Cardenio und Celinde
Trauerspiel in fünf Aufzügen von Karl Immermann

Wir sind so ungewohnt, bei den dramatischen Dichtern unserer Tage Fülle der Gesundheit und Kraft und Mut zu finden, daß die Freude über diese schönen Gaben, wo sie ja einmal uns überrascht, uns zur Nachsicht stimmt und wir der Fülle die Ungemessenheit, dem Mute den Übermut und der Kraft ihre Rauheit gern verzeihen. Der Dichter dieses Trauerspiels hat sich als ein solcher gezeigt, dem wenig mangelt, der aber vieles zuviel hat – ein erträglicher Fehler, da wir hoffen dürfen, daß die Erfahrung, die leichter nimmt als gibt, ihn verbessern werde. Besonnenheit gibt die Zeit, Begeisterung der Herr der Zeit; die eine ist Lohn, die andere Geschenk. Wem aber der Himmel sich gnädig zeigte, dem soll auch der Mensch gewogen sein, und er soll nicht murren, daß dem Schlafenden geworden, was dem Wachenden gehörte. Wenn wir die Mängel rügen, die, wie uns dünkt, Cardenio und Celinde in sich schließt, so geschieht es diesmal nur, um zu zeigen, wie groß die Nachsicht sei, die dem Dichter gebührt, und wie viele Schulden seine gütige Natur für ihn bezahlt.

Cardenio und Celinde ... Dieses und ist hier aber nicht, wie in Romeo und Julia, das Liebeband, das zwei Leben zu einem bindet, sondern das arithmetische Plus, das zwei sich gleichgültige Größen miteinander verschwägert und die Familie weiter, aber nicht inniger macht. Die Einheit der dramatischen Handlung kann aber nicht durch Addition mehrerer Handlungen bewirkt werden. Herr Immermann hat, man begreift nicht, aus welcher Laune, seinen Stoff, der zu einem guten Rocke hingereicht hätte, zu zwei Wämsern verarbeitet. Es ist [314] einmal geschehen, und nachdem wir dieses gerügt, bleibt uns zu betrachten übrig, ob die Jacken schön paßlich und wie sie stehen.

Cardenio, ein junger Spanier, Student in Bologna, liebt Olympien, Lysanders, einer Magistratsperson, neuvermählte Gattin. Er war ihrer Gegenliebe froh, sie war ihm schon als Braut zugesagt, als sich plötzlich über den Morgen der Liebenden wie ein giftiger Nebel das Gerücht verbreitete, es sei in Olympiens dunkler Kammer ein Mann überrascht worden. Cardenio tappt umher, sucht ängstlich nach Licht, erwartet Erklärung; sie wird ihm nicht, Olympia schweigt. Der Spanier tritt zurück, entsagt der Geliebten. Da meldet sich Lysander, der sich schon früher, aber unglücklich, um Olympiens Gunst beworben, und bietet ihr seine Hand an. Diese, in der Lebensgefahr ihrer Ehre, ergreift den rettenden Arm und wird Lysanders Gattin. Olympia war unschuldig, sie kannte selbst den Mann nicht, der sie im Dunkehl in seine Arme geschlossen. Sie dachte und hoffte, es sei Cardenio gewesen; als dieser aber schwieg, mußte sie dulden. Nach der Hochzeit gestand ihr Lysander, er sei es gewesen, der sich mit Hilfe einer bestochenen Dienerin zu ihr geschlichen. Er habe durch diese List bezweckt, was er durch sie erreicht –


Meine Kühnheit
Trug mich zum Ziel der allerfernsten Wünsche
Und lehret, daß Verstand die Welt beherrscht.

Lysander ist übrigens ein leidlicher Mann, und Olympia konnte, ohne schweren Kampf, ihre alte Neigung ihrer neuen Pflicht aufopfern. Cardenio trägt einen verzeihlichen Groll in seinem Herzen – nicht gegen Lysander, dessen redliche Bewerbung er nicht schelten kann, sondern gegen den unbekannten Dieb seines Glückes. Er will Bologna, den Schauplatz einer so schmerzlichen Begegnung, verlassen, doch vorher noch versuchen, ob er Olympien [315] zu keiner Erklärung bewegen könne. Er denkt, müsse er sie schuldig finden, wolle er eine unedle Neigung aus seinem Herzen verbannen; rechtfertige sie sich, könne er von einer schönen Vergangenheit ein reines Bild mit in seine Heimat nehmen. Er bittet Olympien um eine Zusammenkunft. Diese, schwach, gewährt ihm, was sie ihm früher versagt, und schwächer, gesteht sie dem ungestüm Fragenden, daß Lysander, ihr Gatte, der Mann gewesen, der sich in ihr Zimmer geschlichen. Jetzt weiß Cardenio, wen er zu hassen; doch Lysanders Wert verkennt er noch immer nicht. Er sagt von ihm:


