Konrad Alberti
Im Suff

Naturalistische Spital-Katastrophe in zwei Vorgängen und einem Nachgang

Die Liebe und der Suff,

Das reibt den Menschen uff.

Personen

[244] Handelnde Menschen

    • Dr. med. August Krawutschke, dirigierender Arzt der Irrenstation der Charité, 36 J. alt

    • Lude, Millionärssohn, 28 J.
    • Bulle, Schlächtergeselle, 34 1/2 J.
    • Angler, Annoncensammler, 31 J.
    • Mieze, genannt Fuselsusel, 46 J., Deliranten

    • Abramsen, Hauptmann der Deliranten, 35 J.

    • Morphy, ein verrückt gewordener Student, 23 J.

    • Lehmann, Krankenhausaufseher, 50 J.

    • Helene, seine Tochter, 17 J. Die Familienähnlichkeit beider ist eine frappante.

    • Henriette Marschall, Aufseherin, 40 J.

Der Schauplatz

      aller beiden Vorgänge ist ein Vorgang – der einzige im Stück –, ein Vorgang in demjenigen Flügel der Charité, welcher die Irrenstation enthält. Dieser Vorgang, eingeschlossen von weiß getünchten kahlen Ziegelwänden, nimmt das vordere Drittel der Bühne ein und verengen sich zu dem eigentlichen Gange, indem die Wände im stumpfen Winkel herumspringen. Hinten wird der Schauplatz ebenfalls durch eine kahle, weiß getünchte Ziegelwand geschlossen. Eine Tür ganz vorn links führt, wie eine große Aufschrift in schwarzen Buchstaben darüber zeigt, zum Ärztezimmer. Über der Tür ganz vorn rechts steht in ebensolchen Buchstaben Ausgang nach dem Garten. Weiter zurück führt rechts und links je eine Tür durch die stumpfwinklig vorspringende Wand. Über der Tür links steht Männliche Deliranten. Es muß streng darauf geachtet werden, daß diese Buchstaben genau einen halben Zentimeter höher sind als die obigen. Über der Tür rechts steht in ebenso großen Buchstaben Weibliche Deliranten. Bei dem ›r‹ ist dem Maler das Lineal ausgeglitten, ein feiner schwarzer Klecks zieht sich von dem Grundstrich nach unten. Die Mitteltür hinten führt die Aufschrift Gebärsaal. An einzelnen Stellen der Wände ist der Kalkverputz von den Ziegeln gefallen, an der linken Querwand ist in groben Strichen mit Kohle ein Phallus gezeichnet, daneben ebenso, doch von anderer Hand, eine Schnapspulle, aber fast leer. An der rechten Ziegelwand steht mit dünnen, zittrigen Kohlenstrichen in ungeübter Hand unorthographisch geschrieben Die Fuselsusel is en altes Fergel. In der Mitte der Bühne hängt von der Decke herab ein Gasarm, je einer ist ebenfalls an der rechten und linken Vorderquerwand angebracht, der rechts ist etwas verbogen. Der Boden besteht aus Dielen, die von vorn nach hinten laufen, zwei Schritte rechts vom Souffleurkasten ist ein kleines Mauseloch im Fußboden, links ist eine neue Diele eingelegt. Die Schwelle des Gebärsaals ist abgetretener als die andern. Der Anstrich der Türen ist von unbestimmbarer, gelbbrauner Farbe. Rechts vorn ist ein Tisch aus Fichtenholz mit einem Bein, von dem drei Füße ausgehen. Derselbe [245] hat eine Schublade, die aber wohl verschlossen ist. Zwei Schritte vom Tische, halb dem Publikum zugekehrt, steht ein einfacher Stuhl, aber nicht aus Fichten-, sondern aus Tannenholz, der linke Hinterfuß ist etwas wacklig.
    • Alle diese Anmerkungen sind bei der Aufführung genau zu beachten, da sonst das Stück absolut unverständlich bleibt.
    • [246]

Erster Vorgang

Sowie der Vorhang aufgerollt wird, verbreitet sich ein scharfer Spiritusduft über den Zuschauerraum, man riecht genau, daß es neunziggrädiger ist. Die Bühne bleibt anderthalb Minuten leer, darauf hört man hinter der Szene links eine sonore Männerstimme in singendem Sächseln: Lehmann, Se sein ä Rindvieh. Eine Tür wird heftig zugeschlagen. Nach einer halben Sekunde tritt Krawutschke aus dem Ärztezimmer heraus. Er ist ein kleiner Mann mit semmelblondem Haar und Spitzbart. Ansatz zum Höcker. Er trägt auf der Spitze seiner Höckernase einen neusilbernen Kneif über den er hinwegschielt. Seine hellblauen Augen sind wässerig. Er spricht sehr schnell in hastigen Stößen mit auffallend sächsischem Anklang: er ist in der Schäffelgasse zu Dresden geboren. Er hat in Heidelberg studiert und von dort sehr burschikose Manieren mit heimgebracht. Er wiederholt häufig Worte und halbe Sätze und schiebt ganz unmotiviert ein »nu äben« oder ein »i nu heeren Se mal« ein. Sonst ist er jovial und munter, und immer vergnügt. Er trägt langgestreifte Hosen, ein kariertes Jackett und schmutzige Wäsche, da er sie immer erst wechselt, wenn er von der Ronde nach Hause kommt. Der linke Absatz ist unmerklich schief getreten. Er verbreitet einen eigentümlichen unbestimmbaren Geruch, halb Alkohol, halb Jodoform.

Lehmann, Se kennen mersch glooben, Se sein werklich ä Rindsvieh!


Hinter Krawutschke tritt Lehmann auf. Er ist genau einen Kopf größer als der Doktor, ein spindeldürrer Mann mit einer roten Nase, die er sich aber, wie er sagt, in Rußland erfroren. Er war aber nie da. Jeder seiner absichtlich und darum ungeschickt gemessenen Bewegungen sieht man an, daß er gern häufig einen nehmen möchte, es aber im Dienst nicht wagt. Er trägt schmutzige graue Hosen und einen dunklen Dienstrock voll Fettflecken. Seine Hand zittert ein wenig. Er hat die Angewohnheit nach jedem dritten Wort zu spucken, aber immer nur nach links. Er spricht schlesisch, den Dialekt der Gegend um Salzbrunn. Seine Haare sind weiß und spärlich, er trägt einen grauen Schnauzer, in [247] den noch einzelne blonde Haare verstreut sind. In seiner Jugend muß er hübsch gewesen sein. Wenn er im stillen an dieselbe denkt, namentlich an seine Dienstzeit bei den Elfern, so richtet sich der etwas zusammengefallene Körper instinktiv wieder auf und er fährt sich mit der Linken über den Bart. Sonst ist seine Lieblingsbewegung, die leichtgeballte rechte Faust an den Mund zu führen, und gleichzeitig fliegt für eine Sekunde, von Zungenschnalzen begleitet, ein verklärender Schimmer über sein Gesicht.

Nee, 's wull nich Ihr Ärnst, Härr Dukter?

KRAWUTSCHKE.
Follgommen, mei Gudester!Räuspert sich. Ähhmmm!
LEHMANN.
Hoaben Se woas gesoagt, Härr Dukter?
KRAWUTSCHKE.
Ich?
LEHMANN.
Joa – Chchfftt! Spuckt.
KRAWUTSCHKE.
Nee, mei Dierchen.
LEHMANN.
Eich doachte ock. – Chfft!
KRAWUTSCHKE.

Supolderne, mei liepstes Dierchen, hon Se gor nicht zu denken, wissen Se – äähhmm! ... das is Se nämlich widersch Reechlement – Er spricht alle Fremdworte deutsch aus. – hihi, joa sehn Se, nu äben, mei Liepster, des dürfen Se neemlich eechentlich goar nich – nee ... äähhm! ...

LEHMANN.

Na, eich meente ock blußig! ... Pause. Soogen Se, Härr Dukter, glooben Se, doß die Hundelerge nu tot is? ... Chchfftt? ...

KRAWUTSCHKE.
Äähhmm! ... die Hundelerche? ...
LEHMANN.
Joa ... chchfft ... die Hundelerge! ...
KRAWUTSCHKE.

Nu nadierlich, mei Gudster, die is se nämlich ganz mausetot, nadierlich, joa, ... welche Hundelerche meenen Se denn? ...

LEHMANN.

Na, das Oas drieben, doas tobsichtige, das mit'n Kopp ... chchfft ... gägen de Woand gerennt is! Akkerat bluß um Sie zu ärgern, Herr Dukter! ...

KRAWUTSCHKE.

Nu nadierlich mei Gudster, die is se rattefallenmausedod ... die hot sich ja die Gorder in dausend Splitter gehauen, hihi, joa nadierlich, die steht se nich mehr wieder uf, nee, mei Dierchen – ähhm – heite rot, morgen tot ... joa – so is es ... äähm! ...

LEHMANN.

Na joa, ich hoa mersch glei gedoacht ... Na 's is o gutt, daß dos verfluchchte Oas krepiert is – hammer eene winger! ... Chchfft ... Meenen Se nich? ... Wos ...

KRAWUTSCHKE.
Ähhmm! ...
[248]
LEHMANN.

Ich weeß gor nich, wozu 's so vill Verrickte uff der Wält gibbt. Die sein doch zu gor nischt gutt! Woas? Su ä Schwindsichtiger, doas luß ich mer noch gefalln – ober su ä Verrickter ... doas is do gor kee Mensch nich! ... Chchfft ...

KRAWUTSCHKE.
I nu heeren Se mal, nu sein Se so gut, nu halten Se oaber gleich de Luft on, joa? Ähhmm!
LEHMANN.
Nu – wozu sein se denn gutt, Härr Dukter ... de Verrickten ... Chchfft! ... woas? ...
KRAWUTSCHKE.

Nu warten Se eenen Oogenblick, dann wär ich Se das gleich ganz genau saachen, mei Lieber, ähhmm! ... Das is se nämlich e ganz e seere wichtige Soache, joa, hihi! ... Er geht in das Ärztezimmer hinein, schließt die Tür, bleibt etwa eine halbe Minute dort und kommt dann wieder zurück.

LEHMANN.
Noa, da bin ich oaber verfluchtig neigierich.
KRAWUTSCHKE.

Ähhm! ... Säh'n Se mei kudes Dierchen, das is se nämlich ... äähhm ... so ... die Verrickten, das sein se de eenzichen vernünftigen Menschen uff der ganzen Wäld ... ähhm ...

LEHMANN
verwundert.
Chchfftt! ...? ...
KRAWUTSCHKE.

Säh'n Se, 'n kleenen Vogel habn wer doch alle – nich? ... Nu joa ... äben ... ähmm ... sahn Se ... »Von der Wieche bis zur Bahre bleibt der Suff das eenzich wahre«, sagt schonst Schiller! ...

LEHMANN.
Doas stimmt!
KRAWUTSCHKE.

Der Mänsch ... äähhm ... der Mänsch fängt se eechentlich überhaupt ärscht bei's Dralirium an ... nämlich, wenn er das ieberwunden hat und er wierd wieder vernimftig ... ähhm ... sähn Se, denn wierd er sei ganzes Läben nicht mehr meschugge! ... wer hier als geheilt rauskommt, mei Lieber, der riert se sei ganzes Läben keenen eenzigen Droppen Algohol mehr oan! ... nee, nu sähn Se äben ... der is gefeit joa ...

LEHMANN.

Gutt, Härr Dukter, ... oaber vun die kummt se kee eenziger mehr widder 'raus ... in sei Läben nich ... as wie hächstens naa Zählendurff ... oder naa Dalldurff zu de Unheilboaren ...! Chchfft ...

KRAWUTSCHKE.

Lehmann, faseln Se niche! ... Wovor wär' ich denn doa? ... ei Herrcheeses nu äben ... des loaßen Se meine Sorche sind ... bassen Se uf, mit meine neie Medode mach ich [249] se oalle wieder vernimftig ... nachdem ich den Drunksuchtsbazillus entdeckt hoabe ... is se joa das ä Ginderspiel ... ei nadierlich, ä reenes Ginderspiel ... nu äben ...

LEHMANN.
Menen Se werklich Härr Dukter? ... Ach nee ... Chchfft ... Se veralbern mich uck bloßig! ...
KRAWUTSCHKE.

Lehmann, wann ich Se soage, des is se so, dänn is es so, das gennen Se mer glooben. Säh'n Se, Lehmann, de geistige Wiedergeburt der Menschheet, die geht se äben durchs Irrenhaus, durchs Spitoal und durch den Algohol! ...

LEHMANN.

Woas, Härr Dukter, wiedergebur'n wull'n Se wärden? ... Chchfftt ... Hoan Se denn an dem eemoal ni' scho' gnug? ...

KRAWUTSCHKE.

O Schobenhauer, biste ooch hier? ... Äähhmm? ... Nadierlich, mei liebstes Garniggelchen, wiedergeburn müss' mer oalle wär'n, ä ganz neies Geschlächt muß se ruffkumm'n uff de Welt ... damit mer den Gampf uffnähmen genn'n geechen de Lieche ...

LEHMANN.

Doa wär'n Se oaber lange zu kämpfen hoan, denn leugen tun se heit olle mitsamm! Eener beleucht immer den oannern! ...

