ist, so ist es auch die der elementaren Symbole, die
in den Cultushandlungen aller Völker wiederkehren. Beispiele
von solchen Cultsymbolen sind die Cultusbilder, Opfer, Begräbnisshandlungen,
Mahlzeiten und Lichter. Wie durch eine elementare
Gewalt werden so von Sprache, Religion, mythischem
Denken die Erlebnisse emporgehoben zu poetischer Bedeutsamkeit,
die Natur wird beseelt, das Geistige versinnlicht und die
Wirklichkeit idealisirt. Nur allmälig löst sich die Poesie aus
diesem Zusammenhang los. Von dieser Zeit ab bis zur Gegenwart
ist die Poesie immer selbständiger geworden. Die Einheit [477]
des geistigen Haushaltes, die im Mittelalter durch die Verbindung
von Theologie und Metaphysik bestand, ist seit dem fünfzehnten
Jahrhundert allmälig aufgelöst worden. Der weite
Raum, der bis dahin von metaphysischen Constructionen erfüllt
war, wird nun von der Religion und der Kunst eingenommen.
Shakespeare, Cervantes oder Ariosto sprachen die Bedeutung des
Lebens anspruchslos und naiv aus, ohne einen Wettstreit mit
Theologie oder Philosophie zu wagen. Richardson, Sterne und
Swift, Rousseau und Diderot, Goethe und Schiller fühlten das
Recht des genialen Menschen, aus seinem Gefühl die Bedeutung
des Lebens in Bildern zu entwickeln, aber sie suchten noch
ein Verhältniss zum metaphysischen Denken. In unseren Tagen
ist dem dichterischen Genie die Bahn ganz frei gemacht. Da die
Religion den Halt metaphysischer Schlüsse auf das Dasein Gottes
und der Seele verloren hat, ist für eine grosse Anzahl gegenwärtiger
Menschen nur noch in der Kunst und der Dichtung eine
ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens vorhanden. Das
Gefühl durchdringt die Poesie, dass sie die authentische Interpretation
des Lebens selber zu geben habe, ja selbst die Ausschreitungen
des mit der Socialwissenschaft wetteifernden französischen
Romans sind in diesem Bewusstsein begründet. Derselbe
occupirt einstweilen zwischen Sümpfen ein Terrain: wir
wollen hoffen, dass auf diesem einst das blühende Leben echter
Dichtung entstehen werde.


  So bestimmt der folgende Zusammenhang für den modernen
Menschen der Poesie ihre Stelle. Dieser heutige Mensch will
aus dem Leben machen, was sich durch die Kunst des Lebens
aus ihm machen lässt. Denn der Glaube der denkenden Erfahrung
an ihre grenzenlose Leistungsfähigkeit scheint täglich
neu bestätigt. Der moderne Mensch kann das aber nur, sofern
er Causalzusammenhang und Bedeutung des Lebens erkennt.
Die Wissenschaften der Natur und der Gesellschaft haben den
ursächlichen Zusammenhang aller Erscheinungen zum Gegenstand.
Dagegen die Bedeutung des Lebens, wie die der äusseren Wirklichkeit
ist für sie nicht erreichbar. Diese ist in der Lebenserfahrung
individuell und subjectiv enthalten. Die Dichtung [478]
giebt den Erfahrungen des Lebens und des Herzens einen
gesteigerten Ausdruck. Sie stellt die Schönheit des Lebens
inmitten seiner Bitternisse, die Würde der Person inmitten
ihrer Bedingtheit dar. Hier erreichen wir in der von uns betrachteten
Stufenfolge von Leistungen der Poesie deren höchste
Function. Die Verbindungsglieder, welche von der früher dargelegten
allgemeinsten und elementaren Function aller Dichtung
zu dieser ihrer höchsten Leistung führen, sind überall angedeutet;
der Leser wird uns ergänzen.


  Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen
weiteren Dienst, indem sie die geschichtliche Natur der Technik
erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur
des Menschen fliessenden Regeln und den in geschichtlicher
Arbeit erworbenen Kunstgriffen bekannt macht, dagegen ihn
von den Fesseln ererbter Formen und Regeln befreit.
Noch die Poetik unserer grossen Dichter hat die epische
Poesie an die Grundgesetze der homerischen Form binden wollen,
und noch die Poetik von Freytag und Otto Ludwig hat unser
Drama der Form Shakespeares unterworfen. Die Poetik, deren
Umrisse wir gaben, hat dem heutigen Dichter die Principien,
an welche der Eindruck geknüpft ist, und die Normen, durch
welche sein Schaffen gebunden ist, dargelegt. Aber sie hat
zugleich die geschichtliche Relativität auch der vollkommensten
Form erwiesen. Sie will den gegenwärtigen Dichter bestimmen,
für den Gehalt der Zeit eine neue Form und Technik zu
suchen und in der dauernden, allgemein befriedigenden Wirkung
sein höchstes Gesetz zu sehen.


  Auch erblicken wir bereits in ungewissen Umrissen die
neuen Formen, in denen der dichterische Gehalt unserer Zeit
und unseres Volkes seinen Ausdruck finden kann.


  Dem Germanen wird stets nicht ein Schicksal, nicht eine
Krisis, sondern ein Held im Mittelpunkt der Dichtung stehen.
Nun überschreiten schon Nathan, Iphigenie und Faust gänzlich
den Nexus von Leidenschaft, Schuld und Katastrophe. Hier ist
breite, freie Darstellung eines heldenhaften Seelenlebens, das
mannigfach bedingt, schuldig-unschuldig, mit der Wirklichkeit [479]
ringt, allerletzt aber sie bezwingt. Auch in den Tondichtungen
Richard Wagners ist dies vor Allem das dramatisch Ergreifende,
dass sie Heldenbilder hinstellen und den Zauber des Heldenthums
auszudrücken vermögen. Auf den modernen Menschen wird
die mächtig, realistisch hingestellte ganze Person, der heldenhafte
Mensch, der mit sich und der Wirklichkeit ringt und
Sieger bleibt, wie arg zugerichtet er auch aus dem Kampf
hervorgehe, allein so erhebend und innerlich erlösend wirken
können als die tragische Trilogie auf Zeitgenossen des Aeschylos.


  Und die Welt dieses Helden? Die neueren Völker haben
von der Zeit ab, in welcher uns breitere Massen ihrer Dichtung
erhalten sind, zwei grosse Ordnungen der Gesellschaft hervorgebracht
und deren Gefühlsgehalt in zwei Blüthezeiten ihrer
Dichtung dargestellt. In der Morgendämmerung des dritten
Zeitalters leben wir. Die feudale Gesellschaftsordnung gründete
sich auf den permanenten kleinen und grossen Krieg, die
Kraft des Soldaten und die so entspringende Besitzvertheilung.
Kriegerischer Muth, feudale Treue, ritterliche Liebe und Ehre und
katholischer Glaube waren die Triebfedern, die das Leben eines
damaligen Mannes in Bewegung erhielten. Und das Epos war
Schöpfung und Spiegel dieser Zeit. Dann schuf das Königthum
Einheitsstaaten mit einer sich die Feudalherren unterwerfenden
Verwaltung und bereitete in diesen Einheitsstaaten dem Handel,
der Industrie und dem wissenschaftlichen Denken weiteren
Raum und freiere Bewegung. Schöpfung und Spiegel dieser
Zeit ist das neuere Theater. Man vernimmt auf der Bühne
des Shakespeare und Lope noch den kriegerischen Lärm der
letzten Kämpfe zwischen dem Königthum und den feudalen
Herren. Das französische Theater repräsentirt die Epoche der
absoluten Monarchie in ihren stärksten und zartesten Gefühlen.
Der grösste König, den das neuere Europa sah, unser Friedrich II.,
fand auf den Schlachtfeldern des siebenjährigen Krieges, in den
Krisen seiner Existenz den Ausdruck seines heroischen Lebensgefühls
in den Versen von Racine. Denn diese Personen redeten
und geberdeten sich königlich. Und er liebte in den Versen
Voltaires das siegreiche Spiel des Verstandes mit dem Leben [480]
und mit der Liebe. Die französische Poesie der classischen Zeit
hatte daher einen geschichtlichen Werth, den die Literaturgeschichte
erkennen muss. Mit der französischen Revolution ist
ein neues Zeitalter angebrochen. Eine das Leben umgestaltende
Wissenschaft, Weltindustrie und Maschinen, Arbeit als ausschliessliche
Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, Krieg
gegen die Parasiten der Gesellschaft, für deren müssigen Genuss
Andere die Kosten bezahlen, ein neues, stolzes Herrschaftsgefühl
des Menschen, der sich die Natur unterwarf und nun auch die
blinden Wirkungen der Leidenschaften in der Gesellschaft
mindern wird: das sind Grundzüge eines Weltalters, deren
dunkele, erschreckend grosse Umrisse vor uns aufzutauchen beginnen.
Doch hat sich zugleich im Gegensatze zu solcher rationalen
Regelung aller Angelegenheiten dieses schliesslich so irrationalen
und unvernünftigen Erdballs ein geschichtliches und
das Erarbeitete wahrendes Bewusstsein in der Gesellschaft entwickelt.
Die nationalen Einheiten fühlen sich gerade durch die
Wirkungen von Parlament und Presse als eigne Wesenheiten.
In den Kämpfen, die so entspringen, wurzelt das Heldenthum
unseres Jahrhunderts.