Er ist gerecht und edel, schädigt keinen,
Er ist bereit, wo Wais' und Witwe weinen,
Er liebt Olympien und sagt mit Fug,
Daß sie der Freude hat bei ihm genug –
Und ist ein Schurke doch mit Haut und Haar,
Ein Aff' und Schurke, wie kein zweiter war.
So kämpft der Unglückliche mit seinem Hasse, ihn bald überwältigend, ihm bald unterliegend –
Das Herz ist nur ein Taubenschlag, Gefühle
Ziehen flatternd aus und ein –

sagt Cardenio ein anderes Mal. Ja, wenn es nur Tauben wären! Aber der Geier kam auch, und der Teufel siegte. Cardenio überfällt den heimkehrenden Lysander bei Nacht auf der Straße und tötet den Unbewaffneten. Er tut es im Sinnesrausche. Die Tat war um so weniger schlimm, als es der Rausch mehr gewesen. Der Wein war mit sinnverwirrenden, sinnbetäubenden Dingen gemischt. Wer reichte ihm den unseligen Becher? Ein langer, ein sehr langer Arm! Ein breiter Strom trennte den Mundschenken von dem Trinker; ein Eisendraht war über den Strom gezogen, und über diese schmale Brücke kam das umzauberte Schicksal hergeritten. Gehen wir jetzt an das andere Ufer; glauben wir nur, führt uns die gefährliche Brücke auch hinüber.

[316] Celinde liebt Cardenio, der ihre Liebe nicht erwidert. Celinde ist ein leichtfertiges Mädchen, von ihrem Blute dem Laster verkuppelt. Sie ist gutmütig, weil sie schwach ist, aber sie hält sich für gut, weil sie schlecht ist nach Grundsätzen. Den durchsichtigen Schleier ihrer Buhlerei verbrämen Floskeln genug. Mit heißer Leidenschaft liebt sie den jungen Spanier, sie, die so viele verschmäht, denn:


Er weiß zu quälen – das, das ist der Punkt,
Wer uns zu quälen weiß, dem huld'gen wir,
Wir mögen nicht in Ruhe sein.

»So sind alle Weibsbilder; wenn man sie nicht immer beängstigt, so wird ihnen übel« – hat der ungeschlachte Falstaff in seiner Sprache schon längst gesagt. Celinde erfährt, daß sich Cardenio zur Abreise vorbereite. In so enge Zeit eingeschlossen, schlägt ihre Leidenschaft hoch in Flammen auf. Sie klagt, sie weint. Sie läßt Tyche rufen, eine alte Dienerin, eine Haushexe. Sie sagt ihr: da sie umzugehen wisse mit Kräutern und Tränken, mit Karten und Sprüchen, möge sie ihr doch raten und helfen in ihrer Liebesnot. Tyche murmelt: gegen solche Pein und Betrübnis gäbe es wohl Mittel genug, doch wären sie für so junges, süßes Blut zu scharf. Celinda ist gierig und glaubt nur neugierig zu sein. Sie forscht weiter, sie läßt sich erzählen von den Zaubermitteln. Tyche spricht:


Wenn wir das Herz von jemand kriegen können,
Der dich recht zärtlich liebt, und weihn's mit Sprüchen
Und brennen's dann zu Asche und vermischen
Die Asche mit 'nem Kuchen oder Wein
Und bringen diesen Kuchen oder Wein
Cardenio'n bei, wird er ein anderer Mensch,
Er folgt dir wie der Pudel seinem Herrn.
Laß peitschen mich, wenn es nicht zutrifft, Kind!

Celinde lacht die Hexe mit ihren Tollheiten aus und schickt sie fort.

