[831] [871]Für die Juden
1.

Für Recht und Freiheit sollte ich sagen; aber verstünden das die Menschen, dann wäre keine Not, und es bedürfte der Rede nicht.

Weil sie keinen Schwerpunkt haben, weder im Geiste, welches das Recht, noch im Herzen, welches die Liebe ist, straucheln und fallen sie bei jeder Bewegung, führt sie jeder Schritt weiter vom Ziele, macht sie jede Erfahrung unerfahrner, ist ihnen jede Erscheinung fremd und erwachen sie jeden Morgen neugeboren. Weil sie den Bau der Menschheit nicht kennen, erscheint sie ihnen nur als ein Gemenge von einzelnen, weil sie den Bau des Staates nicht kennen, ist ihnen dieser nur ein Haufen von mannigfaltigen Ansprüchen und Gelüsten, die alle nach Vorherrschaft streben und sich befeinden. Darum verwirrt so vieles die Sinne dieser armen Menschen, und fast zu grausam ist die Vorsehung, daß sie die Buße für Jahrhunderte der Schuld einem einzelnen Geschlechte aufbürdet.

Unser Vaterland liegt krank darnieder. Es zu heilen, darauf kömmt es an; aber so groß ist die Verworrenheit der Machthaber, daß man wünschen muß, es gäbe nur Übelwollende, denn die Gutgesinnten verderben am meisten. Jene sehen schadenfroh dem Übel zu und tun oft nichts Schlimmeres, als daß sie dessen Verlauf der Natur überlassen. Diese aber, mitleidig, hülfsbegierig [871] und unwissend, greifen handelnd ein. Alle Glieder leiden, und da üben sie für jedes und für jeden Schmerz eine besondere Heilungsart. Sie sind so toll, daß sie auf den fieberhaften Puls ein Pflaster legen, ihn zu besänftigen, als säße da der Grund des Übels. Oder wäre es nicht so? Kennet ihr den Blutlauf des Volkslebens, und hätte ich nicht erst um Verzeihung zu bitten, wenn ich von so weitaussehenden Grundsätzen zu den Juden – hinabsteige, wie ihr sagen werdet? Von den Hassern jener unglücklichen Menschen rede ich nicht; sondern von den Billigen, von den Gleichgültigen. Diese Judenverfolgung, mögen sie denken, das sei keine vaterländische Sache, eine Kleinigkeit. Freilich, eine häßliche beblatterte Lippe mag jungen Mädchen nur nicht küssenswert dünken; aber Heilkünstler sollten wissen, daß sie von bösen Säften zeuget.

Will man reden von dem unversöhnlichen Hasse, der schon achtzehn Jahrhunderte die Juden verfolgt, so darf man nicht von dem Geschehenen reden, sondern von dem, was geschieht und geschehen soll. In der vollbrachten Tat war Notwendigkeit, Freiheit ist nur in der zu vollbringenden. Was die Menschen verschulden, nicht was die Menschheit verschuldet, kann gerichtet werden; ein Irrtum, der fast zweitausend Jahre gedauert, steht höher als jeder Tadel. Doch wenn der betrachtende Geist hoch und ruhig schwebt über Nebel und tobende Gewässer, über Leidenschaften, über verwirrende Verhältnisse und jede Sünde und jeden Irrtum ausgleicht, so dürfen die niederstehenden, gemeinen, ruchlosen und wahnsinnigen Menschen dort oben keine Rechtfertigung suchen für all ihr Treiben. Denn wie die Erde sich um ihre Achse dreht, indem sie die Sonnenbahn durchwandelt, so hat auch der Mensch eine doppelte Bewegung, eine besondere und eine allgemeine. Diese reißt ihn unaufhaltsam fort; es ist sein Schicksal.

[872] Jene wird von seinem Willen bestimmt; es ist die Freiheit.

Worin das böse Verhängnis der Juden besteht, ist schwer zu erfassen, weil es seine Laufbahn noch nicht vollendet hat und erst im Tode der Dinge ihre Lebensbedeutung sich offenbart. Es scheint aus einem dunkeln unerklärlichen Grauen zu entspringen, welches das Judentum einflößt, das, wie ein Gespenst, wie der Geist einer erschlagenen Mutter, das Christentum von seiner Wiege an höhnend und drohend begleitete.

