[EA1:d][EA1:c][EA1:b][EA1:a][E1]

EMIL STAIGER
GRUNDBEGRIFFE DER POETIK

[E2][E3]

EMIL STAIGER
GRUNDBEGRIFFE
DER POETIK


ATLANTIS VERLAG ZÜRICH

[E4]

Copyright 1946 by Atlantis Verlag AG. Zürich
Druck: Buchdruckerei Winterthur AG.
Printed in Switzerland

[E5]

Ludwig Binswanger gewidmet

[E6][7]

EINLEITUNG


Unter «Grundbegriffen der Poetik» werden hier die
Begriffe episch, lyrisch, dramatisch und allenfalls tragisch
und komisch verstanden ─ in einem Sinne jedoch,
der sich von dem bisher üblichen unterscheidet und
gleich zu Beginn erklärt werden muß. Der Titel Poetik
bedeutet zwar längst nicht mehr eine praktische Lehre,
die Ungeübte instand setzen soll, regelrechte Gedichte,
Epen und Dramen zu schreiben. Aber die neueren
Schriften, welche unter dem Namen Poetik gehen,
gleichen den älteren immerhin darin, daß sie das Wesen
des Lyrischen, Epischen und Dramatischen in bestimmten
Mustern von Gedichten, Epen und Dramen
vollkommen realisiert sehen. Diese Art der Betrachtung
stellt sich dar als Erbe der Antike. In der Antike nämlich
war jede poetische Gattung erst in einer beschränkten
Zahl von Mustern vertreten. Lyrisch etwa hieß eine
Dichtung, die nach Anlage, Umfang und zumal in der
Metrik dem entsprach, was die neun klassischen Lyriker
Alkman, Stesichoros, Alkaios, Sappho, Ibykos, Anakreon,
Simonides, Bacchylides und Pindar geschaffen
hatten. So konnten die Römer Horaz als Lyriker gelten
lassen, Catull dagegen nicht, weil er andere Versmaße
wählte. Seit der Antike haben sich aber die Muster unübersehbar
vermehrt. Wenn die Poetik weiterhin allen
Einzelbeispielen gerecht werden will, begegnet sie [8]
Schwierigkeiten, die kaum zu lösen sind und deren Lösung
wenig Ersprießliches mehr verspricht. Sie muß ─
um bei der Lyrik zu bleiben ─ Balladen, Lieder, Hymnen,
Oden, Sonette, Epigramme miteinander vergleichen,
jede dieser Arten durch ein bis zwei Jahrtausende
verfolgen und etwas Gemeinsames als den Gattungsbegriff
der Lyrik ausfindig machen. Dies aber, was
dann für alles gilt, kann immer nur etwas Gleichgültiges
sein. Außerdem verliert es seine Geltung in dem
Augenblick, da ein neuer Lyriker auftritt und ein noch
unbekanntes Muster vorlegt. Die Möglichkeit einer Poetik
ist deshalb nicht selten bestritten worden. Man
weiß sich etwas damit, dem historischen Wandel «vorurteilslos»
zu folgen, und lehnt jede Art von Systematik
als ungehöriges Dogma ab.


  Dieser Verzicht ist wohl zu verstehen, solang die Poetik
den Anspruch erhebt, alle je geschaffenen Gedichte,
Epen und Dramen in bereitgestellten Fächern
unterzubringen. Da kein Gedicht wie das andere ist,
sind grundsätzlich so viele Fächer nötig, als es Gedichte
gibt ─ womit sich die Ordnung selbst aufhebt.


  Wenn es aber kaum möglich ist, das Wesen des lyrischen
Gedichts, des Epos, des Dramas zu bestimmen,
ist eine Bestimmung des Lyrischen, Epischen und Dramatischen
allerdings denkbar. Wir brauchen den Ausdruck
«lyrisches Drama». «Drama» bedeutet hier eine
Dichtung, die für die Bühne bestimmt ist, «lyrisch» bedeutet
ihre Tonart; und diese wird als entscheidender für
ihr Wesen angesehen als die «Äußerlichkeit der dramatischen
Form». Wonach wird hier die Gattung bestimmt?


  Wenn ich ein Drama als lyrisch oder ein Epos ─ wie [E9]
Schiller «Hermann und Dorothea»1 ─ als dramatisch
bezeichne, muß ich schon wissen, was lyrisch oder dramatisch
ist. Ich weiß dies nicht, indem ich mich an alle
vorhandenen lyrischen Gedichte und Dramen erinnere.
Diese Fülle verwirrt mich nur. Ich habe vielmehr vom
Lyrischen, Epischen und Dramatischen eine Idee.
Diese Idee ist mir irgendeinmal an einem Beispiel aufgegangen.
Das Beispiel wird vermutlich eine bestimmte
Dichtung gewesen sein. Aber nicht einmal dies ist nötig.
Die, um mit Husserl2 zu reden, «ideale Bedeutung»
‚ lyrisch‘ kann ich vor einer Landschaft erfahren
haben, was episch, ist etwa vor einem Flüchtlingsstrom;
den Sinn von ‚dramatisch ‘ prägt mir vielleicht ein
Wortwechsel ein. Solche Bedeutungen stehen fest. Es
ist, wie Husserl gezeigt hat, widersinnig zu sagen, sie
können schwanken. Schwanken kann der Gehalt der
Dichtungen, die ich nach der Idee bemesse; das Einzelne
mag mehr oder minder lyrisch, episch, dramatisch
sein. Ferner können an Unsicherheit die «bedeutungverleihenden
Akte» leiden. Doch eine Idee von
«lyrisch», die ich einmal gefaßt habe, ist so unverrückbar
wie die Idee des Dreiecks oder wie die Idee von
«rot», objektiv, meinem Belieben entrückt.


  Mag aber die Idee auch unveränderlich sein, vielleicht
ist sie falsch. Wer rotgrünblind ist, hat keine
richtige Idee von «rot». Gewiß! Doch diese Frage betrifft
nur die terminologische Zweckmäßigkeit. Meine
Idee von «rot» muß dem entsprechen, was man gemeinhin
«rot» nennt. Sonst brauche ich ein falsches [10]
Wort. So muß die Idee von «lyrisch» dem entsprechen,
was man gemeinhin, ohne klaren Begriff, als lyrisch bezeichnet.
Das ist nicht der Durchschnitt dessen, was nach
äußeren Merkmalen Lyrik heißt. Niemand denkt bei «lyrischer
Stimmung», «lyrischem Ton» an ein Epigramm;
doch jedermann denkt dabei an ein Lied. Niemand denkt
bei «epischer Ruhe», «epischer Fülle» an Klopstocks
«Messias». Man denkt am ehesten an Homer, ja nicht
einmal an den ganzen Homer, sondern an vorzüglich epische
Stellen, denen sich andere, mehr dramatische oder
mehr lyrische, anschließen mögen. An solchen Beispielen
müssen die Gattungsbegriffe herausgearbeitet werden.


  Insofern besteht allerdings ein Zusammenhang zwischen
dem Lyrischen und der Lyrik, dem Epischen und
dem Epos, dem Dramatischen und dem Drama. Die
Kardinalbeispiele des Lyrischen werden vermutlich in
der Lyrik, die des Epischen vermutlich in Epen zu finden
sein. Daß aber irgendwo eine Dichtung anzutreffen
sei, die rein lyrisch, rein episch oder dramatisch wäre,
ist nicht von vornherein ausgemacht. Unsere Untersuchung
wird im Gegenteil zu dem Ergebnis gelangen,
daß jede echte Dichtung an allen Gattungsideen in verschiedenen
Graden und Weisen beteiligt ist und daß die
Verschiedenheit des Anteils die unübersehbare Fülle
der historisch gewordenen Arten begründet.


  Man könnte noch fragen, ob die Dreizahl lyrisch ─
episch ─ dramatisch selbstverständlich vorausgesetzt
werden dürfe. Irene Behrens1 hat gezeigt, daß sie erst
am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufgekommen [11]
ist. Aber auch da bezeichnen die Namen nicht
unsere Ideen, sondern bestimmte poetische Muster. So
verzichten wir vorläufig darauf, auf diese Frage einzutreten,
und übernehmen die eingebürgerten Titel als
Arbeitshypothese. Ob alle Arten möglicher Dichtung
von da aus beurteilt werden können, muß erst der Gang
der Betrachtung zeigen.


  Die Beispiele sollten grundsätzlich der ganzen Weltliteratur
entnommen werden. Es wird sich aber kaum
vermeiden lassen, daß die Auswahl den Standort des
Betrachters verrät. Die deutschen und die griechischen
Dichter werden bevorzugt, einzig deshalb, weil ich mit
diesen am besten vertraut bin. Mein Standpunkt verriete
sich aber auch, wenn ich in slawischer, nordischer
oder gar außereuropäischer Dichtung besser belesen
wäre. Es wäre immer noch einer, dessen Muttersprache
deutsch ist, der dieses Schrifttum zu beschreiben sich anheischig
macht. Solche Grenzen bleiben gezogen, man
mag sich stellen, wie man will. Der Schaden ist freilich
nicht so groß, wie wenn es sich um eine Poetik im
alten Sinne handeln würde. Dennoch könnte es sein,
daß alles in einer Hinsicht betrachtet wird, die nur für
das deutsche Sprachgebiet von einigem Interesse ist.
Dies zu entscheiden, steht mir nicht zu.


  Ich schließe nur die Bitte an, man möge ein Urteil
über die Teile der Darstellung auf den Schluß verschieben.
Es liegt am Problem, daß noch mehr als sonst das
Einzelne nur im Rahmen des Ganzen richtig aufgefaßt
werden kann. Insbesondere werden viele zunächst recht
unbestimmte Begriffe wie «Innerlichkeit», «Geist»,
«Seele» erst allmählich ausgewiesen. Da der Ausweis [12]
aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten
von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen.



  Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift
darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt,
daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er
meint, wenn er «lyrisch», «episch» oder «dramatisch»
sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche
Propädeutik, als Instrument für den Interpreten,
das eine rasche Verständigung über allgemeine
Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen,
welche dem besonderen Schaffen der einzelnen
Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie
freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen,
insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der
Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage
nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der
Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft
an die philosophische Anthropologie. Darin berührt
sie sich mit dem Buch «Die Zeit als Einbildungskraft
des Dichters», das, 1939 erschienen, an Gedichten
Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten
des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer
sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren
zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich
terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor
allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als «reißende
Zeit» bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung
der individuellen Realität vom rein idealen
Wesen ist erst in den «Grundbegriffen» mit der gehörigen
Strenge durchgeführt.

[13]

LYRISCHER STIL: ERINNERUNG

1.


Als eines der reinsten Beispiele lyrischen Stils gilt
«Wanderers Nachtlied» von Goethe. Es ist schon oft beschrieben
worden, wie in den ersten beiden Versen


«Über allen Gipfeln

Ist Ruh ...»

in dem langen «u» und der folgenden Pause die schweigende
Dämmerung hörbar wird, wie in den Zeilen


«In allen Wipfeln

Spürest du ...»

das Reimwort auf «Ruh» nicht ebenso tief beschwichtigt,
weil der Satz nicht schließt, die Stimme also gehoben
bleibt, und dies der angedeuteten letzten Regung
in den Bäumen entspricht; wie endlich die Pause nach


«Warte nur, balde ...»

gleichsam das Warten selber sei, bis im Schlußvers


«Ruhest du auch ...»

in den beiden letzten langgezogenen Worten sich alles
beruhigt, sogar das unruhigste Wesen, der Mensch.


  Ähnliche Betrachtungen ließen sich anstellen über
die Strophe Verlaines:

[14]
«Et je m'en vais

Au vent mauvais,

  Qui m'emporte

Deçà, delà,

Pareil à la

  Feuille morte.»

  Der zweite Vers klingt fast wie der erste, nur daß der
Nasal ─ so scheint es ─ in nachlässigem Spiel verschoben
ist. Die Wörter «vais ─ mauvais, delà ─ à la» können
kaum als Reime gelten; die Zunge bildet denselben
Vokal, als ob sie sinnlos lallen wollte. Das flüchtige «la»
als Reimwort nimmt der Sprache noch das letzte Gewicht.
So werde, könnte man sagen, etwas hoffnungslos
Verspieltes hörbar; die Laute schon flößen die Stimmung
ein, die uns der Anblick im Winde treibender
herbstlicher Blätter bereitet.


  Wenn wir unserm Gefühl für antike Verse trauen
dürfen, möchte man auch im Schluß der bekannten
sapphischen Strophe


Ἄστερες μὲν ἀμφὶ κάλαν σελάνναν

in dem Adoneus


Λαῖτμ' ἔπι καὶ γᾶν

die klare und weite Ruhe hören, die der volle Mond
über Land und Meer legt.


  In solchen Beobachtungen gefällt sich die Stilkritik.
Es läßt sich nichts dagegen sagen. Der Laie jedoch, der
schlichte Freund der Dichtung, ist unangenehm berührt.
Er meint, man wolle dem Dichter eine Absicht [15]
unterschieben, wo das Absichtslose erfreut und jede
Spur von Absicht verstimmt.


  Der sogenannte Kenner hat Grund, das Urteil des
Liebhabers nicht zu verachten. Denn wahr ist auch sein
Erkennen nur, solang er zugleich Liebhaber bleibt.
Doch es ist vielleicht möglich, den Streit zu schlichten.
Der Kenner müßte nur zugeben, daß hier keine Lautmalerei
vorliegt. Lautmalerische Verse sind uns in
großer Zahl aus den Epen Homers bekannt, etwa aus
Vossens Übertragung der vielzitierte, vielgerühmte und
angefochtene Hexameter:


«Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische

Marmor.»

Oder das «Dumpfhin kracht' er im Fall», das ausgezeichnet
das griechische δούπησέν τε πεσών auf deutsch
wiedergibt; oder der Vers, der das Liebeswerben Kalypsos
um Odysseus schildert:


Αἰεὶ δὲ μαλακοῖσι καὶ αἱμυλίοισι λόγοισι ... (I, 56).

  Hier werden lautliche Mittel der Sprache auf einen
Vorgang angewandt. «Anwenden auf ...» bedeutet,
daß die Sprache und der beschriebene Vorgang voneinander
geschieden sind. Wir sagen deshalb mit Recht,
die Sprache gebe den Vorgang «wieder». Der Begriff
«imitatio» ist am Platz. Das sprachliche Nachahmen
ist eine Leistung, von der sich einigermaßen Rechenschaft
ablegen läßt: diese Folge von lauter Daktylen
gibt das Gepolter des Marmors wieder, dieser Reichtum
von Vokalen die Verführungskünste Kalypsos. Solche
Nachweise verstimmen kaum, weil der Leser die Absicht [16]
voraussetzt oder doch immerhin für möglich hält,
und weil der Nachweis nur die Freude des Dichters an
dem, was ihm so hübsch gelungen ist, zu bestätigen
scheint.


  Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang
sprachlich «wieder»-gegeben. Es ist nicht so, daß in
«Wanderers Nachtlied» hier die Abendstimmung wäre,
und dort die Sprache mit ihren Lauten zur Verfügung
stünde und auf den Gegenstand angewandt würde. Sondern
der Abend erklingt als Sprache, von selber; der
Dichter «leistet» nichts. Es gibt hier noch kein Gegenüber.
Die Sprache geht in der Abendstimmung auf,
der Abend in der Sprache. Deshalb muß der Nachweis
einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deutung
nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich
eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern.
Denn das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn
es je bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist
als jeder physiognomische Nachweis, eine Seele tiefer
als jeder Erklärungsversuch der Psychologie.


  Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in
dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik.
Es ist eine unmittelbare Musik, während die Lautmalerei
─ mutatis mutandis und ohne Werturteil ─ der
Programmusik zu vergleichen wäre. Nichts kann heikler
sein als ein solches unmittelbares Verlauten von Stimmung.
Daher ist jedes Wort, ja jede Silbe in einem lyrischen
Gedicht ganz unentbehrlich und unersetzlich.
Wen es nicht ekelt, der setze in «Wanderers Nachtlied»
statt «spürest» «merkest» ein; er streiche nur das «e»
in «Vögelein» und frage sich, ob die Zeile damit nicht [17]
ernstlich beeinträchtigt sei. Wohl sind nicht alle Gedichte
so empfindlich wie gerade dieses. Aber je lyrischer
ein Gedicht ist, desto unantastbarer ist es. Kaum
wagt man, es vorzulesen, aus Scheu, die Silben, im
Widerspruch zum Ton des Dichters, zu dehnen oder zu
kürzen, zu leise oder zu stark zu betonen. Epische Hexameter
sind viel robuster. Ihr Vortrag ist, in gewissen
Grenzen wenigstens, lernbar. Lyrische Verse aber,
wenn sie schon vorgetragen werden sollen, tönen nur
richtig, sofern sie aus tiefer Versenkung, aus einer
weltabgeschiedenen Stille neu erstehen ─ selbst wenn es
heitere Verse sind. Sie brauchen den Zauber der Eingebung,
und alles, was den Verdacht der Absicht erregen
könnte, verstimmt auch hier.


  Das ist es, was die Übertragung in fremde Sprachen
erschwert oder ausschließt. Bei Lautmalereien mag sich
ein findiger Übersetzer vielleicht behelfen. Ganz unwahrscheinlich
ist es aber, daß gleichbedeutende Wörter
verschiedener Sprachen dieselbe lyrische Einheit der
Laute und ihrer Bedeutung ergeben. Ein Beispiel führt
Ernst Jünger im «Lobe der Vokale»1 an. Es ist die lateinische
Strophe:


«Nulla unda

Tam profunda

Quam vis amoris

Furibunda.»

Wenn die Gewalt der Liebe hier mit dem Wasser verglichen
wird, so beschwören die Reimworte «unda, [18]
profunda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls,
aus der das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen
kann. Die deutsche Übersetzung lautet:


«Keine Quelle

So tief und schnelle

Als der Liebe

Reißende Welle.»

Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das
verdoppelte «l». Wir meinen wieder, das Wasser zu
hören, aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die
eilig strömende Flut. Und dies ist eine andere Liebe,
nicht verhaltene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft.
Dem entsprechen die neuen oder veränderten
Wortbedeutungen. «Schnelle» stand nicht im lateinischen
Text, auch «reißende» nicht. Der Einklang
von Laut und Bedeutung ist also ebenso rein wie im
Original. Das Ganze jedoch ist völlig verwandelt.


  Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich
ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen
und dramatischen Versen. Denn jedermann
glaubt doch etwas zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn
er die fremde Sprache nicht kennt. Er hört die Laute
und Rhythmen und wird, diesseits des diskursiven Verstehens,
von der Stimmung des Dichters berührt. Die
Möglichkeit einer Verständigung ohne Begriffe deutet
sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins scheint im
Lyrischen bewahrt.


  Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte,
die auch mit Worten angestimmt werden kann. Der
Dichter selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang [19]
bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische
Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte
achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende
selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die
Rede ist. Liebe ─ Tod ─ Wasser, irgendein holdes Ungefähr
genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos
fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt,
wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden.
Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks
nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen
gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik
der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein,
sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik
aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich
mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt.
Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen
einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht
gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der
auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder
dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die
Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches
ausgelassen:


«Viel Wandrer lustig schwenken

Die Hüt' im Morgenstrahl ...»
«Weg, du Traum! so gold du bist;

Hier auch Lieb und Leben ist ...»
«Was soll all der Schmerz und Lust?»

  In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen
nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen [20]
Kräftefelder, nach denen die Worte sich ordnen, offenbar
mächtiger sind als der Zwang zum grammatisch
Richtigen und Gewohnten.


  Außerdem gibt es nun aber Gedichte, deren Motiv
oder Sinn sehr dürftig, sogar belanglos ist, und die doch
unverwelklich Jahrhunderte lang in der Seele des Volkes
blühen. Goethe hat dies zwar bestritten. In den Gesprächen
mit Eckermann ist einmal von serbischen Liedern
die Rede1. Eckermann freut sich an den Motiven,
die Goethe in Worte gefaßt hat: «Mädchen will den
Ungeliebten nicht», «Liebesfreuden verschwatzt»,
«die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter
den Gästen». Er bemerkt dazu, die Motive seien an sich
schon so lebendig, daß er kaum noch nach dem Gedicht
verlange. Darauf gibt ihm Goethe zur Antwort:


  «Sie haben ganz recht, es ist so. Aber Sie sehen daraus
die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen
will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun
vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen
sie und denken dabei bloß an die Empfindung, an die
Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und
Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven
besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem
Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten
gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß
durch Empfindungen und klingende Verse eine Art
von Existenz vorspiegeln.»


  Dieselbe Schätzung des Motivs hat Goethe auch in der
bildenden Kunst, zum Verdruß der romantischen Maler,
bezeugt. Er hat es sogar gewagt, zu erklären, erst [21]
eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht
an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei
Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die
Fahrten des Odysseus vermögen auch in den «Sagen des
klassischen Altertums» von Schwab den Leser zu fesseln.
Eine kräftige Nacherzählung von Schillers «Wallenstein»
wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den
Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein
Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines
Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten
Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen.
Und widerlegt nicht eines der berühmtesten
Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein
schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich
die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem
Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet,
an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist,
ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein
Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie
verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles
wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine
nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten
der Weltliteratur gehöre.


  Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus
der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte,
die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet
hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der
deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff
der Form, der, wie man ihn auch wenden mag,
doch immer ein zu Formendes und eine formende
Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird, [22]
voraussetzt. Eben dieses Gegenüber einer Form und
eines zu Formenden öffnet in lyrischer Dichtung sich
nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden,
wo das Verschiedenste, Schmerz und Lust, Waffengetöse
und Heimkehr des Helden, in die eine «Form»,
den Hexameter, der unverrückbar in allem Wechsel besteht,
hineingegossen wird. In lyrischer Dichtung dagegen
entstehen die Metren, Reime und Rhythmen in
eins mit den Sätzen. Keins ist vom andern zu lösen, und
also sind diese nicht Inhalt und jene nicht Form.


  Daraus scheint nun aber zu folgen, daß in lyrischer
Dichtung so viele metrische Gebilde vorliegen müssen,
als Stimmungen ausgesprochen werden. Eine Spur davon
ist allerdings in der historischen Lyrik sichtbar. Der
alten Poetik, welche die Gattung nach metrischen Kennzeichen
zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik
nämlich gerade durch die Verschiedenheit der Maße,
«varietate carminum», Schwierigkeiten. Es bleibt ihr
am Ende nichts anderes übrig, als eben diese «varietas»
kennzeichnend für die Gattung zu finden. Die Namen
«Asclepiadeus», «alkäische», «sapphische» Strophe
zeigen zudem, daß ursprünglich wenigstens jeder Meister
des Melos seinen eigenen Ton singt, ein Ideal, das
im Mittelalter wieder zu neuer Geltung gelangt. Das
Höchste jedoch scheint erst erreicht, wenn nicht nur jeder
Dichter, sondern jedes Lied seinen eigenen Ton,
seine eigene Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es
denn auch in den kurzen Liedern aus Goethes ersten
Weimarer Jahren, in «Rastlose Liebe», «Herbstgefühl»,
vollkommener noch in «Wanderers Nachtlied», in
«Über allen Gipfeln ist Ruh'», weil dieses wunderbare [23]
Gedicht nicht nur in jeder Zeile die feinste metrische
Schmiegsamkeit verrät, sondern überhaupt in keiner
metrischen Rechnung mehr aufgeht und also vor jeglicher
Nachahmung geschützt ist. Ferner wären hier
die kurzen Lieder Mörikes zu nennen: «Er ist's», «In
der Frühe», «Septembermorgen», «Um Mitternacht»,
«Auf den Tod eines Vogels».


  Dennoch ist es falsch, der Einzigartigkeit des metrischen
Rahmens zu große Bedeutung beizumessen und
die ungezählten Gedichte, die sich in gleichgebauten
jambischen und trochäischen Versen bewegen, von
vornherein minder lyrisch zu nennen. Auch innerhalb
desselben metrischen Rahmens sind rhythmische Wandlungen
möglich, die jeder Individualität der Stimmung
vollkommen Genüge tun. Mörikes «Verborgenheit»
zum Beispiel ist in den landesüblichsten trochäischen
Vierzeilern gehalten:


«Laß, o Welt, o laß mich sein!

Locket nicht mit Liebesgaben,

Laßt dies Herz alleine haben

Seine Wonne, seine Pein!»

Dennoch stimmt der Ton vollkommen mit der Aussage
überein! Eine sanft abwehrende Gebärde, ein Zurückweichen
wird vernehmlich in dem leisen Nachdruck,
der auf der ersten Silbe liegt, und in der folgenden,
durch das Komma markierten scheuen Pause:


«Laß, o Welt, o laß mich sein!»

Es ist, als ob der Dichter dem Liebeswerben der Welt
zuvorkommen wollte. Der dreimalige Einsatz mit «l» [24]
mag noch das Seine zu diesem Gefühl beitragen ─ auch
hier sind nur Andeutungen möglich; dann geht es gelassener
weiter; die Abwehr hat genügt; die Welt läßt
dieses Herz nun sein.


  Ganz anders klingt die dritte Strophe:


«Oft bin ich mir kaum bewußt,

Und die helle Freude zücket

Durch die Schwere, so mich drücket,

Wonniglich in meiner Brust.»

Der metrische Rahmen bleibt sich gleich. Die Melodie
ist jetzt aber steigend. Die ersten Silben «oft» und
«durch» haben jedenfalls nicht den Nachdruck von
«laßt», «locket», «laßt». Dagegen gewinnt das Ende
der Verse. «Bewußt», «zücket», «drücket» ist betonter
als «sein», «haben» und als die beiden letzten Silben
von «Liebesgaben». Weil der Ton sich gegen das
Ende steigert, ist diese Strophe zart beschwingt, während
die erste mit ihrem sinkenden Ton gleichsam zurückweicht.
Hugo Wolf hat dies gewürdigt und die
dritte Strophe mit einer besonderen Melodie bedacht.
Seine Komposition enthüllt den Sinn der Verse so, daß
auch der empfindlichste Liebhaber nicht verstimmt ist.

2.


  Gedichte wie «Wanderers Nachtlied», «Er ist's»,
«In der Frühe» geben den reinsten Begriff von dem,
was Fr. Th. Vischer das «punktuelle Zünden der Welt
im lyrischen Subjekt» nennt1. Es sind Gedichte von [25]
wenigen Zeilen. Alle echt lyrische Dichtung dürfte
nur von beschränktem Umfang sein. Das geht schon
aus dem Gesagten hervor und wird sich im Folgenden
wieder bewähren. Der lyrische Dichter leistet nichts. Er
überläßt sich ─ das will buchstäblich verstanden sein ─
der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache
wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der einen
oder der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten ist
unwillkürlich. «Wes das Herz voll ist, des geht der
Mund über.» Gerade Mörike hat freilich an seinen Gedichten
lange gefeilt. Doch dieses Feilen ist etwas anderes,
als wenn ein Dramatiker seinen Plan überdenkt
oder wenn ein Epiker neue Episoden einfügt oder das
Alte noch deutlicher zu gestalten versucht. Der Lyriker
lauscht immer wieder in die einmal angetönte Stimmung
hinein, er erzeugt sie aufs neue, so wie er sie
auch im Leser erzeugt. Und schließlich gewinnt er den
unterwegs verlorenen Zauber der Eingebung zurück
oder gibt doch mindestens ─ wie viele Dichter sinkender
Zeiten, denen ein großes Erbe ward ─ den Schein des
Unwillkürlichen. Conrad Ferdinand Meyer hat diesen
Weg sehr oft vom ersten Entwurf bis zur letzten Fassung
zurückgelegt. Meyer kann aber schwerlich als
Prototyp des Lyrikers gelten. Anders hat Clemens Brentano
gedichtet, über die Laute gebeugt und improvisierend
zum Erstaunen der Freunde. Wir hören es seinen
Liedern an, wie sie von selber aufklingen in ihm:


«Von den Mauern Widerklang ─

Ach! ─ im Herzen frägt es bang:

Ist es ihre Stimme?»
[26]
«Wie klinget die Welle!

Wie wehet ein Wind!

O selige Schwelle,

Wo wir geboren sind!»

Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren
selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht
sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen,
sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu
erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und
aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich
weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern
geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift ─ Brentano
hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch
ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht.


  Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet
sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische
eine Idee ist, die sich ─ nicht aus menschlicher Schwäche
des Dichters, sondern ihrem Wesen nach ─ als Dichtung
nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs
durch das Epische oder Dramatische bedarf.


  Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger
Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein
neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen,
wenn der Dichter dahintreibt im Auf und
Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch
dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit,
deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt
Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile
den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze
dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da [27]
wird ein Ideal des ununterbrochenen lyrischen Daseins
erstrebt, das künstlerisch nicht mehr möglich ist und
zu völliger Selbstauflösung führt.


  So bliebe die lyrische Dichtung also auf den engsten
Raum beschränkt? Ich füge ein Zwischenbeispiel ein,
Goethes Gedicht
«Auf dem See.

Und frische Nahrung, neues Blut

Saug ich aus freier Welt;

Wie ist Natur so hold und gut,

Die mich am Busen hält!

Die Welle wieget unsern Kahn

Im Rudertakt hinauf,

Und Berge, wolkig himmelan,

Begegnen unserm Lauf.
Aug, mein Aug, was sinkst du nieder?

Goldne Träume, kommt ihr wieder?

Weg, du Traum! so gold du bist;

Hier auch Lieb und Leben ist.
Auf der Welle blinken

Tausend schwebende Sterne,

Weiche Nebel trinken

Rings die türmende Ferne;

Morgenwind umflügelt

Die beschattete Bucht,

Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.»

  Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit
Auftakt, klingt keck und frisch; der zweite, mit den [28]
längeren Versen, ist eine Erinnerung, die zurückhält;
im dritten wird die Fahrt mit leicht gedämpftem
Entzücken fortgesetzt. Dreimal findet das «punktuelle
Zünden der Welt» im Dichter statt, jedesmal anders, so
daß nicht eigentlich von drei Strophen die Rede sein
kann. Die Eingebungen werden nur aneinandergereiht,
weil sie sachlich und zeitlich zusammengehören.
Wir wissen nun aber nicht recht, ob ein Gedicht oder
ob ein Zyklus vorliegt. Für einen Zyklus ist der Abstand
der Teile zu gering, für ein Gedicht zu groß. Es sind lyrische
Momente einer Fahrt. Was die Momente einigt,
ist nicht in Stimmung und Sprache ausgeprägt, sondern
ist ein Zusammenhang, der nur biographisch besteht
und, gebührend erweitert, alle Gedichte Goethes
als «Bruchstücke einer Konfession» zusammenschließt.


  So bleibt die Frage noch immer in Kraft: Wie kommen
längere Lieder zustande, die in sich selbst geschlossen
sind?


  Was lyrische Dichtung vor dem Zerfließen bewahrt,
ist einzig die Wiederholung. Doch irgendwelche
Wiederholung eignet aller Poesie. Die allgemeinste ist
der Takt als Wiederholung gleicher Zeiteinheiten.
Hegel vergleicht den Takt mit den Säulen- und Fensterreihen
der Architektur und weist darauf hin, daß das
Ich nicht unbestimmtes Fortbestehen und haltungslose
Dauer sei, sondern sich erst durch Sammlung und
Rückkehr in sich selbst als Selbst gewinne:


  «Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den
Takt in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist
umso vollständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit
weder der Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, [29]
sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört
und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die
Zeit hineingesetzt ist»1.


  Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexameter
oder das Maß eines Lieds, sofern ein solches fixierbar
ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner
Metaphysik, erklärt, die Gleichförmigkeit gehöre
nicht der Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so
meint er damit, daß «in Wirklichkeit» ja niemals ─ es
sei denn in metronomischem Vortrag ─ gleiche Takte
fallen, sondern die Gleichheit nur als eine über mehr
oder minder großen Schwankungen sich behauptende
regulative Idee vernommen wird. Es ist der Widerstreit
von Takt und Rhythmus, wie ihn auch Heusler
beschreibt2. Ob Takt und Rhythmus bei natürlichem
Vortrag sich einander nähern oder weit auseinandergehen,
ist wesentlich für den Stil eines Dichters. In
Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten
so sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen.
In Mörikes «Verborgenheit» tritt die Gleichheit des
Taktes in den einzelnen Strophen hinter dem Wechsel
des Rhythmus zurück und scheint nur noch wie ein
Auge zu sein, das unauffällig die Verse bewacht und vor
Auflösung behütet. In «Wanderers Nachtlied» aber ist
der Takt überhaupt nicht mehr deutlich erkennbar;
verschiedene Regelungen sind möglich, je nachdem die
Dauer der Silben und der Pausen eingeschätzt wird.
Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall würden
zerrinnen.

[30]

  Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet
es die neutrale Wiederholung des Takts, nicht in
Richtung auf die Prosa, sondern zugunsten eines im
Einklang mit der Stimmung sich wandelnden Rhythmus.
Das ist nur der metrische Ausdruck dafür, daß in
lyrischer Dichtung ein Ich und ein Gegenstand einander
noch kaum gegenüberstehen. Bei Schiller dagegen
ist der Abstand besonders groß, was der schroffen Antithese
einer in allem Wandel identischen Person und
eines wandelbaren Zustands in seiner Ästhetik entspricht.



  Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere
Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht
aus den beiden metrisch gleichgebauten Strophen:



«Ich wandre durch die stille Nacht,

Da schleicht der Mond so heimlich sacht

Oft aus der dunklen Wolkenhülle,

Und hin und her im Tal

Erwacht die Nachtigall,

Dann wieder alles grau und stille.
O wunderbarer Nachtgesang:

Von fern im Land der Ströme Gang,

Leis Schauern in den dunklen Bäumen ─

Wirrst die Gedanken mir,

Mein irres Singen hier

Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»

  Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie
in den vier Strophen von Mörikes «Verborgenheit».
Doch auch in rhythmischer Hinsicht unterscheiden sich [31]
diese Strophen kaum. Der etwas schwere Auftakt in
der ersten wiederholt sich an derselben Stelle in der
zweiten:


«Oft aus der dunklen Wolkenhülle ...»

«Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...»

ebenso im letzten Vers der etwas leichtere, aber immer
noch fast unmerklich akzentuierte Auftakt:


«Dann wieder alles grau und stille ...»

«Ist wie ein Rufen nur aus Träumen ...»

Die Gewichte sind auffallend ähnlich verteilt. Einzig im
vierten Vers ist der Rhythmus empfindlich verändert:


«Und hin und her im Tal ...»

«Wirrst die Gedanken mir ...»

Daß weitere, nicht mehr faßliche Unterschiede bestehen,
sei nicht bestritten. Sie kommen aber gegen die
rhythmische Ähnlichkeit im Ganzen nicht auf. Das
heißt: Die Musik der ersten Strophe wird in der zweiten
wiederholt. Dieselbe Saite klingt noch einmal, gibt einen
zweiten, ganz ähnlichen Ton, dessen Schwingung
sogar die Unterschiede der Aussage zu verschleiern
scheint wie ein mit Pedal gehaltener Akkord, über dem
eine Melodie sich fortsetzt.


  Noch einen Schritt weiter führt uns Mörikes «Um
Mitternacht».


«Gelassen stieg die Nacht ans Land,

Lehnt träumend an der Berge Wand,

Ihr Auge sieht die goldne Waage nun

Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;»
[32]
Und kecker rauchen die Quellen hervor,

Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr

Vom Tage,

Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied,

Sie achtets nicht, sie ist es müd;

Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,

Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.

Doch immer behalten die Quellen das Wort,

Es singen die Wasser im Schlafe noch fort

Vom Tage,

Vom heute gewesenen Tage.»

  Im selben Vers ist von dem gleichgeschwungnen Joch
der Zeit die Rede, im selben Verspaar von den Quellen;
und endlich münden die beiden Strophen sogar in dieselben
Worte aus. Die rhythmische Wiederholung hebt,
wie gegen allmählich schwindenden Widerstand der
Rede, die sich fortsetzen möchte, die Unterschiede der
Aussage auf.


  Solche Wiederholung ist einzig in lyrischer Dichtung
möglich. Man sage nicht, auch in Epen Homers
würden Verse wörtlich wiederholt. Wir lesen freilich
immer wieder:


«Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte»

«Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten

Mahle ...»

Hier aber werden nur dieselben Worte, die der Dichter
schon früher brauchte, für eine neue Mahlzeit und einen
neuen Morgen gewählt. Die lyrische Wiederholung [33]
dagegen meint mit denselben Worten nichts Neues,
sondern dieselbe einzigartige Stimmung klingt noch einmal
auf.


  Die verschleierte Wiederholung wie in Eichendorffs
«Nachts» kommt seltener vor und kann die lyrische
Stimmung höchstens über zwei, drei Strophen ausdehnen.
Was weitergeht, ermüdet. So läßt man sich in
Brentanos «Spinnerin» die Wiederholung das erste Mal
gern gefallen; die zweite wirkt bereits monoton. Die
wörtliche Wiederholung dagegen heißt Kehrreim und
ist in jüngster und ältester Dichtung vieler Völker üblich.
Freilich sind die meisten Kehrreime anders angeschlossen
als in Mörikes «Um Mitternacht». In diesem
Gedicht ist nämlich der Ton lyrisch vom Anfang bis
zum Schluß. Der Kehrreim unterscheidet sich in seinem
Aggregatzustand kaum von den ersten Versen der
Strophe. Meist aber, zumal in Volksliedern und in volksliedmäßigen
Gedichten, fällt er auf durch musikalischere
Diktion. Ja, er scheint nicht selten alles Lyrische
in sich zu sammeln, während die übrigen Verse mehr
zum Epischen oder Dramatischen neigen. Unzählige
Beispiele gibt Brentano. In seinen längeren Gedichten
wird immer wieder ein balladenhafter Vorgang oder
auch ein Erlebnis in ziemlich saloppen Versen erzählt
und gleichsam kapitelweise durch einen bezaubernden
Kehrreim abgeschlossen:


«O wie blinkte ihr Krönlein schön,

Eh die Sonne wollt untergehn.»
«O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.»
[34]

Im Zusammenhang der Strophen:


«Ich träumte hinaus in das dunkle Tal

Auf engen Felsenstufen,

Und hab mein Liebchen ohne Zahl

Bald hier, bald da gerufen.

Treulieb, Treulieb ist verloren!
Mein lieber Hirt, nun sage mir,

Hast du Treulieb gesehen?

Sie wollte zu den Lämmern hier

Und dann zum Brunnen gehen. ─

Treulieb, Treulieb ist verloren ...»

  Die wechselnden Verse solcher Lieder werden meist
in einer mehr rezitativischen Weise vorgetragen, von
einem Einzelsänger womöglich, damit die «Geschichte»
verstanden wird. Beim Kehrreim fallen die Zuhörer ein.
Der Gesang schwillt an. Das Musikalische überwiegt die
Bedeutung der Worte.


  Der Kehrreim kommt aber auch am Anfang und in
der Mitte der Strophen vor:


«Nach Sevilla, nach Sevilla ...»

«Einsam will ich untergehen ...»

«Nun soll ich in die Fremde ziehen ...»

Brentano ahmt hier wieder die Volkslieder aus «Des
Knaben Wunderhorn» nach. Und diese Beispiele zeigen
wohl am deutlichsten, was der Kehrreim leistet. Der
Dichter schlägt die Saite, die unwillkürlich in seinem
Herzen erklang, mit Wissen und Willen abermals an
und lauscht dem Ton zum zweiten, dritten, vierten und
fünften Male nach. Was sich als Sprache von ihm gelöst [35]
hat, erzeugt dieselbe Stimmung wieder, ermöglicht
eine Rückkehr in den Moment der lyrischen Eingebung.
Dazwischen mag er erzählen oder über die Stimmung
reflektieren. Das Ganze bleibt doch lyrisch gebunden.
Der Kehrreim am Strophenende ist davon nicht grundsätzlich
unterschieden. Das Lyrische wird nur künstlich
zurückgestellt, und es ist sinngemäß, wenn der Kehrreim
dann in der Überschrift erscheint, wie in «Treulieb,
Treulieb ist verloren». Denn damit beginnt es in
Wahrheit auch hier. Der Kehrreim ist die musikalische
Quelle des ganzen Gedichts.


  Als Wiederholungen anderer Art sind noch die Gebilde
zu nennen, die, wie das Rondell, eine Kreisbewegung
beschreiben oder in irgendwelcher Verflechtung
auf frühere Verse zurückkommen:


«Verflossen ist das Gold der Tage,

Des Abends braun und blaue Farben:

Des Hirten sanfte Flöten starben,

Des Abends blau und braune Farben;

Verflossen ist das Gold der Tage.»

 (Georg Trakl)


  In größerem Rahmen ist Strindbergs Bühnenstück
«Nach Damaskus» so angelegt. Wenn der Dichter von der
Mitte an die Bühnenbilder in umgekehrter Folge wiederholt
und schließlich wieder zum ersten zurückkommt,
gewinnt das Ganze in der Tat eine lyrische Färbung. Der
Zuschauer wird nicht hingerissen (vergl. Seite 162) sondern,
ähnlich wie im «Traumspiel», eingewiegt.


  Die lyrische Wiederholung drängt sich nun weiter
bis ins Einzelne vor. Ein besonders aufschlußreiches
Beispiel bietet wieder Brentano:

[36]
«Die Welt war mir zuwider,

Die Berge lagen auf mir,

Der Himmel war mir zu nieder,

Ich sehnte mich nach dir, nach dir!

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!
Ich trieb wohl durch die Gassen

Zwei lange Jahre mich;

An den Ecken mußt ich passen

Und harren nur auf dich, auf dich!

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!»

Das wiederholte «nach dir», «auf dich» leitet deutlich
von den mehr rezitativischen Versen zum Kehrreim
über. Eine Komposition drängt sich geradezu auf. Die
ersten drei Verse dürften melodisch wenig ausgeprägt
sein. Der vierte würde sich gegen den Schluß zu
schmerzlich-innigem Gesang erheben, zu einer Musik,
die dann im Kehrreim, völlig entbunden, ausströmen
könnte. Das Lyrische verdichtet sich in dieser Strophe
gegen das Ende. Es verdichtet sich immer, wo einzelne
Wörter oder Wortgruppen wiederholt sind:

«Nach seinem Lenze sucht das Herz

In einem fort, in einem fort ...»

(C. F. Meyer)


«Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut ...»


(A. v. Droste)

«O Lieb, o Liebe! so golden schön ...»

(Goethe)

«Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus ...»
«Aveva gli occhi neri, neri, neri ...»
[37]

  Auch solche Wiederholungen sind allein in lyrischer
Sprache möglich, oder, anders ausgedrückt: wo immer
wir solchen Wiederholungen begegnen, empfinden wir
die Stelle als lyrisch1. Der Sinn ist derselbe wie beim
Kehrreim. Das «punktuelle Zünden der Welt» wiederholt
sich; der angeschlagenen Saite lauscht der Dichter
noch einmal nach.


  Das leitet uns schließlich über zum Reim. Es kann
sich freilich nicht darum handeln, dem Reim, dessen
Bedeutung sich in der Geschichte der Dichtung immerzu
wandelt, nach allen Seiten gerecht zu werden. Wir
müssen nur wissen, daß seine Vieldeutigkeit die größte
Vorsicht gebietet.


  Der Reim kommt erst in der christlichen Dichtung
auf und scheint bestimmt, die metrische Vielgestaltigkeit
der antiken Lyrik, die allmählich schwindet, zu ersetzen.
Es ist, als würde die Musik aus einer anderen
Quelle geschöpft. Gedichte, die beides verbinden, gereimte
sapphische Strophen zum Beispiel, wirken darum
nicht eben erfreulich, als sei des Guten zuviel getan.
Dennoch kann der Reim, indem er das Ende der Verse
markiert, vorwiegend metrische Qualitäten besitzen.
Humboldt hat gerade dies an Schillers Versen gerühmt2.
Hier aber stehen jetzt nur die Reime mit klangmagischer
Wirkung in Frage, Reime, die also nicht so sehr
gliedern, als vielmehr magnetisch weiterziehen und
über die Unterschiede der Aussage hinwegzutäuschen
geeignet sind. Eine der wunderbarsten Proben sind die [38]
Reime und Assonanzen in Brentanos «Romanzen vom
Rosenkranz»:


«Allem Tagewerk sei Frieden!

Keine Axt erschall im Wald!