KRAWUTSCHKE.

Leider! leider! Äähhmm! ... Oaber's soll anners wär'n, mei Schnudegen, ich wär' se de Welt scho umgestalten, nadierlich, ei choa – mit meine Deliranten wär' ich se umgestalten, und den beesen Geist aus de Welt schaffen, der schuld is an ollem – wissen Se wer das is? ...

LEHMANN.
Eich hoa keene Oahnung ... chchfft! ...
KRAWUTSCHKE.
Ich wär's Ihnen soachen, ober gäb'n Se genau oacht ... 's is ... äähhmm! ... der Fusel is es ...
LEHMANN.

Doa hoan Se recht, Herr Dukter ... der reene Schnaps is mer oach lieber ... aber das Oaszeug is blußig so verfluchchtig teier! ... chchfft!

Aus dem Zimmer der männlichen Deliranten ertönt fürchterlicher Lärm, Heulen, Schreien, Toben, Singen, Winseln in den scheußlichsten und unartikuliertesten Lauten. Man hört Lude schreien. »Bin ich nich eppes ä großer Mann? Bin ich nich als ä beriemter Mann? Hab' ich nich e paar Dutzend Lorbeerkränz'?« Bulle donnert mit den Fäusten gegen die Tür, daß sie zittert. »Hund, du hast das Pschorr ausgesoffan! Warst du's ausbrachen, oder ich schlag' dich tot!« Man sieht die Wand des Zimmers wackeln. Nach einer [250] halben Minute beginnt auch im weiblichen Delirantenzimmer ein Höllenlärm, man hört Miezens Stimme, sie kräht. »Kikeriki! Kikeriki! Ich bin de Fuselsuse! Kikeriki!«

LEHMANN.

Hähä! Nee – eich weeß nich ... chchfft ... ob de Verrickten denn gor nich emol a bissel verninftig sei kennten! ...

KRAWUTSCHKE.

Sie sind's – meine Freunde! ...Zieht die Uhr aus der Tasche, eine alte, abgegriffne Spindel, der man's ansieht, daß sie schon oft im Leihhaus war. Joa, 's is de Stunde! ... wartet nur eenen eenzigen kleenen Ochenblick ... nur 'ne kleene Härzensstärkung vorher, dann geheer' ich eich, meine Lieblinge! ... äähhmm! ... Er geht ins Ärztezimmer. Der Lärm wird toller. Man hört Anglers Stimme. »Teremtete verläg' ich nich Sch-ßkerls solche wie Schiller und Goethe, verläg ich nur vornämmes Literatur!« Abramsen piepst dazwischen. »Ruhig ihr Swinegels, 's wird mer mieß vor euch!«

LEHMANN
haut gegen die Tür.

Ääster verfluchte, wullt a de Fresse hoalen! Mieze fängt wieder an zu krähen. Das Fruvolk is noch ärger! Schlägt gegen die andere Tür. H-npakasche Obster stille seids drinne!

KRAWUTSCHKE
kommt zurück und wischt sich mit den Fingern den Mund.

Das schmeckt! ... So nun zu euch! Heraus meine Kutesten, ihr Hoffnung der Zukunft, Deutschlands Jugend, ihr Edelste der Nahzejohn! ... Er öffnet die Tür links. Die Deliranten kommen heraus. Voran drängt sich, mit den Ellenbogen sich Bahn machend, Angler. Er ist sehr klein von Gestalt, hat wenig Haare, aber eine große Schnauze. Er ist mit einer gewissen schäbigen Eleganz gekleidet, der linke Lackstiefel ist aufgeplatzt. Er war Inseratenagent für das Fachgewerbeblatt der Destillateure, und da er demgemäß des Tags über in zehn bis zwanzig Destillen einkehren und überall einen nehmen mußte, so verfiel er bei seiner schwachen Konstitution bald ins Delirium. Er leidet an Größenwahnvorstellungen, er bildet sich ein, Verlagsbuchhändler zu sein und hält sich für Brockhaus und Cotta in einer Person. Sein Dialekt, den er, wie jeder handelnde Mensch in dieser Katastrophe redet, ist ausgesprochen ungarisch, doch stößt er außerdem auch mit der Zunge an. Er hält sich von den übrigen gerne abgesondert, weil [251] er sich sehr vornehm vorkommt und mit der Gemeinheit nur dann gern zu tun hat, wenn sie Geld einbringt. Seine Bewegungen, seine Sprache sind hastig-nervös. Er eilt auf Krawutschke freudig er regt zu. Herr Doktorr ... konn ich Ihnen gor nich sogen ... sssss ... jedesmal wie ich freue mich wenn ich hob Ehre Sie zu sehen ... – Feixend. – hihi ... haben Se nix zu verlegen, Herr Doktorr? ... sss ...

KRAWUTSCHKE
fühlt seinen Puls.

Na, geht's heut besser? Nu 's scheint ja. Ähhmm! Nu säh'n Se, Angler, Se sein doch e verninftiger Mensch, nich? ... Haben Se das netig geha't, sich mit dem Fusel einzulassen? ... Hätten Se nich bei Ihrem früheren unschädlichen Kretzer bleiben kennen, mei liebes Seelenwärmerchen? ... Ach, Lude, alter Freund, da biste ja ooch ...

LUDE
wirft den Kopf in den Nacken.

Hbbff! Er ist mittelgroß, schlank, trägt eine goldene Brille, und sieht wie ein versoffener Schulmeister aus. Er trägt sehr hohe Vatermörder. Er stammt aus sehr reichem Hause und ergab sich schon frühzeitig dem Laster der literarischen Selbstverunreinigung. Vorsorgliche Mütter, in ihm eine gute Partie für ihre Töchter witternd, und verhungerte Rezensenten, die sich sonntags in seinem väterlichen Hause satt aßen, machten ihn stets mit Redensarten voll überschwänglichen Lobes besoffen, so daß er sein Laster immer ärger trieb, jeden Tag ein Schauspiel schmierte und, der übrigen Welt Morphium spendend und selbst frühzeitig vor Lob und Einbildung aus der Trunkenheit nicht mehr herauskommend, in Paralyse endete. Sein Blick ist umflort, die ganze Erscheinung welk, die eines jungen Greises. Mer habe doch noch als koine Brüderschaft miteinand getrunke, soviel ich woiß!

KRAWUTSCHKE.

Stimmt ... ähhmm! ... aber missen Se denn immer ans Saufen denken! ... Iebrigens ... des kennen wir ja noch nachholen ...

LUDE
patzig.
Wenn Se eppes so viel Lorbeerkränz habe werde wie ich ... Mache Se sich als koine Hoffnung eher ...
KRAWUTSCHKE.

I nu herren Se mal, mei Kudester ... was sein denn Sie für e Landsmann eechentlich? ... Ihnen versteh ich ja gar nicht orntlich ... sein Se denn eechentlich vom Main her? ... Ähhmm ...

[252]
LUDE
parodiert seine Sprache, aber mit Sachsenhäuser Anklang.

Nee, dummes Luderche, ich bin se nämlich vom Ufer der ... Werra ... Wieder in seinem ordinären Ton. Hawe se koine Appewoi nich? ...

KRAWUTSCHKE.
Nee mei Dierchen, Se derfens mer nich iebel nähmen, oaber doas gibt's se hier nich ...
LUDE
weinerlich.

Ich will aber als Appewoi ... gebt mer ä Flasch Appewoi! ... Stampft mit dem Fuß, als ob er Bediente riefe. Hört'r, Karl! Fritz! August! e Flasch Appewoi! ... ich verdurst als ... ach ... ich verdurst als ... ich hab e Kamin in der Kehl! ... ich verdurst als ... Er fängt an zu klönen, wie ein kleines verzogenes Kind und besabbert sich den Rock.

LEHMANN.
Na, natsch' uck ni glei! Spricht in ihn hinein und sucht ihn zu beruhigen.
BULLE
ein großer, dicker, vierschrötiger Kerl mit rotem aufgedunsenem Gesicht, eingedrückter Plattnase und kurzgeschorenem Haar.

Seine Korpulenz ist angeschwemmt durch das unmäßige Pschorrsaufen, das ihn ruiniert hat. Seine Züge erinnern an eine bissige Dogge. In seinem Blick liegt hämisch lauernde Unehrlichkeit. Er schlendert scheinbar gleichgültig und teilnahmslos umher, aber heimlich läßt er keinen Blick von dem Arzt, und sowie er diesen im Gespräch mit Lude bemerkt, schleicht er sich heran und gibt ihm, da er es am wenigsten ahnt, einen wütenden Stoß in die Rippen. Er spricht breiten ostpreußischen Dialekt, der bei ihm seltsam schleimig klingt. Da, krapier, du Hund!

KRAWUTSCHKE.
Mei scheenstes Mausezähnchen, wenn Se sich unanständig ufführen dann ...
BULLE.
Nu, was dann? Stellt sich breitbeinig vor ihn hin.
KRAWUTSCHKE.

Weeß Gott, ich muß Se dann in de Zwangsjacke ... äähhmm ... joa, uf Ehre, da laß ich Se reinstecken! ...

BULLE.

Wann ich dir nicht vorhar dan Schädel zarschlagen habe ... Ja ja, ich weiß, du trachtest mir nach dam Laben ... Du willst uns hier alle umbringen ... Er versucht ihn plötzlich an der Gurgel zu packen. Boofke, warste uns Bier gaben? ...

KRAWUTSCHKE.

Bier her oder ich fall' um? Macht sich von ihm los. I nu nee mei Lieber, so geschwind geht das nu niche ... Lehmann ... gäbe Se'm 'ne kalte Dusche! ...

LEHMANN
packt ihn und zieht ihn fort.
BULLE
sträubt sich, versucht um sich zu schlagen, aber Lehmann [253] hält ihn mit eiserner Faust fest.

Dar Hund, dar Marder! ... Da, du kannst mich am Abend besuchen – Er läßt einen fahren und wird abgeführt.

ABRAMSEN
ist vorgeschritten.

Er ist klein und engbrüstig, sein Anblick der eines schwindsüchtigen Papageis. Sein Mund reicht von einem Ohr bis zum andern. Er ist bartlos, aber seine Haare hängen ihm bis zum Kragen, während seine Hosen nicht das Schienbein erreichen, was seinen knabenhaften Eindruck noch erhöht. Er war früher Reporter, litt aber schon damals an Halluzinationen. So ließ er einmal einen Bericht über eine Theatervorstellung drucken, der er gar nicht beigewohnt hatte. Deswegen aus allen Zeitungen hinausgeworfen, ergab er sich in Verzweiflung dem stillen Suff und ruinierte sich, indem er in den Nachtcafés bis zu zwölf Schlummerpünschen an einem Abend trank. Er piepst mit hoher Kastratenstimme. Er gibt sich gern für einen ollen Schweden oder Norweger aus und hat demgemäß auch seinen Namen skandinavisiert, denn er hält sich für den direkten Abkömmling eines Wikingerhäuptlings, seine wahre Abstammung und Gesellschaft verrät aber sein Dialekt, eine seltsame Mischung des Hamburger Platts von St. Pauli und singernden Mauschelns, welch letzteres er sich erst von den Börsenjünglingen angewöhnt hat, denen er früher spät nachts im Café in vollständig besäuftem Zustand Vorlesungen über die soziale Frage hielt. He he! Wat gieft 't denn? Wie heißt? Wat hewwt ju denn? Seggt mi doch ...; ick bin jo jüwer Hauptmann. Seggt mol, ju hewwt mi doch zu jüwerm Hauptmann maken!

LUDE.
Mer wolle eppes ze trinke und er gebbt als nich ...
ABRAMSEN.

Heißt ä mießer Szoff, was nehmen werd der Butje! Wat will wi denn drinken? Bär? Snaps? Wien? Seggt, ick wert all besorgen. Mir is all eins. Ick hewwt all da drinn – Zeigt auf seinen Bauch. – seggt man blot, wat ick rutlaten sull ...

BULLE
von Wasser triefend, ist mit Lehmann wie der aufgetreten.
Haart man, wie dar Boske rannomiert!
MIEZE
genannt die Fuselsusel, tritt aus der Tür links.

Sie ist ein ehemaliges Mitglied der Halbwelt, war Tingeltangeleuse, verkaufte später Apfelsinen und wurde in einer Winternacht bewußtlos betrunken und delirierend in einem Rinnstein am Moritzplatz gefunden. Die linke Hälfte ihres Gesichts ist von tausend Pockennarben zerstört, die rechte zeigt noch einige geringe Spuren ehemaliger Schönheit. Die Nase ist geschunden, [254] die Augen sind entzündet, blutig unterlaufen und triefend. Ihr Kleid ist aus hundert Fetzen zusammengesetzt und voller Löcher. Die Stimme ist rauh und schrill. Sie singt und tanzt.


»Zwei schöne Dinge kenn' ich wohl,
Die Liebe und den Alkohol ...«

Kikeriki! Ihr könnt mir alle 'n Buckel lang rutschen!
KRAWUTSCHKE.
Na, Suse, immer fidel? Ei joa? Nu, das freut mich! Ähhmm!
MIEZE.

