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[123r]
Hochwohlgeborner Herr Freiherr
Hochgebietender Herr Geheimer Staatsminister.
Gnädiger Herr

Als ich im verflossenen Herbste mich den Viele[n]
anschloß, welche ein schöner und großartiger Zweck
aus allen Provinzen der Naturwissenschaften
in Berlin versammelte, war ich von freudiger
Hoffnung bewegt, Euer Excellenz nach einem
langen Zeitraum stiller Thätigkeit wiedersehen
zu dürfen, an einem Orte, der so überaus reich
für mich ist, an theuren Erinnerungen, der
mir insbesondere durch Euer Excellenz gnädige
und huldvolle Theilnahme an einem noch jug[end-]
lichen Aufstreben so sehr wichtig geworden ist.
Daß mir dieß so sicher gehoffte Glück nicht
zu Theil werden konnte, hat mich zwar sehr
betrübt; aber jeder Wunsch und Verlangen
[123v]anderer Art war ja damals durch die Sorge für
Euer Excellenz theures Wohlsein beschwichtigt.
Wie unendlich beruhigt war ich daher und wie
sicher, als ich durch Herrn Geheimenrath von Rehfues
persönlich die erfreuliche Nachricht erfuhr, wie so
sehr befriedigend Euer Excellenz Wohlseyn sei und
wie fest unsere Hoffnungen und Wünsche seyn dürfen.
Ein wahrhaft inniges Bedürfniß war es mir
seither geworden, Euer Excellenz zu einer glücklichen
Rückkehr, mein zwar demüthig aber doch freudig
glückwünschend Gelöbniß darzubringen; ich
war hieran nur durch den Wunsch aufgehalten,
Hochdenselben zugleich den zweiten Jahrgang
des Schwedischen Jahresberichtes überreichen zu
dürfen, den ich derselben gnädigen und nachsichts-
vollen Beurtheilung empfehlen möchte, welche
Euer Excellenz der Erscheinung des ersten Bandes
haben angedeihen lassen. Ich beabsichtige die
Übersetzung des Schwedischen Jahresberichtes über die
Fortschritte der Wissenschaften noch eine Zeit lang
fortzusetzen, bis ich einmal mit mehr Musse
im Stande seyn werde, einen selbstständigen
und noch mehr übersichtlichen räsonirenden Bericht
zu liefern, wozu mir die bei der Bibliothek
der (K.)Kaiserlich Leopoldinischen Academie der Naturforscher
einlaufenden naturwissenschaftlichen seltenen
und kostbaren Werke besondere Gelegenheit geben.

[124r]

Die Tage in Berlin haben einen sehr heitern,
frischen und unauslöschlichen Eindruck in mir
hinterlassen; und wie wenig vielleicht überall
entschiedene Resultate des Ganzen zum Bewußt-
seyn gekommen seyn mögen, so viel Erfreulich[es]
und Schönes ist sicher im Einzelnen bis auf
lange Nachwirkungen gewonnen worden.

Unter den allgemeinern Wirkungen schien mir
besonders bedeutsam, und erhebend, die [Representation]
und Zusammenwirkung aller Zweige der Natur-
wissenschaften, ein Zusammenhang, in dem sich
so selten der Einzelne bei der Zersplitterung der
Wissenschaften fühlt und besonders wieder erfreuli[ch]
die Erscheinung der Medicin in einer so ehrenvollen
und erhebenden Gemeinschaft, was auf die Bear[-]
beitung und den Geist derselben nicht ohne heilsa[me]
Folgen seyn kann. Und sollte der Erfolg nicht
schon groß seyn, wenn Jeder auch nur einen
so allgemeinen Eindruck von jener allerdings groß[-]
artigen Erscheinung mitgenommen.

In tiefster Dankbarkeit erkenne ich die Unterstütz[ung]
des Hohen Ministerii zu einer Reise, die ich auch
in andern Beziehungen so ersprießlich, wie im[mer]
zu machen suchte.