Alle Farbe ist geschieden,

Und es raget die Gestalt.
Tauberauschte Blumen schließen

Ihrer Kelche süßen Kranz,

Und die schlummertrunknen Wiesen

Wiegen sich in Traumes Glanz.
Wo die wilden Quellen zielen

Nieder von dem Felsenrand,

Ziehn die Hirsche frei und spielen

Freudig in dem blanken Sand ...»

  So geht es weiter, dreiundsechzig Strophen lang, in
dem immer gleichen hypnotischen Wechsel von «i» und
«a». Dieselben Laute heben immer wieder dieselbe
Stimmung herauf. Und es müßte schon ein musikalisch
unempfindlicher Leser sein, der nach dem ersten Lesen
anzugeben wüßte, wovon der Dichter im Einzelnen
spricht. Abend ─ Frieden ─ Schlaf: das bleibt im Gemüt
erhalten als das Eine, während das Viele darunter weiterfließt,
ein unaufhaltsamer Strom.

3.


  Die Einheitlichkeit der Stimmung ist im Lyrischen
umso nötiger, als der Zusammenhang, den wir sonst
von einer sprachlichen Äußerung erwarten, hier manchmal [39]
nur ungenau und oft genug überhaupt nicht ausgeprägt
ist. Die Sprache scheint im Lyrischen auf vieles
wieder zu verzichten, was sie in allmählicher Entwicklung
von parataktischer zu hypotaktischer Fügung, von
Adverbien zu Konjunktionen, von temporalen Konjunktionen
zu kausalen in Richtung auf logische Deutlichkeit
gewonnen hat.


  Spittelers «Bescheidenes Wünschlein» beginnt:


«Damals, ganz zuerst am Anfang,

  wenn ich hätte sagen sollen,

Was, im Fall ich wünschen dürfte,

  ich mir würde wünschen wollen ...»

Das ist anmutig, aber nur deshalb, weil es in freundlicher
Ironie der wahren Natur des Lyrischen spottet.
Spitteler macht aus der Not eine Tugend und unterstreicht
mit übertriebenen logischen Konstruktionen
seinen Mangel an lyrischer Begabung. Doch wenn ein
Liederdichter sich ernsthaft in so deutlicher Logik ausspricht,
vermissen wir an dem Lied die Musik. Denn
Denken und Singen vertragen sich nicht. Ein Gedicht
Hebbels, das «Lied» überschrieben ist, beginnt mit den
Strophen:


«Komm, wir wollen Erdbeern pflücken,

  Ist es doch nicht weit zum Wald,

Wollen junge Rosen brechen,

  Sie verwelken ja so bald!
Droben jene Wetterwolke,

  Die dich ängstigt, fürcht ich nicht;
[40]
Nein, sie ist mir sehr willkommen,

  Denn die Mittagssonne sticht.»

Die Schuld an dem frostigen Eindruck tragen vor allem
die scheinbar harmlosen Wörtlein «doch», «ja», «nein»,
«denn». Fallen sie weg, so nähern sich diese belehrenden
Verse schon eher dem Lied:


«Wir wollen Erdbeern pflücken,

Es ist nicht weit zum Wald,

Und junge Rosen brechen,

Rosen verwelken so bald ...»

  Nicht gegen alle Konjunktionen sind Lieder gleich
empfindlich. Am unangenehmsten scheinen die kausalen
und finalen zu wirken. Gelegentlich ein «wenn»
oder «aber» beeinträchtigt die Stimmung kaum. Das
Selbstverständlichste jedoch ist eine schlichte Parataxe
wie etwa in Eichendorffs «Rückkehr»:


«Mit meinem Saitenspiele,

Das schön geklungen hat,

Komm ich durch Länder viele

Zurück in diese Stadt.
Ich ziehe durch die Gassen,

So finster ist die Nacht,

Und alles so verlassen,

Hatt's anders mir gedacht.
Am Brunnen steh ich lange,

Der rauscht fort, wie vorher,

Kommt mancher wohl gegangen,

Es kennt mich keiner mehr.
[41]
Da hört' ich geigen, pfeifen,

Die Fenster glänzten weit,

Dazwischen drehn und schleifen

Viel fremde, fröhliche Leut'.
Und Herz und Sinne mir brannten,

Mich trieb's in die weite Welt,

Es spielten die Musikanten,

Da fiel ich hin im Feld.»

  Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer
Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche
Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds
und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht.
Denselben Satzbau finden wir aber auch in Goethes
Lied «An den Mond», in «Über allen Gipfeln ist Ruh'»,
bei Verlaine, ja weiter zurück sogar auf lyrischen Höhepunkten
des Barock, des sonst so leidenschaftlich auf
logische Fugen erpichten Jahrhunderts, wie etwa in
Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stunden der
süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches Dichten,
sondern der feinste Kunstverstand, was hier,
zumal in der letzten Strophe, die lyrische Sprache
schafft:


«Ich schwamm in Freude,

Der Liebe Hand

Spann mir ein Kleid von Seide,

Das Blatt hat sich gewandt,

Ich geh' im Leide,

Ich wein' itzund, daß Lieb' und Sonnenschein

Stets voller Angst und Wolken sein.»
[42]

  Ein einziger Nebensatz steht am Schluß. Gerade hier
läßt aber auch die lyrische Wirkung fühlbar nach und
geht das Singen in Sprechen über. Ein solches «daß»
gehört offenbar zu den unlyrischen Konjunktionen.
Die Volkslieder schließen sich hier an, und aus der Antike
sei wieder Sappho erwähnt, jener lyrische Urlaut,
der aus der Ferne von zweieinhalb Jahrtausenden als
vertrautes Geheimnis herübertönt:


Δέδυκε μὲν ἀ σελάννα

καὶ πληίαδες· μέσαι δὲ

νύκτες  ‚ παρὰ δἔρχετ' ὤρα·

ἔγω δὲ μόνα κατεύδω.

  Doch mit dem Begriff «parataktisch» ist lyrische
Sprache noch nicht genügend bestimmt. Denn auch die
epische ist parataktisch, so daß man ebenso sagen könnte:
je parataktischer, desto epischer (vergleiche Seite 120).
Im Epischen aber sind die Teile selbständig, im Lyrischen
sind sie es nicht. Das zeigt sich in neuerer Dichtung
schon orthographisch, indem hier ganze Sätze oft
nur durch Komma abgetrennt werden. Es wäre nicht
nur öde Pedanterie, sondern Stilwidrigkeit, in Eichendorffs
«Rückkehr» oder in Goethes «An den Mond»
nach dem Duden verfahren zu wollen. Der lyrische
Fluß geriete ins Stocken. Noch deutlicher wird der Unterschied,
wenn wir etwa die Prosa Eichendorffs mit
der Prosa Kleists oder Lessings vergleichen. Hier die
reichste Interpunktion, dort eine Scheu, schärfer trennende
Zeichen zu setzen, die an die Gepflogenheiten
im Briefstil von Frauen gemahnt. Es sind dieselben
«Frauenzimmer», die Goethe in den Gesprächen mit [43]
Eckermann wegen ihrer Neigung zu bloß musikalischen
Gedichten so unfreundlich tadelt. Vielleicht, daß
hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen Dichtung
oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt.


  Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der
Teile daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch
einer loseren Folge von Satzteilen oder gar einzelnen
Wörtern weicht:


«Und hin und her im Tal

Erwacht die Nachtigall,

Dann wieder alles grau und stille ...»

Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang
der zweiten Strophe:


«O wunderbarer Nachtgesang:

Von fern im Land der Ströme Gang,

Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...»

Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen,
sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind:
noch ehe die Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder
zerronnen. Das stetige Fließen verhindert den Abschluß
eines einzelnen Teils. So auch in Annette von
Drostes «Im Grase»:


«Süße Ruh', süßer Taumel im Gras,

Von des Krautes Arome umhaucht,

Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut,

Wenn die Wolk' am Azure verraucht,

Wenn aufs müde, schwimmende Haupt

Süßes Lachen gaukelt herab,
[44]
Liebe Stimme säuselt und träuft

Wie die Lindenblüt' auf ein Grab.»

Oder bei Goethe:


«Dämmrung senkte sich von oben,

Schon ist alle Nähe fern;

Doch zuerst emporgehoben

Holden Lichts der Abendstern!»

Manchmal ist eine grammatische Beziehung der Teile
zwar zu finden, aber sie wird, vom unbefangenen Leser
mindestens, nicht gesucht, zum Beispiel in Eichendorffs
«Wanderlied»:


«Durch Feld und Buchenhallen,

Bald singend, bald fröhlich still,

Recht lustig sei vor allen,

Wer's Reisen wählen will!»

Das wäre grammatisch so zu fassen: Wer's Reisen wählen
will, der sei durch Feld und Buchenhallen bald
singend, bald fröhlich still, vor allen recht lustig. ─
Über die Sinnlosigkeit einer solchen Erklärung des
grammatischen Sinns braucht wohl kein Wort verloren
zu werden.


  Nicht selten bleiben sogar nur einzelne unverbundene
Wörter zurück:


«Tote Lieb', tote Lust, tote Zeit»

steht in der zweiten Strophe von Annette von Drostes
«Im Grase» ohne jeden Bezug nach vorwärts und rückwärts.
Und vollends scheint Brentanos berühmter Kehrreim:


[45]
«O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit ...»

wie Wasser des Lebens zu sein, das sich der Dichter
durch die Hand rinnen läßt: Es bleibt nichts Ganzes,
Umrissenes, nur diese flüchtigen, aber ahnungsvollen
Worte kehren immer wieder als Ertrag eines lyrischen
Daseins.


  Wo immer auch in einer Erzählung das Band des
Satzes aufgelöst ist, empfinden wir die Stelle als lyrisch,
in Eichendorffs «Julian», einer kleineren Verserzählung,
etwa die Verse:


«Drauf von neuem tiefes Schweigen,

Und der Ritter schritt voll Hast ...»

Oder im «Spiritus familiaris des Roßtäuschers» der
Annette von Droste:


«Tief tiefe Nacht, am Schreine nur der Maus geheimes

Nagen rüttelt!»

  Einzig im pathetischen Stil sind gleichfalls unvollständige
Sätze und sogar einzelne Wörter möglich. Ihr
Sinn ist aber ein ganz andrer. Pathetische Unvollständigkeit
bedeutet eine Forderung (vergleiche Seite 165).
Der Lyriker fordert nichts; im Gegenteil, er gibt nach;
er läßt sich treiben, wohin die Flut der Stimmung ihn
trägt.


  Es hieße darum, genau genommen, diese sprachlichen
Befunde mißverstehen, wenn man sie als Ellipsen
interpretieren wollte. Der Begriff Ellipse besagt, daß in
einem grammatischen Gefüge etwas fehlt, was zwar [46]
zum Satz gehört, doch zum Verständnis entbehrlich ist.
Setzt man das Fehlende ein, so deckt sich die grammatische
Fügung des Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren
Beispielen aber wäre es unmöglich, etwas einzusetzen,
ohne den lyrischen Sinn zu fälschen.


«Von fern im Land der Ströme Gang»:

Wird hier «rauscht» eingefügt, so gewinnt der Satz
schon eine Deutlichkeit, die der Meinung des Dichters
fern liegt. Und soll in der ersten Strophe von «Im
Grase» der Hauptsatz zu dem Wenn-Satz dadurch gewonnen
werden, daß wir ergänzen: «Süße Ruh ist im
Grase; tiefe Flut ist, wenn die Wolk' am Azure verraucht»,
so leuchtet uns ein, daß der lyrische Ton gerade
diesem «ist» widerstrebt und daß auch dort, wo
der Dichter «ist» sagt, schwerlich ein Sein im Sinne des
bestehenden Daseins gemeint sein dürfte. Ohne den pessimistischen
Klang gilt für den Lyriker Werthers Wort:
«Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht ...?»


  Mit anderen Worten: Es gibt für den Lyriker keine
Substanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches.
Eine Frau hat keinen «Körper» für ihn,
nichts Widerständiges, keine Konturen. Sie hat vielleicht
eine Glut der Augen und einen Busen, der ihn
verwirrt, aber keine Brust im Sinne einer plastischen
Form und keine fest geprägte Physiognomie. Eine Landschaft
hat Farben und Lichter und Düfte, aber keinen
Boden, keine Erde als Fundament. Wenn wir deshalb
in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen, so dürfen
wir niemals an Gemälde, sondern höchstens an
Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen, [47]
unbekümmert um die Zusammenhänge des
Raumes und der Zeit. Und wo die Bilder fester stehen,
wie in vielen Gedichten Gottfried Kellers, fühlen wir
uns schon weit vom innersten Kreis des Lyrischen abgerückt.
In Goethes Lied «An den Mond» fließt räumlich
und zeitlich Nächstes und Fernstes zusammen, nicht
anders in Mörikes «Im Frühling» und in der «Durchwachten
Nacht» der Droste. Wir nennen das Sprünge der
Einbildungskraft, so wie wir in der Sprache von grammatischen
Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch Sprünge
sind solche Bewegungen nur für die Anschauung und
den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern
sie gleitet. All das Entlegene ist in ihr so nahe beisammen,
wie es sich zeigt. Und der Verbindungsglieder bedarf
sie nicht, da alle Teile in der Stimmung bereits verbunden
sind.

4.


  So wenig innerhalb eines Gedichts logische Fugen
nötig sind, so wenig bedarf das Ganze einer Begründung.
In epischer Dichtung muß Wann, Wo und Wer doch
einigermaßen klargestellt sein, bevor die Geschichte anheben
kann. Erst recht setzt der Dramatiker einen
Schauplatz voraus, und was an Begründung des Ganzen
noch mangelt, das trägt er nach. Auch ein Gedicht kann
zwar mit einer Art Exposition beginnen. Mörike zum
Beispiel teilt gern den Anlaß eines Gefühls mit:


«Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel ...»

Nötig ist dies aber nicht. Eichendorffs «Gärtner» beginnt
gleich mit dem vollen Geständnis der Liebe:

[48]
«Wohin ich geh und schaue ...»

Eine Situation, in der diese Worte möglich sind, mag
sich der Leser beliebig aus dem Titel ergänzen, wenn er
dazu ein Bedürfnis fühlt und den Auftritt im «Leben
eines Taugenichts», aus dem die Verse in die Liedersammlung
übergegangen sind, nicht kennt. Ein Gedicht
von C. F. Meyer hebt an:


«Geh nicht, die Gott für mich erschuf!

Laß scharren deiner Rosse Huf

Den Reiseruf!»

Wer will eine Reise antreten? Wer versucht die Scheidende
zurückzuhalten? Wir erfahren es nur ganz unbestimmt,
so, daß viele mögliche Situationen zugrundegelegt
werden können. Bei Marianne von Willemers
Versen:


«Was bedeutet die Bewegung?

Bringt der Ost mir frohe Kunde?»

gibt die Biographie die Auskunft, daß Goethe von
Frankfurt abgereist ist und nun der Wind wie ein Bote
von ihm herüberweht. Eine solche Auskunft mag die
Freude an einem Gedicht erhöhen. Dennoch ist sie entbehrlich
und wird von den meisten Lesern nicht verlangt.
Noch weniger wird sich jemand einfallen zu lassen,
zu fragen, welche Himmelsrichtung gemeint sei in Mignons
Versen:


«Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh ich ans Firmament

Nach jener Seite.»
[49]

Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang
von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angewiesen.
Wie viele lieben und singen sie, ohne den Roman
zu kennen!


  Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen
Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen
Konjunktionen beginnen:


«Und frische Nahrung neues Blut ...»

(Goethe)

«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...»


(Goethe)


«Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ...»

(Rilke)


  Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen
einer Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle
im Lauf eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein
sich in Musik. Das ist die «Gelegenheit», die
Goethe veranlaßt hat, jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht
zu nennen. Die Gelegenheit als solche
steht in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang.
Sie läßt sich biographisch, psychologisch, soziologisch,
historisch oder biologisch begründen. Goethe hat in
«Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst die Gelegenheit
zu vielen Gedichten aus dem Zusammenhang
seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat dies
mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten
auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten,
weil der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft
selber nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten,
weil sie unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare
Verständlichkeit beruht jedoch nicht etwa
darauf, daß der Leser die Worte auf eine ähnliche Gelegenheit [50]
seines eigenen Lebens bezieht. Wo dies geschieht,
findet gerade keine reine Aufnahme statt. Was
eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt, anderes mißachtet.
Oft ist keine Beziehung möglich, und wenn sie
besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich
Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost
gespendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen
lebt. Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen
─ im weitesten Sinne des Wortes ohne Grund.
Nur wer nicht mitschwingt, fordert Gründe. Nur wer
die Stimmung nicht unmittelbar zu teilen vermag, muß
sie möglich finden und ist auf Begreiflichkeit angewiesen.



  Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit
einer Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker
selber nicht. Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum
und dichtet für sich. Doch eine solche Behauptung
will erläutert sein. Auch Lyrisches wird ja veröffentlicht.
Die Ernte von Jahren wird gesammelt und
einem Publikum vorgelegt. Gewiß! Doch hier schon,
in einem Gedichtband, nimmt sich, mit Goethe zu reden,
das «leidenschaftliche Gestammel geschrieben gar
so seltsam aus». Und das Sammeln der losen Blätter hat
nicht nur Goethe als widersinnig empfunden. Wenn
der Gedichtband vorliegt, was fängt das Publikum damit
an? Man kann lyrische Gedichte vortragen, aber nur
so, wie man ein theatersicheres Drama auch lesen kann.
Sie kommen im Vortrag nicht zu ihrem Recht. Ein Rezitator,
der vor vollem Saal ausgesprochen lyrische Dichtung
vorträgt, macht fast immer einen peinlichen Eindruck.
Schon eher möglich ist der Vortrag im kleinen [51]
Kreis, vor Menschen, auf deren Herz wir uns verlassen
dürfen. Ganz aber blüht ein lyrisches Stück nur in der
Stille einsamen Lesens auf. Und auch dieses Aufblühen
ist ein Glück, das dem Leser nicht alle Tage beschert
wird. Wir blättern in einer Liedersammlung. Nichts
spricht uns an. Die Verse klingen leer, und wir wundern
uns über den eitlen Dichter, der sich die Mühe
nahm, dergleichen aufzuschreiben, zusammenzustellen
und seinen Zeitgenossen oder der Nachwelt zuzumuten.
Auf einmal aber, in einer besonderen Stunde,
ergreift uns eine Strophe, ein ganzes Gedicht. Später
schließen sich weitere an; und wir erkennen fast bestürzt,
daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wirkung
einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt,
noch, wie die dramatische, aufregt und spannt. Das
Lyrische wird eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen
soll, muß der Leser offen sein. Er ist offen, wenn seine
Seele gestimmt ist wie die Seele des Dichters. Und also
erweist sich lyrische Poesie als Kunst der Einsamkeit,
die rein nur von Gleichgestimmten in der Einsamkeit
erhört wird.


  Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit
Du anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches
Du-sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der
Dichter «ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte
Liebe aber spricht ein Du, von dem das Ich
weiß, daß es nicht eingeht.


  Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet
werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet,
der Sinn der Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann,
Brahms, Hugo Wolf und Schoeck sind Meister [52]
der Kunst, in wenigen, einleitenden Takten eine Beschwörungsformel
zu geben, die alles, was nicht zum
Text gehört, verbannt und die Trägheit des Herzens
löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen deutscher
Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dichtung
erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste
Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des
Dichters hinwegmusiziert.


  Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich
allein mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen
wie eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich
zu verbindlicher Neigung zu seinem Nachbarn genötigt
fühlt, oder wie ein Finale Beethovens, dem man zutraut,
daß es alle zum Aufstehen in einem entschlossenen Ruck
zu bewegen vermöchte. Der Beifall, der bei solcher Musik
am Platz ist, verletzt uns nach lyrischen Liedern.
Denn da waren wir einsam und sollen nun auf einmal
wieder mit anderen sein.


  Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungsgesetze
der epischen und dramatischen Poesie zu
finden, vom Verhältnis des Rhapsoden und Mimen zum
Publikum ausgegangen1. Ähnliches ließe sich für die
Lyrik, die sie nicht berühren, leisten:


  Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleichgestimmte
angeht, braucht keine Überredungskunst.
Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung
aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden
soll, braucht nicht zu begründen. Begründen in lyrischer
Dichtung ist unfein, so unfein, wie wenn ein [53]
Liebender der Geliebten die Liebe mit Gründen erklärt.
Und ebensowenig, wie er genötigt ist, zu begründen,
muß er bestrebt sein, dunkle Worte aufzuhellen.
Wer in der gleichen Stimmung ist, besitzt einen Schlüssel,
der mehr erschließt, als geordnete Anschauung und
folgerichtiges Denken. Es wird dem Leser zumute sein,
als habe er selbst das Lied verfaßt. Er wiederholt es im
Stillen, kann es auswendig, ohne es zu lernen, und
spricht die Verse vor sich hin, als kämen sie aus der eigenen
Brust.


  Doch eben weil uns lyrische Dichtung so unmittelbar
erschlossen ist, bereitet die mittelbare, diskursive Erkenntnis
Schwierigkeiten. Das heißt: Es ist leicht, ein
Gedicht zu erfassen, genauer: es ist weder leicht noch
schwer, sondern es macht sich von selbst oder gar nicht.
Doch über lyrische Verse reden, sie beurteilen und das
Urteil gar begründen, ist fast nicht möglich. Ja, das Urteil
wird gerade den lyrischen Wert kaum je betreffen
und sich an anderes halten, was in jedem Gedicht immer
auch noch da ist, an die Bedeutung des Motivs zum
Beispiel oder ein kühnes Gleichnis. Der Unterschied zur
dramatischen Poesie tritt hier ins hellste Licht. Ein
Drama von Ibsen, Hebbel oder Kleist zu verstehen und
bis ins Einzelne zu durchschauen, ist nicht leicht. Doch
wenn es verstanden ist, fällt die Begründung der Erkenntnis
nicht mehr schwer. Denn der Gegenstand selber
ist nach allen Seiten begründet. Er gehört derselben
Schicht an wie die Sprache, die erklärt und
schließt. Deshalb nimmt sich die Ästhetik mit Vorliebe
des Dramas an, während die Lyrik oft ein apokryphes
Dasein führt oder mit Verlegenheit behandelt wird. Daher [54]
auch die große Uneinigkeit in der Würdigung von
Gedichten. Die Meister der Klassik und Romantik sind
heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch über neue,
noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils ein
Streit, der in umso seltsamere Formen ausartet, als niemand
Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird
Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so
fühle er ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch
echte lyrische Poesie ist einzigartig, unwiederholbar.
Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue,
noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch
muß sie vernehmlich sein und den Leser mit der
Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er
selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen Ansprüchen
also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfahrene Leser
finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird,
schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten
sie Mirakel schreien ─ mit Fug und Recht! Denn ein
unerklärliches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der
sich durch Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende,
wohlbegründete Wahrheit, überredende Kraft
oder Evidenz geht ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste,
was sich auf Erden finden läßt. Dennoch
vereint er die Hörenden inniger als jedwedes andere
Wort. Sofern aber alle echte Dichtung in die Tiefe des
Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses Ursprungs
an ihr glänzt (vergleiche Seite 223), gründet alle Dichtung
im Unergründlichen, einem «sunder warumbe»
eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der
Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung
mehr nötig ist.

[55]

5.


  Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe
allen bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde
liegt, so muß sich dies Eine als solches erweisen und
nennen lassen. Einheit der Musik der Worte und ihrer
Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne
ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens,
gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer
Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen
und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der
Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten
erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer
Dichtung keinerlei Abstand besteht.


  Dieser Satz will näher untersucht und durch neue
Befunde ergänzt sein.


  Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen
Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem
Lyrischen eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es
spricht uns an oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt,
sofern wir uns in der gleichen Stimmung befinden.
Dann klingen die Verse in uns auf, als kämen sie
aus der eigenen Brust. Vor epischer und dramatischer
Dichtung scheint eher Bewunderung am Platz. Der Anteil
an lyrischer Poesie verdient den intimeren Namen
Liebe.


  In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache
größte Bedeutung. Musik wendet sich an das Gehör. Im
Hören setzen wir uns jedoch dem Gehörten nicht eigentlich
─ nicht wie im Sehen, dem Gesehenen ─ gegenüber.
Die Phänomenologie der Sinne ist zwar noch [56]
wenig ausgebildet; und eben in diesen Bereichen finden
wir uns von Mehrdeutigkeiten verwirrt. Immerhin läßt
sich wohl soviel sagen: Wenn wir ein Bild betrachten
wollen, treten wir ein wenig zurück, damit wir es übersehen
und das im Raum Verteilte als ein Ganzes aufzufassen
imstande sind. Der Abstand ist hier wesentlich.
Beim Hören von Musik spielt Nähe und Ferne nur insofern
eine Rolle, als die Instrumente aus einer bestimmten
Entfernung am besten klingen. Der richtige Abstand
vom Instrument ist etwa mit der günstigsten Beleuchtung
von Bildern zu vergleichen. Er schafft jedoch
kein Gegenüber wie beim Bild, das uns «vor-gestellt»
wird und das wir uns wieder, wenn es nicht mehr da
ist, vorzustellen vermögen. Vielmehr gilt von der Musik
das Wort Paul Valérys, der erklärt, Musik hebe den
Raum auf. Wir seien in ihr, sie sei in uns. Der wahre
Hörer sei «esclave de la présence générale de la musique»,
eingeschlossen mit ihr wie eine Pythia in der
Kammer voll Rauch1. Das Gleichnis, auf das Lyrisch-Intime
bezogen, scheint vielleicht zu mächtig. Und freilich
wäre beizufügen, daß nicht alle Musik als lyrisch
bezeichnet werden darf. Eine Fuge von Bach ist nicht
lyrisch. Ob bei einer Fuge ein Abstand bestehe, und welchen
besonderen Sinn dies habe, kann hier nicht ausgeführt
werden. Lyrisch ist aber jene Musik, die Schiller
in der Schrift vom Erhabenen mit so scharfen Worten
verurteilt:


  «Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur
auf die Sinnlichkeit anzulegen, und schmeichelt dadurch [57]
dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt,
nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben
sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen,
und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal
ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende
Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender
Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich
auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen,
der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges
Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell
und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung
stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne
schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit
im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum
Raube wird1


  Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder,
ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten
Worten beschreibt:


  «Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge
der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde
Stimme ─ was weiß ich mehr? Bei Kindern und
dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem
Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten, würken
sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken
würde, wenn ihr leise, feine Stimme vom Himmel
tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser
grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit,
da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem
Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der [58]
Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude, in unsre
Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern
stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunkeln Majestät
aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen,
hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden
konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung
tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der
Leichtsinnige grauset und zittert ─ nicht über Gedanken,
sondern über Silben, über Töne der Kindheit; und es
war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder
zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung,
das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: ‚Ton der
Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben
Ton versetzen! ‘»1


  Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer
verschwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und
dem, wovon er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist
«ich». Er sagt es aber anders als der Verfasser einer
Selbstbiographie. Vom eigenen Leben erzählen kann
man erst, wenn eine Epoche zurückliegt. Dann wird das
Ich von höherer Warte aus überblickt und gestaltet.
Der lyrische Dichter «gestaltet» sich so wenig, wie er
sich «begreift». Die Worte «gestalten» und «begreifen»
setzen ein Gegenüber voraus. Wenn jenes für
selbstbiographische Darstellungen am Platz sein mag,
so dieses vielleicht für ein Tagebuch, in dem ein Mensch
sich Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt.
Nur scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr
gemessen wird, liegt das Thema hier näher als in der [59]
Selbstbiographie. Denn wer ein Tagebuch schreibt,
macht sich zum Gegenstand einer Reflexion. Er reflektiert,
er beugt sich auf das eben Vergangene zurück.
Damit er sich zurückbeugen kann, muß er sich vorher
weggebeugt haben. Und in der Tat! Der Begriff bewährt
sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tagebuchschreiber
befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt
und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht,
spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch
aus.


  Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus
des Lyrischen aufmerksam. Im Lyrischen herrscht
das Präsens vor, so sehr, daß es verlorene Mühe wäre,
Beispiele aufzuzählen. Lehrreicher ist die Beobachtung,
daß auch das Präteritum einen anderen Sinn hat als im
Epischen. Wir lesen noch einmal Eichendorffs «Rückkehr»
(Seite 40). Seltsam schwankt der Dichter zwischen
Präsens und Präteritum, als komme es nicht so
genau darauf an. Einzig im letzten Vers:


«Da fiel ich hin im Feld»

ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen.
Denn dieser Vers erzählt ein Ereignis, das
zurückliegt und deutlich in seinem zeitlichen Abstand
aufgefaßt wird. Doch dieser Vers «klingt» auch nicht
mehr. Eichendorff ist aus dem Zauber erwacht und
spricht ihn wie verstört vor sich hin; das Lied ist aus.
Die anderen Präterita aber, die mit dem Präsens vertauscht
werden könnten, stellen keinen zeitlichen Abstand
her. Das Vergangene, das sie meinen, ist nicht
fern und nicht vorbei. Ungestaltet, unbegriffen bewegt [60]
es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener
Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt,
die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:


«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,

Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,

Wo die Silbersaite, angeschlagen,

Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,

  Der mein Leben lang,

  Erst heut noch, widerklang,

Ob die Saite längst zerrissen schon.»

  Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört
dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen
ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte
Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung»1 und meint
damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über
die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus
Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung,
«Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel,
wo die Begegnung mit Marianne von Willemer,
die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele
erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:


«Und da duftet's wie vor alters,

Da wir noch von Liebe litten ...»

Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung
an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht
im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung.
Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes [61]
Ereignis fühlbar; das Herz klopft, und schließlich
zieht die Erinnerung das Gedächtnis nach; wir können
sagen, wo dieser Duft uns früher einmal die Sinne
betäubte. Daß Düfte so sehr der Erinnerung und so
wenig dem Gedächtnis gehören, hängt zweifellos damit
zusammen, daß wir sie nicht gestalten, ja oft genug
sogar kaum benennen können. Ungestaltet, unbenannt,
werden sie nicht zu Gegenständen. Und nur von dem,
was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand macht,
sind wir frei. Nur dazu haben wir «Stellung bezogen»1.



  Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er
gleitet mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt
für ihn eine ausschließliche Mächtigkeit ─ jetzt
dieser Ton, jetzt wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt
ihn so, daß er nicht angeben kann, wie das Spätere sich
zum Früheren verhält. Wo deshalb ein Zusammenhang
ausdrücklich hergestellt, Konturen ausgezogen oder gar
Teile durch logische Konjunktionen wie «weil», «demnach»
aufeinander bezogen werden, da ist das Gleiten
unterbrochen. Wir fühlen uns ernüchtert oder, was
dasselbe heißt, unbewegt, ans feste Ufer abgesetzt, da
wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten weitertragen
lassen und dazu eingeladen waren.


«Mag der Grieche seinen Ton

Zu Gestalten drücken,

An der eignen Hände Sohn

Steigern sein Entzücken;
[62]
Aber uns ist wonnereich,

In den Euphrat greifen

Und im flüßgen Element

Hin und wider schweifen ...»

  So hat Goethe «Lied und Gebilde» einander gegenübergestellt.
Wenn die dritte Strophe dann freilich vom
geballten Wasser in der reinen Hand des Künstlers
spricht, so scheint sich klassische Ästhetik doch wieder
gegen die Lyrik behaupten zu wollen, es sei denn, der
Vers bedeute nur das Wunder, daß dies Flüssige in der
Lyrik dennoch Sprache werden kann, ein Rätsel, an
dessen Lösung sich erst ein späterer Abschnitt versuchen
wird. Hier genügt uns, einzusehen, daß die Ungehörigkeit
des Begriffs der Form, die parataktische Folge ohne
scharfe Begrenzung der Teile, die Nötigung, durch den
Kehrreim und Wiederholungen anderer Art die sonst
unerreichbare Einheit zu gewinnen, sich wieder aus dem
Fehlen des Abstands begreift, das alle lyrischen Phänomene
charakterisiert.


  Immer ist es derselbe Abstand, der in der lyrischen
Dichtung fehlt. Wir hätten ihn schon längst als Subjekt-Objekt-Abstand
bezeichnen können, wenn die Begriffe
Subjekt und Objekt nicht ebenso mißverständlich
und mehrdeutig wären wie der Begriff der Form. «Das
Lyrische ist nicht objektiv»: so lautet die Formel, die
seit der idealistischen Ästhetik gang und gebe ist. Dieselbe
Formel, positiv gewendet, scheint lauten zu müssen:
«Das Lyrische ist subjektiv». Daraus ergibt sich
dann leicht eine Dreiteilung der Poesie nach folgendem
Schema: Lyrik ─ subjektive, Epos ─ objektive Poesie; [63]
das Drama ─ eine Synthese von beiden, worin sich das
idealistische Denken nach dem Gegensatz Ich ─ Nicht-Ich,
Geist ─ Natur, oder die Hegelsche Dialektik bestätigt
findet. Als System oder Metaphysik ist der Idealismus
für die Geisteswissenschaften längst nicht mehr
verbindlich. Die Begriffe «subjektive» und «objektive
Poesie» sind aber geblieben und gehen neue Verbindungen
ein. So wird etwa die Objektivität des Epos dahin
ausgelegt, daß es die Wirklichkeit darstelle, wie sie
unabhängig von der Person des Dichters bestehe. «Objektiv»
heißt dann soviel wie «sachlich» und weiterhin
«allgemeingültig». Die Lyrik dagegen soll die Spiegelung
der Dinge und Ereignisse im individuellen Bewußtsein
zeigen. Schon hier verwirren sich die Begriffe.
Wenn «unabhängig von der Person» so viel wie «an
sich» bedeuten soll, so ist die Bestimmung offenbar
falsch. Kein Gegenstand ist «an sich» zugänglich. Gerade
weil er Gegenstand ist, gegenüber steht, kann er
nur von einem Standpunkt aus betrachtet werden, in
einer Perspektive, die eben die Perspektive des Dichters,
seiner Zeit oder seines Volkes ist (vergleiche Seite 90).
«Objektiv» ist also nicht identisch mit «unabhängig
vom Dichter».


  Der Gegensatz wird aber auch noch in anderem Sinne
ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker
seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich.
Was heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen
wird, ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des
Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber
«innerlich» besagen? Etwa so viel wie «introvertiert»?
Dies würde das Wesen des Lyrischen fälschen. Der psychologische [64]
Gegensatz von «introvertiert» und «extravertiert»
hat nichts mit dem von «lyrisch» und «episch»
zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie
Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf
den extravertierten Typus.


  Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der
Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die
Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die
Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein.
So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung
ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich
kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen,
der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist,
aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer
wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht.
Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden
sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten
─ der epischen ─ Stufe gehört (vergleiche Seite 103).
Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen
uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf.
Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine
Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände,
noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein
Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung
verschuldet. Wenn lyrische Dichtung
nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv
heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt
sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern «innen»
und «außen», «subjektiv» und «objektiv» sind in lyrischer
Poesie überhaupt nicht geschieden.


  Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese [65]
Einsicht aufblitzt, dann aber wieder von seinem Begriff
der Subjektivität verdunkelt wird. Er führt die Lyrik
ein mit den Worten:


  «Die einfache Synthese des Subjekts mit dem Objekte,
worin jenes diesem sich unterordnet (im Epos), kann
dem Geiste der Kunst nicht genügen; er fordert eine
weitere Stufe, auf welcher dem Wesen nach die Welt
in das Subjekt eingeht und von ihm durchdrungen
wird.
»1


  Dieser Zusatz ist bedeutend, wird aber im folgenden
kaum beachtet. Der «Eingang der Welt in das Subjekt»
gilt fast ausschließlich als Wesen der Lyrik. Ähnlich
schildert er das Gefühl in der Darstellung der Musik:


  «Dem Gefühle fehlt das Licht des Gegenschlags von
Subjekt und Objekt; es verhält sich zum Bewußtsein
wie Schlaf zum Wachen, das Subjekt sinkt in sich hinein
und verliert den Gegensatz zur Außenwelt.»2


  Das Gegenüber fällt weg, gewiß! Nicht aber deshalb,
wie Vischer sagt, weil das Subjekt in sich hineinsinkt.
Es wäre ebenso richtig und falsch, zu sagen, es sinkt in
die Außenwelt. Denn «ich» bin im Lyrischen nicht ein
«moi», das sich seiner Identität bewußt bleibt, sondern
ein «je», das sich nicht bewahrt, das in jedem Moment
des Daseins aufgeht.


  Hier ist nun der Ort, den fundamentalen Begriff der
Stimmung zu erklären. «Stimmung» bedeutet nicht das
Vorfinden einer seelischen Situation. Als seelische Situation
ist eine Stimmung bereits begriffen, künstlicher [66]
Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist
eine Stimmung gerade nichts, was «in» uns besteht.
Sondern in der Stimmung sind wir in ausgezeichneter
Weise «draußen», nicht den Dingen gegenüber, sondern
in ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt
das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder
jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt, durchwaltet
vom Entzücken des Frühlings oder verloren an
die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen,
immer aber «eingenommen» von dem, was uns als
körperlichen Wesen ─ in Raum oder Zeit ─ gegenübersteht.
Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von
der Stimmung des Abends wie von der Stimmung der
Seele redet1. Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus
bewährt sich Amiels Wort «Un paysage quelconque
est un état de l'âme». Nicht nur von Landschaften gilt
dieses Wort. Alles Seiende vielmehr ist in der Stimmung
nicht Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit
ist die Seinsart von Mensch und Natur in der lyrischen
Poesie.


  Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig»,
weder längst verrauschter Scherz und Kuß, noch
der Nebelglanz, der jetzt eben, da der Dichter spricht,
Busch und Tal füllt. Denn der Begriff «gegenwärtig»
soll buchstäblich genommen werden. Er soll ein Gegenüber
bezeichnen. So dürfen wir sagen, daß der Erzähler
Vergangenes vergegenwärtigt. Der lyrische Dichter
vergegenwärtigt das Vergangene so wenig wie das, was
jetzt geschieht. Beides vielmehr ist ihm gleich nah und [67]
näher als alle Gegenwart. Er geht darin auf, das heißt,
er «erinnert». «Erinnerung» soll der Name sein für das
Fehlen des Abstands zwischen Subjekt und Objekt, für
das lyrische Ineinander. Gegenwärtiges, Vergangenes,
ja sogar Künftiges kann in lyrischer Dichtung erinnert
werden. Goethes «Mailied» erinnert, was, von außen
gesehen, Gegenwart ist; Mörikes «Im Frühling» erinnert
am Schluß «alte unnennbare Tage»; manche Oden
Klopstocks erinnern die künftige Geliebte oder das Grab.


  Nicht als ob nun dennoch die «lyrische Innenwelt»
erneuert würde! «Erinnerung» bedeutet nicht den
«Eingang der Welt in das Subjekt», sondern stets das
Ineinander, so daß man ebenso sagen könnte: der Dichter
erinnert die Natur, wie: die Natur erinnert den
Dichter. Das Zweite würde vielleicht sogar der Erfahrung
vieler lyrischer Dichter mehr entsprechen als das
Erste. Die Gnade oder der Fluch der Stimmung zum
mindesten wäre besser gewürdigt.


  Doch nähert sich in dieser Erklärung das Lyrische
nicht dem Mystischen? In Hofmannsthals «Gespräch
über Gedichte» finden sich Sätze, die dem hier Vorgetragenen
nahe stehen und ebenso nahe jener Mystik,
von der im «Traum von großer Magie» und in «Ad me
ipsum»1 die Rede ist:


  «Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die geheimsten
und tiefsten Zustände unseres Inneren in der
seltsamsten Weise mit einer Landschaft verflochten,
mit einer Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft,
mit einem Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du [68]
von einem hohen Wagen abspringst; eine schwüle sternlose
Sommernacht; der Geruch feuchter Steine in einem
Hausflur; das Gefühl eisigen Wassers, das aus einem
Laufbrunnen über deine Hände sprüht: an ein paar
tausend solcher Erdendinge ist dein ganzer innerer Besitz
geknüpft, alle deine Aufschwünge, alle deine Sehnsucht,
alle deine Trunkenheiten. Mehr als geknüpft:
mit den Wurzeln ihres Lebens festgewachsen daran,
daß ─ schnittest du sie mit dem Messer von diesem
Grunde ab, sie in sich zusammenschrumpften und dir
zwischen den Händen zu nichts vergingen. Wollen wir
uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen:
draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der
wesenlose Regenbogen spannt sich unsere Seele über
den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen
unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht
uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.
Zwar ─ unser «Selbst»! Das Wort ist solch eine Metapher.
Regungen kehren zurück, die schon einmal früher
hier genistet haben. Und sind sie's auch wirklich selber
wieder? Ist es nicht vielmehr nur ihre Brut, die von
einem dunklen Heimatgefühl hierher zurückgetrieben
wird? Genug, etwas kehrt wieder. Und etwas begegnet
sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein
Taubenschlag»1.


  Später wird noch hinzugefügt, das «wir und die Welt
nichts Verschiedenes sind». Was heißt aber «Welt»?
Hier offenbar so viel wie «das Seiende insgesamt». Mit
diesem All, das ewig und göttlich ist, fühlt der Mystiker [69]
sich identisch. Er schließt die Augen ─ μύει ─ vor dem
Vielen, zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im
Ewigen als dem «sunder warumbe» Gottes auf.


  Das «sunder warumbe» des lyrisch gestimmten Menschen
dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit
dieser Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem
Ton, nicht also mit dem Ewigen, sondern gerade mit
dem Vergänglichsten. Die Wolke zerfließt, das Lächeln
erstirbt.


«Es wandelt, was wir schauen,

Tag sinkt ins Abendrot ...»

Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter
ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare
Ruhe in Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die
lyrische Stimmung zur mystischen Ruhe klärt, wie
immer im Leben eins unmerklich ins andere übergeht.
Die Wissenschaft aber, die zur Scheidung der Begriffe
genötigt und verpflichtet ist, muß deutlich sagen, was
«lyrisch», was «mystisch» heißen soll, damit im fließenden,
schwankenden Dasein Orientierung möglich
sei.

6.


  Was hier in abstrakter Sprache ausgeführt wurde, ist
den lyrischen Dichtern längst viel unmittelbarer bekannt.
Wir müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen,
was in Gedichten steht, und ein lyrisches Wort
ebenso als Zeugnis des Menschen gelten zu lassen wie
eine dramatische Sentenz. Wieder dürfen wir uns zunächst
auf Vischer, den feinsten Kenner des Lyrischen [70]
unter den Lehrern der Ästhetik berufen. Er macht darauf
aufmerksam, daß der Lyriker, um den dunklen
Seelenzustand auszusprechen, die Bilder der leiblichen
Sphäre entnehme.


«Meine Ruh ist hin,

Mein Herz ist schwer ...

Mein armer Kopf

Ist mir verrückt,

Mein armer Sinn

Ist mir zerstückt ...»
«Es schwindelt mir, es brennt

Mein Eingeweide ...»

Alle neueren Beispiele sind aber schon überboten von
Sapphos Gedicht:


Ὤς σε γὰρ ἴδω βρόχε', ὤς με φώνας

οὖδεν ἔτ' εἴκει,
ἀλλὰ κὰμ μὲν γλῶσσά μ' ἔαγε, λέπτον

δ'αὔτικα χρῶ πῦρ ὐπαδεδρόμαικεν,

ὀππάτεσσι δ' οὖδεν ὄρημμ', ἐπιρρόμ-

βεισι δ'ἄκουαι,
ἀ δέ μ' ἴδρως κακχέεται, τρόμος δὲ

παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ ποίας

ἔμμι, τεθνάκην δ'ὀλίγω 'πιδεύης

φαίνομαι ...

«Seh ich dich an nur kurze Zeit, so versagt mir die

Stimme.

Meine Zunge ist gelähmt und ein feines

Feuer unterläuft mir die Haupt urplötzlich.
[71]
Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren.

Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift mich

Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dem

Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes.»

  Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik,
wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand
reflektiert»1. Wie in der Schilderung des Gefühls
und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen
genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit.
Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier
nicht sprechen dürfen, ebensowenig von «dunkler Symbolik».
So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich
scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!» und
jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint,
weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.


  Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe
«Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung
wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum
Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich
außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar
verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt,
auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber
jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen
auf. Ganz anders aber Hamlets «Herzweh» oder der
Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen» oder
«Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung,
die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch
Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben». [72]
Der Lyriker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre
des Körpers, um etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen;
sondern die Seele selbst ist leiblich und
wandelt sich in den Gefühlen, die, nicht den Körper,
aber den Leib heimsuchen. Auch damit wird die Stimmung
nicht ins Innere hineingenommen. Nur der
Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in
die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei
die Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen
uns und der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der
Schweiß ausbricht und wenn sie der Schauer befällt,
dann ist sie gerade nicht «in sich», sondern «außer
sich». Im brennenden Eingeweide fühlt Mignon die
Ferne des geliebten Landes. Leiblich fühlen wir also
nicht uns als Individualität oder als Person oder lebensgeschichtlich
bestimmtes Selbst. Wir fühlen die Landschaft,
den Abend, die Liebste ─ oder, genauer noch:
Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir
gehen im Gefühlten auf.


  Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen
im allgemein gültigen epischen Sprachgebrauch, oft von
Innen- und Außenwelt. Und zwar nennt er «innerlich»
insbesondere jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig
vor Augen steht, das Vergangene und das Künftige.
«Durch das Labyrinth der Brust» wandeln vergangene
unaussprechliche Tage der Liebe. «Im Herzen
die Gedanken» (Eichendorff) sind gleichfalls Erinnerungen
des Vergangenen. Aber auch dieses mehr lokale
«innen», das die Brust, das Herz als eine Art Hohlform
deutet, heißt schließlich doch wieder so viel wie «nicht
gegenwärtig»; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig [73]
machen zu jenen Erinnerungen des im Raume
gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der
schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr
oder weniger rein zum Ausdruck kommt.


«O Lieb', o Liebe,

So golden schön,

Wie Morgenwolken

Auf jenen Höhn ...»

In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie»
noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir
aber versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie»,
das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen
wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel
ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch
schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren
Goethe, der sich zwar der Natur gegenüber, doch beide
im Grund als identisch erkennt und damit ebenso dem
Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten
liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen
schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike
aus in «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang»:


«O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe!

Welch neue Welt bewegest du in mir?

Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir

Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?»

«Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß
Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und
weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt
nicht gilt. So geht es weiter. Von «Du in mir» ist der [74]
Vers von den «Fischlein im Busen» bestimmt, von «Ich
in dir» dann etwa das Fliegen der Seele, so weit der
Himmel reicht. Und wieder in dem Gedicht «Im
Frühling», wo die Wolke «mein Flügel» wird und wo
sich der Atem der Frühlingslandschaft mit dem Atem
der Seele zu einem wohligen Auf und Nieder vereint.


  Im «Wanderer in der Sägemühle» träumt Kerner,
was ihm vor Augen steht, erinnert die Landschaft und
die Mühle; und solche Erinnerung ist möglich, weil er
in dem Rinnsal, das die Schaufelkammern füllt und
senkt, die Schwermut seines versiegenden Lebens, in
dem schönen Ton der Schneide, die schmerzhaft durch
das Tannenholz fährt, den schmerzlichen Ursprung seines
Dichtens, und in der Bereitung des Sarges, des Todes,
den letzten Sinn seines Lebens fühlt.


  Am kühnsten spricht sich wohl Eichendorff aus:


«Schweigt der Menschen laute Lust:

Rauscht die Erde wie in Träumen

Wunderbar mit allen Bäumen,

Was dem Herzen kaum bewußt,

Alte Zeiten, linde Trauer,

Und es schweifen leise Schauer

Wetterleuchtend durch die Brust.»

  Die Erde rauscht ─ erstaunlich ist der Akkusativ ─
alte Zeiten. Sie rauscht, was dem Herzen kaum bewußt
ist. Die Seele geht restlos in der Landschaft, die Landschaft
in der Seele auf.


  Von allen Seiten winkt nun aber bereits das unerschöpflichste
Thema lyrischer Poesie, die Liebe. Die
meisten großen Lyriker sind große Liebende gewesen ─ [75]
um nur erste Namen zu nennen: Sappho, Petrarca,
Goethe, Keats. Der epische Dichter ist, oft schon in jungen
Jahren, ein alter Mann. An großen Dramatikern,
etwa an Kleist oder Hebbel, erschrecken, zumal im
Umgang mit Frauen, harte und grausame Züge. Der
lyrische Dichter dagegen ist «weich». «Weich» bedeutet,
daß die Konturen des Selbst, des eigenen Daseins
nicht fest sind:


«Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten,

Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften,

Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,

Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;

Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,

Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.»

  Der Selbstsinn schmilzt. So rühmen wir an der lyrischen
Sprache den «Schmelz». Schmelz ist Verflüssigung
des Festen. Uns schmelzt die Liebe und das Lied.
Drum ist Musik, nach Shakespeares Wort in «Was ihr
wollt», «der Liebe Nahrung», und «denkt die Liebe»,
nach Tieck, «in Tönen». Die Sprache entfaltet hier den
ganzen Reichtum des lyrischen Ineinander. Die altbewährte
Formel lautet: «Du bist mîn, ich bin dîn».
Darin spricht sich «Hingabe» aus. Der Liebende «vertieft
sich» ─ welch ein Wort! ─ ins Antlitz der Geliebten.
Die Liebenden sind eins im Frühling und in der Nacht,
die beide umfängt, den störenden Körper dem Blick
entzieht und die Fühlbarkeit des Leibes, der in der Umarmung
nur einer ist, erhöht.


  Alle Momente des Lyrischen: Musik, Verflüssigung,
Ineinander, hat Brentano im Mythos von der Loreley [76]
zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut.
Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden,
tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und
als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei
Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen,
und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon
des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen
des Walds, in allem, was gleitet, wogt und
schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern
sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist
keine Freiheit mehr, kein Eigenwille ─ wie denn der
lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben,
außer sich, getragen von Wogen des Gefühls.


  Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische,
Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch
bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht1. Aber die
Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt
und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur
Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried
Keller am Schluß der Novelle «Romeo und Julia auf dem
Dorfe», wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt
verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und
in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche
Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst.

7.


  Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung
aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen [77]
der Stimmung gesprochen (2) und verstehen dies
Momentane jetzt besser aus der Natur des Ineinander,
das heikel und allzeit gefährdet ist. Jeder Widerstand
löscht es aus und stellt das Gegenüber her. Ein Widerstand
aber, etwas, das nicht übereinstimmt, ist es bereits,
wenn den im Abendfrieden beruhigten Dichter
plötzlich ein Hase aufschreckt, wenn ihm ein Tropfen
auf die Hand fällt. Der Epiker würde eine solche Störung
höchstens als Zeitverlust buchen. Der Lyriker findet
die unwiederholbare Stimmung für immer vernichtet
─ eine tragikomische Gebrechlichkeit, die der
Humor von jeher bemerkt und belächelt hat, etwa in
Buschs «Balduin Bählamm», der sich in den Himmel
vertieft und plötzlich das Krabbeln des Ohrwurms
spürt. Dabei bedürfte es nicht einmal des lästigen Insekts
und jener anderen lustig erdachten Unglücksfälle,
um sein Gedicht zu vereiteln. Auch der Himmel, der
Mond, der Baum kann plötzlich gegenständlich werden
─ er braucht nur genauer hinzusehen. Dann stimmt die
Landschaft nicht mehr und stimmt mit der Seele nicht
mehr überein. Der Mond stimmt nicht als astronomischer
Körper oder als Kraterfeld, sondern etwa als Silbergondel;
der Hügel stimmt als duftiger Streifen, der
Wald als Rauschen oder als Schimmern von Lichtern
und Schatten, der See als Glanz. Lyrisch ist das Flüchtigste;
und wird das Feste, Gegenständliche wahrnehmbar,
so endet die flüchtigste Dichtung, das Lied.


  Soll aber dieses Enden selbst noch ausgesprochen werden,
oder bricht der Lyriker einfach ab? Wir haben gesehen,
wie er anhebt (4), oft unvermittelt mit «und»
oder «auch». Die Frage nach einem möglichen Schluß [78]
gewährt vielleicht noch tiefere Einsicht. Wir lesen
Eichendorffs «Auf einer Burg»:


«Eingeschlafen auf der Lauer

Oben ist der alte Ritter;

Drüber gehen Regenschauer,

Und der Wald rauscht durch das Gitter.
Eingewachsen Bart und Haare,

Und versteinert Brust und Krause,

Sitzt er viele hundert Jahre

Oben in der stillen Klause.
Draußen ist es still und friedlich,

Alle sind ins Tal gezogen,

Waldesvögel einsam singen

In den leeren Fensterbogen.
Eine Hochzeit fährt da unten

Auf dem Rhein im Sonnenscheine,

Musikanten spielen munter,

Und die schöne Braut die weinet.»

  Das ist ein ganz beliebiger Ausschnitt aus der Stimmung
einer Landschaft. Im letzten Vers zwar scheint
sich das Gefühl ein wenig zu verdichten. Vielleicht genügte
das, um den Dichter aufzuwecken und ihn etwa
an die Geschichte des Mädchens denken zu lassen.
Doch es könnte noch lange so weitergehen. Dieses Gedicht
schließt nicht eigentlich ab.


  Anders «Im Grase» der Annette von Droste. Nach
den ersten beiden Strophen, die zum Wunderbarsten
der lyrischen Weltliteratur gehören, wo die Dichterin [79]
sich mit ihrem müden, schwimmenden Haupt in der
sommermüden, schwimmenden Luft, das Niedersinken
ihres Daseins im Niedergaukeln von Düften und Stimmen
fühlt ─ nach diesen Strophen fährt sie fort:


«Stunden, flüchtger ihr als der Kuß

Eines Strahls auf den trauernden See ...»

redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage
nach. Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite
Hälfte ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern,
ein wenig rhetorisch aufgehöht.


  Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt
und noch zu lange durchgehalten wird, das kann in wenigen
Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht
unter Umständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist
«Wanderers Nachtlied» ein Beispiel:


«Warte nur, balde

Ruhest du auch.»

  Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der
Abendlandschaft klar. Im Augenblick des Verstehens
aber hört das lyrische Dichten auf; der Zustand wird
zum Gegenstand. Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo
es mit der Erinnerung hinauswill, so im «Zwielicht»,
wo sich als Einheit der scheinbar disparaten Traumbilder
am Schluß, nach einem Gedankenstrich der Besinnung,
plötzlich ergibt:


«Hüte dich, bleib wach und munter!»

  Dies war in jeder Zeile verborgen. Es tritt hervor,
und das Lied ist aus. Ebenso in der «Frühlingsnacht»:

[80]
«Über'n Garten, durch die Lüfte

Hört' ich Wandervögel zieh'n,

Das bedeutet Frühlingsdüfte,

Unten fängt's schon an zu blühn.
Jauchzen möcht' ich, möchte weinen,

Ist mir's doch, als könnt's nicht sein!

Alte Wunder wieder scheinen

Mit dem Mondesglanz herein.
Und der Mond, die Sterne sagen's,

Und in Träumen rauscht's der Hain,

Und die Nachtigallen schlagen's:

Sie ist deine, sie ist dein!»

  Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist,
wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung
so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die
Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt
eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung
nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu
Ende.


  In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte
aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese
Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa
im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der
Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel
heißt:


«Wunderlicher Bau,

In sich bewegt und von sich selbst gehalten,

Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten

und Hochgebirge vor den ersten Sternen
[81]
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,

wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»

  Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas
noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf
«kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei.
Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu
Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet,
der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen
begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der
Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten
erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben,
die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse
seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst
die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts
und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl
nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung
scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den
Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was
nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie.
Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des
«stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam
und behält ─ als Dichter ─ zweifellos Recht.
Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht,
wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache
fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:


«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele

nicht mehr.»

  Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung
geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer [82]
Grundlegung der Poetik trifft (Seite 10) und die der
Leser sich jederzeit vor Augen zu halten gebeten ist:
Der Künstler redet vom lyrischen Gedicht, der Dilettant
jedoch vom Phänomen des Lyrischen. Wir
lesen an lyrischen Gedichten das Phänomen des Lyrischen
ab. So konnte es nicht fehlen, daß wir auf einen
Widerspruch zwischen dem Lyrischen und dem vollen
Wesen der Sprache aufmerksam werden mußten. In
der Sprache nämlich als Organ der Erkenntnis setzen
wir uns mit allem Dasein auseinander und stellen bestimmte
Zusammenhänge der Dinge her. Die Sprache
selbst setzt auseinander, um das Auseinandergesetzte im
Satzgefüge wieder zu einen. Die lyrische Stimmung dagegen
wurde als Ineinander charakterisiert, das keiner
Zusammenhänge bedarf, weil alles bereits in der Stimmung
geeinigt ist. Jedes einzelne Wort stellt fest (vergleiche
Seite 99) und ordnet die vergänglichen Erscheinungen
in ein Dauerndes ein. Der lyrisch Gestimmte
aber gleitet; sobald er feststellt, ist er ernüchtert. So
findet er sich tatsächlich von einigem, was die Sprache
leistet, bedrängt, von ihrer Intentionalität, die als solche
ein Gegenüber bildet, und ihrer «Logik», wenn
λόγος (von λέγω) «Zusammengerafftsein des Vielen»
besagt. Wenn er sich lyrisch äußern will, muß es ihm
deshalb gelingen, gerade diese Wesenszüge der Sprache
nach Möglichkeit zu verdunkeln. Wir haben dergleichen
bemerkt in der Auflösung des syntaktischen Gefüges
(3), in der Reduktion der Sätze auf einzelne unzusammenhängende
Worte (3), in einer Scheu vor der
allzudeutlich feststellenden Kraft des Hilfszeitworts «ist»
(3), vor allem in der Musik der Sprache, die ihre Intentionalität [83]
oder Gegenständlichkeit gleichsam aufsaugt1.
Ganz gelingt dies freilich nie, es sei denn in jenen wenigen
Silben, die nichts mehr bedeuten und nur noch
klingen, wie «eia popeia, αἴλινον, om». Solche Silben
aber ergeben nie und nimmer ein Gedicht, so wenig
wie eine Folge von Akkorden schon eine Symphonie,
von Farbtönen ein Gemälde ergibt. Drum, weil sogar
die reinste lyrische Art, ein Lied, schon Dichtung ist,
kann selbst ein Lied die Idee des Lyrischen nie ausschließlich
realisieren. Es besteht aus Wörtern, die immer
zugleich Begriffe sind, nicht nur aus Silben; aus
Sätzen, die immer zugleich einen objektiven Zusammenhang
bedeuten, obwohl ein solcher jetzt nicht gemeint
ist. Und es beginnt und führt irgendwo hin,
wenngleich ein Ziel des Gleitens nicht in der Natur des
Lyrischen liegt. In den Gedichten, die mit einer Klärung
der Gefühle enden, treten die verschleierten Hintergründe
der Sprache, zumal die begrifflichen Kräfte,
wieder in Erscheinung: Das lyrische Gedicht hört auf.
In den Gedichten, denen am Ende die Sprache versagt,
überbordet dagegen die Innigkeit der Seele, die keinerlei
Auseinandersetzung kennt: das lyrische Gedicht
hört auf. Lyrisches Dichten aber ist jenes an sich
unmögliche Sprechen der Seele, das nicht «beim Wort
genommen» sein will, bei dem die Sprache selber noch
ihre eigene feste Wirklichkeit scheut und lieber sich jedem
logischen und grammatischen Zugriff entzieht. Es
wird sich zeigen, daß in epischer und dramatischer Poesie
die hier verwischten Wesenszüge der Sprache deutlich [84]
ausgeprägt sind. Und dies besagt, daß jede Dichtung
an allen drei Gattungsideen mehr oder minder beteiligt
ist, da sich keine, als Sprachkunstwerk, dem vollen
Wesen der Sprache ganz zu entziehen vermag.

8.


  Es bleibt noch übrig, von den Grenzen der lyrischen
Poesie zu sprechen und zu sagen, was sie dem Dichter
und Leser schuldig bleiben muß. Öfter fanden wir uns
genötigt, vom «Wunder» der lyrischen Sprache zu
reden. Sie ist unbegreiflich und kein Verdienst, da niemand
sie zu erzwingen vermag. So gilt auch von ihr Duhamels
Satz: «Miracle n'est pas œuvre»1. Der lyrische
Dichter leistet nichts (1). Drum, wenn der Epiker fleißig,
der Dramatiker gar verbissen sein muß, darf er so
träge sein wie Mörike oder so willenlos wie Brentano.
Episches nämlich will gesammelt, Dramatisches will erzwungen
sein. Lyrisches aber wird eingegeben. Auf die
Eingebung warten, ist das Einzige, was der Lyriker tun
kann. Wer jedoch stets der Gnade harrt, der darf sich
auch nur auf Gnade verlassen und keiner Wirkung der
Kraft, des Willens und der Geduld gewärtig sein. Selbst
das ängstliche Feilen von Liedern ist davon nicht ausgenommen.
Wo nicht der Kunstverstand ein Lied herstellt
─ was freilich auch möglich ist ─ können auch
neue Nuancen nur aus neuen Eingebungen hervorgehn.



  «Miracle n'est pas œuvre» heißt ferner: «Gedichte [85]
sind Küsse, die man der Welt gibt; aber aus bloßen
Küssen entstehen keine Kinder». Das ist so scherzhaft
und ergiebig wie vieles, was Goethe in ästhetischen
Fragen zum Besten gegeben hat. Er meint zunächst ─
um im Bilde zu bleiben ─ daß Lyrisches nicht gezeugt,
nicht ausgetragen und nicht geboren wird. Zeugen,
Austragen und Gebären, das träfe nur zu auf ein Dichten,
das im «Stoff» den Keim des Lebens weckt und
ein Geschöpf allmählich bildet. Goethe meint aber weiterhin,
es werde im Lyrischen nichts begründet. Wir
haben gesehen, daß die lyrische Stimmung selber grundlos
ist und daß sie auch keiner Begründung bedarf (4).
Eben deshalb aber legt sie auch in den Hörern keinen
Grund und stiftet keine Tradition. Der Stil jedes Lieds
ist einzigartig und soll grundsätzlich nicht nachgeahmt
werden. Die Stimmung ist durchaus individuell und
kann nur Gleichgestimmte vereinigen, aber keine Gemeinschaft,
im umfassenden Sinne des Wortes, bilden.
Es ist auch nicht möglich, auf Grund eines Liedes eine
Erfahrung zu gewinnen, die sich anderwärts wieder bewährt.
Man kann nicht reifen an reiner Lyrik, weil sie
durchaus zufällig ist. Ein Zufall hat keine Verantwortung.
Auch Verantwortung findet ja immer nur statt,
wo ein Gegenüber besteht.


  Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört
er auch nichts. Eine Tragödie kann den Glauben
zerstören, indem sie Widersprüche im Weltbild eines
Geschlechts aufdeckt (vergleiche Seite 199). Der Lyriker,
der vom Strom des Daseins getragen wird und in
jedem Moment den früheren Moment vergißt, der also
keinen Zusammenhang herstellt, wird auch des Widerspruchs [86]
nicht gewahr. In einem Gedicht Brentanos
heißt es:


«Nacht ist voller Lug und Trug,

Nimmer sehen wir genug

In den schwarzen Augen;

Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl,

Ach! ich seh ihr viel zu viel

In die schwarzen Augen!
Sonne wollt' nicht untergehn,

Blieb am Berg neugierig stehn;

Kam die Nacht gegangen;

Stille Nacht, in deinem Schoß

Liegt der Menschen höchstes Los

Mütterlich umfangen.»

Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher
Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zu viel
in ihre Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander.
Es stört den Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er
setzt nichts voraus.


  Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos,
ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine
dichterische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen,
wie es in jeder Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch
einmal Unbegabten gelingen. Es gibt in der deutschen
Dichtung manche Zufälle dieser Art, etwa die wenigen
Lieder Luise Hensels, Marianne von Willemers oder
das «Zu spät» Friedrich Theodor Vischers. ─ Doch Epen
und Dramen beweisen noch mehr. Ein Epos beweist
eine Einheit des Daseins, weiterhin eine Einheit des
Volks (vergleiche Seite 142). Ein Drama kann beweisen, [87]
daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche
Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche
Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es
wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner.
Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied
bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und
Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild
und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei
ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns
eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken
mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme.
Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer
wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches
je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied
kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine
Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu
Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher
als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden
ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung
nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um
etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz
zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.


  Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des
Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts
vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend
verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir
wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen
gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange
dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt.
Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische
Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der [88]
Widerstand eines fremden Daseins einsetzen könnte,
hört sein Dichten jeweils auf. Er bedenkt nicht, was
dieses Aufhören bedeutet: daß jenes Leben, das Musik
war, nun wieder fremd und äußerlich ist. Er spürt es
wohl und trauert darüber. Aber so lang er es spürt, vermag
er sich nicht als Dichter zu äußern. Ihm bleibt nur
übrig, neue Gunst der Übereinstimmung zu erwarten.
Dann singt er abermals einige Verse, um alsbald wieder
zu verstummen. Ein ungeheuerliches Dasein, das die
Beseligungen der Gnade mit einer erschütternden Hilflosigkeit
in allem, was Verdienst ist, erkauft, das Glück
der Übereinstimmung mit einer im Alltag blutenden
Wunde, für die auf Erden kein Heilkraut blüht.

[89]

EPISCHER STIL: VORSTELLUNG


1.


Das Kernstück einer Poetik bildet meist die Unterscheidung
von Epos und Drama. Der Dichter fragt sich,
ob ein Stoff sich besser für die Bühne oder für eine Erzählung
eigne, und sucht nach einem Kriterium. In
dieser Absicht haben auch Goethe und Schiller die Möglichkeiten
epischer und dramatischer Dichtung geprüft.
Seltener wird die epische Dichtung gegen die lyrische
abgegrenzt. Denn diesen Unterschied sieht jedermann
ein, und Zweifel, welche Gattung zu wählen sei, sind
ausgeschlossen. Doch wenn, wie hier, die Frage nach
dem Grund der poetischen Gattungsbegriffe ohne praktische
Absicht gestellt wird, verdient auch das scheinbar
Selbstverständliche ungeteilte Aufmerksamkeit. Da
wäre denn zunächst die «varietas carminum» in lyrischer
von der Stetigkeit des Verses in epischer Dichtung
abzuheben.


  Das eine Maß, der Hexameter, behauptet sich von
der ersten bis zur letzten Zeile der «Ilias» und der
«Odyssee», ja in der gesamten griechischen Epik. Welche
Vorzüge diesem Vers die Gunst der Dichter durch
Jahrhunderte sichern, bekümmert uns hier noch nicht.
Wir stellen zunächst nur fest, daß Gleichmaß zum Wesen
der epischen Dichtung gehört. Klopstocks «Messias»
ist auch insofern minder episch, als er manchmal
in freie Rhythmen übergeht, ebenso Leutholds «Penthesilea», [90]
wo die Erzählung in eine weitgespannte Strophe
mit ganz verschiedenen Versen eingelegt ist.


  Das Gleichmaß bedeutet den Gleichmut des Dichters,
der keiner Stimmung verfällt, dem nicht bald so,
bald wieder anders zumut ist. Homer steigt aus dem
Strom des Daseins empor und steht befestigt, unbewegt
den Dingen gegenüber. Er sieht sie von einem Standpunkt
aus, in einer bestimmten Perspektive. Die Perspektive
ist in der Rhythmik seines Verses festgelegt
und sichert ihm seine Identität, ein Stetiges in der Erscheinungen
Flucht.


  Ein Urbild solchen Gegenübers ist jene Szene der
«Ilias», da Zeus die Pferde anschirrt, auf den Ida fährt
und von dort auf die Feste Troia herabblickt, um über
das Kriegsglück zu entscheiden; oder die Teichoskopie,
der Blick von den Mauern herab im dritten Gesang, wo
Priamos sich von Helena die griechischen Helden nennen
läßt. So, vom gesicherten Standpunkt aus, schaut
sich Homer das Leben an. Er nimmt nicht selber daran
Teil. Er geht nicht auf im Geschehen. Es trägt ihn
nicht, wie den lyrischen Dichter, dahin. Wie wenig er
selbst bewegt ist, verrät sich in jenen Abschweifungen,
an die man sich zwar mit der Zeit gewöhnt, die aber
jeden, der sie zum erstenmal liest, in Erstaunen versetzen.
Zum Beispiel im vierten Gesang: Agamemnon
treibt das Heer zum Kampf; er findet Diomedes müßig
und fährt ihn unwirsch an:

 
«Wehe mir, Tydeus' Sohn, des feurigen Rossebezähmers,

Wie du erbebst! wie du bang umschaust nach den

Pfaden des Treffens!»
[91]

Homer ist weit entfernt, die Gemütsbewegung des Königs
zu teilen. Vielmehr überträgt sich seine Beschaulichkeit
auf Agamemnon, der, unbekümmert um die
dringliche Lage, eine Geschichte von Tydeus' Tapferkeit
zu erzählen beginnt:

«Nie hat Tydeus wahrlich so gar zu verzagen geliebet,

Sondern weit den Genossen voraus in die Feinde zu

sprengen.

Also erzählt, wer ihn sah in der Kriegsarbeit: denn ich

selber

Traf und erblickt' ihn nie; doch strebet' er, sagt man,

vor andern.

Vormals kam, sich entfernend vom Krieg, der Held in

Mykene

Gastlich, samt Polyneikes, dem Göttlichen, Volk zu

versammeln,

Weil sie mit Streit bezogen die heiligen Mauern von

Thebe;

Und sie fleheten sehr um rühmliche Bundesgenossen.

Jen' auch wollten gewähren und billigten, was sie

gefordert;

Doch Zeus wendete solches durch unglückdrohende

Zeichen ...»

 (IV, 370 ff.)


Und so fort über zwanzig Verse, nach deren gelassenem
Vortrag sich Agamemnon wieder zum Grimm
aufrafft:


«So war Tydeus einst, der Ätolier! Aber der Sohn hier

Ist ein schlechterer Held in der Schlacht, doch ein

besserer Redner.»
[92]

  Was Tydeus vor Theben geleistet hat, das weiß sein
Sohn Diomedes längst. So hätte wohl eine kurze Erinnerung
an den tapferen Vater der Ungeduld Agamemnons
eher entsprochen. Wie aber könnte Homer der Versuchung
zu fabulieren je widerstehen? Ähnlich im sechsten
Gesang beim Abschied Hektors von Andromache
(407─434). Der Anfang von Andromaches Rede entspricht
durchaus ihrem bangen Gefühl. Sie malt sich
den Tod ihres Gatten aus. Sie stellt sich vor, wie sie
dann allein sei. Denn ihre Eltern sind beide tot. Den
Vater hat Achill erschlagen ─ da scheint Homer plötzlich
innezuhalten: Wie war das eigentlich mit Achill? Er
hat durchaus die Freiheit, jederzeit aufzubrechen, wohin
er will. Und also läßt er jetzt die schmerzbewegte
Frau ausführlich schildern, wie dies zugegangen ist, wie
Achill die Mutter gegen ein großes Lösegeld wieder freigab,
wie er dem Toten die Waffen ließ und einen Grabhügel
schichtete, den die Nymphen mit Ulmen bepflanzten.
Und erst nachdem sie auch das Schicksal ihrer
sieben Brüder erzählt hat, fährt sie, wieder bewegter,
fort:


«Hektor, siehe du bist mir Vater jetzo und Mutter,

Und mein Bruder allein, und du mein blühender Gatte.»

Andromache schweift ab, weil Homer von der schmerzlichen
Stimmung nicht bedrängt ist oder doch wenigstens
nicht darin aufgeht.


  Der Abstand, den er nimmt, mag sich in manchen
Partien der Dichtung verringern. Ganz schwindet er
nie. Homer und Troia, Homer und die Irrfahrten des
Odysseus bleiben sich immer gegenüber. Man kann [93]
darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter
seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler
deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen
an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine
Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten.
Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du
an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet.
Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet
sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt,
der dasteht mit dem Stab in der Hand ─ um Vischers
Worte zu gebrauchen1 ─ und auf die erscheinenden Bilder
weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen
zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar
sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im
Gleichmaß des Verses hörbar wird.


  Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als
es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht
erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern
er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie
der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt,
so, daß es uns vor Augen und eben deshalb
gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und
größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt:


«Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.»

Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht
seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina
des Archaischen bemüht. So gibt es in der «Ilias» zum
Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal, [94]
was er beides in seinem Jahrhundert schon vorfand.
Noch deutlicher wird der Abstand gewahrt durch die
wiederholte Versicherung, damals, als der Krieg stattfand,
seien die Menschen noch stärker gewesen. Die
Formel «οἷοι νῦν βροτοί εἰσιν, wie jetzt die Sterblichen
sind» setzt immer wieder das eigene Dasein gegen
das große vergangene herab. Das Gleiche aber muß sich
auch diese Vergangenheit wieder gefallen lassen. Denn
unter den Helden tritt Nestor auf und erklärt mit dem
Dünkel des Alters:

«Denn schon vormals pflog ich mit stärkeren Männern

Gemeinschaft,

Als ihr seid; und dennoch verachteten jene mich

nimmer!

Solche Männer ersah ich nicht mehr und ersehe sie

schwerlich.»

 (I, 260─63)


Die Zeitgenossen Homers sind schmächtig, verglichen
mit Hektor und Achill. Aber auch diese Helden sind
schwach, verglichen mit denen noch älterer Zeit. So
liegt das Schwergewicht des Daseins in den Tiefen des
Vergangenen, und keine Gelegenheit wird versäumt,
in diese Tiefen hinunterzuloten. Treten die Männer
zum Zweikampf an, so fragen sie nach Namen und Herkunft;
und der Befragte erzählt die Geschichte des
Stamms bis hinauf zu den ältesten Vätern, zum Gott
gar, der ihn begründet hat. Wenn Agamemnon das
Szepter ergreift, erfahren wir die Geschichte des Szepters,
wer es verfertigt, wer es getragen, wie es von Zeus
auf Hermes, von Hermes auf Pelops überging und in
die Hand Agamemnons kam. Das Ehebett des Odysseus [95]
hat seine Geschichte. Irgendein Krug, ein Gerät wird
gelegentlich einer Herkunftssage gewürdigt.


  Was dies bedeutet, erhellt am klarsten aus dem berühmten
Zwiegespräch zwischen Glaukos und Diomedes
im sechsten Gesang der «Ilias». Diomedes stellt
die übliche Frage:


«Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewohner?»


Glaukos aber gibt eine Antwort, die völlig aus dem
Rahmen fällt:

«Tydeus' mutiger Sohn, was fragst du nach meinem

Geschlechte?

Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechte

der Menschen;

Einige streuet der Wind auf die Erd' hin, andere wieder

Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges

Wärme:

So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes

verschwindet.»

 (VI, 145─150)


Widerwillig bequemt er sich dann, von seinem Geschlecht
zu sprechen. Ob Homer damit die Sinnesart der
Lykier, eines mutterrechtlichen Volkes, darstellen
wollte, das bleibe hier dahingestellt. Wir sehen nur,
daß Glaukos den Wert des epischen Gedenkens verkennt.
Denn eben dies ist seine Leistung, daß es die bedrängende
Flüchtigkeit der Menschen und Dinge besiegt.
Der epische Dichter fragt: Woher? Die Frage erschließt
die Dimension, von der das lyrische Sein, das
selbst im Strom der Zeit mitschwimmt, nichts weiß. [96]
Denn «woher?» kann ich nur fragen, wenn ein festes
«hier» besteht, wie andrerseits das «hier» sich aus dem
Wissen um ein «woher» bestimmt. Die Antwort auf
die Frage verankert das Fragliche in einem Grund. Der
Grund ist die Vergangenheit, die, ein Abgeschlossenes,
stillsteht und sich nicht mehr ändern kann. Zu diesem
Vergangenen muß der Fragende selber wieder Stellung
beziehen. So bildet sich das Gegenüber, in dem der
Fragende sowohl wie das Befragte «festgestellt» sind.


  Und eben darauf kommt es an. Die Frage nach dem
Vergangenen, die Glaukos nicht beantworten will, gehört
zum wesentlichsten Tun des epischen Menschen: Er stellt
fest. Dies kann und will der Lyriker nicht. Denn er selber
ist bewegt in eins mit dem Bewegten, so daß er nie
dazu kommt, zu sagen: «Das ist» (vergleiche Seite 46).


«Mauern sieht er und Paläste

Stets mit andern Augen an.»

 (Goethe)


Die Sonne, die am Morgen aufgeht, ist seine Hoffnung
und sein Mut. Die Sonne, die abends untergeht, ist
grandiose Erschütterung. Ein Wissen, daß es dieselbe
Sonne ist, die auf- und untergeht, schwingt freilich mit,
schon weil er sich der Sprache bedient und «Sonne» sagt.
Aber es ist nicht von Belang. Die Selbigkeit tritt hinter
dem Wandel der stimmungsvollen Erscheinung zurück.


  Im Epischen dagegen wird gerade die Selbigkeit betont.
Weil der Epiker selber beharrt, vermag er einzusehen,
daß etwas wiederkehrt und dasselbe ist. Wie
sehr ihn diese Entdeckung beglückt, verraten in den
homerischen Epen noch die stereotypen Formeln: «der
reisige Hektor, der hurtige Renner Achilleus, Athene [97]
mit Augen der Eule, der Herrscher im Donnergewölk
Zeus». Hektor, Achill, Athene, Zeus sind ein für allemal
festgelegt. So haben sie sich ausgewiesen. So werden
sie immer wieder genannt. Und immer ist es dieselbe
Eos, die rosenfingrig am Morgen erscheint, derselbe
Schlaf, der die Glieder löst. Auch wenn die Troer
schmausen und später die Griechen, wenn sich Athene
oder Iris vom Olymp herabschwingt, wird das Gleiche
im Verschiedenen mit denselben Worten erzählt:


«Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten

Mahle.»
«Und sie schwang sich herab vom Gipfel des hohen

Olympos.»

Freilich läßt sich dieser Brauch aus dem improvisierten
Vortrag erklären. Der Rhapsode bedarf eines größeren
Vorrats bereits geprägter Verse, die er gelegentlich einschiebt,
um inzwischen das Folgende zu bedenken.
Doch diese historische Begründung schließt die ästhetische
Deutung nicht aus. Die Freude an der Wiederkehr
des Gleichen, der Triumph, daß nun das Leben
nicht mehr unaufhaltsam dahinströmt, sondern Dauerndes
ist, und Gegenständliches fest besteht und sich identifizieren
läßt, das ist so mächtig, daß es jeder unverbildete
Leser noch heute als beseligende Ahnung von
frühen Tagen der Menschheit spürt. Denn was in den
stereotypen Formeln Homers bereits zum bewährten
Mittel hoher Kunst geworden ist, es scheint den Vorgang
zu beschließen, den Herder in der Schrift vom
Ursprung der Sprache zu deuten unternahm.

[98]

  Die Sprache gründet nach Herder in der «Besinnung»
oder «Reflexion»:


  «Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner
Seele so frei würket, daß sie aus dem ganzen Ozean
von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet,
Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern,
sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten,
und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset
Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden
Traum der Bilder, die seine Seele vorbeistreichen,
sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf Einem
Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht
nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies
der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also
Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft
oder klar erkennen; sondern Eine oder mehrere als
unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen
kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen
Begriff; es ist das erste Urteil der Seele ─ und ─


  wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein
Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal
der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan, lasset
uns ihm das Εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal
der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm
ist die Menschliche Sprache erfunden!


  Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn:
ihm wie keinem andern Tiere. Sobald er in die Bedürfnis
kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet
ihn kein Instinkt; so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu
nahe hin, oder davon ab; es steht da, ganz wie es sich
seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht ─ seine besonnen [99]
sich übende Seele sucht ein Merkmal ─ das
Schaf blöket!
sie hat Merkmal gefunden: der innere
Sinn würket. Dies Blöken, das ihr am stärksten Eindruck
macht, das sich von allen andern Eigenschaften
des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am
tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder.
Weiß, sanft, wollicht ─ sie sieht, tastet, besinnet sich,
sucht Merkmal ─ es blökt, und nun erkennet sie's wieder.
«Ha! du bist das Blökende!» fühlt sie innerlich, sie
hat es Menschlich erkannt, da sie's deutlich, das ist,
mit einem Merkmal erkennet und nennet ...»1


  Im Wort, das nicht mehr bloß Ausdruck ist wie der
«Schrei der Empfindung» (vergleiche Seite 58), das
etwas bedeutet, wird jeweils ein Gegenstand festgestellt,
so, daß ich ihn und seinesgleichen jederzeit wieder erkennen
kann. Desselben Wiedererkennens ─ einer elementaren
Leistung der Sprache ─ scheint sich Homer in
seinen stereotypen Formeln noch zu erfreuen. Sie stellen
ein Ding, einen Vorgang als so beschaffen, als so verlaufend
fest. Sie stellen ihn «vor» ─ so dürfen wir sagen,
um das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Stellen von einem
festen Standpunkt aus, terminologisch einzubeziehen.
Vorstellung in diesem Sinn ist das Wesen der epischen
Poesie.

2.


  Die epische Sprache stellt vor. Sie deutet auf etwas
hin. Sie zeigt. Der Gegensatz zur lyrischen Sprache
wurde bereits erwähnt in der Unterscheidung von Lautmalerei [100]
und Musik (Seite 16). In lyrisch-musikalischer
Sprache klingt eine Stimmung auf. Epische Lautmalerei
will etwas mit sprachlichen Mitteln verdeutlichen.
Auf ein Verdeutlichen, Zeigen, Anschaulich-machen
kommt es hier überall an. Spitteler nennt es das «königliche
Vorrecht» des epischen Dichters, «alles in lebendiges
Geschehen zu verwandeln»1 und so den Augen
darzustellen. Auch Seelenzustände, erklärt er, setze der
Dichter in Erscheinungen um. Er selber hat dies ausgiebig
getan. Wir kennen die Tiere des Prometheus, den
Löwen und die Hündlein des Herzens, die er erwürgt,
oder aus dem «Olympischen Frühling» den Willen des
Zeus, der, eine Kugel, dem Ziel entgegengeschleudert
wird und die gläsernen Willen der andern zerschmettert.
Sogar in Prosa will Spitteler nicht auf dieses epische
Vorrecht verzichten. In «Imago» findet sich folgende
Schilderung der eigenen Seele:


  «Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein
übriges und unternahm einen Rundgang durch die
Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die
Kellergewölbe des Unbewußten, nach allen Seiten Ermahnungen
und Weisheit austeilend. Das edle Getier
faßte er beim Selbstbewußtsein, indem er ihm von
künftigem Ruhm und Triumphen erzählte, im Gegensatz
zu der kläglichen Rolle, die sie als unglücklicher
Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden.
Das Kleingetier dagegen köderte er mit Süßigkeiten,
sie an frühere Liebesgenüsse erinnernd und ihnen noch
weit köstlichere in Aussicht stellend, wenn sie sich nur [101]
noch ein kleines Weilchen wohl verhielten; endlich zum
guten Schluß ließ er den Löwen die Treppe hinunterbrüllen:
‚Seid ihr nun überzeugt?‘


  ‚Wir sind überzeugt.‘


  ‚Gut, so betragt euch auch danach und gebt gegenseitig
aufeinander acht‘»1.


  Der grimmige Humor versöhnt mit dieser sonderbaren
Mischung von modernster Psychologie und altertümlicher
Darstellung. Sonst wäre uns nicht ganz wohl
dabei. Denn Spitteler ist tatsächlich, wie er ja selbst bekennt,
genötigt, Seelisches in Erscheinungen umzusetzen.
Homer setzt Seelisches nicht um. Er kennt es
noch gar nicht anders denn als «Vor-kommnis» oder
als «Eräugnis». Gefühle hausen in der Brust wie die
Winde in der Höhle des Aiolos. Der neunte Gesang der
«Ilias» hebt an:


«So dort wachten die Troer vor Ilios. Doch die Achaier

Ängstete grauliche Furcht, des starrenden Schreckens

Genossin;

Und unduldsamer Schmerz durchdrang die Tapfersten

alle.

Wie zween Winde des Meers fischwimmelnde Fluten

erregen,

Nord und sausender West, die beid' aus Thrakia herwehn,

Kommend in schleuniger Wut; und sogleich nun dunkles

Gewoge

Hoch sich erhebt, und häufig ans Land sie schütten das

Meergras:

Also zerriß Unruhe das Herz der edlen Achaier.»
[102]

In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers:


«Also ward in den Brüsten der Griechen der θυμός

zerrissen.»

  Θυμός, Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser
Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe,
die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt
hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns
heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche
Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist.


Von Menelaos heißt es im 17. Gesang:


«Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im

Zwerchfell ...»

 (V. 106)


Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das
letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt
zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben,
werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich
Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so,
daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber
führt. So lesen wir im selben Gesang:


«Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen

Gemüte ...»

Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz
darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet.
So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo
nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die
Rede sein könnte:


«Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen.»

(I, 545)

[103]
«Aber der Worte, welche die Freier im Zwerchfell bebrütet,


War nicht lange Zeit unkundig Penelopeia.»

(Od. IV, 675─6)


«Aber wohlan, so lasset uns gehn und schweigend vollenden


Jenes Wort, das uns im Zwerchfell allen beschlossen.»

(Od. IV, 776─7)


Die Unmöglichkeit einer solchen wörtlichen Übersetzung
leuchtet ein. Es lohnt sich aber, im Anschluß an
den griechischen Text zu zeigen, daß selbst der Gedanke
hier noch ein Körperding ist, das irgendwo im
Innern bewahrt wird und dann gelegentlich durch das
bekannte «Gehege der Zähne» zum Vorschein kommt.


  Ein Dichter jedoch, der alles anschaut und sich vorstellt,
wird nicht lange in solchen Bereichen verweilen,
die als Gegenstände darzustellen, immerhin einige
Mühe bereitet. Er wendet lieber den Blick nach außen ─
denn eine Außenwelt gibt es hier, so wie es jetzt auch
eine Innenwelt gibt ─ und betrachtet, was sich dem Auge
an unermeßlichem Reichtum des Lebens darstellt:
Waffen, Krieger, Schlachtengetümmel, wunderbare
Länder und Menschen, das Meer, den Strand, die Tiere
und Pflanzen, den Hausrat und die Gebilde der Kunst.
Das bloße Nennen schon und zu sagen: So sieht es aus!
bereitet ihm Lust. Das Erz ist glänzend, das Meer weinfarben,
die Trauben sind dunkel, der Schwan ist langhalsig;
die Rinder sind aufrecht gehörnt, die Schiffe
hochgeschnäbelt, die Hunde hurtig; die Mädchen sind
schön gelockt, Hektor ist helmumflattert, Chryseis ist [104]
schönwangig, Thetis silberfüßig, Athene eulenäugig,
Hera weißarmig. Der Reichtum an Wörtern ist unübersehbar,
und schon dieser Reichtum muß als eine entscheidende
dichterische Leistung der ältesten Epik gewürdigt
werden. Hier ist gesagt, was an Göttern und
Menschen und allen Dingen bezeichnend sei. Und damit
werden dem Hörer die Augen geöffnet, das Leben
in seiner wohlunterschiedenen Fülle anzuschauen. Die
Bildlichkeit des homerischen Sehens wird vorbildlich
für die griechische Welt.


  Die schöpferische Kraft von Homers Blick bewährt
sich zumal in der bildenden Kunst. Finsler1 gelangt zur
Überzeugung, daß der Dichter Kunstwerke schildere,
die es zu seiner Zeit noch nicht gab, so zum Beispiel den
Schild Achills, die goldenen und silbernen Hunde, die
des Alkinoos Haus bewachen, oder das Szepter Agamemnons
und den Mischkrug des Menelaos. Es sind
darum auch nicht Menschen, die solche Werke schaffen;
es ist Hephaist, der göttliche Künstler; und diesem
von Homer geschauten Künstler eifern die späteren
Künstler Griechenlands nach. Auch beim Gestalten der
Götterbilder bleiben sie im Banne Homers. Zeus mit
der gewaltigen Lockenmähne, Athene in der Rüstung
des Vaters, Apollon mit dem langen Haupthaar, der
Leier und dem silbernen Bogen, Hermes mit den Sandalen,
die ihn über Land und Meer hintragen: jahrhundertelang
war die griechische Kunst um diese homerischen
Motive bemüht und lernte allmählich bilden,
was der Dichter gesehen mit den Augen des Geistes. So
hat er in Wahrheit den Griechen, nach dem Wort Herodots, [105]
die Götter geschaffen. Doch dieses Schaffen der
Götter ist nur ein Teil seiner allgemeineren Leistung,
daß er weithin die leuchtende Sichtbarkeit des Lebens
erschlossen hat.