Haben Sie 'ne Ahnung von meinem Dalles! ... Fauler Kopp, mir uzen Se nich! Kräht. Kikeriiki! hopp! hopp! Morgen geh' ich tanzen – nach 'n schwarzen Adler ... komm mit, Lude! ... Tanzt und singt, hebt kokett ein wenig die Röcke.


»Na, wenn das nich jut für die Wanzen is,
Denn weeß ich nich, was besser is ...«

Flöhe und Wanzen, morgen muß ich tanzen ...Spricht und singt umzech.

»Wer hat dich du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?«
»Ach du schöne Adelheid, du bist meines Herzens Freud ...«
»Ich liebe dich so tieieief, so innig tieieief –«

Gebt mer Schnaps – Schnaps will ich haben – Kikeriki –

»Denn du hast ja die Bertha ins Unglück gestürzt ...«
LEHMANN.
'n Tritt in a Rick'n, oales Gestell! ..., hoal od's Maul! ...
HENRIETTE MARSCHALL
kommt aus dem Gebärsaal.

Sie ist eine magere Frau, sehr groß, nicht schön. Ihre Hände sind knochig, am rechten Zeigefinger fehlt ein Glied, am Kinn wachsen ihr Haare. Ihre Stirn ist niedrig, die Wülste sind ganz besonders groß ausgebildet, und die Zähne riesig wie bei einem Pferde. Sie ist in anderen Umständen. Alles an ihr atmet Gleichgiltigkeit, Gefräßigkeit, Stumpfsinn und Pflichttreue. Jott, Herr Doktor, wollen Se nu nich bald 'mal nachsehn komm'n? Bei de Millern muß't jeden Oogenblick losjehn, die olle Scharteke winselt und heilt – 't ist schonst nich mehr scheene.

[255]
KRAWUTSCHKE
geht an die Tür hinten, horcht gleichgiltig.

Ach nu nee ... ähhmm ...! – des hat se noch 'ne Viertelstunde Zeit ... ich heer's ... 's Wurm is noch ganz hinne ...

HENRIETTE.

's aber eklig langweilig, det Frauenzimmer feixt und klönt ... soll ick nich'n bisken dricken det's schneller jeht? ...

KRAWUTSCHKE.
Ach nu ne, meine Kuteste, das lassen Se nu lieber ... das kennte se sehre beese Folgen haben ...
HENRIETTE.
Na mehr als druffjehn kann det Aas doch nich – un denn wern wer se los ...
KRAWUTSCHKE.
Aber 's kann ooch'n Unterleibskrebs werden – und denn behalten wer se ewich ...
HENRIETTE.

Nu, wenigstens kommt se denn in 'ne annre Abteilung! ... Man hört hinter der Szene eine Frau in Kindsnöten winseln. Na, Herr Doktor ...

KRAWUTSCHKE.

's noch nich so eilig ... Geh'n Se nur 'rein ... Zu den Deliranten. So, Kinder ... ähhmm! ... nu ham' mer g'nug ... nu geht hübsch wieder auf eire Stube ...

BULLE
ihm die Faust unter die Nase haltend.
Schweinehund ... warste nu rausricken mit 'n Schnaps, oder ...
KRAWUTSCHKE
sieht ihn scharf an.
Oder woas ... mein Kudester? ...
BULLE.
Oder ich war ... wä ... wä ...
KRAWUTSCHKE.
Wä ...? ...
BULLE.

Wä ...w ...w ... Ein Zungenkrampf befällt ihn, er kann nicht weitersprechen. Er zittert am ganzen Körper und blickt starr in die linke Vorderecke der Bühne. Plötzlich schreit er auf. De Maus! De Maus! Und taumelt schwankend ab. Krawutschke und Lehmann treiben die anderen Irren ihm nach. Fuselsusel hat hinter dem Rücken des Arztes mit Lude poussiert.

LEHMANN
fährt auf sie zu.
Auseinander, Schweinebande! Zu Mieze. Du denkst woll du bist noch unter Sitte! ...
MIEZE.

Kikeriki! »Du bist verrückt, mein Kind, du mußt nach Berlin« ... Appelsinen jefällig – he? – ... Springt ab, indem sie wie eine Sängerin Kußhände wirft.

HENRIETTE.
Na kommen Se nu, Herr Dokter? ...
[256]
KRAWUTSCHKE.
Gleich, meu kudestes Dierchen, ich muß nur erst 'mal ... Geht ins Ärztezimmer.
HENRIETTE
ihm verwundert nachsehend.
Wat macht denn der da drinne?
LEHMANN.
Ä wäscht siech de Hänne.
HENRIETTE.
Ach Quatsch! Er hat ja nischt angefaßt. Im Ernst, wat macht er denn da?
LEHMANN
lächelt schlau.
HENRIETTE.
Na, wennste Kodder im Maul hast, denn nich. Wat ick mer vor koofe!
LEHMANN
führt die geschlossene Hand zum Munde.
HENRIETTE
versteht erst nicht – endlich begreift sie und wiederholt die Bewegung.
Det?
LEHMANN
nickt.
HENRIETTE
prustet los.
Dat heb' ick mer jleich jedacht. Der ooch! Nu natierlich! Det dun wer ja alle!
LEHMANN.

Ja weeste ... so 'ne Konsultazejohn oder Operazejohn, doas greift 'n jedesmoal su an, daß a immer eenen heben muß. A reibt siech uff im Dienst der Menschheet un arbeet't mit su'n Feier! Chfffttt!

KRAWUTSCHKE
kommt zurück, wischt sich den Mund.
Fein! Ähhm!
HENRIETTE.
He, gehn wer nu?
KRAWUTSCHKE
betrachtet sie lächelnd.
HENRIETTE.

Na, wat kieken Se mir an? ... Natierlich ... ick leichne et ja nich ... ick mache keene Merdergrube aus meinen Herzen ...

KRAWUTSCHKE.

Jettchen! Jettchen! ... In Ihre Joahre ... un noch solche Streiche! Schämen Se sich denn gar nich? Ähhmm?

HENRIETTE.

Jott, Herr Dokter ... wat soll man dun? ... Wenn det bisken Liebe nich wäre ... man würde ja ganz meschugge hier mang die ollen Verrickten ... Eene Erholung muß der Mensch doch haben! ... der eene de Liebe, der an're 'n Suff – un mehrschtendeels beedes! ...

KRAWUTSCHKE.
Nu sachen Se mer bloß det eenzige ... wer is es denn gewäsen?
HENRIETTE.

Ja ... Jotte doch, Herr Dokter ... wie soll ick det bei die Masse hier im Hause 'rauskriegen ... wenn det Jöhr erst da is, werd'n wer ja sehen wie et erblich belastet is, un da kennen wir't ja feststellen, ... wenn't Ihnen interessiert, [257] heeßt det, ... mir is't Wurscht ... Na komm'n Se nu? Ab durch die Mitte.

KRAWUTSCHKE.
Nee, is des de Menschenmöglichkeet! ... 's wirklich jammerschade 's unse beste Pflegerin! ...
LEHMANN.

Jo, de Menschen sein ock su – alles krign se dicke – bloßig das nich! Man hört hinter der Szene wieder schreien und röcheln. Verfluchtig, das wird ne Schwargeburt! Henriette klatscht in die Hände und ruft: Herr Doktor! Man bisken fix! Bringen Se de Zange mit!

KRAWUTSCHKE.
Ja, glei, mei Karnickelchen ... nur ne kleene Vorbereitung ... Will ab nach dem Ärztezimmer.
LEHMANN.
Herr Dukter, nich ze vill – Se kriegen sunst 'n kleenen Schumm!
KRAWUTSCHKE.

Mei liebstes Schkuteken, des verstehn Se nicht! Sähn Se, wann ich se besondere Kraft zu 'ner Operation oder Untersuchung anwenden soll, so muß ich dem Gerper ooch vorher mehr Kraft zufieren, als er hot, dadermit ich se widder ausgäben kann! Ähhmm ... sähn Se, das nännt man se nämlich das Gesetz von der Erhaltung der Enerchie, mei Kutester!

LEHMANN.
Joa, energisch genug saufen tun Se ja, Herr Dukter! Chchfft!
KRAWUTSCHKE
ist ins Ärztezimmer getreten.

Man hört, wie er mit dem Glas an die Kognakflasche stößt. Er spricht von drinnen. Ich sauf se nicht zum Verjniegen, wie die da drinnen, sondern zur Arbeet ... das ist äben der Unterschied! Schnaps, Schnaps, du edeles Getränke, du bist und bleibst von der Natur, von die Natur, von das Natur das herrlichste Getränke! Kommt wieder heraus, wischt sich den Mund ab. Ich du se saufen, um die andern vom Dralirium zu retten!

LEHMANN
lächelnd.
Herr Dukter, ich gloobe, Sie sind heute en bisken beduse. Chchfft!
KRAWUTSCHKE.

Reden Se keenen Bleedsinn, Lehmann! Medico nihil nocet! Und ieberhaupt, es gibt mehr als eenen sehr beriehmten Chirurgen, der nur schneiden kann, wenn er sternhagelmäßig besoffen ist. Joa! Ähhmm! – Na, nu 'rin ins Verjniegen!Winseln hinter der Szene. Heil du und der Teufel!Er zündet sich eine Zigarre an und geht ab, indem er nach der Melodie: »Was man aus Liebe tut«, singt: »Die Liebe und der Suff, das reibt den Menschen uff!« Pause. Lehmann blickt ihm [258] nach, schleicht sich dann zur Hintertür, kauert sich nieder und horcht am Schlüsselloch. Dann kommt er mit vorsichtigen Katzentritten vor. Er lächelt pfiffig, dann greift er in die Rocktasche und zieht daraus eine gefüllte Kümmelpulle hervor. Er hält sie hoch gegen das Licht, sein Gesicht strahlt vor Freude. Plötzlich glaubt er ein Geräusch zu vernehmen; er zuckt zusammen und steckt die Pulle schnell wieder ein. Er lauscht, und da es nichts ist, so zieht er die Pulle ganz langsam wieder vor, hält sie selig lächelnd an die Nase und saugt den Duft ein. Dann führt er sie zum Munde und nimmt einen tüchtigen Schluck. Darauf schleicht ersieh auf den Zehen nach der Tür des Männerdelirantensaales und klopft stark an dieselbe. 'raus, verfluchtiges Gesindel, 'raus ihr Lausebande! Da – sauft, aber mit Verstand, un laßt mir noch'n Schluck drin! Wenn's dem Dukterluder nischt schadt – schadt's dem Wärter erst recht nischt! Chchfft?

ABRAMSEN, BULLE, ANGLER, LUDE drängen sich mit großem Geschrei vor. Mir Schnaps!

LEHMANN.
Sstt! Chchfft! ... Wollt er's Maul hoal'n, Kurnalljen verfluchtige! ... Sull der Dukter glei kummen?
ABRAMSEN
auf Bulle zeigend, kläglich.

He hat den ganzen Buddel utsupen! He het mi nischt laten! Er weint wie ein Kind. Giff mi Snaps; giff mi 'n eenzigen Droppen Snaps! Er kauert sich vor Lehmann nieder wie ein Hund, der schön macht, und bewegt die Hände wie Pfoten. Wau, wau, giff mi Snaps!

LEHMANN.

Do, das schickt der deine Braut! – aber daß de mich ock nicht beim Dukter klemmst, suste gibt's Schnicke, verstihste! Zieht noch eine Flasche Branntwein aus der Tasche, die er Abramsen gibt.

ABRAMSEN
hüpft und springt herum, in Fisteltönen, mehr quiekend als singend.
So'n Massel, ik hew Snaps! Ik hew Snaps un ju nich! ...
BULLE.
Verdammtes Oos, gib har den Schnaps! Will ihm die Pulle entreißen.
ANGLER.

Nemmt s 'em weg! nemmt s 'em weg! Sie wollen sie ihm wegnehmen; einer fällt über den andern, sie prügeln sich und wälzen sich am Boden.

MIEZE
donnert an die Tür, von innen.
Fuselsusel riecht Schnaps! Fuselsusel will ooch welchen!
HELENE
tritt ein von vorn rechts.

Sie ist ein kleines zierliches Geschöpf mit einem Gesicht wie aus Milch und Blut und entzückenden blauen Augen. Ein Hauch der Poesie geht von [259] ihr aus, der die Szene sichtbar verklärt. Das blonde Haar fällt in zwei Zöpfen über den Nacken. Jeder Ton aus ihrem Munde ist Musik. Sie trägt ein ebenso einfaches als duftiges Kattunkleid. Ihre zierlichen, winzigen Füße stecken in Goldkäferschuhen. Sie spricht ein vollkommen reines Hochdeutsch. Sie erscheint wie der verkörperte Genius der Poesie, alle Reize sind in ihr vereinigt. Dabei muß ihre Familienähnlichkeit mit dem Vater eine frappante sein. Papa, das Mittagbrot ist fertig – willst du nicht hinunter kommen?

LEHMANN.
Wull, wull, Lene, huste schu'n Tisch gedäckt?
HELENE.

Alles besorgt, Papa! Er blitzt von Sauberkeit! Ein reines Tischtuch ist aufgelegt und herrliche frische Rosen hab' ich besorgt ... ach, wie das duftet! ...

