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IX.)
Belehrendes Thema.
Das Recht des Menschen über die Thiere.

[39r]

Die Vernunft gebietet dem vernünftigen
Wesen, daß es seine Gesinnungen und Hand-
lungen nach den Gesetzen der Vernunft be-
stimme, daß sie in Allem seine Richtschnur
sey. - In Absicht auf alle uns1 Geschöpfe
und Wesen, läßt sich dieses Gebot auch
also aussprechen: Erkenne
[39v]und achte die Vernunft in den vernünftigen
Wesen! oder:

Erkenne und achte die vernunftgemäßen
Zwecke der vernünftigen Wesen. -

Daraus geht nun wieder zweierley hervor:

1.) Daß wir nicht hindern, sondern fördern
sollen die Zwecke Gottes, als des höchsten
vernünftigen Wesens, mit allen Geschöpfen!

2.) Daß wir nicht hindern, sondern fördern
sollen die vernunftgemäßen Zwecke der
vernünftigen Wesen.

Folgerungen aus dem vorhergehenden:

I Der Mensch hat keine Pflichten gegen das
Thier.

Nun können wir aber die vernunftgemäßen
selbstständigen Zwecke der Thiere weder achten
noch fördern, weil sie der Vernunft ermangeln,
und also auch keine selbstständigen vernünftigen
Zwecke haben können. Wir sind daher
nicht verbunden,2 in Betreff des Gebotes 2.)
nicht moralisch verbunden, die Thiere in ihrer
Freyheit nicht zu hindern, in so fern uns
[40r]nicht das Gebot 1.) verpflichtet, die Zwecke
Gottes mit den Thieren nicht zu hindern.

Wir können demnach folgendes setzen:

Der Mensch hat keine Pflichten gegen das Thier,
der Mensch hat Pflichten gegen Gott, in Ab-
sicht auf das Thier. -

II Der Mensch hat ein Recht auf das Thier.

Wenn a eine Pflicht gegen b hat, hat b ein
Recht auf a, wenn a keine Pflicht gegen b
hat, hat b kein Recht, von b etwas zu fodern.
Wenn daher dem Menschen keine Pflichten gegen
das Thier obliegen, so kann auch an ihn nicht
die Anfoderung geschehen, daß er sich des
Thieres nicht nach seinem Willen {gebrauche}.

Der Mensch hat also ein Recht auf die
Thiere, in so fern er nicht durch die Aus-
übung desselben, die Zwecke Gottes mit den
Thieren verletzt[.]

Nun können die Zwecke Gottes mit den Thieren
doch nicht ihre geistige Bildung und Entwicke-
lung seyn, sonst würde er ihnen Vernunft
[40v]und Vervollkommnungskräfte gegeben haben.
Aber Gott gab ihnen ein Trieb nach Glückse-
lichkeit und Lust; und3 wir wären also verpflichtet
dem Trieb4 gegen Gott, dem Triebe seiner Geschöpfe
nach Wohlseyn nicht hinderlich zu seyn. Nun
gab uns aber5 Gott auch den Trieb nach Glückse-
ligkeit und zwar nicht umsonst. Unsere Glück-
seligkeit ist also auch ein Zweck Gottes. -

Da nun die Glückseligkeit des vernünftigen
Wesens, und Selbstzweckes, der Lust des
vernunftigvernunftlosen6 Geschöpfes, also eines Mittels
vorangeht, so steht uns offenbar auch in
Betreff des Gebotes 1.) das Recht zu, uns
der Thiere nach unserm eigenen Willen zu
bedienen, wenn sie unserer Glückseligkeit
hinderlich sind, oder wenn wir durch den
Gebrauch derselben unsere Glückseligkeit
befördern, - und es läßt sich daraus, daß
Gott den Thieren keine Vernunft gab, folgern,
daß er sie zu Mitteln für unsere vernunft-
gemäßen Zwecke best7 mittelbar oder
unmittelbar bestimmt habe. -

uns]
nicht verbunden,]
und]
dem Trieb]
aber]
vernunftigvernunftlosen]
best]
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. [vor] 1. August 1818. Johannes Müller: Recht der Menschen. Z_1818-07-31_z.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-4C29-F