[170] Heinrich Hart

Das Lied der Menschheit

Vorgesang.


1883.


Diese Dichtung bildet den Vorgesang zu einem Epos: »Das Lied der Menschheit«, das in einer Reihe von ideal zusammenhängenden Gesängen, deren jeder eine in sich abgeschlossene Erzählung umfaßt, die Entwicklung der Menschheit von ihren ersten Anfängen bis zur Gegenwart herauf, darstellt.


Einst war die Welt ein endlos tiefes Meer
Von Finsternissen – todt und stumm und leer.
Kein Hauch, kein Athem, weder Fluth noch Schaum,
Zeit ohne Werden, Schlafen ohne Traum,
Leidlose Ruhe, Kraft, die nichts erfüllt,
Ein Grab, das Schatten wesenlos umhüllt.
Einst aber wie ein Blitz durchfuhr's das All,
Das Meer barst auf mit dumpfem Donnerhall
Und tausend Wirbel kreuzten durch die Wogen
Und tausend Feuer zuckten rings und flogen
Und auseinander klüfteten die Gluthen
Und schossen sprühend hin gleich Flammenruthen
Und ballten kreisend sich zu Sonnenwelten,
Verschlangen sich und barsten und zerschellten –
Von Nebeln wirr umflattert, dampfumbraust,
Aufbrandend in Gewittern, sturmdurchsaust.
Die Nacht versank, es wich des Todes Bann
Und heiliger Schauer durch die Schöpfung rann,
Da lag die Welt, ein Wasser, breit und klar,
Lichtinseln zogen funkelnd, Schaar an Schaar,
In wiegenden Reigen schwebend wie zum Spiel,
Rastlos der Weg, geheimnißvoll das Ziel.
[171]
Vom Kranz der Schwestern eine wählt mein Lied
Und für die Lieblichste mein Herz entschied.
Noch war ich Knabe, in der Haide Kraut
Lag ich zu lauschen auf des Windes Laut,
Von weißen Schleiern glänzte rings die Luft
Und auf den Gräsern träumte herber Duft
Und zwischen Erd' und Himmel fühlt' ichs weben
Des Geistes Wirken und der Schöpfung Streben.
Da strömte leuchtend mir ins Herz die Lust,
Der ewigen Schönheit ward ich mir bewußt
Und brünstig drang die Sehnsucht auf mich ein,
Urmutter Erde Dir ein Lied zu weihn,
Ein Lied, das wogend wie der Ocean
All Deine Pracht umspannt, all Deinen Wahn ...
Mein Blick ward starr, die Wesen und die Zeiten
Sah ich noch einmal mir vorübergleiten.
Vor meinen Augen brauste Gluth in Gluth,
Von tausend Farben zitterte die Fluth,
In langen Garben sprühte Strahl um Strahl,
Berghohe Feuer wuchsen auf im Thal.
Und in den Weltraum stürzte wie ein Blatt,
Das von dem Baume flattert, sturmesmatt,
Der Mond, aufzischend, wirbelnd, nebelrauchend,
Dem Urgewässer blassen Haupts enttauchend.
Schon aber senkte Nachtgewölk von Dunst
Sich auf der Flammen niegestillte Brunst
Und prasselnd, schäumend, immer neu geboren
Warf sich der Regen in des Gluthmeers Poren,
Aufwallten blutige Nebel aus der Wunde,
Gleich Speer- und Schwertglanz leuchtete die Runde
Und stöhnend mischten sich im Kampf die Kräfte
Und siedend gährten zukunftsschwangere Säfte,
Bis aus des Wassers morgenkühlem Schoß
Der Keim des Lebens stieg, gestaltengroß.
Nun drängte starr Kristall sich an Kristall
Und donnernd hob sich der Gebirge Wall,
Die Wurzeln von Granit und gluthgeleckt,
Den breiten Rücken hell von Schnee bedeckt.
[172]
Nun schmiegte Zelle knospend sich an Zelle,
Von weichen Flocken blinkte jede Welle
Und zarte Haut umspinnt des Meeres Bord
Und rankt sich über Fels und Klüfte fort
Und reckt sich aus zu Fasern, thaugenährt,
Gräbt in den Stein sich, wurzelt, keimt und ährt ...
Schwül brütet Mittagshauch auf Sumpf und Au,
Ein feuchter Dunst verhängt des Himmels Blau
Und gelber Qualm entbrodelt jeder Kluft,
Von unterird'schen Wettern rauscht die Luft,
Umklammert von des Drachens Eisenspangen
Wälzt brüllend sich der Elch, im Rohr gefangen.
