J. J. ENGELS
SCHRIF TEN.

ELFTER BAND.

[EAI:e][EAI:d]


[figure]

POETIK.


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BERLIN 1806.
IN DER MYLIUSSISCHEN BUCHHANDLUNG.

[EAI:c]
[EAI:b]
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Diese Poetik, oder „Theorie der Dichtungsarten,“
erschien zum erstenmal 1783, Berlin
und Stettin, bei Fr. Nicolai. Sie hatte damal
eine Zueignungsschrift an den Herzog Peter
von Curland, unterzeichnet: Berlin am 13 Jänner
1783. Daß der Verfasser nie Musse oder
Laune fand, diesem Ersten Theile den versprochenen
Zweiten folgen zu lassen, wird Jeder
schmerzlich bedauern, der auch nur dessen
„Vorrede“ liest. ─ Zum andernmal erschien
dieses Werk nach des Verfassers Tode, ebendaselbst
1804, mit einer hinzugefügten Vorrede
des Verlegers Hrn Nicolai. ─ Bei dem gegenwärtigen
Abdruck ist so verfahren worden, wie
überall in dieser Sammlung von Engels Schriften.
Die vielleicht itzt minder bekannten, gar
zu kursen Anführungen sind geuauer nachgewiesen.
Aber die aus den Dichtern eingerückten
Stellen hat man nicht verändern wollen; [EAI:a]
weil Manchen es lieb sein dürfte die älteren
Lesearten wieder zu finden, auch Engel selbst
zum Theil die neuern Ausgaben der Verfasser
vor sich hatte und dennoch jene frühern Lesarten
wählte.


  Da der gegenwärtige Band so sehr viel
stärker, als jeder andere der Schriften, werden
mußte: so ist, um die Gleichheit beim Einbinden
möglich zu machen, eine Abtheilung
getroffen worden. Von den zu dem Ende beiliegenden
kleinern (sogenannten Schmutz-) Titeln
kömmt der erste gleich hinter dieser Nachricht;
der andere, vor Seite 223. Der Haupttitel
vor der Vorrede des Verfassers ist von
dem Titelblatt der ersten Auflage von 1783 genommen.


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ENGEL'S
THEORIE
DER
DICHTUNGSARTEN.

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ERSTE ABTHEILUNG:
HAUPTSTÜCK 1─5.

ANFANGSGRÜNDE
EINER
THEORIE
DER
DICHTUNGSARTEN
AUS
DEUTSCHEN MUSTERN
ENTWICKELT.

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ERSTER THEIL.

[RI]
[RII][RIII]

[RIV]

VORREDE.

[RV]
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Es wird vielleicht sonderbar scheinen,
daſs ich die Theorie der Dichtungsarten,
wovon ich hier einen nur so unvollkommnen
Anfang liefere, nicht lieber
aus Griechischen und Römischen,
als aus Deutschen, Mustern habe entwickeln
wollen. Denn jene Muster sind
doch immer die frühern, und werden
einhellig von allen Nationen als vortrefflich
erkannt; auch ist das was wieder
unter ihnen das Vortrefflichste ist,
schon so ausgesondert, daſs ich mir [RVI]
fast alle Mühe des Sammelns und Auswählens
hätte ersparen können. In der
That hätte ich mir diese Mühe äußerst
gern erspart; denn Werke der Dichtkunst,
wenn ich die vortrefflichen eines
Wieland und weniger Andern ausnehme,
haben schon lange aufgehört
meine Lieblingslectüre zu seyn.


  Allein die Veranlassung dieses Werks,
die ich kürzlich erzählen will, ließ mir
in diesem Stücke keine Wahl übrig:
ich mußte mich allein auf deutsche
Dichter einschränken. Ich erhielt nehmlich
den Auftrag, außer dem philosophischen
Unterricht, der mir zugetheilt
war, auch eine Anleitung zur geschmackvollen
Lesung der besten vaterländischen
Dichter zu geben; denn
man erkannte sehr wohl, wie wichtig [RVII]
die Bildung des Geistes und Geschmacks
durch Werke der Muttersprache
sei; da die künftige Nützlichkeit
des Studirenden für sein Vaterland
hauptsächlich davon abhängt, wie
richtig und kräftig und fein er in der
Sprache seines eigenen Volkes denke
und sich ausdrückt. Ich sah mich also
nach einer Sammlung von auserlesenen
Stücken aus deutschen Dichtern
um; allein ich fand keine, die mir zu
meiner Absicht gefallen hätte. Einige
der Sammler hatten sich bloß auf gewisse
Gattungen der Dichtkunst, oder
auch auf gewisse Zeiten und Provinzen
eingeschränkt; Andre hatten bloß
für Kinder, wieder Andre nicht mit genug,
oder auch mit zu viel Geschmack
gesammelt. Denn ich wünschte eine [RVIII]
Sammlung nicht bloß von Beispielen
des Guten, die ich loben, sondern
auch des Schlechten, die ich tadeln
könnte. Ich erinnerte mich des Ismenias
von Theben, der seine Schüler
nicht immer nur vortreffliche, sondern
mitunter auch schlechte Flötenspieler
hören ließ, um sie für die Schönheit
des Vortrags durch das Fehlerhafte
desto empfindlicher zu machen, und
wenn er ihnen gesagt hatte: So muß
man spielen! ihnen auch sagen zu können:
So muß man nicht spielen!*


  Mein erster Gedanke war also bloß,
eine eigne Sammlung herauszugeben,
die meinen Absichten mehr als die
schon vorhandenen entspräche. Die [RIX]
Ordnung, nach welcher ich die gewählten
Stücke reihen wollte, war
leicht gefunden: ich beschloß, sie nach
den verschiednen Dichtungsarten zu
reihen. Aber, außer dem Ekel den
ich bald bei dieser Arbeit empfand,
ward es mir, während des Sammelns,
immer einleuchtender: wie unphilosophisch
man bisher bei Bestimmung
der Dichtungsarten verfahren; wie man
ganz verschiedne Gründe der Eintheilung
durch einander geworfen, zufällige
für wesentliche gegriffen, sich bei
Bestimmung der Gattungen bloß auf
das eingeschränkt wovon man bei den
Alten Beispiele fand, Manieren einzelner
Dichter zu Regeln gemacht, nirgend
bis zu allgemeinen deutlichen
Begriffen hinaufgestiegen, wichtige Untersuchungen [RX]
fast gar nicht berührt,
und durch alle diese Fehler zur Verachtung
der Theorie und Kritik nur
allzuviel Grund gegeben. Ich faßte
den Entschluß, diesen Hauptmängeln
der Kritik durch einen fortlaufenden,
zwischen die Beispiele eingestreuten,
Discurs, nach meiner besten Einsicht,
abzuhelfen; allein ich fand es unmöglich,
diesen speciellern Theil der Dichtkunst
zu bearbeiten, ohne zugleich von
dem allgemeinern Theile, der das Wesen
des Gedichts überhaupt und Alles
was dem anhängt entwickelt, wenigstens
das Vornehmste mitzunehmen.
Doch wollt' ich das nur gelegentlich
einstreuen, und es weniger vollständig
vortragen, weil ich den Zuhörer,
wenn er künftig einst tiefer in die [RXI]
Materien eindringen wollte, schon auf
Schriften verweisen konnte, in denen
Licht und Bestimmtheit herrschte. Auch
hielt ich diese allgemeinere Theorie
für zu schwer, und den Fähigkeiten
meiner in die Philosophie noch nicht
eingeweihten Schüler zu wenig angemessen.
Eben deswegen habe ich mich
fürs erste in dem was ich davon beigebracht,
noch nicht mit aller Genauigkeit
und Schärfe ausgedrückt;
ich habe z. B. lieber „Lebhaftigkeit“
als sinnliche Vollkommenheit gesagt,
weil mir dieser Begriff, wenigstens bis
nach gewissen Entwickelungen, die
erst im zweiten Theile folgen sollen,
noch allzufein schien. Jene speciellere
Theorie, glaubte ich, würde sich klarer
und faßlicher vortragen lassen; aber [RXII]
meine Hoffnung, wie ich mitten in der
Arbeit gewahr ward, betrog mich.


  Es war nur noch die Art des Vortrags
zu wählen; und ich wählte die
analytische: theils, weil ich in ihr die
Gründe meiner Erklärungen und Eintheilungen
am besten vorlegen konnte;
theils, weil ich sie bei allem Unterricht
in der Philosophie ─ und was
ist Dichtkunst anders, als ein abgerissener
Theil der Seelenlehre? ─ für
besser und bildender als die gewöhnliche
halte. Man hat mir gegen das
Lob, das ich schon sonst dieser Lehrart
ertheilt, eine Einwendung gemacht,
von der ich gestehen muß, daß ich
sie nicht begreife. Man glaubt, daß
die Wahrheiten sich bei dieser Lehrart
dem Gedächtniß nicht so gut, wie [RXIII]
bei der gewöhnlichen einprägen. Ich
sollte denken: besser; eben weil sie
hier mehr mit dem Verstande gefaßt
werden, und der Lehrling um so größeres
Interesse an ihnen gewinnt, je
länger und je mühsamer er sie hat
suchen müssen. Allein gesetzt auch,
sie entfielen dem Gedächtniß wieder;
ist denn der eigentliche Hauptzweck
des philosophischen Unterrichts der,
daß man das Gedächtniß fülle, oder
der, daß man den Scharfsinn erhöhe?
Der Schüler der Philosophie ist ein
junger Künstler, nicht ein angehender
Kaufmann, und der philosophische
Hörsaal ist ein Übungs-, nicht ein
Marktplatz wo Waaren verhandelt werden.
Alles was man daraus mitnehmen
soll, ist Fertigkeit in der Kunst zu [RXIV]
entwickeln. Oder, wie ich einst einem
Freunde diesen Einwurf beantwortete:
der junge Schüler der Philosophie ist
ein angehender Virtuose; und die
Schule oder Universität, sein Italien.
Er reist nicht hin um Musikstücke einzukaufen:
das überläßt er Breitkopf,
dem Notenhändler; er reist hin, um
berühmte Meister zu hören, und Geschmack
und Manier zu bilden. Dieses
und jenes vortreffliche Stück sucht
er freilich wohl gelegentlich zu erhaschen;
aber wenn er auch keines erhascht,
oder wenn ihm auch sein Coffer
voll Musikalien auf den Alpen verloren
geht, so hat er darum nicht den
Zweck seiner Reise verfehlt.


  Ich behielt also meine Lehrart, mit
der Überzeugung von ihrer Zweckmäßigkeit [RXV]
und ihren überwiegenden Vortheilen,
auch in der Dichtkunst bei,
entwickelte alle Begriffe aus gewählten
Beispielen, fing mit den gewöhnlichen
unvollkommnern Begriffen an, und
suchte sie, nach und nach, sowie sich
die Gelegenheit darbot, immer mehr
aufzuklären und zu berichtigen. Man
vergleiche z. B. die beiden letzten
Hauptstücke dieses ersten Theils, mit
dem zweiten Hauptstück. Die Begriffe
von Materie und Form, die in diesem
zweiten Hauptstück nur noch verwirrt
hingeworfen wurden, werden hier in
größeres Licht gesetzt, und, wie ich
mir schmeichle, bis zur völligen Deutlichkeit
entwickelt.


  Wenn man glaubt, daß die Vortheile
die ich von der analytischen [RXVI]
Methode rühme, vielleicht nur Vorwand
sind, und daß ich wohl eigentlich
nur das Leichtere und Bequemere
gesucht habe; so thut man mir Unrecht.
Wahrlich! ich hätte für meine
Trägheit nicht ärger, als eben durch
meine Wahl, bestraft werden können.
Was man aus seinem Nachdenken am
leichtesten mitbringt, und also am
leichtesten wiedergiebt, sind die Resultate
mit ihren hauptsächlichsten
Gründen; was beim Wiedererinnern
Mühe und beim Aufschreiben Noth
macht, ist die ganze Reihe der oft so
feinen, oft so schnellen Operationen,
wodurch die Seele die Gründe fand
und die Resultate entwickelte. Ja,
wenn es nur noch genug wäre, der
treue Geschichtschreiber seines eigenen [RXVII]
Denkens zu seyn! Man ermüdet
den Leser unausbleiblich, wenn man
sich hier zu genau an die Wahrheit
hält; wenn man ihn auch diejenigen
Wege durchführt, von denen man
selbst wieder umkehren mußte; oder
da wo man durch einen weitläuftigen
beschwerlichen Umweg zum Ziel gekommen
war, ihn diesen ganzen Umweg
mitmachen läßt, ohne seitwärts
in kürzere und angenehmere Fußsteige
auszubeugen. Der analytische Schriftsteller,
wenn er sich der ausdaurenden
Aufmerksamkeit des Lesers versichern
will, muß mitten im Philosophiren
ein wenig den Dichter spielen:
er muß die wahre Folge seines Räsonnements
wie eine Natur behandeln,
die bei der Nachahmung nicht immer [RXVIII]
nur copirt, auch verschönert seyn will;
er muß sehr oft einen künstlichen
Gang dem wahren substituiren, und
doch diesen Gang so ebnen, so sanft
sich schlängeln lassen, so treffend zum
Ziele hinrichten, daß wir der Kunst
nicht gewahr werden. Ob ich in dem
Bestreben dieses zu thun, überall oder
auch nur meistens glücklich war, müssen
mir meine Leser sagen; ich selbst
kann nichts weiter sagen, als daß ichs
gewollt habe: und wie sehr ich dadurch
meine Arbeit erschwert und verlängert,
läßt sich begreifen.


  Da meine Schrift noch nicht vollendet
ist; so finden sich in diesem ersten
Theile, eben um der gewählten Methode
willen, noch manche mangelhafte
und verworrne Begriffe, über die man [RXIX]
mich hoffentlich nicht zur Rede setzen
wird, weil es sich fragt, ob ich nicht
künftig auf sie zurückkommen, und sie
von den Fehlern die ihnen itzt noch
ankleben, reinigen werde. So werd'
ich z. B. erst künftig den falschen Eintheilungsgrund
rügen, dessen bei Gelegenheit
des Hirtengedichts gedacht
wird: ich werde zeigen, daß Gegenstand,
Classe von Gegenständen, Welt,
wie man sich ausdrücken will, ganz
und gar nicht in die Theorie der
Dichtkunst gehöre, weil sie schlechterdings
keine Gränzen haben würde,
wenn man das Besondre aller der Arten
von Gegenständen, die sich poetisch
bearbeiten lassen, mit hineinziehen
wollte. An die Stelle dieses falschen
Eintheilungsgrundes aber wird [RXX]
ein anderer treten, und erst da werden
die wichtigen Lehren von dichterischer
Wirkung, Natur, Wahrheit,
Moralität u. s. w. ihre Stelle finden.


  Einen der beträchtlichsten Fehler
meines Buchs, den ich schon oben
undeutlich angab, will ich lieber ganz
frei heraus bekennen, und mich eben
dadurch der Verzeihung meiner Leser
versichern. Dieser Fehler ist die Ungleichheit
des Tons, der in den erstern,
und (wie ich hoffe) auch hie
und da in den mittlern und letztern
Hauptstücken leicht und faßlich, und
dann mitunter wieder so schwer ist,
daß er selbst spitzfindig scheinen könnte.
Oft schreibe ich die ersten Anfangsgründe
für Jünglinge, und dann
wieder Subtilitäten für Männer. Eben [RXXI]
weil ich diese Unschicklichkeit mitten
im Werke gewahr ward, lagen die ersten
elf Bogen, die ich nach und nach
abdrucken ließ, schon seit fünf Jahren
unvollendet, und ich würde gern das
ganze Buch unterdrückt haben, wenn
ich es vor dem Verleger hätte verantworten
können. Doch ist die Schuld
weniger mein, als der Materie; mein
nur insofern, daß ich den zu feinen
und für Anfänger zu schweren Materien
nicht lieber auswich. Allein ich
hätte in diesem Fall zwei Bücher
schreiben müssen, wozu ich mich
wenig aufgelegt fühlte: denn, wie ich
schon berührt habe, so sind alle zum
speciellern Theil der Dichtkunst gehörige
Grundbegriffe, und auch einige
Puncte des allgemeinern Theils, noch [RXXII]
in keinem mir bekannten Werke deutlich
entwickelt, und ich hätte nicht
gewußt, worauf ich Lehrer und Leser,
zur Rechtfertigung meiner Änderungen
im Gebäude der Theorie, oder
worauf ich auch den bessern Schüler,
zu weiterm Unterricht, hätte hinweisen
sollen.


  Mag doch der Lehrer, der sich des
Werkchens etwa bedienen will, Untersuchungen,
wie die allgemeinen über
Materie und Form, überschlagen, und
sich desto länger bei den Kritiken
der gegebenen Beispiele und bei den
besondern Regeln jeder Dichtungsart
verweilen, die ich in einigen Hauptstücken
nur ganz kurz zusammengedrängt,
und wovon ich nur die
Principien umständlicher entwickelt [RXXIII]
habe *
. Das Nehmliche wird sich mit
einigen Puncten aus dem allgemeinen
Theile der Dichtkunst thun lassen, in
deren Untersuchung ich mich deswegen [RXXIV]
einließ, weil ich in den besten theoretischen
Werken die wir haben, noch
keine völlige Befriedigung darüber fand.
Dahin gehört vornehmlich die Untersuchung
über das was sich mit der
Sprache zur Anschauung bringen läßt,
und was also der Dichter einzig soll
beschreiben wollen. Ich fand hierüber
nicht das Wahre im Laokoon, und
nicht das Vollständige im Ersten kritischen
Wäldchen:
einem Buche, das
ich übrigens für eins der trefflichsten
Stücke Kritik halte, die je sind geschrieben
worden.


  Eine ähnliche Ursache hat mich hie
und da auch über einige ganz specielle
Puncte, die bei den verschiedenen
Dichtungsarten vorkommen, ein wenig
schwatzhaft gemacht. So z. B. in dem [RXXV]
Hauptstück von dem Hirtengedichte.
Der Schlegelsche so unbedeutende
Einwurf gegen die Erklärung in den
Literaturbriefen war bereits in der N.
Bibl. der Schönen Wissensch. beantwortet*
.
Allein es war noch ein anderer
mehr scheinbarer Einwurf übrig; [RXXVI]
dieser nehmlich: wie die moralische
Güte der Empfindungen und Leidenschaften,
die doch Jeder von dem Hirtengedicht
fordert, aus dem Begriff des
verschönerten Gemäldes der kleinen
Gesellschaften fließe. Ich fand diese
Frage bei einem unserer kritischen
Schriftsteller; allein die Antwort darauf
fand ich nirgend: und doch schien
mir die Frage der Beantwortung nicht
unwerth, weil sie, auch bei der richtigsten
Bestimmung des Begriffs der
kleinen Gesellschaften, übrig zu bleiben
scheint, und man nicht so unmittelbar
einsieht: warum selbst der Erfinder
der bestrittenen Erklärung einen
sanften und ruhigen Ton von dem
Hirtendichter fordert. Ich schmeichle
mir, alle Schwierigkeit gehoben, und [RXXVII]
die Regel aus der Erklärung selbst bis
zur Befriedigung entwickelt zu haben.


  Das was ich oben den Lehrer der
Jugend zu überschlagen bat, bitte ich
jetzt den Kenner, in meinem Werkchen
ausdrücklich aufzusuchen; es ist
das Einzige, was ihn darin vielleicht
interessiren kann. Wenigstens mich
interessirt es unendlich, sein Urtheil
zu hören, und wo ich geirrt habe,
Zurechtweisung von ihm zu erhalten.
─ Einen andern angenehmen Dienst
würde man mir erzeigen, wenn man mir
hie und da bessere Beispiele des Guten
und Schlechten nachwiese, als mir
mein Gedächtniß oder eine oft mit
Unmuth abgebrochene Lectüre an die
Hand geben wollte. Bei einer neuen
Auflage, die ja so manches, vielleicht [RXXVIII]
noch mittelmäßigere, Buch erlebt,
würd' ich sicher Gebrauch davon machen.
Nur bitte ich, mich nicht in
dem Verdacht zu haben, als ob ich
wirklich schlechte Stücke für schön
hielte, weil ich sie als Beispiele zu
den gegebenen Begriffen hingesetzt,
und ihrer Fehler mit keiner Sylbe gedacht
habe. Es war mir genug, wenn
sie nur das zeigten was sie zeigen
sollten; und übrigens konnt' es mir
zuweilen lieb seyn, wenn ich den
Schüler zu eigner Beurtheilung veranlaßte,
und seinen Geschmack auf
die Probe stellte. So ist die Schlegelsche
Fabel S. 60 in der That eine
zusammengesetzte Fabel, und zum Beispiele
um so geschickter, da hier Bild
und Gegenbild in allen einzelnen Zügen [RXXIX]
einander genau entsprechen, und
sogar in beiden Erzählungen einerlei
Reime beibehalten worden. Übrigens
ist sie freilich äußerst matt und langweilig
erzählt, aber sie steht hier auch
nur als Beispiel einer zusammengesetzten,
nicht einer schönen Fabel.


  Indem ich von der Fabel rede, erinnere
ich mich an das was ich meinen
Freunden zu danken habe. Dem
jetzt verewigten Lessing, wie ein Jeder
leicht wahrnehmen wird, das ganze
Hauptstück von der Fabel; einem der
Mitarbeiter an den Literaturbriefen ─
oder warum sollt' ich den würdigen
vortrefflichen Mann nicht lieber mit
Namen nennen? ─ Hrn Mendelssohn
den Begriff der Idylle, und was für
mich noch weit wichtiger war, den [RXXX]
Begriff des lyrischen Gedichts. Indem
ich über das was er von dem besondern
Ideengange in diesem Gedichte
sagt*
, weiter nachsann, entdeckte
ich, daß überhaupt die Ideenordnung
der wahre Begriff der Materie, als des
ersten Eintheilungsgrundes der Dichtungsarten,
wäre; und indem ich noch
weiter nachsann, fand ich, wie viel
auch die allgemeine Theorie von den
Formen durch diese Lehre gewönne.
Gespinnst und Gewebe selbst sind also
zwar mein; aber die Flocke, aus der
ich spann, gehört meinem Freunde: [RXXXI]
und wer weiß, ob ihm nicht Manches
auch noch von dem Übrigen zukäme,
wenn wir nicht das Unsrige,
bei verschiednen über diesen Gegenstand
gepflogenen Gesprächen, so
durch einander geworfen hätten, daß
wir es schwerlich wieder herausfinden
mögten. Es ist mit den Wahrheiten,
wie mit den Münzen: sie lassen
sich nur am Gepräge erkennen;
und wo also dieses abgegriffen ist ─
wie es sich denn an den Wahrheiten
im Gespräch so leicht abgreift ─
da weiß man nicht mehr, von wem
sie geschlagen worden. Die Materie
ist überall die nehmliche, wenn anders
die Münze echt ist: Gold oder
Silber.


  Wie bald der zweite Theil diesem [RXXXII]
ersten folgen mögte, kann ich nicht
sagen. Ich habe der poetischen Lectüre
fürs erste satt, und weiß noch
nicht, wie bald ich genug Entschließung
haben werde mich von neuem
darauf einzulassen. Der wichtigen Materien
sind freilich noch die Menge
zurück; aber einen großen Vortheil
muß ich doch in diesem ersten Theil
schon einigermaßen erreicht haben,
oder ich habe meine vornehmste Absicht
verfehlt. Sie war nehmlich die:
der Verwirrung in den Haupteintheilungen
abzuhelfen, überall bis zu allgemeinen
Grundbegriffen hinaufzusteigen,
das Genie mit seiner Arbeit
nicht bloß auf gewisse Fächer einzuschränken,
und noch vielweniger
ihm die eigenthümliche Manier dieses [RXXXIII]
oder jenes alten Meisters zum Gesetz
zu machen. Eine solche Erweiterung
der Theorie war schon ehemal meine
Absicht, als ich die Gedanken über
Handlung Gespräch und Erzählung
für die Neue Bibliothek der Schönen
Wissenschaften schrieb *
; doch hatte
ich damal die wesentlichsten Begriffe
noch nicht hinlänglich entwickelt. ─
Wenn man mich zuweilen auf Ideen
ertappen sollte, die aus jenem Journale
entlehnt sind **

[figure]

; so halte man [RXXXIV]
mich darum für keinen Plagiarius: ich
habe meines Wissens Niemand anders
damit beraubt, als mich selbst. **

INHALT
DES ERSTEN THEILS.

[RXXXV]
[figure]


[figure]

  • Seite
  • Erstes Hauptstück. Von dem
    Gedicht überhaupt.
    1
  • Zweites Hauptstück. Von den
    verschiedenen Dichtungsarten.
    25
  • Drittes Hauptstück. Von der
    Fabel.
    43
  • Viertes Hauptstück. Von der
    Idylle.
    94
  • Fünftes Hauptstück. Von dem
    Lehrgedicht.
    146
  • Sechstes Hauptstück. Von dem
    beschreibenden Gedicht.
    223
  • Seite
  • Siebentes Hauptstück. Von der
    Handlung.
    307
  • Achtes Hauptstück. Von dem
    lyrischen Gedicht.
    443
  • Neuntes Hauptstück. Von den
    Formen des Gedichts.
    533
[figure]

ERSTES HAUPTSTÜCK.

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Von dem Gedicht überhaupt.

[E1]
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Der beste Weg, sich von einer Sache
einen bestimmten Begriff zu machen, ist
der, daſs man sie mit ihrem Gegentheil
vergleiche. Der Poesie steht die Prosa
entgegen; und um also einen richtigen
Begriff von jener herauszubringen, müssen
wir sie mit dieser zusammenhalten. ─ Jedermann
fühlt, daß es Poesie ist, wenn
Gleim singt:


Vom sternenvollen Himmel sahn
  Schwerin und Winterfeld,
Bewundernd den gemachten Plan,
 Gedankenvoll den Held.

[2]

Gott aber wog, bei Sternenklang,
  Der beiden Heere Krieg;
Er wog, und Preußens Schale sank,
 Und Östreichs Schale stieg.


Und daß es Prosa ist, wenn der Geschichtschreiber
erzählt: „Der König nahm so
weise Maßregeln, und griff die Feinde so
vortheilhaft an, daß er, ungeachtet ihrer
großen Überlegenheit, einen vollkommenen
Sieg erhielt.“


  Was macht nun aber jenes zur Poesie
und dieses zur Prosa? Kein Unterschied
zwischen beiden Stellen fällt sichtbarer in
die Augen, als daß in der einen ein bestimmtes
Sylbenmaß ist, in der andern
nicht; daß die eine gereimt ist, die andere
nicht. ─ Sollten denn aber Sylbenmaß
und Reim wirklich den einzigen,
oder nur den Hauptunterschied machen?
Wir wollen sehen. ─ Der sonst vortreffliche
Hagedorn singt:

[3]

Was ist die Weisheit denn, die Wenigen gemein?
Es ist die Wissenschaft, in sich beglückt zu
seyn.

Was aber ist das Glück? Was alle Thoren
meiden:

Der Zustand wahrer Lust und dauerhafter
Freuden;

Empfindung, Kenntniß, Wahl der Vollenkommenheit,

Ein Wandel ohne Reu, und stete Fertigkeit,
Nach den natürlichen und wesentlichen Pflichten
Die freien Handlungen auf Einen Zweck zu
richten.


Hier ist auch Sylbenmaß und Reim; und
doch wird jeder Leser von Geschmack
die Stelle tadeln: er wird die Verse zu
prosaisch finden. Hingegen, wenn Gerstenberg
sagt: „Trage mich auf deinen
kühlenden Flügeln, schneller Boreas, nach
Cypern hin, wo Bacchus neue nektarische
Reben pflanzt!“ so ist hier zwar mehr als [4]
gewöhnlicher Wohlklang, aber es findet
sich weder Sylbenmaß noch Reim; und
gleichwohl ist die Stelle poetisch. Auch
führt die Sammlung, woraus sie genommen
ist, den Titel: Prosaische Gedichte.


  Wir werden also noch andere Merkmaale
aufsuchen müssen: und da fällt nun
wieder kein Unterschied deutlicher in die
Augen, als daß die poetischen Stellen Erdichtung,
die prosaischen lauter Wahrheit
enthalten. In der Gerstenbergischen
finden wir Wesen genannt, die nirgend
als in der Einbildung der Dichter existitiren:
Bacchus und den beflügelten Boreas;
in der Gleimischen sind zwar die
aufgeführten Wesen alle wirklich, aber
die ihnen beigelegten Handlungen sind
erfunden. Die Hagedornische Stelle dagegen
enthält nichts als philosophische,
sowie die andere, die wir der Gleimischen [5]
entgegensetzten, nichts als historische
Wahrheit. ─ Das Wesen der Poesie
scheint demnach in der Erdichtung, der
Prosa in der Wahrheit zu liegen; und die
griechische sowohl als die deutsche Etymologie
der Wörter Poesie und Gedicht
scheint diesen Begriff zu bestätigen.


  Aber auch dieses Merkmaal kann noch
nicht hinlänglich seyn; denn wenn nun
ein falscher Zeuge vor Gericht eine ganze
Erzählung ohne allen Grund der Wahrheit
ersinnet: ist er darum ein Dichter?
Oder ist jede Heiligenlegende, jedes Koboldmährchen
ein Gedicht, weil Wesen
der Einbildung darin vorkommen? ─ Und
wie, wenn es Poesie gäbe, die ein jeder
dafür erkennte, und die gleichwohl nichts
als wahre Empfindungen in wahren wirklichen
Situationen ausdrückte? Haller singt
bei dem Tode seiner Mariane:

[6]

Wie oft, wenn ich dich innig küßte,
  Erzitterte mein Herz und sprach:
Wie, wenn ich sie verlassen müßte?
  Und heimlich folgten Thränen nach.


Diese so empfindungvolle Stelle ist gewiß
nicht prosaisch; und doch enthält sie, wie
man dem Dichter leicht glauben kann,
nichts als Wahrheit.


   Also zum dritten Unterschiede, der in
den obigen Stellen sichtbar ist! Dieser
besteht darin: daß die poetischen ungewöhnlichere
Wörter,
wie: Sternenklang,
nektarische Reben; fremde und eigene
Wortfügungen:


Bewundernd den gemachten Plan,
  Gedankenvoll den Held;


kühnere Metaphern: Gott wog den Krieg
beider Heere; häufigere Epithete, wie:
kühlender Flügel, schneller Boreas, sternenvoller
Himmel, enthalten; mit einem [7]
Worte, daß sie im Ausdrucke weit voller,
glänzender, enthusiastischer sind, als
die ganz simpeln und schmucklosen prosaischen. Note: Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach https://textgridrep.org/browse/-/browse/ng6s_0
─ Aber auch dieses Merkmaal
kann wohl nicht hinlänglich seyn; denn
die zuletzt angeführte Hallerische Stelle
ist im Ausdruck desto ungeschmückter und
einfältiger, und ist gleichwohl poetisch.


  Demungeachtet fühlt man, daß in jedem
dieser Merkmaale, obgleich keines
den Begriff erschöpft, ja obgleich jedes
einzeln wegseyn kann, etwas zur Poesie
Gehöriges liege. Reim und Sylbenmaß
machen noch kein Gedicht aus; aber
gleichwohl gehören beide nur für den
Dichter. Nicht zu jedem Gedichte wird
Erdichtung erfordert, und nicht jede Erdichtung
ist Poesie; aber gleichwohl ist
es unläugbar etwas Poetisches, zu erdichten.
Nicht in jedem Gedichte darf der [8]
Ausdruck glänzend und prächtig seyn;
aber gleichwohl ist ohne Zweifel so ein
Ausdruck poetisch. ─ Alles kömmt also
darauf an, daß wir das Allgemeinere
finden, das in jedem dieser Merkmaale
begriffen ist: denn dieses Allgemeinere
muß das Wesen der Poesie enthalten. Am
besten, daß wir zu dieser Untersuchung
das Merkmaal des Reims und des Sylbenmaßes
wählen, weil diese dem Gedicht
allein eigen sind, und schlechterdings
nicht für die Prosa gehören.


  Aber der Reim findet sich nur in den
neuern, und auch bei weitem nicht in allen
neuern Gedichten. Die Römer und
Griechen reimten nie, und auch Kleists
Frühling, Klopstocks Messias, viele Oden
von Ramler, sind ohne Reim geschrieben.
Wir lassen daher auch den Reim lieber
weg, und bleiben bloß bei dem Sylbenmaß.


[9]

  Was kann man also davon gehabt haben,
daß man sich den Zwang auferlegt,
lange und kurze Sylben, bald mit der
genauesten Regelmäßigkeit, bald mit etwas
freierer Wahl, abwechseln zu lassen?
Das erste z. B., wenn man in lauter Iamben
schreibt; das andere, wenn man Hexameter
macht? Was ferner davon, daß
man diese regelmäßig abwechselnden Sylben
insgemein wieder in Zeilen von gleich
viel Füßen, oder wenigstens in regelmäßig
abwechselnde Zeilen von ungleichen
Füßen eingeschlossen hat? Ja oft noch
überdies sich das Gesetz auferlegt, ganze
Reihen von solchen Zeilen wiederum einander
gleich zu machen? Mit einem
Worte: daß man sich an Sylben-Zeilen-
und Strophenmaße gebunden hat?


  Zuerst merkt ein jeder, daß die Art
von Tact und von Rhythmus, die hiedurch [10]
in die Rede kömmt, etwas sehr
Schmeichelhaftes für das Gehör habe,
und daß durch dieses Schmeichelhafte,
welches sich mit dem Reiz des Neuen
und Ungewöhnlichen vereinigt, die Aufmerksamkeit
mehr erweckt, der Eindruck
mehr verstärkt werde, als durch die freiere
prosaische Art zu reden. ─ Wenn man
den Kindern das Lernen historischer Namen,
grammatikalischer Regeln u. s. f. erleichtern
und angenehmer machen will,
so bringt man sie ihnen in Verse.


  Ferner hat die Poesie schon durch
das bloße Sylbenmaß einen Vortheil, den
die Prosa nie so ganz erreichen kann:
diesen nehmlich, daß es manche in den
Worten liegende Vorstellungen durch
Nachahmung sinnlicher macht, daß es
malt. In folgender Gleimischen Stelle wird
die Geschwindigkeit mehr noch durch die [11]
Daktylen und die Kürze der Zeilen, als
durch das Gleichniß, ausgedrückt:


Den flüchtigen Tagen
  Wehrt keine Gewalt;
Die Räder am Wagen
Entfliehn nicht so bald.


Und so haben andre Sylben- und Zeilenmaße
etwas Langsames, Feierliches, Prächtiges,
Sanftes, das schon in dem bloßen
Falle liegt, und wenn es mit dem Inhalt
der Worte gehörig harmonirt, die Vorstellungen
bei richtiger Declamation sehr
zu unterstützen dient. ─ Selbst Unregelmäßigkeiten
des Sylbenmaßes haben oft
viel Ausdrückendes und Malerisches. Wie
z. B. die unvollendete Zeile in Kleists
Frühling:


─ ─ ─ Verstummt dann, bebende Saiten!
So preist ihr würdger den Herrn!


Oder der Mangel des Einschnitts in folgender
Ramlerischen Zeile:


Solang' in dieses Hafens Arme Segel wallen.

[12]

Oder Spondeen, statt der Daktylen, in
dem vorletzten Fuße des Hexameters, wie
manchmal bei Klopstock. Oder die Verschlingung
einer Zeile und einer Strophe
in die andre, wie bei Ramler:


O weiche Söhne tapfrer Franken! Sprechet
  Helvetien um Männer an!
O plündert unbewährte Fürstenthümer! Brechet
  Mit Wagen, Roß und Mann
In eurer Väter alte Sitze! Schreitet
 Kühn über den gehörnten Rhein u. s. w.


Wer sieht nicht, wie vortrefflich hier der
Dichter, bloß durch seinen kunstvollen
Versbau, die Gedanken gemalt hat? Überhaupt
hat Niemand das Mechanische der
Poesie, wie man es nennt, so sehr in seiner
Gewalt gehabt, und es mit solcher
Klugheit zu nutzen gewußt, als Ramler.


  Mit diesem Vortheile ist ein dritter
verbunden, der von allen der wichtigste
ist, und sich besonders bei gewissen Sylbenmaßen [13]
äußert: daß nehmlich die Sprache
dadurch der Musik fähig wird, als
zu welcher Tact und Rhythmus gehören.
Auch ist schon das Sylbenmaß selbst,
wenn auch die Worte noch nicht gesungen,
sondern nur gut recitirt werden, eine
Art von Musik. Musik aber ist lebendiger
Ausdruck der Empfindung, und eben
dadurch auch Mittel, bei Andern Empfindung
hervorzubringen. Die Erklärung dieser
Sache, wenn sie überhaupt befriedigend
kann gegeben werden, würde uns
hier zu weit führen; genug, daß ihre
Wahrheit durch eines Jeden mannichſaltige
Erfahrungen an sich und an Andern
bestätiget wird. Nicht allein aber macht
das Musikalische des Sylbenmaßes die
Sprache zum Ausdruck und zur Erweckung
der Empfindung überhaupt bequemer;
sondern auch die eigene Art der [14]
Empfindung die der Dichter jedesmal
ausdrücken und erwecken will, wird
durch das Eigenthümliche eines klüglich
gewählten Sylbenmaßes ungemein unterstützt.
In der ersten der folgenden Stellen
ist das Sylbenmaß schmeichelnd und
sanft; in der zweiten, munter und fröhlich;
in der dritten, feierlich ernst: der
Natur der Empfindungen gemäß, die den
Inhalt einer jeden ausmachen.


Liebe, die du Götter oft um Schäfer tauschest,
Lieber unter Lauben und auf Blumen lauschest,
Als Palläste suchest, und aus Golde trinkst,
Und auf Cedern tanzest und auf Sammet sinkst!
Einen Prinzen höre u. s. w.


Ramler.


Da auf rauschendem Gefieder
Zephyr uns den Frühling bringt,
So erwacht die Freude wieder;
Alles lacht, und alles singt.
Tanzt, o tanzet, junge Schönen,
Meiner sanften Leier nach,

[15]

Die noch nie mit leichtern Tönen
Unter meinen Händen sprach!


Uz.


Zu lang' ists schon, Elise, daß ich schweige,
  Und bringe dir nur stumme Thränen dar.
Nimm hin ein Lied, nicht daß ichs Menschen
zeige;

 Nein, still und treu, wie unsre Liebe war.
Was! schilt die Welt zuletzt noch, wenn ich
weine?

  Wer starb mir denn? Wes ist Elisens Grab?
O nennet mir ein Elend, wie das meine,
  Und sprecht mir dann das Recht der Thränen
ab!


Haller.


  Die Summe von diesem allen ist: daß
das Sylbenmaß dem Ohre schmeichelt,
der Einbildungskraft die Ideen mehr gegenwärtig
zu machen dient, und die Absicht,
das Herz in alle Arten von Empfindung
zu setzen, mit erreichen hilft. Diese
verschiednen Vortheile lassen sich aber
wieder auf einen allgemeinern Begriff [16]
bringen: das Sylbenmaß nehmlich ist ein
Hülfsmittel, lebhaftere Vorstellungen zu
erzeugen. Und wie, wenn nun der ganze
Zweck des Dichters und das ganze Wesen
seiner Kunst darauf hinausliefe, durch
den Gebrauch der Rede, als die sein einziges
Instrument ist, lebhaftere Vorstellungen
auszudrücken und zu erzeugen? Oder
welches einerlei sagt: diejenigen Seelenkräfte
die allein zur Empfängniß solcher
Vorstellungen geschickt sind, die Sinne,
die Einbildungskraft, den Witz, das sympathetische
Gefühl, in Übung zu setzen,
und sie durch diese Übung zu erhöhen
und zu schärfen?


  Die Prosa würde dann der Poesie so
entgegengesetzt seyn, daß jene mehr auf
richtige Vorstellungen der Dinge, zur Erweiterung
nützlicher Kenntnisse, auf Überzeugung
des Verstandes von allgemeinen [17]
oder besondern Wahrheiten, an denen
gelegen ist, auf Lenkung und Überredung
des Willens, vermittelst aufrichtiger Darstellung
oder hinterlistiger Vorspiegelung
des Wahren, ginge.


  Um die Richtigkeit unsrer Erklärung
zu prüfen, müssen wir sehen, ob auch
die andern oben bemerkten Unterschiede
zwischen Poesie und Prosa in ihr gegründet
sind. Und wie erklären wirs denn
zuerst, daß der Poet erdichtet? daß er
aber nicht immer erdichtet? und daß nicht
Jeder der erdichtet, Poet ist?


  Der Poet, werden wir sagen, erdichtet,
weil ihm die bloße Wahrheit zu seinem
Zwecke nicht Genüge leistet, weil
sie für ihn zu kalt, zu verwickelt, zu leer
ist. Bald versteckt er also die Wahrheit
in Erdichtungen, um den Eindruck zu
verstärken und zu erhöhen; bald läßt er [18]
nur einen Theil des Wahren wie er ist,
und nimmt mit dem andern beträchtliche
Veränderungen vor; bald erdichtet er
ganze Geschichten ohne allen Grund der
Wahrheit, weil er nichts Wahres kennt
oder weil ihm jetzt nichts Wahres vorschwebt,
das seine Seele und die Seele
seiner Zuhörer gleich lebhaft beschäftigen
könnte. ─ Er erdichtet aber nicht immer,
weil nehmlich manches Wahre zur
Erreichung seiner Absicht, Einbildungskraft
und Herz zu erwärmen, schon hinlänglich
geschickt ist. ─ Und nicht Jeder
der erdichtet, ist Dichter, weil nehmlich
nicht Jeder auf die Wirkungen des Dichters
damit abzielt; weil ihm an der Lebhaftigkeit
der Vorstellungen weniger, als
an ihrer geglaubten Richtigkeit liegt.


  Wie erklären wirs ferner, daß sich
der Poet in seinen Ausdrücken oft so [19]
weit über den Prosaisten erhebt, und oft
wieder die simpelste ungeschmückteste
Sprache redet? Denn in manchen Liedern,
in Elegieen, in Lustspielen; wie
einfach ist da die Sprache! Und wie erhaben
und prächtig wieder in der hohen
Ode, in Epopöen, und heroischen Trauerspielen?



  Alle oben angeführte und nicht angeführte
Unterschiede im Ausdruck, der Gebrauch
neuer, fremder, veralteter Wörter
und Redensarten, die ungewöhnlichern
Wortfügungen, die häufigern Epithete, die
kühnern Metaphern, die Figuren aller Arten
in Gedanken und Worten, dienen zum
Ausdruck und zur Erweckung lebhafter
Vorstellungen. Note: Sie müssen also vor allen
dem Dichter zugehören, der auf lebhafte
Vorstellungen, als auf den letzten Zweck
seiner Kunst, arbeitet. ─ Sobald aber der [20]
Fall eintritt, daß die Natur der lebhaften
Vorstellungen keinen Glanz des Ausdrucks
verträgt, so muß auch die Sprache zu der
gewöhnlichen sich mehr herablassen, und
nur durch Präcision, Energie, Naivetät
sich empfehlen. Traurigkeit z. B. verwirft
allen gesuchten Schmuck, und wer in klagenden
Elegieen Klopstocks Odensprache
reden wollte, würde durch die auffallende
Disharmonie zwischen Empfindung und
Ausdruck alle Wirkung vernichten. Fröhlichkeit
ist, ihrer Natur nach, leicht und
sorglos; wer sie singt, muß keine hochtrabende
Wörter brauchen, keine künstliche
Perioden flechten, u. s. w. Wir sehen,
daß in unsrer Erklärung Alles liegt
was darin liegen sollte, und schließen daher,
daß sie die richtige ist.


  Die Gattungen fließen freilich, in Werken
der Kunst, wie der Natur, überall in [21]
einander; indeß wird unsre Erklärung dienen,
die Gränzen so genau als möglich zu
berichtigen. Sie führt nehmlich auf den
Grundsatz: So oft in einem Werke die
Lebhaftigkeit der Vorstellungen der hervorstechende
höhere Zweck ist, dem die
andern untergeordnet worden, so ist das
Werk mehr zur Poesie gehörig; sobald
jene nur Mittel oder untergeordneter
Zweck ist, so ist es mehr zur Prosa gehörig*.


[22]

  Poetisches Genie ist nun, nach unsrer
Erklärung des Gedichts, die Fähigkeit, * [23]
Ideen von einem hohen Grade der Lebhaftigkeit
hervorzubringen. Mithin liegt es
in einer vorzüglichen Stärke der obenbenannten
Seelenkräfte.


  Die Vortrefflichkeit der poetischen
Kunst erhellet aus der Schätzbarkeit eben
dieser Seelenkräfte, als auf deren Übung
und Erhöhung sie abzweckt.


  Poetische Begeisterung ist die jedesmalige
wirkliche Äußerung des Genies,
oder derjenige Zustand der Seele, in welchem
sie Ideen von einem vorzüglichen
Grade der Lebhaftigkeit aus ihrer eigenen
Kraft hervorbringt.


  Das Genie aber ist nicht immer und
nicht in jedem Augenblicke Genie. Nicht
alle seine Ideen haben den gehörigen
Grad von Lebhaftigkeit; nicht alle harmoniren
gleich richtig mit der Reihe der
übrigen Ideen; nicht alle erhalten im ersten [24]
Augenblicke den treffendsten und
glücklichsten Ausdruck; nicht jede Anordnung
der Theile bringt gleich gut die
abgezweckte Wirkung hervor; nicht alle
Ideen sind der Seele gleich angenehm,
es sei nun daß sie sinnlichen Widerwillen
erregen, oder das moralische Gefühl
beleidigen. Um es kurz zu fassen: nicht
alle Ideen, Ausdrücke, und Anordnungen
der Theile, sind schön. Es muß also noch
der Geschmack hinzukommen, der in dem
undeutlichen Urtheile über die Schönheit
besteht. Kritik ist eben dieses Urtheil,
entwickelt und deutlich gemacht; oder
kürzer: der räsonnirte Geschmack.

[figure]

ZWEITES HAUPTSTÜCK.

[figure]


Von den verschiedenen Dichtungsarten.

[25]
[figure]



Wir haben, in dem vorhergehenden
Hauptstück, verschiedener Dichtungsarten
erwähnen hören. Von diesen Dichtungsarten
hat schon ein Jeder der nur nicht
ganz unbelesen ist, einen ungefähren Begriff,
welcher bloß etwas mehr braucht
aufgeklärt und genauer bestimmt zu werden.
Wir wollen also nun ausdrücklich
fragen: Worin besteht der Unterschied
unter ihnen? Lassen sie sich alle unter
Eine Eintheilung bringen? Oder sind sie [26]
Glieder mehrerer Eintheilungen, die aus
verschiedenen Gründen gemacht sind? Und
wenn das letztere ist; welches sind diese
Gründe? ─ Um hierauf zu antworten,
müssen wir auf gut Glück einige Dichtungsarten
herausnehmen, sie vergleichen,
und uns Rechenschaft von ihrem Unterschiede
geben.


  Worin mag also z. B. der Unterschied
zwischen einem lyrischen Gedichte und
einem Lehrgedichte liegen? Das Lehrgedicht,
finden wir, ist eigentlich nur zur
Declamation eingerichtet, es ist in einer
einförmigen Versart, mit weniger Abwechselung
des Sylbenmaßes, weniger Schwung,
weniger merkbarem Rhythmus geschrieben,
als das lyrische mehr sangbare Gedicht.
Man vergleiche z. B. die erste Hallersche
Stelle mit der zweiten von Uz:


Wohlangebrachte Müh! Gelehrte Sterbliche!

[27]

Euch selbst mißkennet Ihr, sonst Alles wißt
Ihr eh.

Ach! eure Wissenschaft ist noch der Weisheit
Kindheit,

Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen
Blindheit.

Allein, was wahr und falsch, was Tugend, Prahlerei,

Was falsches Gut, was echt, was Gott und jeder
sei:

Das überlegt Ihr nicht; Ihr dreht die feigen
Blicke

Vom wahren Gute weg, und sucht ein träumend
Glücke.

  Mit sonnenrothem Angesichte,
Flieg' ich zur Gottheit auf. Ein Strahl von ihrem
Lichte

Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner
klang!

Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,

Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen,
Sich strömend fort, und braust von meinen
Lippen?

[28]

  Sollte denn aber der ganze Unterschied
nur hierin, nur in der äußern Einrichtung,
liegen? ─ Dann müßte dieser Unterschied
aufhören, sobald man beide
Werke, in Ansehung dieser äußern Einrichtung,
einander ähnlich machte. Aber
wir finden, daß ein lyrisches Stück und
ein Lehrgedicht auch dann noch ihre
Namen behalten, wenn in der Versart
kein Unterschied mehr zu machen ist.
Folgende Stellen sind beide in Hexametern
geschrieben; und doch nennt ein
Jeder die erste lyrisch, die andre didaktisch.
Eva singt beim Kreuze des Messias:



Du, mein Herr und mein Gott! wie kann ich,
du Liebe! dir danken?

Ewigkeiten, sie sind zu kurz, genug dir zu
danken!

Hier will ich liegen und beten, bis du dein
göttliches Haupt nun

[29]

Neigst im Tode! Nur vor dem Fürchterlichsten
der Engel,

Nur vor seiner Stimme soll meine Stimme verstummen,

Wenn er kommt, und es nun von deinem Vater
verkündigt,

Der dich verlassen hat. ─ Hör um dieser Todesangst
willen,

Die für Sünder du fühlst, hör, Gottverlaßner,
mein Flehen!

Herr! für deine Versöhnte, für meine Kinder,
für alle,

Die das weite, das furchtbare Grab, die Erde,
(doch hats auch

Deine Gnade mit Blumen bestreut) noch künftig
bewohnen,

Und, mit jedem vor deiner Versöhnung entschlafnen
Jahrhundert,

An dem Tage der großen Entscheidung, auferstehn
werden!

Meine zahllosen Kinder, für diese fleh' ich dich,
Herr, an!

Weinend, mit dürftigem Leibe, mit weit mehr
dürftiger Seele

Werden sie auf die Erde geboren u. s. w.


Klopstock (Ges. 10).

[30]

Willst du die Ursach erforschen, warum in der
Reihe der Wesen

Gott nicht zum Seraph dich schuf? Entdeck
erst, Stolzer, weswegen

Er nicht zur Milbe dich schuf! Soll deiner
Thorheit zum Vortheil

Die große Weltkette brechen, und tausend Planeten
und Sonnen,

Aus ihren Kreisen gerückt, in einen Klumpen
zerfallen?

Soll bis zum Throne des Höchsten des Himmels
Vorhang zerreißen,

Und endlich die ganze Natur, erschüttert zum
Innersten, seufzen?

Dies willst du, wenn du verlangst, was mit der
Weltordnung streitet.

Sei deiner Neigungen Herr, so wirst du das
Unglück beherrschen;

Der Schöpfer ist Liebe und Huld, nur die sind
deine Tyrannen.


Kleist.


  Wenn wir diese Stellen vergleichen, in
welchen uns nun keine äußere Verschiedenheiten
mehr aufhalten, so finden wir [31]
leicht, worin der Hauptunterschied liegt:
in der erstern nehmlich wird mehr das
Herz, in der andern mehr der Verstand
beschäftigt; in jener schüttet der Dichter
Empfindungen aus, in dieser trägt er allgemeine
Wahrheiten vor, argumentirt, widerlegt.
Der Unterschied beider Dichtungsarten
liegt also hauptsächlich im Inhalte,
in der Materie. Und wenn es sonst
noch Unterschiede giebt, in der Sprache,
der Versart, der Folge und Verbindung
der Gedanken: so scheinen diese
eben durch jenen Hauptunterschied schon
mit angegeben zu werden.


  Worin liegt, wollen wir ferner fragen,
der Unterschied zwischen dem epischen
Gedichte und dem Drama? Schwerlich,
wie bei dem vorigen, in der Materie;
denn wie hätte dann Horaz dem tragischen
Dichter rathen können, seinen Stoff [32]
aus einem epischen, dem Homer, zu nehmen?
Es muß möglich seyn, daß eben
dieselbe Handlung von dem epischen Dichter
erzählt, und von dem dramatischen
wirklich vorgestellt werde. Hierin also
selbst wird der Unterschied liegen: daß
nehmlich das einemal nur ein Zeuge spricht;
das andremal die Personen selbst reden,
unter denen die Handlung vorfällt. Mithin
finden wir nun einen zweiten Eintheilungsgrund,
der von dem vorigen ganz
verschieden ist; nicht der behandelte Stoff
oder die Materie macht den Unterschied,
sondern die Art der Behandlung, die Form.
Damit besteht dann noch immer, daß nicht
jede Form sich zu jeder Materie schickt,
oder daß manche Gegenstände nur die
epische, manche nur die dramatische Behandlung
vertragen.


  Ehe wir weiter suchen, wollen wir sehen, [33]
wie weit wir mit diesen beiden Eintheilungsgründen
ausreichen? ob nicht
vielleicht schon alle, oder doch die meisten
Dichtungsarten durch sie angegeben
und unterschieden werden? ─ Wir fragen
also zuerst: wie viel sind im Allgemeinen
Unterschiede möglich, die aus der
Materie entstehen?


  Es scheint Alles erschöpft zu seyn,
wenn wir sagen: Der Dichter stellt entweder
eine Sache vor, wie sie ist oder
geschieht, es sei nun eine wirkliche oder
eine erdichtete Sache; oder er stellt allgemeine
Betrachtungen an, trägt allgemeine
Wahrheiten vor; oder er bricht in
Empfindungen aus. Im ersten Falle ist
wieder zweierlei möglich: denn entweder
will er uns nur schlechtweg mit der Beschaffenheit
eines Gegenstandes bekannt
machen, uns nur zeigen, was Alles an [34]
einer Sache zu bemerken ist, was sich
Alles nach einander begiebt; oder er will
uns zeigen (was er allein bei moralischen
Wesen zeigen kann), wie eins das andere
hervorbringt, wie sich eins aus dem andern
entwickelt. In jenem Falle beschreibt
er bloß; in diesem läßt er uns Handlung
sehen. ─ Wenn dieses, so allgemein gesagt,
zu dunkel ist, so sehe man hier Beispiele,
die es erläutern können.


  In folgender Stelle beschreibt Haller
einen natürlichen Gegenstand, wie er ist:


Im Mittel eines Thals von himmelhohem Eise,
Wohin der wilde Nord den kalten Thron gesetzt,

Entsprießt ein reicher Brunn mit siedendem Gebräuse,

Raucht durch das welke Gras, und senget was
er netzt.

Sein lautres Wasser rinnt voll flüssiger Metallen;
Ein heilsam Eisensalz vergüldet seinen Lauf;

[35]

Ihn wärmt der Erde Gruft, und seine Fluthen
wallen

Von innerlichem Streit vermischter Salze auf.
Umsonst schlägt Wind und Schnee um seine
Fluth zusammen;

Sein Wesen selbst ist Feu'r, und seine Wellen
Flammen.


  Kleist beschreibt in seinem Frühlinge
Verschiedenes, was nach einander geschieht:



─ ─ ─ Aus seinem Gezelte geht lachend
Das gelbe Täubchen, und kratzt mit röthlichen
Füßen den Nacken,

Und rupft mit dem Schnabel die Brust, und
untergräbet den Flügel,

Und eilt zum Liebling aufs Dach. Der Eifersüchtige
zürnet,

Und dreht sich um sich und schilt. Bald rührt ihn
die schmeichelnde Schöne,

Dann tritt er näher und girrt. Viel Küsse werden
verschwendet.

Jetzt schwingen sie lachend die Flügel und säuseln
über den Garten.

[36]

  Ganz etwas anders findet man in folgendem
kleinen Stücke: denn hier hängt
Alles innig zusammen; eins wird Ursache
des andern. Wir sehen freie, mit Absicht
wirkende Wesen, die eins das andre
bestimmen; mit einem Worte, es ist
Handlung in dem Gedichte.


Philippus war bemüht in Thracien zu dringen,
Und in dem Hinzug noch Methone zu bezwingen;

Als Aster, den man dort den besten Schützen
hieß,

Sich diesem Könige zum Dienst entbieten ließ.
Ihn rühmten Hof und Land; von Allen ward
erzählet,

Nur dieser habe nie des Schusses Ziel verfehlet,
Weil sein geschwinder Pfeil, dem er die Kraft
ertheilt,

Die Vögel in der Luft im schnellsten Flug ereilt.
Wohl! sprach Amyntas Sohn: wenn wir mit Staaren
streiten,

So soll er ganz gewiß beim Angriff uns begleiten.


[37]

Das scheint vortrefflich schön. Denn wer bewundert
nicht

Den göttlichen Verstand, so oft ein König spricht?
  Der Schütze, seine Kunst nicht mehr verhöhnt
zu sehen,

Eilt, den Belagerten rachsüchtig beizustehen.
Er flieht in ihre Stadt, verstärkt die Gegenwehr,
Und machet Sturm und Sieg dem stolzen Heere
schwer,

Das plötzlich sich gescheucht und voll Bestürzung
fühlet,

Weil Asters scharfer Pfeil, der auf den König
zielet,

Den ihm bestimmten Flug mit dieser Aufschrift
nimmt:

Philippus rechtem Aug' ist dieser Schuß bestimmt.

  Der König, der ihn nicht so fürchterlich
geglaubet,

Bereut nunmehr den Scherz, der ihm sein Auge
raubet;

Und schießt den Pfeil zurück mit dieser Gegenschrift:

Du, Aster, kömmst ans Kreuz, sobald man dich
betrifft.

[38]

Kaum ward der Friede drauf der frohen
Stadt versprochen,

So ward auch Asters Scherz durch seinen Tod
gerochen.


Hagedorn.


  Vorausgesetzt nun, daß sich die vier
angegebenen Arten von Materie alle poetisch
behandeln lassen, alle an lebhaften
Vorstellungen fruchtbar werden können ─
und das muß doch seyn, da wir von allen
Beispiele gesehen ─; so ergeben sich
nun viererlei verschiedene Dichtungsarten.
Zuerst die malerische oder beschreibende;
zweitens, diejenige welche Handlung
enthält, und für die wir im Allgemeinen
keinen besondern Namen haben; drittens,
die didaktische oder lehrende; viertens,
die lyrische Gattung.


  Wir haben nun noch zweitens zu fragen:
Was für neue Dichtungsarten ergeben [39]
sich, wenn wir auf die Art der Behandlung,
die Form, sehen? ─ Der eine
Unterschied ist, in Ansehung derjenigen
Gattung die Handlung enthält, schon angegeben:
entweder erzählte nur ein Zeuge;
oder die Personen selbst traten auf, zwischen
denen die Handlung vorfiel. Um
dieses ganz allgemein zu machen, werden
wir sagen: das Gedicht ist entweder fortgehende
Rede
Einer Person, oder Gespräch
zwischen mehrern Personen. Im
ersten Falle hat wiederum die Person
welche spricht, entweder mit dem Publicum
überhaupt zu thun; oder besonders,
wie in der poetischen Epistel, mit einer
bestimmten andern Person, an die sie die
ganze Rede richtet, auf die sie immer
vorzüglich Rücksicht nimmt.


  Ein andrer Unterschied ist, daß man
dem Gedichte entweder die Einrichtung [40]
giebt, wie es am bequemsten mit einer
andern verschwisterten Kunst, der Musik,
kann verbunden werden; oder daß man
das nicht thut. Aus der bloßen Erzählung
kann auf diese Art Romanze, aus
dem bloßen Drama Oper werden. Freilich
aber muß man dann die besondere
Materie, die man zu so einer Erzählung
oder zu so einem Drama nimmt, so auswählen
daß die Verbindung mit der Musik
nicht unschicklich sei.


  Wir sehen schon, auch die Sache nur
ganz leicht überdacht, daß sich durch die
beiden angegebenen Gründe der Eintheilung,
Materie und Form, wenn wir die
verschiedenen Glieder derselben mit einander
verbinden, und hie und da noch
etwas nähere Bestimmungen hinzuthun,
alle uns bekannte Dichtungsarten werden
erklären lassen: Satire, Lied, Epigramm, [41]
Cantate, Trauerspiel, Lustspiel,
oder wie sie sonst Namen haben. Nur
bei zwei Dichtungsarten mögten wir etwa
zweifeln können, wo wir sie hinbringen
sollten: bei der Fabel, und der Idylle.


  Denn, wenn ohne eine allgemeine
Lehre eine Fabel keine Fabel seyn kann,
so scheint es ja, daß sie zur didaktischen
Gattung gehöre? Wiederum aber, wenn
zu einer jeden Fabel nothwendig erfordert
wird, daß uns darin ein bestimmtes
Factum vorgetragen werde; so scheint es
ja, daß sie zu einer ganz andern Gattung
zu zählen sei, zu der nehmlich welche
beschreibt oder erzählt? Sollten sich denn
etwa mehrere Gattungen von Materie auf
gewisse Weise verbinden lassen, sodaß
hie und da eine Mittelgattung entstände?


  Ferner, die Idylle: wenn in der alle
Arten von Materie können behandelt, alle [42]
Formen können angebracht werden, wie
uns das Geßner gezeigt hat; so scheint
es ja, daß es noch einen dritten Grund
der Eintheilung geben müsse, der von
den bisher angeführten verschieden ist? ─
Wir wollen diese Fragen sogleich zu beantworten
suchen, indem wir beide Dichtungsarten
nach einander besonders vornehmen.


[figure]

DRITTES HAUPTSTÜCK.

[figure]


Von der Fabel.

[43]
[figure]


Fabel heiſst zuweilen die Reihe der hauptsächlichsten
Begebenheiten, die in einer
Erzählung oder einem Drama zum Grunde
liegen. In diesem allgemeinern Sinne nehmen
wir das Wort hier nicht, sondern
wir reden von der kleinen äsopischen
Fabel; dergleichen folgende ist.


Der Tanzbär.


Ein Bär, der lange Zeit sein Brot ertanzen
müssen,

Entrann, und wählte sich den ersten Aufenthalt.

Die Bären grüſsten ihn mit brüderlichen Küssen,

[44]

Und brummten freudig durch den Wald;
Und wo ein Bär den andern sah,
So hieß es: Petz ist wieder da!
Der Bär erzählte drauf, was er in fremden
Landen

Für Abenteuer ausgestanden,
Was er gesehn, gehört, gethan;
Und fing, da er vom Tanzen redte,
Als ging' er noch an seiner Kette,
Auf polnisch schön zu tanzen an.
  Die Brüder, die ihn tanzen sahn,
Bewunderten die Wendung seiner Glieder;
Und gleich versuchten es die Brüder.
Allein, anstatt wie er zu gehn,
So konnten sie kaum aufrecht stehn,
Und mancher fiel der Länge lang danieder.
Um desto mehr ließ sich der Tänzer sehn;
Doch seine Kunst verdroß den ganzen Hauſen.
Fort, schrieen Alle: fort mit dir!
Du, Narr, willst klüger seyn, als wir?
Man zwang den Petz, davon zu laufen.
  Sei nicht geschickt! man wird dich wenig
hassen,

Weil dir dann Jeder ähnlich ist.
Doch je geschickter du vor vielen Andern bist,

[45]

Je mehr nimm dich in Acht, dich prahlend sehn
zu lassen.

Wahr ists, man wird auf kurze Zeit
Von deinen Künsten rühmlich sprechen;
Doch traue nicht! bald folgt der Neid,
Und macht aus der Geschicklichkeit
Ein unvergebliches Verbrechen.


Gellert.


  Wir finden in dieser Fabel folgende
Merkmaale: eine nützliche Lebensregel;
ein Bild, worin sie uns vorgehalten wird;
die Form des Ganzen erzählend; Thiere
als menschliche Wesen aufgeführt; und
endlich nur Eine Regel und nur Ein Bild.
─ Welche von diesen Merkmaalen sind
der Fabel wesentlich? welche sind zufällig?


  Zuerst: Muß jede Fabel nothwendig
eine Lebensregel enthalten? Eine Lebensregel
wohl eben nicht; denn Folgendes
ist ja auch eine Fabel, und führt
doch zunächst nur auf eine Wahrheit,
auf eine Bemerkung.

[46]

Der Esel mit dem Löwen.


  Als der Esel mit dem Löwen des Äsopus,
der ihn statt seines Jägerhorns brauchte, nach
dem Walde ging, begegnete ihm ein anderer
Esel von seiner Bekanntschaft und rief ihm zu:
Guten Tag, mein Bruder! ─ Unverschämter!
war die Antwort.


  Und warum das? fuhr jener Esel fort. Bist
du deswegen, weil du mit einem Löwen gehst,
besser als ich? mehr, als ein Esel?


Lessing.


  Vielleicht aber, daſs auch die Wahrheit
zur Fabel nicht schlechterdings erforderlich
ist; denn man sehe folgendes
Stück:


Die Turteltaube und der Wanderer.
Wanderer.


Was machst du da, du kleine Turteltaube?


Taube.


Ich seufze. Mein getreuer Mann
Ward einem Jäger hier zum Raube,
Dem er doch nichts gethan.

[47]

Wanderer.


  Ei so flieg weg! Wie wenn er wiederkäme
Mit dem Geschütz, das ihm das Leben nahm,
Und gleichfalls dir das Leben nähme?


Taube.


Thut er es nicht, so thut es doch der Gram.


Gleim.


  In diesem Stücke ist freilich das nicht
was wir unter Wahrheit verstanden; aber
ist auch das Stück eine Fabel? Es ist,
finden wir, bloß ein rührendes Geschichtchen,
dessen ganzes Verdienst in einer
feinen, zärtlichen Empfindung besteht,
und das sich in die Sammlung worin wir
es antreffen, bloß scheint verirrt zu haben.
Die Wahrheit ist also allerdings wesentlich;
und um allen Mißverstand zu
vermeiden, wollen wir uns noch deutlicher
ausdrücken, und zur Fabel eine allgemeine
Wahrheit fordern. ─ Doch wie,
wenn auch dieses noch nicht hinlänglich [48]
wäre? Wie, wenn dann auch folgendes
Mährchen eine Fabel seyn müßte, was es
sicher nicht ist?


Die Ziegen.


  Die Mutter des Teufels übergab ihm einsmals
vier Ziegen, um sie in ihrer Abwesenheit
zu bewachen, Aber diese machten ihm so viel
zu thun, daſs er sie mit aller seiner Kunst und
Geschicklichkeit nicht in Zucht halten konnte.
Deshalb sagte er zu seiner Mutter, nach ihrer
Zurückkunft: Liebe Mutter! hier sind eure Ziegen.
Ich will lieber eine ganze Kompanie Reuter
bewachen, als eine einzige Ziege. ─ Diese
Fabel zeigt, daſs keine Creatur weniger in der
Zucht zu halten ist, als eine Ziege.


Holberg.


  Gesetzt, daſs diese Bemerkung ihre
Richtigkeit hätte, und daſs sie sich aus
dem Mährchen wirklich ergäbe; wäre darum
das Stück eine Fabel? Wir sehen,
daſs wir noch eine Bestimmung vergessen
haben, und daſs wir nicht bloſs sagen [49]
müssen: eine allgemeine, sondern auch:
eine moralische Wahrheit. ─ Lebensregel
braucht zwar die Bemerkung nicht zu
seyn; aber doch muß sie die moralische
Seite des Menschen treffen, sie muß für
ihn lehrreich und heilsam werden können.


  Zweitens: Muß uns die Wahrheit nothwendig
in einem Bilde gegeben werden?
Nothwendig! Denn die bloße Wahrheit,
trocken hingeschrieben, wäre nur Sentenz,
Maxime, Reflexion, weiter nichts. ─ Aber
sollte auch wohl der unbestimmte Ausdruck:
Bild, schon genug sagen?


Merops.


  Ich muſs dich doch etwas fragen, sprach
ein junger Adler zu einem tiefsinnigen, grundgelehrten
Uhu. Man sagt, es gäbe einen Vogel
mit Namen Merops, der, wenn er in die Luft
steige, mit dem Schwanze voraus, den Kopf gegen
die Erde gekehrt, fliege. Ist das wahr?


  Ei nicht doch! antwortete der Uhu; das ist [50]
eine alberne Erdichtung des Menschen. Er mag
selbst ein solcher Merops seyn: weil er nur gar
zu gern den Himmel erfliegen mögte, ohne die
Erde auch nur einen Augenblick aus dem Gesichte
zu verlieren.


[Ist von Lessing.]


  Hier haben wir ganz gewiß ein Bild;
aber haben wir eine Fabel? In den vorigen
Stücken ward uns das Erdichtete
als wirklich geschehen erzählt; hier hingegen
giebt man es für nichts als Erdichtung.
Dieses, empfinden wir, sollte nicht
seyn; die Wirklichkeit ist zur Fabel nothwendig,
und wir wollen also statt Bild
lieber Factum sagen. ─ Doch gesetzt nun
auch, daß wir dem Merops die Wirklichkeit
gäben, und den Uhu für: Ei nicht
doch! sagen ließen: „Ei ja doch!“ würde
das Stück dann zur Fabel? Es bliebe
noch immer ein bloßes Gleichniß, in welches
der Dichter durch seinen Witz und [51]
Scharfsinn die Wahrheit erst hineintrüge,
anstatt daß sie von selbst aus dem Factum
hervorfallen, sich uns gleichsam freiwillig
darbieten sollte. Also auch nicht
Factum wollen wir sagen, sondern: ein
für wirkliche Geschichte gegebenes Beispiel.
─ Daß es Handlung sey, ist so
nothwendig nicht; denn folgende Fabel
ist gewiß eine echte und gute Fabel, ob
sie gleich nur eine bloße Folge von Begebenheiten
enthält, die der Dichter unter
Einen Gesichtspunct sammelt.


