Ida Boy-Ed
Dorothea Schlözer

[107] Man kann kaum einen außerordentlichen Menschen näher betrachten, ohne alsbald auf eine Unerklärlichkeit in seinem Wesen oder seiner Betätigung zu stoßen. Der Geheimrat, Professor August Ludwig Schlözer, nachmals von russischen Kaisers Gnaden von Schlözer, war zu seiner Zeit der erste Historiker Deutschlands und sein Ansehen bei allen Regierungen und Fürsten ein so großes, sein politisches Urteil, das er vor allem in den »Göttinger Staatsanzeigen« zum Druck brachte, ein so gefürchtetes, daß Maria Theresia bezüglich der Teilung Polens die Worte sprach: »Was wird Schlözer dazu sagen?« Das bürgerliche Lebensbild des angesehensten Geschichtsschreibers weist beifallswürdige Linien auf: Schlözer war hochgeachtet, seine Schüler hingen an ihm, sein Familienleben war reinlich, er zeigte sich als gewissenhafter Vater gegen seine Söhne.

Und dennoch war ebendieser bedeutende Mann imstande, eine Handlung blindwütiger Gelehrtenrechthaberei zu begehen und dazu seine, ihm am 10. August 1770 geborene Tochter zu mißbrauchen. Sie war ein Wunderkind – vielleicht. Denn man kann nicht wissen, ob die Hirne anderer begabter Kinder Zumutungen erfüllen würden, wenn Eltern so töricht wären, ähnliche an sie zu stellen wie Schlözer an seine kleine [107] Tochter. Er unternahm es, die Intelligenz und die körperliche Frische seines eigenen Kindes bis zum Unglaubhaften anzuspannen, nur um einem Gegner etwas zu beweisen!

Schlözer haßte nämlich Basedow. Wir kennen ihn aus der kernigen Schilderung Goethes in »Wahrheit und Dichtung«. Basedows neue Anschauungen über Erziehung regten gerade damals alle Menschen an und auf, die sich für Pädagogik interessierten. Und das waren fast alle Gebildeten. Es ist sehr merkwürdig, wie die Erziehungs- und Ausbildungsfragen, die uns in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem großen Kriege so leidenschaftlich beschäftigten, hundertdreißig Jahre früher ebenfalls an der Schwelle ungeheurer Umwälzungen schon ihr Vorspiel hatten, mit fast genau den gleichen Hauptpunkten: die alten Sprachen und ihr Wert oder Unwert für den Bildungsgang; Ausschaltung der Religion aus dem Unterricht; die Frage der geschlechtlichen Aufklärung und viele andere Einzelheiten. – Von Rousseau beeinflußt, war Basedow ein Mann gesunden Gefühls, aber noch nicht geklärter Einsicht in die schwierigste Materie; er wünschte vor allem, was auch wir heute als das Erstrebenswerte erkennen: in freier Natürlichkeit gleichmäßige Ausbildung von Körper und Geist.

Schlözers Steckenpferd war nun aber Pädagogik. In seinen Liebhabereien ist jeder Mensch empfindlicher als in seinem eigentlichen Fach. Basedows Anschauungen reizten den Göttinger Professor, der in seinem Widerspruch gegen die neue Strömung jedes geschmackvolle Maß verlor. Er keifte gegen Basedow. Unterhaltsam liest sich die Vorrede, die er zu einem Erziehungsbuche [108] des Franzosen L.R. de Caradeuc de la Chalotais schrieb. Es ist eine literarische Schimpferei und beweist, daß der gute Ton in der Kritik des Gegners allezeit etwas Rares gewesen ist. Da nun Basedow obendrein das weibliche Geschlecht einer gelehrten Ausbildung für unfähig hielt, mußte ihm Schlözer einen Gegenbeweis liefern. Er mußte. Seine Professoreneitelkeit und seine Rechthaberei im Punkte der Pädagogik wären sonst erstickt in ohnmächtigem Zorn.

