[EAI:b][EAI:a][RI]

Die Lehre
von der
deutschen Dichtkunst. ──────

[RII]

Bei W. Langewiesche in Barmen sind erschienen:


Blumenlese aus 101 deutschen Dichtern neuerer und
neuester Zeit. Zum Deklamiren für die reifere Jugend in
Gymnasien, Seminarien, höheren Bürgerschulen &c., so wie
zum Privatgebrauch für alle Freunde deutscher Dichtkunst und
Dichter. Herausgegeben von einem der 101. 24 Bogen 8.,
elegant gebunden mit Umschlag in Congrevedruck. 1 Thlr.
Gallerie der Helden: Blücher, Washington, Schill
und Hofer. Vier Lebensbeschreibungen, Deutschlands Jünglingen
und Männern gewidmet von Dr. Rauschnick, Hofrath
Ed. Gehe, Dr H. Döring und L. Wiese. Jn
Einen Band gebundene Ausgabe mit 3 Stahlstichen. 3⅓ Thlr.
P. D. Holthaus, (Schneidergesell!) Wanderungen durch
Europa und das Morgenland. Dritte, verbesserte
Auflage.
Mit dem Bildniß des Herausgebers. Geh. ¾ Thlr.
Dr. Franz Horn, Fortepiano. Kleine heitere Schriften.
3 Bände. 8. Geh. 3 Thlr.
Derselbe, Mai und September. Eine Sammlung von Novellen,
Skizzen, Kritiken &c. 2 Bde. 8. Geh. 2¼ Thlr.
Poetisches Kleingewehrfeuer. Epigramme, Reimsprüche &c.
von Teutonius Acerbus, Jan Pol, G. Puteolano,
K. G. Korte und W. Jemand. Geheftet. ⅓ Thlr.
Lies mich! Eine Sammlung von Novellen, Erzählungen,
Dramen, Gedichten &c. Jn Verbindung mit beliebten Schriftstellern
(Ferd. Freiligrath, Franz Horn, Pustkuchen
&c.) herausgegeben von W. Jemand. N. A. 3 Bände
in Taschenformat, elegant gebunden mit Goldschnitt. 3 Thlr.


H. Püttmann, Chatterton. 2 Bände.


1r Bd.: Leben des Dichters.


2r Bd.: Dichtungen (die ausgezeichnetesten des genialen „Wunderknaben“
Chatterton, metrisch übersetzt).


8. Geheftet. 1 ⅚ Thlr.


Dr. Karl Rosenkranz, (Professor in Königsberg), geistlich
Nachspiel zur Tragödie Faust.
8. Geh. \frac{5}{12} Thlr.
Derselbe, die Naturreligion. Ein philosophisch=historischer
Versuch. gr. 8. 1 ⅚ Thlr.
Albert von Starschedel (in Paris), französische Schulgrammatik.
8. Geh. ½ Thlr.
Deutsches Volksliederbuch. Vierte Auflage, 139 ausgewählte
Volks=, Gesellschafts- und andere Lieder enthaltend.
Geheftet. \frac{1}{12} Thlr.

[RIII]

Die Lehre
von den
Formen und Gattungen
der
deutschen Dichtkunst. ──────


Für
höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht
bearbeitet
und mit Hinweisungen auf die Gedichtsammlungen von
Echtermeyer, Kurz, Schwab, Wackernagel
und Wolff versehen

von
Ernst Kleinpaul,
Lehrer an der höheren Stadtschule in Barmen. ──────

Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt,
Jst ein Barbar, er sei auch wer er sei.


Göthe.

[figure]


Barmen, 1843.
Verlag von W. Langewiesche.
[RIV]
──────
Druck von P. A. Santz
in Altena.
──────

[RV]

Vorwort.


[figure]

Unsere Nationalliteratur, namentlich der (im
engern Sinne) poetische Theil derselben, hat gegenwärtig,
sowohl in höheren Lehranstalten, als unter
den, der Schule entwachsenen Gebildeten eine sehr
erfreuliche Beachtung gefunden. Die Bekanntschaft
mit derselben betrachtet man ─ und mit Recht! ─
als ein nothwendiges Attribut der Bildung, als eine
Quelle des edelsten Genusses. Schriftsteller und
Buchhändler haben sich beeilt, den in dieser Beziehung
laut werdenden Bedürfnissen entgegen zu
kommen: fast mit jeder Woche mehren sich die Auswahlen
deutscher Gedichte, erscheinen neue Ausgaben
anerkannter Dichter und Kommentare zu einzelnen
oder mehreren derselben. Nur die theoretische
Seite der deutschen Poesie hat, nach unserer Meinung,
die volle, verdiente Berücksichtigung noch [RVI]
nicht gefunden. Denn wenn wir auch über einzelne
Zweige der Dichtkunst nicht nur mehrere ausführliche
gelehrte Werke, sondern auch solche besitzen,
die für ein größeres Publikum berechnet und
dabei zum Theil recht zweckmäßig sind, so fehlt
es uns doch an einer Schrift, die in anspruchsloser
und faßlicher Weise sich über das Ganze der
Poetik, über die Formen sowohl, als über die
Gattungen und Arten derselben verbreitet. Wir
schmeicheln uns deshalb mit der Hoffnung, durch
das vorliegende Werkchen eine fühlbar gewordene
Lücke auszufüllen. Jn wie weit uns das gelungen,
darüber mögen sachverständige Kritiker und diejenigen
entscheiden, die unsere Schrift gebrauchen!
Bei der Beurtheilung, wie bei dem Gebrauch
bitten wir folgende Punkte zu beachten:


1) Wir haben die Lehre von der Dichtkunst
nicht als eine Theorie a priori genommen, sondern
sie durchweg auf die Praxis, auf die Produktionen
anerkannter deutscher Poeten zu begründen und nach
diesen zu bestimmen gesucht. Namentlich ist unser
Bestreben gewesen, die selbstständige nationale
Entwickelung,
die unsere Poesie praktisch in
Hinsicht der Formen erreicht, auch in der Theorie
geltend zu machen. Deshalb haben wir zwar die [RVII]
einmal bekannten und gebräuchlichen Namen aus
der antiken (griechisch=lateinischen) Metrik beibehalten,
aber nicht diese selbst ohne Weiteres auf
die deutsche Dichtkunst übertragen. Daß so unsere
Schrift einen haltbaren praktischen Grund gewonnen,
dürfen wir um so mehr hoffen, als sich ein
uns befreundeter Dichter der Mühe unterzogen hat,
dieselbe mit uns fast Satz für Satz durchzugehen.
Wir fühlen um so größere Verpflichtung, demselben
öffentlich hiermit unseren herzlichen Dank abzustatten,
da einige Paragraphen dem Wesentlichen
nach ganz sein Eigenthum sind, andere auf seine
Veranlassung mehr oder minder erhebliche Aenderungen
oder Zusätze erfahren haben.


2) Es konnte unsere Absicht nicht sein, unsere
Leser zu Dichtern machen zu wollen ─ die Dichter
werden geboren. Allerdings würde es uns
höchlich freuen, wenn hier oder da Einer, der das
göttliche Pfund der Poesie schon in sich trug,
durch unsere Schrift hinsichtlich der Anwendung
desselben zu größerer Klarheit gelangen sollte. Zunächst
aber bezweckten wir bloß, ältere und jüngere
Freunde poetischer Speise für deren Genuß fähiger
und empfänglicher zu machen. Um dabei möglichst
vielen nützlich zu werden, suchten wir unser Buch so [RVIII]
einzurichten, daß es sowohl unter Leitung eines
Lehrers von den Schülern und den Schülerinnen
höherer Lehranstalten gebraucht werden, als auch
Erwachsenen zum Selbstunterricht dienen konnte.
Für den Schulgebrauch aber, wie für den Selbstunterricht
war es nothwendig, den Text durch
Beispiele zu belegen und zu erläutern. Trotz dem
trugen wir Bedenken, überall Beispiele beidrucken
zu lassen. Denn hätten wir uns rücksichtlich derselben
auch nur auf das Allernothwendigste beschränkt,
so mußte doch das Buch um ein Bedeutendes
theurer und damit sein Wirkungskreis ein
sehr beschränkter werden; überdieß würden die Beispiele
vom literarhistorischen Gesichtspunkte aus
nur eine sehr ungenügende Auswahl abgegeben
haben. Unserm Texte aber eine, auch in dieser Beziehung
vollständige Gedichtsammlung beizugeben,
und so die große Menge ähnlicher Bücher noch
zu vermehren, dazu konnten wir uns für jetzt nicht
entschließen. Wir wählten deshalb einen Mittelweg.
Nur in den, über die Prosodik, die Metrik, die
Versarten und den Reim handelnden Abschnitten
führten wir gleich die nöthigen Beispiele an. Jn
Hinsicht der Theil II. besprochenen lyrischen und
epischen Dichtungsarten aber haben wir uns auf [RIX]
die unten angegebenen *)anerkannten und weitverbreiteten
Gedichtsammlungen bezogen und deshalb
unserem Buche ein, auf jene Werke verweisendes
Register beigefügt. Wenn wir im Allgemeinen
immer nur einige, nicht alle in den einzelnen
Sammlungen vorhandenen Beispiele angedeutet haben,
und uns auch nicht daran störten, daß sich
wohl die eine oder andere Dichtungsart nicht in
jeder derselben vertreten fand; wenn wir bei der
dramatischen Poesie und den in prosaischer Form
erscheinenden Dichtungen sowohl auf Anführung, [RX]
als auf Andeutung von Beispielen verzichteten: so
wird es darüber hier keiner besondern Rechtfertigung
bedürfen.


Was endlich den Abschnitt von den Strophen
betrifft, so sind in demselben die nöthigen Beispiele
dem Texte dann beigegeben, wenn sich solche
nicht in mehreren der angezogenen Sammlungen
fanden.


3) Die Anführung derjenigen Dichter, die sich
in den einzelnen Dichtungsarten ausgezeichnet haben,
soll die Literaturgeschichte nicht ersetzen, wohl
aber dazu dienen, das Studium derselben zu fördern.
Für den Schulunterricht, wie für den autodidaktischen
Gebrauch scheint uns nämlich zur Erreichung
der nöthigen Bekanntschaft mit der Nationalliteratur
und deren Geschichte folgender Weg der
naturgemäßeste und zweckdienlichste: a. Lesen ausgezeichneter
poetischer Produkte mit bloßer Rücksicht
auf das Verständniß des Gegenstandes und die Darstellung
im Allgemeinen; b. Bekanntmachung mit
den Formen der Dichtkunst; c. Bekanntmachung
mit den Dichtungsarten, und zwar auf praktisch=theoretische
Weise: erst lese man aufmerksam
einige Beispiele, dann die Theorie derselben; d. erst
wenn so schon eine ziemlich ausgedehnte Bekanntschaft [RXI]
mit den vorzüglichern Erzeugnissen der Literatur
und den Verfassern derselben erreicht ist,
erst dann nehme man die Literaturgeschichte
vor. ─ Jst man diesen Weg gegangen, dann
können die geschichtlichen Paragraphen unseres
Werkes auch in mancherlei Weise zu Repitionen
benutzt werden. Freilich nur für die neuere Literaturgeschichte.
Wenn wir diese fast ausschließlich
berücksichtigt haben, so ist es in der Ueberzeugung
geschehen, daß nur sie für den größern Theil des
Publikums, wie für diejenigen Lehranstalten, für
die wir zunächst schrieben, Werth habe. Es ist
hier nicht der Ort, die Gründe für diese Meinung
darzuthun.


4) Wir wollten nicht auf Kosten der Sache
originell sein. Ohne deshalb unserer Selbstständigkeit
etwas zu vergeben, haben wir uns namentlich
in der Lehre von den Dichtungsarten hier und da
gern auf andere Werke bezogen. ─ Möchte das
von uns Benutzte recht viele unserer Leser dazu
veranlassen, sich dem Studium der angezogenen
Schriften (namentlich dem von Gervinus' Literaturgeschichte,
Hoffmeister's Schiller und
Schlegel's: Ueber dramatische Kunst und Literatur)
hinzugeben! ─ Die Gefühle der Hochachtung [RXII]
und des Dankes, die wir für jene Autoren
hegen, würden den lautesten Wiederhall finden:
unsere Arbeit hätte die beste Frucht getragen und
unserer Mühe wäre der schönste Lohn geworden!


Barmen, Ende März 1843.


Der Verfasser.

[figure]
[RXIII]

Jnhalt.


[figure]

  • Seite
  • VorwortV
  • Alphabetisches RegisterXV
  • Theil I. Die Dichtkunst nach ihren Formen.
    • Einleitung1─4
    • I. Abschnitt. Prosodik oder Lehre von der Messung
      der Silben5─10
    • II. Abschnitt. Von den Versgliedern. ─ Metrik11─18
    • III. Abschnitt. Von den Versarten19─35
    • IV. Abschnitt. Die Lehre vom Reim36─55
    • V. Abschnitt. Von den Strophen56─74
    • Zusatz74─75
  • Theil II. Die Dichtkunst nach ihren Gattungen.
    • Einleitung79─81
    • I. Abschnitt. Lyrische Poesie82─116
    • II. Abschnitt. Epische Poesie117─154
    • III. Abschnitt. Dramatische Poesie155─184
  • Anhang185─188
  • Nachweisung von Beispielen189─192

[figure]
[RXIV]

Druckfehler.


Seite 24, Zeile 22 von oben statt „wenn wie“ lies „wenn wir“.


„ 29, „ 1 von unten statt „Jambus“ lies „Trochäus“.


„ 30, „ 19 von oben statt „die Zahl“ lies „die Schaar“.


„ 40, „ 6 von unten statt „Reim o“ lies „Reim so“.


„ 60, „ 1 „ „ „ „§. 49.“ lies „§. 42“.

[RXV]

Alphabetisches Register.


[figure]

A


Accentverse, 9, 34.


Akrostichon, 72.


Akt, 165.


Alcäische Verse, 27.


Alexandriner, 21, 22, 111,
127, 144.


Allegorie, 119, 122 ff.; ─ anthropomorphische,
123; ─ metaphorische,
123; ─ personificirende,
123.


Allegoriendichter, 126.


Alliteration, 38, 39.


Amphibrachysche Verse, 27.


Amphibrachys, 12.


Amphimaker, 12.


Anagramm, 186.


Anakreontische Lieder, 87.


Anapäst, 12; ─ ische Verse, 26.


Anfangsreim, 43.


Annomination, 39.


Antibachius, 13.


Antike Versmaaße, 92.


Antispast, 13.


Arie, 99, 184.


Ariette, 184.


Arioso, 184.


Arsis, 11.


Asklepiadeische Verse, 29.


Assonanz, 36─39.


Auftakt, 16.


Auftritt, 165.


Aufzug, 165.


B


Bachius, 13.


Ballade, 119, 136─141.


Balladendichter, 141.


Beschreibendes Gedicht, 115.


Binnenreim, 43.


Buchstabenräthsel, 186.


Bucolysche Cäsur, 31.


C


Cäsur, 15; ─ bucolysche, 31.


Cäsuren des Hexameters, 31.


Cäsur, Fußcäsur, 15; ─ männliche,
16; ─ Verscäsur, 15;
─ weibliche, 16.


Cancion, 66.


Cantate, 98─100; ─ geistliche,
99; ─ weltliche, 99.


Cantatendichter, 100.


Catatilenen, 100.


Catatillen, 99, 100.


Cantatinen, 100.


Canzone, 65.


Carricatur, 110.


Cavatine, 184.

[RXVI]

Charade, 186.


Charakterstück (Lustspiel), 176.


Choliambus, 23.


Chor, 99.


Choreus, 12.


Choriambische Verse, 29.


Choriambus, 13.


Coda der Canzone, 65.


Conversationsstück (Lustspiel),
177.


D


Daktylische Verse, 25.


Daktylisch=spondeische Verse,
29 ff.


Daktylus, 12.


Deutsche Strophen, 58.


Dezime, 68, 69.


Dichter von Allegorien, 126;
─ Balladen, 141; ─ Cantaten,
100; ─ Elegien, 101,
102; ─ Epigrammen, 107;
─ Episteln, 113; ─ Epopöen,
146, 147; ─ Fabeln,
122; ─ Gnomen, 104;
─ Heroiden, 103; ─ Hymnen,
96; ─ Jdyllen, 136;
─ Komödien, 179; ─ Legenden,
129; ─ Lehrgedichten,
115, 116; ─ Liedern,
91; ─ Lustspielen, 179;
─ Mährchen, 133; ─ Novellen,
153; ─ Oden, 94;
─ Parabeln, 126; ─ Paramythien,
126; ─ poetischen
Erzählungen, 127; ─
Romanen, 153, 154; ─ Romanzen,
141; ─ Sagen,
133; ─ Satyren, 111,
112; ─ Schauspielen, 181.


Dichter von Sinnsprüchen, 104;
─ Tragödien, 173; ─
Trauerspielen, 173.


Dichtkunst, 1.


Dijambus, 13.


Dimeter, 17.


Dipyrrhichius, 13.


Dispondeus, 13.


Distichon, 32, 33, 101, 104,
106.


Dithyrambendichter, 98.


Dithyrambus, 97, 98.


Doppeljambus, 13.


Doppelpyrrhichius, 14.


Doppelreim, 44.


Drama, 155 ff.


Drama im engern Sinne, 179.


Dramatische Poesie, 117, 155
bis 184.


Duett, 99. 184.


Duodram, 183.


E


Echo, 44.


Einheit der Handlung, 156.


Einheit des Orts, 158.


Einheit der Zeit, 158.


Eintheilung der Verse, 16─18.


Elegie, 100─102.


Elegiendichter, 101, 102.


Elegisches Distichon, 32, 33.


Elegisches Versmaaß, 101, 103.


Elfsilbler, 28.


Endreim, 43.


Entwickelung, 166.


Epigramm, 104─107.


Epigrammdichter, 107.


Epigramm, ernstes, 105; ─
witzig=satyrisches, 105 ff.


Epilog, 156, 166.

[RXVII]

Epische Poesie, 117─154.


Episoden, 118, 141, 142,
157.


Epistelndichter, 113.


Epistel, poetische, 112, 113.


Epitritt, 13.


Epopöe, 144.


Epos, 119, 141─147.


Eposdichter, 146, 147.


Epos, ernstes, 146; ─ idyllisches,
146; ─ klassisches,
144; ─ komisches, 146,
147; ─ romantisches, 145.


Erotische Lieder, 86.


Erzählung, 126; ─ poetische,
119, 126, 127.


Exposition, 166.


F


Fabel, 119, 120─122; ─
des Dramas, 156; ─ dichter,
122.


Feenmährchen, 133.


Formen, poetische, 3, 4.


Freiheitsgesänge, 87.


Fuß, 12; ─ cäsur, 15.


Füße der Canzone, 65.


Füße, dreitheilige, 12, 13; ─
viertheilige, 13; ─ zweitheilige,
12.


G


Gasel, 72, 73.


Gattungen der Dichtkunst oder
Poesie, 77 ff.
Gedichte, didaktische, 80, 114 ff.;
─ dramatisch=didaktische, 81;
─ episch=didaktische, 80;
─ Lehr=, 114─116.


Gedichte, lyrisch=didaktische, 80.


Gelegenheitsgedichte, vaterländische,
87 ff.


Gesellschaftslieder, 86, 87.


Gleichklang, 36─55.


Gleichniß, 124.


Glosse, 69.


Glykonischer Vers, 28.


Gnomon, 103, 104; ─ dichter,
104.


H


Handlung, Einheit der, 156.


Hebung, 11.


Heldengedicht, 141; ─ ernstes,
144.
Held des Dramas, 156; ─ des
Epos, 142; ─ der Komödie,
174; ─ der Tragödie, 168 ff.


Hendekasyllabus, 28.


Heroide, 103.


Heroidendichter, 103.


Heroischer Vers, 29 ff.


Hexameter, 29─33, 111, 144;
Kleist'sche, 32.


Hiatus, 74, 75.


Homonyme, 186.


Hymne, 94─96.


Hymnendichter, 96.


J


Jdylle, 119, 133─136.


Jdyllendichter, 136.


Jntermezzo, 183.


Jntriguenstück, 176; ─ lustspiel,
176.
Jonikus, fallender, 13; ─ steigender,
13.


Jambus, 12.

[RXVIII]

Jambus, hinkender, 23.


Jamben, 19 ff.; ─ einfüßige,
19; ─ zweifüßige, 19, 85;
─ dreifüßige, 19, 85; ─
vierfüßige, 19; ─ fünffüßige,
20, 101, 127, 129; ─ sechsfüßige,
21, 22; ─ siebenfüßige,
23; ─ achtfüßige, 23.


Jambische Verse, 19─23, 139.


Jambisch=anapästische Verse,
27, 139.


K


Katastrophe, 157.


Kettenreim, 43.


Kirchenlied, 86, 96.


Kleist'sche Hexameter, 32.


Knittelverse, 35.


Knoten, dramatischer, 157.


Komödie, 167, 173 ff.


Kretische Verse, 25.


Kriegslieder, 87.


Kunstpoesie, 2.


L


Legende, 119, 127─129; ─
ernste, 128; ─ komische, 128.


Legendendichter, 129.


Lehrgedicht, 80, 114─116;
─ Dichter des, 115, 116.


Liebeslieder, 86.


Lied, 83─91; ─ Arten desselben,
85 ff.


Lieder, anakreontische, 87; ─ dichter,
91; ─ erotische, 86; ─
Freiheits=, 87 ff.; ─ geistliche,
85, 86; ─ Gesellschafts=, 86,
87; ─ Kirchen=, 86, 96; ─
Kriegs=, 87; ─ Liebes=, 86.
Lieder, Natur=, 86, 90; ─
politische, 87─89; ─ religiöse,
85, 86; ─ Vaterlands=,
86 ff.; ─ weltliche,
85 ff.


Logogryph, 186.


Lustspiel, 173 ff.; ─ dichter,
179; ─ höheres, 175, 176;
─ niederes, 175, 176.
Lyrische Poesie, 79, 82─116;
─ Arten, 83; ─ Eintheilung,
83.


M


Madrigal, 63.


Mährchen, 119, 129─133;
─ dichter, 133.


Makamen, 34.


Maschinerie des Epischen, 118,
145.


Meistersonett, 65.


Melodram, 183.


Metrik, 11─18.


Mittelreim, 43.


Molossus, 13.


Monodram, 183.


Monolog, 166.


Monometer, 17.


Moral der Fabel, 121.


Mythus, 130.


N


Naturlieder, 86, 90.


Naturpoesie, 2.


Nibelungenstrophe, 59.


Nibelungenvers, 22, 127, 139,
144; ─ älterer, 22; ─
neuerer, 22.


Novelle, 119, 151 ff.

[RXIX]

Novellendichter, 153.


Novellette, 152.


O


Objektive Poesie, 2, 79.


Octave, 61─63, 127.


Ode, 91─94, 95.


Odendichter, 94.


Oper, 167, 181─184.


Opera buffa, 183.


Opera seria, 183,


Oper, ernste, 183; ─ komische,
183.


Operette, 183.


Oratorien, 99.


Ottava rime, 61 ff.


P


Päon, 13.


Palimbachius, 13.


Parabel, 119, 124, 125;
─ dichter, 126.


Paramythie, 119, 125, 126.


Parodie, 184.


Pasquill, 110.


Pause, logische, 15.


Pentameter, 17, 32.


Perepetie, 166.


Persische Vierzeile, 73.


Phaläkischer Vers, 28.


Pherekratischer Vers, 28.


Poesie, 1; ─ Zweck der, 2; ─
didaktische, 80, 81; ─ dramatische,
79, 117, 155─184;
─ dramatisch=didaktische, 81;
─ epische, 79, 117─154;
─ episch=didaktische, 80;
─ Hauptgattungen, 79;
─ lyrische, 79─116.


Poesie, lyrisch=didaktische, 80;
─ objektive, 2, 79; ─ subjektive,
2, 79.


Poetische Epistel, 112, 113.


Poetische Erzählung, 119, 126,
127; ─ Formen, 3, 4.


Posse, 175.


Prolog, 156, 166.


Prosa, 2.


Prosodik, 4─10.


Psalmen, 96.


Pyrrhichius, 12, 14.


Pythischer Vers, 29.


Q


Qualitätsverse, 9.


Quantitätsverse, 9.


Quartett, 99.


R


Räthsel, 185.


Recitativ, 99, 184.


Refrain, 59.


Reim, 36─55; ─ Anfangs=,
43; ─ Binnen=, 43; ─ Bedeutung
des, 46─48, 54, 55;
─ Doppel=, 44; ─ echo, 44;
─ eigentlicher, 42─44; ─
End=, 43; ─ formen, 42─44;
─ gekreuzter, 45; ─ Gesetze
der Bildung, 48; ─
gleitender, 41; ─ identischer,
42; ─ im Liede, 85;
─ Ketten=, 43; ─ männlicher,
41; ─ Mittel=, 43;
─ reicher, 42; ─ Schlag=,
45; ─ schwebender, 41; ─
Stellung des, 44─46; ─
stumpfer, 41; ─ umarmender,
45; ─ ungetrennter, 44.

[RXX]

Reime, unterbrochene, 46; ─
verschränkte, 45; ─ weibliche,
41.


Reimstrophen, deutsche, 58.


Rhapsoden, 97.


Rhapsodie, 96, 97.


Rhapsodisch, 97.


Rhythmus, 11.


Ritornell, 63, 64.


Roman, 119, 147─154.


Romandichter, 153, 154.


Romane, ascetische, 150; ─
ästhetische, 150; ─ ernste,
150; ─ historische, 150; ─
humoristische, 150; ─ komische,
150; ─ Künstler=,
150; ─ pädagogische, 150;
─ philosophische, 149, 150;
─ Räuber=, 150; ─ Ritter=,
150; ─ satyrische, 150;
─ Schäfer=, 150; ─ sentimentale,
150; ─ theologische,
150.


Roman, Wirkung des, 152.


Romanze, 119, 136─141.


Romanzendichter, 141.


Rondeau, 68.


S


Sage, 119, 130─33.


Sagendichter, 133.


Sapphische Verse, 33.


Satyre, 107─112.


Satyre, ernste, 108; ─ komische,
108; ─ dichter, 111,
112.


Scene, 165.


Schauspiel, 167, 179 ff.


Schlagreim, 45.


Schleuderer, 12.


Schön, 1.


Schweif der Canzone, 65.


Senkung, 11.


Sestine, 65, 66.


Silben, Eintheilung der, 5 ff.;
─ Messung der, 5 ff.;
─ räthsel, 186; ─ wägung,
5 ff.


Singspiel, 181, 183.


Sinnspruch, 103, 104.


Sittenlustspiel, 176; ─ stück,
176.


Skansion, 14.


Skazon, 23.


Sonett, 64, 111.


Sonettenkranz, 64, 65.


Spenser'sche Stanze, 63.


Spondeus, 12.


Sprache, accentuirende, 10; ─
quantitirende, 10.
Stanze, 61─63, 111, 144;
─ regelmäßige, 62; ─ unregelmäßige,
62, 63; ─
Spenser'sche, 63.


Stimmreim, 36─38.


Streitgedicht, 69, 70.


Strophen, 56─74; ─ antike,
58, 60, 61; ─ alcäische,
61; ─ asklepiadeische,
60; ─ ausländische, 61─74;
─ deutsche, 58─60; ─
gleichmäßige, 56; ─ moderne,
58, 61 ff.; ─ sapphische,
61; ─ ungleichmäßige, 56;
─ zweizeilige, 58; ─ drei=,
vier=, fünf=, sechs=, siebenzeilige,
59; ─ acht=, neun=,
zehn=, elf=, zwölf=, dreizehnzeilige,
60.


Subjektive Poesie, 2, 79.

[RXXI]

T


Takt, 12.


Tendenz-Romane, 148 ff.


Tenzone, 69, 70.


Terzett, 99.


Terzine, 63, 127.


Tetrameter, 17.


Theater, 160 ff.


Theatralisch, 159 ff.


Theatralische Wirkung, 160 ff.


Thesis, 11.


Tragödie, 167─173.


Tragödie, antike, 167 ff.; ─
deutsche, 167 ff.; ─ griechische,
167 ff.; ─ moderne,
167 ff.


Tragödiendichter, 173.


Trauerspiel, s. Tragödie.


Travestie, 184, 185.


Tribrachys, 13, 14.


Trimeter, 17.


Trinklieder, 87, 98.


Triolett, 67.


Trochäen, zweifüßige, 23; ─
dreifüßige, 23, 84; ─ vierfüßige,
23, 24, 84; ─ fünffüßige
oder serbische, 24,
101, 129, 144; ─ sechssüßige,
24; ─ siebenfüßige,
24; ─ achtfüßige, 24.


Trochäisch=daktylische Verse,
27, 28, 85.


Trochäische Verse, 23─25,
139, 144.


Trochäisch=jambische Verse, 28,
29.


Trochäus, 12.


U


Unregelmäßige Verse, 33.


V


Vaterlandslieder, 86 ff.


Vaudeville, 183.


Vers, 14.


Versarten, 19─35.


Verscäsur, 15.


Verse, abgekürzte, 17; ─ alcäische,
27; ─ amphibrachische,
27; ─ anapästische,
26; ─ asklepiadeische, 29; ─
choriambische, 29; ─ daktylisch=spondeische,
29 ff.; ─ Eintheilung
derselben, 16─18;
─ jambisch=anapästische, 27,
85; ─ jambische, 19─23; ─
Knittel=, 35; ─ kretische, 25;
─ Quantitäts=, 9; ─ Qualitäts=,
9; ─ sapphische, 33; ─
trochäische, 23─25; ─ trochäisch=daktylische,
27, 85; ─
trochäisch=jambische, 28, 29;
─ unregelmäßige, 33 ff.


Versfuß, 12.


Versfüße, 12.


Versfüße, zweitheilige, 12; ─
dreitheilige, 12; ─ viertheilige,
13.


Versglieder, 11.


Vers, glykonischer, 28; ─ heroischer,
29.


Versmaaße, antike, 92.


Versmaaß, elegisches, 101, 103,
104, 106.
Vers, phaläkischer, 28; ─
pherekratischer, 28; ─ pythischer,
29.

[RXXII]

Verse, unvollständige, 17; ─
überzählige, 17; ─ vollständige,
17.


Verwickelung, 157, 166.


Viertheilige Füße, 13.


Vierzeile, 104; ─ persische,
73.


Volkslieder, 90.


Volksmährchen, 132.


Volkspoesie, 2.


Vorschlag, 16.


W


Wiederholungssatz, 59.


Wohllaut der Wörter, 74, 75.


X


Xenien, 107.


Z


Zeitmessung, 9.


[figure]
[EA1:b]

Erster Theil.

[figure]


Die
Dichtkunst nach ihren Formen.


[figure]
[EA1:a][E1]

Einleitung.

[figure]

§. 1. Die Poesie (als Kunst) oder die Dichtkunst
gehört zu den schönen Künsten. Die
schönen Künste haben die Darstellung des Schönen
zum Gegenstand. (Schön heißt das, was durch die
Verhältnißmäßigkeit und Vollkommenheit aller Theile,
und insofern es eine höhere Jdee veranschaulicht, dem
gebildeten Geschmacke Genuß bereitet.) Sie unterscheiden
sich von einander in den Stoffen, durch
welche diese Darstellung bewirkt, vermittelt wird. Der
Stoff, das Darstellungsmittel der Dichtkunst
ist die Sprache. Demnach wäre die Dichtkunst die
ausgebildete Anlage, das Schöne sprachlich darzustellen,
oder die Fertigkeit, das Schöne mittelst
der Sprache
regelrecht zur Anschauung zu bringen.


Anmerkung. Das Wort Poesie bezeichnet mehrere
Begriffe, nämlich: 1) wie oben, die Kunst des Dichtens; 2) die
angeborne Anlage, die Naturgabe zum Dichten; 3) die
Produkte dieser Naturgabe und die der Dichtkunst; 4) Momente
im Leben, und Gegenstände der innern und äußern
Welt, sofern sie ähnliche Eindrücke machen, wie ein gutes Gedicht.
─ Auch zu der eigentlichen Dichtkunst, wenn sie nicht zur
bloßen Verskunst herabsinken soll, ist die erwähnte Naturgabe
(die poetische Ader) nöthig. Wird aber letztere ohne die erstere,
d. h. ohne Bewußtsein der Regeln der Kunst, und ohne Nachahmung
anderer poetischer Produkte, angewendet, so entsteht die [] ─ 2 ─
sogenannte Natur= oder Volkspoesie, in der trotz der mangelhaften
Form mitunter eben so schöne Gedankenblitze sich finden,
als in der vollendetsten Kunstpoesie.


§. 2. Die Poesie wendet sich mit ihren Schöpfungen
vorzugsweise an die Phantasie. Sie hat an
und für sich keinen andern Zweck, als den, Genuß
zu bereiten.
„Während andre Mittheilungen durch
die Sprache ihre Wirksamkeit auf irgend einen bestimmten
Zweck,
auf die Belehrung des Verstandes,
auf die Lenkung des Willens durch den Verstand und
die Erregung der Gefühle richten, sind ihre Schöpfungen
im Gebiete innerer Anschauungen, der Phantasie,
das freie, nicht von äußerer Wirklichkeit und
ihren Bedürfnissen, Rücksichten und Zwecken beengte
Spiel einer harmonischen Thätigkeit der geistigen
Kräfte.
“ (Herling, Theorie des Styls.) Jndeß
lassen sich auch mit ihr bestimmte Zwecke verbinden.
Die wahre Poesie soll über die Schranken, Mühen
und Sorgen des gewöhnlichen Lebens erheben und die
Seele in die höheren Regionen des Jdealen und Vollkommenen
versetzen, nicht aber das Gemüth in hysterische
Träumereien versenken, es verweichlichen und der
ernsten Wirklichkeit entfremden.


Anmerkung. Jnsofern die Poesie die eignen Gefühle
des Dichters oder außer ihm liegende Erscheinungen
darstellt, theilt man sie ein in subjektive und objektive.


§. 3. Der Poesie steht die Prosa entgegen.
Prosa heißt die Art sprachlicher Mittheilung, welche
mittelst des Verstandes Wahrheiten des Lebens,
oder, bei der Täuschung, den Schein derselben zur
Vorstellung erheben oder bestimmte Gefühle erregen
will. Die Prosa strebt nach logischem Zusammenhange, [] ─ 3 ─
nach Verständlichkeit; sie will belehrend auf den Verstand,
oder erregend auf den Willen und das Gefühl
wirken. Darum bestimmt hauptsächlich der Jnhalt
des Darzustellenden die Art der Wortfolge und der
Wortbewegung. Anders bei der Poesie. Jhrem
Wesen gemäß verschmäht sie die Sprache des gemeinen
Lebens und erscheint in besonderen Formen, die
eigenen Gesetzen unterworfen sind und poetische
Formen
genannt werden. Wenn poetische Produkte,
wie z. B. der Roman, die Novelle, das Gewand der
Prosa annehmen, wird der Ausdruck doch gewählter,
die Darstellung lebendiger, bilderreicher sein, als in der
Sprache des gemeinen Lebens oder in der, hauptsächlich
Klarheit bezweckenden, der Wissenschaft, und man
wird diese Art Prosa mit Recht durch das Prädikat
poetisch von der gewöhnlichen unterscheiden können,
so wie man umgekehrt gar viele Produkte, die der
Form nach zur Poesie gehören, auch wohl in Bezug
auf diese Form nichts zu wünschen übrig lassen, dem
Wesen, dem Jnhalte nach, zur Prosa zählen muß.


§. 4. Die Kenntniß der poetischen Formen ist
zur vollen Würdigung der verschiedenen Kunstdichtungen
unerläßlich. Ohne klare Einsicht in die Form wird
sich das Wesen der Poesie der Seele nie ganz erschließen
und kann der Genuß an derselben, da häufig gar
viele Schönheiten in der Form liegen, nur ein unvollkommener
sein. Daher ist jedem Gebildeten, der sich
mit den Meisterwerken unserer Literatur befassen, sich
an ihnen erquicken will, zuvörderst nöthig, daß er sich
mit der Lehre von den poetischen Formen bekannt macht.
Die folgenden Blätter bieten einen Abriß derselben.

[]─ 4 ─

§. 5. Die Lehre von den poetischen Formen,
bald einseitig Metrik, bald eben so einseitig
Prosodie, am richtigsten noch Verslehre benannt,
zerfällt in folgende Abschnitte:


1) in die Lehre von der Silbenmessung,
Prosodik;


2) in die Lehre von den Versgliedern,
Metrik;


3) in die Lehre von den Versarten;


4) in die Lehre vom Reime, und


5) in die Lehre von den Strophen.


[figure]
[E5]

Erster Abschnitt.

[figure]


Prosodik oder Lehre von der Messung (Wägung)
der Silben.


§. 6. Man theilt in der deutschen Verslehre die
Silben in zwei Hauptklassen, nämlich in lange
und kurze, richtiger: schwere und leichte Silben.


Um zu erkennen, ob eine Silbe lang oder kurz
(schwer
oder leicht) ist, hat man zu berücksichtigen:


1) ihre Qualität ─ und zwar a. bei mehrsilbigen
Wörtern, ob sie eine Haupt= und Stammsilbe
oder eine Nebensilbe (Vor- oder Nachsilbe) ist,
b. bei einsilbigen Wörtern, ob sie eine mehr oder weniger
wesentliche Bedeutung hat und zu welcher Wortart
sie gehört.


Die Stammsilben sind an und für sich lang
(schwer), die Nebensilben, sofern sie nicht aus selbstständigen
Wörtern entstanden, kurz (leicht).


Anmerkung. Eine Ausnahme macht das Wort lebendig.
Hier ist die erste Silbe die Stammsilbe, die zweite und
dritte sind Nebensilben. Dennoch legt der Sprachgebrauch den
Nachdruck auf die zweite Silbe, wodurch dieselbe lang und die
Stammsilbe kurz wird. ─ Die Vorsilben ur, miß, ant, un,
vor, auf, an, nach
(häufig auch um &c.) sind lang. Die
Nachsiilben haft, schaft, keit, heit, bar, sam, sal,
thum, lein, in, niß, ung, ei, isch, icht, zig, lich,
so [] ─ 6 ─
wie alle aus noch jetzt gangbaren Adjektiven &c. gebildeten,
haben wenigstens mehr oder minder Neigung zur Länge.


Unter den einsilbigen Wörtern sind die mehr
wesentlichen
an und für sich lang, z. B. alle einsilbigen
Substantive, Adjective und Zahlwörter, ─ die
weniger wesentlichen kurz, z. B. alle einsilbigen
Artikel, viele einsilbige Fürwörter, Verhältniß=, Umstands=
und Bindewörter, wogegen andere zu diesen
Arten gehörige einsilbige Wörter lang, die meisten aber
unbestimmt sind. Auch die von Hülfszeitwörtern
abgeleiteten einsilbigen Wörtchen (ist, war, hat &c.)
sind meist als kurz, die übrigen einsilbigen Zeitwörter
dagegen als lang anzusehen.


§. 7. 2) ihre Betonung ─ ob sie betont
(hochtonig
oder tieftonig), tonlos oder mitteltonig
ist. ─ (Tonlose oder ganz unbetonte Silben
im vollen Sinne dieses Prädikats giebts natürlich
nicht, da zum Aussprechen jeder Silbe ein Ton erforderlich
ist: man versteht darunter nur die, auf welche
verhältnißmäßig am wenigsten Nachdruck gelegt
wird.) ─ Bei richtiger Aussprache einzelner und nicht
zusammengesetzter Wörter ist die Betonung (also der
Wortaccent) fast immer der Qualität der Silben
entsprechend. ─ Die betonten Silben sind lang, die
tonlosen kurz, die mitteltonigen an und für sich unbestimmt,
bald lang, bald kurz.


Beispiel: Männerfreundschaft.


Hier sind die erste und dritte Silbe betont (die
erste hochtonig, die dritte tieftonig, beide auch zugleich
Haupt- und Stammsilben), daher lang; die
zweite Silbe ist tonlos (und Nebensilbe), daher kurz, [] ─ 7 ─
die vierte endlich ist mitteltonig, deshalb an sich unbestimmt.
Jn jambischen, trochäischen, überhaupt in
allen deutschen und modernen Versarten wird letztere in
dieser Zusammensetzung als kurz betrachtet, in dem
Wort „Genossenschaft“ dagegen als lang; (in antiken
Silbenmaaßen kann sie auch in „Freundschaft“ als
lang genommen werden.) Denn man berücksichtigt:


§. 8. 3) auch die Verbindung einer Silbe
mit andern und ihre Stellung im Verse,
insofern
dadurch ihre Betonung sich ändert, ─ mit andern
Worten: den Vers=, Satz= oder Redeaccent.
Nicht bloß an und für sich mitteltonige, sondern
auch an und für sich vollbetonte Silben werden
dadurch, daß sie mit solchen Silben, welche bei richtigem,
dem Jnhalte entsprechenden Lesen des ganzen
Verses und Satzes vorzugsweise betont werden,
in unmittelbare Berührung kommen, zu wenig betonten
und daher kurzen Silben; und umgekehrt,
nicht bloß an und für sich mitteltonige, sondern
auch sehr wenig betonte Silben dadurch, daß sie
zwischen zwei entschieden kurzen Silben stehen, zu
mehr betonten und deshalb langen Silben.


Beispiele:
1)

Klein Roland, komm' herein geschwind!
Mein Trost kommt all' von Dir.


Uhland.
2)

Jm Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch: hier ist nicht Zeit
Euch staunend zu ergötzen.


Göthe.
3)

Denn es deckt die edlen Glieder
Härenes Gewand.


Schiller. [] ─ 8 ─
4)

Jn der Fluth begeisternder Gedanken.


A. W. Schlegel.


Die Silben „klein,“ „kommt,“ „voll“ sind an
und für sich lang, in dieser Verbindung aber mit
Recht kurz gebraucht; und die letzte Silbe in „Härenes,
so wie in „begeisternder,“ kann, obgleich an
sich kurz, hier ihrer Stellung wegen als lang durchgehen.



§. 9. Der Dichter darf indeß hierin nicht zu weit
gehen. Sobald bei richtigem, dem Jnhalt entsprechenden
Vortrage das geübte Gehör eine von dem Dichter
als lang gebrauchte Silbe gar nicht als betont erkennen
kann, oder umgekehrt, so ist der Vers mangelhaft.
Solche mangelhafte Verse findet man nicht selten auch
bei guten, selbst bei den besten Dichtern; so ist z. B.
schon in dem oben angeführten Beispiel von Göthe
die zweite Zeile nicht untadelhaft, weil bei richtigem
Vortrag auf die als kurz gebrauchten Silben „schließt
und „hier“ zu viel, und auf das als lang gebrauchte
ist“ zu wenig Ton fällt, als daß man diesen Vers
dem beabsichtigten (jambischen) Silbenmaaße ganz entsprechend
finden könnte. ─ Ferner:


Wüstenkönig ist der Löwe; will er sein Gebiet durchfliegen,
Wandelt er nach der Lagune, in dem hohen Schilf zu liegen.

Freiligrath.


Daß hier im zweiten Verse die Wörtchen „er
und „der“ als lang gebraucht sind, ist nicht zu rechtfertigen,
und nur die übrigen Vorzüge des Gedichts
vermögen solchen Fehler in etwa zu verdecken, denn
dem Sinne nach gelesen, fällt auf diese zwei ersten
Silben durchaus kein Nachdruck, viel eher einiger auf [] ─ 9 ─
das Wort „nach,“ ─ dann aber haben wir zwei
Daktylen
(siehe §. 18. 1), wo, dem gewählten
Versmaaße nach, drei Trochäen (siehe §. 17. 2)
stehen müßten! Ebenso ist das bekannte:


„Zu des Lebens Freuden
Schuf Gott die Natur“

unrichtig gebaut, denn dem Sinne nach fällt auf „Gott
wenigstens eben so viel Accent, wie auf „schuf,
und auf „die“ viel weniger, als auf „Gott,“ wogegen
─ dem (trochäischen) Versmaaße nach ─ „Gott
als kurz und „die“ als lang genommen worden ist!
Solche Formfehler können ein Gedicht unerträglich
machen, zumal wenn der Jnhalt keinen besondern Ersatz
bietet, und müssen deshalb möglichst vermieden
werden.


§. 10. Diejenigen Verse, in welchen jede als lang
gebrauchte Silbe schon an und für sich lang und jede
als kurz gebrauchte schon an und für sich kurz ist,
ohne daß Stellung und Zusammenhang ihr einen andern
Charakter geben, hat man wohl Quantitätsverse
genannt (richtiger wäre Qualitätsverse),
wogegen dann die andern, in denen häufig der ursprüngliche
Charakter einer Silbe (Länge oder Kürze)
durch den Vers- oder Satzaccent ins Gegentheil umgewandelt
wird, Accentverse heißen.


§. 11. Eigentlich ist aber jeder deutsche Vers
ein Accentvers, insofern nämlich immer der Accent,
der sinngemäß auf die einzelnen Silben fällt, über den
Charakter der letztern und des Verses entscheidet.