Der Hirsch, der sich im Wasser besieht.


Ein Hirsch bewunderte sein prächtiges Geweih

Im Spiegel einer klaren Quelle.
Wie schön es steht! sprach er. Recht auf derselben
Stelle

Wo Königskronen stehn! und wie so stolz! so
frei!

  Vollkommen ist mein ganzer Leib; ─ allein

[52]

Die Beine sind es nicht, die sollten stärker seyn.
  Indem er sie besieht mit ernstlichem Gesicht.
Hört er im nahen Busch ein Jägerhorn erschallen,

Merkt auf, sieht eine Jagd von dem Gebirge
fallen,

Erschrickt und flieht davon. Nun aber hilft
ihm nicht

Sein kronentragend Haupt, dem nahen Tod'
entfliehn.

Nicht sein vollkommner Leib, die Füße retten
ihn.

Sie reißen, wie ein Pfeil, die prächtige Gestalt
Mit sich durch flaches Feld, und fliehen in den
Wald.

  Da aber halten ihn, im vogelschnellen Lauf,
An starken Zweigen oft die vierzehn Enden auf.
Er reißt sich los, er flucht darauf,
Lobt seine Beine nun; und lernet noch im Fliehn
Das Nützliche dem Schönen vorzuziehn.


Gleim.


  Drittens: Muß eine jede Fabel nothwendig
in erzählender Form seyn? Man
sehe hier gleich eine in dialogischer Form.

[53]

Die Katze; die alte Maus; die junge
Maus.

Katze.


Du allerliebstes kleines Thier!
Komm doch ein wenig her zn mir.
Ich bin dir gar zu gut. Komm, daſs ich dich
nur küsse.


Alte Maus.


Ich rathe dirs, Kind, gehe nicht!


Katze.


So komm doch! Siehe, diese Nüsse
Sind alle dein, wenn ich dich einmal küsse.


Junge Maus.


O Mutter, höre doch, wie sie so freundlich
spricht!

Ich geh ─ ─


Alte Maus.


Kind, gehe nicht!


Katze.


Auch dieses Zuckerbrot und andre schöne Sachen
Geb' ich dir, wenn du kömmst.


Junge Maus.


Was soll ich machen?
O Mutter, laſs mich gehn!

[54]

Alte Maus.


Kind, sag' ich, gehe nicht!


Junge Maus.


Was wird sie mir denn thun? Welch ehrliches
Gesicht!


Katze.


Komm, kleines Närrchen, komm! ─


Junge Maus.


Ach Mutter, hilf! Ach weh!
Sie würgt mich. Ach die Garstige!


Alte Maus.


Nun ists zu spät, nun dich das Unglück schon
betroffen.

Wer sich nicht rathen läſst, hat Hülfe nicht zu
hoffen.


Willamov.


  Viertens: Müssen die Personen, die
in der Fabel auftreten, nothwendig Thiere
seyn? Wir finden, daß die Dichter auch
andere Wesen: Bänme, Pflanzen, Steine,
selbst menschliche Kunstwerke, nehmen,
und sie, ihrer Absicht gemäß, zu vernünftigen
und moralischen Wesen erhöhen.

[55]

Der wilde Apfelbaum.


  In dem hohlen Stamm eines wilden Apfelbaums
lieſs sich ein Schwarm Bienen nieder.
Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs,
und der Baum ward so stolz darauf, daſs er alle
andere Bäume gegen sich verachtete. Da rief
ihm ein Rosenstock zu: Elender Stolz auf geliehene
Süſsigkeiten! Ist deine Frucht darum
weniger herbe? In diese treibe den Honig herauf,
wenn du es vermagst; und dann erst wird
der Mensch dich segnen.


Lessing.


Der Demant und der Bergkrystall.


Ein heller Bergkrystall, und roher Diamant,
Die ein verfolgter Dieb verloren,
Geriethen auf ein Häufchen Sand,
Und warteten, für wen das Schicksal sie erkoren.
 Der Demant war getrost. Ich denke, sprach
er, hier

Gewiſs nicht allzualt zu werden;
Ich habe meinen Werth in mir:
Der erste, der mich sieht, der nimmt mich von
der Erden.

  Ja, sagte der Krystall, den Werth räum' ich
dir ein,

[56]

Allein dabei befürcht' ich immer,
Du werdest niemand sichtbar seyn;
Denn, unter uns geredt, es fehlt dir noch der
Schimmer.

  Jetzt fiel der Bergkrystall schon einem ins
Gesicht,

Der ihn mit Sorgfalt zu sich steckte;
Den guten Demant sah er nicht,
Den kurz darauf der Sand bedeckte.
  Der Weltmann steigt empor und der Pedant
bleibt sitzen.

Die Sitten können mehr, als die Gelahrtheit
nützen.


Lichtwehr.


  Doch warum sollten es auch immer
nur Wesen seyn, die der Dichter erst zu
vernünftigen macht? Warum nicht auch
solche, die es schon sind? Oder warum
nicht auch dann und wann höhere Wesen
der Phantasie?


Der Blinde und der Lahme.


Von ungefähr muſs einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straſse finden,

[57]

Und jener hofft schon freudenvoll,
Daß ihn der Andre leiten soll.
  Dir, spricht der Lahme, beizustehen?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehen;
Doch scheints, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.
  Entschließe dich, mich fortzutragen,
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auge deines seyn.
  Der Lahme hängt, mit seinen Krücken,
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.


Gellert.


Minerva.


  Laſs sie doch, Freund, laſs sie, die kleinen
hämischen Neider deines wachsenden Ruhmes!
Warum will dein Witz ihre der Vergessenheit
bestimmte Namen verewigen?


  In dem unsinnigen Kriege, welchen die Riesen
wider die Götter führten, stellten die Riesen
der Minerva einen schrecklichen Drachen
entgegen. Minerva aber ergriff den Drachen,
[58]
und schleuderte ihn mit gewaltiger Hand an
das Firmament. Da glänzt er noch; und was
so oft großer Thaten Belohnung war, ward des
Drachen beneidenswürdige Strafe.


Lessing.


  Sonderbar aber scheint es doch, daß
die Fabulisten Thiere, Bäume u. s. w. genommen
haben. Warum nicht gleich lieber
Menschen? ─ Vielleicht deswegen
nicht, weil bei Erzählungen aus der
menschlichen Welt sich sogleich unsre
Leidenschaften mit ins Spiel mischen und
die Überzeugung von der Wahrheit verhindern.
Und dann ist auch das ein sehr
großer Vortheil, daß die Charaktere und
Verhältnisse, auf die der Dichter seine
Erzählung gründet, in der thierischen Welt
schon bestimmt und Jedermann bekannt
sind, ohnedaß er sie erst lange schildern
dürfte. Diese Welt giebt ihm lebhaftere, [59]
deutlicher abstechende Bilder, die weniger
Verwirrung und Mißdeutung erlauben.


  Fünftens: Muß es immer nur Eine
Wahrheit seyn, die der Dichter lehrt, und
nur Ein Beispiel, wodurch er sie lehrt? ─
Wir finden Fabeln, worin zwei Beispiele
aufgestellt werden, die aber beide nur
auf Eine Wahrheit führen. Diese heißen,
zum Unterschiede von den einfachen, zusammengesetzte
Fabeln. Der Dichter hat
uns, wie dort Nathan den David, durch
den erdichteten Fall schon zur Überzeugung
gebracht, ehe er den wirklichen dagegen
hält, bei dem uns vielleicht Leidenschaft
und Interesse nicht so leicht
zur Überzeugung hätten kommen lassen.
Oder er will auch die Moral nicht so
ganz trocken hinschreiben, und macht also
zu dem Bilde ein Gegenbild, welches die
nähere Anwendung auf den Menschen enthält.


[60]

Die Krähe.


Als eine Kräh' einst ihr Gefieder
Mit Pfauenfedern ausgeschmückt,
Besah sie sich, von sich entzückt,
Und hieſs die Pfauen ihre Brüder,
Und mischte stolz in ihre Schaar sich ein,
Und glaubte schon der Juno Pfau zu seyn.
Die Pfauen sahen dies, beraubten ihr Gefieder
Des Schmucks, den sie geborgt, und mit ihm
aller Pracht.

Der kaum gewordne Pfau ward eine Krähe wieder,
Und selbst von Schwalben ausgelacht.
  Als einst ein Reimer seine Lieder
Mit fremder Kühnheit ausgeschmückt,
Besang er sich, von sich entzückt,
Und hieſs die Dichter seine Brüder;
Er drängte stolz in ihre Zunft sich ein,
Und dünkte sich ein Haller schon zu seyn.
Die Dichter sahen dies, beraubten seine Lieder
Des Witzes, den er stahl. Wo war nun seine
Pracht?

Der neue Haller ward ein seichter Reimer wieder,
Und selbst von Dunsen ausgelacht.


J. Ad. Schlegel.

[61]

So lassen sich auch unter den Fabeln „in
Burcard Waldis Manier“ die beiden Elstern
und der alte Spanier als Eine Fabel
betrachten; denn die letztere ist nur die
Anwendung der erstern.


  Was die Wahrheit betrifft, so giebt es
wohl wenig Fabeln, bei welchen man
nicht, während der Erzählung, zu mehr
als einer Betrachtung einen Übergang fände,
und weitschweifige Erzähler pflegen
dergleichen auch gern nebenher anzubringen.
Aber aus der ganzen Fabel muß sich
denn doch zunächst nur Eine Wahrheit
ergeben, oder die Fabel ist unausbleiblich
schlecht. Man sieht dies an einigen
Stücken beim Holberg. Unmöglich kann
auch ein Beispiel, das zu einer ganzen
Menge Wahrheiten gleich gut paßt, zu
irgend einer vollkommen passen.


  Wenn wir nun die wesentlichen Merkmaale, [62]
sowie wir sie hier näher bestimmt
haben, von den zufälligen absondern; was
bleibt uns da zur Erklärung der Fabel
übrig? Nur Folgendes: Eine moralische
Wahrheit, und ein als wirkliches Factum
gegebenes Beispiel zu dieser Wahrheit.
Die Wahrheit, senen wir, ist der Zweck,
die Seele der Fabel. Auf die Geschichte,
als Geschichte, kömmts dem Dichter nicht
an, sondern bloß als auf Beispiel, als auf
poetisches Mittel, die Erkenntniß der Wahrheit
anschauend zu machen. Daher bricht
er denn auch die Erzählung ab, wenn sie
gleich an sich selbst noch nicht geendigt
ist, sobald er sich bei der abgezweckten
Wahrheit befindet. ─ Ohne Zweifel ist
also die Fabel ein didaktisches Gedicht:
die Wahrheit ist die eigentliche Materie,
die der Dichter behandelt; er verbindet
sie nur mit einer andern Gattung von Materie, [63]
die er als Form gebraucht, in welcher
er jene vorträgt. ─ Wenn wir Acht
geben, so werden wir vielleicht der Beispiele
von solchen Mischungen der verschiedenen
Dichtungsarten noch mehrere
finden.


  Mit den hier gegebenen Begriffen beurtheile
man nun folgende Stücke, ob es
wahre Fabeln sind oder nicht?


Momus und Asträa.


Dort, als des Titus Königsstab
Das Glück der goldnen Zeit den Römern wiedergab,

Sprach Momus höhnisch zu Asträen:
Du trägst dein Schwert wohl nur zur Pracht?
Der Kaiser läſst dich müſsig stehen;
Er herrscht mit Gnade, nicht mit Macht.
 Thor! rief die Göttinn aus, der du nicht
weiter siehst!

Mein Schwert mag müssig seyn, wenn es nur
schrecklich ist.


Eberlein.

[64]

Der Fuchs und die Larve.


  Vor alten Zeiten fand ein Fuchs die hohle,
einen weiten Mund aufreiſsende Larve eines
Schauspielers. Welch ein Kopf! sagte der betrachtende
Fuchs. Ohne Gehirn, und mit einem
offenen Munde! Sollte das nicht der Kopf eines
Schwätzers gewesen seyn?


  Dieser Fuchs kannte euch, ihr ewigen Redner,
ihr Strafgerichte des unschuldigsten unserer
Sinne.


Lessing.


  Wir haben den Begriff der Fabel festgesetzt,
und müssen nun noch von ihren
Regeln reden. An einer jeden Fabel ist
dreierlei zu bemerken: die allgemeine
moralische Wahrheit; die Geschichte, in
welcher sie liegt; und das Verhältniſs der
Geschichte zur Wahrheit. Für jedes dieser
Stücke giebt es besondere Regeln, die
sich leicht werden erkennen lassen.


  Zuerst für die Wahrheit: Die Fabel
ist schlecht, wenn das was sie lehrt, nicht [65]
wirkliche Wahrheit ist. Man beurtheile
hienach folgendes Stück:


Der Zuhörer und der Lautenschläger.


Zuhörer.


Du hast auch nur sehr liederlich gespielt.
Willst oder kannst du es nicht besser machen?


Lautenschläger.


Um dir nur einen Zeitvertreib zu machen,
Hab' ich schon gut genug gespielt.


Willamov.


Also dürfen Künstler schlecht arbeiten,
weil sie nur zu unserm Vergnügen arbeiten?
Die Lehre ist offenbar falsch.


  Die Fabel hat, wenn das übrige gleich
ist, um desto mehr Werth, je eine wichtigere
und interessantere Wahrheit sie uns
vorhält. Darum ist unter den drei folgenden
Fabeln die erste die unbedeutendste,
die dritte die vortrefflichste.

[66]

Der junge Hase und der Esel.


Ein junges Häschen, das, incognito, ein
Schwager

Von manchem alten Rammler war,
Fuhr wählig, lustig, wandelbar,
Wie Meister Proteus, aus dem Lager,
Und schnitt der Männchen vielerlei.
Ein alter Esel, der vorbei
Mit leerem Sacke zog, plump, stoisch, krumm
und mager,

Und kurz, dafür bekannt, daſs er ein Esel sei;
Der sah, mit weidlich ausgehohltem Lachen,
Dem Männchenmacher zu, und hatt' auf einmal
Lust

Die schönen Künste nachzumachen.
Er bäumte seinen Schwanz, er warf sich in die
Brust,

Er spitzte seine langen breiten Ohren,
Er schrie, er wälzte sich, er stieſs.
Doch Schade nur, er war zum Esel bloſs geboren;

Und was dem jungen Herrn zur Noth noch artig
lieſs,

Das kleidete den Hans mit langen Ohren
So dumm, so dumm! ─ ich weiſs nicht, wie?

[67]

Ein Stutzer wird als Stutzer schon geboren;
Durch Kunst und Lernen wird mans nie!


Ein Ungenannter.


Der Wiedehopf und die Nachtigall.


Ein Wiedehopf pries sich
Und sein gekröntes Haupt
Der Nachtigall. ─ Mein Weibchen, sprach er,
glaubt,

Du seist recht häſslich gegen mich.
Das könnte seyn, erwiederte
Die Nachtigall, und flog auf eine Höh',
Und sang.
Und alle Wandrer blieben stehn,
Und sagten: Wie singt sie so schön!
Ei, welch ein Klang!
  Der Wiedehopf hört' es, flog hin und her;
Doch keiner sprach: Wie schön ist er!
Denn für die kleine Philomele
War alles Ohr.
Man zieht gemeiniglich doch eine schöne Seele
Dem schönsten Körper vor.


Gleim.


Das Schaf.


  Als Jupiter das Fest seiner Vermählung feierte, [68]
und alle Thiere ihm Geschenke brachten, vermißte
Juno das Schaf.


  Wo bleibt das Schaf? fragte die Göttinn:
Warum versäumt das fromme Schaf, uns sein
wohlmeinendes Geschenk zu bringen?


  Und der Hund nahm das Wort und sprach:
Zürne nicht, Göttinn! Ich habe das Schaf noch
heute gesehen; es war sehr betrübt und jammerte
laut.


  Und warum jammerte das Schaf? fragte die
schon gerührte Göttinn.


  Ich ärmste! so sprach es. Ich habe itzt weder
Wolle noch Milch; was werde ich dem Jupiter
schenken? Soll ich, ich allein, leer vor
ihm erscheinen? Lieber will ich hingehen, und
den Hirten bitten, daß er mich ihm opfere!


  Indem drang, mit des Hirten Gebet, der
Rauch des geopferten Schafes, dem Jupiter ein
süßer Geruch, durch die Wolken. Und itzt
hätte Juno die erste Thräne geweint, wenn
Thränen ein unsterbliches Auge benetzten.


Lessing.


Welche vortreffliche Lehre, daß die Aufopferung
unsrer selbst der Gottheit das [69]
angenehmste Geschenk ist, und ein Geschenk,
welches auch der Ärmste und
Schwächste in seiner Gewalt hat!


  Zweitens für die Geschichte: Sie muß
nichts enthalten, was ein feines Gefühl
beleidigt. Der größte Fehler eines Gedichts,
welches zur Verbesserung der Sitten
bestimmt ist, wäre wohl Unsittlichkeit;
aber auch das Ekelhafte, das Schmutzige,
das zu Possierliche und Pöbelhafte
muß der Dichter zu vermeiden suchen.
Wer kann es ausstehn, wenn Hagedorn
eine Fabel anfängt:


Ein Esel schleppt sich aus dem Luder ─?


oder wenn Holberg den Storch mit langem
Schnabel zum Hofchirurgus macht,
der dem Leoparden Klystiere beibringt?
oder wenn der obige Ungenannte erzählt:


Auf einer von den Felsenspitzen
Des Tartarus sah ich den Krittler Rappus sitzen,

[70]

In Pech und Schwefel halb verkappt!
Und vor ihm stand ein Stück von Kannibalen;
Der schlug ein Loch in seine Stirn,
Und fraß ihm das Gehirn
So rein heraus, als aus den Schalen
Ein Domherr baß die ersten Austern frißt.


  Eine zweite Hauptregel für die Geschichte
ist Wahrscheinlichkeit. Ohne diese
verfehlt die Fabel ganz ihres Endzwecks;
denn der Verstand nimmt schlechterdings
nichts Widersprechendes und Ungegründetes
an. Vor allen Dingen muß also
der Dichter nichts vortragen, was mit
seinen eigenen Voraussetzungen der Charaktere,
der Verhältnisse, der Zeit, des
Orts, einen innern Widerspruch macht.
Aber auch, das was er voraussetzt, muß
nicht den einmal festgesetzten Begriffen,
die wir von den Dingen haben, zuwiderlaufen.
Man beurtheile hienach die obige
Fabel von Holberg: die Ziegen. Oder [71]
auch die achtundzwanzigste Fabel eben
dieses Schriftstellers.


  Doch bloße Möglichkeit ist zur Wahrscheinlichkeit
noch nicht hinlänglich; man
will auch von der Wahl der Personen,
und von allem und jedem was ist und
geschieht, zulänglichen Grund sehn. Und
dann erst, wenn nichts ohne Ursache da
ist, wenn Alles in vollkommener Harmonie
steht, wenn, wie Batteux sehr wohl
sagt, Zeit, Gelegenheit, Ort, Zustand und
Charakter der Personen die Handlung hervorgebracht
zu haben scheinen; dann erst
überlassen wir uns dem Vergnügen der
Täuschung, und nehmen willig den Eindruck
an, den das Werk auf uns machen
sollte. Feinere Fehler wider diese Regel
sind in den obigen Fabeln schon da
gewesen.


  Wenn nun aber in den meisten Fabeln [72]
Thiere, in einigen selbst Bäume u. s. w.
reden, wenn sie oft mit menschlicher Geschicklichkeit
Anschläge schmieden, wenn
sie zuweilen in menschlichen Verbindungen,
als Richter, Kläger, Könige erscheinen;
sündigen da nicht viele und die
meisten Fabeln wider die Wahrscheinlichkeit?
─ Wir sehen, daß es nur gewisse
Voraussetzungen seyn müssen, die dem
Dichter nicht erlaubt sind, und daß es
andere geben müsse, die ihm sehr wohl
erlaubt sind. Wie unterscheiden wir nun
diese Voraussetzungen? ─ So viel sehn
wir sogleich, daß alle Freiheiten die sich
der Dichter nimmt, nur die innern moralischen
Eigenschaften betreffen; die äußerlichen
läßt er so wie er sie findet.
Was erlauben wir ihm nun in Ansehung
dieser moralischen Eigenschaften? Daß
er den Thieren die entgegengesetzten [73]
von denen gebe, die wir an ihnen kennen?
Durchaus nicht! Er darf uns weder
den Fuchs als dumm, noch den Esel als
klug, noch den Löwen als zaghaft, noch
den Hasen als tapfer zeigen. Wenn er
aber Wesen einführt, die eigentlich gar
keine moralische Eigenschaften haben; erlauben
wir ihm da, daß er ihnen dergleichen
gebe? Sehr gern! Nur zeige er uns
den Dornbusch nicht als gütig, die Eiche
nicht als kriechend und schmeichelhaft;
lieber jenen als hämisch, und diese als
trotzig, als stolz. Warum aber das? Offenbar,
weil die äußern sinnlichen Eigenschaften
dieser Dinge gerade auf solche
und keine andere moralische führen; weil
zwischen beiderlei Eigenschaften eine gewisse
Analogie herrscht, deren Vernachlässigung
eine Art von Widerspruch seyn
würde. Wenn nun aber die eingeführten [74]
Wesen schon gewisse moralische Eigenschaften
besitzen, darf der Dichter dann
diese Eigenschaften in einem höhern Grade
annehmen? Allerdings! Aber nur in keinem
höhern, als es sich mit dem ganzen
Charakter verträgt. Der Esel hat, wie alle
Thiere, ein sinnliches Erkenntnißvermögen:
dieses erhöhe man, wenn man will,
zur Vernunft; aber, auch mit seiner Vernunft,
bleibe der Esel noch Esel.


  Das eigentliche Interesse der Fabel
liegt, wie wir ausgemacht haben, in der
Wahrheit; und die höchste Vollkommenheit
der Erdichtung wird also die seyn,
die sie als Beispiel zur Wahrheit hat.
Wenn nun aber in dieser Absicht zwei
Erdichtungen ungefähr gleichen Werth
hätten; sollte da nicht die schönere, interessantere
Erfindung auch die schönere
interessantere Fabel geben? ─ Wer daran [75]
zweifeln wollte, der vergleiche folgende
Stücke, in welchen beiden einerlei Wahrheit
gelehrt wird.


Das Gelübde.


Nichts pflegt der Rachbegier an Thorheit
gleich zu seyn.

Ein Mann, der unverhofft sein feistes Kalb vermiſste,

Schwur, wenn er seinen Dieb nur zu entdecken
wüſste,

So wollt' er einen Bock dem Pan zum Opfer
weihn.

  Sein Wunsch ward ihm gewährt. Es kam
ein Pantherthier;

Das gafft' und bleckt' ihn an, und droht' ihn
zu verschlingen.

Da seufzt' er: Ich will gern mein Opfer zehnfach
bringen;

Nur treib, o starker Pan! den nahen Feind von
hier!

  Betrogne Sterbliche, wer kennt sein wahres
Wohl,

So oft Gelübd' und Wunsch den Rath der Allmacht
störet?

[76]

Wenn uns des Himmels Zorn zu unsrer Straf'
erhöret,

So lernt man allererst, warum man bitten soll.


Hagedorn.


Zevs und das Pferd.


  Vater der Thiere und Menschen, so sprach
das Pferd und nahte sich dem Throne des Zevs:
man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe,
womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe
heiſst mich es glauben. Aber sollte gleichwohl
nicht noch Verschiednes an mir zu bessern
seyn? ─


  Und was meinst du denn, daſs an dir zu
bessern sei? Rede; ich nehme Lehre an: sprach
der gute Gott, und lächelte.


  Vielleicht, sprach das Pferd weiter, würde
ich flüchtiger seyn, wenn meine Beine höher
und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals
würde mich nicht verstellen; sine breitere
Brust würde meine Stärke vermehren; und da
du mich doch einmal bestimmt hast, deinen
Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte
mir ja wohl der Sattel anerschaffen seyn, den
mir der wohlthätige Reuter auflegt.

[77]

  Gut, versetzte Zevs, gedulde dich einen Augenblick!
Zevs, mit ernstem Gesichte, sprach
das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in
den Staub, da verband sich organisirter Stoff;
und plötzlich stand vor dem Throne ─ das
häßliche Kamel.


  Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor
entsetzendem Abscheu.


  Hier sind höhere und schmächtigere Beine,
sprach Zevs; hier ist ein langer Schwanenhals;
hier ist eine breitere Brust; hier ist der anerschaffne
Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich
so umbilden soll?


  Das Pferd zitterte noch.


  Geh, fuhr Zevs fort; diesesmal sei belehrt,
ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermessenheit
aber dann und wann reuend zu erinnern,
so daure du fort, neues Geschöpf ─ Zevs
warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel ─
und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern!



Lessing.


  Drittens für das Verhältniß der Geschichte
zur Wahrheit: die Wahrheit sei [78]
nicht nur überhaupt in der Geschichte
enthalten, sondern auch klar und richtig
darin enthalten. Diese Regel fließt unmittelbar
aus dem Wesen der Fabel; sie
betrifft den Zweck zu welchem die ganze
Erdichtung da ist. Welche von den folgenden
Lichtwehrschen Fabeln ist hienach
die schönste?


Der Hänfling.


Ein Hänfling, den der erste Flug
Aus seiner Eltern Neste trug,
Hob an, die Wälder zu beschauen,
Und kriegte Lust sich anzubauen.
Ein edler Trieb; denn eigner Herd
Ist, sagt das Sprichwort, Goldes werth.
  Die stolze Gluth der jungen Brust
Macht' ihm zu einem Eichbaum Lust.
Hier wohn' ich, sprach er, wie ein König;
Dergleichen Nester giebt es wenig.
Kaum stand das Nest, so wards verheert,
Und durch den Donnerstrahl verzehrt.

[79]

Es war ein Glück bei der Gefahr,
Daß unser Hänfling auswärts war.
Er kam, nachdem es aus gewittert,
Und fand die Eiche halb zersplittert.
Da sah er mit Bestürzung ein,
Er könne hier nicht sicher seyn.
  Mit umgekehrtem Eigensinn
Begab er sich zur Erde hin,
Und baut' in niedriges Gesträuche;
So scheu macht' ihn der Fall der Eiche!
Doch Staub und Würmer zwangen ihn,
Zum andernmal davon zu ziehn.
  Da baut' er sich das dritte Haus,
Und las ein dunkles Büschchen aus,
Wo er den Wolken nicht so nahe,
Doch nicht die Erde vor sich sahe;
Ein Ort, der in der Ruhe liegt.
Hier lebt er noch, und lebt vergnügt.


Der Fuchs und der Adler.


Es lebt' aus Reinekens Geschlechte
Ein jung' und eitler Abkömmling,
Der oft mit mehrerm Glück als Rechte
Der schnellen Hunde Spur entging.

[80]

Da lag er nun vor seinem Loche,
Und lachte bei sich der Gefahr,
Der er noch in vergangner Woche
Durch einen Sprung entronnen war.
  Sagt, rief er, Höfe, Wiesen, Ställe,
Ihr Zeugen meiner Tapferkeit!
Wer stiehlt, wie ich? Wer sieht so helle?
Wer läuft so schnell? Wer riecht so weit?
  Vertieft in solchen Wunderdingen,
Bemerkt' er eines Adlers Flug,
Wie ihn mit ausgestreckten Schwingen
Das stille Meer der Lüfte trug.
  O könnt' ich fliegen, wie die Vögel!
Den Neid, erseufzt er, macht' ich stumm,
Euch aber kahl, ihr Bauerflegel;
Mit Lust gäb' ich ein Ohr darum.
  Itzt legt ein Schuß den Adler nieder.
Der Fuchs nimmt es mit Schrecken wahr;
Zu fliegen wünscht er nimmer wieder.
───
Je höher Stand, je mehr Gefahr.


  Liegt dieser Satz wirklich in der Fabel?
Oder, mögte ich fragen, liegt irgend [81]
ein Satz in ihr, wie sie da ist? Bei einer
andern Bearbeitung hätte vielleicht eine
nützliche Wahrheit hineingebracht werden
können; diese nehmlich: daß man beim
aufmerksamen Gebrauch geringerer Vortheile
sich besser befinde, als beim nachläßigen
Gebrauche der größern.


  Damit aber die Wahrheit aus der Geschichte
deutlich hervorscheine: so muß
man besonders auf die Einheit der Fabel
sehen. Und diese Einheit wird durch den
Zweck der Fabel, durch die Eine Wahrheit
bestimmt. Alles Fremde, nicht Hingehörige
muß vermieden werden; alle einzelnen
Theile müssen zur Erreichung des
Zweckes mitwirken; alle müssen so gestellt
und verbunden seyn, daß der wahre
Gesichtspunct, aus welchem man die Geschichte
ansehen soll, niemal verrückt
werde. ─ Ist die Fabel zusammengesetzt, [82]
so müssen Bild und Gegenbild in der
genauesten Übereinstimmung stehen. Vielleicht
fehlt diese genaueste Übereinstimmung
in folgender kleinen Fabel.


Der Esel und das Jagdpferd.


  Ein Esel vermaſs sich, mit einem Jagdpferde
in die Wette zu laufen. Die Probe fiel erbärmlich
aus, und der Esel ward ausgelacht. ─ Ich
merke nun wohl, sagte der Esel, woran es gelegen
hat: ich trat mir vor einigen Monaten
einen Dorn in den Fuſs, und der schmerzt mich
noch.


  Entschuldigen Sie mich, sagte der Kanzelredner
Liederhold, wenn meine heutige Predigt
so gründlich und erbaulich nicht gewesen, als
man sie von dem glücklichen Nachahmer eines
Mosheim erwartet hätte. Ich habe, wie Sie hören,
einen heisern Hals, und den schon seit
acht Tagen.


Lessing.


  In die Kritik des Einzelnen wollen
wir uns nicht einlassen, um nicht zu weitläuftig [83]
zu werden. Man lese die sämmtlichen
angeführten Stücke noch einmal,
und beantworte sich im Lesen folgende
Fragen: Hat der Dichter nie zu weit ausgeholt?
nie die Erzählung mit unnützen
Umständen erweitert? hat er sie nie mit
falschem Schmuck überladen? Hat er überall
den kürzesten, treffendsten, eigentlichsten
Ausdruck gewählt? Ist seine Sprache
nirgend zu kostbar? oder zu niedrig? zu
poetisch, oder zu matt? Hat er den Charakter
getroffen? Ist er nirgend durch
Zweideutigkeiten, oder durch unrichtige
Verbindungen, oder durch verwickelte
Wortfügungen dunkel geworden? ─ Am
besten thut man, wenn man sich in der
Kritik üben will, man nehme den Lichtwehr
zur Hand.


  Statt hier Beispiele von Fehlern zu
häufen, die man nur allzuhäufig antrifft, [84]
wollen wir lieber noch eine kleine Auswahl
von vortrefflichen Stücken aus unsern
besten Fabeldichtern machen.


Der Affe.


Eis mals ein Affe kam gerant,
Da er viel guoter nuisse fand;
Die het er geessen gerne.
Im was geseit * , der kerne
Wer sueßlich unde guot.
Besweret ** was sien tumber muot,
Da er die bitterkeit bevand
Der praetschen ***, und darnach ze hand
Begreiff der schalen hertikeit.
Von nuissen ist mir viel geseit,
Sprach er, das ist mir nit wohl kunt;
Sie hand verhönet **** mir den mund.
Hin warf er uf derselben vart *****
Die nuss, der kerne im nit wart.
Demselben Affen sint gelich,
Sie sigent jung, alt, arm, ald ****** rich,

[85]

Die dur* kurze bitterkeit
Verschmachent lange sueßigkeit.


Boners Fabeln

aus den Zeiten der Minnesinger.


Der Hahn und der Fuchs.


Ein alter Haushahn hielt auf einer Scheune
Wache.

Da kömmt ein Fuchs mit schnellem Schritt,
Und ruft: O krähe, Freund! nun ich dich fröhlich
mache;

Ich bringe gute Zeitung mit.
Der Thiere Krieg hört auf; man ist der Zwietracht
müde.
In unserm Reich ist Ruh und Friede!
Ich selber trag' ihn dir von allen Füchsen an.
O Freund, komm bald herab, daſs ich dich
herzen kann!

Wie guckst du so herum? ─ Greif, Halt und
Bellart kommen,

Die Hunde, die du kennst: versetzt der alte Hahn;
Und als der Fuchs entläuft: Was, fragt er, ficht
dich an?

[86]

Nichts, Bruder! spricht der Fuchs: der Streit
ist abgethan;

Allein ich zweifle noch, ob die es schon vernommen.



Hagedorn.


Die Nachtigall und der Kukuk.


Die Nachtigall sang einst ihr göttliches Gedicht,

Zu sehn ob es die Menschen fühlten.
Die Knaben die ihm Thale spielten,
Die spielten fort, und hörten nicht.
Indem lieſs sich der Kukuk lustig hören,
Und der erhielt ein freudig Ach!
Die Knaben lachten laut, und machten, ihm zu
Ehren,

Das schöne Kukuk zehnmal nach. ─
Hörst du? sprach er zu Philomelen,
Den Herren fall' ich recht ins Ohr.
Ich denk', es wird mir nicht viel fehlen,
Sie ziehn mein Lied dem deinen vor.
  Drauf kam Damöt mit seiner Schöne.
Der Kukuk schrie sein Lied; sie gingen stolz
vorbei.

[87]

Nun sang die Meisterinn der zauberischen Töne
Vor dem Damöt und seiner Schöne
In einer sanften Melodei.
Sie fühlten die Gewalt der Lieder:
Damöt steht still, und Phyllis setzt sich nieder,
Und hört ihr ehrerbietig zu.
Ihr zärtlich Blut fängt an zu wallen;
Ihr Auge läßt vergnügte Zähren fallen.
O! rief die Nachtigall: da, Schwätzer, lerne du,
Was man erhält, wenn man den Klugen singt.
Der Ausbruch einer stummen Zähre
Bringt Nachtigallen weit mehr Ehre,
Als dir der laute Beifall bringt.


Gellert.


Zevs und das Schaf.


  Das Schaf muſste von allen Thieren vieles
leiden. Da trat es vor den Zevs, und bat, sein
Elend zu mindern.


  Zevs schien willig, und sprach zu dem Schafe:
Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, ich
habe dich allzuwehrlos erschaffen. Nun wähle,
wie ich diesem Fehler am besten abhelfen soll,
Soll ich deinen Mund mit schrecklichen Zähnen
und deine Füſse mit Krallen rüsten? ─

[88]

  O nein, sagte das Schaf; ich will nichts
mit den reißenden Thieren gemein haben.


  Oder, fuhr Zevs, fort, soll ich Gift in deinen
Speichel legen?


  Ach! versetzte das Schaf; die giftigen Schlangen
werden ja so sehr gehasset.


  Nun, was soll ich denn? Ich will Hörner
auf deine Stirne pflanzen, und Stärke deinem
Nacken geben.


  Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht
so stößig werden, als der Bock.


  Und gleichwohl, sprach Zevs, mußt du selbst
schaden können, wenn sich Andere, dir zu schaden,
fürchten sollen.


  Müßt' ich das? seufzte das Schaf. O so
laß mich, gütiger Vater! wie ich bin. Denn
das Vermögen, schaden zu können, erweckt,
fürchte ich, die Lust, schaden zu wollen;
und es ist besser, Unrecht leiden, als Unrecht
thun.


  Zevs segneto das fromme Schaf, und es vergaß
von Stund an, zu klagen.


Lessing.

[89]

Die Berathschlagung der Pferde.


Ha! sprach ein junger Hengst: wir Sklaven
sind es werth,

Daſs wir im Joche sind. Wo lebt ein edles Pferd,
Das frei seyn will? O wie glückselig war
In jener Zeit der Väter Schaar!
Die waren Helden, edel, frei,
Und tapfer. In die Sklaverei
Bog da noch keiner seinen Nacken,
Engländer nicht, auch nicht Polacken.
Der weite Wald
War ihr geraumer Aufenthalt.
Auch scheuten sie kein offnes Feld;
Sie gras'ten in der ganzen Welt
Nach freiem Willen. Ach! und wir? ─
Sind Sklaven, gehn im Joch, arbeiten, wie der
Stier.

Dem schwachen Menschen sind wir Starken unterthan;

Dem Menschen! ─ Brüder! seht es an,
Das unvollkommne Thier!
Was ist es? Was sind wir?
Solch ein Geschöpf bestimmte die Natur
Uns prächtigen Geschöpfen nicht zum Herrn.

[90]

Pfui, auf zwei Beinen nur!
Riecht er den Streit von fern?
Bebt unter ihm die Erde, wenn er stampft?
Sieht man, daß seine Nase dampft?
Ist er großmüthiger, als wir?
Ist er ein schöner Thier?
Hat er die Mähne, die uns ziert?
Und doch ist er, ihr Brüder, ach!
Der Herr, der uns regiert.
Wir tragen ihn; wir fürchten seine Macht;
Wir führen seinen Krieg, und liefern seine
Schlacht.

Er siegt, und höret Lobgesang;
Die Schlacht indeß, die er gewann,
War unser Werk; wir hatten es gethan.
Was aber ist der Dank?
Wir dienen ihm zur Pracht
Vor seinem Siegeswagen;
Und ach! vielleicht nach dreien Tagen
Spannt er den Rappen der ihn trug.
Vor einen Pflug.
Entreißet, Brüder, euch der niedern Sklaverei!
Entreißet euch dem Joch, und werdet wieder frei!
Wie leicht ists doch, wenn wir
Nur einig sind! Was meinet Ihr?

[91]

Er schwieg. Ein wüthendes Geschrei,
Ein wilder Lärm entstand, und jeder fiel ihm
bei.

Ein einziger erfahrner Schimmel nur,
Ein zweiter Nestor sprach: Wahr ist es, die
Natur

Gab uns die prächtige Gestalt,
Die keiner hat, als wir; auch gab sie une
Gewalt

In unsern Huf: jedoch aus milder Hand
Bekam der Mensch Verstand.
Wer bauete den Stall, worin wir sicher sind
Vor Tiger und vor Wolf, vor Regen, Frost und
Wind?

Wer macht, daß wir auch dann dem Hunger
widerstehn,

Wenn wir der Auen Grün mit Jammer sterben
sehn?

Wenn Eis vom Himmel fällt, und alles wüst
und todt

Auf allen Fluren ist? Wer wendet alle Noth
Und allen Kummer dann von unsern Krippen
ab?

Der Mensch, der gute Mensch, den uns der
Himmel gab.

[92]

Er streuet Haber aus und ärntet siebenfach;
Er trocknet süßes Gras und bringt es unters
Dach,

Zwar helfen wir dabei; doch thun wir keinen
Schritt

Und keinen Zug umsonst: er macht uns täglich
satt

Mit Speisen und Getränk, und wann er Sonntag
hat,

So haben wir ihn mit.
Wir dienen ihm; er uns: wir leben mit einander;

Sind mit einander frei. Der Rappe Bucephal,
Ein Grieche, welcher einst den Menschen Alexander

Auf seinem Rücken trug, war König in dem
Stall,

Wie jener auf dem Thron. Und kam er in
ein Feld,

Wo Ruhm zu ärnten war, so war er auch ein
Held;

Und beide, Pferd und Mensch, eroberten die
Welt,

Und theileten den Ruhm des Sieges. Würden wir
Vom Bucephal sonst Nachricht haben?

[93]

Er läg' in tiefe Nacht begraben,
Das edle Thier!
  Niemal besänftigte der Redner Cicero
Die aufgebrachten Römer so,
Als dieser Nestor seine Brüder.
Denn er voran, und hinter ihm die Schaar
Der muthigen Rebellen alle,
Nebst dem der ihr Worthalter war,
Begaben flugs sich wieder nach dem Stalle.


Gleim.

[figure]

VIERTES HAUPTSTÜCK.

[figure]


Von der Idylle.

[94]
[figure]


Die Idylle, haben wir schon gesagt, steht
den oben angeführten Dichtungsarten so
wenig entgegen, daſs sie vielmehr alle
mit in sich begreift. Wir haben in ihr
beschreibende, lyrische, erzählende, dramatische
Stücke. Wenn wir sie also erklären
wollen, so müssen wir einen neuen
Grund der Eintheilung suchen. Und wie
finden wir diesen?


  Der deutsche Namen Hirtengedicht
hilft uns sogleich auf die Spur: denn er
zeigt uns, daß es nur ein gewisser Cirkel [95]
von Menschen seyn muß, worauf der
Dichter sich einschränkt. Der gesuchte
Eintheilungsgrund wird also die besondere
Welt
seyn, woraus der Dichter seine
Materie hernimmt, worin allein er die
Gegenstände aufsucht, die er beschreiben,
die Begebenheiten und Handlungen, die
er erzählen, die Empfindungen und Lei
denschaften, die er ausdrücken will *.

[96]

  Wird uns denn aber diese besondere
Welt des Idyllendichters durch den Namen
Hirtengedicht schon bestimmt genug
angegeben? Sind wirklich seine Personen
nur Hirten? seine Scenen nur Fluren und
Wiesen? ─ Wir finden auch Jäger, die
Wälder und Gebirge bewohnen; auch Fischer,
die ihren Aufenthalt an Strömen
oder dem Gestade des Meers haben. Man
sehe hier gleich eine vortreffliche Fischeridylle
von unserm Kleist:


Irin.


An einem schönen Abend fuhr
Irin mit seinem Sohn, im Kahn
Aufs Meer, um Reusen in das Schilf
Zu legen, das ringsum den Strand
Von nahen Eilanden umgab.
Die Sonne tauchte sich bereits
Ins Meer, und Fluth und Himmel schien
Im Feu'r zu glühen.
    O wie schön
Ist itzt die Gegend! sagt' entzückt

[97]

Der Knabe, den Irin gelehrt,
Auf jede Schönheit der Natur
Zu merken. Sieh, sagt' er, den Schwan,
Umringt von seiner frohen Brut,
Sich in den rothen Wiederschein
Des Himmels tauchen! Sieh, er schifft,
Zieht rothe Furchen in die Fluth,
Und spannt des Fittigs Segel auf. ─
Wie lieblich flietert dort im Hain
Der schlanken Espen furchtsam Laub
Am Ufer! und wie reizend fließt
Die Saat in grünen Wellen fort,
Und rauscht, vom Winde sanſt bewegt! ─
O was für Anmuth haucht anitzt
Gestad' und Meer und Himmel aus!
Wie schön ist Alles! und wie froh
Und glücklich macht uns die Natur! ─
  Ja, sagt' Irin: sie macht uns froh
Und glücklich! Und du wirst durch sie
Glückselig seyn dein Lebelang,
Wenn du dabei rechtschaffen bist,
Wenn wilde Leidenschaften nicht
Von sanfter Schönheit das Gefühl
Verhindern. O Geliebtester!

[98]

Ich werde nun in kurzem dich
Verlassen und die schöne Welt,
Und in noch schönern Gegenden
Den Lohn der Redlichkeit empfahn.
O bleib der Tugend immer treu!
Und weine mit den Weinenden,
Und gieb von deinem Vorrath gern
Den Armen. Hilf, so viel du kannst,
Zum Wohl der Welt. Sei arbeitsam.
Erheb zum Herren der Natur,
Dem Wind und Meer gehorsam ist,
Der Alles lenkt zum Wohl der Welt,
Den Geist. Wähl lieber Schand und Tod,
Eh du in Bosheit willigest!
Ehr', Überfluß, und Pracht, ist Tand;
Ein ruhig Herz ist unser Theil. ─
Durch diese Denkungsart, mein Sohn,
Ist unter lauter Freuden mir
Das Haar verbleichet. Und wiewohl
Ich achtzigmal bereits den Wald
Um unsre Hütte grünen sah;
So ist mein langes Leben doch,
Gleich einem heitern Frühlingstag,
Vergangen unter Freud' und Lust. ─
Zwar hab' ich auch manch Ungemach

[99]

Erlitten. Als dein Bruder starb,
Da flossen Thränen mir vom Aug',
Und Sonn' und Himmel schien mir schwarz.
Oft auch ergriff mich auf dem Meer
Im leichten Kahn der Sturm, und warf
Mich mit den Wellen in die Luft:
Am Gipfel eines Wasserbergs
Hing oft mein Kahn hoch in der Luft;
Und donnernd fiel die Fluth herab,
Und ich mit ihr. Das Volk des Meers
Erschrak, wenn über seinem Haupt
Der Wellen Donner tobt', und fuhr
Tief in den Abgrund, und mich dünkt',
Daß zwischen jeder Welle mir
Ein feuchtes Grab sich öffnete.
Der Sturmwind taucht' dabei ins Meer
Die Flügel, schüttelte davon
Noch Eine See auf mich herab. ─
Allein bald legte sich der Zorn
Des Windes, und die Luft ward hell,
Und ich erblickt' in stiller Fluth
Des Himmels Bild. Der blaue Stör,
Mit rothen Augen, sahe bald
Aus einer Höhl', im Kraut der See,
Durch seines Hauses gläsern Dach;

[100]

Und vieles Volk des weiten Meers
Tanzt' auf der Fluth im Sonnenschein;
Und Ruh und Freude kam zurück
In meine Brust. ─ Jetzt wartet schon
Das Grab auf mich. Ich fürcht' es nicht.
Der Abend meines Lebens wird
So schön, als Tag, und Morgen, seyn. ─
O Sohn! sei fromm und tugendhaft!
So wirst du glücklich seyn, wie ich;
So bleibt dir die Natur stets schön.
  Der Knabe schmiegt' sich an den Arm
Irins, und sprach: Nein, Vater, nein.
Du stirbst noch nicht! Der Himmel wird
Dich noch erhalten, mir zum Trost!
Und viele Thränen flossen ihm
Vom Aug'. ─ Indessen hatten sie
Die Reusen ausgelegt. Die Nacht
Stieg aus der See; sie ruderten
Gemach der Heimat wieder zu.
  Irin starb bald. Sein frommer Sohn
Beweint' ihn lang', und niemal kam
Ihm dieser Abend aus dem Sinn.
Ein heil'ger Schauer überfiel

[101]

Ihn, wenn ihm seines Vaters Bild
Vors Antlitz trat. Er folgete'
Stets dessen Lehren. Segen kam
Auf ihn. Sein langes Leben dünkt'
Auch ihm ein Frühlingstag zu seyn.


  Was ist denn aber das, worin alle diese
verschiedenen Menschen, Hirten, Jäger,
Fischer u. s. w. zusammenkommen? Was
macht sie für den Dichter zu Einer Welt;
und was hat diese Welt, das der ganzen
Dichtungsart ihre eigene Farbe, ihren unterscheidenden
Ton giebt? ─ Soviel ist
ausgemacht, daß uns der Idyllendichter
nie in Städte und Palläste, sondern in
einfältige Hütten, oder in die freie und
offene Natur führt. Wie also, wenn wir alle
die verschiedenen Personen der Idylle unter
dem allgemeinen Namen Landvolk
sammelten?


  Aber das Landvolk das unsere Städte
umgiebt, ist doch auch Landvolk; und wie [102]
verschieden gleichwohl von dem, das die
Idylle schildert! Wir werden zu dem Begriffe
noch Bestimmungen hinzuthun müssen;
und welches sind diese Bestimmungen?


  Das Erste, was uns hier einfallen kann,
ist wohl dies: daß wir uns bei dem Idyllendichter
in einem weit glücklichern Klima,
unter einem immer heitern, lachenden
Himmel befinden; und dann: daß
die Menschen, die hier auftreten, äußerst
glückliche, gute und unschuldige Menschen
sind. ─ In der That finden wir
diese Merkmaale in den meisten Idyllen;
aber finden wir sie denn in allen? und
müssen wir sie nothwendig finden?


  Daß der Himmel wenigstens nicht immer
lachend und heiter sei, sahen wir
schon in der obigen Idylle von Kleist;
und daß überhaupt das Klima nicht nothwendig
das mildeste, die Gegend nicht [103]
durchaus ein Arkadien seyn dürfe: sehen
wir aus andern sehr vortrefflichen Stücken
bei unserm Geßner. In seiner Idylle Daphnis
schildert er eine Wintergegend.


  Die Gegend ist öde: die Heerden ruhen
eingeschlossen im wärmenden Stroh; nur selten
sieht man den Fußtritt des willigen Stiers, der
traurig das Brennholz vor die Hütte führt, das
sein Hirt im nahen Hain gefällt hat; die Vögel
haben die Gebüsche verlassen: nur die einsame
Meise singet ihr Lied; nur der kleine Zaunschlüpfer
hüpfet umher, und der braune Sperling
kömmt freundlich zu der Hütte und picket
die hingestreuten Körner. ─


  Ja, warum sollte es nicht möglich seyn,
daß ein Dichter in die rauhesten und unfruchtbarsten
Gegenden, in Lappland und
Grönland hineinginge, wenn gleich hier
die Idylle von ihrem Reize ein Großes
verlieren müßte? ─ Würden wir es denn
so fremde finden, wenn das Lied eines [104]
Lappländers von Kleist, statt unter seinen
andern Liedern zu stehn, unter seinen
Idyllen stände?


  Was die Glückseligkeit des äußern
Zustandes betrifft, so finden wir auch da
große Ausnahmen bei unserm Geßner.
Es sind nicht bloß die süßen Qualen der
Liebe, die seine Personen fühlen; er zeigt
sie auch manchen Leiden der Menschheit,
den Schmerzen, den Krankheiten, dem
Tode unterworfen. Nur ein ganz kleines
Beispiel aus der Idylle: Daphnis und
Chloe.


  Ach unser Vater! Fünf Tage sinds nun,
seit er uns beide auf seinem Schooße hielt
und weinte. ─ Wie er uns auf die Erde stellte,
wie er erblaßte! Ich kann euch nicht mehr
halten, geliebte Kinder! Mir ist übel, sehr
übel; und da wankt' er zu seinem Bette; seitdem
ist er krank. ─


  Ja sogar das Elend der Armuth hat [105]
uns dieser Dichter in mehr als einem
Stücke, obgleich nicht hülflos, geschildert.
Wie z. B. im Daphnis:


  Ach! ich Armer! sagte der Mann: ich wäre
nicht unglücklich, wenn es dieses Kind nicht
wäre, das hier neben mir im Grase spielt. ─ ─
Ich wohnte dort auf dem Berg; diesen Frühling
standen meine Bäume voll Blüthen, und
die Pflanzen meines Gartens wuchsen schön
empor; da kam ein Regenguß, und ein Strom
von gesammeltem Wasser nahm mir meine Hütte
und meine Bäume und meinen Garten weg, und
wälzte Schlamm und Felsenstücke hin, wo die
Hoffnung meiner Erhaltung blühte. ─


  Endlich, was den Charakter betrifft:
sind die Menschen des Idyllendichters
lauter so fromme, unschuldige, wohlthätige
Menschen? ─ Wenn der Tod Abels
von Geßner nichts als Hirtenepopöe ist,
so können in dieser Welt auch wilde
feindselige Charaktere vorkommen; und [106]
wenn sein Daphnis nichts als Hirtenroman
ist, so kann es auch neidische und niederträchtige
Seelen darin geben. Denn
jenes ist Kain, der seinen Bruder ermordet;
und dieses Lamon, der das Glück
zweier Liebenden durch seine Verläumdung
so gern stören mögte.


  Wir erkennen also, daß weder die
Glückseligkeit des äußern Zustandes, noch
die vollkommne Güte des sittlichen Charakters
ein sichres Unterscheidungszeichen
dieses Landvolks von dem unsrigen sei.
Noch deutlicher würde dieses erhellen,
wenn sich ein Landmann in den allervortheilhaftesten
Umständen, und von einer
höchstedlen, selbst erhabenen Denkungsart
schildern ließe, ohne daß er
darum ein Gegenstand für die Idylle wäre.
Ein Beispiel von so einer Schilderung
müßte erwünscht für uns seyn: denn wir [107]
würden da nicht leicht mehr Gefahr laufen,
zufällige Unterschiede für wesentlich
anzusehen; die Gegenstände wären einander
schon zu nahe gebracht, schon zu
übereinstimmend, als daß nicht jede noch
übrige Verschiedenheit uns auf den rechten
Weg führen sollte. Glücklicher Weise
finden wir so einen ländlichen Charakter
bei unserm Gellert.


Der Informator.


Ein Rauer, der viel Geld und nur zween
Söhne hatte,

Nahm einen Informator an.
Ich, sprach er, und mein Ehegatte,
Wir übergeben Ihm, als einem wackern Mann,
Was uns am liebsten ist. Führ' Er sie treulich
an!

Er sieht, es sind zwei muntre Knaben,
Und freilich wird er Mühe haben;
Allein ich will erkenntlich seyn.
Ich halte viel aufs Rechnen und aufs Schreiben,
Dies laſs' Er sie fein fleiſsig treiben;

[108]

Und präg' Er ihnen ja das Christenthum wohl
ein!

Ich kanns Ihm nicht so recht beschreiben;
Allein Er wird mich wohl verstehn:
Ich mögte sie gern klug und ehrlich sehn;
Dies macht bei aller Welt gelitten,
Und ist vor Gott im Himmel schön,
Erfüll' Er also meine Bitten!
Hier geb' ich Ihm zwei Stübchen ein,
Und was Er braucht, das soll zu Seinen Diensten
seyn.
  Der Lehrer fand ein Herz bei seinen Bauerknaben,

Als hundert Junker es nicht haben;
Denn zeugt nicht manches schlechte Haus
Oft Kinder mit den größten Gaben?
Und bildete die Kunst den rohen Marmor aus,
Was würden wir für große Männer haben!
Wohl Mancher, der im Krug so gern Mandate
liest,

Trüg' itzt, verdient, als Staatsmann seinen Orden;

Wohl Mancher, der, bei einem Bauernzwist,
Versehn mit Kühnheit und mit List,

[109]

Aus Ehrgeiz gern der Führer ist,
Wär' einst ein größrer Held geworden,
Als du, vornehmer Held, nicht bist!
  Der junge Mann, geschickt im Unterrichten,
Erfüllte redlich seine Pflichten;
Und dies gefiel dem Bauer sehr.
Er hielt ihn ungemein in Ehren,
Kam oft den Kindern zuzuhören,
Als obs die Pflicht der Väter wär.
  Nun war ein Jahr vorbei. Herr! sprach der
gute Bauer:

Was soll für Seine Mühe seyn?
„Ich fordre dreißig Thaler.“ ─ Nein,
Nein! fiel der Alte hitzig ein:
Sein Informatordienst ist sauer.
So kriegte ja der Großknecht, der mir pflügt,
Beinah so viel, als der Gelehrte kriegt,
Der das besorgt, was mir am Herzen liegt.
Die Kinder nützen Ihn ja durch ihr ganzes Leben.
Nein, lieber Herr, das geht nicht an;
So wenig giebt kein reicher Mann.
Ich will Ihm mehr, ich will Ihm hundert Thaler
geben,

[110]

Und mich dazu von Herzen gern verstehn,
Ihm jährlich diesen Lohn ansehnlich zu erhöhn.

Gesetzt, ich müßt' ein Gut verpfänden;
Auch das! Ists denn ein Bubenstück?
Viel besser, ich verpfänd's zu meiner Kinder
Glück,

Als daß sie's, reich und lasterhaft, verschwenden.


  Was in dieser Erzählung einem Jeden,
als nicht-idyllenmäßig, auffallen muß,
sind folgende Züge: Der Unterschied mehrerer
von einander abhängiger Stände; die
fürstlichen Mandate, die uns auf die Idee
von Oberherrschaft und Unterthänigkeit
führen; die städtische Erziehung der Kinder
durch einen eigenen Lehrer; die Aufmerksamkeit
auf die Kunst des Rechnens,
die man bei dem natürlichsten und einfältigsten
Handel durch Tausch so leicht
entbehren konnte; die in mehrere Zimmer
abgetheilte bequemere Wohnung u. s. w. [111]
Alle diese Züge aber lassen sich wieder
unter dem Einen Hauptzug befassen: der
hier geschilderte Landmann ist Unterthan
eines Staats. In dem ursprünglichen freien
Stande der Natur fand sich weder eine
solche Mannichfaltigkeit und Absonderung
der Stände, noch eine solche Verfeinerung
der Künste, noch eine solche Erhöhung
der Bedürfnisse.


  Dieses giebt uns auf einmal den wahren
Begriff der Idylle. Es ist ein Gedicht,
das uns die Charaktere, Sitten, Begegnisse,
Empfindungen, Handlungen solcher gesitteten
Menschen schildert, die noch in
keinen Staat zusammengetreten sind, oder
bei denen wir die Verbindung mit der
größern Gesellschaft des Staats wenigstens
nicht gewahr werden. Jede einzelne Familie
hängt noch ganz von sich selbst ab;
sie sind noch durch weiter nichts, als [112]
durch nachbärliche Freundschaft, vereinigt.



  Nunmehr erhellt auch sogleich, warum
wir den Zustand dieser Menschen so äußerst
glücklich, ihre Sitten so rein und
untadelhaft fanden. Von den allgemeinen
Leiden der Natur sind sie nicht frei; aber
wohl von allen dem Elende, das erst
nach Errichtung der größern Gesellschaften
entstanden ist: von drückenden Auflagen,
sklavischen Frohndiensten, übertriebener
Arbeit, Sorge und Unmuth wegen
ermangelnder Befriedigung hinzugekommener
Bedürfnisse. Gewisse Fehler
des Charakters: Eifersucht, Untreue in der
Liebe, Neid wegen größerer Vollkommenheit
der Seele oder des Körpers, finden
hier Statt; aber andre, die erst das mannichfaltigere,
mehr verwickelte Interesse
in großen Gesellschaften hervorbringt, finden [113]
hier keine Gegenstände: Sucht nach
bürgerlicher Ehre, Begierde nach großen
Reichthümern, Verschwendung, scheinheiliger
Betrug, Geist der Verfolgung, Meuterei
u. s. f.


  Es hat Völker gegeben, die in einem
solchen ruhigen und unabhängigen Zustande
gelebt haben, und es giebt ihrer
auch jetzt noch. Der Dichter hat unter
diesen Völkern die Wahl; er zieht aber
gemeiniglich die Zeiten des ältesten Griechenlandes
oder der Patriarchen vor: theils
weil er hier schon Muster vorfindet, die
er nachahmen kann; theils weil der Zustand,
die Sitten, die Religionsbegriffe
dieser alten Völker und Familien so allgemein
bekannt sind. Er täuscht uns leichter
und sicherer, wenn er sich an Ideen
anhängt, die wir schon haben, und vermehrt
unser Vergnügen, indem er uns [114]
nicht nur über die Schönheit, sondern
auch über die Richtigkeit seiner Schilderung
urtheilen läßt. Einen ganz besondern
Vortheil gewinnt er noch dadurch,
daß er die bekannte heilige Poesie des
alten Griechenlandes und der Patriarchen
in die seinige mit verweben, ihre Überlieferungen
von dem ehemaligen Umgange
höherer Wesen mit den Menschen realisiren,
ihre Gottheiten, Dämonen, Engel,
redend und handelnd mit einführen kann.


  Darf sich denn aber der Idyllendichter
gar nicht unter solche Völker wagen,
die schon wirklich in größere gesellschaftliche
Verbindungen eingetreten sind? Sehr
gerne! Wenn er nur keine Völker wählt,
die sich von der ersten ursprünglichen
Einfalt schon zu weit verloren haben,
wenn er nur die Städter und Höflinge
von seinen Personen in der gehörigen [115]
Entfernung hält, wenn er nur diese
Personen selbst in einer solchen Einfalt
und Freiheit vorstellt, daß wir ihre Abhängigkeit
vom Staat weder in ihren Sitten,
noch in ihrer Lebensart, noch in
ihren Umständen gewahr werden. Die
Gränze, bis wie weit man hier gehen
darf, hat Geßner auch da noch getroffen,
wo es scheint daß er sie ganz überschritten
habe: in seiner Schweizeridylle. Die
freien unschuldigen genügsamen Menschen,
die er hier schildert, sind gegen ein andres
sklavisches Volk, das sie unterdrücken
wollte, wie gegen eine Heerde Wölfe,
zusammengetreten; sie haben sich unter
ihren Anführern beherzt vertheidigt: und
leben nun wieder in einem Zustande, der
so glücklich, mit einer so klugen Auswahl
der Züge vorgestellt ist, daß wir beinahe
das goldene Weltalter darin erneuert finden. [116]
Dadurch ist diese Idylle, obgleich
die weitläuſtige Beschreibung einer Schlacht
darin vorkömmt, noch immer Idylle. Hingegen
die Hirtenlieder eines Ungenannten,
die nicht allein im Tone so modern sind,
sondern auch eine so vertraute Bekanntschaft
mit unserer feinern Welt, mit aller
Üppigkeit und allen Lastern der Städte
verrathen, sind nur Schilderungen und
Empfindungen des Landlebens, keine wirkliche
Hirtenlieder. Es mag an Einem Beispiele
genug seyn.


Die Natur.


Nicht künstlich ausgelernte Mienen,
Nicht übertünchtes Wangenroth,
Nicht Gold und glänzende Rubinen
Und Haarschmuck liebt der Liebesgott.
  Ein Aug', wo sich die Seele malet,
Und Wangen, blühend durch Natur,
Und Schmuck, aus dem die Unschuld strahlet,
Und freie Locken liebt er nur.

[117]

Er sitzet auf dem weichen Grase
Bei meiner Schäferinn, und flieht
Und rümpfet seine kleine Nase,
Wenn er die stolze Clara sieht.


F. A. C. W[erthes].


Eben so wenig sind das wahre Hirtenlieder,
wenn man sich in die Gestalt eines
Idyllendichters gleichsam nur verkleidet,
um Gegenstände aus einer ganz andern
Welt zu behandeln; sowie das Virgil in
seiner ersten Ekloge gethan hat.


  Wir haben bis itzt nur die erste der
aufgeworfenen Fragen beantwortet: Welches
ist die Welt des Idyllendichters? Wir
müssen nun auch die zweite beantworten:
Was hat diese Welt, das der ganzen Dichtungsart
ihre eigene Farbe, ihren unterscheidenden
Ton giebt?


  Wenn sich ein Dichter einen einzelnen
bestimmten Gegenstand zu behandeln vornimmt,
so wird er sich vor allen Dingen [118]
fragen: was für eine Wirkung er damit
hervorbringen will? Er wird aber keine
andere damit hervorbringen wollen, als die
er am leichtesten hervorbringen kann, als
worauf er selbst durch die Natur des Gegenstandes
geführt wird. Und wenn er
nun diese gefunden hat, so wird er den Gegenstand
so zurichten, wenden, abändern,
er wird Bilder, Ausdrücke, kurz den ganzen
Ton seiner Schreibart so wählen, wie
er es zu dieser Wirkung am dienlichsten
glaubt. Alles was dieselbe zu verhindern
scheint, oder wenigstens nichts zu ihr beiträgt,
wird er wegschneiden; Alles was er
ihr gemäß befindet, wird er aussondern,
verstärken, mit neuen hinzugedichteten
Zügen ergänzen. So aber, wie hier jeder
einzelne Dichter mit seinem einzelnen Gegenstande,
so auch im Allgemeinen der
Idyllendichter mit seiner ganzen Gattung
von Gegenständen.

[119]

  Die Frage wird also folgende seyn:
Welche Wirkung kann die Schilderung
des Menschen in seinem ersten ursprünglichen
Zustande vor allen andern hervorbringen?
Ohne Zweifel die, daß sie uns
ein angenehmes Gefühl der Einfalt, Freiheit,
und Unschuld,
im Gegensatze der
jetzigen Thorheit, Unterjochung und Verderbniß
verschaffe. Jede andere Wirkung
würde sich durch Schilderung des Menschen
in seinem jetzigen Zustande eben
so leicht und leichter erhalten lassen; es
würde kein Grund vorhanden seyn, warum
der Dichter in einer fremden Welt
nach etwas suchte, was er in seiner eignen
weit besser gefunden hätte. ─ Wenn
Jupiter beim Homer das Antlitz von Troja
weg und auf solche Völker richtet, die
von der Milch ihrer Heerden leben, so
thut er es, um sich durch den Anblick [120]
dieser einfältigen, ruhigen, schuldlosen
Völker wieder zu erquicken; und wenn
der jetzige Mensch in jenen erstern Zustand
der Menschheit mit seiner Phantasie
zurückkehrt, so thut er es, um sein
krankes, durch Gefühl der jetzigen Unterdrückung,
Eitelkeit und Bosheit erbittertes
oder niedergeschlagenes Herz wieder
zu stärken und aufzumuntern.


  Diese bestimmte Wirkung nun, die sich
der Idyllendichter zu erreichen vorsetzen
soll: was erfordert sie Alles? ─ Zuerst:
was erfordert sie in Ansehung des physischen
und sittlichen Übels, dem der
Mensch, auch in dem Zustande der Natur,
wie wir gesehen haben, noch unterworfen
ist? ─ Gewiß nicht, daß es der
Dichter durchaus verberge, und uns keine
andre als reizende Bilder frommer Menschen
in ihren glücklichsten Tagen zeige. [121]
Man nähme Geßnern seinen interessantesten
Stoff, wenn man ihm seine armen, unglücklichen,
fehlerhaften Menschen nähme.
Eben diese geben ihm die Situationen,
worin die Güte des unverdorbenen
Herzens, die genügsame Einfalt, die uninteressirte
Redlichkeit, die ungeschwächte
Sympathie, die unbefangene Unschuld am
sichtbarsten und rührendsten hervorspringen.
Aber das wird der Zweck der Idylle
erfordern: daß man die Gemälde des Unglücks,
der fehlerhaften, selbst boshaften
Charaktere noch immer mäßige und in
milderm Lichte halte; daß man nie die
Erbitterung über die sanfte Rührung, den
Abscheu über das Wohlgefallen das Übergewicht
erhalten lasse. Mit einem Worte:
daß man die Unglücksfälle dieser Menschen
nur brauche, um das Glückliche
ihres Zustandes; ihre Fehler, um die vorzügliche [122]
Güte ihrer Charaktere besser fühlen
zu lassen. ─ Ein Schäfer, der sich
aus Verzweiflung vor der Thüre seiner
Grausamen erhenkt, ist, nach dem einstimmigen
Urtheile aller Kunstrichter, kein
idyllenmäßiger Gegenstand. Wenn man
Schauder über die Verzweiflung eines
Selbstmörders erwecken will: wie viel
wahrscheinlicher kann man das durch Gemälde
aus unsrer jetzigen Welt thun!


  Aber nun zweitens: in Ansehung der
glücklichen Tage, und des Guten in den
Charakteren; wie wird sich da der Dichter
verhalten müssen? Wird er sie getreu
nach der Natur copiren, sie ganz so lassen
können, wie er sie entweder in Nachrichten
vorfindet oder durch Schlüsse herausbringt?
Schon der eingeborne Dichter
eines Hirtenvolks würde sich des Vortheils
seiner Kunst bedienen, die Natur [123]
zu veredeln, und nur die auserlesenern
schönern Züge vor die Phantasie zu bringen.
Der Dichter der für cultivirtere Nationen
schreibt, wird genöthigt seyn, dieses
noch weiter zu treiben; er wird von
dem vielen Guten das die höhere Cultur
mit sich gebracht hat, oder das wenigstens
der gebildete Mensch sich nicht entbrechen
kann für gut zu erkennen, etwas
in jene Welt mit hinübertragen, es mit
jenem Guten, das der erste freie Zustand
vor dem unsrigen voraus hatte, verbinden
müssen: oder das Gemälde wird für den
verfeinerten empfindlichern Menschen, für
den er doch arbeitet, zu wenig Anziehendes
haben. Unschuld, mit zu wenig Mäßigung
und Zurückhaltung der Begierden,
Redlichkeit, mit zu wenig Feinheit und
Delicatesse der Empfindung, Dienstleistung,
mit zu wenig Anmuth der Art wie [124]
sie erzeigt wird, Einfalt, mit zu viel Rohigkeit
des Verstandes verbunden u. s. w.
wären vielleicht nach der Natur wahrer,
aber für den cultivirten Menschen zu wenig
einnehmend und reizend. Man wird
also erst dann die ganze abgezweckte Wirkung
erreichen, wenn man nach einem
Ideale arbeitet, oder, welches der Begriff
eines Ideals ist, wenn man das was der
vorgesetzten Wirkung entspricht, so von
allem Fremden absondert, so erhöht und
verstärkt, wie die Wirkung am vollständigsten
dadurch erreicht werden kann. ─
Das Ideal aber ist wandelbar, nach der
verschiedenen Beschaffenheit derer, auf
die man die Wirkung thun will. Zu den
Zeiten Theokrits war Manches dem schönen
Ideale noch nicht zuwider, was es
zu den Zeiten Virgils schon geworden
war.