  Langsam hat nun die Poesie ihr schweres Werk begonnen,
die Formen zu finden, in denen ein so ungeheurer Gehalt sich
ausdrücken kann. Das Drama Shakespeares ist von Schiller
und Goethe umgestaltet worden. Goethe erfand den Helden,
der sich nach seiner ganzen machtvollen Wirklichkeit siegreich
im Drama auslebt. Schiller erfasste mit dem Griff des Genies
die weltgeschichtlichen Gegensätze der absoluten Monarchie und
der Freiheit, der katholischen Kirche und des protestantischen
Geistes: so entstand ihm die Tragödie der gleichen geschichtlichen
Berechtigungen. Die deutsche Tragödie ging bis heute
in Shakespeares und Schillers Spuren. Wer kann ahnen, wie und
wann auf den von Goethe und Schiller gelegten Grundlagen
ein Genie das neue Drama findet, in welchem der heroische
Mensch unseres Zeitalters zu uns von der Bühne redet, uns
erschüttert und versöhnt?


  In der epischen Dichtung haben die gefühlsarmen technischen [481]
Bestandtheile unseres Lebens die metrische Form gesprengt.
Der Roman hat die Herrschaft angetreten. Er allein
vermag, unter den Bedingungen unsrer Zeit die alte Aufgabe der
epischen Dichtung zu lösen, einen freien, betrachtenden Blick
über den Zusammenhang der Weltwirklichkeit zu gewähren. Einfachen,
der Natur nahen Zuständen, wie sie Goethe im Hermann
wählte, lässt sich ein reiner Zusammenhang ganz poetischer Situationen
abgewinnen, deren angemessene Form metrisch ist. Uns
aber drängt es heute, die grossen Centren des Lebens in
ihrem Wesen und ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen. So hat der
französische Roman die Seele von Paris zu erfassen gesucht,
und Dickens hat London, in allen Contrasten doch ein einziges
ungeheures Wesen, dargestellt. Seitdem wir Deutsche eine
Hauptstadt haben, ist dem deutschen Roman eine neue Aufgabe
erwachsen, und wer sie löst, wird der gelesenste Schriftsteller
unsres Volkes sein. Aber auch hier ist uns der mit der
Wirklichkeit des heutigen Lebens, wie es nun einmal ist,
ringende Mensch der Mittelpunkt. Freilich muss sich erst die
Einsicht Bahn brechen, dass die Prosa ebenso eine strenge
Kunstform ermöglicht als die metrische Form. Es war ein
grosses Verdienst Friedrich Schlegels, dass er zuerst die Prosaform
gleichsam ästhetisch courfähig gemacht hat, insbesondere
durch seine Erörterungen über Boccaccio und Lessing. Die
Theorie des Romans ist die uns heute zunächst liegende, die
praktisch weitaus bedeutendste Einzelaufgabe der Poetik. Der
materialistische Roman aus der Schule der Comédie humaine
ist bis auf Flaubert und Zola Poesie ohne einen siegreichen
Helden, Krisis ohne wirkliche Versöhnung. Erst aus dem tiefen
Herzen des herrlichen Dickens, der mit dem Kinde, dem Gedankenschwachen,
dem Armen mitempfand, ist der sociale Roman
hervorgegangen. Und erst aus der Tiefe des deutschen geschichtlichen
Bewusstseins entstand in Arnims Kronenwächtern
der erste ächte geschichtliche Roman. Konrad Ferdinand
Meyer ist schöpferisch in Erfindungen, geschichtliche Menschen
aus dem Dunkel der Zeiten sinnlich sichtbar hervortreten zu
lassen. Alles werdend, aufsteigend, einem Unbekannten entgegenschreitend, [482]
wie die Gesellschaft selber, die der Roman der
Zukunft erfassen möchte!