LEHMANN
zu Abramsen.
Nu, bin ich nich e tich'jer Mensch? Hoa ich nich a hibsche Tuchter?
ANGLER
hat sich bei Helenens Eintritt aufgerafft und schwankt auf diese zu, seine Kleider ordnend, die sich beim Raufen verschoben haben.

Er besinnt sich auf seine frühere Don Juan-Rolle; denn er hat sich stets für unwiderstehlich für Frauen gehalten. Er hält Helene die Schnapspulle, die er erbeutet hat, vor die Nase und lispelt. Woll'n Se nich trinken, Freil'n gnäddiges? ...

HELENE
taumelt entsetzt zurück, so wie der Alkohol ihre Nase trifft.

Alkohol ... entsetzlich ... ich kann ihn nicht riechen ... Hält sich die Nase zu. Fort, Wahnsinniger ... weg von mir ...

ANGLER.
Abber mein schenstes Freilein! ... Er will sie umarmen.
HELENE.
Vater ... er will mich umarmen ...
ANGLER.
Einen Kuhß ... einen Kuhß ... Teremtete ...
HELENE
weicht entsetzt zurück.
Vater ... schütze mich ... ach ... schütze mich! ...
LEHMANN
sieht sie mit verglasten Augen verschlingend an.

Lene ... Lene ... natürlich ... Keener darf dich han als wie ich ... Wollt er machen, daß er wegkommt, verfluchtige Bande! ... Hier, Lene ...Er stellt sich neben sie und legt seinen Arm um ihren Gürtel; sie glaubt, er will sie schützen, und da seine Hand sich nach ihrer Brust streckt, drückt sie sie unwillkürlich nieder, Angst und Dankbarkeit im Blick. Weg, willste weg! Packt Angler beim Arm – entschuldigend zu seiner[260] Tochter. A hurt a wing schwar! ... Weg. Du Deibel ... do 'nei, do 'nei! ... nähmt die Pullen mit, eich fulg scho ... Der Dukter kummt hint do ni weh ... do ... Er treibt sie zurück.

HELENE.
Gottlob ... ach Vater, die Unglücklichen sind schrecklich ...
LEHMANN
sieht sie mit dem Ausdruck bestialischen Verlangens an.
Hiebsch bist de ... sähr hiebsch ... joa ... gelt? ... kumm här ...
HELENE.
Vater, was tust du? ...
LEHMANN.
Nu, kumm ock ... eich tu der joa nischt ... kumm, Lene ... Chchfft!
HELENE
mit steigender Angst.
Vater, du bist betrunken ...
LEHMANN.
Besuffa? Hihi! Chchfft! Verliebt bin i ... Lene ... ach ... Er machte einige unzüchtige Griffe.
HELENE.

Vater – Schwein – geh ... auf der Stelle ... oder ich schrei um Hilfe! Sie weicht in die äußerste Ecke zurück. Zugleich hört man aus dem hintern Saal einen furchtbaren Schmerzensschrei und gleich darauf das Winseln eines neugebornen Kindes.

HELENE
schreiend.
Vater, rühr mich nicht an ... oder ... ein Unglück geschieht ...
LEHMANN.

Noa, noa ... sei ... ock ruhig ... eich ... tu der ... jo nischt ... nischte nich ... tu ... ich der ... noa ... ich wollte jo ... bloßig ... Er keucht nach Atem. ... Mittag will ich han ... Schreit. Mei Fressa will ich ...

HELENE
unfähig zu sprechen, zeigt nach draußen.
LEHMANN.

Ju ju ... eich gieh jo schunst ... sei ock ni biese ... hierste ... eich gieh scho fressa ... ober eich komm widder. Chfft! ... eich kumm widder ...Ab rechts vorn.


Helene sinkt auf den Stuhl, lehnt das Köpfchen auf die Tischplatte und weint in sich hinein. Lange Pause.
KRAWUTSCHKE
kommt aus dem hintern Saal; er pfeift vor sich hin; seine Hände sind blutig.
Er will nach dem Ärztezimmer, um wieder einen Kognak zu nehmen.
HELENE
durch das Geräusch aufmerksam gemacht, blickt auf.
Der Doktor – Sie trocknet ihre Augen.
KRAWUTSCHKE.
Helene ... Ähmm ...
HELENE.
Sie sind 's ...? ...
[261]
KRAWUTSCHKE.

Joa, nu äben ... nadierlich, mein scheenstes Zuckerbibbchen ... ich bin's ... joa ... freilich bin ich's ... wenn Se nischt dagägen haben nämlich ... Ähmm!

HELENE
lächelnd.
Warum sollte ich etwas dagegen haben?
KRAWUTSCHKE.

Ach, Sie sind wirklich die Güte selbst! Darf man frachen, was Sie hier an diesem unfreindlichen Orte machen, meine Dame?

HELENE.
Ich warte auf meinen Papa ... Aber warum unfreundlich? ... Sie sind ja hier! –
KRAWUTSCHKE.
Ähmm, Se sind wirklich zu gierig. Nee, diese Reinheit!
HELENE.
Und darf man fragen, woher Sie kommen, Herr Doktor?
KRAWUTSCHKE.
Derfen? Warum nich? ... da, da drinnen ...
HELENE.
Ein junger Weltbürger? ...
KRAWUTSCHKE.
Nee, wie Sie das gleich erraten!
HELENE.
War es schwer?
KRAWUTSCHKE.

Sehr. Eine Steißgeburt! Sie in Ihrer Harmlosigkeit, kindliches Gemüt ... Sie wissen nadierlich goornich, was das is ...

HELENE.

Nicht wissen? ... Das? Warum nicht? ... Als Frau eines zukünftigen Arztes ... denn wissen Sie ... ich könnte nur einen Arzt lieben ... ein Arzt, der ist für mich ein Heiliger, ein Erlöser der Menschheit ... Sehen Sie ... ich kaufe mir alle die populären Broschüren mit den gelben Umschlägen ... oh, ich bin sehr bildungsbedürftig! ... Steißgeburt ... natürlich weiß ich, was das ist! ... Sie lächeln ... naturalia non sunt turpia ... übrigens bei unseren Klassikern kommt das Wort Steiß ja auch vor, wissen Sie ... zum Beispiel bei Heine ... den haben wir immer in der Pension gelesen ... wissen Sie ... heimlich, unterm Tisch ... denn eigentlich war er verboten, wissen Sie ... aber das sind ja gerade die schönsten Bücher, die verbotenen ... wissen Sie ... nicht?

KRAWUTSCHKE.

Nee, wie reizend Sie plaudern, Fräulein Helene ... man möchte bloß immer stehen und Ihnen zuhören ...

HELENE.
Gott, wofür hätte man denn die höhere Töchterschule besucht und wäre in Pension gewesen?
KRAWUTSCHKE.
Nee, Ihre Reinheit, Ihr unverdorbenes Gemiet, in all dem Schmutz hier ...
HELENE.
Und der armen Frau da drinnen ... wie geht's ihr?
[262]
KRAWUTSCHKE.
Den Umständen angemessen, danke für gütige Nachfroage ...
HELENE.

Ach, ich möchte was für sie tun! ... Ob ihr mit einem abgelegten Korsett von mir gedient wäre? ... Aber Sie haben mir ja noch gar nicht die Hand gegeben? ... So kommen Sie doch!

KRAWUTSCHKE
versteckt die Hände schnell.
Nee, nee, ... ich danke ... 's geht nich ... Sie sein sehr gietig ... aber 's geht werklich nich ...
HELENE.
Weshalb denn nicht? ...
KRAWUTSCHKE.
Se sein noch zu ... zu ... zu rot ... ich wollte eben 'neingehen se waschen ...
HELENE.

Rot? ... oh, das ist eine schöne Farbe! Ich liebe rot ... rote Nelken ... überhaupt, ... wissen Sie, ich bin Sozialistin ... Sie nicht auch? Meine Zunge ist auch rot ... ganz rot ... wollen Sie mal sehen? ... Da! Sie zeigt ihm die Zunge.

KRAWUTSCHKE
betrachtet sie.

Hinten 'n wenig belegt, aber sonst ganz gesund! ... Nein, ich bewundere nur immer Ihre Reinheit, Fräulein Helene .... Hier in diesem Pfuhl ist siebzehn Joahre lang diese süße Knospe unberührt geblieben ... unverdorben ... nee! ... is de Meeglichkeit ...

HELENE.

Keine Fladusen, Herr Doktor! ... Aber glauben Sie mir, es ist schwer ... was man hier alles hört ... und erst sieht ... nämlich ... sagte ich nicht, ich liebe das Rot? ... Vermutlich weil ich selbst das Erröten schon längst verlernt habe! ...

KRAWUTSCHKE.
Ne, was Sie geistreich sind ... Helene ...
HELENE.
Ach, das kommt Ihnen nur so vor ...
KRAWUTSCHKE.

Joa, weeß Kneppchen, alles, was Sie sagen, berühren, dun – überhauchen Sie mit dem Schimmer der Boesie ...

HELENE
verschämt, aber doch glücklich.
Sie wollen mir uzen!
KRAWUTSCHKE.

Nee, wahrhaftig, ich gloobe ... wenn Sie das Eemaleens hersagen ... das müßte klingen wie bei 'ner anderen 'ne Liebeserklärung ... ähhmm! ...

HELENE.
Still, davon darf ein junges Mädchen gar nichts hören, Sie ... Sie ... Don Juan Sie ...
KRAWUTSCHKE.

Ich ä Dong Schuang? ... Ach du lieber Gott ... see'n Se, ich meene se das Liebeseemaleens ... kennen Se das? ... ähhem ...

HELENE.
Nein ... was ist das? ...
[263]
KRAWUTSCHKE.

Nu, wie man de kleenen Kinder 's Rechen lernt ... Er ist inzwischen dicht hinter sie getreten, jetzt faßt er ihren Kopf zwischen beide Hände. Das is Se nämlich so ... ähhmm ... Emal eens ist eens ... Küßt sie einmal.

HELENE.
Nicht doch ... lassen Sie das!
KRAWUTSCHKE.
Emal zwee ist zwee ... Küßt sie zweimal.
HELENE.
Herr Doktor! ...
KRAWUTSCHKE.
Emal drei ist drei ... Küßt sie viermal.
HELENE.
Halt, das war viermal ... August du mogelst! ...
KRAWUTSCHKE.

Helene ... nee, gemogelt is das nich! ... Mit ausbrechendem Gefühl. Gloobste, daß ich mogle, Helene? ... Sieht sie mit innigem, vielsagendem Blick an.

HELENE.

August, einzig geliebter Mann! ... Nicht wahr, jetzt, wo ich dich habe, dich halte ... nicht wahr, nun bleibst du bei mir ... nun läßt du mich nicht mehr allein verzweifeln in dieser Pesthöhle? ...

KRAWUTSCHKE.
Natürlich – für immer bleibe ich bei dir ...
HELENE.
O wie glücklich, wie unsagbar glücklich bin ich ...
KRAWUTSCHKE.
Heeßt das ... nur für eenen eenzigen Oogenblick muß ich dich alleene lassen.
HELENE.
Warum? Wo willst du hin? ...
KRAWUTSCHKE.
In jenes Zimmer ... ich muß – mir die Hände waschen.
HELENE.

Wasch dir sie nachher. Geh jetzt nicht fort! Auch ungewaschen liebe ich dich ... ich würde mich so verlassen fühlen ... unter Larven die einzig fühlende Brust ...

KRAWUTSCHKE.

Ich muß ... nur eene eenzige Minute, mei süßes Guckelichtel, mei Oogentrost ... ich hält's nicht mehr aus ...

HELENE.
Du wirst nicht wiederkommen!
KRAWUTSCHKE.
In zwee Segunden ...
HELENE.
Nicht fortgehen, ach, nicht fortgehen! ...
KRAWUTSCHKE.
Ich muß ...
LEHMANNS STIMME
hinter der Szene rechts.
Woa is das Oas? Dde Knochen schloa ich er kaputt! Kließe mit Backobst! Is das a Frassa?
HELENE.

Der Vater! Er will mich schlagen, wie er es seinen Deliranten gegenüber gewohnt ist ... Nur jetzt schütze mich ... nur jetzt nicht fortgehen ... mir ahnt Unheil ... nicht fortgehen!

KRAWUTSCHKE.

Ich muß, mei Herzepinkelchen ... ich muß ... [264] siehste, wie mer scho dde Hände zittern ... ich hält's nich mehr aus ... Sie umklammert ihn, er macht sich los, steht auf und geht nach dem Ärztezimmer ab, vor sich hin singend nach der Melodie des kleinen Postillons.


Ich bin der kleine Delirant,
Ich tobe außer Rand und Band;
Ich saufe spät, ich saufe früh
Und nüchtern bin ich nie! ...

Man hört, wie das Kognakglas aus seiner zitternden Hand zur Erde fällt und zerbricht, worauf er ruft. Nun, also aus der Flasche!


Von rechts erscheint Lehmann, einen Knüttel in der Hand. Er ist vollständig knille. Helene erblickt ihn und sinkt mit erschütterndem Schrei ohnmächtig zu Boden.

Ende des ersten Vorgangs.