[125]

  Aber kann man es nun mit dieser
Veredelung und Erhöhung der Züge treiben,
wie weit man will? Der Maler, der
eine Minerva voll Ernstes und Tapferkeit
malt, muß sich wohl in Acht nehmen,
daß aus dem weiblichen Gesichte kein
männliches werde. Eben so muß sich der
Idyllendichter hüten, daß er nicht außer
den Gränzen seiner Welt herausgehe; daß
er Kenntnisse, Sitten, Lebensart, Künste,
noch immer dem Zustande seines Volks,
auch bei der größten Veredelung, gemäß
erhalte. Die Gränzen aber, bis wie weit
er gehen darf, lassen sich unmöglich im
Allgemeinen bestimmen; der Dichter muß,
durch richtiges Gefühl, sich selbst der
beste Führer und Erinnerer seyn. ─ Wenn
unglücklicher Weise ein Volk von aller
Einfalt und Unschuld sich so weit entfernt
hätte, daß es an nichts als an schimmerndem [126]
Witze, erkünstelter Lebensart,
raffinirten Sitten, mehr Gefallen fände, so
wäre für so ein Volk gar kein Ideal der
Idylle mehr möglich. Was bei ihm etwa
Idylle hieße, würde nichts als Hofmaskerade
seyn, wo Damen und Herren im
ländlichen Aufputz erschienen.


  Das Ideal, das sich unser Geßner von
der Idylle geschaffen, ist unverbesserlich.
Besonders hat man ihm darüber verdiente
Lobsprüche gemacht, daß er die Lebensart
seiner Personen so viel weniger als
ihre Sitten idealisirt, daß er sie beinahe
so gelassen wie er sie in der Natur fand:
nur freilich mit kluger Verbergung alles
dessen, was widrige Empfindungen des
Ekels erwecken könnte. Auch in der
Schreibart der Idylle ist er, ohne Zweifel,
unter allen Neuern das beste Muster.


  Die Regeln für diese Schreibart lassen [127]
sich aus dem bisher Gesagten von selbst
erkennen. Sie muß der abgezweckten
Wirkung gemäß, überall sanft und ruhig,
selbst auch da nicht heftig und rauh seyn,
wo man die Personen im Unglück, oder
wo man lasterhafte Charaktere schildert.
Denn, wie wir ausgemacht haben, so sollen
Unglück und Laster hier nur zu Mitteln
dienen, um liebenswürdige Eigenschaften
und das Glückliche des Zustandes
im Ganzen besser ans Licht zu treiben.
Wohlgefallen und sanfte Rührung
also bleiben immer die Hauptempfindung:
und die Hauptempfindung giebt für das
Werk den Ton an, den man zwar verschiedentlich
abändern, aber nie so ganz
verlassen darf, daß man in den entgegengesetzten
verfiele.


  Ein zweites Haupterforderniß dieser
Schreibart ist Einfalt. Und zwar eine [128]
solche Einfalt, die sich nicht allein, wie
billig jede gute Schreibart sollte, bloß
an die Hauptvorstellungen hält, und sie,
ohne Begierde zu schimmern, in den eigentlichsten
Ausdrücken, mit den wahrsten
Wendungen und in den ungesuchtesten
Bildern vorträgt; sondern die auch
Alles ausschließt, was erst eine lange
Reihe vereinigter Reflexionen und Bemühungen
unter mehr verfeinerten Menschen
hervorbringen konnte, in Wissenschaften,
Künsten, Lebensart, Sitten, Reden, und
Handlungsarten. Statt abstracter Ausdrücke,
liebt die Idylle sinnliche Bilder; statt
gelehrter Gleichnisse und Anspielungen,
nimmt sie allen ihren Schmuck aus der
Natur; statt versteckterer Verbindungen
und feinerer Verhältnisse unter den Begriffen,
giebt sie den Gedanken ihren
leichtesten und natürlichsten Zusammenhang; [129]
statt mannichfaltiger Abwechselungen
des Ausdrucks, sagt sie das Nehmliche
mit den nehmlichen Worten wieder; statt
des vorsätzlich Falschen, das bei uns der
geübtere Witz dem Wahren alle Augenblicke
zusetzt, hält sie sich bloß an das
Wahre; statt des Verabredeten, Willkürlichen,
Versteckten, das in unsrer Sprache
des Umgangs herrscht, ist bei ihr das Gespräch
ungesucht, offen, und ohne Umstände.



  Ein einfältiger Ausdruck wird naiv,
wenn er gesunden richtigen Verstand, edle
moralische Gesinnungen, Unschuld, feine
und zarte Empfindung, mit einem Worte,
wenn er vortreffliche Eigenschaften des
Verstandes und Herzens verräth. Also
auch Naivetät wird eine vorzügliche Eigenschaft
der Schreibart der Idylle seyn
müssen, wie aus dem was wir von dem [130]
idealisirten Charakter der hier auftretenden
Personen gesagt haben, sehr leicht
erkannt wird.


  Die Bestätigung unsers Begriffs von
der Idylle, und Beispiele zu den Regeln
die wir für ihre Schreibart festgesetzt haben,
sehe man in folgenden Stücken, die
aus den besten Dichtern, welche unter
uns in dieser Gattung gearbeitet haben,
entlehnt sind. Beispiele des Kraftlosen,
des bloß Einfältigen, Niedrigen, Gemeinen,
wovor man sich in dieser Gattung
besonders zu hüten hat, finden sich in
Graders Idyllen. Wegen versäumter Einfalt
in Gedanken und im Ausdruck, lassen
sich über die oben eingerückte Fischeridylle
von Kleist einige Kritiken machen.


Mirtil.


  Bei stillem Abend hatte Mirtil noch den
mondbeglänzten Sumpf besucht; die stille Ge-
[131]
gend im Mondschein und das Lied der Nachtigall
hatten ihn in stillem Entzücken aufgehalten.
Aber itzt kam er zurück in die grüne
Laube von Reben vor seiner einsamen Hütte,
und fand seinen alten Vater, sanft schlummernd
am Mondschein, hingosunken, sein graues Haupt
auf den einen Arm hingelehnt. Da stellt' er
sich, die Arme in einander geschlungen, vor
ihm hin. Lang' stand er da, sein Blick ruhete
unverwandt auf dem Greise; nur blickt' er zuweilen
auf, durch das glänzende Reblaub zum
Himmel, und Freudenthränen flossen dem Sohn
vom Auge.


  O du, so sprach er itzt: du, den ich nächst
den Göttern am meisten ehre! Vater, wie sanft
schlummerst du da! Wie lächelnd ist der Schlaf
des Frommen! Gewiß ging dein zitternder Fuß
aus der Hütte hervor, in stillem Gebete den
Abend zu feiern, und betend schliefest du ein.
Du hast auch für mich gebetet, Vater! Ach, wie
glücklich bin ich! Die Götter hören dein Gebet;
oder warum ruhet unsre Hütte so sicher
in den von Früchten gebogenen Ästen? Warum
ist der Segen auf unsrer Heerde, und auf den
Früchten unsers Feldes? Oft, wenn du bei mei-
[132]
ner schwachen Sorge für die Ruhe deines matten
Alters Freudenthränen weinest; wenn du
dann gen Himmel blickest und freudig mich
segnest: ach was empfind' ich dann, Vater!
Ach, dann schwillt mir die Brust, und häufige
Thränen quillen vom Auge! Da du heut an
meinem Arm aus der Hütte gingst, an der wärmenden
Sonne dich zu erquicken, und die frohe
Heerde um dich her sahest, und die Bäume voll
Früchte, und die fruchtbare Gegend umher; da
sprachst du: Meine Haare sind unter Freuden
grau worden; seid immer gesegnet, Gefilde!
Nicht lange mehr wird mein dunkelnder Blick
euch durchirren; bald werd' ich euch an seligere
Gefilde vertauschen. Ach, Vater, bester
Freund! bald soll ich dich verlieren; trauriger
Gedanke! Ach dann ─ dann will ich einen
Altar neben dein Grab hinpflanzen, und dann,
so oſt ein seliger Tag kömmt, wo ich Nothleidenden
Gutes thun kann, dann will ich, Vater!
Milch und Blumen auf dein Grabmaal streun.


  Itzt schwieg er, und sah mit thränendem Aug
auf den Greis. Wie er lächelnd da liegt und
schlummert! sprach er itzt schluchzend: es sind
von seinen frommen Thaten im Traum vor seine
[133]
Stirne gestiegen. Wie der Mondschein sein
kahles Haupt bescheint, und den glänzend weißen
Bart! O daß die kühlen Abendwinde dir
nicht schaden, und der feuchte Thau! Itzt
küßt' er ihm die Stirne, sanft ihn zu wecken,
und führt' ihn in die Hütte, um sanfter auf
weichen Fellen zu schlummern.


Gessner.


Mirtil, Thyrsis.


  Mirtil hatte sich, in einer kühlen nächtlichen
Stunde, auf einen weit umsehenden Hügel begeben;
gesammelte dürre Reiser brannten vor
ihm in hellen Flammen, indeſs daſs er einsam,
ins Gras gestrecket, mit irrenden Blicken den
Himmel, mit Sternen besäet, und die vom Mond
beleuchtete Gegend durchlief. Aber schüchtern
sah er sich itzt um, denn es rauschte etwas im
Dunkeln daher. Es war Thyrsis. Sei mir willkommen,
sprach er: setze dich zum wärmenden
Feuer! Wie kömmst du hieher, itzt da die
ganze Gegend schlummert?


  Thyrsis. Sei mir gegrüßt! Hätt' ich dich
zu finden geglaubt, ich hätte nicht so lange gezaudert,
den lodernden Flammen zu folgen, die
[134]
im Dunkeln so schön ins Thal glänzen. Aber
höre, Mirtil! itzt, da des Mondes düstrer Schimmer
und die einsame Nacht zu ernsten Gesängen
uns locket; höre, Mirtil! ich schenke dir
eine schöne Lampe, die mein künstlicher Vater
aus Erde gebildet hat: eine Schlange mit Flügeln
und Füßen, die den Mund weit aufsperrt,
aus dem das kleine Licht brennt; den Schweif
ringelt sie empor bequem zur Handhabe. Dies
schenk' ich dir, wenn du mir die Geschichte
des Daphnis und der Chloe singest.


  Mirtil. Ich will dir die Geschichte des
Daphnis und der Chloe singen, itzt da die
Nacht zu ernsten Gesängen lockt. Hier sind
dürre Reiser; sieh du indeß, daß das wärmende
Feuer nicht erlöschet.


  Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig
töne mein Lied zurück, durch den Hain und
vom Ufer!


  Sanft glänzte der Mond, als Chloe am einsamen
Ufer stand, sehnlich wartend; denn ein
Nachen sollte den Daphnis über den Fluß bringen.
Lange säumt mein Geliebter, so sprach
sie; die Nachtigall schwieg und horchte die
zärtlichen Accente. Lange säumt er, doch ─
[135]
horche! ─ ich höre ein Plätschern, wie Wellen
die wider einen Nachen schlagen. ─ Kömmst
du? Ja! ─ doch nein! ─ Wollt ihr mich
noch oft betrügen, ihr plätschernden Wellen?
O spottet nicht des ungeduldigen Wartens des
zärtlichsten Mädchens! Wo bist du itzt, Geliebter?
Beflügelt Ungeduld nicht deine Füße?
Wandelst du itzt im Hain dem Ufer zu? O daß
kein Dorn die eilenden Füße verletze, und
keine schleichende Schlange deine Fersen! Du
keusche Göttinn, Luna oder Diana! mit dem
nie fehlenden Bogen, streue von deinem sanften
Glanz auf seinen Weg hin! O, wenn du
aus dem Nachen steigest, wie will ich dich umarmen!
─ Aber itzt, gewiß itzt, itzt trügt ihr
mich doch nicht, ihr Wellen! O schlaget sanft
den Nachen, traget ihn sorgfältig auf eurem
Rücken! Ach ihr Nymphen! wenn ihr je geliebt
habt, wenn ihr je wißt, was zärtliche Erwartung
ist ─ ich seh ihn, sei mir gegrüßt! ─
Du antwortest nicht! Götter! ─ Itzt sank Chloe
ohnmächtig am Ufer hin.


  Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig
töne mein Lied zurück, durch den Hain und
vom Ufer!

[136]

  Ein umgestürzter Nachen schwamm daher,
der Mond beschien die klägliche Geschichte.
Am Ufer lag Chloe ohnmächtig, und eine
schauernde Stille herrschte umher. Aber sie erwachte
wieder; ein schreckliches Erwachen! Sie
saß am Ufer, bebend und sprachlos, und der
Mond verbarg sich hinter den Wolken; ihre
Brust bebte von Schluchzen und Seufzen; itzt
schrie sie laut, und die Echo wiederholte der
trauernden Gegend ihr Geschrei, und ein banges
Winseln rauschte durch den Hain und durch
die Gebüsche; sie schlug die ringenden Hände
auf die Brust, und riß die Locken vom Haupt.
Ach Daphnis! Daphnis! O ihr treulosen Wellen!
ihr Nymphen! Ach, ich Elende, ich zaudre,
ich säume den Tod in den Wellen zu suchen,
die mir die Freude meines Lebens geraubt haben!
So rief sie, und sprang vom Ufer in den
Fluß.


  Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig
töne mein Lied zurück, durch den Hain und
vom Ufer!


  Aber die Nymphen hatten den Wellen befohlen,
sorgfältig sie auf dem Rücken zu tragen.
Grausame Nymphen! rief sie: ach zögert nicht
[137]
meinen Tod! Ach verschlinget mich, Wellen!
Aber die Wellen verschlangen sie nicht; sie
trugen sie sanft auf dem Rücken, zum Ufer eines
kleinen Eilandes. Daphnis hatte mit Schwimmen
sich ans Eiland gerettet. Wie zärtlich sie
ihm in die Arme sank, und ihr Entzücken: o
das kann ich nicht singen! Zärtlicher, als wenn
die Nachtigall ihrem Gefängniß entflieht, ihr
Gatte hatte Nächte durch im Wipfel kläglich
geseufzet; sie fliegt itzt entzückt dem schauernden
Gatten zu: sie seufzen und schnäbeln und
umschlagen sich mit ihren Flügeln; aber itzt
tönt ihr Entzücken in Freudenliedern die stille
Nacht durch.


  Klaget itzt nicht mehr, ihr Felsenklüfte!
Freude töne itzt vom Hain zurück und vom
Ufer. ─ Und du, gieb mir die Lampe; denn
ich habe dir die Geschichte des Daphnis und
der Chloe gesungen.


Ebenderselbe.


Amynt.


Sie fliehet fort! Es ist um mich geschehen!
Ein weiter Raum trennt Lalagen von mir.
Dort floh sie hin! Komm Luft, mich anzuwehen!
Du kömmst vielleicht von ihr.

[138]

Sie fliehet fort! Sagt Lalagen, ihr Flüsse,
Daß ohne sie der Wiese Schmuck verdirbt;
Ihr eilt ihr nach; sagt, daß der Wald sie
misse,

Und daß ihr Schäfer stirbt!
  Welch Thal blüht itzt, von ihr gesehen,
besser?

Wo tanzt sie nun ein Labyrinth? Wo füllt
Ihr Lied den Hain? Welch glückliches Gewässer

Wird schöner durch ihr Bild?
  Nur Einen Druck der Hand, nur halbe Blicke,
Ach! Einen Kuß, wie sie mir vormal gab,
Vergönne mir von ihr; dann stürz', o Glücke,
Mich, wenn du willst, ins Grab!
  So klagt' Amynt, die Augen voll von Thränen,

Den Gegenden die Flucht der Lalage.
Sie schienen sich mit ihm nach ihr zu sehnen,
Und seufzten: Lalage!


Kleist.

[139]

Der Mai.*
Wettgesang, Daphnis und Rosalinde.
Daphnis.


Willkommen, allmächtiger Mai!
Du Schönster im Kreise zwölf seliger Götter,
Gelagert am Himmel auf goldnen Gestirnen!
Du krönest mit Segen das Jahr.
Dir dampfe von tausend Altären
Des ganzen Erdballs Opferrauch!


Rosalinde.


Willkommen, allgütiger Mai!
Du Bester von allen wohlthätigen Göttern,
Die Fluren und Berge und Wälder befruchten!
Du segnest mit Liebe die Welt.
Dir schalle von tausend Entzückten
Ein langer lauter Lobgesang!


Daphnis.


Ich sah den jungen Mai:
Seiner Blume Silberglocken
Hingen um den Schlaf.
Als er vom Himmel fuhr,
Blühten alle Wipfel;

[140]

Als er den Boden trat,
Ließ er Violen und Hyacinthen im Fußtritt zurücke.



Rosalinde.


Ich sah den jungen Mai:
Blüthe trug der Myrtenzepter
In des Gottes Hand.
Als er vom Himmel fuhr,
Sangen ihm die Lerchen;
Als er zur Erde sank,
Seufzten vor Liebe die Nachtigallen aus allen
Gebüschen.


Daphnis.


Willkommen, allmächtiger Mai!
Du krönest mit Segen das Jahr.
Dir dampfe von tausend Altären
Des ganzen Erdballs Opferrauch!


Rosalinde.


Willkommen, allgütiger Mai!
Du segnest mit Liebe die Welt.
Dir schalle von tausend Entzückten
Ein langer lauter Lobgesang!


Daphnis.


Seht, die Traube bricht hervor
Unter jungen Rebenblättern,

[141]

Und verkündigt Most.
Dieses machen die fröhlichen Götter,
Bacchus und der Mai.
Muntre Schäfer, laßt uns trinken:
Eine Schale dem Mai, und Eine dem Bacchus
zur Ehre!


Rosalinde.


Seht, der Wiese junges Grün,
Laue Lüfte, Wohlgerüche
Laden uns zum Tanz.
Dieses wollen die fröhlichen Götter,
Amor und der Mai.
Schäferinnen, laſst uns tanzen:
Einen Reihen dem Mai, und Einen dem Amor
zur Ehre!


Daphnis.


Willkommen, allmächtiger Mai!
Dir dampfe von tausend Altären
Des ganzen Erdballs Opferrauch!


Rosalinde.


Willkommen, allgütiger Mai!
Dir schalle von tausend Entzückten
Ein langer lauter Lobgesang!


Daphnis.


Selig preis' ich Rosalinden,

[142]

Die sich ihrer Mutter
Sanft vom Herzen wand,
Als der Mai regierte,
Als die Rose die Knospe durchbrach.
Ihre Kindheit hauchte Freude;
Freude düftet ihr Alter dereinst.


Rosalinde.


Selig preist sich Rosalinde,
Die sich ihrem Daphnis
In die Arme warf,
Als der Mai regierte,
Als die Rebe den Ulmbaum umschlang.
Seine Jugend liebt sie zärtlich;
Zärtlich liebt sie sein Alter dereinst.


Daphnis.


Diesen Kranz von Frühlingsblumen
Bring' ich Rosalinden dar!
Mehr als einmal überwunden,
Geb' ich ihn der Siegerinn.


Rosalinde.


Diesen Myrtenkranz der Jungfraun
Nehme Daphnis meinem Haar!
Einmal ewig überwunden,
Geb' ich ohne Reu' ihn hin.

[143]

Beide.


Ihr Kinder des Maien, lobsinget dem Mai!
Dir, Verjünger aller Wesen,
Dir danke, was lebet, allmächtiger Mai!
Dir, du Schutzgott unsrer Liebe,
Dir danke, was liebet, allgütiger Mai!
Ihr Kinder des Maien, lobsinget dem Mai!


Ramler.


Thyrsis.


  Umsonst! so klagte Thyrsis seine Qual: für
mich umsonst, Ihr gütigen Nymphen, schwebt
angenehme Kühlung in diesen Schatten, wo Ihr
eure Quellen im wölbenden Gesträuch ausgie-
ſset. Ich schmachte, ach wie man an der Sommersonne
schmachtet! Unten am kleinen Hügel,
auf dem die Hütte der Chloe steht, saſs
ich, und blies der Echo ein sanftes Liedchen
vor. Oben beschattet den Hügel der Baumgarten,
den sie wartet und pflanzt, und neben mir
plätscherte das Wasser herunter, das ihn durchschlängelt,
an dessen blumigem Bord sie oft
schlummert, oft ihre Hände und Wangen kühlt.
Plötzlich hört' ich das Knarren des Riegels,
der des Gartens Thüre schlieſst. Sie trat her-
[144]
aus; ein sanfter Wind flatterte in ihrem blonden
Haar und im leichten Gewand. O wie
schön, wie schön war sie! Ein reinliches Körbchen
voll glänzender Früchte trug sie an der
einen Hand; und schamhaft, auch da wo sie
keine Zeugen vermuthet, hielt sie mit der andern
das Gewand über den jungen Busen fest:
denn ihn würde der Wind in seinem Spiel entblöfst
haben; aber es schmiegte sich um Hüften
und Knie, und flatterte sanftrauschend rückwärts
in die Luft. So ging sie auf der Höhe
des Hügels vorüber. Aber zween Äpfel fielen
vom Körbchen, und hüpften den Hügel herunter,
gerade auf mich, auf mich zu, als hätt'
Amor selbst ihren Lauf gelenkt. Ich nahm sie
von der Erde, und drückt' an meine Lippen
sie, und so trug ich sie den Hügel hinauf und
gab sie dem Mädchen wieder: aber meine Hand
zitterte; ich wollte reden, aber ich seufzte nur.
Aber Chloe blickte nieder, sanfte Röthe überhauchte
ihre schönen Wangen; sanftlächelnd
und röther, schenkte sie die schönen Äpfel mir.
Itzt standen wir, ach was ich empfand! schüchtern
beide; jetzt ging sie mit sanftem Schritt
der Hütte zu. Mein unverwandter Blick sah
[145]
ihr nach! Da sie hineintrat, sah sie zögernd und
freundlich noch einmal zurücke; sah ich sie
gleich nicht mehr, mein Blick war doch an die
Schwelle der Thüre geheftet. Jetzt ging ich,
Zittern war in meinen Knieen, den Hügel hinunter.
─ Ach! stehe du mir bei, gütiger Amor!
Was ich seither empfinde, wird nie wieder in
meinem Busen erlöschen.


Gessner.


  Wenn wir der Beispiele nicht schon
zu viel hätten, so würden auch einige
Stücke aus Schmidts poetischen Gemälden
und Empfindungen, und aus Blums Idyllen,
hier einen Platz finden können. Sie
würden wenigstens zu den guten, wenn
auch nicht zu den besten, gehören.

[figure]

FÜNFTES HAUPTSTÜCK.

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Von dem Lehrgedicht.

[146]
[figure]


Wir haben die beiden Dichtungsarten
untersucht, die sich unter die Eintheilungen
im zweiten Hauptstück nicht zu bequemen
schienen. Wir gehen jetzt die
verschiednen Glieder dieser Eintheilungen
durch; und da wir an der Fabel schon
eine Art didaktischen Gedichts haben
kennen lernen, so machen wir gleich mit
diesem den Anfang.


  Der Stoff des didaktischen Gedichts
sind, wie schon gesagt, allgemeine Wahrheiten.
Man kann, nach dem Beispiel [147]
des Salomo oder Theognis, einzelne
Sätze und Sprüche häufen, die weiter in
keiner Verbindung stehn, als daß sie alle
zu einerlei Wissenschaft gehören; aber
man läuft bei dieser Art des Vortrags Gefahr,
den Geist durch das zu viele Einzelne
zu ermüden. Sowie, in der epischen
und dramatischen Gattung, Eine
durchgeführte Handlung dem Geiste mehr
und leichtere Beschäftigung und mithin
mehr Vergnügen giebt, als eine unzusammenhangende
Reihe einzelner Gemälde
und Auftritte; ebenso giebt auch, in der
didaktischen, Eine ganze Reihe von Wahrheiten
mehr und leichtere Beschäftigung
und mithin mehr Vergnügen, als eine
willkürliche Zusammenhäufung einzelner
Sätze und Maximen. Das einemal läuft
man gleichsam auf einer sanft abhangenden
Fläche fort, wo jeder folgende Schritt [148]
durch den vorhergehenden schon so vorbereitet
ist, daß es oft weniger Mühe
kostet ihn zu thun, als ihn anzuhalten;
das andremal steigt man gleichsam eine
sich erhebende Fläche hinan, wo jeder
Schritt von neuem die volle Anstrengung
des ersten kostet, und man ohne Unterlaß
ausruhen muß, um wieder Kraft zu
gewinnen.


  Die weitere Eintheilung der didaktischen
Gedichte, durch nähere Bestimmung
des Stoffs, macht sich sehr leicht;
aber sie hat in der Theorie zu wenig Einfluß,
als daß wir uns hier dabei aufhalten
sollten. Wir wollen lieber die ganze
Dichtungsart nur im Allgemeinen betrachten;
doch immer mit vorzüglicher Rücksicht
auf die philosophischen Lehrgedichte,
die, in mehr als einer Absicht, von allen
die wichtigsten sind.

[149]

  Die erste Frage die wir hier zu beantworten
haben, ist folgende: Wenn der
Stoff des Lehrgedichts allgemeine Wahrheiten
sind, und wenn die Dichtkunst die
Lebhaftigkeit der Vorstellungen zu ihrem
höchsten Endzwecke hat; wie kann alsdann
das Lehrgedicht wahres Gedicht seyn?
─ Freilich, wenn die Wahrheiten darin
so trocken vorgetragen, die Begriffe so
logisch analysirt, die Beweise so Schritt
vor Schritt geführt würden, wie in eigentlich
wissenschaftlichen Werken; so wäre
das der Lebhaftigkeit durchaus zuwider.
An der Fabel haben wir schon ein Beispiel
gesehen, wie man das Allgemeine
in lebhafte Vorstellung verwandeln kann:
durch Zurückführung nehmlich auf einen
einzelnen Fall, in dem es klar und anschauend
erkannt wird. Ist nun aber der
Dichter bloß auf dieses Mittel eingeschränkt? [150]
oder giebt es der Mittel, die
Ideen lebhaft zu machen, noch mehrere?
─ Wir wollen aus unserm ersten und berühmtesten
didaktischen Dichter eine unstreitig
poetische Stelle vornehmen, alles
das wodurch sie poetisch ist aufsuchen,
und dadurch den Begriff der Lebhaftigkeit,
den wir im ersten Hauptstück zu
eilig verlassen haben, weiter aufzuklären
suchen.


Einst, da ich eine Nacht, wie Ärntetage lang,
Mit Gram und Ungeduld im leeren Bette rang,
Wann öde Schatten uns das Unglück schwärzer
machen,

Und Unholdinnen gleich die Sorgen mit uns
wichen;

Schalt die Vernunft mein Herz, das allen Trost
verwarf,

Und sprach in einem Ton, den es nicht tadeln
darf;

Kurzsichtiger! der Gram hat dein Gesicht vergället;


[151]

Du siehst die Dinge schwarz, gebrochen und
verstellet.

Mach deinen Raupenstand und einen Tropfen
Zeit,

Den, nicht zu deinem Zweck, die, nicht zur
Ewigkeit!

Sieh Welten über dir, gezählt mit Millionen,
Wo Geister fremder Art in andern Körpern
wohnen;

Der Raum und was er faßt, was Heut und Gestern
hat,

Mensch, Engel, Körper, Geist, ist Alles Eine
Stadt.

Du bist ein Bürger auch; sieh selber, wie geringe!

Und gleichwohl machst du dich zum Mittelpunct
der Dinge? ...

Willst du, daß Gott dann selbst die ewigen
Gesetze,

Die er den Welten schrieb, aus Gunst für dich
verletze?

Soll, wenn's ein Dichter zarte Leib
ein Stein;

Ein Fieber, ohne Wuth; Gift, ohne Wirkung
seyn? u. s. w.


Haller.

[152]

  Man empfindet sehr bald, daß hier
Alles anders ist, als es in einem eigentlich
philosophischen Werke seyn würde;
aber wie und wodurch ist es anders? ─
Gleich Anſangs, fühlt man, wird die Aufmerksamkeit
in einem sehr hohen Grade
erregt; nicht bloß durch das Interesse
und die Wichtigkeit der Wahrheiten an
sich selbst, sondern auch vorzüglich dadurch,
daß hier ein Mann spricht, der
wirklich eben itzt von ihnen erwärmt und
durchdrungen ist, ein Mann in einer Situatien,
wo ihm diese Wahrheiten zu seiner
eigenen Beruhigung nöthig und wichtig
werden. Er denkt sie nun nicht mehr
kalt und allgemein, wie der bloße Philosoph
sie sich denken würde; er denkt
sie sich mit inniger Rührung, mit inniger
Anwendung auf seinen eigenen Zustand.
Er schafft sich, in dem Bedürfnisse recht [153]
lebhaft von ihnen gerührt zu werden, aus
der Vernunft eine Freundinn, der er allen
den Ernst und die Würde läßt, die
den Wahrheiten, und den Umständen worin
er dieselben denkt, gemäß sind, der
er aber ihre Kälte und Trockenheit nimmt,
und ihr einen Ton voll Wärme und Beredtsamkeit
giebt. Diese Wärme und Beredtsamkeit
aber, woraus entsteht sie? ─
Zuerst bringen hier die Figuren der Frage,
des Ausrufs, der ausgelassenen Verbindungswörter
u. s. f. ein großes Leben in
die Rede: denn sie unterbrechen nicht
nur den ermüdend einförmigen Gang,
den eine Folge von lauter directen Sätzen
haben würde; sondern, was das Vorzüglichste
ist, sie kündigen uns auch den Gemüthszustand
des Redenden, die mannichfaltigen
Bewegungen an, die in dem Innern
seiner Seele vorgehn, und geben [154]
uns also, außer der Hauptidee, noch die
ganze Menge der sie modificirenden und
verstärkenden Nebenideen. Die Wahrheit
geht dadurch aus dem Verstande ins Herz
über, und wir gerathen mit dem Dichter
in alle die verschiednen Bewegungen und
Leidenschaften, von denen er selbst, während
der Entwickelung seiner Gedanken,
sich durchdrungen fühlte. Ja wir hören
gleichsam die verschiedenen Abänderungen
seiner Stimme, das Anhalten, Vergeschwindern,
Steigen und Sinken seines
Tons; sehen gleichsam das ganze mannichfaltige
Gebehrdenspiel, womit er den
Ausdruck der Sprache, wenn er itzt selbst
recitiren sollte, begleiten würde. ─ Zweitens
liegt schon in gewissen Ideen eine
ihnen eigenthümliche Kraft auf das Gemüth
zu wirken, wenn andre diese Kraft
vorzüglich erst durch die Art erhalten, [155]
wie der Dichter sie vorträgt. Gesetzt auch,
daß die Zeilen:


Sieh Welten über dir, gezählt mit Millionen,
Wo Geister fremder Art in andern Körpern
wohnen!

Der Raum und was er faßt, was Heut und Gestern
hat,

Mensch, Engel, Körper, Geist, ist Alles Eine
Stadt;


gesetzt auch, daß sie das Verdienst des
Vortrags nicht hätten, das der Dichter
zur Verstärkung der Wirkung noch hinzugethan
hat; so würden schon immer
die darin enthaltenen Ideen durch sich
selbst die Aufmerksamkeit der Seele fesseln,
weil sie vorzüglich viel Größe und
Inhalt haben. Millionen von Welten, der
unendliche Raum, die unbegränzte Zeit,
wovon hier mit Fleiß, weil sie so unermeßlich
ist, nur Heute und Gestern genannt
wird, die unbeschreibliche Mannichfaltigkeit [156]
der Dinge in der Natur, und
ihrer aller Harmonie und Verbindung:
diese Ideen sind schon durch sich selbst,
eben weil sie so groß und so viel befassend
sind, lebhaft. ─ Drittens hat der
Dichter die Kunst verstanden, der eigenthümlichen
Dürftigkeit seiner allgemeinen
Wahrheiten aufzuhelfen: theils, indem er
sie in besondern Fällen vorträgt, die der
Seele so viel mehr zu denken geben als
die bloß allgemeinen Begriffe; theils, indem
er seine Ideen mit andern ähnlichen
oder contrastirenden in Verbindung bringt,
wo wir statt Einer ihrer mehrere denken,
wo eine Menge reeller oder verneinender
Merkmaale, die sonst im Dunkeln
würden geblieben seyn, an dem Gegenstande
herausgehoben und zur Vorstellung
gebracht werden. Er fragt nicht im Allgemeinen:
Sollen die Dinge ihre Natur [157]
verlieren, weil gerade ein Mensch hie
und da durch die Natur dieser sonst guten
und für ihn selbst wohlthätigen Dinge
leidet? Er nimmt besondere Fälle, welche
die Abgeschmacktheit eines solchen Wunsches
weit schneller und unmittelbarer
begreifen lassen:


Soll, wenn's ein Dichter zarte Leib
ein Stein,

Ein Fieber, ohne Wuth; Gift, ohne Wirkung
seyn?


Er sagt nicht geradezu: Das was ist und
geschieht, ist an sich selbst nicht böse,
sondern es erscheint dir nur so; er trägt
den Gedanken vermittelst einer Metapher
vor, betrachtet den Gram als eine Krankheit
der Seele, und findet unter den
Krankheiten des Körpers eine ähnliche
von ähnlicher Wirkung:

Note: Albrecht Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte. 23. Antwort an Herrn Johann Jakob Bodmer, Professor und des Großen Raths zu Zürich 1738. https://textgridrep.org/browse/-/browse/phw3_0

Kurzsichtiger! der Gram hat dein Gesicht vergället,


[158]

Du siehst die Dinge schwarz, gebrochen und
verstellet.


Der unvollkommnere Zustand des Menschen
in diesem Leben, worauf der vollkommnere
des künftigen folgen wird, ist
ihm ein Raupenstand: eins der reichsten
und der glücklichsten Bilder! und die kurze
Dauer dieses Lebens, in Vergleichung mit
der Ewigkeit, ist ihm ein Tropfen gegen
das Weltmeer: ein ausnehmender Contrast,
und eben deswegen von ausnehmender
Wirkung! Aber noch einen neuen Vortheil
gewinnt der Dichter, indem er die
Begriffe einander gegenüberstellt, und aus
zwei Sätzen durch die innigste Verbindung
nur einen zu machen scheint:


Mach deinen Raupenstand, und einen Tropfen
Zeit,

Den, nicht zu deinem Zweck, die, nicht zur
Ewigkeit!


Er giebt dem Geiste eine neue Beschäftigung, [159]
indem er ihn zur Vergleichung
veranlaßt; und zugleich trägt er nun beide
Sätze weit kürzer, mit weit weniger Worten
vor, als es bei jeder andern Verbindungsart
möglich wäre. Man fühlt die große Energie,
die der Rede aus diesen beiden Vortheilen
zuwächst. ─ Endlich, die ganze
Verbindungsart der Ideen: wie kurz, wie
kühn, wie ohne alle ängstliche Methode
ist sie! Wie sehr verräth dieser plötzliche
Fortgang von Idee zu Idee, diese Verschlingung
aller zwischenliegenden und
verbindenden Mittelideen, die lebhafte
Rührung des Dichters!


  Wenn wir dieses alles zusammennehmen
und das Allgemeine daraus abziehn:
worauf wird es bei aller Lebhaftigkeit
der Vorstellungen ankommen? Wie es
scheint, auf den Reichthum derselben,
der die Seele die ihn fassen will, in [160]
größere Thätigkeit setzt, und ihrem Triebe
nach Ideen volle Beschäftigung giebt.
Denn, wie wir gesehen haben, so laufen
alle jene Vortheile darauf hinaus: daß
der dürftigere allgemeine Begriff in einen
vielhaltigen besondern verwandelt; daß
der, den wir nur einzeln und nur schwach
gedacht haben würden, in Verbindungen
gestellt werde, wo wir ihn nicht nur mit
mehrern zugleich, sondern auch Mehreres
an ihm selbst denken; und endlich,
daß der Fortgang der Seele von Gedanken
zu Gedanken beschleuniget werde.
Die größte Lebhaftigkeit wird also eben
da seyn, wo in der kürzesten Zeit die
größte Menge von Vorstellungen in der
Seele erweckt wird. Damit aber die Seele
nur überall auf die Gegenstände achte,
die man ihr darbeut, muß sie ihren Reichthum
von Vorstellungen durch dieselben [161]
in der That vermehrt finden; und ein gewisser
Grad von Neuheit ist also eine
nothwendige vorläufige Bedingung aller
Lebhaftigkeit. Ein ganz durchdachter
und erschöpfter Begriff ist wie eine Frucht
deren innern Kern man verzehrt hat, und
von der nun weiter nichts übrig ist als
die Schale. Wer unsern Geschmack reizen
und unsern Hunger stillen will, muß
uns neue Früchte, nicht diese leeren Schalen
bieten, die wir mit Verachtung wegwerfen
würden.


  Das Wichtigste zur Bewirkung der Lebhaftigkeit
bleibt immer das: daß man den
betrachteten Gegenstand in Verbindung
mit den Neigungen des menschlichen Herzens
bringe; daß man ihn nicht bloß, als
von der und der absoluten Beschaffenheit,
sondern vorzüglich auch, als von der und
der Beziehung auf menschliches Glück oder [162]
Elend, Vergnügen oder Mißvergnügen,
zeige. Es ist unmöglich, durch irgend ein
anderes Mittel eine Vorstellung so sehr an
innerm Gehalt zu erhöhn, als durch dieses.
─ Der Lehrdichter besonders lasse
uns nicht bloß die Wahrheit, er lasse sie
uns in der Seele die sie denkt, erkennen:
damit wir die Empfindungen und Bewegungen
derselben, wenn wir sie wahr und
gegründet finden, zu unsern eigenen machen.



  Wem es mißlich scheint, eine Theorie
auf die Entwickelung eines einzigen Beispiels
zu gründen, der sehe hier noch
eine andere sehr vorzügliche Stelle aus
einem der trefflichsten Lehrdichter, und
untersuche nun selbst, durch was für Mittel
die Gedanken poetisch geworden sind.
Er wird finden, daß es überall auf den
Reichthum der Vorstellungen, und besonders [163]
auf Sprache des Herzens, auf Ton
der Empfindung ankömmt.


„Sie * zwingt ─ was edler ist, als Kitzelung
der Sinnen ─

„Die Parce, die nicht will, den Faden auszuspinnen:

„Entdeckt mit Menschenlieb' in Minern Heilungskraft,

„Kocht für den Sterbenden aus Kräutern Lebenssaft;

„Verjüngt den schwachen Greis, der Jahre Last
zu tragen,

„Gebeut dem kalten Puls, der stockte, fortzuschlagen;

„Giebt den der Braut zurück, um den ihr Auge
weint,

„Der Mutter ihren Sohn, dem Freunde seinen
Freund.

[164]

„Wie groß ist nicht die Kunst, die Seuchen
zu verbannen,

„Und in der Lebensuhr die Federn aufzuspannen!“
  Ja, edel, herrlich, groß! und wenn es dir
gefällt,

Die beste Wissenschaft in einer kranken Welt,
Der ihren Zauberkelch die neuen Lüste reichen,
Die Brut der Üppigkeit und Eltern aller Seuchen!
Schuf diese die Natur? Versteckte sie den Tod
In das was Nothdurft war, in Wasser oder
Brot?

Fließt mit des Rindes Milch Gift in die irdne
Schale,

Wie er aus Trauben strömt in goldene Pokale?
Die Krankheit, weit entfernt von armer Nüchternheit,

Besuchet nur den Tisch der blassen Üppigkeit,
Auf welchen die Natur von allen ihren Schätzen
Zuletzt gezwungen wird die giftigsten zu setzen;
Gezwungen durch Vernunft! Sie, die uns warnen
soll,

Erstaunlich! die Vernunft reicht uns den Giftkelch
voll.

[165]

Sie gab uns Überfluß und Krankheit zum Geschenke;

Wie billig ist es nicht, daß sie auf Heilung
denke?

Noch rühmt sie sich der Kunst? Ein böser
Charlatan

Macht erst Gesunde krank, damit er heilen kann!
Viel weiser hätte sie gelehrt, den Arzt entbehren,
Den, der itzt sichrer praßt, gelehrt, nicht zu
begehren;

Gelehrt, daß Hunger nur die Speisen würzen
muß,

Der Hunger, beßrer Koch, als Roms Apicius!
Gelehrt, Genügsamkeit sei reich bei Brot und
Wasser,

Und eine ganze Welt zu arm für einen Prasser;
Der Arzt, den die Natur mit eigner Hand geweiht,

Der unbetrüglichste, sei unsre Mäßigkeit.
So lebt das Vieh gesund. Und mögt' er sich
nicht schämen,

Der königliche Mensch, Vernunft vom Vieh zu
nehmen!

Zu lernen, daß sie nur je mehr den Zweck erreicht,


[166]

Je mehr sie dem Instinct in seiner Einfalt gleicht!
Vom unbesorgten Vieh, vergnügt mit Quell und
Weiden,

Zu lernen, das sei eins: beglückt seyn und bescheiden!
  „Der Thor erniedrigt sie zur Dienstmagd
für den Bauch;

„Allein der Weise kennt den würdigern Gebrauch,

„Er sucht der Dinge Grund, durchschauet alle
Räder,

„Spürt der Bewegung nach und dringt bis an
die Feder;

„Geht der Natur zur Hand, und sieht, mit ihr
vertraut,

„Der großen Schöpfung zu, wie sie zerstört
und baut.

„Sieht, wie sie schöpferisch, des Lenzes Morgenstrahlen,

„Das Rosenangesicht Aurorens auszumalen,
„In Gluth den Pinsel taucht; wie sie zum bunten
Kreis

„Der Iris, Edelstein aus Thau zu schmelzen
weiß;

[167]

„Wie sie den blauen Schlei'r, worin der Erdball
schwebet,

„Aus Fäden schwarzer Nacht und lichten Äthers
webet.

„Steigt, voll von Lehrbegier, bald in der Erden
Herz,

„Bald legt er Flügel an und schwingt sich himmelwärts;

„Geht unerschrocken nach ins Rüsthaus ihrer
Waffen,

„Und sieht sie Hagel, Schnee, Sturm, Blitz und
Donner schaffen;

„Durchschauet dann die Welt, wie Alles voll
gedrängt,

„Geordnet, Glied an Glied, eins an dem andern
hängt.

„Sieht, wie im weiten Raum, an unsichtbaren
Seilen,

„In unverrücktem Schwung die Mond' um Sonnen
eilen;

„Folgt dem Planeten nach, und sieht in seinem
Gang

„Den Grund, warum der Tag bald kurz ist und
bald lang;

„Den Grund, warum der Mond, in seinem Wechselgange,


[168]

„Bald nur die halbe färbt und bald die ganze
Wange;

„Schießt durchs Unendliche, behorchet, was
nur sie,

„Vernunft, allein vernimmt, der Sphären Harmonie;

„Sieht ihr zahlloses Heer sich nach Gesetzen
drehen,

„Und in der Irrbahn selbst Kometen richtig
gehen.“
  Vortrefflich ist der Geist, der deine Leiter
steigt,

Erhabene Natur! und uns den Schöpfer zeigt!
Der deine Spur verfolgt mit heiligem Erbeben,
Und hier mit Ehrfurcht lernt, vor diesem Schöpfer
leben!

Doch wenn, was Inbrunst soll, dem eitlen Dädalus

Vermeßne Neubegier die Schwingen künsteln
muß;

Wenn er aus Ehrsucht da, wo er Gott suchen
sollte,

Den Namen des Geschöpfs bei Sternen zeichnen
wollte;

[169]

Wenn er mit kalter Brust von allen Weisen gern
Am schärfsten wünscht zu sehn, und sucht nur
einen Stern:

Wie würde Sokrates ihn beßre Weisheit lehren,
Zur Kenntniß seiner selbst in sich zurück zu
kehren!

O Blinder! rief' er ihm, der du den Himmel
wölbst,

Und kennest jeden Stern; o! kennest du dich
selbst?

Der Wohllaut hört im Zwist des Guten und
des Bösen;

Vermag der auch, in sich den Mißklang aufzulösen?

Der der Natur Gesetz entfaltet; kann der wohl
Erfüllen was er lehrt, und leben wie er soll?
Statt Eintracht, Maaß, und Gang, die Leidenschaft
zu lehren,

Erforscht er Gang und Maaß und Eintracht in
den Sphären;

Statt daß er in sich selbst der Lüste Zwiespalt
dämpft,

Entdeckt er, wie der Zwist der Elemente kämpft;
Vergißt, aus Neubegier die Werkstatt durchzuschauen


[170]

Der bauenden Natur, die Kunst, an sich zu
bauen;

Schwärmt überall umher, und wird ─ fruchtloser
Fleiß! ─

Ein Unglückseliger, ein Thor, der Alles weiß.
 „Wer, größer wie Alcid, nicht sterbliche
Geschöpfe,

„Wer die Unsterblichen, die tausend Hyderköpfe

„Der wachsenden Begier allmählich niedertrat;
„Gesetze gründete, und auf Gesetz den Staat;
„Geschickt, die Neigungen der Guten und der
Bösen

„Und so in Harmonie den Mißklang aufzulösen;

„Wer in ein einzig Joch feindsel'ge Kräfte bog,
„Und allgemeines Wohl aus Zwist der Theile
zog;

„Wer Ordnung, Frieden, Recht und Unschuld
festzusetzen,

„Den Richter waffnete mit Stärk' und mit Gesetzen,

„Wer Bürger aus Barbarn, aus Bürgern Brüder
macht: ─

[171]

„Was immer Rousseau scherzt, der Mann hat
wohl gedacht!“
  Ja, mächtige Vernunft! von deiner Schöpferstärke

Ist der erfundne Staat eins deiner größten
Werke.

Doch bleibest du hier stehn? War dies die
Gränze? Nein!

Die du zu Bürgern machst, ach, lehr sie Menschen
seyn;

Gehorsam, ohne Zwang gebietender Gesetze,
Erhaben ohne Stand, begütert ohne Schätze,
Friedfertig ohne Furcht, treu sonder Eigennutz,
Und sonder Arzt gesund, und ohne Schwert in
Schutz,

Dienstfertig, brüderlich, als Bürger Einer Erden,
Geschöpfe Eines Gotts; lehr sie, vernünftig
werden!

Dies ist dein wahres Amt; dann brauchts, zur
Ruh der Welt,

Der Kette länger nicht, die itzt den Frevel
hält.

Dann wirst du von der Welt auf einmal weg
verbannen

[172]

Die Seufzer und den Trotz der Sklaven und
Tyrannen.

Dann wird kein Unterschied des Zwistes Samen
streun;

Mehr Tngend, mehr Verdienst, wird Rang und
Adel seyn.

Dann herrscht Gerechtigkeit, gesichert vor Betrügen;

Stets wird die Wahrheit voll, zu leicht der Goldklump
wiegen.

Dann lacht Betrügerei, für die kein Anwald
spricht,

Beim ungerechten Fall verlaßner Unschuld nicht.
Die Arglist wird nicht mehr, in feinen Spinngeweben

Der Rechte, von dem Blut gefangner Einfalt
leben.

Kein Richter wird dann seyn, der, wie sein
Geiz gewollt,

Gesetze reden lehrt, und Blut verkauft für
Gold;

Kein Sünder, welcher frech mit ihrer Geißel
spielet,

Wenn Reichthum Strafen trotzt, die nur der
Arme fühlet.

[173]

Dann lebt der beßre Mensch froh, sicher, brüderlich,

Hat Frieden in sich selbst, und Frieden außer
sich:

Den Frieden, den nicht Furcht, den Bruderliebe
schützet. ─

Doch kann das Frieden seyn, was sich auf Mißtraun
stützet?

Des Zwistes Funken glimmt in kalter Asche fort;
Ermüdung schließt den Krieg, und ihn erneut
ein Wort.

Verschlagne Staatskunst weiß ihr Kunstwerk
anzulegen,

Denkt selbst im Frieden Krieg, und spinnt ihn
aus Verträgen;

Und Brunst nach eitlem Ruhm, Geiz, Sucht zu
herrschen, zollt,

Mit Freuden Menschenblut für Erde, Ruh, und
Gold.

Da schlägt der Wüthende mit gottentwandten
Blitzen

Nach seiner Brüder Stirn aus donnernden Geschützen.

Den Stahl, den ihm Natur zur Pflugschaar zugewandt,


[174]

Verwandelt die Vernunft zum Schwert in seiner
Hand.

Bald, bald erlernet da, nach Blut und Schätzen
dürsten,

Wo Stolz um Kronen ficht, der Sklav von seinem
Fürsten.

So viele Leben, ach! grausame Herrschbegier!
Um eine Spanne Land, gepflügt von Einem Stier?
Ach Hochmuth! um ein Wort, vielleicht zu
schnell geredet,

Ach Geiz! um elend Gold die halbe Welt verödet?

Gebietende Vernunft, wenn du uns herrschen
lehrst,

Fang' in dem Menschen an und herrsche da
zuerst!


Dusch.


  Will man völlig gewiß seyn, ob wir
in dem festgesetzten Begriff die wahre
Grundquelle aller Lebhaftigkeit gefunden
haben; so untersuche man, ob die
sämmtlichen Unterscheidungsmerkmaale
des Gedichts, die im ersten Hauptstück [175]
angegeben worden, wirklich aus dieser
Quelle entspringen, und denjenigen der
ihrem Ursprunge nachgeht, dahin zurückführen.
Die Untersuchung hat so wenig
Schwierigkeit, daß sie jeder ohne Anweisung
machen kann; nur das Einzige was
vom Sylbenmaße gesagt worden, mögte
einiger Erklärung bedürfen.


  Wir haben zuerst herausgebracht, daß
das Sylbenmaß dem Ohre schmeichle,
ohne weiter zu untersuchen, wie und wodurch
dies geschehe. Was kann das aber
heißen: dem Ohre schmeicheln? Doch
wohl anders nichts, als vermittelst des Gehörs
in der Seele selbst angenehme Empfindungen
erwecken. Und wie vermag
dieses das Sylbenmaß? Was hat es in dieser
Absicht vor der ungebundenen Rede
für einen Vorzug? ─ In der ungebundenen
Rede sind alle Arten von Füßen so [176]
mannichfaltig durcheinander gemischt, die
Verhältnisse der einzelnen Sätze die sich
zu Perioden verbinden, sind so ungleich
und so verwickelt, die Ruhepuncte sind
so verschiedentlich gestellt: daß die Seele,
von der gar zu großen Mannichfaltigkeit
erdrückt, keine andre als sehr dunkle
Vorstellungen von den hier noch beobachteten
Verhältnissen und Regeln hat, die
einen Haupttheil des prosaischen Wohlklangs
machen. Das Sylbenmaß schränkt
diese zu große Mannichfaltigkeit ein, und
setzt nur einige bestimmtere Regeln, einige
vorzüglich schöne und leichte Verhältnisse
fest, die von der Seele sogleich
klar erkannt werden können. Sind wieder
der Regeln zu viel und die Verhältnisse
zu verwickelt, so ist das Sylbenmaß
so gut als keines, oder vielmehr schlimmer
als keines; denn die Seele, die nun [177]
einmal darauf gebracht ist ein bestimmtes
Maß und Verhältniß zu suchen, hat ohne
Unterlaß den Verdruß, an Schwierigkeiten
zu stoßen und ihre Erwartung getäuscht
zu finden. Wiederum erregt ein zu eintöniges
Sylbenmaß, das zu wenig Mannichfaltigkeit
zuläßt, Langeweile und Ekel. ─
In der That wird also die Seele durch
das Sylbenmaß an ihren Vorstellungen bereichert,
selbst indem der zu große lästige
Reichthum, den sie nicht zu nutzen wußte,
vermindert wird: und eben dies ist der
Grund, warum das Sylbenmaß Vergnügen
erweckt, zur Aufmerksamkeit reizt, und
dem Gedächtniß Erleichterung verschafft.


  Die zwei übrigen angegebenen Vortheile
des Sylbenmaßes sind auf unsern
Begriff von der Lebhaftigkeit noch leichter
zurückzubringen. Indem das Sylbenmaß
malt, klärt es mehr Bestimmungen [178]
des Gegenstandes auf, die nun zur Vorstellung
kommen; und indem es zum Ausdruck
der Empfindungen dient, giebt es
uns, außer der Vorstellung des Gegenstandes,
noch die von dem Zustand der
Seele die ihn sich vorstellt. ─ Wie, wenn
wir hier auf dem Wege wären, die oben
nur angegebene Frage: warum das Sylbenmaß
Empfindung ausdrücke, kurz und
befriedigend auszumachen? Die Antwort
lag uns, wie das oft der Fall ist, ohne
unser Wissen ganz nahe; denn in der That
geschieht dies nur durch eine Art Malerei:
durch eine Nachahmung des Ganges,
den die Ideen in der Seele nehmen. Sowie
bei heftigen Leidenschaften, z. B. im
Zorne, die Ideen einen sehr raschen ungestümen
Lauf nehmen; wie bei feierlichen
Empfindungen des Großen und Erhabnen
bei jedem Gedanken verweilt wird, [179]
um ihn erst zu fassen und auszudenken;
wie bei zärtlichen lieblichen Empfindungen
mit einem mittlern Grade der Geschwindigkeit
von Idee zu Idee sanft fortgeschritten
wird: so wird auch durch die
Beschaffenheit der Füße, durch die Länge
oder Kürze der Zeilen und Strophen, durch
die Stellung der Einschnitte und den Bau
der poetischen Perioden, ein ähnlicher
Gang in die Rede gebracht; und die Seele
bekömmt das nehmliche der abgezweckten
Empfindung zusagende Maß von Geschwindigkeit
in die Reihe ihrer Vorstellungen,
das sie durch das Ohr in den
Tönen findet. Ein weiteres Nachdenken
wird hier eine erstaunlich mannichfaltige
Übereinstimmung entdecken lehren; obgleich
freilich der Ausdruck den das bloße
Sylbenmaß giebt, eben wie der musikalische
bei Ermangelung eines Textes, noch [180]
immer ziemlich unbestimmt und allgemein
bleibt.


  Es kann nicht ganz am unrechten Ort
scheinen, daß wir hier auf das Sylbenmaß
zurückgekommen sind: denn da der
Grundstoff des Lehrgedichts nicht eigentlich
poetisch, da der Boden, so zu reden,
dürre und unfruchtbar ist, und erst durch
Cultur und Industrie reizend und ergiebig
gemacht wird; so kann diese Dichtungsart
in der That das Sylbenmaß, sowie alle
andere Hülfsmittel zur Bewirkung größerer
Lebhaftigkeit, weniger als andere entbehren.



  Aus dem Bishergesagten müssen sich
alle Regeln für die Lehrgedichte herleiten
lassen: die für die Wahl der Materie, und
die für die Behandlung derselben.


  Überall nicht zu wählen sind solche
Wahrheiten, die ohne ihre trockne Allgemeinheit [181]
gar nicht können gefafst, ohne
die langsame philosophische Methode, die
von Merkmaal zu Merkmaal, von Satz zu
Satz bedächtig fortschreitet, gar nicht können
erörtert und zur Überzeugung gebracht
werden. Die Elemente des Enklides,
die Wahrheiten der Logik, der Ontologie,
der allgemeinen Naturlehre, sind
von dieser Art; und Luerez ist also mit
Recht getadelt worden, daß er einen zu
metaphysischen Stoff genommen hat, bei
dem sich sein wirklich dichterisches Genie
fast nicht anders, als in Nebensachen
und gelegentlichen Ausschweifungen zeigen
konnte.


  Vorzüglich zu wählen sind die weniger
abstracten, vom Sinnlichen weniger
entlegenen Wahrheiten, die sowohl in ihrem
Innern an Ideen reichhaltiger sind,
als auch eher das Leben und die Schönheiten [182]
annehmen, die der Dichter durch
seinen Vortrag hinzuthut. Ein Gegenstand
ohne alle natürliche Schönheit verschmäht
die Bemühungen der Kunst; aber wenn
schon Reize da sind, so kann die Kunst
sie wirksamer und hervorstechender machen.
Dies ist der Fall mit den Regeln
verschiedner sowohl der nützlichen als der
schönen Künste, die daher auch von alten
und neuen Lehrdichtern fleißig und
mit Erfolg sind bearbeitet worden. Den
ersten Rang aber verdienen diejenigen
Wahrheiten, die mit jenen Vortheilen noch
diesen verbinden, daß ihre Erkenntniß
und Ausübung zu unserer höchsten innern
Glückseligkeit unentbehrlich ist, und daß
sich diese ihre Beziehung auf unsre Glückseligkeit
unmittelbar ankündigt. Dies ist
der Vorzug der moralischen Wahrheiten
aus der Philosophie des Lebens, sowie [183]
auch der großen philosophischen Wahrheiten
von Gott, Vorsehung, Unsterblichkeit
der Seele, u. s. f. ─ In neuern Zeiten,
wo durch die Bemühungen der Weltweisen
diese wichtigen Gegenstände in
ein so helles Licht gesetzt worden sind,
hat man daher eben sie am öftersten bearbeitet,
und hat darüber fast ganz die
sogenannten Kunstgedichte vernachläßigt,
die freilich nie ein so großes und so allgemeines
Interesse erwecken. Doch hat
diese Vernachläßigung ohne Zweifel noch
andre mehr subjective Ursachen; denn die
Dichter leben heutigestags in zu weniger
Gemeinschaft mit Arbeitern und Künstlern,
als daß die Begriffe von den Verrichtungen
derselben ihnen hinlänglich geläufig
und interessant werden könnten.


  Auch das läßt sich hier noch bemerken:
daß es rathsamer ist, Materien von [184]
mäßigem Umfang, einzelne Wahrheiten
und Betrachtungen, als ganze Theorieen
und Systeme zu wählen. Wenn auch der
Dichter unter der Verschiedenheit der Materien
nicht erliegt, worunter so viele der
poetischen Behandlung unfähig seyn müssen;
so wird er schon unter der zu großen
Menge derselben erliegen. Er wird
es unmöglich finden, sie alle unter Einen
poetischen Gesichtspunct zu sammeln, sie
an einem andern als dem systematischen
Faden zu reihen, und ihnen sämmtlich
die hinlängliche Ausbildung zu geben. Man
sieht ein Beispiel an Lichtwehrs „Recht
der Vernunft,“ das schwerlich einen Leser
finden wird, der Geduld hätte es auszulesen.
Dusch hat die sämmtlichen „Wissenschaften“
besungen; aber er hat sie
besungen, ohne sie vortragen zu wollen.
Nur hie und da hat er eine wichtige Hauptwahrheit, [185]
die ganz vorzüglich zu seinem
Zweck gehörte: die Wissenschaften als
Wohlthäterinnen des menschlichen Geschlechts
zu schildern, herausgehoben, und
sie als eigentlich didaktischer Dichter behandelt.



  Noch eine andere Frage ist: ob es
dem Dichter vergönnt sei, statt des Wahren
auch Irrthümer, z. B. statt der Leibnitzischen
Begriffe von Gott und Vorsehung,
die Lucrezischen, vorzutragen? ─
Wenn die Materien für die Ruhe und
Glückseligkeit des Menschen wichtig sind,
so kann über die moralische Verbindlichkeit
wohl keine Frage seyn; aber sollte
es außer der moralischen nicht auch eine
poetische geben? Mit andern Worten: Sollten
nicht, wenn alles Übrige gleich ist, die
wahrsten Vorstellungen auch die lebhaftesten
seyn? ─ Ohne Zweifel wird es hier [186]
vorzüglich auf den eigenen Glauben des
Lesers ankommen, oder wenn er selbst
die Materie noch nicht durchdacht hat,
auf die Dispositionen seines Kopfes, sich
mehr für die eine als für die andere Meinung
zu erklären. Und da ist es nun
schon von selbst entschieden, welche Gedanken
von größerer poetischen Wirkung
seyn werden: die, gegen welche sein Verstand
sich auflehnt? oder die, welchen er
willig mit allen seinen Ideen entgegenkömmt,
und sich des Lichts, der Stärke, der
Würde freut, die der Dichter ihnen zu
geben wußte? Ist besonders die Wahrheit
aus dem Verstande ins Herz übergegangen;
wird durch den entgegenstehenden Irrthum
die Empfindung empört: so handelt
der Dichter vollends unweise, wenn er
sein Genie an den Irrthum verschwendet.
─ Im Allgemeinen also läßt sich wenigstens [187]
das bestimmen: daß der Dichter,
schon als Dichter, die bessern, um ihrer
einleuchtenden Wahrheit willen allgemeiner
anerkannten, und mit mehr Ideen zusammenstimmenden,
Grundsätze vorziehen
muß, und um desto mehr vorziehen muß,
je mehr sie das Herz interessiren. Doch
bleibt dabei immer vorausgesetzt: wenn
alles Übrige gleich ist.


  Hat der Dichter seine Materie wohl
gewählt, so kömmt es nun darauf an, daß
er sie auch wohl zu bearbeiten wisse.
Er wird sie aber um desto besser bearbeiten,
je mehr und je interessantere Gedanken,
von je mehr Mannichfaltigkeit
und je größerm innern Reichthume er
daraus hervorzieht; je mehr er alles zu
Hohe, Schwere, Gesuchte vermeidet; je
anschaulich richtiger er alle Hauptideen
untereinander, alle untergeordnete Ideen [188]
mit den Hauptideen zusammenhängt; je
mehr er sie so ordnet, wie sie einander die
meiste Klarheit, das meiste Gewicht und
Leben ertheilen; je mehr er die wesentlichen
Theile heraushebt, die unwesentlichen
im Schatten hält; je vollständiger,
schneller, unfehlbarer, er durch den Ausdruck
auf den jedesmaligen Gedanken
hinführt; je größere Richtigkeit er in alle
von ihm angegebene Contraste und Ähnlichkeiten
bringt; je mehr er Übereinstimmung
zwischen dem Gegenstande selbst
und der Art und Weise erkennen läßt,
wie er davon gerührt wird; je besser er
nach dieser Absicht die Wörter, die Bilder,
und das Mechanische wählt; in je
größere Harmonie er alle einzelne Töne
mit dem Hauptton, oder deutlicher, alle
besondere Eindrücke mit dem allgemeinen
Eindruck des ganzen Werkes stimmt. ─ Es [189]
ist unnöthig, die hier zusammengedrängten
Regeln für Gedanken, Ausdruck und Verbindung
weitläuftig darzuthun, da sie sich
so äußerst leicht aus dem festgesetzten Begriff
der Lebhaftigkeit entwickeln lassen.
Man erinnre sich nur immer der beiden
Haupterfordernisse derselben: daß die
Seele vollauf, und daß sie mit Leichtigkeit
soll beschäftiget werden.


  Den besten Beweis für die Wahrheit
dieser Regeln wird man in dem unangenehmen
Eindrucke finden, den die entgegengesetzten
Fehler machen. Man versuche,
die „Gräber“ von Creuz, oder
die Gottschedischen und Trillerischen.
Gedichte zu lesen: und man wird jene
bald wegen der Armuth an Gedanken,
des Mangels an allem richtigen Zusammenhange,
des unnatürlichen, räthselhaften,
oft niedrigen und oft wieder schwülstigen [190]
Ausdrucks; diese wegen ihrer Kälte,
Trockenheit, Plattheit und Weitschweifigkeit
aus den Händen werfen. ─ Einzelne
Beispiele zu jeder Art von Fehlern aufzusuchen,
wäre zu mühsam; man sehe also
in folgender Stelle, wo nicht alle, doch
die meisten Fehler vereinigt:


Likör und Knaster her! ruft Gasto bei der
Nacht,

Da er, der Tage müd', aus Ampeln Sonnen
macht.

Recht matt von lauter Lust, sucht er sein ganz
Erquicken

Bloß in der Trägheit Arm, nur bloß in seinem
Rücken.

Noch denkt Hetrurien an diesen milden Gast:
Der Saal war seine Welt; das Bette sein Pallast.
Der war der letzte Fürst vom Mediceer Hause.
Er war; denn daß er war, seh ich an Schlaf
und Schmause. ─

So nagt kein bittrer Gram die Lebenssehnen ab.
Gott, der ja den Geschmack an guten Speisen
gab;

[191]

O, dem ist man hier gut! Nicht, daß Vernunft
und Liebe,

Durch Dankbarkeit gewarnt, zur hohen Ehrfurcht
triebe:

O nein! so läßt sichs erst vollkommen ruhig
seyn.

Reu heuchelt sich doch gern in jede Lästrung ein,
Wenn Freunde, witzig gnug sich nimmer lang
zu kränken,

Bei unsrer Fröhlichkeit auch ihre Lust uns
schenken;

Wenn nach dem reichen Mahl der Karten Zeitvertreib,

Und nach Musik und Wein ein angenehmes
Weib,

Zuletzt ein füßer Schlaf sich nimmer lang verweilen,

Die ganze Lebenszeit stets wechselnd einzutheilen:

Da kehrt der Gram so gern, wie Wolf bei Langen
ein.

Der Schlaftrunk steter Lust verdrängt die mindste
Pein.

Hier wird kein männlich Ach! zum Vater edler
Thränen;

[192]

So viel weiß ein Castrat von Töchtern und
von Söhnen,

Wenn das noch ferne Grab dem Eilften Ludwig
droht,

Lebt jener recht vergnügt, wie Grammont, sich
zu Tod,

Und kann mit größerm Recht, als Sichens Dido,
sagen:

Nun hab' ich recht gelebt! Der Lehnsherr seiner
Tagen

Kommt eh nicht, bis er kommt, und schreckt
ihn nicht vorab.

Das Grab wird seine Welt; sonst war die Welt
sein Grab.

Doch heißt das auch gelebt, zum Glück die
Trägheit wählen?

Und quälen die sich nicht, die sich im Bette
quälen?


Withof.


  Die oben zusammengefaßten Regeln
ergaben sich aus dem allgemeinen Begriffe
eines Gedichts, und waren also Gesetze,
nicht für den Lehrdichter allein, sondern [193]
überhaupt für den Dichter. Man sehe
hier noch einige bestimmtere Anwendungen
dieser Regeln, die für den erstern
besonders gelten.


  Der Lehrdichter kann zu viel Dichter
werden: wenn er die philosophischen
Begriffe mit den Blumen seiner Kunst
nicht bestreut, sondern verdeckt, sie nicht
schmückt, sondern verschleiert; wenn er
seine Bilder, Gleichnisse, Allegorieen zu
viel und mit zu fremden, zu unwesentlichen
Zügen ausmalt; wenn er in einem
zu gleichförmig angespannten, zu lyrischen
oder zu declamatorischen Tone aushält;
wenn er zu viele oder zu weitläuftige
Episoden einstreut, den Zusammenhang
der Gedanken zerreißt, und das Interesse
theilt, das er auf den Wahrheiten, als
seinem Hauptgegenstande, zusammenhalten
sollte. Er hüte sich also vor zu langen [194]
und zu räthselhaften Allegorieen, gebrauche
die Zieraten seiner Kunst mit
Bescheidenheit und mit Weisheit, gebe
seinem Ton mannichfaltige Abwechselung,
und mache sich, eh er arbeitet, einen allgemeinen
Entwurf seines Werks, der ihn
überall an ein richtiges Verhältniß zum
Ganzen erinnere. Zu sagen, daß ohne
öftere und weitläuftige Ausschweifungen
die Materie zu trocken seyn würde, das
hieße, den einen Fehler durch den andern
rechtfertigen; denn es wäre ein Geständniß,
daß er eine unglückliche Wahl
getroffen habe.


  Der Lehrdichter kann aber auch zu
viel Philosoph werden: wenn er der Wissenschaft
nicht bloß, was er einzig sollte,
die Materie, sondern zugleich die Behandlungsart,
und die Sprache abborgt. Das
heißt: wenn er deutliche und ausführliche [195]
Begriffe sucht, wo er sich mit klaren und
unausführlichen begnügen; erklärt, wo er
beschreiben sollte; wenn er sich mit abstracten
Wörtern ausdrückt, wo er besser
individuelle Namen, Bilder, Metaphern
setzte; wenn er, statt des leichten und
gefälligen Zusammenhangs, wo eins aus
dem andern hervorkömmt, eins dem andern
die Hand beut, seine Materien in
eine ängstliche Ordnung zwingt, die immer
auf logische Eintheilungen hinweist;
wenn er, um seinen Beweis zu führen, auf
trockne allgemeine Grundsätze zurückgeht,
statt daß er die Sache bloß vor den allgemeinen
Menschenverstand bringen, und
Übereinstimmung und Widerspruch mehr
unmittelbar sollte anschauen lassen. ─ Beweise,
die ohne Subtilität und Trockenheit
durchaus nicht vorzutragen sind, muß
der Dichter gänzlich verwerfen, auch wenn [196]
sie die bündigern und überzeugendern
wären; er muß zuſrieden seyn, wenn er
sich des allgemeinen Wahrheitsgefühls versichert
hat, ohne die darin versteckt liegenden
Grundsätze einzeln herauswickeln
zu wollen; er muß überhaupt weniger
aus Begriffen, als durch Erfahrungen, Inductionen,
Analogieen, durch auffallende
Schilderungen des Guten, Schönen, Übereinstimmenden,
oder des Thörichten, Hassenswürdigen,
Abgeschmackten, seinen Beweis
führen. Auch muß er nie mit der
kalten ruhigen Fassung des Untersuchers;
er muß mit innrer lebendiger Überzeugung,
in einem nachdrücklichen, selbst
leidenschaftlichen Tone reden. ─ Opitz
widerlegt durch Analogie den Einwurf
wider das Daseyn Gottes, der von der
Unbegreiflichkeit desselben hergenommen
ist:

[197]

Ich steh es gerne zu, ja! Aber auch den Thieren
Ists fremde: wie ein Mensch die Städt' und
Land regieren,

Der Sonnen Zier ersehn, die Sterne messen
kann,

Und segeln weit und breit durch eine nasse
Bahn.

Nun dann der Mensch so hoch mit seinen Gaben
schwebet

Weit über alles dies, was sonst hier unten lebet;
So muß er denken auch, daß, der ihn so erhöht,

Ihm weiter noch, als er den Thieren, oben
steht.