§. 12. Eine Zeitmessung im eigentlichen Sinne
des Worts wird also in der deutschen Prosodie nicht [] ─ 10 ─
angewendet; die zum Aussprechen einer Silbe nöthige
Zeitdauer (ihre Quantität) kommt nämlich bei
uns nicht in Betracht. Eine Silbe mag noch so kurz
sein und noch so schnell ausgesprochen werden: wir
nennen sie dennoch lang, sobald sie betont ist. Das
Wort „Heller“ z. B. bestände nach der wirklichen
Zeitmessung aus zwei kurzen Silben, „Hehler“ dagegen
aus einer langen (gedehnten) und einer kurzen
Silbe; unsere Verslehre nennt aber sowohl in „Heller“
als in „Hehler“ die erste Silbe lang (schwer), die
zweite kurz (leicht). Wir messen also die Silben
nicht, obgleich wir uns dieses Ausdrucks bedienen, sondern
wir wägen sie, nach dem Gewicht, dem Ton,
der darauf gelegt wird. Jm Altgriechischen und im
Lateinischen ist dies anders: da wird die Zeitdauer
(Quantität
) wirklich berücksichtigt und ist von dem
Accent unabhängig. Man nennt daher diese Sprachen
quantitirend, die deutsche dagegen accentuirend.


§. 13. Auch die Stärke (das Gewicht, der Grad)
der Betonung kommt in der Regel nur insofern in
Betracht, als dadurch bestimmt wird, welche Silben
des Verses als lang, welche als kurz anzusehen sind.
Es braucht also in gleichartigen größern Versen auch
nicht gerade der Haupt=Satzaccent immer auf dieselbe
Stelle zu fallen. Bei Liedern ist das in Rücksicht auf
den Gesangvortrag oft wünschenswerth, dagegen würde
in andern Gedichten dadurch zu viel Eintönigkeit eintreten.



[figure]
[E11]

Zweiter Abschnitt.

[figure]


Von den Versgliedern. ─ Metrik.


§. 14. Sowohl in der ungebundenen, prosaischen,
als auch in der gebundenen Rede wechseln
lange und kurze Silben mit einander ab. Dadurch
kommt Bewegung, Fluß in die Sprache. Jn der
gebundenen Rede erfolgt diese Bewegung beständig
nach einer mehr oder weniger regelmäßigen Gliederung
der Zeittheile: sie ist rhythmisch. Auch
bei der Prosa kann von Rhythmus die Rede sein, aber
nie in der Weise und in der Ausdehnung, wie in der
gebundenen Rede. So tritt der Rhythmus als ein
wesentliches Unterscheidungsmerkmal der gebundenen
Rede auf.


§. 15. Durch die rhythmische Gliederung treten
einzelne Zeittheile in stärkerem Tone heraus, als andere.
Die letztern, weniger betonten (gewöhnlich
tonlos genannten) Zeittheile bezeichnet man mit dem
Namen Senkung, Thesis; die erstern, stärker betonten
bilden die Hebung, die Arsis. Die Senkung
besteht aus einer oder aus mehreren leichten
Silben, die Hebung dagegen (wenigstens in den
eigentlich deutschen Versen) stets nur aus einer
schweren Silbe.

[]─ 12 ─

§. 16. Mehrere, durch eine Hebung zur Einheit
verbundene Zeittheilchen bilden einen Fuß,
Versfuß
oder Takt. Man theilt die Füße ein nach
der Zahl ihrer Zeittheilchen oder der Zahl der Silben,
welche dieselben erfüllen und unterscheidet in der Theorie
gewöhnlich zwei=, drei= und viertheilige oder
zwei=, drei= und viersilbige Versfüße. Wir
führen die Namen derselben hier auf, wenn wir uns
gleich mit der Theorie dieser Eintheilung aus den weiter
unten (§. 20) entwickelten Gründen nicht einverstanden
erklären können.


§. 17. Zweitheilige Versfüße.


1) Der Jambus, Schleuderer, (

Note: type="versmetrik"

) entsteht durch
die Verbindung einer leichten und einer schweren Silbe.


2) Der Trochäus, Läufer, auch Choreus oder
Tänzer genannt (

Note: type="versmetrik"

) wird gebildet durch die Verbindung
einer schweren Silbe mit einer leichten.


3) Der Spondeus, Tritt (

Note: type="versmetrik"

) enthält zwei
schwere Silben.


4) Der Pyrrhichius, Läufer (

Note: type="versmetrik"

) hat zwei
leichte Silben. (Siehe §. 20.)


§. 18. Dreitheilige Füße.


1) Der Daktylus, Fingerschlag, (

Note: type="versmetrik"

) hat
nach einer schweren zwei leichte Silben.


2) Der Anapäst, Gegenschlag, (

Note: type="versmetrik"

) läßt
auf zwei leichte Silben eine schwere folgen.


3) Der Amphibrachys, der Umkürzte (

Note: type="versmetrik"

):
eine schwere Silbe wird von zwei leichten eingeschlossen.


4) Der Amphimaker, der Umlängte, auch Kretikus
genannt (

Note: type="versmetrik"

): eine leichte Silbe zwischen
zwei schweren.

[]─ 13 ─

5) Der Bachius (

Note: type="versmetrik"

): auf zwei schwere
Silben folgt eine leichte.


6) Der Palim= oder Antibachius (

Note: type="versmetrik"

)
hat nach einer leichten zwei schwere Silben.


7) Der Molossus (

Note: type="versmetrik"

) besteht aus drei
schweren Silben.


8) Der Tribachys, der Dreimalkurze (

Note: type="versmetrik"

)
enthält drei kurze Silben.


Anmerkung. Die Benennung in Bezug auf 5 und 6
ist nicht übereinstimmend; viele nennen 5 den Antibachius und
6 den Bachius.


§. 19. Sogenannte viertheilige Füße.


1) Der Dijambus, Doppeljambus (

Note: type="versmetrik"

).


2) Der Ditrochäus, Doppeltrochäus (

Note: type="versmetrik"

).


3) Der Dispondeus, Doppelspondeus (

Note: type="versmetrik"

).


4) Der Dipyrrhichius, Doppelpyrrhichius
(

Note: type="versmetrik"

).


5) Der Choriambus, Aufsprung (

Note: type="versmetrik"

).


6) Der Antispast, Gegenzug (

Note: type="versmetrik"

).


7) Der fallende Jonikus (

Note: type="versmetrik"

).


8) Der steigende Jonikus (

Note: type="versmetrik"

).


9) Der erste Epitritt (

Note: type="versmetrik"

).


10) Der zweite Epitritt (

Note: type="versmetrik"

).


11) Der dritte Epitritt (

Note: type="versmetrik"

).


12) Der vierte Epitritt (

Note: type="versmetrik"

).


13) Der erste Päon (

Note: type="versmetrik"

).


14) Der zweite Päon (

Note: type="versmetrik"

).


15) Der dritte Päon (

Note: type="versmetrik"

).


16) Der vierte Päon (

Note: type="versmetrik"

).


§. 20. Jn der Praxis der deutschen Verskunst
hat man es im Grunde mit keinen andern Füßen zu [] ─ 14 ─
thun, als mit dem Jambus, dem Trochäus, dem
Spondeus, dem Daktylus und dem Anapäst.
Wenigstens läßt jeder Vers, in welchem die Theoretiker
andere Versfüße nachweisen, sich ebenso gut und
in der Regel noch viel leichter so zerlegen, daß keine
anderen zum Vorschein kommen, wohl aber am Schluß
des Verses mitunter eine überzählige Silbe oder ein
unvollständiger Fuß. Der Pyrrhichius, der Tribachys
und der Doppelpyrrhichius sind überdieß schon nach
der Erklärung in §. 16 keine wirklichen Versfüße, weil
sie keine Hebung haben und für sich allein nicht stehen
können. Jeder viersilbige Verstheil, der zwei Hebungen
hat, läßt sich einfach als aus zwei Versfüßen zusammengesetzt,
ansehen. Wenn man die im Deutschen
vorkommenden, verschiedenen viersilbigen Wörter als
Belege für die viertheiligen Versfüße aufführen will,
so ist das darum verkehrt, weil Wort und Versfuß
völlig zweierlei ist. (Galt doch im Griechischen sogar
die Regel, daß nie ein einzelnes Wort einen einzelnen
und vollständigen Versfuß ausmachen sollte!)


§. 21. Werden mehrere Versfüße so verbunden,
daß sie als ein rhythmisch geschlossenes Ganzes
erscheinen, so entsteht ein Vers. Die richtige Abmessung
desselben nach seinen Gliedern wird Skansion
genannt. ─ Wenn man mit den meisten Theoretikern
alle in §. 17 bis §. 19 genannten Verstheile als Füße
gelten läßt, was wir keineswegs gewillt sind, so lassen
sich die meisten Verse auf verschiedene Weise skandiren.
Erkennt man aber nur Jamben, Trochäen, Spondäen,
Daktylen und Anapäste und sodann regelmäßig= und
unregelmäßig=gemischte (siehe §. 38 ff.) Verse an, so [] ─ 15 ─
fällt dieser verwirrende Umstand mit wenigen Ausnahmen
weg. Der Ausnahmen würden noch weniger sein,
wenn der Spondeus nicht wäre. Glücklicher Weise
kommt bei uns dieser Fuß aber fast nur in Nachahmungen
antiker Silbenmaaße als wirklicher und beabsichtigter
Versfuß vor.


§. 22. Wie es in der Musik Pausen giebt,
d. i. Stellen, wo der Rhythmus fortgezählt wird, ohne
durch Töne erfüllt zu sein, so erscheinen auch im
Versrhythmus Pausen. Jnsofern diese für die
Stellen, an welchen sie sich befinden, von dem Dichter
aus Rücksicht auf den Bau und den Wohlklang der
Verse absichtlich angewendet werden, namentlich aber,
wenn sie von den Gesetzen der betreffenden Versart
vorgeschrieben sind, heißen sie Cäsuren, (Verscäsuren).
─ Schon dadurch, daß der Wortfuß nicht mit
dem Versfuß congruirt (wie es in den Versen der
Alten fast immer, in deutschen Versen doch häufig der
Fall ist) und also das Wortende innerhalb eines Versfußes
fällt, entsteht oft ein leiser, bei geeignetem Lesen dem
Ohr in etwa vernehmbar werdender Einschnitt, den man
Cäsur, Fußcäsur nennt. Weit stärker aber wird die
Cäsur, wenn sie zugleich in dem betreffenden Verse
eine logische Pause ausmacht, d. h. den Satzverband
als solchen durch Jnterpunktion trennt. (Beispiel
1, Zeile 1, und Beispiel 3, Zeile 2.) Die logische
Pause braucht jedoch nicht immer mit der Verscäsur
zusammen zu fallen, sondern kann auch selbstständig
für sich eintreten. (Beispiel 3, Zeile 1.) Die Verscäsur
ist oft zugleich Fußcäsur (Beispiel 1 und 2),
häufig aber fällt auch die Verscäsur an das Ende [] ─ 16 ─
eines Fußes (Beispiel 3). Tritt die Cäsur nach einer
schweren Silbe ein, so heißt sie männlich (Beispiel 1,
Zeile 2, und Beispiel 3, Zeile 1, 2); erfolgt sie nach
einer leichten Silbe, so nennt man sie weiblich (Beispiel
1, Zeile 1, und Beispiel 2, Zeile 1, 2).


Anmerkung. Die Cäsur bezeichnen wir durch |, die logische
Pause durch

Note: type="versmetrik"

, die Verbindung beider durch

Note: type="versmetrik"

.


Beispiele:
1)

Sag' ich, wie ich es denke
Note: type="versmetrik"
, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann | und wenig bedeuten die Worte.


Göthe.
2)

Und singend einst und jubelnd | durchs alte Erdenhaus
Zieht als der letzte Dichter | der letzte Mensch hinaus.


Anast. Grün.
3)

Und du, mein krummer Stahl,
Note: type="versmetrik"
leb' wohl!
Note: type="versmetrik"
Aus meiner dunkeln
Werkstatt ziehst du hinaus!
Note: type="versmetrik"
Jn Schlachten wirst du funkeln!


Freiligrath.


§. 23. Die logische Verbindung stellt zuweilen an
den Anfang eines Verses eine tonlose Silbe, die in
rhythmischer Hinsicht entweder zu dem vorhergehenden
Vers zu zählen, oder als Unregelmäßigkeit anzusehen
ist. Eine solche Silbe nennt man Vorschlag, Auftakt.
Meist ist der Auftakt eine verwerfliche Licenz,
ein Fehler des Dichters; nur da, wo er absichtlich angewendet
wird, um dem Verse einen bestimmten (malerischen)
Charakter zu geben, läßt er sich rechtfertigen.
Jm Grunde verändert er stets die Versart; den trochäischen
Vers macht er zu einem jambischen u. s. w.


§. 24. Die Verse sind:


I. nach der Zahl ihrer Silben: zwei=, drei=, ─
mehrsilbig;

[]─ 17 ─

II. nach der Zahl der Takte: Ein=, Zwei=,
Drei=, Vier=, Fünf=, Sechstakte &c. (Monometer, Dimeter,
Trimeter, Tetrameter, Pentameter, Hexameter &c.)


III. in Rücksicht ihrer Vollständigkeit:


a. vollständig; Beispiel 1, Zeile 1─4;


b. unvollständig ─ es fehlen eine oder zwei Silben
am Ende. Dadurch tritt am Ende des Verses
eine Schlußpause (Katalexis) ein, die eine
schärfere Sonderung desselben von dem nachfolgenden
herbeiführt. Beispiel 3, Zeile 2.


c. abgekürzt ─ es fehlt ein ganzer Fuß oder gar
mehrere derselben; Beispiel 1, Zeile 5; 2, Zeile 4.


Anmerkung. Wo in strophischen Verbindungen längere
Verse regelmäßig mit kürzern wechseln, kann natürlich von Abkürzung
nicht die Rede sein.


d. überzählig ─ es ist am Schluß des Verses eine
Silbe (oder ein Fuß) zu viel. Beispiel 2, Zeile 1.


Beispiele:


1.


1) Wir fassen ein Gesetz begierig an,


2) Das unsrer Leidenschaft zur Waffe dient.


3) Ein andres spricht zu mir, ein älteres,


4) Mich dir zu widersetzen, das Gebot,


5) Dem jeder Fremde heilig ist.


Göthe, Jphigenie.


2.


1) Ein lügenhaft Gewebe knüpf' ein Fremder


2) Dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt,


3) Zur Falle vor die Füße; zwischen uns


4) Sei Wahrheit!


Göthe, Jphigenie.


3.


Laß dein Hangen, laß dein Bangen,
Jrrend Auge, schließ dich zu!

Karl Beck.

[]─ 18 ─

IV. nach der Beschaffenheit der Füße:


1) jambische,


2) trochäische,


3) daktylische,


4) anapästische,


5) jambisch=anapästische,


6) trochäisch=daktylische,


7) trochäisch=jambische,


8) daktylisch=spondeische und sonstige mit
Spondeen gemischte,


9) unregelmäßige Verse.


Anmerkung. Eine rein spondeische Versart können
wir nicht annehmen. Es lassen sich zwar mühsamer Weise auch
größere Verbindungen von bloß an und für sich schweren Silben
bewerkstelligen; indeß erhalten diese meist durch den Accent
des Satzes entweder einen trochäischen, oder einen jambischen,
oder einen trochaisch=jambisch gemischten Charakter. Und wenn
wirklich beim Vortrage jede Silbe sich als betont herausstellt,
so sieht das Produkt mehr etwa einer mörtellosen Zusammenstellung
roher Steine, als einem rhythmischen Verse
ähnlich; z. B.


Oft kauft fremd Volk deutsch Korn auf.


[figure]
[E19]

Dritter Abschnitt.

[figure]


Von den Versarten.


I. Jambische Verse.

§. 25. Der vorherrschende Charakter der jambischen
Verse ist Lebhaftigkeit. Sie bilden den leichtesten,
natürlichsten Rhythmus der deutschen Sprache.


§. 26. Die einfüßigen und zweifüßigen
Jamben sind selten, (Beispiel 1 und 2), auch vollständige
dreifüßige
kommen für sich allein nur
wenig vor, (Beispiel 3), häufig aber in Verbindung
mit überzähligen dreifüßigen (Beispiel 4 und 5)
und vielleicht noch häufiger in Verbindung mit vierfüßigen
Jamben (Beispiel 6). Der vierfüßige Jambus
allein wird nicht weniger oft angewandt, (Beispiel 7, 8),
seltner der vierfüßige in Verbindung mit dem fünffüßigen.



Beispiele:


1)

Wie lebt,

Wie bebt,

Wie strebt

Das Herz in mir!


Göthe.


2)

Jch denke dein,

Wenn durch den Hain

Der Nachtigallen

Akkorde schallen.


Matthisson.


3)

Jns Jnnre der Natur

Dringt kein erschaff'ner Geist,
[]─ 20 ─
Glückselig! wem sie nur

Die äußre Schale weis't.


Göthe.


4)

Befiehl du deine Wege

Und was dein Herze kränkt, u. s. w.


P. Gerhard.


5)

Der Mond ist aufgegangen,

Die goldnen Sterne prangen

Am Himmel hell und klar. u. s. w.


Claudius.


6)

Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll,

Ein Fischer saß daran. u. s. w.


Göthe.


7)

Der alte Vater Martin war

Mit Ehren sechs und achtzig Jahr. u. s. w.


Mahlmann.


8)

Wie dieser Sand vor Wind und Fluth

Sich jagt in wirbelnden Gestalten,

So fährt und schweift mein irrer Muth,

Und keine Stätte kann ihn halten.


Freiligrath.


§. 27. Der fünffüßige Jambus ist durch Lessing
in das deutsche Drama eingeführt und wird
seitdem vorherrschend in demselben gebraucht. Außerdem
findet er seine Anwendung in der Stanze, im
Sonett u. s. w. (siehe §. 91 ff.). Die Cäsur erhält
er nach dem zweiten, in der Mitte oder am Ende des
dritten oder wohl auch in der Mitte des vierten
Fußes. Häufig erscheint er mit einer überzähligen Silbe
am Ende.


Beispiele:


1)

Das Wort ist todt, | der Glaube macht lebendig.


Schiller.

─ 21 ─

2)

Was härter treffe, | Kränkung oder Schimpf,

Will ich nicht untersuchen |; jene dringt

Jn's tiefe Mark | und dieser ritzt die Haut.


Göthe.


Namentlich im Drama wird der Vers oft durch
eine logische Pause unterbrochen.


§. 28. Der aus sechs Füßen bestehende jambische
Vers kommt im Deutschen häufig und in mehreren
Formen vor; nämlich:


1) als einfacher sechsfüßiger Vers. Die Cäsur
schneidet den dritten oder den vierten Takt. Z. B.


Der Thränen Gabe |, sie versöhnt den grimmsten Schmerz.


Göthe.


Ein großer Mensch spricht edel | von der Welt und sich.


Platen.


§. 29. 2) als Alexandriner, welcher aus sechs
(oft überzähligen) Jamben besteht und nach dem dritten
Fuße immer eine Cäsur hat. Nach französischen
Vorbildern in die deutsche Metrik eingeführt, fand
dieser Vers besonders bei den schlesischen Dichtern des
siebzehnten Jahrhunderts seine Pflege (daher: Jahrhundert
des Alexandriners!). Später wurde er, zumal
durch Klopstock und Lessing, ganz verdrängt und
verpönt. Erst in der neuesten Zeit ist er wieder in
Aufnahme gekommen. Freiligrath verbindet ihn mit
vier- und fünffüßigen Jamben und vermeidet so die
steife Einförmigkeit, die man ihm nicht mit Unrecht
zum Vorwurf macht.


Beispiele:


1)

Vor Jedem steht ein Bild | des, was er werden soll;

So lang er das nicht ist |, ist nicht sein Friede voll.


Rückert.

[]─ 22 ─

2)

Des Herbstes mag sich freun', | was eine Frucht getragen,

Da, was nur Blätter trug |, vor seinem Hauch muß zagen.


Rückert.


Anmerkung. Der Name „Alexandriner“ rührt nach
Einigen von einem im dreizehnten Jahrhundert in Paris erschienenen
Gedicht, das die Geschichte Alexanders des Großen
zum Gegenstand hat, oder nach Anderen von einem der Verfasser
dieses Gedichts, dem Mönch Alexander her.


§. 30. 3) als der sogenannte neuere Nibelungenvers.
Derselbe unterscheidet sich dadurch vom
Alexandriner, daß er nach der dritten betonten Silbe
noch eine überzählige tonlose hat, auf welcher unmittelbar
die Cäsur folgt. ─ (Mit demselben Rechte läßt sich
die erwähnte überzählige Silbe in Verbindung mit
dem vierten Fuß als Anapäst betrachten.) Es ist merkwürdig,
welche große Verwandlung die Eine Silbe
hervorbringt: dieser Nibelungenvers gehört zu den
wohlklingendsten und geschmeidigsten, die es giebt.


Beispiel:


Jst denn im Schwabenlande | verschollen aller Sang,

Wo einst so hell vom Staufen | die Ritterharfe klang?

Und wenn er nicht verschollen |, warum vergißt er ganz

Der tapfern Väter Thaten, | der alten Waffen Glanz?


Uhland.


Anmerkung. Der ältere oder eigentliche Nibelungenvers
zählt gewöhnlich ebenfalls sechs Hebungen
(der letzte Vers der vierzeiligen Strophe auch häufig sieben oder
acht). Die Senkungen oder tonlosen Silben wechseln jedoch
ganz unregelmäßig mit den Hebungen ab, so daß dieser Vers
keineswegs einen rein jambischen, sondern einen gemischten
Charakter hat. Die Cäsur fällt aber auch hier regelmäßig
zwischen die dritte und vierte Hebung und ist ebenfalls weiblich.
Sofern, wie häufig der Fall ist, auch der neuere Nibelungenvers
an verschiedenen Stellen Anapäste (mitunter auch wohl
Spondeen) statt Jamben enthält, stellt er sich ebenfalls in die
Klasse der gemischten Verse.

[]─ 23 ─

Beispiel:


Uns ist in alten maeren wunders viel geseit

von helden lobebaeren, von grozer kuenheit,

von fröuden und hochgeziten, von weinen und von klagen,

von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen.


(Oft noch viel unregelmäßiger.)


§. 31. Der siebenfüßige Jambus hat, wie auch
der achtfüßige, immer die Cäsur nach dem vierten Takte.


Ein Mühlstein und ein Menschenherz | wird stets herumgetrieben:

Wo beides nichts zu reiben hat |, wird beides selbst zerrieben.


Logau.


Die Dummheit ist die größte Macht, | sie führt der Heere stärkstes an;

Jch glaube, daß sie nie ein Held | bekämpfen und besiegen kann.


Kopisch.


§. 32. Noch müssen wir des hinkenden Jambus,
Choliambus
oder Skazon genannt, gedenken.
Er besteht aus fünf Jamben und einem Trochäus.
Durch diese Verbindung erhält er etwas Hinkendes
in seiner Bewegung. A. W. Schlegel beschreibt ihn
folgendermaaßen:


Der Choliambe scheint ein Vers für Kunstrichter,

Die immerfort voll Naseweisheit mitsprechen,

Und eins nur wissen sollten, daß sie nichts wissen;

Wo die Kritik hinkt, muß ja auch der Vers lahm sein.

Wer sein Gemüth labt am Gesang der Nachteulen,

Und wenn die Nachtigall beginnt, das Ohr zustopft,

Dem sollte man's mit scharfer Dissonanz abhau'n.
II. Trochäische Verse.

§. 33. Die trochäischen Verse eignen sich zufolge
ihres ruhigen Charakters im Allgemeinen mehr für
ernste Gedichte.


§. 34. Zwei= und dreifüßige Trochäen hat
unter andern Göthe häufig angewendet. Die besonders
von den Spaniern vielgebrauchten vierfüßigen [] ─ 24 ─
Trochäen eignen sich vorzüglich für Lieder und Romanzen,
nicht aber für dramatische Gedichte. (Deshalb
fanden Müllner und Grillparzer, welche dieselben
in das deutsche Drama einführen wollten, wenig Nachahmung.)



Beispiele:


1)

Hört das Schreien,

Hört das Toben!

War es unten?

Jst es oben?


Göthe.


2)

Schiltst du meine Thränen?

Schiltst mein leises Sehnen,

Weil es ringt nach dir? u. s. w.


Fouqué.


3)

Aus dem Kloster hallen Glocken,

Tausend Lichter funkeln helle,

Die den Zug der Beter locken

Nach der hohen Kirchenschwelle.


Platen.


§. 35. Fünffüßige Trochäen finden sich im
Deutschen ziemlich häufig. Von ihrer Anwendung
in den serbischen Volksliedern heißen sie serbische
Trochäen.


Beispiele:


Todte Gruppen sind wir ─ wenn wie hassen;

Götter ─ wenn wir liebend uns umfassen.


Schiller.


Was ist Weißes dort am grünen Walde?

Jst es Schnee wol oder sind es Schwäne?


Serbisch, von Göthe übersetzt.


§. 36. Die sechsfüßigen Trochäen, wie auch
die siebenfüßigen kommen seltener vor; achtfüßige
sind in neuester Zeit häufig gebraucht worden.


Beispiele:


Laß dich nicht verführen | von der Rose Düften:

Die am vollsten wuchert, | wuchert auf den Grüften.


Platen.

[]─ 25 ─
Jhr im Dienst der Liebe stehend, | kommt, daß ihr mit treuer

Kraft den Kern der Erd' uns schmelzen helft im Sonnenfeuer!


Rückert.


Florentiner! Florentiner! | was muß euern Sinn verkehren,

Daß ihr eure große Männer | Fremden überlaßt zu ehren?


A. W. Schlegel.


§. 37. Hier erwähnen wir auch die sogenannten
kretischen Verse, da sie unseres Dafürhaltens im
Wesentlichen trochäischen Charakters sind, indem in
jedem Kretikus die zweite Länge als ein unvollständiger
Trochäus betrachtet werden kann. Sie kommen selten vor.
Rückert hat sie mitunter in den Gaselen gebraucht; z. B.


Weil im Feld Frühlingsthau perlt am jungen Grase,

Sollt' ich nicht Freudenquell lassen thaun vom Glase?
III. Daktylische Verse.

§. 38. Verse mit bloß vollständigen Daktylen
kommen nur selten vor; dagegen erscheinen oft vollständige
Daktylen in Verbindung mit einem verkürzten
(am Ende), den man jedoch auch als Jambus resp.
als bloße Hebung ansehen kann. Man findet ─ namentlich
in lyrischen Gedichten ─ ein=, zwei=, drei=
und vierfüßige Verse dieser Gattung, fünf- und sechsfüßige
weniger.


Beispiele:


1)

Fröhlicher

Seliger,

Herrlicher Tag!


Göthe.


2)

Rosen, ihr blendenden

Balsam versendenden!

Flatternde, schwebende,

Heimlich belebende,

Eilet, zu blühn.


Göthe.


3)

Kommen und Scheiden,

Suchen und Meiden,

Fürchten und Sehnen,

Zweifeln und Wähnen,
[]─ 26 ─
Armuth und Fülle, Verödung und Pracht,

Wechseln auf Erden wie Dämm'rung und Nacht.


Matthisson.


4)

Preis dem Geborenen

Bringen wir dar,

Preis der erkorenen

Gläubigen Schaar!


Platen.


5)

Lüftchen! woher und wohin

Trägst du so lieblichen Duft?

Sicher, mit liebendem Sinn

Schönes, Geliebtes dich ruft!


Wessenberg.


6)

Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren!

Kinder der Klugheit, o habet die Narren

Eben zum Narren auch, wie sich's gehört!


Göthe.

IV. Anapästische Verse.

§. 39. Ganze Gedichte von rein anapästischen
Versen giebts im Deutschen bis jetzt wohl noch gar
nicht. Jn manchen Gedichten gemischten Versmaaßes
finden sich aber allerdings hier und da auch reine anapästische
Verse.


Beispiel:


Und es wallet und siedet und brauset und zischt,

Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt;

Bis zum Himmel u. s. w.


Schiller im „Taucher.“


Anmerkung. Der Ungewohnheit wegen wird Mancher
geneigt sein, in diesen und ähnlichen Versen die Anfangssilbe,
wenn sie auch an sich kurz ist, als lang zu nehmen, wodurch der
anapästische Charakter verloren ginge. Das wäre aber ─ hier
wenigstens ─ ganz gegen die Absicht des Dichters, denn das
Silbenmaaß im „Taucher“ besteht offenbar in einer regelmäßigen
Abwechslung von vierfüßigen und dreifüßigen gemischten
Versen. ─ Auf geeignete Weise gelesen, tritt der rein anapästische
Charakter vollkommen hervor. Es liegt dann viel
Schwung und hinreißende Kraft in dieser Versart, und dürfte
daher bei geeignetem Jnhalte ihre häufigere Anwendung wünschenswerth
sein, auch zu ganzen Gedichten, was freilich schwierig
sein mag. Gewöhnen würde man sich bald daran.

[]─ 27 ─
V. Jambisch-anapästische Verse.

§. 40. Gewöhnlich treten die Anapäste in Verbindung
mit Jamben auf. Entweder leitet der Jambus
den Vers ein, oder er vertritt auch noch in einem andern
Takte die Stelle eines Anapästs, oder es wechseln
in mannichfacher Folge Jamben und Anapäste ab.
Solche aus Jamben und Anapästen gemischte Verse
heißen alcäische. ─ Wenn bloß der erste Fuß jambisch,
jeder folgende anapästisch ist und der letzte eine
überzählige kurze Silbe hat (wie in Beispiel 1, Zeile 1, 2),
so wird der Vers auch wohl ein amphibrachischer
genannt, weil er sich dann auch in amphibrachische
Verstheile (

Note: type="versmetrik"

) zerlegen läßt.


Beispiele:


1)

Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;

Unsterbliche heben verlorene Kinder

Mit feurigen Armen zum Himmel empor.


Göthe.


2)

Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp,

Zu tauchen in diesen Schlund? u. s. w.


Schiller.


3)

Es reden und träumen die Menschen viel

Von bessern künftigen Tagen.


Schiller.


4)

Mein Vater, mein Vater! und siehst du nicht dort

Erlkönigs Töchter am düstern Ort? ─


Göthe.

VI. Tochäisch-daktylische Verse.

§. 41. Wie Jamben und Anapäste, finden sich
auch häufig Trochäen und Daktylen gemischt, und
zwar ebenfalls auf die mannichfaltigste Weise.


Beispiele:


1)

Als der Schenke die Flöte hielt,

Daß der Becher uns munde,
[]─ 28 ─
Hat die Flöte vor Lust gespielt,

Eh' sie ihm war am Munde.


Rückert.


2)

Himmel! seit vierzehn Tagen unablässig

Bist du so gehässig und regennässig, ─

Bald ein Schütten in Strömen, bald Geträufel; u. s. w.


Lenau.


3)

Heil dir im Siegerkranz,

Herrscher des Vaterlands!

4)

Hoffnung, du liebes freundliches Licht,

Das wie ein Stern durch die Wolken bricht. u. s. w.

§. 42. Hierher gehören auch folgende im Deutschen
angewendete antike Verse:


1) Der phaläkische Vers, vorzugsweise Hendekasyllabus,
Elfsilbler
genannt. Er besteht aus
sünf Takten; der erste derselben ist ein Trochäus, (zuweilen
ein Spondeus), der zweite ein Daktylus, die
drei letzten sind Trochäen.


Schema:

Note: type="versmetrik"

Beispiel:


Musen wandern wo aufgeschlagen werden

Philosophische Lehrsystemsgerüste.


Rückert.


2) Der pherekratische Vers: ein Daktylus steht
zwischen zwei Trochäen.


Schema:

Note: type="versmetrik"

3) Der glykonische Vers.


Schema:

Note: type="versmetrik"

Beispiel zu 2 und 3:


2)

An das Göttliche glauben


3)

Die allein, die es selber sind.


Hölderlin.

VII. Trochäisch-jambische Verse.

§. 43. Eine Verbindung von Trochäen und Jamben
läßt sich in vielen, besonders in nach antiken [] ─ 29 ─
Mustern gebildeten deutschen Versen nachweisen. Wir
erwähnen hier von denselben nur solche, die in keine
andere unserer Rubriken besser zu passen schienen:


1) Die choriambischen Verse. Jn diesen wechseln
Trochäen und Jamben gleichmäßig ab.


Beispiele:


1)

Jst ein Bemühn eitler? Gewiß

Schmerzlicher kein's, ängstlicher kein's!


Göthe.


2)

Ja, der gebot fröhlichen Kranz

Nimmer, und nie tiefes Pokals

Freudengenuß uns zu gesellen, u. s. w.


Solger.


2) Die asklepiadeischen Verse:


a. der kleinere asklepiadeische Vers.


Schema:

Note: type="versmetrik"

Schmeichelnd herrschet das Weib über den Gatten oft.


b. der größere.


Schema:

Note: type="versmetrik"

Sel'ge Stunden erlebt nimmer der Mann, welcher dem Himmel trotzt.

VIII. Daktylisch-spondeische und andere mit
Spondeen gemischte Verse.

§. 44. Der dem antiken nachgebildete deutsche
Hexameter ist ein daktylisch=spondeischer Sechstakt.
Er heißt auch heroischer Vers, da er besonders in
den antiken Heldengedichten seine Anwendung fand.
Pythischer Vers wird er genannt, weil bei dem delphischen
Orakel die Aussprüche der Pythia von den
Priestern in dieses Versmaaß gekleidet wurden.


§. 45. Reine daktylische Hexameter, in denen
dann doch der letzte Daktylus unvollständig (mit
andern Worten ein Jambus) ist, wurden und werden [] ─ 30 ─
selten, meist nur in besonderer Rücksicht auf den Jnhalt
des Verses, gebraucht. (Siehe unten Vers 9.) Dagegen
werden, den antiken Mustern entsprechend, die
Daktylen mit Spondeen gemischt und zwar so, daß die
Spondeen jeden beliebigen Takt erfüllen können. (Siehe
unten Vers 4, 5, 6, 7, 8.) Jm fünften Takte jedoch
wendet man sie nur dann an, wenn besondere (malerische)
Zwecke obwalten. (Siehe unten Vers 11.) Dasselbe
gilt von der Ausfüllung der vier ersten Takte durch
lauter Spondeen. (Siehe unten Vers 10.) Am meisten
liebt man den Spondeus im sechsten Takt.


Die Eigenthümlichkeit des Hexameters hat A. W.
Schlegel in folgendem Gedicht herrlich geschildert:


Der Hexameter.


1) Gleich wie sich dem, der die See durchschifft, auf offener
Meerhöh


2) Rings Horizont ausdehnt, und der Ausblick nirgend umschränkt
ist,


3) Daß der umwölbende Himmel die Zahl zahlloser Gestirne,


4) Bei hell athmender Luft, abspiegelt in bläulicher Tiefe:


5) So auch trägt das Gemüth der Hexameter; ruhig umfaßend


6) Nimmt er des Epos Olymp, das gewaltige Bild, in den
Schooß auf


7) Kreißender Fluth, urväterlich so den Geschlechtern der
Rhythmen,


8) Wie vom Okeanos quellend, dem weit hinströmenden Herrscher,


9) Alle Gewäßer auf Erden entrieselen oder entbrausen. ─


10) Wie oft Seefahrt kaum vorrückt, mühvolleres Rudern


11) Fortarbeitet das Schiff, dann plötzlich der Wog' Abgründe


12) Sturm aufwühlt, und den Kiel in den Wallungen schaukelnd
dahinreißt:


13) So kann ernst bald ruhn, bald flüchtiger wieder enteilen,


14) Bald, o, wie kühn in dem Schwung! der Hexameter;
immer sich selbst gleich,


15) Ob er zum Kampf des heroischen Lieds unermüdlich sich
gürtet,

─ 31 ─

16) Oder, der Weisheit voll, Lehrsprüche den Hörenden einprägt,


17) Oder geselliger Hirten Jdyllien lieblich umflüstert. ─


18) Heil dir, Pfleger Homers! Ehrwürdiger Mund der Orakel!


19) Dein will ferner gedenken ich noch, und andern Gesanges.


A. W. Schlegel.


§. 46. Die Cäsuren des Hexameters sind sehr
mannichfaltig. Als wesentliche Cäsuren, deren jeder
richtige Hexameter mindestens eine haben muß, gelten
folgende:


1) nach der ersten Länge des dritten Taktes.
Vers 4 des obigen Gedichtes;


2) nach der ersten Kürze des dritten Taktes. Vers 8;


3) nach der ersten Länge des vierten Taktes. Bei
den Alten und den besten Neuern tritt neben dieser
Cäsur noch eine andere auf, und zwar nach der ersten
Länge des zweiten Taktes. Vers 15.


Von den vielen Nebencäsuren (deren eine für die
Fälle unter 2 und 3 immer wünschenswerth ist) erwähnen
wir nur noch die bucolysche, die mit dem
Ende des vierten Taktes eintritt und ihren Namen
von der häufigen Anwendung in den bucolyschen (idyllischen)
Gedichten der Alten herschreibt. Vers 17.


§. 47. Ob die Anwendung des Trochäus im
Hexameter zulässig sei oder nicht, darüber herrschen
verschiedene Meinungen. Für den Gebrauch desselben
sprechen durch ihre Werke Göthe, Platen u. a., dagegen
A. W. Schlegel, dem sich nach seinem Vorgange
in der Elegie „Rom“ viele neuere Dichter angeschlossen
haben. Sollen Trochäen angewandt werden,
so wird immer darauf zu achten sein, daß nicht mehrere
derselben auf einander folgen, und daß die lange [] ─ 32 ─
Silbe des einzelnen Trochäus vollständig betont,
nicht bloß mitteltonig sei.


Anmerkung. Hexameter mit einem Vorschlag, wie sie
Ew. v. Kleist in seinem Gedichte „der Frühling“ angewendet
(Kleist'sche Hexameter), haben keine weitere Pflege gefunden.


§. 48. Neben dem Hexameter ─ nie allein
erscheint oft ein anderer Vers, der Pentameter. Er
unterscheidet sich vom Hexameter dadurch, daß der dritte
und der sechste Takt bei ihm nur aus je einer Silbe,
und zwar immer aus einer langen bestehen. Sonach
wäre er auch als sechstaktig zu betrachten und die Benennung
Pentameter (Fünftakt) unrichtig. Er ist gewissermaaßen
eine Verdoppelung der ersten Hälfte des
Hexameters (bis zur männlichen Cäsur im dritten Takt).
Jn der ersten Hälfte des Pentameters, besonders im
ersten Takt, kann der Daktylus durch einen Spondeus
ersetzt werden, im ersten Takt auch allenfalls durch
einen Trochäus. Jn der zweiten Hälfte des Verses dagegen
werden ─ der Regel nach ─ die Daktylen immer
beibehalten. Der Pentameter hat eine ständige
Cäsur, die stets nach dem dritten Takte an den Schluß
der ersten Vershälfte fällt.


Anmerkung. Man kann den Pentameter auch, seinem
Namen entsprechend, so skandiren, daß sich nur fünf Füße herausstellen.
Der dritte Fuß ist dann immer ein Spondeus, der
durch die Cäsur durchschnitten wird. Der vierte und fünfte Fuß
werden bei dieser Betrachtungsweise durch zwei Anapäste gebildet.


§. 49. Aus der Verbindung eines Hexameters mit
einem Pentameter entsteht das elegische Distichon
(Doppelzeile
).


„Nicht bloß zur Darstellung der sanften Traurigkeit
in der eigentlichen Elegie, dem Klagelied, sondern auch [] ─ 33 ─
„„des Gefühls des beseeligten Wunsches,““ der sanften
Freude der Liebe, der Freundschaft, ferner zu Epigrammen
und Sprüchen wird das elegische Distichon, am
liebsten als Redestrophe, wie in A. W. Schlegel's
Gedicht: „die Elegie,“ gebildet.“ (Dilschneider.)


Beispiele:


1)

Auf, ihr Distichen, frisch! Jhr muntern lebendigen Knaben!

Reich ist Garten und Feld! Blumen zum Kranze herbei!
2) Reich ist an Blumen die Flur; doch einige sind nur dem Auge,

And're dem Herzen nur schön; wähle dir, Leser, nun selbst!
3) Doch verdriesset es nicht die Ewigen, wenn wir besonders

Weihrauch köstlicher Art Einer der Göttlichen streu'n.


Göthe.


4)

Ferner die Sitten des Volks, die Rechte gesonderter Stämme,

Jeglicher Zeit Denkmal war ich zu kennen bemüht.


A. W. v. Schlegel.


§. 50. Sapphische Verse:


1) Der kleinere sapphische Vers besteht aus fünf
Füßen; die zwei ersten sind Trochäen, der dritte ist
ein Daktylus, der vierte wieder ein Trochäus und
der fünfte ein Spondeus.


Beispiel:


Donner Gottes dröhnt durch die schwarze Nacht hin.

2) Der größere sapphische Vers mag aus folgenden
zwei Beispielen kennen gelernt werden:


1) Orgelton und Christengesang stimmten das Herz zur Andacht.

Note: type="versmetrik"

2) Wenn des Lieds Wohllaut sich erhebt tönt in der Brust der Nachhall.

Note: type="versmetrik"
IX. Unregelmässige Verse.

§. 51. Bei den meisten bisher behandelten Versarten
wird für die Abwechselung und Reihenfolge der
tonlosen und betonten Silben ein genau bestimmtes [] ─ 34 ─
Maaß festgehalten. Bei andern sahen wir, daß in
dieser Beziehung dem Dichter schon ein Spielraum gelassen
war, der aber immer noch seine festen Gränzen
hatte. Es giebt jedoch auch Verse, bei denen der Verfasser
für die Art der Silbenmischung sich gar keinem
formellen Gesetze unterworfen hat. Zu welchen Gattungen
die darin vorkommenden Füße gehören, ist an
und für sich ganz gleichgültig, denn keine Gattung ist
für diese Versart vorgeschrieben, keine ausgeschlossen,
und es ist nicht einmal nöthig, daß alles sich in wirkliche
Füße auflösen lasse. Gewöhnlich werden solche
Verse nach einer gewissen Zahl betonter Silben,
ohne alle Rücksicht auf die Zahl und Reihenfolge der
tonlosen bestimmt. Man nennt sie daher auch wohl
Accentverse im engern Sinne.


§. 52. Zu dieser Klasse von Versen gehören vielleicht
die meisten altdeutschen und die denselben nachgebildeten
Verse, z. B. der eigentliche oder ältere
Nibelungenvers, den wir schon bei Gelegenheit des
neuern jambischen Nibelungenverses in §. 30 besprochen
haben; ferner manche englische oder den englischen
nachgebildete Balladenverse, und endlich wohl
die Mehrzahl der eigentlichen Volkslieder.


§. 53. Es giebt auch Verse, in denen selbst die
Hebungen nicht gezählt werden, sondern bei denen
das Maaß des Verses nur entweder von der logischen
Abtheilung des Satzes
oder von der zufälligen
Stellung des Reims abhängt. Zu dieser Gattung gehören
unter anderm auch die Makamen, eine Art gereimter
Prosa, welche besonders durch Rückert aus
Persien nach Deutschland verpflanzt wurde.

[]─ 35 ─

§. 54. Von den bessern Kunstdichtern werden die
unregelmäßigen Verse keineswegs immer aus Bequemlichkeit
gewählt; vielmehr wird von ihnen die Freiheit,
die solche Verse gestatten, häufig zu rein künstlerischen
Zwecken benutzt. Dies geschieht, indem sie die Stellung
der Silben in den Versen und namentlich die Zahl
und Vertheilung der tonlosen Silben dem betreffenden
Gedanken möglichst entsprechend zu machen suchen. Je
nachdem der Gang des Gedichts (in Bezug auf den
Jnhalt) mehr munter oder mehr ernst, mehr leidenschaftlich
oder mehr ruhig &c. wird, häufen oder vermindern
sie die Zahl der tonlosen Silben u. s. w., nehmen
dabei auch auf den rhythmischen Wohlklang die
erforderliche Rücksicht. Da kann es dann nicht fehlen,
daß unregelmäßige Verse mitunter vor den regelmäßigsten
den Vorzug verdienen.


§. 55. Gemischte Verse, bei denen die im vorigen
Paragraphen dargelegten Rücksichten nicht stattfinden,
die vielmehr Licenzen aller Art an sich tragen, pflegt
man auch Knittelverse zu nennen. Jn naiv=komischen
Gedichten sind dieselben oft von (relativ) großer
Wirkung; als Versart betrachtet, nehmen sie aber
die letzte, unbedeutendste Stelle ein.


Beispiel:


Sintemal und immassen drei Jahre

Und einige Wochen hieselbst ware

Herr Hieronimus Jobsius

Als Theologiä Studiosus. u. s. w.


Kortüm, Jobsiade.


[figure]
[E36]

Vierter Abschnitt.

[figure]


Die Lehre vom Reim.