Breitfächernd wuchert rings der Farrenwald,
Vom plumpen Tritt des Mastodonts durchhallt,
Und glotzig ruht der Behemout im Teich,
Eidechsen flattern, schwarzer Wolke gleich.
Dann kommt ein Tag, blaß wird der Sonne Glanz,
Schneewogen wirbeln wie im Kriegestanz,
Von Norden dröhnt es krachend jede Nacht
Und falbe Nebel schleifen, sturmentfacht.
Erschauernd horcht die Blume, horcht das Reh –
Dumpf wälzt es sich heran, eisstarre See,
Einöde, grenzenlos, nackt, blank wie Stahl,
Gespenstig Trümmerfeld; Berg wird zu Thal
Und Thal zu Berg, die Wälder prasseln schwer,
Wie Staub hinweggefegt ist Land und Meer,
Von Erd' zu Himmel eine Mauer nur,
Verstummt das Leben, sterbend die Natur.
Doch in der Tiefe schnaubt des Feuers Dampf,
Die Sonne rafft sich auf zu grimmem Kampf,
Sie wühlt und saugt und schmilzt des Eises Glast,
Der Boden wankt und schüttelt seine Last.
Bald rauschen durch die Wüste tausend Quellen,
In Spalt und Abgrund tosen schäumende Wellen
Und aus der Fluth dringt aufwärts neues Land,
Jungfräulich, jugendlich, die Gluth entschwand.
Aufsprießt der Blüthen Schönste, Gottgenährt,
Zum Menschen wird der Erde Staub verklärt,
Verklärt zum Willen wird was dunkel ringt –
Zur Sprache wird was stammelnd klingt und singt.
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In Fiebern lag ich brennend Tag um Tag,
Von Zweifeln trüb umnachtet, angst und zag.
Kein Weg, kein Ziel! Wir ziehn auf ungefähr
Durch Steppenöde, heut am Strom einher
Und plaudernd, jubelnd; morgen im Gestein
Versengter Felsen, dürstend und allein.
Wir wandern, doch wohin – verkündet keiner,
Wir wandern, doch warum – ergründet keiner.
Ich lag und sann, der Abend brach herein,
Ins Auge fiel mir hell des Mondes Schein.
Da dehnte bebend sich mein Zimmer aus,
Wie Nebel schwanden Decke, Thür und Haus.
Ich stand an eines Berges steilem Hang,
Dem Abgrund schwelte grau Gewölk entlang
Und plötzlich braust es hell wie Adlerflug,
Ein Sturmwind rüttelt an des Felsens Bug
Und wie ein Schatten steigt es niederwärts,
Den Arm umpreßt mir eine Hand von Erz,
Zur Seite ragt mir ein gewaltig Haupt,
Die Augen Blitz, die Stirne gluthumlaubt.
Und durch die Wolken züngeln weiße Feuer,
Zerrbilder tauchen auf und Ungeheuer.
Dann wird es Licht, von Sonnenglanz ein Strom
Trägt meine Blicke durch des Weltalls Dom.
Das Buch der Sterne seh ich aufgethan,
Der Erde Nieren und der Winde Bahn,
Ein gähnend Grab klafft Land und Wasser auf,
Marklose Schädel grinsen bleich herauf.
Vorüber zieht der Volksgeschlechter Heer
In bunter Tracht, mit Sichel und mit Wehr;
Hier lagert sich ein Stamm, Zelt neben Zelt,
Des Führers Ruf, des Händlers Stimme gellt,
Dort in die Sümpfe wühlt sich klammernd ein
Die Euphratstadt, ein Drachenleib von Stein,
Von blauer Meerfluth seidenweich umrollt
Blüht Hellas in der Abendsonne Gold.
Und durch des Eichwalds feuchte Nebelschicht
Schlägt der Germane breiten Weg dem Licht;
Hier einsam geht ein Mann und forscht und sucht,
Dort hängt am Kreuze, den die Welt verflucht.