Auch Dusch beweist durch eine sehr poetische
Analogie, daß ein System, welches
auf falsche Grundsätze gebaut ist, in sich
selbst zusammenfalle:


Wie steht Venedig fest, seit grauen Zeiten her,
In Wolken mit der Stirn, und mit dem Fuß
im Meer!

Kann auch ein Königsschloß, gebaut auf falschen
Wellen,

[198]

Sein tausendjährig Haupt dem Sturm entgegenstellen;

Wenn nicht die weise Kunst zuerst den Grund
geschützt,

Und was das Meer nicht trägt, mit Pfeilern unterstützt?

Du aber willst noch mehr als leichten Wogen
trauen,

O Thor! und ein System auf Luft und Meinung
bauen?


Eben dieser Dichter beweist durch Induction,
daß die sinnlichen Eindrücke bei
allen Menschen die nehmlichen sind:


Was weiß der Tartar sieht, sieht auch der
Lappe weiß;

Das Feuer macht am Belt und macht am Indus
heiß.

Der Ort verändert nicht die Gleichheit des Gefühles,

Ich sei am Ladoga, ich sei am Strand des Ni2es.
Kein richtiges Organ empfindet in dem Duft
Der Rosen den Gestank aus einer Todtengruft;
Und kein gesundes Ohr, mögt' es auch zehnmal
wollen,

[199]

Hört im Geräusch des Bachs den Ton des
Donners rollen.


  Die sogenannten apagogischen Beweise
sind von einer besonders poetischen Wirkung;
denn sie zeigen in der Gegenmeinung
eine Abgeschmacktheit, die Niemand
gerne gedacht haben will. Auch hievon
sehe man ein vortreffliches Beispiel von
dem nehmlichen Dichter:


Der Aberglaube zürnt im Dunkel heil'ger Wetter,
Und schleudert Fluch und Bann auf Denker
mehr, als Spötter.

Doch würde, gleich entbrannt, der Eifrer, der
am Rhein

Dem Clemens widersprach, am Po sein Streiter
seyn.

„Nie, ruft er, darf Vernunft zu prüfen sich erkühnen.

„Der Glaub' herrscht unumschränkt; die Magd,
Vernunft, muß dienen.“
So spricht des heil'gen Stuhls furchtsamer Unterthan;


[200]

Und spricht nicht so der Türk für seinen Alkoran?

Wer ohne Prüfung glaubt, gesetzt auch wahre
Lehren;

Ist der nicht blind genug, auf irrige zu schwören?


Haller in seiner „Falschheit menschlicher
Tugenden“ führt lauter sehr dichterische
Beweise, wovon wir hier nur einen der
schönsten zum Beispiele geben:


Wann in Iberien ein ewiges Gelübd
Mit Ketten von Demant ein armes Kind umgiebt,

Wann die geweihte Braut ihr Schwanenlied
gesungen,

Und die gerühmte Zell die Beute nun verschlungen;

Wie jauchzet nicht das Volk, und ruft was rufen
kann:

Das Weib hört auf zu seyn, der Engel fängt
schon an!

Ja stoßt, es ist es werth, in pralende Trompeten!

Verbergt der Tempel Wand mit persischen Tapeten!


[201]

Euch ist ein Glück geschehn, dergleichen nie
geschah;

Die Welt verjüngt sich schon, die güldne Zeit
ist nah!

Gesetzt, daß ungefühlt in ihr die Jugend blühet,
Und nur der Andacht Brand in ihren Adern
glühet;

Daß kein verstohlner Blick in die verlaßne
Welt

Mit sehnender Begier zu spät zurücke fällt;
Daß immer die Vernunft der Sinnen Feuer
kühlet,

Und nur ihr eigner Arm die reine Brust befühlet;
Gesetzt, was niemal war, daß Tugend wird
aus Zwang:

Was jauchzt das eitle Volk? Wen rühmt sein
Lobgesang?

Doch wohl, daß List und Geiz des Schöpfers
Zweck verdrungen,

Was er zum Lieben schuf, zur Witwenschaft
gezwungen,

Den vielleicht edlen Stamm, den er ihr zugedacht,

Noch in der Blüth' erstickt und Helden umgebracht;


[202]

Daß ein verführtes Kind, in dem erwählten
Orden,

Sich selbst zur Überlast und Andern unnütz
worden?

O Ihr, die die Natur auf beßre Wege weis't;
Was heißt der Himmel dann, wenn er nicht
lieben heißt?

Ist ein Gesetz gerecht, das die Natur verdammet?

Und ist der Brand nicht rein, wann sie uns
selbst entflammet?

Was soll der zarte Leib, der Glieder holde
Pracht?

Ist Alles nicht für uns und wir für sie gemacht?
Den Reiz, der Weise zwingt, dem nichts kann
widerstreben,

Der Schönheit ewig Recht; wer hat es ihr gegeben?

Des Himmels erst Gebot hat keusche Huld geweiht,

Und seines Zornes Pfand war die Unfruchtbarkeit.

Sind dann die Tugenden den Tugenden entgegen?

Der alten Kirche Fluch wird, bei der neuen,
Segen?

[203]

  Alles was bisher entwickelt und vorgeschrieben
worden, betraf das Lehrgedicht
bloß im Allgemeinen, und ohne
Rücksicht auf die Art der Einkleidung betrachtet.
Jetzt ist noch die Frage von den
hier anwendbaren Formen, und von den
möglichen Mischungen dieser Gattung mit
andern Dichtungsarten, zu untersuchen.


  Daß der Vortrag der Wahrheiten gesprächweise
geschehen könne, erhellet aus
der oben angeführten Stelle von Dusch,
und noch deutlicher aus dem dritten
„Versuche“ dieses Dichters „über die
Vernunft,“ der von Anfang bis zu Ende
dialogirt ist. Es ist sichtbar, daß diese
Form, wo sie sich anwenden läßt, dem
Vortrage ein großes Leben geben müsse;
denn sie bringt bei der Verschiedenheit
der Köpfe, die wir hier voraussetzen müssen,
die Gedanken überall in Gegensatz, [204]
und giebt der Rede beides mehr Abänderung
und mehr Leidenschaftliches. ─
Noch ein größeres Interesse wird entstehen,
wenn die Unterredner ihre Meinungen
nicht schon festgesetzt haben, sich
nicht bloß ihre schon sonst gemachten
Betrachtungen mittheilen, sondern eben
itzt, während des Gesprächs, alle ihre
Kräfte zur Untersuchung der Wahrheit
aufbieten. Indeß ist zur Bewirkung dieses
Interesse die dialogische Form nicht
durchaus unentbehrlich; es giebt philosophische
Selbstgespräche, wo ein einziger
denkender Geist, es sei der Dichter
selbst, oder ein anderer von ihm fingirter
Charakter, die Betrachtung vor unsern
Augen anfängt und endigt. Man sehe,
wenn man Beispiele wünscht, verschiedene
Stücke in Gleims „Halladat“; oder
man denke sich folgenden philosophischen
Monolog vollendet:

[205]

Eine der schwermuthvollern und zu empfindlichen
Seelen.

Die, des Guten das sie empfingen, schnelle
Vergesser,

Und Vergrößrer oder auch gar Erschaffer des
Elends,

Dies nur denken, in dies nur mit grübelndem
Ernst sich vertiefen;

Beor, hatte sich von den Menschen gesondert,
und lebte

In der Einsamkeit. Wie der Freudiggeschäftige
gerne

Mit dem kommenden Tag' aufwacht, so scheucht'
er den Schlummer

Gern um Mitternacht. An der Hütte fernem
Eingang

Nährt' er ein wenig Schimmer, wie Todtenlampen
in Gräbern.

Jetzo hatt' er sein Brot gegessen, sein Wasser
getrunken,

Sich zu dem Grübeln gestärkt! ─ So komm
dahin denn wieder,

Wo du so oft schon warest, hinab, zerrüttete
Seele!

Muß nicht Elend seyn? und müssens nicht Einige
tragen?

[206]

Ja, es muß, weil es ist! Und müßtens die Himmel
nicht tragen;

Lägs nicht auf uns? Denn da muß es seyn; sonst
wärs nicht geworden!

Aber warum? ─ So oft ich frag', antwortet
mir Keiner,

Weder im Himmel, und weder auf Erden; und
so verschwindet

Mir der Trost, daß es seyn muß! Allein bei
dem wankenden Troste

Darf mein belastetes Herz doch ringen nach
dieser Antwort:

Warum sondert es einige Menschen sich aus?
und faßt sie

Eisern an, und hebet sie hoch aus dem Strom'
und trifft sie

Mit zermalmendem Arm? mich, mit zermalmendem
Arme?

Ward ich nicht blind geboren? und lebt', ein
Blinder, so lange?

Zwar gab Er dem Auge den Tag, u. s. w.


Klopstock.


  Wenn Beor in diesem Tone fortführe
und den Ausgang aus seinen Zweifeln [207]
fände, so hätten wir die Idee eines sehr
dichterisch behandelten Selbstgesprächs;
es kömmt ein anderer Unterredner dazwischen,
und wir erhalten die Idee eines
sehr dichterisch behandelten Dialogs.


  Betrachtet man die Stelle noch einmal,
oder besser, liest man sie im „Messias“
zu Ende; so erkennt man darin die
Möglichkeit einer andern sehr interessanten
Einkleidungsart des Lehrgedichts, die
wir zwar schon oben an der ersten Hallerischen
Stelle, welche wir zur Entwickelung
des Begriffs der Lebhaftigkeit
brauchten, bemerken konnten. Haller
schilderte hier sich selbst, Klopstock
schildert den erdichteteten Charakter des
Beor, in einer sehr rührenden Situation;
beide lassen die allgemeinen Betrachtungen
sich eben aus dieser Situation entspinnen,
und ertheilen den Wahrheiten [208]
ein ausnehmendes Leben, indem sie solche
mit der innigsten individuellen Anwendung
denken. Wie, wenn sich diese Mischung
der Gattungen, des didaktischen
und des beschreibenden oder handelnden
Gedichts, noch weiter treiben; wenn
sich durch die Reihe von Betrachtungen
eine Reihe von Situationen hindurchschlingen
ließe, sodaß noch immer das
Hauptinteresse nicht sowohl auf die Geschichte
als auf die Wahrheiten fiele, und
das Gedicht also ein wahres didaktisches
bliebe? ─ Die hier angegebene Idee ist
wirklich schon mehrmal ausgeführt; aber
vielleicht noch nie so reizend, als in „Musarion
oder der Philosophie der Grazien“
von Wieland. Die Geschichte selbst bedeutet
hier äußerst wenig; sie ist in der
That nur die Form, das Vehiculum gleichsam
für die Reihe der philosophischen [209]
Ideen, die das eigentlich Wesentliche des
Werks sind. Einige dieser Ideen legt der
Dichter in die Schilderungen der Charaktere,
Sitten, und Handlungen selbst, die
er in einem halb erzählenden, halb räsonnirenden
Tone ausführt; andere trägt
er durch den Mund seiner unterredenden
Personen, hauptsächlich der Musarion,
vor: und Alles zusammen macht am Ende
ein völliges, ausführliches System über die
Glückseligkeit, mit dichterischen Beweisen
und Widerlegungen; ein System, das
freilich nicht so ganz richtig gedacht, aber
dagegen desto anmuthiger und hinreißender
geschrieben ist. Wir müssen uns hier,
obgleich ungern, mit der Anführung einiger
Stellen begnügen.


Aus dem ersten Buche.


Der großen Wahrheit voll, daß Alles eitel sei,
Womit der Mensch in seinen Frühlingsjahren,

[210]

Berauscht von süßer Raserei,
Leichtsinnig, lüstern, rasch und unerfahren,
In seinem Paradies von Rosen und Jesmin
Ein kleiner Gott sich dünkt; ─ setzt Phanias,
der Weise,

Wie Herkules sich auf den Scheidweg hin
(Zum Unglück nur zu spät), und sinnt der
schweren Reise

Des Lebens nach. ─ Was soll, was kann er
thun?

Es ist so süß, auf Flaum und Rosenblättern
Im Arm der Wollust sich vergöttern,
Und nur vom Übermaß der Freuden auszuruhn!
Es ist so unbequem, den Dornenpfad zu klettern!

Was thätet Ihr? ─ Hier ist, wie Vielen däucht,
Das Wählen schwer; dem Phanias wars leicht.
Er sieht die schöne Ungetreue,
Die Wollust ─ schön, er fühlts ─, doch nicht
mehr schön für ihn,

Zu jüngern Günstlingen aus seinen Armen fliehn;
Die Scherz- und Liebesgötter fliehn
Der Göttinn nach, verlassen lachend ihn,
Und schicken ihm zum Zeitvertreib die Reue.
Dagegen winken ihm aus ihrem Heiligthum

[211]

Die Tugend, und ihr Sohn, der Ruhm,
Und zeigen ihm den edlen Weg der Ehren.
Der neue Herkules sieht sich noch einmal um,
Ob seine Flüchtlinge vielleicht noch wiederkehren?

Sie kehren ─ ach! nicht wieder um;
Er siehts, und faßt den Schluß, der Helden
Zahl zu mehren.

 Der Helden Zahl? ─ Hier steht er an;
Der kühne Vorsatz bleibt in neuen Zweifeln
schweben.

Zwar ist es schön, auf lorbeervoller Bahn
Zum Rang der Göttlichen, die in der Nachwelt
leben,

Zu einem Platz im Sternenplan
Und im Plutarch sich zu erheben;
Schön, sich der trägen Ruh entziehn,
Gefahren suchen, niemal fliehn,
Auf edle Abenteuer ziehn,
Und die gerächte Welt mit Riesenblute färben;
Schön, süß sogar (zum mindsten singet so
Ein Dichter, welcher selbst beim ersten Anlaß
floh),

Süß ists und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben.


[212]

Doch, auch die Weisheit kann Unsterblichkeit
erwerben.

Wie prächtig klingts, den fesselfreien Geist
Im reinen Quell des Lichts von seinen Flecken
waschen;

Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier
weist

(Nie, oder Göttern nur), entkleidet überraschen;
Der Schöpfung Grundriß übersehn,
Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn;

Vermuthungen auf stolze Schlüsse thürmen,
Und Titans Söhnen gleich die Geisterwelt erstürmen.

Wie glorreich! Welche Lust! ─ Nennt immer
den beglückt

Und frei und groß, den Mann, der nie gezittert,
Den der Trompete Ruf zur wilden Schlacht
entzückt,

Der lächelnd sieht was Menschen sonst erschüttert,

Und selbst den Tod, der ihn mit Lorbeern
schmückt,

Wie eine Braut an seinen Busen drückt!
Noch größer, glücklicher ist der mit Recht zu
nennen,

[213]

Den, von Minervens Schild bedeckt,
Kein nächtliches Phantom, kein Aberglaube
schreckt;

Den Flammen die auf Leinwand brennen,
Und Styx und Acheron nicht blässer machen
können;

Der ohne Furcht Kometen brennen sieht,
Der höh're Geister nicht mit Taschenspiel bemüht,
Und, weil kein Wahn die Augen ihm verbindet,
Stets die Natur sich gleich, stets regelmäßig
findet....

Um wie viel mehr, als Helden, Weltbezwinger,
Ist der ein Held, ein Halbgott, kaum geringer
Als Jupiter, der tugendhaft zu seyn
Sich kühn entschließt; dem Lust kein Gut,
und Pein

Kein Übel ist; zu groß, sich zu beklagen,
Zu weise, sich zu freu'n; der jede Leidenschaft
Gefesselt an der Tugend Wagen
Befestigt hat, und im Triumphe führt;
Den alles Gold der Inden nicht verführt;
Den nur sein eigener, kein fremder Beifall rührt:
Kurz, der in Phalaris durchglühtem Stier verdärbe,

Eh er ein Diadem in Phrynens Arm erwärbe!...

[214]

Aus dem zweiten Buche.


─ ─ Das Schöne kann allein
Der Gegenstand von unsrer Liebe seyn.
Die groſse Kunst ist nur, vom Stoff es abzuscheiden.

Der Weise fühlt. Dies bleibt ihm stets gemein
Mit allen andern Erdensöhnen.
Doch diese stürzen sich, vom körperlichen
Schönen

Geblendet, in den Schlamm der Sinnlichkeit
hinein;

Indeß wir uns daran, als einem Wiederschein,
Des Urbilds Anschaun selbst zu tragen angewöhnen.

Dies ists, was ein Adept in allem Schönen sieht,
Was in der Sonn' ihm strahlt, und in der Rose
blüht.

Der Sinnen Sklave klebt, wie Vögel an der
Stange,

An einem Liljenhals, an einer Rosenwange;
Der Weise sieht und liebt, im Schönen der
Natur,

Vom Unvergänglichen die abgedrückte Spur.
Der Seele Fittig wächst in diesen geist'gen
Strahlen,

[215]

Die, aus dem Ursprungsquell des Lichts
Ergossen, die Natur bis an den Rand des
Nichts

Mit fern nachahmenden, nicht eignen, Farben
malen.

Sie wächst, entfaltet sich, wagt immer höhern
Flug,

Und trinkt aus reinern Wollustbächen;
Ihr thut nichts Sterbliches genug,
Ja Götterlust kann einen Durst nicht schwächen,
Den nur die Quelle stillt. So, meine Freunde,
wird

Was andre Sterblichen, aus Mangel
Der hohen Scheidkunst, gleich der bunten Flieg'
am Angel,

Zu süßem Untergange kirrt;
So wird es für den echten Weisen
Ein Flügelpferd zu überird'schen Reisen.
Auch die Musik, so roh und mangelhaft
Sie unterm Monde bleibt (denn ihrer Zauberkraft

Sich recht vollkommen zu belehren,
Muß man, wie Scipio, die Sphären,
Zum wenigsten im Traume, singen hören),
Auch die Musik bezähmt die wilde Leidenschaft,

[216]

Verfeinert das Gefühl, und schwellt die Seelenflügel;

Sie stillt den Kummer, heilt die Milzsucht aus
dem Grund,

Und wirkt, zumal aus einem schönen Mund,
Mehr Wunderding' als Salomonis Siegel...


Aus dem dritten Buche.


─ „Doch ist vielleicht nichts mächtiger, die
Seelen

„Zu starken Tugenden zu bilden, unsern Muth
„Zu dieser Festigkeit zu stählen,
„Die groſsen Übeln trotzt und groſse Thaten
thut;

„Als eben dieser Satz, für den Kleanth
„Zum Märtyrer sich trank. Die Herakliden,
„Die Männer, die ihr Vaterland
„Mehr als sich selbst geliebt, die Aristiden,
„Die Phocions, und die Leonidas“ ─
Ruhmvolle Namen, gut! (ruft unser Mann) und
waren

Sie etwa Stoiker? ─ „Sie waren, Phanias,
„Noch etwas mehr! Sie haben das erfahren,
„Was Zeno speculirt; sie haben es gethan!
„Warum hat Herkules Altäre?

[217]

„Der Weg, den Prodikus nicht gehn, nur malen
kann,

„Den ging der Held.“ ─ Und wem gebührt
davon die Ehre,

Als der Natur, die ihn, und wer ihm gleicht,
gebar

Und auferzog, eh eine Stoa war?
Ein Held wird nicht geformt; er wird geboren. ─
„So hat, weil der Natur der erste Preis gebührt,
„Ein Plato alles Recht an Phocion verloren?
„Die Kunst vollendet das, was die Natur skizzirt;

„Die Blume, die im Feld sich unbemerkt verliert,

„Wird durch des Gärtners Fleiß zum schönsten
Kind der Floren.“ ─

Gesetzt, spricht Phanias, daß dieses richtig sei;
So ist doch, was von Zahlen und Ideen
Und Dingen, die kein Ohr gehört, kein Aug'
gesehen,

Theophron schwatzt, handgreiflich Traumerei. ─
„Und mit den nehmlichen Ideen
„War doch Archytas einst ein wirklich großer
Mann.

„Auch Seelen dieser Art zeugt dann und wann,

[218]

„Zwar sparsam, die Natur; man wird zum
Geisterseher

„Geboren, wie zum Held, wie zum Anakreon,
„Wie Zeuxis zum Palet und Philipps Sohn
zum Thron.

„Und in der That, was hebt die Seele höher,
„Was nährt die Tugend mehr? erweitert und
verfeint

„Des Herzens Triebe so, als glänzende Gedanken
„Von unsers Daseyns Zweck? Der Weltbau
ohne Schranken.

„Unendlich Raum und Zeit; die Sonne die
uns scheint,

„Ein Funke nur von einer höhern Sonne;
„Unsterblich unser Geist, Unsterblichen befreundt,

„Und, ahmt er Göttern nach, bestimmt zu
Götterwonne!“ ─

 Bei allen Grazien! (ruft Phanias) Madam
Wird mit der Zeit wohl auch die Sphären singen
hören?

Vor wenig Stunden gab Theophrons Wörterkram

Den Stoff zum Spott. ─ „Der Mann; nicht
seine Lehren!

[219]

„Das Wahre nicht, obgleich, nach aller Schwärmer
Art,

„Mit Unsinn und Chimären wohl gepaart.
„Nur diese trifft der Spott. Doch wir versteigen
„Uns allzuhoch; ich wollte dir nur zeigen,
„Daß dich dein Vorurtheil für dieses weise
Paar

„Nicht schamroth machen soll. Nichts war
„Natürlicher in deiner schlimmen Lage.
„Der Knospe gleich am kalten Märzentage,
„Schrumpft, wenn des Glückes Sonnenschein
„Sich ihr entzieht, die Seel' in sich hinein.
„Entfiedert, nackt, von Allem ausgeleeret,
„Was sie für wesentlich zu ihrem Wohlseyn
hielt;

„Was Wunder, wenn sich ihr ein Lehrbegriff
empfiehlt,

„Der sie die Kunst, es zu entbehren, lehret?
„Der ihr beweist: was nicht zu ihr gehöret,
„Was sie verlieren kann, sei keinen Seufzer
werth;

„Ja, ihren Unmuth zu betrügen,
„Aus der Entbchrung selbst ein künstliches
Vergnügen

„Ihr statt des wahren schafft? Was ist so angenehm


[220]

„Für den gekränkten Stolz, als ein System,
„Das uns gewöhnt, für Puppenwerk zu achten,
„Was aufgehört, für uns ein Gut zu seyn?
„Was, meinst du, bildete der Mann im Faß
sich ein,

„Der, groß genug, Monarchen zu verachten,
„Von Philipps Sohn nichts bat, als freien Sonnenschein?

„Noch mehr willkommen muß im Falle, den
wir setzen,

„Die Schwärmerei des Platonisten seyn,
„Der das Geheimniß hat, die Freuden zu ersetzen,

„Die Zeno nur entbehren lehrt;
„Der, statt des thierischen verächtlichen Ergötzen

„Der Sinnen, uns mit Götterspeise nährt.
„Wir sehn mit ihm, aus leicht erstiegnen
Höhen,

„Auf diesen Erdenball, als einen Punct, herab;
„Ein Schlag mit seinem Zauberstab
„Heißt Welten um uns her, bei tausenden,
entstehen.

„Sinds gleich nur Welten aus Ideen,
„So baut man sie so herrlich als man will;

[221]

„Und steht einmal das Rad der äußern Sinne
still:

„Wer sagt uns, daß wir nicht im Traume
wirklich sehen?

„Ein Traum, der uns zum Gast der Götter
macht,

„Hat seinen Werth...“ ─


  Die größern Erzählungen, die man,
nach Art der Fabeldichter, auf die Erkenntniß
allgemeiner Wahrheiten anlegt
(wie z. B. die Marmontelschen sind), gehören
nicht mehr zu der didaktischen,
sondern zu der handelnden Gattung. Es
ist vielleicht unnütz, alle Werke der Dichtkunst
ganz genau classificiren zu wollen;
wenn man es aber will, so ist dazu kein
anderes Mittel, als daß man Acht gebe wo
das Hauptinteresse hinfällt. In jenen größeren
Erzählungen fällt dieses Hauptinteresse
nicht mehr, wie in der Fabel, auf
die allgemeine Wahrheit, sondern auf die [222]
Entwickelung des Schicksals der Personen,
auf die Handlungen, die Begebenheiten.
Sie sind also wenig, oder nichts mehr didaktisch,
als es jede treue Schilderung
menschlicher Charaktere, Sitten und Handlungsarten
ist; denn jede solche Schilderung
enthält einen Reichthum von Wahrheiten,
und ist um desto vortrefflicher,
je mehrere derselben und je leichter sie
sich daraus abstrahiren lassen.


  Wir haben hier nur einige Arten angegeben,
wie das Lehrgedicht kann behandelt
und mit andern Dichtungsarten
verbunden werden. Es sind ihrer gewiß
noch mehrere übrig; aber die Kritik muß
sich nicht anmaßen wollen, alle Möglichkeiten
zu erschöpfen und dem Genie die
Hände zu binden.


[figure]
[EE222:a]

ENGEL'S
THEORIE
DER
DICHTUNGSARTEN.


[figure]


ZWEITE ABTHEILUNG
HAUPTSTÜCK 6─9

[EE222:b]

SECHSTES HAUPTSTÜCK.

[figure]


Von dem beschreibenden Gedicht.

[223]
[figure]


Der Dichter beschreibt, wenn er uns von
irgend einem Gegenstand die Theile oder
Merkmaale oder Veränderungen einzeln
nach einander angiebt. ─ Wozu braucht
er das aber? Warum nennt er uns nicht
schlechtweg das Ganze, wenn nur die
Sprache ein Wort dafür hat?


  Zuerst kann es kommen, daſs wir die
Sache die das Wort andeutet, noch nie
gesehn, nie erfahren haben. ─ Klopstock
z. B. erdichtet ein Geschlecht von Menschen,
die auf einer andern Erde leben [224]
und im Stande der Unschuld verharrt
sind. Der Stammvater derselben erzählt
ihnen von uns, die wir unsre Unschuld
und mit ihr das Vorrecht der Unsterblichkeit
verloren haben. Sterben ist für
diese Glücklichen ein Wort ohne Bedeutung;
und wenn also der Stammvater will,
daß sie von dem Fürchterlichen der Sache
gerührt werden, und ihren Vorzug
vor uns empfinden sollen, so muß er ihnen
durch Beschreibung einen Begriff davon
machen:


─ ─ Dem Sterbenden brechen die Augen, und
starren,

Sehen nicht mehr. Ihm schwindet das Antlitz
der Erd' und des Himmels

Tief in die Nacht. Er hört nicht mehr die Stimme
des Menschen,

Noch die zärtliche Klage der Freundschaft. Er
selbst kann nicht reden;

Kaum mit bebender Zunge den bangen Abschied
noch stammeln;

[225]

Athmet tiefer herauf; und kalter ängstlicher
Schweiß läuft

Über sein Antlitz; das Herz schlägt langsam;
dann stehts; dann stirbt er!


Messias, Ges. 5.


  Zweitens kann der Gegenstand den
das Wort andeutet, zwar bekannt seyn;
aber die Vorstellung davon ist in der
Seele des Lesers nur im Ganzen klar: sie
enthält zwar schon alle einzelne Merkmaale,
aber sie enthält sie verworren und
dunkel. Und wenn nun dem Dichter die
klare Vorstellung des Ganzen zu seinem
Zwecke nicht genügt; wenn es ihm auf
die Beachtung gewisser besonderer Merkmaale
ankömmt: was bleibt ihm übrig,
als diese Merkmaale besonders anzugeben,
und also eine Beschreibung zu machen?
─ So giebt uns Ramler in seiner Ode
„der Triumph“ eine kurze Beschreibung
von Frankreich:

[226]

─ Gallien, das an zwei Meeren thront,
Dessen Fahnen und Wimpel
Unter allen Himmeln wehn;


nicht, als ob wir das nicht schon wüßten,
sondern weil der Dichter will, daß wir
unter den übrigen Merkmaalen gerade
auf diese am meisten Acht haben sollen.
Hörten wir bloß den Namen Frankreich,
so mögten wir vielleicht eine ganz andre
Seite desselben fassen; wir mögten uns,
ganz gegen den itzigen Zweck des Dichters,
darunter denken [geichfalls von
Ramler]


─ ─ das veramte Land,
Wo der singende Winzer
Seine Traube für Fremde preßt.


  Drittens hat die Sprache für so wenige
näher bestimmte Unterarten von Dingen
besondere Wörter. Sie besteht fast ganz
aus Zeichen sehr abstracter Begriffe, wie: [227]
Roß, Schwert, Baum, Strom u. s. w. Wenn
also auch hier wieder der allgemeine Begriff
der Gattung dem Dichter nicht hinlänglich
scheint; wenn er will, daß wir
uns speciellere Merkmaale mit den allgemeinen
verbunden denken: was kann er
thun, als diese speciellen Merkmaale besonders
angeben, d. h. beschreiben? ─
So verbindet Kleist die Merkmaale des
Stolzes, des Muths, der Geschwindigkeit
und Leichtigkeit, mit dem allgemeinen
Begriffe des Rosses, damit wir nicht etwa
auf die Vorstellung eines Donquischotischen
Rosinante fallen:


─ Sein Roß war stolz, wie er;
Es schien die Erde zu verachten: kaum
Berührt' es sie mit leichten Füßen; schnob
Und wieherte zu der Trompete Klang,
Und foderte zum Kampf heraus, wie er.


  Es giebt also, wie es scheint, einen
dreifachen Gebrauch der Beschreibung. [228]
Entweder soll die Idee irgend eines unbekannten
Ganzen durch die bekannten
einzelnen Merkmaale erst hervorgebracht;
oder in der schon vorhandenen Idee soll
dieses und jenes Merkmaal nur besonders
aufgeklärt und hervorgehoben; oder eine
zu allgemeine soll durch nähere Bestimmung
specieller gemacht werden. Dieser
letzte Fall läßt sich auf die beiden ersten
zurückbringen. Denn das was durch nähere
Bestimmung des Allgemeinen herauskömmt,
ist entweder eine unbekannte Sache:
dann haben wir den ersten Fall; oder
eine schon bekannte, wo die aufgezählten
Merkmaale in der Vorstellung nur
lebhafter werden: dann haben wir den
zweiten Fall.


  Die Frage ist nunmehr, welche von
diesen beiden Absichten einer Beschreibung
die Dichtkunst am besten erreichen, [229]
und auf welche sie sich also allein oder
doch vorzüglich einlassen solle? Um diese
Frage zu beantworten, müssen wir zuvor
einen Blick auf die Natur des Mittels werfen,
durch welches die Dichtkunst einzig
wirkt: ─ auf die Natur der Sprache.


  Der Maler ahmt die sichtbaren Gegenstände
durch Farben und Umrisse nach,
und stellt sie uns unmittelbar vor die
Augen. Der Schauspieler geht in seiner
Action, z. B. durch alle merkliche zwischenliegende
Momente vom Zustand des
Wachens zum Zustand des Schlafes über,
und giebt uns also, gleichfalls unmittelbar,
die Vorstellung des Einschlafens.
Dem Dichter stehn weder Linien, noch
Farben, noch wirkliche Actionen zu Gebot;
sein einziges Mittel, uns Gegenstände
kennen zu lehren, sind Worte. Und auf
welche Art geschieht es denn nun, daß [230]
wir durch Worte zu Vorstellungen gelangen?



  Man lese die Klopstockische Beschreibung
eines Sterbenden noch einmal, und
man wird bald gewahr werden, daß es
nicht, wie bei Gemälden und Actionen,
durch wirkliche Nachahmung, wirkliche
Darstellung geschehe. Einige einzelne Züge
zwar dürften hievon auszunehmen seyn;
denn z. B. die Wörter: Stammeln, Athmen,
sind Zeichen die dem Bezeichneten
ähnlich sind, oder kürzer, nachahmende
Zeichen. Wir erhalten, wenn wir sie hören,
nicht bloß eine Vorstellung im Verstande,
sondern gewissermaßen die sinnliche
Empfindung der Sache. ─ Wie weit
erstreckt sich aber in der Sprache dieses
Nachahmende der Zeichen? Wie viel wird
man durch Worte nicht bloß andeuten,
sondern ausdrücken, maien können? ─ [231]
Stammeln ist selbst eine Modification des
Redens; Athmen geschieht durch eben
das Werkzeug womit wir reden, und wird
zum Reden nothwendig erfordert: kein
Wunder also, daß sich die Veränderungen
des Organs selbst durch das Organ
sinnlich ausdrücken lassen. ─ Aber nicht
bloß unsre eignen Laute und Töne: Röcheln,
Gähnen, Lispeln, Hauchen
u. s. w.;
auch andre hörbare Gegenstände: Klatschen,
Rollen, Wiehern, Knarren,
können
wir, bei der Biegsamkeit unsers Organs,
dem Gehöre vernehmlich machen.


Wann, vom Orcan gepeitscht, des Meeres Fluth...
Sich wieder in den Himmel thürmt, und heult,
Und bellt, und donnert ...


Kleist.


Tief unten brauset der Ton mit einer donnern-
den Stimme
Furcht und Entsetzen zum staunenden Ohr.

[232]

Sowie ein wilder Orcan, in Höhlen des Harzes
verschlossen,

Die schallenden Felsen murmelnd durch brüllt.


Zachariä.


  Doch auch hiemit ist das Malerische
der Sprache noch nicht erschöpft; denn
nicht bloß das Wort Donner, auch das
Wort Blitz hat etwas Ausdrückendes; und
doch ist Blitz kein Gegenstand des Gehörs,
sondern des Auges. Inwiefern wird
aber auch hier die Sache nachgeahmt?
Bloß nach der einzigen Eigenschaft der
Geschwindigkeit, die eine Idee vermischten
Ursprungs ist, welche wir durch hörbare
sowohl als durch sichtbare Gegenstände
erhalten. ─ Diese Gemeinschaft der
Merkmaale ist in der Sprache die reichste
Quelle des Malerischen, und bringt, mit
Hülfe der Einbildungskraft, viele Gegenstände
der andern Sinne, oft durch die [233]
feinsten und entferntesten Ähnlichkeiten,
vor die Empfindung. ─ Daß die Zeichen
der abstracten gemeinsamen Merkmaale
selbst, wie Sanft, Rauh, Lieblich, etwas
Ausdrückendes und Malerisches haben
werden, läßt sich hieraus von selbst errathen.


  Das was hier so eben von dem Malerischen
einzelner Wörter gesagt worden
ist, mit dem zusammengenommen, was
noch im vorigen Hauptstück von dem Malerischen
des Sylbenmaßes vorkam; bringen
wir nun eine zwiefache nachahmende
Harmonie heraus: die des Klanges oder
des Tons, und die der Bewegung oder
des Tactes. Wir nennen sie nachahmende
Harmonie; zum Unterschiede von derjenigen,
die den Wörtern und der Rede,
ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung, zukömmt,
und die man besser schlechthin
Wohlklang nennt.

[234]

  Daß die Harmonie der Bewegung
nicht zu vernachlässigen sei, weil sie zum
Zweck des Dichters ein Großes beiträgt,
haben wir schon erinnert; und das Nehmliche
erinnern wir nun auch von der Harmonie
des Klanges. Man kann über die
Mannichfaltigkeit und die Wirkung dieser
Harmonie eine Menge unterhaltender
und lehrreicher Beobachtungen machen;
praktischen Nutzen aber wird man sich
wenig davon versprechen dürfen, wenn
man diese Beobachtungen in Regeln verwandelt.
Das hingegen könnte sehr leicht
der Erfolg seyn, daß man Dichter von
nicht genug gebildetem Geschmacke zu
sehr läppischen Spielereien dadurch
verführte. ─ Die Sprache hat für sehr
viele Gegenstände keine andre als solche
Zeichen, die eine nähere oder entferntere
Analogie mit dem Bezeichneten [235]
haben: die nachahmenden Töne für
wirklich hörbare Gegenstände waren die
erste Grundlage der Sprache; und Gemeinschaft
der Merkmaale war eine der
vornehmsten Veranlassungen, auch Gegenstände
anderer Sinne durch solche und
keine andre Wörter zu bezeichnen. Es
liegt also, in Ansehung des Klanges, schon
viel Malerisches in der Sprache selbst;
und wenn der Dichter von seinem Gegenstande
nur hinlänglich erwärmt ist, ihn
nur lebendig genug vor der Phantasie hat,
um den eigentlichsten, sinnlichsten, kräftigsten
Ausdruck zu treffen: so wird er,
ohne daran zu denken, zugleich den ähnlichsten
und den malerischten treffen. ─
Das Nehmliche ungefähr gilt von der Harmonie
der Bewegung, die man immer
nur sehr mißlich nach Regeln, aber desto
sichrer durch wahre Begeisterung findet.

[236]

  Um zu unsrer Beschreibung des Sterbenden
zurückzukehren; wie viel thut hier,
zur Vorstellung der Sache, das Nachahmende
in den Zeichen? ─ Thut es Alles?
Oder auch nur etwas Beträchtliches? Gewiß
nicht. ─ Es giebt in jeder Sprache,
nur in der einen mehr, in der andern
weniger, jene zwiefache nachahmende Harmonie;
und doch können wir den Gegenstand
des Gesprächs nicht einmal ungefähr
und im Ganzen errathen, wenn wir
eine uns völlig fremde Sprache hören.
Die nachahmende Harmonie ist also bloß
eine geringe Beihülfe für die Einbildungskraft
dessen der die Sprache bereits versteht,
der schon weiß, was für Begriffe
man willkürlicher Weise an die Wörter
und Redensarten derselben, vermittelst
einer allgemeinen Verabredung, geknüpft
hat. Dem Sinne des Gehörs wird dann [237]
nur das verabredete Zeichen gegeben; die
Vorstellung selbst geschieht durch eine
Operation der Einbildungskraft, die das
Bild der Sache mit unglaublicher Geschwindigkeit
wieder hervorbringt. Den Gegenstand
durch das Wort erst bekannt machen:
das kann man nur dann, wenn er
selbst in dem Schalle des Worts enthalten
ist; in allen andern Fällen wird man durch
die Wörter an schon sonst bekannte Gegenstände
bloß erinnert. ─ Eben darum
mußte der Stammvater jener glücklichen
Menschen, um ihnen eine Idee vom Sterben
zu machen, einzelne Merkmaale, die
ihnen bekannt waren, nach einander angeben,
aus denen sie sich dann selbst das
Bild des Ganzen, so gut wie möglich, zusammensetzen
mogten.


  Inwiefern aber, glauben wir, daß dieser
Endzweck ihm habe gelingen können? [238]
Es scheint, wenn wir uns in die Stelle
jener Unsterblichen versetzen, daß alle
Kunst des Dichters uns doch nie zur Vorstellung
der Erscheinung, sowie sie in
der Natur ist, würde gebracht, daß wir,
trotz seiner Beschreibung, so gut als gar
keine Idee von der Sache würden erhalten
haben. ─ Wie aber? Sind wir
nicht, in Ansehung der Idee des Wiederauferstehens,
gerade in eben dem
Falle, worin jene Unschuldigen in Ansehung
der Idee des Sterbens waren?
Und doch wird niemand behaupten, daß
folgende meisterhafte Beschreibung des
nehmlichen Dichters die Phantasie leer
lasse; vielmehr enthält sie das lebendigste
und interessanteste Gemälde von
der Welt:


Als sie (Rahel) noch redet', erhub sich um ihren
Fuß von dem Grabe

[239]

Sanftaufwallender Duft, ein Wölkchen, wie etwa
die Rose

Oder ein Frühlingslaub einhüllt, das Silber herabträuft.

Rahels Schimmer umzog den schwimmenden
Duft mit Golde,

Wie die Sonne den Saum der Abendwolke vergoldet.

Und ihr Auge begleitet des Duſtes Wallen. Sie
sieht ihn,

Anders um sich, und wieder anders gebildet,
herumziehn,

Steigen, sinken, zuletzt stets mehr sich nahen,
und schimmern.

Und sie bewundert den Tiefsinn der immerändernden
Schöpfung,

Unergründlich im Großen und unergründlich
im Kleinen;

Ohne zu wissen, wie nah der schwebende Duft
ihr verwandt sei,

Und wozu ihn bald des Allmächtigen Stimme,
Versöhner!

Deine Stimme, nun bald erschaffen werde. Sie
neigt sich

Über ihn, und betrachtet ihn, stets mit froherem
Blicke.

[240]

Mit gefalteten Händen, voll süßer namloser
Freuden,

Stand ihr Engel, und sah's. Jetzt scholl des
Allmächtigen Stimme!

Rahel sank. Ihr daucht' es, als ob sie in Thränen
zerflösse,

Sanft in Freudenthränen; hinab in schattende
Thale

Quölle; sich über ein wehendes, blumenvolles
Gestade

Leicht erhübe; dann neugeschaffen unter den
Blumen

Dieses Gestades, und seiner Düfte Gerüchen
sich fände.

Jetzt erwachte sie ganz! ─ ─


Ges. 11.


  Beide Gemälde mit einander verglichen,
was sollten sich noch für Unterschiede ergeben?
─ Durch jenes wollte der Stammvater
seine Kinder das Phänomen des Sterbens
kennen lehren, sowie es in der Natur
wirklich da ist: und ob das möglich
sei, daran zweifeln wir; durch dieses will [241]
der Dichter uns nicht zeigen, wie das
Wiederauferstehen wirklich geschehe: er ist
zufrieden, daß wir uns die Sache nur so
denken wie sie aus den angegebenen Zügen
herauskömmt; er hat Alles darauf
eingerichtet, daß das Gemälde schon so
seine ganze Wirkung thun muß; er überläßt
es gern unsrer Phantasie, sich die
Züge nach ihrer eigenen Art weiter auszumalen.
In jenem ersten Gemälde, fehlt
zu der Absicht an jedem Zuge etwas; in
dem letztern, fehlt nichts. Der Duft, wovon
hier der Dichter spricht, das Wallen,
das Sinken, soll nur so ein Duft, ein
Wallen, ein Sinken seyn, wie wir es schon
kennen und wie wir uns selbst es näher
bestimmen wollen; allein in jenem Gemälde
ist das Starren des Auges, das Tieferheraufathmen,
sind überhaupt alle angegebene
Züge, eben weil ihnen die speciellen [242]
Bestimmungen fehlen, die sie beim
Sterben annehmen, sehr unzulänglich, um
sich das ganze Phänomen daraus zusammenzusetzen.
Das Merkmaal des Tieferheraufathmens
z. B. ist nur im Allgemeinen
bekannt, nur insofern es auch in andern
Fällen vorkömmt: nach der Erhitzung
des Laufs, nach einer langen Abwesenheit
des Geistes, nach dem ersten
Zurückkommen von Empfindungen der
Bewunderung und des Erstaunens. Aber
in keinem dieser Fälle ist es das was es
beim Sterben ist; und wer nun von der
ganzen Erscheinung des Sterbens noch
keinen Begriff hat: wie will man den
das Eigenthümliche kennen lehren, das
jedes einzelne Merkmaal darin annimmt?


─ ─ Das zu denken,
Hat die Seele kein Bild, es zu sagen, nicht
Worte die Sprache.


Klopstock.

[243]

Jeder Versuch, den man deswegen anstellte,
würde eben so vergeblich seyn,
als der Versuch eines ältern Dichters, das
Besondere in dem Glanz der Abendröthe
mit etwas anderm als dem eigenthümlichen
Worte auszudrücken:


Wenn man zerschmolznes Gold, recht da es
blinket, sieht;

Und es das holde Roth das auf den Rosen
glüht,

Mit jenem möglich wär zusammen zu vereinen:
Würd es bei diesem Glanz wie falbe Schatten
scheinen.


Brockes.


  Also kurz: Gegenstände und Erscheinungen
von eigener unbekannter Art
kann uns der Dichter unmöglich durch
seine Beschreibung erst kennen lehren;
und wenn er das nicht kann, so muß er
es auch nicht wollen. Er muß Acht geben,
daß er nur lauter Gegenstände von [244]
so einer Art male, die er als bekannt
voraussetzen darf. Thut er dies nicht, so
schreibt er uns eine Menge Züge hin, die
für die Einbildungskraft vielleicht ganz
und gar kein Resultat haben, von denen
wir nicht wissen wie sie zusammenkommen,
was sie eigentlich sagen wollen. Er
wird es unmöglich finden, alle einzelne
Züge zu erschöpfen, uns aller Verbindung
und Mischung zu zeigen; und die, welche
er angiebt, werden bloß abstracte Begriffe
bleiben, schicklich für den Geschichtschreiber
der Natur, der nur für den Verstand
classificiren, aber nicht für den Dichter,
der für die Einbildungskraft malen will.
Will er dem Fehler abhelfen, und sie in
Bildern vortragen, so macht er es in der
That nur schlimmer: denn weil wir über
die Puncte der Vergleichung im Dunkeln
sind, weil wir das Ähnliche vom Unähnlichen, [245]
wegen ermangelnder Kenntniß der
Sache selbst, nicht abzusondern wissen;
so müssen nothwendig diese Bilder unsre
Phantasie erst vollends verwirren und unterdrücken.
─ Die folgende Beschreibung
gewisser Kräuterarten ist mit Recht getadelt
worden, wenn auch nicht ganz aus
dem rechten Grunde; sie hat kein Resultat
für den der die Kräuter nicht kennt:
und bei wie viel Lesern wird sich ihre
Kenntniß voraussetzen lassen!


Dort ragt das hohe Haupt am edlen Enziane
Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin.
Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne;
Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret
ihn.

Der Blumen helles Gold, in Strahlen umgebogen,

Thürmt sich am Stengel auf, und krönt sein
grau Gewand;

Der Blätter glattes Weiß, mit tiefem Grün
durchzogen,

[246]

Strahlt mit dem bunten Blitz von feuchtem
Diamant.

Gerechtestes Gesetz, daß Kraft sich Zier vermähle!

In einem schönen Leib wohnt eine schönre
Seele.
  Hier kriecht ein niedrig Kraut, gleich einem
grauen Nebel,

Dem die Natur sein Blatt in Kreuze hingelegt;
Die holde Blume zeigt die zwei vergoldten
Schnäbel,

Die ein von Amethyst gebildter Vogel trägt.
Dort wirft ein glänzend Blatt, in Finger ausgekerbet,

Auf einen hellen Bach den grünen Wiederschein;

Der Blumen zarten Schnee, den matter Purpur
färbet,

Schließt ein gestreifter Stern in weiße Strahlen
ein,

Smaragd und Rosen blühn auch auf zertretner
Heide,

Und Felsen decken sich mit einem Purpurkleide.


Haller.

[247]

  Überhaupt sei es hier erinnert, daß
der Dichter sich nirgend besser als in der
bekannten einheimischen Natur befindet.
Er versteht seinen Vortheil sehr wenig,
wenn er aus Begierde neu und original
zu seyn, oder aus unzeitigem Kitzel gelehrt
zu scheinen, seine Bilder, Gleichnisse,
Metaphern, im unbekannten Alterthume
oder in fremden Weltgegenden aufsucht.
─ Auch thut er immer besser, einen
Gegenstand nach dem sinnlichen wirklichen
Anblick in der Natur, als nach seiner
verborgenern Beschaffenheit zu schildern,
die man nur durch Kunst an ihm
entdeckt, und die eben deswegen weniger
allgemein bekannt, ja auch dem der
sie weiß, vielleicht weniger gegenwärtig
ist. Note: Nachvollziehbarkeit der Metapher als kognitiver Aspekt Folgende Gellertsche Beschreibung der
Fliegen, daß sie


─ ─ ─ oft aus finstern Augen sehn,

[248]

Und oft den Kopf mit einem Beine halten,
Und oft die flache Stirne falten,


scheint daher dichterischer, als die Hagedornische
der Mücke:


Sie putzt ihr Panzerhemd, die Schuppen um
den Leib,

Und ihren Federbusch; läßt beide Flügel klingen,

Zieht alle Schwerdter ein, die aus dem Rüssel
dringen,

Und hält sich für kein schlechtes Weib.


  Wenn der Dichter, wie wir gesehen
haben, nichts der Art nach Unbekanntes
schildern kann, so kann er dagegen aus
lauter schon bekannten Ideen neue Gegenstände
und Erscheinungen zusammensetzen.
Den Beweis davon hatten wir an
der Auferstehung der Rahel. ─ Er kann
aus Materialien, die in unsrer Phantasie
schon vorhanden sind, jedes ihm beliebige
Gebäude aufführen, wenn nur die [249]
Theile wirklich zusammengehn und keinen
sinnlichen Widerspruch machen. Er
kann uns z. B., wie in allen Mythologieen
geschehen ist, eine Gestalt, oder wie in
allen ländlichen Gedichten geschehen ist,
eine Gegend, oder wie in allen romantischen
Gedichten geschehen ist, ein Gebäude
zusammensetzen, die wir uns zwar
schon oft theilweise, aber noch nie in so
einer Verbindung dachten.


Dryaden sah ich, und mit spitzen
  Ohren bockfüßige Faunen lauschen.


Horaz nach Ramler.


Abel schwebte daher, wie ein Frühlingsmorgen,
in Purpur

Und in Schimmer gekleidet.


Klopstock, Ges. 11.


  Hell war der Himmel: Nebel lag, wie ein
See, im Thal; und die höchsten Hügel standen,
Inseln gleich, daraus empor, mit ihren rauchen-
[250]
den Hütten, und ihrem bunten herbstlichen
Schmuck im Sonnenglanz.


Gessner.


Es ruht, umgränzt von Gärten und von Hainen,
Auf Pfeilern von Smaragd des Gnomenkönigs
Sitz,

Statt Marmor und Porphyr erbaut aus Edelsteinen.



Wieland.


  Nur ist hiebei wieder zu erinnern, daß
die Composition nicht zu weitläuftig seyn
müsse. Wenn man uns mehrere Merkmaale
als zu Einer Vorstellung, mehrere
Theile als zu Einem Ganzen vereinigt angiebt,
so verlangen wir durchaus, daß
die Eine Vorstellung oder das Eine Ganze
auch in unsrer Einbildung hervorkommen
soll; aber das kann unmöglich gelingen,
wenn der Theile und Merkmaale zu viel
sind. Geßner kann in diesem Stücke allen
malerischen Dichtern zum Muster dienen. [251]
Seine kleinen ländlichen Gemälde
sind alle von unvergleichlicher Leichtigkeit;
wie man aus dem eben angeführten,
oder aus demjenigen ersehen kann, das
oben S. 143 in der Idylle Thyrais vorkam.
Einen Vortheil hat indeß der Dichter allemal,
wenn er Veränderungen schildert,
die sich ebenso eine nach der andern
entwickeln und darbieten, wie die Begriffe
in der Sprache: denn hier erspart er der
Imagination die Mühe ganz, die zerstreuten
Züge erst in Ein Bild zu sammeln.
Den nächstgrößten Vortheil hat er, wenn
er Gegenstände malt, wo gleich zu Anfange
vor der Seele ein Ganzes dasteht,
in welchem wir die einzelnen Theile nur
weiter auszubilden und zu beleben brauchen.
So steht in folgender Beschreibung
das Bild eines Jünglings gleich Anfangs
vor uns, eben wie in der obigen Kleistischen [252]
Beschreibung S. 227 das Bild eines
Rosses; und wir durchlaufen dann nur
die einzelnen Theile und Merkmaale.


Herr Heger, malen Sie zu dieser Phyllis Füßen
Uns einen hübschen Knaben hin:
Ein rund Gesicht, wie einer Schäferinn,
Hellbraunes Haar, ein glattes Kinn,
Ein schwarzes Aug', und einen Mund zum
Küssen;

Schlank von Gestalt, geschmeidig, zierlich,
In allen Wendungen so reizend als natürlich,
Wie Zephyr leicht, und schmeichelhaft und
dreist

Wie ein Abbé! ─ kurz, schön als wie gegossen,
Und um und um von diesem Reiz umflossen,
Von diesem Glanz, von diesem Jugendgeist,
Den Winkelmann uns am Apollo preist.


Wieland.


  Bilder von bestimmten Individuen zu
erwecken, die nicht allgemein bekannt
sind, muß eben so unmöglich seyn, als
Gegenstände von einer unbekannten Art [253]
zu schildern. Der Seele ermangeln hier
abermal die Vorstellungen, und der Sprache
die Wörter. ─ Gleichwohl reden die
Dichter fast beständig, wenn sie nicht von
Sonne oder Mond reden, von unbekannten
Individuen; gleichwohl muß die Vorstellung
davon auch bei dem Leser individuell
werden, wenn sie lebhaft werden
soll: und wie will nun da der Dichter
sich helfen? Durch die eigne willige Phantasie
seiner Leser. Die Züge, die er ihm
angiebt, können freilich nur allgemein
seyn; aber der Leser, der schon mit Gegenständen
der nehmlichen Art bekannt
ist, schiebt augenblicklich bestimmtere Züge
unter, und individualisirt das Gemälde.
Freilich steht dann in jedem Kopfe das
Bild etwas anders da: denn Jeder hat,
nach der Verschiedenheit seines Ideenvorraths,
seine ihm eigene Manier; aber diese [254]
Verschiedenheit ist dem Dichter zu seinen
Absichten allemal gleichgültig. Heger wird
anders malen; Rode, Tischbein, Öser,
jeder Maler wird anders malen: aber wenn
gleich keiner den Wielandischen Jüngling
genau herausbringt, so wird doch Jeder
so einen Jüngling herausbringen; und nur
so einen Jüngling wollte der Dichter. ─


  Wir haben bisher gesehen, was der
Dichter überhaupt mit der Sprache vor
die Phantasie bringen, was er malen, und
was er nicht malen kann; aber damit ist
noch nicht so ganz ausgemacht, was er
nun wirklich auch malen solle? ─ Der
Zweck, von dem wir gleich Anfangs sprachen,
und um deswillen ihm der klare
Begriff des Ganzen, oder der allgemeine
der Gattung keine Genüge thut, liegt entweder
in der Beschreibung selbst, oder
außerhalb der Beschreibung. Entweder [255]
beschreibt er, als didaktischer Dichter, um
seinen Beweis zu führen, als handelnder,
um uns mit Situationen und Charakteren
seiner Personen bekannt zu machen u. s. w.;
oder er beschreibt als eigentlich beschreibender
Dichter, um uns durch seine Gemälde
selbst zu belustigen, in Erstaunen
zu setzen, zu rühren.


  In dem erstern Falle, sieht man wohl,
hat der Dichter eine doppelte Betrachtung
zu machen. Zuerst: was sein eigentlicher
Hauptendzweck fordere, oder wenn
nicht fordert, erlaube? Und zweitens: wie
fähig die Gegenstände selbst, die sich ihm
darbieten, irgend einer, wenn auch schwächern,
dichterischen Wirkung sind? ─ Ein
Stoff, der ihn zu frostigen, ganz uninteressanten,
oder wohl gar zu widrigen ekelhaften
Beschreibungen nöthigte, wäre ein
undankbarer unwürdiger Stoff, den er wegwerfen [256]
müßte. Der Renommist, hat man
gesagt, ist kein Gegenstand, den Zachariä
hätte bearbeiten sollen. Denn alle poetische
Kunst kann den unangenehmen Eindruck
nicht austilgen, den so verworfne,
so nichtswürdige Sitten machen.


  In dem letztern Falle, wo dem Dichter
bloß an der Beschreibung selbst gelegen
ist, erspart er sich zwar die Rücksicht
auf einen andern und höhern Endzweck;
aber desto sorgfältiger muß er nun in
der Wahl seiner Gegenstände verfahren.
Er muß sagen können, wie Ramler:


Vom ganzen Walde, wählt mein Lied
Die Ceder die gen Himmel blüht,
Die Rose, von den Blumenbeeten;


oder mit andern Worten: er muß Gegenstände
aussuchen, die sich durch Neuheit,
Schönheit, Erhabenheit, Anmuth, durch
irgend eine Beziehung auf die Neigungen [257]
des menschlichen Herzens vorzüglich auszeichnen.
─ Indessen wird nicht leicht
ein Gegenstand seyn, der nicht seine wichtigen
und interessanten Seiten hätte, die
nur wollen gefaßt und ins rechte Licht
gesetzt werden; und so thut hier vielleicht
das Genie und die Kunst des Dichters
mehr, als die eigenthümliche Beschaffenheit
seiner Gegenstände.


  Wie aber, wenn, bei aller Bemühung
des Dichters nur das Vorzüglichste auszuwählen,
und es auf die beste vorzüglichste
Art zu behandeln, ein bloß beschreibendes
Werk dennoch kein interessantes
Werk wäre? wenn also die ganze Gattung
nicht verdiente bearbeitet zu werden? ─
Man hat dies wirklich behaupten wollen;
und es ist also der Mühe werth, daß wir
es untersuchen.


  Warum sollte also ein Werk, wie z. B. [258]
der „Frühling“ von Kleist, kein interessantes
Werk seyn können? ─ Weil die
Phantasie allzuviel Arbeit hat, das zerstreute
Einzelne in Ein Ganzes zu sammeln?
Das müßte der Fall in einigen einzelnen
Beschreibungen seyn, die dann
freilich verwerflich wären; mit dem ganzen
Werke ist es sicher der Fall nicht.
Der Dichter denkt nicht daran, daß wir
alle von ihm gehäufte Gemälde zusammenfassen,
und die Idee des Frühlings dadurch
erst herausbringen sollen; ebenso
wenig, als Zachariä verlangt, daß wir
durch Verbindung des Verschiednen, was
jeder Gesang seiner „Tageszeiten“ enthält,
uns von Morgen und Abend erst
einen Begriff machen sollen. Es sind bekannte
collective Ganzen, wovon die Dichter
uns nur diesen und jenen Theil, der
ihnen der Mühe vorzüglich werth scheint, [259]
näher vors Auge rücken. ─ Oder sind dergleichen
Werke vielleicht deswegen verwerflich,
weil darin eine stillstehende todte
Natur erscheint, die allerdings kein so
großes Interesse, als die Natur in Bewegung,
und die beseelte, erweckt? Diese
Beschuldigung ist fürs erste falsch: denn
wirklich hat das Beseelte und die Natur
in Bewegung an diesen Werken den größten
Antheil; zugeschweigen, daß auch alle
nicht in Action gesetzte Charakterschilderungen
beschreibende Gedichte sind: und
fürs zweite litte dann doch der Tadel die
Einschränkung, daß die beschreibende
Gattung nur weniger interessant, zwar der
Bearbeitung nicht unwürdig, aber auch
nicht vorzüglich würdig wäre.


  So eingeschränkt, ist denn aber auch
der Tadel, wie einem Jeden seine eigene
Empfindung sagen wird, völlig richtig; [260]
nur scheint noch immer der Geschmack
besser empfunden, als der Scharfsinn entwickelt
zu haben. Denn nicht nur Beschreibungen
aus der körperlichen; auch
Gemälde aus der beseelten Natur, und
nicht nur stillstehende, auch bewegliche
Gemälde interessiren weniger, als handelnde,
lyrische, ja selbst als didaktische
Werke: vorausgesetzt nehmlich, daß alles
Übrige gleich ist. Wir sehen hieraus, daß
wir die Sache aus der Natur des beschreibenden
Gedichts überhaupt, aus dem allgemeinen
unterscheidenden Charakter desselben,
werden ausmachen müssen.


  Worin also besteht dieser Charakter? ─
Schon im zweiten Hauptstück haben wir
ihn so angegeben: daß uns der beschreibende
Dichter nur zeigt, was Alles an
einer Sache zu bemerken ist, was sich
Alles nach einander begiebt. Wenn in [261]
dem Lehrgedicht die herrschende Ideenverbindung
zwischen Grund und Folge:
in dem handelnden Gedicht, zwischen Ursache
und Wirkung, zwischen Absicht und
Mittel ist: so ist dagegen in dem beschreibenden
Gedicht die herrschende Verbindung
die, daß Dinge so beisammen sind,
so auf einander folgen. Dort hat die Seele,
wenn anders dem Werk nicht die gehörige
Einheit fehlt, überall ein Ziel worauf
sie zustrebt: immer entwickelt sich,
die ganze Ideenreihe hindurch, eine Erwartung
aus der andern; alle Kräfte sind
interessirt und in Arbeit; die sämmtlichen
vorhergehenden Eindrücke concentriren
sich in jedem gegenwärtigen, und vorwärts
sieht man, bald heller, bald dunkler,
den letzten Ausschlag der Sache: hier
hingegen ist die Seele eine bloße Zuschauerinn,
die sich weit mehr leidend verhält; [262]
jedes Bild, jeder Zug entlehnt von dem
vorhergehenden nur insofern mehr Kraft,
als wir überhaupt für Eindrücke einer gewissen
Art schon mehr sind geöffnet worden;
es ist keine Erwartung, keine Vorsehung
der Zukunft, kein fortstrebendes
Interesse da; und so erkaltet und ermüdet
die Seele. ─ Mit einem Wort: der
beschreibende Dichter verschafft uns nur
das Vergnügen eines müssigen Spazierganges;
der handelnde, das Vergnügen der
Jagd. Jenes ermüdet weit eher und ist
weit weniger werth, als dieses; aber darum
ist doch jenes weder zu verachten,
noch zu verbieten. Dichter, wie Thomson
und Kleist, sollen aus der Reihe vortrefflicher
Dichter nicht ausgestoßen werden;
nur müssen sie sich freilich mit einem
niedrigern Range begnügen. ─


  Es ist Zeit, daß wir, nach so viel theoretischen [263]
Untersuchungen, uns mehr ans
Praktische halten. Die Regeln für die Beschreibung
ergeben sich alle aus den obigen
Betrachtungen, verbunden mit den
allgemeinen Regeln die im vorigen Hauptstück
entwickelt wurden. Wir dürfen sie
also nur kurz und ohne Beweis hier zusammenfassen.



  Eine Beschreibung wird um desto vortrefflicher
seyn, je richtiger alle angegebene
Züge zusammenstimmen; in je einer
natürlichern, faßlichern Ordnung sie erscheinen;
je neuer ein jeder ist; je mehr
sie alle die gehörige poetische Fülle haben,
also je mehr man Züge, die einzeln
angegeben zu dürftig, zu trocken seyn
würden, und in je weniger Hauptzüge
sie zusammendrängt; je mehr man die
fruchtbarsten, bedeutendsten ausliest, die
Vieles voraussetzen und Vieles zur Folge [264]
haben; je weniger man, mit ungerechtem
Mißtrauen in die Phantasie seiner Leser,
ausmalt: je mehr man den Gegenstand
gerade von der Seite faßt die der Endzweck
erfordert, und alle müssige Nebenzüge,
die das Gemälde nur überladen
würden, vermeidet; je mehr man das Wesentliche,
Eigenthümliche, Individuellere,
Merkwürdigere trifft; je mehr man in dem
ganzen Tone Deutlichkeit, Kraft, richtige
Haltung, richtigen Grad der Empfindung
vereinigt. ─ Man sehe hier Beispiele des
Guten und des Schlechten durch einander
gemischt, und übe nun selbst in der
Beurtheilung derselben seinen Scharfsinn.


So wie ein wilder Orcan, in Höhlen des
Harzes verschlossen,

Die schallenden Felsen murmelnd durchbrüllt.



Zachariä.

[265]

─ Ein Rosenbusch, den tiefe Still' umfängt,
Um den ein Buchenkranz die breiten Zweige
hängt,

Der hier Gerüche haucht, und von bemoosten
Hügeln

Gebeugt den Teich beschaut, sein blühend
Haupt zu spiegeln.


Dusch.


Sie nahmen ihren Weg durch Junons weite
Klüfte

Und durch das leere Reich der ausgespannten
Lüfte.


Flemming.


Chebar sah den siegenden Tod in der Sterbenden
wüthen,

Und erbebte vor Wonne so laut, daß lispelndes
Säuseln

Wie aus tiefer Ferne von seinen Flügeln wehte.


Klopstock, Ges. 12.


Sieh! da kam Bacchus her mit seinen beiden
Panthern;

Er rückte vor das Haus, stieg unverzüglich ab,

[266]

Und nahm in seine Hand den langen Traubenstab.



Flemming.


Also stand sie verstummt im dämmernden Saale,
Denn dichte

Dunkle Hüllen bedeckten der Nacht Gefährtinn,
die Flamme,

Welche nun oft schon erst mit dem Morgen
erlosch. ─


Klopstock, Ges. 13.


Wir waren, wie ein Ball, in zweier Heere
Händen;

Dies warf uns jenem zu. Man drohte gar mit
Bränden.

Der Pechkranz schreckte schon, an Häusern
aufgehenkt,

Des blöden Bürgers Brust; und Alles war versenkt

In Kleinmuth, Gram und Furcht. Hier ging es
an ein Flüchten!

Doch wie entgeht man wohl den schrecklichen
Gerichten?

Wo ist die Sicherheit? Auf Dörfern? In der Stadt,

[267]

Wo dieser oder der bei Freunden Zuflucht
hat?

In Gärten? Auf dem Feld? Sehr viele sah man
fliegen

Zum Gottesacher hin. und auf den Gräbern
liegen,

Aus Angst vor naher Gluth. Auch Männer wurden
weich

Von drohender Gefahr, und Greise Kindern
gleich,

Hier krieß ein schwanger Weib in Libitinens
Armen;

Dort schrie ein saugend Kind zu jedermanns
Erbarmen u. s. w.


Gottsched.


─ ─ ─ Wie tief in der Feldschlacht
Sterbend ein Gottesläugner sich wälzt; der
kommende Sieger,

Und das bäumende Roß, der rauschenden Panzer
Getöse,

Und das Geschrei, und der Tödtenden Wuth,
und der donnernde Himmel
Stürmen auf ihn. ─


Klopstock, Ges. 4.

[268]

─ ─ Ein Schloß, erbaut aus Edelsteinen;
Gemacht, den lacherlichen Blitz
Der Erdengötter auszuscheinen,
Die stolze Armuth, die vom Witz
Des Reichthums Miene borgt. ─


Wieland.


Friederich, ein Prinz der Brennen,
Ward angefallen von Völkern Hungariens,
Von Illyriens Reitern und Daciens:
Alle, dem Zepter der Königinn zinsbar,
Die Vindobonens saatenreiche Fluren,
Und Austrasiens Auen beherrscht,
Und der Bajonen Gebirge,
Und Hesperiens goldene Gärten;
Dieser erhabenen Fürstinn,
Deren Wohlfahrt vom Himmel in
Sieben Sprachen erflehet wird;
Deren Heere, geführt vom Stab' Eugens,
Ehmal unbezwinglich, ─ und itzt
Verbunden waren mit Allen, die
Am Mäotischen, Kaspischen, Finnischen
Sunde wohnen, den rauhen
Samojeden, den Ostiaken,
Und dem Tartar am Sangarfluß:

[269]

Einer Monarchinn dienstbar, Einer,
Die den weiten Umkreis
Ihrer Welten nicht kennt.
Auch trat zu ihnen der Söhne Sarmatiens
Selbsterwähleter König,
Und stellte seine Sachsen, ein treues Volk,
Mitten auf den Pfad des Siegers
Unter eine Felsenburg.
Und die hohen Satrapen Germaniens
Fielen zahlreich dem Bunde bei.
Und die theuer erkauften Suenonen
Drangen aus dem beeisten Norden hervor:
Enkel der Helden, mit denen ein Jüngling
Europen und Asien schreckte.
Und Gallien, das an zwei Meeren thront,
Dessen Fahnen und Wimpel
Unter allen Himmeln wehn,
Ließ seinen Schwarm aus,
Gleich dem Heere schwirrender Grillen,
Die vor sich her ein blühend Land,
Und hinter sich Wüsten sehn.


Ramler.


  Vergleicht man verschiedene dieser Beispiele,
so wird man kleine nichtsbedeutende [270]
Züge von kleinen vielsagenden,
schöne Ausführlichkeit von leerer Weitschweifigkeit
unterscheiden lernen. Überhaupt
lassen sich die Regeln mit keiner
solchen Präcision geben, daß man sich,
ihres richtigen Verstandes wegen, nicht
auf eigne Unterscheidungskraft des Lesers
verlassen müßte. In satyrischen, launigten,
nachahmenden Werken können sogar
die Fehler in gewissem Verstande zu
Schönheiten werden.


  Für Werke, die aus mehrern Beschreibungen
zusammengesetzt sind, kommen
zu den obigen Regeln noch die zwei Erinnerungen
hinzu: daß es gut ist, die
Reihe von Gemälden zuweilen durch Betrachtungen,
kleine Erzählungen, Ausbrüche
der Empfindung zu unterbrechen; und
daß, in Ansehung der Wirkung der Gemälde,
viel auf ihre Zusammenstellung [271]
ankömmt. Zwei contrastirende thun z. B.
mehr Wirkung, als zwei ähnliche Gemälde.
─ Auch zu diesen Erinnerungen sehe
man hier einige Beispiele; das letzte aus
dem eilften Gesang der Messiade, der fast
ganz eine beschreibende Episode ist.


─ ─ ─ Dort gleitet ein Täubchen
Mit ausgespreiteten Flügeln ins Thal, sucht nickend
im Schatten,

Und schaut sich vorsichtig um, mit dürren Reisern
im Munde.

Wer lehrt die Bürger der Zweige, voll Kunst
sich Nester zu wölben,

Und sie für Vorwitz und Raub voll süßen Kummers
zu sichern?

Welch ein verborgener Hauch füllt ihre Herzen
mit Liebe?

Durch Dich ist Alles was gut ist, unendlich
wunderbar Wesen!

Beherrscher und Vater der Welt! Du bist so
herrlich im Vogel,

Der hier im Dornstrauch hüpft, als in der Feste
des Himmels,

[272]

In einer kriechenden Raupe, wie in dem flammenden
Cherub.