Zwischengang

Im Zuschauerraum erhebt sich ein sehr kleiner krummbeiniger Herr mit schwarzem Vollbart und ausgesprochen posenschem Akzent.

DER HERR.
Das ist empörend! Sind wir hier in einem Theater oder in einem Saustall?
RUFE VON ALLEN SEITEN.
Pst! – Ruhe – Ss! – st! – Maul halten!
DER HERR.
Ja, zischen Sie nur – das ist der Laut, der solchen Gemeinheiten gebührt! –
RUFE VON DER GALERIE.
So 'ne Frechheit! – Er beleidigt die Poesie! Er beleidigt uns! Schmeißt den Kerl raus! – Haut ihn! –
EIN VORSTANDSMITGLIED DER FREIEN BÜHNE.

Herrrrr! Wenn Sie hier nicht augenblicklich Ihre schnoddrige Schnauze halten, so fliegen Sie mit einer Geschwindigkeit von 0,5 zur Türe 'raus!

DER HERR.

Ich bin Vereinsmitglied, habe meinen Beitrag bezahlt, und wenn 's mir nicht gefällt, kann ich schimpfen, so viel ich will!

DAS VORSTANDSMITGLIED.

Nee, oller Kronensohn, so is des nu [265] nich! Sie stören die übrigen Personen hier im Theater in dem Kunstgenuß dieser idealen Dichtung, die zu verstehen Sie natürlich viel zu dämlich sind, Sie Rindvieh! ...

DER HERR.
Ich verbitte mir solche Redensarten!
DAS VORSTANDSMITGLIED.

Wenn Sie kein Kunstverständnis haben und nicht begreifen, daß das allein die wahre Kunst ist, dann sind Sie 'n Ochse und müssen als solcher behandelt werden.

DER HERR.
Mein Herr, die Ansichten über Kunst ...
DAS VORSTANDSMITGLIED.
Hören Sie, wenn Sie nu nich bald den Rand halten, dann werde ich Sie einfach verhauen! ...
RUFE VON DER GALERIE.
Haut ihm! ... Rrraus! ...
EIN ANDERES VORSTANDSMITGLIED.
Mach doch kurzen Prozeß mit dem Fatzke und schmeiß 'n raus!
DAS ERSTE VORSTANDSMITGLIED.

Is eigentlich wahr! ... Sie sind hiermit aus dem Verein gestoßen, oller Ochse! ... Nu nehmen Se man ihre Beene in de Hand, aber mit 'n Avec – sonst ...

DER HERR.
Das ist eine empörende Ungerechtigkeit!
RUFE.
Rraus! ... Haut ihm ... rrrraus! ...
DAS VORSTANDSMITGLIED.

Sie oller Döskopp, machen Se hier nich ville Kaleika! ... Woll'n Se nu? ... Nich? ... Sie glooben, ich werde mir lange mit Sie ufhalten? ... Rrraus, Sie olle Oberschaute, im Namen der Kunst! ... Er packt ihn beim Kragen, schleift ihn zur Tür und gibt ihm einen Tritt in den Sitz, daß er in den Wandelgang fliegt. Von der Galerie ertönt rasender, jubelnder Beifall.

Zweiter Vorgang

Es ist Abend. Die Sonne ist vor dreiviertel Stunden untergegangen. Die Gasarme sind angesteckt und verbreiten ein flackerndes, Ungewisses Licht über den Raum. Von den Zeichnungen und Kritzeleien an den Wänden ist kaum noch etwas zu erkennen. Die Tür nach dem Ärztezimmer ist halb geöffnet, das letztere selbst ist dunkel. Am Boden spiegelt sich der Reflex des Vollmondlichtes wider, in welches der Schatten eines Tisches und der nur halbvollen Kognakpulle des Doktors fällt. Auf dem kleinen Tische steht ein alter abgegriffener und vom vielen Scheuern rot gewordener Messingleuchter, dem jedoch sowohl Tülle als [266] Licht fehlen. In der Höhlung der Tülle hat sich Grünspan angesetzt; der runde Fuß ist zerdrückt und verbogen.
Die Bühne bleibt lange Zeit leer. Endlich hört man Lehmann und Henriette von rechts vorn heraufkommen. Lehmann hat sich verschluckt und rülpst hinter der Szene. Henriette schneuzt sich in Ermangelung eines Taschentuches die Nase mit der Hand und trocknet sie am Kleide.

LEHMANN.

Nich triebe timplich! ... Glooben Se ock nich, duß es Ihnen alleene su gegangen is, Hendrijette! ... Ne, ... immer die Einbildung von de Fruvelker! ... Als ubs gar keene anneren Menschen uf der Wält gäbe.

HENRIETTE.

Nee, nee, Lehmann, reden Se wat Se woll'n ... so 'ne Ehe, wie meine mit den sel'gen Marschalln ... ich weeß nich, so wat, det jiebt's wirklich nich wieder! ... Alle Abende besoffen, un alle Abende ... Keen Aas kann det schließlich aushalten ... Deibel ooch! ...

LEHMANN.
Nu, wennst'r blußig gesuffa hot ... Chchfft ...
HENRIETTE.

Ach – Schei-be! ... det war noch jejungen, ... wat 'ne ordntliche Frau is, die muß ooch mal 'n Ooge zuplinken können ... Aber zuletzt bracht sich der Schuft ooch noch Menscher mit ... mit in meine Wohnung. Lehmann! ... und verlangte, ick soll das eene Aas ooch noch als seine Geliebte estimieren! ... Nee, sage ick, wat zu ville is, is zu ville, ick bin ne anstänje Frau ... ick hab nich nedich mir det jefalln zu lassen, ick kann noch 'n janz ... andern Kerl haben als wie du ... So 'n alter abgelebter S-kerl! ... ick brauch bloß uf de Straße zu jehn! ... Hab ick nich recht? ...

LEHMANN.
Nadierlich! ... Nu, un wo is denn jetzt Ihr Mann? ... Chchfft ...
HENRIETTE.

Weeß ich, wo det Aas sich rumtreibt? Lude is er; mit de Menschers wischt er sich rum ... Pfui Deibel ... Lehmann, Aas verfluchtes, spucken Se doch nich immer links, spucken Se doch mal nach de anre Seite; Se machen mir ja janz voll ... Nee, wat ich sagen wollte ... de Männer sind noch immer reene doll nach mir ... hier, die Verrückten besonders, ... man muß sich orntlich furchten ...

LEHMANN
der wieder Liebesgedanken bekommen.

Nich bluß de Verrückten ... nee, Drijette, ... nich bluß ... [267] ooch ... Er will sie umfassen und an sich ziehen. Chchfft ...

HENRIETTE.
Lassen Se mir ... wat fällt Ihnen denn in? ... In den Zustand als wie ick ...
LEHMANN.
Na, kumm uck ... warum willste denn nich ... bin ich nich a hibscher Moann? ... Kumm duch!
HENRIETTE.

Bin janz verrückt druf ... lassen Se mir ... ach ... det war 'n Stich – Sie faßt sich nach der Hüfte. – ... und det wieder ... det kenn ick ... ich gloobe, 't is bei mir wat los ... ach ... det sticht ... so 'ne Jemeinerei ... jerade heit ... ach ... ach ... det halt ick nich aus ... Sie läuft ab, sich die Seite haltend.

LEHMANN.

Nu geht se ... und laßt mich alleene ... un eich ... pfui Deibel ... eich bin so tumm im Kopp ... eich weeß nich ... der Deibel hui die verfluchtigen Fruvelker! ... chchfft ... – Er sieht sich verlegen um. – is denn goar nischt ... goar nischt ... nischte nich ...

MIEZE
kräht drinnen.
Kikeriki – morgen wird schönes Wetter ... Kikeriki –
LEHMANN
schlägt sich an den Kopf und dann an die Tür.
Fuselsusel, Aas verfluchtiges ... kumm uck raus ...
MIEZE.
Kikeriki ... Ick muß Eier legen, Kikeriki! ... Ick ha' keene Zeit ...
LEHMANN.

Hierste? ... Ubste harkummst? Er geht in das Zimmer des Deliranten und zerrt Mieze mit Gewalt heraus. Do hiehä! Durt naus! Er drängt sie nach der Gartentür.

MIEZE.
Kikeriki! Stör mir nich bei's Eierlegen ...
LEHMANN.
Jo, jo, ... a gutte Hänne lägt uf 'n Mist ... do, gieh.
MIEZE.

Kikeriki ... Mit kokett gerafftem Kleid springt sie ab. Die Bühne bleibt etwa fünf Minuten lang leer. Man hört nichts als das Summen des ausströmenden Gases, dessen Flammen ungewiß aufflackern. Dann hört man Helenens Stimme. So, nun genug – Lieber – leb wohl ... laß mich allein hinuntergehen ... Vater könnte ...


Helene und Krawutschke treten auf. Der Hauch höchster Glückseligkeit der Liebe liegt auf ihren Wangen, strahlt aus ihren Blicken und verbreitet sich bis in den Zuschauerraum. [268] Sie halten sich eng umschlungen, wie zwei, die einander fürs ganze Leben gefunden haben. Ihre Unterhaltung ist ein von vielen Seufzern unterbrochenes flüsterndes Kichern und Küssen.
KRAWUTSCHKE.
Helenchen ...
HELENE.
August ... einziger ... geliebter Mann? ...
KRAWUTSCHKE.
Bist du glücklich? ...
HELENE.
Ach, wie kannst du fragen! ... So ... so ... so glücklich! ....
KRAWUTSCHKE.
Also du bist mer werklich 'n bißchen gut? ...
HELENE.
Ach du ... du ... du ...
KRAWUTSCHKE.

Nei Helene ... du ... du ... du ...Die Sprache versagt beiden; sie halten sich in stummer Seligkeit umfangen und blicken sich lange und zärtlich schmachtend in die Augen.

HELENE.

Wa...s ist das? ... Krawutschke ... du sch ... schwindelst! ... die Falte! Hier am Auge? Was soll die? Und da ... da ist ein Schatten, er läuft von der Nase zur Oberlippe ... und da ... jetzt ... zwischen den Braunen ... August, sei wahr mit mir! ... was bedeutet das? ... eh? ...

KRAWUTSCHKE.
Die Falte? ähhmm! ... ach ... n ... n ... nischte ... goar ... goar nischt ...
HELENE.
August, ... das habe ich nicht um dich verdient ... du liebst mich nicht.
KRAWUTSCHKE.
Ä ... hhemm ... ich dachte an meine Kranken ...
HELENE.
Deine Methode erzielt günstige Resultate? ...
KRAWUTSCHKE.

Sehre! Sehre! ... Ich soge dir ... du gloobst gor nich ... wie weit ich's bei di scho mit de Enthaltsamkeit gebracht hob ... Keene Droppe rieren se der mehr an! ...

HELENE.

Ah, bravo ... bravo. Klatscht in die Hände. Ach, August, wenn wir erst verheiratet sind ... paß nur Achtung, ich werd' dir ein reizendes Heim schaffen. Einen Salon richte ich ein ... alles kornblauer Sammet ... und ein Essen wirst du bekommen! ... ich koche gut! ... Frikassee namentlich, das mach ich wunderbar! ... Ißt du gern Frikassee? ...

KRAWUTSCHKE.
Nu nee nich! Leidenschaftlich! Ähhmm! ... Bis zum Verrecken ...
HELENE.

Das freut mich! ... Und eine Geselligkeit werden wir haben ... gute Freunde ... lauter Deliranten und Irre ... [269] die du heilst ... ach, ich liebe die Wahnsinnigen so ... die armen, armen Menschen! ... Kein Geld haben ist schon ein Unglück ... aber erst keinen Verstand ... August, seit ich weiß, was Glück ist, ... lieb' ich die Unglücklichen noch mehr ...

KRAWUTSCHKE.
Ach, Helene, was bist du für ein Mensch! Wie edel! Wie rein!
HELENE.

Ha, da ist die Falte schon wieder! Weinend. August ... was bed...eu...tet ... das? ... Au...gust ... d...u ... b...e...l...ü...g...s...t ... m...i...ch ...

KRAWUTSCHKE
will sprechen .

.. plötzlich beginnt er am ganzen Körper heftig zu zittern. Fr... frage ... mich nicht ... du reines Wesen ... Er blickt nach dem Ärztezimmer, sein Auge haftet an der Kognakpulle wie an einem Gespenst. ... Ach ... ach ...

HELENE.

August ... um Gottes willen ... was blickst du immer so scheu nach dem Zimmer ... August, wer ist da drinnen? ... Ich will es wissen ...

KRAWUTSCHKE
Tränen treten in seine Augen, seine Brust hebt und senkt sich wie im Fieber, er gibt einen grunzenden Laut von sich und sinkt vor Helene in die Kniee.

Helene, ich ... ich ... bin ... der unglücklichste Mensch ... in ganz Berlin ... Die Tränen ersticken seine Stimme.

HELENE
anfangs über diesen plötzlichen Ausbruch bestürzt, aber sogleich wieder mit ruhiger Fassung.

August ... um Gottes willen ... fasse dich ... ermanne dich ... sprich ... sage mir doch wenigstens ... sage mir alles ... ich bin ja doch deine Braut ...