[317] Im Haufen von Celindens unerhörten Anbetern steht auch der Johanniterritter Marcellus. Celinde lebt von seinen Geschenken, läßt sich dankbar liebäugelnd Schreibfedern von ihm schneiden und hält ihn am seidenen Faden ihrer Reize nah und fern. Ein Türkenkrieg ruft den geistlichen Ritter von Bologna ab; er will auf den Abend Celinden zum letzten Male besuchen. Vor ihm kommt Cardenio, auch um von Celinden, als einer Bekannten, Abschied zu nehmen. Celinde weiß ihren Schmerz zu beherrschen, sie scheint ruhig und heiter und scherzend empfängt und entläßt sie den Freund, um, nachdem er fort war, lauter aufzujammern. Der Augenblick ist gekommen, wo die Unglückliche wählen muß zwischen ihrer Seligkeit und ihrem Geliebten. Wie eine verlorne Mücke flattert sie matt um das trübe Licht, das sie endlich erhascht. Sie läßt Tyche rufen, läßt sich von ihren Zaubertränken noch einmal erzählen; immer liebetrunkener horcht sie auf. Da wird Marcellus gemeldet. Tyche führt ihn in ein Seitenzimmer, verbindet ihm die Augen und heißt ihn schweigen und sich ruhig halten. Auf des Ritters Verwunderung und Frage wird ihm geantwortet, so sei es Celindens Laune, und sie werde bald kommen. Jetzt nimmt Tyche einen Dolch, bringt ihn Celinden und sagt ihr, das Herz zum Liebestrank sei gefunden; sie solle Marcellus ermorden. Celinde tritt entsetzt zurück. Die Hexe, unbekümmert um die Rechtfertigung vor dem Himmel, denkt, sie werde die Tat, wenn sie einmal geschehen, vor Celinden zu verantworten wissen. Sie selbst stößt dem Ritter den Dolch in die Brust. Celinde, im andern Zimmer, hört den Angstschrei des Getroffenen; Marcellus, der sich aufgerafft, stellt sich blutend unter die Türe und überhäuft Celinden mit den Verwünschungen eines Sterbenden; dann sinkt er nieder. Celinde fällt in Fieber und Wahnsinn; das Bild des blutigen Ritters steht gebannt vor ihren Blicken. Tyche sucht sie zu beschwichtigen, [318] ihr lügend, sie habe die Tat nicht vollführt, der Ritter sei nicht ermordet, sondern fort, zu Schiffe gegangen. Celinde beruhigt sich, Tyche nimmt des Ritters Herz und bereitet den Liebestrank. Sie sucht dann Cardenio auf, erzählt ihm, sie komme von Olympien, die, krank an süßen Vorwehen einer Mutter, nach ihr geschickt, um sie zu streicheln; denn es sei bekannt, sie habe »einen guten Strich«. Die Alte malt es mit brennenden Farben, wie reizend Olympia »im puren Hemdchen« dagesessen; sie peitscht Cardenios Blut, daß es hoch aufsteigt und ihm die vollen Adern den Hals einschnüren. Ihm wird wehe, er fordert einen Trunk, Tyche reicht ihm den Becher mit dem Liebestranke. Cardenio findet den Wein »trüb und molkig«; doch er trinkt ihn, er trinkt und leert den Becher. Plötzlich, wie aus einer langen Vergessenheit erwachend, fragt er: »Was macht die liebliche Celinde?« Der Zauber hat gewirkt. Cardenio geht zu Celinden, ergibt sich ihr. In diesem Taumel der Sinne, von Wein und Blut und Liebe vergiftet und berauscht, lauert er dem klugen Lysander auf und tötet ihn, wie wir erzählt.

Die Tat geschieht vor Lysanders Wohnung. Darauf stößt Cardenio das blutige Racheschwert, als Zeichen heiliger Fem, in die Haustüre und eilt fort. Sein Freund Pamphilio, der umhergegangen, ihn aufzusuchen, kommt an die Stätte des Verbrechens, sieht die Leiche, sieht das Schwert, nimmt es in die Hand und wird so von Lysanders Dienern, die aus dem Hause gekommen, übereilt und für den Mörder gehalten. Einer derselben schlägt ihn nieder. Doch die Wahrheit wird bald kund. Unterdessen hatte Marcellus' geängstigter Diener, der seinen Herrn nirgends finden konnte, sich an die Gerichte gewendet. Es wird ausgeforscht, daß der Ritter in Celindens Wohnung gewesen, man findet dort seine Leiche, man findet sein Kreuz unter Tyches Gepäcke, die Hexe wird festgenommen, [319] sie bekennt den Mord. Celinde und Cardenio, durch Liebe und Verbrechen aneinandergekettet, wollen entfliehen. Es ist Morgen. Cardenio geht die Straße hinab, zu sehen, ob sie noch unbesetzt von Wächtern sei. Lysanders Geist versperrt ihm den Ausweg, er flieht entsetzt zurück. Celinde sucht seine kranken Einbildungen zu beschwichtigen, sie auch geht an das Ende der Straße; da erscheint ihr Marcellus' zürnender Geist, sie stürzt zu Boden und stirbt am Schrecken. Cardenio fällt in die Hände des Gerichts, und um dem Blutgerüste zu entgehen, stürzt er sich in sein eignes Schwert. Tyche wird zum Scheiterhaufen geführt. –