Aber wir wollen hinabsteigen zu den freien Handlungen der Menschen, tief hinab zu der sumpfigen Gegend, wo all das häßliche, giftige Schlangengezücht wohnt, das bösen Dunst verbreitet, so vielen unschuldigen Geschlechtern das Dasein verpestet und sie um den Preis ihres Lebens prellt.

Vormals hatte man aus Glaubenswut Juden und Ketzer verbrannt; aber weil dieses unmenschlich war, kann es nicht menschlich gerichtet werden. Man beraubte die Gemordeten; denn das Fett der Schlachtopfer war stets der Lohn der priesterlichen Dienste. Aber jetzt, da auch der ruchloseste Heuchler nicht zu sagen wagt, daß er die Juden wegen ihres Glaubens verfolge, womit wird jetzt die Bosheit beschönigt? Sonst dachte man, die Juden kämen nicht in den Himmel, und darum wollte man sie auch nicht auf Erden dulden; aber jetzt, da man ihnen den Himmel gönnt, warum möchte man sie immer noch von der Erde vertilgen?

Es wird mit der schamlosesten Heuchelei gegen die Juden zu Werke gegangen, es werden lügnerische Behauptungen mit solcher Keckheit geführt, daß selbst Gutgesinnte dadurch getäuscht werden, weil sie nicht glauben können, daß man sie so plump betrügen wolle. Darum will ich die Toren entlarven und den Bösewichtern ins Angesicht leuchten. Sie werden lärmen [873] und schwirren wie die aufgeschreckten Nachteulen. Die hochweisen regierenden Knechte werden sagen: man solle die Gemüter nicht aufreizen durch Reden. Sie meinen, wenn alles hübsch dunkel bliebe, dann sähen sich die Feinde nicht, und sie müßten Ruhe halten. Aber besser ist's, daß die Fackel der Wahrheit als die der Mordbrennerei die Nacht erhelle. Die Wahrheit reizt, ja; denn sie ist reizend; aber sie erbittert nicht. Das Gefühl der Beschämung schmerzt, aber es führt die Schuldigen zur Reue, nicht zur Wiederholung des Verbrechens. Das aufgeklärte Volk wird einsehen lernen, daß es das Schlechte nicht einmal zu seinem eignen Vorteile beging, sondern daß es das unredlich Erworbene einigen unersättlichen Aristokraten überlassen muß. Es wird begreifen lernen, daß man es zum Mißbrauche der Freiheit verleitete, um sagen zu können, daß sie keiner Freiheit würdig seien, und daß man sie zum Gefängniswärter der Juden bestellt, weil die Gefängniswärter wie die Gefangenen den Kerker nicht verlassen dürfen. Daß eine Türe mehr den Ausgang versperre, eine weniger, das ist der Unterschied; unfrei sind sie beide.

2.

In dem letzten Jahrzehen vor der Französischen Revolution wurden von deutschen Staatsgelehrten, wie für die Gesetzgebung überhaupt, so auch für die bürgerlichen Verhältnisse der Juden menschlichere und verständigere Grundsätze aufgestellt, und die Franzosen begannen ihre Staatsumwälzung damit, daß sie diese Grundsätze ins Leben einführten. In Westfalen, dem Großherzogtum Frankfurt und in andern deutschen Ländern, wo zur Zeit der Napoleonschen Herrschaft französische Regierungsart sich geltend gemacht, wurde die Rechtsgleichheit der Juden mit den übrigen Bürgern [874] verfassungsmäßig aufgenommen. Es geschah dieses ohne Widersetzlichkeit, ja ohne Murren des Volkes. Napoleon fiel, und Deutschland wurde frei. Alsobald erhoben sich im nördlichen Deutschland einige Schriftsteller, die gegen die Juden eiferten, und die freien Städte, das siebenschläferige Frankfurt besonders, suchten das alte Recht der Juden, oder vielmehr ihren ehemaligen rechtlosen Zustand, aus dem Staube der Archive wieder hervor. Es ist zu untersuchen, aus welcher Quelle das eine und das andere entsprang.