Ich war so glücklich, abermals, während eines ganz[en]
Monates unausgesetzt die öffentlichen Sammlung[en]
für besondere wissenschaftliche Zwecke zu benutzen.
Mit einer grossen durch alle Thierclassen ausgedeh[n]ten
anatomischen Arbeit über den innern Bau der
Drüsen
[124v]beschäfftigt, hatte ich jeden kostbaren Augenblick zu
benutzen, um tausend Fragen, die ich nirgend
sonst lösen konnte, durch eigene Untersuchung
zu beantworten. Gern hätte ich meine Zeichnungen,
worüber ich in der Specialsection der Zoologen, Ana-
tomen und Physiologen einen summarischen Vortrag hielt,1
Euer Excellenz demnächst vorlegen mögen, um
Hochderselben gnädige Aufmerksamkeit und Theil-
nahme einem Gegenstand zuwenden zu dürfen,
der seit mehreren Jahren, seit der Erscheinung
meiner physiologischen Arbeiten über die Sinne,
mich in der Stille unablässig beschäfftigt, jetzt
aber ans Licht treten darf, und die Aufgabe hat,
das tiefe Dunkel, welches den complicirten innern
Bau der drüsigen Organe im Menschen und in
den Thieren befangen hält, durch eine vollständige
innere Anatomie derselben aufzuhellen, und
auch hier wieder die unendliche Mannigfaltigkeit
der Gestaltung bei einem unveränderlichen Typus
zur Anschauung zu bringen. Doch hoffe ich bald
Euer Excellenz hierüber öffentlich Rechenschaft
geben zu können; denn die Zeichnungen zu
19 Tafeln sind in den Händen der Kupferstecher
und zum kleinen Theil vollendet.

Höchst dankbar muß ich auch der Unterstützung
gedenken, welche der Vorsteher des anatomischen
Musei mit einer unbegrenzten Liberalität mir
[125r]hat angedeihen lassen. Wie glücklich bin
ich dadurch, wenn ich hier am Ort bei der
Befriedigung meiner wissenschaftlichen Bedürfniss[e]
so manche eifersüchtige Hemmung erfahren
muss. Von der Bentzung eines ungeheuren
Museums rückkehrend, musste ich, kaum
nach Hause zurückgekehrt, die ganze Enge
des heimischen Verhältnisses fühlen; worüber
ich genöthigt worden, in einer besondern unter-
thänigen Vorstellung bescheiden Beschwerde zu
führen. Nachdem meine Wirksamkeit auf
hiesiger Universität bei einer sonst beschränkten
und sehr abhängigen äussern Stellung sich auf
eine für mich sehr befriedigende Weise immer
mehr ausgedehnt, erfahre ich hierin zum erstenma[l]
ein directes Hinderniß derselben. Möge diese
Angelegenheit, in der ich nur das Billigste anzuspre[chen]
mich unterfange, Euer Excellenz gnädige Fürsorge
erregen, der ich in tiefer Demuth und Unter-
würfigkeit vertraue, und die ein der Wissenscha[ft]
ausschliesslich gewidmetes Leben segenvoll und
huldreich seit so langer Zeit begleiet, ja selbst
entwickelt hat. Denn tief anregend und
ermunternd, ja fast nöthig und unentbe[hrlich]
zu dem heitern Verfolg strebender Thätigkeit
[125v]ist mir das Gefühl und die Befriedigung
geworden, die in dieser heiligen Ver-
pflichtung wurzeln.

Ich verharre
in tiefster Hochachtung und ehrfurchtsvoller
treuer und innigst ergebener Gesinnung
Euer Excellenz
ganz gehorsamer
Dr. Joh. Müller
Prof. (med.)medicinae (extraord.)extraordniarius
hielt,]
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 5. Dezember 1828. Johannes Müller an Altenstein. Z_1828-12-05_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-468B-6