  Es giebt einen Kern, in welchem die Bedeutung des
Lebens, wie sie der Dichter darstellen möchte, für alle Zeiten
dieselbe ist. Daher haben die grossen Dichter etwas Ewiges.
Aber der Mensch ist zugleich ein geschichtliches Wesen. Wenn
die Ordnung der Gesellschaft und die Bedeutung des Lebens
eine andere geworden ist, bewegen uns die Dichter des dann
vergangenen Zeitalters nicht mehr, wie sie einstmals ihre
Zeitgenossen bewegt haben. So ist es heute. Wir harren des
Dichters, der uns sage, wie wir leiden, geniessen und mit dem
Leben ringen!

[figure]

Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel &Co. in Altenburg.

[E483][E484]
Notes
1).

So begründete ich 1877, Zeitschrift für Völker-Psychologie, in dem
Aufsatz über die Einbildungskraft der Dichter das Bedürfniss, die alte
Aufgabe der Poetik wieder in Angriff zu nehmen.
1).

Ich hebe nach den Seiten der 2. Ausgabe 1856 hervor Bd. I, 159.
248. 285. 288. 289. 294. 295. 297. 298. 300. 331. 396. 405. 414. II, 100.
117. 118. 179. 194. 258. 282. 338.
1).

Zeitschrift für speculative Physik II 2. 1801 S. W. IV 105 ff.
1).

Kant, Kritik der Urtheilskraft I § 1.
2).

Vergl. § 2.
3).

Vergl. § 5 Ende.
1).

Hamann Schr. II 128.
2).

Herder Suphan I 148.
1).

Otto Ludwig, Skizzen und Fragmente S. 84.
1).

Vergl. Théophile Gautier, Honoré de Balzac, sowie Balzac's poetische
Darstellung davon in seinem Louis Lambert, sowie Boismont hallucinations
461 ff.
2).

Eckermann I 127 f.
1).

Ebend. II 41 ff.
2).

Flaubert Mittheilung an Taine l'intelligence II 1.
1).

Forster, Dickens' Leben, übers. v. Althaus II 134.
1).

Goethe, Unterhaltungen mit Müller, S. 81.
2).

"Eckermann II 126.
1).

Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft I 166 ff. und Lazarus,
Leben der Seele I 253 ff. benutzen den Ausdruck Apperception, um die verwickelteren
Bildungsprocesse überhaupt zu bezeichnen. Wundt, Physiologische
Psychologie II 210 ff. bezeichnet jeden durch die innere Willenshandlung
der Aufmerksamkeit geleiteten Vorgang in den Vorstellungen als Apper-
ception. Da dieser Ausdruck aber in der Schule von Leibniz einen festen
Sinn erhalten hatte und andere Ausdrücke für die von jenen Forschern
abgegrenzten Gruppen von Vorgängen vorhanden sind, ist im obigen der ältere
Sprachgebrauch beibehalten worden.
1).

Meynert, Psychiatrie 1884 S. 176 ff.
1).

Nach den älteren Aesthetikern am besten behandelt von Fechner,
Vorschule der Aesthetik I 53 ff. als Princip der einheitlichen Verknüpfung
des Mannigfaltigen.
2).

So formulirt Fechner I 80 ff. das Princip der Widerspruchslosigkeit,
Einstimmigkeit oder Wahrheit.
3).

Dieser Satz I 84 f. von Fechner als Princip der Klarheit bezeichnet.
Die drei erörterten Principien fasst Fechner zusammen als die „drei obersten
Formalprincipe“.
1).

Fechners Princip der Wahrheit I 80 ff. ist mit dem der Widerspruchslosigkeit
verbunden und bezeichnet: wir sind nur von Kunstwerken befriedigt,
die der Forderung an äussere Wahrheit soweit genügen, als wir
Anlass finden, eine Uebereinstimmung der Kunstwerke mit äusseren Gegenständen
nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen.
1).