See sonder Ufer und Grund! Aus Dir quillt
Alles; Du selber

Hast keinen Zufluß in Dich. Die Feuermeere
der Sterne

Sind Wiederscheine von Pünetchen des Lichts,
in welchem Du leuchtest.


Kleist.


Niemal hatte die schöne Seline den Einzug des
Morgens

In dem Kerker der Stadt gesehn. ─ ─ ─
In der Blüthe der Jugend ward von der gütigen
Liebe

Ihr ein zärtlicher Jüngling geschenkt, mit dem
sie in Bergen

In der Nacht durch gereist, und nun am dämmernden
Morgen

Von dem Abhang gen Osten weit in die Ebne
hinab sah.

Plötslich schoß Aurora vor ihr, mit purpurnem
Fittig.

Durch den streifigen Himmel, und that die
Thore der Sonne

[273]

Vor ihr auf; doch schien sie entzückt im Fluge
zu zögern,

So viel hohe, sonst nie gesehene, Schönheit zu
grüßen.

Bald drauf kam die Sonne daher auf dem strahlenden
Wagen,

Mit dem ganzen Pompe des herrlichsten Morgens
begleitet.

Welches Entzücken ergriff die fühlende Seele
des Mädchens,

Da auf einmal vor ihr die prächtigste Scene
sich aufthat!

Neben ihr lag im süßesten Schlaf ihr theurester
Jüngling,

Dessen blühenden Reiz der Morgen noch schöner
ihr zeigte.

Zärtlich weckte sie ihn mit einem feurigen Kusse,
Und brach, fröhlich bestürzt, in diese beflügelten
Worte:

O mein Geliebter, erwache zum allerprächtigsten
Schauspiel,

Welches itzt deine Seline zum erstenmale betrachtet!

Himmel! wie welken die Scenen dahin, die alle
Theater

[274]

Uns zu geben vermögen! Und wie verschießen
die Farben

Aller Freuden des Hofs vor diesem himmlischen
Auftritt!

Und schon achtzehn Jahr ward mir dies Schauspiel
gehalten,

Eh ich nur einmal es sah? Hier floß auf die
Rosen der Wangen

Eine Perle herab! ─


Zachariä.


Ihr, denen unsklavische Völker das Heft und
die Schätze der Erde

Vertrauten, ach! tödtet Ihr sie mit ihren eigenen
Waffen?

Ihr Väter der Menschen, begehrt Ihr noch mehr
glückselige Kinder;

So kauft sie doch ohne das Blut der Erstgeborenen!
─ Hört mich,

Ihr Fürsten, daß Gott euch höre! Gebt seine
Sichel dem Schnitter,

Dem Pflüger die Rosse zurück. Spannt eure
Segel dem Ost auf,

Und ärntet den Reichthum der Inseln im Meer.
Pflanzt menschliche Gärten;

[275]

Setzt kluge Wächter hinein. Belohnt mit Ansehn
und Ehre

Die, deren nächtliche Lampe den ganzen Erdball
erleuchtet.

Forscht nach in den Hütten, ob nicht, entfernt von
den Schwellen der Großen,

Ein Weiser sich selber dort lebt, und schenkt
ihn dem Volke zum Richter;

Er schlage das Laster im Pallast, und helfe der
weinenden Unschuld.


Kleist.


In der Entzückung, als weit um ihn her das
Todesgefilde

Rauschte von Auferstehung, da blies die hohe
Posaune

Einer der Engel. Mit ihrem erschütternden Donnerhalle

Trat der Held, den Gott zur Bezwingung Canaans
sandte,

Aus den Schatten des Todes herauf. So leuchten
aus Nächten

Blitze, so sah auf Dothans bestrahlten Bergen
Elisa

Flammende Wagen der Engel, die ihn mit Rettung
umgaben.

[276]

Wie ein Erstling der Frühlingsblumen in
duftigen Thälern

Aufblüht, also erwachte zum Leben der Leben,
nicht wieder

Wegzuwelken, die Tochter Jephta. Zum Silbergetöne

Ward es, wovon die Lippe der Preisenden bebet'!
Ihr Engel

Tönt's mit der goldenen Harf' ihr nach, und
erhub es auf Flügeln

Frohbegeisterter Harmonieen noch höher gen
Himmel.


Klopstock.


  Um den Zügen eines Gemäldes Kraft
und Fülle zu geben, hat die Dichtkunst
ihre eigenthümlichen, sehr wirksamen Mittel.
Wenn sie auf der einen Seite in der
Lebhaftigkeit zurückbleibt, weil sie der
natürlichen Zeichen entbehren, und sich
nur der bleichern Farben, der ungewissern
Umrisse der Phantasie bedienen muß;
so gewinnt sie dagegen an der andern [277]
Seite, eben durch das Willkürliche ihrer
Zeichen, weil der Mensch gerade diese
Zeichen, die Wörter, gewählt hat, um alle
Arten von Begriffen, und alle ihre mannichfaltigen,
reelle und ideelle, Verbindungen
damit anzudeuten. Das Ideengehiet
des Dichters, wenn ich so reden darf,
erstreckt sich so weit, als überhaupt das
Gebiet des Schönen: es kömmt nur darauf
an, daß er von allen den Vortheilen
die er in Händen hat, den rechten Gebrauch
zu machen wisse. Er kann jeden
Gegenstand der sich ihm darbeut, von
unzählig viel Seiten fassen; kann mit jeder
Hauptvorstellung, die er erwecken
will, unzählig viel andre mitverbundene
Vorstellungen in die Seele bringen. Statt
uns bloß die Sache zu zeigen, kann er
sie uns in der Verbindung mit ihren Ursachen
oder Wirkungen denken fassen; [278]
statt uns bloß das Werk vorzuführen,
kann er uns, wie Homer, den Meister
zeigen der mit dem Werke beschäftigt ist;
statt in eigentlichen Ausdrücken zu reden,
kann er durch ähnliche Züge schildern,
und Gleichnisse, Metaphern, Allegorieen
gebrauchen. Oder er kann auch für das
Enthaltende das Enthaltene, für das Abstractum
das Concretum, für den Theil
das Ganze, und umgekehrt, setzen; u. s. w. Note: uneigentliches Sprechen und Ähnlichkeit als Merkmal der Metapher; implizit Vergleichung, Metonymie und Synekdoche als Parallelkategorien
─ Es würde hier der eigentlichste Ort
seyn, von dem verschiedentlichen Gebrauche
und Nutzen der Tropen zu reden,
wenn nicht schon in rhetorischen Stunden
der beste Unterricht darüber gegeben
würde.


  Nirgend aber zeigt sich der Nutzen,
den der Dichter von den Vorzügen der
Sprache zieht, so sehr, als bei der Beschreibung
todter körperlicher Gegenstände. [279]
Hier erhebt er die Lebhaftigkeit der
Vorstellungen unendlich, wenn er dem
Triebe eines von Empfindung durchdrungenen
Herzens folgt, und statt der eigentlichen
Züge ähnliche Züge aus der beseelten
Natur nimmt: wenn er den Sturmwind
rasen, den Berg sein stolzes Haupt
in die Wolken erheben, den Zephyr
schmeicheln, die Eiche unter den Streichen
der sie fällenden Axt erseufzen, die
Rose ihren jungfräulichen Busen schamhaft
eröffnen läßt. Durch solche beseelte,
das Herz interessirende Züge wird oft das
Gemälde, das ein Dichter von solchen
Gegenständen malt, unendlich anziehender,
als das ähnlichste und schönste des
Malers. ─ In Werken wo der Gebrauch
der Mythologie erlaubt ist, kann man zuweilen
diesen Vortheil noch weiter treiben:
man kann, statt der körperlichen [280]
materiellen Dinge, die ihnen vorstehenden
Gottheiten der Fabel setzen, und bloß
mechanische Veränderungen in Thätigkeiten
freier Wesen verwandeln.


  Eine besondre Aufmerksamkeit verdienen
noch die Gemälde der Seele, in denen
es die Dichtkunst allen andern Künsten,
besonders durch ihre größere Deutlichkeit
und Bestimmtheit, so weit zuvorthut.
Das beste Mittel, uns eine Seele
nach ihren innern Beschaffenheiten und
Veränderungen kennen zu lehren, ist freilich
dies: daß man sie selbst, in irgend
einer wichtigen Situation, mit ihren Absichten,
Entschlüssen, Bewegungen und
Leidenschaften, vor uns aufführe; oder
anders: daß man uns zu unmittelbaren
Zeugen ihrer Handlungen und Empfindungen
mache. Aber es ist hier noch bloß
von Beschreibung die Rede, und es fragt [281]
sich also: wie es der Dichter anzufangen
habe, daß er uns durch Beschreibung
von den Zuständen und Veränderungen
einer Seele lebhafte Begriffe gebe? ─
Man sehe folgendes Gemälde, das vielleicht
unter den vielen vortrefflichen, die
Klopstock, der Maler der Seele, gemacht
hat, das vortrefflichste ist:


Wie es den Tausendmaltausend der Todten
Gottes einst seyn wird,

Hat das große Wehe vom Falle bis an den Gerichtstag

Ausgeklagt; steigt nicht mit jedem Tropfen der
Zeit mehr,

Der hinträuft in das Meer der Vergänglichkeit,
eines Gebornen

Weinen, oder eines Sterbenden Röcheln gen
Himmel

Unter die Preisgesänge der Unentweihten vom
Tode:

Wie es ihnen wird seyn, wenn mit des letzten
der Tage

[282]

Morgendämmerung nun das lange Wehe des
Weinens

Und des Röchelns auf ewig verstummt; sie werden
vor Wonne

Freudig erschrecken! aus ihrem erhobnen dankenden
Auge

Thränen der Seligkeit stürzen! und ihrer Jubel
Triumphlied

Wird mit jener Posaune, der Todtenweckerinn,
streiten,

Streiten und überwinden! wie dann es wird der
Gerechten

Tausendmaltausend seyn: so war es der kleineren
Schaar jetzt,

Die am Grabe des Herrn, vor Hoffen und vor
Erwarten

Deß das kommen sollte, verschmachtet war;
da die Wolken

Rissen! da Gabriel dort, eine Flamme Gottes,
herabfuhr!

Da er von Bethlehem, über die Schädelstätte,
zum Grabe

Flog! da von Euphratas Hütte bis hin zu dem
Kreuze, vom Kreuze

Bis hinunter ins Grab die Erde bebte! da Satan

[283]

Wie ein Gebirge dahin, des Leichnams Hüter,
wie Hügel,

Stürzten! da weg von dem Grabe den Fels der
Unsterbliche wälzte!

Da mit Freuden Gottes Jehovah sich freute! da
Jesus

Auferstand!


Messias, Ges. 13.


  Der eigentliche Gegenstand, den hier
Klopstock beschreibt, ist, wie man sogleich
gewahr wird, die Freude der Seligen,
die bei der Auferstehung Christi
zugegen waren. Gleich zu Anfang erinnert
er uns an eine ähnliche Freude, in
die wir uns mit ungleich weniger Schwierigkeit
versetzen können, weil die Ursachen
derselben sich weit leichter und unmittelbarer
fassen lassen. Da diese letztern
unendlich groß sind, so muß auch
jene, ihre Wirkung, es seyn; und so erlangen
wir durch dieses Bild einen so [284]
würdigen Begriff von dem eigentlichen
Gegenstande, als uns vielleicht die unmittelbare
Schilderung desselben nie würde
gegeben haben. Aber uns an diese ähnliche
Freude bloß zu erinnern, ist noch
nicht hinlänglich; auch sie ist uns nicht
unmittelbar genug gegenwärtig: und es
kömmt also die anfängliche Schwierigkeit
zurück, wie der Dichter einen Gegenstand
dieser Art werde schildern können? ─ Er
schildert ihn aber, indem er zuerst äußerst
lebhafte Begriffe von den veranlassenden
Ursachen dieser ähnlichen Freude
erweckt, die wir in der That als die hauptsächlichsten
Bestandtheile derselben ansehen
können. Denn was denken wir uns
im Grunde unter einer solchen leidenschaftlichen
Empfindung anders, als eine
verworrne Menge von Vorstellungen, die
sich alle an die herrschende Hauptvorstellung [285]
eines für unsre Glückseligkeit bedeutenden
Gegenstandes anketten? Ist uns
dieser Gegenstand nur der Art nach bekannt;
haben wir nur schon sonst Gegenstände
dieser Art in ihrer nachtheiligen
oder vortheilhaften Beziehung auf unsre
Glückseligkeit lebhaft gedacht; liegen die
Gründe zum Begehren oder Verabscheuen
desselben nur wirklich in der gemeinschaftlichen
menschlichen Natur: so präge
der Dichter nur ein lebendiges Bild des
Gegenstandes in unsre Phantasie, von der
rechten Seite worauf es ankömmt, gefaßt;
und sei gewiß, daß auch die Empfindung
die er erwecken will, in uns hervorkommen
werde. Die hieher gehörigen Zeilen
des obigen Gemäldes sind folgende:


Wie es den Tausendmaltausend ─ ─
Und des Röchelns auf ewig verstummt. ─


Den Zustand der Seele beim Nachlassen [286]
von Schmerz, beim Aufhören von Elend
kennen wir; wir dürfen uns diesen Zustand
nur unendlich erhöht denken: und
das werden wir leicht, sobald wir seine
unendlich größern Ursachen fassen. ─
Nach dieser Schilderung der Ursachen,
zeigt uns der Dichter zweitens die äußern
Wirkungen, welche eine solche äußerst
lebhafte Rührung der Seele hervorbringt:
ihre äußern Zeichen im Körper. Hier
kann er abermal der Phantasie die allerlebhaftesten
Bilder geben, und giebt sie
ihr wirklich:


─ ─ ─ sie werden vor Wonne
Freudig erschrecken ─ ─
Streiten und überwinden!


Dieses freudige Schrecken, diese herabstürzenden
Freudenthränen, dieses laute
Jubelgeschrei, sind Zeichen, die uns sogleich
und unfehlbar auf einen solchen [287]
und solchen Zustand der Seele führen,
weil wir sie schon sonst bei uns selbst
und bei Andern gerade in einem solchen
und nie in einem verschiedenartigen Zustand
der Seele beobachtet haben. Aber
nicht allein ihrer Art, auch ihrer Stärke
nach, erhalten wir hier einen so richtigen
als erhabnen Begriff von der Empfindung;
denn wir schließen auf die Größe
der Empfindung aus der Größe ihrer Wirkungen
zurück, wovon uns der Dichter
besonders die letztere mit einer so unübertrefflichen
Stärke zeichnet. ─ In dem
noch übrigen Theile des Gemäldes kömmt
nun der Dichter auf seinen Hauptgegenstand
selbst, wo er mit vieler Kunst alle
die Umstände häuft, welche die veranlassende
Ursache der Empfindung zu verherrlichen,
und sie selbst zu verstärken
dienen; bis er endlich unsre Erwartung, [288]
die er so lange unterhalten und immer
angeschwellt hat, mit dem letzten erhabensten
Zuge des Gemäldes befriedigt.


  Nach dem zu urtheilen, was wir bei
Entwickelung dieses einen Beispiels gefunden
haben, scheint es also dreierlei
Mittel zu geben, wie man uns von einem
bestimmten innern Zustande der Seele
durch Beschreibung einen lebhaften Begriff
geben kann. Zuerst, indem man uns
an einen bekannten ähnlichen Zustand
erinnert; zweitens, indem man uns den
Gegenstand schildert, der den Zustand
veranlaßt, und zwar gerade von der Seite
wo er denselben veranlaßt, gerade mit
den Umständen welche denselben zu erhöhen
dienen; drittens, indem man uns
die äußern Zeichen, die mit diesem Zustande
verbunden sind, die äußern Wirkungen
und Handlungen, die auf ihn als [289]
ihre Ursache zurückschließen lassen, darstellt.
Untersucht man die besten psychologischen
Gemälde in den Dichtern,
so wird man finden, daß wirklich die
hier angegebenen Methoden, wenn sie
auch nicht die einzigen dichterischen wären,
doch die am meisten dichterischen
sind. Warum sie das aber sind, das wird
sich nicht besser als durch Erörterung
der Frage beantworten lassen: auf was
für Art wir überhaupt zu allen Vorstellungen
von unsrer eigenen oder von Anderer
Seelen gelangen?


  Es braucht nur einer ganz geringen
Aufmerksamkeit, um eine gewisse merkwürdige
Analogie zwischen Seele und
Auge gewahr zu werden. So wie das
Auge seine Sehkraft nicht unmittelbar auf
sich selbst anwenden kann, sondern sich
nur dadurch erkennt daß es außer sich [290]
blickt: eben so kann die Seele ihre vorstellende
Kraft nicht unmittelbar auf sich
selbst richten; sie wird ihre eigenen Beschaffenheiten
nur dadurch inne, daß sie
sich äußere von ihr verschiedene Gegenstände
vorstellt. Was Freude, Zorn, Liebe;
was irgend eine andre Gemüthsbewegung
sei? das wird sie nur vermittelst der veranlassenden
Ursachen derselben, vermittelst
der äußern damit verbundenen körperlichen
Symptome, vermittelst der Handlungen
gewahr, worin diese Gemüthsbewegungen
gewöhnlich auszubrechen pflegen.
─ Eben so aber, wie ihre eigenen
Zustände, erkennt sie auch die Zustände
anderer Seelen; sie schließt sie aus den
äußern Veranlassungen und Folgen derselben,
deren Idee sie an einen gleichartigen
Zustand ihrer selbst wieder erinnert,
oder sie diesen Zustand eben jetzt mit [291]
empfinden lä'.sst. Daher rührt es, daß in
allen Sprachen die Zeichen für psychologische
Begriffe ursprünglich von körperlichen
Dingen entlehnt sind: denn die Menschen
hatten kein anderes Mittel, sich über
ihre inneren Beschaffenheiten und Veränderungen
zu verständigen, als die äußern
sinnlichen Erscheinungen. ─ Gesetzt, es
gäbe eine Art innerer Zustände, zu der
uns selbst alle natürliche Anlagen fehlten;
so wäre schlechterdings kein Mittel, uns
von dem Besondern und Eigenthümlichen
dieses Zustandes eine Idee zu verschaffen:
denn alles Erkennen und Beschauen einer
fremden Seele geschieht in unsrer eigenen
Seele *. Nur insofern könnten wir uns [292]
einen Begriff davon machen, als wir uns
nächst-ähnliche Zustände, durch wahrgenommene
Ähnlichkeit der Veranlassungen
oder der Folgen, wieder zurückriefen.


  Das Äußre und Fremde, das mit den
Vorstellungen der Seele von sich selbst
und von andern ihr ähnlichen Wesen verbunden
ist, läßt sich absondern; allein,
sobald diese Absonderung geschieht, geht
die lebendige anschauende Erkenntniß in * [293]
eine symbolische über. Das heißt, in eine
solche, wo wir von dem Zeichen der Sache
eine klärere Vorstellung haben, als
von der Sache selbst. Auch kommen Leben
und Anschauung nicht eher zurück,
als bis man die Vorstellungen in äußre
sinnliche Ideen wieder hineinbildet, sich
die äußern Veranlassungen oder Folgen,
womit sie gleich Anfangs vermischt waren,
wieder hinzudenkt. Die Vorstellung des
Zorns z. B. erhält nicht eher ihre Lebhaftigkeit
wieder, als bis man in der Phantasie
den Beleidiger vor sich sieht, wie
er durch Schimpfworte unsre Ehre oder
durch Thathandlungen unsre Rechte angreift;
als bis man sich der Bewegungen
erinnert, die sich dabei in unserm Blute,
besonders in der Gegend der Brust äußern,
wo nach gewissen ältern Weltweisen
die zornige Seele ihren Sitz hat; als [294]
bis man sich die äußern Symptome vorbildet,
die man in der nehmlichen Leidenschaft
an Andern bemerkt hat: den
starrern Blick, die abwechselnde Farbe,
die gerunzelte Stirn, u. s. f. ─ Das innre
geistige Auge entbehrt hier den Vortheil
des äußern körperlichen Auges. Wenn
dieses auf glatte, undurchsichtige Flächen
fällt, die mit ihm selbst die Ähnlichkeit
haben, daß sie alle von den äußern Gegenständen
aufgefangene Lichtstrahlen zurückbrechen:
so erhält es ein reines unvermischtes
Bild seiner selbst; da hingegen
für das geistige Auge der Seele die
Gegenstände, wenn ich so reden darf,
alle rauh oder vollkommen durchsichtig
sind, und es für sie in der ganzen Natur
keinen Bach, keine Spiegelfläche giebt,
worin sie sich rein und unvermischt von
fremden Gegenständen beschauen könnte. [295]
Alles was ihr ähnlich ist, erkennt sie,
eben wie sich selbst, nur durch Vermittelung
von solchen Dingen, die ihr unähnlich
sind.


  Was hieraus für den Dichter folgt, der
vermöge seiner Kunst auf lebhafte, mithin
auf anschauende Begriffe arbeiten
muß, sieht man von selbst. ─ Er wähle
nur unter den veranlassenden Ursachen
die hauptsächlichsten, stärksten; unter den
äußern Zeichen und Folgen, die kräftigsten,
präcisesten; unter den ähnlichen Zuständen,
die bestimmtesten, reichhaltigsten.



  Es muß angenehm und lehrreich zugleich
seyn, hier noch eine kleine Sammlung
vortrefflicher psychologischer Gemälde
aus dem Messias zu sehn, die das Gesagte
noch mehr zu bestätigen und aufzuklären
dienen werden.

[296]

─ ─ Da erkannte der bange, verlassene Samma
Seinen Retter. Ins bleiche Gesicht voll Todesgestalten

Kam die Menschheit zurück; er schrie und
weinte gen Himmel.

Itzt wollt' er reden; allein kaum konnt' er,
von Freuden erschüttert,

Bebend stammeln. Doch breitet' er sich mit
sehnlichen Armen

Nach dem Ewigen aus, und sah mit getrösteten
Augen,

Voll von Entzückung, nach ihm von seinem
Felsen herunter.

Wie die Seele des trüben Weisen, die in sich
gekehret

Und an der Ewigkeit ihrer zukünftigen Dauer
verzweifelnd,

Innerlich bebt; der Unsterblichen schaudert vor
ihrer Zernichtung:

Aber jetzt nahet sich ihr der weisern Freundinnen
eine;

Ihrer Unsterblichkeit sicher, und stolz auf Gottes
Verheißung

Kömmt sie zu ihr mit tröstendem Blick. Die
trübe Verlaßne

[297]

Heitert sich auf, und windet mit Macht vom
jammernden Kummer

Ungestüm freudig sich los. ─


Ges. 2.


─ Von Grimm und übermannender Wuth voll,
Lehnt' an seinen goldenen Stuhl sich Kaiphas
nieder,

Und erbebt'. Ihm glühte sein Antlitz; er schaut'
auf den Boden

Sprachlos und starr. ─


Ges. 4.


─ Sein (Philo's) Auge ward dunkel, und Nacht
lag

Dicht um ihn her, und Finsterniß deckte vor
ihm die Versammlung.

Jetzo mußt' er entweder ohnmächtig niedersinken;

Oder sein starrendes Blut auf einmal feuriger
werden,

Und ihn wieder gewaltig beleben. Es hub sich,
und wurde

Feuriger, und goß sich vom hochaufschwellenden
Herzen

[298]

In die Mienen empor; die Mienen verkündigten
Philo.

Und er sprang auf, und riß sich aus seiner
Reih', und ergrimmte.

So, wenn auf unerstiegnen Gebirgen ein nahes
Gewitter

Furchtbar sich lagert; so reißt sich Eine der
nächtlichsten Wolken,

Mit den meisten Donnern bewaffnet, entflammt
zum Verderben,

Einsam hervor. ─


Ebendas.


─ Sein (Barrabas) glühendes Auge
Schweifte seitwärts herum; er hielt den schnaubenden
Athem.

Nicht die Reue, die Wuth, bog ihm den sträubenden
Nacken.

Also stand er gebückt, und schluckte zornigen
Schaum ein.


Ges. 7.


Ach! noch rauchet sein Blut; noch rollt er das
Auge; noch starrt es

Ganz nicht hin; noch zuckt sein Gebein. Nun
streckt er dem Grabe

[299]

Völlig sich aus, und entschläft. Er hatt' in der
Wuth der Verzweiflung

Gegen sein Herz den wankenden Dolch gerichtet,
zur Erd' ihn

Niedergeschmettert, ihn wieder ergriffen, mit
furchtbarer Lache

Blinken gesehn den Verderber; hatt' Ahnung
gehabt von Blute,

Schwarzem eigenen Blute; mit Kälte den Dolch
auf den Herzschlag

Angesetzet, ihn langsam zurückgezogen, mit
hohem

Arme gezielt, und gestoßen, daß dumpf die
eherne Brust ihm

War erschollen, unter des Fallenden Last erschollen

War die Erde. ─


Ges. 16.


  Diese Beispiele bloß zur Erläuterung
des Vorhergehenden. Folgende werden
zeigen, daß Beschreibungen abstracter psychologischer
Gegenstände gerade auf eben
die Art, wie Beschreibungen einzelner Zustände,
gemacht werden.

[300]

Schwindelnd, sprachlos, und bleich, mit weitvorquillendem
Auge,

Blickt das Entsetzen hinunter. ─


Ges. 9.


Religion der Gottheit! du heilige Menschenfreundinn!

Tochter Gottes, der Tugend erhabenste Lehrerinn,
Ruhe,

Bester Segen des Himmels, wie Gott, dein Stifter
unsterblich,

Schön, wie der Seligen einer, und süß, wie
das ewige Leben,

Schöpferinn hoher Gedanken, der Frömmigkeit
seligster Urquell!

Oder wie sonst ein Seraph dich noch, Unaussprechliche,
nennet,

Wenn dein lichtheller Strahl in edlere Seelen
sich senket!

Aber ein Schwert in des Rasenden Hand, des
Bluts und des Würgens

Priesterinn, Tochter des ersten Empörers, nicht
Religion mehr!

Schwarz, wie die ewige Nacht, furchtbar wie
das Blut der Erwürgten,

[301]

Die du schlachtest, und über Altären auf Todten
daher gehst!

Räuberinn jenes Donners, den sich des Richtenden
Arm nur

Vorbehalten! dein Fuß steht auf der Hölle,
dein Haupt droht

Gegen den Himmel empor, wenn dich die
Seele des Sünders

Ungestalt macht, wenn ein Menschenfeind dich zur
Abscheulichen umschafft!


Ges. 4.


  Zu den Schilderungen abstracter psychologischer
Gegenstände gehören auch
die Charaktergemälde, als worin man die
unterscheidenden Eigenschaften eines moralischen
Wesens angiebt. Diese allgemeinen
Ideen macht der Dichter lebhafter:
theils durch Schilderung ünterscheidender
physiognomischer Züge, denen sich oft die
Seele so unverkennbar eindrückt; theils
dadurch, daß er die bleibenden bestimmenden
Ursachen, oder sehr ausgezeichnete [302]
einzelne Äußerungen und Folgen der
Charaktere angiebt, durch welche er das
Allgemeine durchschimmern läßt; theils
auch durch Gebrauch der oberwähnten
dichterischen Hülfsmittel, durch glücklich
gewählte Metaphern, Gleichnisse, Allegorieen,
durch die ganze Energie seines
Stils. ─ Und nicht allein gilt dies von
Charakterschilderungen einzelner moralischer
Wesen; sondern auch ganzer Nationen,
Geschlechter, Alter u. s. f. *.

[303]

  Das Schachspiel, so sagt man, sei für einen
König erfunden. Wenns wahr ist. so ist mirs,
als wenn ich ihn sähe. Er war minorenn an
Verstand oder an Jahren, unter der Vormundschaft
seiner Mutter oder seiner Frau; hatte
Milchhaare im Bart und Flachshaare um die
Schläfe; er war so gefällig wie ein Weidenschößling,
und spielte gern mit den Damen
und auf der Dame, nicht aus Leidenschaft, behüte
Gott! nur zum Zeitvertreib.


Göthe.


Hochgebildet, ein Mann von menschenfreundlichem
Ansehn,

Stand er. Wehmuth und Ernst erfüllte sein
Antlitz; und Adel,

Adel eines empfindenden unbefleckten Gewissens,

Sprach sein ganzes Gesicht,


Mess. Ges. 4.

[304]

Hand in Hand kam Simon der Kananit, und
Matthäus;

Kam Philippus, und kam der Alphäide Jakobus;
Aber Lebbäus allein. Er wollte reden; doch
setzt' er

Sich in die dunkelste Ferne des Saals, und verhüllte
sein Antlitz.

Und Jakobus der Zebedäide, der Sohn des
Donners,

Trat herein, und erhub die Händ' und die Augen
zum Himmel:

„Todt! Er ist todt! Und nichts ist alle menschliche
Größe,

„Auch die wirkliche selbst, sie, die zu glänzen
verachtet,

„Und nur handelt, ist nichts! Denn über ihn
haben Verruchte,

„Haben Tyrannen gesiegt.“ So sprach der Zebedäide,

Ging dann wieder hinaus, und kühlte sich unter
den Palmen.


Ges. 12.


Dieser ist Philippus. Viel menschenfreundiiches
Lächeln

[305]

Bildet die Züge des stillen Gesichts; und treues
Bestreben,

Alle die Gott zum Bilde sich schuf, wie Brüder
zu lieben,

Ist der geliebtere Trieb in seinem göttlichen
Herzen.

Auch hat sein Schöpfer in ihn der süßen Beredtsamkeit
Gaben

Reich gelegt. Wie vom Hermon der Thau, wenn
der Morgen erwacht ist,

Träufelt, und wie wohlriechende Lüfte dem Ölbaum
entfließen,

Also fließet die liebliche Rede vom Munde Philippus.



Ges. 3.


─ Erkenne hier Cheruskier und Catten,
Und lies die Majestät des Volks in seinem
Schatten!

Ein himmelblaues Aug flog durstig nach dem
Sieg;

Ein Körper, stark, genährt, und streitbar in
dem Krieg,

Verkündigte dem Feind den Muth zu großen
Thaten,

[306]

Und ließ auf offner Stirn das sichre Herz errathen.

Unregelmäßig groß, rauh wie sein Vaterland,
Wild ohne Barbarei, und witzig mit Verstand:
So ging dies Volk die Bahn der Unschuld seiner
Väter;

Ein Weichling war der Schritt zum Römer und
Verräther...


Clodius.


  Auch die beschreibende Gattung mischt
sich mit andern Gattungen der Dichtkunst
auf mancherlei Art. Wir werden vielleicht
noch künftig dergleichen Mischungen kennen
lernen, wo sich denn auch Gelegenheit
zu der Untersuchung zeigen wird: inwiefern
auch in dieser Gattung mehr als
Eine Form anwendbar sei.

[figure]

SIEBENTES HAUPTSTÜCK.

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Von der Handlung.

[307]
[figure]


Gewisse Lehrer der Dichtkunst wollen
Epische Werke, wie die eines Lucanus
oder Silius Italicus, zu den didaktischen
Gedichten ziehen, weil sich diese Werke
an die Wahrheit der Geschichte halten,
und Wahrheit nun doch einmal der Stoff
des Lehrgedichts ist. ─ Jedermann fühlt,
daß ein eigentliches Lehrgedicht sich in
Ideen, Verbindung der Ideen, Interesse,
Regeln, von einem solchen historischen
Werk durchaus unterscheidet; daß hingegen
erdichtete epische Werke, eigentliche [308]
Epopöen, mit den historischen Alles
dieses gemein haben: Beschaffenheit ihrer
Theile, Art der Verbindung, Wirkung,
Regeln ihrer Vollkommenheit. Ob die
Facta sich in der Geschichte wirklich so,
wie in dem Werke des Dichters, finden?
thut nichts: denn ist das Werk gut, so
hatten einmal die wahren Facta glücklicher
Weise die erforderliche Schicklichkeit
für den Dichter; und ist das Werk
schlecht, so war es Fehler, solche Facta
gewählt, oder sie nicht nach den Bedürfnissen
der Kunst verändert zu haben. Es
wäre Beleidigung für vortreffliche Lehrdichter,
wenn man die schlechtern epischen,
sobald sie nur der Wahrheit treu
geblieben, von den guten aussondern, und
sie mit jenen in gleichen Rang, wo nicht
gar noch über sie, setzen wollte.


  Um einer so unschicklichen, alle Theorie [309]
verwirrenden, Erweiterung des Begriffes
vorzubeugen, haben wir dem Lehrdichter
zu seiner Materie nicht so schlechthin
nur Wahrheiten, sondern allgemeine
Wahrheiten gegeben. Aber wir müssen
hier der Sache noch ein wenig tiefer auf
den Grund gehn; wir müssen beide Dichtungsarten
auf einem Puncte zu fassen suchen,
wo sie vielleicht am nächsten zusammenstoßen
könnten, und wo also ihre
Verwechselung noch am ersten möglich
wäre. ─ Im „Ödip“ des Sophokles stellt
der unglückliche König eine Untersuchung
über die wahren Mörder des Lajus an,
und diese Untersuchung ist die ganze
Handlung des Stücks. Man denke sich,
daß ein Geschichtforscher die nehmliche
Untersuchung anstellte, indem er alle Umstände
nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit
vergliche, und die Glaubwürdigkeit [310]
der Zeugen nach den bekannten allgemeinen
Grundsätzen darüber beurtheilte;
man nehme an, was zwar freilich sich
nicht wohl absehen läßt, daß eine solche
historische Prüfung dichterischer Stoff werden
könnte, und verwandle also den Geschichtforscher
in einen Dichter; würde
jetzt das Stück noch Handlung, oder didaktisches
Werk seyn? Ohne Zweifel das
letzte, Der ganze Inhalt, der ganze Geist
desselben wäre Räsonnement, wäre Anwendung
allgemeiner Grundsätze auf das
vorliegende Factum, und eine aus diesen
Grundsätzen gezogene Entscheidung der
Frage. ─ Hingegen im Trauerspiele des
Sophokles; wie wird denn da diese Untersuchung
zur Handlung? Sichtbar nur
dadurch: weil hier die Untersuchung nicht
allein eine wichtige Staatsangelegenheit
wird, von deren Gelingen oder Mißlingen [311]
das Schicksal eines ganzen Volks abhängt,
sondern weil auch während derselben
sich nur allzubald verräth, wie innig
das Schicksal des Königs selbst der
sie anstellt, mit ihr verflochten ist; weil
in seinem Herzen, sowie sich ein Umstand
nach dem andern aufklärt, die schrecklichsten
Leidenschaften erwachen; weil es
eben diese Leidenschaften sind, die ihn
auf seinem unglücklichen Wege immer
weiter treiben, und weil am Ende, mit
Entscheidung der Frage, auch sein Schicksal
auf die traurigste, unser ganzes Herz
erschütternde, Art entschieden ist.


  Dieses giebt uns nun auf einmal die
wahre Gränzscheidung zwischen epischen
─ oder da dies Wort schon die Form
mit einschließt, welche hier noch in
keine Betrachtung kömmt, so wollen
wir lieber sagen ─ zwischen pragma- [312]
tischen *
und didaktischen Werken; wir
erkennen, worin sie ähnlich, und worin
sie unähnlich sind. Ähnlich darin: daß
in beiden die Theile als Grund und Folge [313]
zusammenhangen; unähnlich darin: daß
in dem einen die Gründe bloße Ideen
des Verstandes sind, die Verbindung zwischen
ihnen und den Folgen durch bloßes
Räsonnement geschieht, das Resultat
eine bloße Veränderung im System der
Ideen ist; in dem andern hingegen die
Gründe in individuellen Neigungen des
Herzens liegen, die Verbindung zwischen
Beweggründen und Thätigkeiten ist, und
der Erfolg in einer Veränderung des äußern
Zustandes, der äußern Verhältnisse
der Personen besteht. Freilich kann es
auch im Lehrgedicht das Herz seyn, was
ursprünglich den Verstand zur Thätigkeit
reizt, wie das in dem Hallerischen Räsonnement
S. 150 der Fall war; freilich
kann auch da der Ausschlag des Räsonnements
auf Handlung und Zustand der
Personen den wichtigsten Einfluß haben, [314]
wie z. B. in Musarion von Wieland: aber
weder jene Veranlassung, noch dieser Einfluß,
gehört in die Ideenreihe des Lehrdichters;
sondern es wird dann nur, wie
schon S. 207 f. gesagt worden, die eine Materie
mit der andern, die beschreibende
oder pragmatische Gattung mit der didaktischen
verbunden. Kurz: im Lehrgedicht
erscheint der Mensch mehr als denkender
Geist, dem es um Erkenntnisse zu thun
ist; im pragmatischen, mehr als bedürftiger
Mensch, der ein gewisses äußeres Gut
zu besitzen, ein gewisses äußeres Übel
von sich zu entfernen strebt, und der,
zur Erreichung dieses Endzwecks, alle
seine innern und äußern Kräfte aufbeut.


  Wie aber? Können wir denn Räsonnement
zu einem wesentlichen Charakter didaktischer
Werke machen? Fallen nicht
dadurch alle die Kunstgedichte, die nur [315]
eine Menge Regeln hintereinander vortragen,
ohnedaß sie deren Schicklichkeit, als
Mittel zu Endzwecken, zeigten; fallen
nicht alle die gnomischen Werke, in welchen
Sittensprüche und einzelne Erfahrungen
über den moralischen Menschen ohne
Verbindung hingeworfen werden, aus dieser
Classe heraus? ─ Und wie, wenn sie
dies wirklich müßten? Wenn wirklich erst
ein Prior ─ dessen Werth als Lehrdichter
wir übrigens unausgemacht lassen ─
in die Sprüche eines Salomo Räsonnement
hineinlegen müßte, um sie zu wahren
Lehrgedichten zu machen? ─ Wenigstens
läßt sich nicht absehn, warum man,
bei völliger Ähnlichkeit des Grundes, von
didaktischen Werken nicht eben so wie
von pragmatischen urtheilen sollte.


  Und wie urtheilt man denn von pragmatischen
Werken? Auch in diesen läßt [316]
sich die Verbindung der Ideen, eben wie
im Lehrgedicht, aufheben: aber mit dieser
Verbindung findet man dann zugleich
ihren wesentlichen Charakter vertilgt. Man
nennt die bloße Reihe der Begebenheiten
Fabel; und Handlung, behauptet man,
komme in die Fabel erst dann, wenn die
Begebenheiten aus den moralischen Gründen
wovon sie abhangen, aus Gesinnungen
und Leidenschaften freier Wesen, entwickelt
werden. Es kömmt nehmlich bei
aller Handlung, wenn man das Wort im
Sinne der Dichtkunst nimmt, nicht darauf
an: ob es in der That freie Thätigkeiten
sind, die der Dichter bearbeitet? sondern
vielmehr auf die Art wie er sie bearbeitet:
ob er sie in Verbindung mit ihren
moralischen Gründen vorstellt? oder ob
er sie als bloße Phänomene der leblosen
Natur behandelt? Denn diese letztern kann [317]
er nie aus ihren physischen Ursachen hervorspringen
lassen; er kann sie bloß als
einzelne Ereignisse beschreiben. Was wir
die Kräfte der Natur nennen, sind Abstractionen,
von denen wir keine Anschauung
haben, und die daher auch keine dichterische
Bearbeitung vertragen; man müßte
sie denn personificiren, sie in allegorische
Wesen verwandeln: und das hieße im
Grunde nichts anders, als an die Stelle
des physischen Zusammenhanges den moralischen
setzen. Ins Innre der Natur,
sagt der Dichter (Haller):


─ ─ dringt kein erschaffner Geist;
Zu glücklich, wenn sie noch die äußre Schale
weist!


  Und nun: wenn man aus der Classe
echter Handlungen alle unpragmatische
Werke herausstößt, welche nur Facta, ohne
Anzeige ihrer veranlassenden Gründe, [318]
enthalten; warum sollte man nicht ebenso
aus der Classe echter didaktischer
Werke alle die Stücke herauswerfen, in
welchen einzelne Sätze, unentwickelt aus
ihren Erkenntnißgründen, zusammengehäuft
werden? Regeln einer Kunst, ohne
Räsonnement über ihre Verbindung mit
den Zwecken, die erreicht werden sollen;
was sind sie anders als bloße Beschreibungen
eines zu beobachtenden Verfahrens?
Und vollends Sammlungen von
Lebensregeln, moralischen Beobachtungen,
Sprüchen: können sie nur zu irgend einer
Gattung gezogen werden? Sind sie ein
wirkliches Ganze? Wird nicht Alles was
ein Ganzes ist, nur durch Verbindung
der Theile dazu? Ist ein Haufen unordentlich
übereinander liegender Baumaterialien
eine Art von Gebäuden? ─ Wir
sehen, daß wir sehr Recht gethan, da [319]
wir in dem Hauptstück vom Lehrgedicht
diese seynsollende Art desselben lieber
gar nicht in Betrachtung nahmen.


  Doch hinweg von dieser Vergleichung
der pragmatischen und didaktischen Gattung,
um zur Betrachtung der erstern allein
zu kommen! ─ Wenn, wie gesagt,
das Wesen einer jeden Handlung nicht
in den einzelnen Thätigkeiten, außer ihrem
Zusammenhange betrachtet, sondern
selbst in der Art des Zusammenhanges
derselben besteht; wenn ferner dieser Zusammenhang
sich in dem Innern, besonders
in dem Herzen der Menschen befindet,
das mit solchen und solchen Neigungen
ausgerüstet, von solchen und solchen
Gegenständen auf die und die bestimmte
Art gerührt, die und die bestimmten
Absichten faßt, und bei Ausführung derselben
die und die bestimmte Art des Verfahrens [320]
beobachtet: so sieht man schon,
auch ohne noch ein besonderes Beispiel
vor Augen zu haben, was hier Alles zu
betrachten vorkommen kann. Die Erfindung
der Charaktere nach ihren Grundzügen,
besonders nach den herrschenden
Neigungen des Herzens, und die Erfindung
der ursprünglichen Lagen oder Verhältnisse,
welche die Neigungen in Aufruhr
bringen und die Kräfte ins Spiel setzen,
wird die erste Sorge des Dichters
seyn müssen; seine zweite, wie er, nach
den allgemeinen Gesetzen der menschlichen
Natur überhaupt, und nach der besondern
Beschaffenheit der von ihm angenommenen
Charaktere, aus jenen ursprünglichen
Lagen die ganze Folge der
Veränderungen bis zu Ende entwickeln
soll. Schon für die Erfindung, oder wenn
ihm der Stoff in der Natur gegeben wäre, [321]
schon für die Zurichtung dieses ganzen
Stoffs, für Thema und Ausführung
des Thema, werden sich aus dem Gesetz
der Lebhaftigkeit gewisse allgemeine Regeln
ergeben, ohnedaß man noch die
Formen mit in Betrachtung zu ziehen
hätte.


  Unsrer bisherigen Methode nach, wollen
wir auch hier ein einzelnes Beispiel
zum Grunde legen. Es sei folgende sehr
lebhaft erzählte Romanze:


Die Entführung.


„Knapp, sattle mir mein Dänenroſs,
Daſs ich mir Ruh' erreite!
Es wird mir hier zu eng' im Schloſs;
Ich will und muſs ins Weite!“ ─
So rief der Ritter Karl in Hast,
Voll Angst und Ahnung, sonder Rast.
Es schien ihn so zu plagen,
Als hätt' er wen erschlagen.

[322]

Er sprengte, daß es Funken stob,
Hinunter von dem Hofe;
Und als er kaum den Blick erhob,
Sieh da! Gertrudens Zofe!
Zusammenschrak der Rittersmann;
Es packt' ihn, wie mit Krallen, an,
Und schüttelt' ihn, wie Fieber,
Hinüber und herüber.
  „Gott grüß' Euch, edler junger Herr!
Gott geb' Euch Heil und Frieden!
Mein armes Fräulein hat mich her
Zum letstenmal beschieden.
Verloren ist Euch Trudchens Hand!
Dem Junker Plump von Pommerland
Hat sie, vor Aller Ohren,
Ihr Vater zugeschworen.“
  „„Mord, flucht er laut, bei Schwert und Spieß!
Wo Karl dir noch gelüstet,
So sollst du tief ins Burgverließ,
Wo Molch und Unke nistet.
Nicht rasten will ich Tag und Nacht,
Bis daß ich nieder ihn gemacht,
Das Herz ihm ausgerissen
Und das dir nachgeschmissen.““

[323]

„Jetzt in der Kammer zagt die Braut,
Und zuckt vor Herzenswehen,
Und ächzet tief, und weinet laut,
Und wünschet zu vergehen.
Ach! Gott der Herr muß ihrer Pein,
Bald muß und wird er gnädig seyn.
Hört Ihr zur Trauer läuten,
So wißt Ihr's auszudeuten.“
  „„Geh, meld' ihm, daß ich sterben muß ─
Rief sie mit tausend Zähren ─
Geh, bring ihm, ach! den letzten Gruß,
Den er von mir wird hören!
Geh unter Gottes Schutz, und bring
Von mir ihm diesen goldnen Ring,
Und dieses Wehrgehenke,
Wobei er mein gedenke!““ ─
  Zu Ohren braust' ihm, wie ein Meer,
Die Schreckenspost der Dirne;
Die Berge wankten um ihn her:
Es flirrt' ihm vor der Stirne.
Doch jach, wie Windeswirbel fährt
Und rührig Laub und Staub empört,
Ward seiner Lebensgeister
Verzweiflungsmuth nun Meister.

[324]

„Gottslohn! Gottslohn! du treue Magd,
Kann ich's dir nicht bezahlen.
Gottslohn, daß du mirs angesagt,
Zu hunderttausend malen!
Biß wohlgemuth und tummle dich!
Flugs tummle dich zurück, und sprich:
Wärs auch aus tausend Ketten,
So wollt' ich sie erretten.
  „Biß wohlgemuth und tummle dich!
Flugs tummle dich von hinnen!
Ha! Riesen, gegen Hieb und Stich,
Wollt' ich sie abgewinnen.
Sprich: Mitternachts bei Sternenschein
Wollt' ich vor ihrem Fenster seyn,
Mir geh' es, wie es gehe!
Wohl, oder ewig wehe!
  „Risch auf und fort!“ ─ Wie Sporen trieb
Des Ritters Wort die Dirne.
Tief holt' er wieder Luft, und rieb
Sichs klar vor Aug' und Stirne.
Dann schwenkt' er hin und her sein Roß,
Daß ihm der Schweiß vom Buge floß,
Bis er sich Rath ersonnen
Und den Entschluß gewonnen.

[325]

Drauf ließ er heim sein Silberhorn
Von Dach und Zinnen schallen.
Herangesprengt, durch Korn und Dorn,
Kam stracks ein Heer Vasallen.
Draus zog er Mann bei Mann hervor,
Und raunt' ihm heimlich Ding ins Ohr; ─
„Wohlauf! Wohlan! Seid fertig,
Und meines Horns gewärtig!“ ─
  Als nun die Nacht Gebirg und Thal
Vermummt in Rabenschatten,
Und Hochburgs Lampen überall
Schon ausgeflimmert hatten,
Und Alles tief entschlafen war;
Doch nur das Fräulein immerdar,
Voll Fieberangst, noch wachte
Und seinen Ritter dachte:
  Da horch! Ein süßer Liebeston
Kam leis' emporgeflogen.
„Ho, Trudchen, ho! Da bin ich schon.
Risch auf! dich angezogen!
Ich, ich, dein Ritter, rufe dir;
Geschwind, geschwind herab zu mir!
Schon wartet dein die Leiter.
Mein Klepper bringt dich weiter.“ ─

[326]

„Ach nein, du Herzens-Karl, ach nein!
Still, daß ich nichts mehr höre!
Entrönn' ich, ach! mit dir allein,
Dann wehe meiner Ehre!
Nur noch ein letzter Liebeskuß
Sei, Liebater, dein und mein Genuß,
Eh' ich, im Todtenkleide,
Auf ewig von dir scheide!“ ─
  „Ha Kind! Auf meine Rittertreu
Kannst du die Erde bauen.
Du kannst, beim Himmel! froh und frei
Mir Ehr' und Leib vertrauen,
Risch gehts nach meiner Mutter fort;
Das Sacrament vereint uns dort.
Komm! komm! du bist geborgen;
Laß Gott und mich nur sorgen!“ ─
  „Mein Vater ... ach ein Reichsbaron! ...
So stolz von Ehrenstamme! ...
Laß ab! Laß ab! Wie beb' ich schon
Vor seines Zornes Flamme!
Nicht rasten wird er Tag und Nacht,
Bis daß er nieder dich gemacht,
Das Herz dir ausgerissen
Und das mir vorgeschmissen.“ ─

[327]

„Ha Kind! Sei nur erst sattelfest,
So ist mir nicht mehr bange.
Dann steht uns offen Ost und West. ─
O zaudre nicht zu lange!
Horch, Liebchen, horch! .. Was rührte sich?
Um Gotteswillen! tummle dich!
Komm! komm! die Nacht hat Ohren;
Sonst sind wir ganz verloren.“
  Das Fräulein zagte, stand .. und stand ..
Es graust ihr durch die Glieder;
Da griff er nach der Schwanenhand
Und zog sie flink hernieder. ─
Ach! Was ein Herzen, Mund und Brust,
Mit Rang und Drang, voll Angst und Lust,
Belauschten jetzt die Sterne
Aus hoher Himmelsferne!
  Er nahm sein Lieb, mit einem Schwung,
Und schwang's auf den Polacken.
Hui! saß er selber auf, und schlung
Sein Heerhorn um den Nacken.
Der Ritter hinten, Trudchen vorn.
Den Dänen trieb des Ritters Sporn,
Die Peitsche den Polacken;
Und Hochburg blieb im Nacken. ─

[328]

Ach! leise hört die Mitternacht!
Kein Wörtchen ging verloren
Im nächsten Bett war aufgewacht
Ein Paar Verrätherohren.
Des Fräuleins Sittenmeisterinn,
Voll Gier nach schnödem Geldgewinn,
Sprang hurtig auf, die Thaten
Dem Alten zu verrathen.
  „Halloh! halloh! Herr Reichsbaron!
Hervor aus Bett' und Kammer!
Eu'r Fräulein Trudchen ist entflohn;
Entflohn zu Schand' und Jammer!
Schon reitet Karl von Eichenhorst
Und jagt mit ihr durch Feld und Forst.
Geschwind! Ihr dürft nicht weilen,
Wollt Ihr sie noch ereilen.“ ─
  Hui auf der Freiherr, hui heraus,
Bewehrte sich zum Streite,
Und donnerte durch Hof und Haus,
Und weckte seine Leute.
„Heraus, mein Sohn von Pommerland!
Sitz' auf! Nimm Lanz' und Schwert zur Hand!
Die Braut ist dir gestohlen;
Fort, fort! sie einzuholen!“ ─

[329]

Rasch ritt das Paar im Zwielicht schon;
Da, horch! ─ ein dumpfes Rufen ─
Und horch! ─ erscholl ein Donnerton
Von Hochburgs Pferdehufen.
Und wild kam Plump, den Zaum verhängt,
Weit weit voran dahergesprengt;
Und ließ, zu Trudchens Grausen,
Vorbei die Lanze sausen.
  „Halt an! halt an, du Ehrendieb!
Mit deiner losen Beute.
Herbei vor meinen Klingenhieb!
Dann raube wieder Bräute!
Halt an, verlaufne Buhlerinn,
Daß neben deinen Schurken hin
Dich meine Rache strecke,
Und Schimpf und Schand' euch decke!“ ─
  „Das leugst du, Plump von Pommerland,
Bei Gott und Ritterehre!
Herab! herab! daß Schwert und Hand
Dich andre Sitte lehre. ─
Halt, Trudchen, halt den Dänen an! ─
Herunter, Junker Grobian,
Herunter von der Mähre,
Daß ich dich Sitte lehre!“

[330]

Ach Trudchen, wie voll Angst und Noth!
Sah hoch die Säbel schwingen.
Hell funkelten im Morgenroth
Die Damascener Klingen.
Von Kling und Klang, von Ach und Krach,
Ward rund umher das Echo wach.
Von ihrer Fersen Stampfen
Begann der Grund zu dampfen.
  Wie Wetter schlug des Liebsten Schwert
Den Ungeschliffnen nieder.
Gertrudens Held blieb unversehrt,
Und Plump erstand nicht wieder. ─
Nun weh! o weh! Erbarm' es Gott!
Kam fürchterlich, Galopp und Trott,
Als Karl kaum ausgestritten,
Der Nachtrab angeritten. ─
  Trarah! Trarah! durch Flur und Wald
Ließ Karl sein Horn nun schallen.
Sieh da! hervor vom Hinterhalt,
Hop hop! sein Heer Vasallen. ─
„Nun halt, Baron, und hör' ein Wort!
Schau auf! Erblickst du Jene dort?
Die sind zum Schlagen fertig
Und meines Winks gewärtig.

[331]

„Halt an! halt an! und hör' ein Wort,
Damit dich nichts gereue!
Dein Kind gab längst mir Treu' und Wort,
Wie ich ihm Wort und Treue.
Willst du zerreißen Herz und Herz?
Soll dich ihr Blut, soll dich ihr Schmerz
Vor Gott und Welt verklagen?
Wohlan! so laß uns schlagen!
  „Noch halt! bei Gott beschwör' ich dich,
Bevor's dein Herz gereuet.
In Ehr' und Züchten hab' ich mich
Dem Fräulein stets geweihet,
Gieb,.. Vater,.. gieb mir Trudchans Hand!
Der Himmel gab mir Gold und Land,
Mein Ritterruhm und Adel
Gottlob! trotzt jedem Tadel.“ ─
  Ach Trudchen, wie voll Angst und Noth!
Verbluht' in Todesblässe.
Von Zorn der Freiherr heiß und roth
Glich einer Feueresse. ─
Und Trudchen warf sich auf den Grund;
Sie rang die schönen Hände wund,
Und suchte baß, mit Thränen,
Den Eifrer zu versöhnen.

[332]

„O Vater, habt Barmhersigkeit
Mit eurem armen Kinde!
Verzeih' euch, wie Ihr uns verzeiht,
Der Himmel auch die Sünde!
Glaubt, bester Vater! diese Flucht,
Ich hätte nimmer sie versucht,
Wenn vor des Junkers Bette
Mich nicht geekelt hätte.
  „Wie oft habt Ihr, auf Knie und Hand,
Gewiegt mich und getragen!
Wie oft: du Herzenskind! genannt;
Du Trost in alten Tagen!
O Vater, Vater! denkt zurück!..
Ermordet nicht mein ganzes Glück!
Ihr tödtet sonst daneben
Auch eures Kindes Leben.“ ─
  Der Freiherr warf sein Haupt herum,
Und wies den krausen Nacken.
Der Freiherr rieb, wie taub und stumm,
Die dunkelrauhen Backen. ─
Vor Wehmuth brach ihm Herz und Blick;
Doch schlang er stolz den Strom surück,
Um nicht durch Vaterthränen
Den Rittersinn zu höhnen.

[333]

Bald sanken Zorn und Ungestüm;
Das Vaterherz wuchs über.
Von hellen Zähren strömten ihm
Die stolzen Augen über. ─
Er hob sein Kind vom Boden auf;
Er ließ der Herzensfluth den Lauf,
Und wollte schier vergehen
Vor wundersüßen Wehen.
  „Nun wohl! Verzeih mir Gott die Schuld,
So wie ich dir verzeihe!
Empfange meine Vaterhuld,
Empfange sie aufs neue!
In Gottes Namen sei es drum!“ ─
Hier wandt' er sich zum Ritter um ─
„Da! Nimm sie meinetwegen,
Und meinen ganzen Segen!
  „Komm! Nimm sie hin, und sei mein Sohn,
Wie ich dein Vater werde!
Vergeben und vergessen schon
Ist jegliche Beschwerde.
Dein Vater, einst mein Ehrenfeind,
Der's nimmer hold mit mir gemeint,
That Vieles mir zu Hohne.
Ihn haßt' ich noch im Sohne.

[334]

„Mach's wieder gut! Mach's gut, mein Sohn,
An mir und meinem Kinde!
Aufdaß ich meiner Güte Lohn
In deiner Güte finde.
So segne dann, der auf uns sieht,
Euch segne Gott von Glied zu Glied!
Auf! Wechselt Ring' und Hände!
Und hiemit Lied am Ende!“


Bürger.


  Eine aufmerksame Lesung dieses Stücks
muß den Begriff den wir von der Handlung
gegeben haben, nicht bloß erläutert;
sie muß ihn auch bestätigt haben. In dem
Klopstockischen Gemälde des Selbstmörders,
S. 298 f., war es bloß der einzelne
Seelenzustand, die einzelne That des Unglücklichen,
die uns rührte, erschütterte:
unsre ganze Empfindung war ein schreckenvolles
Anschauen der Gegenwart; in
der Bürgerischen Erzählung ist es weit
weniger Anschauen der Gegenwart, als [335]
Erwartung der Zukunft, was uns beschäftigt:
wir wünschen, hoffen, fürchten; wir
haben von Anfang bis zu Ende eine unruhige
Ahnung des Ausganges; kurz: wir
werden, im genauesten Verstande des
Worts, interessirt. Diese Art der Wirkung
aber rührt sichtbar nur daher: weil
wir in dem Gegenwärtigen schon den
Saamen der Zukunft, die Gründe der
nachfolgenden Veränderungen erblicken;
Gründe, die indeß für den letzten Erfolg,
welchen wir erwarten, noch nicht entscheidend,
nicht zureichend sind, und die
daher noch immer die Möglichkeit eines
andern Erfolges übrig lassen. ─ Es können
sich aus dem Innern der Charaktere
selbst glückliche Ideen entwickeln: andre
Neigungen können darin durch gelegentlichen
Reiz bis zum Überschwunge mächtig
werden; oder auch in der umgebenden [336]
übrigen Natur, die eine uns verborgene
Hand lenkt, können sich unvermuthete
Begebenheiten, Umstände von dem
wichtigsten Einflusse hervorthun: die Personen
können in ihrem Laufe auf einem
nie völlig bekannten Meere plötzlich an
Ströme, an Untiefen gerathen, die auf
einmal ihre Absichten hemmen und alle
ihre Maßregeln verwirren. Da diese Art
der Wirkung, dieses Hineintreiben der
Seele in eine ungewisse, nur halb erhellte
Zukunft, der pragmatischen Gattung so
wesentlich ist, und durch keine andre
Art von Wirkung ersetzt werden kann;
so muß der Dichter, um das zu seyn wofür
er sich ausgiebt, Alles anwenden, was
zur Erreichung oder Verstärkung derselben
beiträgt. In der Bürgerischen Erzählung
fanden wir sie in einem hohen Grade
erreicht; aber auf welchen Wegen? durch [337]
was für Mittel? Wie hat der Dichter Charaktere
und Situationen angelegt; wie sie
durchgeführt, daß wir ihm bis zu Ende,
nicht nur mit so viel Bereitwilligkeit, sondern
selbst mit so viel Begierde, folgen?


  Unter den Personen die er uns vorführt,
sind nur zwei, deren Interesse das
unsrige wird, und um derentwillen wir
auch auf die übrigen aufmerksam werden.
Wir finden das Schicksal von beiden innigst
in einander verwebt; ihre Absichten
sind daher auch im Grunde die nehmlichen,
und die eine Person kann ohne die
andere weder glücklich noch unglücklich
werden. Wäre ihr Schicksal nicht so relativ,
nicht so Eins; so würden wir nur
Eine Person fordern, die uns vor Allen
interessirte: denn zu einem doppelten, zu
einem vielfachen Interesse ist unsre Seelenkraft
zu beschränkt; und ein entgegengesetztes [338]
anzunehmen, wäre unmöglich.
Nur geschwächt könnte durch das eine
Interesse das andere, nur so zweideutig
und veränderlich könnte es werden, daß
wir uns bald mehr nach dieser, bald mehr
nach jener Seite neigten: und das wäre
denn eine Anlage, die allem Endzweck
der Kunst zuwiderliefe, weil sie dem
ganzen Werk seine Lebhaftigkeit nähme.
Doch auch dies scheint nicht hinlänglich
zu seyn, daß Glück und Unglück mehrerer
Personen innigst verflochten seyn
müssen; denn wären dieser mehrern zuviel,
so wäre abermal, wegen der natürlichen
Einschränkung unsrer Seelenkraft,
kein ganz lebhaftes Interesse möglich. Die
vielen einzelnen Wesen würden in Eine
allgemeine Idee zusammenfließen, die immer
undichterisch, immer ohne Wärme
und Kraft ist. Wenn daher in einem Werk [339]
eine größere Zahl von Menschen; wenn
ein ganzes Volk erscheint, das zu Einem
gemeinsamen, ungetheilten Interesse seine
Kräfte vereinigt: so muß doch Einer vor
der verwirrten Menge von Menschenköpfen
voranstehen, der so viel größer, ausgezeichneter,
beleuchteter sei, daß unsre
vorzügliche Aufmerksamkeit sogleich auf
ihn falle, und sein Bestes, seine Wirksamkeit
uns vor allem Andern beschäftige.


  Doch damit ist nur noch die Zahl der
interessirenden Charaktere, nicht ihre zum
Interessiren nothwendige Beschaffenheit bestimmt.
Ein unumgängliches Vorauserforderniß,
wie zu jeder andern Eigenschaft,
so auch zum Interesse eines Gedankens,
ist seine innere Möglichkeit, seine Wahrheit;
denn ohne diese kann die Seele den
Gedanken durchaus nicht fassen, oder vielmehr,
er hört auf ein Gedanke zu seyn: [340]
er wird nichts. Also auch bei dem Charakter
wird keine Eigenschaft eher erfordert
werden, als daß er möglich, denkbar,
ohne innern Widerspruch sei. ─ Karl
von Eichenhorst, fanden wir, war ein feurigverliebter,
ein tapfrer, entschloßner,
für die Ehre seiner Geliebten und seine
eigne höchstempfindlicher, ein edelherziger,
rechtschaffner, zugleich aber heftiger
Jüngling; das waren viele, mannichfaltige,
aben nicht widersprechende, nicht unvereinbare
Züge. Seine Geliebte ersetzte an
Zärtlichkeit, was ihr an Feuer gebrach;
mit ihrer Leidenschaft für den Ritter verband
sie das wärmste Gefühl ihrer Kindespflicht;
zugleich war sie für ihren Ruf,
für ihre Ehre äußerst besorgt; und bei
jeder Gefahr, jeder Gelegenheit, wo zu
wagen war, furchtsam. Auch hier hatten
wir wieder mannichfaltige, aber mit einander [341]
verträgliche Eigenschaften; so verträglich,
daß wir zu der einen die andre
schon als wahrscheinlich ahneten, und befremdet
würden gewesen seyn sie anders
zu finden.


  Wozu aber, könnte man fragen, diese
Vielheit, diese Mannichfaltigkeit in einem
Charakter, da doch die innere Möglichkeit
desselben seine erste, vornehmste Eigenschaft
ist, und die Gefahr des Widerspruchs
um so mehr abnimmt, je mehr
ihn der Dichter vereinfacht? ─ Freilich
wäre dieses Vereinfachen zu dem angegebenen
Endzweck ein sehr sichres bequemes
Mittel, wenn nur nicht auf der
andern Seite die dichterische Schönheit
verloren ginge, und zugleich ein neuer
Widerspruch, nur von anderer Art, entstände.
Ein Mensch der immer nur Eins
ist, immer nur Eine Seite, Eine Eigenschaft [342]
zeigt; mit einem Wort: ein personificirtes
Abstractum, ist eine in ihrem
Innern ärmere, mithin minder lebhafte
Idee; auch ersetzt die Erhöhung des Grades
dieser Einen Eigenschaft den Mangel
an dichterischer Lebhaftigkeit nicht: denn
ein einfacher, wenn auch noch so durchdringender,
Ton ist doch immer nicht
eine ganze Harmonie von Tönen, und
eben sein Durchdringendes, Schneidendes
macht ihn dem Ohre nur um so eher widrig.
Ein Mensch, der nichts als liebt
oder haßt, nichts als würgt oder wohlthut,
nichts als lacht oder trauert, oder
der auch bei der sonstigen Mannichfaltigkeit
seines Charakters, nur darin keine
Mannichfaltigkeit zeigt, daß er das was
er ist, immer gleich sehr ist: so ein Mensch
ist, eben um dieser Armuth seines Charakters
willen, ein undichterischer, ein zu [343]
den besten, wirksamsten Situationen unbrauchbarer
Mensch. Denn bei ihm geht
der so interessante innere Kampf der Leidenschaften,
geht der melodische Wechsel
von Tönen und Empfindungen verloren;
auch wird unsre Erwartung, wie ihn
dieser und jener Vorfall rühren, was er
für Entschließungen fassen, zu welchen
Mitteln er greifen werde, in weit geringerem
Grade gespannt, da wir schon Alles
aus seinem einseitigen, immer gleichem
Charakter so ziemlich voraussehn. Was
aber das Wichtigste ist; so läßt sich so
ein Mensch nicht als wirklich denken,
und doch soll er thätig seyn, handeln.
Wir erblicken eine Figur von nur Einer,
von unwandelbarer Miene und Stellung:
und doch sollen wir uns bereden, daß
diese Figur ein belebtes Wesen, daß sie
mehr als todtes Werk einer Kunst sei, [344]
welche schönen, frappanten, aber für die
Beachtung zu schnell vorüberfliehenden
Augenblicken Dauer giebt, damit sich der
Zuschauer mit dem Genuß derselben sättigen
könne. ─ Indeß geht freilich diese
ganze Anmerkung nur auf Werke von
weiterem Umfang, von größerer Mannichfaltigkeit
der Verhältnisse, worin der Charakter
gestellt wird: denn in sehr einfachen
Handlungen kann oft nur ein einziger
simpler Charakterzug durch seinen
Adel, seine Schönheit und Größe gefallen.
So in dem Liede „vom braven
Mann,“ einem der vorzüglichsten Stücke
unsers Dichters, wo die Thätigkeit nur
Eine ist; denn daß sie mehrmalen wiederholt
wird, vervielfacht nicht die Glieder
der Handlung: es ist der nehmliche
bleibende, aber durch seinen ausnehmenden
Adel außerst rührende Beweggrund, [345]
der die dreifache That hervorbringt. Auch
bloße Nebenpersonen, wie in unsrer Romanze
die Zofe, oder Junker Plump, die
nur einmal, nur auf Augenblicke erscheinen,
können freilich ihre Charaktere nicht
ganz entwickeln; und eigne Episoden anzulegen,
um zu dieser Entwickelung Raum
zu gewinnen, würde den Eindruck der
Haupthandlung schwächen.


  Wenn denn aber, könnte man denken,
eine harmonische Mannichfaltigkeit der
Züge die Charaktere dichterisch macht; so
müßte derjenige Charakter der am meisten
dichterische seyn, welcher so viele
Eigenschaften verbände, als immer möglich:
und das würde gerade der, der Alles
wäre, ohne irgend etwas so recht zu
seyn; der bald so dächte bald anders,
bald wollte bald nicht wollte; der immer
nichts durch sich selbst, Alles nur durch [346]
die Umstände wäre, von denen er sich
intallerlei Gestalten bilden, in allerlei Directionen,
bald hiehin bald dorthin, treiben
ließe. Man sagt hierauf ganz recht:
daß so ein Charakter eigentlich gar kein
Charakter sei; aber wie, wenn also gar
kein Charakter der beßre, der für die
Dichtkunst brauchbarere wäre? Wozu
überhaupt ein Charakter; wozu das Consistente
und Feste, wenn uns das Weiche
und Schlaffe vortheilhafter, nützlicher ist?
Oder sagt uns vielleicht alle unsre Erfahrung,
daß keine so weiche, unsichre,
schwankende Sinnesart jemal wirklich gewesen
sei? Sie sagt uns wohl eher das
Gegentheil; aber damit ist der Dichter
der eine solche Sinnesart schildert, noch
nicht gerechtfertigt: es fragt sich zuvor,
ob er Wirkung damit hervorbringen, ob
er interessiren könne? Ein so schwacher, [347]
in Empfindungen und Entschließungen so
schlaffer, wandelbarer Mensch ist keiner
lebendigen Eindrücke und Begierden, die
er uns mittheilen könnte, keiner festen
Absichten und Entwürfe, in die er uns
mit hineinzöge, fähig: es fällt also alle
wärmere Theilnehmung an seinem Schicksal
weg; er kann in einem Werke höchstens
nur als Neben-, als Mittelsperson
figuriren. Dazu kömmt noch eine andere
Betrachtung; diese: daß bei einem so unbestimmten
Charakter die Zukunft nun um
eben so viel zu dunkel wird, als sie bei
dem allzubestimmten einſörmigen zu hell
ward, und wir also bei jenem noch mehr,
als bei diesem, das Vergnügen der unruhigen
Vorhersehung entbehren; ein Vergnügen,
welches doch pragmatischen Werken
ihren schönsten Reiz, ihr größtes und
eigenthümlichstes Verdienst giebt.