§. 56. Neben der Betonung und dem Rhythmus
erscheint im deutschen Versbau als drittes (jedoch
nicht nothwendiges) Element der Gleichklang.
Er ist entstanden aus dem Streben, den innern Zusammenhang
sprachlich verknüpfter Vorstellungen eindringlicher
zu machen, oder den Eindruck der Hauptvorstellungen
zu verstärken und zwar durch Einwirkung
auf das Gehör. Welcher Art diese Einwirkung ist, das
läßt der Name schon ahnen: es wird derselbe Klang
dem Ohr mehrmals vorgeführt; die Bedeutung aber,
welche dieselbe für die Poesie hat, wird sich ergeben,
wenn wir die Beschaffenheit der verschiedenen Gleichklänge
werden kennen gelernt haben.


§. 57. Der Gleichklang bezieht sich


A. auf einzelne Vokale. Diese Art des Gleichklangs
heißt Assonanz, Stimmreim. Sie entsteht,
wenn in mehrern Wörtern, namentlich in den betonten
Silben, dieselben Vokale herrschen. Die Assonanz
tritt entweder in einer Reihenfolge von Wörtern oder
am Ende der Verszeilen auf. Jm erstern Falle ist sie
besonders dann von günstiger Wirkung, wenn die
assonirenden Wörter verwandte Bedeutung haben. ─ [] ─ 37 ─
Die auf das Ende der Verszeilen gelegten Assonanzen
können im Deutschen, wo die Consonanten sehr leicht
das Uebergewicht erhalten, erst dadurch recht wirksam
gemacht werden, daß man in einer Reihe von Versen
am Schlusse eines jeden oder wenigstens jedes zweiten
Verses denselben Vokal wiederkehren läßt. ─ Man
hat auch wohl assonirende Verse dieser Art mit (im
engern Sinne) reimenden Versen abwechseln lassen,
wie z. B. Freiligrath in „der Blumen Rache“
(siehe §. 74, Beispiel 1). Ebenso findet man Assonanzen
der ersten Art (innerhalb der Verse) in Verbindung
mit dem Reim angewendet (siehe unten Beispiel 1).


„Das Wichtigste bei der Assonanz ist und bleibt
immer die Uebereinstimmung der Laute mit dem jedesmal
herrschenden Gefühl, und es ist nur etwas sehr
Allgemeines und zugleich Beschränktes, wenn wir bemerken,
daß z. B. der Freude und Lust, wie auch dem
Leid und Weh das i, dem Unbestimmten und dem
Grellen, der Wehklage das e oder ä; der Bewunderung,
dem Erhabenen, dem Entschlossenen das a, dem
Staunen, der Trauer das o, der Furcht, dem Schrecken,
dem Gräßlichen das u, dem Unklaren, dem sich Erhebenden
das ö und ü, der Erschütterung, der Angst,
dem Schmerz das ei, au und eu entspricht.“ (Dilschneider.)
─ Die Assonanzen sind jedoch im Deutschen
noch nicht besonders viel benutzt worden. Sie
sagen unsrer Sprache auch nicht so zu, als den an
Vokalen reicheren, sogenannten romanischen Sprachen.


Beispiele:


1)

Dringe tief zu Berges Klüften,

Wolken folge hoch zu Lüften,
[]─ 38 ─
Muse ruft zu Bach und Thale

Tausend aber tausend male u. s. w.


Göthe.


2)

Des Todes Grimm quillt plötzlich aus der höchsten Lust,

Schnell färbt sich rosenlichte Liebe oft in Blut,

Und Leichen häuft auf Leichen zorn'ge Ehr' und Wuth,

Denn schrecklich rächt oft Ehre noch so kleine Schuld,

Und muß sie uneins zürnen gar dem eignen Thun,

Reißt unaufhaltsam wachsend alles fort der Fluch,

Macht in Verwüstung ihre Allmacht greulich kund.


F. Schlegel.


3)

Betrogen wird gar leicht, wer auf den Freund gehofft.

Wie selten ist der treuste treu bis in den Tod!

Es tödtet unaufhaltsam oft ein schnelles Wort;

Doch in der Liebe blüht für alle Schmerzen Trost.


F. Schlegel.


4)Die Lüfte.

Wie säuseln, ach so linde!

Wir in den Blüthen,

Und lindern heiße Liebe

Jn kühlen Düften.

Wenn Blumen süß erröthen,

Beschämt sich neigen

Berühren wir die schönen

Jn leichter Eile.

§. 58. Der Gleichklang kann sich ferner beziehen


Bauf einzelne Consonanten: in mehreren
nicht zu weit von einander stehenden Wörtern finden
sich nämlich dann am Anfange dieselben Mitlaute.
Der dadurch entstehende Gleichklang, Alliteration
genannt, ist der schon in der ältesten Zeit und da fast
ausschließlich in der deutschen Poesie gebrauchte. Wie
sehr er derselben angemessen ist, das bekundet seine
häufige Anwendung in der Sprache des gemeinen Lebens.
Wir führen nur einige Beispiele an: frank und
frei, Haut und Haar, hoffen und harren, Kling und [] ─ 39 ─
Klang, Schimpf und Schande, Stumpf und Stiel,
Mann und Maus, Lust und Liebe, Wind und Wetter,
Worte und Werke u. s. w. Wie sich schon aus
den angeführten Beispielen ergiebt, wird die Alliteration
besonders dann von Wirkung sein, wenn die alliterirenden
Wörter verwandte Vorstellungen bezeichnen,
(so daß der Eindruck einer Hauptvorstellung durch die
Verbindung mit mehrern Nebenvorstellungen erhöht
wird,) wenn sie innendeutsam, malerisch sind, und
endlich wenn sie nahe bei einander stehen.


Beispiele:


1)

Wo Liebe lebt und labt ist lieb das Leben.


Schlegel.


2)

Wohl schwellen die Wasser, wohl hebt sich der Wind;

Doch Winde verwehen, doch Wasser zerrinnt.


Bürger.


3)

Wonne weht von Thal und Hügel,

Weht von Flur und Wiesenplan,

Weht vom glatten Wasserspiegel!

Wonne weht mit weichem Flügel

Des Piloten Wange an.


Bürger.


4)

Roland der Ries', am

Rathhaus zu Bremen

Steht er im Standbild

Standhaft und wacht.


Roland der Ries', am

Rathhaus zu Bremen

Kämpfer einst Kaisers

Karl in der Schlacht. u. s. w.


Rückert.


§. 59. Eine Verbindung der Assonanz und Alliteration
hat in der Annomination statt. Die Annomination
besteht in der Zusammenstellung solcher Wörter,
die einem gleichen Stamme angehören. Sie
wird da angewendet, wo eine Hauptvorstellung besonders
hervorgehoben und zur lebendigsten, geistigen Anschauung
gebracht werden soll.

[]─ 40 ─

Beispiele:


1)

Das Lied, das aus der Kehle dringt,

Jst Lohn, der reichlich lohnet.


Göthe.


2)

Wenn ich still die Augen lenke

Auf die abendliche Stille,

Und nur denke, daß ich denke,

Will nicht ruhen mir der Wille,

Bis ich sie in Ruhe senke.


Tieck.


§. 60. Bezieht sich der Gleichklang


C. auf ganze Silben, (mit Ausnahme der dem
Hauptvokal vorhergehenden Laute,) d. h. sind nicht
nur die Vokale, sondern auch die darauf folgenden
Consonanten betonter Silben (und sämmtliche Laute
der in denselben Wörtern etwa vorkommenden Nachsilben)
von gleichem Klange, so bildet er den eigentlichen
Reim.
*) Daß der Reim unserer Sprache
natürlich und angemessen sei, läßt sich ebenfalls schon
aus dem häufigen Gebrauch desselben in der Sprache
des gewöhnlichen Lebens folgern. Z. B. Heute mir,
morgen dir! Heute roth, morgen todt! Schlecht und
recht! Schritt und Tritt! Gehen und stehen! Wie gewonnen,
so zerronnen! Borgen macht Sorgen! Eile
mit Weile! Mitgegangen, mitgehangen! Jn Saus und
Braus! Ehstand, Wehstand! Aufgeschoben, ist nicht
aufgehoben! Gut und Blut! u. s. w.


Anmerkung. Jn der rohen Volkssprache ist sofgar die
Neigung zum Reim o stark, daß sie oft ein Wort willkührlich
ändert, um es mit einem andern reimend zu machen, z. B.
wie der Herre, so's Gescherre (Geschirr); wie die Alten sungen,
so pfiffen die Jungen; Gunst ist nicht umsunst; u. s. w.

─ 41 ─

§. 61. Jn besonderer Rücksicht auf die Beschaffenheit
der reimenden und der denselben folgenden
Silben erhalten die Reime verschiedene Eintheilungen
und Benennungen. Jn der bei weitem größten
Zahl deutscher Gedichte hat man es in dieser Beziehung
nur mit männlichen und weiblichen Reimen zu
thun. Männlich oder stumpf heißt der Reim,
wenn er lediglich von betonten Silben gebildet wird, ─
z. B. Ohr und Rohr, Glanz und Kranz, er=
scheint und geweint,weiblich, wenn auf die
reimenden betonten Silben noch eine übereinstimmende
tonlose folgt, z. B. geboren, verloren; glänzen,
kränzen.
Treten nach der betonten Reimsilbe noch
zwei übereinstimmende tonlose Silben ein, so nennt
man den Reim gleitend, z. B. Geborener, Ver=
lorener; Bekränzende, glänzende. Der Charakter
unserer Sprache erschwert die Anwendung dieses
Reimes, besonders wenn er als Endreim auftreten
soll; wo er aber ungezwungen sich findet, ─ meist nur in
kürzern Versen ─ ist er gewöhnlich von schöner Wirkung.
Schwebend wird der Reim genannt, wenn
auf die reimende volltonige Silbe noch eine mitteltonige
folgt, z. B. kraftvoll, saftvoll; Bereitung, Zeitung.
Der schwebende Reim wurde bisher selten absichtlich
und selbstständig angewendet, gewöhnlich geht er als
weiblicher Reim mit durch, obgleich er offenbar von
demselben sich durch größere Kraft unterscheidet. Doppelt=gereimte
Spondeen,
wie „Märzschnee,“
„Herzweh,“ ─ „Jagdspeer,“ „Schlachtheer,“ stören
noch mehr, wo sie als weibliche Reime auftreten wollen;
mit Absicht als besondere Reimgattung gebraucht, [] ─ 42 ─
können sie in geeigneten Fällen sehr wirksam sein;
doch findet man sie höchst selten und für einfache
deutsche Silbenmaaße sind sie zu schwerfällig und fremdartig.
─ Der sogenannte identische Reim wird
durch die Wiederholuug desselben Worts (oder derselben
Reimsilbe) gebildet, ist aber eben deshalb kein
eigentlicher Reim und darf nicht die Stelle eines
solchen in Gedichten, die wirklich gereimt sein sollen,
vertreten. Jn einzelnen Fällen aber und zu besondern
Zwecken, namentlich um die betreffenden Worte möglichst
hervorzuheben, kann auch er seine Anwendung
finden, z. B.


Ach es entschwindet mit traurigem Flügel

Mir auf den wiegenden Wellen die Zeit!

Morgen entschwinde mit schimmerndem Flügel

Wieder wie gestern und heute die Zeit,

Bis ich auf höherem, strahlendem Flügel,

Selber entschwinde der wechselnden Zeit.


F. Stollberg.


Der reiche Reim entsteht, wenn dem identischen
Reim (also den gleichen Wörtern) ein wirklicher
Reim entweder unmittelbar folgt, oder, was häufiger
ist, unmittelbar vorangeht.


Beispiel:


Hab' ich doch Verlust in Allem, was ich je gewann, ertragen;

Aber glaubet mir, das Leben läßt sich dann und wann ertragen!

Zwar des Leidens ganze Bürde riß mich oft schon halb zu Boden,

Doch ich hab' es immer wieder, wenn ich mich besann, ertragen:

Mir geziemt der volle Becher, mir der volle Klang der Lauten,

Denn den vollen Schmerz des Lebens hab' ich als ein Mann
 ertragen! u. s. w.


Platen.


§. 62. Als besondere Reimformen sind außer [] ─ 43 ─
dem mit Recht am meisten gebrauchten (gewöhnlichen)
Endreim zu nennen:


1) der Anfangsreim ─ die ersten Worte verschiedener
Verse bilden den Reim.


Beispiel:

Zage nicht, wenn dich der grimme Tod will schrecken;

Er erliegt dem, der ihn antritt ohne Zagen.

Jage nicht das flücht'ge Reh des Weltgenusses,

Denn es wird ein Leu und wird den Jäger jagen.

Schlage nicht dich selbst in Fesseln, Herz, so wirst du

Klagen nicht, daß du in Fesseln seist geschlagen.


Rückert.


2) der Binnenreim ─ zwischen Anfang und
Ende eines und desselben Verses erscheinen Reimklänge,
z. B.


Es brauset und sauset das Tambourin,

Es prasseln und rasseln die Schellen drin.


Brentano.


3) der Mittelreim ─ die Mitte des einen reimt
mit der Mitte des andern Verses, wobei, wie beim
Anfangs- und Binnenreim, der Endreim nicht ausgeschlossen
ist.


Beispiele:


1)

Den Rittern in den Rücken fällt er mit grauser Wuth;

Heut' will der Städter baden im heißen Ritterblut.

Wie haben da die Gerber so meisterlich gegerbt!

Wie haben da die Färber so purpurroth gefärbt!


Uhland.


2)

Von Herzen brav, doch wild war der Graf.

Der Bischoff hatt' ihn gescholten,

Als wär' er ein Sklav; drum floh ihn der Schlaf,

Und seine Augen rollten.


L. Wiese.


4) der Kettenreim ─ das Ende eines Verses
reimt mit der Mitte des folgenden, z. B.

[]─ 44 ─
Wenn langsam Welle sich an Welle schließet,

Jm breiten Bette fließet still das Leben,

Wird jeder Wunsch verschweben in dem einen:

Nichts soll des Daseins reinen Fluß dir stören.

Läßt du dein Herz bethören durch die Liebe,

So werden alle Triebe losgelassen. u. s. w.


F. Schlegel.


5) der Doppel= (und mehrfache) Reim
zwei oder mehrere Wörter eines Verses (besonders dem
Schlusse zu) reimen mit den entsprechenden des andern.


Beispiele:


1)

Es ist sogar schon oft geschehn,

Euch selbst kann's unverhofft so gehn.


L. Wiese.


2)

Wir sind nun hier, voll Muth und Wuth,

Wir sind nun dir mit Gut und Blut!


Derselbe.


6) das Echo. Es entsteht, wenn an das Endwort
eines Verses das mit demselben reimende Wort sich
unmittelbar anschließt.


Beispiel:


Geh', mein Roß, auf grüner Weide.

─ Leide!

Ach, was bleibt mir nun noch offen?

─ Hoffen.

Sagt ihr mir ein Wort, ihr Winde?

─ Finde!


u. s. w.L. Tieck.


§. 63. Sieht man auf die Stellung, welche die
einzelnen Endreime einnehmen, so unterscheidet man:


1) ungetrennte Reime.


Schema: aabb, aaabbb u. s. w.


Epheu und ein zärtlich Gemüth

Heftet sich an und grünt und blüht,
[]─ 45 ─
Kann es weder Stamm noch Mauer finden,

Es muß verdorren, es muß verschwinden.


Göthe.


Wenn viele oder doch mehrere mit demselben
Reim endenden Verse in ungetrennter Folge auftreten,
so bedient man sich für dieselben auch des Ausdrucks
Schlagreim.


Beispiel:


Lob des Goldes.

Gesegnet sei der Gelbe mit dem lichten Rand;

Der wie die Sonne wandelt über Meer und Land,

Jn jeder Stadt daheim, zu Haus an jedem Strand,

Gegrüßt mit Ehrfurcht, wo sein Name wird genannt!

Er geht als wie ein edler Gast von Hand zu Hand,

Empfangen überall mit Lust, mit Leid entsandt. u. s. w.


Rückert.


2) gekreuzte. abab.

Zwischen heut und morgen

Liegt eine lange Frist;

Lerne schnell besorgen,

Da du noch munter bist.


Göthe


3) umarmende. abba.


Ein reiner Reim wird wohl begehrt,

Doch den Gedanken rein zu haben,

Die edelste von allen Gaben,

Das ist mir alle Reime werth.


Göthe.


4) verschränkte. abcabc oder abcbac.

O wundersüßes Wunder, heilig Wesen

Der ewigen Gesänge,

Die schon in jeder trunknen Brust erwachen!

Wie leicht mag der vom herben Schmerz genesen

Jn aller Freuden Menge,

Dem hold die Musen aus den Augen lachen!


Schlegel.

[]─ 46 ─

5) unterbrochene.

Weil' auf mir, du dunkles Auge,

Uebe deine ganze Macht,

Ernste, milde, träumerische,

Unergründlich süße Nacht!


Lenau.


§. 64. Jn den ältesten poetischen Produkten
unserer Sprache finden wir mehr die Alliteration, als
den eigentlichen Reim angewendet. Später aber trat
die erstere sehr zurück: der Reim (im engern Sinne)
wurde fast allein angewendet und mit seiner Ausbildung
wuchs die Bedeutung, welche man ihm beimaaß.
Er galt als ein so wesentliches Erforderniß
poetischer Produkte, daß nur das Poesie genannt
wurde, was reimte. (Und bis auf den heutigen Tag
finden sich der „Gebildeten“ viele, die da meinen, nur
im Reime liege der Unterschied zwischen Poesie und
Prosa: was sich reime, sei poetisch, was nicht reime,
gehöre der Prosa an.) Jn der letzten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts, als namentlich durch Klopstock die
antiken Versmaaße in die deutsche Metrik eingeführt,
und vorherrschend gebraucht wurden, fielen manche ─
und unter ihnen namhafte Dichter ─ ins Extrem
und erklärten den Reim nicht nur für ein entbehrliches,
sondern sogar für ein der wahren Poesie nachtheiliges
Element. Man betrachtete ihn nur als eine Spielerei,
die zum Kitzel des Ohrs diene, aber für die darzustellenden
poetischen Gedanken gar leicht zum spanischen
Stiefel, zum Prokrustesbett werde. Unsere größten
Dichter der neuern Zeit huldigen weder dem einen,
noch dem andern Extrem. Jhnen ist der Reim
eben so wenig ein unbedingt nöthiges, wesentliches [] ─ 47 ─
Erforderniß, als ein überflüssiger oder gar schädlicher
Schmuck poetischer Werke. Vielmehr halten sie ihn ─
natürlich den guten und an rechter Stelle angebrachten
Reim! ─ für ein Mittel, den Eindruck des Dargestellten,
namentlich der Hauptvorstellungen
zu verstärken, die Einheit in der Mannichfaltigkeit
der rhythmischen Bewegungen
und die Harmonie der Vorstellungen durch
gleichmäßige Berührung des innern und
äußern Sinnes bemerkbar zu machen.
Jm
Reime liegt nicht die Poesie, der Reim vermag nimmer
Gedanken, die an sich prosaisch sind, in poetische
umzuwandeln. Aber er kann den Wohllaut und
die Schönheit der Form bedeutend erhöhen,
zugleich auch durch das malerische Element,
was ihm meist eigen ist, das klarere Verständniß,
eine lebendigere Auffassung der
vom Dichter dargestellten Jdeen herbeiführen,
und ihren Eindruck bleibender, fruchtbarer
machen.
─ Wir treten gewiß auch keinem
unserer gefeierten Dichter zu nahe, wenn wir noch die
Behauptung beifügen, daß der Reim sogar häufig die
Veranlassung zu vielen poetischen Schönheiten ist und
dieselben gleichsam schaffen hilft. Natürlich! Nicht immer
fließen den Dichtern die Reime so ganz von selbst
zu, nicht selten müssen auch die begabtesten unter ihnen
lange suchen, ehe sie einen Reim finden, der an sich
tadellos ist und zugleich dem Gedankengang des Gedichts
vollkommen entspricht; dadurch aber werden
sie zugleich genöthigt, ihren Gegenstand von allen
Seiten zu betrachten, mit ähnlichen Gegenständen zu [] ─ 48 ─
vergleichen u. s. w., wobei sich denn oft ganz neue Gesichtspunkte
herausstellen, neue, herrliche Bilder sich finden.


§. 65. Soll der Reim auf die Leser und Hörer
die im vorigen Paragraphen angegebenen, in Absicht
gestellten Wirkungen haben, so muß er (mehr oder
weniger) unter dem Einfluß folgender Sätze und Gesetze
gebildet und angewendet werden:


1) Nicht alle Gedichte vertragen den
Reim; nicht allen steht er gleich gut.


Am meisten eignet sich der Reim für die lyrische
Poesie; das Lied selbst kann ihn nur schwer entbehren,
Nur bei denjenigen lyrischen Gedichten, die eine starke,
leidenschaftliche Aufregung schildern, ist seine Anwendung
nicht durchweg zu empfehlen. ─ Jn den Epopöen
antiken Charakters wird der Reim nie heimisch werden;
dagegen pflegt das romantische und neuere Epos
in Strophenformen aufzutreten, die den Reim nothwendig
fordern. Ebenso wird in denjenigen epischen
Dichtungsarten, welche den lyrischen Gattungen am
nächsten stehen, wie namentlich die Ballade und Romanze,
der Reim immer mit Vortheil angewendet. ─
Ob der Reim sich für das Drama eigne oder nicht,
darüber kann man ebenfalls keine ausschließenden Bestimmungen
aufstellen. Denn wenn sich auch behaupten
läßt, daß der Natur des Dramas, insonderheit des
Trauerspiels ─ einzelne lyrische Stellen natürlich ausgenommen!
─ der Reim nicht zusage, so kann man
wiederum auch den großen Erfolg nicht in Abrede
stellen, mit welchem er von einzelnen Dichtern, z. B.
von Göthe im Faust, in dramatischen Dichtungen
angewendet wurde.

[]─ 49 ─

§. 66. 2) Das Versmaaß gereimter Dichtungen
muß einfach, die Verschlingung der
reimenden Verse darf nicht zu verwickelt
sein.
─ Am wenigsten paßt der Reim für die, den
quantitirenden Sprachen entnommenen Odenversmaaße,
auch gereimte Hexameter und Pentameter dürften
leicht einen unangenehmen Eindruck machen. Ganz
bestimmt darf man aber auch über diesen Punkt nicht
absprechen. Der Binnenreim wenigstens wurde mitunter
auch von den Alten angewendet und auch ein
Reim-Spondeus am Ende des Hexameters scheint
uns den Charakter dieses Verses wenig zu beeinträchtigen.



Beispiele:


1)

Bertha, du lose, zerpflückst du die Rose, die Wilhelm
 dir abbrach?

Wahrlich, indem ich es seh', thut's in der Seele mir weh!


L. Wiese.


2)

Einzug hält nun der König in seines Königthums Haupt stadt.


Wo man, daß er schon jetzt zurückkäm, schwerlich ge=
 glaubt hat.


Derselbe.


Ueberhaupt läßt sich der Grundsatz, daß nur bei
kürzern Versen der Reim anzuwenden sei, nicht aufstellen,
eine große Menge von Dichtungen unserer
größten Poeten beweist, wie auch in längern Verszeilen
der gute Reim seine Wirksamkeit behauptet.
Daß aber die Wirkung stärker wird, je näher sich die
reimenden Wörter stehen, leidet keinen Zweifel, und
jedenfalls wird der Eindruck des Reims ein sehr matter
sein, wenn die reimenden Verse weit auseinander
liegen. Das tritt z. B. schon in der Canzone hervor.

[]─ 50 ─

§. 67. 3) Da die verschiedenen Reime
auch einen verschiedenen Charakter haben,
so kann nicht jeder derselben für ein bestimmtes
Gedicht passen.
Hauptsächlich kommt hierbei
der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen
Reimen in Betracht. Der männliche Reim charakterisirt
sich durch Kraft, Bestimmtheit und Abgeschlossenheit
und eignet sich deshalb für Gedichte kräftigen, ernsten
Jnhalts; im weiblichen Reime dagegen liegt etwas
Weiches, Zartes, Sanftes, darum ist er mehr für
Gedichte, deren Jnhalt ruhige, sanfte Gefühle anzuregen
bestimmt ist. Jndeß wird auch mitunter, um die
Kraft etwas zu mildern, bei sehr kräftigem Jnhalt
der weibliche Reim angewendet, so wie bei Gedichten
zarten Jnhalts zuweilen der männliche Reim, damit
das Zarte, Weiche nicht ins Weichliche, Verschwimmende
übergehe, sondern vielmehr einen festern, bestimmtern
Charakter erhalte. Eine Abwechselung männlicher
und weiblicher Reime sagt begreiflicher Weise vielen
Gedichten besonders zu.


§. 68. 4) Des Reimes wegen darf man
begründete grammatikalische Regeln nicht
verletzen, die Wortfolge nicht willkührlich
und unnatürlich verschrauben, die reimenden
Wörter nicht verstümmeln oder verunstalten,
auch die Sprache weder durch uneingebürgerte
Fremdwörter, noch durch Provinzialismen,
noch durch unedle, gemeine
Ausdrücke entwürdigen.


Viele unserer Dichter, namentlich auch Göthe, ─ 51 ─
haben in diesen Beziehungen nicht selten schwer gegen
den guten Geschmack gesündigt.


Beispiele:


1)

Art'ges Häuschen hab' ich klein.


Göthe.


2)

Es wußt' es niemand, doch beide zusamm'.


Derselbe.


3)

Es war ein Bube frech genung.


Derselbe.


4)

Wegen glücklicher Momente.


Derselbe.


(Einzelne Reimwörter Göthe's sind sogar der Art, daß
der Setzer aus Schaam für gut fand, Punkte statt Buchstaben
zu setzen.)


Jn einzelnen Fällen, namentlich in komischen Gedichten,
ist allerdings manches zu entschuldigen oder
wohl gar, als dem Jnhalte und Zwecke des Gedichts
entsprechend, zu loben. Doch sind das Ausnahmen; die
Regel aber bleibt in Kraft und es ist ihr eine genauere
Beachtung sehr zu wünschen. ─ Das Streben, die gar
zu oft dagewesenen, gewissermaaßen abgenutzten Reime
möglichst zu vermeiden und dadurch eine originelle
Frische zu erlangen, ist an sich löblich; führt es aber
zu Benutzung von Fremd- und sonstigen ungeeigneten
Wörtern &c., so fällt man offenbar aus der Scylla in
die Charybdis. Hier ist auch Freiligrath zu nennen;
doch rechtfertigen manche seiner Fremdwörter sich dadurch,
daß sie Dinge bezeichnen, die dem Lande &c.,
von dem die Rede ist, eigenthümlich sind.


§. 69. 5) Die reimenden Wörter müssen
in Rücksicht des Satzinhalts, wo möglich, die
relativ größte Bedeutung haben, also Hauptvorstellungen
bezeichnen.
─ Jn dieser Hinsicht [] ─ 52 ─
können die meisten Reimpoesien Göthe's als Muster
gelten; dagegen ist z. B. der dritte Vers folgender
Strophe von Freiligrath sehr mangelhaft gereimt.


Siehst du das Blut, o Rhein,
Das meine Füße röthet?
Vom Opfer ist's, das ein
Aethiope mir getödtet!

§. 70. 6) Die reimenden Wörter müssen
möglichst innendeutsam und malerisch sein.

„Je mehr die Reimwörter durch ihre, das Ohr treffende
Bewegung, die, den innern Sinn treffende Bewegung
der herrschenden Vorstellungen und Empfindungen
nachahmen, desto besser sind sie.“*) ─ Jndeß darf man
auch hier nicht zu viel verlangen, zumal da unsere
Sprache an vorzüglichen Wörtern dieser Art nicht allzureich
ist. Selbst abstrakte Ausdrücke und Eigennamen
wird man oft als tadellose Reime gelten lassen müssen.
Uebrigens ist dem Dichter zu empfehlen, auch in Bezug
auf den Reim die in §. 57 enthaltene Andeutung
über den innern Charakter der Vokale nicht ganz außer
Acht zu lassen, obgleich er sich daneben vor unnöthiger
und unangenehmer Eintönigkeit beim Gebrauche derselben
zu hüten hat.


§. 71. 7) Endlich ist nöthig, daß der Reim
den in formeller Hinsicht an ihn zu machenden
Anforderungen entspreche.


a. Er muß rein sein, d. h. es muß bei den
reimenden Wörtern in Rücksicht des Klanges Ueberein= ─ 53 ─
stimmung der Reimvokale und der darauf folgenden
Consonanten herrschen. Ueber die Reinheit des Reimes
hat das Ohr zu entscheiden, nicht das Auge.
Eine völlige Gleichheit der reimenden Buchstaben
läßt sich daher nicht fordern. Reime, wie Gebäu und
treu, wär und mehr, raubt und Haupt, Mord und
Wort, zeigt und reicht, sprach und Tag u. a. wird
man immer müssen als rein gelten lassen. Dagegen
sind Reime, wie: wär und hehr, Morde und Worte,
zeigen und reichen, Sprache und Tage, Lehren und
Stören, Rose und Stoße, Vergnügen und Griechen,
und ähnliche, mag sie Göthe oder ein Geringerer gebraucht
haben, als unrein zu verwerfen. ─ Mehr noch,
als eine Gleichheit der Laute, verlangt der reine Reim
Gleichmäßigkeit der Zeitdauer und der Betonung.
Gedehnte
Silben können nicht mit geschärften,
betonte
nicht mit tonlosen gereimt werden. Namen
und Flammen, Stumm und Ruhm, Schlacht und Magd,
Brüllen und Fühlen, Brummen und Blumen, ─ sehn
und huldigen, Herr und mächtiger u. a. können, bei
nur einiger Strenge, durchaus nicht als reine Reime
durchgehen.


b. Eine reimende Silbe darf nicht unmittelbar
auf eine ungereimte, betonte Silbe
folgen.
Wie häßlich ist dieserhalb folgende Reimung:


So harret er aus ohne Murren und Klag'
Der edle Herr bis zu Mittag.Collin.

Bei weiblichen Reimen müssen auch in der Regel
beide Silben jedes der reimenden Trochäen zu einem
einzigen Worte gehören, es sei denn, daß durch das
Gegentheil der Gleichklang für's Ohr nicht gestört würde.

[]─ 54 ─

Reime wie „es macht sich“ und „achtzig,“ „das
bedaur' ich“ und „schaurig“ &c. kann man sich immerhin
gefallen lassen, wogegen z. B. K. Simrock's Reim
ging er“ und „Finger,“ so wie der Freiligrath'sche
daß er“ und „Wasser“ &c., wenn man von der beabsichtigten
komischen Wirkung absieht, durchaus verwerflich
erscheint.


c. Der Reim darf nicht eine Trennung
des Reimwortes
(am Ende der Verse) veranlassen;
außer etwa auch, wenn dadurch eine komische Wirkung
beabsichtigt wird; wie in dem bekannten:


Hans Sachs war ein Schuh=
Macher und Poet dazu.

d. Die Reimwörter müssen, auch abgesehen
von ihrer Uebereinstimmung, möglichst wohl= und
vollklingend sein.
Unter den Vokalen sind offenbar
e und ä matter und weniger schön, als die übrigen,
besonders u, o, ö, ü, eu, au u. s. w. Unter den, dem
reimenden Vokal folgenden Consonanten scheinen l, m,
n und r den Vorzug zu verdienen. Wenn zwei dieser
vier Consonanten auf einen volltönenden Vokal folgen,
dürfte der Reim in dieser Hinsicht am vollkommensten
sein, z. B. Sturm und Thurm, Palmen und Psalmen
u. s. w. Jndeß sind natürlich auch anders gebaute
Reimwörter nicht zu vermeiden. Sogar solche, in
denen auf den reimenden Vokal gar kein Consonant
folgt, gehen mit durch, z. B. ja, da; ─ obgleich ihnen
eine gewisse Unvollständigkeit des Klanges nicht abzusprechen
ist.


§. 72. Wir dürfen nie vergessen, daß der Reim nur
dem Formellen der Poesie angehört, daß er den Genuß [] ─ 55 ─
an derselben wohl erhöhen, nie allein bewirken
kann. Ein, dem Jnhalte nach vorzügliches Gedicht wird
daher wegen einiger mangelhafter Reime noch keineswegs
verwerflich, sondern steht immer noch weit höher,
als ein, dem Jnhalte nach ordinäres Gedicht, welches
im Schmucke der schönsten Reime prunkt. Nichts desto
weniger aber bleibt es auch wahr, daß schlechte Reime
jedes gebildete Ohr beleidigen und daher störender sind,
als der gänzliche Mangel des Reims.


[figure]
[E56]

Fünfter Abschnitt.

[figure]


Von den Strophen.


§. 73. Durch die Verbindung mehrerer
Verse zu einem,
als rhythmische Periode abgegränzten,
harmonischen Ganzen entsteht eine Strophe.
Das Wesen der Strophen wird bedingt durch die Zahl
und Art der Verse und durch die Stellung des Reims.


§. 74. Jn Rücksicht auf die Länge der Verse
kann man mit Feldbausch die Strophen eintheilen
in gleichmäßige und ungleichmäßige. Die Verse
der erstern haben alle eine gleiche Anzahl von Versfüßen, ─
doch kann der letzte Vers auch etwas kürzer sein ─ (Beispiel
1); die ungleichmäßigen Strophen sind entweder
aus ungleichen Verspaaren zusammengesetzt (Beispiel 2),
oder es wechseln gleiche Verspaare mit ungleichen (Beispiel
3), oder die gleichen Verspaare werden von einzelnen
längern oder kürzern Versen unterbrochen (Beispiel
4), oder endlich Verse von verschiedener Länge
bilden die Strophe (Beispiel 5).


Beispiele:


1)

Auf des Lagers weichem Kissen

Ruht die Jungfrau, schlafbefangen;

Tiefgesenkt die braune Wimper,

Purpur auf den heißen Wangen.


Freiligrath.

[]─ 57 ─

2)

Was gleitet durch der Wogen Schooß

Jn dunkelstiller Nacht?

So feierernst, als würd' ein groß,

Ein Heldenwerk vollbracht?

Stägemann.


3)

Sehnsucht im Busen, wo ziehest du hin? ─

Hinauf zu den Sternen,

Jn himmlische Fernen,

Durch endlose Weiten

Laß träum'risch mich gleiten,

Ohn' Grübeln und Deuten, ─

So schwebe ich lächelnd der Ewigkeit zu,

Und finde dort oben, nur oben erst Ruh'.


Henriette Ottenheimer.


4)

O du fröhliche,

O du selige,

Gnadenbringende Weihnachtszeit!

Welt ging verloren,

Christ ist geboren:

Freue dich, freue dich, o Christenheit! ─


Falk.


5)

Gott ist mein Lied!

Er ist der Gott der Stärke!

Groß ist sein Nam', und groß sind seine Werke

Und alle Himmel sein Gebiet!

Gellert.


§. 75. Neben dem Rhythmus und dem Maaß
der Verse ist (natürlich nur da, wo er stattfindet) der
Reim von großem Einfluß auf die Strophenbildung.
Häufig wird durch den Reim die Sonderung und die
Vermehrung der Verse veranlaßt. So lassen sich in
dem Nachtlied von Göthe die vier ersten Verse, sieht
man vom Reim ab, auf zwei reduciren.

Ueber allen Gipfeln

Jst Ruh,
Jn allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch

Die Vöglein schweigen im Walde,
─ 58 ─
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

Ganz besonders aber dient der Reim als Binde= und
Abrundungsmittel.


§. 76. Die im Deutschen vorkommenden Strophen
sind entweder deutsche Reimstrophen, oder
antike Strophen, oder endlich sogenannte moderne,
d. h. ausländischen, besonders südeuropäischen Sprachen
nachgebildete Strophen.

A. Deutsche Reimstrophen.

§. 77. Die deutschen Strophenformen sind die
wichtigsten und angemessensten für den deutschen Dichter.
Und doch können wir hier nur noch wenig von
ihnen sagen, denn sie zerfallen mit wenigen Ausnahmen
nicht in genau bestimmte feststehende Arten, sondern
ihre Mannichfaltigkeit geht fast ins Unendliche.
Der denkende Dichter wählt für jeden Stoff eine Strophenform,
die ihm für denselben die geeignetste scheint,
─ einerlei, ob sie schon in andern Gedichten sich findet
oder noch nicht, ─ natürlich aber mit der nöthigen
Rücksicht auf den Wohllaut und auf die Gesetze der
Silbenwägung und des Reims. Auch muß er die Strophenform,
die er einmal wählt, in der Regel für das
ganze Gedicht beibehalten.


Nach der Zahl ihrer Verse lassen sich die deutschen
Strophen in zwei= bis etwa dreizehnzeilige eintheilen.


§. 78. 1) Die zweizeilige Strophe kommt im
Alt- und Neu-Deutschen sehr häufig vor, doch wird sie
nicht immer als Strophe abgetheilt, oft tritt sie als
bloßes Reimpaar auf. Jhr gewöhnlichstes Silbenmaaß
ist das vierfüßige jambische oder jambisch=anapästische.

[]─ 59 ─

§. 79. 2) Die dreizeilige Strophe findet sich
seltener, aber in den verschiedensten Versarten; in der
Regel reimen alle drei Verse mit einander, oft auch
nur zwei, wo dann entweder der mittlere oder der letzte
reimlos ist. ─ Ueber die nach romantischen Vorbildern
in die deutsche Poesie aufgenommenen, hierher gehörenden
Strophenbildungen, Terzine und Ritornell, siehe
§§. 95, 96!


§. 80. 3) Die vierzeilige Strophe erscheint
mit einem oder mit zwei Reimen nach folgenden Formen:
+ a + a, aabb, abab, abba. Sie findet sich außerordentlich
häufig, und in vielen Silbenmaaßen, besonders
in lyrischen Gedichten; so wie in Balladen und
Romanzen. Eine vierzeilige Reimstrophe mit gepaarten
männlichen Reimen ist auch die Nibelungenstrophe.
Ueber das Sonett siehe §. 97.


§. 81. 4) Die fünfzeilige Strophe tritt in verschiedenen
Formen, meist mit zwei Reimen, zuweilen
mit dem Refrain (Wiederholungssatz) auf.


Anmerkung. Der Refrain ist ein Vers, der in jeder
Strophe eines Gedichts wiederkehrt, meist ungereimt ist und dem Jnhalt
nach oft nur mit dem Ganzen, seltener auch mit den einzelnen
Strophen, in strengem Zusammenhange steht. Er dient in der Regel
dazu, die Pointe des Gedichts, den Hauptgedanken hervorzuheben,
und pflegt beim Gesangvortrag den Chor abzugeben.


§. 82. 5) Jn der sechszeiligen Strophe sind
die Reimstellungen noch mannichfaltiger; die gebräuchlichsten
sind: ababab, ababcc, aabccb. Eine besondere
Art sechszeiliger Strophen ist die Sestine. (Siehe §. 101.)


§. 83. 6) Die siebenzeiligen Strophen haben
ebenfalls mancherlei Formen; nicht selten ist der Refrain
angewendet.

[]─ 60 ─

§. 84. 7) Die achtzeilige Strophe wird oft
angewendet, am häufigsten erscheint sie mit folgenden
Reimstellungen: abababab, ababcdcd, ababccdd,
abbcaddc, aaabcccb, aabbcdcd
u. s. w. Zu den
achtzeiligen Strophen gehört auch die Stanze. (Siehe
§. 91 ff.)


§. 85. 8) Neunzeilige Strophen finden sich
seltener. Die Reimformen sind mannichfacher Art.


§. 86. 9) Die zehnzeilige Strophe (zu welcher
auch die spanische Dezime gehört, siehe §. 105)
wird schon öfter angewendet, dagegen sind


10) elfzeilige,


11) zwölfzeilige, und endlich


12) dreizehnzeilige Strophen


seltene Erscheinungen, in denen Silbenmaaß und Reimstellung
jedoch in gar vielerlei Weise stattfinden können.

B. Antike Strophen.

§. 87. Trotz der Bemühungen einzelner, bedeutender
Dichter (wie Klopstock, Voß, Platen), die
antike Strophenbildung einzuführen, hat dieselbe
doch im Ganzen wenig Pflege gefunden, zumal in
neuester Zeit. Gewichtige Stimmen haben sich erhoben
(Göthe, Schiller, Schlegel, Tieck, Uhland)
und den Strophenbau der alten Sprachen als unserer
Sprache nicht angemessen erklärt.


Unter den angewendeten Formen sind folgende hervorzuheben:



§. 88. 1) Die asklepiadeische Strophe. Sie
besteht in der Regel aus zwei asklepiadeischen Versen,
auf welche dann ein pherekratischer und ein glykonischer
folgen. (§. 49.)

─ 61 ─
Ach! der Menge gefällt, was auf dem Marktplatz taugt,
Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen:
An das Göttliche glauben
Die allein, die es selber sind.Hölderlin.

§. 89. 2) Die alcäische Strophe mit zwei alcäischen
Versen, einem überzähligen jambischen und einem
logaödischen (daktylisch=trochäischen) Dimeter.


Den reinen Quell der Wahrheit verließen oft

Die Menschen, gruben mühsam sich Löcher aus,

Wo nicht dem Lechzenden die Labung

Quillet, wenn schwer ihm die Arme sinken.


F. Stollberg.


§. 90. 3) Die sapphische Strophe. Sie enthält
drei sapphische Verse und einen adonischen.


Jung und harmlos ist die Natur, der Mensch nur

Altert, Schuld aufhäufend umher und Elend;

Drum verhieß ihm auch die gerechte Vorsicht

Tod und Erlösung.


Platen.

C. Ausländische (moderne) Strophen und
solche sogenannte Dichtungsarten, die nach
ihrer äussern Form bestimmt werden.

§. 91. Die Stanze. Unter den modernen, dem
Auslande entlehnten Strophen nimmt die Stanze
(Ottave rime, Octave) als die lieblichste und schmuckvollste
den ersten Rang ein. Sie besteht aus acht gleichlangen,
meist fünffüßig jambischen Versen mit zweifachem
oder dreifachem Reim. Jede regelmäßige Stanze
muß dem Jnhalt und der Form nach ein abgerundetes
Ganze bilden, d. h. der in einer Strophe ausgesprochene
Gedanke muß in derselben zum Abschluß kommen.


§. 92. Es giebt mehrere Arten von Stanzen,
nämlich:

[]─ 62 ─

I. Die dem Jtalienischen entnommenen,
regelmäßigen.
Diesen liegt der vollständige oder
überzählige fünffüßige Jambus zu Grunde; sie unterscheiden
sich durch die Art und Zahl ihrer Reime.


a. Stanzen mit zwei gekreuzten Reimen. Die
aus acht überzählig=fünffüßigen Jamben bestehende,
also nur weibliche Reime enthaltende Stanze, Siciliano
genannt, kommt im Deutschen selten oder
gar nicht vor. Jn männlichen und weiblichen Reimen
wechselnde musterhafte Octaven hat uns
Rückert in seiner Rose Siciliano geboten.
Der Wechsel hat nach folgendem Schema statt:
1) ab, ab, ab, ab, 2) ab, ab, ab, ab u. s. w.


b. Stanzen mit drei Reimen. abababcc. Die
drei Reime sind entweder durchaus weiblich oder
es wechseln männliche und weibliche ab (der männliche
Reim fällt dann gewöhnlich auf den zweiten,
vierten und sechsten Vers). Die Octaven der letztern
Art verdienen im Deutschen den Vorzug, da
der ausschließliche Gebrauch weiblicher Reime leicht
eine, der Natur unsrer Sprache widerstrebende
Mattigkeit mit sich führt.


§. 93. II. Unregelmäßige Stanzen.


a. Die deutschen Dichter haben sich mancherlei Abweichungen
von den unter 1) angeführten Formen
erlaubt. Sie haben sich weder streng an die Zahl
der Versfüße, noch an die Zahl und Art der Reime
gebunden, sondern fünffüßige Jamben mit vierfüßigen
wechseln, ferner bald bloß gekreuzte, bald
ungetrennte, bald drei, bald vier Reime eintreten
lassen. Ja sogar die Versart hat man vertauscht [] ─ 63 ─
und statt der Jamben in Gedichten elegischen Jnhalts
fünffüßige Trochäen gebraucht.


b. Hierbei müssen wir auch der sogenannten Spenser'schen
Stanze, einer vom englischen Dichter
Spenser entweder erfundenen, oder von ihm
ausgebildeten und in seiner „Feenkönigin“ angewendeten
Strophenform gedenken. Sie besteht aus
acht fünffüßigen Jamben und einem Alexandriner,
und hat drei Reime nach dem Schema: ababbcbcc,
es reimen sich also Vers 1 und 3; 2, 4, 5 und 7;
6, 8 und 9. Sie ist auch von deutschen Dichtern,
namentlich in Uebersetzungen, und zum Theil unter
mancherlei Abweichung, gebraucht worden.