KRAWUTSCHKE
in Tränen aufgelöst.

Lene, ich bin ä Lump, ä Lausigel ... ä ganz gemeener Lausigel ... da drinnen in dem Zim ...mer ... is ... d ...der ... Deibel ...

HELENE.
Der Deibel?! Schreit auf.
KRAWUTSCHKE.

Da ... da ... der Schna ... Siehste ... den Schnaps? ... Helene ... sei gut ... hör' mich an ... siehste, ich hab' die Welt retten wollen ... vom Fusel ... wollt ich sie retten ... siehste ... und ich bin sälber ... e Siffel geword'n ... e ganz gemeener Siffel!! ... weeßte ... die Operationen ... die Untersuchungen ... es hat mich immer so angestrengt ... [270] siehste ... ee Gläschen ... un noch ee Gläschen ... Was kann da sein? dacht' ich ... du bist ja doch Arzt ... und jetzt ... halt ich's nicht mehr aus ... ich muß saufen ... siehste ... wie 'n Loch sauf ich, wie e Gewohnheitstrinker! ... gleich aus der Pulle ... siehste ... o Gott, die Schande ... literweise ... Lene ... literweise! ... den reenen Sprit ... dein Breitjam ... Lene ... Ähhmm! ... Er knickt zusammen.


Lange Pause.
HELENE
sind die Tränen in die Augen gekommen – sie wollte mehrmals laut aufschluchzen, aber ein Blick auf den Unglücklichen macht sie schweigen.

Sie trocknet sich die Tränen mit ihrem Taschentuch – es ist nicht mehr ganz rein. Gustel ... steh auf ... sei vernünftig ... hörst du? Sei nur ruhig ... vor allem ... Du bist doch 'n vernünftiger Mensch ... ein Arzt ... gebildet ... Du wirst doch moralische Festigkeit haben ...

KRAWUTSCHKE
schluchzend.
Gar nischt hab' ich ... nischt ... Alles is zum Deibel ...
HELENE.

Beruhige dich nur jetzt ... ich werde schon ein Mittel finden ... nur die Welt darf nichts erfahren ... bedenke deine Stellung ... Du würdest sofort entlassen ...

KRAWUTSCHKE
immer von grunzenden Lauten unterbrochen.
Rausgeschmissen ... mit Schimpf und Schande ...
HELENE.

Na, siehst du ... und nicht wahr, das darf doch nicht sein! ... Wovon sollten wir denn sonst heiraten?

KRAWUTSCHKE.
W ... wie, He ...le ...ne ..., du willst ... mich dennoch ... trotz alledem? ...
HELENE.

Dummer Kerl ... is denn das 'n Grund? Natürlich ... hast du dir's Trinken angewöhnt, wirst du dir's langsam wieder abgewöhnen ... natierlich ganz allmählich ...

KRAWUTSCHKE.
Nadierlich ... keenen Droppen mehr ...
HELENE.

Ach, nicht doch ... so geht das nicht ... jeden Tag ein Glas weniger! ... Weißt du was? ... Ein Vorschlag zur Güte ... Gib mir die Pulle in Verwahrung ... wenn du einen willst, kommst du zu mir ... ja?

KRAWUTSCHKE.

Du selbst? ... Ach ... Ja, ... das ... das ist der – der einzige Weg ... ach Helene ... du ... Engel ... dich ... dich verdiene ich gar nicht ... Ähmm ... ich bin ja viel zu schlecht für dich.

HELENE.

Red' doch keenen Stuß! Also ... raus mit de Pulle! ... [271] na, man fix! ... Keine Müdigkeit vorschützen! ... Klatscht in die Hände.

KRAWUTSCHKE
geht ins Ärztezimmer, ergreift die Pulle mit der Miene größten Abscheus, kommt zurück und gibt sie Helene abgewendeten Antlitzes.
Da ... da ... nur fort ... nich mehr sähen ... ähmm ... Das Sauzeich ...
HELENE.

So ... die trag ich jetzt hübsch hinunter zu uns, und wenn du hübsch artig bist, ... kannst du in 'ner Stunde kommen, und da stoßen wir mit Kognak an ... auf unser Glück! ... Hadje, Süßing, hadje! ... Wirft ihm ein Kußhändchen zu und hüpft ab.

KRAWUTSCHKE
sinkt jubelnd in den Stuhl.
Gerettet! Gerettet! ... Ähmm.
HENRIETTE
schleppt sich herein von rechts.
Sie winselt und hält sich die Seite. Ach, Herr Doktor ... heut passiert wat!
KRAWUTSCHKE.
Nu, ich habe goar nischt dagächn.
HENRIETTE.

Ach, Herr Doktor, ... ich komme aber nich mehr nach Hause ... So arg wie heute wär's noch nie ... und's is Se schon das zwölfte Mal ...

KRAWUTSCHKE.

Na, denn bleiben Se hibsch hier ... gehn Sie da hibsch nei' ... und schrei'n Se, wenn's so weit is ... denn wer ich schonst kommn ...

HENRIETTE.

Ach ja, sein Se so gut ... nee, die Liebe wär schon ganz wat Scheenes ... wenn bloß nich so ville Unannehmlichkeiten mit verbunden wären! ...Sie wankt durch die Mitte ab.

LEHMANN
tritt auf, von rechts, Morphy vor sich herschiebend.
Herr Dukter, Herr Dukter, hier is e neicher –
KRAWUTSCHKE.
I sieh 'mal an, wos is mich dos? ... Nu, Freindchen ... wie gommen wir denn hierher? ...
MORPHY
ein kleiner junger Mann, mit schlenkernden Armen, sehr kurzsichtig, trägt Brille.

Er tritt dicht vor Krawutschke und durchbohrt ihn mit dem Blick. Seine Sprache ist kurz, schnauzend. Sind Sie Ibsen?

KRAWUTSCHKE.

Ibsen? Nee, mei kudes Dierchen, der bin ich Se nu grode niche ... ich heeße Grawutschke ... aberschst ...

MORPHY.
Denn können Se mich gern haben, fauler Kopp! ...
KRAWUTSCHKE.
Nanu, was hot denn der? Blättert in den Papieren, die ihm Lehmann überreicht hat.
[272]
LEHMANN.

Där hut se nämlich uff der Straße Radau gemoacht. A kulkt jeden Manschen oan, ub a Ipsen heeßt ... daderwägen a is nämlich Mitklied von de »Freie Biene« ... un hut sich su bei de Vurstellungen ufgerägt ...

KRAWUTSCHKE.

Freie Biene? ... Liebstes Schnudeken, denn geheeren Se ja goar nich hierher ... denn sin Se von vornherein unheilbar ... gänzlich hoffnungslos ... loss'n Se dän Härrn allerschleunigst noah Doallderf bringen, Lehmann ...

LEHMANN.
A su? ... Nu da kummen Se uck! ...
MORPHY
Lehmann scharf fixierend, kurz.
Heißen Sie Ibsen?
LEHMANN.
I nu nee, oaber eich wär Se zu em fieren ... Kummt noch zu Ihna ... Kummen Se uck! ...
MORPHY.

Gut! Führen sie mich zu Ibsen. Ich muß ihn sprechen. Ich will ein Stück mit ihm schreiben. Ich habe eine Idee! ...

LEHMANN.
's is nich meeglich! Führt Morphy ab.
KRAWUTSCHKE
Lehmann nachrufend.

Kommen Se hiebsch bald wieder, Lehmann, ich will heut noch einige Säle inspizieren ... Stumme Szene. Er geht die Hände auf dem Rücken ein paarmal über die Bühne. Er schluckt stark und steckt die Hände in die Hosentaschen. Plötzlich geht er, alter Gewohnheit folgend, ins Ärztezimmer. Er vermißt den Kognak und sieht sich überall um. Dann besinnt er sich. Er seufzt schwer, räuspert sich und seufzt wieder. Er kommt auf die Bühne zurück und schreitet in großer Aufregung umher wie ein hungriger Löwe. Er verspürt physische Übelkeit und ein entsetzliches Kratzen im Halse. Sein Adamsapfel geht auf und nieder. Er wirft sich in den Stuhl und vergräbt seufzend den Kopf in die Hände. Mehrmals schlägt er sich mit der Faust vor die Stirn. Er zündet sich eine Zigarette an, aber sie schmeckt ihm nicht – nach drei Zügen wirft er sie weg. Er hustet, schluckt, rülpst. Er tritt in die Tür und betrachtet melancholisch, wie in dämonischem Bann, die Stelle, wo vorher die Pulle gestanden. Kaum kann er sich losreißen. Endlich nimmt er all seine moralische Kraft zusammen, man sieht wie er mit sich selber kämpft. Er wendet sich mit heroisch entsagendem Seufzer um und geht nach der Tür des männlichen Delirantensaals. Er öffnet sie und ruft hinein. Angler! ... Ääähhmmm! ... Angler! ... Kommen Se 'mal 'raus! ...

[273]
ANGLER
tritt heraus mit dem wirren, stieren Blick der Deliranten.

Nun ... haben Se sich besunnen endlich, Herr Doktor ... wollen Sie schreiben für mich Geschichte der Medizin? ... sss? ...

KRAWUTSCHKE.

Haben Se noch immer die unglückseligen Einbildungen, Angler? Se sein doch Annoncensammler und nich Verläger! ...

ANGLER.
Wirst du sagen mir, was bin ich? Bin ich Brockhaus!
KRAWUTSCHKE
hat seinen Puls gefaßt.
Na, ich denke, Se sein Gotta! ...
ANGLER.

Bin ich auch Kotta, bin ich beides. Vornämmes Verlag, was ich bin! Schmeichelnd. Härn' Se, Doktor ... schreiben Sie mir Buch ...

KRAWUTSCHKE.

Na – 's 's gut ... um Se loszuwerden ... ich schreibe Se was ... wieviel zahlen Se mir denn Honorar? ...

ANGLER
entrüstet.

Zoahlen? Honorar? ... ssss ... Sie beleidigen mich ... Honorar! ... Bien ich denn verrückt? Teremtete! ...

KRAWUTSCHKE.
Ich sähe mit Befriedigung, daß Ihr Zustand noch nicht ganz hoffnungslos ist ...
ANGLER
schlägt mit den Händen in die Luft.
Gen Sie, Doktor, jagen Sie weck Wespen! ...
KRAWUTSCHKE.
Wesben? ...? –
ANGLER.
Joa, Wespen, was Ihnen sitzt auf Nase das! ...
KRAWUTSCHKE.
Reden Se keenen Unsinn, Angler ... hier sein se geene Wesben! ...
ANGLER.

Werden Sie sagen mich! Seh' ich doch ganz deitlich! ... Flieggen sie jetzt ... da ... da ... –Er schlägt nach ihnen. – nix als Wespen ... Seh'n Sie doch ... da ...

KRAWUTSCHKE.

Geh'n Se, Mikosch, was Sie sich nicht eebilden! Geen Mensch auser Sie selber sieht de Wesben! ... So ... na 's 's gut ... gehn Se schlafen da ... Drängt ihn nach der Tür.

ANGLER.

Sitzen sie jetzt auf Nase meiniges! Au! au! Er fühlt eingebildete Stiche. ... Biester verdammtes ... wollt ihr gehn weg! ... Alles sticht mich ... Alles verfolgt mich ... Er schlägt sich noch im Zimmer drinnen mit den Wespen herum.

KRAWUTSCHKE
ist wieder allein.

Er fühlt ein entsetzliches Würgen in der Kehle. Ihm ist zum Brechen elend. Er beißt sich auf die Lippen, stöhnt, weint, röchelt nach Atem, der ihm auszugehen droht, stampft mit dem Fuße und verzerrt krampfhaft die Gesichtsmuskeln. Er geht ins Ärztezimmer, sucht unter den [274] Tischen und Stühlen, ob er nicht Kognak findet, und ist vollständig verzweifelt.

LEHMANN
kommt zurück.

Er erspäht den Moment wo Krawutschke im Zimmer ist, dann zieht er Mieze herein, schiebt sie in das Zimmer rechts, und sagt dann, als wäre gar nichts geschehen, erklärend zum Doktor, der eben die Bühne betritt. Eich hu se moal a wing ins Freie gefiert, Härr Dukter, 's wor 'r schlimm. Nu, Härr Duktor, wulln Se ...

KRAWUTSCHKE
ist in furchtbarer Aufregung, hat kaum Lehmanns Worte gehört und ihn doch mit ängstlich gespanntem Blick beobachtet.
Nee, nee, lassen Se, ich hoab mersch anners ieberlegt ... Ähhmm ...
LEHMANN.
Ooch gutt! ...'Nacht ock, Härr Dukter! ... Will gehen. Chchfftt! ...
KRAWUTSCHKE.

Lehmann! Dieser dreht sich um. Krawutschke mit geheimnisvoller ängstlicher Miene, die er ungeschickt zu verbergen sucht. Lehmoaon, sein Se verschwiegen? ... Nee, nich doch! ... Im Amtston. Lehmoaon, bringen Se mer 'ne Flasche Konnjack ... zu medizinischen Zwecken ...

LEHMANN
schlau blinzelnd.
Herr Dukter ... mir verfieren Se nich ... 's is duch verbuten ...
KRAWUTSCHKE.
Unsinn! wenn ich, der Arzt, es anordne ... Chchfftt ...
LEHMANN.