  Um zu sehen, bedarf es des Lichts. Im Licht, das die
epische Rede, das eigentlich «apophantische» Wort, verbreitet,
steht der Olymp und das menschliche Reich in
klar gezogenen Umrissen da. Im Licht zu leben, ist
darum auch das höchste Glück des homerischen Menschen.
Zeus ist der Gott der größten Helle, im wörtlichen
und übertragenen Sinn. Die Helle der Berghöhe
ist um ihn, und Helle auch insofern, als kein Geheimnis
mehr seine Erscheinung umwittert. Man mag darin immerhin
einen Verlust an magischer Mächtigkeit beklagen.
Der Epiker gibt sie gerne preis und lüftet den
Schleier des Heiligen immer wieder, der Sichtbarkeit
zulieb. Die Sonne wird so zum Licht des vielberufenen
homerischen Rationalismus. Die Helle Homers ist Aufklärung,
als solche nüchtern, aber stark, gesund, dauerhaft
und bestimmt. Freilich wird sie erkauft mit unüberwindlicher
Scheu vor der Nacht und dem Tod. Fällt ein
Held im Kampf, so lesen wir die stereotype Formel:


«Schreiend brach er ins Knie, vom Schleier des Todes

beschattet»

oder:


  «jenem umflorte

Gleich die Augen der nächtige Tod und das mächtige

Schicksal.»

  Das lyrische Dasein kennt ein solches Grauen vor dem
Dunkel, vor dem Tod, wo die Augen sich schließen, [106]
nicht. Im Gegenteil! Es sinkt ins Nächtige als in Tiefen
der Innigkeit hinein und fühlt sich umflutet, geborgen.
Zwar wäre es irreführend, zu sagen, zum Lyrischen gehöre
mehr die Nacht, zum Epischen der Tag. Denn
möglich ist auch ein lyrisches Licht. Das ist aber eher ein
Flimmern und Gleißen, stellt kein Gegenüber her und
läßt sich darum mit dem Dunkel vertauschen, das
gleichfalls nicht auseinandersetzt. Den epischen Menschen
dagegen beraubt das Dunkel seiner Wesentlichkeit.
Er sieht nichts mehr, und da sein Dasein im
Sehen begründet ist, «ist» er nicht mehr. Die Götter
verlassen den Sterbenden. Er sinkt ins μὴ ὄν, ins Nichtige,
wofür die Schatten des Hades das halbverlegene
Gleichnis eines Dichters sind, der selbst das Unsichtbare
noch irgendwie sichtbar machen muß. Die Hadesfahrt
ist das ungeheuerste Wagnis des göttlichen Dulders
Odysseus. Die Linie, die hier der Held überschreitet,
ist eine schärfere Grenze der Welt als die Säulen des
Herkules, die das Schiff des Danteschen Ulyß passiert.


  Ausgeschlossen bleibt hier auch ein anderer Bereich,
der freilich für den lyrischen Menschen nahe mit der
Nacht und dem Tode verwandt ist, die Liebe. Homer
kennt wohl die Gattentreue und hat ihr in Andromache
und Penelope ein Denkmal gesetzt. Er kennt auch die
Lust am Besitz der Frau. Der troianische Krieg entbrennt
um Helenas, der Zorn des Achill um Briseis'
willen. Aber von Liebesglück und Liebessehnsucht findet
sich keine Spur. Briseis ist wie ein Becher Wein; der
Durstige trinkt und wendet sich wieder den kriegerischen
Geschäften zu. Achilleus wäre nicht minder erbost,
wenn Agamemnon ihm eine Waffe oder ein Kleinod [107]
entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren
und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon
auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender
Sühne bereit erklärt:

«Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel

Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde

Becken;

Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des

Wettlaufs ...

Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der

Arbeit,

Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert,

Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter besiegten.


Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet,

Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör

ich's,

Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet,

Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe

sich nahet.»

 (122─134)


  Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie
schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten
Daseins auflöst. Eros, der «Unbesiegte im
Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau»,
ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt
noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der
Sappho und Phaidra im «Hippolytos» des Euripides künden.
Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber
oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über
den Nausikaaszenen dagegen in der «Odyssee» liegt [108]
bereits ein zarter lyrischer Hauch, wie überhaupt diese
spätere Dichtung hin und wieder, auch in den duftigen
Landschaftsgemälden, in ihren schmelzenden Farben
sich dem Lyrischen nähert.


  Ähnlich dürfte die Stellung des Dionysos zu bewerten
sein. Die «Ilias» kennt zwar diesen Gott. Diomedes erzählt
die Geschichte von Lykurg, vor dessen Gewalttat
Dionysos sich erschrocken im Meer verbarg. Doch von
der Macht des orgiastischen Gottes weiß das Epos nichts.
Er kommt auch im Olymp nicht vor. Er wäre ein Feind
der Wohlunterschiedenheit aller Gestalten und des unverrückbaren
Gegenübers der Dinge.


  So, da die Nacht, der Tod, der Eros, der trunkene
Gott hier ausgeschlossen oder doch an den Rand gedrängt
sind, triumphiert in ganzer Weite das Licht und
mit dem Licht die körperliche, umrissene Gegenständlichkeit,
gemäß dem Wort aus Goethes «Faust»:


«Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht

Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,

Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön ...»

3.


  Demnach zeigt das Epische Verwandtschaft mit der
bildenden Kunst, ähnlich wie das Lyrische Verwandtschaft
mit der Musik bewies. So wie sich im lyrischen
Wort jedoch die feste gegenständliche Bedeutung nie
aufheben läßt, so kann sich die epische Rede nie dem
Nacheinander der Zeit entziehen. Denn Epik ist nicht
bildende Kunst und Lyrik ist nicht Musik, sondern beides [109]
ist Poesie. Wohl mag der Dichter versuchen, das
«ut pictura poesis» so zu erfüllen, daß er in Worten das
Nebeneinander im Raume darzustellen versucht. In
Hallers «Alpen» stehen die Verse:


«Hier ringt ein kühnes Paar, vermählt den Ernst dem

Spiele,

Umwindet Leib um Leib und schlinget Huft um Huft,

Dort fliegt ein schwerer Stein nach dem gesteckten Ziele,

Von starker Hand beseelt durch die zertrennte Luft.

Den aber führt die Lust, was edlers zu beginnen,

Zu einer muntern Schar von edlen Schäferinnen.
Dort eilt ein schnelles Blei in das entfernte Weiße,

Das blitzt, und Luft und Ziel im gleichen Jetzt durchbohrt;


Hier rollt ein runder Ball in dem bestimmten Gleise

Nach dem erwählten Zweck mit langen Sätzen fort.

Dort tanzt ein bunter Ring mit umgeschlungnen

Händen

In dem zertretnen Gras bei einer Dorfschalmei ...»

  Haller fügt bei, diese ganze Beschreibung sei nach
dem Leben gemalt. Man wird sie jedoch wenig anschaulich
finden, und zwar deshalb, weil der ständige Wechsel
der Blickrichtung, das «hier» und «dort», die Aufmerksamkeit
zerstreut, und weil der Leser im Fortgang
der Rede die nebeneinander stehenden Teile des Bildes
nicht im Gedächtnis behält. Damit ist die Frage berührt,
die Lessing im «Laokoon» stellt und im sechzehnten
Abschnitt mit den bekannten Thesen zu beantworten
sucht:

[110]

  «Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile
nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind
Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen
Gegenstände der Malerei.


  Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander
folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich
sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der
Poesie.


  Doch alle Körper existieren nicht allein in dem
Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort und
können in jedem Augenblick ihrer Dauer anders erscheinen
und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser
augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen
ist die Wirkung einer vorhergehenden und kann die
Ursache einer folgenden und sonach gleichsam das Zentrum
einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei
auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise
durch Körper.


  Auf der andern Seite können Handlungen nicht für
sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen
anhängen. Insofern nun diese Wesen Körper sind oder
als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch
Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.»


  Diese Sätze sind ebenso oft bewundert wie angefochten
worden. Zunächst einmal wäre klarzustellen, daß
Lessing offenbar nur die Grenzen der epischen Dichtung
ziehen will. Die lyrische Poesie beschreibt überhaupt
nicht und stellt keine Gegenstände, weder Körper
noch Handlungen, vor. Vom Lyrischen hat nun Lessing
zwar noch keinen ausgeprägten Begriff. Doch wie
es damit bestellt sei, deuten etwa folgende Zeilen an:

[111]

  «Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia
Teil vor Teil zeiget ... sondern weil er es mit der
wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht
so leicht zu erwecken ist, glauben wir ebendes Anblickes
zu genießen, den er genoß.» (XXI. Abschnitt.)

 

  Der Leser setzt hier nicht die Teile zu einem plastischen
Körper zusammen, sondern er macht die Steigerung
der Wollust mit, die den Dichter beim Anblick
von Corinnas1 Schönheit erregt. Dasselbe wäre von der
Beschreibung Alcinas bei Ariost zu sagen, die Lessing
wohl zu Unrecht tadelt. Es kommt auch da nicht auf die
Vorstellung aller einzelnen Teile an. Das Porträt ist wie
in Duft getaucht, und dieser Duft bezaubert und trägt
uns als Stimmung von Stanze zu Stanze dahin.


  Nur also dann, wenn das Gegenüber sich reinlich bildet
und der Dichter, im genauesten Sinne des Wortes,
Gegenständliches zeigen will, besteht die Frage Lessings
zu Recht. Ist sie aber gelöst, wenn dem bildenden Künstler
Körper, dem Dichter dagegen Handlungen zugewiesen
werden? Was Lessing unter Handlung versteht,
erörtert ein Laokoonfragment aus dem Nachlaß:


  «Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck
abzielen, heißt eine Handlung2


  Das ist jedoch eher die Bewegung der dramatischen
Poesie. Im dramatischen Kunstwerk sind wir von Anfang
an auf das Ende gespannt (vergleiche Seite 171),
und jeder Teil stimmt mit den übrigen, wie Lessing an [112]
anderer Stelle sagt, «zu einem Endzweck überein1
Wo aber Spannung vorherrscht, ist keine ruhige Vorstellung
mehr möglich. Da wird das Gegenständliche
bloßes Mittel zum Zweck, während der Epiker doch
sich des Gegenstands um sein selber willen erfreut.
Vom Unterschied der Gattungen ist in Lessings «Laokoon»
nicht die Rede. Und jedes reale poetische Kunstwerk
hat, wie immer wieder bemerkt sei, in verschiedenen
Graden und Arten an allen drei Gattungsideen
teil. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß Lessing
an die Dichtung allzusehr den dramatischen Maßstab
anlegt, schon in der Abhandlung über die Fabel, wo
er sich alle Schilderungen, die mit der moralischen
Schlußpointe nichts zu schaffen haben, verbittet und
wenig Verständnis hat für die reizvollen epischen Züge
bei Lafontaine.


  Damit wird jedoch Lessings These höchstens zurechtgerückt,
nicht widerlegt. Der Widerstreit zwischen Vorstellung
und fortschreitender Rede bleibt bestehen. Es
fragt sich nur, ob der epische Dichter ihn nicht auf eine
Weise schlichte, welche der Anschauung besser gerecht
wird als die dramatische Zielstrebigkeit.


  Im sechsten Gesang will Diomedes wissen, ob Glaukos,
den er noch nie gesehen, ein Sterblicher oder ein Gott
sei, und richtet folgende Rede an ihn:


«Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewohner?


Nie ersah ich ja dich in männerehrender Feldschlacht
[113]
Vormals; aber anjetzt erhebst du dich weit vor den

andern,

Kühnen Muts, da du meiner gewaltigen Lanze dich

darstellst.

Meiner Kraft begegnen nur Söhn' unglücklicher Eltern!

Aber wofern du, ein Gott, herabgekommen vom

Himmel,

Nimmer alsdann begehr ich, mit himmlischen Mächten

zu kämpfen.

Nicht des Dryas Erzeugter einmal, der starke Lykurgos,

Lebete lang, als gegen des Himmels Mächt' er gestrebet:


Welcher vordem Dionysos des Rasenden Ammen verfolgend


Scheucht' auf dem heiligen Berge Nyseion; alle zugleich

nun

Warfen die laubigen Stäbe dahin, da der Mörder

Lykurgos

Wild mit dem Stachel sie schlug; auch selbst Dionysos

voll Schreckens

Taucht' in die Woge des Meers, und Thetis nahm in

den Schoß ihn,

Welcher erbebt', angstvoll vor der drohenden Stimme

des Mannes.

Jenem zürnten darauf die ruhig waltenden Götter,

Und ihn blendete Zeus der Donnerer; auch nicht lange

Lebt' er hinfort, denn verhaßt war er allen unsterblichen

Göttern.

Nicht mit seligen Göttern daher verlang ich zu kämpfen.

Wenn du ein Sterblicher bist und genährt von Früchten

des Feldes;
[114]
Komm dann heran, daß du eilig das Ziel des Todes

erreichest.»

(123─143)


  Die Sage von Lykurg ist entbehrlich, wenn es einzig
darauf ankommt, zu erfahren, wer Glaukos sei. Sie ist ─
mit Lessing zu reden ─ kein Teil, der zum Endzweck
übereinstimmt. Weitere Beispiele ließen sich häufen.
Nur eines der deutlichsten, aus dem sechzehnten Gesang
der «Ilias», sei noch genannt. Der Kampf zwischen
den Troern und den Griechen nähert sich einem
Höhepunkt. Schon lodern die Flammen aus dem Schiff
des Protesilaos. Dringendste Hilfe tut not. Achill erkennt
die große Gefahr und ruft seinem Freunde zu:

«Hebe dich, edler Held Patrokleus, reisiger Kämpfer!

Denn ich seh in den Schiffen des feindlichen Feuers

Gewalt nun!

Eh' sie die Schiff' einnehmen, und kein Entfliehn

noch vergönnt wird,

Hüll in die Waffen dich schnell; und ich selbst

versammle die Völker!»

(126─129)


  Wir hören also: es eilt. Doch damit, daß dies gesagt
ist, hat Homer dem Endzweck seinen Tribut gezollt.
Nun wird erzählt, wie sich Patroklos rüstet. Eine Bemerkung
über den schweren Speer Achills wird eingeflochten.
Sodann versäumt der Dichter nicht, den
Stammbaum der Pferde zu erwähnen. Die Myrmidonen
besammeln sich. Ihren Andrang schildert Homer in
einem ausgedehnten Gleichnis. Dann wird die Geschichte
einiger Unterführer der Myrmidonen erzählt. [115]
Einer von ihnen ist Menesthios, der Sohn des himmelentsprossenen
Stromes Spercheios und der Polydora; als
Vater aber wurde öffentlich Boros, der Sohn Perieres' genannt.
Ein zweiter Führer ist Eudoros. Auch von ihm
wird erzählt, wer ihn gezeugt und geboren und wo und
wie er die Jugend verbracht. Dann hält Achill eine
Rede. Nach der Rede spendet er den Göttern, und wieder
wird ausführlich geschildert, wie er den Becher aus
dem Schrein nimmt, wie Schrein und Becher ausgesehen,
wie er den Becher wieder versorgt und endlich
aus dem Zelt hervortritt, um dem Aufbruch zuzuschauen.
Jetzt erst, nach 120 Versen, gelangt die Handlung
an ihr Ziel:


«Jene nunmehr um Patroklos, den Mutigen, wohlgerüstet


Zogen einher, in die Troer mit trotziger Kraft sich zu

stürzen.»

  Es kommt also nicht auf den Endzweck an. Sondern,
wenn der Dramatiker sich der Menschen und Dinge nur
bedient, um große Entscheidungen darzutun, so sind
dem Epiker große Entscheidungen nur ein Anlaß, möglichst
viel von dem, was gewesen ist, zu erzählen. Er
schreitet nicht fort, um ans Ziel zu gelangen, sondern
er setzt sich ein Ziel, um zu schreiten und alles aufmerksam
zu betrachten. Von da aus hat Schiller die
epische von der dramatischen Exposition, die buchstäblich
nur en passant erfolgt, unterschieden. Er schreibt
darüber am 25. April 1797 an Goethe:


  «Da er (der Epiker) uns nicht so auf das Ende zutreibt
wie dieser (der Dramatiker), so rücken Anfang [116]
und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher
aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern
weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren.»



  Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den
nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen
oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes
nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der «Vater
der Geschichtsschreibung». Sein Thema sind die
Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet
aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten,
Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und
Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig
wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein
Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt
nicht zurecht1.


  Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen
soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu
mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben.
Die «Ilias» schließt mit Hektors Bestattung. Ein
solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der
Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen.
Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind
auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen
hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt,
daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als
Abschluß empfindet. Die «Ilias», so will ihn bedünken,
schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich,
im Sinne von Goethes «Achilleis» weiterzufahren. [117]
Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage
Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die
Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht
der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der
Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als
irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und
Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee».
Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden
über die Freier den lang erwarteten Schluß, von
dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade
deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft,
tut der Dichter das Möglichste, die Spannung
dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen
die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu
lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so
wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches
mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch
oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse.
Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen,
lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht
verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer
ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles
mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren,
die Wunder der fremden Länder und Meere,
der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.


  In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über
das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse
spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit
den Worten aus:


  «Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem
Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig [118]
zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe
bei jedem Schritte1


  Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und
berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter
schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander
der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler,
der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander
des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker
inne und sieht sich von festem Standpunkt aus
einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die
Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen
wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange
verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat,
aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der
Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht
im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der
Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß
man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen,
zu denen ihn der polemische Eifer hinriß.

4.


  Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt:



  «Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter
des epischen Gedichtes aus1


  Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen
Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig.
Mit einer Zeile wie «Die Fenster glänzten weit» [119]
kann ich nichts anfangen. Sogar ihre Rhythmik wird
mir erst vernehmlich, wenn ich weiß, daß sie von
Eichendorff stammt, oder wenn sie mir in dem Gedicht
«Heimkehr», getragen von dem lyrischen Strom des
Ganzen, die Seele berührt. Der epische Hexameter aber
ist ein selbständiges rhythmisches Stück, das nicht im
Strom zerrinnt, sondern dasteht und sich behauptet.
Den Halt verleiht ihm die Zäsur. Davon überzeugt man
sich leicht, wenn man Hexameter ohne Zäsur richtig
gebauten gegenüberstellt:

«Elim bedeckt' ihn mit Sprößlingszweigen des

schattenden Ölbaums ...»

(Klopstock)

«Also bestatteten jene / den Leib des reisigen Hektor»


(Homer-Voß)

«Weisere Männer bedürfen minder der Könige

Freundschaft ...»

(Herder)

«Aller Zustand ist gut, / der natürlich ist und

vernünftig ...»

(Goethe)


Wie ein kleiner Stift scheint die Zäsur den Vers zu befestigen,
damit ihn nicht ein unaufhaltsames Strömen
von Daktylen mit sich reiße. Doch ein kleiner, ein
leichter Stift ist sie nur, wohl unterschieden von der viel
rigoroseren Zäsur des Alexandriners, die den Vers so
scharf in zwei Teile trennt, daß man gezwungen ist, die
Trennung als Entgegensetzung zu fassen und einen logischen
Bezug der beiden Hälften herzustellen.


  Im Hexameter ist ein einfaches Ganzes faßlich auseinandergesetzt.
Bei Homer, der bereits ein später Meister
des Hexameters ist, kommt freilich auch der Zeilensprung [120]
vor, der die Geschlossenheit einzelner Verse
manchmal gefährdet. Der ursprüngliche Sinn des Maßes
bleibt aber erkennbar.


  Die rhythmische Geschlossenheit erzeugt die gegenständliche.
Unzählige Hexameter vermögen uns, völlig
losgelöst von ihrer Umgebung, um ihrer runden Bildlichkeit
willen, zu erfreuen. Von den stereotypen hier
abzusehen, Verse wie etwa die folgenden:


«Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen

Bogen»

(Ilias I, 49)

«Birnen reifen auf Birnen, auf Äpfel röten sich Äpfel,

Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen

schrumpfen auf Feigen.»

(Odyssee VII, 120─1)

 

Oder aus Epen der deutschen Klassik:  

«Und sie empfing an der Pforte der Hund mit

freundlichem Wedeln.»

(Voß, Luise)

«Festlich und heiter glänzte der Himmel und farbig die

Erde.»

(Goethe, Reineke Fuchs)


  Die Beispiele zeigen zugleich, daß die Länge des Verses
der üblichen Länge eines übersichtlichen Hauptsatzes
entspricht. So stellt sich grammatisch die Selbständigkeit
der Teile als Parataxe dar, als eine Parataxe
jedoch, bei der es nun, im Gegensatz zur lyrischen,
durchaus angebracht ist, jeden Vers mit einem Punkt
zu beschließen. Wir können das nicht an Homer ablesen.
Dafür bezeugt der griechische Text auf andere
Weise eine Selbständigkeit der Teile, die sich im Deutschen [121]
kaum mehr nachahmen läßt, die aber auch in
andern jugendlichen Sprachen zu bemerken ist, und
wie das Epische überhaupt, eine unwiederholbare frühe
Stufe des menschlichen Daseins bedeutet. Ein Blick in
Kägis griechische Schulgrammatik genügt, um das Wesentliche
zu sehen. Wenn Homer einmal zu einer längeren
hypotaktischen Fügung ausholt, so bricht er nicht
selten plötzlich ab und entzieht sich der Spannung durch
Anakoluth. Ein Beispiel, das Thassilo von Scheffer1 auf
deutsch noch wiederzugeben vermag, steht im sechsten
Gesang der «Ilias»:


«Wie er nun aber zu Priamos' herrlichem Hause

gelangte,

Rings errichtet mit Hallen geglätteter Säulen ─ doch

drinnen

Waren Gemächer an fünfzig mit glatten steinernen

Wänden,

Eines neben dem andern gebaut; des Priamos Söhne

Ruhten dort schlafend zur Seite der ehlich verbundenen

Gattin;

Doch für die Töchter erhuben sich drüben am anderen

Ende

Zwölf gedeckte Gemächer im Hof aus glattem

Gemäuer,

Eines neben dem andern; die Schwiegersöhne des

Königs

Ruhten dort schlafend zur Seite der keuschen, würdigen

Frauen ─
[122]
Dort nun schritt ihm die milde, gütige Mutter entgegen,

Die gerad zu Laodike ging, der schönsten der Töchter.»

(242─252)


  In neuzeitlicher Dichtung läßt sich dergleichen höchstens
als bewußt archaische Manier rechtfertigen. Bei
Homer ist es ganz natürlich, offenbar deshalb, weil er
die Unterordnung des Nebensatzes bei weitem nicht so
deutlich empfindet wie wir. So hat auch das Relativpronomen
bei ihm noch demonstrative Bedeutung und
leitet einen Hauptsatz ein. Er sagt also nicht: ‚Ich habe
das Haus gesehen, das an der Straße steht ‘, sondern:
‚Ich habe das Haus gesehen, das steht an der Straße ‘.
Und bis ins Kleinste setzt sich das fort. Wir pflegen zu
sagen, daß eine Präposition einen Kasus regiere. Bei
Homer jedoch bewahren die Kasus noch einige Selbständigkeit.
Der Genetiv von ‚Haus ‘ kann ‚aus dem
Haus ‘ bedeuten, der Dativ ‚im Haus ‘. Die Präpositionen
wiederum werden noch adverbial verwendet, ‚vor ‘
also in der Bedeutung von ‚davor ‘, ‚in ‘ in der Bedeutung
‚darin ‘. Sie können deshalb vor oder hinter dem
zu bestimmenden Wort stehen. Dann regiert nicht eine
Präposition einen Kasus, sondern eine Postposition tritt
zu einem Kasus erläuternd hinzu.


  Weitere Beispiele würden immer nur dasselbe zeigen:
daß der Sinn für grammatische Bezüge noch wenig
ausgebildet ist, daß kleinste Satzteile sogar, die später
rein funktionale Bedeutung gewinnen, noch ziemlich
fest in sich selber bestehen. Dies aber ist nur der grammatische
Niederschlag des von Schiller erkannten Gesetzes.


[123]

  Wir haben es jetzt weiter hinauf zu verfolgen und
schließen die Gleichnisse an. Sie sind sehr häufig schon
grammatisch nur lose mit ihrer Umgebung verbunden,
indem der Dichter gerne aus der Konstruktion «wie ─
so» ausbricht und sie erst nachträglich, unbekümmert
um strenge Fügung, wieder aufnimmt, so im folgenden
Gleichnis, bei dem ich die Vossische Übertragung syntaktisch
dem Urtext anzunähern versuche:

«... und er fiel in den Staub wie die Pappel,

Die in gewässerter Aue des großen Sumpfes emporwuchs,

Glatten Stammes, doch oben entwachsen ihr grünende

Zweige;

Diese haut der Wagner jetzt ab mit blinkendem Eisen,

Daß er sie beuge zum Kranz des Rades am zierlichen

Wagen;

Die aber liegt nun welkend am Bord des rinnenden

Baches:

So Anthemios' Sohn Simoeisios ...»

 (Ilias IV, 482 ff.)


  Schon aus dem Satzbau ist ersichtlich, daß sich das
Gleichnis selbständig macht. Prüfen wir es auf seinen
Inhalt, so finden wir, daß es einzig durch die Vorstellung
des Sinkens und Liegens mit der Handlung verbunden
bleibt. Antike Erklärer haben zwar bei jeder
Gelegenheit versucht, möglichst viele Bezüge ausfindig
zu machen. So wird das Gleichnis von Athene, die den
Pfeil wegscheucht wie die Mutter die Fliege vom schlafenden
Kindlein, so ausgelegt, daß die Mutter die Sorge
der Göttin um Menelaos bedeute, der Schlaf des Kindes
die Ahnungslosigkeit des Bedrohten ─ und so fort! Obwohl
das in diesem Beispiel noch nicht zu ausgesprochenem [124]
Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen
scheint ihm als tertium comparationis durchaus
zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht
in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen
dem epischen Gang.


  Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen
Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum
das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe
im zweiten Gesang der «Ilias» bildet das Schwärmen
der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den
Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch,
der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen,
das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern
wächst sich selbständig aus zum Bild.


  Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen
der Episode. Episoden aber füllen die «Ilias» sowohl wie
die «Odyssee». Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es
eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast
beliebig vermehren oder vermindern. In der langen
Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich
geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf
wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der «Odyssee»
wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel,
an Umfang der «Ilias» angeglichen worden.
Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen
einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium.
Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich
zu dem Problem zu äußern.


  Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs «Prolegomena
ad Homerum» den Freunden Homers bereitet
haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang [125]
stand die Sache so, daß die Philologie mit nachsichtigem
Lächeln auf Leser herabsah, die sich die eine
Dichterpersönlichkeit und das einheitliche Kunstwerk
um keinen Preis ausreden lassen wollten. Gegenwärtig
scheinen auch Philologen wieder eher geneigt, auf
große kompositionelle Bezüge in der «Ilias» aufmerksam
zu machen und demgemäß zum mindesten von der
Vorherrschaft eines einzigen gewaltigen dichterischen
Genius zu sprechen1. An solchen Untersuchungen mag
uns manches vielleicht gewaltsam, künstlich oder gelehrtenhaft
anmuten. Vieles ist jedoch überzeugend und
dürfte als bleibende Erkenntnis in die Homerforschung
eingehen. Trotzdem wird es nie gelingen, die «Ilias»
so zu interpretieren, daß sie sich, wie die Liebhaber
möchten, als ein organisches Gebilde darstellt. Denn
darum dreht sich im Grunde der Streit. Noch immer
protestiert der Laie im Namen Goethes gegen Wolf.
Und Goethe fühlte sich von dem Ergebnis der Wolfschen
Kritik so beunruhigt, weil er sich eine Dichtung
nicht anders denn als organisches Gebilde vorstellen
konnte. Nehmen wir diesen Begriff aber ernst ─ so ernst,
wie ihn Goethe selber nahm ─ dann müssen wir sagen:
ein Organismus ist ein Gebilde, in dem jeder einzelne
Teil zugleich Zweck und Mittel ist2, also selbständig
und funktional in einem, wertvoll an sich selbst und
gleichzeitig auf das Ganze bezogen. Ein solcher Organismus
ist zweifellos Goethes «Hermann und Dorothea»,
die «Odyssee» und die «Ilias» aber nicht. Aus einem [126]
Organismus kann man nicht große Stücke ausschneiden,
ohne das Leben des Ganzen zu gefährden. Die «Ilias»
aber könnte man auf die Hälfte, ja auf ein Drittel verkürzen,
ohne daß jemand, der den Rest nicht kennte,
etwas vermissen würde. Das ist nur möglich, weil auch
im Großen die Selbständigkeit der Teile gewahrt bleibt.
Man mag sie erklären, wie man will, aus der Häufung
von altüberlieferten Einzelgesängen oder aus der besonderen
Situation des Rhapsoden, der jeden Tag ein
Stück von mäßiger Länge vorzutragen hatte: Finsler
dürfte Recht behalten mit seiner vorsichtigen Erklärung:



  «Selbst wenn also ein einziger Dichter die Ilias erfunden
hätte, müßte der Schwerpunkt der poetischen
Tätigkeit auf die einzelnen Teile und nicht auf den Zusammenhang
des Ganzen fallen»1.


  Der Schwerpunkt der poetischen Tätigkeit! Das
schließt nicht aus, daß der Dichter ─ oder ein Dichter,
der irgendwann auftrat und episches Gut zusammenzog
─ sich auch von gewissen großen kompositionellen
Erwägungen leiten ließ und etwa darauf bedacht war,
eine wohlberechnete Spannung bis zum Tode Hektors
zu erzielen2. Von unserm Standpunkt aus hieße das,
daß hier der Spätling Homer bereits die Grenzen des
Epischen überschreitet und eine Dichtung vorbereitet,
die dann im Drama vollendet wird. Doch er bereitet
sie nur vor. Gegen die Beharrlichkeit des Einzelnen
dringt er nie ganz durch. Sogar in den «modernsten»
Gesängen der «Ilias» bleibt eine Fülle von Versen, Szenen, [127]
Taten, Vorgängen, die im Hinblick aufs Ganze
entbehrlich sind und im Sinne strenger Komposition
als Fehler bezeichnet werden müßten. Wer drum sein
Augenmerk vor allem auf eine große Linie richtet und
zwischen weit voneinander entfernten Szenen Fäden zu
ziehen beginnt, der blickt am Schwerpunkt der poetischen
Tätigkeit Homers vorbei und gibt zu verstehen,
daß ihm die Einfalt epischer Dichtung nicht genügt.


  Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache
Addition. Im Kleinen wie im Großen werden
selbständige Teile zusammengesetzt. Die Addition geht
immer weiter. Ein Ende wäre nur zu finden, wenn es
gelänge, den gesamten orbis terrarum abzuschreiten
und schlechthin alles, was irgendwo ist oder war, zu vergegenwärtigen.
Der Langeweile, die dabei droht (die
zum Beispiel Herder bei allen Epen zu empfinden bekannte),
kann der Epiker mit durchaus eigentümlichen
Mitteln begegnen, indem er nämlich durch den folgenden
Teil den früheren überbietet und so den Hörer beständig
fesselt. Der Dramatiker überbietet nicht. Er fesselt
auch nicht, sondern er spannt. Die Ungeduld im
Dramatischen entsteht aus der Erkenntnis, daß den
früheren Teilen noch etwas fehlt, daß sie noch einer Ergänzung
bedürfen, um sinnvoll oder verständlich zu
sein. Diese Ergänzung ist das Ende, auf das im Dramatischen
alles ankommt. Ganz anders das epische Überbieten!
Da wird ein Einzelnes vorgestellt als selbständiges
Stück. Damit das Interesse nicht nachläßt, muß das
nächste Stück noch reicher, noch schrecklicher oder
lieblicher sein, so, um ein kürzeres Beispiel zu nennen,
im sechszehnten Gesang der «Ilias», wo Homer im [128]
Drang des Erzählens aufatmend zu den Musen fleht und
das Ringen weiter und weiter steigert, bis schließlich
der Brand in den Schiffen loht:

«Also redeten jen' im Wechselgespräch miteinander.

Aias bestand nicht fürder; ihn drängten zu sehr die Geschosse.


Denn ihn bezwang Zeus' heiliger Rat, und die mutigen

Troer,

Werfend Geschoß; daß schrecklich der leuchtende Helm

um die Schläfen

Ringsumprallt von Geschoß aufrasselte; denn es umprallt'

ihn

Stets das gebuckelte Erz; und links erstarrt' ihm die

Schulter,

Stets vom Schilde beschwert, dem beweglichen: dennoch

vermocht' ihn

Keiner umher zu erschüttern, mit Todesgeschoß, ihn

umdrängend.

Häufig indes und schwer aufatmet' er, und es umfloß

ihn

Rings von den Gliedern herab der Angstschweiß; nimmer

Erholung

Ward ihm vergönnt; ringsher ward Graun an Graun

ihm gereihet.

Sagt mir anitzt ,ihr Musen, olympische Höhen bewohnend,


Wie nun Feuer zuerst einfiel in der Danaer Schiffe.

Hektor heran sich stürzend auf Aias' eschene Lanze

Schwang das gewaltige Schwert, und dicht an der Öse

des Erzes
[129]
Schmettert' er grade sie durch; und der Telamonier Aias

Zuckt' umsonst in der Hand den verstümmelten Schaft,

da geschleudert

Fern die Spitze von Erz mit Getön hinsank auf den

Boden.

Aias erkannte nunmehr, in erhabener Seel' aufschauernd,


Göttergewalt, daß gänzlich des Kampfs Anschläge

vereitle

Der hochdonnernde Zeus und den Troern gönne den

Siegsruhm;

Und er entwich dem Geschoß. Da warfen sie brennendes

Feuer

Schnell in das Schiff, und plötzlich durchflog unlöschbar

umher Glut.»

 (101─24)


  Vollkommen entfaltet sich diese Kunst natürlich erst
in größerem Raum. Ein Meisterstück ist der Freiermord
in der Odyssee. Niemand ahnt, wie gefährlich ein
solches Thema ist, wie es ermüden könnte, wenn einer
nach dem andern erlegt wird. So steigert es sich, so fesselt
der Dichter durch Überbieten und durch Kontraste.
Denn auch der Kontrast will noch als vorzüglich episches
Kunstmittel gewürdigt sein. Er ist, wie das Überbieten,
nicht durch das Kommende, sondern von rückwärts
her, durch das eben Dargestellte bestimmt. Auch
als Künstler also blickt der Epiker mit Vorliebe zurück.
Das Ziel jedoch, dem eine Handlung als solche notwendig
zustreben muß, hat wenig Einfluß auf sein Verfahren,
sein Tempo und seine Anordnungen: Es ist mehr
nur ein Vorwand zum Schreiten, wie wenn sich jemand [130]
im Freien ergehen will und den Weg zum Hügel oder
in das nächste Dorf einschlägt.

5.


  Unter den «Teilen» haben wir den Anfang, die
Mitte, das Ende, Gesänge und einzelne Verse des Epos
verstanden. Ihre Selbständigkeit ist aber nur möglich
und sinnvoll, wenn auch die Teile des dargestellten Lebens
selbständig sind. Gerade darin zeigt sich nun die
einzigartige Kraft Homers.


  Hegel erklärt in seiner «Ästhetik», der Alexanderzug
könne nicht als eigentlich episches Thema gelten, weil
das Heer vor seinem Führer keine Selbständigkeit bewahre,
sondern ihm, als einem Despoten, blind ergeben
sei. Wie ganz anders ist Agamemnons Stellung in der
«Ilias». Er führt zwar den Oberbefehl, doch mehr nur
im Sinn eines «primus inter pares». Wehe ihm, wenn
er sich einfallen läßt, auf seine Führerschaft zu pochen!
Dann wird ihm erwidert, er habe nichts zu befehlen,
man sei ihm freiwillig gefolgt. Eine Verpflichtung gebe
es nicht. Jeder könne, sobald es ihm beliebe, wieder von
dannen ziehen. In ähnlichem Verhältnis steht Zeus, der
Göttervater, zu den Göttern. Am Anfang des achten
Gesanges prahlt er zwar in einer gewaltigen Rede, er
sei imstande, das Meer und die Erde samt allen Göttern,
die sich daran hängen wollten, in die Lüfte zu reißen:


«So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen!»

In diesen Versen scheint sich jedoch ein älterer Mythos
erhalten zu haben, die Spur einer ungeheueren Welt, [131]
von der Homer sonst nichts mehr weiß. Im übrigen ist
es mit der Macht des Zeus durchaus nicht so gut bestellt.
Es wird zwar ständig versichert, daß alle Entscheidung
in seinen Händen ruhe. Hera, Ares, Athene,
Poseidon jedoch sind öfter anderer Meinung, murren,
wenn Zeus Befehle erteilt, und erkühnen sich gar, mit
List und Betrug den Willen des Höchsten zu umgehen.
Dann muß sich Zeus gleichfalls mit Schlauheit oder mit
Poltern und Drohen behelfen ─ genau wie Agamemnon
im Kriegsrat. Das Schauspiel ist peinlich für den
Herrn. Doch eben deshalb treten sämtliche Götter und
Helden so herrlich hervor. Sie sind nicht auf den Einen
bezogen. Jeder hat seine besonderen Wünsche und Angelegenheiten.
Jeder ist eine frei entfaltete Individualität.



  Ebenso bewahrt der Mensch gegenüber den Göttern
Selbständigkeit. Man hat Homer zwar schon im Altertum
nachgesagt, seine Helden seien Marionetten in den
Händen der Himmlischen. Wer aufmerksam liest, bemerkt
jedoch bald, daß ein solcher Tadel nicht am
Platz ist. Allerdings heißt es oft, ein Gott habe dies dem
Menschen eingegeben; er habe seinen Verstand betört
oder seinen Sinn zum Guten gelenkt. Doch das schließt
die Freiheit des Handelns nicht aus. Der Mensch kann
sich dem Willen der Götter fügen oder widersetzen. Er
selbst trägt die Verantwortung und ist sich dessen durchaus
bewußt. Und so geht es sogar noch weiter hinab.
Auch die Tiere gewinnen Selbständigkeit. Die Rosse
weinen um Patroklos, so daß sie Zeus einer Antwort
würdigt. In einer gewaltigen Steigerung, wo sich
Homer nicht mehr anders zu helfen weiß, verleiht er [132]
sogar den Pferden Sprache. Und wenn dies vereinzelt
dasteht, fügt es sich doch natürlich in seine Welt. Jedes
Ding drängt nach eigenem Leben. Die Lanze zittert
vor Lust, die Weiche des Gegners zu treffen. Die Pfeile
des Odysseus geben schwirrend den Ton der Rache an.


  Wo das Besondere so hervortritt, bleibt das Allgemeine
noch blaß. Hegel hat dies so ausgedrückt, daß die
epische Dichtung in jene Mittelzeit falle, «in welcher
ein Volk zwar aus der Dumpfheit erwacht ... aber alles,
was später festes religiöses Dogma oder bürgerliches
und moralisches Gesetz wird, noch ganz lebendige, von
dem einzelnen Individuum als solchen unabtrennbare
Gesinnung bleibt»1.


  Ein Vergleich mit neueren Zuständen rückt diese
Sätze ins hellste Licht. Der moderne Mensch ist Bürger,
Glied einer Kirche, einer Nation. Er arbeitet in einem
bestimmten Beruf und reiht sich damit ins Erwerbsleben
ein. Er gehört Interessengemeinschaften an. Sein
Dasein geht, weit mehr als er sich bewußt ist, in Funktionen
auf, in Funktionen der Politik, der Wirtschaft,
der Moral, der Gesellschaft, allgemeiner Bereiche, auf
die er sich notgedrungen ausrichten muß. Ein homerischer
Held kennt nichts dergleichen. Er lebt und handelt
aus eigener Kraft. Sein kleines Land, nach unsern
Begriffen ein Großgrundbesitz, kann ihn ernähren.
Sein Tun und Lassen regelt keine Vorschrift, denn Vorschriften
gibt es nicht. Er nimmt das Motiv aus seiner
«Gesinnung», die seine besondere Natur und Überlieferung
ausgebildet hat. So bildet er eine Welt für [133]
sich ─ nicht anders als, grundsätzlich zu reden, jeder
einzelne epische Vers. Höchst bezeichnend ist der Anlaß,
der die Helden nach Troia führt. Der Sohn des troianischen
Königs hat Menelaos seine Gattin geraubt. Der
freche Frevel soll gesühnt und Helena wieder heimgeholt
werden. Doch niemand wird glauben, dies sei der
Grund, warum ein Achill, ein Aias mitzieht. Sie ziehen
mit, weil es die Ehre gebietet und weil sie die Lust des
Kampfes lockt. Agamemnon und Menelaos bekommen
es oft genug zu hören, daß ihre persönliche Familiensorge
den anderen im Grunde gleichgültig sei. Wir
sehen, das Verhältnis entspricht dem zwischen den Episoden
und dem Gesamtplan der «Ilias» und der «Odyssee».
Wie der Gesamtplan dazu da ist, den Episoden
Raum zu gewähren, so ist die Kriegsursache da, damit
sich der Einzelne zeigen kann. Nichts liegt den homerischen
Helden ferner als ein ideologischer Krieg. Jede
Beziehung des einzelnen Kämpfers auf eine festgelegte
Verpflichtung, jede moralische oder politische Rücksicht
fehlt. Das heißt nicht, daß ein homerischer Held
nicht auch Gutes vollbringen könne. Selbst dann aber
handelt er nicht aus Rücksicht auf irgendein ewiges Sittengesetz,
sondern weil er jetzt gut handeln will. Es ist
nicht das Gute, sondern sein Gutes, Milde Achills und
Tapferkeit Hektors, nicht Milde und Tapferkeit an sich,
an der ein Einzelner im platonischen Sinne «teilhaben»
müßte. Der sittliche Zweck bleibt eins mit eines jeden
persönlichem Temperament.


  In einer solchen Welt sieht der Dichter den Menschen
anders als wir ihn sehen. Wir Neueren treten an jede Gestalt
mit einem Vor-urteil heran. Das Vorurteil besteht [134]
darin, daß wir jede Persönlichkeit im Hinblick auf feste
Ideen und Werte würdigen. Wir messen sie mit einem
Maßstab; und nur was in den Bereich des Maßstabes
fällt, kommt in Betracht ─ ähnlich wie ein Gericht an
einem Angeklagten nur interessiert, was mit seiner Tat
in Beziehung steht. Niemand fragt danach, ob der Dieb
musikalisch ist oder die Landschaft liebt. Der Epiker
kennt kein Vorurteil. Deshalb erscheint der Mensch vor
ihm in reichster Mannigfaltigkeit. Achill, im Zorn auffahrend,
später die Laute spielend, des Patroklos Freund,
der unmenschliche Gegner Hektors, der mild Gestimmte
im letzten Gesang: eines tritt nach dem andern hervor,
so wie die Gelegenheit es bringt, unbehindert von der
Idee des Ganzen eines Charakters, von dem Bedürfnis,
eine Bilanz zu ziehen. Nachträglich ist es allerdings
möglich, die vielen Eigenschaften Achills in ein Gesamtbild
zusammenzuziehen. Man mag sich daran versuchen
wie an dem vielgestaltigen Leben selbst. Homer
leistet solchem Beginnen nicht Vorschub. Er zeigt, was
jeweils sichtbar wird. Der Zusammenhang aber bekümmert
ihn nicht.


  Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir
bedenken, daß die homerische Welt die Schrift nicht
kennt. Homer scheint zwar geschrieben zu haben. Er
sieht in der Schrift aber etwas Modernes und ermißt ihre
große Leistung noch kaum. Weil er ältere Zeiten schildert,
vermeidet er es, sie zu erwähnen ─ ein Umstand,
den wir offenbar gar nicht hoch genug veranschlagen
können. Die Schrift ist nämlich gleichsam der Ort der
dauernden, vom einzelnen Menschen abgelösten Gültigkeit.
Die Tafeln des Gesetzes im Alten Testament werden [135]
aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen,
wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift
bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes
umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit
der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem
Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man
hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der
Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten
Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert.
Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so
und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein
Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen.


  Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon
Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade
die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig
man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den
Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem
Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des
Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht.


  Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise,
die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn
ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die
Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden
muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So
erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch
nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet
uns doch, das Viele zusammenzuziehen und
Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum
Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für
den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht
kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee [136]
und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben
weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer
wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt,
erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer
Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen
den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu
verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom
Schläfchen Homers ─ «quandoque bonus dormitat
Homerus» ─ darf hier wohl als antikes Zeugnis für die
Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt
werden.


  Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende
geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht.
Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen
gelesen? In dieser Verwunderung spüren
wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche
die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher,
so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur
schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche
Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere
früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit
so, wie wir uns selbst verwandelt haben.
Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen
das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen,
als ob es sich um einen Fremden handeln würde,
eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen
sein sollen.


  Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren
Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den
früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil
er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das [137]
Ereignis des Reifens, ja sogar schon des bloßen Alterns.
In der «Ilias» fällt das weiter nicht auf, da die Handlung
dort im Ganzen nur einundfünfzig Tage füllt.
Odysseus aber ist immer der Mann in mittleren Jahren,
schon wie er nach Troia kommt, dann während des
Feldzugs, der zehn Jahre dauert, und während der
Heimfahrt, die wieder ein volles Jahrzehnt beansprucht.
Ebenso Penelope. Nach zwanzig Jahren erscheint sie
noch als dieselbe reife, umworbene Frau, als die sie
Odysseus verlassen hat, und darf nach seiner Rückkehr
noch langer glücklicher Ehe entgegensehen.


  Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen
dem Epos und dem Roman, der, nach spätantiken
Vorläufern, als eine christliche Erfindung den Menschen
in zeitlicher Spannung als wesentlich sich entwikkelndes
Wesen zeigt.


  So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den
Tag hinein. Er freut sich des Tages und seines Lichts
und sorgt sich nicht ängstlich darüber hinaus, weder
um das Ende der Tage noch um eine nähere Zukunft.
Gibt es hier aber nicht dennoch Vorausblick? Sind nicht
Orakel und Seher da, Kalchas bei den Griechen, Helenos
bei den Troianern, Teiresias, dem Odysseus in Tiefen
des Hades begegnet? Gewiß! Und sie werden umständlich
befragt. Aber ─ das ist das Verblüffende ─ bei aller
Ehrfurcht vor der Kunst des Sehers, bei aller kindlichen
Neugier nimmt man doch seine Sprüche nicht ernst. In
der tragischen Dichtung sind ganze Schicksale durch
Orakel bestimmt, sei es, daß der Held, wie Orest, nach
dem Beschluß des Gottes handelt, sei es, daß er sich ihm
widersetzt, wie König Ödipus, und dem, was verfügt [138]
ist, zu entrinnen versucht. Sein Handeln bleibt an die
Zukunft gebunden, deren Antizipation im Orakel die
Spannung des Dramas erzeugt. Den Griechen in der
«Ilias» aber ist längst geweissagt, daß Troia nach zehn
Jahren fallen werde. Sie handeln, als wüßten sie eigentlich
nichts davon, unternehmen Mauerstürme, die vorläufig
nicht zum Ziel führen können; sind untröstlich
über einen Rückschlag, und selbst die bewunderte Haltung
Hektors, der ausspricht:


«Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt»


und dennoch weiterkämpft auf verlorenem Posten,
dürfte wirklich nichts weiter als frische epische Gedankenlosigkeit
sein. Schon daß Menelaos (IV, 164) dieselben
Worte spricht und Hektor sie später nur wiederholt,
entwertet den Ausspruch in seinem Mund. Und
wie er dann gegen die Schiffe stürmt, ist sein Jubel über
den nahen Sieg von keinem noch so geheimen Wissen
um sicheren Untergang mehr beschattet. Wer das behauptet,
liest tragische Züge in den Helden Homers hinein
und sieht einen Hektor, wie ihn Shakespeare in
«Troilus und Cressida» dargestellt hat, nicht aber den
Kämpfer der «Ilias». Die Auslegung der Jahrtausende
lastet schwer auf den homerischen Epen. Niemand entrinnt
ihr heute mehr ganz, wie sehr auch unser historischer
Sinn seit den Tagen vor Herder geschärft sein
mag. Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß die einfachste,
«uninteressanteste» Auslegung die richtigste
sei und eine lichtvollere Schönheit erschließe, als jedes
interessante Gespinst.

[139]

  Doch nicht nur die Menschen, sondern sogar die Götter
nehmen die Zukunft nicht ernst, obwohl sie vor ihnen
doch klarer daliegt und die Seher selber ihre Weisheit
nur von den Göttern beziehen. Dieselbe Aufregung
wie bei den Kriegern beim Wechsel der Geschicke, derselbe
Unmut oder Triumph, obwohl der Untergang
Troias feststeht und vor dem Blick der ewigen Wesen
schon jetzt als Wirklichkeit gelten könnte. Das führt zu
jenen Auftritten, die uns Modernen solches Ergötzen
bereiten, weil wir, menschliche Leser, das Ganze im
Auge behalten, während die Götter wie Kinder im Nächsten
verhaftet sind:


«Jene nun sah erbarmend die lilienarmige Here,

Wandte sich schnell zu Athen' und sprach die geflügelten

Worte:

Weh mir, o Tochter des Zeus, des Donnerers, wollen

wir noch nicht

Retten das sterbende Volk der Danaer, auch nur zuletzt

noch?

Welche das böse Geschick nunmehr vollendend verschwinden,


Unter des Einen Gewalt! Da wütet er ganz unerträglich,

Hektor, Priamos' Sohn, und viel schon tat er des

Frevels.

Drauf antwortete Zeus' blauäugige Tochter Athene:

Wohl schon hätte mir dieser den Mut und die Seele verloren,


Unter der Hand der Argeier vertilgt im heimischen

Lande;

Aber es tobt mein Vater mit übelwollendem Herzen,
[140]
Grausam und stets unbillig und jeden Entschluß mir

vereitelnd.

Nicht gedenkt er mir dessen, wie oft vordem ich den

Sohn ihm

Rettete, wann er gequält von Eurystheus' Kämpfen

sich härmte.

Auf zum Himmel weinte der Duldende; aber es

sandt' ihm

Mich zur Helferin schnell von des Himmels Höhe

Kronion.

Hätt' ich doch solches gewußt im forschenden Rate

des Herzens,

Als er hinab in Aïs verriegelte Burg ihn gesendet,

Daß er dem Dunkel entführte den Hund des

graulichen Gottes!

Niemals wär er entronnen dem stygischen Strom des

Entsetzens!

Nun bin ich ihm verhaßt; doch den Rat der Thetis

vollführt er,

Welche die Knie ihm geherzt und die Hand zum

Kinn ihm erhoben,

Flehend, daß Ruhm er gewähre dem Städteverwüster

Achilleus.

Aber er nennt mich einmal blauäugiges Töchterchen

wieder!»

 (VIII, 350─373)


  Einzig Zeus sieht etwas weiter, ist schwerer aus seiner
Ruhe zu bringen, macht Vorbehalte und plant und
erwägt in größerem Stil die Geschicke der Menschen.
Dafür ist aber auch immer mit tiefstem Respekt von
seinem Weitblick die Rede. Er heißt «εὐρύοπα, Weitauge». [141]
Sein Denken, von keinem anderen Gott und
erst recht von keinem Menschen erreicht, wird vorbildlich
in dem genaueren Sinn, daß Zeus so ist, wie der
Mensch zu werden sich eben jetzt, in Homer, am Ende
der epischen Kultur anschickt, jetzt, da die Schrift bekannt
geworden und da sich die epische Parataxe bereits
in eine, wenngleich noch lockere, Ordnung des
Ganzen zu fügen beginnt. Denn stets verehrt der
Mensch als Gott den Geist, der eben erst dämmert in
ihm, zu dem sein Dasein angelegt ist. Der höchste Gott
ist die Zukunft des Menschen, so hier die ratio des Zeus,
die menschlich zu erfüllen ein Ziel der Geschichte des
griechischen Volkes ist.


  Doch selbst der Weitblick des Zeus ist begrenzt. Auch
er ist nicht ganz frei von Sorge und Angst um das, was
auf Erden geschieht. Denn über ihm waltet noch ein
Höheres, von dem er sich immer abhängig weiß, Moira,
in deren Dunkel nun wirklich alles und jedes zusammenhängt.
Moira aber ist in der epischen Welt der deus
absconditus, unergründlich, undurchsichtig, das Geheimnis,
das jenseits allen Erkennens und allen Ahnens
bleibt, das Schicksal, das als Vorsehung zu deuten, dessen
Plan zu erforschen, hier noch in keines Menschen
Sinn kommt.

6.


  Lyrische Dichtung ist ungeschichtlich, hat keinen
Grund und keine Folgen; sie spricht nur Gleichgestimmte
an; ihre Wirkungen sind zufälliger Art und
vergehen, wie eine Stimmung vergeht.


  Das Epos dagegen hat in der Geschichte seinen genau [142]
bestimmten Ort. Hier bleibt der Dichter nicht allein.
Er steht in einem Kreis von Hörern und erzählt ihnen
seine Geschichten. So wie er sich selbst das Geschehene
vorstellt, stellt er es seinem Publikum vor. Und wenn
er weiterzieht und seine Geschichten sich im Land verbreiten,
erweitert das Publikum sich zum Volk.


  Das Gegenüber von Dichter und Hörern entsteht
aber nicht, weil es der Zufall einer Begegnung gerade
so fügt. Käme ein Mann und trüge in griechischer
Sprache vor einem griechischen Hörerkreis die Sage von
Gilgamesch vor, so würde er schwerlich angehört, oder
doch mit großem Befremden und ohne nachhaltigen
Dank. Die Hörer anerkennen Homer, weil er die Dinge
so darstellt, wie sie sie selber zu sehen gewohnt sind.
Sie wiederum sehen sie so, weil ihren Vätern ein Dichter
sie so gezeigt hat. Ihr Verhältnis gründet also in
einer Überlieferung, die sich zwar in dunkler Urzeit
verliert, grundsätzlich aber als Stiftung eines Dichters
verstanden werden darf1, der den schlummernden
Rhythmus und das Wort seines Volkes vernimmt und
trifft und in der Dichtung dem Volk den Grund anweist,
auf dem es zu stehen vermag. Dann wirken die
Keime der Sprache weiter, und schließlich ist alles so
festgestellt, wie die Griechen es sehen, aufgenommen
und aufgereiht in unaufhörlicher Parataxe:


«Was bleibet aber, stiften die Dichter.»

Nirgends ist dieses Wort so sehr am Platz wie in epischer
Poesie. Denn das Epos ist die ursprünglichste [143]
Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor,
in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein
Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge
so zu kennen, wie der Dichter, selber dem Volk verpflichtet,
sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch,
Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre
Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter
stiften, ist am deutlichsten sichtbar in den Göttern,
die zwar geboren werden, aber niemals sterben, in deren
Machtbereich nun alles, was kommt und geht, vernehmlich
wird.


  Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns
der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und
steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch
sichtbar sind. Sofern Überlieferung die Völker Europas
verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten.
Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet,
ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem
das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint.
Rein Episches ist später nicht mehr möglich,
aus dem einfachen Grund, weil «Ilias», «Odyssee» und
der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits
zum Stoff für eine neue geistige Tätigkeit werden. So
wenig der Mann wieder Kind werden kann, so wenig
kann die Menschheit in unabgerissener Tradition wieder
auf die Stufe des Epischen zurück und sich mit dem
bloßen Feststellen begnügen, nachdem das Beziehen
und Unterordnen der Teile einmal begonnen hat. Dies
aber setzt unvermeidlich ein, sobald ein gewisser Abschluß
erreicht ist und eine weitere parataktische Aufreihung
sich nicht mehr lohnt. Zumal die Erfindung [144]
der Schrift legt es nahe. Sie fordert geradezu auf, den
Dingen in erleichterter Übersicht eine neue Seite abzugewinnen.
So ist Homer zugleich das Ende der mündlichen
und der epischen Welt. Nur Völkern, die nichts
von ihm wissen, wenn sie ins Licht der Geschichte treten,
gelingt noch epische Dichtung nach Homer. Wir
haben von ihnen nicht zu reden, da alles Historische
hier allein zur Erläuterung des Systematischen dient.
Wir haben auch nicht zu untersuchen, warum das Epische
nirgends zu so großer Blüte gelangt wie in Hellas.
Wir halten uns an den Größten, der denn doch einzig
den Namen «Vater» verdient, und streifen in der Geschichte
des Epos nur einige Hauptkapitel, die auf Homer
bezogen und geeignet sind, das Wesen seiner Dichtung
noch besser zu beleuchten.


  Von einer Geschichte des Epos kann nach alledem nur
die Rede sein, sofern der Begriff poetische Werke bezeichnet,
die äußerlich, nach der Weise ihres Vortrags,
als Epen gelten, Erzählungen also von größerem Umfang,
die in Versen gehalten sind. Epen in diesem Sinne
entstehen auch nach Homer in großer Zahl. Was einfache
Nachahmung homerischen Dichtens ist, lassen
wir außer acht. Von Nachahmung aber und nicht von
Weiterarbeit an der epischen Reihe müssen wir sprechen,
sobald die Naivität des epischen Daseins zerstört
ist. Das sichtbarste Dokument solcher Zerstörung ist die
Kritik des Xenophanes, der gegen das Ende des sechsten
Jahrhunderts in Hexametern, also selbst noch befangen
in der Sprache Homers, gegen die Götterlehre und die
Moral der homerischen Dichtung eifert. In seinen «Sillen»
stehen die Sätze:

[145]

  «Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt
(ἀνέθηκαν), was nur bei Menschen Schimpf und
Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig
Betrügen1


  Hier haben sich «Gut» und «Böse» bereits von den
Einzelgestalten abgelöst und sind zu abstrakten Werten
geworden, die ihrer Erscheinung nur angehängt werden.
Die unbekümmerte Selbständigkeit des Einzelnen
ist damit vernichtet.


  «Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten
oder malen könnten mit ihren Händen und Werke
bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche,
die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten ...
bilden2


  Hier wird ein Zusammenhang von Gott und Mensch
zum Problem, den Homer noch nicht ahnt. Gleichgültig,
wie es Xenophanes löst: Sobald es nur angedeutet
ist, sind beide, Götter und Menschen, fragwürdig und
nicht mehr möglich in epischer Dichtung. Dem Epiker
nämlich genügt es, zu wissen, daß etwas ist, woher es
stammt, und daß er es nennt in seinem Werk.


  «Wenn Gott von allen der mächtigste ist, so kann er
auch nur einer sein; denn wären es zwei oder drei, so
wäre er nicht der mächtigste und beste von allen3


  Hier zieht Xenophanes einen Schluß, mit dem der
ganze Olymp versinkt. Homer zieht keine Schlüsse, redet
beteuernd von dem mächtigsten Gott und läßt die [146]
andern Götter, die seine Macht beschränken, daneben
bestehen. So hält er freilich der Logik nicht stand. Und
wo sich Logik durchsetzt, wird er vielleicht zwar noch
als Künstler geehrt; das Schöne jedoch, das er verkündet,
ist nicht mehr, wie ehedem, auch das Wahre.


  So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit
ohne geschichtegründende Kraft, blüht epische Dichtung
weiter, bei den Griechen und bei den Römern, die
schon in Ennius und erst recht in Vergil den Griechen
verpflichtet sind.


  Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos
nicht mehr möglich zu sein. Die «Selbständigkeit des
Teils» ist hier in jedem Sinne aufgehoben. Der Mensch
wird zum Gegenstand eines Heilsplans. Er findet sich
vor, belastet mit dem Sündenfall Adams und in Erwartung
des jüngsten Gerichts. Sein Dasein ist ausgerichtet
auf eine gewaltige Zukunft, auf ein Jenseits, vor dem
die sichtbare Welt zum bloßen Durchgang und das Körperliche
zu einem dünnen Schleier wird. Der Epiker
dieser Welt ist Dante. Die Transparenz der paradiesischen
Räume und Gestalten, Gottes ungeheuere magnetische
Kraft, die alle Wesen nach oben zieht, zeigt
klar die neue Orientierung, für die ein Verweilen und
alle Selbstherrlichkeit nur Sünde bedeuten kann. Nun
gibt es freilich auch in Dantes «Divina commedia» einen
Bereich, der nicht zu Gott geschaffen ist, dieser heiligen
Spannung entzogen bleibt und insofern eher dem epischen
Dasein gleicht; doch dieser Bereich ist die Hölle.
Der Streit, ob Dante im «Inferno» oder im «Paradies»
sein Höchstes geboten habe, wogt hin und her. Wer auf
dem Standpunkt Dantes steht, muß dem «Paradies» [147]
den Vorzug geben. Wer aber den Maßstab des Epischen
anlegt, wird das Inferno mächtiger finden. Denn hier
tritt alles sichtbarer hervor. Fest stehen die einzelnen
Gestalten da, undurchsichtig, in einer Körperlichkeit,
die dem Auge Widerpart hält. Dieselben Züge jedoch,
die den an Homer geschulten Betrachter erfreuen, bedeuten
im Zusammenhang des Danteschen Gedichts
Verworfenheit. Verworfen ist, wer in sich selbst besteht
und wessen Körper wesentlich wird; verworfen, wessen
Zweck in jedem Punkte seiner Bewegung liegt und
nicht in jenem glorreichen Ende, auf das hin Gott den
Menschen geschaffen. Eine denkwürdige Situation! Die
epische Welt ist zur Hölle geworden, weil sie die neue
Bewegung nach oben, welche im Christentum anhebt,
nicht teilt. Ähnlich steht es bei Milton und Klopstock.
Auch da gerät das Höllische besser nach dem Maßstab
der epischen Kunst. Und da sich Klopstock im Technischen
seines Dichtens eng an Homer anschließt, kann
über ihn das Urteil nicht schwanken: Stilistisch einstimmig
sind allein die Schilderungen der gottlosen
Sphäre.


  Historischer Forschung ist aufgetragen, zu untersuchen,
welche Wandlung das Epos in christlicher Zeit
durchmacht, wie etwa im Nibelungenlied, bei Ariost
und Tasso Dramatisches oder Lyrisches mehr hervortritt.
Dagegen sei hier noch auf das Tierepos hingewiesen,
auf «Reinke de vos», der unter allen neueren Epen
gewiß das am meisten epische ist. Die Tiere stehen nicht
in der Spannung von Sündenfall und jüngstem Gericht.
Sie machen keine Entwicklung durch. Ein Fuchs ist ein
Fuchs und ein Dachs ist ein Dachs, unwiderruflich festgestellt [148]
in seiner Beschaffenheit von Gott, und kann deshalb
mit stereotypen Epitheta ausgestattet werden. Das
Tier lebt in den Tag hinein. Es hat seinen eigenen Lebenskreis.
Jedes ist eine Welt für sich und vermag sich
als solche auch gegen die Monarchie des Löwen zu behaupten.
So ist denn Reineke Fuchs tatsächlich ein
neuer listenreicher Odysseus. Und wundern kann es uns
nicht, daß er in Tiergestalt Auferstehung feiert. Die
Menschen nämlich sind anders geworden. Die Tiere
aber sind geblieben, was sie waren von Anbeginn.


  Neben den Tieren wären dann weiterhin die Kinder
und Toren zu nennen, Till Eulenspiegel, und was an
Schalksnarren sonst in Epen sein Wesen treibt. Sie kennen
keine Verantwortung gegenüber dem, was allgemein
gilt, so wenig wie die homerischen Helden, die
leben und handeln nach eigenem Sinn. Wenn so die
Komik des Naiven in die Nähe des Epischen rückt, so
darf uns das wohl kaum beirren. Auch Homer, sobald
wir ihn mit unserm modernen Bewußtsein lesen, nötigt
uns oft ein Lächeln ab. Er selber lächelt freilich nicht,
wenn die Götter sich zanken oder Zeus seine Neigung
zu den Troianern mit dem Wein und Gedüft begründet,
das Priamos ihm gespendet hat. Wir aber lächeln, weil
es uns von mühsameren Gottesgedanken entspannt,
weil überall das homerische Epos von Sorgen der modernen
Kultur und Anstrengungen des Geistes befreit.


  In der klassischen Epoche des deutschen Schrifttums
blüht, begünstigt von Vossens Homerübersetzung, das
Epos abermals auf. Die «Luise» von Voß, Goethes
«Hermann und Dorothea», Hebbels «Mutter und
Kind», die «Idylle vom Bodensee» von Mörike stehen [149]
in vorderster Reihe. Die Technik des Vortrags ist bis
ins Einzelne der homerischen nachgebildet. Neu sind
aber die Gegenstände. Die Dichter wählen idyllische
Themen. Nur im Idyll vermögen sie noch die Selbständigkeit
der einzelnen Glieder des Lebens einigermaßen
zu wahren. Träten sie aus dem Idyll heraus, in das weite
Feld der modernen Geschichte, der großen politischen
Institutionen, so würde ihre homerische Technik an
den Gegenständen zuschanden. Wo alles mit allem
durch die genaueste Organisation verflochten ist, der
einzelne Bürger mit dem Staat, der Staat mit dem Recht
und der öffentlichen Moral, Moral und Recht mit der
Religion, da ließe sich in parataktischer Darstellung
überhaupt nichts mehr fassen. Nur die sorgfältigste Abstraktion
von allem, womit der Tag eines Menschen des
letzten Jahrhunderts unübersehbar verflochten ist, erlaubt
eine klassizistische Epik, deren Ängstlichkeit der
einzige Goethe zu besiegen oder zu verbergen gewußt
hat.


  Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den
Rahmen einer Idylle, weicht auch «Hermann und Dorothea»
vom Stil der homerischen Epik ab. Goethe selber
hat das ständige, wenn auch sanfte Vorwärtsdrängen,
das Fehlen retrogradierender Motive als unepisch
bezeichnet. Und wenn Schiller in seinem Brief vom
26. Dezember 1797 von der «Enge des Schauplatzes»,
von der «Sparsamkeit der Figuren», dem «kurzen Ablauf
der Handlung» spricht und in solcher Konzentration
eine Hinneigung zur Tragödie feststellt, wenn er
außerdem auf die «innige Beschäftigung des Herzens»
und das «pathologische Interesse» hinweist ─ womit, [150]
nach unsern Begriffen, nur lyrische Qualitäten gemeint
sein können ─ so sehen wir, wie dieses Epos eigentümlich
zwischen den Gattungen steht, wie es ─ nicht nur
in jenem allgemeinen Sinne, der für jedes Sprachkunstwerk
als solches zutrifft ─ am Lyrischen sowohl wie am
Epischen und Dramatischen Anteil hat. Dasselbe gilt
nun aber auch von der «Achilleis», wo Goethe wieder
eine zielstrebige Handlung wählt und wo die Liebe des
Helden zu Polyxena eine so ausgeprägt lyrische Episode
gebildet hätte, daß es kaum möglich gewesen wäre, ihr
mit homerischen Versen und homerischer Technik gerecht
zu werden. Dafür neigt die «Iphigenie auf Tauris»,
wie Schiller in demselben Brief bemerkt, zum Epischen.
Und wenn wir erwägen, daß in den Gedichten,
sogar in vielen Liedern Goethes, das Motiv, das Vorstellbare,
eine bedeutende Rolle spielt, daß andrerseits
selbst «Wanderers Nachtlied» und das Lied «An den
Mond» von einem zusammenfassenden Schluß gekrönt
werden, so geht uns auf, daß Goethes Wesen in ausgezeichneter
Weise an allen drei Gattungsideen beteiligt
ist. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß seine dichterische
Kraft organisch bildet. Ein Organismus ist,
nach der Deutung in Kants «Kritik der Urteilskraft»,
ein Gebilde, dessen Teile Selbstzweck zugleich und Mittel
sind. Die Selbständigkeit der Teile entspricht dem
Gattungsgesetz des Epischen, die Funktionalität der
Teile dem Gattungsgesetz des Dramatischen, die individuelle
Modifikation des organischen Typus dem Lyrischen,
das immer zufällig und individuell ist. Es wäre
gut, den Begriff des Organischen künftig wieder in
diesem unzweideutigen Sinne zu gebrauchen und ihn [151]
nicht wahllos als ästhetisches Wertprädikat herumzubieten.



  Endlich kommen wir in diesem Zusammenhang noch
auf Spitteler, den Dichter, der es bewiesen hat, daß
seine Kraft im Epischen lag, der im «Olympischen Frühling»
ein umfangreiches Epos geschaffen hat, das nicht
übersehen werden darf, wie sehr uns auch ein eigentümliches
Unbehagen anwandeln mag. Bei allen Bedenken
und Zweifeln, die sich zumal auf Spittelers
Sprache beziehen, läßt sich doch nicht verkennen, daß
hier epische Züge wahrnehmbar sind von einer Deutlichkeit
und Reinheit, wie sonst in keiner neueren Dichtung.
Eine leuchtende, überwältigende Bilderfülle
schlägt uns entgegen. Alles ist sichtbar, nicht nur die
ungezählten Dinge und Götterwesen, sondern auch jene
Welt, die uns als innere, unsichtbare gilt; seelische Regungen,
Leidenschaften, alles nimmt körperliche Gestalt
an. Und bis hinunter zum Unscheinbarsten behauptet
ein jedes sein eigenstes Dasein. Ursprungssagen,
Vorgeschichten, ausführlichste Beantwortungen
der alten epischen Frage «Woher?» überraschen den
Leser und machen sich breit, unbekümmert um das
Ziel, dem die Erzählung als Ganzes zusteuert. Die Dichtung
besteht aus Episoden, die sich weglassen, vermehren
ließen. Die Haupthandlung scheint auch hier nur
ein Vorwand, um möglichst viel Einzelnes anzubringen.
Einen Schluß hat der Dichter, nach seinem eigenen Geständnis,
nicht gefunden. Der Schluß rückt, mit Schiller
zu reden, in seiner Dignität sehr nahe zum Anfang, der
wiederum nicht als Exposition, weil er irgendwo hinführt,
sondern um sein selbst willen interessiert.

[152]

  Die unwillkürliche, oder gar ungewollte Verwandtschaft
mit Homer ─ die, wie alles Gattungsmäßige, kein
Werturteil begründen kann ─ fällt hier besonders ins
Gewicht. So darf auch noch von manchen Unvereinbarkeiten
die Rede sein, von topographischen Widersprüchen
zum Beispiel, die es verbieten, alle Aussagen über
den Olymp und das Menschenland in ein Ganzes zusammenzudenken.
Man sieht sich gezwungen, mit einer
Art naiver Sorglosigkeit zu lesen, obwohl dann Spitteler
andrerseits wieder durch allegorische Anspielungen
Tiefsinn vortäuscht und den Blick auf die epische Fülle
der Dichtung stört.


  Ein seltsames dichterisches Phänomen! Es wird vielleicht
verständlicher, wenn wir bedenken, daß es bereits
in eine Epoche gehört, die aus der christlichen Zeit
herauszutreten beginnt, die nicht nur den christlichen
Heilsplan preisgibt, sondern auch alle säkularisierte
Spannung in die Zukunft verliert, die Idee des Fortschritts,
die Eschatologie im Sinne Kants und Hegels
dialektische Spirale. Die Antwort auf ein «Wozu?»
bleibt aus, gerade bei Spitteler, der, wie Nietzsche, die
völlige Zwecklosigkeit des Daseins bei jeder Gelegenheit
betont. Hängt nicht damit die Wiederkehr eines echten
epischen Stils zusammen? Die Umwelt des Dichters
freilich gibt ihre neuzeitliche Beschaffenheit nicht preis.
So kann denn das neue Epos auch nichts mit ihr zu schaffen
haben. In schroffstem Gegensatz zu Homer baut
Spitteler eine ersonnene, erträumte Welt der Schönheit
auf und erfindet Mythen, die keinen Kreis, geschweige
denn ein Volk angehen. Ja, bei diesen Mythen bleibt
er sogar auf die Namen und Charaktere der griechischen [153]
Götter angewiesen, was nun mit aller Schärfe die Bodenlosigkeit
einer wirklich epischen Dichtung in unseren
Tagen beleuchtet.


  Künftiger Forschung bleibt es vorbehalten, diese historischen
Andeutungen gehörig auszuführen. Hier dienen
sie nur der Erkenntnis Homers, der Einsicht, daß
epische Dichtung in seinem Sinne nicht wiederkehren
kann. Das Epische selber freilich bleibt «aufgehoben»
in aller Poesie als unentbehrliches Fundament. Sogar
der Lyriker findet nur Worte, weil sie der Epiker ausgesprochen
(vergleiche Seite 223). Erst recht baut sich
alles Dramatische auf dem festen Grunde des Epischen
auf.

[E154][155]

DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG


Die Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen
Stils vom Wesen der Bühne abzuleiten und hoffen,
nachdem die Theorie des Epos und erst recht der
Lyrik wenig praktischen Nutzen verspricht, doch auf
dramatischem Gebiet den Dichter beraten und fördern
zu dürfen. Nun ist kein Zweifel, daß jeder Dichter, der
Bühnenstücke zu schreiben gedenkt, sich eine genaue
Kenntnis der Möglichkeiten der Bühne verschaffen muß
und daß der Rat des Erfahrenen den Weg zum Ziel beträchtlich
abkürzt. Allein, die Bühne eignet sich für
ganz verschiedene Dichtungsarten. Ein modernes Gesellschaftsstück,
das ganz im Dialog aufgeht, entspricht
ihr nicht minder als eine barocke Zauberoper, in der
das Wort eine untergeordnete Rolle spielt; ein vaterländisches
Festspiel mit lebenden Bildern bewährt sich
in ähnlichem Raum wie eine Tragödie von Sophokles.
Doch niemand würde es wagen, all dies ohne Wahl
«dramatisch» zu nennen, während die Bühnenfähigkeit
nicht wohl bezweifelt werden kann. Andrerseits
gibt es eine dramatische Poesie von höchstem Rang, die
auf der Bühne nicht gedeiht oder gar nicht für die
Bühne bestimmt ist, zum Beispiel die Novellen, aber
auch einige Dramen von Heinrich von Kleist, bei denen
das Geschehen nicht die nötige Schaubarkeit gewinnt.
«Bühnenmäßig» und «dramatisch» bedeutet also nicht [156]
dasselbe. Indes, es widerspräche aller überlieferten Terminologie,
wenn man den engsten Zusammenhang der
beiden Begriffe leugnen wollte. Wäre er etwa so zu finden,
daß das Dramatische nicht vom Wesen der Bühne
her verstanden wird, sondern umgekehrt die historische
Einrichtung der Bühne aus dem Wesen des dramatischen
Stils? Phänomenologische Betrachtung läßt nur
diese Deutung zu. Aus dem Geist dramatischer Dichtung
ist die Bühne erschaffen worden, als einzig gemäßes
Instrument für eine neue Poesie. Dies Instrument
aber, einmal vorhanden, steht nun auch für andere
dichterische Intentionen zur Verfügung und wird
im Lauf der Jahrhunderte aufs mannigfaltigste ausgewertet.
Im Folgenden soll dies deutlicher werden. Hier
stehe es nur als Erklärung, warum der Abschnitt nicht
mit der Bühne beginnt, sondern sich zunächst, obzwar
in ständiger Fühlung mit dem Drama, zwei Arten
des spannenden Stils zuwendet, die auch außerhalb
der Bühne möglich und berechtigt sind, dem Pathos
nämlich und dem Problem.

1.


  Die Sprache des Pathos könnte leicht mit der lyrischen
Sprache verwechselt werden. Ähnlich wie der
lyrisch Gestimmte steht auch der pathetisch Erregte
manchmal als Einzelner da und gibt in unmittelbaren,
oft nur gestammelten Worten seine Bewegung kund.
Im Drama verwandelt sich der regelmäßige Vers des
Dialogs auf Höhepunkten des Pathos nicht selten in
kompliziertere Gebilde, die äußerlich von lyrischen [157]
Strophen kaum zu unterscheiden sind, so in den Kommoi
des Sophokles oder in einigen Monologen Corneilles.
Und wie der lyrische Dichter den Satz in Satzfragmente,
ja sogar in einzelne Wörter auflösen kann, zerstört auch
der Pathetiker oft grammatische Zusammenhänge und
springt in seiner Rede gleichsam von einem Gipfel zum
andern hinüber.


Ὦ πασᾶν κείνα πλέον ἁμέρα

ἐλθοῦσ' ἐχθίστα δή μοι·

ὦ νύξ, ὦ δείπνων ἀρρήτων

ἔκπαγλ' ἄχθη·
O, der mir anbrach, jener Tag,

Mehr denn alle feindlichster mir!

Nacht! Unsäglichen Gelags

Schreckliche Leiden!»

(Sophokles Elektra 201-4)

«Père, maitresse, honneur, amour,

Noble et dure contrainte, aimable tyrannie ...»

(Corneille, Cid I, 3)


  «Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr
Teufel! Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad der Verdammnis
geflochten ─ Augen in Augen wurzelnd ─ Haare zu
Berge stehend gegen Haare ─ auch unser hohles Wimmern
in eins geschmolzen ─ und jetzt zu wiederholen
meine Zärtlichkeiten, und jetzt ihr vorzusingen ihre
Schwüre ─ Gott! Gott!» (Schiller, Kabale und Liebe IV, 4)


  Man hat das Pathos darum nicht selten der lyrischen
Gattung zugeordnet, von anderem Standpunkt aus mit
Recht, da Pathos und Lyrik, wie in der Ode, leicht ineinander
übergehen und eine neue, in eigentümlicher [158]
Spannung gehaltene Einheit bilden1. Nachdem wir jedoch
die Idee der Lyrik in einem sehr bestimmten Sinn
so rein wie möglich herausgestellt haben, sind wir gezwungen,
das Pathos als eine besondere Gattung anzuerkennen.
Ist die Ordnung des Ganzen sinnvoll, so
kann uns ein solcher Zwang nur willkommen und klaren
Begriffen förderlich sein.


  Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch
auseinanderzusetzen. Πάθος wird in den Wörterbüchern
mit «Erlebnis, Unglück, Leid, Leidenschaft», aber
auch noch mit vielen anderen Ausdrücken übersetzt.
Cicero meint2, er müßte streng genommen «morbus»
dafür sagen, zieht aber dann den angemesseneren Ausdruck
«perturbatio» vor. ─ Damit kommen wir nicht
weit. Wir sehen wohl, daß ein Unglück im Drama
Pathosszenen auslösen kann und daß sich die Leidenschaft
oft in pathetischen Worten und Gebärden äußert.
Aber die tiefe Leidenschaft von Goethes Tasso ist nicht
pathetisch, und ein Unglück wie das von Hauptmanns
Fuhrmann Henschel wirkt gerade durch seine unpathetische
Stille.


  Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden.
In der Nikomachischen Ethik (B, 4) wird die
menschliche Seele eingeteilt in πάθη, δυνάμεις und
ἕξεις. Πάθη bezeichnet die «Leidenschaften», im allgemeinsten
Sinne des Worts. Der Mensch wird durch
Leidenschaften bewegt. In der Rhetorik (Γ, 7) verlangt
Aristoteles deshalb von einer guten Rede, daß sie sachgetreu, [159]
den Verhältnissen angemessen und außerdem
«pathetisch» sein, das heißt, auf Leidenschaften wirken
und so den Menschen bewegen müsse. Auch die Möglichkeit
des leeren Pathos wird schon angedeutet:


  «Die Hörer teilen das Pathos (συνομοιοπαθεῖν) des
pathetischen Redners, auch wenn er nichts sagt. Deshalb
überwältigen viele ihr Publikum mit bloßem
Lärm.»


  Nun wird uns klar, daß sich unser moderner Ausdruck
vom griechischen unterscheidet. Wir verstehen
unter Pathos nicht so sehr die Leidenschaft selbst, als
vielmehr die pathetische Rede, die Leidenschaften,
πάθη, erregt. Allein, auch mit dieser Erklärung können
wir uns noch nicht zufrieden geben. Pathetische Rede,
die uns bewegt, scheint nun erst recht in die Nähe der
bewegenden lyrischen Sprache zu rücken. Von den
Griechen dürfen wir hier wohl keine Auskunft mehr erwarten.
Alles, was bewegt, aus dem Maß und der Ruhe
des Geistes rückt, ist für sie in gleicher Weise «patho»-
logisch. Sie haben keinen Anlaß, zwischen Lyrik und
Pathos zu unterscheiden. Für uns aber spitzt sich die
Frage so zu: Wie unterscheidet sich die pathetische von
der lyrischen Bewegung?


  Das Lyrische, wurde gesagt, erweicht (Seite 75). Es
war die Rede von lyrischem Schmelz. Das Schmelzende
wird uns eingeflößt als eine flüssige Substanz, die alles
Feste löst und unser Dasein in seinem Fluß mitträgt.
Die Wirkung ist unmerklich, innig. Sie setzt das Einverständnis
einer gleichgestimmten Seele voraus. Wo
dies Einverständnis fehlt, geht sie vorüber und ist
nichts.

[160]

  Das Pathos wirkt nicht so diskret. Es setzt einen Widerstand
voraus, offene Feindschaft oder auch Trägheit,
und versucht, ihn mit Nachdruck zu brechen. Aus dieser
ganz anderen Situation sind alle Stilmerkmale verständlich.
Das Pathos wird nicht eingeflößt, sondern
eingeprägt oder eingehämmert. Der Satzzusammenhang
löst sich nicht, wie in lyrischer Dichtung, träumerisch
auf. Sondern alle Kraft der Rede ballt sich in
einzelnen Wörtern zusammen, so schon in dem παρακοπά,
παραφορά, φρενοπλανής der Aischyleischen Eumeniden,
so auch in Don Diegos Monolog im «Cid», wo
neuere Orthographie erlaubt, durch Ausrufezeichen
den ganz unlyrischen Sinn der Worte sicherzustellen:


«O rage! o désespoir! o vieillesse ennemie!»

(I, 4)


  Ebenso meint die Wiederholung hier nicht hingegebenes
Lauschen auf den einen bezaubernden Klang.
Das Wort, auf das es ankommt, das die Seele des Hörers
erschüttern soll, wird mit der größten Anstrengung des
Gemüts immer wieder hinausgeschleudert:


«Rome, l'unique objet de mon ressentiment!

Rome, à qui vient ton bras immoler mon amant!

Rome, qui t'a vu naître, et que ton cœur adore!

Rome enfin que je hais parce qu'elle t'honore!»

(Corneille, Horace IV, 5)


Schließlich verbreitet auch die kompliziertere Rhythmik
auf Höhepunkten des Pathos keineswegs eine Stimmung.
Sie will durch stärkste Schläge, wie ein Gewitter,
die Atmosphäre reinigen. Gryphius, dem kaum je
ein unmittelbarer lyrischer Ton geglückt ist, leistet hier [161]
manchmal Ungeheures, wie in dem Verzweiflungsmonolog
der Kaiserin Julia im «Papinian»:


  «Götter! schaut ihr dieses an!

  Schaut ihr und mögt ruhig sitzen?

  Ist kein Strahl der treffen kan?»

Waffnet ihr euch nur umsonst mit den Donner-schwangern

Blitzen

Oder tragt ihr eure Pfeil' auf die Laster-losen Eichen?

Oder kan dis Mord-Geschrey nicht an eur Gehöre

reichen?

    O Weh!

    O Ach!

  Heilge Themis! Rach! O Rach!

  Heilge Themis, wo du nicht

  Vor gekrönte taub und blind;

  Wo noch iemand Urthel spricht;

  Wo noch eine Straffen sind;

  Blitze! verheere! zustöre! verbrenne!

  Wüte! verderbe! verwüste! zutrenne!

Reiß alle Grundfest um, auf die der Mörder baut!

Zuschmetter was ihn schützt! zustoß auf was er traut!»

                    (II, V. 311 ff.)


  Wie willentlich die Musik dieser Verse ist, dürfte niemand
verkennen. Kaum ein Leser ist wohl imstande,
sie gleich vom Blatt ohne Anstoß wiederzugeben. Er
muß beachten, ob ein Vers mit oder ohne Senkung beginnt,
und muß mit Bewußtsein von den Trochäen zu
den Daktylen, von den Daktylen zu den Jamben übergehen.
Das heißt: der Dichter tut ihm Gewalt an; und
er will ihm Gewalt antun.

[162]

  Damit ist bereits gesagt, daß die pathetische Rede,
abermals im Gegensatz zur lyrischen Sprache, ein Gegenüber
voraussetzt, ein Gegenüber aber, das sie nicht,
wie die epische, anerkennt, sondern aufzuheben trachtet,
sei es so, daß der Redner den Hörer gewinnt, oder
so, daß der Hörer von der Gewalt der Rede vernichtet
wird. Als Beispiel sei der «Tell», die Rede Stauffachers
auf dem Rütli, erwähnt, wo die Worte «eine große Bewegung
unter den Landleuten» auslösen und schließlich
alle, emporgerissen zur Begeisterung des Sprechers,
an ihre Schwerter schlagen und seine letzten
Worte wiederholen:


«Wir stehn vor unser Land, vor unsre Kinder.»

Ein συνομοιοπαθεῖν, wie es sich vollkommener nicht
ereignen könnte!


  Selbst wo ein Einzelner ohne bezeichneten Hörer sich
pathetisch äußert, der tragische Held im Monolog zum
Beispiel, aber auch der Dichter in eigener Person wie
Gryphius, Schiller in ihren gedankenlyrischen Versen,
bleibt das Gegenüber immer noch selbstverständlich
vorausgesetzt, nicht nur in dem Sinn, daß auch solche
Verse nach Rezitation vor einem Publikum verlangen,
sondern in dem entscheidenderen, daß hier der Redner
sich selbst zuspricht und mit höheren Kräften das Niedrige
seines Daseins verdammt oder überredet.


  Dem Hörer, wer immer er auch sei, geschieht von pathetischer
Rede Gewalt. Wenn das Pathos aber echt ist,
erleidet auch der Redner Gewalt. Darunter verstehe
ich nicht eine unheilvolle Situation, in der sich der
Redner vielleicht gerade befindet, nicht die Not der [163]
Heimat also, die Stauffacher, nicht den Tod des Sohns,
der Julia im «Papinian» bedrängt. Aus solchen Leiden
braucht an sich kein Pathos zu entstehen. Sie könnten
den Menschen auch wehmütig stimmen. Außerdem
gibt es ja nicht nur schmerzliches, sondern auch freudiges
Pathos, wie das Fieskos, der trunken auf Genua
blickt, Elektras, die ihre Rache vollzieht. Jene Gewalt,
die Stauffacher als pathetischer Redner erleidet und die
sich auf die Versammlung überträgt, ist die Freiheit.
Jene Gewalt, die Julia erleidet, ist die Gerechtigkeit.
Und die Gewalt, die Fiesko zu seiner pathetischen Rede
drängt, ist die Macht.


  Es könnte jedoch befremden, daß Begriffe in diesem
höchst konkreten Sinn als Gewalten bezeichnet werden.
Liebe, Machtgier ─ das ginge noch an. Aber Freiheit,
Recht und Wahrheit? Da liegt es uns näher, zu meinen,
das seien Gedanken, die der Mensch besonnen faßt und
die er dann allerdings «mit» Leidenschaft vertreten
kann. Wir denken uns die Gewalt als etwas, das zum
Gedanken aus dem Bereich des menschlichen Willens
dazukommen muß. Doch einen solchen Willen als Vermögen,
das zunächst kein Ziel hat und dann verfügbar
wird, gibt es nicht. Der Wille ist selber die Gewalt dessen,
was wirklich werden soll. Nur darum vermag er
auch wirksam zu sein, noch ehe das Ziel begriffen ist.
Vielleicht ist am Anfang nur Eines klar: Das Bestehende
soll nicht sein! Statt dessen soll ein anderes sein! Was?
das bleibt noch ungewiß. Erst später wird das Ziel erkannt
und gegen das wirkliche Leben ein klar umrissenes
Ideal gesetzt.


  Das Pathos kann sich also zwar an einem großen Begriff [164]
entzünden. Aber es ist nicht angewiesen auf die
Vermittlung des Begriffs. Es ist eine unmittelbare Bewegung,
die sich selbst in ihrer Herkunft und Richtung
nicht zu verstehen braucht. Im Unterschied zur lyrischen
Bewegung aber hat sie beides, eine Herkunft und
ein Ziel. Der pathetische Mensch, so müssen wir sagen,
ist bewegt von dem, was sein soll; und seine Bewegung
ist gerichtet wider das Bestehende.


  Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle großen
Pathosszenen daraufhin zu überprüfen. Das Pathos der
politischen Rede fügt sich ohne weiteres ein. Das Pathos
des Schmerzes scheint ohnmächtig. Doch was hier sein
soll, ist die Anerkennung des ungeheuren Leids, im
Helden selbst und allen, die ihm nahen, die Höhe des
Bewußtseins, das den Schmerz erfassen muß. Welche
andere Bedeutung hätte sonst die Ungeduld im Pathos
der Antigone und in den Schreien Philoktets? In den
Fürsten der Barocktragödien erscheint der pathetische
Anspruch in Person. Sie drücken ihre Umgebung hinab
und weisen über sich hinaus auf den göttlichen Ursprung
ihrer Macht.


  Immer bleibt das Bestehende hinter dem zurück, was
im Pathos bewegt. Oder, von der andern Seite aus gesehen,
das Pathos ist erhaben. Die Höhe erscheint als
Wesenszug. Wir sprechen darum vom «hohen» Pathos.
Wenn wir aber sonst die Begriffe «hoch» und «tief»
vertauschen können und zum Beispiel sagen, etwas sei
uns zu hoch, wenn es zu tief ist, so reden wir nie von
tiefem Pathos. Und der Ausdruck «niederes» Pathos
wäre völlig unangebracht. Wollen wir eine pathetische
Rede tadeln, so nennen wir sie gestelzt. Wir deuten damit [165]
einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom
Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals
los.


  So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen
Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich
ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären,
zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des
Pathos fähig. «Höhe» bedeutet ja nur «voraus sein».
Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild
für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden,
auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den
Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem
Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich
zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt
ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich,
als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch
nicht ist.


  Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde
Rhythmus, der von der Spannung zwischen
dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die
Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung,
und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was
nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende,
Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen
Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang
ihren genauesten Sinn. «Weh!», das bedeutet: Weh
ist! «O jener Tag!» in Elektras Klageruf meint: O jener
Tag war! «Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten»
werde ich sein ─ will Ferdinand sagen, wenn er
sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was
grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts «sein», [166]
das wird in allem Pathos intendiert, die Wirklichkeit
im Gefüge des Bewußtseins oder der Realität, die jetzt,
beim Sprechen, noch nicht erreicht ist.


  Außer der Sprache gehört zur pathetischen Äußerung
aber auch die Gebärde. Wir kennen die zum Himmel
gereckten Arme, die den auf die Erde gestellten Menschen
überhöhen und den unsichtbaren Ursprung der
Bewegung beteuern ─ Stauffacher spricht den Sinn der
Gebärde aus:


«Wenn unerträglich wird die Last ─ greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte ...»

Ebenso Antigone, die sich auf der Götter Satzung beruft.
Aber auch Medea oder Hekabe, die schmerzzerrissen
die Arme reckt und die Hände ringt, will irgendetwas
herniederziehn ─ sie weiß nicht was, sie findet es
nicht. Was sein soll, kann sie noch nicht fassen. Und
doch bewegt sie die Gewalt dessen, was geschehen, was
eintreten muß von oben her aus dem Bereich des Möglichen.
Diese Gebärde gleicht darum der Gebärde des
flehentlichen Gebets. Andere pathetische Gebärden
sind gegen die Hörer gerichtet: die Hand, die einen horizontalen
demonstrativen Bogen von der Brust des
Sprechenden weg beschreibt und Raum schafft für die
Intention, die Finger, die geballten Fäuste, die den Begriff
wie ein Ding ergreifen und einschlagen in die bestehende
Welt.


  Wer aber so spricht und sich so gebärdet, der kann
sich nicht wie ein schlichter Erzähler mitten unter den
Hörern aufhalten. Er muß von ihnen irgendwie geschieden [167]
und unterschieden sein, auf einem erhöhten
oder anders ausgezeichneten Podium stehen, Kothurn
und Maske tragen oder über eine Rampe hinweg die
Masse des Publikums erschüttern. Die Bühne in irgendeiner
Form, und sei es nur die Rednerbühne, wird vom
pathetischen Stil mit unausweichlicher Konsequenz gefordert.
Der erste Mensch, der auf einen Stein, auf eine
Erhöhung gesprungen ist, um einigen Leuten zuzusprechen,
um ihnen zu zeigen, daß er voraus sei, hat
schon die Bühne vorbereitet. Die Rampe, oder was immer
es sein mag, läßt die Täuschung nicht aufkommen,
daß bereits Einigkeit bestehe, wenn der Redner zu
sprechen beginnt. Augenfällig zeigt sie, was noch geleistet
werden, wie weit der träge Hörer sich noch erheben
muß; sie aktiviert die pathetische Kraft. Wenn neuere
Theaterdichter also die Rampe beseitigen wollen, so
heißt das nur, daß ihnen der Sinn für die pathetische
Rede abgeht, daß sie vom Theater anderes, vielleicht
gar lyrische Wirkungen oder epische Schaustellungen
erwarten. Auch auf diese Weise können bühnenfähige
Stücke entstehen. Und manches ist hier möglich, was
sich in pathetischer Dichtung verbietet: psychologische
Feinheit in der Mimik zum Beispiel, in der Stimme,
zarte Andeutungen im Dialog. Dergleichen büßt über
die Rampe hinweg, je schroffer sie ist, an Wirkung ein.
Goethes «Tasso», die Dramen Ibsens sind nur als Kammerspiele
möglich. Wenn die Rampe auch da noch, obgleich
nur als schmale Linie, bestehen bleibt, so ist ihr
stilistischer Wert verändert. Sie scheidet die Welt des
künstlerischen Scheins von der Wirklichkeit und darf
darum gerade nicht überspielt werden. Der pathetische [168]
Mime dagegen will die Rampe überspielen. Je schärfer
sie scheidet, je weiter sich der Raum des Profanen, des
Publikums dehnt, desto gewaltiger ist sein Triumph.
Zu verlieren hat er nichts. Denn der pathetische Held
ist psychologisch gar nicht differenziert. Das eine Pathos
beherrscht ihn ganz. Schmerz, Glaube, Machtgier sind
von grandioser Eindeutigkeit und brennen alles andere,
was die Seele bergen könnte, aus. Das Pathos verzehrt
die Individualität. Von der Besonderheit seines Daseins
weiß der Hingerissene nichts. Stauffacher auf dem
Rütli läßt den Biedermann von Steinen, der sein Los
beklagt, weit hinter sich. Polyeucte kümmert sich nicht
um sein Haus, um seine private Existenz und kennt nur
eines, als Zeuge christlichen Glaubens in den Tod zu
gehen. Unmißverständlich stellt Sophokles den pathetischen
neben den nüchternen Menschen: Ismene und
Chrysothemis bedenken ihre Herkunft, ihr Geschlecht,
ihre Verletzlichkeit. Elektra und Antigone sind rücksichtslos
in jedem Sinn und einzig belebt von ihrem Ziel.


  Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit
fragwürdige, schillernde Tiefe des Menschen vermissen.
Doch hier geht es ja gar nicht um das Wirkliche,
sondern um das, was sein soll. Wenn dies irgend Anspruch
auf Verwandlung des Bestehenden macht, so
muß es selbst und müssen, die ihm dienen, unwahrscheinlich
sein ─ innerhalb einer Grenze freilich, welche
die Ahnung eben noch als Möglichkeit des Menschen erreicht.
Dem Publikum, den übrigen Gestalten des Dramas,
sogar sich selber kommen die pathetischen Helden
unwahrscheinlich vor. Antigone in ihrem Schmerz vergleicht
sich nicht mit andern Jungfrauen Thebens, sondern [169]
mit Niobe, die auf den Höhen des Sipylos vor
Schmerz zu Stein geworden ist. Marwood bei Lessing
kündigt sich als «eine neue Medea» an. Nur die einfachgroßen
mythischen Urgestalten der πάθη werden der
Höhe des Bewußtseins gerecht.


  Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die
Umwelt, das Milieu, das Atmosphärische geht ihn nichts
an. Es existiert überhaupt nicht für ihn, und also auch
für den Dichter nicht. In der antiken Tragödie und im
Drama der französischen Klassik fehlen die Szenenangaben
ganz. Es gibt dafür freilich historische Gründe,
die aber entbehrlich sind für eine rein ästhetische Würdigung.
Der blaue Himmel über der Szene oder die
prächtige Architektur sind dem pathetischen Stil eines
Sophokles oder Corneille einzig gemäß. Nur in solchen
unbeengten Räumen konnte der Dichter es wagen, zu
jenen ebenso mächtigen wie einfachen Vorgängen auszuholen,
bei deren Anblick ein ganzes Volk oder eine
ganze Gesellschaft über sich selbst emporgerissen wurde.


  In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende
Kraft. Es bewirkt, mit Schiller zu reden, eine gewaltige
«Präzipitation». Manche antike Tragödien können der
Handlung fast entraten und dennoch unwiderstehlich
präzipitieren. In der «Elektra» zum Beispiel erfolgt die
einzige Tat erst ganz zuletzt. Aber Elektra und Orest
sind so bewegt von dem, was sein soll, Klytaimnestra
fürchtet es so, daß die magnetische Kraft des Endes über
alle Begriffe geht. In den «Persern» ist das einzige Ereignis
die Nachricht von der Niederlage bei Salamis.
Aber die Angst vor dem Bericht und, wie er eintrifft, die
Bemühung, das Entsetzliche zu fassen und auf die Höhe [170]
des Schmerzes zu kommen ─ eines persischen Schmerzes,
der für die Hörer der größte Jubel ist ─ dies alles
drückt das Gegenwärtige in jedem Augenblick so herab
und arbeitet sich so rastlos vorwärts, daß das Werk an
Spannung jedes moderne Intrigenstück weit übertrifft.
Dann, wenn die Höhe des Schmerzes erreicht ist, sagen
die griechischen Tragiker wohl \̔Αλις, ἀποπαύεσθε νῦν,
«Lasset nun ab, es ist genug». Die Leere des Pathos ist
aufgefüllt. Es steht nichts mehr aus. Die Gestalten des
Dichters sowohl wie die Zuschauer sind am Ziel.

2.


  Wir haben vom Pathos aus einen Weg zum Verständnis
der Bühne zu finden geglaubt. Freilich wurden dabei
nur bestimmte Möglichkeiten der Bühne sichtbar.
Es gibt indes auch eine unpathetische spannende Poesie.
Die ersten Proben, die wir betrachten, haben nichts
mit dem Theater zu tun. Nach einem längeren Umweg
aber wird sich hier ein zweiter Zugang zur Bühne
öffnen. Ich beginne mit einer kleinen belanglosen Verserzählung
von Lessing:


  «Faustin

Faustin, der ganze funfzehn Jahr

Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war,

Ward, von dem Wucher reich gemacht,

Auf seinem Schiffe heimgebracht.

«Gott», seufzt' der redliche Faustin,

Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern' erschien,

«Gott, strafe mich nicht meiner Sünden
[171]
Und gib mir nicht verdienten Lohn!

Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn

Gesund und fröhlich wieder finden.»

So seufzt' Faustin, und Gott erhört den Sünder.

Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh.

Er fand sein Weib und seine beiden Kinder,

Und ─ Segen Gottes! ─ zwei dazu.»

  Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur
um der Schlußzeile willen erzählt wird. Ohne diese
Pointe hätte das Ganze keinen Wert. Wir lesen von Anfang
an in Erwartung eines Ziels. Wir sind gezwungen,
so zu lesen, weil uns nichts Einzelnes fesselt. Die Ungeduld
verschärft sich nach dem Gebet, wo das «Er» am
Verseingang wiederholt wird, und erreicht nach «Segen
Gottes!» den Gipfel: Zwei Worte nur bleiben, die das
Ganze retten müssen. Sie fallen; wir sind überrascht
und blicken vergnügt auf das Ganze zurück. Erst jetzt
erkennen wir, warum Faustin sich durch Wucher bereichern
muß. Wir dürfen am Schluß dem Lachen zulieb
kein Mitleid empfinden, und Gottes witzige Gnade
besteht gerade darin, daß die Frau mit ihrem Pfunde
gewuchert hat. Vom Ende aus sind alle Einzelheiten des
kurzen Gedichts bestimmt. Der Zweck des Dichters
liegt nicht, wie in der Epik, in jedem Punkt der Bewegung,
auch nicht in der Art Bewegung, wie in der Lyrik,
sondern in ihrem Ziel. Alles kommt ─ im wahrsten
Sinne des Wortes ─ auf das Ende an.


  Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein,
so zu verfahren. Er ist ein Meister des Epigramms, von
dem er behauptet, daß es sich in «Erwartung» und [172]
«Aufschluß» gliedern müsse und daß der erste Teil, die
Erwartung, genau so auszuführen sei, daß der zweite,
der Aufschluß, ein Höchstes an Deutlichkeit und Nachdruck
gewinne. Als Muster nennt er Martial:


«Quod magni Thraseae consummatique Catonis

  Dogmata sic sequeris, salvus ut esse velis;

Pectore nec nudo strictos incurris in enses,

  Quod fecisse velim te, Deciane, facis.

Nolo virum, facili redimit qui sanguine famam:

  Hunc volo, laudari qui sine morte potest.»

(I, 9)


Martial hat nicht die Absicht, von Thrasea oder Cato zu
erzählen. Er benutzt die Namen nur, um zu sagen, daß
ihm ein langes tüchtiges Leben verdienstvoller scheine
als ein rascher heroischer Tod. Auf diesen Gedanken
«kommt» alles «an».


  Die alte Poetik ordnet das Epigramm der lyrischen
Gattung zu. Nun gibt es zwar lyrische Epigramme, zum
Beispiel die zarten Landschaftsgemälde der Anyte von
Tegea. Die meisten Epigramme jedoch verbreiten keine
Stimmung. Sie zeichnen sich eher durch eine eigentümliche
kalte Helle aus und sprechen nicht die Seele, sondern
den Geist an.


  Ebenso die Fabel, wie sie Lessing bestimmen zu dürfen
glaubt.


  «Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch
die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf
einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen
zu können, muß sie so kurz sein als möglich1

[173]

  Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die
Fabel von den Sperlingen so:


  «Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige
Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem
neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder,
ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein, sie fanden sie
alle vermauert. Zu was, schrien sie, taugt denn nun das
große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren
Steinhaufen.»


  Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich
ausgestattet und uns mit einer Schilderung des Gebäudes
sowohl wie der Vögel entzückt. Lessing legt nur
Wert darauf, die Relativität des Zwecks oder vielleicht
den Unterschied von Nutzen und Schönheit einzuprägen.
Asketisch läßt er alles weg, was nicht unmittelbar
dieser Absicht dient. Lafontaines Fabeln scheinen ihm ─
bei aller Pracht ─ ins Epische entartet zu sein.


  Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil
anschließen wollen und nennen das Beispiel nur,
weil es unübertrefflich den Stilunterschied erklärt.
Dichtungen, wie sie uns hier begegnen, dürfen wir weder
episch noch pathetisch oder lyrisch nennen. Sie lassen
sich auch nicht, wie die Ballade oder die Ode, als
«gemischte» Arten interpretieren. Sie sollen «problematisch»
heißen, indem wir den Ausdruck «Problem»
in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen, wonach er
das «Vorgeworfene» meint, das Vorgeworfene, das der
Werfende in der Bewegung einholen muß. Der Vorwurf
in der Fabel Lessings ist der Gedanke der Zweckmäßigkeit,
der Vorwurf in Martials Epigramm die Sentenz
von der Tugend in Leben und Tod, und im «Faustin» [174]
die Pointe mit dem unerwünschten Segen Gottes.
Zu diesem Vorwurf muß ein Ausgangspunkt der Bewegung
gegeben sein. Das Gedicht durchmißt die gerade
Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel.


  So geschieht es im idealen Fall, für den sich am ehesten
unter den Epigrammen Muster finden lassen.
Wenn es sich um Erzählungen handelt, so sind, je nach
der Beschaffenheit des Stoffs und nach der Neigung des
Dichters, alle Stufen von mehr problematischer zu
mehr epischer Darstellung möglich. Ja, denselben Gegenstand
könnte man sich verschieden dargestellt denken.
So zweifelte Goethe, ob sich sein Plan «Die Jagd»
für die epische Gattung eigne, ob hier nicht alles zu
sehr in gerader Linie vom Anfang zum Ende gehe, worauf
ihn Schiller mit dem Hinweis beruhigte, daß nicht
bloß der Weg, sondern auch die Art des Gehens dem
Belieben des Dichters anheimgestellt sei1. Wählt der
Dichter die epische Gangart, so wird uns seine Erzählung
fesseln. Verfährt er dagegen mehr problematisch,
so versetzt er uns in Spannung. Spannung wird von der
Unselbständigkeit der Teile ausgelöst. Kein einziger
Teil ist sich selber oder dem Leser genug. Er bedarf der
Ergänzung. Der folgende Teil genügt wieder nicht, er
wirft eine neue Frage auf oder fordert ein neues Supplement.
Erst am Schluß steht nichts mehr aus und wird
die Ungeduld befriedigt.


  Von Unselbständigkeit der Teile war aber auch im
lyrischen Stil die Rede. Gewiß, doch in anderem Sinn.
Teile der lyrischen Dichtung sind unselbständig und [175]
nicht aufeinander bezogen. Das zeigte sich grammatisch
in den kurzen, auch wenn sie vollständig waren, oft nur
durch Komma getrennten Sätzen (Seite 42). Hier dagegen
sind unselbständige Teile aufeinander bezogen.
Der Anfang hat vielleicht den Charakter eine Prämisse,
das Ende den einer Konklusion. Es ist nicht nötig, diese
Beziehung auch grammatisch auszudrücken. Der Dichter
kann Hauptsatz an Hauptsatz reihen und es dem
Leser überlassen, den rechten Zusammenhang herzustellen.
Drückt er ihn aber aus, so werden die Konjunktionen
in seiner Sprache eine bedeutende Rolle spielen.
«Um zu, weil, damit, dergestalt daß, infolgedessen, obgleich,
zwar, wenn»: das ganze System der konzessiven,
konsekutiven und zumal finalen Fügungen drängt sich
hervor. Die epische Parataxe wird von der weitläufigsten
Hypotaxe verdrängt, wie in den Novellen
Kleists, die an Problematik ein Äußerstes riskieren und
manchmal fast den Eindruck erwecken, der Dichter
möchte am liebsten die ganze Geschichte in einem
Satz erzählen, so, daß sich auch grammatisch kein einziger
Teil mehr bloß an den andern anschließt, sondern
der Stellenwert jedes Motivs in der logischen Ordnung
genau fixiert ist1. Ähnlich aufzufassen ist Lessings
Prosa mit ihren erregenden Fragesätzen und jenen Doppelpunkten,
durch die das Gesagte gleichsam gestaut
wird, damit der folgende Satz die größtmögliche Energie
eines Schlusses gewinne ─ überhaupt die ausgiebige
Interpunktion, wo immer sie uns begegnen mag, bei
Lessing, Schiller, Kleist oder Hebbel. Sie zeigt, daß [176]
nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile
zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird.


  In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk
aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil
muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und
Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt
fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie
alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird
es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen,
zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein
stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, «nichts
Blindes»1 ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen,
mit denen wir bisher aus praktischen Gründen
das Wesen der problematischen Dichtung erläutert
haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt
sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in
längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis,
nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates
Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet
der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration
gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche
nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche
dagegen in bedeutenden Ereignissen, in «prägnanten
Momenten»2 hervorzuheben. Er wird von Zeit
zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene
zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird
mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit
auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das
«Schläfchen Homers» ist ihm versagt. Ebenso darf das [177]
Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer
etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze
dunkel bleibt.


  Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen,
die man von jeher an den dramatischen Dichter
gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber
nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus
ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes
Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt
sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor
den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten
müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen
auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt.
Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der
Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama
fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang
bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem
wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu
ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf
das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu
dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen
diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch
keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die
Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar
Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten
szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen,
Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos
und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft
ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an
der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird
glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu [178]
vermocht. Sogar im deutschen Sturm und Drang, dessen
Bühnenwerke doch ganz den Manen Shakespeares
verpflichtet sind, fällt Schiller auf, der die Zersplitterung
in kurze Szenen vermeidet und schon in «Kabale
und Liebe» ein räumlich und zeitlich sehr geschlossenes
Stück vorlegt. Der reife Ibsen vollends wählt ein Haus
oder einen Raum als Schauplatz, drängt die Handlung
in einen Tag oder gar in wenige Stunden zusammen
und steht in dieser Hinsicht den griechischen Tragikern
ohne äußere Notwendigkeit wieder so nahe wie Corneille
und Racine.


  Das bedeutet: den Zwang zur Sammlung, den das
antike Theater ausübt, heißt auch eine große Gruppe
von neueren Bühnendichtern willkommen, offenbar
eben jene, welche die problematischen Dichter umfaßt.
Sie machen wohl mehr oder weniger von der Möglichkeit
des Szenenwechsels Gebrauch und erlauben sich
öfter auch, die Handlung über die klassischen vierundzwanzig
Stunden auszudehnen. So peinlich wie Corneille
setzt sich niemand mehr mit dem alten Gesetz
auseinander. Den tieferen Sinn und Wert jedoch, der
ihm eigen ist, verkennen sie nicht. Was Goethe im
«Götz» aussprechen will, was Shakespeare im «König
Lear» verkündet, das läßt sich allerdings besser ohne
antikisierende Rücksichten sagen. Doch Corneille, Racine,
Gryphius, Lessing, Schiller, Kleist, Hebbel, Ibsen:
diesen Dichtern ist es gemäß, die Zeit zu verkürzen,
den Raum zu verengen, aus einem ausgedehnten
Geschehen den prägnanten Moment zu wählen ─ einen
Moment kurz vor dem Abschluß ─ und nun von da aus
das Viele zur sinnlich faßbaren Einheit zusammenzuziehen, [179]
damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht
das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang
deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was
der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen
der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort:
sie konzentriert.


  Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug
der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt.
Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits
in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt
ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel.
Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen
aus der Idee des problematischen Stils, wo der
Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß
jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am
Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen
Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung
einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten
Akt der «Natürlichen Tochter», die Klage des Herzogs
um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man
freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes
Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses
Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt
aus «Kabale und Liebe», aus dem «Prinz Friedrich von
Homburg» herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn,
man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der
Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das
Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder
wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang
fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken
und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes [180]
vorbereitet, ein Geschäft, das im griechischen Theater
zum Teil dem Chor übertragen ist. Die Akte erleichtern
die Übersicht. Sie ziehen eine Art Zwischenbilanz.



  Ähnliche Zwischenbilanzen finden sich aber auch innerhalb
der Akte. So fassen die Helden und Gegenspieler
gelegentlich ihre Meinung, ihren Willen in einer
Sentenz zusammen. Lange sehen wir uns das Gegenüber
von Max und Wallenstein an, ohne daß es uns
restlos klar wird. Wenn Wallenstein dann aber anhebt:


«Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit ...»

so zieht er eine Summe des Vergangenen und erlaubt
uns, dem Kommenden als dem Streit zwischen Idealismus
und Realismus entgegenzusehen. Dieselbe Bedeutung
können bildhaft einprägsame Vorgänge gewinnen.
Wenn Zawisch in Grillparzers «Ottokar» die Zeltschnur
durchhaut und dem gesamten Heer den knienden König
zeigt, so wissen wir, woran wir sind, wie es um
Ottokar, um die Vasallen und um die Macht des Kaisers
steht. Wenn Penthesilea den Bogen fallen läßt, so gibt
sich der Vorgang als Epoche des Amazonenstaates kund
und ruft das entscheidende Gespräch mit Achill in unser
Gedächtnis zurück.


  Es ist bei diesen Bildern und Vorgängen wesentlich,
daß sie etwas bedeuten. Rein epische Bilder bedeuten
nichts. Sie wollen für sich betrachtet werden und sprechen
allein das Auge an. Die niederfallende Zeltwand
dagegen, der klirrende Bogen Penthesileas deutet auf
etwas hin, beleuchtet jäh die zurückgelegte Strecke und
wirft einen Schein voraus auf den Weg, der dem Dichter [181]
und Leser bevorsteht. Wir haben uns etwas dabei
zu denken.


  Hier leistet nun die Bühne dem Dichter wiederum
einen wertvollen Dienst. Weil es nicht darauf ankommt,
den Bogen, das Zelt als solches darzustellen ─
so wie Homer den Bogen des Pandaros oder das Zelt
Achills beschreibt ─ weil diese Dinge nur da sind, um
einen großen Zusammenhang zu enthüllen, schätzt sich
der Dichter glücklich, das Schildern in einer Szenenangabe
dem Bühnenbildner anvertrauen zu dürfen,
und wendet sich gleich zur Diskussion, zur Deutung
dessen, was sichtbar ist. Man mache sich diesen Unterschied
klar! Wer den Dreißigjährigen Krieg in epischer
Weise erzählt, muß Wallensteins oder Gustav Adolfs
Erscheinung beschreiben. Er muß die wechselnden
Schauplätze schildern, das Schlachtfeld von Lützen, Pilsen,
Eger. Der Bühnendichter beschränkt sich darauf,
ein Personenverzeichnis zusammenzustellen und über
den Aufzug «Eger» zu schreiben. Er fügt vielleicht
noch nähere Angaben über das szenische Bild hinzu,
nimmt sich jedoch nicht einmal die Mühe, gefällige
Sätze zu formulieren. Damit setzt er das Epische zur
bloßen Voraussetzung herab. Ebenso faßt es der Zuschauer
auf. Wenn sich vor Ibsens «Hedda Gabler» der
Vorhang hebt, so weiß er, daß er nun nicht ein schönes
Zimmer begaffen, sondern sich überlegen soll, wozu die
Bühne so angelegt ist. Am Anfang weiß er noch nicht
Bescheid. Erst allmählich geht ihm auf: Ibsen entfaltet
die Eleganz, um einen Aufwand sichtbar zu machen,
der über Tesmans Kräfte geht. Das Bild des Generals
hängt an der Wand, um dem Publikum anzuzeigen, [182]
daß die Heldin, Hedda Gabler, an ihren Vater und
seine vornehme Lebensweise gebunden bleibt. Durch
die Fenster schimmert das farbige Laub des Herbstes,
um ihr Gemüt mit Welken und Vergehen zu ängstigen.
Der Dichter gibt ihr leicht schütteres Haar, um sie wenigstens
in einen Nachteil gegen Frau Elvsted zu setzen
und ihrer Eifersucht Nahrung zu geben. Alles ist
durch ein «um zu» bestimmt und fordert die Frage
«Worumwillen?» So geht es auch in den Gesprächen
fort. Jeder Satz, so ungezwungen und zufällig alles aussehen
mag, hat seine ganz bestimmte Absicht. Man
wäre beinah versucht, zu sagen, zum vollen und sicheren
Verständnis sei kein einziger Satz des Stücks entbehrlich.
Die Funktionalität der Teile ist bis ins Letzte
durchgeführt. Und wenn man zunächst noch annehmen
möchte, das Drama laufe auf eine interessante
Charakterstudie hinaus, so überzeugt man sich schließlich,
daß auch Hedda selber zu etwas da ist, dazu nämlich,
die Frage nach dem Wert der bürgerlichen Gesellschaft,
nach dem Verhältnis von adliger Einzigartigkeit
und durchschnittlicher Ordnung, von unfruchtbarer
Schönheit und lebenerhaltender Öde aufzuwerfen. Die
Handlung deutet auf ein «Problem» ─ im herkömmlichen
Sinn des Begriffs, der aber nur eine Steigerung des
«Vorwurfs» im weiteren Sinne bildet. Das ideelle Problem
ist das, worauf es in letzter ─ vom Dichter aus gesehen
in erster ─ Hinsicht ankommt. Und wie die Sentenzen
im Gespräch eine Art von Zwischensumme ziehen,
so ließen sich Schlußsentenzen denken, welche das
Ganze zusammenfassen oder weitergeben als Frage.
Schiller hat sich dazu in der «Braut von Messina» entschlossen, [183]
ermutigt durch das antike Beispiel, wo öfter
der Chor in der Exodos das erlittene Schicksal den ewigen
Gesetzen des Daseins einfügt. Im allgemeinen wird
der Dichter jedoch nicht so ausdrücklich verfahren und
sich lieber mit einer möglichst umfassenden Gebärde
begnügen, von der das Lebendige nicht, wie von einer
Sentenz, erdrosselt zu werden Gefahr läuft: so Hebbel
in den «Nibelungen», wo Dietrich dem Hunnenkönig
die Kronen abnimmt und im Namen des Heilands über
die Menschheit zu herrschen verspricht ─ Verheißung,
daß die heidnische Welt, auf der die Trilogie, das Denken
und Wollen der Helden beruht, zu Ende ist und die
christliche Welt aufgeht.


  Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen
sich erst am Schluß. Wenn der Zuschauer nicht
bis zuletzt im Ungewissen bleiben, wenn er sich irgendwie
zurechtfinden soll, so muß ihn der Dichter behutsam
führen. Er kann ihm gleich von vornherein sagen,
wo es hinaus will. Der Prolog des Euripides leistet oft
diesen Dienst. Lessing hat dieses Verfahren gerühmt
und darauf hingewiesen, daß nur der Stümper meine,
das Unerwartete habe im Drama die größte Wirkung.
Dennoch dürfte ein Vorbericht aus dem Munde eines
allwissenden Gottes nicht eben die beste Lösung der
freilich schwer zu lösenden Aufgabe sein. Es handelt
sich ja nicht darum, im voraus den ganzen Weg zu verraten,
sondern um eine Orientierung, um einen Wegweiser,
der uns angibt, ob wir uns rechts oder links
halten sollen. Man pflegt zu sagen: Große Ereignisse
werfen ihren Schatten voraus. Solche vorausgeworfene
Schatten will der Dichter nach Möglichkeit zeigen, in [184]
Vorahnungen, in banger Erwartung, in Zeichen, die
noch nichts Bestimmtes, aber doch etwas Unheilvolles
oder Erfreuliches ankündigen. Man denke etwa an Appianis
Stimmung in der «Emilia Galotti», an Adams
Unbehagen in der ersten Szene des «Zerbrochenen
Krugs». Mache dich auf das Schlimmste, mache dich
auf die Bestrafung des Schurken gefaßt! rufen Lessing
und Kleist dem Publikum zu. An Mitteln, die Zukunft
vorwegzunehmen, ohne sie doch schon zu enthüllen,
bieten sich unzählige an. Der Meister weiß sie gehörig
anzuwenden, der Dilettant vergreift sich. Nur sorgsamste
Interpretation kann hier das Rechte vom Falschen
scheiden.


  Immerhin dürfen zwei bewährte Mittel herausgehoben
werden. Das eine ist das antike Orakel. Seine gewaltige
dichterische Bedeutung, die sich so oft bei Sophokles,
am reinsten im «König Ödipus» auswirkt, beruht
darauf, daß dem Gott, Apoll, der Ausgang des
Schicksals längst bekannt ist, daß aber der Mensch
es nicht lassen kann, die Zukunft als ungewisses Ergebnis
seiner Freiheit anzusehen. Damit ist beides vollkommen
erreicht. Der Zuschauer weiß, worauf es hinaus
will. Er kann jedes Wort und jede Gebärde schon
auf die letzte Szene beziehen. Zugleich aber plant und
hofft er noch mit dem Helden, und um so leidenschaftlicher,
als die Untrüglichkeit des Orakels nicht außer
allem Zweifel steht ─ ein idealer Fall, der die deutlichste
Antizipation der Zukunft mit der lebendigsten Spannung
vereint und das mächtig erregende Doppellicht
der «tragischen Ironie» ausstrahlt.


  Das andere ist Zeugung und Geburt. Das Thema der [185]
Gretchentragödie, das Thema von Hebbels «Maria Magdalene»
oder von Kleists «Marquise von O.» ist deshalb
so ergiebig, weil das Geschehen hier im buchstäblichsten
Sinne mit der Zukunft schwanger geht, weil die
Zeugung begründet, was zu bestimmter Zeit ans Tageslicht
treten und Wirkungen, die man nicht deutlich voraussehen,
aber doch ahnen kann, zeitigen wird.


  Schließlich hat aber jeder Vorsatz, jedes entschlossene
Unternehmen den Charakter einer Zeugung. Der planende,
hoffende, handelnde Mensch nimmt immer
schon künftiges Dasein vorweg. Und wenn er auch nie
gewiß sein kann, ob die Zukunft den Plan, die Hoffnung
erfüllt, wenn er sein Handeln dem dunklen Schoß des
Schicksals anvertrauen muß, so ist sein Wille doch für
den Hörer ein Zeichen, wohin er vorausdenken soll. Darin
gründet die Regel, daß der Held eines Dramas tätig
sein soll; ein leidender Held sei undramatisch. Ihr Sinn
erschöpft sich in der Erkenntnis, daß Künftiges antizipiert
werden muß. Wenn dies anderswie gelingt, so mag
der Held immerhin leidend sein ─ wie Elektra, Aias,
Bérénice, Maria Stuart, Hebbels Klara oder Ibsens John
Gabriel Borkmann.


  Damit sind wir so weit, zu begreifen, warum die beiden
Möglichkeiten des spannenden Stils, die pathetische
und die problematische, sich so gern vereinen. Das Pathos
drängt vorwärts wie das Problem. Jenes will, dieses
fragt. Wollen und Fragen aber sind eins in einer futurischen
Existenz, die, je nach Temperament und Kraft,
sich mehr zu dem oder jenem entscheidet. Und wenn die
Fragen eines Problems allzu abstrakt zu werden drohen,
so, daß nur die raffinierteste Kunst den Anteil des Publikums [186]
sichern kann, so zwingt das Pathos zur Sympathie
und drängt die Fragen nicht dem Geist, sondern
dem Herzen des Hörers auf. In der antiken Tragödie,
im Drama der französischen Klassik, bei Schiller ist die
Vereinigung von Pathos und Problem vollkommen. Im
«König Ödipus» gar ist das Pathos des Helden mit dem
Fragen identisch. Mehr zum Pathos neigt die italienische
Oper, während das Drama Kleists, Grillparzers,
Hebbels, Ibsens sich auf Probleme konzentriert und mit
anderen als pathetischen Mitteln den Anteil an den Fragen
zu gewinnen und zu erhalten weiß.

3.


  Die Möglichkeit problematischer und pathetischer,
oder, um beides in einem zusammenzufassen, dramatischer
Dichtung beruht im Grunde darauf, daß der
Mensch als solcher sich immer voraus ist. Ich gebe ein
Beispiel solchen Vorausseins. Wer irgendetwas als etwas
erkennt, ja wer es bloß wahrnimmt, verfügt bereits
über einen Sinnzusammenhang, in dem es artikulierbar
wird. Derselbe Gegenstand kann zu verschiedenen
Sinnzusammenhängen gehören und dem entsprechend
Verschiedenes sein. So tritt der Bauer auf sein Land und
betrachtet im Hinblick auf den Ertrag die Erde als
fruchtbar, die Neigung des Hügels als ungeeignet zur
Bepflanzung. Der Offizier betrachtet im Hinblick auf
taktische Zwecke dasselbe Land als Schußfeld, als toten
Winkel, als Deckung. Der Maler, im Hinblick auf ein
Gemälde, sieht große Linien und Farbenkomplexe. Ohne
den «Hinblick auf ...», der im voraus gegeben sein [187]
muß, sieht keiner etwas. Was der Hinblick auf ... im
voraus, «a priori», wenngleich anhand der Dinge erschließt,
nennt Heidegger «Welt»1. Wir sprechen demnach
von der Welt des Bauern, des Malers, des Offiziers
und meinen damit nicht die Summe der Dinge, mit denen
sich jeder beschäftigt, sondern die Ordnung, den
κόσμος, in dem sich etwas erst als etwas zu zeigen vermag.



  Im gleichen Sinne reden wir von der antiken und von
der christlichen Welt, der Welt der Bibel, Dantes, Shakespeares.
Dasselbe Seiende nimmt sich auch hier in verschiedenen
Welten verschieden aus. Der menschliche
Körper bei Sophokles ist nicht dasselbe wie bei Dante,
obwohl sich in anatomischer, biologischer oder in irgendeiner
anderen allgemeingültigen Hinsicht derselbe Gegenstand
darstellt. Die Unterschiede je nach verschiedenen
Welten sind Unterschiede des Stils2, so daß wir
den Ausdruck «Welt» in ästhetischer Forschung ohne
Bedenken mit dem Ausdruck «Stil» vertauschen dürfen.
Jeder echte Dichter hat seinen Stil, das heißt seine
eigene Welt.


  Ist sich dann aber nicht auch der lyrische und der
epische Dichter voraus? Dichten nicht auch sie im Hinblick
auf ..., und wird nicht auch ihnen alles erst in
einer Welt zugänglich, die a priori erschlossen ist und
sich an Dingen zeigt und bewährt? Kein Zweifel! Der
Lyriker und der Epiker wären sonst überhaupt keine [188]
Menschen und redeten keine menschliche Sprache. Wie
jeder, der einen Satz ausspricht, beim ersten Wort schon
die Fuge, in welche die Worte gehören, erspäht haben
muß, so muß auch jeder, der etwas bemerkt, ein Ganzes
kennen, worein es gehört. Es gibt für den Menschen
nichts Einzelnes. Er ist das ζῷον λόγον ἔχον, das Wesen,
das sammelt, zusammenfaßt.


  Doch damit geben wir nur wieder zu, daß jede Dichtung
als solche an allen Gattungen Anteil haben müsse,
so wie in jedem sprachlichen Ausdruck, und sei er noch
so primitiv, das ganze Wesen der Sprache beteiligt oder
doch mindestens angelegt ist. Wir kennen in Wirklichkeit
nur vornehmlich lyrische oder vornehmlich epische
und dramatische Poesie. Diese drei Möglichkeiten aber
sind nun gerade auch durch ihr Verhältnis zur Welt abgestuft.
Der lyrische Dichter weiß nichts von Welt. Er
ist auch in dieser Beziehung «weltfremd». Jetzt rührt
ihn dies an, jetzt ein anderes. Obwohl ihn nichts berühren,
obwohl er nichts Berührendes auffassen könnte,
wenn keine Welt erschlossen wäre, so fragt er doch nie
nach einem Ganzen und kümmert sich um den Zusammenhang
nicht. Den epischen Dichter dürfen wir mit
dem Seefahrer oder dem Wanderer vergleichen. Er
zieht mit seinem Helden aus, um fremde Länder und
Menschen zu sehen. Er befährt den orbis terrarum. Immer
wieder Neues begegnet seiner Neugier. Das Alte
versinkt wie eine Stadt am Horizont. Doch weil er alles
unter dem gleichen, unter seinem Gesichtspunkt betrachtet,
findet er wohl, daß alles, was ist, zu ein und
demselben Kosmos gehört. Die Inthronisierung des Zeus
durch Homer bedeutet, daß die Welt, aus der dem Dichter [189]
die Dinge begegnen, in seinem Bewußtsein aufzudämmern
beginnt. Zeus ist aber mehr dem Namen nach
als faktisch der höchste Gott. Die anderen Götter fechten
ihn an, und über ihm, in einem undurchdringlichen
Dunkel, waltet Moira. Das heißt, die Welt ist
gleichsam noch offen. Die Umrisse stehen für das bewußte
Erkennen Homers nicht eindeutig fest, und statt
sich zu schließen, verlieren sie sich im Nebel seiner Vergeßlichkeit,
die nur nach Neuem begehrt und Unstimmigkeiten,
Widersprüche mit leichtem Herzen auf sich
beruhen läßt.


  Ganz anders der dramatische Geist! Ihm ist nichts
daran gelegen, nur immer wieder Neues zu sehen. Sein
Interesse bezieht sich weniger auf die Dinge selber als
auf das, woraufhin er sie ansieht. Er nimmt sie als Zeichen,
als Bewährung oder Verdeutlichung seines Problems.
Unter «Problem». verstanden wir den «Vorwurf»
im wörtlichen Sinn des Begriffs, das Vorgeworfene,
das der Werfende einzuholen berufen ist. Es kann
sich dabei um eine hübsche Pointe handeln wie im
«Faustin» von Lessing oder um einen moralischen Satz
wie in der Fabel Aesops. Im höchsten Sinne handelt es
sich um ideelle Problematik. Die «Idee», von der in
dramatischer Dichtung so oft die Rede ist, darf keineswegs
nur als beliebiger Vorwurf neben anderen gelten.
Sie steht in einer aufwärts führenden Reihe am obersten
Platz. Die Frage «Worumwillen?» nämlich, die
den dramatischen Dichter leitet, kann sich zwar aus
Schwäche wohl bei dem und jenem zufrieden geben.
Wenn sie jedoch mit Kraft gestellt wird, drängt sie unablässig
weiter und findet Ruhe erst, wenn sich ein letzter [190]
Sinn des Daseins zeigt. Dieser letzte Sinn, dies letzte
Worumwillen ist jene Welt, die immer schon, als unbegriffene
Ordnung, das Begehren, das Erkennen, das Fühlen
und Handeln bestimmte, sich aber jetzt zur expliziten
«Weltanschauung» kristallisiert. So wird dieselbe
Welt, die schon in Luthers Sprache dunkel waltet, in
Goethes «Faust» zur bewußten Idee1. Dieselbe Welt,
die Homers Hexameter trägt, erhellt sich zu den Begriffen
der vorsokratischen Philosophie.


  Auf die bewußt erfaßte Welt hin ordnet der dramatische
Dichter die Einzelheiten des Dramas an und rastet
nicht, bis alles in der einen Idee zusammenhängt,
auf sie verweist und durch ihr Licht vollkommen klar
und durchsichtig wird. Was mit der Idee nichts zu
schaffen hat, das läßt er als gleichgültig beiseite. Sein
Werk wird deshalb, von außen gesehen, ärmer sein als
die epische Dichtung. Seine Gestalten haben nicht jene
unbekümmerte Vielseitigkeit, die uns an homerischen
Helden entzückt. Die vielen Geräte, die bei Homer
herumstehen, die Waffen, die Pferdegeschirre, die
Krüge und Becher sind verschwunden, sofern nicht ein
Gerät zufällig, wie der zerbrochene Krug bei Kleist, als
corpus delicti in Frage kommt oder anderweitig bedeutsam
wird. Dem Essen und Trinken wird in der Regel
keine Beachtung mehr geschenkt. Der Dramatiker sieht
darüber hinweg, wie über alles, was nichts mit dem,
worauf es ankommt, zu schaffen hat.


  Insofern gleicht er dem Richter, dem ein Fall zur Beurteilung
vorgelegt wird. Der Richter wird bestrebt [191]
sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen.
Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich
untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft.
Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft,
ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt
bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich
nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist
beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht.
Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er
der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten
Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus,
bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von
Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem
Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt
war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein
feststand, kommt alles an.


  Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische
und problematische, finden sich auch unter
diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen.
Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß,
entschließt sich und schreitet sodann zur Tat.
Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch
nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt.
Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans
Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren
Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber
auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden
oder mildernden Umständen etwa in
Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden
und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert.
Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine [192]
klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und
im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt.



  Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur
äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken
verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische
Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem
athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen
vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen
und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch
rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom
Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und
Klytaimnestras erklären. Im «König Ödipus» hat Sophokles
die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie
entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter;
die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört
zuletzt ihn selbst. Auch in «Antigone» findet ein
Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das
göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie
erscheint nicht selten der Fürst, um den
Streit zu schlichten. Kleist, im «Zerbrochenen Krug»,
hat das alte Thema ins Komische gewendet und im
«Prinz Friedrich von Homburg» das Urteil über den unbesonnenen
Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen,
«eulengleichen» Richter genommen und einem
höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des
Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten
selbst ein «Gerichtstag halten» genannt, und wenn er
auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren
durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen
wie für die Akten eines Prozesses.

[193]

  Nicht die Vollkommenheit (das heißt die stilistische
Einstimmigkeit) eines Dramas, wohl aber sein Rang,
seine tiefere Bedeutung ist mitbestimmt durch die
höchste Instanz, vor die der Prozeß gezogen wird. Ein
Kotzebue, ein Wildenbruch gibt sich bereits mit niederen
Instanzen, dem Staat, der Wohlfahrt der Gesellschaft,
zufrieden. Bei den Griechen spielt sich alles unmittelbar
vor den Göttern ab. Doch manchmal wird
eine Frage auch einer Instanz nach der andern vorgelegt,
die Zuständigkeit immer wieder bestritten, bis
schließlich eine Behörde spricht, über die hinaus es nicht
weitergeht. Daraus ergibt sich die kunstreichste Spannung.
Von Pfeiler zu Pfeiler strebt das Gewölbe zur
schwindelerregenden Kuppel hinauf.