§. 94. Das Madrigal. Das Madrigal (wahrscheinlich
so viel wie Schäferlied) ist ein Gedicht, das
eigentlich nicht unter sechs und nicht über elf Verse und
höchstens drei Reime haben soll. Man hat sich aber
selten genau nach der Regel gehalten, und nennt jedes
kleine, in ähnlicher Form erscheinende Gedicht tändelnder
Tendenz ein Madrigal.


§. 95. Die Terzine. Diese, schon von den
Troubadour's gebrauchte Strophenform besteht aus drei
fünffüßigen Jamben, die fortlaufend gekreuzte Reime
bilden, weshalb zum Abschluß der letztern am Ende
des Gedichts noch eine Verszeile beigefügt ist, die mit
dem zweiten Verse der letzten Strophe reimt. ─ Das
Schema ist also folgendes: aba, bcb, cdc, ded, efe,
fgf ... xyx, yZy, Z
. Die Terzine eignet sich hauptsächlich
für ernste Gedichte lyrischer oder epischer Gattung.


§. 96. Das Ritornell. Das Ritornell besteht
aus dreizeiligen Strophen (gewöhnlich fünffüßige Jam= [] ─ 64 ─
ben). Vers 1 und 3 reimen, Vers 2 bleibt reimlos.
Häufig ist der erste Vers ein Hemistich und enthält,
dem italienischen Vorbilde gemäß, nur den Namen einer
Blume.


§. 97. Das Sonett. Das Sonett (Klinggedicht)
besteht aus vierzehn fünffüßigen Jamben, von
denen die acht ersten vierzeilige, die sechs letzten dreizeilige
Strophen bilden. Die vierzeiligen Strophen enthalten
nur zwei, und zwar umarmende Reime. Jn den
dreizeiligen Strophen treten entweder zwei Reime in
Terzinenform auf, oder es finden sich deren drei, die
dann in mannichfacher Verschränkung, am häufigsten
in folgenden Formen erscheinen: abcabc, abccba,
abcacb, abbacc, abcbca
.


§. 98. Das Sonett ist zunächst durch die schlesische
Dichterschule in Deutschland angebaut worden.
Der bei den Dichtern dieser Schule so beliebte Alexandriner
mußte auch für das Sonett herhalten. ─ Später
wurde es vernachlässigt, bis Bürger (der jedoch in
fünffüßigen Trochäen schrieb) und die Romantiker es
wieder in Aufnahme brachten. Man hat das Sonett
für die verschiedensten Stoffe benutzt. Doch darf ein
gutes Sonett nur einen Hauptgedanken enthalten, der
in der letzten Strophe seine völlige poetische Entwickelung
finden muß.


§. 99. Noch müssen wir des Sonettenkranzes
gedenken. Der Sonettenkranz ist eine Reihe von fünfzehn
Sonetten und nach folgenden Gesetzen gebildet:
1) jedes einzelne Sonett entspricht (in seiner Form)
den angeführten allgemeinen Regeln; 2) die Schlußzeile
des einen ist die Anfangszeile des folgenden Sonetts; [] ─ 65 ─
3) die Schlußzeile des vierzehnten Sonetts wird gebildet
durch die Anfangszeile des ersten; 4) die Anfangszeilen
der vierzehn ersten Sonette bilden das fünfzehnte,
das sogenannte Meistersonett; 5) das Ganze muß einen
geistigen Zusammenhang haben, also von einem
Hauptgedanken durchzogen sein.


§. 100. Die Canzone. Diese dem Provençalischen
entstammende, meist für elegische Gegenstände
gebrauchte Form ist im Deutschen selten (von Zedlitz
in den „Todtenkränzen“), meist nur bei Uebersetzungen
italienischer Poesien, angewendet worden.
Versmaaß der Canzone ist der elfsilbige Jambus, mit
dem der siebensilbige zuweilen abwechselt. Die Strophen
sind in Rücksicht der Zeilenzahl keinem Zwange unterworfen,
(gewöhnlich finden sich dreizehn, sechszehn oder
elf Verse,) doch müssen sie gleichmäßig gebildet sein.
Jede regelmäßige Strophe zerfällt in drei Abtheilungen.
Die beiden ersten Abtheilungen, Füße genannt, enthalten
eine vom Dichter abhängige Reimverschlingung
─ doch muß dieselbe durch das ganze Gedicht streng
durchgeführt sein! ─ und bilden am Ende eine logische
Pause. Die dritte Abtheilung, die coda oder der
Schweif, schließt sich mit ungetrenntem Reim an die
zweite an. Den Schluß des ganzen Gedichts bildet
eine kürzere Strophe, die in Rücksicht der Verszahl
gewöhnlich mit der dritten Abtheilung der vorhergehenden
Strophe übereinstimmt. Jn dieser Schlußstrophe
redet der Dichter in der Regel die Canzone selbst an,
nimmt Abschied u. s. w.


§. 101. Die Sestine. Die Sestine ist unstreitig
die künstlichste der, dem Süden entlehnten Strophen= [] ─ 66 ─
formen. Sie besteht aus neununddreißig elfsilbigen
Jamben, welche sechs sechszeilige Strophen und eine
dreizeilige bilden. Die reimlosen, aber bedeutsamen
Endwörter
der ersten Strophe müssen als solche in
allen Strophen, jedoch immer in anderer Ordnung
wiederkehren. Jn der Regel ist die Reihenfolge der
Endwörter bei jeder neuen, folgenden Strophe, in Bezug
auf die vorhergehende, diese: 6, 1, 5, 2, 4, 3; so
daß in der dreizeiligen Schlußstrophe dieselbe Ordnung
stattfindet, in welcher die erste Strophe erscheint, nur
mit dem Unterschied, daß die eine Hälfte der Endwörter
in die Mitte, die andere an das Ende der Verse
fällt. Die Dichter haben sich nicht immer streng an
die angeführten Gesetze gebunden, sondern sich mancherlei
Abweichungen gestattet. Soll aber die Sestine
nicht ganz ihren Charakter verlieren, so darf wenigstens
die Regel nicht umgangen werden, wonach das Endwort
jeder Schlußzeile mit dem Endwort der nächsten
Anfangszeile übereinstimmen muß.


§. 102. Das Cancion ist eine, dem Spanischen
entlehnte lyrische Form. Es besteht in der Regel aus
zwölf (zuweilen aus mehr), in zwei oder drei Strophen
vertheilten trochäischen Versen, die entweder lauter
weibliche oder abwechselnd weibliche und männliche
Reime enthalten. Die Reime der ersten Strophe müssen
sich am Schluß wiederholen. Jn Bezug auf den
Jnhalt ist noch zu bemerken, daß die erste Strophe den
Hauptgedanken enthält, der in der (oder den) folgenden
weiter ausgeführt wird.

[]─ 67 ─

Beispiel:


I.

Wenn ich unverstanden bliebe,

Ohne Gegenstand mein Streben,

Keine Liebe mir gegeben,

Würd' ich dennoch innig lieben,

Um so inniger nur leben.


II.

Was mein Sehnen lieblich wähnte,

Was ich liebesehnend meine,

Jst so heiter, lind' und reine,

Daß kein Sinn sich weiter sehnte,

Der gesehn dieß einzig Eine!

Wenn ich fern von Freuden bliebe,

Ohne Gegenstand mein Streben,

Keine Liebe mir gegeben,

Würd' ich dennoch innig lieben,

Und in heitern Freuden schweben.


F. Schlegel.


§. 103. Das Triolett. Das Triolett, wahrscheinlich
französischen Ursprungs, besteht in der Regel
aus acht bis zwölf jambischen oder trochäischen Versen
mit zweifachem Reim. Die beiden ersten Verse, welche
einen abgeschlossenen Hauptgedanken enthalten, machen
zugleich den Schluß des Gedichts aus, während der
erste Vers sich auch noch in der Mitte wiederholt. Von
dieser dreimaligen Wiederkehr des ersten Verses hat die
Form ihren Namen. Das Ganze gehört den poetischen
Spielereien an und eignet sich deshalb vorzüglich nur für
tändelnde, scherzhafte Gedichte. Die wenigen Bearbeiter,
die das Triolett im Deutschen gefunden hat, haben
nicht immer streng die darüber geltenden Regeln befolgt.


Beispiel:


Umsonst.

Wer einmal sich nicht freuen mag,

Dem fruchten nicht Ermunterungen.

Es flieht der Freude Huldigungen,

Wer einmal sich nicht freuen mag;
[]─ 68 ─
Und wird ihm auch den ganzen Tag

„Freut euch des Lebens!“ vorgesungen!

Wer einmal sich nicht freuen mag,

Dem fruchten nicht Ermunterungen.

Raßmann.


§. 104. Das Rondeau. Das Rondeau oder
Ringelgedicht, ebenfalls französischen Ursprungs, soll
eigentlich aus dreizehn, in zwei Strophen vertheilten,
theils zehn=, theils elfsilbigen Jamben bestehen, und
acht männliche und fünf weibliche Reime enthalten.
Die Anfangsworte des ersten Verses müssen als Refrain
am Schluß der ersten, so wie am Schluß der
zweiten Strophe wiederkehren. ─ Die wenigen Rondeau's,
welche wir im Deutschen besitzen, enthalten
mancherlei Abweichungen von den aufgestellten Regeln.


Beispiel:


Es ist vollbracht! Mein Gönner Albericht

Verlangt durchaus von mir ein Rundgedicht.

Wie mach' ich das? wie soll ich das erringen?

Acht Vers' auf icht und wieder fünf auf ingen?

Das ist fürwahr ein peinlich Halsgericht.

Doch sieh, schon fünf! Wohlan verzagter Wicht!

Erheitre nur dein düstres Angesicht,

So wird dir auch der achte Vers gelingen.

Es ist vollbracht!
Fünf Verse noch erheischt des Künstlers Pflicht,

Wenn es mir nur nicht ganz an Hirn gebricht,

So kann ich wohl das Werk zu Stande bringen.

Lass' ich nur frisch den zwölften Vers erklingen,

So fehlt gewiß mir auch der letzte nicht.

Es ist vollbracht!


Schmitthenner nach Voiture.


§. 105. Die Dezime. Die Dezime ist eine, der
lyrischen Poesie Spaniens und Portugals angehörende
Strophenform. Sie besteht aus zehn vierfüßigen Trochäen,
die gewöhnlich zwei oder drei und zwar meistens [] ─ 69 ─
weibliche Reime bilden. Die Verschlingung der Reime
ist dem Belieben des Dichters überlassen; nur muß sie
in allen Strophen übereinstimmend sein. Nach dem
vierten Verse tritt eine logische Pause ein, welche die
Strophe in zwei Theile trennt. Die Trennung wird
jedoch dadurch gemildert, daß der folgende Vers sich
mit ungetrenntem Reim anschließt. ─ Zuweilen tritt
die logische Pause erst nach dem fünften Verse ein.


§. 106. Die Dezime findet ihre Anwendung bei
den sogenannten Glossen. Die Glosse ist ein Gedicht,
das aus zwei Haupttheilen, dem Thema und den
Variationen besteht. Der im Thema ─ einer, aus
einem andern Gedicht entlehnten vierzeiligen Strophe ─
gegebene Hauptgedanke wird in vier Dezimen weiter
durchgeführt (varirt) und zwar so, daß der letzte Vers
jeder Dezime die wörtliche Wiederholung eines Verses
aus dem Thema ist.


§. 107. Ferner wird die Dezime zu der Tenzone
(d. i. Streitgedicht), einer mit der Glosse
verwandten, ebenfalls spanischen Form gebraucht. Die
Tenzone besteht aus drei Theilen. Der erste Theil, das
Thema, ─ meist eine Strophe von vier vierfüßigen
Trochäen ─ enthält eine Frage, die eine doppelte Beantwortung
zuläßt. Die doppelte Antwort liefern die
beiden letzten Theile. Es vereinigen sich nämlich zwei
Dichter, das Thema nach entgegengesetzten, sich bekämpfenden
Ansichten zu beantworten und zwar in folgender
Form: Jede Antwort ist in so viel Dezimen
gekleidet, als das Thema Zeilen zählt. Jede Dezime
schließt mit einem Reimwort des Thema's und zwar
treten diese Reimworte bei der ersten Antwort in der []─ 70 ─
nämlichen Reihenfolge auf, in welcher sie im Thema
erschienen; bei der zweiten Antwort (dem dritten Theile)
hingegen kommen sie in umgekehrter Ordnung vor, so
daß das Ganze mit dem ersten Reimworte schließt. Jm
Uebrigen bleiben die, den Bau der Dezime betreffenden,
oben angegebenen Gesetze in Kraft.


Beispiel:


I. Thema.

Sänger, sprecht mir einen Spruch!

Sagt mir, was ist minder Noth:

Der Geliebten Treuebruch,

Oder der Geliebten Tod?


II.
1)

Die vom Schwur sich los gezählet,

Jn der reichsten Schönheit Schmuck,

Jst sie doch ein Höllenspuck,

Dessen Anblick schreckt und quälet.

Reines Weib, das nie gefehlet,

Lächelt noch im Leichentuch,

Denn sie schied mit dem Versuch,

Sel'gen Liebestrost zu sagen:

Drum ist minder Tod zu klagen,

Als gebrochner Treuverspruch.
2) Wenn Verrath, was Gott verhüte!

Einen edlen Sänger trifft,

Wandelt sich sein Lied in Gift,

Stirbt ihm aller Dichtung Blüthe.

Wenn die Braut von reiner Güte,

Hingerafft durch frühen Tod,

Jhm entschwebt in's Morgenroth:

All sein Blick ist dann nach oben,

Und in heil'gem Sang enthoben

Fühlt er sich der ird'schen Noth.
3) Jene, die der Tod entnommen,

Diese, die im Unbestand

Weltlichen Gewühls verschwand,

Keine wird dir wiederkommen.

Wann der große Tag erglommen,

─ 71 ─

Wo von Gottes Richterspruch

Heil ergeht und ew'ger Fluch,

Dann ist Jene neugeboren,

Diese bleibt auch dann verloren;

Mehr als Tod ist Treuebruch.
4) Der du Kampf mir angesonnen,

Wie du sonst mich überfliegst,

Hoff' nicht, daß du heute siegst!

Wahrheit hat voraus gewonnen.

Ob dem Sang, den du begonnen,

Wird dir selbst die Wange roth,

Und dein Herz, vor banger Noth

Jn mein Lied herüberflüchtend,

Ruft des Truges dich bezüchtend:

Falschheit kränket mehr, denn Tod!


Uhland.


III.
1)

Gegner, doppelt überlegen,

Ausgerüstet mit zwiefalter

Waff' als Dichter und Sachwalter;

Wenn ich dir mich stell' entgegen,

Nenn' ich's um so mehr verwegen,

Als, wie du mir selbst gedroht,

Dir als Anwalt dar sich bot

Gute Sach', und mir die schlechte;

Daß mir bangt, wie ich verfechte

Falschheit gegen Treu und Tod.
2) Dennoch sprech' ich excipirend:

Wenn ein edles Herz es gibt,

Das uneigennützig liebt,

Jm Geliebten sich verlierend;

Dieses sich mit Demuth zierend,

Trägt Entsagung ohne Fluch,

Wenn die Braut, statt Leichentuch,

Fremder Hochzeitschleier schmücket,

Und es fühlt sich selbst beglücket,

Wenn sie's ist durch Treuebruch.
3) Ferner: Wenn's ein Herz kann geben,

Von so sanfter Blumnatur,

Das aus liebem Antlitz nur
[]─ 72 ─
Wie aus Sonnen saugt sein Leben;

Wenn die Sonnen ihm entschweben

Jn die lange Nacht, den Tod,

Leuchtet ihm kein Morgenroth;

Doch so lang die Augen funkeln,

Mag auch Untreu sie verdunkeln,

Leben kann es doch zur Noth.
4) Endlich, wer mit solchen Flammen

Liebt, wie ich zwar selber nicht,

Daß er denkt, was heut' zerbricht,

Wächst auf Morgen neu zusammen,

Der verschmerzt des Treubruchs Schrammen

Leicht aus Hoffnung zum Versuch,

Ob sich heilen läßt der Bruch;

Aber mit gebrochnen Herzen

Läßt sich ganz und gar nicht scherzen;

Drum: Eh'r falsch als todt! mein Spruch.


Rückert.


§. 108. Eine, besonders zu kleinen Gelegenheitsgedichten
häufig gebrauchte Form ist das Akrostichon.
Das Eigenthümliche desselben besteht darin, daß die
Anfangsbuchstaben der Verse unter sich ein Wort oder
mehrere Worte bilden, zu welchem der Jnhalt des Ganzen
in einiger Beziehung steht.


Beispiel:


Der Morgen.

Morgen wird es in der Natur,

Alles athmet erfrischt und beglückt;

Thau hat jede Blume der Flur,

Hat den Wald und das Feld beglückt.
In dem Dunkel, wie schien voll Grauen

Lang mir die Nacht, ohne Himmel und Licht!

Doch du kamst ─ o nun laß mich schauen

Ewig dein liebliches Angesicht!

§. 109. Das Gasel ist eine, erst in neuester Zeit
nach orientalischen (persischen) Vorbildern durch Rückert [] ─ 73 ─
und Platen in die deutsche Poesie eingeführte Form.
Es besteht aus zweizeiligen Strophen, von denen die
erste ungetrennte Reime bildet. Jn den folgenden Strophen
bleibt der erste Vers immer reimlos, der zweite
dagegen führt den Reim der ersten Strophe weiter durch.
Dieser Reim ist entweder einfach oder er ist aus mehreren
Wörtern zusammengesetzt. (Zuweilen ist auch der
Anfangsreim angewendet.) Ein bestimmtes Versmaaß
ist nicht vorgeschrieben, doch enthalten in der Regel
sämmtliche Verse eine gleiche Zahl von Silben. An die
orientalische Regel, wonach das Gasel nicht weniger als
sieben und nicht mehr als siebenzehn Strophen enthalten
soll, so wie an die Forderung, daß in den letzten
Versen in passender Verknüpfung der Name des Dichters
vorkomme, haben sich die wenigen deutschen Dichter,
die Gaselen geliefert, nicht immer gebunden.


§. 110. Die persische Vierzeile ist eine Strophenform,
in welcher die beiden ersten Verse mit dem
vierten reimen, während der dritte Vers reimlos bleibt.
An ein bestimmtes Versmaaß braucht sich der Dichter
nicht zu binden, aber die Zahl der Silben muß in den
vier Versen dieselbe sein.


Beispiele:


Vom Himmel kam geflogen eine Taube,

Und bracht' ein Kleeblatt mit dreifachem Laube.

Sie ließ es fallen; glücklich, wer es findet!

Drei Blättlein sind es: Hoffnung, Lieb' und Glaube.


Rückert.


Das Gasel.

Jm Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her,

Doch irrst Du, Freund, sobald Du sagst, sie schwanke hin
 und her.

[] ─ 74 ─

Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund,

Jhr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her!


Platen.

§. 111. Als Zusatz zu der Lehre von den poetischen
Formen sei hier noch bemerkt, daß man, auch abgesehn
von Silbenwägung, Reim, Vers- und Strophenbildung,
bei der Wahl und Stellung der in Gedichten zu brauchenden
Wörter möglichst nach Wohllaut zu trachten
hat, ohne jedoch der Richtigkeit, Genauigkeit und Natürlichkeit
des Ausdrucks dadurch Eintrag zu thun.
Erschöpfende Regeln in dieser Hinsicht aufzustellen,
dürfte weder möglich, noch nöthig sein. Man richte
nur die gehörige Aufmerksamkeit auf diesen Punkt, (d. h.
auf Vokale und Consonanten, Verbindung und Aussprache
aller Wörter;) in den meisten Fällen wird dann
das eigene Gefühl richtig entscheiden. Es sei indeß hier
noch erwähnt, daß die in §. 71 d. in Bezug auf den Reim
gemachte Andeutung auch auf die nicht gereimten Wörter
ausgedehnt werden kann, ferner, daß a) eine zu große
Anhäufung von minder schönen Consonanten, wie s,
z, t, p, ß, tz, sp u. s. w., b) der zu häufige Gebrauch
des Vokals e, besonders auch des unbetonten am
Schluß der Wörter, c) ebenso und noch mehr die gewaltsame
Fortwerfung dieses e an Stellen, wo der
Geist der Sprache die Apostrophirung nicht gestattet,
und d) eine zu lange Reihe von bloß einsilbigen Wörtern,
zumal solcher, deren Qualität und Betonung
zweifelhaft oder unbestimmt ist, ─ dem Wohllaut relativ
schadet. ─ Sodann haben wir schließlich noch des sogenannten
Hiatus zu gedenken. Der Hiatus (die
Klaffung, Gähnung) entsteht, wenn ein Wort mit einem [] ─ 75 ─
Vokal endet und das unmittelbar darauf folgende mit
einem Vokal (oder gar mit demselben Vokal) anfängt,
(z. B. eine erbärmliche Erfahrung). Auch dies
verstößt immer etwas (mehr oder weniger) gegen den
Wohllaut. Die Anforderung, den Hiatus für alle Fälle
zu vermeiden, wäre jedoch nur lächerlich, denn es würden
dadurch Wortverstümmelungen und Satzverdrehungen
nöthig, die vielmal schlimmer wären als der
schlimmste Hiatus, und manche Gedanken ließen sich
ohne die weitläufigsten Umschreibungen gar nicht ausdrücken;
man könnte z. B. nirgend ein weibliches
Hauptwort im Nominativ mit (bestimmtem oder unbestimmtem)
Artikel (und mit oder ohne Adjectiv) anbringen.
Und doch liest und hört man am Ende über
Ausdrücke, wie „die Erscheinung,“ „eine prächtige Jnsel,“
„die herrlichste Eigenschaft“ u. s. w. in der Regel
leicht hinweg, ohne auch nur im mindesten den Hiatus
zu empfinden. Es ist also unseres Erachtens mit dem
Hiatus bei weitem nicht so gefährlich, wie Manche
darzuthun sich bemüht haben. Wo man ihn aber füglich
und ohne anderweitige Uebelstände vermeiden kann,
da vermeide man ihn!


[figure]
[E76][E77]

Zweiter Theil.

[figure]


Die
Dichtkunst nach ihren Gattungen.

[figure]
[E78][E79]

Einleitung.

[figure]

§. 112. Das Wesen der Poesie besteht, wie wir
bereits oben §. 1. sahen, in der durch die Sprache vermittelten
Darstellung des Schönen. Die Darstellung
des absolut Schönen ist entweder an etwas rein
Jnneres
oder an die Außenwelt geknüpft. Danach
unterscheidet man subjektive und objektive Poesie.
Jn jener bringt der Dichter das Schöne zur Anschauung,
indem er seine eigenen Gefühle und Empfindungen
schildert, in dieser, indem er Ereignisse aus dem
Leben Anderer, ─ Erscheinungen der Außenwelt vorführt.


§. 113. Die objektive Poesie zerfällt in die
epische und in die dramatische. Die epische
Poesie
läßt den Dichter bei der Schilderung von Gegenständen
der Außenwelt ganz objektiv und die Ereignisse
als vergangen, als Begebenheit erscheinen;
in der dramatischen tritt die Person des Dichters
zwar ebenfalls ganz zurück, aber die Personen des Gedichts
werden handelnd, die Ereignisse somit als
gegenwärtig aufgeführt.


§. 114. Lyrische, epische und dramatische
Gedichte bilden die drei Hauptgattungen der Poesie.
Jede derselben zerfällt in mehrere Arten, die unter sich [] ─ 80 ─
mehr oder weniger verwandt sind. Wenn in einem
Gedichte das lyrische oder das epische oder endlich das dramatische
Element ausschließlich oder doch überwiegend
vorherrscht, so wird es sich unbedingt einer
der drei Hauptgattungen unterordnen lassen. Nicht bei
allen Gedichten ist dies jedoch der Fall. Oft findet
in einem und demselben poetischen Produkt eine Verschmelzung
von zwei oder gar von allen drei Elementen
statt. Nicht nur enthalten dramatische Dichtungen
einzelne lyrische oder epische Stellen, sondern häufig
gestaltet sich auch das Epische lyrisch oder dramatisch,
und das Lyrische wird epischen Charakters. Dieser
Umstand erschwert oft sehr die Classifikation einzelner
Gedichte. Wir werden in solchen Fällen den Hauptcharakter
oder die Tendenz des Ganzen entscheiden
lassen.


§. 115. Tritt in poetischen Erzeugnissen die Belehrung
als bestimmter oder als Hauptzweck heraus,
so nennt man dieselben didaktisch. Die didaktischen
Poesieen können nicht als eine besondere Hauptgattung
aufgeführt, die einzelnen Produkte derselben
müssen vielmehr immer derjenigen der genannten drei
Hauptgattungen untergeordnet werden, mit der sie die
meiste Verwandtschaft haben. Läßt der Dichter statt der
Gefühle und Empfindungen ─ oder neben denselben ─
Gedanken und Betrachtungen vorwalten, so wird
das Gedicht ein lyrisch=didaktisches; stellt er über
Ereignisse, oder vielmehr beim Erzählen derselben, über
Gegenstände des äußern Lebens, der Natur und
der Kunst &c., belehrende Reflexionen an, so wird es
ein episch=diktaktisches sein, legt er seine Lehren ─ 81 ─
handelnd auftretenden Personen in den Mund, so wird
es dramatisch=didaktischen Charakter haben.


§. 116. Es ist viel darüber gestritten worden, ob
die Gedichte didaktischer Tendenz überhaupt in das
Gebiet der Poesie gehören oder nicht. Wir unsern
Theils können eine unbedingte Ausscheidung derselben
nicht billigen. Allerdings soll die Poesie nach unsrer
eigenen Erklärung zunächst keinen andern Zweck
haben, als den, Genuß zu bereiten; allerdings scheint
es sonach bedenklich zu sein, noch andere Zwecke neben
jenen Hauptzweck zu stellen; ─ aber betrachten wir
die große Zahl guter didaktischer Gedichte, so finden
wir, daß man recht wohl Belehrung erzielen kann,
ohne dem Hauptzweck der Poesie etwas zu vergeben.
Freilich solchen Produkten, in welchen der nüchterne
Verstand die Phantasie, überhaupt das Didaktische
die Poesie erdrückt, die nur trockene Lehre
(diese allenfalls in guter poetischer Form) bieten, aber
alles poetischen Gehalts ermangeln, werden auch
wir nicht das Wort reden.


[figure]
[E82]

Erster Abschnitt.

[figure]


Lyrische Poesie.


§. 117. Lyrisch nannten die Griechen jedes Gedicht,
das mit Begleitung der Lyra vorgetragen wurde.
Wir legen den Namen allen denjenigen poetischen Produkten
bei, deren Hauptcharakter Veranschaulichung
des Schönen durch Schilderung bestimmter,
subjektiver Empfindungen des
Dichters ist.
─ Es giebt aber auch viele lyrische
Gedichte, in welchen der Dichter nicht seine eigenen
Gefühle schildert, sondern eine andere, entweder wirkliche
oder fingirte Person, in deren Geist und Lage
er sich hineindenkt, Gefühle aussprechen läßt. Hier hat
also auch die Lyrik einen objektiven, wenigstens keinen
eigentlich subjektiven Charakter. ─ Da es in Bezug
auf die zu schildernden Empfindungen immer eines
Anknüpfungspunktes bedarf, so werden die lyrischen
Gedichte nicht bloß die Gefühle schildern,
sondern zugleich diejenigen Erscheinungen und Ereignisse
erwähnen oder vorführen, die dieselben veranlassen.
Je mehr Berücksichtigung jenen Erscheinungen
und Ereignissen in dem Gedichte zu Theil
geworden ist, je mehr die Gefühlsschilderung selbst zu= [] ─ 83 ─
rücktritt, desto mehr nähert sich das Gedicht den epischen
Gattungen.


§. 118. Für die zur lyrischen Poesie zu rechnenden
Dichtungsarten läßt sich ein durchgreifender
Eintheilungsgrund
nicht aufstellen. Theils bestimmen
die Art der dargestellten Gefühle, theils der
Grad ihrer Lebendigkeit, theils die Form, theils
andere Rücksichten die Unterscheidung und Benennung.
Wir führen sie deshalb ohne weitere Classifikation
hier auf:


1) Das Lied; 2) die Ode; 3) die Hymne;
4) die Rhapsodie; 5) der Dithyrambus; 6) die
Cantate; 7) die Elegie; 8) die Heroide; 9) das
Gnomon; 10) das Epigramm; 11) die Satyre;
12) die poetische Epistel; 13) das Lehrgedicht
(im engern Sinne).

I. Das Lied.

§. 119. Das Lied drückt in einer einfachen,
aber möglichst vollendeten und für den Gesang
geeigneten Form eine einzelne, bestimmte Empfindung
aus. Einfachheit in jeder Hinsicht ist das
wesentliche Erforderniß aller Gedichte, die den Namen
Lied beanspruchen. Gewöhnliche Lebensverhältnisse und
Ereignisse, überhaupt Gegenstände, die dem Gemüthe
nahe liegen, werden die Anknüpfungspunkte der zu schildernden
Empfindung bilden. Und diese Empfindung,
wenn auch nach verschiedenen Beziehungen hin
ausgesprochen, wird (in Rücksicht dieser Beziehungen)
doch eine harmonische, ihr Erguß ein natürlicher,
ruhiger, sanfter
sein.

[]─ 84 ─

§. 120. Wie die Empfindung selbst, so muß auch
der Ausdruck derselben sich durch Einfachheit charakterisiren.
Das Gefühl, nicht die Jdee hat im Liede
die Herrschaft; deshalb werden Gehalt und Gang der
Gedanken, so wie die gebrauchten Bilder der gewöhnlichen
Sphäre des Menschenlebens gemäß sein. Daß
diese Forderung nur bei einer durchaus ungekünstelten,
einfachen, aber nichts desto weniger vollendeten
Form
ihre befriedigende Lösung finden kann, ist an
sich klar, wir beschränken uns deshalb in dieser Hinsicht
auf folgende Bemerkungen: Der Umstand, wonach
das Lied zugleich (oder vorzugsweise) für den Gesang
mit bestimmt ist, macht nicht nur die strophische Abtheilung
der Verse nothwendig, sondern auch die vollständige,
metrische Uebereinstimmung der
correspondirenden Verse
mindestens wünschenswerth.
Nur Abweichungen sehr unbedeutender Art sind
in einzelnen Fällen hier zulässig.


§. 121. Wie der äußere Bau der Verse, so
nimmt auch der innere Charakter derselben des Dichters
volle Aufmerksamkeit in Anspruch, mit andern
Worten, das Versmaaß muß möglichst dem
Jnhalt des Liedes gemäß gewählt werden.

Bestimmte Vorschriften und ausschließende Bestimmungen
lassen sich hierüber zwar nicht aufstellen; doch
möchte im Allgemeinen Folgendes maaßgebend sein:
Sanften, weichen Gefühlen, namentlich aber Empfindungen
der Trauer entsprechen am meisten der
dreifüßige und der fünffüßige Trochäus, während
der vierfüßige Trochäus sich mehr für kräftige,
ernste
und für Gefühle der Sehnsucht eignet. [] ─ 85 ─
Entschlossenheit, Muth, Freude sprechen sich in
vierfüßigen, naive, tändelnde Gefühle in zwei=
und dreifüßigen Jamben, Heiterkeit, gesellige
Fröhlichkeit
in längern jambischen oder in
jambisch=anapästischen Versen aus. Auch trochäisch=daktylische
Verse werden oft mit gutem
Erfolg für den Ausdruck gesteigerter Freude gebraucht.


§. 122. Endlich fordert auch der Reim seine sorgfältige
Beachtung. Wie wir schon oben (§. 65) bemerkt
haben, kann das Lied denselben nur schwer entbehren.
Wir finden ihn ─ mit sehr wenigen Ausnahmen ─
in allen deutschen Liedern. Und nicht mit Unrecht.
Der Reim verleiht dadurch, daß er gleichsam schon
eine Composition des Liedes bildet, demselben einen
wundersamen Reiz; er vermag vorzugsweise die vollendete
Harmonie der geschilderten Gefühle zu charakterisiren.
Denn gerade im Liede lassen sich alle die, oben angedeuteten
(möglichen) Schönheiten des Reimes am besten
und vollständigsten entwickeln, alle die Wirkungen,
die man durch denselben bezwecken kann, am leichtesten
erreichen. Darum wird der Dichter immer auf die
entsprechendsten, schönsten Reime vorzugsweise
beim Liede bedacht sein müssen. Reimkünsteleien
passen aber zu dem Charakter des Liedes eben so wenig,
als künstliche und zusammengesetzte Versmaaße.
Nur in naiv=komischen Gedichten dieser Art ist so etwas
zuweilen mit guter Wirkung zu brauchen.


§. 123. Die Lieder zerfallen nach ihrem Jnhalt
zunächst in zwei Hauptklassen, in religiöse oder
geistliche und in sogenannte weltliche Lieder.


§. 124. Das religiöse Lied schildert immer [] ─ 86 ─
Gefühle, wie sie aus dem Bewußtsein unseres Verhältnisses
zu Gott entspringen. Da dies Verhältniß nach
den verschiedensten, rein menschlichen oder dogmatischreligiösen
Lebensbeziehungen hin aufgefaßt werden kann,
so lassen sich wieder verschiedene Arten religiöser Lieder
unterscheiden, z. B. Bußlieder, Danklieder, Bittlieder
u. a. Wird das religiöse Lied bei dem kirchlichen
Gottesdienst angewendet, so heißt es Kirchenlied.


§. 125. Weltlich nennt man ein Lied, wenn in
ihm die Beziehung auf Gott nicht heraustritt,
sondern gewöhnliche Lebensverhältnisse oder
Gegenstände der sichtbaren Welt die Basis der
geschilderten Gefühle bilden. Die meisten weltlichen
Lieder haben die geschlechtliche Liebe zum Gegenstand;
andere beziehen sich auf die geselligen Verhältnisse der
Menschen; andere auf Zustände oder Ereignisse, oder
auf bedeutende Personen des Vaterlandes; noch andere
endlich basiren auf Gegenstände oder Erscheinungen der
Natur. Danach kann man die weltlichen Lieder eintheilen
in Liebeslieder, Gesellschaftslieder,
Vaterlandslieder
und Naturlieder. Einer dieser
vier Arten werden sich die meisten Lieder unbedingt
zuweisen lassen; nur bei einigen wenigen wird dies
nicht der Fall sein.


§. 126. Die Lieder, deren Gegenstand die Liebe
ist, werden auch erotische (von Eros, dem Gott der
Liebe) genannt. So unermeßlich groß die Menge der
erotischen Lieder, so ansehnlich selbst die Zahl der ausgezeichneten
unter denselben ist, so wird doch auch
ferner die Liebe immer Hauptgegenstand des Liedes
bleiben. Wie sie, als die Poesie des Lebens, dieses [] ─ 87 ─
verschönert und verherrlicht, so wird sie auch fort und
fort dem Dichter ein unversiegbarer Quell der schönsten,
herrlichsten Ergüsse sein.


§. 127. Diejenigen Lieder, deren Gegenstand
die geselligen (doch nicht die staatsbürgerlichen!)
Beziehungen der Menschen unter einander sind,
fassen wir unter dem Namen Gesellschaftslieder
zusammen, da uns dieser der entsprechendste scheint.
Je nach ihrer besondern Tendenz erhalten die Gesellschaftslieder
verschiedene Namen, z. B. Lieder der Freundschaft,
Trinklieder, Wanderlieder
u. s w.


Anmerkung. Hierbei erwähnen wir auch die anakreontischen
Lieder. Man gab im vorigen Jahrhundert denjenigen
Gedichten diesen Namen, die nach den Vorbildern des
griechischen Dichters Anakreon (zur Zeit des Cyrus) frohen
Lebensgenuß in naiver, leichter und gefälliger Weise aussprechen.
Gleim so wenig, als die andern sogenannten Anakreontisten
haben aber ihr Vorbild erreicht. Heut zu Tage braucht man
den Namen nicht mehr, wiewohl die neueste Zeit reich genug
an solchen Liedern ist, die denselben mit vollem Recht verdienen.



§. 128. Unter dem Namen Vaterlandslieder
fassen wir alle diejenigen Lieder zusammen, in denen
Ereignisse oder Zustände oder (Beziehungen auf)
bedeutende Personen des Vaterlandes die
Basis der geschilderten Gefühle bilden. Sonach gehören
in diese Rubrik die Kriegs= und Freiheitsgesänge
(Vaterlandslieder im engern Sinne), die sogenannten
politischen Lieder und diejenigen Gelegenheitsgedichte,
welche bei festlichen Veranlassungen fürstlichen
Personen überreicht werden oder als Ausdruck
der Gefühle für dieselben dienen sollen. Die bei weitem
größte Zahl dieser Lieder hat zugleich den Zweck, [] ─ 88 ─
die Vaterlandsliebe, die Theilnahme an vaterländischen
Jnteressen zu wecken oder zu steigern. Es ist
jedoch nicht genug, daß diese Tendenz heraustrete, ja
auch nicht genug, daß das Gedicht Begeisterung
athme, vielmehr ist vor allem nöthig, daß ihm der
poetische Gehalt nicht mangele. Dieser allein bestimmt
seinen wahren Werth. Das haben gar manche
unserer Vaterlandsdichter viel zu wenig bedacht. Wir
wollen schweigen von dem seichten Gehalt, von der oft
in jeder Hinsicht bejammernswerthen Armseligkeit, welche
die bei weitem größte Zahl derjenigen Lieder zeigt,
die bei feierlichen Veranlassungen den Fürsten überreicht,
die bei Vaterlandsfesten in die Zeitungen gerückt
oder an der Tafel gesungen werden ─ sie sind für einzelne
Tage und einzelne Zwecke bestimmt und gemacht
und haben für die Literatur keine oder doch nur
sehr geringe Bedeutung. Aber tief beklagen müssen wir es,
wenn auch in den Kriegs= und Freiheitsliedern,
und in den „politisch“ zubenannten Gedichten die
Poesie von der Tendenz in den Hintergrund geschoben,
oder gar erdrückt ist, wie es leider! bei
gar vielen der Fall ist.


Ja leider! hat man der Poesie gar häufig nur das
schöne Gewand gestohlen, um die Nüchternheit seiner
patriotischen Gefühle dadurch zu verdecken! leider schlägt
mancher Vaterlandsdichter, indem er die Ketten zu
lockern, die Fesseln zu lösen sucht, in welche man das
Vaterland in dieser oder jener Hinsicht geschlagen, die
freie Göttin Poesie, die Herrin, nicht Sklavin sein
soll, selbst in Ketten, damit die, an sich prosaische,
Tendenz allein das Regiment führe. So soll es, so [] ─ 89 ─
darf es nicht sein! Der Ausdruck patriotischer Gefühle
muß ein durch und durch poetischer, die besondere
Tendenz des Liedes muß von der Poesie getragen,
gehoben, verklärt sein.


§. 129. Es ist in neuester Zeit viel hin= und
hergestritten worden, ob die Politik in den Kreis der
Poesie gehöre oder nicht? Wir finden es inconsequent
und lächerlich, wenn man die Antwort unbedingt verneinend
ausfallen läßt. Kriegsliedern hat man,
unsers Wissens, die poetische Zulässigkeit noch nicht abgesprochen.
Sind aber Kriegslieder im Grunde etwas
anderes, als politische Lieder? Oder soll unsere Vaterlandsliebe
sich nur auf das Departement des Auswärtigen
und das des königlichen Hauses erstrecken? Soll
das, was alle Gemüther eines ganzen Landes bewegt
(oder doch alle bewegen sollte!) nicht passender
Stoff poetischen Ergusses sein? Wir beklagen es mit
allen Besonnenen, wenn im politischen Liede eine gehässige
Bitterkeit, persönliche Gereiztheit sich kund giebt;
uns ekelt forçirter Patriotismus an, trage er nun die
blutige Farbe der Empörung oder die graue des Servilismus;
wir sind nicht gemeint, (wie einer unserer
neuesten politischen Dichter,) daß allen denjenigen Dichtern
Gesinnungslosigkeit beizumessen sei, die in unserer
politischen Zeit von etwas anderem singen, als von
Politik; ─ aber wir freuen uns, wenn das Jnteresse
des Tages ächte poetische Ergüsse veranlaßt, wir freuen
uns, wenn wir nicht bloß von Waldvögelein und Mondenschein,
von Liebespein und Liebeslust singen, sondern
auch den Ton männlicher Gesinnung anstimmen hören,
der das Herz kräftigt und die Entschiedenheit fördert.

[]─ 90 ─

§. 130. Die Naturlieder sprechen entweder die
Gefühle aus, welche Gegenstände oder Erscheinungen
der Natur im Gemüthe hervorrufen,
oder sie schildern diese Gegenstände und Erscheinungen
selbst, oder sie lassen das Gemüth betrachtend
bei denselben verweilen, oder sie sind endlich allegorischen
Charakters.


§. 131. Hat ein weltliches Lied eine weite Verbreitung
im Volke gefunden, wird es von demselben
gern und viel gesungen, so nennt man es Volkslied.
Viele der Volkslieder (man kann sagen die Volkslieder
im engern Sinne überhaupt) sind aus der Mitte des
Volkes hervorgegangen und gehören also der Naturpoesie
an (siehe §. 1, Anmerkung). Produkte der
Kunstpoesie werden nur dann zu Volksliedern werden,
wenn sie der Bildungsstufe des Volks entsprechen,
also im Volkstone gehalten sind und wenn sie des
Volkes Jnteressen auf eine ihm zusagende Weise berühren.



§. 132. Das Lied, das wohl überhaupt bei allen
Völkern bis in die früheste Zeit ihrer Bildung hinaufreicht,
ist auch in Deutschland schon frühe angebaut
worden. Es liegt außer dem Kreise unserer Darstellung,
eine Geschichte des deutschen Liedes zu geben; wir
führen hier nur die Namen der ausgezeichnetsten
unserer Liederdichter an.*) Jm religiösen Liede zeich= ─ 91 ─
neten sich aus: Luther, Nicol. Hermann, Ringwald,
Joh. Herrmann, Rist,
Paul Gerhardt,
J. Angelus (Scheffler), Joach. Neander, Arnold,
Neumark, Schmolke, Gellert, Klopstock, Uz,
Cramer, Lavater, Zinzendorf, Herder,
Novalis
(Hardenberg), Albertini, Falk, Alb. Knapp,
Spitta, Garve.


Unter den Dichtern weltlicher Lieder nehmen
Walther v. d. Vogelweide, M. Opitz, P. Flemming,
S. Dach, Günther, Hagedorn, Gleim, Jacobi,
Herder, Bürger, Fr. Stollberg, Voß, Claudius,

Göthe, Schiller, Schubart, Matthisson,
Salis, Hölty,
A. W. Schlegel, F. Schlegel,
Tieck, Fouqué, Arnim, Hebel, Schenkendorf,
Körner, Arndt,
Uhland, Rückert, Schwab, W.
Müller, J. Kerner, Mayer, Eichendorff, Chamisso,
Platen,
Heine, Hoffmann, A. Grün,
Lenau, Freiligrath, Beck, Seidl, Herwegh,

E. Geibel, Wolfg. Müller &c. eine vorzügliche
Stelle ein.

II. Die Ode.

§. 133. Der ursprünglichen Bedeutung des Wortes
gemäß nannte man im Griechischen jedes für den
Gesang oder musikalische Begleitung sich eignende, also
jedes reinlyrische Gedicht eine Ode. Bei uns hat
das Wort eine engere Bedeutung. Wir nennen nämlich
diejenigen Gedichte Oden, welche mit hoher Begeisterung
und in künstlerischer, schöner Form
Empfindungen schildern,
die die Betrachtung erhabener
Gegenstände,
mit welchen sich die höhern ─ 92 ─
Jnteressen der Menschheit verknüpfen, erzeugt.
Da also das Höhere und Höchste Gegenstand der
Ode ist, so nimmt in ihr die Phantasie des Dichters
den kühnsten Flug, spricht aus ihr eine auf die
höchste Potenz gesteigerte Begeisterung, ist in ihr
der erhabendste Schwung der Gedanken herrschend.
Natürlich muß die Sprache dem Fluge der
Phantasie folgen, der Begeisterung entsprechen und dem
Gedankenschwunge gemäß sein. Sie wird sich namentlich
durch Bilderreichthum und durch das Gewählte,
ja oft Gesuchte des Ausdrucks sehr von
der Sprache des gewöhnlichen Lebens und auch von
der des Liedes unterscheiden. Was den Rhythmus
angeht, so hat man sich nach Klopstock's Vorgange
vorzugsweise der antiken Versmaaße, zumal der bekanntern
Strophenformen derselben (§. 87 ff.) bedient.
Diese Formen sind so herrschend geworden, daß
man nicht selten sie als charakteristisches Merkmal angesehen
und jedes lyrische Gedicht mit dem Namen
Ode bedacht hat, das in solcher Form geschrieben ist.
Es wäre jedoch lächerlich, wenn man nur diese Formen
als der Ode angemessen erklären wollte. Auch hier
entscheidet weder irgend eine Autorität, noch das Herkommen,
sondern die Sache, der Jnhalt, und zu
diesem passen oft die reindeutschen Verse besser,
als Nachbildungen antiker.