Nee, nee, das schatt nischte nich ... Sie hoans selber verbuten ... un heint? ... ärztliche Zwacke? ... Wu Se keen Inspäckzejohn mehr vurnähm'n –? – Se wull'n mer blußig versuchen, Härr Dukter – oaber ich bin e flichttreuer Beamter ...

KRAWUTSCHKE.

Lehmann ... ich brauche den Konnjack ... hier is Geld! – Gibt ihm 20 Mark. – behalten Se den Rest ...

LEHMANN.

Nee, Härr Dukter, Deibelsgelt will ich nich ... daderzu is mer meine Stellung zu lieb ... wenn mich eener siecht un hastenichgesähn zeigt 'r mich oan – –

KRAWUTSCHKE.
Sein Se unbesorcht ... ähhm! ...
LEHMANN
immer lauernd und den Biedermann spielend.

Nee, Härr Dukter ... 's wäre e Sinde ... des derf ich nich ... eich tu oalles rischkiern ... eich hoa so scho kaum zem Fressa ... chchfft ...

[275]
KRAWUTSCHKE.

Joa, Se hobn recht, ein Beamter von Ihr vorziechlichen Eejenschaften is viel ze wenich gewierdich ... ich wär Se eene Gehaltufbesserung in Anrechnung bringen ...

LEHMANN.

Ach, Herr Dukter ... Se sein zu gutt ... nee ... eich gieh schun – eich gieh schun ... unt ... verlussen Se siech ... eich hoal's Maul ... eich hoal de Fressa ... Ab, schlau mit den Augen zwinkernd.


Längere Pause. Krawutschke setzt sich auf den Stuhl. Er abgespannt, erschöpft. Um seine Augen, die in Wasser schwimmen, liegt ein trüber Schleier. Seine Nasenflügel zittern, sein Hände, die Muskeln seines Gesichts zucken unaufhörlich, er empfindet heftiges Würgen in der Kehle, er spuckt und hüstelt. Er hat nur einen Gedanken, ein Verlangen: Alkohol. Von Zeit zu Zeit vermeint er ein Geräusch zu hören und blickt nervös aufgeregt nach der Tür, um jedesmal enttäuscht den Blick abzuwenden, sowie er bemerkt, daß Lehmann noch nicht kommt. Er fiebert, es schüttelt ihn förmlich, bald heiß, bald kalt. Jedes andere Interesse in ihm ist erloschen. Nervöse Aufregung und tiefste Abspannung wechseln in ihm. Eben jetzt vernimmt er draußen einen Schritt, hastig blickt er auf.
HELENE
tritt lächelnd ein.
KRAWUTSCHKE
mit sichtlicher Enttäuschung.
Ah ... du ... Helene ... ähhmm ...
HELENE.

Na, wie geht's meinem kleinen Alkoholisten? ... Wie schlägt die Kur an? ... Diesmal bin ich der Arzt – und du der Patient ...

KRAWUTSCHKE.
Ich danke.
HELENE.

»Ich danke!« – Wie gleichgiltig du das sagst! – Und vorhin bei meinem Eintritt: »Ah, du, Helene!« Ich hab's wohl bemerkt! ... Mit welcher Miene der Enttäuschung sagtest du das! – August – gesteh' es offen ... du ... du bist mir nicht mehr gut! – Du schämst dich? ... Du – – – Gott, was weiß ich! ...

KRAWUTSCHKE.
Nich doch, Lenchen, nich doch ...
HELENE
legt ihm die Hand sanft auf die Schulter.

Ach, und ich habe dich doch so lieb! Ihre Augen füllen sich mit Tränen. So lieb! ... Stoß mich nicht von dir August ... Nicht wahr, du tust 's nicht? Gelt? – – Siehst du – sonst – ich weiß nicht was – aber – du bist mein einziger Lebensanker – ohne dich – August – geh' ich in die Spree – oder ich werde ganz schlecht ...

[276]
KRAWUTSCHKE.

Nein ... das halt' ich nich aus ... ich hält's nich aus!! ... o Gott, o Gott! ... 's wär 'ne Gemeinerei ... dich so zu betriechen! ... Deine Reinheet zu beschmutzen ... deine Wahrheet zu teischen ... ähhmm! ... Denn ... ich hoab dich betrochen ... ich bin e ganz miserables Subjekt ... joa, bin ich – – ich gann nich ohne Algohol läben ... es geht nich ... ich ... 's muß 'raus ... ich bin ... ärblich ... belastet – – – – – –

HELENE.
Ach! Schlägt krampfhaft schluchzend, mit entsetzlichem Schrei die Hände vors Gesicht.
KRAWUTSCHKE
mit tränenüberströmtem Gesicht.

Die Amme meines Urgroßvaters ... e ganz gewissenlose Berson ... der Kleene schrie immer so in der Nacht ... se gonnde nich schloafen ... un da ... bestrich se – de Warze ihrer Brust mit Broantwein – ähhmm! – und seit der Zeit wirkt das Gift in unse Familie ... scheußlich! ... scheußlich! ... wer sein oalle Gewohnheidsdrinker! ... oalle! ... Pause. Beide schluchzen hörbar, Helene stärker. Durch moralischn Willen hoffde ich die krankhafte Oanlage zu besiechen ... vergäbens ... 's nischt ... meine Graft – is alle – alle – – – – Lene – siehste nu ... daß wir uns drennen missen ... missen? ... äähhmm! ...

HELENE
wendet sich zu ihm, heiße Tränen strömen über ihre Wangen, Schluchzen macht ihre Stimme fast unverständlich.

N-ein ... August –n-nein ... nicht trennen ... nicht! ... denn – ich muß dir ein schreckliches Geständnis machen – August – auch ich bin erblich belastet – –

KRAWUTSCHKE.
Auch du? – Is denn de ganze Welt eene eenzige Besthehle? –
HELENE.

Ich wollte dich täuschen – ich wollte 's dir verschweigen – aber nun – is's ja – nicht mehr nötig – nicht mehr nötig – mein Vater ...

KRAWUTSCHKE.
Unsinn! Bledsinn! – 's is ja der nüchternste Moann im Dienst –
HELENE.

Im Dienst – ja! aber nachher – wenn du den Rücken gewendet hast! ... Gottchen, Gottchen, ist das nicht schrecklich, daß ich die Schande der ganzen Familie hier vor dir preisgebe? – aber ich muß! – dann trinkt 'r – trinkt – bis zur Bewußtlosigkeit – und ich ... August ... ich selbst ... ge-neh- mi-ge auch manchmal ei-nen ... Aber nicht wahr, du zeigst ihn nicht an? ... Er ... er tut ja seine Pflicht ...

[277]
KRAWUTSCHKE.
Ja ja ... aber ... – und wenn schon?
HELENE.

Aber August – siehst du denn nicht? – Deine Kinder würden trinken – meine auch – mit wem ich oder du sich auch verheiraten – dann ist's ja schon ganz gleich ... ganz gleich ist 's ... ob wir beide uns heiraten ...

KRAWUTSCHKE.
Nee, nee ... das wäre jo Verbrächen an der Natur – Frevel – Bedruch –
HELENE.

Du wirst gesund werdn – ich fühl 's – und ich auch – wenn wir erst Mann und Weib sind – eins wird das andere retten – wird es stützen ... wenn es schwach wird ... ach August ... ja ja ... glaub' es mir – verlaß mich nur nicht – –

LEHMANN
erscheint in der Tür rechts, eine große Flasche Branntwein in der Hand.
Nanu? Sieht die beiden verwundert an.
KRAWUTSCHKE
erblickt ihn, rauft sich verzweifelnd die Haare.

Nee, nee, es geht nich ... ich fiehl's ... ich kann davon nich lass'n – und ich ... briegeln wird' ich dich in drunkenem Zustand ... ähhmm ...

LEHMANN.
Hier is a ... Härr Dukter ...
HELENE
hat den Vater erblickt und mit weiblichem Scharfblick sofort die Situation erfaßt.
Vater – um Gottes willen – gib ihm den Alkohol nicht ... hörst du ... nicht – Tritt ihm in den Weg.
LEHMANN
stößt sie beiseite.
Oas, machste daß de wegkummst –
MIEZE
donnert von innen an die Tür.
Kornjack! Ick rieche Kornjack! Kornjack saufen se, de Karnalljen, un mir jeben se nich' mal Fusel! –
HELENE.

August – nicht trinken! ... Wenn du mich liebst! – Mit dem Ton heißester, rührendster Inbrunst. Nicht trinken! – sei ein Mann –

KRAWUTSCHKE
macht einige Schritte zu Lehmann hin, dann wieder zurück, alle seine Muskeln spielen, er ist in furchtbarstem innerem Kampfe, seine Augen glühen wie feurige Kohlen.
LEHMANN.
Woas will uck bloßig das dämlichte Frauenzimmer? – Hier, nähm'n Se duch, Härr Dukter –
HELENE
schreiend.

Vater – gib ihm die Pulle nicht! – – Vater, du vergiftest deine Enkel! ... Mit dem Mute der Verzweiflung. August – du darfst nicht! ... erst schlag' mich tot! ... Wirft sich zwischen ihn und den Vater.

KRAWUTSCHKE
in wahnsinnigster Erregung.
Helene ... nur eenen ... eenen eenzigen Schluck ... sonst wär' ich verrickt ...
[278]
HELENE.
Gut – einen Schluck will ich dir erlauben – doch nur einen – nicht mehr –
LEHMANN
reicht Krawutschke die Flasche.
KRAWUTSCHKE.
Ah ... ah ... Er weint vor Freude, er küßt die Flasche und trinkt gierig.
HELENE.
Genug! ... Ab! ... ab, sag' ich! –
KRAWUTSCHKE
gibt Lehmann die Flasche, wie Helene wegsieht, nimmt er sie rasch noch einmal und trinkt noch einen scharfen Schluck.
Das ist gut! Das tut wohl! Gibt sie Lehmann zurück.
HELENE.

August – wir werden so glücklich sein! – Hier die Stellung gibst du auf – wir ziehn weg aus der großen Stadt – mit ihrem Lärm – ihrer Aufregung – hinaus aufs Land – wo's recht schön und still ist! – ein kleines Haus ... mit roten Ziegeln ... Efeu umspinnt die Wände – vor der Tür eine Linde ... in deren Zweigen Vögel nisten ... ihr Morgenkonzert erweckt uns ...

HENRIETTE
stöhnt aus dem hintern Saal laut auf.
KRAWUTSCHKE.

Da ... da ... die Maus ... da quietscht sie – da läuft sie ... Er fährt Helene mit der Hand heftig über Arme und Brust.

HELENE.
Nicht kitzeln, August! –
KRAWUTSCHKE
mit seltsamen Augenverdrehungen.

Da ... da ... läuft sie – – und da noch eine – sie will mich beißen – ah ... – Er schüttelt seine Ärmel.

HELENE.
August, um Gottes willen! –
HENRIETTE
drinnen schreiend.
Ach! Ach! Ach! Ich sterbe! Hilfe! –
HELENE.
August ... eine Unglückliche ... da drinnen ... geh', es ist Zeit ...
KRAWUTSCHKE
sieht sie mit starren verglasten Augen an, wie blödsinnig vor sich hinredend.
Ja ja ... ich weeß schonst ... nadierlich – –
HENRIETTE
sich drinnen in furchtbaren Schmerzen windend.
Ach! ach! Dok ...ter ... Dok ...
HELENE
schüttelt Krawutschke.
August! ... Fasse dich! ... wo bist du? ...
KRAWUTSCHKE
schreit in ausbrechender Tobsucht laut auf.

Ach! ach! Dirne! S-mensch! Bastard! Nicht anfassen! Ich schlag' dich tot ... Alle schla' ich tot ... alle ... verfluchte Bande ... alle müßt'r sterben ... Der Geifer tritt [279] ihm vor den Mund. Lallend. Schw-ei-ne-ban-de-b-a-n-d-e! Er schlägt lang hin.

LEHMANN.
Siehste siech – nu hot 's 'n!
HENRIETTE
drinnen entsetzlich schreiend.
H-i-l-f- e!
HELENE
schüttelt den am Boden Liegenden.

August! August! ... In dumpfer Verzweiflung. Das ist ..., das ... Deltrem! ... das ... kenn ... ich, ... da ... hilft ... nichts ... Das Schicksal er-füllt sich ... Ihre Augen irren im Zimmer umher, wie hilflos; vor entsetzlichem Schmerz ist sie unfähig zu weinen. Sie ringt nach Fassung. Vater! ... ach, du! ... Sie schreit laut auf. Ihr Blick haftet an der Schnapsflasche. Mit plötzlichem Entschluß. Nein, ... denn will ... ich auch nicht mehr ... wozu denn auch? ... Jetzt hat's doch keinen Zweck mehr! ... Keinen ... Zweck ... Sie stürzt auf den Vater zu und entreißt ihm die Flasche. Lehmann kommt vor Verwunderung nicht zum Begreifen. August ... prost! ... Sie setzt die Flasche an den Mund, einen Augenblick schaudert sie vor dem Duft, dann schließt sie die Augen und trinkt sie auf einen Zug fast leer. Aug ... Sie verliert die Sprache, eine Sekunde starrt sie mit weitgeöffneten Augen ins Leere, dann stürzt sie vom Schlage getroffen zu Boden. Aus dem hinteren Saal ertönt ein doppelter, entsetzlich gellender, markdurchdringender Schrei – Henriette hat eben ohne Beistand geboren, in ihren Schmerzen hat sie sich auf das Kind gewälzt und es tot gedrückt. Man hört die Knochen krachen.