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Und immer wirrer, immer dichter drängen
Die Schaaren sich, mit flammenden Gesängen
Um Zion wogt des Kreuzheers magrer Rest,
Scharfklauig kreist zu Häupten ihm die Pest,
Hier stirbt der Könige stolzer Uebermuth,
Vom Richtbeil ausgemerzt, erstickt in Blut,
Dort siech von Hunger, eisumschauert steht
Franklin, sein Aug' nur spricht ein letzt Gebet
Und donnernden Fluges dort von Land zu Land
Rollt Zug an Zug, ein stählern Völkerband,
Hier Hochzeitsjubel, fiebernd Aengsten dort,
Hier klingender Flöten Laut, dort Brudermord.
Mein Auge sieht es und es hört mein Ohr,
Der Menschheit ganzes Treiben rauscht empor,
Der Völker Werden gibt ein Blick mir kund,
Doch Schmerz durchwühlt mich, laut schreit auf mein Mund:
Weh euch und mir, Mensch werden heißt vergehn
Und Völker blühen, um in Staub zu wehn,
Wir alle sind wie Wasser im Gestein,
Kein Wandrer kommt, die Erde saugt uns ein,
Wir alle sind wie Saat in dornig Land,
Wir alle schaffen, doch uns knüpft kein Band!
Kein Band – und wiederhallt es tausendmal
Und wieder braust der Sturmwind hin durchs Thal,
Da steigt vor mir empor Haupt und Gestalt,
Doch nicht von Glut, von Sternenschein umwallt,
Mild wird die Stirn und mild des Auges Glanz,
Beschattet von der Wimpern breitem Kranz,
Der Lippen erzne Klammer schließt sich auf,
Ein weicher Mantel zieht Gewölk herauf.
Ich aber beide Hände streck' ich aus
Und zu mir klingts wie rollend Fluthgebraus:
Kleinmüthger Du, Du klagst und übst Gericht
Und kennst nur Menschen, doch die Menschheit nicht.
Die Menschen sind wie Blumen auf dem Rain,
Ich winde sie dem Kranz der Menschheit ein,
Der Menschen Thun spinnt Fäden wirr und kraus,
Ich webe sie zum Bild der Menschheit aus,
Der Menschen Herz freut sich an Schein und Spiel,
Ich halt' das Steuer auf der Menschheit Ziel.
[175]
Ja, ohne mich seid ihr versprengtes Gold,
Ich sammle, schmelze, präge was ihr wollt,
Klein bin ich wenn ihr klein, stark wenn ihr stark,
So mit dem Baume wächst des Baumes Mark.
Ich bin der urgeborne Sohn der Gluth,
Des Lebens Fülle wogt in meinem Blut,
Nicht sterben werd' ich, bis das letzte Blatt
Vom Baum der Welten sinkt zur Ruhestatt,
Bis in den Hafen fährt der Ewigkeit
Mit uns den Irrenden das Schiff der Zeit.
Bis dahin Kämpfen und kein schmerzlos Heil
Und Sehnsucht, der kein Erbe wird zu Theil,
Bis dahin Liebe, die den Haß gebiert
Und Glaube, der in Zweifel sich verliert,
Bis dahin Tod, der sich mit Leben schminkt
Und Königsprunk, der in den Koth versinkt
Bis dahin Kraft, die sich die Welt erstreitet,
Bis dahin Geist, der auf zur Gottheit leitet.
Er sprichts und Finsterniß ruht nah und fern,
Nur hier und da hell schimmert noch ein Stern,
Ich aber blicke starr zum Himmelsrand,
Wo mir das löwengleiche Haupt entschwand,
Wie einer, der im Geiste Gott erschaut, –
Da hör' ich einmal noch traumfernen Laut:
Du geh und künde was Du heut gesehn,
Wenn Du es kündest, wirst Du es verstehn,
Und fragst Du was ich bin und fragst Du wer,
Der Menschheit Seele bin ich, Ahasver.
Das Lied der Menschheit – ja, es sei gewagt,
Wie schwach ich bin, wie klein auch, wie verzagt.
Wo ist ein Stoff wie dieser, wo ein Held
So ruhmeswerth, wo solch ein Erntefeld?
Nicht Götter sing' ich, nicht zum Fabelland
Träum' neuen Weg ich, nicht zum Höllenrand,
Euch, meiner Mutter Kinder, eure Spur
Such' ich im weiten Bergland der Natur,
Euch such' ich in der Urwelt Einsamkeit,
Euch durch den Flammenbrodem dieser Zeit
[176]
Und eurer Seele lausch' ich, wie sie reift,
Wie hoch und höher ihre Sehnsucht schweift.