Und da war ihm denn seine einzige Tochter das willkommene, brauchbare, alles hergebende Beweisinstrument! Mit den Söhnen, die ihm die Ehe segneten, verfuhr er vernünftig. Die kleinen Fibeln, die er für ihren Leseunterricht verfaßte, sind sehr knapp, brauchbar und drollig; ebenso die Gedichte, die er zum Auswendiglernen für sie reimte. Aber Dorothea! Es ist, als stelle man eine Kuriositätenliste auf, wenn man aufzählt, was alles an Wissen in ihr junges Gehirn hineingestopft wurde! Die Mutter scheint kein Einspracherecht bei dieser geistigen Mißhandlung und verschrobenen Erziehungsmethode gehabt zu haben. Und doch hat die Frau künstlerische Fähigkeiten besessen, wenngleich verbildeter Art. Sie fertigte »Radelmalereien« an, das heißt, suchte, in der unausrottbaren und immer wiederkehrenden Bestrebung dem Material Gewalt anzutun, mit Nadel und Stickseide zu erreichen, was Aufgabe des Pinsels und der Farbe ist: Landschaften abzubilden. Hierin hatte sie solche Fertigkeiten erlangt, daß sie sogar 1806 zum Ehrenmitgliede der Akademie der bildenden Künste zu Berlin ernannt wurde. Vielleicht war das aber nur eine Höflichkeit gegen die Gattin des Berühmten und die Mutter der Berühmten.

[109] Ja, das Kindheitsbild der kleinen Dorothea war nicht vom hellen Sonnenschein sorgloser Jugendfröhlichkeit bestrahlt, sondern in seinem Rahmen häuften sich die dicken Folianten, und der Dunst des Bibliothekstaubes und der Druckerschwärze war ihr Atmungsstoff. Das gebräuchlichste Wort der Kindersprache »ich will« ist wohl nie über ihre Lippen gekommen, denn kaum, daß sie überhaupt sprechen lernte, hieß es schon immer: »Du mußt!«, und der Vater trichterte ihr Köpfchen voll. Mit einem Jahr und zwei Monaten fing ihr Leseunterricht an! Erquicklich wirkt es geradezu, daß sie mit zwei Jahren und acht Monaten zu stricken begann – gleichsam als schwache Betonung ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. Übrigens wurden später auch Tanz und Musik berücksichtigt. Schlözer ließ die Kleine auch Plattdeutsch lernen, weil er der Ansicht war, daß das Niedersächsische eine günstige Vorbedingung zur Erlernung fremder Sprachen sei. Alles, was in Dorotheas Leben und Umwelt geschah, fand auf das merkwürdigste hundert Jahre später sehr ähnliche Wiederholungen, als habe ein geheimes Gesetz obgewaltet, aus ihr gewissermaßen ein Probestück für Zukünftiges zu machen. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts tauchte abermals diese Anschauung auf, und viele Familien pflegten damals als Grundlage für jegliche Sprachübung mit ihren Kindern zuerst Plattdeutsch zu reden. – Wenn es denn wirklich ein Hilfsmittel war, durch diese Mundart leichter zur Bemeisterung fremder Sprachen zu gelangen, hat es bei Dorothea seine Schuldigkeit getan. Sie lernte bald auch Französisch, Englisch, Lateinisch, Italienisch, Schwedisch, Holländisch und Griechisch. Und mit siebzehn Jahren konnte sie sich in [110] zehn verschiedenen Sprachen mit gelehrten Männern über wissenschaftliche Gegenstände der verschiedensten Art unterhalten. Geometrie kam um ihr sechstes Jahr herum in ihren Lehrplan, und rasch schritt sie zur angewandten und höheren Mathematik vor. Aber natürlich war die Fachwissenschaft ihres Vaters vor allem die Materie, die sich wie ein Granitblock auf sie wälzte: sie mußte ihr eigenes Hauptfach daraus machen, dickbändige Werke durchstudieren und ihres Vaters Vorlesungen hören. Schon schwindelt einen, wenn man diese Überfülle bedenkt. Aber für Schlözers Bildungswahnsinn schien dies alles noch keine Abrundung des Wissens zu sein. Dazu gehörte für seine Wünsche noch viel. Zunächst stellte sich die Mineralogie als noch nicht durchgepflügtes Ackerland dar. Wenn man Dorothea zwang, es zu bearbeiten, konnten neue, aufsehenerregende Erfolge erwachsen. Göttingen war Universität, demnach fanden sich – man möchte beinahe sagen unglücklicherweise – für jedes Fach die besten Lehrkräfte bereit. Der Hofrat Gmelin unterrichtete sie. Aber dem theoretischen Wissen sollte das praktische angefügt werden. Bergwerkskunde zu studieren, war in Claustal im Harz Gelegenheit. Dort befuhr Dorothea zum Erstaunen ihrer Zeitgenossen in Mannskleidern die Gruben und gewann in fünf Wochen immerhin so viel Fachkenntnisse, daß sie sich von ihnen gestützt fühlen konnte, als sie ihr Buch über die Bergwerksgeschichte des russischen Kaiserreichs verfaßte.