LEHMANN
betrachtet die beiden am Boden Liegenden; kopfschüttelnd, mit philosophischer Ruhe.

Siehste sieh – eich hu's immer gesoat ... sauft nicht, wennster daß er's nicht verstieht! Er nimmt die Flasche aus Helenens Hand und untersucht sie. Do is ja noch a Truppen drinne?! ... Mir schatt's nischt! ... Er trinkt den Rest aus.


Der Vorhang fällt.

Ende der Katastrophe.

[280] Nachgang

DER HERR,
welcher im Zwischengang hinausgeworfen wurde, oder wenigstens ein ihm auffallend ähnlicher Herr, ist während des Aktes langsam wieder eingetreten.

Sowie der Vorhang herniederrollt, ruft er ganz laut. Das ist eine Schändung der Bühne! das ist eine Profanierung der Kunst!

RUFE
von allen Seiten.
Da ist der verrückte Doktor schon wieder! ... Haut ihn doch! ...
DAS VORSTANDSMITGLIED
eilt in höchster Entrüstung auf ihn zu und will ihn am Kragen packen.

Sie sind ein Unverschämter! Wie können Sie sich hier einschleichen! Sie sind nicht mehr Mitglied des Vereins ... machen Sie augenblicklich ...Er will ihn am Kragen packen und hinausbringen – da geschieht aber etwas Unerwartetes, der Herr springt plötzlich gegen die Bühne zu – in einigen Sätzen hat er das Proszenium erklommen und steht jetzt auf der Rampe. Mit einem Male reißt er den Vollbart vom Antlitz, der nur angeklebt war, wirft den Rock ab, reckt sich gewaltig empor und steht vor den Augen des halb erstaunten, halb entsetzten Vereins da als der Geist Gotthold Ephraim Lessings. Indes Vorstand und Verein vor Schreck und Überraschung noch stumm sind, donnert er als Chorus diese Parabase ins Parkett nieder.

Hanswurste! Schellenlaute Fastnachtsgecken!

Das also, das ist eure neue Bühne?

Das ist die Dichtung eurer »großen Zeit«,

Das ist die Kunst des neuen deutschen Reichs?

Ein Haus habt ihr gebaut auf meinen Namen,

Ein Denkmal wollt ihr meinem Wirken setzen –

Und so verhöhnt ihr alles was ich schuf,

Vernichtet alles so, was ich euch lehrte?

Das ist die Treue, drin ihr mein gedenkt.

Das ist die Frucht, die euch mein Geist gezeugt?


Oh, Heuchelei! o grenzenlose Lüge!
Ist's nicht genug, daß hier, in diesem Hause,
Als dessen Schutzgeist ich nach langem Sträuben,
Auf großes Drängen endlich nur mich hergab,
Tagaus, tagein der widerlichste Kram,
Aus Frankreich eingebracht, frivol und lüstern,
Sich breitmacht? Mischen sich jetzt in die Düfte
[281] Des Patschuli auch die des Fusels noch
Und die des Kots? zum Kitzel noch der Ekel? ...
O großer Brite, göttergleicher Shakespeare!
Dazu hab ich den Deutschen dich gebracht
Und sie gelehrt, dich mehr als mich zu lieben!
Daß ich vergessen in der stillen Gruft
Dich ruhig doch gelassen, nie ins Volk
Der Dichter und der Denker dich geschleppt,
Das – wohl erkenn ich's – niemals dich verstand!
Dann wär die große Schmach dir nie geschehn,
Daß ein betrunkner Kerl dich lallend grüßte,
Die Hand dir bietend: »Na, wie geht's, Kollege?«
Dazu schrieb ich euch Minna und Emilia,
Um hundert Jahre später zu erfahren,
Daß Poesie allein im Schmutz sich findet!
Und daß zu dem Vandalenwerk man gar
Noch meinen Namen frech und frank mißbraucht!

Wahrheit ist eure Losung?! ... Ah, sehr gut! ...
Auch meine war es, und ich sprach zum Dichter:
»Sei wahr, sei grausam wahr, bis zum Entsetzen!
Sei schrecklich wahr – so wahr wie die Natur!
Sei wahr wie sie – und sei wie sie so groß!
Sei groß und fürchterlich und wahr, wie Richard,
Wie Jago, Lear, Macbeth, Coriolan!« –
Ja, freilich! ihr – und in der Seele Tiefen,
Ins Labyrinth der Leidenschaften steigen,
Und malen, was gewaltig drinnen gärt!
Ihr Zwerge, ihr Pygmäengeschlecht, ihr Lügner!
Die Süffel, das betrunkne Bauernvieh
Woll'n meinen Tellheim von der Bühne drängen,
Den Odoardo und den Tempelherrn?
Ihr und Natur! Geht! aus dem Kindbettwinseln
Eurer Gebärenden heult nicht Natur,
Heult eure eigne Kläglichkeit allein! ...

Das soll der Menschheit einzig würdig sein,
Zu sehn, wie Trunkne sich im Kote wälzen,
Ein Mann ein braves Mädchen sitzenläßt,
Und nichts als dies der Menschen Geist beschäft'gen?
Zu solchem Schauspiel zieht man tausend Menschen
An einen Ort aus Nord, Süd, Ost und West,
[282] Raubt ihnen Stunden ihrer besten Zeit,
Setzt hundert Hände lange in Bewegung
Zu all den Mühen eines Bühnenspiels?
Wahr wollt ihr sein! – dies schmutz'ge Bild der Welt,
Kot, nichts als Kot ... das war die ganze Wahrheit?
Blödsinnige! So wenig dieses Bild,
Das eben jetzt an euch vorbeigerauscht,
Ein wahr' Gesicht der Charité gezeigt,
Nein, alles übertrieben, schief, verzerrt –
So wenig wahr sind eure Bauern, eure
Kleinbürger: nicht in Schlesien, nicht in Rußland,
Nicht in Berlin, und nirgends in der Welt!
Hohlspiegelfratzen aber keine Menschen! ...
Ihr – Dichter? Kündiger des Menschenherzens?
Ein Haufen wüster Schreier seid ihr, lüstern
Nach Rauch und Schaum des eitlen Tagesruhms,
Und glücklich, wenn der Börsenjobber Leibblatt
In fetten Lettern eure Namen druckt;
Das ist der ganze Preis, nach dem Ihr strebt,
Und den ihr bill'ger nicht erkaufen könnt.
Ihr Knaben wagt auf meinen Namen euch
Im Kampf zu stützen gegen fränk'sche Kunst?
Was gebt ihr Besseres denn als sie? Die Lüge
Habt beide ihr gemein, nur daß sie jene
Mit Grazie umkleidet und Geschick, –
Und ihr – aus Ungeschick – sie offen zeigt.
Beide sind sie gemein – doch ihr noch plump!

Was ist denn eure neue Kunst, die so
Verächtlich sieht herab auf Dummkopf Shakespeare,
Auf alle, die gedichtet je vor euch? –
Wo andre »Herrgott!« sagten – sagt ihr »Hurrjott!«
Und statt »da hierher!« schreit ihr »do hiehäh!«
Das lohnte wahrlich all des lauten Lärms!
Der Menschheit solche Botschaft zu verkünd'gen,
Tat freilich eine neue Bühne not,
Galt's, jedem täglich in die Ohren schrein:
»Hier! seht, bei uns allein ist Kunst und Wahrheit!«
Weil ihr gehört, was schon Millionen vor euch
Gehört – geseh'n, was längst Millionen sah'n
Und achselzuckend drüber weggeblickt,
[283] Da keiner noch Verdienst darin erfand,
Zu Wienern und zu Schlesiern zu sprechen,
Und unverständlich sein dabei den Deutschen!
Laßt reden euren Bauern, wie er mag;
Wir woll'n den Menschen, aber nicht sein Kleid –
Zeigt uns, wie Menschen fühlen, denken, handeln:
Das zeigt uns wahr in seiner ganzen Stärke!
Wie euere – fühlen, handeln Menschen so?
Das ist die Art von Schweinen – oder Engeln:
Doch Menschen, so mit Blut und Herz und Nerven,
Mit Leidenschaften, die sie ganz erfüll'n,
Halb gut, halb bös', so ganze, wahre Menschen –
Die haben eure »Dichter« nie gesehn! ...
Denn so verlogen eure Trunkenbolde
So grenzenlos sind's eure edlen Mädchen,
So voll Entsagung, frei von jeder Selbstsucht:
Auch von der Selbstsucht, die die Liebe gibt!
Den Mist verjaucht ihr noch und schminkt die Rose!

Ihr wollt das Leben malen eurer Zeit?
Vortrefflich! ... Zeigt das eherne Jahrhundert,
Das größer ist, als alle je vor ihm!
Gebt seine Kämpfe uns und seine Leiden!
Stellt uns der Forscher dar, aus stiller Klause,
Die Welt beherrschend, umgestaltend, der
Natur abzwingend die geheimsten Kräfte!
Zeigt uns den einz'len machtgewalt'gen Geist
Allein im Kampf mit der gemeinen Masse,
Die zäh und roh am alten Wahnwitz hängt –
Zeigt uns den Blusenmann die schwiel'ge Hand
Empor bis nach den höchsten Sternen strecken –
Laßt vor der neuen Legionen Tritt
Die Reichen blassen und die Throne zittern;
Laßt Völker aufstehn und im heißen Kampf
Um langgeraubte Daseinsrechte ringen! ...
Ja, Ihr – ihr seid die Wahren nie dazu!
Besoff'ne Bauern und verrückte Streber –
Der »Freien Bühne« neunzehntes Jahrhundert! ...

Viel ärger seid ihr als die ändern Lügner,
Die zu bekämpfen ihr erklärt. Denn ihr
Beschimpft in häm'scher Bosheit jeden, der
[284] Abseits von eurer kleinen lauten Gruppe
Die eig'nen Wege sich zu bahnen liebt,
Der ernst und treu für Kunst und Wahrheit kämpft!
Ihr, die ihr andres, Beßres nie getan,
Als ein'ger Professoren Zopf und Rockschoß
Zu fassen, um daran euch anzuklammern:
Geht hin, denn ihr seid eurer Meister wert –
Wie ihnen stets der Dichtkunst goldnes Buch
Mit sieben Siegeln streng verschlossen war,
Und sie der Dichter wahre Kunst und Größe
Allein in ihren Wäschezetteln suchten,
So fandet ihr, der Lehrer würd'ge Schüler,
Die Poesie, der Menschen Wesen nur,
An ihrem Husten, Spucken, Räuspern! geht! ...
Ihr seid die ärgsten aller Bühnenschänder,
Denn aller Welt brüllt laut ihr in das Ohr:
»Wir haben ganz allein die Wahrheit!« und
Seid ärgere Lügner als die ändern alle! – –
Wißt und erzittert! Auferstanden bin ich,
Den Stall der Musen neu zu reinigen,
Denn wahrlich hohe Zeit zur Säuberung ist's.
Ja, rein'gen will ich ihn vom argen Schmutz
Des Frankentums, der Zote, der Gemeinheit,
Vom Gift der Spekulation, von all
Der Frechheit, von dem schalen Bettelwitz,
Von blöder Langweil des Philistertums,
Von der Verschwendung bunter Leinwandfetzen,
Vom Kehricht widerwärt'ger Heuchelei –
Und hier den Anfang mache ich – mit euch!
Vor seinen Rettern schütz' ich ihn zuerst!
Hinaus aus meinem Haus! ... Nicht mit der Peitsche
Vertreib ich euch – die wär' für euch zu vornehm! ...
Nein, mit dem Instrument, das euch gebührt,
Das eure Kunst erst bühnenfähig machte ...

Er zieht eine riesige Geburtszange hervor.

Fort aus dem Haus, das meinen Namen trägt!
Mein Haus – die Bühne – ist ein Haus der Weihe:
Zur Düngergrube habt ihr es gemacht!
Die Kunst beschmutzen, heißt nicht sie befrei'n.
Hinweg ihr Helden von der »Freien Bühne« –
Die Bühne mach' ich frei zuerst von euch! ...

[285] Bei den letzten Worten ist er in den Zuschauerraum hinabgesprungen. Die ganze Versammlung war schon bei Beginn seiner Rede wie von einem unfaßbaren Zauber ergriffen; mit offnen Lippen und großen Augen lauschte sie seinem Vortrag, starr, ohne ein Glied zu rühren, unter dämonischem Bann. Jetzt schlägt er mit der Geburtszange auf die Köpfe der Anwesenden los, welche in furchtbarer Verwirrung heulend entfliehen.

Ende.
Berlin, Karneval 1890
[286]

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TextGrid Repository (2011). Alberti, Konrad. Dramen. Im Suff. Im Suff. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D81C-E