Die menschlichen Schicksale, welche die Kunst des Tragöden nachbildet, müssen, und wären sie noch so ungeheuer, doch immer menschliche Gestaltung haben. Aber in Cardenio und Celinde wird kein Bild der sittlichen, es wird nur eines der sinnlichen Natur des Menschen aufgestellt. So darf es nicht sein. Das Ebenbild Gottes soll nie unkenntlich werden; auch irrende, selbst verworfene Menschen sind nur gefallene Engel; doch in diesem Trauerspiele sind alle Menschen nur emporgehobene Tiere. Der Dichter hat sie fehlerhaft in zwei Gruppen geordnet, welche Ohr und Auge und Betrachtung und Empfindung teilen. Doch wäre es nur das allein; es ist aber noch schlimmer! Cardenio gehört zu beiden Gruppen; als der Diener zweier Herren ist er bald hier, bald dort, man weiß nicht, wo man ihn zu suchen, und die Aufmerksamkeit geht oft vergebene Wege. Die Empfindung, die wir nicht ganz dem Ganzen geben können, können wir auch nicht unter das Einzelne verteilen. Es ist nichts, das Liebe, nichts, das Abscheu einflößt. Das Schicksal schneidet Gesichter, und wir lachen nur darum nicht, weil sie von Krämpfen herkommen. Fünf Menschen sterben, den sechsten sehen wir zum Tode führen – und wir bleiben kalt. Fünf Menschen lieben siebenmal, [320] und keine dieser Liebesarten rührt uns. Cardenios Liebe zu Olympien geht früher unter, als der Vorhang aufgeht, und wir sehen nur noch ihren blutroten Abendschein. Seine Liebe zu Celinden ist ein Fieberwahn. Olympiens Liebe zu Cardenio ist eine erkaltete, ihre zu Lysander eine vernünftige; Marcellus' Liebe ist eine unwürdige. Lysander liebt wie ein Ehemann und Celinde wie eine Buhlerin. Tyche ist ein gemeines, aberwitziges, altes Weib. Es schimmert ein Lichtschein, der sie hätte verklären können, aber er ist zu weit entfernt. Tyche war einst von Celindens Vater verführt worden, und es war ihr davon »ein blöder Junge« übriggeblieben. Der Dichter hat dieses Verhältnis nicht benutzt; auch wäre wohl nur etwas Psychologie herausgekommen. Der Schicksalstrank, hier die chemische Flüssigkeit, die löst und bindet, ist »trüb und molkig«. Wir wissen wohl, daß es Zauber und Wunder gibt, doch nur für die, welche daran glauben. Aber Cardenio weiß nicht, was er trinkt, und es wirkt doch – das ist nicht Sympathie, das ist nüchterne Physik, und wir fragen prosaisch die Toxikologie, ob solche Wirkung möglich sei?

Doch bei allen ihren Mängeln hat diese Tragödie etwas, das wohl gefällt. Der Dichter kränkelt nicht ohne Ende und Hoffnung; er hat von jenen tüchtigen Übeln, aus welchen der Kranke, genest er nur, kräftiger hervorgeht. Die Sprache ist frisch, die Bilder quellen hervor, sie brauchen nicht gepumpt zu werden. Wir freuen uns des guten Stoffes, können wir auch nicht seine Gestaltung loben; wir freuen uns des edlen Marmors, denn jenes matten Biskuits und schalen Alabasters sind wir satt und übersatt. Der Kraft fehlt die Anmut, wohl nicht auf immer, denn sie fehlt der Kraft. Das Leben eines Dichters ist ein Gastmahl, zu dem sich die Götter alle, wenn sie ihm gnädig sind, versammeln. Die Grazien aber kommen erst spät zum süßen Nachtische. Ehe sie erscheinen, vernehmen [321] wir ungemessene Reden, hören wir Männerspäße erschallen, die, ob sie zwar den Wein loben, sich nicht geziemen. Doch die Anmut erscheint, und der Übermut verschwindet.

[322][323][329]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Schriften. Theaterkritiken. Cardenio und Celinde. Cardenio und Celinde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3C6C-1