[348]

  Ein zweiter Blick auf die Charaktere
unsrer beiden Liebenden wird uns bald,
außer ihrer innern Möglichkeit, eine noch
andre, nicht minder merkwürdige, Eigenschaft
an ihnen zeigen. Karl und Gertrude
sind beide jung, beide von edlen und
stolzen Häusern; jener ist Mann, diese
Mädchen. Wir würden es sonderbar finden,
wenn sie bei ihrer Jugend mehr
kalt als feurig, mehr träge als rasch, mehr
bedächtig als unbesonnen wären; wenn
sie bei ihrer edlen Herkunft mehr eine
kriechende als eine stolze Denkungsart
äußerten; oder wenn sie ihre beiderseitigen
Rollen wechselten, der Mann zaghaft,
das Mädchen beherzt, jener zurückhaltend,
dieses ungestüm wäre. Von jedem
Alter, jedem Stande, jedem Geschlecht
haben wir gewisse Gattungsbegriffe
festgesetzt, die wir in den einzelnen [349]
Individuen wiederzufinden erwarten; und
obgleich Ausnahmen von der Gattung
möglich sind, so sind sie doch immer
weniger wahrscheinlich, als die unter der
Regel begriffenen Fälle. Die Ideen von
diesen letztern nehmen wir leichter an;
wir bilden sie, eben wegen ihrer Harmonie
mit den schon vorhandenen Ideen,
weit schneller, lassen uns weit eher von
ihnen täuschen. Wenn daher die eigenthümliche
Beschaffenheit der Fabel nicht
ausdrücklich das Ungewöhnliche, das Außerordentliche
fordert; so wird der Dichter
wohlthun, die Gattungsbegriffe ungekränkt
zu lassen, und seine Erfindungskraft,
seine Originalität, so wie Shakspeare
und die Natur, mehr durch Abänderung
der gewöhnlichen, als durch
Bildung grotesker Formen zu zeigen. Das
Nehmliche gilt von Nationen, Zeitaltern, [350]
Himmelsstrichen u. s. f.: denn auch von
diesen haben wir Begriffe bei uns festgesetzt,
die wir nicht ohne Befremden vermissen;
obgleich freilich ein Mensch sein
Volk, sein Jahrhundert, sein Geschlecht
übertreffen, oder doch sonst mannichfaltig
von der Regel abweichen kann. Selbst
dieses Übertreffen und Abweichen aber
hat denn doch seine Grade, die wir wenigstens
fühlen, wenn wir sie auch nicht
angeben können. ─ Am strengsten wird
der Dichter, in Ansehung der äußern
Sitten, der Künste, der Gebräuche einer
Nation, insofern dieselben ausgemacht und
bekannt sind, verfahren müssen; denn
auch im unbekannteren Costume eine zu
gelehrte Genauigkeit zu fordern, wäre pedantisch.



  Charakter ist Inbegriff der Fähigkeiten,
der Neigungen eines moralischen Wesens; [351]
aber Fähigkeiten sind noch nicht wirkliche
Kraftäußerungen, Neigungen noch
nicht Begierden: also ist mit dem Charakter
noch nichts, als bloß die Möglichkeit
einer Handlung erfunden. Soll wirklich
Handlung entstehen: so müssen die
Kräfte Gelegenheiten finden, die sie ins
Spiel setzen; den Neigungen müssen sich
individuelle Objecte darbieten, die sie
in Begierden verwandeln. Es giebt der
menschlichen Neigungen mancherlei; eben
so mancherlei, als Güter und Übel; aber
nicht alle erwecken unsre Theilnehmung
in gleichem Grade. Je geistiger die Güter
oder die Übel sind; je weniger die
Begierden thierischen Instinct, je mehr
sie menschliches Empfindniß voraussetzen:
desto mehr lassen wir uns in dieselben
ein; aus dem ganz einfachen Grunde:
weil wir uns um so klarere und vollständigere [352]
Ideen von ihnen bilden. So war
in unsrer Romanze die Liebe des Ritters
und seines Fräuleins beschaffen: eine Liebe,
von der es sich leicht verräth, daß
sie mehr als thierischer Trieb, daß sie
feineres Bedürfniß des Herzens sei; und
die uns noch überdies, nach allen Umständen,
als eine erlaubte, selbst als eine
lobenswürdige Leidenschaft erscheint.


  Doch dies allein ist es noch nicht, was
unser ganzes Interesse an dieser Liebe bewirkt.
Denn, dürfte die Begierde beider
Liebenden nur den gewöhnlichen gebahnten
Weg gehen; wären Alle die in die
Sache zu reden haben, eben so zufrieden
mit ihrer Vereinigung, wie sie selbst;
brauchte es zur Befriedigung ihrer Leidenschaft
nur ganz einfache, leichte, von
selbst sich darbietende Thätigkeiten: so
würde uns dieser alltägliche Liebeshandel [353]
eben so viel Überdruß, als jetzt Vergnügen,
machen. Hingegen, daß der Vater
sich dieser Liebe schlechterdings widersetzt;
daß er der Tochter einen andern
unwürdigen Liebhaber aufdringen will,
den ihr Herz verabscheut; daß dem Ritter
nichts anders übrig bleibt, als eine
nächtliche gefahrvolle Entführung; kurz,
daß sich bei der Befriedigung dieser Leidenschaft
so große Hindernisse ereignen,
welchen zu begegnen so schwer ist: das
hält unsre Aufmerksamkeit auf diese Geschichte
so gespannt; erwärmt uns für
die Sache der beiden Liebenden so sehr;
giebt der ganzen Handlung ihren dichterischen
Werth, ihre Schönheit. Erst da
die Liebenden einander verlieren sollen,
empfinden sie es nach seiner ganzen
Stärke, was sie einander werth sind; erst
da wird ihre Leidenschaft, und unsre [354]
Theilnehmung, mächtig; erst da kommen
in der unternehmenden Seele des Ritters
alle Kräfte in Aufruhr, um Anschläge zu
ersinnen, in die wir uns mit ihm einlassen:
von denen wir, halb voll Furcht,
halb voll Hoffnung, die möglichen guten
und schlechten Erfolge voraussehn.


  Sind denn nun aber Schwierigkeiten;
ist das was man einen Knoten, eine Verwicklung
nennt, zu jeder dichterischen
Handlung nothwendig? Kann eine Handlung
ohne Verwicklung nicht ihr volles
Interesse, ihr volles Leben und Feuer haben?
─ Die Antwort hierauf giebt die
allgemeine Bemerkung: daß Güter und
Übel jeder Art um so größer erscheinen,
je schwerer sie zu erreichen oder abzuwenden
sind; daß mithin durch Schwierigkeiten,
die sich der Befriedigung entgegensetzen,
jede Begierde an innrer [355]
Stärke und Hitze wächst; daß auch nur
bei Hindernissen die volle Anstrengung
der Kräfte, und jene interessante Unsicherheit
der Zukunft Statt hat, die uns
in pragmatischen Werken immer so viel
mehr und angenehmer, als die Gegenwart,
beschäftigt. Ein Knoten also, aus
was für einer Art von Schwierigkeiten er
übrigens auch geschürzt, und wie fest
oder wie lose er auch geschürzt seyn
mag, ist zu jeder Handlung, die interessiren
soll, unentbehrlich. Nur fragt sich's
hier noch: wie viel Arten von Schwierigkeiten
es geben könne, und welche die
mehr dichterische, die interessantere sei?


  In unsrer Romanze, sahen wir, lag der
Knoten hauptsächlich in entgegenstehenden
Begierden Anderer, die zu überwinden
oder doch unwirksam zu machen
waren; und in einigen der untergeordneten [356]
Situationen lag er noch überdies in
einem innern Widerstande, da die Personen,
um die eine Neigung zu befriedigen,
eine andre zuvor überwinden mußten. ─
In dem „Liede vom braven Manne“ zeigen
sich keine Parteien, wo die eine so,
die andere anders wollte: Aller Begierde
ist einhellig auf die Rettung einer unglücklichen
Familie gerichtet; die Schwierigkeit
liegt theils in der todten Natur, in
der Wuth des Eisganges, die das Hinansteuern
gefährlich macht; theils in dem
Sträuben der Selbstliebe gegen eine so
gewagte, mißliche Unternehmung. Im
„Ödip“ des Sophokles liegt der Knoten
in der Dunkelheit eines Factums, dessen
Aufklärung die ganze Begierde des geängstigten
Königs reizt, ohnedaß sogleich
die Mittel dazu vorhanden oder hinreichend
wären. In Geßners „Erstem Schiffer“ [357]
liegt er in dem Mangel eines Mittels,
die weite Strecke ins Meer hinaus
bis an das entfernte Eiland zu kommen,
wo die ganze Seele des Jünglings hinstrebt.
In Diderots „Hausvater“ liegt er
hauptsächlich in der Unwissenheit Aller
von Sophiens wahrem Herkommen und
Stande. ─ Wenn wir diese sämmtlichen
Fälle vergleichen; so liegen die Schwierigkeiten,
die Hindernisse, die sich der
Erfüllung einer Begierde widersetzen, entweder
in der körperlichen, oder in der
geistigen Natur; und im letztern Falle
entweder in der Seele dessen selbst der
die Begierde nährt, oder in Anderer Seelen:
wo denn abermal in beiden Fällen
entweder ein schwer zu hebender Mangel
der Erkenntniß im Verstande, oder
eine mächtige Leidenschaft im Herzen den
Widerstand thut. Aber nicht immer ist, [358]
wie wir gesehen haben, der Knoten nur
einfach geschürzt: insgemein verbinden
sich der Schwierigkeiten mehrere; und je
vielfacher, je größer dieselben sind, je
zweifelhafter es wird, ob und wie die
Maßregeln dagegen gelingen werden, desto
vollkommner ist die Verwicklung.


  Überhaupt erkennt man leicht, daß, bei
übriger Gleichheit der Umstände, diejenige
Verwicklung die vollkommnere sei, wo
Leidenschaft gegen Leidenschaft kämpft:
denn was die Kräfte der körperlichen Natur
betrifft, so ist unsre Kenntniß davon
zu dunkel, unsre Vorhersehung zu eingeschränkt;
wogegen wir, da wo Leidenschaften
kämpfen, von beiden streitenden
Theilen volle lebhafte Begriffe und mithin
zur Ahnung des wahrscheinlichen Erfolges
mehr Data haben. Ob die Fluth
den großmüthigen Menschenfreund, der [359]
eine unglückliche Familie zu retten, in
den nächsten besten Kahn springt, verschlingen,
oder ob er glücklich durchkommen
werde? das hängt von Umständen
ab, die zu weit außer unserm Gesichtskreise
liegen. Aber ob Gertrude sich
dem Verlangen des Ritters fügen, ob ihr
fußfälliges Flehen den Vater rühren werde?
das sind Fragen, auf welche wir in
uns selbst und in unsrer Kenntniß vom
Menschen schon so ziemlich die Antworten
finden. Auch können wir nur da, wo
beide Principien moralisch sind, das eine
verachten, indem wir das andre bewundern,
das eine hassen, indem wir das
andre lieben: und so wird in dem einen
Falle unser sittliches Empfindungsvermögen
weit mehr als in dem andern beschäftigt.
─ Unwissenheit, Irrthum, wenn
sie nicht mit endern Leidenschaften vergesellschaftet [360]
sind, sind ebenfalls nur wie
todte Principien, gegen welche die eine
lebendige Kraft der Begierde kämpft: ein
offenbar schwächeres Interesse, als da entstehen
muß, wo die mehrern mit einander
verwickelten Kräfte alle lebendig sind;
wo an beiden Seiten des Streits Geist und
Herz in vollem Aufruhr ist, und Begierden
gegen Begierden ringen. ─ Indeß
kann doch der Knoten, der aus Unwissenheit
oder Irrthum entsteht, ungemein
interessant werden: dann nehmlich, wenn
nicht die handelnde Person, aber wir, von
der wahren Lage der Dinge unterrichtet
ist: wenn jene, in ihrer Unwissenheit, ganz
gegen ihr wahres Interesse, gegen unsre
eigne Begierde handelt, wie wir sie gern
handeln sähen; wenn wir schon vorausempfinden,
welches schreckliche Elend
die Person sich auf die Zukunft bereiten [361]
werde, wenn die Umstände die ihr jetzt
noch verborgen bleiben, sich einmal aufklären
werden.


  Da in unsrer Romanze mehrere Personen
in die Handlung verflochten sind;
so bringt uns das, von der Betrachtung
der Lage der Hauptpersonen, auf die
Charaktere zurück, die wir vorhin nur
noch einzeln betrachtet haben. Wir müssen
sie jetzt noch als Gesellschaft, als
Gruppe von Charakteren, in ihrer Verbindung,
in ihrer Gegeneinanderstellung,
betrachten.


  Ohne Zweifel könnten diese Charaktere
weit gleichförmiger, einander weit
ähnlicher; die Liebhaber z. B. könnten
ungefähr von gleichem Schlage, und auch
der Vater im Grunde wenig von ihnen
verschieden seyn. Allein ganz sichtbar
gewinnt bei der Einrichtung des Dichters [362]
die Handlung an Wahrheit, an Kraft der
Beweggründe, und eben dadurch auch an
Vermögen zu interessiren. Denn nun begreift
man um so eher die Abneigung des
Fräuleins gegen den einen, und ihre innige
Zärtlichkeit gegen den andern Liebhaber:
ihre Leidenschaft wird weniger als
eigensinnig, mehr als rechtmäßig erkannt;
durch die Gerechtigkeit, die Entschiedenheit
ihrer Leidenschaft wird auch die Unternehmung
des Ritters, die sonst Eingriff
in die heiligen Rechte des Vaters wäre,
mehr lobens- als tadelnswürdig; wir treten
völlig auf seine Partei, und begleiten
ihn mit unsern besten eifrigsten Wünschen.
Der andre Liebhaber empört uns durch
eben das wodurch er Gertruden empört,
durch seine Rohheit, durch den Mangel
aller feinen Empfindung, womit er der
väterlichen Gewalt verdanken will, was [363]
er bloß der Liebe der Tochter sollte verdanken
wollen; und nicht weniger empört
uns der Vater durch seine ungerechte
Rachgier, durch die Wildheit seiner Drohungen,
die Gewaltsamkeit seiner Maßregeln.
Die ganze Handlung hindurch erblicken
wir mehr Vollkommenheit auf der
einen, als auf der andern Partei; und eben
dadurch wird das Interesse, das sonst ungewiß
und schwankend würde geblieben
seyn, entschieden. ─ Allein auch schon
ohne Rücksicht auf Interesse, gewinnt das
Werk durch diese Entgegensetzung der
Charaktere; es wird in seinen Theilen
mannichfaltiger, und jeder einzelne Charakter
tritt durch die Wirkung des Contrastes
mehr ins Licht; seine Merkmaale
werden anschaulicher, werden weiter hervorgehoben.



  Um von diesem allgemeinern Vortheile [364]
zuerst zu reden: so scheint es, daß der
Dichter ihn desto sichrer, desto vollständiger
erlangen würde, wenn er die Charaktere
ganz vollkommen contrastirte; das
heißt, wenn er überall dem einen Äußersten
das andre, z. B. der Verschwendung
den Geiz; oder wenn er auch der Unvollkommenheit
die wahre Vollkommenheit,
z. B. einem von jenen Lastern die wahre
Sparsamkeit, entgegenstellte. In der That
haben Einige einen solchen Contrast nicht
bloß empfohlen, sondern fast zur Regel
gemacht; und läugnen kann man es nicht,
daß nicht beiderlei Charaktere dadurch
auffallender, als durch bloße Schattirungen,
werden: denn Weiß wird durch
Schwarz freilich mehr, als durch Grau,
gehoben. Aber, sollte es gleichwohl nicht
rathsam für den Dichter seyn, daß er so
scharfe, schneidende Contraste lieber vermiede? [365]
Ist es eben so natürlich, so gewöhnlich,
mithin eben so wahrscheinlich,
daß Menschen von ganz entgegengesetzter,
als von nur verschiedener, Denkungsart
mit einander ins Spiel gerathen? Und
wenn man nun auch der Dichtkunst ihr
hergebrachtes Recht auf das Ungewöhnliche,
auf das Außerordentliche gern einräumt:
gehen nicht vielleicht andere Vortheile
von mehr Bedeutung dabei verloren?
─ Zuerst sieht man leicht, daß dergleichen
in stetem Contrast gehaltene Charaktere
zu sehr an die einseitigen streifen;
und daß also Alles was gegen diese gesagt
worden, auch gegen jene, und zum
Theil gegen jene noch mehr, gilt. Denn
wenn, schon außer dem Contraste, das
Vergnügen der Erwartung vermindert
ward, wo die Charaktere zu einförmig
waren: wie viel mehr noch muß dieser [366]
Nachtheil erfolgen, wo wir, vermöge des
Contrastes, aus dem Betragen des Einen
das Betragen des Andern schon sicher errathen
können! Zweitens verlieren dergleichen
Charaktere, die immer das Äußerste
vorstellen, an einer höchstwichtigen,
zur Erweckung und Unterhaltung
der Aufmerksamkeit unentbehrlichen Eigenschaft:
an der Neuheit. Die äußerste
Unvollkommenheit, und die höchste Vollkommenheit,
einer Eigenschaft sind immer
das Bekanntere; in den Mischungen, in
den so unendlich mannichfaltigen Abstufungen
und Modificationen, liegt eigentlich
das Verdienst der Originalität, der
Erfindung. ─ In den beiden Meisterstücken
unsers größten Charakterzeichners:
in „Minna von Barnhelm“ und „Nathan
dem Weisen,“ ist auch in der That keiner
der Charaktere in vollen Contrast gestellt. [367]
Aber einen andern feinern Kunstgriff
hat der Dichter gebraucht, wodurch
er sie alle hervorhebt, diesen: daß jeder
Charakter an jedem etwas Anderes ins
Licht setzt, und daß der volle Contrast
zwar nie in einem der andern Charaktere
allein liegt, aber dafür in die ganze übrige
Gesellschaft der Charaktere verstreut ist.
Auch in seinem „Freigeist“ hat er diesen
nehmlichen Kunstgriff, und sehr glücklich,
gebraucht.


  Was den andern Vortheil betrifft, den
der Dichter von der Verschiedenheit seiner
Charaktere zieht, da er durch sie das
Interesse entscheidet; so fragt sichs: ob
dieses Interesse überall, wie hier, durch
die größere moralische Güte der Personen,
durch die größere Rechtmäßigkeit
ihrer Leidenschaften; oder wie es noch
sonst, und wie am vollkommensten, am
wirksamsten, könne entschieden werden?

[368]

  Da, wo der Mensch für sich allein erscheint,
kann er uns freilich, wie Crusoe,
bloß durch das Interesse der gemeinschaftlichen
Natur rühren: durch seine Noth,
seinen verlaßnen Zustand; wir dürſen keine
Vorzüge des Herzens an ihm erblicken,
um Theil an seinem Leiden zu nehmen,
und uns jeder sich darbietenden Erleichterung
desselben zu freuen. Aber, wo der
eine Mensch gegen den andern auftritt;
wo das Interesse der gemeinschaftlichen
Natur uns für Beide gleich, und also im
Grunde für Keinen erwärmen müßte: ist
es da gerade nür die größere Güte der
Sache, die größere moralische Vollkommenheit
der Charaktere, was uns mehr
auf diese als auf jene Partei zieht? ─ In
der Geschichte sind oft Gesinnungen und
Unternehmungen zweier Parteien gleich tadelnswürdig,
gleich ungerecht; und doch [369]
haben wir für die eine mehr gute Wünsche
als für die andre; darum: weil wir
bei ihr mehr Geist, mehr Plan, mehr Thätigkeit
finden; weil wir finden, wie größere
innere Kraft bei geringern äußern
Kräften den Vorzug hat; vielleicht auch,
weil sich noch sonst eine gewisse Parteilichkeit
einmischt, indem die eine mehr
als die andre zu den unsrigen gehört.
Wir nehmen nur allzugern die Partei eines
cultivirtern gegen ein uncultivirteres,
eines europäischen gegen ein auswärtiges
Volk, eines Menschen von unserm gegen
einen Menschen von anderm Stande. Nur
muß dieser größere Geist, dieser mehr
zu den Unsrigen gehörige Mensch, nicht
in oſfenbarem Kampfe wider Unschuld
und Gerechtigkeit begriffen seyn: oder er
wird uns um so schrecklicher, je mehr
wir von der Größe seines Geistes zu [370]
fürchten; um so verhaßter, je mehr wir
uns unsrer Verbindung mit ihm zu schämen
haben. ─ Eine andere Bemerkung
ist: daß sonstige Güte eines Charakters
uns oft gegen die gerechtere Sache besticht,
indem sie uns an dieser gerechtern
Sache der Gegenpartei zweifelhaft
macht. Besonders vermögen dieses Leutseligkeit,
Gefälligkeit der Sitten, Dienstfertigkeit,
freigebige Großmuth, innige
Liebe und Anhänglichkeit; mit einem Wort:
alle die Tugenden, die mehr von jedem
einzelnen Menschen können genossen werden,
und deren Gutes sich unmittelbarer
ankündigt. Es ist vielleicht noch weniger
der größere, kühnere, unternehmendere
Geist des Cäsar, als seine Humanität, seine
Herablassung, seine bei so mancher Gelegenheit
sich äußernde Herzenswärme,
seine Freigebigkeit, sein Edelmuth im Verzeihen; [371]
was uns mehr für ihn als den
Pompejus erwärmt, dessen Sache freilich
auch nicht rein, jedoch die beßre, die
von allen den würdigsten Männern des
Staats unterstützte war, dessen Charakter
hingegen weit weniger Einnehmendes hatte.
Aber auch hier muß wieder der geschliffene,
leutselige, dienstfertige Mann nicht
als offenbarer Feind der Gerechtigkeit und
Unschuld erscheinen; wir müssen glauben,
daß seine Tugenden aus dem Herzen kommen,
oder wir fangen an, ihn als das
größte aller moralischen Ungeheuer, als
Heuchler, als abgefeimten Verräther, zu
hassen.


  Aus diesem Allen folgt: daß, um ein
höheres, wärmeres Interesse zu bewirken,
sich überall, wie in unserer Romanze,
größere Güte der Sache mit größerer Güte
der Charaktere verbinden müsse; und so, [372]
scheint es denn, ließe sich weiter schließen:
daß der vollkommenste Charakter,
welcher dann die volle Gerechtigkeit der
Sache schon mit einschließt, das entschiedenste,
das feurigste Interesse bewirken
werde. Nur müßte freilich, wegen der
Regel vom Contraste, die höchste Unvollkommenheit
nicht mit der höchsten Vollkommenheit
in Gegensatz gebracht; und,
wegen der Regel von der Einförmigkeit,
nicht bloß Eine Eigenschaft in ihrem höchsten
Grade geschildert werden. Aber jene
erhabne Harmonie aller Neigungen der
Seele, jene totale Vollkommenheit, die
aus dem richtigsten Verhältniß aller ihrer
Eigenschaften entspringt, und die das eigentliche
Ideal ihrer Natur ist; sollte nicht
die eben so den dichterischschönsten als
den philosophischbesten Charakter geben?


  Selbst die scharfsinnigsten Vertheidiger [373]
der vollkommnen Charaktere gestehen doch
wenigstens ein: daß der Dichter wohl thun
werde, die Schilderung des sittlichen Ideals
nicht zu oft zu wiederholen; daß er uns
öfter das Spiel von Eitelkeit und Verstand,
die Mischung von Thorheit und Weisheit,
als die einförmige, ungehinderte Wirksamkeit
der Tugend, werde vorstellen müssen.
Und warum das? Nicht, als wenn
es nicht in der Vollkommenheit noch eine
Mannichfaltigkeit geben könnte; sondern,
weil uns diese Mannichfaltigkeit weniger
bekannt ist; weil das Bild von Vollkommenheit,
auch des Einzelnen, immer einen
Hang zu einem bloß allgemeinen generischen
Begriffe hat; weil wir nicht von
der höchsten Vollkommenheit jedes einzelnen
Menschen, sondern nur von einer
höchsten Vollkommenheit der ganzen Gattung,
wissen. ─ Wenn also der Dichter, [374]
zur Bewirkung des höchsten Interesse, immer
nur auf das höchste Ideal ginge: so
würde er im Grunde nicht viel mehr, als
beständig den nehmlichen Weisen, nur von
verschiednen Seiten; die nehmliche Vollkommenheit,
nur in mancherlei abwechselnden
Situationen, zeigen.


  Aber, auch dies bei Seite gesetzt; kann
diese Vollkommenheit, dieses allgemeine,
jedem Einzelnen in der That unerreichbare
Ideal, das gleichwohl der Einzelne
vor Augen haben muß, wenn er nach
seiner ihm eigenthümlichen höchsten Vollkommenheit
hinstrebt: kann es die Wirkung
und das Interesse haben, welches
den Dichter zur Realisirung desselben bewegen
könnte? oder welches ihn auch
nur bewegen könnte, die ihm gegebenen
wirklichen Charaktere, so viel als nur
möglich, nach diesem höchsten sittlichen [375]
Ideale hinzuhalten? Die Frage ist mit andern
Worten die: Wird der Mensch uns
um so mehr erwärmen, je gemäßigter
seine eigene Wärme; um so mehr unsre
Seelen beunruhigen, je ruhiger seine eigene
ist? Werden wir die Streiche die
das Schicksal auf ihn führt, um so mehr
mitempfinden, je weniger er selbst sie zu
empfinden scheint? Werden wir um so
mehr für ihn sorgen und zittern, je weniger
er Fehltritte begeht? Werden wir
um so ungeduldiger den Erfolg seiner
Maßregeln erwarten, mit je mehr Heiterkeit
er selbst auf den schlimmsten gefaßt
ist? Werden wir seine Güte und Vortrefflichkeit
mit so wärmerer Empfindung lieben,
je mehr wir kaltes Nachdenken brauchen,
um sie nur überall zu erkennen?
Oder, damit wir Alles zusammenfassen:
Werden unsre Vorstellungen um so mehr [376]
Lebhaftigkeit haben, je weniger ihre Objecte
sie haben? ─ Wer sich auf das sittliche
Ideal des Menschen versteht, welches
hier auszuführen nicht der Ort ist;
der wird einsehn, daß in der That alle
diese Fragen treffen, und die Antwort
darauf wird wohl niemand erst fordern.
Der Dichter gebe immer seinem Helden
ein wenig mehr Reizbarkeit, Leidenschaft,
Hitze, als die wahre immer gleich gestimmte
Weisheit erlaubt; er schränke
seine Vollkommenheit durch Fehler und
Schwachheiten ein, damit sie zur Schönheit
werde, und wir sie fassen, anschauen,
lieben können. Jene zu geistige, zu gränzenlose
Vollkommenheit ist über unsre
Sinne erhaben; sie ist das Werk einer tiefen
Vernunft, und nur eine tiefe Vernunft
kann sie fassen.


  Gegen die höchste moralische Unvollkommenheit, [377]
gegen die kälteste, ruhigste,
grundloseste Bosheit, gelten noch andere
Gründe, die es dem Dichter durchaus widerrathen,
sie der moralischen Schönheit
gegenüber zu stellen. Eine solche Bosheit
ist dem Verstande so abgeschmackt, als
dem Herzen abscheulich: sie ist daher
auch völlig undichterisch; denn Ideen,
die man weder denken kann noch denken
mag, können unmöglich lebhaft werden.
Und was für Wirkung wird es selbst
für die Schönheit haben können, wenn
der Dichter sie mit der häßlichsten, ekelhaftesten
Fratze zusammenbringt, in der
sich kaum noch entfernte Züge der Menschheit
finden? Keine sichrer, als daß wir,
über den Ekel vor der Fratze, auch die
Schönheit nicht sehen mögen. ─ Kurz:
die höchste dichterische Wirkung wird
nie durch das Höchste in den Charakteren [378]
erreicht; beides, zu viel Vollkommenheit
und zu viel Unvollkommenheit, hebt
die Lebhaftigkeit der Vorstellungen auf:
jene weil die Kraft, sie in Einen lebhaften
Gedanken zu fassen, fehlt; diese, weil
noch außerdem der Wille sie zu fassen
mangelt, wenn sie auch wirklich zu fassen
wäre. Der übrigen Gründe, die schon
im Vorhergehenden liegen und hier leicht
anwendbar sind, nicht zu gedenken. ─


  Wir hätten die erste Betrachtung, die
Betrachtung des Thema, geendigt; denn
so nannten wir die Erfindung der Hauptcharaktere
und ihrer ursprünglichen Situationen.
In unsrer Romanze waren die
Charaktere: von der einen Seite, ein feurigverliebter,
edelherziger, muthiger Jüngling,
ein zärtliches, ehrliebendes, furchtsames
Fräulein; von der andern Seite, ein
roher, unedelmüthiger, heftiger Mitbewerber, [379]
und ein rachgieriger, eigensinniger,
stolzer, aber als Vater weichherziger Alter.
Die ursprüngliche Situation war: die
durch die Rachgier des Vaters und sein
gegebenes Ehrenwort gehinderte Glückseligkeit
beider Liebenden. Eins hätten
wir vielleicht noch hinzusetzen sollen, das
so recht weder zu dem einen noch zu
dem andern gehört, ob es gleich auf beides,
und zumal auf die sich entspinnenden
Absichten, auf Gang und Verlauf der
Handlung, den wichtigsten Einfluß hat:
die sonstigen äußern Verhältnisse der Personen,
die Vortheile, welche sie in Ansehung
ihres Standes, ihrer Glücksgüter, ihres
Einflusses auf Andere haben, die übrigen
Umstände der Zeit, des Ortes. Auch
noch diese muß der Dichter zu den Charakteren
und ihrer ursprünglichen Lage
hinzu erfinden, oder vielmehr, er muß [380]
das Alles zugleich erfinden. Denn Eins
giebt immer das Andre; gewisse Situationen
rathen gewisse Charaktere und Umstände,
gewisse Charaktere wieder gewisse
Umstände und Situationen an, wenn
ein Werk das höchste Interesse haben
soll, dessen es fähig ist. In dem Kopf
des Dichters entsteht das Alles auf einmal,
aber freilich nur noch dunkel, unvollkommen,
mit mancherlei Lücken;
Eins bildet dann nach und nach das Andre,
sowie es für das Ganze am ersprießlichsten
scheint, weiter aus; es ist bloß
Behuf der Methode, wenn wir das Eine
in der Arbeit des Dichters voransetzen,
das Andre folgen lassen. Und nicht nur
gilt dies von der ersten Grundlage des
Werks, sondern vom ganzen Werke. Nur
sehr selten mag die erste ursprüngliche
Lage, aus welcher sich Absichten und Begebenheiten [381]
entwickeln, in der Erfindung
das Erste seyn; oft mag der Dichter vom
Ende, insgemein mag er von einer der
anlockendsten mittlern Situationen ausgehn,
zu welcher er dann von der einen
Seite das Ende, von der andern den Anfang
findet. Aber was könnte uns hindern,
das was denn doch zuletzt, wenn
auch nicht gleich, in der Ideenkette das
erste Glied wird, auch in unserer Betrachtung
zum ersten zu machen?


  Giebt es denn aber, kann man hier
fragen, in dem Laufe menschlicher Begebenheiten
irgend ein solches erstes Glied,
welches von keinem höhern und frühern
abhinge? Ist nicht die ganze Verbindung
physischer und moralischer Wesen, die
ganze Folge ihrer mannichfaltigen Veränderungen,
oder mit einem Wort die ganze
Welt, eine einige unzertrennliche Kette? [382]
Und würde also nicht der Dichter, wenn
er den kleinen Theil dieser Kette, dessen
Glieder er vor unser Anschauen bringt,
vollkommen befestigen wollte, bis zum
ersten Anfang der Dinge hinaufsteigen
müssen;


Bis dahin, wo den ersten Ring
Zevs an sein Ruhebette
Zu seinen Füßen hing?


Ramler.


  Man sieht, daß das Erste, wovon wir
hier reden, nur ein relatives Erste seyn
kann, weil sonst die Entwicklung der
moralischen Gründe und die Beschreibung
der concurrirenden physischen Ereignisse
schlechterdings ins Unendliche führte. In
unsrer Romanze fängt der Dichter mit
Vorstellung der Leidenschaft des Ritters,
und zugleich mit den Schwierigkeiten an,
die sich seiner Begierde entgegenstellen, [383]
und die so weit gediehen sind, daß er
entweder alle Hoffnung aufgeben, oder
Entwürfe machen muß wie er sie überwinden
könne. Ohne Begierde, haben
wir gesehen, ist keine Handlung; ohne
Schwierigkeit, hat keine Handlung dichterische
Lebhaftigkeit: also, scheint es,
wird überall die Vorstellung der Begierde,
verbunden mit der Vorstellung der Schwierigkeiten,
das Erste seyn müssen, womit
der Dichter anhebt. Auch scheint es, daß
eben hiedurch der Punct bestimmt werde,
wo er endigen muß. Er muß es nehmlich
da, wo mit der Verwicklung das Interesse
aufhört; er muß also mit der Auflösung
endigen, da wo entweder die Begierde,
oder die Hindernisse völlig gesiegt
haben, und also die Kräfte die im Spiel
waren, zur Ruhe kommen. Dieselbige
Regel gilt denn auch, wie es scheint, für [384]
den ganzen Verlauf zwischen Anfang und
Ende. Es kann sich hier unendlich viel
Fremdes finden, das die Handlung durchkreuzt;
äußre Ursachen können sich einmischen,
die den ganzen Gang der Begebenheiten
abändern, und deren weitere
Entwickelung abermal ins Unendliche führen
würde. Der Dichter wird dieses
Fremde absondern, diese sich einmischenden
Ursachen da ablösen müssen, wo sie
anfangen in die Handlung Einfluß zu haben;
er wird bloß seine Verwicklung verfolgen,
uns durch alle die Lagen, welche
sich in unzertrennter Folge aus den genommenen
Maßregeln seiner Personen
ergeben, hindurchführen, und alles Äußre
nicht zunächst zur Verwicklung Gehörige
aus seinem Plan herauswerfen müssen.
So wenigstens hat es der Sänger unsrer
Romanze gemacht; allein es fragt sich: [385]
ob jeder Dichter einen so glücklichen Stoff
habe, daß er ihm darin folgen könne?


  Die Begierden der Personen selbst,
ihre Umstände, ihr gegenseitiges Verhältniß,
können etwas Unwahrscheinliches,
etwas auffallend Fremdes haben: und dieses
darf der Dichter durchaus nicht dulden;
er darf nicht eher fortbauen, als bis
er das Fundament seines Werks gesichert
hat: er muß also in die vorhergehende
Reihe der Begebenheiten so weit zurück,
bis die Ursache die ihn dazu antrieb, verschwunden
ist; das heißt: bis die Unwahrscheinlichkeit
aufhört, und Alles unsern
Begriffen und Erfahrungen von dem
gewöhnlichen Laufe der physischen und
moralischen Welt so gemäß wird, daß
wir nach keinem Wie? oder Warum?
mehr fragen. Der Sänger unsrer Romanze
sagt uns von der Art wie die Liebe des [386]
Ritters und des Fräuleins entstanden, kein
Wort; er läßt sie uns aus den hingestreuten
Umständen errathen. Beider Wohnsitze
lagen einander nahe; der Umgang
zwischen beiden Geschlechtern war von
jeher in unsern Gegenden weniger eingeschränkt;
die Bekanntschaft war auf so
mancherlei Weise möglich; und Liebe
bei ihrer Jugend, ihren Vorzügen, war so
natürlich. Weniger begreiflich war dagegen
die Widersetzlichkeit, die feindselige
Gesinnung des Vaters; denn da dieser
Vater sonst so wohlmeinend, so zärtlich
ist: warum sollte er die Glückseligkeit
seines Kindes hindern? warum eine gerechte,
lobenswürdige Leidenschaft gegen
einen würdigen jungen Mann so durchaus
verwerfen? Dieser Umstand fällt auf;
der Dichter muß uns wenigstens einen
Wink, einen Fingerzeig geben, der uns
zurecht weise.

[387]

„Dein Vater, einst mein Ehrenfeind,
Der's nimmer hold mit mir gemeint,
That Vieles mir zu Hohne.
Ihn haßt' ich noch im Sohne.“


Also: der väterlichen Liebe tritt eine andre
mächtige Leidenschaft in den Weg,
rachgierige Feindschaft; diese Leidenschaft
hat einen so begreiflichen Ursprung aus
ritterlicher Mitbewerbung um Ehre; wiederholte
Kränkungen sind dabei auf so
mancherlei Weise möglich; und daß diese
am Ende eingewurzelten Haß erzeugen,
daß überhaupt die Leidenschaften gern
durch die Verhältnisse gehn, und besonders
der Haß sich gern von Eltern auf
Kinder fortpflanzt: das Alles ist so bekannt,
ist so alltäglich, daß man sich
vollkommen dabei beruhigt, und alle Folgen
die der Dichter daraus herleiten mag,
willig annimmt. ─ In andern pragmatischen [388]
Werken kann dies umgekehrt seyn:
die Begierde kann Erklärung, und das
Hinderniß keine, oder sie können sie
auch beide, bald bedürfen, bald nicht bedürfen.
In der Geschichte von Romeo
und Julie will man beides, die Feindseligkeit
die zwischen den Capellets und
Montechi herrscht, und die Liebe die
demungeachtet zwischen den Kindern beider
Häuser hat entstehen können, erläutert
wissen. Im Othello fordert besonders
die Liebe der Desdemona Erklärung; denn
wer wird nicht fragen: wie doch immer
eine Europäerinn einen Mohren,
wie eine Tochter aus einem der edelsten
Häuser Venedigs, und eine gesittete, in
dem Stolz ihres Hauses erzogene Tochter,
einen Menschen von niedriger Geburt
habe heiraten können? Der Dichter
beantwortet das, indem er diese Liebe [389]
auf die bekannte gewöhnliche Erscheinung
zurückführt: daß Bewunderung großer
Tugenden, mit innigem Mitleid über
ausgestandenes großes Unglück verbunden,
leicht Liebe erzeuge; und nun wird
uns Alles begreiflich: wir hören mit Fragen
über die Richtigkeit des Thema auf,
und sind nur auf die Ausführung begierig.


  Was diese Ausführung, was den ganzen
Verlauf der Handlung betrifft; so
mischt sich in unsrer Romanze die Gouvernante
ein, und giebt dem Entwurf des
Ritters eine ganz andre Wendung, auf die
der Letzte zwar auch schon gefaßt ist.
Hier war abermal keine Erklärung nöthig;
denn, daß das Fräulein eine solche
Sittenmeisterinn hatte, daß diese über das
Geräusch aufwachte und den Vater zu
wecken eilte: dies begreift sich so leicht,
daß wir auch den kleinen flüchtigen Zug [390]
über den Beweggrund ihrer Thät dem
Dichter geschenkt haben würden. Auch
dies kann in andern Werken verschieden
seyn. Orsina macht dem Odoardo die
Entdeckung von den Absichten des Prinzen
auf Emilien, und dieser Vorfall wird
für den weitern Verlauf der Handlung
sehr wichtig. Wir fragen: Wer ist diese
Orsina? wie kömmt sie nach Dosalo?
was hat sie für ein Interesse, gerade so
wie sie handelt, zu handeln? Der Dichter
muß auf diese Fragen antworten, oder
er läuft Gefahr, daß wir ihm keinen
Glauben geben. ─ Endlich, was den Ausgang
betrifft; so ist in unsrer Romanze
mit Auflösung des Knotens Alles so ganz
geendigt, daß für unsre Neugier keine
Frage mehr übrig bleibt. Der Nebenbuhler
ist gefallen; der Vater versöhnt; die
Liebenden vereinigt; was könnten wir [391]
noch weiter zu hören wünschen? Das
Schicksal der Gouvernante oder der Zofe?
Aber außer daß wir die längst vergaßen:
wer sieht nicht, daß jene wohl nichts zu
fürchten, und diese vielmehr zu hoffen
habe? Freude ist eine sehr gutartige Leidenschaft;
sie wird gegen die eine versöhnlich,
gegen die andre mildthätig machen.
Auch dies ist in andern pragmatischen
Werken sehr anders. Noch so mancher
Umstand kann, nach geschehener
Auflösung, zurückbleiben, über den man
unterrichtet, beruhigt seyn will; man
mögte, nach Miß Sara's Tode, noch so
gern wissen, was aus Marwood, aus Arabella,
aus Mellefont wird. Und wenn in
Otto von Wittelsbach, durch den unglücklichen
Mord zu Ende des dritten
Acts, die Hauptsache entschieden ist; so
bleibt man noch über Otto's Schicksal in
Unruhe.

[392]

  In solchen Fällen nun, wo der Dichter
nicht so kurz, wie der Sänger unsrer
Romanze, seyn kann; wie soll er sich
helfen? Wenigstens soll er so kurz seyn,
als möglich; soll wenige Umstände, und
die von einer Bedeutung, einer Wichtigkeit
erfinden, daß er sich ein weitläuftiges
Detail von vielen kleinen ersparen
könne. Besonders soll er sich hüten, in
die Vorbereitung, in die Exposition seiner
Handlung, oder in die Episode ─
denn so nennt man die ausführlichere
Entwicklung jedes in die Handlung von
außen sich einmischenden Principiums,
ob man gleich das Wort auch in weiterm
Sinne nimmt, und jede oft ganz willkürliche
Abschweifung des Dichters darunter
versteht ─ er soll sich also hüten, in
diese Vorbereitung, oder in diese Episode,
eine eigne Verwicklung zu legen, die das [393]
Interesse der eigentlichen Haupthandlung
störe oder wohl gar überwiege. Dies ist
der Fehler, den man dem Plan des Grandison
vorwirft, in welchem die nur episodische
Clementina bald so anziehend
wird, daß wir der ganzen Henriette Byron
vergessen. Auch soll der Dichter die
Handlung nicht zu weit, nach aufgelöstem
Hauptknoten, fortsetzen; vielweniger
durch eine eigne Verwicklung das
noch zweifelhafte Schicksal seiner Personen
entscheiden. Mehrere verschiedne,
unmittelbar aneinander gehängte, Verwicklungen
gereichen immer einem Werke
zum Nachtheil; denn entweder sind beide
interessant, oder nicht. Im letztern Falle
fehlt, wenigstens einem Theil des Werks,
die gehörige Lebhaftigkeit; im erstern
Falle, macht uns das Interesse das wir
an der einen Reihe von Begebenheiten [394]
nahmen, sehr ungeschickt, uns sogleich
wieder mit voller Wärme in eine neue
verschiedne Reihe einzulassen, weil wir
von der vorigen noch zu ermüdet oder
zu voll sind. Man fühlt dies, ungeachtet
der meisterhaften Behandlung, in dem
oben schon angeführten Stücke, das sonst
in jeder Rücksicht unsrer Bühne so viel
Ehre macht: im Otto von Wittelsbach.
Mit Ende des dritten Aufzuges ist das Verhältniß
zwischen dem Kaiser und dem
Pfalzgrafen, das uns bis dahin beunruhigt
hatte, völlig entschieden; die Treulosigkeit
des erstern ist bestraft; die so schändlich
gekränkte Freundschaft und Ehre des
letztern gerächt; die Entwürfe, die Leidenschaften,
die alle unsre Aufmerksamkeit
an sich gezogen hatten, haben ihr
Ende erreicht. Wenn wir nun auf einmal
die ganz neue Verwicklung zwischen Otto [395]
und dem Reich, die ganz neue Reihe
von Absichten und Thätigkeiten, die auf
ein ganz anderes Ziel gerichtet sind, mit
gleichem Interesse verfolgen sollten, so
müßten die drei ersten Aufzüge nicht so
vortrefflich, so hinreißend gewesen seyn,
wie sie waren. Der Dichter hätte besser
gethan, ein kürzeres schnelleres Ende
durch Gründe vorzubereiten, die er unvermerkt
schon der vorhergehenden Handlung
eingewebt hätte.


  Die hier vorgetragene Regel läßt
sich auch so fassen: daß die Handlung,
oder bestimmter und deutlicher, die Verwicklung,
nur Eine seyn soll. Die Handlung
nehmlich dauert ſort, solange sich
Begebenheiten nach ihrem moralischen
Zusammenhange aus einander entwickeln;
und so wäre ein Stück ohne Tadel, wenn
nur keine mehrere Reihen von Begebenheiten [396]
darin vorgetragen würden, die von
einander unabhängig wären, und etwa
nur in allgemeinen, oder in sehr zufälligen
Puncten zusammenhingen. Otto von
Wittelsbach wäre, von Seiten der Einheit,
ohne Fehler im Plan; und doch wird
man das was wir daran zu tadeln fanden,
überall einen Fehler wider die Einheit
nennen. In unsrer Romanze, finden wir
die vollkommenste Identität und Unzertrennlichkeit
aller Theile, die vollkommenste
Einheit. Die nehmlichen zusammenwirkenden
Personen nicht allein, sondern
ihre nehmlichen harmonirenden Begierden,
die uns vom Anfange aufmerksam
machten, kämpfen darin bis zu Ende
gegen die nehmliche Verbindung von
Schwierigkeiten; und zwar nicht nach
mehrern von einander unabhängigen Planen,
sondern in Einer fortlaufenden Reihe [397]
zusammenhangender, aus einander sich
entwickelnder Thätigkeiten. Man nehme
in irgend einer dieser Hinsichten, in Personen,
oder Leidenschaften, oder Schwierigkeiten,
oder Thätigkeiten, etwas Unverbundenes,
Einzelnes, Abgesetztes an:
und die Einheit der Handlung wird, mehr
oder weniger, dadurch aufgehoben. ─
Diese Erklärung der Einheit ist, aus Gründen
die schon vorgetragen worden, zugleich
ihre Empfehlung. Wo die Einheit
mangelt, da wird entweder das Interesse
getheilt, oder die Aufmerksamkeit wird
eine Zeitlang von der Hauptreihe ab auf
Nebenreihen geleitet, oder sie soll plötzlich
nach Endigung der einen Reihe in
eine andere hinüber, wo das Vergnügen
der Erwartung einen Stillstand leidet, und
Leidenschaften, Schwierigkeiten, Entwürfe
dagegen von den ersten ganz verschieden [398]
sind. Alles das schwächt die Lebhaftigkeit,
wo nicht der ganzen Ideenreihe, doch
wenigstens eines Theils derselben, und ist
mithin undichterisch. Man suche daher,
so viel man nur kann, die Einheit; und
muß man ja zuweilen Ausnahmen machen,
so mache man doch so wenige und
so kleine als möglich. Man stelle die
episodischen Entwicklungen hin, wo die
Handlung noch nicht in vollem Feuer ist,
oder wo sich in ihr gewisse merkliche
Ruhepuncte finden; denn da sind jene
nicht allein für das Hauptinteresse unschädlich,
sondern können uns oft, besonders
wenn sie von anderer Farbe als
der Hauptstoff sind, sehr willkommen und
angenehm seyn.


  Um die Einheit desto sicherer zu beobachten,
hüte sich der Dichter vor sehr
romantischen, verwickelten, durch zu viele [399]
Zwischenbegebenheiten durchkreuzten
Planen; er gebe den natürlichen, einfachen,
aus wenig begreiflichen Hypothesen
leicht sich entwickelnden, den Vorzug.
Jene Plane werden wohl meist aus
Armuth an wahrer Erfindungskraft, oft
auch wohl in der Absicht entworfen, um
die Personen in recht neue, frappante,
oder vielmehr gewaltsame Situationen zu
setzen, von denen man sich desto größere
Wirkung verspricht. Allein diese Erwartung
ist trüglich; denn je mehr Hülfshypothesen
ein Satz, und ebenso, je mehr
zusammentreffende sonderbare Zufälle
eine Begebenheit erfordert: desto mehr
wird die Wahrscheinlichkeit, die Bedingung
aller dichterischen Lebhaftigkeit, geschwächt;
desto mehr die Seele, die eine
solche Menge vereinzelter Ideen fassen
und gegenwärtig erhalten, so oft von dem [400]
geraden Wege in Nebenwege ausbeugen
soll, verwirrt und ermüdet. ─ ─


  Wir haben, so viel sich das im Allgemeinen
thun ließ, die Linien gezogen,
innerhalb welcher sich der pragmatische
Dichter mit Ausführung seines Thema zu
halten hat; wir haben festgesetzt, in welchen
Puncten er die Reihe der Begebeheiten
die er entwickelt, von ihren Gründen
und Folgen ablösen, an welchen
Gliedern er sie gleichsam aus der ganzen
Kette der Weltbegebenheiten aushenken
soll. Jetzt ist noch die Frage übrig: nach
welchen Regeln er, innerhalb dieser bestimmten
Gränzen, zu verfahren habe? ─
Es wird bei Bestimmung dieser Regeln
keinen Unterschied machen: ob mehr die
Personen selbst auf welche das Interesse
fällt, oder mehr die Gegenpartei, oder
ob beide ungefähr in gleichem Grade, [401]
thätig sind? Nur ist es freilich ein falscher
Plan, wenn der Dichter die Personen
durch die er interessiren will, in träger
feiger Ruhe bloß zusehen, bloß leiden
läßt, da sie doch ihren Umständen
nach beides thätig seyn könnten und thätig
seyn sollten. ─


  Nach dem Begriff den wir von der
Handlung festgesetzt haben. ist das eigentlich
Wesentliche jedes pragmatischen
Werks: daß uns der Dichter zeige, wie
seine Personen von ihren Umständen, von
ihrer ursprünglichen und jeder in der
Folge sich entwickelnden besondern Lage,
gerührt, und zu was für Thätigkeiten sie
durch diese Rührung und durch die Beschaffenheit
der Umstände veranlaßt werden.
─ In unsrer Romanze sind die jedesmaligen
Empfindungen der Personen,
der Ausdruck dieser Empfindungen, die [402]
Entschließungen die sie ergreifen, nicht
nur unsern Begriffen von der menschlichen
Natur überhaupt, sondern auch von
der Beschaffenheit solcher Charaktere insbesondre,
gemäß: wir finden darin überall
unser eigenes Herz, unsre Erfahrungen
von andern Menschen, unsre Begriffe
von Sitten, Zeiten, Denkarten wieder;
Leidenschaften, Sitten, Charaktere sind in
jeder einzelnen Äußerung richtig getroffen,
und durchgängig beibehalten. Das
Fräulein läßt, nach ihrem schwachen,
furchtsamen Charakter, auf die stürmischen
Drohungen des Vaters allen Muth,
alle Hoffnung sinken. Klagen und Thränen
sind ihre Zuflucht, und eine Botschaft
an den Ritter mit einem kleinen
Andenken ihrer Liebe ist ihr ganzer Entschloß;
da sie sich soll entführen lassen,
sieht sie nichts als Beschimpfung, als drohende [403]
Gefahr für sich selbst und ihren
Geliebten; ohne zu einem festen Entschluß
zu kommen, steht sie zitternd und
wehmüthig da: und was sie denn doch
am Ende fortzieht, ist nicht sowohl wirklicher
Vorsatz, sich der Gewalt eines tyrannischen
Vaters zu entreißen, als der
stärkere Arm ihres Ritters, als die ihr beigebrachte
Phantasie, daß sie schon behorcht
und vielleicht schon verrathen worden
sei. Endlich, da es zum Zweikampf
zwischen Geliebtem und Nebenbuhler, da
es zur letzten entscheidenden Situation
zwischen jenem und ihrem Vater kömmt,
sind ihre Empfindungen Angst, Schrecken,
Wehmuth; ihre Waffen, fußfälliges
Flehen, Händeringen, Thränen; ihr ganzer
Versuch, nicht den gefürchteten Vater
zu schrecken, sondern durch Erinnerung
en ehemalige Zärtlichkeit zu erweichen, [404]
zu rühren. Wie ganz anders in jeder dieser
Lagen der Ritter, und wie ganz immer
derselbe! Sein Schmerz ist heftig,
zornartig; seine Thätigkeit wird durch
Schwierigkeiten nicht niedergeschlagen, sie
wird befeuert; sein ganzes Nachgeben sind
gelinde, vernünftige Vorstellungen: aber
die dürfen nicht mifslingen, oder er wird
aus einem ganz andern Tone reden. ─
Es wäre überflüssig, auch ven den übrigen
Charakteren zu zeigen, wie sie sich
durchgängig erhalten, wie die Eindrücke
die sie jedesmal von ihren Lagen annehmen,
und die Äußerungen derselben
durch Reden und andre Thätigkeiten, den
von ihnen festgesetzten Begriffen durchaus
gemäß sind.


  Zu dieser Harmonie, dieser Erhaltung
der Charaktere aber gehört nicht bloß
das, daß jede einzelne Äußerung irgend [405]
einem der Grundzüge des Charakters,
und zwar dem welcher jetzt wirklich hervorspringen
soll, sondern auch, daß sie
allen übrigen ihn constituirenden Merkmaalen,
daß sie dem ganzen Charakter
durchaus gemäß sei. So zeigen in unsrer
Romanze der Ritter, das Fräulein,
der Vater, nach Maßgabe des Verhältnisses
worin sie gegen einander stehen, und
ihrer Umstände, freilich sehr verschiedne
Seiten ihrer Charaktere, bald mehr die
bald mehr jene; aber doch sehen wir immer
den ganzen Charakter. Der Ritter,
wenn er zärtlich erscheint, ist dringend,
feurig, und doch, ohne die Achtung zu
beleidigen; gerade so, wie wir uns im
Ausdruck seiner Liebe den Mann denken,
der, wenn er seinem Feinde entgegentritt,
ihm mit diesem Feuer, aber auch
mit dieser Besonnenheit, wird die Stirn [406]
zu bieten wissen. Das Fräulein ist im
Ausdruck ihrer Zärtlichkeit schüchterner,
schmachtender, melancholischer; und so
erwarten wirs abermal von einem Mädchen,
das so wenig Muth zu einem Abenteuer
zeigt, so sehr vor dem bloßen Gedanken
an die Gefahren, denen sie sich
aussetzen wird, zittert. Jener vereinigt in
seinem Entwurf die Begierde nach dem
Besitz seiner Geliebten mit der zärtlichsten
Sorge für ihre Ehre: und nur so
einen Entwurf, wollen wir, soll ein
Mann wie der Ritter machen; nur so
einen Vorschlag soll ein Frauenzimmer
von Gertrudens übriger feiner Empfindung
sich gefallen lassen. Der Vater
ringt, da er durch den Tod des Nebenbuhlers
seines Ehrenworts entbunden ist,
und ihm die Tochter weinend zu Füßen
liegt, mit aller Gewalt gegen die ihn [407]
übermannende Zärtlichkeit; allein da sie
nun einmal ausbricht, so überläßt er sich
auch ganz und ohne Rückhalt seiner Empfindung:
man erkennt in ihm den Mann,
der nichts halb, der immer Alles von ganzer
Seele ist, in Haß und in Liebe. Eben
der Ungestüm, der ihn, im Augenblick
des Zornes, die abscheulichsten Drohungen
ausstoßen ließ, wird ihm, im Augenblick
der Rührung, die heißen Thränen
über die Wangen jagen; halbige oder
auch nur schwächere Wirkung wäre einem
Charakter, wie wir den seinigen kennen
lernten, nicht angemessen.


  Es braucht wohl nicht erst Beweises:
daß jeder pragmatische Dichter, in diesem
Stück, völlig wie der unsrige verfahren;
daß er die Charaktere nicht nur im
Ganzen wahr und sich selber ähnlich erhalten,
sondern auch bei den vielseitigsten [408]
jede ihrer einzelnen Äußerungen und
Thätigkeiten dem Inbegriff aller constituirenden
Merkmaale gemäß machen; sie
überall, er zeichne sie von welcher Seite
er wolle, so nüanciren, durch richtig angebrachte
Schatten und Lichter ihnen die
Ründung, die Solidität, das Körperliche
geben muß, daß wir sie jedesmal ganz,
nur freilich aus verschiednen Gesichtspuncten,
zu sehen glauben. ─ Fehler wider
diese Regel sind da sehr möglich,
wo man einen nicht selbst beobachteten
Charakter bloß durch Räsonnement erfindet,
indem man nehmlich im Allgemeinen
wohl einsieht, daß die verschiednen
ihm beigelegten Eigenschaften mit einander
verträglich sind, aber nicht genug
Einbildungskraft hat, um diese verschiednen
Eigenschaften in ein einziges lebendiges
Bild zu concentriren. Alsdann stehen [409]
die Züge, wie die Merkmaale eines
deutlich gemachten Begriffs, einzeln neben
einander da, ohne Continuität, ohne
Verflößung; und doch wollen Wahrheit
und Gesetz der Lebhaftigkeit, daß diese
Merkmaale überall sich mischen, daß sie
überall in eine einzige klare Vorstellung
verfließen sollen.


  Wie schwer es zuweilen seyn müsse,
in jeder besondern Lage, die wahre Empfindung
des Herzens, die wahre dem
ganzen Charakter entsprechende Nüance
im Ausdruck zu treffen: das läßt sich
schon aus der Seltenheit pragmatischer
Dichter schließen, die einem feinen Kenner
hierin völlig Genüge leisten. Nicht
daß der Kenner darum im Stande wäre,
den verfehlten richtigen Ton selbst zu
treffen; er fühlt nur das Falsche dessen
den man ihm angiebt, ohnedaß er den [410]
wahren, den er wünschte, anders als dunkel
empfände. Aber eben das erwartet
und fordert er von dem hellern Blick,
dem tiefer eindringenden Genie des Dichters,
daß er ihm diese dunkle Empfindung
in klare Erkenntniß verwandle. Oft
auch ist sein Gefühl, wie bei diesem und
jenem Anlaß die Personen eigentlich empfinden
und reden und sich benehmen
sollten, so dunkel, daß ers kaum wagt,
den Dichter einer Unrichtigkeit in der
Schilderung zu bezüchtigen, ob er gleich
nicht die ganze Wirkung der Wahrheit bei
sich verspürt. Sobald sie aber genau getroffen
ist, diese Wahrheit; so ist auch auf
einmal der volle Glaube, die volle Täuschung
da: der Verstand ist um eine neue
Beobachtung bereichert, und die Empfindung
befriedigt. Um nur Ein Beispiel zu
geben; so war es in der Oper Julie und [411]
Romeo, wo der Ausgang glücklich ist, ein
nicht leichtes Problem: wie der Vater bei
der Erscheinung seiner als todt beweinten
Tochter eigentlich gerührt werden
sollte? Die erste Empfindung zwar ließ
sich ohne Mühe bestimmen: sie war
schreckhaftes Erstaunen; aber die nun
sich entwickelnde zweite Empfindung?
Man denke sich ganz in die Lage eines
Vaters hinein, der zwar von der innigsten
Liebe seines Kindes durchdrungen
ist, sich zwar als dem Mörder desselben
die bittersten Vorwürfe macht; der jedoch
zugleich, selbst in der Bitterkeit
dieser Vorwürfe, selbst in der Heftigkeit
seines Schmerzens, sein Recht auf die zärtlichste
Ehrerbietung dieses Kindes fühlt,
und der nun auf einmal nicht anders
denken kann, als daß er geäfft, betrogen,
daß er nicht allein vergebens, sondern [412]
auch muthwillig, bis zu dieser Verzweiflung
geänstigt worden; wie glaubt man,
daß dieser Vater, der kein weichherziges
Kind, der ein Mann, und ein stolzer, heftiger,
eigenwilliger Mann ist: daß er empfinden,
handeln, sich ausdrücken werde?


  Ohne hierauf zu antworten, wollen
wir lieber noch eine besondere Bemerkung
hieher werfen; diese: daß der Dichter,
um der größern Wahrscheinlichkeit
willen, das Maß, den Grad der Stärke,
worin er die Charaktere jedesmal empfinden
und diese Empfindung äußern läßt,
nicht nach gewissen individuellen Fällen,
die ihm dann und wann können vorgekommen
seyn, sondern nach der Summe
der meisten und gewöhnlichsten Fälle,
oder deutlicher vielleicht, nicht nach Ausnahmen
von der Regel, sondern nach der
Regel bestimmen; sie nach den meisten [413]
Erfahrungen von menschlicher Natur überhaupt
und von gewissen Charakteren insbesondere,
nach dem allgemeinen Begriff
den wir uns von gewissen Zeitaltern und
Nationen abgezogen haben, einrichten
müsse. Die wirkliche Wahrheit kann ohne
Wahrscheinlichkeit seyn; und die letztere
muß dem Dichter mehr als die erstere
gelten. Es ist eine schreckliche Rachgier,
die in unsrer Romanze der Vater des
Fräuleins in der Drohung äußert, welche
zwar freilich noch nicht That ist:


„Nicht rasten will ich Tag und Nacht,
Bis daß ich nieder ihn gemacht,
Das Herz ihm ausgerissen,
Und das dir nachgeschmissen!“


Allein die Rauhigkeit der Zeiten, in welche
uns der Dichter hineinführt, erlaubt
diese Stärke, diese Wildheit des Ausdrucks.
Man treibe diesen Ausdruck noch [414]
höher; man lasse den Vater sagen, daß
er das Fleisch des Ritters rösten, daß er
sichs wolle schmecken lassen, daß seinem
Gaumen darnach gelüste: und man hört
nicht den alten deutschen Ritter mehr,
sondern einen Rasenden, einen Cannibalen;
sowie man in jener Drohung schon
nicht den cultivirtern Menschen des achtzehnten
Jahrhunderts, sondern den nur
noch halbcultivirten der mittlern Jahrhunderte
hört. Gleichwohl kann man es
nicht durchaus unglaublich oder unmöglich
nennen, daß ein Mensch, in der
Wuth der Leidenschaft, sich bis zu einer
solchen Übertreibung vergesse; allein der
Dichter, wie gesagt, soll nicht das Individuelle,
nicht das bloß Mögliche, sondern
das Allgemeinere, das Wahrscheinliche
schildern. Beispiele von Fehlern wider
diese Regel sind in unsern neuern [415]
dramatischen Werken so häufig, daß sie
sich jedem Leser derselben in Menge darbieten
müssen. Man glaubt, nicht anders
ein kräftiger, ausdruckvoller Maler zu
seyn, als durch das dickste Auftragen der
Farben, und die gewaltsamsten Verzerrungen
der Figuren. ─


  Wenn wir die Folgen der innern Eindrücke,
welche die Personen unsrer Romanze
von ihrer Lage erhalten, die äußern
Thätigkeiten, zu welchen sie durch
diese Lage veranlaßt werden, noch einmal
ansehn: so erkennen wir bald einen
merkwürdigen Unterschied unter ihnen.
Einige derselben sind bloße Befriedigungen
der Leidenschaft, welche weiter nichts
in dem Zustand der Personen ändern,
ihn weder glücklicher noch unglücklicher
machen. So die Klagen und Thränen
der in ihre Kammer verschloßnen Braut, [416]
die zu nichts dienen als daß sie ihr zu
volles gepreßtes Herz erleichtern. Andere
Thätigkeiten haben auf das Schicksal der
Personen, auf ihr Glück oder Unglück,
einen bedeutenden Einfluß; und diese
letztern sind wieder von zwiefacher Art.
Denn manche haben diesen Einfluß, ohnedaß
ihn die Personen vorhersahen, und
also auch, ohnedaß sie ihn wollten: die
gute Wirkung ergiebt sich ohne ihre Absicht
von selbst; die böse, wird erst hinterher
empfunden, wenn es oft zu spät
ist ihr zu begegnen. So mogte der Ritter,
da er zum Zweikampf mit seinem
Nebenbuhler so hitzig vom Pferde sprang,
in diesem Augenblick vielleicht nur von
Rache glühen; er mogte wenig daran
denken, daß ohne den Tod dieses Nebenbuhlers
der alte, durch Eid und Ehrenwort
gebundene, Vater sich schwerlich [417]
würde gewinnen lassen. Nur allzuhäufig
ist dies der Fall, daß plötzliche
Leidenschaften einen Menschen zu Schritten
hinreißen, die ihn bald weit von seinen
Wünschen entfernen, bald aber auch
unvermuthet denselben näher bringen.
Waller in Gotters Mariane hätte die Invective,
die ihm gegen den Präsidenten
entfährt, und die auf einmal Alles verderbt,
wohl sehr gern zurück; aber unglücklicher
Weise war sie gesprochen. ─
Andre Thätigkeiten sind dagegen freiwillig,
absichtlich: der Mensch hat ihre gute
Wirkung vorhergesehen, hat sie gewollt;
oder wenn sie fehlschlagen, und vielleicht
mehr schädlich als nützlich werden: so
rührt das nur von Umständen die ihm
verborgen blieben, von unvorhergesehenen
Zufällen, vielleicht auch von der
Schwäche der Mittel her, die er in seiner [418]
mißlichen nachtheiligen Lage noch einzig
in der Gewalt hatte. Von dieser Art sind
der Entwurf des Ritters seine Geliebte
zu entführen, das Aufgebot seiner Vasallen,
das Nachsetzen des Vaters, und das
fußfällige Flehen der Tochter.


  Die Vorschriften, die für alle diese
Äußerungen der innern Gemüthsbewegungen
und Leidenschaften der Personen gemeinschaftlich
gelten, haben wir angegeben;
aber sollte nicht noch Manches über
die letztere Art derselben zu sagen seyn?
über die Entwürfe, die Entschließungen,
die freiwilligen, absichtlichen Thätigkeiten
der Personen?


  Der Entwurf des Ritters, mit so viel
Schwierigkeiten er auch verbunden seyn
mag, ist doch immer in der Ausführung
möglich; und gelingt er, so kann er ihn
in der That zu dem abgezweckten Ziele [419]
hinführen. Wenn der Ritter das Fräulein
glücklich der Gewalt des Vaters entrissen,
und sich durch das Sacrament der Kirche
mit ihr vereiniget hat; so hat er nicht allein
schon dadurch seinen Hauptzweck,
die Vereinigung mit seiner Geliebten, erreicht,
sondern nach aller Wahrscheinlichkeit
wird sich auch der Vater am Ende
bewegen lassen, eine Ehe zu billigen die
nun einmal nicht mehr getrennt werden
kann. Indeß giebt es freilich der Schwierigkeiten
und Hindernisse von allen Seiten.
Der Ritter hat die Wachsamkeit des
Hauses, die Verfolgung des Vaters, die
Rache des Nebenbuhlers; er hat selbst
die Schüchternheit und Schamhaftigkeit
des Fräuleins zu fürchten: doch bleibt es
bei allen diesen Schwierigkeiten noch
möglich, sich glücklich durch sie hindurchzuschleichen,
oder auch durch offenbaren [420]
Angriff sie niederzuschlagen. Ein zärtliches
Herz wird den Bitten des Geliebten
nicht lange Widerstand thun; in der Stunde
der Mitternacht wird der Vater mit seinen
Hausgenossen schon ruhen; oder
wenn er erwacht, werden die Liebenden,
ehe sich jener rüsten kann, schon einen
beträchtlichen Vorsprung gewinnen: und
holt er sie unglücklicher Weise ein, so
werden die Vasallen des Ritters, eben so
gut wie die des Vaters, ihre Schwerter
haben. ─ Ob eine ähnliche Beschaffenheit
der absichtlichen Thätigkeiten, der
vorbedachten Entwürfe der Personen, für
jeden pragmatischen Dichter Regel sei?
wird wohl Niemand erst fragen. Sie müssen
zweckmäßig seyn, diese Entwürfe: so
daß, wenigstens nach den Umständen
welche die handelnde Person übersieht,
die Erreichung der Absicht durch sie [421]
möglich ist; sonst wären sie thöricht oder
gar wahnsinnig. Sie müssen mit Schwierigkeiten
und mit bedeutenden Schwierigkeiten
verbunden seyn; sonst hätte Erwartung.
und folglich auch Interesse, ein
Ende. Sie müssen noch die Möglichkeit,
diesen Schwierigkeiten auszuweichen, erkennen
lassen; sonst wären sie bloße Eingebungen
einer Verzweiflung, die sich
selbst schon so gut als verloren gäbe, und
für die auch wir nichts mehr hoffen
könnten.


  Eins aber findet sich denn doch in
dem Entwurf des Ritters, das wir vielleicht
mit Recht könnten geändert wünschen.
Denn scheint es nicht, daß er
Entwürfe mache, die für die Wirkung
welche wir sie hervorbringen sehn, viel
zu groß sind? oder die vielmehr ganz
und gar keine Wirkung haben? Er beruft [422]
ein kleines Heer von Vasallen, unterrichtet
sie sorgfältig was sie zu thun
haben, legt sie in Hinterhalt, und läßt sie
wirklich hervorbrechen: allein das Gefecht
das wir erwarten, bleibt aus; der
Vater wird durch sein eigenes Herz entwaffnet,
und die Hauptschwierigkeit die
seine Einwilligung hätte hindern können,
hat der Ritter durch einen Zweikampf
schon selbst gehoben. Es läßt sich erwiedern:
daß die Klugheit auch auf mögliche
Fälle Bedacht nimmt; und möglich
war es doch immer, daß der Ritter Gewalt
mit Gewalt hätte vertreiben müssen.
Ließ es sich denn vorhersehen, daß der
Nebenbuhler, von seiner Hitze verleitet,
so weit voransprengen und im Zweikampf
umkommen würde? Die genügendere
Antwort jedoch, die den Dichter erst völlig
rechtfertigt, ist die: daß der Anblick [423]
der überlegenen Menge in der That bei
dem Vater seine gute Wirkung thut; eine
Wirkung, die zwar der Dichter nicht angiebt,
die wir aber bei Betrachtung des
Gemäldes empfinden. Der Vater stutzt
bei den Worten:


„Schau auf! Erblickst du Jene dort?
Die sind zum Schlagen fertig
Und meines Winks gewärtig.“


Und schwerlich mögte, ohne den plötzlichen
Eindruck dieses Anblicks, sich die
Hitze des Alten so früh verkühlt; schwerlich
mögte er den Ritter angehört, und
seiner Tochter zu allen den rührenden
Reden Zeit gelassen haben, die auf einmal
seine ganze Gesinnung ändern. Weit
gefehlt also, daß unser Dichter durch
einen begangenen Fehler Andern zur Warnung
dienen sollte; so ist er auch hier
vielmehr durch die Richtigkeit seiner Anlage [424]
Muster. Er macht von seinen vorbereiteten
Mitteln Gebrauch; nur täuscht
er, in der Beschaffenheit dieses Gebrauchs,
auf eine sehr angenehme Art, unsre Erwartung.