§. 134. Wir können uns nicht versagen, hier die
geistreiche Charakteristik folgen zu lassen, die der Heros
der deutschen Literaturgeschichte, Gervinus, von der
Ode entwirft: „Die Ode ist der Culminationspunkt
aller lyrischen Poesie; die Spitze der musikalischen Poesie, ─ 93 ─
die sich selbst die Musik ersetzen und des Gesanges entbehren
will. Sie sucht sich selbstständig hinzupflanzen,
sie kann gelesen und braucht nicht so nothwendig, als
das Lied gesungen zu werden. Allein eben diese Selbstständigkeit
wird doch nur in der Ode erhalten, indem
sie die mangelnde Musik in sich selbst herzustellen sucht.
─ Aus dem ganz musikalischen Charakter der Ode
rührt es her, daß sie uns so leicht verführt, bloß dem
Klange nach zu lesen, über den Tonfall uns zu freuen
und unvermuthet Sinn und Gedanken zu vergessen.
Sie verlangt laut gelesen zu werden; das Ohr, das
musikalische Organ, will an ihr seinen vorzüglichsten
Genuß; die Ode ist daher dort am trägsten und unleidlichsten,
wo sie philosophische Abhandlung oder voll
von kopfanstrengenden Allegorien und Bildern ist. ─
Nicht allein will das Ohr sein Recht im Empfangen
der Ode haben, sondern es will auch bei Gesetz und
Regel der Ode mitsprechen. Die Ode widersetzt sich und
widerstrebt allem logischen verständigen Gange und jeder
Regel, die eine bestimmte Ordnung da vorschreiben
will, wo der regellose Affekt allein Gesetzgeber sein soll,
der vor jedem Gegenstand anders operirt; wo sich eine
Empfindung, ein Gefühl aus sich selbst und nach seinem
eignen Gesetz zu einem oft sehr gesetzlos erscheinenden
poetischem Tonstück formen will.“ Gervinus.
Man meine aber nicht, daß in der Ode Planlosigkeit
herrschen, daß sie sich des logischen Zusammenhangs
ohne Weiteres entschlagen und als rein
von der Willkühr erzeugt produciren dürfe. Wie
hoch den Dichter seine Phantasie führen mag, nimmer
darf sie ihn von seinem Gegenstande ab= und in ─ 94 ─
das Gebiet des Unklaren und Nebelhaften führen.
Und selbst die größte Ungebundenheit der Darstellung
muß bei genauerer Betrachtung immer
eine strenglogische Gedankenkette nachweisen
lassen.


§. 135. Erst seit Haller fand die eigentliche Ode
Bearbeiter. Was Haller und Cramer in dieser
Dichtungsart leisteten, wurde bei weitem überflügelt
durch die Oden Klopstock's, die noch immer als
Muster dastehen. Nächst Klopstock zeichneten sich aus:
Ramler, Uz, Herder, Hölty, Fr. Stollberg,
Voß, Schubart
und Hölderlin. Die Dichter der
neuesten Zeit haben die Ode, wenigstens in antiken
Silbenmaaßen, fast gar nicht cultivirt; selbst Platen's
vorzügliche Leistungen fanden weder großen Anklang,
noch Nachahmung.

III. Die Hymne.

§. 136. Das Wort Hymne (wörtlich so viel
wie: ich webe, in übergetragener Bedeutung: ich
feiere, ich lobsinge) bezeichnete im Griechischen einen
Lobgesang, der bei feierlichen Opfern unter Musikbegleitung
vorgetragen wurde. Bei uns ist die dem
Worte untergelegte Bedeutung eine sehr schwankende.
Man giebt nämlich dem der Hymne beiwohnenden Begriff
des Feierns entweder eine allgemeinere oder
eine speciellere Beziehung und nennt im erstern
Falle Hymnen alle die Oden, die zum Preise der
Gottheit, oder ausgezeichneter Menschen oder auch zur
Verherrlichung erhabener (doch immer personificirt gedachter!)
Gegenstände der geistigen oder körperlichen ─ 95 ─
Welt dienen; im letztern Falle aber bedenkt man
nur diejenigen Oden mit dem Namen, deren
Gegenstand das Lob Gottes ist.
─ Wir sind
geneigt, die engere Bedeutung als die richtigere
anzunehmen und dagegen die Gedichte, deren Gegenstand
die Verherrlichung von etwas Außergöttlichem
ist, nur Oden, nicht Hymnen zu nennen.


Anmerkung. Man könnte zwar sagen, in den zum
Preise erhabener Menschen oder Gegenstände dienenden Gedichten
sollen nicht diese an sich, sondern nur das Göttliche in
ihnen
verherrlicht, also gewissermaaßen auch das Lob der
Gottheit
gefeiert werden: dadurch aber würde man jedenfalls
die Unklarheit und Verworrenheit der Begriffe um ein Bedeutendes
erweitern.


§. 137. Während in der Ode die Empfindungen
ausströmen, die die Betrachtung des Großen und
Erhabenen überhaupt
erzeugt, findet der Dichter
der Hymne in der unaussprechlichen Größe
Gottes
den Gegenstand, der ihn zur Begeisterung
hinreißt, seine Seele zur Andacht und Anbetung stimmt.
Da nichts mit solcher Gewalt auf das menschliche Gemüth
zu wirken vermag, als die Betrachtung der
Herrlichkeit Gottes, so wird die Hymne im Tone der
höchsten Begeisterung gehalten sein und der Ausdruck
in ihr einen noch höheren Schwung nehmen müssen,
als in der Ode. Nur dann wird dies weniger der Fall
sein (oft nur zu sein scheinen), wenn die bewundernde
Begeisterung die Seele des Dichters über alle Erscheinungen
und alle Schranken des irdischen Lebens so
erhebt, daß sie von denselben nicht mehr berührt wird
und sich in seliger Anschauung des Unendlichen ganz
verliert ─ oder wenn sich neben die anbetende Bewun= ─ 96 ─
derung des Schöpfers das Gefühl eigner Ohnmacht,
Sündhaftigkeit und Schwäche stellt. Dann wird die
Hymne entweder den Charakter einer erhabenen
Ruhe
oder den elegischer Wehmuth an sich tragen.


§. 138. Jn Rücksicht der Form ist dem Hymnen=Dichter
völlige Freiheit der Wahl gestattet. Man
hat sich nach dem besondern Charakter der einzelnen
Hymnen der verschiedensten Versmaaße, häufig auch
mit gutem Erfolg des Reims bedient.


§. 139. Sieht man von der nicht unbedeutenden
Zahl derjenigen unserer Kirchenlieder ab, die den
Namen Hymne zwar nicht führen, aber doch mit
gutem Recht verdienen, so finden sich im Deutschen
verhältnißmäßig nur sehr wenige Hymnen. Namentlich
ist die neueste Zeit arm daran. Aus dem vorigen
Jahrhundert dagegen besitzen wir Nennenswerthes der
Art von Gellert, Klopstock, Cramer und Lavater.


§. 140. Zusatz. Zu den Hymnen werden ─
und zwar großentheils mit vollem Rechte ─ auch die
Psalmen, die uns in der Bibel aufbehalten sind, gerechnet.
Man hat den Namen auch auf deutsche Hymnen
dann angewendet, wenn dieselben rücksichtlich ihres
Stoffes in der mosaischen oder christlichen Religion
wurzeln.

IV. Die Rhapsodie.

§. 141. Die Rhapsodie hat, in Rücksicht ihres
Gegenstandes, entweder mehr den Charakter der Ode
oder mehr den der Hymnen. Jhre unterscheidende Eigenthümlichkeit
liegt darin, daß sie 1) ihrem Jnhalt
nach
nur als ein Bruchstück erscheint, indem sie ─ 97 ─
vorzugsweise eine Seite ihres Gegenstandes behandelt;
2) daß sie ihrer Form nach mit völliger Freiheit
auftritt und bald diesen, bald jenen Rhythmus annimmt.
*)


Anmerkung. Der Name Rhapsodie ist dem Griechischen
entlehnt. Jn Griechenland pflegten nämlich die bei Festen oder
sonst öffentlich auftretenden, wandernden Sänger, wenn sie Gedichte
vortrugen, einen Stab oder einen Lorbeerzweig in der
Hand zu halten und wurden deshalb Rhapsoden (Leute, die
während des Singens einen Stab halten), ihre Gesänge Rhapsodien
genannt. Da diese Gesänge meist Bruchstücke größerer,
(namentlich homerischer) Gedichte waren, so nahm man später
rhapsodisch gleichbedeutend mit bruchstückartig.

V. Der Dithyrambus.

§. 142. Der Dithyrambus war ursprünglich
eine Hymne, die dem Bachus zu Ehren bei dessen
Festen gesungen wurde. Später sang man auch das
Lob anderer Götter in Dithyramben.


Der eigentliche Dithyrambus erscheint nach
Jnhalt und Form unter dem Einfluß des Bachus,
oder vielmehr seiner Gabe, des Weins, gebildet. Aus
ihm spricht eine Begeisterung, wie sie der Rausch erzeugt
und der Rhythmus charakterisirt gewöhnlich die
ungeregelte Bewegung des Trunkenen.


§. 143. Von eigentlichen Dithyramben
kann bei uns nicht die Rede sein: sie sind ihrem Gegenstand
nach unserer religiösen Anschauungsweise und
unsern Sitten gleich sehr entfremdet. Doch hat man, ─ 98 ─
und nicht mit Unrecht, den Namen auf diejenigen lyrischen
Gedichte angewendet, die einer außergewöhnlichen,
rauschähnlichen Begeisterung entströmt und in einer
Form geschrieben sind, die, zumal in rhythmischer Hinsicht,
die größte Freiheit und Lebendigkeit zeigt.


§. 144. Unsere Literatur ist überaus arm in dieser
Dichtungsart. Zwar hat man zuweilen versucht, Trinkliedern
dithyrambische Gestalt zu geben ─ im Ganzen
mit wenig Glück. Erwähnung verdienen die Dithyramben
von Willanow, Friedrich (Maler) Müller,
Voß
und Schiller.

VI. Die Cantate.

§. 145. Die Cantate ist eine, aus Jtalien zu
uns gekommene lyrische Dichtungsart, deren hervorstechende
Eigenthümlichkeit in der unbedingten Bestimmung
für die musikalische Darstellung

besteht. Sie schildert in einer Reihe von Sätzen
Empfindungen,
die zwar an denselben Gegenstand
geknüpft, aber an Art und Stärke doch sehr verschieden
sind. Gewöhnlich läßt der Dichter die verschiedenen
Empfindungen auch durch verschiedene Personen
aussprechen und giebt dadurch der Cantate einen
mehr oder weniger dramatischen Charakter. Doch
darf das Gedicht seine lyrische Natur nie verleugnen.
Wo darum die Cantate nicht nur die Gefühle schildert,
die sich aus gewissen Vorgängen entwickeln, sondern
wo sie vielmehr diese Vorgänge selbst dadurch vorführt,
daß sie Personen handelnd auftreten läßt, da wird
dies doch mit solcher Einfachheit geschehen, daß den
Empfindungen ─ denn auf diese kommt es an! ─ ─ 99 ─
freier Spielraum bleibt. Ein Gleiches gilt von denjenigen
Stellen des Gedichts, die epischen Charakters
sind: sie dürfen das Lyrische nie in den Hintergrund
drängen. Vor Allem hat aber der Dichter die musikalische
Bestimmung der Cantate immer im Auge
zu behalten. Er muß Alles fern halten, was sich für
die Composition nicht eignet oder dieselbe erschwert, und
dagegen Alles benutzen, was dieselbe erleichtern, ihren
Werth erhöhen kann.


§. 146. Die Haupttheile der Cantate sind:
das Recitativ, die Arie und der Chor. Der Jnhalt
des Recitativ's ist entweder erzählend, oder beschreibend,
oder reflektirend; er bildet gleichsam die Basis der
Gefühle, welche in der Arie und dem Chor zur Darstellung
gelangen. Jn der Regel ist die Begleitung im
Recitativ höchst einfach gehalten und der Gesang erscheint
als eine musikalische Deklamation.


Die Arie nähert sich am meisten dem Liede. Sie
tritt fast immer mit dem Reim und häufig in Strophenform
auf. Oft ist die Arie dialogisch gehalten, d. h. der
Ausdruck der Gefühle findet, abwechselnd oder vereint,
durch zwei, drei oder vier verschiedene Stimmen
statt. (Duett, Terzett, Quartett.)


Jm Chore vereinigen sich alle oder doch viele
der darstellenden Personen, um ein Gefühl auszudrücken,
das sie alle durchdringt.


§. 147. Man unterscheidet geistliche und weltliche
Cantaten.
Wenn die geistlichen Cantaten im
größeren Style religiöse, besonders aber biblische
Stoffe behandeln, nennt man sie Oratorien.
Kleinere, einfache Cantaten nennt man wohl Can= ─ 100 ─
tatillen, Cantatinen, und wenn sie nur für Eine
Singstimme mit schwacher Begleitung bestimmt sind,
Cantatilenen.


§. 148. Die Cantaten haben, wie fast alle
die Poesien, bei welchen die hinzukommende Musik die
Hauptrolle spielt, mit geringer Ausnahme, unter den
namhaften Dichtern nur wenige Bearbeiter gefunden;
deshalb ist ihr poetischer Werth durchschnittlich
sehr gering. Merkwürdig genug haben die poetischwerthvollen
Cantaten, die wir z. B. von Herder,
Ramler
u. a. besitzen, nur sehr mittelmäßige oder gar
keinen Componisten gefunden. Die bloß in musikalischer
Hinsicht ausgezeichneten Cantaten, resp. Oratorien
&c. hier aufzuführen, kann nicht unsere Aufgabe
sein.

VII. Die Elegie.

§. 149. Die Elegie stellt die Gefühle der
Wehmuth dar, welche sich, bei Betrachtung
von etwas Jdealem oder Jdealisirtem, aus
dem Bewußtsein menschlicher Schwäche und
Beschränkung erzeugen.
Während die Ode das
Gemüth über alle Schranken des irdischen Lebens in
die Regionen des Unendlichen, Ewigen, Jdealen erhebt,
zieht die Elegie das Jdeale, Unendliche in den Kreis
irdischer Beschränkung und menschlicher Schwäche herab
und läßt es nur in diesem Spiegel sehen. ─ Alles, was
uns theuer war, dessen Verlust wir jedoch jetzt beklagen,
so wie jedes Gut, nach welchem wir uns heiß, aber
vergeblich sehnen, kann Gegenstand der Elegie sein. Es
ist dabei nicht nöthig, daß das Beklagte oder Ersehnte ─ 101 ─
gerade etwas Uebersinnliches, wirklich Jdeales sei,
auch gewöhnliche Dinge des Lebens können dem Elegien=Dichter
zum Vorwurf dienen, doch werden dieselben
immer idealisirt erscheinen. Denn es liegt in
der Natur der Klage und der Sehnsucht, den beklagten
oder herbeigesehnten Gegenstand in höherem, vollkommenerem
Lichte zu sehen. Wenn der vorherrschende Ton
der Elegie auch der der Wehmuth, des Schmerzes ist,
so darf sich der Schmerz doch nie zur Leidenschaftlichkeit
steigern, vielmehr muß das Gemüth ruhig
bleiben und gleichsam in dem Ausdruck seiner Leiden
selbst Trost, Freude, Genuß finden.


§. 150. Der Umstand, daß die Elegien der Alten
in Distichen geschrieben sind, hat Mehrere veranlaßt,
ohne Rücksicht auf den Jnhalt, alle lyrischen Gedichte,
die in dieser Form auftreten, Elegien zu nennen. Wir
meinen mit Unrecht. Freilich entspricht das sogenannte
elegische Versmaaß dem Charakter der Elegie vorzüglich
gut, aber es bestimmt denselben nicht und
kann (die Beweise liegen in ältern und neuern Gedichten
vor!) auch für ganz andern, als elegischen
Jnhalt gebraucht werden. Die moderne Elegie ist
an kein besonderes Metrum gebunden, doch versteht es
sich von selbst, daß das gewählte immer dem Jnhalt
gemäß sein muß. Am angemessensten erscheinen, neben
der von vielen Dichtern beibehaltenen antiken Form,
fünffüßige Trochäen
oder Jamben.


§. 151. Die Elegie ist, wenn auch nicht mit besonderer
Vorliebe, doch, zumal seit Klopstock, vielfältig
und mit Erfolg angebaut worden. Viele der
bessern Elegien haben eine (beziehungsweise!) allgemeine ─ 102 ─
Bekanntschaft erlangt. Welcher Freund der Poesie kennt
nicht Hölty's: Selig alle, die im Herrn entschliefen &c.,
und: Schwermuthvoll und dumpfig hallt Geläute &c.;
so wie Matthisson's: Schweigend, in der Abenddämm'rung
Schleier &c. und Tiedge's Elegie auf dem
Schlachtfeld bei Kunersdorf? Zum Theil noch ausgezeichneter,
wiewohl leider! nicht durchaus so bekannt
ist das, was Klopstock, Herder, Schiller, Göthe,
Schubart,
A. W. Schlegel, W. v. Humboldt,
Hölderlin, Jmmermann, Rückert, Matzerath

u. a. im elegischen Fache geleistet haben. Auch
mehrere der schönsten Gedichte Freiligrath's, z. B.
„die Auswanderer,“ „Wär ich im Bann von Mekka's
Thoren,“ „die Tanne,“ „die Bilderbibel,“ „Odysseus,“
„der ausgewanderte Dichter,“ „bei Grabbe's Tod,“
„ein Flecken am Rhein,“ ─ glauben wir, wenn auch
nicht alle ganz unbedingt, den Elegien beizählen zu
dürfen.


Anmerkung. Wie überhaupt die Dichtungsarten, zumal
die lyrischen, in der Praxis nicht all zu häufig ganz streng
gesondert erscheinen, sondern oft mannichfaltig in einander überspielen
und sich verschmelzen, so finden sich namentlich auch viele
elegieähnliche Lieder oder liederartige Elegien, z. B. bei Lenau,
Eichendorf, Heine
&c.; desgleichen auch Oden, Hymnen,
Rhapsodien, ja auch Romanzen, Balladen &c., welche der Elegie
wenigstens sehr nahe verwandt sind. Wenn ein Gedicht
nur wirklich schön ist, schöne Form mit schönem Jnhalt verbindet,
so braucht der Dichter desselben sich nicht darum zu kümmern,
in welche Klasse es gehöre, ─ er kann ruhig und
unbesorgt zusehen, wenn die Theoretiker ─ sich die Köpfe
darüber zerbrechen. Man darf mit ihm darüber eben so wenig
rechten, als die Naturforscher mit dem lieben Gott, wenn etwa
eine Pflanze nicht ins Linnée'sche System passen will.

─ 103 ─
VIII. Die Heroide.

§. 152. Die Heroide ist in Hinsicht ihres Jnhalts
der Elegie verwandt. Auch in ihr ist der
Ton der Wehmuth vorherrschend; auch sie spricht
entweder die Klage über einen erlittenen Verlust, oder
den Schmerz vergeblicher Sehnsucht aus. Aber sie erscheint
nicht, wie die Elegie, als subjektive Aeußerung
des Dichters, sondern ist objektiv gehalten. Der
Dichter läßt nämlich eine historische oder fingirte
Person
auftreten und dieselbe Empfindungen der
Sehnsucht
oder der Klage gegen eine andere
Person
aussprechen. Da die Person, an welche die
Heroide gerichtet ist, meist entfernt, von der sprechenden
getrennt ist (─ oft durch den Tod ─), so nimmt
das Gedicht die Form der Epistel (siehe dieselbe!)
an. ─ Das Versmaaß ist meist das sogenannte elegische,
doch hat man sich auch längerer trochäischer
oder jambischer Verse und zwar oft in Verbindung
mit dem Reim bedient.


Anmerkung. Der Name Heroide schreibt sich von
Ovid her, da in dessen Heroiden ausgezeichnete historische Personen
(Heroen, Helden) auftreten. Für uns ist, wie aus
der obigen Charakteristik hervorgeht, die Benennung durchaus
unmaaßgeblich.


§. 153. Nur sehr wenige unserer Dichter haben
sich in der Heroide versucht; unter diesen wenigen ragen
hervor: Wieland, Kosegarten, Eschenburg und
A. W. Schlegel (Neoptolemus an Diokles).

IX. Das Gnomon.

§. 154. Das Gnomon (so viel wie Sinnspruch,
Maxime
) ist ein Gedicht, das einen sinn= ─ 104 ─
reichen Gedanken, der entweder eine Weisheitslehre,
oder eine beachtungswerthe Bemerkung,
Erfahrung
enthält, möglichst kurz und in einer
Form ausspricht,
die dem Gedächtniß leicht
zugänglich ist.
Vom Epigramm (siehe §. 156!)
unterscheidet es sich dadurch, daß es sich immer absolut
hält, d. h. sich weder an ein äußeres Objekt
knüpft, noch auf eine besondere Situation des Lebens
bezieht, und daß es immer didaktischer Tendenz ist.


Hat der Dichter zur Einkleidung das sogenannte
elegische Versmaaß gewählt, so nennt man das
Gnomon auch wohl kurzweg Distichon. Rückert und
Andere haben es wohl als kleines Gedicht von 4 Zeilen
erscheinen lassen und es danach mit dem Namen Vierzeile
belegt. Der Dichter ist weder an die eine, noch
an die andere Form gebunden, vielmehr steht ihm rücksichtlich
der Wahl derselben völlige Freiheit zu.


§. 155. Wir sind (die in größern z. B. dramatischen
Dichtungen enthaltenen Sinnsprüche ungerechnet)reich
an gehaltvollen Gedichtchen dieser Art; unter
den Dichtern derselben verdienen Göthe, Herder,
Schiller, Gleim, Lavater, Claudius, Tiedge,
Rückert, Wilh. Müller
&c. eine ehrenvolle Erwähnung.

X. Das Epigramm.

§. 156. Das Epigramm war, wie sein Name
sagt, ursprünglich eine Aufschrift oder Jnschrift
auf Denkmälern,
bei welcher es dem Dichter
darauf ankam, den Sinn oder die Bedeutung
des Denkmals mit wenigen,
aber scharf ─ 105 ─
bezeichnenden poetischen Worten zur Anschauung
zu bringen. Später hat es diese Bestimmung
verloren und man nahm als die wesentliche
Eigenthümlichkeit des Epigramm's die, überhaupt
einen sinnreichen, an ein bestimmtes Objekt
geknüpften Gedanken
in möglichster Kürze
und vollendeter Form so vorzuführen, daß er
überraschend und ergreifend wirkt. Soll das
Epigramm den angegebenen Zweck erreichen, so muß
der Gegenstand, auf welchen es sich bezieht, immer
als bekannt vorausgesetzt werden können und die
bloße Anführung des Namens oder höchstens ein paar,
als Ueberschrift des Gedichts geltende Worte müssen
hinreichen, das Bild desselben dem Leser vorzuführen.
Viele unserer Epigrammdichter haben in dieser Hinsicht
sehr gefehlt; sie knüpften nämlich ihren sinnreichen Gedanken
an unbekannte, ja wohl gar an fingirte
Gegenstände. Dadurch aber muß nothwendig die Wirkung
des Epigramms geschwächt werden. Dasselbe kann
wohl überraschen, aber nicht ergreifen. Will
man aber den Werth des Epigramms bloß darein setzen,
daß es erst die Aufmerksamkeit spannen und dann dieselbe
überraschend befriedigen soll, so weis't man es in
eine ziemlich niedere Spähre. Wir haben es zu beklagen,
daß sich die meisten unserer Epigrammdichter
in dieser Spähre bewegen. Sie haben nicht nur das
ernstgehaltene Epigramm sehr wenig kultivirt und
dagegen fast nur das witzig=satyrische, das allerdings
ihrem speziellen Zweck am besten genüget, angebaut,
sondern sind auch bei diesem in den eben gerügten
Fehler gefallen: sie bezogen sich nicht auf gegebene ─ 106 ─
Verhältnisse und Persönlichkeiten, sondern machten
die Fälle zu ihren Witzen und setzten so gleichsam
das Denkmal um der Jnschrift willen. Dadurch
entzogen sie ihren Scharfsinn und Witz freilich der Controlle,
die nur möglich ist, wenn der Name oder die
Sache, auf welche sich derselbe bezieht, eine öffentliche,
allgemein bekannte
ist, ─ aber ihre Dichtung
mußte auch alles Jnteresse und damit die
Wirkung verlieren. Wie ganz anders ist das, wenn
sich das Epigramm auf allgemein bekannte Gegenstände
bezieht, wenn es z. B. als Grabschrift eines allgemein
bekannten Mannes dient! Als solche zieht es die Summe,
das Facit eines ganzen Lebens und war dieses ein verkehrtes,
so steht es mit seiner satyrischen Spitze auf
dem ernsten Monument, das an die menschliche Nichtigkeit
ohnehin erinnert, mit ergreifender Wirkung. Wie
viel schwindet aber von dem grundtiefen Jnhalt, dessen
eine solche Grabschrift fähig ist, wenn der Todte ein
bloß fingirter, moralischer Charakter von allgemein typischem
Schlage ist.*)


§. 157. Auch für das Epigramm hat man sich
des sogenannten elegischen Versmaaßes häufig bedient
und auf dasselbe dann ebenfalls den Namen
Distichon angewendet. Doch sind auch andere Formen
viel gebraucht, namentlich auch der Reim oft
angewendet worden.


§. 158. Als die vorzüglichsten Epigrammdichter ─ 107 ─
gelten: Opitz, Weckherlin, Gryphius, Logau,
Wernicke, Klopstock, Lessing, Kästner, Hagedorn,
Herder, Bürger, Göckingk, Göthe,
Schiller, Kretschmann, Haug,
W. Müller,
Rückert
und Platen.


§. 159. Eine besondere literarische Bedeutung
haben die Epigramme gewonnen, die Göthe und
Schiller unter dem Namen Xenien erscheinen ließen.
Diese „Gastgeschenke“ sprachen nicht nur allgemeine,
sehr feine und treffende Bemerkungen über bekanntere
Gegenstände der Kunst, der Literatur und des Lebens
aus, sondern gaben namentlich durch den Spott und
die Satyre, die sie über schlechte Autoren ausgossen,
Anlaß zu einer sehr bedeutenden literarischen Aufregung,
die sich in bittern Federkriegen Luft machte. Sofern sie
insonderheit der oben ausgesprochenen Forderung genügen
und sich nur auf öffentliche, bekannte (oder doch
damals als bekannt vorauszusetzende) Gegenstände beziehen,
sind sie als Musterepigramme aufzustellen, obwohl
rücksichtlich der Form, mitunter auch des Jnhalts
und des Tones, ihnen mancher Vorwurf zu machen ist,
den auch leicht hingeworfene Produkte so ausgezeichneter
Dichter sich nicht sollten machen lassen. Namentlich
in neuester Zeit haben diese Göthe-Schiller'schen
Xenien manche, zum Theil recht glückliche Nachahmung
gefunden.

XI. Die Satyre.

§. 160. Die Satyre ist ein, von Witz und
Laune belebtes Gedicht,
das entweder im
Tone ernster Rüge die sittlichen Gebrechen
─ 108 ─
der Zeit von ihrer verderblichen, oder die
weniger schädlichen Schwächen, Thorheiten
und kleinlichen Bestrebungen derselben von
ihrer lächerlichen Seite
darstellt. Es giebt also
eine ernste und eine scherzhafte oder komische
Satyre. Die Satyre, sei sie nun ernst oder komisch
gehalten, hat immer didaktische Zwecke: sie will beschämen,
strafen, bessern oder warnen. Damit sie ihre
poetische Sendung erreiche, ist richtige Wahl und
dann richtige Auffassung und Darstellung des
Stoffes besonders nöthig.


§. 161. Was den Stoff an sich betrifft, so muß
sich der Dichter zunächst klar sein, daß er wirklich vor
das Forum der Satyre gehöre, daß er weder über,
noch unter dem Horizonte derselben liege. Ueber dem
Horizonte der Satyre liegen wirkliche Laster und Verbrechen:
sie verlangen höhere, schneidendere, wirksamere
Waffen, als die Poesie zu bieten vermag. Als
unter dem Horizonte des satyrischen Gedichts liegend,
sehen wir das an, was so unbedeutend und unbekannt
oder gar so gemein ist, daß sich die Dichtkunst durch
seine Bekämpfung nur entehren würde. Die meisten
deutschen Satyriker haben sich namentlich den letztern
Fehler zu Schulden kommen lassen ─ sie bewegen
sich großentheils
in einer zu niedern, zu geringen
Spähre.
Zum Beleg dieser Behauptung erinnern
wir nur an Rabener, den man gewohnt ist,
als einen unserer bedeutendsten Satyren-Dichter zu
betrachten. Was er bekämpft, „gehört der Oeffentlichkeit
gar nicht an, sondern den Kaffeegesellschaften,
Schenken, höchstens den Casinos seiner Zeit; es wird ─ 109 ─
durch Umstände und Verhältnisse bestimmt, durch keinen
Spott gebessert.“ (Schlosser, Gesch. d. 18. Jahrhunderts.)
Aber über welche Feinde soll der Dichter die
satyrische Geißel schwingen? Unsere unmaaßgebliche
Antwort geht dahin, daß die ernste Satyre allgemein
verbreitete,
entweder offen daliegende oder
doch leicht nachzuweisende sittliche Gebrechen der
Zeit in ihrem, das wahre Wohl untergrabenden Einflusse
darzustellen, oder solche bedeutende Personen,
die durch Lehre oder Wandel weithin Verderben wirken,
an den Pranger zu stellen habe. Die komische
Satyre
dagegen hat sich besonders an die weitverbreiteten
Thorheiten
und Schwächen, verkehrten
Ansichten und Meinungen, die zwar nicht gerade
verderblich wirken, aber doch immer lächerlich machen
und vernunftwidrig sind, zu halten, mögen sich diese
nun als allgemeine Zustände oder in einer einzelnen
Person repräsentiren.


§. 162. Jn Hinsicht der Auffassung und Darstellung
des gewählten Gegenstandes hat man gewöhnlich
als Hauptforderung hingestellt, daß die Satyre
die Sache treffe, nicht die Person. Sofern der
Gegenstand ein Zustand, ein allgemein verbreitetes Uebel
ist, leidet das natürlich keinen Zweifel. Muß aber ─
wie häufig ─ die Satyre gewisse Personen als die
Repräsentanten oder Urheber der gerügten Gebrechen
oder Schwächen &c. ansehen, so hat dieser Satz
nur bedingte Gültigkeit. Wir möchten uns daher lieber
so ausdrücken: Die Satyre muß, auch wenn sie die
Person geißelt, dabei doch stets die Sache im Auge
haben; ─ es muß aus der ganzen Haltung des Gedichts ─ 110 ─
und aus seinen Einzelheiten hervorleuchten, daß es dem
Verfasser lediglich um die Sache, um die Bekämpfung
oder Strafung der von ihm gerügten Uebel oder Fehler zu
thun sei; diese jedoch muß er natürlich da angreifen, wo
sie sich finden, also auch in der betreffenden Person, wenn
er nicht durch Hiebe in's Blaue hinein sich selbst lächerlich
machen will. Wo das Gedicht sich aber nur gegen
die Person richtet, wo es nur auf deren Herabsetzung,
Entwürdigung ankommt, wo man zu diesem Zweck
wohl gar der Person unverschuldete Gebrechen vorwirft
oder ihr Fehler und Vergehungen andichtet
da ist es nicht Satyre, sondern Pasquill und muß
den poetischen Genuß vergällen. Vermeidet der Dichter
diese Klippe, so ist jedenfalls der persönlich gemeinten
Satyre der Vorzug zu geben, da die allgemein gehaltene
nur zu leicht in eine Windmühlenschlacht à la
Don Quixote
ausläuft ─ „der Satyriker ficht mit
Luftgebilden, wenn er Thorheiten schlagen will und
seine Hiebe nicht auf die leibhaften Thoren fallen läßt.“


§. 163. Zur wirksamen Darstellung des Gegenstandes
ist ferner nöthig, daß der Dichter sich vor entstellenden
Uebertreibungen hüte, denn sonst wird
die Satyre zur Carricatur und erregt Ekel und
Widerwillen. Man muß dem Dichter aus jeder Zeile
Eifer für Wahrheit und Recht abfühlen: sein Spott
darf nie in Verleumdung, sein Hohn nie in Schadenfreude
übergehen. ─ Endlich muß der Satyriker vorsichtig
bei Verwendung des Witzes sein. Derselbe
muß als natürlich, ungesucht erscheinen; man darf nicht
jeder Zeile anmerken, daß sie witzig sein soll. Ueberhaupt
hat sich gerade der Satyriker auch sehr vor gewissen ─ 111 ─
Manieren in der Darstellung zu hüten. So erhalten
viele unserer, zum Theil berühmten Satyren dadurch
etwas Widerliches, daß in ihnen die direkte Jronie,
wonach man das Tadelnswürdige lobt und das Lobenswürdige
tadelt, zu viel angewendet ist.


§. 164. Die Satyre kann nicht nur als lyrisches,
sondern auch als dramatisches oder episches
Gedicht (als Lustspiel, Erzählung, Fabel, Brief &c.) in
metrischer, wie in prosaischer Form auftreten.
Wenn wir sie als lyrische Dichtungsart aufführen,
so geschieht dies, weil sie in jedem Falle als
subjektive Aeußerung des Dichters
erscheint.
Wo sie, als eigentlich lyrisch, metrischer Formen bedarf,
hat man meist den gereimten Alexandriner, die Stanze,
das Sonett und den Hexameter angewendet; doch sind
andere Formen natürlich nicht ausgeschlossen.


§. 165. Wenn wir über die Leistungen deutscher
Dichter auf dem Felde der Satyre berichten sollen, so
können wir kurzweg sagen: wir haben viele Satyriker,
aber wenig Satyren.
Was man bei
uns so nennt, verdient mit wenigen Ausnahmen den
Namen nicht. Das liegt nicht an unsern Dichtern,
sondern wird durch unsere Verhältnisse herbeigeführt.
Die Dichter müssen es ja scheuen, „die Größe, den
Glanz, die den großen Haufen blenden, falsche Anmaaßung
und leeren, eitlen Schein zu verhöhnen“ und
„die eigentlichen Feinde der Menschheit, die Leute,
welche ganz ungescheut der öffentlichen Meinung Hohn
sprechen dürfen,“ *) mit ihrer satyrischen Ruthe zu ─ 112 ─
geißeln, wenn sie dafür auf Veranlassung derselben
„Größen“ zwar nicht wieder mit Dichterwaffen gezüchtigt,
aber mit Skorpionen gepeitscht werden. Diese
Umstände haben denn die Folge gehabt, daß bei uns,
statt des ehrlichen literarischen Kampfes, der gehässige
literarische Meuchelmord dienende Herzen und Hände
fand. Die verdeckten, verkappten, lichtscheuen Angriffe
fanden Pflege: was konnten sie anders wirken, wenn
sie überhaupt wirkten, als Haß, Bitterkeit und Rache?
Wir brechen ab von diesem unleidigen Thema und
schließen unsere Bemerkungen mit der Aufführung der
wichtigsten unserer neuern sogenannten Satyriker. Es
sind: Liscow, Rabener, Hagedorn, Lichtenberg,
F. Stollberg, Wieland, Voß, Göthe, Falk,
Jean Paul Fr. Richter,
A. W. Schlegel, Tieck,
Hauff, Jmmermann, Börne, Gutzkow, Griesinger

u. a.

XII. Die poetische Epistel.

§. 166. Die poetische Epistel basirt zwar
ihren Jnhalt auf den individuellen Beziehungen,
in welchen der Dichter zu der
Person steht, an welche der Brief
(scheinbar
zunächst) gerichtet ist, doch stellt sie denselben so dar,
daß die empfangende Person gewissermaaßen
als Repräsentant der ganzen Menschheit erscheint.

Sofern die poetische Epistel immer subjektive
Aeußerung
des Dichters ist, wird sie vorzugsweise
lyrischer Natur sein; aber sie kann auch ─
wie jeder gewöhnliche Brief ─ epischen oder didaktischen
Charakter annehmen.

[]─ 113 ─

Da die persönlichen Verhältnisse zwischen dem
Dichter und dem (vorgeblichen) Empfänger, wie schon
bemerkt, die Grundlage des ganzen Gedichts bilden,
so ist vor Allem nöthig, daß diese klar, allgemein
verständlich heraustreten. Dabei müssen dieselben aber
auch mehr oder weniger allgemein wichtig, mindestens
allgemein interessant sein oder doch vom
Dichter dazu gemacht werden.


Je nach dem Jnhalt der Epistel wird der Ton
derselben bald einfach vertraulich, bald scherzend und
launig, bald ernst und gemessen, bald satyrisch gehalten
sein. Jst das Gedicht vorzugsweise didaktischer Tendenz,
so darf es doch nie die Gestalt einer erschöpfenden
Abhandlung annehmen, sondern muß immer nur als
eine freiere, die unterhaltenden interessanten Seiten hervorhebende
Skizze erscheinen. Rücksichtlich der Form
gelten keine bestimmten Vorschriften. Man hat bisher
meist längere jambische oder trochäische, doch nicht
strophisch=abgetheilte Verse, so wie auch den Alexandriner
und Hexameter angewendet.


§. 167. Die poetische Epistel ist eine Dichtungsart,
die ihre Periode hatte. Wenigstens hoffen
wir, nie wieder poetische Episteln in solcher Zahl und
so unerquicklicher Gestalt kultiviren zu sehen, als es
gegen die Mitte und das Ende des vorigen Jahrhunderts
zumal von norddeutschen Dichtern geschah. Aus der
Menge dieser Epistelndichter nennen wir nur die bekanntern
Namen eines Gleim, Pfeffel, Wieland,
Göckingk, Tiedge
und Göthe. Die Leistungen der
drei letztgenannten gelten mit Recht als die besten in
diesem Fache.

[]─ 114 ─
XIII. Das Lehrgedicht (im engern Sinne).

§. 168. Nicht jedes Gedicht, mit welchem didaktische
Tendenzen
verbunden werden, erhält
deshalb den Namen Lehrgedicht. Jm engern Sinne
wenigstens können nur diejenigen Gedichte so genannt
werden, welche sich in einer ganzen Reihe
von Entwickelungen und Betrachtungen
über einen Gegenstand verbreiten
und die
Belehrung als Hauptzweck vorwalten lassen.
Jeder, die höheren oder auch nur gewöhnliche Jnteressen
der Menschheit berührende Gegenstand kann
Objekt des Lehrgedichts werden; nur muß derselbe
auch das Gefühl oder die Phantasie, nicht bloß
den Verstand ansprechen. Es wäre z. B. thöricht,
einen reinmathematischen Gegenstand zum Vorwurf
eines Lehrgedichts zu machen.


Unter welchen Bedingungen das Lehrgedicht,
wie alle Gedichte didaktischer Tendenz überhaupt, poetisch
zulässig sei,
darüber haben wir uns bereits in
§. 116 ausgesprochen. Der Umstand, daß mit dem
Lehrgedicht nicht noch besondere Zwecke (wie z. B.
mit der Satyre) verbunden werden, daß es sich vielmehr
im Kreise des Allgemeinen hält, macht eine
um so strengere Aufmerksamkeit des Dichters in Rücksicht
des poetischen Elements nöthig. Wie sehr
er auch den logischen Zusammenhang zu beachten und
klare Entwickelung der Gedanken zu erzielen hat, so
muß er doch immer mehr auf das Gefühl, als auf
den Verstand zu wirken suchen. Dadurch allein vermag
er dem Gedichte poetischen Werth zu geben, [] ─ 115 ─
während es sonst zu einer, höchstens schön klingenden,
aber trocknen, kalten Moralpredigt oder nüchternen
Auseinandersetzung herabsinkt.


§. 169. Zu den Lehrgedichten zählen wir auch
diejenigen Gedichte, die beschreibend oder schildernd
einen äußern, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand
so behandeln, daß sie nicht sowohl, wie die §. 130
angeführten Naturlieder als lyrischer Erguß, sondern
vielmehr als ein, Belehrung bezweckendes
poetisches Gemälde
erscheinen und deshalb wohl
beschreibende Gedichte genannt werden. Von
diesen müssen wir vor allem fordern, daß Gegenstand
und Beschreibung geeignet seien, die Phantasie
anzuregen; denn nur dadurch vermögen sie
sich in der Region der Poesie zu erhalten, aus
der sie andernfalls unfehlbar in das Reich der Prosa
hinabsinken.


Für die Lehrgedichte sind mancherlei Formen gebraucht
worden; doch hat man sich vorzugsweise des
Alexandriners oder längerer jambischer Verse bedient;
strophische Abtheilung derselben ist jedoch dabei nicht
beliebt worden.


§. 170. Das Lehrgedicht, dem früher oft ganze
Zeitalter ausschließlich huldigten, ist in neuerer Zeit
verhältnißmäßig wenig angebaut worden. Jndem wir
in Rücksicht der ältern Produkte dieser Gattung unsere
Leser auf die Literaturgeschichte verweisen, führen wir
nur die bedeutendsten derjenigen Dichter auf, die seit
Haller sich im Lehrgedicht versucht haben. Dahin gehören:
Haller, Uz, Gleim, Bodmer, Lichtwer, [] ─ 116 ─
Gellert, Kästner, Dusch, Lessing, Herder,
Wieland, Schiller, Tiedge
(Urania),
Rückert, Schefer, Fr. v. Sallet. ─ Jn der
poetischen Beschreibung hat sich namentlich auch
Freiligrath als Meister bewiesen.


[figure]
[E117]

Zweiter Abschnitt.

[figure]


Epische Poesie.


§. 171. Jn der Einleitung zu der Lehre von den
Gattungen der Dichtkunst haben wir uns (§. 113)
bereits im Allgemeinen über das Wesen der epischen
Poesie
ausgesprochen. Die folgenden Bemerkungen
schließen sich, als erläuternd, dem dort Gesagten an.


Während es die Lyrik fast nur mit der Darlegung
des innern Menschen
zu thun hat, haben
die epische und die dramatische Poesie die Aufgabe,
den nach außen wirkenden Menschen und das
Verhalten desselben bei allerlei Einwirkungen von außen
darzustellen. Wenn uns mittelst solcher Darstellung
oft auch die tiefsten Blicke in das Jnnere der handelnden
und duldenden Personen eröffnet werden, so ist
das weder der alleinige, noch der nächste Zweck ─
unser Gemüth wird vorzugsweise durch die That ergriffen
und festgehalten. ─ Das Drama führt die
Handlungen und Begebenheiten als gegenwärtig,
als sich vor unsern Augen ereignend vor; in der Epik
dagegen werden sie als schon vergangen erzählt.
Zwar bedient sich der Epiker zu größerer Belebung
der Darstellung ausnahmsweise zuweilen auch wohl [] ─ 118 ─
der gegenwärtigen Zeit als Sprachform, doch ist
im Grunde auch dann die Vergangenheit gemeint.


Die Wirkung der epischen Poesie beruht
zunächst im Stoffe selbst.
Deshalb wird sich gerade
bei den epischen Dichtungsarten als wesentlichste
Forderung die herausstellen, daß sie einen geeigneten,
beziehungsweise wichtigen oder doch jedenfalls interessanten
Stoff
behandeln, und zwar in einer,
diesem Stoffe und dem guten Geschmacke entsprechenden
Weise.


§. 172. Den Stoff der epischen Poesie bildet
immer eine, entweder wirklich geschehene, oder
vom Dichter erfundene, meist unter menschlicher
Mitwirkung erfolgte Begebenheit.
Wenn der
Dichter die erzählte Handlung unter dem Einfluß
übernatürlicher Mittel, unter Einwirkung höherer
Wesen
vor sich gehen ─ mit andern Worten das
Wunderbare als Maschinerie eintreten läßt, so ist
das der Regel nach nur dann zu billigen, wenn solcher
Einfluß und solche Einwirkung auf menschlichen Glauben
oder Aberglauben beruht; ─ der Dichter darf,
wenn auch mitunter aus den Kreisen des Menschenlebens,
doch nie aus denen menschlicher Vorstellung heraustreten.



§. 173. Da keine Begebenheit, zumal wenn sie
eine ausgedehntere ist, isolirt für sich dasteht, sondern
immer andere, wenn auch minder wichtige Begebenheiten
im Gefolge führt, so hat der Dichter ferner darauf
zu sehen, daß die Hauptbegebenheit zu den neben=
oder untergeordneten Begebenheiten (gewöhnlich
Episoden genannt) in richtiges Verhältniß komme. [] ─ 119 ─
Es versteht sich von selbst, daß die Hauptbegebenheit
als solche, der Stoff als eine Einheit heraustrete.
Die eingeflochtenen oder begleitenden Episoden
dürfen das Jnteresse an der Hauptbegebenheit nicht
beeinträchtigen; sie müssen vielmehr geeignet sein, dasselbe
zu heben und zu steigern. Das wird geschehen,
wenn sie mit der Haupthandlung zusammenhängen,
als Ursachen, Veranlassungen, Wirkungen oder Folgen
derselben erscheinen; wenn sie die Entwickelung nicht
stören, sondern nur naturgemäße Ruhepunkte in dieser
ausfüllen. ─ Dasselbe gilt von den etwa eingeschalteten
Charakterschilderungen und Beschreibungen
der Gegenstände, die mit dem Hauptinhalt verflochten
sind.