  Das größte Beispiel in deutscher Sprache bietet Schillers
«Wallenstein». So wie die Tragödie jetzt abgeteilt
ist, äußern sich im ersten Teil, in «Wallensteins Lager»,
die Soldaten zum Plan und zur Person ihres Feldherrn.
Sie wissen nicht genau Bescheid und finden sich unbedenklich
mit Vermutungen und Gerüchten ab. Ihr
Horizont, ihre Welt ist eng. Es geht ihnen einzig um
den Krieg. Das frohe Soldatenleben soll dauern. Wer
dafür eintritt, ist ihr Mann. Die Kunde von andern
Möglichkeiten und Werten dringt zwar auch ins Lager,
so durch den Bürger, der den Rekruten zurückhalten
will, und durch den Kapuziner, der christliche Tugend
predigt. Der Bürger aber wird verspottet. Den Kapuziner
läßt man zwar gelten, weil auch ein Pfaffe ins Lager
gehört. Sobald er jedoch eine praktische Folgerung zieht
und Wallenstein verunglimpft, ist seine Autorität dahin.
Ein anderes ist die heilige Kirche, ein anderes der unheilige [194]
Krieg. Die Soldaten verzichten auf Konsequenz.
Eben deshalb hat das Lager noch einen entschieden epischen
Zug. Es ist eher ein Schaustück als ein Drama.
Das Einzelne steht herum und macht sich als solches
breit, wie im Geist der Soldaten das eine kommt und
das andere geht.


  Das zweite Stück, «Die Piccolomini», spielt in der
Sphäre der Offiziere. Von ihnen wird bereits ein höheres
Bewußtsein ihres Tuns verlangt. Sie haben Wallensteins
Plan und die eigene Entscheidung auf ihre Ehre
und den vor dem Kaiser geleisteten Eid zu beziehen.
Einige denken die Sache durch, andere nehmen sie
leicht, wie Isolani, dessen Gehaben sich unmittelbar
an das der Soldaten anschließt. So bildet der zweite Teil
eine Brücke zwischen dem Lager und dem Feldherrn.
Anschaulich wird diese Zwischenstellung im Bühnenbild
des vierten Akts, wo vorn, im Raum der Verantwortung,
die Schrift zur Unterzeichnung aufliegt, im Hintergrund
ein Bankett stattfindet, der Wein die Besinnung
raubt und die große Frage «Worumwillen?» ertränkt.
Die Offiziere bewegen sich zwischen Vorder- und Hintergrund
hin und her ─ wie eben der Mensch sich zwischen
Ernst und Gleichgültigkeit gewöhnlich bewegt.


  Im dritten Teil, in «Wallensteins Tod», wird, abgesehen
von wenigen Szenen, die frühere Zustände rekapitulieren
und nur als Folie dienen müssen, die
Gleichgültigkeit allmählich verbannt. Jeder Auftritt,
jedes Wort hat seine dramatische Funktion. Wallenstein
legt sich Rechenschaft ab und prüft den Entschluß
vor allen Instanzen, die mitzusprechen berufen sein
könnten. Eine der niedersten ist sein Stolz. Der Kaiser [195]
hat ihn beleidigt. Es reißt ihn hin, die Beleidigung zu
vergelten. Wenn er hier stehen bliebe, ragte er nicht
einmal über Butler hinaus. Er fragt aber weiter nach
dem Recht. Die Gräfin Terzky redet ihm ein, das Recht
verlange Gegenrecht. Der Kaiser aber habe Wallenstein
öffentlich Unrecht zugefügt und durch den Arm seines
Feldherrn unrechtmäßige Taten ausgeführt. Diesen Gedanken
anzuerkennen, ist Wallenstein umso eher bereit,
als er auch eine, nach seiner Hierarchie, noch höhere
Instanz, das Wohl des Staates, das Heil der Menschheit
zu Rate zieht. Der Kaiser ist schwach und vermag dem
bedrängten Deutschland den Frieden nicht zu schaffen,
während sich Wallenstein, gestützt auf das Heer, diese
Leistung zutrauen darf. Schließlich dringt sein Blick
noch über die Gegenwart hinaus und versucht, das
Urteil der Weltgeschichte zu lesen. Der Sieger ist's,
der die Geschichte schreibt. Wie Julius Cäsar wird
auch Wallenstein ruhmbedeckt vor der Nachwelt stehen.



  In dieser Argumentation klärt sich die realistische
Welt und hellen die dunklen Gefühle sich zu scharf geprägten
Begriffen ab. Der astrologische Glaube krönt
die Idee, die Wallensteins Leben beherrscht. Es scheint
nichts Höheres zu geben. Max Piccolomini aber treibt
die Frage «Worumwillen?» noch weiter und appelliert
an eine Instanz, die jenseits alles Irdischen gilt, an das
Urteil der absoluten Person. Wohl lebt der Mensch, um
tätig zu sein, um sich zu rühren und durchzusetzen.
Doch wenn er sich vor die Wahl zwischen Sinnenglück
und Seelenfrieden, ja nur schon vor die Wahl zwischen
irdischem Fortbestand und Pflicht gestellt sieht, so hat [196]
er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt
es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt
seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich
als die höchste Gerichtsbehörde kund.


  Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde
mit dem Propheten sprechen: «Es ist dir gesagt, o
Mensch, was gut ist.» Maxens Gespräch mit Wallenstein
deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles
menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu
verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt,
auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem,
auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen
hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen
Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der
Vollzug des Urteilsspruchs.


  Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche
Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde
die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen
jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden.
Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen
ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum
der Würde. Sogar Iokaste aber, im «König Ödipus»,
ruft ihrem Gatten zu:


«O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!»

(V. 1057)


  Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde
sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt
und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte
Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem,
entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe,
bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd [197]
alles ins Rechte gefügt hat ─ Held des Dramas, dessen
Bewegung auf ein Ziel, wenn möglich ein letztes Ziel
des Menschen, gerichtet ist.

4.


  Vielleicht geht aber die Bewegung sogar noch über
das Ziel hinaus, so, daß die Frage «Worumwillen?» zuletzt
ins Leere stößt. ─ Heinrich von Kleist hat schon als
junger Mensch die Idee seines Lebens entworfen1. Wahrheit
und Tugend werden als höchster Sinn bezeichnet.
Ein Weg wird beschrieben, auf dem der Mensch dieses
Ziel mit absoluter Gewißheit erreichen muß. Die Briefe
Kleists bezeugen, daß er mit preußischer Folgerichtigkeit,
mit der «nordischen Schärfe des Hypochonders»2,
sein Leben im Großen und Kleinen nach seinem Entwurf
eingerichtet und jede Stunde, jede Tat, ja jeden
Gedanken auf die eine umfassende Idee bezogen hat.
Bald zeigt sich aber, daß er den scheinbar sicheren Weg
nicht gehen kann, nicht etwa deshalb, weil er es an der
nötigen Anstrengung fehlen ließe ─ im Gegenteil, deshalb,
weil er auch nicht zu dem leisesten Kompromiß
bereit ist. Der Wille zur Tugend scheitert an unvermeidlichen
Kollisionen der Pflichten. Er weiß nicht, ob er
als Offizier oder ob er als Mensch handeln soll. Der Wille
zur Wahrheit stößt auf die durch Kant vermittelte Erkenntnis,
daß eine Wahrheit unabhängig vom Sein des
Menschen undenkbar ist. So führt die Mühe um sein
Problem zur Einsicht, daß es sich selbst widerspricht.

[198]

  «Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich
habe nun keines mehr»1.


  Die «Familie Schroffenstein» offenbart die Unzugänglichkeit
der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter
Gott, ein deus absconditus, verfügt hat.


  Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich
eine höhere Welt, die des «Gefühls», wie Kleist sich
ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen
Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis
besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem.
Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter
durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen
sein. Das «Ich in dir und du in mir», von dem
die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen
gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung
des Körpers nicht begnügen. Penthesilea
stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung,
das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der
«gebrechlichen Einrichtung der Welt» hat sich die Leidenschaft
selber ad absurdum geführt und bewiesen,
daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen,
sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt.



  Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der
Wahrheit in der «Familie Schroffenstein», das Scheitern
der Liebe in der «Penthesilea» tragisch. Das Tragische
ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten
allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches
Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders [199]
ausgedrückt, wird der Rahmen der Welt eines
Menschen oder wohl gar eines Volks oder Standes gesprengt.



  Dieser Gebrauch des Worts bedarf indessen einer
Rechtfertigung. Es stammt aus dem Griechischen und
kennzeichnet die Poesie der Tragiker Aischylos, Sophokles
und Euripides. Nun läßt sich nicht verkennen, daß
viele Bühnenwerke dieser Dichter, die alle Tragödien
heißen, der Tragik im eben umschriebenen Sinn entbehren.
Die «Orestie» des Aischylos, der Sophokleische
«Philoktet», die «Iphigenie bei den Taurern» von Euripides
enden nicht tragisch. Vielmehr wird das im Lauf
des Geschehens oft gefährdete Verhältnis zwischen den
Menschen und den Göttern am Schluß entschieden wieder
befestigt, so, daß kein Zweifel bleibt und jedermann
weiß, woran er ist. Ebensowenig stimmt die aristotelische
Lehre von der Katharsis, wie man sie auch auslegen
mag, zu unsrer Erklärung des Begriffs. Unser Begriff
hängt allein zusammen mit der von Goethe, Schelling,
Hegel und Hebbel versuchten Deutung einer bestimmten
Grenzsituation, in der die Weltanschauung
des Idealismus in eine Krise gerät. Diese Deutung aber
trifft wieder nur eine besondere Möglichkeit dessen,
was wir als tragische Krise bezeichnen, nämlich nur gerade
jene, die aus dem unlösbaren Widerspruch von Freiheit
und Schicksal hervorgeht. Von solcher Befangenheit
möchte sich die neue Begriffsbestimmung befreien.
Nicht allein die Krise der idealistischen Welt soll tragisch
heißen, sondern die jeder möglichen Welt, der antiken
sowohl wie der bürgerlichen, der christlichen wie
der germanischen. Und nicht nur die Krise, sondern ein [200]
unwiderrufliches Scheitern sei gemeint, eine tödliche
Verzweiflung, die nicht mehr weiß, wo aus und ein.
Dieses Ereignis zu benennen, brauchen wir ein bestimmtes
Wort. Als einziges ähnlicher Intention bietet sich
der im deutschen Idealismus gebräuchliche Ausdruck
an. Wir nehmen dabei den Widerspruch zur älteren
Tradition in Kauf und sind uns bewußt, daß bei weitem
nicht jedes Bühnenwerk, das «Tragödie» heißt, als
«tragisch» bezeichnet werden darf. Auch dies bedeutet
kein Werturteil. Viele nicht tragische, wenngleich
schmerzliche und erschütternde Werke Shakespeares
sind zweifellos bedeutender als die tragische «Familie
Schroffenstein». Schillers spätere Dramen, in denen ein
letzter Sinn nicht in Frage gestellt wird, haben ihre
schätzbaren Vorzüge gegenüber den tragischen «Räubern».



  Überhaupt ist «Tragik», so verstanden, zunächst
kein Begriff der Dramaturgie, sondern gehört in die
Metaphysik. Ein Skeptiker, der an der Wahrheit scheitert,
dem es mit seiner Skepsis ernst ist, der, verzweifelnd,
seinem sinnlosen Dasein ein Ende bereitet; ein
gläubiger Mensch, dessen Ringen um Gott durch ein
entsetzliches Ereignis, wie jenes Erdbeben von Lissabon
im 18. Jahrhundert, gleichsam verhöhnt wird, so,
daß er sich nicht mehr zurechtfinden kann; ein Liebender,
der, wie Werther, vom einzigen Wert der
Leidenschaft überzeugt ist und wahrnehmen muß, daß
seine Leidenschaft ihn selbst und die andern vernichtet:
sie alle sind tragische Gestalten und geraten in jene
Grenzsituation, in der alle Orientierung und also im
Grunde das menschliche Dasein aufhört. Ihr Gott ist [201]
gestürzt, und ohne Gott vermag ein Mensch nicht als
Mensch zu bestehen.


  Also nicht irgendein Unglück ist tragisch, sondern
nur ein Unglück, das dem Menschen seinen Halt, das
letzte Ziel, auf das es ankommt, raubt, so, daß er von
nun an taumelt und ganz von Sinnen ist. Dahin deutet
auch der bekannte Satz, daß der Zufall nicht tragisch
sei, daß tragisches Geschehen eine gewisse Notwendigkeit
haben müsse. Insofern trifft das zu, als ein vereinzeltes
Ereignis den Grund des Glaubens kaum zu erschüttern
vermag. Das Tragische aber vereitelt nicht
einen beliebigen Wunsch oder eine beliebige Hoffnung,
sondern zerstört die Fugen des Sinnzusammenhangs, der
Welt. Wenn die Idee eines Daseins freilich, wie etwa
die Welt des Rationalismus, den dämonischen Zufall
ausschließt, wenn sich der Mensch des Glaubens versichert,
daß nichts geschehen kann, was einer der seinigen
verwandten Vernunft widerspricht, dann ist auch
der Zufall tragisch, und ein Ziegelstein, der vom Dach
fällt und das Hirn eines großen Talents zerschmettert,
wird den konsequenten Rationalisten nicht minder verstören
als Kleist die Entdeckung der Subjektivität der
Wahrheit.


  Damit das Tragische als eigentliche «Welt»-Katastrophe
eintreten kann, muß eine Welt erschlossen und
als umfassende Ordnung verstanden sein. Soll das Tragische
wirksam werden und seine tödliche Kraft ausstrahlen,
so muß es einen Menschen treffen, der konsequent
in der Idee lebt und von der Gültigkeit der Idee
sich nicht das Geringste abmarkten läßt. Beide Möglichkeiten
erfüllt nur der dramatische Geist. Wir haben [202]
ihn kennen gelernt als Kraft, die das Einzelne fest zusammenhält
und auf das Letzte, das Problem, bezieht.
Dem Epiker fehlt die Konsequenz. Seine Welt ist nicht
gefestigt. Deshalb kann sie nicht zerbrechen. Seine Vergeßlichkeit
beschützt ihn vor jeder Erkenntnis, die tödlich
wäre. Wenn etwas einstürzt, so reißt der Sturz
nicht gleich das ganze Gebäude mit. Denn die Teile sind
selbständig. Er blickt das Fatale staunend an und wendet
sich dem Nächsten zu. Erst recht vermag der Lyriker
keine tragische Einsicht zu gewinnen. Sieht er doch
überhaupt nichts und spricht er doch ─ als Lyriker ─
nur, solang er eins ist mit den Dingen. Der dramatische
Geist jedoch ist stets der Gefahr des Tragischen ausgesetzt.
Nicht daß sie immer hereinbrechen müßte, sobald
er sein Werk zu Ende führt. Es ist wohl möglich,
daß zuletzt alles, worauf er es abgesehen hat, stimmt
und ihn befriedigt als Bewußtsein einer dauerhaften
Struktur. Je konsequenter er aber ist, je kräftiger er die
Frage «Worumwillen?» ständig vorwärts treibt, desto
eher dringt er bis zur Grenze des Unvereinbaren vor.
Denn jede Idee, jede Welt ist endlich. Und nur vor
einem unbekannten Gott geht alles Lebendige auf.
Tragik also erweist sich als ein zwar nicht gefordertes,
aber jederzeit mögliches Resultat dramatischen Stils.


  Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus
dem Hinterhalt. Er blickt voraus auf sein Problem, auf
seinen Gott oder seine Idee. Was mit der Idee nichts zu
schaffen hat, das läßt er ─ so wurde angedeutet ─ beiseite
und achtet nicht darauf. Nun kann es jedoch geschehen,
daß, was er beiseite läßt, zwar nichts mit seiner Idee zu
schaffen hat, aber keineswegs gleichgültig, sondern feindlich [203]
ist. So mißachtet der Prinz von Homburg, gebannt
wie er ist von seinem Ziel, die Ordre des Feldmarschalls,
überhört die Warnung des Kurfürsten, übersieht die
Lage des Brückenkopfs am Rhyn. So mißachtet Wallenstein
im Vertrauen auf seine Sterne die Fragwürdigkeit
seiner nächsten Umgebung und ist, wie es heißt, mit
sehenden Augen blind. Aus dem, was beide übersehen,
ersteht die wesentliche Gefahr. Das Urteil des Kurfürsten
vernichtet Homburgs Idee der Harmonie des Lebens,
die prästabiliert schien für sein Ich, vernichtet
seine romantische Welt. Oktavios Verrat zerstört die
mit der größten Umsicht angestellte Berechnung, in der
doch Wallenstein alle Faktoren von der Stimmung der
Soldaten bis hinauf zu Jupiters strahlendem «Ja!» beachtet
zu haben glaubte.


  Homburg ist voreilig. Jedermann sieht das. Aber
Wallenstein, obwohl er als Zauderer auftritt, ist es auch.
Denn Vor-eiligkeit charakterisiert jede menschliche
universale Idee. Der Geist eilt vor zum Letzten über die
unerschöpfliche Fülle der lebendigen Möglichkeiten hinaus.
Er blendet ab, was außerhalb des Sinnes liegt, auf
den es ihm ankommt. So schwingt sich die Theodizee
zur Idee der besten der möglichen Welten auf und
nimmt das Leid und das Übel nicht ernst. So setzt sich
der Leidenschaftliche über die Forderung der Gesellschaft
hinweg, während umgekehrt der gute Bürger die
Sprache einer alles verzehrenden Leidenschaft verkennt.
Kein Gott, auf den ein Mensch sein Dasein ausrichten
mag, ist so weit und so groß, daß nicht andere
Götter ausgeschlossen, andere verraten werden müßten.
Die Welt der Antike schließt sich ab, indem sie die Innerlichkeit [204]
ausschließt. In der Welt des asketischen
Christentums kommen die Sinne nicht zu ihrem Recht
und rächen sich durch Rebellion. Überall ist es so, daß


  «Dien' ich einem, mir

Das andere fehlet ...»1

  Und je treuer der Dienst ist, je folgerichtiger sich der
Mensch ihm hingibt, desto weniger kann er dem Fluch
entrinnen, daß ihm «das andere fehlt». Der Schwankende
aber verfährt nicht besser, sondern verfehlt sich
an allen und verwischt nur seine Endlichkeit. Endlichkeit
ist die Schuld, die mit dem Wesen des Menschen
schon besteht und jede wirkliche Schuld begründet2.


  Die Frage nach der tragischen Schuld, so wie sie oft
in der Ästhetik gestellt wird, erweckt den Verdacht, daß
sie eher bestimmt sei, über das Tragische zu beruhigen,
als seine im Menschen selber angelegte Möglichkeit aufzudecken.
Sie gibt den Anschein, «unschuldige Schuld»
sei nur das Schicksal Einzelner, die ein besonders dämonisches
Unglück heimsucht. Die Schuld liegt aber schon
vor der Tat und wird durch verantwortungsbewußtes,
entschlossenes Handeln bloß evident. Auch der Schwärmer
eilt vor, ja er gerade am unbedenklichsten. Dennoch
stellt seine Schuld sich nicht in deutlichen Katastrophen
dar. Wer wäre voreiliger als der romantische
Mensch, dessen Dasein der Prinz von Homburg im ersten
Aufzug repräsentiert? Die Schlegel, Tieck und Novalis
jedoch sind dem Tragischen niemals ausgesetzt.
Damit es sich zeige, muß die Idee in der Gegenwart [205]
durchgeführt werden. Ein Ödipus, der von Gerechtigkeit
träumte, die Hände im Schoß gefaltet, fände den
tragischen Widerspruch zwischen dem menschlichen
Recht und den Göttern nie heraus. Sein Pathos aber
nötigt ihn, die Probe zu machen. Durch die Tat gewinnt
er die entsetzliche Einsicht, wie Homburg die
Einsicht durch die Folgen der Schlacht von Fehrbellin
gewinnt. Die Tat erprobt das Vor-urteil. Erklärt die Gegenwart
sich dagegen, macht sich ein Übersehenes geltend,
so ist das dramatische Handeln tragisch. Der tragische
Mensch hat den Mut zur Schuld, die schon im
Wesen des Menschen besteht.


  Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um
ein Letztes und Höchstes gehen muß, woran der Mensch
als solcher gebunden ist. Wallenstein, dem die Sterne
gelogen, hat aufgehört, Wallenstein zu sein. Er mag
sich bei Octavios Verrat noch einreden, daß dies «wider
Sternenlauf und Schicksal» geschehen sei. Sein folgerichtiger
Geist hat keine Ruhe mehr, und wenn die
Lanze des Mörders im Dunkel vor ihm aufblitzt, wenn
er den Trug endgültig durchschaut, so ist er vernichtet,
bevor sie ihn trifft. Ebenso ist Meister Anton in Hebbels
«Maria Magdalene» nicht mehr er selbst, wenn die Tugend
des Bürgers vor seinen Augen zuschanden wird.
Er «versteht die Welt nicht mehr». Was kann er künftig
noch sinnen und tun?


  Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an,
die Goethe gefühlt1, die sich im Untergang Kleists bewährt
hat. Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt [206]
das Tragische. Aber den unerbittlich konsequenten
Geist muß es zerstören. Er endet im Wahnsinn oder
im Selbstmord, wenn die Müdigkeit nicht schonende
Dämmerung über die Seele legt. So kommt das Tragische
rein oder unmittelbar in der Dichtung nie zu Wort.
Der es aussprechen könnte, ist bereits aus der Sphäre
des einem anderen Menschen verständlichen Daseins
gerückt. Verständlichkeit beruht auf der Gemeinschaft
einer begrenzten Welt. Ihr Rahmen aber wird ja gerade
in tragischer Verzweiflung gesprengt.


  Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die
«Familie Schroffenstein» mit Johanns schrillem Gelächter
am Schluß, das unmittelbar den Ausbruch des
Wahnsinns auch im Dichter befürchten läßt und den
Zuschauer eisig, wie ein Hauch aus lebensfeindlichen
Zonen, anweht. Kleists Erstling ist eben deshalb ein
künstlerisch beinah unerträgliches Werk. Später hat
Kleist die Katastrophe der Wahrheit oder der Liebe von
einer höheren Warte aus dargestellt. In Alkmene, in
den letzten Gebärden und Worten Penthesileas, im Glanz
von Homburgs zweiter Mondnacht ist die Möglichkeit
eines gnadenhaften Zustands ausgesprochen, den Gottes
unbegreifliche Willkür dem Menschen wohl einmal
gewähren kann, eine Möglichkeit, die Kleist im Auge
behielt, so lange er lebte, an der er erst in den letzten
Tagen für seine Person verzweifelt ist. Schiller führt im
«Wallenstein» die Tragödie des Realismus durch. Er
selber aber hat hier den Boden des Realismus, auf dem
er als junger Dichter stand, bereits verlassen und sieht
von der Höhe der Kantischen Freiheit dem Schicksal
seines Helden zu. Das heißt, der Dichter ist imstande, [207]
den Rahmen einer Welt zu sprengen, weil sich ihm das
Dasein in einer weiteren Welt zusammenfügt. Dies bedeutet
der Vorgang, den die Ästhetik seit langem «Versöhnung»
nennt. Der Prinz von Homburg wird nach
dem Tod, den er als Romantiker duldet, versöhnt im
Ausblick auf eine Welt, in der kein Gegensatz zwischen
diskursiver Erkenntnis und Intuition mehr besteht.
Wallenstein selbst wird nicht versöhnt, wohl aber der
Zeuge seines Geschicks, der sich vom Dichter auf den
Standpunkt des Idealismus geleitet sieht, sobald der
Grund des irdischen Hoffens und Planens unter den Füßen
schwindet. Mit fast pedantischer Deutlichkeit hat
Hebbel die Sprengung des engern, die Bildung eines
weiteren Rahmens gezeigt, indem er die bürgerliche
Welt in «Maria Magdalene», die Welt des orientalischen
Despotismus in «Herodes und Mariamne», die germanische
Welt in den «Nibelungen» jedesmal in die christliche
auflöst. Im «König Ödipus» von Sophokles aber
gewinnen wir den Eindruck, daß der Dichter den
Rechtsanspruch des Menschen, den neuen Glauben zurückweist
und mit starrer Treue bei dem Glauben seiner
Väter verharrt.


  In der Versöhnung beruhigen sich der Dichter und
das Publikum. Es wäre aber wohl möglich, daß hier das
Weiterdrängen von neuem einsetzt, daß die weitere
Welt so gut wie die frühere wieder in Frage gestellt
wird. Ein Ende ist nicht abzusehen. Denn über ein Endliches
kommt der Mensch, wie sehr er sich mühe, nie
hinaus. Und im Endlichen gibt er sich nicht zufrieden.
So ist es ein Glück für ihn, daß auch die Kräfte seines
Geistes begrenzt sind, daß er ermattet und aufhört zu [208]
fragen, daß er nicht wach bleibt, sondern entschlummert
und von der Natur das lebensnotwendige Geschenk
des Vergessens alltäglich erhält.

5.


  Der Mensch ist aber ein zähes Geschöpf, und dasselbe
Geschick der Endlichkeit, das ihn mit tragischer Verzweiflung
bedroht, eröffnet ihm einen unerwarteten
Ausweg ins Behagen des Komischen. Wenn wir vom
Tragischen erklärten, daß es den Rahmen einer Welt
sprengt, so gilt vom Komischen, daß es aus dem Rahmen
einer Welt herausfällt und außerhalb des Rahmens
in selbstverständlicher, fragloser Weise besteht1.


  Dieses Aus-dem-Rahmen-Fallen zeigt sich am deutlichsten
etwa in jenen Gepflogenheiten der Komödie,
die sich von Aristophanes bis zur Gegenwart erhalten
haben: daß eine Person auf einmal, statt zu ihrem Partner
oder zu einem idealen Zeugen, zum Publikum
spricht, das Publikum zum Beistand gegen einen Widersacher
aufruft oder dem Orchester ängstlich ein Geheimnis
anvertraut. In der Parabase der antiken Komödie
ist dieses Verfahren sanktioniert und bereits so selbstverständlich
geworden, daß es, weil erwartet, kein unmittelbares
Gelächter mehr auslöst.


  Aus dem Rahmen fällt aber auch der aristophanische
Phallos und Wanst, eine ungeheure rote Nase oder ein
Ohr, das als Löffel absteht. Den Rahmen bildet hier der
Bezugszusammenhang eines organischen Ganzen, das [209]
wir im Sinne haben, wenn wir einen menschlichen
Körper betrachten. Eine apriorische Erwartung wird
getäuscht, ein Entwurf braucht plötzlich nicht durchgeführt
zu werden.


  Dasselbe gilt von Lautphänomenen der Sprache, die
unser Gelächter erregen. Wenn wir in Nestroys «Judith»-Parodie
die verblüffenden Verse lesen:


«Aber sehr frugal speist der Holofernes,

Nur ein Huhn mit Salat und ein Schnitzel, ein kälbernes...»


so wird unsere Aufmerksamkeit durch den an den Haaren
herbeigezogenen, über alles Maß aufdringlichen
Reim vom Sinnzusammenhang abgelenkt. Statt die
Spannung durchzuhalten, in die uns das Ziel des Satzes
versetzt, fahren wir gleichsam seitlich aus und ergötzen
uns an dem zwecklosen Lautspiel. Bei gewöhnlichen lyrischen
Reimen lachen wir nicht, weil da der zartere
Einklang nur den Sinn zum Schweben und Klingen
bringt, nicht aber aus dem Netz der Sinnbezüge herausfällt.
Ebenso ist ein Takt nicht komisch, der unauffällig
die Worte eines Verses gliedert, wohl aber ein Takt, der
sich, wie in Schillers Ballade «Der Gang nach dem Eisenhammer»
oder in Versen von Wilhelm Busch, als
solcher bemerkbar macht und der Anstrengung, einem
Sinn zu folgen, spottet.


  Was aus dem Rahmen fällt, muß erfreulich und unmittelbar
sich selbst genug sein. Ein Schauspieler, der
seine Rolle nicht beherrscht und sich umsieht, ob ihm
jemand helfe, ist an sich nicht komisch, sondern ein
Ärgernis. Über einen Buckel wird ein erwachsener [210]
Mensch nicht lachen, weil er die Leiden sich vorstellen
kann, die dies Übel der Mißgestalt bereitet. Phallos,
Wanst und Hinterteil dagegen mögen noch so sehr
zu Anomalien gediehen sein, ihre Hypertrophie scheint
nur auf übermäßigen Lebensgenuß zu deuten. Ein
Mensch, der vorzüglich aus Wanst besteht, so leuchtet
uns ein, hat es leichter als wir und gibt ein höchst beachtliches
Beispiel. Ein sprachliches Versehen lenkt uns
gleichfalls vom Sinnzusammenhang ab. Es löst aber kein
Gelächter aus, sofern es nicht, wie der überdeutliche
Reim oder der überdeutliche Takt, zu etwas führt, was
sich selber genügt und dem unbesonnenen Dasein
schmeichelt.


  Die Theorie des Lächerlichen reizt und ermüdet die
Ästhetik seit alters. Skeptiker gefallen sich darin, auf die
Unvereinbarkeit der Erklärungsversuche hinzuweisen.
Genau besehen ist es damit aber gar nicht so schlimm
bestellt. Jeder vermag doch mindestens seine eigenen
Beispiele zu erklären und trägt damit etwas zur Deutung
des Gesamtphänomens des Lächerlichen bei. Das fast
unübersehbare Schrifttum zu prüfen, ist hier, wo es um
die Beziehung zum dramatischen Stil geht, nicht der
Ort. Nur durch wenige Hinweise sei die allzu knappe
These erläutert.


  Kant in der «Kritik der Urteilskraft» sagt:


  «Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung
einer gespannten Erwartung in nichts1


  Was Kant «Erwartung» nennt, entspricht dem a priori
der «Welt», des Entwurfs, dem, worin sich der [211]
Mensch bei allem Erkennen, bei allem Erleben voraus
ist. Diese Erwartung wird aber nicht in nichts aufgelöst
─ das wäre Enttäuschung ─ sondern sie fällt dahin,
weil etwas sichtbar wird, das unmittelbarer, zusammenhangloser
existiert.


  Aus «erspartem Aufwand» hat Sigmund Freud das
Behagen des Lachens erklärt1.


  Friedrich Theodor Vischer versucht, die «Erwartung»
des nähern so zu bestimmen, daß er erklärt, sie sei veranlaßt
«durch ein sich ankündigendes, in mehr oder
minder pathetischem Schwung begriffenes Erhabene»2.
Aufgelöst werde sie durch «das Bagatell eines bloß der
niedern Erscheinungswelt angehörenden Dings, das diesem
Erhabenen, vorher verborgen, nun auf einmal
unter die Beine gerät und es zu Falle bringt.»


  Damit wird die Erwartung aber nun offenbar zu eng
bestimmt. Die Komik des «Don Quijote» zwar und was
ihr ähnlich ist, klärt sich so auf. Bei vielen Streichen
Eulenspiegels dagegen ist die Erwartung nicht erhaben,
sondern höchstens vernünftig. Vischer betrachtet also
nur die freilich besonders ergiebige Möglichkeit, daß
Gelächter aus der Ersparung eines erhabenen Entwurfs
entsteht.


  Schopenhauer deutet das Lachen aus der «Wahrnehmung
der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten».
Im zweiten Teil der «Welt als Wille und Vorstellung»
stehen die folgenden Sätze:


  «Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit
zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten behält [212]
das Angeschaute allemal unzweifelhaftes Recht:
denn es ist gar nicht dem Irrtum unterworfen, bedarf
keiner Beglaubigung von außerhalb, sondern vertritt
sich selbst. Sein Konflikt mit dem Gedachten entspringt
zuletzt daraus, daß dieses mit seinen abstrakten Begriffen
nicht herab kann zur endlosen Mannigfaltigkeit und
Nüancierung des Anschaulichen. Dieser Sieg der anschauenden
Erkenntnis über das Denken erfreut uns.
Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von der tierischen
Natur unzertrennliche Erkenntnisweise, in der
sich alles, was dem Willen unmittelbares Genügen gibt,
darstellt: es ist das Medium der Gegenwart, des Genusses
und der Fröhlichkeit: auch ist dasselbe mit keiner
Anstrengung verknüpft. Vom Denken gilt das Gegenteil:
es ist die zweite Potenz des Erkennens, deren Ausübung
stets einige, oft bedeutende Anstrengung erfordert,
und deren Begriffe es sind, welche sich so oft der
Befriedigung unserer unmittelbaren Wünsche entgegenstellen,
indem sie, als das Medium der Vergangenheit,
der Zukunft und des Ernstes, das Vehikel unserer
Befürchtungen, unserer Reue und aller unserer Sorgen
abgeben1


  Zahlreiche Beispiele unterstützen das Überzeugende
dieser Erklärung. Das Verhältnis der beiden Ebenen,
zwischen denen das Lachen sich abspielt, die «Fallhöhe»,
wie wir sagen wollen, ist unübertrefflich dargestellt.
Einzig die beiden Begriffe «Denken» und «Anschauen»
bleiben zweifelhaft. Nicht jedes Entwerfen ist
ein Denken. Auch der Wunsch, die sinnliche Neugier, [213]
das dumpfe Gefühl der Furcht entwirft. Wenn im
«Sommernachtstraum» auf einmal Zettels Eselskopf erscheint,
so haben wir überhaupt nichts gedacht, sondern
bänglich-romantische Waldesstimmung findet sich unverhofft
der prallsten Körperlichkeit gegenüber. Ja, der
Hinblick auf den Zusammenhang eines organischen
Ganzen, für den der Wanst und Phallos komisch wird,
ist eine entwerfende Anschauung. Gelächter aber entsteht
bei jeder Art von Entwurf, die sich als ungemäß
erweist, als ungemäß im Sinne einer zu weiten Spannung.
Wir werden entspannt von dem, was, allgemeiner
als Schopenhauer es ausdrückt, das höhere Wesen
des Menschen ausmacht, von der synthetischen Anstrengung,
die nach dem Schema «Voraussein» und
«Zurückkommen auf ...» jedwede Erfahrung, jede Erkenntnis
erst ermöglicht. Nicht immer sinken wir dabei
gleich bis zum Tierischen herab. Aus dem Rahmen des
Erhabenen fällt schon das Alltägliche oder Nüchterne
heraus und ist lächerlich, so etwa bei Keller aus Viggi
Störtelers hochgeschraubten Liebesbriefen die Nachschrift
mit dem Kleinkram des Ladens, der sich in
einem schlichten kaufmännischen Brief nicht lächerlich
ausnähme. Vom Alltag mag es dann weiter hinab zum
Naiven oder Unflätigen gehen. Wesentlich ist nur, daß
das Faktische einen geringeren Aufwand an Spannkraft
erfordert als das Entworfene, daß dieselbe Anstrengung,
die einen Entwurf zu bewähren sucht, sich plötzlich als
übersetzt erweist. Bei dem Namen John Kabys-Häuptle
schalten wir von dem angelsächsischen Nimbus auf ein
wohlbekanntes strotzendes Gewächs unseres Gartens
um. Bei Shakespeares Pompeius Steiß erfolgt der Umschlag [214]
gleich von römischer Größe zum würdelosesten
Körperteil, auf dem denn aber doch jeder, wie er sich
auch gebärde, sitzen muß.


  Es ist nicht immer leicht, die Beispiele komischer
Wirkung zu analysieren, und oft genug wehrt sich etwas
im Menschen gegen das Phänomen und die Deutung.
Immer gilt es zu fragen, wovon und wohinein das
Gelächter entspannt. Eine bescheidene Fallhöhe weist
die Komödie des Rationalismus auf. Als Held tritt der
eingebildete Kranke, der Hypochondrist, der Geizige
auf, das heißt ein Mensch, der andern und sich selber
das Leben unnötig schwer macht. Tellheims sublimer
Ehrbegriff in «Minna von Barnhelm» stellt eine letzte,
schon sehr verfeinerte Spielart dar. Hier geht das Gelächter
aus von einem irgendwie übersteigerten Ernst
und endet in der Gewißheit eines selbstverständlichvernünftigen
Lebens, das keiner Anstrengung bedarf,
um richtig und angenehm zu sein, also noch nicht in
Niederungen, sondern auf der Ebene, die dem anmutsvollen
Alltag einer guten Gesellschaft als Aufenthalt
dient. Von dieser Ebene aber geht nun etwa das Lachen
in Goethes Farce «Götter, Helden und Wieland» aus,
um bei der derben Fraglosigkeit von Herakles' Vitalität
zu enden. Auch hier ist die Fallhöhe nicht sehr groß.
Sie reicht zwar bis zu den Gründen der elementaren
Sinnlichkeit hinab (die Goethe freilich nur schonend
aufdeckt), aber sie setzt nicht sehr hoch an. Von der
Höhe pompösesten Anspruchs bis zu viehischer Unflätigkeit
entspannt die Komödie des deutschen Barock,
«Horribilicribrifax» zum Beispiel, vor dem wir Heutige
fast erschrecken, aber auch die antike Komödie ─ ich [215]
nenne die «Lysistrata», wo die ernsteste Frage «Krieg
oder Frieden?», das Heil der eigenen Polis, auf die Befriedigung
des Geschlechts hinausläuft, so daß der geile
Politiker gern die staatlichen Erwägungen preisgibt,
um nur das nächste Ziel, zu dem ihn der Trieb gebieterisch
drängt, zu erreichen.


  Der zartere Leser wird sich fragen, wie solchen Werken
der Rang einer großen Dichtung zuzubilligen sei.
Allein, im Gelächter, das Komik auslöst, liegt ein ungeheurer
Triumph und eine unumstößliche Wahrheit.
Wiederum wird der Mensch auf die Grenzen seiner Endlichkeit
aufmerksam, aber nun so, daß er nicht umhin
kann, diese Endlichkeit zu bejahen. Er plant, entwirft,
bedenkt und bezieht. Er ist sich selber immer voraus
und sucht das Ganze des Lebens unter einem Gesichtspunkt
zusammenzufassen. Eben deshalb aber bleibt er
auch immer hinter sich selber zurück; und wie das Tragische
überfällt ihn das Komische aus dem Hinterhalt,
doch nicht, um ihn zu zerstören, sondern um ihn gleichsam
mit dem Ruf: Halt! Wozu auch? zum Stillstand zu
bringen. Sosias im «Amphitryon» findet die heikelsten
Untersuchungen über das Wesen der Identität entbehrlich,
und etwas in uns stimmt ihm zu, ein Trotz des
Lebens, das sich sein unmittelbares Recht nicht rauben
läßt und wohlig jede Begründung verschmäht.


  Es dürfte uns klar sein, wie das Komische zum dramatischen
Stil gehört. Der Komiker spannt, um zu entspannen.
Er tut so, als wolle er hoch hinaus, um in dem
Augenblick, da wir den Aufwand machen, den Aufwand
zu ersparen und etwas vorzuweisen, das sich ohne
weiteres selbst verbürgt. «Wozu?» ─ «Wozu auch?» ─ [216]
das ist die Rhythmik, in der sich unser Verständnis bewegt.
Das Problem, das Pathos hebt sich immer wieder
selber auf. Freilich kommt die Einheit des dramatischen
Werks dabei in Gefahr. Die Zielstrebigkeit wird unterbrochen.
Aristophanes fängt in den «Fröschen» gleich
schon mit einem Lacheffekt an. Der Hörer erwartet eine
Handlung und bereitet sich aufzupassen. Statt dessen
erscheint Dionysos mit dem Sklaven Xanthias, der ihn
fragt, ob er, nach der Gepflogenheit der Komödiendichter,
etwas Unflätiges sagen solle. Dies rüpelhafte Reden
und Tun macht gleich die Voraussicht überflüssig. Zudem
enthält es eine Polemik gegen die Konkurrenten
des Dichters. Er fällt aus dem Rahmen der Illusion,
noch ehe sich dieser recht gebildet. Doch damit kommen
wir nicht weiter. Wir sind auf ein Stumpengeleise geraten
und müssen abermals in den Zusammenhang
einer Handlung eingeführt werden. Und so geht es nun
immer weiter im Antagonismus von dramatischer Spannung
und komischer Entspannung. Auch neuere Komiker
halten es so. Ich erinnere nur an die Szene in Raimunds
«Diamant des Geisterkönigs». Eduard, der
freundliche Held, ist bedrängt. Wir blicken auf eine
Entscheidung, sei es zum Guten oder zum Schlimmen,
hin. Schließlich wird unter großen Veranstaltungen der
Geist seines Vaters beschworen. Der Geist erscheint und
spricht die Worte:


«Ich bin dein Vater Zephises und habe dir nichts zu

sagen als dieses»,

um sofort wieder zu verschwinden. Es kommt nichts
dabei heraus, oder vielmehr, was herauskommt, ist ein [217]
Lautspiel, bei dem sich unser Spieltrieb freilich so amüsiert,
daß wir auf die erhoffte Entscheidung vorläufig
verzichten können. So landen wir ungezählte Male, im
Widerspruch zum dramatischen Zweck, bei dem, was
wesentlich zwecklos, doch ohne Zweifel höchst befriedigend
ist.


  Je mehr ein Dichter zum Komischen neigt, desto
eher wird er versucht sein, dramatische Spannung nur
als Ausgangslage des Lachens zu erzeugen und sich in
lauter lächerlichen Einzelheiten zu verzetteln. Aristophanes,
Plautus, Shakespeare in seinen derbsten Stükken,
Molière in den Farcen, Gryphius, Raimund gebärden
sich hier ganz hemmungslos. Doch immer wieder
wird die Komödie hochliterarisch reformiert. Dann
setzt sich jener Typus durch, in dem die einheitliche
Spannung durchhält, das Lächerliche aber nur noch
leise an den Rändern der Handlung spielt, der Typus,
den in deutscher Sprache am reinsten «Minna von Barnhelm»
verwirklicht. Einzigartig aber ist Kleists Komödie
«Der zerbrochene Krug». Die Form des Gerichts
garantiert von Anfang bis zum Schluß den dramatischen
Zug. Der Richter ist selbst der Schuldige und deshalb
eifrig bemüht, von dem, worauf es ankommt, abzulenken.
Die Komik seiner Diversionen und Ausreden wird
zum Widerstand, den der Gerichtsrat Walter brechen
muß. Der Widerstand steigert wieder die Spannung.
Eins spielt dem anderen in die Hände. Es ist das geistreichste
Spiel, das je der Sinn eines Bühnendichters erdacht,
im Komischen so vollendet wie im Tragischen
«König Ödipus».


  Wir werden uns nicht darüber verwundern, daß [218]
Kleist, der am meisten tragische unter den neueren
Bühnendichtern, auch der am meisten komische Dichter
ist. Wenn jener Ausspruch des Sokrates am Schluß
von Platons «Symposion», der Tragiker müsse auch
Komiker sein, wirklich etwas Entscheidendes sagen soll,
dann muß er dies bedeuten: daß der Tragiker sein Geschäft
nur bis zum vernichtenden Ende durchführen
kann, wenn er zuletzt, statt in den Abgrund des Nichts,
auf den Boden des Komischen fällt und über den Trümmern
seiner Welt das Urgelächter dessen anstimmt, der
weiß: der Geist vermag nicht ohne physische Basis wirklich
zu sein, die physische Basis aber kann des Geistes
entraten und ist sich selbst in elementarer Lust genug.

[219]

VOM GRUND DER POETISCHEN
GATTUNGSBEGRIFFE


Die Aufgabe der ersten drei Abschnitte war, die poetischen
Gattungen zu scheiden und jede für sich herauszuarbeiten.
Sie ließ sich nur in unbeirrbarer Ideation
erfüllen, das heißt so, daß an Dichtungen lyrische, epische
und dramatische Züge im Hinblick auf a priori erfaßte
Ideen abgelesen wurden. Es läge nahe, dieses Verfahren
mit Goethes Typologie zu vergleichen. In einem
Brief an Sömmering vom 28. August 1796 heißt es:


  «Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist
gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese
zu fassen, um sie mir eigen zu machen.»


  Das Organ wird nicht aus der Erfahrung, aber wohl
an ihr und durch sie gebildet, so wie das Auge durch
Licht zum Licht, der Adler durch Luft zur Luft gebildet
und ausgestattet erscheint. Die Idee der Urpflanze
ist ein Organ, das Mannigfaltige der Pflanzenwelt zu erfassen;
die Idee des osteologischen Typus erlaubt, die
Tierwelt zu übersehen. Im Sinn eines solchen a priori
möchte auch die Idee des Lyrischen, Epischen und Dramatischen
gelten.