Bei manchen Menschen beruhigen Erfolge die Eitelkeit; bei andern wird sie dadurch nur unersättlicher. Schlözers Vatereitelkeit und Gelehrtenrechthaberei rasten weiter. Und schwer nur hielt man ihn davon ab,[111] die Tochter auch einen vollständigen medizinischen Kursus durchmachen zu lassen. Für diesen mühsam bezwungenen Wunsch suchte seine Begierde einen Ausgleich. Botanik, Chemie, Naturgeschichte und Anatomie ließen sich noch auf den schon vorhandenen Bildungsballast häufen. Mit Schaufeln wurde die Gelehrsamkeit aufgeschüttet. –

Und so genoß Schlözer am 17. September 1787 den unsäglichen Triumph, daß seine Tochter, siebzehn Jahre alt, die Doktorwürde der philosophischen Fakultät von Göttingen erlangte. Es war eine große und in den zeitgenössischen Journalen mit Ausführlichkeit beschriebene Feier, bei welcher Dorothea im bräutlichen Schmuck erschien – wohl zur sinnbildlichen Andeutung, daß sie sich reinen Leibes und keuscher Seele der Wissenschaft gelobe. Schlözer war glückselig, und seine pädagogische Besserwisserei glaubte gegen Basedow ein Atout-As ausgespielt zu haben. Ihm entging völlig, da er Scheuklappen trug und nur den Gegner, nicht aber Natur und Entwicklungsgesetze vor sich sah, daß ein solcher Einzelfall nur Absonderlichkeitswert, aber keinen Beweiswert hatte.

An das Gemütsleben der Tochter, an ihre Nerven, ihre Körperfrische, an alle ihre Jugendrechte dachte er nicht.

Das Bild dieses lehrwütigen Professors wäre nicht schwer zu zeichnen. Wenige und keineswegs selten zur Verwendung gekommene Striche stellen ihn hin, denn er ist nur die Variante eines Typs. Schwerer ist Dorothea zu erfassen. Sie war ein Opfer. Ganz gewiß. Aber sie war es nicht durchaus und nicht in jeder Stimmung. Sie trug die Last, die man ihr aufbürdete, mit Seufzen. [112] Aber sie genoß auch voll Selbstgefühl alle die Bewunderung, die man ihr darbrachte. Ihr Kindheitsweg führte zwischen Weihrauchwölkchen dahin; das mag manchesmal die einfachen Jugendwünsche nach Spiel und Freiheit umnebelt haben.

In den trockenen Berichten von Zeitgenossen über diesen erstaunlichen Wissens- und Bildungsgang steht allerlei zwischen den Zeilen. Zuweilen huscht ein Wort vorbei und weckt Nachhall in der Seele – ein Wort, das von unerhörten Qualen eines jungen, geknechteten Geistes viel verrät. Die Art, wie sie aus alten Klassikern, aber auch aus manchen dürren Schmökern Sprachen lernen mußte, sagte ihr wenig zu. Aber der Wille des Vaters zwang sie, sich zu fügen. Täglich prüfte er sie. Wehe ihr, wenn diese Nachforschungen einmal nicht nach Wunsch ausfielen, wenn Dorotheas Gedächtnis eine Zahl entglitten war – dann brach heftiger Zorn über sie aus, gleich Ungewittern. Jedes Wissensgebiet, das betreten wurde, war von der Laune des Vaters, nicht etwa von der Neigung der Tochter gewählt, die gar nicht befragt wurde. Glückten einmal die ihr aufgezwungenen Arbeiten nicht sogleich, verfiel Schlözer in üble Stimmung und ließ die arme Kreatur darunter leiden. Von früh bis in die Nacht hinein saß Dorothea über Büchern gebückt, und man sieht ohne viel Aufwand und Phantasie ein erschütterndes Bild: Draußen lockt Sonne, Frühling und Jugendluft. Aber drinnen neigt sich ein blondes, schönes Mädchenhaupt schwer über bedruckte Seiten. Dorothea weiß: würde sie nur einmal die Stirn emporheben, um ihre Blicke sehnsüchtig hinausschweifen zu lassen – der sie bewachende Drillmeister drängte sofort mit heftigen Ermahnungen auf [113] sie ein! Sie soll doch seinen Behauptungen und seiner Eitelkeit zum Triumph verhelfen – also muß sie weiter gepeitscht werden, unaufhörlich; und je früher das Ziel erreicht wird, desto brillanter und beweiskräftiger scheint Schlözers Sieg.