Wie sich schon aus dem Obigen ergiebt, ist für den
epischen Dichter eine Hauptaufgabe, daß er das Jnteresse
gleichmäßig vertheilt.
Des Epikers
Zweck liegt im Ganzen.
“ Wir sollen nicht ungeduldig
zum Ziele eilen, sondern mit Ruhe bei jedem
Schritte verweilen. Es kann also bei der epischen Poesie
nicht auf einzelne, beherrschende Glanzpunkte abgesehen
sein, sondern die einzelnen Theile müssen für sich eine
gewisse Selbstständigkeit behaupten. Nur auf die kleineren
Arten der Epik finden diese Regeln weniger
Anwendung.


§. 174. Zur epischen Poesie gehören 1) die Fabel;
2) die Allegorie, die Parabel und die Paramythie;
3) die poetische Erzählung; 4) die Legende;
5) das Mährchen und die Sage; 6) die
Jdylle; 7) die Romanze und die Ballade; 8) das
Epos; 9) der Roman und die Novelle.

[]─ 120 ─
I. Die Fabel.

§. 175. Fabel heißt im allgemeinern Sinne überhaupt
eine Begebenheit, eine Handlung. So
nennt man die einer dramatischen oder epischen Dichtung
zu Grunde liegende Handlung oder Begebenheit
Fabel. Jm engern Sinne, als Dichtungsart, ist
die Fabel die Veranschaulichung einer allgemeinen
Jdee, meist einer Weisheits= oder
Klugheitsregel durch eine erdichtete, als vergangen
erscheinende Handlung, in welcher
willenlose Wesen, vorzugsweise aber Thiere
den Menschen repräsentiren.


„Die Fabel ist in Hinsicht ihrer Auffassung
allegorisch,
nach ihrem Zwecke didaktisch, in
Rücksicht ihrer Darstellung episch.“ Was zunächst
die letztere angeht, so hat es der Dichter dabei nur
mit der Vorführung des Faktischen zu thun, da eine
Charakterzeichnung der handelnd eingeführten Wesen
nicht nöthig ist, indem jedes derselben seine bestimmt
ausgeprägte und als bekannt vorauszusetzende Eigenthümlichkeit
hat, welche Eigenthümlichkeit zugleich die
der ganzen Gattung ist. Wenn dieser Umstand einerseits
die höchste Einfachheit der Handlung bedingt,
so macht er anderseits auch eine Klarheit, Gedrungenheit
und Bestimmtheit derselben möglich, die
sich auf anderem Wege schwerlich so leicht erreichen
läßt. Hauptsache ist nun, daß die fingirte Handlung
der Fabel derjenigen möglichst analog sei, deren Sinnbild
und Spiegel sie sein, auf welche sie Beziehung,
Anwendung leiden, für welche sie zur Lehre dienen soll. ─ 121 ─
Je mehr dieses der Fall ist, je mehr die Handlungen
der repräsentirenden Geschöpfe den Handlungsweisen
der Menschen sich nähern, ─ je größer wird die Wirksamkeit
der Fabel sein.


§. 176. Der didaktische Zweck der Fabel muß
aus der Erzählung unmittelbar selbst hervorspringen;
eine besondere und ausführliche Aufführung der beabsichtigten
Lehre halten wir für verwerflich. Wo sie stattfindet,
erscheint sie entweder als überflüssig und schwächt
den Eindruck, oder ─ sie legt Beweis von der mangelhaften
Bearbeitung des Faktums ab. Dagegen ist
eine leise Andeutung in einzelnen Fällen nicht nur zulässig,
sondern für die Schwächeren an Verständniß
auch wohl nothwendig.


§. 177. Die Lehre der Fabel wird Moral genannt.
Doch ist damit keineswegs gesagt, daß die Fabel
immer eigentlich moralischer Tendenz sein müsse.
Sie stellt vielmehr ─ gleichsam „eine poetische
Verkörperung des Sprichworts
─ frei von
jeder religiös=dogmatischen, oder nationalen oder standesmäßigen
Beziehung und Beschränkung, die allgemeinste
Regel der Sitte und des Verkehrs fest und
das giebt ihr den populären Charakter und den allgemeinen
Werth.“ (Gervinus.)


§. 178. Es wird der Bemerkung kaum bedürfen,
daß der Ausdruck der Tendenz der Fabel entsprechen
und sich durch Einfachheit, Kürze und Bestimmtheit
auszeichnen muß. Bestimmte Formen sind übrigens
dabei nicht vorgeschrieben; die Fabel kann eben so wohl
metrisch, als prosaisch, dialogisch oder erzählend
gehalten sein. Die meisten Fabeln sind jedoch ─ 122 ─
in Versen, und zwar großentheils in längeren jambischen
und mit Anwendung des Reims geschrieben.


§. 179. Die Fabel ist aus dem Alterthume zu
uns herüber gekommen, und durch vielfache Pflege ganz
volksthümlich geworden. Sie hat zu allen Zeiten eine
Art Grundlage und Mittelpunkt unserer didaktischen
Poesie gebildet. ─ Jn rein abgetrennter Behandlung
finden wir sie zuerst in dem Edelstein des Bonerius
(um 1340). Später wurde sie durch Hans Sachs,
Burkhard Waldis, Erasmus Alberus
kultivirt.
Jm siebzehnten Jahrhundert nur wurde sie gänzlich
vernachlässigt. Aber als La Motte und Lafontaine
in Deutschland eingeführt wurden, erhielt sie neuen
Schwung, namentlich durch Hagedorn. Diesem folgten
die Autoren der bremischen Beiträge, unter
denselben namentlich Giseke, Ebert, J. A. Schlegel,
Zachariä
und vor allen Gellert. Außer diesen
sind noch zu nennen: Lichtwer, Gleim, Willamow,
Pfeffel
und Lessing. Seit durch Göthe's und
Schiller's dramatische Leistungen die epische Poesie,
mit Ausnahme einiger andern Arten derselben, in den
Hintergrund geschoben, gewissermaaßen besiegt wurde,
hat die Reproduktion der Fabel, bis auf wenige vereinzelte
Erscheinungen, z. B. von Hey und Fröhlich, aufgehört.

II. Die Allegorie, die Parabel und die
Paramythie.

§. 180. Die Allegorie. Jm Allgemeinen versteht
man unter Allegorie die Andeutung, Bezeichnung
einer Sache durch eine andere, ihr ähnliche. Jm
engern Sinne nennt man Allegorien diejenigen ─ 123 ─
Produkte der Kunst, welche eine abstrakte Vorstellung,
eine Jdee versinnlichen, verkörpern sollen. Als Erzeugniß
der Poesie
insbesondere bezeichnet Allegorie
ein Gedicht, das einen übersinnlichen
Gegenstand unter einem ihm vollkommen
entsprechenden Bilde,
das entweder ein einfaches,
oder ein, aus mehreren einzelnen Bildern zusammengesetztes
sein kann, schildert, versinnlicht.


§. 181. Die Versinnlichung ist entweder eine unmittelbare
oder eine mittelbare. Eine unmittelbare
Versinnlichung findet statt, wenn der Dichter
den übersinnlichen Gegenstand als ein sinnliches Wesen
erscheinen läßt, wenn er ihn verkörpert, personificirt.
(Personificirende Allegorie.)
Mittelbar
nennen wir die Versinnlichung, wenn Gegenstände
der Wirklichkeit als Träger oder Sinnbilder der darzustellenden
Jdee vorgeführt werden und zwar entweder
dadurch, daß die menschliche Empfindungs=, Denk=
und Thatkraft auf Naturgegenstände übergetragen wird
(anthropomorphische Allegorie); oder dadurch,
daß man an die Stelle des Hauptbildes ein Gegenbild
setzt, welches das erstere versinnlicht (metaphorische
Allegorie
). Note: Allegorie als Oberkategorie der metaphorischen Allegorie (=Metapher, in diesem Fall) (Begriffsabgrenzung); (metaphorische) Allegorie wird als genuines Mittel der Poesie verstanden (siehe Kontext)


Die personificirende Allegorie hat ─ mit wenigen
Ausnahmen ─ nur dann Werth, wenn die Verkörperung
eine bereits allgemein angenommene, durch vielfachen
Gebrauch anschaulich gewordene ist. Sobald die
Personifikation nur ein neues Gebilde der dichterischen
Phantasie ist, geräth die Allegorie in Gefahr, aus der
Abstraktion in die Abstraktion zu führen, statt dieselbe
sinnlich=faßlich zu machen.

─ 124 ─

§. 182. Die Allegorie erscheint entweder als ein
für sich bestehendes, selbstständiges Gedicht,

oder sie bildet einen Theil eines größern Gedichts,
von welchem sie jedoch getrennt werden kann,
unbeschadet ihres innigen Zusammenhanges mit dem
Ganzen und ohne daß sie deshalb als Fragment erscheint.
(Wir erinnern an die drei Ringe in Lessing's
Nathan!) Größere, allegorisch=gehaltene Gedichte, wie
Reinecke Fuchs u. a., belegt man in der Regel nicht
mit dem Namen Allegorien. Eben so wenig wendet
man den Namen auf diejenigen Gedichte an, die zwar
allegorischer Tendenz sind, aber nicht im epischen Gewande
auftreten. Eine große Menge lyrischer Poesien
sind der Art.


Jn Rücksicht der Form steht dem Dichter völlig
freie Wahl zu, auch die Prosa kann mit Erfolg gebraucht
werden.


§. 183. Die Parabel. Die Parabel stimmt
insofern mit der Fabel überein, als sie auch nur Veranschaulichung
eines allgemeinen Satzes durch einen
erdichteten Fall ist. Doch unterscheidet sie sich von derselben
in folgenden Punkten: 1) erscheint die Handlung,
der erdichtete Fall in der Parabel nicht, wie bei
der Fabel, bestimmt, individuell, sondern unbestimmt.
(Die Handlung tritt in der Parabel als Gleichniß
auf, woran der allgemeine Satz klar gemacht, bewiesen
werden soll. Das stellt unstreitig die Parabel in nähere
Verwandtschaft zur Allegorie.) 2) gehört die,
durch diesen Fall veranschaulichte Wahrheit
dem Gebiete des höheren Seelenlebens an;

woraus 3) folgt, daß nicht Thiere &c., sondern ─ 125 ─
Menschen selbst handelnd eintreten werden,
was endlich 4) Rücksicht auf Zeichnung der
Charaktere
und besondere Aufmerksamkeit auf den
Ausdruck bedingt. Was den letzteren insonderheit angeht,
so ist zwar seine Form ganz von des Dichters
Belieben abhängig, doch wird er, dem Wesen der Parabel
gemäß, vorzugsweise das Gemüth ansprechen
und möglichst edel gehalten, würdig sein müssen.


§. 184. Die Paramythie. Die Paramythie
ist als Nebenart der Parabel anzusehen. Jhre unterscheidende
Eigenthümlichkeit besteht darin, daß sie höhere
Wesen,
Gegenstände des christlichen Glaubens
oder der Mythologie, handelnd einführt. Die meisten
Paramythien haben ihren Stoff der griechischen
Mythologie
entnommen. Da der Zweck der Paramythien
mit dem der Parabeln ganz übereinstimmt,
und auch bei ihnen Veranschaulichung einer höhern
Wahrheit die Hauptsache
ist, so muß es
dem Dichter frei stehen, den gewählten Stoff seinen
besondern Absichten entsprechend abzuändern.


Die Form der Paramythie ist ebenfalls keinen besondern
Bestimmungen unterworfen; wie bei der Parabel
hat man sich auch bei ihr häufig der Prosa bedient.


§. 185. Obwohl die allegorische Tendenz sich
durch ganze Perioden unserer Literaturgeschichte als rother
Faden zieht, so haben wir eigentliche Allegorien
doch erst in neuerer Zeit erhalten. Auch die Parabel,
deren schönste Muster die heilige Schrift vorführt,
und die Paramythie wurden erst spät angebaut. Nur
sind die sogenannten „zufälligen Andachten“ des alten
Ascetikers Chr. Scriver (geboren 1629) voll der ─ 126 ─
herrlichsten Gleichnisse, von denen auch nicht ganz
wenige dem mit dem Worte Parabel bezeichneten
näheren Begriffe vollkommen entsprechen. Unter den
neueren Dichtern glänzt in dieser Beziehung vor allen
Herder. Neben und nach ihm haben Krummacher,
Schiller, Göthe, Andreä, Bürger, Rückert,
Nonne, Agnes Franz, Schwarz
u. a. mehr oder
weniger Bedeutendes geleistet.

III. Die poetische Erzählung.

§. 186. Erzählung überhaupt ist die sprachliche
Darstellung einer Begebenheit nach ihrem Verlauf
und ihren einzelnen Umständen. Verstandesmäßige
Begründung
und Verknüpfung der Begebenheit
und klare, leichte Darstellung derselben sind die
Forderungen, die man an eine gute, nichtdichterische
Erzählung macht. Das Wesen der poetischen
Erzählung
beruht einestheils in der lebendigern,
vorzugsweise auf die Phantasie berechneten,
darum anschaulichern, idealern Auffassung,

anderntheils in der schönern, vollendetern Darstellung
einer mehr oder weniger einfachen,
wirklich geschehenen oder erfundenen Begebenheit.

Die poetische Erzählung kann gewissermaaßen
als die Grundlage aller epischen Dichtungsarten
angesehen werden; sie ist auch ─ mehr als irgend
eine andere ihrer Gattung ─ mit allen sehr nahe verwandt.
Daher sind die Gränzen ihres Gebiets sehr
schwer zu ziehen. Was wir als ihre wesentliche Eigenthümlichkeit
ansehen, wird sich durch eine nähere
Erläuterung des oben Gesagten herausstellen. Die ─ 127 ─
poetische Erzählung stellt eine einfache, dem gewöhnlichen
Lebenskreise entnommene Begebenheit ernsten oder
komischen Charakters dar. Große Verwickelung, Episoden
(im gewöhnlichen Sinne des Worts), wie sie
sich beim Epos finden, sind bei ihr nicht zulässig. Ferner:
die geschickte Vorführung eines interessanten
Faktischen ist bei ihr Hauptsache.
Sie will
weder belehren, wie die Fabel und die Parabel; noch
vorzugsweise das Gemüth ergreifen, wie die Ballade
und Romanze. Deshalb ist ihr, außer etwa bei größerem
Umfang, wo sie dem Epos sich nähert, auch lyrische
Beimischung fremd, und sie eignet sich nicht für
musikalische Komposition. Jhre Form ist metrisch und
gereimt, wenigstens eins von beidem (das unterscheidet
sie von der Novelle oder Novellette). Ein bestimmtes
Metrum ist jedoch nicht vorgeschrieben, ─ der Dichter
hat freie Wahl. Auch strophische Abtheilung wird nicht
verschmäht. Chamisso hat mit großem Erfolg sich
der Terzinen bedient; Andere haben die Oktaverime,
den Nibelungenvers, den Alexandriner, den fünffüßigen
Jambus u. s. w. angewendet.


§. 187. Von den Dichtern poetischer Erzählungen
verdienen besondere Erwähnung: Hans Sachs,
Hagedorn, Kleist, Gellert, Gleim, Michaelis,
Wieland, Lichtwer, Bürger, Pfeffel, Seume,
Langbein, Kind, Kosegarten, Falk, Schwab,
Waiblinger, Chamisso
&c.

IV. Die Legende.

§. 188. Mit dem Namen Legende bezeichnete
die alte römisch=katholische Kirche ursprünglich ein Buch, ─ 128 ─
in welchem alles das enthalten war, was dem Volke
beim Gottesdienste vorgelesen werden sollte. Später
trug man, den Begriff des Vorlesens festhaltend, den
Namen auf diejenigen Bücher über, welche, als Sammlungen
wunderbarer Begebenheiten aus dem Leben der
Heiligen und Märtyrer, dazu dienten, in den Klöstern
vorgelesen zu werden. Darauf nannte man diese Begebenheiten
selbst Legenden; bis endlich der Name für
die poetische Behandlung derselben angewendet wurde.
Demnach verstehen wir hier unter Legende die poetische
Darstellung einer, dem Sagenkreise
der christlichen Kirche entnommenen, in der
Regel wunderbaren Begebenheit.
Die Legende
ist somit eine besondere Art von poetischer Erzählung.


§. 189. Die Legende wird gemeiniglich in die
ernste und in die komische unterschieden. Die erstere
stellt mit würdigem Tone, der, wie der behandelte Stoff
selber, als Ergebniß schlichter Einfalt und kindlichen
Glaubens erscheinen muß, eine wunderbare ernste Begebenheit,
als solche dar; die letztere dagegen führt entweder
eine, dem Gebiet der Sage angehörende, heitere
Geschichte aus dem Leben eines Heiligen vor,
oder sie sucht durch die Darstellung das Unhaltbare,
Abergläubische zu zeigen, worauf sich die erzählte, wunderbare
Handlung des betreffenden Heiligen stützt. Jm
letzten Falle erhält sonach die komische Legende eine satyrische
Tendenz; als eigentliche Satyre kann sie jedoch
deshalb nicht angesehen werden. Denn auch die
komische Legende soll nicht zur Geißel werden; sie soll
nur erheitern, darf aber nie das gläubige Gemüth verletzen
und verwunden. Jn diesem Stücke haben viele ─ 129 ─
Dichter gefehlt, indem sie die Legende in das Niedrige
und Possenhafte herabzogen (Langbein). Wie eine
komische Legende zu behandeln sei, das hat Göthe
musterhaft in seiner Legende (Petrus und das Hufeisen)
gezeigt.


§. 190. Eine bestimmte Form ist auch der Legende
nicht vorgeschrieben. Am häufigsten sind, besonders
von Herder, die serbischen Trochäen und fünffüßigen
Jamben angewendet worden; doch hat man
sich auch anderer Verse, so wie der Prosa mit Erfolg
bedient.


§. 191. Erst durch Herder wurde die Legende
als besondere Dichtungsart eingeführt. (Unter den frühern
Leistungen sind die komischen Legenden des Hans
Sachs
als vorzüglich zu nennen.) Nächst Herder
haben wir Göthe, Schubart, Kosegarten, Falk,
A. W. Schlegel, Amalie v. Helwig, Langbein,
Fr. Kind, Apel, Uhland, Rückert,
L. Schefer
als mehr oder weniger ausgezeichnete Legendendichter
anzuführen.

V. Das Mährchen und die Sage.

§. 192. Mährchen bezeichnet überhaupt
eine, von der Volks- oder Kunstpoesie erdichtete
Begebenheit, deren Entwickelung
─ ganz
abgesehen von der Wahrheit der Natur und des Lebens
unter dem Einflusse wunderbarer Mittel
(Bezauberung, Behexung &c.) und übernatürlicher
Wesen, die gewöhnlich nur ein Gebilde
des Aberglaubens oder der Phantasie sind
─ 130 ─
Kobolde, Nixen, Feen, Elfen, Hexen, Zauberer, Riesen,
(Zwerge u. a.), erfolgt. Das Mährchen kann die
Grundlage, die Fabel anderer epischer, wie auch
dramatischer
Dichtungen bilden, es kann aber auch
als eigne, selbstständige Dichtungsart auftreten.
Besondere Formen sind ihm im letztern Falle
nicht vorgeschrieben; häufig erscheint es im Gewande
der Prosa. Was aber die Darstellung an sich betrifft,
so muß diese durch und durch die kindliche Einfachheit
und Naivität athmen, welcher das Mährchen
selbst seinen Ursprung verdankt.


§. 193. Unter Sage versteht man eine
nicht beglaubigte, nicht historisch begründete,
aber von Geschlecht zu Geschlecht mündlich
fortgepflanzte, an einen bekannten Ort, an
eine bestimmte Zeit oder an eine historische
Person geknüpfte Begebenheit, oder die Erzählung
einer solchen.
Das Element des Wunderbaren
ist bei ihr nicht so unerläßlich, wie beim Mährchen;
doch tritt sie nur selten ohne alle Beimischung
der Art auf. Auch von der Sage gilt, was oben vom
Mährchen gesagt wurde: sie ist entweder selbstständige
Dichtungsart,
─ eine eigenthümliche Art poetischer
Erzählung in prosaischer oder metrischer Form;
oder sie bildet den Stoff einer andern epischen
Dichtung,
z. B. einer Ballade, eines Epos oder auch
eines Dramas.


Bewegt sich die Sage im Kreise der Götterwelt,
oder gehört sie der durchaus vorgeschichtlichen Zeit an,
oder veranschaulicht sie eine großartige religiöse Jdee,
so heißt sie Mythus.

─ 131 ─

§. 194. *) „Es wird dem Menschen von Heimathswegen
ein guter Engel beigegeben, der ihn, wann
er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt
eines Mitwandernden begleitet; wer nicht ahnt, was
ihm Gutes dadurch widerfährt, der mag es fühlen,
wenn er die Gränze des Vaterlands überschreitet, wo
ihn jener verläßt. Diese wohlthätige Begleitung ist das
unerschöpfliche Gut der Mährchen, Sagen und
Geschichte, welche neben einander stehen und uns
nacheinander die Vorzeit als einen frischen und belebenden
Geist nahe zu bringen streben. Jedes hat seinen
eignen Kreis. Das Mährchen ist poetischer, die Sage
historischer; jenes stehet beinahe nur in sich selber
fest,
in seiner angebornen Blüthe und Vollendung;
die Sage, von einer geringern Mannichfaltigkeit der
Farbe, hat noch das Besondere, daß sie an etwas Bekanntem
und Bewußtem hafte, an einem Ort
oder einem durch die Geschichte gesicherten Namen.
Aus dieser ihrer Gebundenheit folgt, daß sie nicht,
gleich dem Mährchen überall zu Hause sein könne;
sondern irgend eine Bedingung voraussetze, ohne welche
sie bald gar nicht da, bald nur unvollkommener vorhanden
sein würde. Kaum ein Flecken wird sich in
ganz Deutschland finden, wo es nicht ausführliche ─ 132 ─
Mährchen zu hören gäbe, manche, an denen die Volkssagen
bloß dünne und sparsam gesäet zu sein pflegen.
─ Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere
Verbreitung,
theils durch ihr inneres Wesen
dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen
Weltbetrachtung zu fassen;
sie nähren
unmittelbar, wie die Milch, mild und lieblich, oder der
Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere; dahingegen
die Sagen schon zu einer stärkern Speise
dienen, eine einfachere, aber desto entschiedenere
Farbe tragen,
und mehr Ernst und Nachdenken
fordern.
Ueber den Vorzug beider zu streiten,
wäre ungeschickt, auch soll durch diese Darlegung ihrer
Verschiedenheit weder ihr Gemeinschaftliches übersehen,
noch geleugnet werden, daß sie in unendlichen Mischungen
und Wendungen in einander greifend, sich mehr
oder weniger ähnlich werden.“


§. 195. Die im Munde des Volks lebenden, durch
Volkspoesie geschaffenen Mährchen (die Volksmährchen
im engern Sinne) und Sagen sind besonders
durch die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm
gesammelt worden. Durch diese Sammlungen ist dem
deutschen Vaterlande ein Dienst geleistet, den es nicht
genug anerkennen, für den es nicht genug danken kann.
Nicht nur ist uns und der Nachwelt damit ein Schatz
der herrlichsten Poesie gesichert: die „Kinder= und
Hausmährchen,“ die „deutschen Sagen,“ sie
sind uns überdieß zugleich ein Siegel und ein Spiegel.
Ein Siegel ─ dafür, daß wir ein poetisches Volk sind,
das auf seinen eignen Füßen wohl stehen kann, dem
nicht Noth ist, von der Fremde zu borgen und in der ─ 133 ─
Fremde Trost, Erquickung, Freude zu suchen; ein Spiegel
─ ein reiner ächter Spiegel, der uns zeigen kann,
ob und wie weit die poetischen Produktionen des Tages
Muster= ─ oder Zerrbilder sind. ─ Die von der Kunstpoesie
geschaffenen Mährchen und Sagen haben selten
mit diesen Naturkindern gleichen Werth. Auch die aus
dem Morgenlande zu uns gekommenen Feenmährchen
möchten wir ihnen, ─ bei allem Lobe, das wir
freudig vielen derselben spenden, ─ nicht gleich stellen.
Doch verdienen die hierher gehörigen Leistungen eines
Musäus, Tieck, Brentano, Fouqué, Arnim,
Wieland, Alzinger, Hoffmann, Hauff, Pfeffel,
Chamisso, Schwab, Bechstein, Rückert,
Simrock, Vogl, Zedlitz
&c. größtentheils um so
mehr Anerkennung, als sie in der Sagen- und Mährchenwelt
des Volkes wurzeln. Neuerdings haben viele
unserer ausgezeichnetsten Volksmährchen und Volkssagen
in dem „Sagen- und Mährchenwald“ von L.
Wiese ihre poetische Bearbeitung gefunden.

VI. Die Jdylle.

§. 196. Unter Jdylle (eigentlich so viel wie
kleines Gemälde) versteht man eine Erzählung,
die sich in den einfachsten, den Einflüssen der
kultivirten Gesellschaft, der Wissenschaft
und Kunst gleich fernen Lebenskreisen bewegt

und zum Zweck hat, den Menschen im Stande der
Unschuld und im Frieden mit sich und der Außenwelt
darzustellen. „Die Jdylle führt uns in solche Stände,
Zeiten und Räume, wo Ruhe und Friede herrscht.“
Schäfer, Jäger, Fischer sind meist die Personen, mit ─ 134 ─
denen sie es zu thun hat. Nicht sowohl hervorstechende
Handlungen, als vielmehr Zustände, und zwar
Zustände ruhigen Lebens, die weder durch Leidenschaften
von innen, noch durch grelle Einwirkungen von außen
gestört werden, sind Gegenstand ihrer Schilderung. ─
Verwickelung und Künstlichkeit der Verknüpfung sind
ihrem Wesen zuwider. Die Darstellung muß höchst
einfach, ganz natürlich, von gesuchten Worten und
Wendungen frei sein. Deshalb sind auch bei metrischen
Bearbeitungen ─ häufig erscheint die Jdylle in Prosa
─ künstliche Versmaaße durchaus zu meiden.


§. 197. Die Jdylle im engern Sinne ─ das
Schäfergedicht, das seinen Stoff lediglich aus der unkultivirten
grauen Vorzeit nahm ─ ist aus der Mode
gekommen. Der Grund davon liegt zum Theil in der
Zeit, zum Theil in ihr unmittelbar selbst. „Sie ist,“
wie Gervinus sagt, „nur in solchen Ländern und
solchen Zeiten zu Hause, wo Mangel an bewegter Geschichte
ist.“ Jnwiefern sie selbst Elemente in sich trägt,
die ihre Kultur behindern, darüber spricht sich Schiller
(Ueber naive und sentimentalische Dichtung) also aus:
„Die Jdylle, vor den Anfang aller Kultur gepflanzt,
schließt mit den Nachtheilen zugleich alle Vortheile derselben
aus; sie stellt das Ziel hinter uns, zu dem sie
uns hinführen soll und kann uns daher bloß das traurige
Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der
Hoffnung einflößen. Weil sie nur durch Aufhebung
aller Kunst und nur durch Vereinfachung der menschlichen
Natur ihren Zweck ausführt, so hat sie, bei dem
höchsten Gehalt für das Herz, allzuwenig für den Geist
und ihr einförmiger Kreis ist zu schnell geendigt. Sie ─ 135 ─
kann nur dem kranken Gemüth Heilung, dem gesunden
keine Nahrung geben; sie kann nicht beleben, nur besänftigen.
Diesen in dem Wesen der Jdylle gegründeten
Mangel hat alle Kunst der Poeten nicht gut machen
können.“ Wir können die hier aufgeführten Mängel
der Jdylle, sofern Schiller unter letzterer bloß das
eigentliche Schäfergedicht verstand, nicht in Abrede
stellen, doch sind wir keineswegs geneigt, der idyllischen
Poesie überhaupt deshalb den Stab zu brechen. Welches
Gemüth, ─ das hinein geworfen ist in ein bewegtes,
arbeitreiches, ruheloses Leben, oder eingeengt durch die
Zwangsjacke der Etiquette, oder berauscht durch endlose,
lärmende Vergnügungen, ─ suchte nicht gern zu
Zeiten in der Stille des Landlebens, im Umgang mit
einfachen, den konventionellen Verschrobenheiten fernen
Menschen, im Frieden der Natur Erholung, Freiheit
und Ruhe? Wie aber die wirkliche Jdylle des Lebens,
so hat auch der poetische Spiegel derselben einen hohen
Reiz und auch für gesunde Gemüther einen unbestreitbaren
Werth. Je reiner und treuer dieser Spiegel ist,
je mehr er unserem ländlichen und bürgerlichen Leben
entspricht, je höher ist dieser Werth. Freilich Süßlichkeiten
à la Geßner müssen uns zuwider sein; aber
haben wir nicht mehr als Geßner und Consorten? Besitzen
wir nicht an solchen idyllenartigen Gedichten, die
ihren Stoff aus dem Leben der Gegenwart schöpften,
wie Göthe's Hermann und Dorothea, Voß Luise
und siebenzigster Geburtstag, Kosegarten's Jucunde,
Eberhard's Hannchen, Neufer's Tag auf dem
Lande &c. einen theuren Schatz? Hat nicht Göthe
selbst erklärt, unter allen seinen Werken sei es nur ─ 136 ─
Hermann und Dorothea, das ihm fortwährend Freude
mache? Und noch eins! Wecken nicht unsere Poeten
dadurch, daß sie uns bald ein Stück Weltschmerz zu
verschlucken, bald einen Fatzen Zerrissenes zu verdauen
geben, die Sehnsucht nach einfacher Natürlichkeit?
Deshalb wollen wir uns auch durch solche Autoritäten,
wie die obige, den wahren poetischen Genuß nicht verkümmern
lassen!


§. 198. Als Jdyllendichter haben ferner sich bekannt
gemacht: Geßner, Ew. v. Kleist, Bronner,
Miller, Hölty, Hebel, Usteri, Wyß, Karoline
Pichler, Prätzel, Fr. Kind
u. a.

VII. Die Ballade und die Romanze.

§. 199. Unter Romanze verstand man ursprünglich
ein in romanischer Sprache
*) abgefaßtes
Erzählungslied;
während Ballade
von ballare, tanzen ─ ein für musikalische Begleitung
bestimmtes, vorzüglich aber als Text
von Tanzmusik dienendes Lied
bezeichnete. Später,
als die englischen und schottischen episch=lyrischen
Volkslieder in Deutschland bekannt, übersetzt und nachgeahmt
wurden, nannte man von denselben diejenigen
Balladen,
welche einen ernstern, tragischdüsterern
Charakter
hatten, während der Name
Romanze den mehr heitern, fröhlichen galt.
Dann vindicirte der Eine der Ballade größere, der ─ 137 ─
Romanze weniger Ausführlichkeit, ─ der Andre
wollte gerade das Gegentheil. Vielen war die Romanze,
vielen die Ballade mehr lyrisch, als episch; die Meisten
endlich kümmerten sich gar nicht um die feinen Unterschiede,
sondern brauchten beide Namen als durchaus
gleichbedeutend. Hier unsere Meinung!*)


§. 200. Ballade und Romanze sind erzählende
Gedichte, bei welchen das Epische von
lyrischen Elementen durchwebt ist, oder Zweck
und Form mit der Lyrik gemein hat.
Den
Stoff können eben so wohl wirkliche, als erfundene
Begebenheiten bilden. Jn der Regel ist derselbe der
Sagen- und Mährchenwelt entnommen. Ob poetisch
bearbeitete Sagen und Mährchen sich in die Kategorie
der Romanzen oder in die der Balladen oder in keine
von beiden stellen lassen, hängt theils von ihrem Jnhalt,
theils von der Art ihrer Bearbeitung ab. ─ Die
Ballade ist mehr dem Norden (der englischen, schottischen,
schwedischen und dänischen Volkspoesie), ─ die
Romanze mehr dem Süden (den epischen Gesängen
der Spanier) verwandt. Die Ballade stellt die Begebenheit
dar als außerhalb dem Menschen liegend,
die Romanze faßt sie mehr vom Standpunkte des
idealen Sebstbewußtseins
auf. Jn der Ballade
ist das Geschichtliche überwiegend, in der Romanze
herrscht häufiger die Jdee. Die Ballade führt die
That vor und zwar verfährt sie dabei mehr oder weniger
dramatisch, d. h. die Art und Weise der ─ 138 ─
Erzählung ist durchaus vergegenwärtigend; die Romanze
dagegen legt nicht selten auch die Beweggründe,
die innere Seite des Handelns dar.
Jn der Romanze schreitet die Erzählung mehr gleichmäßig
fort, in der Ballade dagegen überspringt
sie oft mehr oder weniger Wesentliches, läßt dieses jedoch
durch Vorhergehendes oder Nachfolgendes errathen,
oder läßt Lücken, welche die Phantasie des Lesers oder
Hörers, die dadurch um so mehr aufgeregt wird, selbst
auszufüllen hat, aber auch auszufüllen im Stande sein
muß. Ueberhaupt steht der Ballade eine in etwa „mysteriöse
Behandlung“ wohl an, die jedoch nicht in
Unverständlichkeit ausarten, nicht den Effekt schwächen,
sondern ihn erhöhen muß; die Romanze dagegen ist in
der Regel von vorn herein und durch und durch klar.
Der Jnhalt der Ballade gestaltet sich meist tragisch,
düster;
wo sie nicht durch eine Beimischung des Wunderbaren,
Dämonischen, Unheimlichen das Gemüth bewältigt,
da ergreift sie es durch das Großartige, Eigenthümliche,
das in der Begebenheit selbst liegt. Die
Romanze dagegen hat zwar nicht immer den Charakter
der Freude, aber immer den der Ruhe; selbst bei
sehr traurigem Jnhalt durchweht sie immer der Hauch
versöhnender, tröstender Milde. Die Ballade entspricht
mehr dem mythischen, die Romanze mehr dem romantischen
Kreise.


§. 201. Die große Verwandtschaft, in welcher ─
trotz der aufgeführten charakteristischen Unterschiede ─
die Ballade und die Romanze zu einander stehen, hat
auch eine Aehnlichkeit in der Form zur Folge.
Beide haben musikalischen Charakter, beide müssen ─ 139 ─
für musikalische Begleitung geeignet sein. Deshalb können
nur solche Verse gewählt werden, die eine musikalische
Behandlung zulassen; Hexameter, antike Odenversmaaße
u. dgl. würden ganz unpassend sein. Auch
ist regelmäßiger Vers- und Strophenbau ein nothwendiges
Erforderniß, jedoch bei der Romanze noch mehr,
als bei der Ballade. Ueberhaupt hat der Dichter alle
Mittel anzuwenden, durch welche der musikalische Charakter
gewinnt. Namentlich wird er sich immer mit
Nutzen des Reims bedienen.


Wie das Verwandtschaftliche eine Uebereinstimmung,
so bedingt das Abweichende in dem Wesen der Ballade
und Romanze auch eine Verschiedenheit in Darstellung
und Form. Für die Ballade eignen sich mehr
die jambischen und die jambisch=anapästischen
Verse (besonders die vierfüßigen und eine Abwechselung
von vierfüßigen und dreifüßigen) so wie der
Nibelungenvers; der Romanze dagegen sind trochäische
(vorzüglich vierfüßige trochäische) Verse angemessener.
Die Ballade liebt vorzugsweise den männlichen,
die Romanze mehr den weiblichen Reim. Die
Ballade, so sehr sie im Tone schwulstlos und volksthümlich
zu halten ist, erfordert einen größern Aufwand
äußerer Mittel; in ihr finden sich daher häufig neben
dem Endreim Annomination, Alliteration, Binnenreime
&c. angewendet; während die Romanze ─ trotz
ihrer gewählteren Sprache ─ meist in der schmuckloseren
Regelmäßigkeit des Liedes erscheint, zuweilen auch
wohl statt des Reims sich der bloßen Assonanz bedient.


§. 202. Unter den noch jetzt vorhandenen Volksliedern,
die seit Jahrhunderten im Munde des deutschen ─ 140 ─
Volkes lebten, giebt es nicht ganz wenige, welche, abgesehen
von den Mängeln der Form, als gute Balladen,
häufiger freilich nur als Bruchstücke und Ueberbleibsel
von solchen, gelten können. Wenn wir an
Reliquien dieser Art weniger reich sind, als die Schotten,
Britten, Schweden, Dänen &c., so rührt das wohl
ohne Zweifel nur daher, weil in den letzten Jahrhunderten
vor dem unsrigen leider in Deutschland eine
große Gleichgültigkeit gegen überlieferte Volkspoesie
herrschend war, wobei natürlich mancher köstlicher Schatz
verloren ging. Um so mehr haben wir das Werthvolle
dieser Art, was uns blieb, hoch zu achten, und es kann
unseren begabtesten Kunstdichtern bei der Balladendichtung
als Fingerzeig, in mancher Hinsicht als Muster
dienen. (Auch die Unregelmäßigkeiten der Form nachzuahmen,
würde freilich Thorheit sein.) ─ Jn der deutschen
Kunstpoesie wurde das Feld der Ballade und Romanze
zuerst durch Bürger mit Erfolg angebaut;
seine „Lenore“ wird stets bewundert bleiben, wenn ihr
auch etwas mehr Gedrängtheit zu wünschen wäre. An
ihn schlossen sich andere Mitglieder des Göttinger Hainbundes
an. Herder erwarb sich namentlich durch Bearbeitung
spanischer Romanzen (des Cid!) und balladenartiger
nordischer Volkslieder (wir erinnern nur an
„Edward“) große Verdienste um die weitere Pflege derselben.
Durch Göthe, zum Theil auch durch Schiller,
und später durch Uhland, wurde das Ausgezeichnetste
geleistet, was wir in dieser Gattung besitzen. Die Mehrzahl
der Schiller'schen „Balladen“ jedoch stellen wir
als Gedichte überhaupt zwar eben so hoch, wie die
Göthe'schen &c., finden sie aber zu sehr ausgemalt ─ 141 ─
und zu wenig einfach, als daß wir sie als Muster
wirklicher Balladen gelten lassen könnten; doch
ist sein „Toggenburg“ (von ihm auch Ballade genannt)
vielleicht die schönste Romanze Deutschlands.
Jn Göthe's „Fischer,“ „Erlkönig“ &c. und in Uhland's
„der Wirthin Töchterlein,“ „Roland Schildträger“
&c. ist die glücklichste Nachahmung und Ausbildung
der ächtesten Balladen-Volkspoesie nicht zu verkennen.
─ Auch A. W. Schlegel, Fr. Schlegel, Th. Körner,
Rückert, Platen, Schwab,
J. Kerner, Chamisso,
Zedlitz, Anast. Grün, Lenau, Mosen,
Freiligrath, Vogl, Ebert, Seidl, Kopisch,
Wolfg. Müller, Adelheid von Stolterfoth
&c.
haben Anerkennungswerthes geliefert.

VIII. Das Epos.

§. 203. Jn den bisher behandelten epischen Dichtungsarten
hatten wir es nur mit einzelnen, wenn
auch nicht ganz isolirten, doch mehr oder weniger in
sich abgeschlossenen
Begebenheiten zu thun. Bei
dem Epos ist das anders. Das Epos stellt in einer
Reihe
in sich verknüpfter und zu einem
Ganzen verbundener Begebenheiten von
großer Wichtigkeit oder besonderem Jnteresse
den Kampf menschlichen Willens und menschlicher
Kräfte mit den feindlichen Elementen
des Lebens (dem Schicksal) dar.


§. 204. Unter den, als vergangen aufgefaßten,
Handlungen, die den Stoff des Epos bilden, tritt
eine als die leitende, als Haupthandlung hervor;
an diese schließen sich die andern als Episoden, [] ─ 142 ─
als Zwischen= oder Nebenhandlungen an. Jn
welchem Verhältniß diese Episoden zur Haupthandlung
stehen müssen, haben wir im Allgemeinen bereits oben
§. 173 angedeutet. Entweder werden sie die Haupthandlung
näher erklären, oder auf den Verlauf derselben
hemmend oder fördernd einwirken ─ ein selbstständiges,
von der Haupthandlung unabhängiges Jnteresse
kann ihnen nicht eingeräumt werden, denn das würde
die Einheit der Handlung, die mehr oder weniger
auch das Epos fordert, vernichten.


Diese Einheit der Handlung wird in der
Regel dadurch vermittelt, daß unter den Personen, an
welche die einzelnen Handlungen geknüpft sind, eine
als Träger und Lenker der Haupthandlung dasteht.
Diese Person heißt der Held des Stückes. Um
den Helden koncentrirt sich dann das Ganze; an sein
Geschick ist das der übrigen Personen geknüpft und
diese haben zu ihm dasselbe Verhältniß, was die Nebenhandlungen
zur Haupthandlung haben. Wie sich auf
ihn das Ganze bezieht, so ist er wiederum an das
Ganze gebunden; es sollen in ihm nicht sowohl einzelne,
individuale Handlungen oder Leidenschaften hervortreten,
sondern er soll vielmehr als Träger und
Vertreter allgemeiner Bestrebungen
erscheinen.
Doch muß sich aus seinen Handlungen und seinen
Reden ein klares Bild des Charakters ergeben. Der
Held ist der Vorkämpfer gegen die Hemmnisse und
widerstrebenden Elemente ─ das Schicksal ─ und selbst
wenn er nicht siegend aus dem Kampfe hervorgeht,
muß er immer als moralisch groß, eben als Held dastehen.
─ Die übrigen Personen, sei ihre Stellung [] ─ 143 ─
zum Ganzen noch so unbedeutend, dürfen nie überflüssig,
noch weniger störend erscheinen. Aus der Art
ihrer Handlungsweise muß sich der Leser ebenfalls ein
bestimmtes Gemälde ihres Charakters entwerfen können
und in diesem Charakter müssen zugleich ─ wie
natürlich auch in dem des Helden ─ die Motive der
Handlungen vollständig begründet sein. ─ Uebrigens ist
es nach unserem Bedünken auch nicht fehlerhaft, wenn der
Hauptpersonen, von ziemlich gleicher Wichtigkeit, in
einem Epos mehrere sind; nur ist es dann ─ der
erforderlichen Einheit des Ganzen wegen ─ um so
unerläßlicher, daß Alle in engem Bezug zur großen
Hauptbegebenheit (Katastrophe) stehen, indem sie theils
dieselbe beschleunigen, theils sie (vergeblich) zu verhindern
suchen; ─ gleich das erste und noch unerreichte
Muster im Fache des Epos, die Jlias des Homer, ist
dieser Art.


§. 205. Was die Behandlung des Stoffs angeht,
so liegt es im Wesen und in der Bestimmung
des Epos, daß es dabei nicht sowohl (wie beim Roman)
auf verstandesmäßige, historische Verknüpfung, sondern
hauptsächlich auf lebendige Veranschaulichung
ankommt. Das Epos geht in die Breite, die einzelnen
Züge seines Gesammtbildes brauchen nicht in ununterbrochener
Reihe neben einander, sondern können zerstreut
liegen; nur müssen sie sich zu einer Anschauung
vereinigen lassen. Das Epos kann darum auch nicht
einseitig auf eine Empfindung wirken; es ergreift die
Gesammtheit unserer Kräfte und gestattet weder lyrische
Erreglichkeit, noch überhaupt Aufregung der Leidenschaften.
„Wir empfangen die Eindrücke der Dichtung [] ─ 144 ─
in einem freien Gemüthe“ und es ist mehr Jnteresse,
als eigentliche Theilnahme, was wir dem Epos
widmen. Und selbst das Jnteresse ─ sei es nun nach
der Eigenthümlichkeit des Stoffs ein allgemeinmenschliches
oder ein religiöses oder ein nationales
─ wird durch den Begriff des Vergangenen,
der das Fundament des Epos bildet, sehr gemildert
und weniger lebhaft.


§. 206. Jn dem Wesen des Epos liegt denn auch
die Nothwendigkeit der metrischen Formen begründet.
Bestimmte Vorschriften existiren über die Art derselben
nicht, doch hat man sich vorzugsweise des
Hexameters, des Nibelungenverses, der Stanze, des
Alexandriners bedient. Auch fünffüßige Jamben und
fünffüßige Trochäen, entweder in irgend einer Weise
gereimt, oder, was in vielen Fällen noch geeigneter sein
dürfte, ohne Reim, können füglich die Form eines
Epos bilden.


