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[6r]

Euer Excellenz

erfreuliches Geschenk, das Sie dem Publikum mit
einem neuen naturwissenschaftlichen Heffte, und mir über-
dem mit einem Exemplare desselben und einem so güti-
gen Schreiben gemacht haben, noch einmal recht durch zu
geniessen und diß Geschenk mit einigen meiner zufälligen
Gedanken zu erwiedern, - um hiedurch wenigstens das Inter-
esse zu beurkunden, das ich daran genommen - diß alles hatte
ich mir auf die freyen Feyertage vorbehalten gehabt; ich
glaubte damals gegen Euer Excellenz die Bezeigung meines
Danks wohl bis dahin anstehen lassen zu dürfen, indem
ich Sie für überzeugt glauben konnte, wie werth mir
Ihr gütiges Andenken, diese neue Bereicherung meiner Ein-
sichten, und wie erfrischend mir die sonstigen ernstheitern
{Aüsserungen} Ihres Genius sein würden. In jenen Ferien
ist es mir jedoch nicht sowohl geworden, und ich kann es nun-
mehr nicht länger anstehen lassen, ein Zeichen meiner Er-
kenntlichkeit von mir zu geben.

Unter dem so reichen Inhalte des Hefftes habe ich aber vor
allem Euer Excellenz für das Verständniß zu danken, wel-
ches Sie uns über die entoptischen Farben haben aufschließen
[6v]wollen; der Gang, und die Abrundung

wie der Inhalt haben meine höchste Befriedigung und
Anerkennung erwecken müßen. Der so vielfachen Apparate,
Machinationen und Versuche über diesen Gegenstand unerachtet,
oder vielmehr wohl gar um derselben willen selbst, - ja sogar
trotz Gevatterschaft und Vaterschaft, hatten wir von den
ersten Malusschen und den fernern hieraus hervorgegange-
nen Erscheinungen,nichts verstanden; bey mir wenigstens
aber geht das Verstehen über Alles, und das Interesse des tro-
cknen Phänomens ist für mich weiter nichts, als eine er-
weckte Begierde, es zu verstehen.

Um die so eben genannte Gevatterschaft, - da Euer Excellenz
sich noch einer Erwähnung, die ich von Beyhilfe zu ein paar
Buchstaben vormals an Sie getan, haben erinnern wollen,
- gleich von vorn herein abzuthun, so wissen Euer Excellenz
ohnehin, wie wenig mehr in unsern Zeiten die Gevatterschaft
bei einem Kinde auf sich hat; alsdenn aber nöthigt mich doch
jene Erinnerung mich auf die ausdrückliche Erklärung einzu-
lassen, daß es bey jener meiner Erwähnung einer Bey-
hilfe, nicht auf eine Ehre oder gar ein stilles Verdienst mei-
nerseits, angesehen seyn, sondern diese Erwähnung lediglich
gleichsam eine Parabel vorstellen sollte, als bey welcher
bekanntlich die gebrauchte Begebenheit nicht einen ge-
[7r]schichtlichen Werth für sich haben, sondern ganz allein eine all-
gemeine Vorkommenheit, - das Fabula docet - bedeuten soll;
und zwar so daß jener einzelne gebrauchte Fall völlig gering-
fügig seyn, und vollends, wenn die allgemeine Lehre auf einen
andern Fall gedeutet wird, es geschehen kann, daß er gegen diesen
in ganz u. gar keine Vergleichung des Gehalts kommt und an
ihn selbst nicht mehr gedacht werden darf. So wie nun von Licht