  Daß es sonst freilich Fehler gewesen
wäre, wenn er Entwürfe hätte machen,
Anstalten vorkehren lassen, die wir nachher
als völlig verloren befunden hätten:
das ergiebt sich sogleich aus dem unangenehmen
Eindruck, den immer die getäuschte
Erwartung wichtiger Vorfälle
macht, und aus dem nachtheiligen Einfluß,
den unser Unmuth, getäuscht zu
seyn, auf unsre nachherige Theilnehmung
haben müßte. Diderot tadelt, in dieser
Hinsicht, und mit Recht, die Rede der
Euphrosine beim Moliere. „Diese Euphrosine,
sagt er, macht sich anheischig,
den Geizigen von dem Vorsatz, Mariane [425]
zu heiraten, vermittelst einer Gräfinn
aus Niederbretagne abzubringen, von der
sie sich Wunderdinge verspricht, und der
Zuschauer mit ihr. Gleichwohl endet sich
das Stück, ohnedaß sich Euphrosine wieder
sehen ließe, und ohnedaß die Gräfinn,
die man alle Augenblick erwartet,
zum Vorschein käme.“ ─ Die nehmliche
Ursache, welche Anstalten ohne Wirkung
verwerflich macht, macht auch große vielversprechende
Anstalten von kleiner unbedeutender
Wirkung verwerflich, und in
ernsthaften Werken um so verwerflicher,
weil eine solche Disproportion zwischen
Anstalten und Erfolgen gern lächerlich
wird. Große Anstalten können scheitern,
können fehlschlagen; aber wenigstens muß
man von ihnen Gebrauch machen sehn,
und vor allem muß man die Zwecke ihrer
würdig finden: sonst werden die handelnden [426]
Personen, vielleicht ganz wider
die Absicht des Dichters, in unsern Augen
klein und verächtlich.


  Wo die Reihe der moralischen Thätigkeiten
mit Veränderungen der todten
körperlichen Natur durchflochten ist, welche
jene oft mannichfaltig modificiren, ableiten,
hindern, befördern können; da gilt
für diese Veränderungen die nehmliche
Regel, welche für jene Thätigkeiten galt,
und aus dem nehmlichen Grunde. Der
Dichter muß überall, wie zu Wirkungen
Ursachen, so auch zu Ursachen Wirkungen,
und zu kleinen unbedeutenden Wirkungen
keine große wichtige Ursachen
erdichten; er muß keinen Orcan erregen,
um ein Blatt verwehen zu lassen, das der
leichteste Zephyr heben könnte. ─ Überhaupt
gelten die Regeln, welche für die
Veränderungen der moralischen Natur [427]
gegeben worden, mit gehöriger Bestimmung,
auch für die der körperlichen Natur.
Denn auch die körperliche Natur
hat ihre bekannten Gesetze und ihre Grade
der Kräfte, die Jeder der uns durch wahrscheinliche
Fictionen täuschen will, genau
beobachten muß.


  Ein besonderes Verdienst an der ganzen
Dichtung unsrer Romanze ist noch
dies: daß der Entwurf des Ritters, bei
aller seiner Zweckmäßigkeit und Nothwendigkeit
─ denn es blieb ihm kein
anderer zu machen übrig ─ noch um
eine so gute Strecke vom Ziel entfernt
ist. Dadurch wird eine Reihe von Situationen
möglich, in welchen sich die Leidenschaften
der Personen, unter sehr verschiednen
Verhältnissen und Umständen,
mannichfaltig entwickeln. Einige dieser
Umstände sind für die Leidenschaften [428]
vortheilhaft: sie geben ihnen freien Spielraum,
und führen sie an das Ziel das
sie wünschen. So die Lage des Ritters,
da er die Hand des Fräuleins ergreift,
und sie zu süßen Liebkosungen in seine
Arme zieht; so auch die Lage des Vaters,
da nach Verschwindung aller Hindernisse,
die Zärtlichkeit seines Herzens, wie ein
lange zurückgehaltener Strom, desto mächtiger
ausbricht. Andre Umstände stehn im
Widerspruche mit der Leidenschaft; die
Leidenschaft, wenn nicht schon Alles verloren
ist, sucht sie zu ändern, zu überwältigen:
und wir erwarten den Ausschlag
ihrer Bemühung. So die übrigen Situationen
zwischen Fräulein und Ritter, zwischen
Ritter und Nebenbuhler, zwischen
den beiden Liebenden und dem Vater.
Dieses interessantere Verhältniß zwischen
den äußern Umständen und der innern [429]
Leidenschaft, da beide mit einander im
Widerspruch stehn, die letztere gegen die
erstern ringt, und unsre ganze Erwartung
gespannt wird, ist das was man im genauern
Verstande des Worts Situation
nennt. Und in diesem Verstande könnte
man also sagen: daß eine Situation, im
Kleinen und unvollständig, dasselbige sei,
was, im Großen und vollständig, das
ganze Werk ist; eine untergeordnete Verwicklung,
ein in den Hauptknoten mitverschlungener
besonderer Knoten. Mit
der Auflösung dieses Knotens, falls die
Scene nicht bloß episodisch ist, geht
dann entweder schon ein Theil des Hauptknotens
auseinander, oder er wird auch
noch enger und fester zugezogen. Aus
dieser Ähnlichkeit folgt: daß eben so viel
Arten von Situationen, als Arten von Verwicklungen
möglich sind, und daß die [430]
interessantesten unter diesen auch die interessantesten
unter jenen seyn müssen.
Je sittlichere, je mächtigere Begierden,
mit je sittlichern, je mächtigern, und je
näher, je inniger sie in Kampf verwickelt
werden; desto vortrefflicher ist die Situation.
Mithin ist die vortrefflichste die, wo
die äußern Umstände in dem eignen Innern
des Menschen einen Aufruhr erregen,
und seine mächtigsten, sittlichsten
Leidenschaften gegen einander empört
werden. In so einer Situation zeigt sich
uns zuerst das Fräulein, dann der Vater.
Jene verbände sogern die Befriedigung
ihrer edlen Leidenschaft für den Ritter
mit Befriedigung ihrer Ehrliebe und Kindespflicht;
die Umstände aber fordern an
einer von beiden Seiten ein Opfer: und
nun erfolgt der innre schmerzliche Kampf,
der sich mit dem Siege der Hauptleidenschaft [431]
endigt. Dieser, der Vater, mögte
der Stimme der Natur, und mögte doch
auch den Eingebungen der Rachgier, folgen;
die Umstände machen die Vereinigung
beider Wünsche unmöglich: und
nun reißen ihn die widersprechenden Leidenschafter
mit Ungestüm von einer Seite
zur andern, bis denn am Ende doch der
edlere Trieb über den unedlern den Sieg
davon trägt.


  Außer diesem Interesse und dieser
Mannichfaltigkeit, von der wirs wohl nicht
erst beweisen dürfen daß sie ein dichterisches
Verdienst sei, findet sich in der
Folge der Situationen noch die wesentliche
Schönheit: daß das Interesse derselben
nicht ab-, sondern zunimmt; daß
unsre Erwartung bis zu Ende immer geschwellt
wird. Nicht allein kommen wir
der vollständigen Auflösung des Knotens [432]
immer näher und näher, sondern es wird
auch die Hauptschwierigkeit, auf die im
Grunde Alles beruht, und die gerade die
rührendsten Leidenschaften ins Spiel bringt,
sehr weislich bis ans Ende verspert. ─
Daß eine andere Anordnung dem Werk
nachtheilig seyn würde, muß Jeden seine
Empfindung und ein kleines Nachdenken
über die Natur unsrer Seele lehren.
Schwächere Eindrücke, die auf stärkere
folgen, finden uns gleichgültiger, unempfindlicher;
wir sind nun schon einmal
erhitzt, und finden also kalt, was uns in
vorhergehenden Augenblicken, da wir
selbst noch kälter waren, vielleicht erwärmt
haben würde.


  Der Begriff der Auflösung, oder wie
man sie auch sonst nennt, der Katastrophe,
ist schon im Vorigen da gewesen: sie
ist das völlige Ende der Verwicklung, die [433]
wieder in Ruhe gesetzte Begierde, der
entschiedne Sieg entweder der Schwierigkeiten
oder der gegen sie anstrebenden
Leidenschaften; nicht ein bloßer Stillstand,
ein falscher Friede, bei dem wir
noch künftige neue Unruhen fürchten.
Daß eine solche Auflösung sich in jedem
pragmatischen Werke finden müsse, bedarf
keines Beweises. Sie ist die Seele
des ganzen Werks; denn sie ist das Ziel
der Erwartung, der Punct, auf welchen
vom Anfange an Alles zustrebt. Und
wenn der Dichter, der vorigen Regel gemäß,
seinen Plan wohl geordnet; wenn
er überdies die Auflösung zwar hinlänglich
vorbereitet, aber nicht schon völlig
verrathen, sie zwar vollständig, aber auch
kurz und auf einmal gemacht hat: so ist
sie ebenso die schönste, wie die letzte
Situation; der interessanteste, lebhafteste [434]
Theil des Werks, der am wenigsten fehlen
darf. Daß Kürze nöthig sei, damit
der Dichter nicht sinke; Vollständigkeit,
damit wir gänzlich befriedigt werden;
daß bis ans Ende ein andrer Erfolg, in
unsrer Erkenntniß, möglich bleiben müsse,
damit nicht alle Erwartung wegfalle; und
doch der Ausgang hinlänglich vorbereitet,
Alles gehörig motivirt seyn müsse, damit
die Wahrscheinlichkeit nicht beleidigt
werde: sind lauter Vorschriften, die sich
aus dem Vorhergehenden schon von selbst
ergeben. ─ Der unangenehmste, schülerhafteste
Fehler in der Auflösung ist der:
wenn der Dichter das Schicksal der Personen
durch einen bloßen Zufall entscheidet,
durch eine plötzlich von außen sich
einmischende Ursache, einen Menschen
den er auf einmal wie aus den Wolken
fallen läßt, um der Verwirrung ein Ende [435]
zu machen. Dadurch wird unsre ganze
Erwartung gehemmt, die auf das Spiel
gerade dieser Ursachen gerichtet, gerade
darauf begierig war, was in solchen Lagen
solche Leidenschaften aus dem Menschen
machen würden. Das Interesse wird
in seinem vollen Feuer gelöscht, der Strom
in seinem stärksten Laufe abgeleitet, die
ganze Folge der Ideen zerrissen.


  Die Auflösung in unsrer Romanze ist
abermal in jeder der angegebenen Hinsichten
untadelhaft, und besonders ist die
Vorbereitung dazu vortrefflich. Der Vater
wird zuerst durch den Zweikampf zwischen
Ritter und Nebenbuhler seines Ehrenworts
entbunden; nicht allein der Anblick
des Getödteten, sondern auch die
überraschende Erscheinung der auf einmal
hervorbrechenden Vasallen des Ritters,
thut seinem Ungestüm plötzlich Einhalt; [436]
Ritter und Tochter gewinnen Zeit:
jener, seine Ansprüche, seine Vorzüge, seine
rechtschaffnen edeln Absichten; diese,
ihre Wohlfahrt, ihre ehedem erhaltnen Beweise
der väterlichen Huld, ihre und seine
eigenen Hoffnungen dem Vater ans Herz
zu legen. Gleichwohl sind wir des Erfolgs,
bei aller Kraft dieser vereinigten
Bewegungsgründe, nicht völlig sicher: erst
muß sich uns noch der Charakter des
Vaters in dieser prüfendsten wichtigsten
Situation völlig entwickeln; wir sehen noch
immer seine wiedererwachende Zärtlichkeit
mit Haß und Rachgier ringen: allein
am Ende trägt doch die erstere den Sieg
davon, und der Charakter zeigt sich zu
unserm Vergnügen als der wahrscheinlichste
väterliche Charakter. Dadurch ist denn
auf einmal Alles entschieden; das ganze
Schicksal der Liebenden ist bestimmt: und [437]
der Dichter kann in dem Augenblick
schließen, da er das Interesse aufs höchste
getrieben, uns am innigsten, am tiefsten
gerührt hat. ─


  Sowie die Auflösung in pragmatischen
Werken selbst das letzte ist; so mag auch
die Betrachtung derselben das letzte in
unsrer Entwicklung seyn. Vielleicht, daß
wir manchen wichtigen Punct übergingen:
entweder weil uns das einzelne Beispiel
welches wir vor uns hatten, keine Veranlassung
zur Erörterung desselben gab, oder
weil wir diese Veranlassung darin übersahen;
allein wenn uns auch diese Unvollständigkeit
zu Schulden käme, so haben
wir noch künftig Hoffnung ihr abzuhelfen,
da wir doch einmal, um der Formen
und um eines noch andern Eintheilungsgrundes
willen, zu dem pragmatischen
Gedicht wieder zurückmüssen. Dort [438]
werden wir denn auch alle die Zweifel,
die uns vermuthlich schon gegen so manche
hier vorgetragene Regel aufgestoßen
sind, am besten beantworten können. Wir
haben z. B. die ganz vollkommnen, die
ganz unvollkommnen Wesen verworfen;
aber in unsern neuern Epopöen giebt es
doch Engel und Teufel? Wir haben verlangt,
daß Alles dem gewöhnlichen Lauf
der Natur gemäß erfolge: aber in jenen
Epopöen wirkt ja nicht allein die Gottheit
oft unmittelbar, sondern in romantischen
Werken spotten ja die Feen, die
Gnomen, die Zauberer, die Riesen, oft
aller unsrer Begriffe von der Natur, aller
unsrer Erfahrungen von ihren unwandelbaren
Gesetzen. ─ Sollen wir alle diese
Werke als schlecht verwerfen? auch die
Idrisse, die Amadisse, die Oberons, von
denen wir es lieber gleich gestehen wollen, [439]
daß sie zu dem Schönsten und Anziehendsten
unsrer Literatur gehören? Oder
sollen wir, zur Rettung unsrer Theorie,
die Ausflucht nehmen, daß in diesen Werken
das Wunderbare selbst Natur sei?
Sollen wir sagen, daß Schönheiten von
ganz anderer Art uns diese Fehler vergüten,
und daß es keine Fehler mehr sind,
sobald sie zu jenen Schönheiten die nothwendigen
Bedingungen werden? Sollen
wir jene Werke aus der Classe der pragmatischen
lieber in eine andre Classe hinübersetzen?
─ Was für einen von diesen
Auswegen wir nach angestellter Untersuchung
auch wählen mögen: so sehen wir
wohl, daß der eigentliche Ort zu dieser
Untersuchung das Hauptstück von der
ernsthaften und komischen Epopöe sei;
und bis dahin also mag sie verschoben
bleiben, da wir hier fürs erste noch [440]
ganz andre Betrachtungen zu verfolgen
haben. ─ ─


  Schon in dem Hauptstück von der
Fabel, und in dem vom Lehrgedicht, haben
wir Mischungen dieser Dichtungsart
mit der didaktischen kennen lernen.
Auch hat sich in dem letztern dieser
Hauptstücke gezeigt, daß bald auf die
Wahrheiten, bald auf die Geschichte das
größere Interesse fällt, und also die aus
der Mischung entstehenden Werke bald
mehr didaktische, bald mehr pragmatische
sind. Es giebt der Arten dieser Mischung
noch mehrere, die wir schwerlich alle
mögten aufzählen können. In einer von
Geßner übersetzten Erzählung, oder vielmehr
Unterredung, Diderots * werden
mehrere kleine Facta, zum Theil nur unausgeführte
Situationen, nacheinander hingeworfen, [441]
die unter sich selbst keine Folge
machen, auch zu keiner Reihe von Wahrheiten
bestimmt hinführen, aber Gesichtspuncte
zu einer gewissen noch erst anzustellenden
moralischen Untersuchung enthalten.
In gewissen Theaterstücken, die
man Pièces à tiroir nennt, und die freilich
für die Bühne ein zu schwaches Interesse
haben, als daß man ihrer viele
wünschen sollte, werden mehrere einzelne,
wenig oder gar nicht verbundene,
Handlungen zusammengestellt, deren gemeinsamer
Endzweck ist, uns von einem
gewissen Charakter ein lebendiges anschauliches
Bild zu geben. Die eine der
zusammengestellten Situationen hebt dann
mehr den einen, die andre mehr den
andern Zug desselben hervor. Auch werden
zuweilen in größere Werke einzelne
Scenen von dieser Beschaffenheit eingestreut, [442]
um uns einen Charakter auf einmal
vollständiger erkennen zu lassen, als
es vielleicht durch die Haupthandlung selbst
gleich im Anfange möglich wäre. Ein Beispiel
davon giebt die erste Scene im zweiten
Aufzuge des Diderotschen Hausvaters.
─ Auf ähnliche Art, wie mehrere kleine
Handlungen, können auch mehrere kleine
Räsonnements über ganz verschiedne Gegenstände
aneinander gereiht werden, um
die Beschaffenheit eines Charakters nicht
bloß nach den Eigenthümlichkeiten des
Kopfes, sondern auch nach der Empfindungsart
des Herzens, dadurch in ein helleres
Licht zu setzen. Es sind davon gewiß
noch weit bessere Beispiele möglich,
als der Verfasser einer kleinen Erzählung:
Tobias Witt *

[figure]

, zu geben versucht hat.

ACHTES HAUPTSTÜCK.

[figure]


Von dem lyrischen Gedicht.

[443]
[figure]


Lyrisch heißt oft so viel als musikalisch,
und bezieht sich dann auf die äußre Form
eines Werks, auf die zum Gesang schickliche
Einrichtung desselben. Lyrisches
Schauspiel ist ein zum Singen eingerichtetes
theatralisches Stück, und gehört zu
der pragmatischen Gattung. Was wir hier
unter lyrischem Gedicht verstehn, ist eine
eigene Dichtungsart, die sich von den
bisher betrachteten nicht bloß durch äußre
Form, sondern durch Inhalt und Materie
unterscheidet.

[444]

  Man hat der lyrischen Dichtungsarten
mehrere: Ode, Lied, Elegie. Den Odendichter
hält man für den vornehmsten,
für den am meisten lyrischen Dichter;
eben in der Ode also wird das Wesen
dieser Dichtungsart am sichtbarsten hervorstechen
müssen: und so wollen wir
die Theorie derselben aus folgender Ramlerischen
Ode zu entwickeln suchen.


Auf ein Geschütz.


O du, dem glühend Eisen, donnernd Feuer
Aus offnem Ätnaschlunde flammt,
Die frommen Dichter zu zerschmettern, Ungeheuer,

Das aus der Hölle stammt!
  Wer zur Verheerung blühender Geschlechter
Dich an das Sonnenlicht gebracht,
Hat ohne Reue seine Mutter, seine Töchter
Frohlockend umgebracht.

[445]

Ganz nahe war ich schon dem Styx, ganz
nahe

Dem giftgeschwollnen Cerberus;
Ich hörte schon das Rad Ixions rasseln, sahe
Die Brut des Danaus,
  Verdammt zum Spott bei bodenlosen Fässern;
Und Minos Antlitz, und das Feld
Elysiens; den großen Ahnherrn eines größern
Urenkels, und sein Zelt
  Voll tapfrer Brennen sah ich: ihre Lieder,
Ihr Fest bei jedem Freudenmahl
Ist Er, der wider sechs Monarchen ficht, und wider
Satrapen ohne Zahl.
 Schon säng' ich seine jüngste That: wie
brausend

Ein Meer von Feinden ihn umfing,
Er aber seinen Weg hindurch auf zehentausend
Zertretnen Schädeln ging.
  Alcäus würde jetzt mein Lied beneiden;
Schon säh' ich Cäsarn lauschend nahn,
Mit ihm den weisen Antonin, und den von beiden
Gefeirten Julian.

[446]

Allein Mercur stand neben mir, und wandte
Durch seinen wunderbaren Stab
Den Ball, der mich ins Reich der Nacht zu
schleudern brannte,
Von meinen Schläfen ab.
  Denn ich soll noch die Laute stärker schlagen,
Wann Er durch Weihrauchwolken zeucht,
Die Kriegesfurie gefesselt an dem Wagen
Des Überwinders keucht;
  Wann Er, auf einem Throne von Trophäen,
Rund um sich her der Künste Kranz,
Und wir, im Musentempel, Seine Siege sehen,
Versteckt in Spiel und Tanz;
  Wann Er, ein Gott Osir! durch unsre Fluren
Im seligsten Triumphe fährt,
Indeß der Überfluß auf jede Seiner Spuren
Ein ganzes Füllhorn leert.


  Wir sehen sehr bald, daß dieses Stück
einen ganz andern Charakter hat, als alle
die wir bisher haben kennen lernen. Der
beschreibende, der pragmatische, der didaktische [447]
Dichter, jeder hatte seinen eigenen
Vorsatz, aus dem wir die ganze
Composition seines Werkes begreifen konnten.
Der beschreibende ging einen gewissen
Gegenstand nach seinen Theilen oder
Merkmaalen durch; der pragmatische gab
seinen Personen Absichten, deren Erreichung
sie in Thätigkeit setzte; und war
das Werk erzählend, so äußerte er noch
ganz deutlich den eigenen Vorsatz, uns
die ganze Entstehung einer Begebenheit
aus ihren moralischen und den concurrirenden
äußern Ursachen begreiflich zu
machen. Der didaktische setzte sich zum
Zweck, eine gewisse Erkenntniß zum Anschauen
zu bringen, eine ihm wichtige
Wahrheit zu lehren, zu beweisen, wider
Einwürfe zu retten. Durch diese Absichten
war der Ideengang aller dieser Dichter,
so viel Raum ihnen auch noch übrig [448]
bleiben mogte, doch immer zwischen gewisse
Gränzen eingeschränkt; sie durften
ihr Ziel nie gänzlich aus den Augen verlieren,
und auf gut Glück unherschwärmen:
oder der Charakter ihrer Dichtungsart
ging verloren. Welcher Zweck ist nun
noch für den lyrischen Dichter übrig?
Welchen finden wir in dem obigen Beispiel
erreicht? ─ Der Dichter war so
eben einer großen Gefahr entgangen; er
hat sich insoweit von seinem Schrecken
erholt, daß er über die Ursache derselben
nachdenken kann: sein Schrecken
wird im ersten heftigsten Augenblick zur
Wuth gegen das unschuldige Werkzeug;
im zweiten, zur Wuth gegen den Werkmeister
der es hervorbrachte: und nun,
nach Befriedigung dieses dringendsten
Triebes in seinem von Leidenschaft angeschwellten
Herzen, erwägt er erst die [449]
ganze Größe der Gefahr, der er entging.
Da seine Phantasie von den Werken und
Ideen der alten Dichter so ganz erfüllt
ist, so erwachen in ihr die Bilder der
Unterwelt, der im Tartarus bestraften
Verbrecher, der in Elysium belohnten
Tugendhaften. Und da die herrschende
Idee seiner Seele, die ihn nie verläßt,
sein König ist, so denkt er unter den
Letztern keinen eher, als Friedrich Wilhelm
den großen Ahnherrn des Königs;
und kaum daß er ihn im Geiste zu erblicken
glaubt, so singt er ihm schon die
letzte bewundernswürdige That seines Urenkels.
Voll von dem Lobe seines Monarchen,
und von der Begierde ihn noch
künftig zu loben, hält er seine Rettung
für ein Wunder: Mercur hat ihn erhalten,
daß er nach glorreich geendigtem
Krieg die Wohlthaten singe, die der Monarch [450]
im Frieden über sein Volk verbreiten
wird. ─ In dieser ganzen Reihe von
Gedanken will der Dichter, wie es scheint,
bloß seinem Herzen Luft machen; er will
uns nicht den Vorfall erzählen, nicht etwa
das Geschütz beschreiben, nicht über
die Begebenheit oder seinen Zustand philosophiren;
sondern sich bloß seiner Empfindungen,
sowie sie sich nacheinander
in seiner Seele entwickeln werden, entschütten.
Das aber führt, wie man sieht,
durchaus zu keinem bestimmten Ziele; der
Dichter läuft aus, ohne, dem Ansehn nach,
zu wissen, oder sich auch nur vorzusetzen,
wo er ankommen will.


  Aber irgend etwas muß doch seyn,
das auch hier den Ideengang leite; irgend
Ein Gesetz muß doch die Vorstellungskraft
auf ihrem Gange befolgen; denn
eine ganz regellos wirkende Kraft ist ein [451]
Unding. Und was für ein Gesetz wird
denn hier Statt finden? ─ Den didaktischen
Dichter führt die Vernunft von
Grund zu Folge, von Folge zu Grund;
den beschreibenden, führt die Betrachtung
des Gegenstandes selbst von Theil
zu Theil, von Erscheinung zu Erscheinung,
von Merkmaal zu Merkmaal; den
pragmatischen, führen die Wünsche, die
Begierden, die Leidenschaften, die er seinen
Personen giebt, zu Absichten, die Absichten
zu Mitteln: mithin herrscht auch
hier die Vernunft; nur daß sie, mit weniger
hellem Bewußtseyn, unter einem
Gewühl verworrner Vorstellungen wirkt.
Was führt nun aber den Odendichter?
was überhaupt jeden lyrischen Dichter?
─ Ein nur flüchtiger Blick auf das gegebene
Beispiel zeigt uns sogleich, daß
es die Phantasie ist, die ihn nach ihrem [452]
bekannten Gesetze leitet; daß bei ihm jeder
Gedanke andre verwandte Gedanken
weckt, und er immer unter dem Haufen
nach demjenigen greift, der vermöge seiner
eigenthümlichen Gemüthslage für ihn
das meiste Interesse, den meisten Reiz
hat.


  Nunmehr wird es uns klar, was wir
eigentlich dabei dachten, als wir dem lyrischen
Dichter Empfindungen zum Stoff
seiner Werke gaben. Jeder Dichter muß
mit Empfindung, muß aus der Fülle des
Herzens reden: kein andrer Ton ist wahrhaft
dichterisch; aber nicht jeder Dichter
macht die Rührung der Seele zum Hauptwerk.
Vielmehr sehen alle übrige vorzüglich
auf die Ideen, welche die Rührung
hervorbringen; der Ausdruck der
letztern hängt sich nur an den Ausdruck
der erstern: oder, wenn zuweilen die [453]
Rührung herrscht, so führt doch der Vorsatz
den der Dichter gefaßt hat, ihn bald
wieder zu seinem eigentlichen Gegenstande
zurück. Hingegen bei dem lyrischen Dichter
ist die Rührung Alles; er will nur
sein volles Herz entschütten: und so ist
sein Werk, wenigstens dem Ansehen nach,
weiter nichts als Ausdruck des Zustandes,
worein seine Seele durch gewisse Ereignisse,
gewisse Ideen versetzt ist; diese
Ideen selbst aber, oder diese Ereignisse,
erfahren wir nur gelegentlich: ohne weitern
Vorsatz, als sein volles Herz zu entschütten,
geht er fort, wie das Interesse
ihn führt, greift Wahrheiten, Bilder, Geschichten,
Alles was ihm vorkömmt; doch
ohne irgend etwas zum Hauptzweck zu
machen, ohne sich, wie es scheint, durch
irgend eine bestimmte Absicht fesseln zu
lassen.

[454]

  Zugleich hellt sich nun die ganze Eintheilung
des Gedichts nach der Materie
auf; wir erlangen von dem was wir uns
unter diesem Worte denken sollen, eine
deutliche Vorstellung. Wenn jedes Gedicht
eine lebhafte Ideenreihe in Worten
ist; so ist Materie das herrschende Gesetz
dieser Reihe *. Das herrschende;
denn jede Reihe kann alle andere entweder
als Theile in sich befassen, oder
sich mit ihnen als Formen vereinigen **:
und was ein alter Weiser von der ganzen
Natur sagte, daß Alles in Allem sei, das
läßt sich von den Werken der Dichtkunst [455]
vollkommen richtig sagen. ─ Werden die
Ideen verbunden, so wie sie in einander
gegründet sind; so sind die Gründe entweder
allgemeine Ideen des Verstandes:
und das Werk ist didaktisch; oder es
sind individuelle Neigungen des Herzens:
und das Werk ist pragmatisch. Beide
Dichtungsarten, wie sich schon im Vorigen
gezeigt hat, stehen in genauer Verwandtschaft.
Werden die Ideen so verbunden,
wie es die Theile in einem Ganzen,
die Merkmaale in einem Begriffe
sind, den der Verstand abstrahirt hat,
und den man jetzt als ein sinnliches
aus mehrern Theilen bestehendes Ganze
ansieht; oder werden sie verbunden, wie
sie sich in ihrer Folgo auf einander den
Sinnen, dem Gedächtnisse darbieten: so
ist das Werk beschreibend. Werden sie
endlich verbunden, sowie sie, nach dem [456]
Gesetz der Phantasie, auf mannichfaltige
Weise einander wecken: so ist das Werk
lyrisch. Die Eintheilung hat ihre Vollständigkeit:
denn es giebt keine mehrere
Gesetze, nach welchen sich die Ideenreihen
in unsrer Seele bilden ließen; und
die ganze Theorie der Dichtkunst hat also,
in Ansehung dieser Eintheilung, nur
die Frage zu beantworten: wie man jeder
dieser Ideenreihen den höchsten möglichen
Grad der Lebhaftigkeit gebe? ─


  Doch so befriedigend diese Eintheilung
scheint; so fragt es sich noch: ob unser
Begriff vom lyrischen Gedicht nicht vielleicht
zu enge, oder zu weit, oder gar
beides zugleich sei? Denn wie, wenn es
Stücke gäbe, in denen zwar sichtbar der
Phantasiegang herrschte, die man aber
darum nicht lyrisch nennen könnte? Wie,
wenn es andere Stücke gäbe, in denen [457]
man jenen Gang nicht fände, und die
doch, nach Aller Geständniß, lyrisch
wären?


  Zu der erstern Frage berechtigen uns
so manche Scenen in Schauspielen, die
nicht Theile der Handlung sind, und die
man Conversationsscenen nennt: denn hier
scheint das Gespräch bloß von der Phantasie
geführt zu werden; man kömmt von
einem aufs andre; geräth bald für sich
allein, bald durch den Mitunterredner,
auf ganz verschiedne, von den ersten
Gegenständen oft himmelweit entfernte
Dinge. Man sehe nur folgendes Bruchstück
einer solchen Scene aus Minna von
Barnhelm.


  Franciska. Und der Herr Officier, den wir
vertrieben, und dem wir das Compliment darüber
machen lassen; er muß auch nicht die
feinste Lebensart haben: sonst hätte er wohl
[458]
um die Ehre können bitten lassen, uns seine
Aufwartung machen zu dürfen. ─


  Das Fräulein. Es sind nicht alle Officiere
Tellheims. Die Wahrheit zu sagen, ich ließ
ihm das Compliment auch bloß machen, um
Gelegenheit zu haben, mich nach diesem bei
ihm zu erkundigen. ─ Franciska, mein Herz
sagt es mir, daß meine Reise glücklich seyn
wird; daß ich ihn finden werde. ─


  Fr. Das Herz, gnädiges Fräulein? Man
traue doch ja seinem Herzen nicht zu viel!
Das Herz redet uns gewaltig gern nach dem
Maule. Wenn das Maul eben so geneigt wäre,
nach dem Herzen zu reden, so wäre die Mode
längst aufgekommen, die Mäuler unterm Schlosse
zu tragen.


  D. Fr. Ha! ha! mit deinen Mäulern unterm
Schlosse! Die Mode wäre mir eben recht.


  Fr. Lieber die schönsten Zähne nicht gezeigt,
als alle Augenblicke das Herz darüber
springen lassen!


  D. Fr. Was? bist du so zurückhaltend?


  Fr. Nein, gnädiges Fräulein; sondern ich
wollte es gern mehr seyn. Man spricht selten
[459]
von der Tugend die man hat; aber desto öfter
von der, die uns fehlt.


  D. Fr. Siehst du, Franciska! da hast du
eine sehr gute Anmerkung gemacht.


  Fr. Gemacht? Macht man das, was einem
so einfällt?


  D. Fr. Und weißt du, warum ich eigentlich
diese Anmerkung so gut finde? Sie hat viel
Beziehung auf meinen Tellheim.


  Fr. Was hätte bei Ihnen nicht auch Beziehung
auf den?


  D. Fr. Freund und Feind sagen, daß er
der tapferste Mann von der Welt ist. Aber
wer hat ihn von Tapferkeit jemal reden hören?
Er hat das rechtschaffenste Herz; aber Rechtschaffenheit
und Edelmuth sind Worte, die er
nie auf die Zunge bringt.


  Fr. Von was für Tugenden spricht er
denn?


  D. Fr. Er spricht von keiner; denn ihm
fehlt keine.


  Fr. Das wollte ich nur hören.


  D. Fr. Warte, Franciska; ich besinne mich.
Er spricht sehr oft von Ökonomie. Im Ver-
[460]
trauen, Franciska; ich glaube, der Mann ist
ein Verschwender.


  Fr. Noch eins, gnädiges Fräulein. Ich habe
ihn auch sehr oft der Treue und Beständigkeit
gegen Sie erwähnen hören. Wie, wenn der
Herr auch ein Flattergeist wäre? ....
*


  In dieser Stelle, sowie überhaupt in
der ganzen Scene, aus der sie entlehnt
ist, leitet freilich bloß die Phantasie das
Gespräch; allein auf diese Phantasiereihe [461]
selbst kam es dem Dichter durchaus nicht
an: auch fällt nicht auf sie das Interesse
des Lesers. Der Dichter wollte uns theils
die Charaktere der hier auftretenden Personen
kennen lehren; theils auch noch
sonst einen Theil der Exposition seines
Stoffs machen, damit wir die nachher
unter den Personen vorfallende Handlung
desto besser verstehen mögten. Das letztere
rechnen wir dem Dichter nicht weiter
an; das erstere, die Darstellung interessanter
Charaktere, macht uns Vergnügen:
und nur als solche Darstellung, nur
als beschreibendes Stück von einer ähnlichen
Art, wie wir zu Ende des vorigen
Hauptstücks kennen lernten, hat die Scene
Interesse und Wirkung. So wie dort mehrere
einzelne Handlungen, mehrere einzelne
Räsonnements zusammengestellt wurden:
nicht, daß wir an ihnen selbst unser [462]
vornehmstes Vergnügen finden, sondern
daß wir die Züge eines Charakters aus
ihnen abziehen und einen anschauenden
Begriff von ihm erhalten sollten; so wird
auch hier eine durch bloße Gemeinschaft
der Merkmaale verbundne Reihe von
Gedanken hingeworfen: nicht daß diese
Reihe selbst uns vorzüglich rühren, hinreißen
soll, sondern daß wir die ganze
Sinnesart, Kopf und Herz der unterredenden
Personen, daraus kennen lernen.
Wir haben also auch hier eine mittelbare
Beschreibung, oder da dies Wort hier
wenig passend scheinen mögte, Schilderung;
wir erkennen immer mehr, wie
mannichfaltig sich die Materien mit einander
mischen, und unter wie vielerlei
Formen und Manieren des Vortrags der
Dichter die Wahl hat.


  Allein, worin liegt es denn nun, daß [463]
in der Ode das Interesse mehr auf die
Phantasiereihe selbst, in der Scene des
Lustspiels mehr auf den Charakter fiel,
der sich darin entwickelte? Wenn wir die
Ursache hievon entdecken, so muß uns
das zu einer nähern innigern Kenntniß
von dem Wesen der Ode und des ganzen
lyrischen Gedichts führen; und entdecken
werden wir sie, wenn wir die
Stücke näher mit einander vergleichen.


  Daß die Scene dialogirt und die Ode
fortgehende Rede war, kann hier schwerlich
den ganzen Unterschied machen: denn
es finden sich ja auch dialogirte Oden;
obgleich freilich die dialogische Form sich
mit dem Wesen dieser Dichtungsart nur
selten vertragen mag, weil wir sonst der
Beispiele mehr haben würden. Man sehe
hier die berühmte dialogirte Ode des Horaz
in einer deutschen Nachahmung.

[464]

Damis und Phyllis.


Damis.


Als ich mir noch die süſsen Küsse raubte,
Die Phyllis mir jetzt unerwartet giebt;
Da hab' ich sie mehr, als ich selber glaubte,
Mehr als mich selbst, hab' ich sie da geliebt.


Phyllis.


Als Damis Herz für mich zuerst entbrannte,
War unser Glück dem Glück der Fürsten gleich;
Als er mich noch sein braunes Mädchen nannte,
Galt ihm mein Kuſs mehr, als ein Königreich.


Damis.


Ach! Hymen hat die Flamme längst ersticket;
Nur Chloe setzt mein kaltes Herz in Brand.
Seit Chloe mir im Tanz die Hand gedrücket,
Empfind' ich, was ich sonst für dich empfand.


Phyllis.


Itzt könnt' ich mich an Thyrsis Lieb' ergötzen,
Der meinen Gram zu lindern längst begehrt.
Ja, Thyrsis will mir Damis Lieb' ersetzen;
Und ach! sein Kuſs wär' einer Sünde werth.


Damis.


Wie, wenn mich schon die neue Liebe reute?
Wie, wenn ich dir, die mich zuvor entzückt,

[465]

Mein dankbar Herz allein auf ewig weihte?
Und Chloe säh, wie mich dein Bund beglückt?


Phyllis.


Ich seh' es oft in deinem satten Blicke,
Daſs in dein Herz ein kleiner Kaltsinn schleicht;
Doch, wenn ich dich an meinen Busen drücke,
So lebt für mich kein Jüngling, der dir gleicht.


Lyrische Blumenlese, Buch 6.


Diesem Beispiele nach wäre eine dialogirte
Ode nur unter der Bedingung möglich:
daß die unterredenden Personen von
einer und der nehmlichen, oder doch sehr
ähnlichen gegenseitigen Empfindung durchdrungen
wären, und also jede ihre Empfindung
ungefähr eben so gegen die andre
entwickelte, wie sie es für sich allein
würde gethan haben.


  Doch dem sei, wie ihm wolle; so ist
dieses lyrische Stück der obigen Ode insofern
ähnlich: daß Eine Empfindung, und
eine solche die für das Herz äußerst wichtig [466]
ist, das ganze Gedicht füllt; daß diese
Empfindung sich der Personen gänzlich
bemeistert, alle ihre Aufmerksamkeit an
sich gezogen, alles übrige Interesse für
diesen Augenblick aus ihrer Seele verbannt
hat. In der Scene des Lustspiels
war dieses anders: denn obgleich Minna
die zärtlichste Liebe gegen Tellheim verräth;
so ist sie doch für itzt in die Empfindung
dieser Liebe nicht versenkt, nicht
verloren: sie hängt an dem Gedanken von
ihrem Liebhaber nicht mit der Inbrunst,
daß sie das was um sie ist, nur wie im
Traume sähe und hörte; vielmehr faßt
sie augenblicklich, ohne Verwirrung, und
ohne Verdruß gestört zu seyn, jede andere
Idee, die ihr von außen gegeben
wird; geht in jede verschiedenartige Empfindung
mit Leichtigkeit und Besonnenheit
über. Eben darum aber sind hier [467]
auch alle Ideen weniger lebhaft; der Ausdruck
hat weniger Innigkeit, weniger Fülle,
als wo sich die Seele mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit
einer einzigen Empfindung
hingiebt. In dem letztern Fall werden wir
mit in die Empfindung hineingezogen: die
Ideenreihe selbst hat ihr volles poetisches
Interesse; im erstern Falle rührt uns das
Bild der Person mehr als ihr Zustand:
wir sind müssig genug, es aus den einzelnen
zerstreuten Zügen in Gedanken zusammenzusetzen,
und wir schätzen die
Ideenreihe vorzüglich nur insofern, als
dieses Bild hell und lebhaft daraus hervortritt.



  Das also ist ein nothwendiges Erforderniß
zum lyrischen Gedicht: daß für
den Augenblick wo der Dichter die Empfindung
ausdrückt, die ganze Seele davon
durchdrungen, erfüllt sei. Nur so [468]
hat die Phantasiereihe, als solche, volle
Lebhaftigkeit, volles poetisches Interesse;
im entgegengesetzten Fall hat sie entweder
das einer andern Dichtungsart, oder
sie hat keines: sie ist Geschwätz.


  Allein es blieb uns oben noch eine
zweite Frage zu beantworten übrig; die
nehmlich: ob sich denn wirklich der
Phantasiegang in jedem lyrischen Gedicht
finden müsse? und ob es nicht lyrische
Stücke geben könne, in denen das enders
wäre? Zu diesem Zweifel ist wohl
die erste und wichtigste Veranlassung:
daß man in keine Gattung so viel Fremdes,
als in die lyrische, hineingezogen hat.
Jede lebhafte Schilderung, jede durch einzelne
charakteristische Züge der Empfindung
rührende, oder durch Naivetät belustigende
Erzählung, die der Dichter in
einem sehr theilnehmenden Tone und bestimmtem [469]
Sylbenmaß vorträgt; jede Reihe
von launigen Reflexionen oder Maximen,
die oft durch wenig mehr als durch einerlei
Refrän verbunden sind; jede witzige
Posse im Sylbenmaß des Liedes, heißt ein
lyrisches Stück: und so kam denn auch
folgendes, welches im Grunde nichts als
eine Reihe von Epigrammen ist, in die
Lyrische Blumenlese.


Erklärungen.


Seht, Freunde, Staxens Kleid von Gold und
Silber blitzen.

Ho! ho!
Doch, Freunde, seht ihn auch dereinst im Schuldthurm
sitzen.

So! so!
  Narr Kleon schreibt, und wird von aller
Welt erhoben.

Ho! ho!
Die Welt denkt ja wie er; drum muſs die Welt
ihn loben.

So! so!

[470]

Kein junger Amadis kann Julchens Hers besiegen.

Ho! ho!
Denn keiner nahm sich noch die Müh', es zu
bekriegen.

So! so!
  Lisette pflegt sich oft zum Beten einzuschließen.

Ho! ho!
Doch betet insgemein Amynt zu ihren Füßen.
So! so!


Buch 4.


Eine so weite Bedeutung aber kann man
dem Worte lyrisch nicht lassen, oder man
muß auf bestimmte, deutliche Begriffe
Verzicht thun. Die Bürgerische Romanze,
die wir im vorigen Hauptstück untersuchten,
war kein lyrisches; sie war ein pragmatisches
Stück.


  Eine zweite Veranlassung zu dem obigen
Zweifel kann daher entstehen: weil
die Phantasie nicht immer einen so kühnen, [471]
raschen, regellosen Gang, wie in
heftigen, stürmischen, die Seele schwellenden
Leidenschaften, geht; denn wo die
Empfindungen sanfter, weicher, wo sie
traurig und niederschlagend sind, da ist
der Schritt der Phantasie oft so gehalten,
so eben, als ob man wirklich von einem
bestimmten Vorsatz nach einem festen Ziel
hingeleitet würde. So nährt und befriedigt
sich der Kummer an einem Grabmaal,
durch Wiedererweckung des reizenden
Bildes der Geliebten, durch Zurückerinnerung
an jede frohe, zärtliche,
mit ihr verlebte Stunde; das herrschende
Interesse führt von den kleinen Abschweifungen
sogleich wieder auf die geliebte
Idee der Person und ihres Lebens zurück:
das Werk geht von der Empfindung aus,
und wird, wie von selbst, zur Beschreibung
oder Erzählung. ─ Ramler hat gewiß [472]
in seiner so naiven, dem Catull so
glücklich nachgeahmten Nänie von den
Verdiensten der „todten Wachtel“ keine
Beschreibung machen wollen; das Stück
sollte nichts als Ausdruck des Schmerzes
über den Verlust des kleinen lieben Lieblings
werden: allein dieser Ausdruck selbst
führte die Phantasie ganz natürlich in die
Beschreibung hinein.


Weint, ihr Kinder der Freude! Weine, Jocus!
Weine, Phantasus! Alle des Gesanges
Töchter, alle des jungen Frühlings Brüder,
Sirenetten und Zephyretten, weinet!
Ach! die Wachtel ist todt! Naidens Wachtel!
Die so gern in Naidens hohler Hand saß,
Und, gestreichelt von ihrer Rechten, achtmal
Ihren Silberschlag so hellgellend anschlug,
Daß das purpurbemalte Porzellan klang.
Wenn das Mädchen zu singen und zu spielen
Anhub, lauschte sie still, und nickte freundlich;
Wenn das Mädchen zu singen und zu spielen
Abließ, hüpfte die kleine Liederfreundinn

[473]

Auf die Laute des Mädchens, lockte horchend
In die Laute, daß alle sieben Saiten,
Bauch und Boden der Laute wiedertönten.
Wenn das Mädchen versenkt im Traum und
stumm saß,

Flog die Gauklerinn dem Pagoden Lama
Auf den Wackelkopf, wiegte mit dem Kopfe
Des Pagoden sich weidlich hin und wieder.
Ach! kein Vogel war diesem gleich! der Juno
Vogel nicht, der nur schön war; auch der Pallas
Vogel nicht, der nur klug war und nicht scherzte.
Unser Vogel war schön und klug. Naide
Scherzt' und kosete gern mit unserm Vogel.
Und der Vogel verstand Nalden: gab ihr
Nickend Antwort, schlug an, sobald sie winkte,
Ging und kam auf ihr Wort, und saß ihr rüstig
Auf der Schulter, und ließ sich küssen, ließ sich
Aus den Lippen der trauten Wirthinn ätzen....


  Noch eine dritte Veranlassung zu unserer
Frage konnten die Versuche der
Dichter seyn, Oden auf Handlungen zu
bauen, ihnen Handlungen unterzulegen.
sie verschweigen alsdann die Geschichte, [474]
heben nur die Ausdrücke der Empfindungen
heraus, die während des Verlaufs
derselben bei den Personen veranlaßt
werden, und lassen die veranlassenden
Umstände selbst von dem Leser errathen.
Allein, da nun doch der Leser sich selbst
die Erzählung machen muß, die der Dichter
nicht macht; da die Situation, aus
welcher die Empfindungen hervorspringen,
seine Aufmerksamkeit doch immer
am meisten an sich zieht, und da nur
allzuleicht die Einsicht in den ganzen Verlauf
der Handlung schwierig und dunkel
wird: so ist die Idee einer solchen Verbindung
der pragmatischen mit der lyrischen
Dichtungsart nicht die glücklichste,
und der Dichter hätte besser gethan, statt
der Ode eine Erzählung, allenfalls im
Sylbenmaß des Liedes, zu machen. Vielleicht
findet man diese Anmerkung auch [475]
durch folgenden Versuch unsers Ramler
eher bestätigt, als widerlegt.


Amynt und Chloe.


Ich bins, o Chloe! Fleuch nicht mit nacketem
Fuſs

Durch diese Dornen! fleuch nicht den frommen
Amynt!

 Hier ist dein Kranz, hier ist dein Gürtel!
    Komm, bade sicher; ich störe dich nicht.
Sieh her! ich eile zurück, und hänge den Raub
An diesen Weidenbaum auf. ─ Ach! stürze doch
nicht!

  Es folgt dir ja kein wilder Satyr.
    Kein ungezähmter Cyklope dir nach. ─
Dich, schlankes, flüchtiges Reh, dich hab' ich
erhascht!

Nun widerstrebe nicht mehr! Nimm Gürtel und
Kranz,

  Und weihe sie der strengen Göttinn,
    An deren ödem Altare du dienst.

[476]

  Endlich kann ein lyrisches Gedicht nur
Einen Gedanken enthalten, der nicht weiter
verfolgt wird: vielleicht, weil die Empfindung
so mächtig ist, daß sie nur diesen
Einen kurzen Ausbruch verstattet, oder
weil sie sich gleich Anfangs um so viel
abschwächt, daß der Dichter sinken würde.
Allein sie ist denn doch immer Anfang
einer innerlich fortlaufenden Phantasiereihe;
und so verschwindet auch dieser
letzte Zweifel gegen die Richtigkeit
der festgesetzten Erklärung. Zum Beispiele
einer solchen kurzen Ode mag folgende
dienen.


An Cidli.


Cidli, du weinest, und ich schlummre sicher,
  Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht;
    Auch, wenn stille Nacht ihn umschattend
decket,

      Schlummr' ich ihn sicher.

[477]

Wo er sich endet, wo ein Strom das Meer wird,
  Gleit' ich über den Strom, der sanfter aufschwillt;

    Denn, der mich begleitet, der Gott gebots
ihm!

      Weine nicht, Cidli!


Klopstock.


  Das hier gewählte Beispiel führt uns
sogleich auf die erste Regel, die der lyrische
Dichter in Ansehung des Gegenstandes
zu beobachten hat, welcher die
Empfindung veranlaßt. Der Leser muß
nothwendig diesen Gegenstand kennen,
wenn er die Empfindung theilen soll; denn
ohne Einsicht des Grundes, kann eben so
wenig das Herz sich interessiren, als der
Verstand Beifall geben. Also muß der
Dichter, wo er den Gegenstand nicht als
bekannt voraussetzen darf, die Veranlassung
seines Gedichts, selbst im Ausdruck
seiner Empfindung, angeben; doch freilich [478]
so, daß er es nicht zu wollen scheine.
─ Ein besondrer Kunstgriff, diese Exposition
zu machen, ist der, daß er die
kurze Erzählung der Veranlassung in seinem
eigenen Namen voranschickt, und
dann das Gedicht selbst einem Andern in
den Mund legt; wie das Ramler in Glaukus
Wahrsagung thut.


Als Ludewigs Pilot mit stolzer Flotte
Westgalliens beschäumtes Thor
Verließ, hub Glaukus aus der tiefen Felsengrotte
Sein blaues Haupt empor:
  „Unglücklicher!....


nur daß freilich der ganze Plan dieser
Ode noch einen Grund mehr zu dieser
Einrichtung enthält.


  Die übrigen Regeln des lyrischen Gedichts
lassen sich aus der Erklärung desselben
leichtlich ableiten. ─ Die Ideen
müssen immer über den Dichter, nie der [479]
Dichter über die Ideen herrschen; sobald
er zur Besonnenheit erwacht, hat sein Gesang
ein Ende: eine Art Schluß, die Uz
gebraucht hat. Das Natternheer der Zwietracht,
sagt er:


─ ─ ─ zischt uns ums Ohr,
Die deutschen Herzen zu vergiften,
Und wird, kömmt ihr kein Herrmann vor,
In Herrmanns Vaterland ein schmählich Denkmaal
stiften.
  Doch mein Gesang wagt allzuviel.
O Muse, fleuch zu diesen Zeiten
Alkäens kriegrisch Saitenspiel,
Das die Tyrannen schalt; und scherz' auf sanftern
Saiten!


  Wo also die Phantasie auf Abschweifungen
führt, da muß es nie sichtbare
Rücksicht auf Plan, sondern bloß die
Stärke der in der Seele herrschenden
Hauptempfindung seyn, was den Dichter
auf seinen ersten Weg zurückbringt. Beispiele [480]
von solchen Abschweifungen, und
von der wahren lyrischen Art wieder einzulenken,
giebt der Anfang der Ramlerschen
Ode an Rode.


Der du dem blutenden Cäsar beim Dolche des
Freundes in Purpur

  Das Antlitz hüllest, das den Mörder liebreich
straft;

Philippe Sohn zu des schnöde gefesselten Königes
Leichnam

 Voll Wehmuth hinführst; Ilions laut ächzenden

Priester mit Drachen umwindest, o Rode, Melpomenens
Maler!

  Verlaß die keusche Großmuth deines Scipio,
Deines Coriolans gefahrenvollen Gehorsam;
  Verlaß der Brennusfürsten stolze Reihe jetzt,
Von dem Fahneneroberer Albert-Achill, bis zu
Wilhelms

  Erhabnem Schatten, Wilhelms, der durch
Schnee, durch Eis,

Wie der Sturmwind, sein Heer auf die flüchtige
Ferse des Feindes

[481]

Und seinen feigen Nacken stürzt; ─ und sage
mir:

Welche Gottheit dir Feuer zu deinen Schöpfungen
eingoß,

 Und diese kalte Sanftmuth, eiteln Aberwitz
Still zu dulden, den Neid .... ─


  Hat sich die Phantasie von ihrem Hauptgegenstande
so weit verloren, daß keine
Rückkehr zu demselben anders als durch
Besonnenheit mehr Statt finden würde; so
schließt das Gedicht. Dergleichen Schlüsse
finden sich da am häufigsten, wo die Phantasie
einen sehr lebhaften Anstoß erhalten
hat: sei es durch das aufserordentliche Interesse
des Gegenstandes, oder durch ihr
eignes mehr orientalisches Feuer. Der
Psalmist giebt Beispiele davon. Man sehe
den


133sten Psalm.


  Siehe! wie fein und lieblich ists, daſs Brüder
einträchtig bei einander wohnen! Wie der
[482]
köstliche Balsam ist, der vom Haupt Aarons
herabfleußt in seinen ganzen Bart, der herabfleußt
in sein Kleid. Wie der Thau, der vom
Hermon herabfällt auf die Berge Zion: denn
daselbst verheißt der Herr Segen und Leben
immer und ewiglich.


Luther.


Ein vortreffliches Beispiel giebt noch der
126ste Psalm, und mehr andere. ─ Ausschweifungen
von der eigentlichen Hauptidee
sind in jedem leidenschaftlichen Zustande
der Seele natürlich; besonders da,
wo der Gegenstand sie erhebt, sie erweitert:
immer will die Phantasie ins Freie,
ins Weite; und so hat, bei andern Dichtern
der Vorsatz, bei dem lyrischen das
Hauptinteresse, beständig daran zu arbeiten,
daß die Phantasie eingeschränkt
und zurückgeholt werde. Dies ist der Ursprung
der oft so großen, aus so vielen
und mancherlei Gliedern zusammengeflochtenen, [483]
Perioden des Odendichters,
des epischen, des didaktischen Dichters,
des Redners. Einen der schönsten Perioden
dieser Art haben wir S. 281 folg. gesehen.



  So sehr es wider die Natur des lyrischen
Gedichts wäre, irgend eine bestimmte
Absicht zu verrathen: so kann doch
der Dichter in der That eine Absicht hegen,
wenn er sie nur verbirgt; und oft
wird er sie eben dadurch, daß er sie verbirgt,
desto glücklicher erreichen. Eine
solche hinter der Phantasiereihe versteckte
Absicht nennt man den Plan einer Ode.
In der Ode auf das Geschütz war der
Plan: die Verrherrlichung des Königs,
nicht bloß als siegreichen Helden, sondern
auch als großen Regenten im Frieden.
Auf die Anlage eines solchen Plans,
oder auf die Art und Weise, wie mitten [484]
in dem scheinbar freien Laufe der Phantasie
eine bestimmte Absicht heimlich erreicht
wird, beruht hauptsächlich das Verdienst
der Neuheit und Eigenheit einer
Ode. ─ Es wäre vielleicht ein schönes,
empfindungvolles, aber doch im Ganzen
immer nur gemeines Stück geworden,
wenn Horaz den nach Griechenland reisenden
Virgil bloß mit seinen guten
Wünschen und einem feurigen Gebet an
die Götter hätte begleiten wollen. Virgil
würde seinen Freund Horaz allerdings darin
erkannt haben; aber wie vial mehr
muß er ihn noch in der Betrachtung erkennen,
die der Dichter, sogleich nach der
ersten Anrede an das Schiff, in einem so
bittern aufgebrachten Tone über die Verwegenheit
des ersten Erfinders der Schifffahrt,
und überhaupt des ganzen menschlichen
Geschlechts, anstellt. So sehr dieses [485]
Abschweifung scheint, so sehr ist es
der Absicht gemäß; so äußerst freundschaftlich
und verbindlich ist es, und so
sehr beschäftigt es mit dem Herzen zugleich
den Verstand, der hier so unerwartet
auf einen so eignen und doch so
richtigen Zusammenhang der Empfindungen
geführt wird.


  Die Verbindung zwischen der Anrede
und der Betrachtung geschieht in der eben
erwähnten Horazischen Ode durch einen
Sprung, der nicht wenig unerwartet und
rasch ist. ─ Sprünge entstehen in einer
Ideenreihe, wenn verbindende Mittelideen
überhüpft, verschlungen werden; so daß
der Leser selbst sie ergänzen muß, um
den Zusammenhang zu erkennen. Solche
Sprünge kommen, wie wir schon im fünften
Hauptstück gesehen haben, in jeder
poetischen Schreibart vor; denn sie sind [486]
in dem Grundgesetz der Lebhaftigkeit gegründet,
welches die Ideen, soviel die
Deutlichkeit es erlaubt, zusammen zu
drängen befiehlt. Vorzüglich aber sind
dem lyrischen Dichter die Sprünge eigen;
eben weil dieser, so frei und ungefesselt,
bloß den Gang der Phantasie geht, durch
keine Rücksicht auf Plan sich einschränken
läßt, und bei der lebhaftern Bewegung
seines Gemüths jeden Augenblick
tiefer in die Ideenreihe hineinblickt. Er
greift dann oft gerade das Entfernteste,
wenn, vermöge der Beschaffenheit seiner
Gemüthslage, ihm dieses Entfernteste auch
das Interessanteste wird. Doch muß auch
bei ihm die Verbindung noch immer können
nachgefunden werden; die Ideen
müssen nicht, wie vom Sturmwinde zusammengetrieben,
sondern wie von einem
gesunden, nur sehr lebhaften, Kopfe zusammengedacht [487]
erscheinen. Die Wörter:
Wuth, Trunkenheit, Raserei, mit denen
man den Zustand des Odendichters zu
charakterisiren pflegt, sind Metaphern, aus
denen man nicht Ernst machen, sondern
sich immer der Uzischen Anrede an die
Muse erinnern muß:


O Muse, fleug mir vor;
Du, deren freier Flug oft irrt, nie sich verirret!


  Sowie die Sprünge, so sind auch überhaupt
Gedrängtheit, Innigkeit, Fülle des
Tons, dem lyrischen Dichter vor allen
andern eigen; aus dem sehr begreiflichen
Grunde: weil er so ganz in seinen Gegenstand
vertieft ist; weil er mit seiner
ganzen ungetheilten, von jeder Rücksicht
auf Plan und Endzweck unzerstreuten,
Seelenkraft seine Ideen bearbeitet. ─ In
welchem Grade er soll begeistert werden,
wie hoch er seinen Ton spannen, oder [488]
wie tief er ihn herabstimmen soll: das
läßt sich zwar nie aus der Natur des Gegenstandes
allein bestimmen; aber es giebt
gleichwohl Überspannungen des Tons, die
auch da wo man das wärmste Herz und
die feurigste Phantasie voraussetzt, noch
Überspannungen bleiben. Gesunde Köpfe
können von jedem gegebenen Gegenstand
nur bis auf einen gewissen Grad, und von
andern die mit den Neigungen des Herzens
durchaus in keinem Zusammenhange
stehen, ganz und gar nicht gerührt werden.
Dürre, wissenschaftliche Abstractionen
zu personificiren, und sich dann bis
zur Begeisterung von ihnen hingerissen
zeigen, ist ein Einfall, der sich durch kein
außerordentliches Feuer der Einbildungskraft,
keine besondere Eigenheit des Genies
entschuldigen läßt: denn wäre nicht
offenbar die Begeisterung gemacht und [489]
erkünstelt, so würde eine so seltsame Eigenheit
eher Mitleiden als Bewunderung
verdienen.


  Das Feuer des Tons wovon wir hier
reden, kann, außer den oben schon angegebenen,
eine neue Veranlassung zum
Schluß der Ode werden. Der Dichter
schließt nehmlich, wenn die Empfindung
bei ihm so hoch schwillt, daß er nichts
mehr sagen kann, oder doch wenigstens
nichts, was nach den großen Ideen auf
die er gerathen ist, noch gesagt zu werden
verdiente. Daher oft der Schluß mit
dem stärksten, reichsten, erhabensten Gedanken,
wie in der obigen Ode auf ein
Geschütz von Ramler. Der Dichter kehrt
hier in den Zustand des stummen Anstaunens
zurück, der vor der Ode vorherging,
oder mit dem auch die Ode hätte
anfangen können.

[490]

  Der Anfang einer Ode nehmlich ist
da, wo die Seele eines Gegenstandes so
voll wird, daß die Empfindung sie übermannt;
oft auch, wenn der Gegenstand
sie überrascht hat, schon mitten in der
Verwirrung, wo der Affect noch Worte
sucht. Daher der so häufig gebrauchte,
aber auch durch Gebrauch schon abgenutzte
Anfang: Wo bin ich? Wie ist mir?
den die lyrischen Dichter auf so mancherlei
Art haben zu variiren gewußt:


Wohin wird mein Gesang verschlagen?


Uz.


Wohin, wohin reißt ungewohnte Wuth
Mich auf der Ode kühnen Flügeln,
Fern von der leisen Fluth
Am niedern Helikon und jenen Lorbeerhügeln?


Ebenders.


imgleichen die noch so allgemeinen, nichts
Bestimmtes sagenden Redensarten: Ich will [491]
singen; ich thue meinen Mund auf; ich
fühle den Gott im Busen, u. s. w. Insgemein
redet dann auch der Dichter in einem
sehr stolzen zuversichtlichen Tone
von sich selbst, und dem Werke das er
hervorbringen wird.


Ich fliehe stolz der Sterblichen Revier;
Ich eil' in unbeflogne Höhen.
Wie keuchet hinter mir
Der Vogel Jupiters, beschämt mir nachzusehen!


Uz.


Mit sonnenrothem Angesichte
Flieg' ich zur Gottheit auf. Ein Strahl von ihrem
Lichte

Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner
klang.

Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,
Wie eine Fluth von furchtbarn Klippen,
Sich strömend fort, und braust von meinen
Lippen!


Ebenders.


Eine so stolze, die Erwartung so hoch [492]
spannende, Ankündigung dürfte kein anderer
Dichter wagen; dem lyrischen wird
sie, wegen der Gemüthsverfassung die
man bei seinem Werke voraussetzt, verziehen;
ja, es wird ihm sogar verziehen,
wenn er die Erwartung ganz und gar
nicht befriedigt, sondern nach der Ankündigung
aufhört. Dies geschieht da, wo
er sich seinen Gegenstand so groß denkt
und sich selbst so trunken zeigt, daß er,
nach der Ankündigung seines Vorsatzes,
wenn er ihn nun ausführen soll, in stummes
Bewundern und Anstaunen zurücksinkt.
So Horaz in der 25sten Ode des
3ten Buchs, wo eben das Nichtsingen des
August, dessen Lob er so prächtig ankündigt,
die feinste und ausgesuchteste
Schmeichelei ist.


  Wir haben vorhin von Feuer des Tons
gesprochen; es versteht sich, daß dieses [493]
Feuer, nach Verschiedenheit des Gegenstandes
und der auszudrückenden Empfindung,
seine mannichfaltigen Grade hat,
wo es oft kein Feuer mehr genannt werden
kann. Denn einmal bezeichnet man
doch mit diesem Worte nur die höhern
Grade der Wärme, wo die Seele inniger,
stärker erschüttert ist, und mit weitern,
kühnern Schritten durch die Ideenreihe
forteilt. Die Hauptpflicht des lyrischen
Dichters wird seyn: daß er die ganze
Natur jeder Art von Empfindung, mit
allen ihren Mischungen, Übergängen in
verwandte Empfindungen, Ursachen ihres
Wachsthums und ihrer Abnahme, die ganze
Art wie jede die Seele stimmt und modificirt,
sorgfältig erforsche; denn nur so
wird er überall richtig, originell, in seinen
Planen bedeutend seyn; nur so die
Sprache der durch sie auszudrückenden [494]
Empfindung, nach der jedesmaligen Natur,
dem jedesmaligen Grade derselben,
völlig anschmiegen. Bei dem was wir hier
Sprache nennen, bei der ganzen wörtlichen
Bezeichnung der Ideen; kömmt es
auf zweierlei an: zuerst auf die Wahl der
Wörter, Bilder, Redensarten, nach der
ganzen genauern Bestimmung ihrer Bedeutung,
da sie bald mehr bald weniger sagen,
bald höher bald niedriger, bald edler
bald gemeiner sind, bald auf solche
bald auf andere Nebenideen führen; auf
die Art ihrer Verbindung und Zusammenstellung
in einzelnen Sätzen und ganzen
Perioden, da sie anders und anders verflochten,
mehr oder weniger zusammengedrängt,
einige mehr ins Licht gerückt,
andre mehr im Schatten gehalten werden;
auf den richtigen Gebrauch der Figuren,
von denen S. 153 die Rede war; mit einem [495]
Wort: auf das was man, im engern Sinne
des Worts, Sprache, Diction nennt. Und
dann zweitens kömmt es auf das Mechanische
an, oder auf das was bei der
Rede den äußern Sinn rührt, auf den
Klang und den Rhythmus. Wie wichtig
dieses Mechanische zur Verstärkung der
Lebhaftigkeit der Ideen sei, ist schon oft
erinnert worden; wie ausnehmend wichtig
die Diction sei, muß ein Jeder ohne
Beweis empfinden, der den Eindruck eines
Werks, wo alle einzelne Wörter, Redensarten,
Wendungen, Bilder, Figuren,
sorgfältig nach der itzigen Seelenbewegung,
dem Maße der itzt erforderlichen
Kraft des Gedankens gewählt sind, mit
dem Eindruck eines andern vergleicht,
dessen Sprache unangemessen, ungleich,
bald zu hoch bald zu niedrig, bald zu
stark bald zu matt, bald zu gedrängt bald [496]
zu weitschweifig ist. Dergleichen Fehler
der Sprache können oft, jeder an sich,
nicht von der größten Wichtigkeit seyn;
aber eine zu große Menge solcher Fehler
wird jedem Dichter an seinem Werk Vieles,
dem lyrischen Alles verderben: weil
bei diesem das ganze Interesse auf der
Empfindung, auf der Art und Weise beruht
wie er gerührt ist, und weil der Ausdruck,
die Mittheilung dieser Rührung,
von Sprache, von Mechanismus der Sprache,
so vorzüglich abhängt. Keinem Dichter
raubt daher auch der beste Übersetzer
in fremde Sprachen so viel, als dem lyrischen
Dichter.


  Über das Charakteristische der verschiednen
Füße und Sylbenmaße werden
bei Lesung des Horaz Betrachtungen angestellt;
und dort sind sie ohne Zweifel
an ihrem rechten Ort. Nur die den verschiedenen [497]
lyrischen Dichtungsarten eigenthümlichen
Sylbenmaße sollten wir hier
freilich noch zu bestimmen suchen; aber
dazu müßten wir nothwendig von jenen
Dichtungsarten erst deutliche Begriffe haben.
Es scheint, daß man die ganze Eintheilung
in Ode, Lied, Elegie, bloß hat
auf die verschiedne Einrichtung des Mechanischen
gebaut; und da diese Einrichtung
in gewisser Absicht noch immer willkürlich
bleibt, da auch nicht immer das Mechanische
nach der größten Schicklichkeit
und Übereinstimmung mit dem Inhalt gewählt-wird:
so kann man leicht abnehmen,
wie schwankend und unbestimmt in
Ansehung der innern Merkmaale die Begriffe
haben bleiben müssen. Dennoch
findet sich in dem Mechanischen bei Ode
und Elegie etwas Eigenes, wodurch sich
beide von dem Liede unterscheiden; und [498]
wenn wir dieses Eigne entwickeln, so
werden wir dadurch vielleicht dem wahren
Wesen der angegebenen drei Dichtungsarten
näher kommen. Da wir einmal
aus dem Innern das Mechanische nicht
bestimmen können; so wollen wir umgekehrt
aus dem Mechanischen das Innre
zu finden suchen.


  Neuere Odendichter, wie z. B. unter
den Deutschen Klopstock, Denis u. a. haben
das Eigne, daß sie sich zuweilen eine
Mischung mehrerer Zeilenmaße erlauben,
und sich an keine bestimmte Strophen
binden. Andere, wenn sie auch in Sylbenmaß
und Strophenbau Einförmigkeit
beobachten, pflegen doch, wie Horaz und
Ramler, die Abschnitte mannichfaltig zu
versetzen, und Zeilen und Strophen so in
einander hinüber zu schlingen, daß man
ihre regelmäßige Gleichheit oft kaum gewahr [499]
wird. Man sieht ganz deutlich, daß
bei ihnen diese Freiheit nicht Nachlässigkeit,
daß sie mit Fleiß gesuchte und bedeutende
Schönheit ist. In Liedern hingegen
wäre eine solche Freiheit wahre
Nachlässigkeit, wahrer Flecken. In diesen
erwartet man weit mehr Einförmigkeit
in Beobachtung der Abschnitte; man
erlaubt weniger Verschlingung der Zeilen,
weniger Verflechtung der Perioden; mit
dem Schluß jeder Strophe will man, daß
der Gedanke vollendet, die Periode geschlossen
sei. ─ Ferner liebt der Odendichter
die vollern, tönendern, prächtigern
Sylbenmaße, die den Mund mehr
füllen, den Athem mehr anstrengen; auch
die aus mancherlei Füßen zusammengesetzen,
die weniger bestimmten, die sich
wie der Hexameter mannichfaltig ausbilden
lassen: so, daß er auch hier sich Freiheit [500]
zu mehr Abwechselungen des Tons
läßt. Der Liederdichter liebt dagegen die
leichtern, fließendern, kürzern, bestimmtern
Sylbenmaße, die aus lauter gleichförmigen
Füßen, Jamben, Trochäen, Daktylen
bestehen. Oder wenn er einst unbestimmtere
Sylbenmaße wählt; so ist es
bei ihm ein Verdienst, was bei dem Odendichter
keines ist, die Füße darin durchgängig
nach Einer Regel zu mischen; so
wie Uz in seinem so wohlklingenden Stücke
„der Frühling“ gethan hat, welches
freilich noch eher Ode als Lied ist. ─
Der Elegische Dichter unterscheidet sich
von beiden, von Oden-und Liederdichtern,
dadurch: daß er in seinen Sylbenmaßen
am einförmigsten ist, keine Strophen
baut; nur mit zweierlei verschiednen
Zeilen wechselt: bei den Alten mit
Hexameter und Pentameter, bei den Neuern [501]
insgemein mit dem männlichen und
weiblichen Alexandriner oder Trochäus.
Ein deutscher Dichter charakterisirt die
Elegie durch folgende Züge:


Ich sah die Elegie hellglänzend vor mir stehn.
Ihr Hals war regellos mit Locken überdecket;
  Ihr Auge war verweint, doch auch verweint
noch schön.