Die Bedeutung des Lebensideals für den Dichter, wie von ihm aus
erst dessen Weltansicht sich bildet, habe ich zuerst auseinandergesetzt:
Lessing, pr. Jahrbücher 1867 S. 117─161, dazu: Scherer zum persönlichen
Gedächtniss, Rundschau 1886 October.
1).

Fechner I 49 f.
2).

Fechner II 231 ff.
3).

II 234 ff.
4).

Fechner II 238. In den darauf folgenden Abschnitten mag man
dann bei Fechner die Verhältnisse der Summirung ästhetischer Eindrücke,
der Abstumpfung, Gewöhnung, Uebersättigung, des Wechsels, Masses etc.
überblicken, deren psychologischen Ort der nächste Satz andeutet.
1).

Fechner I 94.
1).

Auch dieses ästhetische Princip ist von Fechner erwähnt worden,
als Princip der ästhetischen Versöhnung II 238.
2).

Goethe bei Eckermann I 377.
1).

So nach den Untersuchungen von Donders, von Rählmann und
Wittkowski, sowie von Mosso.
1).

Goethe, G. W. Ausgabe Hempel Bd. 34 S. 124 ff.
1).

Eckermann, III 304.
1).

Vorschule der Aesthetik. Ausgabe Hempel S. 222.
1).

an Körner, 25. Mai 1792.
2).

Schiller an Goethe, 18. März 1796.
1).

In den Skizzen und Fragmenten ein Bericht aus dem Tagebuch
des Dichters März 1840, (Nachlass I 45), Shakespearestudien (II 303), und
aus dem Nachlasse „zum Verständniss der eigentümlichen Methode von
O. Ludwig's Schaffen“, I 134.
1).

An Autobiography by Anthony Trollope, vol. I, p. 56.
1).

Schleiermacher Aesthetik, herausgegeben von Lommatzsch, S. 116.
1).

Diese drei Principien sind von Gustav Freytag in seiner Technik
des Drama 1863, S. 24 ff. als Regeln des Dramas zusammen mit dem Princip
der Wahrscheinlichkeit entwickelt worden.
1).

Angaben über die Quellen unsrer Erkenntniss finden sich zunächst
in Waitz, Anthropologie der Naturvölker II 236 ff., 524, III 231 ff., IV 476,
Beispiele II 240 ff., III 232.
2).

Angaben über die Quellen bei Waitz II 237 ff., III 234.
1).

Angaben über die Quellen bei Tylor, Anfänge der Cultur II 133, 421,
Anthropologie 354 ff. Lubbock, Entstehung der Civilisation 445. Waitz,
Anthropologie der Naturvölker II 243; III 137, 210; IV 123, 476.
1).

Vahlen, Beiträge zu Aristoteles Poetik I 11.
1).

Zeitschrift für Völkerpsychologie Bd. X 42 ff. Ich füge hinzu, dass ich
in dem Vortrag über dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, 1886,
einige Hauptpunkte der jetzt in dieser Abhandlung vorgelegten psychologischen
Grundlegung allgemeinverständlich dargestellt habe; in meinen literarhistorischen
Abhandlungen über Lessing, Novalis, Dickens, Alfieri etc. habe
ich, der hier gegebenen Grundlegung entsprechend, vielfach psychologische
Gesichtspunkte für die literarhistorische Charakteristik zu verwerthen gesucht.
So enthalten auch sie Ergänzungen des hier Dargelegten.
1).

Ueber den doppelten Gebrauch des Ausdruckes μῦθος in der Poetik
für den Stoff, der dem epischen oder dramatischen Dichter vorliegt (die zu
bearbeitenden πράγματα) und für dieses ausgebildete Grundgefüge (σύνθεσις
τῶν πραγμάτων) handelt Vahlen Beiträge zu Aristoteles Poetik I 31 ff.
1).

Für die nähere Erörterung der dramatischen Handlung, insbesondere
den Nachweis der Verschiedenheit ihres Baues, welche durch den ge-
schichtlichen Wechsel ihres Gehalts bedingt ist, verweise ich auf meine
Erörterung der Schrift von Freytag, Berliner Allgem. Zt. 26. März, 29. März,
3. April, 9. April 1863.

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Dilthey. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7B0-F