und Farbe die Rede wird, so liegt es nah, den geringfügigen Um-
stand etwa eines Beytrags zu einem Buchstaben oder Komma
doch darum aufnehmenaufzunehmen1, weil er von weitem parabolisch an die
häuffige Vorkommenheit erinnert, daß solche, die was sie haben und
wissen, wobey es sich nicht um einen oder den andern Buchstaben, son-
dern um Alles handelt, ganz allein von Euer Excellenz profitiert
haben und nun thun, als ob sie aus eignen Schachten es gehohlt,
und wenn sie etwa auf ein weiteres Detail stoßen, hier sogleich,
wie wenig sie das Empfangene auch nur sich zu eigen gemacht,
dadurch beweisen, daß sie solches etwaige Weitere nicht zum Ver-
ständniß aus jenen Grundlagen zu bringen vermögen, und
es Euer Excellenz lediglich anheimstellen müßen, den Klumpen
zur Gestalt heraus zu lecken, und durch solche wahrhafte Ge-
vatterschaft ihm erst einen geistigen Othem in die Nase zu blasen.
[7v]Dieser geistige Othem - und von ihm ist es, daß ich eigentlich sprechen
wollte, und der eigentlich allein des Besprechens werth ist, -
ist es, der mich in der Darstellung Euer Excellenz von den Phäno-
menen der entoptischen Farben höchlich hat erfreuen müssen.
Das Einfache und Abstrakte, was Sie sehr treffend das Urphä-
nomen nennen, stellen Sie an die Spitze, zeigen dann die concre-
tern Erscheinungen auf, als entstehend durch das Hinzukommen
weiterer Einwirkungsweisen und Umstände, und regieren den
ganzen Verlauff so, daß die Reihenfolge von den einfachen
Bedingungen zu den zusammengesetztern fortschreitet, und, so
rangirt, das Verwickelte nun, durch diese Decomposition, in
seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen auszuspüren,
es von den andern, ihm selbst zufälligen Umgebungen
zu befreyen, - es abstract, wie wir diß heißen, aufzufassen,
diß halte ich für eine Sache des grossen geistigen Natur-
sinns, so wie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wis-
senschaftliche der Erkenntniß in diesem Felde. Newton, und die
ganze Physikerschaft ihm nach, sehe ich dagegen irgend eine zusammen-
gesetzte Erscheinung ergreiffen und sich in ihr festrennen, und so
den Gaul beym Schwanze aufzäumen, um mich des Ausdrucks
[8r]zu bedienen; es ist ihnen hiebey geschehen, daß sie die dem Ur-
stande der Sache gleichgültigen Umstände, - selbst wenn diese
nichts anders wären, als daß ihnen beym Aufzäumen des Schwan-
zes ein Unglück passirt wäre, - für die Bedingungen der-
selben ausgeben, und sie nun in Alles +++2, was vor und
{rückwarts} liegt, hineinschustern, zwängen und lügen. An einem
Ur lassen sie es dabey nicht fehlen; sie bringen ein metaphy-
sisches Abstractum herbey, - als erschaffne Geister erschaffen
sie den Erscheinungen ein erschaffenes, ihrer selbst3 würdiges Inneres
hinein, und sind in diesem Centro der4 über die Weisheit und
Herrlichkeit ebenso erfreute, ebenso ernsthafte Arbeiter,
als die Freymaurer im Tempel Salomonis.