Und während nun so gewaltige Wissensmengen über sie herfielen gleich Geröllmassen eines Bergsturzes, der alles liebliche Blühen niederdrückt, schlug ein Wort nie an ihr Ohr. Das Wort Poesie! Nichts erfuhr Dorothea, gar nichts von Dichtung, weder in Prosa noch in Versen, weder ausländische noch deutsche. Und Deutschland besaß schon Lessings und Klopstocks Werke, Goethes und Schillers Namen umglänzte schon junger Ruhm. Aber Schlözer haßte die Poesie und hielt die Beschäftigung mit ihr für leeren Zeitvertreib. Wie völlig paßt dieser Zug zum Bild des Mannes. Und wie oft fand und findet man den gleichen im Wesen so manches deutschen Gelehrten. Diese feindselige Haltung Schlözers gegen alle Poesie und alle schönen Künste kam in diesem Fall seinen Zwecken aber besonders dienlich entgegen. Dorotheas Phantasie wurde gar nicht geweckt! Vielleicht, nein gewiß: all dies Einpauken war nur möglich, weil die selbsttätigen, künstlerischen, phantasieüppigen Regungen der jungen Seele ruhten, gar nicht zum Erwachen kommend, wahrscheinlich sogar im Keime erstickt wurden (denn Dorothea ist immer nur Aufnehmende geblieben, nie Schaffende geworden). Und so wurde die rein gedächtnismäßige Verarbeitung des Lernstoffes nicht von Beunruhigungen durchkreuzt.

Als Abwehr und Schutz gegen diesen Vater, der leicht hätte zerstören können, wo er ein Wunderwerk[114] aufbauen wollte, war Dorothea vom Geschick eine zur Gleichmäßigkeit neigende Verstandsnatur geworden. Außerdem besaß sie etwas Prachtvolles: eine köstliche Heiterkeit und Gesundheit. Dank dieser beiden Eigenschaften verdorrte oder zerbrach sie nicht in der wahnwitzigen Jagd nach welken Lorbeeren. Denn der frischgrünende Zweig freudig erworbenen Wissens oder begeistert geübter Kunst war es ja nicht. Und wie wenig auch im Grunde dem Vater selbst dieser Studiengang für die Tochter eine heilige Notwendigkeit gewesen war, sollte sich später noch erweisen. –

In größeren Zwischenräumen konnte Dorothea etwas Luft schöpfen. Es öffneten sich dann die Pforten ihres Bibliotheksgefängnisses. Sie wurde mit auf Reisen genommen. Aber auch auf diesen würde sie, soweit es auf den Vater ankam, nichts Wertvolles erhascht haben, wenn ihr nicht ihre angeborene gewinnende, frische Art Freunde erworben hätte. Um so mehr erweckte sie gütige Gesinnung, sicher auch wohl heimliches Mitleid, denn es mag manche mütterliche Frau Weh empfunden haben für die um alle Kinderlust Betrogene. Ihr Vater sah auf Reisen weder etwas von Kunst noch Natur. Er kannte nur sein Fach und verachtete jedes andere. Landschaften sprachen nicht zu einem Geiste wie dem Schlözers, der überdies kurzsichtig war. Also fuhr er an allem vorbei, ohne zu erwägen, ob seine Tochter sich etwa an Gottes Wundern in Berg und Tal erbauen möge – eine solche Art von Erbauung wäre überdies im Basedowschen Geschmack gewesen. Also: blind vorüber an den Zaubern der Welt! Die Kunstschätze Roms wären Dorothea völlig unbekannt geblieben, wenn bei ihrem Aufenthalt dort nicht Wilhelm Heinse, der Verfasser [115] des ›Ardinghello‹ sie herumgeführt haben würde. Schlözer war wohl ahnungslos, wer Heinse sei – ein Dichter! So etwas stand nicht in Schlözers Sehfeld. Ein weit- und literaturkundiger Vater würde doch vielleicht Bedenken getragen haben, die noch sehr junge Tochter gerade einem Poeten anzuvertrauen, der aus seiner liederlichen Phantasie und dem Prinzip, den glühenden Genuß des Augenblicks über alles zu stellen, gar kein Hehl machte. Schlözer überließ aber seine Tochter sich selbst; er war oft von Rom abwesend und hatte seine übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, die darin bestanden, eine Gruppe reicher junger Engländer durch Italien zu geleiten. – Derweilen konnte Dorothea dann in freundlichen Familien von seiner Geisteskultur aufleben und an Stelle der plebejischen Schufterei des Lernens um des Lernens willen das warmblütige, beglückende Erfassen kostbarer Werte setzen. – In Rom hatte sie auch eine Begegnung mit Pius VI.! Der Ruhm ihrer frühreifen Gelehrsamkeit war sogar bis zum Heiligen Vater gedrungen. Er wünschte sie zu sehen – noch hatte er Zeit für die absonderlichen Erscheinungen im römischen Fremdenverkehr; die Umwälzungen, die am Bestande des Kirchenstaates rütteln sollten, warteten noch hinter der Tür. Eine Begegnung mit dem Papst – das war eine solche gewichtige Angelegenheit, daß sie nicht ohne mancherlei Umstände und Vorbehalte in Szene gesetzt werden konnte. Dorothea mußte an einer bestimmten Straßenstelle warten, wo der Papst dann seine Karosse halten ließ. Auf diese Weise sah alles wie ein Zufall aus, und am Wagenschlag kniend, durfte sie huldvollen Fragen bescheidentlich antworten.