  Allein, nun ist das Verhältnis der einzelnen Dichtung
zur Gattungsidee ein anderes als das der einzelnen
Pflanze zur Urpflanze, des einzelnen Tiers zum Typus
des Tiers. Keine einzelne Pflanze stellt zwar rein den [220]
Typus der Pflanze dar. Die «Urpflanze» gibt es in Wirklichkeit
nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches
oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze
bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch
tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit
aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die
rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent
sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem
Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus
individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann,
gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es
nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen
Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen
bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.


  Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen
wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann
erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich
sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.


  Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis
von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das
Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe
darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten.
Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so
zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung
fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, ἐλελεῦ,
αἴλινον, om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene
gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand
fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind
sie unmittelbar verständlich als «Schreie der Empfindung»,
wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche
Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der [221]
Silben hervordrängt, dürfen wir von lyrischer Wirkung
sprechen.


  Im epischen Stil dagegen behauptet das einzelne,
einen Gegenstand bezeichnende Wort sein hohes Recht
(Seite 99). Schon im Wortschatz der homerischen Epen
glaubten wir, die Leistung des Epikers anerkennen zu
müssen. Die Fülle der Worte stellt die Fülle des wechselnden
Lebens fest, und wir schätzen den epischen
Dichter, weil er uns die Fülle des Lebens vorstellt.


  Die Funktionalität der Teile, das Wesen des dramatischen
Stils, ist ausgeprägt im Ganzen des Satzes, wo
das Subjekt in einem Bezug zum Prädikat, der Nebensatz
in einem Bezug zum Hauptsatz steht und ein Vorblick
aufs Ganze nötig ist, um die einzelnen Teile zu
verstehen.


  Wie aber nun in Sätzen entweder die Bezüge der
Teile oder die einzelnen Vorstellungen oder die Lautelemente
mächtiger sind, so wirkt sich in einer Dichtung
je nachdem das Lyrische oder das Epische oder Dramatische
deutlicher aus, ohne daß deshalb das andere
fehlte oder auch nur, als in einem sprachlichen Kunstwerk,
je ganz fehlen könnte. Ja, derselbe Satz wird, je
nachdem ich ihn meine, mehr lyrisch oder mehr episch
oder dramatisch tönen. Zum Beispiel die Zeile aus Eichendorffs
«Rückkehr» (Seite 41):


«Da hört' ich geigen, pfeifen ...»

  Im Zusammenhang des Gedichts erklingen diese
Worte in jenem rhythmisch und melodisch schwebenden
Ton, der jede Silbe in die Magie der schmerzlichen
Stimmung einbezieht. Derselbe Satz könnte in einer [222]
mehr nüchternen, epischen Verserzählung stehen, etwa
in einem Hexameter:


«Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und

pfeifen.»

Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung
der Musik erweckt. Die Vorstellung ihrerseits würde
zur Funktion eines übergeordneten Ganzen, wenn es
etwa darum ginge, daß ein bedrohter Wanderer, der
ängstlich seines Weges zieht, etwas Unbestimmtes im
Dunkel erblickt, mit Spannung lauscht und später von
diesem Augenblick mit den Worten erzählt:


«Da hört' ich ─ geigen, pfeifen! Frohe Menschen ─ und

fühlte mich geborgen.»

  Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität
an so einfachen Beispielen deutlich zu machen,
wie es andrerseits schwierig wäre, hypotaktischen Satzgefügen
lyrische Reize abzugewinnen. Das Beispiel fördere
nur die Einsicht, daß die Stilistik Grund hat, neben
dem äußerlich Wahrnehmbaren den nicht nachweisbaren
Ton zu beachten.


  Die Reihe Silbe ─ Wort ─ Satz erklärt nun aber auch,
warum die Gattungen in der Folge lyrisch ─ episch ─
dramatisch aufgeführt wurden. Die später genannten
Gattungen sind auf die früheren angewiesen. Ich kann
wohl Silben bilden ─ und tue es auch, als Kind oder im
Affekt ─ ohne dabei ein Wort zu sagen und einen Gegenstand
zu bezeichnen. Aber ich kann kein Wort aussprechen,
ohne zugleich eine Silbe zu bilden, und ebenso
keinen Satz formulieren, ohne einzelne Wörter und mit
den Wörtern Silben zu gebrauchen. So ist die dramatische [223]
Gattung auf die epische Gattung angewiesen. Das
Gegenständliche sinkt in ihr zur bloßen Voraussetzung
herab (Seite 181). Es muß jedoch vorhanden sein, damit
es in Zusammenhang gebracht und beurteilt werden
kann. Ist seine Sichtbarkeit reduziert, so wird der dramatische
Stil abstrakt, wie manchmal in den Novellen
Kleists, der bei genauestem Beziehen der Teile die Teile
selbst nur flüchtig ausführt. Daß die epische Gattung
auf die lyrische angewiesen bleibt, sieht weniger selbstverständlich
aus. Indes, wer etwas vor-stellen will, muß
erst damit eins gewesen sein. Sonst geht es ihn und uns
nichts an, und seine Darstellung ist «trocken» ─ eben
weil sie des lyrischen als des flüssigen Elements entbehrt.
Ursprüngliche Akte der Vorstellung setzen das
Ineinander voraus. Sie können von gar nichts anderem
ausgehen.


  Das Lyrische also ist der letzte erreichbare Grund
alles Dichterischen (vergleiche Seite 54), das «sunder
warumbe», die Fülle der Tiefe, aus der es entspringt,
um aufzusteigen zur Höhe dramatischer Poesie, über
die hinaus es nicht weitergeht, es sei denn in die Grenzsituationen
des Tragischen oder des Komischen, in denen
der Mensch sich selbst, als sinnliches oder als geistiges
Wesen, zerstört.


  Diese Folge darf aber nicht literaturgeschichtlich ausgelegt
werden, so, als ob behauptet würde, das Dichten
eines einzelnen Menschen oder eines ganzen Volkes beginne
mit dem Lyrischen und ende mit dem Dramatischen.
Lyrisches als lyrische Dichtung, Episches als
epische Dichtung tritt erst in dem Augenblick hervor,
da sich die Sprache der Poesie, mehr oder weniger deutlich, [224]
schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch
bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus
Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen
kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker
nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er
greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon
dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag
die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die
Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv
sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art
geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum
aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr
hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der
Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren
Lage eines Volkes, eines Dichters einige
Klarheit verschaffen.


  Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was
das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie
gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft
von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte
der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch ─
episch ─ dramatisch, Silbe ─ Wort ─ Satz entspricht den
von Cassirer1 beschriebenen Stufen der Sprache: die
Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die
Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die
Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die
«Philosophie der symbolischen Formen» verfolgt im ersten
Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit,
daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns [225]
nur auf Schritt und Tritt der hellsten Erleuchtung
freuen dürfen. Die Sprache entwickelt sich ihrer Natur
nach vom emotionalen zum logischen Ausdruck. Aus
schriftlicher Überlieferung kann dies freilich mehr nur
erschlossen als im Einzelnen nachgewiesen werden.
Denn wenn eine Sprache sich schriftlich fixiert, ist der
Prozeß schon weit gediehen. So führt die Untersuchung,
wie schon bei Wilhelm von Humboldt, hinter die Literatur
zurück und beschäftigt sich ausgiebig mit primitiven
Völkern. Eine Fülle von Zeugnissen steht zur Verfügung.
Sie stimmen weithin überein. Jede Sprache
entwickelt sich in der angezeigten Richtung, nicht anders
als jeder Mensch sich vom Kind zum Jüngling, vom
Jüngling zum Mann und zum Greis entwickelt. In neuerem
Geist bewährt sich Herders Roman von den Lebensaltern
der Sprache. Und wie sich schon Herder sowohl
auf einzelne Menschen als ganze Völker bezieht, ist auch
bei Cassirer ersichtlich, daß jeder Einzelne noch den
Weg nimmt, den die Vorzeit hat bewältigen müssen.
Das kleine Kind bleibt lang auf die Phase des emotionalen
Ausdrucks beschränkt, bis seine Äußerungen allmählich
intentionale Bedeutung gewinnen und feste
Gegenstände bezeichnen. Gegenstände zu beziehen, Zusammenhänge
herzustellen, ist eine weitere Errungenschaft,
die, allen Eltern unvergeßlich, die ständige Frage
«Warum?» markiert. Freilich ist das Spätere immer
schon im Früheren angelegt, so wie im Knaben der
Jüngling schlummert, das Blatt schon auf die Blüte
weist. Und ebenso geht auf den höheren Stufen das Überwundene
nicht verloren. Es ist nicht vorbei, es ist «aufgehoben».
In einem Augenblick des Staunens kann dem [226]
erwachsenen Mann ein Wort entfahren, das einen Gegenstand
feststellt, als sähe er ihn zum erstenmal, mit
dem Glück, mit der Ursprünglichkeit des Knaben. Und
im Affekt bricht, ohne zu bedeuten, der «Schrei der
Empfindung» los, der einer noch nicht diskursiven Möglichkeit
der Verständigung angehört.


  Sollte es noch befremden, wenn die Folge lyrisch ─
episch ─ dramatisch in diese Zusammenhänge gerückt
wird? Längst ist uns deutlich geworden, daß die Gattungen
sich auf etwas beziehen, das nicht nur zur Literatur
gehört. Jetzt sehen wir klar, wie es damit bestellt
ist. Die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche
Namen für fundamentale Möglichkeiten
des menschlichen Daseins überhaupt, und Lyrik,
Epos und Drama gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen,
des Bildlichen und des Logischen das Wesen
des Menschen konstituieren, als Einheit sowohl wie als
Folge, worin sich Kindheit, Jugend und Reife teilen.


  Doch dies bedarf der Erläuterung. Cassirer deutet den
Weg vom Emotionalen zum Bildlichen und zum Logischen
als fortschreitende Objektivierung, in der sich erst
so etwas wie eine gültige Gegenständlichkeit bildet. Darauf
sind wir vorbereitet durch die Kategorie des Abstands.
In lyrischem Sein ist noch kein Abstand eines
Subjekts von einem Objekt. Das Ich schwimmt im Vergänglichen
mit. Im Epischen bildet sich das Gegenüber
einer Perspektive. Im Akt des Anschauens festigt
sich der Gegenstand und zugleich das Ich, das diesen
Gegenstand betrachtet. Doch Ich und Gegenstand sind
im Sich-zeigen und Schauen noch aneinander gebunden.
Eines entsteht und bewährt sich am andern. Im [227]
dramatischen Sein jedoch wird der Gegenstand gleichsam
ad acta gelegt. Der Mensch betrachtet nicht, sondern
beurteilt. Das Maß, der Sinn, die Ordnung, die
dem Schauenden einst auf seiner epischen Wanderschaft,
immer anhand der Dinge und Menschen, aufgegangen
ist, wird nun von den Gegenständen gelöst und an sich,
abstrakt, erfaßt und behauptet, so, daß Neues einzig
im Hinblick auf dieses «Vor-urteil» Geltung erlangt.
Der Weltentwurf hat sich kristallisiert. Die Welt, das
geistige Selbst, wird «absolut», das bedeutet «abgelöst»
und in der Ablösung «schlechthin gültig». Von solcher
Höhe blickt der Dramatiker auf das wechselnde Leben
hinab.


  Fühlen ─ Zeigen ─ Beweisen: in diesem Sinn erweitert
sich der Abstand. Bedenken wir den abstrakten
Charakter dramatischer Auffassung des Lebens und
andrerseits das Innige, Unbeweisbar-Verständliche lyrischer
Stimmung, so zögern wir nicht länger, das dramatische
Wesen als Geist, das lyrische aber als Seele zu
bezeichnen, wie dies bisher schon, ohne die Worte auszuweisen,
geschehen ist. Doch dürfen wir Geist und
Seele nicht als Eigenschaften oder Vermögen ansehen,
die der Mensch besitzt. Auch jede theologische Auslegung
dieser Begriffe halten wir fern. Was wir Seele
nennen, hat nichts zu tun mit jenem unsterblichen Teil
des Menschen, der im Körper wohnt. Was wir als Geist
bezeichnen, ist nicht ein inneres, von Gott entzündetes
Licht. Sondern bei beiden handelt es sich um fundamentale
Seinsmöglichkeiten, die keine andere Wirklichkeit
haben als das Wie des Seienden, der Gegen- und Zustände,
die sich erschließen. Seele ist die Flüssigkeit [228]
einer Landschaft in der Erinnerung; Geist ist die Funktionalität,
in der sich ein größeres Ganzes darstellt.


  Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen
Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit
Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen
gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen,
was man von jeher «Geist» oder «Seele» genannt hat,
eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen
Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen,
was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt
des Geistes, ein «ungehöriger» allerdings, weil er bezieht,
was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist
kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele
zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung
des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele
wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle
Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die
als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben
worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht
vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die
Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche
Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche
Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem
Epigramm:


«Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?


  Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele

nicht mehr»

ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt.
Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber [229]
aufzuheben, erklärte sich uns aus der auseinandersetzenden
Kraft der ausgebildeten Sprache (Seite 82),
die niemals bloß musikalisch, sondern immer zugleich
intentional ist, das heißt, ein Gegenüber erzeugt.
Braucht aber Schiller nicht die Begriffe Geist und Seele
synonym? Das wäre ihm in einem so prägnanten Gedicht
kaum zuzutrauen. Nicht der Geist an sich, nur
der lebendige Geist kann dem Geist nicht erscheinen.
Das Leben aber spendet die Seele. Sie ist die Fülle des
Lebens selbst, seine unmittelbare Erschlossenheit, ein
Gnadenschatz, der nicht erworben, der als Geschenk aus
wesentlich unbekannter, mit keinem Wort der Sprache
zu nennender Hand empfangen wird. Aus dieser Fülle
des Lebens muß sich nun zwar der denkende Geist erheben
und über alles, was ihm geschenkt ist, seine
scharfe Helle verbreiten, wie Jupiter sich bei Hölderlin
über das dunkle Reich Saturns erhebt. Aber er «schäme
des Dankes sich nicht!» Wenn er sich eigenmächtig
wähnt, wenn dann der strömende Quell versiegt, so
bleibt ihm nichts als das tote Gesetz, ein Entwurf, der
nichts Entworfenes birgt. Alsbald ist er auch dem Betrug
und dem Irrtum ausgesetzt. Schelling sagt: «Es
gibt zwar einen geistreichen, aber keinen seelenvollen
Irrtum»1. Auch da sind die Begriffe Geist und Seele
in unserem Sinne gebraucht. Die Seele kann nicht irren,
weil sie ja selber keine Stellung bezieht, sondern eins ist
mit dem Strom des Geschehens. Der Geist kann irren,
weil er das Wahre vom Fühlen und vom Schauen löst
und in Zeichen, in Wörtern und in der Schrift bewahrt. [230]
In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der
Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand,
den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende
Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt,
warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht.
Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht
auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die
Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich
gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt,
auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne:
jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele
schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten
Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig,
aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus
der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine
Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der
Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen
und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer
Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und
unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten
Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft
nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter
Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und
Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze
ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt
den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von
der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger
gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der
moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch
Schiller in den «Briefen über die ästhetische Erziehung
des Menschen» dasselbe auszusprechen versucht. Die [231]
Polarität von Person und Zustand wird in einer Weise
beschrieben, daß jeder leicht das Verhältnis von dramatisch
und lyrisch darin entdeckt und eine Kantische
Lehre sich phänomenologisch zurechtzulegen vermag.
Wie niemand nur als Zustand oder nur als Person existieren
kann, wie jener dunkel bleibt, diese leer, so kann
kein Mensch nur als Geist oder Seele, männlich oder
weiblich, dramatisch oder lyrisch existieren. Als Geist
erstarrt, als Seele zerrinnt er. Im Dramatischen droht
ihm der Tod des Zerbrechens, das tragische Scheitern
seiner Welt. Im Lyrischen droht ihm Auflösung ─ er
kann sich selber nicht mehr halten. Darüber wußte
Franz Baader Bescheid, der das Fließende und das
Starre als äußerste Zonen bezeichnet, in denen kein Leben
zu gedeihen vermag1. Ein Vorrang des lyrischen
oder dramatischen Seins ist also pathologisch, Brentano
einerseits, der als Dichter und Mensch vor unsern Augen
zerrieselt, Kleist andrerseits, dessen Grausamkeit,
dessen Schärfe und Härte uns erschreckt. Das Epische
finden wir in der Mitte. Das Fließende hat sich soeben
gefestigt, das ständige Selbst entdeckt sich erst. Wir
kennen für dieses «gesunde» Dasein keinen allgemein
üblichen Titel, es sei denn, «Körper», «Körperlichkeit»
(gemäß S. 108), doch nicht im Sinn eines Gegenstandes,
sondern in dem eines Wie-Seins (wie S. 227 u.).


  Solche Tafeln sind aber bedenklich. Wer sie aufstellt,
muß sich darüber klar sein, was sie eigentlich leisten.
Sie teilen das Gemüt des Menschen keineswegs so auf
wie die Namen Kopf, Rumpf und Gliedmaßen die [232]
menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das,
wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem
ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert
und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch


«... wenn wir unterschieden haben,

Dann müssen wir lebendige Gaben

Dem Abgesonderten wieder verleihn

Und uns eines Folge-Lebens erfreun.»1

Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte
auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet
werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein
Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern
Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt
─ wie das griechische Wort χλωρός aus dem Farbenspektrum
ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte
unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.


  Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch ─ episch ─ dramatisch
zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität,
da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen
Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den
Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt,
so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben
Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der
Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den
gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt
ihn fort.


«Hielte diesen frühen Segen

Ach, nur Eine Stunde fest!

Aber vollen Blütenregen
[233]
Schüttelt schon der laue West.

Soll ich mich des Grünen freuen,

Dem ich Schatten erst verdankt?

Bald wird Sturm auch das zerstreuen,

Wenn es falb im Herbst geschwankt.
Willst du nach den Früchten greifen,

Eilig nimm dein Teil davon!

Diese fangen an zu reifen,

Und die andern keimen schon;

Gleich mit jedem Regengusse

Ändert sich dein holdes Tal,

Ach, und in demselben Flusse

Schwimmst du nicht zum zweitenmal.»1

Auch wenn wir je, von außen gesehen, «dasselbe» noch
einmal erinnern sollten, in lyrischer Stimmung gleicht
es sich nicht. Der Jüngling erinnert sich seiner Kindheit
anders als der Mann und der Greis. Es gibt hier keine
Identität.


«Du nun selbst! Was felsenfeste

Sich vor dir hervorgetan,

Mauern siehst du, siehst Paläste

Stets mit andern Augen an.

Weggeschwunden ist die Lippe,

Die im Kusse sonst genas,

Jener Fuß, der an der Klippe

Sich mit Gemsenfreche maß.
Jene Hand, die gern und milde

Sich bewegte, wohlzutun,

Das gegliederte Gebilde,
[234]
Alles ist ein andres nun.

Und was sich an jener Stelle

Nun mit deinem Namen nennt,

Kam herbei wie eine Welle,

Und so eilt's zum Element.»

Die letzte Strophe lautet dann aber:


«Laß den Anfang mit dem Ende

Sich in Eins zusammenziehn!

Schneller als die Gegenstände

Selber dich vorüberfliehn!

Danke, daß die Gunst der Musen

Unvergängliches verheißt,

Den Gehalt in deinem Busen

Und die Form in deinem Geist.»

  Wir würden den «Gehalt im Busen», den Goethe
schon als geprägt annimmt, noch nicht vom Vergänglichen
unterscheiden. In der «Form im Geist» jedoch,
die dem Vergänglichen Dauer verleiht, erkennen wir
das epische Dasein, das die Dinge als solche feststellt
und, sie dem Gedächtnis überliefernd, erklärt: So sind
sie beschaffen! Da schaut sich der Mensch vom Ufer der
Gegenwart aus den Strom des Vergänglichen an. Und
wenn wir die «Form», ein Körperliches, dem Epischen
zugewiesen haben, betrachtet der «Geist» das gestaltete
Leben im Hinblick auf das, worauf es ankommt. Er
stellt die Frage «Worumwillen?». Das heißt: das lyrische
Dasein erinnert, das epische vergegenwärtigt, das
dramatische entwirft. Was mit Erinnern, mit Vergegenwärtigen
und Entwerfen gemeint ist, sollte deutlich [235]
geworden sein. Doch da wir uns jetzt an die immer beirrende
temporale AusIegung wagen, ist keine Erläuterung
überflüssig.


  Der lyrische Dichter, so wurde gesagt (Seite 67),
kann Gegenwärtiges und Vergangenes, ja sogar Künftiges
erinnern. Dagegen kommt jetzt dem Erinnern offenbar
präteritale Bedeutung zu. Doch darin liegt kein
Widerspruch. Wenn wir sagen, der lyrische Dichter sei
befähigt, Gegenwärtiges, Vergangenes und Künftiges
zu erinnern, so nehmen wir die Dimensionen bereits
als vergegenwärtigte Zeit, wie sie uns auch auf dem
Zifferblatt und im Kalender auf noch abzureißenden
Blättern vor Augen steht. Das lyrische Erinnern jedoch
ist Rückkehr in den Mutterschoß in dem Sinn, daß ihm
alles wieder in jenem vergangenen Zustand erscheint,
aus dem wir aufgestanden sind. An sich ist im Erinnern
freilich überhaupt noch keine Zeit. Es geht im Momentanen
auf. Doch vom Standpunkt der Gegenwart aus
gesehen, ist Erinnerung das Vergangene schlechthin.
Daß nicht nur Theorie so spricht, bezeugt das Gefühl:
Ich sinke zurück! das den Erinnernden überkommt,
auch wenn er Künftiges erinnert, wie jener schmerzliche
Lyriker in der «Wiederholung» Kierkegaards1.
Er ist im Sein, das je schon war, bevor eine Gegenwart
aufging, und mit allem, was ihn erfüllt, begibt er
sich in dies frühere Sein zurück, so, daß es ihm nun
das nächste, ja ununterscheidbar eins ist mit ihm selbst,
der sich und jede zeitliche Orientierung darin verloren
hat.

[236]

  Was der Lyriker erinnert, vergegenwärtigt der Epiker.
Das heißt, er hält sich das Leben, wie immer es
auch datiert sei, gegenüber. Ob er vom Sündenfall
Adam und Evas oder vom Jüngsten Gericht erzählt: er
stellt uns alles so vor Augen, als hätte er es mit Augen
gesehen. Wir sagen also nicht, er halte sich auf bei dem,
was jetzt geschieht. Das trifft nur dann zu, wenn er sich
einmal entschließt, seine eigene Zeit zu schildern, wie
Goethe in «Hermann und Dorothea». Wohl aber bildet
er Gegenwart und begründet vergegenwärtigtes
Leben, indem er zeigt, woher es kommt. Seine Kunst
ist am leichtesten zu verstehen, weil sich unser alltägliches
Dasein meist in epischen Bahnen bewegt. Auch
wir vergegenwärtigen uns gemeinhin Vergangenes und
malen uns, vergegenwärtigend, Künftiges aus. Ein solches
Verhalten zum Künftigen aber hat nichts mit dramatischem
Dasein zu tun. Sondern da wäre nun zu
sagen:


  Was der Epiker vergegenwärtigt, entwirft der Dramatiker.
Er lebt so wenig «im» Künftigen wie der Epiker
«in» der Gegenwart. Aber sein Dasein ist gerichtet,
gespannt auf das, worauf es hinaus will. Das, worauf es
hinaus will, worauf es ankommt, faßt er im voraus ins
Auge. In problematischer Dichtung ist ihm von vornherein
klar, worauf es ankommt; in pathetischer sichtet
er noch und sucht im Dunkel nach einem Ziel. Doch
hier wie dort zieht er sich gleichsam in eine vorausgesetzte
Zukunft nach. In solchem Voraussetzen gründet
das Urteil. Beurteilen kann ich nur, sofern ich etwas im
Hinblick auf eine vorausgesetzte Ordnung betrachte.
Der Ausdruck «Hinblick auf ...» faßt alle Möglichkeiten [237]
dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur
leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen.


  Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen
sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des
Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es
anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen
in der «ursprünglichen Zeit». Diese Zeit aber ist
das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden,
das der Mensch, als zeitigendes Wesen, «sein läßt». So
mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers
«Sein und Zeit», das in den Schriften «Vom Wesen
des Grundes», «Kant und das Problem der Metaphysik»,
«Vom Wesen der Wahrheit» und in den Hölderlin-Schriften
zur Reife gediehen ist. Da finden wir
zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise
erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche
Namen für Möglichkeiten des
menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht
mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie
eine Untersuchung über «Dasein und Zeitlichkeit» darauf
verweist. In dem Abschnitt von «Sein und Zeit»,
der diesen Titel trägt, heißt es nämlich:


  «Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen:
entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen
je das Dasein existiert1


  Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials
prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil.


  «Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit
... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist
ein Zurückbringen auf2

[238]

  Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich
dichterisch aus im lyrischen Stil.


  «Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit
die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive
Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen
existentialen Sinn in der Gegenwart1.» «Vergessen»,
«Neugier», beide in ganz bestimmter Bedeutung,
gehören hierher.


  Das Verfallen entspricht dem epischen Stil.


  Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren
zusammen die «Sorge», womit in «Sein und
Zeit» noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet
wird.


  Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre
sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen.
Es wäre vielleicht gar irreführend, da «Sein und Zeit»,
zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist
mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff
des «Verfallens»), die kaum geeignet scheint, unser
Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten.
Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener,
halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl
der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt
ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften
von «Sein und Zeit» sich zunächst im
Geiste der Hölderlin-Studien, des «Wesens der Wahrheit»
anzueignen und dann die Brücke von ontologischer
zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber
die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der
Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst [239]
«auf halbem Weg der Idee begegnet» (Goethe), sieht
sich bald veranlaßt, dieses Geschäft im Stillen zu verrichten,
um nur von dem zu reden, was ihm eigentlich
am Herzen liegt. Die Poetik verliert dabei nichts. Denn
wenn sie, obzwar im ständigen Hinblick auf die Idee
der ursprünglichen Zeit, die drei poetischen Gattungen
aus der Sache selbst zu entwickeln versucht, so muß sie
auch unmittelbar überzeugen, und keine Philosophie
vermöchte «von außen» ein Ergebnis zu sichern, das
nicht empirisch begründet ist. Immerhin fühlen wir
uns bestärkt, wenn die Poetik die Ontologie, die Ontologie
die Poetik bewährt. Wir möchten hoffen, einen
Sektor jener exakten Wissenschaft vom Dasein, welche
die Ontologie verkündet, ausgearbeitet zu haben. Um
so verführerischer ist die Hoffnung, als die Zeit ja keineswegs
erst von Heidegger in den Vordergrund des
philosophischen Denkens gerückt worden ist. Seit der
transzendentalen Ästhetik Kants kommt das Problem
nicht wieder zur Ruhe. Die Philosophie des Idealismus
umkreist es mehr oder minder bewußt. Kierkegaard
und Nietzsche finden sich eigentümlich darauf verwiesen.
Bergson gelingt ein großer Schritt, der wieder jüngere
Forscher, wie Minkowski und Gaston Bachelard2,
zur Ablehnung oder Zustimmung nötigt. Husserls «Vorlesungen
zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins»3
greifen mit phänomenologischer Methodik das
«uralte Kreuz der deskriptiven Psychologie und Erkenntnistheorie»
an. Noch viele Namen wären zu nennen. [240]
Die Frage verzweigt sich mehr und mehr und enthüllt,
indem sie sich ausdehnt, erst den Ernst ihrer Rätselhaftigkeit.
Insbesondere zeigt sich die Schwierigkeit,
der Zeit als «innerem Zeitbewußtsein» oder als «Form
der Anschauung» mit sprachlichen Mitteln beizukommen.
Die drei Begriffe Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
reichen bei weitem nicht aus, da sie offenbar
schon ein eingebürgertes Vorurteil über die Zeit enthalten.
Gegen das Vorurteil, das in der Sprache verankert
ist, müssen Erkenntnisse mühsam durchgesetzt
werden, ein Geschäft, das dem weiteren Publikum von
jeher Mißvergnügen bereitet.


  Noch immer wird aber die Zeit als Phänomen unter
anderen aufgefaßt. Erst Martin Heidegger hat in ihr
das Sein an sich zu vermuten gewagt und widmet dieser
einen Idee seine ganze philosophische Existenz. Sein
Werk ist noch nicht abgeschlossen. Es scheint, als habe
sich ihm selber während der Arbeit an «Sein und Zeit»
ein weiterer Horizont eröffnet, in dem das Erreichte
modifiziert und zu höherer Bedeutung gesteigert wird.
So wäre es kaum zu empfehlen, einzelne Resultate zu
übernehmen oder gar sich ängstlich seiner noch nicht
endgültig fixierten, oft gewaltsamen Sprache anzuschließen.
Wesentlicher als jedes Ergebnis ist die Gewalt
der Frage selbst. Wie seinerzeit die Frage Kants:
«Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?» eine
neue Epoche der Geisteswissenschaften heraufgeführt
hat, so dürfte der Frage nach dem Sein als Zeit geschichtebildende
Kraft innewohnen. Ob sie sich auszuwirken
vermag, darüber entscheidet ein Geschick, dessen
Sinn wir nicht zu ermessen vermögen. Indes ist [241]
heute schon deutlich, daß uns die geistige Überlieferung
im Licht von Heideggers Frage auf neue Weise zu eigen
werden kann. Ausgerichtet auf die Zeit, hellt das
scheinbar Auseinanderstrebende sich einheitlich auf.
Die Geistesgeschichte ist nicht mehr, wie für Schopenhauer,
ein Narrenhaus, wo keiner den andern hören
will und keiner das Wort des andern versteht. Sondern
es stellt sich heraus, daß die Größten im Grunde alle
dasselbe sagen.


  Insbesondere erfährt die «Zwangsvorstellung des
deutschen Idealismus», die Dreizahl und der Dreitakt,
aus der Zeit ihre Legitimation. Wir haben die Dimensionen
oder, wie wir mit Heidegger sagen müßten, die
drei «Extasen» der Zeit in den poetischen Gattungen
dargestellt. Da kann uns nicht entgehen, daß sich die
Dreizahl in der Ästhetik auch in andern Zusammenhängen
aufdrängt. Wir unterscheiden drei Arten des
Lächerlichen, Witz, Komik und Humor. Die Vermutung
liegt nahe, daß Humor das Lyrisch-Lächerliche,
Komik das Episch-, Witz das Dramatisch-Lächerliche
sei. Ähnlich könnte die Dreizahl Musik, bildende Kunst,
Poesie verständlich werden. Hegels und Vischers Ästhetik
ziehen schon ähnliche Parallelen, ohne den wahren
Grund ihrer Möglichkeit, das Walten der reinen Zeit,
zu erfassen.


  Aber hier ist eine Warnung am Platz. Nichts wäre
verderblicher als ein vages Spiel mit temporalen Begriffen.
Gar nichts leistet, wer Resultate einer bestimmten
Untersuchung anderorts leichthin wieder probiert.
Einzig die gründlichste Kenntnis der Sache gibt wissenschaftlicher
Darstellung Wert. Als heuristisches Prinzip [242]
jedoch, dessen kein Forscher entraten kann, er mag
sich noch so frei von jeder Art der Voraussetzung wähnen,
dürfte die temporale Interpretation sich immer
wieder bewähren.


  Aber auch dies ist kein Arcanum, das jedem, der es
besitzt, von vornherein irgendwelche Ergebnisse sichert.
Im Gegenteil! Die Methode kann, wie die Hegelsche
Dialektik, nur schaden, wenn sie sich nicht mit
dem unmittelbaren Gefühl für künstlerische Werte
paart. Wir haben gesehen: der dramatische Geist ist
nichts, wenn ihm die epische Basis und also weiterhin
die unergründliche Tiefe des Lyrischen fehlt. So taugt
auch kein wissenschaftliches Urteil, das gleich aus festen
Begriffen zusammengesetzt ist, statt sich aus dem Dunkel
der Innigkeit langsam abzuklären. Mit andern Worten:
der Fachmann ist eitel und wird jedwede Einsicht
vereiteln, wenn er nicht immer auch Liebhaber bleibt.
Liebe jedoch kann niemand wollen und lernen, am wenigsten
glückliche Liebe, die alles Lebendigen Ursprung
ist.


  Was insbesondere die Wissenschaft von der Dichtung
betrifft, so haben wir die Bedeutung unseres Resultats
sogar noch weiter einzuschränken. Wir sind überzeugt,
den Grund von Lyrik, Epos und Drama entdeckt zu
haben. Die Zufälligkeit der äußeren Erscheinung eines
Gedichts, ob es sich als Erzählung, als Bühnenstück oder
als Epigramm, Ballade, Hymne, Ode darstellt, ließen
wir gänzlich außer acht und suchten uns das Lyrische,
Epische und Dramatische klar zu machen. Waren die
Begriffe richtig, dem Sprachgebrauch gemäß erläutert,
so mußte sich freilich eine Beziehung zu Lyrik, Epos [243]
und Drama ergeben. So fanden wir denn auch den reinsten
lyrischen Stil in Liedern, den reinsten epischen
Stil im homerischen Epos, während die Bühne, für mancherlei
Zwecke geeignet, zunächst als Konsequenz des
dramatischen Stils begreiflich wurde. Vom Standpunkt
der deutschen Sprache aus zeigen sich hier keine ernstlichen
Schwierigkeiten. Wohl gibt es auch deutsche Bühnendichter,
die keinen dramatischen Zug aufweisen.
Doch neben den großen Klassikern der Bühne kommen
sie für die Begriffsbestimmung des Dramas kaum in Betracht.
Ebenso gibt es unzählige deutsche Gedichte, die
gar nicht lyrisch sind. Dennoch bildet das lyrische Lied
die Mitte dessen, was Lyrik heißt. Im Englischen, in
den romanischen Sprachen dagegen sieht alles ganz anders
aus. Der Engländer wird es kaum verstehen, daß
Shakespeare nicht als unzweideutig dramatischer Dichter
gelten soll. Der Italiener denkt, wenn er «lirica»
sagt, an Petrarcas «Canzoniere». Für uns aber ist Petrarcas
Werk kein Prototyp des lyrischen Stils.


  Solche Differenzen sind ärgerlich und können kaum
behoben werden. Indes, genau besehen, liegt hier nur
ein technisches Problem vor, wie es sich immer stellt,
wenn Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen,
miteinander zu reden beginnen. Wenn wir dem Engländer
mitteilen können, was mit den Gattungsbegriffen
gemeint ist, läßt er sich eine Auslegung von Shakespeares
Bühnendichtung mit unseren Kategorien vielleicht
gefallen. Ausgeschlossen wäre es nicht, daß manches
damit erfaßt werden könnte, was bisher unausgesprochen
blieb. Ebensowenig würden wir von vornherein
daran verzweifeln, Calderon oder Lope de Vega [244]
temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der
Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich.



  Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich
schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten
scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann
steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit
temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich
vermutlich zeigen ─ was auch von Hölderlins Ode gilt ─
daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen,
eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem
Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen?
Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so
schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge
auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich
der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der
Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen
verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes
in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen
Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im
Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal
des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier
einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt
und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und
wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches
von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren.
Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken
Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im
Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu
den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische
Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche [245]
Ordnung ist und bald die Stimmung wie von selber
trägt. Außerdem aber gründen die horazischen
Maße gar nicht im «Wesen», im «Geist» oder in der
«Seele» des Dichters. Horaz spielt auf Alkaios, Sappho,
Anakreon, Asklepiades an. Er spielt auf die Griechen
auch an in seinem Satzbau und in seinen Motiven, und
der Reiz seiner Poesie besteht weithin in der artistischen
Freiheit und souveränen Kraft, fremde Gebärden und
Töne wiederzugeben und sich, seelisch unbeteiligt, in
einer Kunstwelt zu bewegen. Wer Horaz auslegen will,
hat darauf sein Augenmerk zu richten. Jede andere Interpretation
muß zu falschen Ergebnissen führen. Ob
dies für den ganzen Horaz oder nur für Teile seines
Werks zutrifft, das brauchen wir hier, wo uns einzig an
einem Beispiel liegt, nicht zu beachten.


  Das Beispiel aber steht für ganze Bereiche einer Poesie,
die der deutsche, an Goethe gebildete Literarhistoriker
leicht übersieht, oder, wenn er sie sieht, nicht
zu schätzen weiß, die im weltliterarischen Rahmen jedoch,
zumal bei den romanischen Völkern, einen so
hohen Rang einnimmt und geschichtlich so viel bedeutet,
daß jeder, der sie mißachtet, nur die engen Grenzen
seiner Bildung, seiner literarischen Einsicht verrät.
Und ist diese Dichtung denn immer so klar von einer
«ursprünglichen» geschieden? Ich brauche nur Mörike
oder Goethes «Westöstlichen Divan» zu nennen, um in
Erinnerung zu rufen, wie oft, sogar in der Goethezeit,
der Anklang, artistisches Spiel, am Wesen und Wert
einer Dichtung beteiligt ist. Solche Züge zu erfassen,
ist die Fundamentalpoetik kein geeignetes Instrument.
Denn da sie die Dichtung in der reinen Zeit als dem [246]
Sein des Menschen verankert, genügt sie unmittelbar
nur Werken, die aus dem Grunde dieses originalen
Seins erschaffen sind. Unmittelbar! So müssen wir sagen.
Denn mittelbar läßt sich wohl auch von hier aus
ein Zugang zum rein Kunstmäßigen finden. Dazu jedoch
bedarf es eines zarten geschichtlichen Instinkts,
eines Sinnes für künstlerische Nuancen, den systematische
Forschung zwar zu leiten, doch nie zu wecken
vermag. Abermals also sei betont, daß die Fundamentalpoetik
nur die historische Forschung vorbereitet, ja,
daß sie sogar als Propädeutik immer lückenhaft bleiben
muß.


  Und noch ein Letztes füge ich bei. Soeben fiel der
Ausdruck «Wert». Vom Wert einer Dichtung aber war
bis jetzt ausdrücklich nie die Rede. Eine Poetik, wie sie
hier vorliegt, kann keine ästhetische Wertung begründen.
Man mag dies, je nachdem, als empfindlichen
Nachteil oder als Vorzug buchen. Ein Vorzug ist es, wenn
jede Wertung nur von einer bestimmten historischen
Situation aus möglich ist, ein Nachteil, wenn es, wie
wir zu glauben gezwungen sind, eine absolute Rangordnung
von Werten gibt. Was wir glauben und was
die wissenschaftliche Forschung verantworten kann,
vermöchte ich heute noch nicht zu vereinen. So bleibe
diese Frage offen.

[E247][E248]

Appendix A INHALT


  • Einleitung7
  • Lyrischer Stil: Erinnerung13
  • Epischer Stil: Vorstellung89
  • Dramatischer Stil: Spannung155
  • Vom Grund der poetischen Gattungsbegriffe219
[E249][E250][E251][E252]
Notes
1.

an Goethe 26. Dezember 1797.
2.

Logische Untersuchungen, 4. Aufl. Halle 1928, Bd. II, 1, S. 91 ff.
1.

Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Beihefte zur Zeitschrift
für romanische Philologie 1940.
1.

In «Blätter und Steine», Hamburg 1934.
1.

18. Januar 1825.
1.

Ästhetik, 2. Aufl. München 1923, Bd. VI, S. 208.
1.

Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Stuttgart 1928, Bd. XIV, S. 161.
2.

Deutsche Versgeschichte, Bd. I, Berlin und Leipzig 1925, S. 17 ff.
1.

Vgl. aber schon hier die ganz anderen Wiederholungen im pathetischen
Stil, Beispiele S. 160.
2.

An Schiller, 18. August 1795.
1.

Briefwechsel vom 23. und 26. Dezember 1797.
1.

Paul Valéry, Eupalinos, Paris 1924, S. 126.
1.

Schillers Werke, vollständige historisch-kritische Ausgabe, Leipzig
1910, Bd. XVII, S. 402.
1.

Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f.
1.

Zu F. O. Müller, 4. November 1823.
1.

Vgl. dazu Schiller a. a. O. Bd. XVIII, S. 51.
1.

Fr. Th. Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Aufl.
München 1922─23, Bd. VI, S. 197.
2.

a. a. O. Bd. V, S. 10.
1.

Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt
am Main 1941, S. 17─36.
1.

Hg. von W. Brecht, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1930.
1.

Gesammelte Werke, Bd. III, 2. Teil, Berlin 1934, S. 236.
1.

a. a. O. Bd. VI, S. 204.
1.

Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis
menschlichen Daseins, Zürich 1942.
1.

Vgl. dazu insbesondere auch die Seite 57 zitierten Worte Herders.
1.

Eintrag im Gästebuch der Berner Freistudenten.
1.

a. a. O. Bd. VI, S. 129.
1.

Sämtliche Werke, herausgegeben von B. Suphan, 5. Bd., Berlin 1891,
S. 34 f.
1.

Vgl. dazu: Lachende Wahrheiten, Zürich 1945, S. 232 ff.
1.

Gesammelte Werke Bd. IV, Zürich 1945, S. 366 f.
1.

Georg Finsler, Homer, 2 Bde, Leipzig 1913 und 1918.
1.

Lessing sagt fälschlich Lesbia; er verwechselt die Geliebte Ovids
mit derjenigen Catulls.
2.

Hugo Blümner, Lessings Laokoon, 2. Aufl. 1880, S. 444.
1.

a. a. O. S. 603.
1.

Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung,
München 1945.
1.

An Goethe, 21. April 1797.
1.
1.

Th. v. Scheffer: Homer, Ilias, Berlin 1920.
1.

Vgl. W. Schadewaldt, Iliasstudien, Abh. der sächs. Akad. der Wiss.,
phil.-hist. Klasse, 1938; Renata von Scheliha, Patroklos, Basel 1943.
2.

Kant: Kritik der Urteilskraft, Inselausgabe 1924, S. 260 ff.
1.

a. a. O. Bd. I, S. 315.
2.

Vgl. dazu jetzt Ernst Howald, Der Dichter der Ilias, Erlenbach 1946.
1.

Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe Bd. XIV, Stuttgart 1928, S.
333.
1.

Vgl. Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung,
München 1936.
1.

Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 5. Aufl. Berlin 1934,
21 B 11 (I, 132,2).
2.

a. a. O. 21 B 15 (I, 132, 19).
3.

a. a. O. 21 A 28 (I, 117).
1.

Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943,
S. 23─24.
2.

De finibus bonorum et malorum III, 10.
1.

Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und Fr. Muncker,
7. Bd., Stuttgart 1891, S. 470.
1.

An Goethe, 15. April 1797.
1.

Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943,
S. 82 ff.
1.

An Goethe, 2. Oktober 1797.
2.

Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797.
1.

Vgl. Vom Wesen des Grundes, 2. Aufl. 1931. In «Sein und Zeit»
ist der Weltbegriff noch nicht eindeutig bestimmt.
2.

Vgl. E. Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, Trivium,
Jahrg. III, 1945, S. 189 ff.
1.

Vgl. dazu: Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von
Sprachgeschichte und Geistesgeschichte, Zürich 1945, S. 35 ff.
1.

Vgl. den «Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden».
2.

Goethe zu Falk um 1809.
1.

An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801.
1.

Hölderlin: «Der Einzige».
2.

Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S. 280 ff.
1.

An Schiller, 9. Dezember 1797.
1.

Vgl. zum Folgenden: Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft
des Dichters, Zürich, 1939, S. 173 ff.
1.

Inselausgabe, Leipzig 1924, Bd. VI, S. 213.
1.

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 4. Aufl. Leipzig 1925.
2.

Über das Erhabene und das Komische, Stuttgart 1837, S. 158.
1.

Sämtliche Werke, hg. von O. Weiß, Leipzig 1919, Bd. II, S. 120.
1.

Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.
1.

Schelling, Werke, hg. von Manfred Schröter, IV. Hauptband, München
1927, S. 361.
1.

Franz Baader, Sämtliche Werke, Leipzig 1851─60. III, 269 ff.
1.

Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283.
1.

Goethe a. a. O. XIV, S. 490.
1.

Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. III, 2. Aufl. Jena 1909,
S. 122 ff.
1.

a. a. O. S. 336.
2.

a. a. O. S. 340.
1.

a. a. O. S. 346.
2.

G. Bachelard: La dialectique de la durée, Paris 1936.
3.

Hg. von M. Heidegger, Halle a. d. S. 1928.

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2016). ePoetics_Staiger. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7BB-4