Bey dem Urphänomen fällt mir die Erzählung ein, die
Euer Excellenz der Farbenlehre hinzufügen, - von der Begeg-
niß nämlich, wie Sie mit Büttners schon die Treppe hinabei-
lenden Prismen noch die weisse Wand angesehen und
nichts gesehen haben, als die weiße Wand; diese Erzählung
hat mir den Eingang in die Farbenlehre sehr erleichtert,
und so oft ich mit der ganzen Materie zu thun bekomme,
sehe ich das Urphänomen vor mir, Euer Excellenz mit Bütt-
[8v]ners
Prismen die weisse Wand betrachten, und nichts sehen, als weiß.

Darf ich Euer Excellenz aber nun auch noch von dem besondern
Interesse sprechen, welches ein so herausgehobenes Urphänomen
für uns Philosophen hat, daß wir nemlich ein solches Präparat,
- mit Euer Excellenz Erlaubniß, - geradezu in den philosophischen
Nutzen verwenden können! - Haben wir nemlich endlich unser zunächst
austernhaftes, graues oder ganz schwarzes, Abs5- wie Sie wollen -
Absolutes, doch gegen Luft und Licht hingearbeitet, daß es desselben
begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen, um es vol-
lends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen
würden zu Dunst zverschweben6, wenn wir sie so geradezu in
die bunte, verworrene Gesellschaft der widerhältigen Welt
versetzen wollten. Hier kommen uns nun Euer Excellenz Ur-
phänomene vortrefflich zu Statten; in diesem Zwielichte, geistig
und begreifflich durch seine Einfachheit, sichtlich oder greiflich
durch seine Sinnlichkeit, - begrüßen sich die beyden Welten - unser
Abstruses, und das erscheinende Daseyn, einander. So präpariren
uns nun Euer Excellenz auch die Gesteine und selbst etwas vom
Metallischen zum Granit hin, den wir an seiner Dreyeinigkeit
leicht packen und zu uns hereinhohlen können, - wohl leichter als sich
seine {viele}, etwas aus der Art {geschlagene}, Kinder in seinen Schoos
zurückbringen lassen mögen7. Längst haben wir es dankbar zu erkennen
gehabt, daß Sie das Pflanzenwesen seiner und unserer Ein-
fachheit vindicirt haben. Knochen, Wolken, kurz Alles
[9r]führen Sie uns näher herbey. - Wenn ich nun wohl auch finde,
daß Euer Excellenz das Gebiete eines Unerforschlichen und Unbe-
greifflichen ungefähr eben dahin verlegen, wo wir hausen - (+++8
( - mit Nose, der übrigens dergleichen hohe Materien doch nicht
bloß, wie ich aus S. 221 sehe, daß er gethan, in Anhängen zur
Basalt-Genese
hätte sollen abthun wollen - ) - eben dahin,
von wo heraus wir Ihre Ansichten und Urphänomene recht-
fertigen, begreiffen, - ja wie man es heißt, beweisen, dedu-
ciren, construiren u. s. f. wollen, so weiß ich zugleich, daß Euer
Excellenz, wenn Sie uns eben keinen Dank dafür wissen können,
ja Ihre Ansichten, selbst das Stichelwort: Naturphilosophisch, dadurch
ankriegen könnten, uns doch9 doch toleranterweise mit dem Ihrigen
so nach unserer unschuldigen Art gebahren laßen; - es ist doch
immer noch nicht das Schlimmste was Ihnen widerfahren ist, und ich
kann mich darauf verlassen, daß Euer Excellenz die Art
der Menschen-Natur, daß wo einer etwas tüchtiges gemacht,
die andern herbeyrennen, und dabey auch etwas von dem ihrigen
wollen gethan haben zu gut kennen10. - Ohnehin aber haben wir Philosophen
bereits einen mit Euer Excellenz gemeinschaftlichen Feind
- nemlich an der Metaphysik. Schon Newton selbst hat die gros-
se Warnungstafel angeschlagen: Physik! hüte dich vor Me-
taphysik! Das {Unglük} aber ist, daß indem er diß Evangeli-
um seinen Freunden vermacht, und diese es treulich verkündet
[9v]und verkünden, er und sie damit nichts anderes geleistet haben, als nur
die unzählbare Wiederhohlung des Zustands jenes Engländers zu geben,
der nicht wußte, daß er sein ganzes Leben hindurch Prosa gesprochen.
Dieser kam am Ende doch zu dieser Einsicht; jene sind aber dermalen
noch nicht so weit zu wissen, daß sie Metaphysik - noch viel weni-
ger zu wissen, daß sie verdammt schlechte Metaphysik sprechen.
Ich lasse es aber, von dem R++der Noth11, den Physikern diese ihre Metaphy-
sik zu ruiniren, noch etwas zu sagen. Ich muß noch auf eine der Be-
lehrungen Euer Excellenz zurückkommen, indem ich mich nicht ent-
halten kann, Ihnen noch meine herzliche Freude und Anerkennung
über die Ansicht, die Sie über die Natur der doppelt refrangierenden
Körper gegeben haben, [auszusprechen]1; - dieses Gegenbild von derselben Sache, ein-
mal als durch äusserliche mechanische Mittel dargestellt, - das
anderemal als12 eine innere Damastweberey der Natur, - ist mei-
ner Meinung nach, gewiß einer der schönsten Griffe, die gethan
werden konnten.

Diese Damastweberey, vor der Hand von Hellung und Dunklung, muß
noch weiter führen; das Lebendige im Schönen ist zugleich die Frucht-
barkeit, die es besitzt.

Weil es aber bey allen Dingen etwas zu bedauern gibt, so hätte
ich allerdings diß zu beklagen, daß ich die belehrende Reihe der
Phänomene nicht mit leiblichen Augen, am liebsten freylich
unter der Leitung Euer Excellenz, habe durchlauffen können.
Doch dürfte ich mir vielleicht in Jahr u. Tagen noch diese Vergün-
stigung versprechen, und diese Hoffnung selbst vertilgt jenes Bedau-
ern; und, um die Geduld Euer Excellenz nicht noch durch längeres Plau-
dern in Anspruch zu nehmen, erlaube ich mir nur noch meinen ver-
gnüglichen Dank für Derselben gütiges Andenken und die erlangten
reichhaltigen Belehrungen zu wiederhohlen.

Prof. Hegel
Notes
1
So ergänzt Goethe in seiner auszugsweisen Wiedergabe des Briefes; vgl. Goethe_1822a, S. 294.
aufnehmenaufzunehmen]
+++]
selbst]
der]
Abs]
zverschweben]
mögen]
(+++]
doch]
zu gut kennen]
dem R++der Noth]
als]
CC-BY-NC-SA-4.0

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 24. Februar 1821. Hegel an Goethe. Z_1821-02-24_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000F-5226-A