Höher noch als diese Auszeichnung wird Schlözer[116] eingeschätzt haben, wie man später in Straßburg seiner Tochter huldigte. Als sie mit ihrer Mutter zu kurzem Aufenthalt einmal dorthin reiste, wallfahrte eine ansehnliche Deputation zu dem jungen weiblichen Doktor: geführt vom Rektor der Universität selbst, kamen Professoren und überbrachten ihr eine Matrikel.

Wieviel froher gestaltete sich aber das Reisen, wenn sie die freien, ergiebigen Stunden nicht nur zufälligen Fügungen abzuringen brauchte. Mit Freunden aus Göttingen fuhr sie 1790 zur Wahl und Krönung Kaiser Leopolds II. nach Frankfurt am Main. Und dort tat sie etwas ganz Einfaches und für ihre Jahre Selbstverständliches: sie unterhielt sich froh in allen Vergnügungen ungelehrtester Jugend! Dergleichen unwürdige und – weihrauchlose Dinge hatte Vater Schlözer sich aber nicht gedacht, sondern vielmehr erwartet, daß sie akademische Vorlesungen halten solle. Als nun die Kunde solcher Unnatur – dem Vertrockneten ist das Natürliche Verbrechen – zu ihm kam, kochten die Milliarden Buchstaben in seinem Gehirn, und aus dem Dampf des Zornes zuckte Blitzstrahl in Gestalt eines Heimkehrbefehles.

Aber es stand schon in fester Schrift in den Sternen geschrieben, daß die Tochter nicht mehr lange das Opfer der Basedow-Feindschaft und Vatereitelkeit bleiben sollte. Kurze Zeit, nachdem Dorothea heimgekehrt war, reiste ihr Vater mit ihr nach Hamburg, Kiel und Lübeck. Es war im April 1791.

Zu dieser Zeit lernte Dorothea in Lübeck den Senator Matthäus Rodde kennen. Er, der schon einmal vermählt Gewesene, warb um ihre Hand, und sie sagte freudigen Herzens ja. Daß bei diesem Bündnis von ihrer [117] Seite die Gedanken an seinen Reichtum mitsprachen, darf man annehmen, denn sie hatte schon als Fünfzehnjährige einmal brieflich einer Freundin erklärt, daß sie niemals einen unbemittelten Mann heiraten werde. Und bei Rodde rührte sich wohl etwas die Eitelkeit, der es gefiel, eine so berühmte und schöne Frau sich zu erwerben. Aber beide Teile waren sich kaum dieser Nebenströmungen deutlich bewußt oder hielten sie jedenfalls hinter der Schwelle der Eingeständnisse, die man sich selbst macht. Von außen gesehen, war es eine Neigungsheirat.