Ein Seher ist euch Noth, ein Sonnenaar,
Der Botschaft bringt, daß eure Sehnsucht wahr,
Daß ihr ein Ganzes seid, Samen eines Weibes,
Körper eines Blutes, Glieder eines Leibes,
Daß wie aus Welten Gott erwächst, so ihr
Der Menschheit Nahrung seid, und lebt in ihr.
Doch ach bin ich's, bin ich's, der zu den Sternen
Das Auge heben darf, den Sonnenfernen!
Zu Dir Altvater, dessen Wort so klar
Wie Meeresfluth, wenn sie den Tag gebar,
Zu Dir, Du strahlend Licht von Tus, Du Künder
Des Erdenschicksals und Du Herzergründer,
Zu Dir, Du frommer Schwan von Mantua,
Zu Dir, Du Adler, der ins Antlitz sah
Der Ewigkeit, gerichtet und doch Richter,
Zu Dir, der blind noch Held, Du Stolzvernichter,
Zu Dir Walddrossel, deren Stimme voll
Und tief und süß wie Volkers Lied einst scholl,
Zu Euch, ihr heiligen Sänger, Du des Gral,
Du des Erlösers und der Kreuzesqual!
Weh mir, wenn ich nicht würdig bin, wenn nicht
Stahlhart mein Hirn, mein Herz wie Sonnenlicht,
Wenn lauter nicht wie Morgenthau mein Blut,
Mein Geist nicht wie auf Adlersschwingen ruht.
Wer hält mich aufrecht und wer gibt mir Muth,
Wer legt auf meine Zunge Flammengluth?
Mit tausend Blüthen und mit tausend Stimmen
Lockt mich Natur und tausend Sterne glimmen,
Aus allen Tiefen klingt es dumpf und wirr –
Wer führt mich aufwärts, wenn mein Fuß geht irr?
Dich Gotteskraft, die Niemand nennen kann,
Endlos erzeugende, Dich ruf' ich an.
Du bist der Schooß, der rings die Welt geboren,
Du bist des Baumes Saft, das Blut der Poren,
Aus Dir entquillt der Tag, aus Dir die Nacht,
Du bist der Donner, Du des Frühlings Pracht,
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Du bist die Flamme, die den Kampf entzündet,
Die Liebe, drin der Strom der Zeiten mündet.
O laß auch dies Lied Dir gesungen sein,
Von Deines Athems Hauch durchdrungen sein!
Ein Schrecken faßt mich, meine Seele bebt
Vor diesem Sturm, der sich in mir erhebt,
Vor diesen Bildern, die mein Innres schaut,
Die einen blaß, die andren lichtumthaut,
Vor diesem Weg, von Nebelrauch umdampft,
Vom Schritt der Erdjahrtausende zerstampft –
Ach Weltgeist, ohne Dich ring' ich vergebens,
Du tränke mich vom Borne Deines Lebens!
Ich bin ein Griffel nur in Deiner Hand,
Ein Weizenkorn, Du sä'st es in das Land,
Aus meinen Worten sprüht ein Funke nur
Der Gluth, die mich umwogt auf Deiner Spur,
Dein ist die Kraft, ich bin Dein Eigenthum,
Und blüht ein Kranz mir, Dein ist aller Ruhm.
Volk das ich liebe, Volk, an dessen Kraft
Ich glaube, Du der Menschheit Blut und Saft,
Du grüne Eiche, schwellend von Geäst,
Dein Haupt trinkt Himmelsglanz, gen Ost und West
Streckst Du die Arme, erzgeschmiedet drückt
Dein Fuß des Erdreichs Kern, kein Sturmwind rückt
Zur Seite Dich um einer Spanne Raum,
Durch Deine Blätter rauscht ein Frühlingstraum,
Aus Deinem Wipfel klingt es wie Geläut:
Es kommt ein Morgen, der die Welt erneut.
Volk das ich liebe, alles was ich bin,
Bin ich durch Dich, so nimm als Opfer hin
Mein armes Lied, vielleicht mit tausend Reben
Wird es in Deiner Seele aufwärts streben.
Ihr aber, Freunde, reicht mir her ein Glas
Thaufrischen Rieslings! welch ein Trunk ist das!
Das Aug' wird hell, die Finsterniß zieht fort
Und auf die Lippe drängt sich Wort um Wort.

Notes
• Heinrich Hart Erstdruck in »Moderne Dichtercharaktere«.
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TextGrid Repository (2011). Arent, Wilhelm (Hg.). Das Lied der Menschheit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-002F-E