§. 207. Je nach der Verschiedenheit des Stoffs
theilt man das Epos verschieden ein. a. Bildet eine
außerordentliche, dem heroischen Mythen= und
Sagenkreise oder eine der Geschichte angehörende
Begebenheit
den Stoff, so heißt das Epos
Epopöe oder ernstes Heldengedicht. Das Großartige
der Begebenheit bringt es mit sich, daß die
Epopöe durchweg den Charakter des Erhabenen
trägt. Sofern sich die Epopöe in der Behandlung
und Form (Hexameter) den antiken Epopöen der Griechen
und Römer anschließt, nennt man sie wohl auch
klassisches Epos. Neben den menschlichen Personen
treten im ernsten Heldengedicht auch wohl noch [] ─ 145 ─
Göttergestalten auf. Jnsofern dieselben im Glauben
der Zeit und des Landes, da das Epos spielt, gleichsam
leben, läßt sich wenig dagegen einwenden; die
Phantasie des Lesers muß sich dann dahin versetzen.
Jn jedem andern Fall aber, und besonders bei mehr
modernen und vaterländischen Stoffen, können wir diese
Art des Wunderbaren durchaus nicht billigen; denn
da dieselbe sich weder auf unsern Glauben, noch auf
deutschen Aberglauben stützt, so hat sie keinen Halt bei
uns und erregt kein Jnteresse mehr. Christliche Engel,
die Jungfrau Maria und auch wohl Christus selbst
auftreten zu lassen, ist bei entsprechendem Stoff schon
eher zu rechtfertigen, obgleich auch dies noch keineswegs
für uns so natürlich sein dürfte, wie den alten griechischen
und römischen Dichtern das Vorführen ihrer
Volksgötter. Bloße Begriffe zu personificiren, um dadurch
die Göttermaschinerien der Alten zu ersetzen (wie
man mehrfach versucht hat), ist noch viel weniger anzurathen;
es läßt uns kalt. Lieber ganz im Bereiche
des Natürlichen geblieben!


§. 208. b. Wenn das Epos seinen Stoff den
Heldensagen
oder der Geschichte des Mittelalters,
der sogenannten romantischen Zeit entnimmt,
so nennt man es wohl romantisches Epos.
Die hervorstechende Eigenthümlichkeit des romantischen
Epos bildet das Wunderbare, was hier in der Gestalt
von Elfen, Feen, Zauberern und andern Gebilden
des mittelalterlichen Volksglaubens als Maschinerie
auftritt.


§. 209. c. Jst endlich das gewöhnliche Leben,
sind namentlich die einfachen, idyllischen Kreise [] ─ 146 ─
desselben (siehe §. 196!) Gegenstand des Epos, so nennt
man es idyllisches Epos. Das idyllische Epos erscheint
immer als eine Jdylle in größerem Maaßstabe.
Es verträgt weder eine Beimischung des Wunderbaren,
noch große Verwickelungen. Mehrere der Dichtungen,
welche wir in §. 197 als lobenswerthe Jdyllen
namhaft machten, gehören mit gleichem Recht auch
hieher.


§. 210. Wesentlicher, als die obige Eintheilung
des Epos, ist die Unterscheidung in das ernste und in
das komische. Das komische Epos ist immer nur als
Parodie des ernsten anzusehen. Es soll das Gefühl
des Lächerlichen erregen und erreicht seinen Zweck durch
die Charakterzeichnung des Helden, durch die Verhältnisse,
welche es vorführt, oder auch durch die Darstellung.
Statt der menschlichen Personen treten in mehreren
der besten unserer komischen Heldengedichte sprechende
Thiere auf, wie in der Fabel.


§. 211. Das Epos ist bei uns schon frühe gepflegt
worden, in der neuern Zeit jedoch weniger, als
in der ältern. Die vorzüglichsten Werke der Art sind:


I. ernste. a. die älteren: 1) Herzog Ernst und
die Aeneide von Heinrich von Veldeck, 2) Jwein
von Hartmann von der Aue, 3) Tristan und
Jsolde von Gottfr. von Straßburg, 4) Parzival
von Wolfram von Eschenbach, 5) das Nibelungenlied,
6) Gudrun, 7) Teuerdank; b. die neuern:
1) der Messias von Klopstock, 2) der Oberon
von Wieland, 3) Donatoa von Sonnenberg,
4) Richard Löwenherz von F. A. Müller, 5) die
Makkabäer, die Rudolphiade und die Tunisias von [] ─ 147 ─
Pyrker, 6) Cäcilie und die bezauberte Rose von
E. Schulze, 7) Jmmermann's Bearbeitung von
Tristan und Jsolde, 8) Wittich Wieland's Sohn von
K. Simrock.


II. komische. a. ältere: 1) Reinecke Fuchs, 2) der
Frosch-Mäuseler; b. neuere: 1) der Renommist, das
Schnupftuch und Phaeton von Zachariä, 2) die travestirte
Aeneis von Blumauer, 3) die Jobsiade von
Kortüm, 4) die Bearbeitung des Reinecke Fuchs von
Göthe, 5) die Töffeliade, 6) die Hanswurstiade,
7) die bedreute und wunderbar befreite Bibel &c.

IX. Der Roman und die Novelle.

§. 212. Der Roman giebt uns ein (mehr
oder weniger ideal aufgefaßtes) Bild des geselligen
Lebens in seiner Allseitigkeit und Gesammtheit
oder in gewissen Beziehungen
und Verhältnissen, indem er, unter dem Gewande
historischer Wahrheit, in gewählter
Sprache den Entwickelungsgang und die
Schicksale eines einzelnen, bedeutenden Menschen
erzählt.
Er beschränkt sich nicht, wie die poetische
Erzählung (von der er sich außerdem durch größere
Verwickelung der Begebenheiten unterscheidet),
auf ein einzelnes Lebensmoment, sondern trägt,
wie das Epos, mehr den Charakter eines ganzen
Lebens.
Vom Epos aber unterscheidet er sich wesentlich
in Folgendem: 1) während das Epos immer einen
allgemeinern, objektiveren Charakter trägt,
gestaltet sich im Roman Alles mehr subjektiv;
2) bei dem Epos kommt es mehr auf lebendige [] ─ 148 ─
Veranschaulichung, in dem Romane dagegen
mehr auf verstandesmäßige, historische Verknüpfung
der Begebenheiten an; 3) das Epos
muß in metrischer,
der Roman kann nur in
prosaischer Form
erscheinen. *)


§. 213. Man hat die Romane in Rücksicht des
Stoffs verschiedentlich eingetheilt und benannt, und
zwar hat man dabei entweder die besondere Eigenthümlichkeit,
oder die Auffassung und Darstellung
des Stoffes oder endlich die Lebenskreise,
denen derselbe entnommen ist, ins Auge gefaßt.


§. 214. Jn Betreff der Beschaffenheit des
Stoffes sind zunächst zwei Hauptarten zu unterscheiden,
die jedoch unter mancherlei Schattirungen häufig in
einander übergehen. Der Stoff des Romans ist entweder
rein faktisch, er beschränkt sich auf Darstellung
der Begebenheiten, oder er ist mit, zu
besondern Zwecken dienenden Raisonnements durchflochten:
er hat eine Tendenz. Die sich auf das Faktische
beschränkenden Romane ruhen entweder auf geschichtlichem
Grunde, sie sind historisch, oder ihr
ganzer Jnhalt ist fingirt. Der historische Roman, wie
er sich nach Walter Scott's Vorgange auch in
Deutschland ausgebildet hat, verdient unstreitig vor
dem, dem Stoffe nach rein erfundenen, gemeiniglich
nur der Unterhaltung dienenden Romane in mehrfacher
Hinsicht den Vorzug; daß er aber, wie man wohl meint, ─ 149 ─
das ernste Studium wirklicher Geschichte fördere, möchten
wir bezweifeln. *)


Jn den Tendenz-Romanen (die man wohl
auch unter dem Namen philosophische Romane
zusammenfaßt) tritt entweder das Faktische mehr
oder weniger zurück und macht der Entwickelung ─ 150 ─
zusammenhängender Ansichten über Gegenstände
der Moral, Wissenschaft oder Kunst Platz;
oder das Faktische ist solchermaaßen erfunden und geordnet,
daß es in seinem Gesammt-Eindruck eine Jdee
veranschaulicht, eine große Lehre bestätigt oder eine
falsche Zeitansicht bekämpft. Gerade im Tendenz=
Roman findet der Dichter die beste Gelegenheit, sich
auszusprechen, ─ die Resultate seines Nachdenkens einem
zahlreichen Leserkreise mitzutheilen. Und in der
That haben manche unserer ersten Geister in ihren
Romanen Schätze niedergelegt, welche unsere ganze
Beachtung verdienen. Nach der Eigenthümlichkeit der
darin berührten Gegenstände unterscheidet man moralische,
ascetische, ästhetische, pädagogische,
theologische
und (im engern Sinne) philosophische
Romane.


§. 215. Abgesehen von der Beschaffenheit des
Stoffs, aber mit Rücksicht auf die Art der Auffassung
und Darstellung desselben, unterscheidet man
ernste, tragische, sentimentale, humoristische,
komische, satyrische
Romane.


Nach den Lebenskreisen, in denen sich die
Handlung des Romans bewegt, giebt es Ritter=,
Räuber=, Schäfer=, Künstler=
Romane u. s. w.


§. 216. Jn Bezug auf die Darstellung hat
der Romandichter besonders Folgendes zu beachten:
Er muß das Jnteresse des Lesers fesseln und spannen
durch steigernde Verwickelung der Begebenheiten;
doch muß diese Verwickelung, wie der ganze
Verlauf, immer den Schein historischer Wahrheit an
sich tragen und eine naturgemäße, befriedigende Lösung ─ 151 ─
finden. Ferner hat der Dichter seine Aufmerksamkeit
auf bestimmte Zeichnung und Haltung der
Charaktere und auf eine lebendige, blühende,
die Phantasie anregende und beschäftigende
Sprache
zu richten.


Wie schon oben erwähnt, muß die Form des Romans
immer die Prosa sein, doch bleibt es dem Dichter
überlassen, ob er seinen Gegenstand erzählend,
dialogisch
oder epistolarisch behandeln will. Ersteres
ist das Gewöhnlichste, das dem epischen Charakter
Entsprechendste; durch die dialogische Form nähert sich
der Roman dem Drama, durch die epistolarische gewissermaaßen
der Lyrik. ─ Auch die Einstreuung von
Gedichten bleibt, wenn sie nur naturgemäß zum Ganzen
paßt, unverwehrt.


§. 217. Die Novelle verhält sich zum Roman,
wie die poetische Erzählung zum Epos. Sie beschränkt
sich mehr auf eine einzelne Begebenheit von poetischem
Jnteresse und führt den Leser gleich mitten
in die Verhältnisse hinein.
Die Handlung schreitet
in ihr weit rascher vorwärts, als im Roman, weshalb
ihr auch eine mehr aphoristische Darstellung
eigenthümlich ist. Das Alles verschafft ihr, abgesehen
von der Begebenheit selbst, die allerdings auch an sich
interessant sein muß, einen eigenthümlichen Reiz: sie
versetzt den Leser in eine angenehme Spannung und
Aufregung und befriedigt dieselbe dann in überraschender
Weise. Was den Stoff und die Darstellung angeht,
so gilt das bei dem Roman in dieser Beziehung
Gesagte auch für sie; selbst die Eintheilungen und Benennungen
desselben hat man auf sie übertragen. ─ [] ─ 152 ─
Novellen von geringem Umfange nennt man Novelletten.



§. 218. Erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts
hat die deutsche Literatur eigentliche Romane,
aber schon jetzt ist die Masse derselben eine unabsehbare,
und ihre Zahl mehr denn Legion. *) Der Roman ist,
wie keine andere Dichtungsart, ins Volk gedrungen;
wie er im Allgemeinen gewirkt, das läßt die
Verordnung der Behörde ahnen, die die Leihbibliotheken
nur seinetwillen unter polizeiliche Controlle stellt.
Wir wollen nicht das Kind mit dem Bade ausschütten
und dem guten Roman seinen Werth und seine heilsame
Wirkung absprechen, aber wir verhüllen unser
Antlitz vor dem maaßlosen Verderben, das uns der
belletristische Schund, das uns die schlechten
Romane
gebracht. Es ist das Geringste, daß dem
Volke der Geschmack an wahrer Poesie damit verdorben;
es ist noch nicht das Aergste, daß von Tausenden
Zeit, Geld und Beruf der „Lektüre“ geopfert wird ─ ─ 153 ─
wie ein vergiften der Pesthauch hat der Geist
à la Clauren auf die Sittlichkeit gewirkt. Und
das ist das Beklagenswertheste! Das ist ein Umstand,
über den auch wir nicht hinweggehen konnten. Mit
Feuer und Schwert sollte man diesen Krebsschaden
unserer Literatur vertilgen. Besonders aber sollte man
der Uebersetzungswuth entgegen arbeiten, die den
Schund des Auslandes auch in das Vaterland verpflanzt
und mit leichtfertiger Hand den Saamen ausländischer
Lüderlichkeit und Frivolität ausstreut. Denn
irren wir nicht, so stehen wir, was unsere Originalromane
betrifft, jetzt in einer bessern Periode: selbst
die „Talente“ schämen sich, unsittliches Zeug zu
Tage zu fördern, und nur einzelne verkommene und
verdorbene lumpige Lohnknechte elender Bücherfabriken
geben sich noch dazu her, so „schmutzige Waare“ zu
fabriciren. ─ Doch kommen wir nun zur Anführung
unserer besten Roman- und Novellenschriftsteller! *)
Es sind: Wieland, Musäus, Göthe, Klinger,
Engel, Miller, Hippel, Thümmel, Jean Paul,

E. Wagner, Laun, Heinse, Jacobi, Benzel=
Sternau, Jung-Stilling, Lafontaine, Schilling,
Zschokke, Veit Weber, Feßler, Hoffmann,
Novalis, Tieck, Fouqué, Arnim, Franz Horn,
Houwald, van der Velde, Spindler, Steffens,

v. Rehfuß, Posgaru, Rumohr, W. Hauff,
Tromlitz, Blumenhagen, Eichendorf, Jmmermann,

der Verfasser des Legitimen, der transatlantischen ─ 154 ─
Skizzen &c., Th. Mundt, Mosen, L. Bechstein,
Gutzkow, Schefer, Th. Mügge,
H. König, Will.
Alexis, Ed. Duller, Kühne, Willkomm, Sternberg

&c.; Benedicte Naubert, Caroline Pichler,
Henriette Hanke, Friederieke Lohmann,
Johanna Schopenhauer,
Frau von Paalzow,
Gräfin Hahn-Hahn, Luise Mühlbach &c.


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[E155]

Dritter Abschnitt.

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Dramatische Poesie.


§. 219. Die Dichtkunst hat ihren Höhenpunkt in
der dramatischen Poesie. „Das Drama vereint,
wie es sich chronologisch auf dem Gipfel aller Dichtung,
nur in einer Zeit künstlerischen Bewußtseins ausbildet,
auch alle Dichtungsarten in sich.“ Die dramatische
Poesie hat ihren Namen von dem griechischen Worte
Drama, mit welchem man sowohl eine Handlung
an sich,
als auch die Vorstellung derselben bezeichnet.
Jn dieser Benennung schon ist das Wesen und
die Bedeutung des Dramas (im weitern Sinne) ausgesprochen.
„Handlung ist der Welt allmächtiger Puls“
─ und das Drama hat die Aufgabe, in ästhetischer
Vollendung Ereignisse als gegenwärtig,
mit
einem Worte Handlungen vorzustellen. Es schildert
nicht,
wie die lyrischen, es erzählt nicht,
wie die epischen Dichtungen ─ es stellt dar. Der
dramatische Dichter läßt das Ereigniß, welches er
vorführen will, sich vollständig vor unsern Augen
entwickeln
und die dabei betheiligten
Personen selbstständig wirken.
Deshalb tritt [] ─ 156 ─
im Drama die Person des Dichters ganz und gar
zurück. *)


§. 220. Der Stoff (die Fabel) des Dramas ist
entweder reine Erfindung des Dichters, oder er ist der
Sagen- und Mährchenwelt, oder endlich der Geschichte
entlehnt. Jn Rücksicht desselben ─ sei er nun fingirt
oder entlehnt ─ ist an den Dichter die Forderung zu
machen, daß er ihn mit ästhetischer Wahrheit
behandele, dem ganzen Verlauf der Handlung Natürlichkeit
verleihe. Wie weit er sich bei den entlehnten,
namentlich den geschichtlichen Stoffen der Treue zu
befleißigen habe, das bleibt seinem Ermessen überlassen,
doch möchte das, was wir §. 214 Anmerkung erwähnt
haben, auch hier Beachtung verdienen.


§. 221. Nur eine Haupthandlung darf den Stoff
des Dramas bilden, und diese muß sich, wie schon gesagt,
vollständig vor dem Zuschauer oder Leser entwickeln,
d. h. sie muß bei einem Punkte beginnen, von
welchem aus sich der naturgemäße Zusammenhang der
Begebenheiten nach Ursache und Wirkung erklären und
überschauen läßt, und sie kann erst da, muß aber auch
da enden, wo eine befriedigende Lösung der Katastrophe,
auf die Alles hinarbeitet, statt gefunden hat. Die Einheit
der Handlung
wird dadurch vermittelt, daß
eine Person als Hauptperson, als Held herausgestellt
wird. Der Held ist der Träger, wenn auch
nicht immer der Leiter und Lenker der ganzen Handlung,
er bildet den Mittelpunkt derselben, um seine ─ 157 ─
Person koncentrirt sich auch das ganze Jnteresse.
Deshalb hat der Dichter auf seine Darstellung
besondern Fleiß zu verwenden, und dafür zu sorgen,
daß er in der Art, wie er ihn auftreten, indem,
was er ihn thun und leiden und sprechen läßt,
dem Zuschauer (oder Leser) ein vollständig klares und
bestimmtes Charakterbild vor die Seele führe.


Der Held wird dargestellt als im Conflikte mit
dem, seinen Plänen und seinem Thun widerstrebenden
Einflusse höherer Gewalten oder mit den Wirren
und Hemmnissen des Lebens
oder endlich mit
seinen eignen Leidenschaften. Der Kampf gegen
diese widerstrebenden Elemente bildet die Verwickelung
der Handlung, die Schürzung des dramatischen
Knotens.
Die Verwickelung sowohl, als
die Entwickelung und die Lösung des dramatischen
Knotens, die Katastrophe, muß ─ da das Drama
ein Bild des Lebens ist ─ durchaus natürlich und
ungezwungen sein. Die Motive der Entwickelung und
der Katastrophe müssen sich im Drama selbst finden
und dürfen weder vor dasselbe, noch außerhalb desselben
gesetzt werden.


Jn den meisten Fällen werden diese Motive sich
an die Personen knüpfen. Der Dichter muß darum
darauf achten, daß alle Personen nach ihrem Charakter
bestimmt
und klar heraustreten und ihre
Handlungsweise sich psychologisch daraus erklären
läßt. Dann aber ist nöthig, daß sie mitwirken, daß
ihre Handlungen wesentlich zur Vollendung des Ganzen
beitragen, mögen sie nun in unmittelbarer Beziehung
zur Haupthandlung stehen oder Episoden [] ─ 158 ─
derselben bilden. Keine Person bis zum letzten Statisten
herab darf als überflüssig erscheinen.


§. 222. Da die Handlung des Dramas immer
den Schein der Wirklichkeit tragen soll, so haben
viele Theoretiker die Forderung gemacht, den scheinbaren
Verlauf derselben nicht nur an einem Tage,
sondern auch an einem Orte vor sich gehen zu lassen,
mit andern Worten: die Einheit der Handlung
mit der Einheit der Zeit und des Orts zu
verbinden.
Diese Forderung ermangelt jedoch jedes
haltbaren Grundes. Denn wollte man den Begriff der
Natürlichkeit (der allerdings eine wesentliche Eigenschaft
des Dramas bildet) so buchstäblich fassen und
ihn dann konsequent auf alle Zweige der Darstellung
ausdehnen, „so würde man dadurch alle poetische Form
unmöglich machen, denn wir wissen wohl, daß die
mythologischen und historischen Personen nicht unsere
Sprache geredet, daß der leidenschaftliche Schmerz sich
nicht in Versen ausgedrückt“ u. s. w. „Unsere Einbildungskraft
geht aber leicht über die Zeiten hinweg, die
vorausgesetzt und angedeutet, aber weggelassen werden,
weil nichts Bedeutendes darin vorgeht; sie hält sich
einzig an die vorgestellten, entscheidenden Augenblicke,
durch deren Zusammendrängung der Dichter „den trägen
Gang der Stunden und Tage beflügelt.“ Und eben
so leicht vermag sie sich von einem Ort an einen andern
zu versetzen, besonders wenn ihr noch die Scenerie
und die Eintheilung in Akte zu Hülfe kommt.
Selbst die Griechen, auf deren Vorbild man sich hierbei
beruft, haben nur eine scheinbare Stätigkeit
der Zeit
beobachtet und sich erlaubt, während der [] ─ 159 ─
Chorgesänge weit mehr vorgehen zu lassen, als nach
ihrer wirklichen Dauer vorgehen könnte. Seit Shakespeare
zu der ihm gebührenden Anerkennung gekommen
ist, haben sich übrigens die Dichter nicht mehr
um diese Forderung gekümmert (nur die sogenannte
klassische Schule der Franzosen hält sie noch fest). Man
beobachtet vorzugsweise die Einheit der Handlung, und
wo Sprünge der Zeit oder dem Orte nach stattfinden,
sucht man sie durch die Eintheilung oder die Scenerie
des Dramas zu vermitteln. Dagegen wird der
Dichter immer die Sprache der Zeit, in der die
Handlung spielt, möglichst analog gestalten müssen,
wie auch bei der theatralischen Darstellung die Garderobe
der Darstellenden, die Scenerie &c. immer der
Zeit und dem Orte der Fabel entsprechen muß.


§. 223. „Da schon in der dramatischen Form die
Voraussetzung der sichtbaren Darstellung und der Anspruch
darauf liegt, so kann ein dramatisches Werk
immer aus einem doppelten Gesichtspunkte betrachtet
werden, inwiefern es poetisch und inwiefern es theatralisch
ist. Eins kann sehr wohl vom andern getrennt
sein.“ Ein Drama kann poetisch sein, es kann auf den
Leser einen ganz vortrefflichen Eindruck machen, *)
während es den Zuschauer kalt läßt. Wiederum kann
ein anderes Drama auf der Bühne Effekt machen, es
kann großen theatralischen Werth haben, während sein
poetischer Gehalt ein sehr geringer ist. Die besten Dramen
werden die sein, die theatralische Wirkung mit ─ 160 ─
poetischem Gehalt vereinigen. Soll das Drama theatralisch
wirken, so muß es die Aufmerksamkeit spannen,
die Theilnahme erregen. „Der dramatische Dichter muß
den Zuschauer gleich anfangs durch starke Eindrücke
aus sich heraus versetzen, seiner Aufmerksamkeit gleichsam
körperlich gebieten. Da er auf die Menge zu wirken
hat, so muß er Alles, was das gewöhnliche Maaß
von Geduld und von Fassungskraft übersteigt, sorgfältig
vermeiden.“ Daß er dabei die allgemeine Bildung
der Nation und den vorhandenen Grad der Kunstbildung
berücksichtige, versteht sich von selbst. Er muß den
Zuschauer zu sich empor heben, wenn er sich auch scheinbar
zu ihm herabläßt. Er muß ihn mit fortreißen und
dazu besonders „die Wirkung der Gegensätze benutzen,
wodurch es möglich wird, ruhige Stille, in sich gekehrte
Betrachtung, ja die nachlässige Hingegebenheit der Erschöpfung,
eben so auffallend hervorzuheben, als in andern
Fällen die gewaltsamste Bewegung, den heftigsten
Sturm der Leidenschaften.“ (A. W. Schlegel.)


§. 224. Vorzugsweise in der theatralischen
Wirkung beruht die hohe Bedeutung,
die das Drama für das öffentliche Leben, für
den Staat, für die Nationalbildung hat.
Man
braucht sich nur zu erinnern, wie sich hier und dort
an die Aufführung von einzelnen Dramen geschichtliche
Ereignisse von sehr ernstem Charakter knüpften, *) wie
bis auf den heutigen Tag in mehreren Ländern gewisse
dramatische Dichtungen nicht auf die Bühne gebracht ─ 161 ─
werden dürfen, obgleich dieselben bühnengemäß sind und
das Lesen derselben dabei Niemand verwehrt wird, ─
um die Wichtigkeit, die Macht, die das Drama auf
die geselligen und staatsbürgerlichen Verhältnisse ausüben
kann, zu ahnen. Hören wir darüber A. W.
Schlegel: „Jm gewöhnlichen Umgange zeigen die
Menschen nur ihre Außenseite. Mißtrauen oder Gleichgültigkeit
halten sie davon zurück, andere in ihr Jnneres
schauen zu lassen, und von dem, was unserem
Herzen am nächsten liegt, mit einiger Rührung und
Erschütterung zu sprechen, würde dem Ton der feinen
Gesellschaft nicht angemessen sein. Der dramatische
Dichter findet das Mittel, diese Schranken konventioneller,
durch die Sitte vorgeschriebener Zurückhaltung
einzureißen. Jndem er seine Zuhörer in so lebhafte Gemüthsbewegung
versetzt, daß die äußeren Zeichen davon
unwillkührlich hervorbrechen, nimmt jeder an den Uebrigen
die gleiche Rührung wahr, und so werden Menschen,
die sich bisher fremd waren, plötzlich auf einen
Augenblick zu Vertrauten. Die Thränen, welche der
Schauspieler sie für einen verleumdeten Unschuldigen,
für einen in den Tod gehenden Helden zu vergießen
nöthigt, befreunden, verbrüdern sie alle. Es ist unglaublich,
welche verstärkende Kraft die sichtbare Gemeinschaft
Vieler für ein inniges Gefühl hat, das sich sonst
gewöhnlich in die Einsamkeit zurück zieht, oder nur in
freundschaftlicher Zutraulichkeit offenbart. Der Glaube
an dessen Gültigkeit wird durch seine Verbreitung unerschütterlich,
wir fühlen uns stark unter so vielen Mitgenossen
und alle Gemüther fließen in einen großen
Strom zusammen. Eben deswegen ist aber das Vorrecht, ─ 162 ─
auf die versammelte Menge wirken zu dürfen, einem
sehr gefährlichen Mißbrauche ausgesetzt. Wie man sie
für das Edelste und Beste uneigennützig begeistern kann,
so läßt sie sich auch auf der andern Seite in sophistischen
Truggeweben verstricken, und von dem Schimmer
falscher Seelengröße blenden, deren ehrgeizige Verbrechen
als Tugend, ja als Aufopferung geschildert
werden. Unter den gefälligen Einkleidungen der Poesie
schleicht sich die Verführung unmerklich in die Ohren
und Herzen ein. Vor allem hat sich der komische Dichter
zu hüten, da er vermöge seiner Aufgabe immer an
dieser Klippe hinstreift, daß er nicht dem Gemeinen
und Niedrigen in der menschlichen Natur Luft mache,
sich zuversichtlich zu äußern: ist durch den Anblick der
Gemeinschaft auch in solchen unedlen Neigungen die
Schaam einmal überwunden, welche sie gewöhnlich in
die Gränzen der Anständigkeit zurück drängt, so bricht
das Wohlgefallen am Schlechten bald mit zügelloser
Frechheit los.


Diese demagogische Kraft im Guten und Bösen
hat billig von jeher die Aufmerksamkeit der Gesetzgeber
auf das Schauspiel gerichtet. Die Aufgabe dabei ist,
die zum Gedeihen schöner Kunst nöthige ungezwungene
Bewegung mit den Rücksichten zu vereinbaren, welche
die jedesmalige Staats- und Sittenverfassung fordern.“


§. 225. Das Drama ist um des Theaters willen
da, es erreicht seine Bestimmung erst dadurch
ganz, daß es vorgestellt, aufgeführt wird. Es ist
billig, daß wir auf diesen Punkt etwas näher eingehen
und uns über die Stellung des Theaters zum
Leben
ins Klare setzen. Wir legen dem Theater eine ─ 163 ─
doppelte Tendenz bei ─ es soll zu einer geistreichen
Unterhaltung dienen
*) und zugleich
öffentliche Bildungsanstalt sein.
Wenn es
leider! bei vielen, ja den meisten seiner Besucher
zu einer Spielerei herabsinkt, die die Zeit raubt,
die Kasse plündert und den Geist ruinirt, wenn
es Schau-Spiel (in der miserabelsten Bedeutung ─ 164 ─
des Worts) wird, und wir nicht wissen, ob wir die
Schuld davon mehr den Schauspielern, oder den
Dichtern, oder der irrationalen Größe, die man Publikum
nennt, beimessen sollen ─ so kann uns das
doch nicht hindern, der Bühne jenen höhern Standpunkt
einzuräumen. Das Theater soll unterhalten,
aber auf eine den Geist weckende, bildende, erhebende
Weise; die Kraft dazu liegt in ihm, denn der
vollendetste Kunstgenuß, den die Poesie zu bieten
vermag, läßt sich nur durch das Drama erreichen.
Aber das Theater soll mehr: ─ es soll bilden, es
soll befruchtend und belebend und allseitig
fördernd
in das Rad der Kultur eingreifen ─ wer
wollte ihm die Befähigung dafür absprechen? Mit
keiner Gattung der Poesie, als mit der dramatischen,
lassen sich besondere Tendenzen so leicht und unvermerkt,
so dem eigentlichen Kunstzweck unbeschadet und eben
wegen der theatralischen Vorstellung so wirksam verbinden.
Nur hüte sich der Dichter Tendenzen zur Schau
tragen, oder den Zweck der Kunst Zwecken der Bildung
unterordnen und nachstellen zu wollen, denn damit
würde er nicht nur dem poetischen Gehalt seines Werkes
schaden, sondern jede Wirkung von vorn herein annulliren.
Die Kunst, auch die dramatische, wirkt
nur durch den Reiz des Vergnügens, sie ist allein
mächtig in der Freiheit.
Hält das der Dichter
aber immer fest im Auge, so kann er sich mittelst der
Bühne große Verdienste um seine Nation erwerben.
Denn von der Bühne herab lassen sich die Thorheiten
und Verkehrtheiten der Zeit wirksamer geißeln, von
ihr aus die Gebrechen derselben erfolgreicher heilen, ─ 165 ─
als durch Satyre und Lehrgedicht. Mehr als durch
Freiheitshymnen und Kriegsgesänge läßt sich mittelst
des Theaters auf die Vaterlandsliebe wirken. Ueberhaupt,
was nur Beziehung auf die allgemeinmenschliche
Bildung
hat, ─ der Dichter darf es
in seinen Kreis ziehen und weiß er nur die Sache
recht anzugreifen, so kann er des guten Erfolgs gewiß
sein. Nur eine Art der Wirksamkeit wünschen wir der
Bühne nicht eingeräumt ─ es ist die religiös=moralische.
So verwandt oft auch die Gefühle, welche
ein gutes, namentlich ein gutes tragisches Drama
erzeugen kann, dem eigentlich religiösen sind, so darf
man deshalb doch nie dem Theater eine religiös=moralische
Wirksamkeit beimessen, nie das Schauspielhaus
neben die Kirche stellen wollen. Das verträgt
sich, nach unserer Meinung, so wenig mit der Heiligkeit
der Religion, als mit den Begriffen und
Zwecken der Kunst.


§. 226. Der äußern Form nach zerfällt jedes
größere Drama in mehrere Akte oder Aufzüge
und diese wieder in Scenen oder Auftritte. Diese
Eintheilung ist einestheils ein bequemes Mittel, die
Lücken der Zeit und die Veränderungen des Orts bei
der Handlung zu verdecken, anderntheils gestattet sie
dem Zuschauer und dem Schauspieler passende Ruhepunkte.
Die Anordnung, Verbindung und Folge dieser
Scenen und Akte muß durch die Folge der Handlung
selbst begründet und gerechtfertigt scheinen. Daß der
Akte gerade fünf sein sollen, ist eine Forderung, die
Horaz so wenig, als alle, die dieselbe nach ihm stellten,
naturgemäß begründen konnte. Es läßt sich weiter ─ 166 ─
nichts zur Rechtfertigung derselben sagen, als daß in
den meisten Fällen (mit Rücksicht auf unsere Bühnenverhältnisse)
diese Zahl als die passendste erscheint.
(Doch ist trotzdem dieselbe nicht immer beibehalten,
namentlich hat man der einaktigen und dreiaktigen
Dramen nicht wenige.) Der erste Akt enthält die Exposition,
die folgenden werden durch die Verwickelung
oder Peripetie ausgefüllt, im letzten
ist die Entwickelung und die Katastrophe enthalten.
─ Dem eigentlichen Drama geht wohl ein
Prolog vorher, wie ihm zuweilen auch ein Epilog
folgt.
Der Prolog dient entweder dazu, die Handlung
des Dramas historisch einzuleiten (in welchem Falle
er den Verlauf der Fabel bis dahin erzählt, wo das
Drama beginnt), oder er ist ein für sich bestehendes,
vom Drama ganz unabhängiges Gedicht, das bei festlichen
Gelegenheiten vor dem Beginn der Aufführung
gesprochen wird, oder endlich er dient, wie der Epilog
dazu, dem Dichter oder Schauspieler Gelegenheit zu
geben, sich über ihre allgemeinen oder durch das vorliegende
Drama herbeigeführten Verhältnisse zum Publikum
auszusprechen.


§. 227. Man hat sich für die verschiedenen Arten
der Dramen sowohl der prosaischen, als auch mancherlei
metrischer Formen bedient und die gewöhnliche
Gesprächsweise, den Dialog, mit dem Monolog
─ dem Selbstgespräch ─ abwechseln lassen.
Durch den Monolog soll dem Zuschauer mehr die innere
Gemüthswelt
der handelnden Personen dargelegt und
Blicke in das, bei dem Dialoge nicht so offen daliegende
Räderwerk der Beweggründe aufgeschlossen werden.

─ 167 ─

§. 228. Der Hauptarten der dramatischen
Poesie sind vier, nämlich: 1) die Tragödie; 2) die
Komödie; 3) das Schauspiel; 4) die Oper.

I. Die Tragödie.

§. 229. Die Art dramatischer Dichtungen, welche
man im Deutschen Tragödien zu nennen pflegt, hat
nicht nur den Namen von den Griechen entlehnt,*)
sondern ruht auch in Rücksicht ihrer Entstehung und
Ausbildung ganz auf griechischem Boden. Die
Vorbilder, welche uns in den griechischen oder antiken
Tragödien
gegeben sind, haben einerseits einen
sehr wohlthätigen Einfluß auf die Kultivirung der
deutschen Tragödie ausgeübt, anderseits aber ist durch
die Aengstlichkeit, mit der man sich häufig an dieselben
gebunden, eine heillose Begriffsverwirrung und manche
poetische Mißgeburt erzeugt worden. So hat die antike
Tragödie für die deutsche Literatur eine sehr hohe
Bedeutung gewonnen; eine Bedeutung, die es uns zur
Pflicht macht, bei der Betrachtung der deutschen Tragödie
auf sie mit Rücksicht zu nehmen und ihre wesentlichen
Eigenthümlichkeiten heraustreten zu lassen. Niemand
hat, nach unserm Ermessen, das Wesen der
griechischen und das der deutschen Tragödie und den ─ 168 ─
Unterschied beider klarer und gründlicher dargestellt,
als Hoffmeister in seinem ausgezeichneten Buche:
Schiller's Leben, Geistesentwickelung und Werke.“
Jndem wir uns in dem Folgenden auf ihn beziehen,
können wir nicht umhin, hier die Gefühle der tiefsten
Hochachtung und Dankbarkeit gegen diesen Schriftsteller
aussprechen, der durch seine Leistung seinen Namen und
seinen Ruhm neben den unsers unsterblichen Schiller
gestellt hat.


§. 230. Sowohl in der antiken, als in der
modernen Tragödie wird der Mensch dargestellt,
wie er, im Kampfe mit einer bedeutenden
feindlichen Macht, seiner menschlichen
Freiheit und Selbstständigkeit nach obsiegt,
während er seiner sinnlichen, endlichen Existenz
nach unterliegt.
Je nach der Verschiedenheit
dieser feindlichen Macht gestaltet sich auch der Charakter
der Tragödie verschieden. Bei den Griechen war diese
Macht die, mit religiösem Sinn aufgefaßte, ewige Ordnung
der Dinge, das Schicksal, das Verhängniß,
das Fatum, dem selbst die Götter (die ja überhaupt
nur personificirte Naturmächte waren) nach ihrem individuellen
und nicht geeinten Willen sich unterwerfen
mußten. Wie der tragische Held durch den Kampf mit
solcher Macht an die Gränzen der Menschheit gestellt
wurde, so geht alles in der Tragödie über das Gewöhnliche
hinaus und dieselbe hat selbst dann, wenn die
Götter nicht als mitwirkend eingeführt sind, eine Richtung
zum Uebersinnlichen. Die ganze Auffassung,
wie die Darstellung der Handlung war idealisch:
während die Jdee der sittlichen Freiheit des ─ 169 ─
Menschen in ihrer vollendetsten Gestalt heraustrat,
offenbarte sich zugleich die Gebundenheit, in welcher
sich der Mensch seiner sinnlichen Natur nach befindet
übermenschliche Hoheit und menschliche
Wahrheit
waren vereint und gaben dem
Drama das Gepräge des Erhabenen, welches das
Gemüth mit heiligem Schauer erfüllte. Diesem großartigen
Charakter der antiken Tragödie entsprach
auch die Art, wie dieselbe aufgeführt wurde. Nicht,
wie bei uns, in den engen, von dem düstern Schein
der Lampen meist spärlich erleuchteten Räumen eines
Schauspielhauses, sondern in den weiten Hallen eines
nach oben offenen Gebäudes und bei hellem Sonnenlichte
fand die theatralische Vorstellung statt. Nur
Jndividuen männlichen Geschlechts waren dabei thätig;
die äußere Erscheinung derselben erhielt durch den Bühnenschuh
(Kothurn) und die langen schleppenden Gewänder,
wie durch die, das Gesicht bedeckenden Masken,
die einestheils unkenntlich machten, anderntheils der
Stimme größere Stärke verliehen, etwas Uebermenschliches
und Heroisch-Göttliches.


§. 231. Bei allen christlichen Völkern ist an
die Stelle des Fatums, des blinden Schicksals, der
Glaube an den persönlichen Gott, an die, durch
seine Hand bewirkte allweise Lenkung der Weltgeschicke,
an die göttliche Vorsehung getreten;
dadurch aber ist eine ganz andere Anschauungsweise
der Dinge und des Laufes dieser Welt begründet worden.
Wenn man heut zu Tage das Wort Schicksal
braucht, so verbindet man mit demselben einen bei
weitem andern, als den ursprünglichen Begriff: „das ─ 170 ─
Schicksal der Alten ist mit der Kultur, aus welcher es
sein Leben sog, zu Grabe gegangen.“ Nur eine unbegreifliche
Verblendung konnte den Versuch wagen, es
in den sogenannten Schicksalstragödien wieder
herauf beschwören zu wollen. Jedermann weiß, wie sehr
die Verfasser derselben (Müllner, Grillparzer, Z.
Werner) sich dabei die Finger verbrannt haben. Da
nun auch kein Dichter in die Versuchung kommen wird,
seinen Helden gegen Gott selbst oder gegen seine Regierung,
gegen die göttliche Vorsehung in Kampf
treten zu lassen, so fragt es sich, worin der moderne
Tragödiker Ersatz findet für jene untergegangene, erhabene
Schicksalsidee? Er kann ihn nur finden in den
Einrichtungen und festgewurzelten Formen
der menschlichen Gesellschaft.
Jndem aber der
Dichter seinen Helden in Kampf stellt mit dem Gewohnheitsmäßigen
in der Kultur, mit den habituell
gewordenen Zuständen der Gesellschaft,
indem er in ihm das Jdeale, gleichviel ob dasselbe
irrig oder wahr ist, dem Realen, die Natur der
Kultur entgegensetzt ─ führt er ihm einem Feinde
gegenüber, dessen Macht wohl der des Schicksals der
Alten an Furchtbarkeit nicht nachsteht. Der tragische
Held tritt gegen eine ganze Welt auf und verletzt eine
Ordnung der Dinge, für welche Tausende sich in den
Streit zu geben bereit sind. Ein solcher Kampf aber
gewährt einen hocherhabenen Anblick und selbst, wenn
er von sittlicher Seite verwerflich ist, wird er
einen tiefen Eindruck erzeugen,
sobald uns in
vollendeter Kunstdarstellung durch ihn eine außergewöhnliche,
gewissermaaßen übernatürliche ─ 171 ─
Kraft vorgeführt wird. Jn dieser wesentlichsten
Eigenthümlichkeit unserer Tragödie sind denn auch die
andern charakteristischen Merkmale derselben begründet.
„Unsere Tragödie stellt mehr handelnde und strebende,
die alte mehr duldende Menschen dar. Ferner:
die Menschen der antiken Tragödie erscheinen uns
groß und bewundernswürdig in den Lagen, in welche
sie durch eine fremde Macht geführt werden; die der
neuern in den Verhältnissen, in die sie freiwillig
selbst
treten oder die sie sich zugezogen haben.“


§. 232. Bei der Behandlung des tragischen
Stoffs muß es der Dichter natürlich darauf absehen,
das Jnteresse des Zuschauers zu fesseln und zu
spannen. Die tragische Handlung muß die Gefühle
des Mitleids, der Besorgniß und Theilnahme, die (sogenannte
tragische) Furcht hervorrufen, der Held selbst
muß immer bewundernswürdig erscheinen, sei es auch
nur durch die riesige Kraft, die er offenbart. Die im
Gemüthe des Zuschauers geweckten Empfindungen dürfen
jedoch nicht überspannt werden; das Gemüth darf
weder durch ein unerträgliches Grausen gemartert, noch
durch eine gränzenlose Angst gepeinigt, es soll erhoben
werden. Zu diesem Zwecke ist zwar immer ein ernster
Ausgang
der Handlung nöthig (denn sonst würden
die geweckten Gefühle auf vage Weise wieder zerstört
werden), aber ein eigentlich trauriges Ende (der
Tod des Helden) ist, wenn auch gewöhnlich, doch keineswegs
durchaus erforderlich, weshalb auch der Name
Trauerspiel nicht in allen Fällen dem entspricht,
was wir Tragödie nennen. Die Hauptsache ist, daß
der Totaleindruck ein wirklich tragischer sei: das ─ 172 ─
Gefühl der Nichtigkeit unseres irdischen Strebens und
Lebens muß uns durchdringen und niederdrücken, zugleich
aber das Bewußtsein, daß der sittliche Wille des
Menschen auch im Mißgeschick und bis in den Tod vor
keiner Macht der Welt sich zu beugen braucht, uns
halten, stärken und erheben. Jn dieser Stimmung,
worin die wahre Tragödie den nicht gar zu verhärteten
Zuschauer versetzt, pflegt derselbe denn auch unwillkührlich
seinen Blick auf das bessere Jenseits zu richten,
das für die Widerwärtigkeiten dieses Lebens entschädigen
und Alles, was hier dunkel ist, in hellem Lichte zeigen
soll.


Jn Rücksicht der Wahl des Stoffs lassen sich beschränkende
Vorschriften zwar nicht aufstellen, doch
möchte es im Allgemeinen immer zweckmäßiger sein,
wenn der Dichter seinen Helden den höheren Kreisen
der Gesellschaft entnimmt und die Handlung in deren
Bereich vor sich gehen läßt. Hier finden sich im Ganzen
immer schärfer ausgeprägte Jndividualitäten, die
überdieß nicht, wie die Menschen niederer Klassen, durch
kleinliche Verhältnisse eingeengt und gebunden werden.
Deshalb konnte das sogenannte bürgerliche Trauerspiel,
das sich in den niederern Lebenskreisen
oder in dem engen Bezirk der Familie bewegt,
kein dauerndes Glück machen.


§. 233. Die Form der Tragödie ist fast immer
metrisch; und zwar ist größtentheils der fünffüßige
Jambus
gebraucht. Jndeß finden sich auch Tragödien
in Prosa, in vierfüßigen Trochäen und in gemischten
Versarten.


§. 234. Erst durch Lessing's Leistungen ist der ─ 173 ─
vollendetern modernen deutschen Tragödie die Bahn gebrochen,
durch seine Dramaturgie, mehr noch aber
durch das Bekanntwerden Shakespeare's in Deutschland
wurde der Weg, auf dem sie sich ferner auszubilden
hatte, gelichtet. Eine lange Reihe von Dichtern betrat
diesen Weg und wenn wir auch die Abirrungen einzelner
zu beklagen haben, so knüpfen sich doch an die
Namen eines Klinger, Leisewitz, Göthe, Schiller,
Collin, Oehlenschläger, A. W. Schlegel, Tieck,
Fouqué, Heinrich von Kleist,
W. v. Blomberg,
Th. Körner,
Z. Werner, Müllner, Grillparzer,
Raupach, Jmmermann, Platen, Grabbe,
Houwald,
M. Beer, v. Auffenberg, Fr. von
Heyden,
H. König, J. Mosen, Gutzkow, R.
Prutz, Hans Köster, F. Hebbel nur wenig mittelmäßige
oder werthlose Produktionen, wohl aber viele,
die man gut oder gar ausgezeichnet nennen kann.