Viel träge Weichlichkeit verrieth der Bau der
Glieder.

  Ein schleppendes Gewand, das ohne Reichthum
war,

Umfloß die volle Brust, stieg mit ihr auf und
nieder,

  Und seine Länge barg der Fersen ungleich
Paar.


v. Nicolay.


  Sowie das Mechanische, so auch in den
verschiedenen Dichtungsarten die Diction.
Der Odendichter liebt meist die edelsten,
prächtigsten, seltensten Wörter: er holt
aus dem Sprachschatz längstvergeßne Ausdrücke [502]
wieder hervor, die bei dem Reiz
der Neuheit, da sie so lange nicht mehr
erschienen, das Ehrwürdige des Alterthums
haben; er wagt eigne, oft ungewohnte
Zusammensetzungen von Wörtern, zufrieden,
wenn nur irgend eine bekannte
Analogie der Sprache sie rechtfertigt;
er schmückt seinen Ausdruck mit neuen,
kühnen, unerwarteten Bildern. In Liederdichtern
findet man alle diese Freiheiten
weit weniger: sie lieben bedeutende, aber
nicht fremde Wörter; gewählte, aber nicht
ungewöhnliche, auffallende Redensarten
und Verbindungen; Bilder, aber nicht zu
kühne, prächtige Bilder. In Elegieen vollends
nähert sich die Diction schon weit
mehr der Prosa: sie ist weit weniger stark,
gedrängt, geschmückt; enthält sich aller
raschern Wendungen, aller glänzenderen
Sprach- und Sachfiguren.

[503]

  Vorausgesetzt nun, das Mechanische
wäre der Diction, beides wäre dem Inhalt,
der Natur der ausgedrückten Empfindung
überall völlig angemessen: worauf
würde, schon nach dem Mechanischen,
das Wesen der drei Dichtungsarten beruhen?
─ Da, unsrer Erklärung nach, das
Wesen jedes lyrischen Gedichts überhaupt
Phantasiegang einer Seele ist, die sich
ganz dem Eindruck eines Gegenstandes
hingiebt, so müßte das Wesen der untergeordneten
Dichtungsarten in nähern Modificationen
eben dieses Phantasieganges
liegen; und wie würden wir nun diese
Modificationen bestimmen? ─ Die Freiheit
in der Mischung der Zeilenmaße, die
mannichfaltiger vertheilten Abschnitte, die
in einander hinübergeschlungenen Strophen,
die größere Fülle und Pracht, zeigen
deutlich: daß der Odendichter, um [504]
mich so auszudrücken, in seinem Gange
bald kräftiger, gewichtiger auftritt, bald
mit mehr Hitze und Ungestüm forteilt,
bald ungleichförmiger, regelloser die Geschwindigkeit
seines Laufes abändert, als
Lieder- und Elegieendichter. Das Gleichförmigere
in Füßen und Strophenbau, das
Leichtere, Kürzere, das mehr Fortfließende
in dem Sylbenmaß des Liederdichters
zeigt an: daß bei ihm die Phantasie von
jedem einzelnen Gedanken weniger erfüllt
ist; nicht weite, kühne, aber auch
nicht enge, träge Schritte thut, nicht ungestüm
und reißend, nur munter, frisch,
lebhaft durch die Ideenreihe hineilt. Das
sehr Einförmige, Schleppende, Weichliche
im Sylbenmaß des Elegieendichters beweist:
daß bei ihm die Phantasie länger
auf jedem Gedanken ruht, ihn gleichsam
ungern verläßt, mit weit mäßigern, engern [505]
Schritten durch die nächsten Ideenverbindungen
sanft und eben fortgleitet.
─ Alle stärkere, alle stürmische, oder
erhabne Empfindungen also, die die Seele
schwellen und fortreißen, würden wir dem
Odendichter; alle mittlere, mäßige, die
sie lebhaft, aber gemächlich bewegen, dem
Liederdichter; alle zärtlichere, weichere,
die sie abspannen, die ihre Bewegung
hemmen, dem Elegieendichter geben.


  Der hier festgesetzten Gränzscheidung
der Begriffe ist wenigstens die eine Beobachtung
günstig: daß der Odendichter
von jeher gern Götter, Helden, Schlachten,
Triumphe, also große, erhabene,
schreckliche Gegenstände wählte; der Liederdichter
gern Liebe, Wein, Schönheit,
Frühling sang, also sich in fröhlichen, in
ergötzenden Gegenständen gefiel; der Elegieendichter
gern klagte, weinte, oder auch [506]
wohl mit sanfter Rührung seine stille Ruhe
und Zufriedenheit pries, also das Traurige,
das bloß Angenehme zu seinem Stoffe
machte. Hingegen ist dieser Gränzscheidung
zuwider: daß man so oft Lieder
nennt, was in der That, wie die Amazonenlieder
unsers Weiße, beim bloßen
Sylbenmaß des Liedes, Odengeist, Odenton
hat; daß man von Anakreontischen
Oden spricht, wo sich Stoff, Diction, Mechanismus,
Alles vereinigt, um die Benennung
des Liedes zu fordern; endlich, daß
man Stücke, die, Gegenstand und Empfindung
nach, nur in Strophen gebrachte
Elegieen wären, mit dem Namen von
Traueroden belegt. Indeß ist der Schade,
den das Schwankende dieser Benennung
thun kann, zu unwichtig, als daß
man dagegen eifern sollte; auch würde
ohnehin der Grund des Unterschiedes, da [507]
er ein bloßer Grad, ein bloßes Mehr oder
Weniger ist, keine so ganz feste Gränzscheidung
erlauben.


  Man spricht, noch in einer andern Hinsicht,
von lyrischen Gattungen: man nennt
Hymnen oder geistliche Oden Stücke, die
der Verherrlichung des höchsten Wesens
geweiht sind; geistliche Lieder und Gesänge
überhaupt, alle Stücke worin sich
religiöse Empfindungen ergießen; heroische
Oden, Loboden, solche, in denen
Thaten der Helden, in denen überhaupt
große bewundernswürdige Thaten und
Tugenden gepriesen werden. Denn nicht
nur Krieger sind der Lobgesänge der
Dichter würdig;


Auch Ihr, der Staaten friedliche Wächter, habt
Ein hohes Recht an seinen geflügelten
  Gesängen; auch der tapfre Richter
    Mächtiger Frevel und armer Unschuld;

[508]

Auch, deren Geist dem immer erneuerten
Geschlecht der Menschen Güter und Künste
fand;

  Auch, wer allwachsam seinen Bürgern
    Überfluß, Sitte, Gesundheit mittheilt.


Ramler.


So spricht man auch von moralischen,
philosophischen Oden, u. s. w. Die ganze
Eintheilung aber hat in die Theorie des
lyrischen Gedichts eben so wenig Einfluß,
als die Eintheilung in Kunst-, moralische,
philosophische Lehrgedichte in die des didaktischen
hatte; und so schweigen wir
denn auch von jener, wie wir von dieser
schwiegen.


  Die lyrische Dichtungsart ist die glänzende
Seite unsrer poetischen Literatur,
wo die Wahl unter so vielen und so
schätzbaren Stücken am meisten schwer
fällt. Nur aus wenigen der berühmtesten
frühern Dichter heben wir einige Stücke [509]
aus, die doch zum Theil, wenigstens hie
und da, der Kritik noch einige Blößen
geben mögten.


  Beispiele von Oden mögen folgende
seyn.


Die wahre Gröſse.


In meinen Adern tobt ein juvenalisch Feuer;
Der Unmuth reichet mir die scharfgestimmte Leier.
Maſst sich des Pöbels Wahn
Das Urtheil nicht von groſsen Seelen an?
  Sei Richter, liebster Gleim! (der Pöbel soll
nicht richten!)

O du, der jedes Herz mit reizenden Gedichten
Nach Amors Willen lenkt,
Der schalkhaft scherzt, und frei und edel denkt!
  Ein Mann, der glücklich kühn zur höchsten
Würde flieget,

Und weil er, Sklaven gleich, vor Groſsen sich
geschmieget,

Nun als ein groſser Mann
Auch endlich selbst in Marmor wohnen kann:

[510]

Der heißt beim Pöbel groß, da ihn sein
Herz verdammet;

Und wenn der Bürger Gold auf seinem Kleide
flammet,

So sieht die Schmeichelei
Vor Schimmer nicht, wie klein die Seele sei.
  Soll seines Namens Ruhm auf späte Nachwelt
grünen?

Dem Staate dient er nur, sich Schätze zu verdienen.

Bereichert ein Verrath:
So, zweifle nicht, verräth er auch den Staat.
  Der Absicht Niedrigkeit erniedrigt große
Thaten.

Wem Geiz und Ruhmbegier auch Herkuls
Werke rathen,

Der heißt vergebens groß;
Er reißt sich nie vom Staub des Pöbels los.
  Zeuch, Alexander, hin bis zu den braunen
Scythen,

Irr' um den trägen Phrat, wo heißre Sönnen
wüthen,

[511]

Und reiß dein murrend Heer
Zum Ganges hin bis ans entfernte Meer!
  Du kämpfest überall, und siegest wo du
kämpfest,

Bis du der Barbarn Stolz, voll größern Stolzes,
dämpfest,

Und die verheerte Welt
Vor ihrem Feind gefesselt niederfällt.
  Verkenne Menschlichkeit und menschliches
Erbarmen!

Von deinem Haupte reißt, auch in des Sieges
Armen,

Der Tugend rauhe Hand
Die Lorbeern ab, die Ehrsucht ihr entwand.
  Mit Lorbeern wird von ihr der beßre Held
bekränzet,

Der für das Vaterland in furchtbarn Waffen glänzet,
Und über Feinde siegt,
Nicht Feinde sucht, nicht unbeleidigt kriegt;
  Der Weise, der voll Muths, wann Aberglaube
schrecket,

[512]

Und Wahn die halbe Welt mit schwarzen Flügeln
decket,

Allein die Wahrheit ehrt,
Und ihren Dienst aus reinem Eifer lehrt;
  Der echte Menschenfreund, der bloß aus
Menschenliebe

Die Völker glücklich macht, und gern verborgen
bliebe,

Der nicht um schnöden Lohn,
Nein! göttlich liebt, wie du, Timoleon!
  Zu dir schrie Syrakus, als unter Schutt und
Flammen,

Und Leichen, die zerfleischt, in eignem Blute
schwammen,

Der wilde Dionys
Sein eisern Joch unleidlich fühlen ließ.
  Du kamst und stürztest ihn, zum Schrecken
der Tyrannen;

Wie, wenn ein Wintersturm die Königinn der
Tannen

Aus starken Wurzeln hebt,
Von ihrem Fall ein weit Gebirge bebt.

[513]

Durch dich ward Syrakus der Dienstbarkeit
entzogen,

Und sichrer Überfluß und heitre Freude flogen
Den freien Mauren zu.
Held aus Korinth! was aber hattest du?
  Allein die edle Lust, ein Volk beglückt zu
haben.

Belohnung beßrer Art, als reicher Bürger Gaben!
Du Stifter güldner Zeit,
Der Hoheit werth, erwähltest Niedrigkeit.
  Doch dein gerechtes Lob verewigt sich durch
Lieder,

Nachdem die Ehre dich auf glänzendem Gefieder
Den Musen übergab;
Noch schallt ihr Lied in Lorbeern um dein
Grab.


Uz.


Der Zürchersee.


Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut; schöner ein froh Gesicht,
  Das den groſsen Gedanken
    Deiner Schöpfung noch einmal denkt.

[514]

Von des schimmernden See's Traubengestaden
her,

Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf;
  Komm in röthendem Strahlo
    Auf dem Flügel der Abendluft,
Komm, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,
Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren
  Schnellen Jauchzen des Jünglings,
    Sanft, der fühlenden Fanny gleich.
Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fuß
Zürch in ruhigem Thal freie Bewohner nährt;
  Schon war manches Gebirge
    Voll von Reben vorbeigeflohn.
Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh,
Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender,

  Schon verrieth es beredter
    Sich der schönen Begleiterinn.
Hallers Doris, sie sang, selber des Liedes werth,
Hirzels Daphne, den Kleist zärtlich wie Gleimen
liebt;

[515]

Und wir Jünglinge sangen,
    Und empfanden, wie Hagedorn.
Jetzt empfing uns die Au in die beschattenden
Kühlen Arme des Walds, welcher die Insel krönt;
  Da, da kamest du, Freude!
    Volles Maßes auf uns herab!
Göttinn Freude, du selbst! dich, wir empfanden
dich!

Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,

  Deiner Unschuld Gespielinn,
    Die sich über uns ganz ergoß!
Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeistrung
Hauch,

Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein
Odem sanft

  In der Jünglinge Herzen,
    Und die Herzen der Mädchen gießt.
Ach! du machst das Gefühl siegend: es steigt
durch dich

Jede blühende Brust schöner und bebender;

[516]

Lauter redet der Liebe
    Nun entzauberter Mund durch dich!
Lieblich winket der Wein, wenn er Empfindungen,

Beßre sanftere Lust, wenn er Gedanken winkt,
  Im sokratischen Becher
    Von der thauenden Ros' umkränzt;
Wenn er dringt bis ins Herz, und zu Entschließungen,

Die der Säufer verkennt, jeden Gedanken weckt,
  Wenn er lehret verachten,
    Was nicht würdig des Weisen ist.
Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton
In das schlagende Herz; und die Unsterblichkeit
  Ist ein großer Gedanke,
    Ist des Schweißes der Edlen werth!
Durch der Lieder Gewalt bei der Urenkelinn
Sohn und Tochter noch seyn; mit der Entrückung
Ton

  Oft beim Namen genennet,
    Oft gerufen vom Grabe her,

[517]

Dann ihr sanfteres Herz bilden, und, Liebe,
dich,

Fromme Tugend, dich auch gießen ins sanfte
Herz:

  Ist, Goldhäufer! nicht wenig!
    Ist des Schweißes der Edlen werth!
Aber süßer ists noch, schöner und reizender,
In dem Arme des Freunds wissen ein Freund
zu seyn;

  So das Leben genießen,
    Nicht unwürdig der Ewigkeit!
Treuer Zärtlichkeit voll, in den Umschattungen,
In den Lüften des Walds, und mit gesenktem
Blick

  Auf die silberne Welle,
    That mein Herze den frommen Wunsch:
Wäret Ihr auch bei uns, die Ihr mich ferne
liebt,

In des Vaterlands Schooß einsam von mir verstreut,

  Die in seligen Stunden
    Meine suchende Seele fand;

[518]

O so bauten wir hier Hütten der Freundschaft
uns!

Ewig wohnten wir hier, ewig! Der Schattenwald

  Wandelt' uns sich in Tempe,
    Jenes Thal in Elysium.


Klopstock.


Josephs erste Reise.


Herauf, o Sonne! Lange schon harret dir
Der Bard' entgegen, welchen der Hahnenruf
  Aus seelenhebenden Gesichten
    Mitten in seinem Gewölbe weckte.
Herauf, o Sonne! Röthe mein Saitenspiel
Mit einem deiner Erstlinge! Denn mein Herz
  Ist voll von Joseph. Nur dein Anglanz
    Mangelt. Erschein'! und Gesänge reifen.
Sie kömmt, Die Blume schleuſst ihr den Busen
auf.

Der Thau der Wipfel blitzet ihr Gold zurück,
  Und tausend rege Lüftesänger
    Lösen in Freudengetön die Kehle.

[519]

So kömmt zu Völkern, welche das Meer von
uns,

Von uns die Kette steiler Gebirge trennt,
  So kömmt zu Völkern Joseph. Herzen
    Schließen sich auf, und gethürmte Städte,
Tief aufgereget, schmücken ihr luftig Haupt,
Und kleiden sich in Feier, und himmelan
  Erschallt von hunderttausend Lippen:
    Heil dem Gebieter der deutschen Erde!
Heil sei dem ersten Sohne Theresiens!
Dem Heldenenkel, Herzeneroberer!
  Dem wunderbaren jungen Manne!
    Weiser, Genügsamer, Holder, Heil dir!
Wem jauchzt Ihr, Völker? Städte, wen feiert Ihr?
Wem schließen aller Herzen so weit sich auf?
  Tönt, Saiten, tönt den Stolz des Barden!
    Tönt ihn gewaltiger! Er ist unser!
Ihr seht ihn, Völker! Deckt ihn ergrabner Werth
Von einer halben Erde? Beschweret er
  Von Silber helle Räder? Folgen
    Seinem Gespanne die bunten Horden

[520]

Geschmückter Diener? Blitzet ein fürchterlich
Gemisch entblößter Wehren um Joseph her?
  Und dennoch jauchzt Ihr? Echter Größe
    Jauchzet Ihr, Völker! Und Er ist unser!
Ihr seht sein menschenfreundliches Angesicht,
Sein Aug voll Herz auf Grüßende zugewandt.
  Ihr hört ihn Weisheit, Güte sprechen,
    Staunet und liebet. Und Er ist unser!
Ihr seht ihn, Völker, wenn er dem Ewigen
In seinen Hallen gläubige Kniee beugt.
  Ihr seht, und wünschet allen Erden
    Herrscher, wie Joseph. Und Er ist unser!
Das ist Er! Harfe, töne des Barden Stolz,
Den Stolz der Kinder Teuts, den entzückenden,

  Den wonnetrunkenen Gedanken:
    Joseph der Zweite so groß, und unser!
Und sängen alle Barden der Kinder Teuts
In ihre besten Harfen, er bliebe doch
  Unausgesungen der Gedanke;
    Seelen empfinden allein die Süße,

[521]

Dem Göttlichen zu dienen, sein Eigenthum
Und seiner Sorgen einziger Zweck zu seyn,
  Der, voll des Vaters und der Mutter,
    Eh noch die Wange sich männlich bräunte,
Noch eh der Herrscher Gold ihm vom Haupte
schien,

Schon Herrscher seiner selbsten, entadelnden
  Oft thronerschütternden Begierden
    Niemal den himmlischen Busen aufschloß.
Den, nur von Recht und Einsicht und Mäßigkeit,
Der Erdegötter schönsten Gefährtinnen,
  Begleitet, an die Gränzen seines
    Mächtigen Erbes die Liebe seiner
Getreuen hinzog, jegliches Ungemach
Verachtend und zur kriegrischen Arbeit sich
  Mit Lust erhärtend; der im Frieden,
    Ähnlich dem Adler am Felsengipfel,
Mit wachem Auge ruhet, und adlerschnell
Auf Störer seiner Ruhe sich niedersenkt,
  Sie bluten, liegen, und der Sieger
    Schwebet zurücke zum Felsengipfel.

[522]

Dann wirbelt heller Siegesgesang ihm nach,
Gestürmt in deutsche Saiten, und Joseph horcht;
  Nicht Sänger fremder Zungen, deutscher
    Heldenton reizet den deutschen Herrscher!
Und kann der Ausbruch meiner Empfindungen
Und meine Saitengriffe den Göttlichen
  Nur einen Augenblick der hohen
    Erdebesorgenden Bürd' entlasten:
Dann soll dich, meine Scheitel, ein Eichenkranz,
Der Hauptschmuck deutscher Barden, verewigen,
  Und junges Eichenlaub in jedem
    Monde der Blüthen dich, Harfe, zieren.
Manch vaterländisch Bardenlied höret dann
Die lang verwöhnte Donau zur Abendluft
  Aus nahen Espenhainen schallen,
    Ihrem erhabenen Herrscher heilig.


Denis.


  Auch von Liedern nur ein Paar Beispiele
aus den ersten Dichtern, die sich
unter uns in dieser Gattung berühmt gemacht
haben.

[523]

An die Freude.


Freude, Göttinn edler Herzen!
Höre mich!
Laſs die Lieder, die hier schallen,
Dich vergröſsern, dir gefallen!
Was hier tönet, tönt durch dich.
  Muntre Schwester süſser Liebe!
Himmelskind!
Kraft der Seelen! Halbes Leben!
Ach! was kann das Glück uns geben,
Wenn man dich nicht auch gewinnt?
  Stumme Hüter todter Schätze
Sind nur reich,
Dem, der keinen Schatz bewachet,
Sinnreich scherzt, und singt und lachet,
Ist kein karger König gleich.
  Gieb den Kennern, die dich ehren,
Neuen Muth!
Neuen Scherz den regen Zungen,
Neue Fertigkeit den Jungen,
Und den Alten neues Blut!

[524]

Du erheiterst, holde Freude,
Die Vernunft!
Flieh auf ewig die Gesichter
Aller finstern Splitterrichter,
Und die ganze Heuchlerzunft!


Hagedorn.


An einen Wassertrinker.


Trink, betrübter, todtenblasser
Wassertrinker, Rebenhasser,
Trink doch Wein!
Deine Wangen wirst du färben,
Weiser werden, später sterben,
Glücklich seyn.
  Habt, Ihr groſsen Götter, habet
Für den Trank, den Ihr uns gabet,
Habet Dank!
O wie dampft er in die Nase!
O wie sprudelt er im Glase!
Welch ein Trank!
  Alle Sorgen, alle Schmerzen
Tödtet er, und alle Herzen

[525]

Macht er froh.
Durstig sang, zu seinem Preise,
Dieses schon der große Weise,
Salomo.
  O es müssen alle Weisen,
O es muß ihn Jeder preisen,
Der ihn trinkt.
Finster, grämlich, menschenfeindlich
Läßt er Keinen. Seht, wie freundlich
Er mir winkt!
  Siehe, spricht der Rebenhasser,
Wie so freundlich da mein Wasser
Mir auch winkt!
Ernster Weisheit bleibt ergeben,
Wer, ein Feind vom Saft der Reben,
Wasser trinkt.
  Wasser, immer magst du winken;
Wer zu klug ist, Wein zu trinken,
Trinke dich!
Wasser, weg von meinem Tische!
Du gehörest für die Fische,
Nicht für mich.


Gleim.

[526]

Die Liebende bei Annäherung des
Frühlings.


Schon ist er bald entflohen,
Der Winter, meine Lust.
Die sanften Weste drohen
Mir schrecklichen Verlust.
Umsonst blüht mir Betrübten
Die neugeborne Welt;
Der Krieg ruft den Geliebten
Von mir ins rauhe Feld.
  Da, wo ich Blüthen finde,
Blüht mir ein neuer Schmerz;
Der Hauch der Zephyrwinde
Haucht Wehmuth mir ins Herz.
Wo Blumen sich entschlieſsen
Auf der begrünten Au,
Da seh' ich Thränen flieſsen,
Gleich ihrem Morgenthau.
  Es singe das Gefieder
Des Frühlings Wiederkehr;
Ich höre Trauerlieder,
Und keine Jubel mehr.

[527]

Des Leidens Melodieen
Rauscht der enteis'te Bach,
Und alle Scherze fliehen
Der Flucht des Winters nach.
  O steig noch nicht hernieder,
Du Gott der Freude du!
Die Welt belebst du wieder,
Mich aber tödtest du.
O Lenz! die Seligkeiten
Der Liebe bringst du ihr;
Und alle Seligkeiten
Der Liebe raubst du mir.


Weisse.


  Endlich sehe man noch eine kurze Elegie,
die von wahrer Empfindung eingegeben
ist.


Am Sarge seiner früh vollendeten
Tochter.


Sanft entschliefst du, frei von Kampf und
Schmerzen,

Sanft, von Engeln Gottes eingewiegt,
Selbst nun Engel! Theil von meinem Herzen!
Kind, das hier im Arm dem Tode liegt:

[528]

Nicht dem bleichen, schreckenden Gerippe,
Das die mordgewohnte Sichel hebt;
Nein, dem Genius, auf dessen Lippe
Lächeln, wie auf deiner Lippe, schwebt.
  Schlummre friedsam! deines Vaters Thränen,
Deiner Mutter Winseln um dich her,
Deines Bruders halbverstandnes Sehnen,
Wecken dich zum Mitgefühl nicht mehr.
Ewig glücklich, daß dich Gottes Gnade
Früh entkörpert, früh vollendet hat;
Ewig glücklich, daß die Dornenpfade
Dieses Lebens kaum dein Fuß betrat;
Daß dich allem Straucheln, allem Gleiten
Der Erbarmende so ganz entnahm;
Daß von tausend, tausend Eitelkeiten
Keine noch in deine Seele kam;
Daß dein Blick der irdschen Zauberscenen
Außenseite, nicht ihr Innres, sah! ─ ─ ─
Überall hier, wo wir Wonne wähnen,
Ist uns Kummer, bittrer Kummer, nah.
Wonne wähnten wirs, uns dein zu freuen,
Zarte Pflanze! dich voll Ämsigkeit
Zu verpflegen, hofften dein Gedeihen;
Gott! und wir verpflegten unser Leid! ─
All die Bilder, die von dir wir sammeln,

[529]

Deines Aufblicks, deines Lächelns Lust,
Und dein erster Schritt, dein erstes Stammeln:
Alles wird itzt Dolchstich unsrer Brust.
Traumgewebe war es! Noch empfunden,
Schien es Wahrheit dem getäuschten Blick;
Aber itzt, hinweggerückt, verschwunden,
Läßt es Reu' und Sehnsucht uns zurück.
  Aber nein! Auch was uns bleibt, der Schatten
Jenes süßen Traums ist doch uns werth.
Der Gedanke, daß wir einst dich hatten,
Wenn er nicht mehr wild die Brust durchfährt
Wenn der Schauder nun in Schwermuth schwindet,

Und der Gram nicht mehr so wüthend nagt,
Unser Herz die Stille wieder findet,
Die der Wunde Pein ihm noch versagt:
O! dann giebt belebtern, sanftern Bildern
Diese stille, süße Schwermuth Raum.
Sie wird uns das Leben schöner schildern,
Nicht als eitlen, wesenlosen Traum;
Nein, als den umwölkten, trüben Morgen,
Bald vom heitern Sonnenglanz ereilt,
Dessen Strahl die Nebel unsrer Sorgen,
Deiner Leiden Dämmrung, früh zertheilt.
  Weinende Gefährtinn meines Lebens,

[530]

Wohl uns! Bald wird sie uns neu gewährt,
Die wir itzt beweinen. Nicht vergebens
Hast du sie geboren, sie genährt;
Warst mit frommer, seltner Muttertreue
Unablässig sorgsam für ihr Wohl
Nicht vergebens! Stark durch Hoffnung freue,
Dich des Glücks, das einst uns werden soll:
Haben wir durch Kampf und Muth und Leiden
Jenen Lohn der bessern Welt ersiegt,
Wenn uns dann, am Eingang ihrer Freuden,
Dieser Engel in die Arme fliegt.


Eschenburg.


  Die beiden merkwürdigsten Arten, wie
sich diese Dichtungsart mit andern mischt,
sind schon in diesem Hauptstück, bei
Gelegenheit der Lessingschen Scene aus
Minna von Barnhelm, und bei Entwickelung
des Begriffs vom Plane der Ode,
vorgekommen. Man erkennt, wenn man
beide Stellen vergleicht, daß die lyrische
Reihe, so gut wie jede andre, bald die
herrschende, bald die untergeordnete seyn [531]
kann. Auch das ist schon bemerkt worden:
daß viele Stücke, die in der That
beschreibend oder erzählend sind, um ihres
beseeltern empfindungvolleren Tons,
um der hie und da eingemischten kleinen
Ausschweifungen der Phantasie, und um
des regelmäßigen Strophenbaues willen,
zu der lyrischen Gattung pflegen gezogen
zu werden. Die Hymne ist, nach den besten
Mustern, nichts als feurige Beschreibung
alles des Großen, Guten und Schönen,
das durch eine Gottheit gewirkt wird.
In einer Elegie auf einen Gottesacker von
Hölty, die wir nicht anführen, weil sich
dieser junge zu früh verstorbene Dichter
nachher weit vortheilhafter gezeigt hat,
entstehen die verschiednen einzelnen Empfindungen,
so wie sich dem Dichter ein
Grabhügel nach dem andern zeigt, und
ihm Stoff zu neuen Betrachtungen darbeut. [532]
Die nur mäßig bewegte Phantasie
endigt hier bald ihre kleinen Absprünge,
und erlaubt dann den Sinnen, die Betrachtung
des Gegenstandes selbst weiter
fortzusetzen.

[figure]

NEUNTES HAUPTSTÜCK.

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Von den Formen der Gedichte.

[533]
[figure]


Im zweiten Hauptstück haben wir zu dem
Begriff der Form auch diejenige Einrichtung
eines Gedichts gezogen, durch die
es zur Verbindung mit einer andern der
Poesie verschwisterten Kunst bequem wird.
Allein die Gesetze einer solchen Verbindung
lassen sich nicht aus der Dichtkunst
allein erkennen; und wir werden also
wohl thun, wenn wir fürs erste, mit Beiseitsetzung
der äußern, nur die innern
Formen untersuchen; das heißt: diejenigen,
die in der Theorie des Gedichtes [534]
selbst, unabhängig von jeder andern Theorie,
können erörtert werden.


  Nach dem gegebenen Begriff, bestände
die äußre Form in der Verbindung, in
der Unterordnung mehrerer Künste, oder
in der Rücksicht auf so eine Verbindung;
da denn das Werk entweder bloß zu ei
ner Kunst gehörig, oder zur Verbindung
mit andern Künsten eingerichtet wäre.
Worin wird nun aber die innere Form
poetischer Werke bestehen? ─ Wir haben
schon mehr als einmal von Form gesprochen,
wo von Verbindung der einen Dichtungsart
mit der andern die Rede war.
So sagten wir von der Geschichte in Musarion,
daß sie Wieland nur als Form
für die Reihe seiner philosophischen Ideen
gebraucht habe; und von der Fabel, daß
hier die eine Gattung von Materie als
Form zum Vortrag einer andern diente. [535]
Die innere Form läge also gleichfalls in
Verbindung, in Rücksicht auf Verbindung;
zwar nicht mehr ganzer Künste, aber doch
mehrerer verschiedner Materien: und ein
Werk wäre, seiner innern Form nach,
rein und einfach, wenn es nur Eine
Materie; gemischt oder zusammengesetzt,
wenn es eine Verbindung von mehrern
enthielte.


  Aber wie, wenn wir mit dieser Erklärung
des Begriffs der Formen nicht ausreichten?
wie, wenn man auch da allgemein
von Form spräche, wo eine solche
Rücksicht auf Verbindung des Verschiednen
in der That gar nicht Statt findet?
Dies aber scheint der Fall mit der erzählenden
und der dramatischen Form. Die
Materie ist hier die nehmliche: Handlung;
und gesetzt auch, daß diese Materie in
anderer Absicht niemal rein wäre, so [536]
hängt doch, dem Ansehen nach, ihre erzählende
und dramatische Form bloß von
dem Umstande ab: ob der Dichter selbst
in fortgehender Rede spricht, oder ob er
die Personen, zwischen denen die Handlung
vorfällt, selbstredend einführt. Hier
scheint durchaus keine Verbindung mehrerer
Materien Statt zu finden. Wir müssen,
um der Sache auf den Grund zu
kommen, diese Art von Form weitläuftiger
untersuchen; nach dieser Untersuchung
wird es sich zeigen: ob das Wort
Form vieldeutig sei, und wir mehrere Erklärungen
davon geben müssen? oder ob
Alles was Form heißt, unter Einen gemeinsamen
Begriff befaßt werden könne?


  Doch, um dieser Untersuchung ihre
völlige Allgemeinheit zu geben, dürfen
wir die Wörter: dramatisch und erzählend,
nicht beibehalten; denn diese beziehen [537]
sich sichtbar nur auf Werke aus
der pragmatischen Gattung. Nun aber
haben wir im fünften Hauptstück gesehen,
daß die Art Form, die hier in Betrachtung
kömmt, auch auf didaktische, und
im achten, daß sie auch auf dasjenige beschreibende
Gedicht anwendbar ist, welches
Denkarten, Sitten, Leidenschaften
schildert, oder vielmehr nicht schildert,
sondern sie selbst, in ihren einzelnen Äußerungen,
zur Beobachtung vorführt. Um
also eine allgemeinere Benennung zu haben,
wollen wir lieber sagen: dialogische,
und undialogische Form.


  Allein auch dies hat noch Schwierigkeiten.
Denn zuerst wird nach S. 465 der
Ideengang in dem dialogirten lyrischen
Gedichte gar nicht wesentlich geändert;
in dramatischen, didaktischen, beschreibenden
Gedichten hingegen, insofern das [538]
letztere Geist und Herz menschlicher Wesen
schildert, entsteht oft durch den Dialog
ein ganz anderer Gang, ein ganz anderer
Schwung der Ideen: sie werden
mehr vereinzelt, erhalten eine ganz andre
Ausführlichkeit, treten in eine ganz andre
Ordnung. Zweitens giebt es in der didaktischen
Gattung, wie wir an dem Monolog
des Beor sahen, Selbstgespräche,
die ganz den Ton der dialogirten Stücke
halten; und in dramatischen Werken ist
der Ideengang der Monologen, sobald sie
echte Monologen sind, von dem der dialogirten
Scenen gar nicht wesentlich unterschieden.
Wiederum drittens giebt es
dialogirte didaktische Stücke, wie das S.
163 folg. angeführte von Dusch, die wirklich
nur aus kleinen Abhandlungen: dialogirte
Scenen, die aus kleinen Erzählungen
oder aus vereinzelten Stücken einer [539]
und der nehmlichen fortlaufenden Erzählung
bestehen, so daß der Mitunterredner
nur dann und wann eine Frage, einen
Ausruf, eine Spötterei, eine Anmerkung
dazwischen wirft. Also auch das scheint
bei den Formen nur zufällig, daß Einer
oder daß Mehrere, und eben so zufällig,
daß der Dichter selbst oder daß fremde
Personen reden. Wenn uns daher die Benennung
der Formen nicht mißleiten soll;
so müssen wir eine andre suchen, welche
mehr die innere, die wesentliche Verschiedenheit
derselben bezeichnet.


  Dazu aber müssen wir vor allen Dingen
erst die Frage aufwerfen, worin diese
Verschiedenheit liege? Wir werden sie erkennen,
wenn wir Alles das wovon wir
empfanden daß es sich der Form nach
ähnlich sei, zusammen, und dem was wir
ihm unähnlich fanden, gegenüber stellen. [540]
─ Auf der einen Seite also steht erstlich
das eigentlich dramatische Gedicht,
das nicht bloß dialogirte Erzählung ist,
sei es übrigens Monolog oder Gespräch
zwischen Mehrern; zweitens das forschende
philosophische Gedicht, das nicht bloß
dialogirte Abhandlung ist, sei es übrigens
Selbstgespräch oder gemeinschaftliche Untersuchung;
drittens das beschreibende
Gedicht, wo Charaktere, Sitten, Leidenschaften
sich selbst zur Beobachtung darbieten,
nicht die schon gemachten Beobachtungen
hingegeben werden: mag auch
hier nur Eine oder mögen mehrere Personen
reden. Auf der andern Seite stehen
erstlich die Erzählungen geschehener
Handlungen; zweitens die Abhandlung,
oder die Resultate schon geendigter Untersuchungen
mit ihren hauptsächlichsten
Gründen; drittens die eigentlich sogenannte [541]
Beschreibung, oder die Aufzählung
der beobachteten Theile und Merkmaale
einer Sache. ─ Es ergiebt sich sogleich,
daß in der ganzen ersten Classe
die Supposition der Gegenwart, in der
ganzen zweiten die der Vergangenheit oder
Abwesenheit gilt. Oder deutlicher: Es ergiebt
sich, daß dort die Sache, an welcher
sich die Veränderungen ereignen,
selbst vorgeführt, und wir zu unmittelbaren
Zeugen dieser sich eben itzt entwickelnden
Veränderungen gemacht werden;
dahingegen hier die Sache uns nicht
selbst vorgeführt wird, ihre Veränderungen
sich nicht in unsrer Gegenwart entwickeln,
sondern ein fremder Zeuge, oder
auch derjenige selbst der die Veränderungen
litt oder hervorbrachte, uns von ihnen
als schon geschehenen Dingen Bericht
erstattet. Das einemal wird, geschieht: [542]
das andremal ist geworden, ist geschehen.
Dies führt uns sogleich zu einer
treffendern, allgemeinern Benennung: wir
können die eine Form die darstellende,
die andre die berichtende nennen.


  Was kann nun aber die Dichtkunst
darstellen, und was berichten? ─ Berichten
unter den Bedingungen im sechsten
Hauptstück Alles, wenn sonst die Sprache
nur reich genug ist; denn eben das ist
der Vorzug der Sprache, daß der Mensch
sie zum allgemeinen Zeichenschatz für alle
Arten von Ideen und Verbindungen der
Ideen gemacht hat. Aber was kann sie
darstellen? wessen Veränderungen kann
sie in unsrer Gegenwart, das heißt, für
unsre unmittelbare Erkenntniß, sich entwickeln
lassen? ─ Da sie kein andres
Medium hat, als Sprache: so kann sie
eigentlich auch nur das darstellen, was in [543]
der Wirklichkeit selbst seine Verändrungen
durch Sprache entwickelt: und dies
thut allein die Seele im Zustand ihrer
klaren Vorstellungen, ihres Bewußtseyns
Sie faßt ihre Gedanken durch Worte,
wird sich der Reihe ihrer Empfindungen,
wird sich ihrer Neigungen, Wünsche, Absichten,
überhaupt aller ihrer Operationen
bewußt, indem sie sie, laut oder
heimlich, in Worte kleidet. Und durch
eben dieses Mittel wird sie sich auch der
Empfindungen, Absichten, Operationen
fremder Seelen bewußt. Also was einzig
dargestellt werden kann, sind Seelen wirkungen;
sind Wirkungen solcher Wesen,
die man durch Erdichtung zu Menschenseelen
erhöht oder herabsetzt: reiner Geister,
denen man körperliche Werkzeuge;
sprachloser Thiere, denen man Vernunſt
und eben damit Sprachfähigkeit giebt. ─ [544]
Daß im Schauspiel sich die Veränderungen
der Seele nicht bloß durch Worte,
sondern auch durch Gebehrden entwickeln,
macht keinen Einwurf: denn hier
wirkt die Dichtkunst nicht allein, sondern
in genauer Vereinigung mit der Mimik:
und wir behaupten von der Sprache nur
das: daß sie zur Darstellung der Seele
ein Mittel; nicht, daß sie das Einzige
sei. ─


  Aus dem Gesagten folgt: daß Gedichte
welche äußre sinnliche Gegenstände malen,
die darstellende Form schlechterdings
nicht müssen annehmen können;
und so findet sichs auch bei Betrachtung
der Beispiele, in welchen ein Schein dieser
Form zwar im Anfang blenden kann,
aber, sobald man genauer zusieht, verschwindet.
Man sehe folgendes Stück unsers
Geßner.

[545]

  Daphnis. Sieh, der Bock dort wadet in den
Sumpf, und die Schafe folgen ihm. Ungesunde
Kräuter wachsen da im Schlamm, und Ungeziefer
schlürfen sie mit dem Wasser. Komm!
wir wollen sie zurücktreiben.


  Micon. Die Unsinnigen! Hier ist Klee und
Roßmarin, und Thymian und Quendel, und an
jedem Stamm schleicht das Epheu. Doch gehn
sie zum Sumpf. ─ Aber wir machens wohl
selbst oft so: gehen beim Guten vorüber, und
wählen was uns schädlich ist.


  Daphnis. Sieh, wohin er wadet; die Frösche
springen weit vor ihm her aus dem Schilf.
Heraus, ihr Einfältigen, ans grasige Bord! Wie
garstig ihr die weiße Wolle befleckt!


  Micon. Nun seid ihr da; hier sollt ihr weiden!
─ Aber sage mir, Daphnis, was ich da
sehe? Marmorstücke liegen im Sumpfe, und
Schilf und Unkraut schlägt sich drüber. Auch
ein zerfallnes Gewölbe von Epheu, über und
über umschlungen, und Dornen wachsen aus
jeder Ritze.


  Daphnis. Ein Grabmaal wars...


Hier ist in der That etwas von Darstellung [546]
der Seelen der Beobachter, insofern
sich nehmlich die Art wie sie die Gegenstände
ansehn, in ihren Reden ausdrückt;
allein die äußern sinnlichen Erscheinungen
selbst sind und müssen in berichtender
Form seyn: nur daß hier der Bericht
durch mehr als durch Einen Mund geschieht.
Eben eine solche scheinbare Form,
die wir auch die zufällige nennen können,
findet sich an dialogirten Handlungen,
wo die Handlung als schon geschehen;
an dialogirten Lehrgedichten, wo
die Wahrheit als schon untersucht und
entwickelt vorgetragen wird.


  Das malende Gedicht für sinnliche Gegenstände
fällt also in der Lehre von den
Formen, eben weil dieses Gedicht, seiner
Natur nach, nur Eine annimmt, ganz und
gar außer die Frage; und eben so, aber
aus einem völlig entgegengesetzten Grunde, [547]
das lyrische Gedicht: denn dieses muß,
seiner Natur nach, immer darstellend seyn,
wenn es echt ist. Eine lebhaft interessirte
Seele entwickelt darin ihre Empfindungen,
und entwickelt sie auf der Stelle, in dem
natürlichsten Ideengange, das heißt, in
dem Gange der Phantasie. ─ Das didaktische,
das pragmatische, und dasjenige beschreibende
Gedicht welches Seelen schildert,
bleiben also allein noch übrig. ─


  Um nach dieser vorläufigen Entwickelung
auf unsre anfängliche Frage zurückzukommen;
so ist es einleuchtend: daß
die darstellende Seelenschilderung, wovon
wir schon im vorigen Hauptstück ein Beispiel
sahen, in einer Verbindung mehrerer
Materien bestehe, und sich also unter
die gegebene Erklärung der Form schmiege.
Die Merkmaale, die der Leser sammeln
und in Ein Bild fassen soll, sind [548]
darin der lyrischen Reihe eingewebt;
denn, mitten in dem freien Laufe ihrer
Ideen, entwickelt die Seele ihre Fähigkeiten,
Kräfte, Neigungen, Leidenschaften,
nach dem Grade, den mancherlei
Verhältnissen, der ganzen feinen Mischung
derselben. ─ Was für Vortheile hier die
Darstellung vor der bloßen eigentlich sogenannten
Beschreibung voraushabe: läßt
sich aus der Natur der Sprache errathen,
und an jedem vortrefflichen Beispiel empfinden.
Es ist dem Beschreiber unmöglich,
wenn er die Sprache auch noch so
sehr in seiner Gewalt hätte, daß er alle
die Feinheiten, die Schattirungen, die abwechselnden
Töne, welche eine solche
darstellende Schilderung, in dem ganzen
Zusammenbaue der Ideen und in dem
Ausdruck jeder einzelnen enthält, fessen
und angeben sollte. Er würde als Beschreiber [549]
lauter allgemeine Begriffe häufen
müssen, bei welchen die Unendlichkeit
aller der kleinen Nüancen und Nebenideen,
die das Gemälde vollenden und
individualisiren, verloren ginge.


  Diese ganze Seelenschilderung aber wird
in das pragmatische und in das didaktische
Gedicht verflochten, sobald dieselben
darstellend werden; nicht bloß die
ausführlichere Malerei des Charakters, sondern
auch selbst der lyrische Phantasiegang.
Beides ergiebt sich aus der nähern
Ansicht, und schon aus dem Begriff solcher
Werke.


  Denn zuerst erscheint auch hier die
Seele selbst, und drückt der Sprache, so
zu reden, ihre ganze Bildung, nach allen
den feinsten und unterscheidendsten Zügen
derselben, unverkennbar ein. Jede Veranlassung
einer Reflexion, die der Verstand, [550]
jeder Eindruck, den das Herz erhält;
die ganze Art und Weise, wie sie
in jedem Augenblick modificirt wird; das
ganze Detail ihres Wirkens und Leidens,
ihre geheimsten Ideenverknüpfungen, ihre
zartesten Empfindungen; Alles, was die
Sprache nur da faßt, wo selbst der Denker,
selbst die handelnden Personen ihre
Ideen und Leidenschaften durch sie entwickeln:
findet sich in dem lebendigen
Gemälde der Darstellung, und verschwindet
in dem todten Schattenrisse der Erzählung.
Man sehe nur, wenn es ja noch
Beweis braucht, folgendes Fragment einer
Scene aus Emilia Galotti:


  Prinz. ─ Aber so nennen Sie mir sie doch,
der er dieses so große Opfer bringt.


  Marinelli. Es ist eine gewisse Emilia Galotti.



  Prinz. Wie, Marinelli? Eine gewisse ─


  Marinelli. Emilia Galotti.

[551]

  Prinz. Emilia Galotti? ─ Nimmermehr!


  Marinelli. Zuverlässig, gnädiger Herr.


  Prinz. Nein, sag' ich; das ist nicht, das
kann nicht seyn. ─ Sie irren Sich in dem Namen.
─ Das Geschlecht der Galotti ist groß.
─ Eine Galotti kann es seyn; aber nicht Emilia
Galotti, nicht Emilia!


  Marinelli. Emilia ─ Emilia Galotti!


  Prinz. So giebt es noch eine, die beide Namen
führt. ─ Sie sagten ohnedas, eine gewisse
Emilia Galotti ─ eine gewisse. Von der rechten
könnte nur ein Narr so sprechen. ─


  Marinelli. Sie sind außer Sich, gnädiger
Herr. ─ Kennen Sie denn diese Emilia?


  Prinz. Ich habe zu fragen, Marinelli, nicht
Er. ─ Emilia Galotti? Die Tochter des Obersten
Galotti, bei Sabionetta?


  Marinelli. Eben die.


  Prinz. Die hier in Guastalla mit ihrer Mutter
wohnt?


  Marinelli. Eben die.


  Prinz. Unfern der Kirche Allerheiligen?


  Marinelli. Eben die.


  Prinz. Mit einem Worte ─ (indem er nach
dem Porträte springt, und es dem Marinelli in
[552]
die Hand giebt) Da! ─ Diese? Diese Emilia
Galotti? ─ Sprich dein verdammtes „Eben die“
noch einmal, und stoß mir den Dolch ins Herz.


  Marinelli. Eben die!


  Prinz. Henker! ─ Diese? Diese Emilia
Galotti wird heute ─ ─


  Marinelli. Gräfinn Appiani! ─ Die Trauung
geschieht in der Stille, auf dem Landgute des
Vaters bei Sabionetta. Gegen Mittag fahren
Mutter und Tochter, der Graf und vielleicht
ein paar Freunde dahin ab.


  Prinz (der sich voll Verzweiflung in einen
Stuhl wirft).
So bin ich verloren! ─ So will
ich nicht leben!


  Marinelli. Aber was ist Ihnen, gnädiger
Herr?


  Prinz (der gegen ihn wieder aufspringt).
Verräther! ─ Was mir ist? ─ Nun ja, ich liebe
sie; ich bete sie an. Mögt Ihr es doch wissen!
mögt Ihr es doch längst gewußt haben, alle
Ihr, denen ich der tollen Orsina schimpfliche
Fesseln lieber ewig tragen sollte! ─ Nur daß
Sie, Marinelli, der Sie so oft mich Ihrer innigsten
Freundschaft versicherten ─ O ein Fürst
hat keinen Freund! kann keinen Freund haben!
[553]
─ daß Sie, Sie, so treulos, so hämisch mir bis
auf diesen Augenblick die Gefahr verhehlen
durften, die meiner Liebe drohte: wenn ich Ihnen
jemal das vergebe ─ so werde mir meiner
Sünden keine vergeben!


  Marinelli. Ich weiß kaum Worte zu finden,
Prinz ─ wenn Sie mich auch dazu kommen
ließen ─ Ihnen mein Erstaunen zu bezeugen.
─ Sie lieben Emilia Galotti? u. s. w.


Aufzug 1, Auftritt 6.


Dieser ganze Zusammenhang von Empfindungen,
nach Lebhaftigkeit und Dauer
und Übergängen; dieser ganze Wechsel
von Erstaunen, Unwillen, Stolz, Unglauben,
Ungeduld, Zorn, Verzweiflung, Rachgier;
dieses Sie und Er und Du und wieder
Sie; diese ganze Mischung von Fragen,
Ausrufungen, von Wiederholungen,
Abkürzungen, Inversionen ─ und wer
kann Alles fassen, was dieser so sprechende
seelenvolle Dialog enthält? ─ machen [554]
zusammen die vollständigste Schilderung
von dem Charakter und dem Gemüthtszustande
des Prinzen aus, die der
Erzähler uns schlechterdings nicht geben,
ja nicht einmal zu geben versuchen kann,
ohne der langweiligste, unerträglichste
Schwätzer zu werden.


  Zweitens flicht sich, nicht allein in den
ruhigern müßigern Augenblicken, sondern
selbst im vollen Feuer der Handlung, der
Ideenreihe der Vernunft noch immer die
lyrische Reihe ein; nur daß die letztere
hier durch den in der Seele herrschenden
Vorsatz, bald mehr bald weniger, nach
dem Grade seiner Stärke, eingeschränkt,
und die Phantasie ohne Unterlaß von
ihrem freien Fluge wieder zurückgeholt
wird. Diese Ideenreihe nehmlich ist die
der Seele natürliche, worin sie immer
fortläuft, sobald nicht Eindrücke der äußern [555]
Sinne dieselbe unterbrechen, oder
Vorsätze sie einschränken. Wir finden
das, wenn wir auf unser eigenes freies
Denken, und auf den Gang aller gesellschaftlichen
Gespräche Achtung geben. Ja
sogar da, wo uns unsre Absichten durchaus
einen regelmäßigen, geschloßnen Gang
zu nehmen zwingen, mischt sich noch immer
die Phantasiereihe ein, und giebt dem
Wege mannichfaltige Krümmungen und
Ausbeugungen. Dies ist besonders bei dem
gemeinen Manne sichtbar, der sich nicht
gewöhnt hat seine Phantasie in Zügel zu
halten, nicht geübt hat seine Gedanken
in eine absichtliche Ordnung zu bringen;
er erzählt und räsonnirt mit einer Verwirrung,
daß er oft selbst sich in dem
Chaos seiner Ideen verliert, und nicht
mehr weiß wo er ist oder hin will.
Man höre die Wirthinn im Zweiten [556]
Theil Heinrichs des Vierten von Shakspeare.



  Fallstaf. Wie viel bin ich dir denn schuldig?


  Wirthinn. Wahrhaftig, wenn du ein ehrlicher
Mann wärst, dich selbst und das Geld
dazu. Du schwurst mir auf einen vergoldeten
Becher, als du einmal in meiner Delphinstube
an der runden Tafel bei einem Kohlfeuer saßest,
am Dienstage in der Pfingstwoche, als dir
der Prinz ein Loch in den Kopf schlug, weil
du seinen Vater mit einem Bänkelsänger von
Windsor verglichen hattest: da schwurst du
mir, als ich deine Wunde auswusch, du wollest
mich heiraten und mich zu deiner Frau Gemahlinn
machen. Kannst du das läugnen? ─ Kam
nicht eben Frau Kathrine, die Schlächtersfrau,
in die Stube, und nannte mich Gevatterinn Quikly?
Sie kam herein, um einen Napf voll Essig
von mir zu borgen; und da sagte sie, sie hätte
eine gute Schüssel kleiner Seefische; und da
sagtest du, du habest Lust, welche zu essen;
und da sagt' ich dir, sie wären schädlich für
eine frische Wunde. u. s. w.


Nach Eschenburgs Übers.

[557]

  Im Hamlet verirrt sich einmal der vor
Alter schon schwachsinnige Polonius so
sehr, daß er in die angefangene Reihe
nicht wieder zurück kann.


  Polon. ─ Derjenige, mit dem du sprichst
und den du ausforschen willst, hat vielleicht
einmal den jungen Menschen von dem die Rede
ist, auf einem der gedachten Laster betroffen,
und wird dann endlich zu dir sagen: „Lieber
„Herr ─ oder so ─ oder Freund ─ oder mein
„guter Mann ─“ nachdem die Titel dort gewöhnlich
sind ─


  Reynaldo. Sehr wohl, gnädiger Herr.


  Polon. „Und dann, Herr, thut er das ─
thut er ─“ Was wollt' ich sagen? Ich wollte
doch was sagen. Wo blieb ich?


  Reynaldo. Bei: und wird dann endlich sagen


  Polon. Gut! wird dann endlich sagen ─
Ja wahrhaftig, er wird zu dir sagen, u. s. w.


Nach ebenders.


  So unmethodisch wird nun freilich der
cultivirtere, der seiner Gedanken mächtige [558]
Kopf nicht umherschwärmen; aber
immer noch wird sich, besonders bei lebhafterm
Interesse, die Phantasie ins Spiel
mischen, und ein Hauptverdienst der Darstellung
wird eben darin liegen, daß die
Phantasiereihe in die Reihe des Vorsatzes
überall richtig verflochten werde: doch
nicht bloß richtig, sondern auch unterhaltend;
auf eine Art, die Charakter und
Lage der Personen in immer größeres
Licht setzt, und die zugleich, mit der jedesmaligen
sanftesten Krümmung, so wenig
als möglich vom Ziele abbeugt.


  Es zeigt sich hier schon, daß wir nicht
bloß die Beantwortung unsrer Frage: ob
auch die Darstellung in der Verbindung
mehrerer Materien liege? sondern zugleich
die Regeln derselben werden gefunden
haben. In der That läßt sich ihre ganze
Theorie aus den vorbereiteten Gründen [559]
entwickeln; allein wir versparen diese
Entwicklung bis auf das folgende Hauptstück,
in welchem wir die Anwendung
der Formen auf das pragmatische Gedicht
untersuchen wollen. Bloß durch sie wird
der Unterschied zwischen epischen und
dramatischen Werken bestimmt.


  Hier nur noch Eine allgemeine Regel,
und Eine Bemerkung! Die Regel ist die
nehmliche, die wir schon dem Fabeldichter,
in Ansehung des Verhältnisses der Geschichte
zur Wahrheit, gaben; nur, daß
sie hier einen allgemeinern Ausdruck erhält.
Wir forderten, daß die Geschichte
der Wahrheit, als der eigentlichen Materie
des Werks, gehörig untergeordnet seyn;
daß diese aus jener deutlich hervorscheinen;
daß alle einzelne Theile der Geschichte
zur Erreichung des Zwecks näher
oder entfernter mitwirken, alle so gestellt [560]
und verbunden seyn sollten, daß der
wahre Gesichtspunct aus welchem das
Ganze zu betrachten sei, niemal verrückt
würde. Allgemeiner für alle Formen heißt
diese Regel: daß die mitverbundnen Materien
nie die herrschende unterdrücken,
vielmehr sie unterstützen, beleben, innigst
in sie verwebt und verschlungen seyn
müssen. So, wenn eine didaktische Reihe
mit einer beschreibenden oder pragmatischen
verbunden wird, muß Gemälde
oder Geschichte die abgezweckten Wahrheiten
nicht verdunkeln, sondern anschaulicher
machen, den aus ihnen hervorgelockten
oder in sie eingekleideten Betrachtungen
mehr Kraft, mehr Leben,
mehr Feuer geben. Wenn die beschreibende
Reihe auf die lyrische gepfropft
wird, muß der Phantasiegang die Wendung
nehmen, daß die bedeutendsten, [561]
eigensten, sprechendsten Züge des Charakters,
mitten im freien Laufe des Gesprächs,
zum gegenwärtigsten Anschauen
kommen; und wenn beide, die lyrische
und die beschreibende Reihe, in das didaktische
oder pragmatische Gedicht verflochten
werden, muß die Entwickelung
der ganzen Denk - und Empfindungsart
einen tiefern Blick in die Gründe des
Räsonnements oder der Handlungen öffnen.
─ Der Grund dieser Regel liegt
ganz deutlich in dem Gesetz der Lebhaftigkeit.
Alle Vereinzelung und Zerreißung
schwächt, hingegen alle Verbindung und
Harmonie erhebt sie.


  Die Befolgung dieser Regel vorausgesetzt,
kann nun wohl die Bemerkung keinem
Zweifel mehr unterworfen seyn: daß
ein Werk um so dichterischer ist, je eine
zusammengesetztere Form es hat. Die [562]
Darstellung macht pragmatische und didaktische
Werke, welche dieselbe annehmen,
unendlich lebhafter als die bloße
Erzählung oder Abhandlung: die unmittelbare
Seelenschilderung ist eine weit
wärmere Poesie, als die Beschreibung;
die in Handlung verwebte, aus ihr hervorspringende,
durch sie erhellte und beseelte
Reihe von Wahrheiten hat, in Ansehung
des dichterischen Werths, vor dem
gewöhnlichen einfachen Lehrgedicht bei
weitem den Vorzug. Und wiederum hat
ein andres Lehrgedicht den Vorzug, in
welchem die beschreibende in die lyrische
Reihe, beide in die pragmatische,
und alle am Ende in die didaktische verschlungen
sind. So ein Lehrgedicht ist
„Nathan der Weise“ von Lessing: ein
Werk, von dem es unbegreiflich wäre, wie
man es als Schauspiel, was es nicht seyn [563]
soll, und nicht vielmehr als das was es
so sichtbar ist, als Lehrgedicht, hätte betrachten
können, wenn man nicht einmal
gewisse eingeschränkte Begriffe von den
Dichtungsarten festgesetzt hätte, auf welche
man Alles zurückzubringen und es
danach zu richten gewohnt wäre. Die
ganze Anlage und Gruppirung der Charaktere,
die ganze Verwicklung, selbst die
Liebesgeschichte zwischen dem Tempelherrn
und Recha, die Auflösung, wo am
Ende Deist, Jude, Mahomedaner, Christ,
Alle als Glieder Einer Familie erscheinen:
kurz, das ganze Werk in jedem seiner
Theile zielt ganz sichtbar auf die großen
Wahrheiten ab, die uns der Dichter lehren
will; und überzeugt uns, daß sein
Werk zur didaktischen Gattung gehöre.
Freilich aber hat es ein unendlich größeres
Interesse, als die gewöhnlichen Werke [564]
von dieser Gattung; und dieses Interesse
verdankt es gewiß, neben der Würde und
Wichtigkeit der Wahrheiten selbst, auch
besonders dem ungemeinen Reiz seiner
Form. Durch diese so vortreffliche Form
ist Nathan von Lessing vielleicht eben so
das rührendste und erhabenste, wie das
tiefste und ideenreichste, aller Lehrgedichte;
und eben durch sie ist „Musarion“
von Wieland vielleicht unter allen
die je sind geschrieben worden, das
anmuthige liebenswürdigste, schönste.


ENDE.

[figure]
Notes
*
Man s. Plutarch im Leben des Demetrius,
zu Anfange.
*
Da diese Vorrede schon zum Drucke fertig
ist, lese ich die Ankündigung eines
neuen Lehrgebäudes der schönen Wissenschaften
von Hrn Professor Eschenburg in
Braunschweig. Die bekannte Geschicklichkeit
und Gelehrsamkeit dieses Mannes verspricht
uns etwas vorzüglich Gutes; und
so wird ohne Zweifel der Lehrer Recht
haben, wenn er das Buch meines Freundes
dem meinigen vorzieht. ─ (Diese
„Theorie und Literatur der schönen Redekünste“
von Hrn Eschenburg ist im gegenwärtigen
Jahr 1805 zum drittenmal erschienen.
Auch hat der nehmliche Verfasser,
was Engel 1783 ─ man s. vorher S. vii
─ wünschte, von 1788 bis 1795 geliefert,
nehmlich eine „Beispielsammlung“ zu seiner
Theorie, aber freilich nicht bloß aus
deutschen Dichtern. D. H.)
*
Mendelsohns Erklärung des Schäfergedichts
steht in den Literaturbriefen, Th. 5, Br. 86.
Hier kam der Ausdruck: „kleine Gesellschaften“
vor; wofür Engel itzt (S. 111) bestimmter
sagt: „gesittete Menschen, die noch
in keinen Staat zusammengetreten sind.“ ─
Joh. Adol. Schlegel, gegen dessen Anmerkungen
zum Batteux (2te Auflage, 1759)
die Erinnerungen in den Literaturbriefen
gerichtet waren, bestritt nun wiederum (in
seinem Batteux, 3te Auflage, 1770) die dort
gegebene Erklärung; welche dagegen der
Rezensent in der Leipziger N. Bibl. d. Sch.
Wissenschaften, Bd 12 St. 1 S. 77 folgg.,
vertheidigte. D. H.
*
Von der Idylle sehe man den in voriger
Note angeführten Br. 86 der Literaturbriefe.
Von der Ordnung in welcher die Gedanken
bei der Ode folgen, spricht Mendelssohn:
Bd 17, Br. 275 zu Anfang.
*
Bibl. Bd 16; itzt ─ und noch weiter ausgeführt,
und anders geordnet ─ im 4ten
Bande dieser Schriften gedruckt: von Seite
ror an.
**
Z. B. aus der Rezension von Ramlers Lyrischen
Gedichten (in der Bibl. Bd 14. 15),
von Diderot's Contes moraux (Bd 15. 16):
welche Ideen theils in diese Poetik verwebt
**

sind, theils in andere Abhandlungen, namentlich
Bd 4 u. s. w.
*

Man muß bei Anwendung dieses Grundsatzes
nur folgende Erinnerungen merken: 1) Ein
Werk kann so unverträgliche Eigenschaften verbinden,
daß von der Gattung gar nicht die
Frage seyn kann, weil es ein abgeschmacktes
und widersinniges Werk ist. Dies würde z. B.
der Fall seyn, wenn eine Rede nach allen Regeln
einer ängstlichen Homiletik genau disponirt,
und dann gleichwohl in den prachtvollsten
Hexametern geschrieben wäre. Hier würden Plan
und Vortrag auf ganz verschiedene Endzwecke
*

gehen, deren einer durch den andern gehindert
würde, und das Ding würde eher Unding als
Mittelding seyn. 2) Die verschiedenen Theile
können einander so unähnlich, so heterogen
seyn, daß das Werk in Absicht des einen etwas
ganz anders als in Absicht des andern ist, und
dann läßt es sich freilich unter keine bestimmte
Gattung bringen. 3) Wenn in einem Werke
nicht Alles geschehen ist was zur Erreichung
des Endzwecks geschehen konnte, so macht dieser
Umstand das Werk insofern mangelhaft,
aber wirft es noch nicht aus der Gattung heraus.
An Geßners Idyllen z. B. mangelt Etwas,
weil sie nicht versificirt sind; aber sie bleiben
dennoch Gedichte. 4) Wenn in einem Werke
für den Endzweck zu viel geschehen ist; so
hat das Werk insoweit einen Fehler, aber hört
darum noch nicht auf, von der und der Gattung
zu seyn, Ein Geschichtschreiber kann sich
in seiner Sprache etwas zu sehr dem poetischen
Tone nähern; er bleibt darum doch ein Geschichtschreiber.
─ Die weitere Entwickelung
des Begriffs der Lebhaftigkeit wird sich unten
beim Lehrgedichte finden.
*

) gesagt.
**
betrübt.
***

grüne Schalen.
****
verdorben.
*****
Weg.
******
oder.
*

wegen, um ─ willen.
*

In dem Namenverzeichnisse der verschiedenen
Dichtungsarten, das überhaupt sehr mangelhaft
ist, findet man keine andere, die der Idylle eigentlich
entgegengesetzt wäre. Aber wenn man
unsern Eintheilungsgrund auch nicht gebraucht
hat, mehrere Gattungen des Gedichts überhaupt
anzugeben, so hat man ihn wenigstens angewandt,
von andern Gattungen mehrere Unterarten
zu bilden. So hat man z. B. das Trauerspiel
vom Lustspiele so unterschieden: daß jenes
seinen Stoff aus dem Leben der Könige
und Helden; dieses den seinigen aus dem Privatleben
nimmt. Ob man den Unterschied hiemit
richtig bestimmt habe? ist eine andere
Frage.
*

Nach einer neuveränderten Abschrift [1783].
*

Die Vernunft nehmlich; von der die Frage ist:
ob sie für den Menschen mehr Gutes oder Böses
gestiftet? Im Vorhergehenden war von dem
Mißbrauche derselben zur Erfindung üppiger
Wollüste die Rede.
*

Ich sagte oben, daß die Klopstockische Beschreibung
des Sterbenden ─ die freilich nur
für uns Sterbliche gemacht ist, und also immer
untadelhaft und vortrefflich bleibt ─ den unsterblichen
Bewohnern jener andern Erde so gut
*

als gar keine Vorstellung von einem Gegenstand
gebe, den sie auch nicht der Art nach kennten.
Ich redete damal nur von dem äußern sichtbaren
Phänomen; aber auch von dem innern Zustand
der Seele, worauf es bei der ganzen Schilderung
eigentlich ankömmt, gilt das Nehmliche. Das
Erblassen, das Tiefer-herauf-athmen, und alle
übrige Symptome des Sterbens, können nur für
diejenigen verständliche Zeichen eines bestimmten
innern Zustandes seyn, die solche entweder
bei sich selbst in ähnlichen Zuständen (der Ohnmacht,
der Krankheit) zusammen empfunden,
oder wenigstens bei Andern beobachtet haben.
*

Theophrast hat, als Philosoph, nicht einzelne
Charaktere, sondern Classen von Charakteren
gezeichnet. Es sind, um mich so auszudrücken,
nicht einzelne Köpfe, die nur zum Ideal einer
ganzen Gattung dienten; es sind verschiedene
Blätter, deren jedes mehrere zusammen gehörige
Skizzen enthält, sodaß das eine Blatt lauter zornige,
das andere lauter neidische Gesichter zeigt,
u. s. w. ─ Wie übel haben also, auch unter uns,
manche, besonders periodische, Schriftsteller
ihm nachgeahmt, die statt seiner allgemeinen
Begriffe: der Schmeichler, der Neidische...,
*
individuelle Namen setzen: Cleanth, Damon...;
und die dann gleichwohl nicht nur eben so mannichfaltige,
oft in ein einziges Bild kaum vereinbare,
sondern auch eben so allgemeine und oft
noch weit allgemeinere Züge zusammensetzen!
*

Es ist eine schon oft gemachte Bemerkung:
daß nicht selten das Schicksal ganzer Wissenschaften
von Einem oder von einigen wenigen
glücklichen Wörtern abhängt; und wenn es an
solchen Wörtern noch irgendwo gefehlt hat, so
wars in der Dichtkunst. Ein Hauptmangel dieser
Art scheint mir eben der, daß man kein
Beiwort hatte, den Begriff der Handlung im Allgemeinen,
ohne die Nebenbestimmung der Form,
auszudrücken; denn darüber blieben die wichtigsten
Eintheilungsgründe unbemerkt, und die
ganze Theorie ward verstümmelt. Das Wort das
ich hier wage, und das schon von der Geschichte
in einem völlig ähnlichen Sinn gebraucht wird,
scheint mir für die Idee die es bezeichnen soll,
noch immer das bequemste: denn handelndes
Gedicht, handelnder Dichter, läßt sich nicht
wohl sagen; und die übrigen Wörter, die sich
hier noch anbieten, wie: praktisch, energisch,
haben schon jedes seine eigene festgesetzte Bedeutung.
*

Man s. unsers Verfassers Urtheil darüber: Bd 4,
S. 195 folgg.
*

Bd 1, S. 87 folgg.
*

Materie ist, also wohl von Gegenstand, oder
Classe von Gegenständen, Welt, wie wir es
S. 95 nannten, zu unterscheiden. Ein Eintheilungsgrund,
den wir erst künftig untersuchen
werden.
**

Man s. die Entwicklung des Begriffs der Formen
im folgenden Hauptstück.
*

Die Mimen der Alten, wenn wir nach den Syrakuserinnen
des Theokrit davon urtheilen dürfen,
enthielten lauter Scenen, in welchen wechselsweise
bald die Phantasie, bald der stärkere
Eindruck auf die Sinne, den Ideengang leiteten.
Eigentliche Handlung giebt es wenigstens in
den Syrakuserinnen gar nicht; und wenn das
Stück Interesse hat, so kann es dieses bloß als
Charakterschilderung haben: es ist eine lebendige
Darstellung zweier Weiberseelen. ─ Die
dramatischen Sprüchwörter unsrer Nachbaren
scheinen mit den Mimen der Alten im Wesentlichen
viel Ähnliches zu haben.

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Engel. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7B1-E