Bei den Deutschen, welche alle Tyrannei, unter der sie litten, dem Napoleon allein auf den Hals geworfen (denn es ist ein verführerischer Traum, an der Tyrannei nur einen Hals zu sehen), schmolz Freiheitstrieb und Franzosenhaß in ein Gefühl zusammen. Und wie man selbst das Gute verkennt oder verschmäht, was Feindeshände darbieten, so verkannte oder verschmähte man auch das Achtungswürdige, das mit der französischen Gesetzgebung ins deutsche Vaterland gekommen. So begann man nach Vertreibung der Franzosen hier und dort die bürgerliche Freiheit der Juden, die ihnen jene geschenkt, als etwas Verderbliches zu betrachten. Dazu kam, daß man die Juden für Freunde der französischen Herrschaft hielt, weil sie, wenn auch nicht weniger als die übrigen Deutschen gedrückt, doch sie allein für die Not einigen Ersatz gefunden. Es ist verzeihlich, wenn ein unbehagliches Gefühl uns gegen diejenigen anwandelt, die aus der Quelle unserer Leiden Vorteil schöpfen – ich meine, es ist eine verzeihliche Schwäche.

Die ruhmvollen öffentlichen Redner, welche das deutsche Volk entflammten und bewaffneten, wollten lehren, was sie gelernt, nämlich daß das Vaterland nur darum unterjocht werden konnte, weil es zerstückelt war. Die Einheit der Herrschaft konnten sie nicht herstellen, [875] so wollten sie wenigstens die Einheit des Volkes bewirken durch gleichen Geist, gleiches Herz und gleiche Nahrung für beide. Diese Nahrung aber, urteilten sie, müsse der kindlichen Natur und Schwäche der deutschen Freiheit angemessen sein, einfach und leicht aufzulösen. Die Juden mit ihrem Fremdartigen, mit ihrer abgeschlossenen Bildung erschienen ihnen zu selbständig, um mit der allgemeinen Freiheit assimiliert werden zu können, sie dünkten ihnen eine harte unverdauliche Speise. Dazu kam noch allerlei theatralischer Spuk. Man wollte wie in einer Oper ein unisones und uniformes Chor; man wollte nur Deutsche, wie sie aus den Wäldern des Tacitus gekommen, mit roten Haaren und hellblauen Augen. Die schwarzen Juden stachen häßlich ab. Endlich war es der zur Zeit des Befreiungskrieges noch dunkle Trieb, der erst jetzt zur Klarheit gekommen, daß nämlich alle das Streben und Kämpfen des deutschen Volks gegen die Aristokratie gerichtet sein müsse, dieser war es auch, welcher die Schriftsteller gegen die Juden feindlich stimmte. Denn die Juden und der Adel, das heißt Geld und Vorherrschaft, das heißt dingliche und persönliche Aristokratie, bilden die zwei letzten Stützen des Feudalsystems. Sie halten fest zusammen. Denn die Juden, von dem Volke bedroht, suchen Schutz bei den vornehmen Herrn, und diese, von der Gleichheit geschreckt, suchen Waffen und Mauern im Gelde. Man trenne sie, indem man den Juden die Beschützung von seiten der Großen entbehrlich mache, damit letztere zu keinen jüdischen Anleihen ihre Zuflucht nehmen können und unter Vormundschaft der bewilligenden oder versagenden Volksvertreter gestellt werden.

Seitdem es keines Symboles, keines Feldgeschreies, keines allen kenntlichen, allen sichtlichen Paniers mehr bedarf, und seit alle Deutsche wissen, um was sie kämpfen [876] und um was sie sich zu versammeln haben, hat der Franzosenhaß und haben die dazu entflammenden Predigten aufgehört. Ja, freundlich sind wir dem französischen Volke zugewendet; denn es hat für uns gekämpft, für uns geblutet, für uns gebüßt und gesündigt, und mit reinem Herzen dürfen wir ernten, was mehr als eine verbrecherische Hand säen half. Es lehrt uns, was wahre Freiheit sei und wie man sie verdient und wie man ihr nachgeht auf unblutigem Wege. Seitdem sind auch die Lehren des Judenhasses verstummt, und die Schriftsteller, die jene schädlichen Lehren zu verbreiten suchten, schweigen jetzt. Ihr Irrtum ist ihnen zu verzeihen, da sie von ihm zurückgekehrt. Sie haben es redlich gemeint, und die Wahrheit ist nie zu teuer erkauft, auch wenn man sie mit einem vorübergehenden Wahne bezahlte.

[877]

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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Schriften. Aufsätze und Erzählungen. Für die Juden. Für die Juden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3CA4-3