II. Die Komödie oder das Lustspiel.

§. 235. Die Komödie*) oder das Lustspiel
ist die dramatische Darstellung von Handlungen,
in welchen die Schwäche, Thorheit
und Eigenheit mit dem Gewohnheitsmäßigen
und Anerkannten im Leben (mit der Gesit=
─ 174 ─
tung) in einer Weise kämpft, die Ergötzen
und Belustigung gewährt.
─ Das Lustspiel faßt
das Leben mehr von seiner sinnlichen, oberflächlichen,
irdischen Seite. An die Handlungen und die Charaktere,
die es vorführt, kann nur der reale Maaßstab des
Verstandes, nicht der ideale der Phantasie gelegt
werden. Alles in ihm muß das Gepräge der Wirklichkeit
tragen. Der Scherz und das Komische
bilden die Seele des Lustspiels. Was der Dichter seinen
Helden und die andern Personen reden und thun läßt,
kann als Schwäche und Thorheit, kann verkehrt
und ungereimt erscheinen, darf aber nie sittlichen
Unwillen erregen.
Eben so sollen die widerlichen
Lagen und Verhältnisse, der Conflikt, in welchen
die Handelnden (namentlich der Held) gesetzt
werden, nie wahre Theilnahme erwecken. „Das
komische Unglück darf nichts anders sein, als eine am
Ende zu lösende Verlegenheit, es muß als eine lächerliche
Noth erscheinen, die keine ernstlichen Folgen haben
wird.“ (Schlegel.) Deshalb tritt auch an die Stelle
des ernsten Geschickes der neckende Zufall, und
es ist eine der Hauptaufgaben des Dichters, „die
Widersprüche, deren verwirrtes Spiel ergötzt hat, am
Ende geschickt bei Seite zu schieben; wenn er sie wirklich
ausgleicht, wenn die Thoren vernünftig, die
Schlechtgesinnten gebessert oder bestraft werden, so ist
es um den lustigen Eindruck geschehen.“


§. 236. Wenn das Lustspiel auch vorzugsweise
ergötzen, belustigen soll, so kann es doch auch höhere
Zwecke verfolgen. Das gute Lustspiel wird immer auch
sittlich wirken; nur wird es sich mehr auf dem Boden ─ 175 ─
des Erfahrungsmäßigen halten und also vorzugsweise
Lehren der Klugheit, der Lebensweisheit
geben. „Die Belehrung des Lustspiels geht nicht auf die
Würdigung der Zwecke, sondern bleibt bei der Tauglichkeit
der Mittel stehen. Seine Moral ist die Moral
des Erfolgs und nicht (wie bei der Tragödie) die der
Triebfedern. Das Lustspiel soll unser Urtheil in Unterscheidung
der Lagen und Personen schärfen; daß es uns
klüger macht, das ist seine wahre und einzig mögliche
Moralität.“ (A. W. Schlegel.)


§. 237. Nach der Art, Auffassung und Behandlung
des Stoffes
(der eben sowohl ein der
Wirklichkeit, der Geschichte entnommener, als ein erfundener
sein kann,) hat man das Lustspiel verschiedentlich
eingetheilt und benannt. Zunächst unterscheidet man
höhere und niedere Lustspiele. Das niedere
Lustspiel, die Posse,
bewegt sich entweder in einer
niedern Lebenssphäre und repräsentirt dann den, in
Haltung und Ausdruck kunstlosen, derben Volkswitz,
oder es führt Charaktere vor, die ihrer Schwächen und
Gebrechen sich wohl bewußt sind, aber so unter der
Herrschaft der Sinnlichkeit stehen, daß sie dieselben
wohl eher mit großer Behaglichkeit zu hegen und zu
pflegen, als sie abzustellen suchen. Jm höheren Lustspiel
dagegen werden Personen dargestellt, die entweder
von ihren lächerlichen Eigenschaften und Schwächen
nichts wissen, oder dieselben so zu verbergen suchen,
daß nur eine feine Beobachtung über die wahren
Triebfedern des Handelns ins Klare zu setzen vermag.
Deshalb hat der Dichter solcher Lustspiele die oft schwierige
Aufgabe, mittelst leicht hingeworfener, gleichsam ─ 176 ─
abgelauschter Züge den wirklichen Charakter der Handelnden
durchscheinen zu lassen. ─ Jn der Posse
herrscht das selbstbewußte oder eingestandene
Komische,
im höhern Lustspiel das Komische der
Beobachtung.


Je nachdem das Komische mehr in die Charaktere
oder in die verwickelten Lagen der Personen gelegt ist,
je nachdem ist das Lustspiel mehr Charakter= oder
mehr Jntriguenstück. „Ein gutes Lustspiel soll immer
beides zugleich sein, sonst fehlt es entweder an Gehalt
oder an Bewegung, nur freilich kann bald das eine,
bald das andere ein Uebergewicht haben.“ Das Jntriguenstück
entsteht, „wenn die Charaktere nur leicht
angedeutet sind, eben so viel als nöthig ist, um Handlungen
der Personen in dem und jenem Fall zu begründen,
wenn sich die Vorfälle so häufen und die
Verwickelung so auf die Spitze gestellt ist, daß sich die
bunte Verwirrung der Mißverständnisse und Verlegenheiten
in jedem Augenblicke lösen zu müssen scheint,
und doch der Knoten immer von neuem geschürzt wird.“
Das Charakterstück sieht es mehr auf Entwickelung
der Charaktere (namentlich eines Hauptcharakters) ab
und sucht dieselben deshalb so zu gruppiren, daß einer
den andern ins Licht stellt.


Bezweckt das Lustspiel, ein Gemälde der Zeit
zu sein, stellt es insonderheit die verkehrten, thörichten
Richtungen derselben in ihrer Nichtigkeit und Lächerlichkeit
dar, so heißt es Sittenstück. Schließt es sich
dabei in Rücksicht der Charaktere und Tendenz genau
dem geselligen Leben der Gegenwart an, sucht es namentlich
den, in den Unterhaltungen der Gebildeten ─ 177 ─
herrschenden Ton zu treffen, so nennt man es Conversationsstück.



§. 238. Was die Form des Lustspiels betrifft,
so hat man sich dabei meistentheils der Prosa bedient.
Die Behauptung, daß der Vers für das Lustspiel
nicht passe, läßt sich jedoch deshalb nicht aufstellen;
obwohl nicht zu leugnen ist, daß eine poetische Freiheit
in Rücksicht des Ausdrucks, wie sie andere Dichtungsarten
gestatten, ja zum Theil fordern, hier nicht angewendet
werden darf. „Jm Lustspiel soll der Vers
nur zu größerer Leichtigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit
des Dialogs dienen. Der Versbau muß, unbeschadet
dem Gebräuchlichen, Ungezwungenen, ja
Nachlässigen des Gesprächstones, sich von selbst einzustellen
scheinen.“ Deshalb hat über die Angemessenheit
des Verses oder der Prosa nur der Gegenstand zu
entscheiden. Daß die Bequemlichkeit der Dichter dabei
(wie häufig der Fall ist) den Ausschlag gebe, ist nicht
zu wünschen. Die versifizirten Lustspiele erscheinen meist
in gereimten Alexandrinern, so wie in kürzern jambischen
oder trochäischen Versen (und zwar ebenfalls mit
Anwendung des Reims). Den für die Tragödie und
das Schauspiel so häufig gebrauchten fünffüßigen Jambus
hat man mit Recht nur sehr selten angewendet.


§. 239. Es ist eine bekannte und leider! begründete
Klage, daß wir es im Fache des Lustspiels noch
zu keinen ersprießlichen Resultaten gebracht haben. Wir
suchen die Ursachen dieser unerfreulichen Erscheinung
nicht, wie Einige, in einer nationalen Unfähigkeit,
in dem „deutschen Ernst,“ sondern finden sie,
mit Gervinus, nur in unsern Verhältnissen. ─ 178 ─
„Durch Verhältnisse,“ sagt Gervinus, „ist allerlei
Schriftstellerei bedingt. ─ Wir haben in Deutschland
keine Hauptstadt und keinen Hof, der den feinen Ton
für das Jntriguenstück, ja nur für ein höheres Conversationsstück
angäbe, wie es in Spanien der Fall war
und in Paris; wir haben kein öffentliches Leben, wie
England, und besitzen daher auch keine Charakterstücke
von nationalem Werthe; unsere Verhältnisse gestatten
kein Lustspiel, das im Charakter der Satyre“ ─ (der
immer der dem Lustspiel angemessenste und in Hinsicht
des Erfolgs der ergiebigste ist) ─ „einen Gegensatz
bilde gegen ausgeartete Zustände der Gesellschaft oder
gegen einen überhobenen Trieb des höheren Lebens; endlich:
uns fehlte lange eine scharf ausgebildete Tragödie,
der gegenüber das Lustspiel sich an der Aufhüllung der
niedern und gemeinen Natur des Menschen künstlerisch
freut. Ueberall also drängten uns unsere Verhältnisse
aus dieser Gattung hinweg und doch forderten die
Bedürfnisse der Bühne, daß auch sie existire.“ Da hat
man uns denn Ersatz geboten in Uebersetzungen ausländischer
Komödien. Daß aber diese Uebersetzungen,
wilden Fluthen gleich, über uns hereinströmen, daß ein
und dasselbe Erzeugniß fremder Muse, selbst wenn es
noch so miserabel an Gehalt ist, oft in zehn, zwölf
und mehr verschiedenen Uebertragungen uns vorgeführt
wird ─ das liegt nicht allein an dem Mangel guter
deutscher Originallustspiele, das liegt auch nicht in der
eingefleischten Vorliebe, die der Deutsche für alles Ausländische
hat, das liegt zum großen Theil mit ─ an
dem leeren Magen vieler Literaten. Wir wollen nicht,
wie es uns wohl Bedürfniß wäre, hier über diesen ─ 179 ─
Punkt uns weiter auslassen, darauf hinweisen aber
müssen wir, wie viele unserer vorzüglichern Talente
oft dazu gezwungen sind, um des lieben Brodes willen,
Lohnknechte von Uebersetzungsfabriken zu werden. Sorgt
Deutschland erst dafür, daß nicht mehr, wie heute noch,
das bittere, aber wahre Wort Kästner's (auf Kepler):


„Er wußte nur die Geister zu vergnügen,
Drum ließen ihn die Körper ohne Brod“

auf eine Menge unserer verdientesten Schriftsteller paßt ─
dann wird mit andern Uebelständen auch die Uebersetzungswuth
und der Mangel an guten deutschen Originallustspielen
mehr und mehr schwinden. ─ Führen wir uns nun
noch die Namen derjenigen deutschen Dichter der letzten
hundert Jahre vor, die sich, mit mehr oder weniger
Glück, im Lustspiel versucht haben; es sind folgende:
Lessing, Göthe, Lenz, Schröder, Jffland,
Kotzebue, Th. Körner, Tieck, Klinger, Brentano,
Robert, Eichendorff, Müllner,
H. von
Kleist,
Frau v. Weissenthurn, J. Voß, F. L.
Schmidt, Steigentesch, Vogel, Hollbein,
Benzel-Sternau, Deinhardstein, Contessa,
Raupach, Grabbe, Holtei, Platen, Jmmermann,
Töpfer, Bauernfeld, Gutzkow, Elsholz,
Amalie
v. Sachsen, Kühne, Laube.

III. Das Schauspiel.

§. 240. Das Schauspiel, vorzugsweise Drama
(im engern Sinne) genannt, ist ein Erzeugniß der
neuern dramatischen Dichtkunst und findet sich als besondere
Art derselben nur in Deutschland. Es war
anfangs nur eine, sich durch starke Beimischung des ─ 180 ─
Rührenden oder Ernsten auszeichnende Abart der Komödie.
Jetzt steht es zwischen der Tragödie und der Komödie
so ziemlich in der Mitte. Jm Allgemeinen bezeichnet
man nämlich mit dem Namen Schauspiel alle
die Dramen, welche weder einen tragischen,
noch einen durchaus komischen Charakter haben,
bei denen vielmehr der Ernst als die
wesentlichste Eigenthümlichkeit heraustritt.

Sodann nennt man insbesondere die dramatischen
Dichtungen so, bei welchen die Verwickelung der
Handlung eine glückliche Lösung gewinnt und
zwar entweder dadurch, daß der Held, unbeschadet
seiner poetischen Jnteressen, zeitig genug den zum
Unglück führenden Weg verläßt,
oder dadurch,
daß er über die, seinen Zwecken feindlichen
Verhältnisse siegt.
Jm letztern Falle wird der
Widerstand, den der Held findet, entweder nur ein zufälliger,
oder der des offenbaren Unrechts sein. ─ Die
beabsichtigte glückliche Lösung der Verwickelung darf
der Dichter nicht durch einen sogenannten deus ex
machina
bewerkstelligen. Dies geschieht aber, wenn
der Knoten von außen her, von fremder Hand oder
auf eine, nicht im Verlauf der Handlung begründete
Weise gelöst werden soll.


§. 241. Es liegt im Charakter des Schauspiels,
daß es eine einfachere Verwickelung habe, als das Lustspiel.
Jn Rücksicht der Form unterliegt es keinen besondern
Bestimmungen; überhaupt aber leiden, wie
natürlich, alle den dramatischen Dichtungen im Allgemeinen
geltenden Vorschriften auch auf das Schauspiel
ihre spezielle Anwendung.

─ 181 ─

Auf die näheren Unterscheidungen der nach Stoff
und Behandlung verschiedenen Schauspiele (historische,
romantische, humoristische, idyllische, geistliche, vaterländische,
didaktische u. s. f.) brauchen wir hier nicht einzugehen:
sie liegen in der Bedeutung dieser speziellen
Benennungen unmittelbar selbst.


§. 242. Als Dichter deutscher Schauspiele sind zu
nennen: Lessing, Göthe, Gemmingen, Jffland,
Schröder, Kotzebue, Tieck, Kleist, Fouqué,
Klingemann, Schiller, Uhland, Babo, Raupach,
Körner, Wetzel, Oehlenschläger, Kind,
Houwald, Deinhardstein.

IV. Die Oper.

§. 243. Die Oper im weitern Sinne (auch wohl
Singspiel genannt) ist ein dramatisches Gedicht
mit Musikbegleitung.
Jn der Oper und
allen ihren Unter- und Nebenarten findet eine innige
Verschmelzung der Dichtkunst und Tonkunst

statt. Dieser Umstand, die musikalische Bestimmung der
Oper, bringt es mit sich, daß das lyrische Element
das dramatische ganz durchdringt, ja dasselbe
wohl überwiegt. Die eigentliche Handlung tritt in
der Oper zurück; mehr, als auf raschen Fortgang der
Handlung, kommt es bei der Oper darauf an, Entwickelung
und Steigerung der Gefühle hervortreten

zu lassen. Deshalb muß die Hauptaufgabe
des Dichters die sein, die Personen in solche Situationen
zu bringen, in welchen sie ihre Gefühle äußern
können, und zwar Gefühle, die nur mittelst der
Musik vollständig ausgesprochen und ver=
[] ─ 182 ─
standen werden. So tritt die Poesie selbst ganz in
den Hintergrund. Dies ist um so mehr der Fall, je
mehr die Oper durch die Beihülfe anderer Künste,
durch Tanz und Dekoration zu wirken sucht. Der
Dichter hat, wie A. W. Schlegel bemerkt, nur eine
poetische Skizze zu liefern, deren Umrisse nachher durch
die übrigen Künste ausgefüllt und gefärbt werden. Die
Oper zeichnet sich gewöhnlich durch äußeren Glanz
aus: sie wirkt vorzugsweise mittelst der Sinne.
Dieser Umstand bestimmt denn auch die Beschaffenheit
ihres Stoffes. Größtentheils wird derselbe ganz romantischer
Natur sein. ─ Die untergeordnete Rolle,
die die Poesie in der Oper spielt, ist wohl die Hauptursache
davon, daß wir fast keine Oper von eigentlich
poetischem Gehalte besitzen. Dichter von Beruf und
von Ruf wollen sich nicht dazu hergeben, ihre Kunst
zur Magd der andern zu machen und ihrem Ehrgefühl
kann es auch nicht gleichgültig sein, wenn das gesammte
Publikum bei den Opern nur von der Komposition und
dem Komponisten spricht und des Gedichts und des
Dichters mit keiner Silbe gedenkt. Dazu kommt noch
der Umstand, daß man nur dann musikalisch dichten
kann, wenn man entweder selbst musikalisch, oder doch
aufs Jnnigste mit dem Wesen der Musik vertraut ist.
Da das auch bei wenigen Dichtern der Fall ist, so bekommen
wir ─ Texte, und zwar der großen Menge
nach solche, die der Oper als Dichtungsart eine so unbedeutende
Stelle anweisen, daß, hätten wir nicht der
Vollständigkeit zu Liebe gehandelt, wir ganz über sie
würden geschwiegen haben.


§. 244. Nach der Art des Stoffes, so wie [] ─ 183 ─
nach der Behandlung und dem Umfange desselben
theilt man die Oper in mehrere Arten und unterscheidet:


a. die ernste oder große Oper (opera seria).
Sie ist ihrem Stoffe nach der Tragödie oder doch dem
ernsten Schauspiel verwandt. Jm letztern Falle heißt
sie romantische Oper, Zauberoper &c., wenn die Fabel in
dem Mittelalter, oder in der Zauber- und Mährchenwelt
spielt. Jn ihr herrscht durchweg Gesang.


b. Die komische Oper (opera buffa) ähnelt in
Rücksicht ihres Stoffes dem Lustspiel und läßt den Gesang
mit dem Dialog abwechseln.


c. Die Operette, das Singspiel im engern
Sinne, läßt ebenfalls den Dialog und Gesang abwechseln
und unterscheidet sich durch größere Einfachheit und
geringeren Umfang von der ernsten und komischen Oper.


d. Das (den Franzosen nachgebildete) Vaudeville
ist ein Lustspiel oder eine Posse mit Liedern, deren
Melodien beliebten Volksgesängen entnommen sind.


e. Das Jntermezzo ist eine den Jtalienern nachgeahmte
kleine komische Oper für zwei oder drei Personen,
die als Zwischenakt für zwei verschiedene Theaterstücke
oder auch dazu dient, bei einem und demselben
Drama eine angenehme Unterbrechung herbeizuführen.
Sowohl im erstern, als im letztern Falle steht sie außer
allem innern Zusammenhange mit der Hauptvorstellung.


f. Das Melodram (Monodram, Duodram). Jm
Melodram wird die Deklamation nicht durch Gesang
unterbrochen, die Musik dient nur dazu, die Rede einzuleiten
oder zu begleiten oder auch die Pausen in derselben
auszufüllen. Das Melodram wird Monodram
genannt, wenn nur eine Person darin auftritt; Duodram [] ─ 184 ─
dagegen, wenn die Handlung von zwei Personen ausgeführt
wird.


§. 245. Als einzelne Theile der Oper sind anzuführen:
Recitativ, Ariosa, Arie (Ariette), Cavatine,
Duett, Terzett, Quartett,
der Chor u. s. w.
(Siehe §. 146!)

──────

Anhang.


§. 246. Es bleibt uns nun noch übrig, mit
Wenigem derjenigen poetischen Erzeugnisse zu gedenken,
die sich zu eigentlichen Dichtungsarten noch nicht durchgebildet
haben, sondern, mit geringer Ausnahme, nur
als in dichterische Form gekleidete Spielereien des Verstandes
und Witzes erscheinen. Diese sind die Parodie
und Travestie und das Räthsel mit seinen Nebenarten.



§. 247. Die Parodie und die Travestie. Die
Parodie (wörtlich Nebengesang) und die Travestie
(so viel wie Umkleidung) haben das Gemeinschaftliche,
daß sie in sich selbstständige Parallelen zu
allgemein bekannten Gedichten bilden. Die Parodie
trägt die Folge der Gedanken, die Art des Ausdrucks
derselben, so wie die äußere Form des parallelisirten
Gedichts auf einen andern, gewöhnlich gemeinern Gegenstand
über; die Travestie behält den Gegenstand bei,
sucht ihn aber ─ meist dadurch, daß sie ihn seiner ursprünglichen
poetischen Form entkleidet ─ in's Komische
und Lächerliche zu ziehen. Die Travestie, wie die [] ─ 185 ─
Parodie ist satyrischer Tendenz: beide suchen durch Witz
und Laune zu unterhalten. Je nach der Art der zum
Grunde liegenden Gedichte erscheinen die Travestien
und Parodien bald als lyrisch, bald als episch, bald
als dramatisch.


Parodie und Travestie sind in Deutschland nicht
besonders viel kultivirt worden und man wird Recht
haben, wenn man der Meinung ist, daß die Ursache
hiervon in dem mehr dem Ernsten zugewendeten Charakter
der Deutschen liegt, der es schwer verträgt, daß
man das Große und Schöne in irgend einer Weise
persiflire.


§. 248. Das Räthsel. Das Räthsel im allgemeinern
Sinne ist ein Produkt des Scharfsinnes, bei
welchem es darauf ankommt, einen ungenannten Gegenstand
aus der Zusammenstellung einzeln angegebener
Eigenschaften zu errathen. Soll das Räthsel gut sein,
so muß es das Errathen des Gegenstandes möglichst
erschweren, gleichwohl aber diejenigen Merkmale andeuten,
welche in ihrer Vereinigung ein vollkommen
treffendes, anschauliches Bild desselben geben. Diesen
zwiefachen Zweck wird es erreichen, wenn es solche
Merkmale vorführt, die einander zu widersprechen scheinen,
oder auch wenn es Eigenschaften angiebt, die einzeln
─ aber nicht in ihrer Gesammtheit ─ zugleich
andern Gegenständen, und zwar solchen angehören, auf
die der Rathende leicht fällt. ─ Das Räthsel hat demnach
einen allegorischen Charakter, nach seiner äußern
Erscheinung ist es dem Epigramm verwandt. Es nimmt
die verschiedensten poetischen Formen an; häufig erscheint
es auch im Gewande der Prosa.

[]─ 186 ─

§. 249. Die einzelnen Arten des Räthsels
sind folgende: das Räthsel (im engern Sinne), die
Charade, das Logogryph und die Homonyme.


Das Räthsel im engern Sinne, auch wohl
Worträthsel genannt, charakterisirt immer gleich das
ganze Wort.


Die Charade, das Silbenräthsel, zerlegt ein
(zusammengesetztes) Wort in seinen einzelnen Silben,
charakterisirt erst die Bedeutung dieser und dann die
des Ganzen in der oben angegebenen Weise.


Das Logogryph oder Buchstabenräthsel
bildet durch Wegnahme, Versetzung oder Veränderung
einzelner Buchstaben eines Wortes neue Wörter, läßt
durch angegebene Merkmale diese Wörter und durch
diese dann das eigentliche Räthselwort errathen. Findet
eine Versetzung der Buchstaben statt, so nennt man
das Logogryph auch Anagramm.


Enthält das Räthselwort eine mehrfache Bedeutung
und wird es hiernach charakterisirt, so heißt das Räthsel
Homonyme.


§. 250. So groß auch die Zahl der Räthsel ist,
die wir besitzen, so haben doch nur verhältnißmäßig
wenige poetischen Werth. Fast nur die Schiller'schen
zeichnen sich in dieser Hinsicht rühmlich aus. Doch
auch das Gute, was Apel, Roos, Th. Hell
(Winkler), Kind, Moser, Houwald
u. a. in
diesem untergeordneten Fache geleistet haben, wollen
wir nicht verkennen.


Sollen wir schließlich den Wunsch aussprechen, daß
die begabteren Dichter der Gegenwart sich nicht ganz [] ─ 187 ─
den Produktionen dieser Art entziehen möchten? Wir
zweifeln fast, daß wir damit einem allgemeinen
Verlangen Ausdruck verleihen würden. Bietet doch das
Leben selbst der Räthsel so viele! Gehen doch Tausende
und aber Tausende dahin, denen sowohl unsere irdische,
als auch unsere himmlische Bestimmung ein großes
Räthsel bleibt! Eine würdigere Aufgabe darum, als die
Schürzung neuer Räthsel, ja die würdigste und höchste
mögen unsere Poeten darin finden, daß sie auch durch
ihre Kunst ─ die ja eine göttliche genannt wird ─
der Menschheit dieses gewaltige Räthsel mehr und mehr
lösen helfen!

[figure]

Appendix A Hinweisung

[]─ 188 ─

auf die, zum Belege und zur Erläuterung des Textes
dienenden Beispiele in den Gedichtsammlungen von
Echtermeyer, Kurz, Schwab, Wackernagel
und Wolff.
(Siehe das Vorwort!)


  • Echter-
  • Wacker-
  • §. unseres
  • meyer.
  • Kurz.
  • Schwab.
  • nagel.
  • Wolff.
  • Lehrbuch's.
  • Seite.
  • Seite.
  • Nummer.
  • Seite.
  • I. 493.
  • 485 bis
  • II. 261.
  • 681. 687.
  • 91─93.
  • 490. 525.
  • 501,2. 515
  • 415.
  • 83─91.
  • 689.
  • 542. 581*)
  • I. 529.
  • 94.
  • II. 200,1.
  • 92.
  • 232.
  • **)
  • II. 295.
  • 418.
  • (95─97.)
  • 95.
  • 383. 473.
  • 580. 673.
  • 676 ff.
  • 98─102.
  • 337. 338.
  • 681.
  • ***)
  • 259 bis
  • 96.
  • II. 585.
  • 93. 94.
  • 261.
  • I. 389.
  • 528.
  • 406 bis
  • 103 bis
  • 214 bis
  • 97─99.
  • 491.
  • II. 277.
  • 414.
  • 138.
  • 226. 226
  • 327. 574
  • 659 ff.
  • bis 230.
  • ff. 695.
  • II. 262,3.
  • (139.)
  • 233 bis
  • 100.
  • 725.
  • 424. 668.
  • 140 bis
  • 239.
  • 142.
─ 189 ─
  • Echter-
  • Wacker-
  • §. unseres
  • meyer.
  • Kurz.
  • Schwab.
  • nagel.
  • Wolff.
  • Lehrbuch's.
  • Seite.
  • Seite.
  • Nummer.
  • Seite.
  • 242 bis
  • 101.
  • II. 581.
  • (143.)
  • 244.
  • I. 278,3.
  • 309. 328.
  • 175 bis
  • 239,2.
  • 105. 106.
  • 517,2.
  • 178. 179
  • 240. 241.
  • 697.
  • bis 181.
  • II. 586 bis
  • 211 bis
  • 256 bis
  • 109.
  • 588. 698.
  • 600. 690.
  • 231.
  • 259.
  • 699,1.
  • 29─36.
  • I. 41. 236.
  • 116 ff.
  • 327. 544
  • 7. 41. 43.
  • 124.
  • II. 343 ff.
  • 374 ff.
  • bis 625.
  • 44. 26.
  • 739.
  • 612.
  • 29. 30.
  • I. 495.
  • 180 ff.
  • 81,1. 98,2.
  • 126.
  • 497.
  • 352. 500.
  • 511 bis
  • 99,1.
  • II. 509.
  • 515.
  • 518.
  • 105,1.2.3.
  • I. 481,2.
  • 102. 166.
  • 494.
  • 90,2. 95.
  • 127.
  • II. 1. 7.
  • 175. 486.
  • 452. 465.
  • 105,4.
  • 324 ff.
  • I. 183.
  • 128 und
  • 184.
  • 37, 240 ff.
  • 433 bis
  • 78. 94.
  • 129.
  • 206. 265.
  • II. 488,2.
  • 385 ff.
  • 448.
  • 96. 101.
  • 497 ff.
  • I. 433.
  • 66. 67.
  • 480,4.
  • 338. 516.
  • 460. 461.
  • 83,1.
  • 130.
  • 176. 294.
  • II. 316.
  • 582 ff.
  • 466 ff.
  • 99,2.
  • 506. 743 ff
  • 487.
  • 100. 103,2
  • I. 415,1.3.
  • 481,2.
  • 166. 173.
  • 59,2.
  • 131.
  • II. 1.
  • 175. 203.
  • 422. 488.
  • 78,2.
  • 199,3.
  • 79,2.
[]─ 190 ─
  • Echter-
  • Wacker-
  • §. unseres
  • meyer.
  • Kurz.
  • Schwab.
  • nagel.
  • Wolff.
  • Lehrbuch's.
  • Seite.
  • Seite.
  • Nummer.
  • Seite.
  • I. 43─47.
  • 44 ff.
  • 118. 127.
  • 416 ff.
  • 130 ff.
  • 131 ff.
  • 133 ff.
  • 514. 516.
  • 435 ff.
  • 245 ff.
  • 59─78.
  • 134.
  • II. 455 ff.
  • 393 ff.
  • 143 ff.
  • 688 ff.
  • I. 47. 55.
  • 53. 141.
  • 58. 592
  • 129. 146,3
  • 136.
  • 519. 521.
  • 216. 704.
  • 238.
  • bis 594.
  • 160,2.
  • 461. 463.
  • 166 bis
  • 141.
  • 534.
  • I. 506 ff.
  • 256. 258.
  • 79─82.
  • 168.
  • I. 281. 466
  • 164 bis
  • 142.
  • II. 40.
  • 263.
  • 166.
  • I. 196,2.
  • 246 bis
  • 145.
  • 311. 345.
  • 254.
  • I. 420.
  • 422. 498.
  • 143. 200.
  • 3. 4. 8.
  • 177. 178.
  • 149.
  • 359. 557.
  • II. 460.
  • 515.
  • 11. 140.
  • 180. 182.
  • 462.
  • 183. 185.
  • 205. 197
  • 152.
  • II. 270.
  • bis 211.
  • I. 33 ff.
  • 88. 89.
  • 154
  • 569 ff.
  • 63 ff. 563
  • 90. 155 bis
  • 18─24.
  • 1119 bis
  • bis
  • 623 ff.
  • bis 565.
  • 158. 264.
  • 35. 351.
  • 1131.
  • 159.
  • II. 469 ff.
  • 308 ff.
  • 356. 357.
  • 472. 752.
  • I. 280. 557
  • II. 295.
  • 456. 457.
  • 1100 bis
  • 160.
  • 528.
  • 297. 507.
  • 530.
  • 459.
  • 1117.
  • 651,2.
  • I. 487. 491
  • 1044 bis
  • 166.
  • 564.
  • 522. 526.
  • 5.
  • 1061.
[]─ 191 ─
  • Echter-
  • Wacker-
  • §. unseres
  • meyer.
  • Kurz.
  • Schwab.
  • nagel.
  • Wolff.
  • Lehrbuch's.
  • Seite.
  • Seite.
  • Nummer.
  • Seite.
  • I. 212.
  • 49. 56 ff.
  • 161 bis
  • 980 bis
  • 168.
  • 582.
  • II. 12.
  • 301.
  • 166.
  • 1023.
  • 735,2 ff.
  • 744 ff.
  • I. 241,1.
  • 1024 bis
  • 169.
  • 361.
  • II. 189,1.
  • 599.
  • 46. 53.
  • 1043.
  • 699,2.
  • I. 20. 25.
  • 275. 284.
  • 69 ff. 72.
  • 277. 279.
  • 175.
  • 94. 148.
  • II. 207,2.
  • 78. 150 ff.
  • 281. 283.
  • 711.
  • 741.
  • 286.
  • I. 328.
  • 77. 153.
  • I. 28. 55.
  • 180
  • 37. 219.
  • 347. 350.
  • 197. 214
  • 56. 57.
  • 1090 bis
  • bis
  • 449. 492.
  • 532.
  • ff. 467.
  • 101. 197.
  • 1099.
  • 185.
  • II. 5. 522.
  • 468.
  • 268. 304.
  • 580. 618.
  • 316.
  • I. 397.
  • 12. 40.
  • II. 215.
  • 84. 128.
  • 9. 98. 99.
  • 254. 302.
  • 186.
  • 124. 322.
  • 520.
  • 418. 453.
  • 157. 158.
  • 337.
  • 383. 473.
  • 674,2.
  • 676. 728.
  • 267. 303.
  • I. 357.
  • 14. 22.
  • 368. 542.
  • 147. 432.
  • 198. 208.
  • 365 bis
  • 188.
  • 96. 111.
  • II. 177.
  • 720.
  • 265.
  • 407.
  • 226. 277.
  • 425. 738,2
  • I. 177.
  • 1064 bis
  • 196.
  • 413. 560.
  • 466,2. 515
  • 6. 54.
  • 1087.
  • I. 400.
  • 182 ff.
  • 54. 119.
  • 538 bis
  • 200. 277.
  • 121. 131.
  • 540.
  • 301. 302.
  • 408 bis
  • 199.
  • 208. 221.
  • II. 45 ff.
  • 271 ff.
  • 318. 321.
  • 584.
  • 250. 374.
  • 290. 310.
  • 329. 330.
  • 376.
  • 531. 532.
  • 381 ff.
  • 635.
  • 393 ff.

[figure]
[E192]

Appendix B

Bei W. Langewiesche in Barmen ist unter
Anderm ferner erschienen:


Erbauliche Parabeln
von
Christian Scriver,
einst Oberhofprediger und Consistorialrath in Quedlinburg. ──────


Sprachlich verjüngt
und als Schatzkästlein auf alle Tage des Jahres geordnet. ──────


Vierte, verbesserte Auflage,
(sieben und zwanzigste von „Gotthold's zufällige Andachten“). ──────


8. Fein Papier. Mit Stahlstichen. Gebunden.
Preis 1½ Thlr. ──────


(Eine Ausgabe in kleinerem Format, nicht ganz so
vollständig und ohne Stahlstiche, bei demselben Verleger erschienen
und betitelt „Chr. Scriver's Gleichnissandachten“ &c.,
ist geheftet für ⅔ Thlr. zu haben).


Dieses Werk „bildet einen kostbaren Diamantenschmuck aus 366 edlen,
ächten Steinen, in deren jedem sich der Himmel spiegelt. Es ist ein Buch für
Jedermann, vom Bettler auf dem Strohlager bis zum Fürsten auf dem
Throne.“ ─ „Scriver ist lichtvoll wie die Alpengipfel beim Aufgange der
Sonne in ihrer Pracht, scharf wie das Schwert Gideons, süß wie Honig
und Honigseim, mild wie ein Frühlingsthau im Mondenschimmer, fruchtbar
wie ein von Gott gesegneter Garten, christlich wie ein Apostel!“

──────
Sagen- und Mährchenwald
im Blüthenschmuck.


Von
L. Wiese.


2 Bde., geheftet. Preis 2 Thlr. ──────


Westphälische Volkssagen in Liedern


von
L. Wiese.


Geheftet. Preis ⅓ Thlr.


Auch über diese beiden Werkchen hat sich in den geachtetsten deutschen
Blättern die Kritik aufs günstigste ausgesprochen.

[figure]
[E193][E194]
Notes
*)

1) Auswahl deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, von
Dr. Theodor Echtermeyer. Dritte Auflage. Halle,
Buchhandlung des Waisenhauses. 1842.
2) Handbuch der poetischen Nationalliteratur der Deutschen
von Haller bis auf die neueste Zeit. Vollständige
Sammlung von Musterstücken &c. mit literarisch=ästhetischem
Kommentar. Von Dr. Heinr. Kurz. 3 Theile.
Zürich, Meyer und Zeller. 1840.

3) Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte. Von Haller
bis auf die neueste Zeit. Von Gustav Schwab.
Zweite Auflage. Leipzig, Weidmann. 1840.

4) Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes. Vollständigste
Sammlung deutscher Gedichte &c. Von Dr. O.
L. B. Wolff &c. Leipzig, Otto Wigand.

5) Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen, von
Dr. K. E. P. Wackernagel. Dritte Auflage. Berlin,
Duncker und Humblot. 1838.
*)

Anmerkung. Von diesem ist in den folgenden Paragraphen
des Abschnittes ausschließlich die Rede.
*)

Poggel: Ueber den Reim und die Gleichklänge.
Münster 1836. Wir empfehlen dieses Werkchen mit dankbarer
Anerkennung dessen, was wir aus demselben für diesen
Abschnitt benutzten.
*)

Anmerkung. Wir bemerken hier ein für alle mal, daß
wir bei solchen Hinweisungen auf die Literaturgeschichte in
der Regel vorzugsweise die letzten hundert Jahre berücksichtigen
und daß eine erschöpfende Vollständigkeit nicht
in unseren Absichten liegen kann.
*)

Was wir an Rhapsodien Bedeutendes besitzen, findet sich
in der, am Schluß unseres Werkes beigefügten Nachweisung
angegeben.
*)

Anmerkung. Jm Obigen haben wir uns ganz und zum
Theil wörtlich dem angeschlossen, was Gervinus im
dritten Bande seiner Literaturgeschichte über das deutsche
Epigramm bemerkt.
*)

Schlosser am angeführten Orte.
*)

Anmerkung. Die populäre Bedeutsamkeit der Sage
und des Mährchens bestimmt uns, zur näheren Charakterisirung
derselben hier das Wesentlichste dessen folgen zu
lassen, was die Gebrüder Grimm darüber (in der
Vorrede zu den deutschen Sagen) aussprechen. Man wird
es uns nicht verargen, wenn wir solcher Männer Worte
so wiedergeben, wie sie geschrieben wurden.
*)

Anmerkung. Romanisch nennt man die mit der Völkerwanderung
entstandenen Töchtersprachen der römischen oder
lateinischen Sprache; zu diesen gehören die italienische, französische,
portugiesische, spanische und rhätische Sprache.
*)

Anmerkung. Sie gründet sich zum Theil auf das,
was Kurz und Echtermeier über den Gegenstand aufgestellt
haben.
*)

Anmerkung. Wie Karl Beck dazu gekommen ist, seinen
„Janko“ einen Roman und noch dazu einen Roman
in Versen zu nennen, ist schwer zu begreifen.
*)

Anmerkung. Nach unserer Meinung bewirkt er vielmehr
meist das Gegentheil. Der Geschichtschreiber kann,
─ selbst wenn er sich einer schönern Darstellungsweise befleißigt,
als sich von den meisten unserer Historiographen
rühmen läßt, ─ seinen Stoff nicht immer so mundrecht bearbeiten,
daß der Leser nur „Genuß“ daran findet: er muß oft
Ernst, anhaltenden Fleiß und eine Anstrengung fordern,
wie sie der historische Roman nie verlangt. Und das
schreckt ab ─ man lies't, aber man studirt nicht gern.


Aber der historische Roman hat nur zu oft noch eine
weit bedenklichere Seite, die er zwar mit allen, auf geschichtlichem
Grunde ruhenden Poesien theilt, die aber bei
ihm am grellsten heraustritt: er trägt häufig zu falschen
Vorstellungen über den wahren Hergang der Begebenheiten
bei, er entstellt die Geschichte in den Köpfen seiner
Leser. Die Freiheit des Dichters, sich an die historische
Treue nur so weit zu binden, als es die poetischen
Zwecke fordern, bringt diesen Uebelstand mit sich. Würde
diese Freiheit nur bei unwesentlichen Gegenständen angewendet,
so ginge es noch, aber leider dehnen sie die Romanschreiber
oft auf sehr wesentliche aus und schaden so; ─
wie sehr, das wissen am besten alle Geschichtslehrer an
höhern Schulen. Denn es ist unmöglich, den Schülern
immer anzugeben, was im Roman wahr und was erfunden,
es ist unmöglich, weil die Zeit fehlt, ganz abgesehen
von dem Umstande, daß es Keinem zuzumuthen ist, alle
Specialitäten, die der Romanschreiber wohl aus weitläufigen
Quellen schöpfen kann, nach ihrem wirklichen Hergange
im Kopfe zu haben. Deshalb empfehlen wir allen Dichtern
historischer Romane, doch dem Beispiele zu folgen,
was Mundt in seinem Münzer gegeben: möglichst geschichtlich
treu zu schreiben!

*)

„Der Boden des Romans und der Novelle ist offenbar der
ergiebigste und fruchtbarste. Der Roman, das sogenannte
moderne Epos, ist das allgemeine Futter der Lesewelt,
jeder Magen ist ihm recht, er erkennt keinen Unterschied
der Stände an, er bringt, demokratisch wie er ist, eine
gewisse Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Empfindungen
in die hohen und niedern Stände, er pflanzt dieselben
Gefühle in die Dame von Stande, welche hinter seidenen
Fenstervorhängen lies't, wie in die Hökerin und Trödlerin,
welche in bretener Bude den kühnen Combinationen der
Romantik nachhängt. Der Roman wird daher mehr als
jede andere poetische und prosaische Gattung fabrikmäßig
betrieben, weil eine so ungeheure Zahl von Consumenten vorhanden
ist.“ Herm. Marggraff, Deutschlands jüngste
Literatur- und Kulturepoche.
*)

Anmerkung. Es wird kaum der Bemerkung bedürfen,
daß wir auch von diesen keineswegs Alles gutheißen können.
*)

Anmerkung. Denn Prolog und Epilog (siehe unten!),
in welchen zuweilen auch die Person des Dichters vorkommt,
sind nicht als wesentliche Theile des Dramas anzusehen.
*)

Jm Grunde aber kann, wie A. W. Schlegel richtig bemerkt,
das nicht für die Bühne berechnete Drama doch
nur dann wirken, wenn man sich die Bühne hinzudenkt.
*)

Anmerkung. So brach z. B. die belgische Revolution
von 1830 nach der Aufführung der Stummen von Portici
in Brüssel aus.
*)

„Das Theater, wo der Zauber mehrerer Künste vereinigt
wirken kann; wo die erhabenste und tiefsinnigste Poesie zuweilen
die gebildetste Schauspielkunst zur Dollmetscherin
hat, die Schauspielkunst, welche zugleich Beredtsamkeit und
bewegliches Gemälde ist; während die Architektur eine
glänzende Einfassung und die Malerei ihre perspektivischen
Täuschungen herleiht, und auch die Musik wohl zu Hülfe
gerufen wird, um die Gemüther zu stimmen, oder die
schon ergriffenen durch ihre Anklänge noch mächtiger zu
treffen; das Theater endlich, wo die gesammte gesellige
und künstlerische Bildung, welche eine Nation besitzt, die
Frucht von Jahrhunderte lang fortgesetzten Bestrebungen,
in wenigen Stunden zur Erscheinung gebracht werden kann:
das Theater hat einen außerordentlichen Reiz für alle Alter,
Geschlechter und Stände, und war immer die Lieblings=
Ergötzung geistreicher Völker. Hier sieht der Fürst, der
Staatsmann und Heerführer die großen Weltbegebenheiten
der Vorzeit, denen ähnlich, in welchen er selbst mitwirken
konnte, nach ihren innern Triebfedern und Beziehungen
entfaltet; der Denker findet Anlaß zu den tiefsten Betrachtungen
über die Natur und Bestimmnng des Menschen;
der Künstler folgt mit lauschendem Blick den vorüberfliehenden
Gruppen, die er seiner Phantasie als Keime
künftiger Gemälde einprägt; die empfängliche Jugend öffnet
ihr Herz jedem erhebenden Gefühl; das Alter verjüngt
sich durch Erinnerung; die Kindheit selbst sitzt mit ahnungsvoller
Erwartung vor dem bunten Vorhange, der rauschend
aufrollen soll, um noch unbekannte Wunderdinge zu enthüllen;
alle finden Erholung und Aufheiterung, und werden
auf eine Zeitlang der Sorgen und des täglichen Drucks
ihrer Lebensweise enthoben.“ A. W. Schlegel.
*)

Anmerkung. Der Name Tragödie soll nach der gewöhnlichen
Meinung so viel wie Bockgesang bedeuten
und seinen Ursprung entweder von dem Umstande, daß
bei den Bachusfesten, die man durch ernste lyrische oder
heroische Gesänge feierte, dem Gott zu Ehren ein Bock
geopfert wurde, oder von dem Gebrauch herschreiben, wonach
man bei diesen Festen dem besten Sänger einen Bock
als Preis zu Theil werden ließ.
*)

Komödie (wörtlich so viel wie Dorfgesang) bezeichnete
ursprünglich einen festlichen Umzug, den die Griechen unter
Anstimmung heiterer Spottgesänge an den Bachusfesten
durch die Dörfer und Fluren hielten. Hieraus bildete sich,
zunächst durch Aristophanes, die griechische Komödie.
Die Eigenthümlichkeiten der letztern konnten wir hier mit
Stillschweigen übergehen, da ein Verhältniß, wie zwischen
der griechischen und deutschen Tragödie, hier nicht obwaltet.
*)

Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Theile, die arabischen auf die
Seitenzahl.
**)

Die kleinern Ziffern deuten an, das wie vielte der auf der angegebenen
Seite befindlichen Gedichte gemeint sei.
***)

Die eingeklammerten Nummern sind Uebersetzungen, auf die leidet der
Text nicht immer Anwendung.

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TextGrid Repository (2016). ePoetics_Kleinpaul. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7B3-C