Und hier tut sich ein neues Rätsel auf. Man denkt vielleicht, ein Kampf sei an diesem Wendepunkt entstanden? Zwanzig Jahre lang hatte Schlözer seine Tochter in den Dienst der Gelehrsamkeit gezwungen, im Brautschmucke sie der Doktorwürde zugeführt. Man konnte denken, daß es ihm eine teure Pflicht gewesen sei, ein unerhört begabtes Geschöpf ihrer besonderen Vorbestimmung gemäß der heiligen Wissenschaft ganz zu weihen. Aber nun sah man es deutlich: sie war ihm nur das Beweismittel zu seinem Zweck gewesen! Eine Heirat mit einem sehr wohlhabenden, klugen – aber gar nicht gelehrten –, in seinem hanseatischen Gemeinwesen angesehenen Mann konnte geschlossen werden, und Schlözer erhob nicht den geringsten Widerspruch, man merkte nichts von einem Zwiespalt, der doch hätte entstehen müssen, wenn die vorangegangenen zwanzig Jahre von unverbrüchlichen Notwendigkeiten bestimmt gewesen wären!

Dorotheas Linie bog sich plötzlich ganz um. Den Doktorhut umkränzte die Myrte, und sie weihte sich dem natürlichen Frauenberuf. Aus dem dürren Staub[118] der Bibliotheken kam sie hinaus in den rasch dahinflutenden Strom der Zeit. Das sklavische Studium war vorbei. Die gewaltigen Aufgaben des Lebens wollten erfaßt und bewältigt werden.

Dieser Strom der Zeit floß nicht mehr im sicheren Bett; er quirlte dahin und nagte an allen festen Ufern. In Frankreich fielen die Häupter des Königs und der Königin; von der Revolution aus führten elektrische Fäden in jede Intelligenz in ganz Europa, und überall glühten Funken auf. Ein neuer Name hallte durch die Welt, und man horchte auf, wo er erklang: Napoleons Stern stieg am noch düsterroten Himmel empor.

Dorothea konnte nun von zunächst noch sicherer und freier Stätte aus allen Ereignissen lebendig anempfindende Zuschauerin sein. Sie fühlte sich in einer freundlich-liebevollen Ehe geborgen und genoß in reiner, unverbildeter Kräftigkeit und Pflichttreue das Glück, Mutter dreier Kinder zu sein, immer deutlicher erweisend, wie ungebrochen die schöne Gesundheit ihrer Natur im Unfug ihrer Erziehung geblieben war. Ihr Haus war reich und gastfrei; der seiner Gattin ergebene Mann ließ sie darin schalten und sich mit allen ihren Neigungen nach ihrem Gefallen einrichten. Endlich konnte sie auch ihrem Kunstsinn Nahrung zuführen, den der Vater ja völlig hatte darben lassen. Wer mit ihr in Verkehr trat, war erstaunt über die natürliche Ungezwungenheit ihrer Art. Niemals funkelte es anspruchsvoll hervor, daß sie an Wissen sich reicher wußte als fast alle Männer, mit denen sie in der Hanse- und Handelsstadt in Berührung kam. Der Erziehung ihrer Kinder widmete sie sich mit völliger Hingabe. So gelangte sie in diesen ersten ungetrübten Jahren recht zum Genuß ihrer eigenen [119] Persönlichkeit, was vielleicht, wenn die Selbstkritik dabei nicht verlorengeht, der Genuß ist, der das stärkste Lebensgefühl erzeugt. Und dieses schon so reiche Dasein wurde vollends zur Harmonie umrundet durch eine edle Freundschaft, die verhütete, daß Dorothea, inmitten ihrer vorwiegend mit den wirtschaftlichen Daseinsbedingungen beschäftigten Umwelt, geistig darbte.

Charles de Villers hatte seine französische Heimat verloren. Er war Autodidakt. Vom Militärdienst, dem artilleristischen, also der »gelehrten Waffe« ausgegangen, wandte er sich der Philosophie zu. Mit tiefem Verständnis für deutsche Art und Kultur drang er in Kants Werke ein. Und er war der erste, der diesen strengen Namen und diese granitene Philosophie vermittelnd nach Frankreich hinübertrug. Daß sie dort nur äußerlich zur Kenntnis genommen werden und nie in französisches Wesen eindringen konnte, hat sich Villers nicht gesagt. Und die Offenbarungen, die 1870 wie 1914 brachten, haben leider deutlich erwiesen, daß alle Vermittlungsversuche dieses edlen Franzosen vergebliche Liebesmühe gewesen sind. Er aber widmete ihnen kühn und selbstlos sein ganzes Leben, dem die ebenso reine als leidenschaftliche Ergebenheit für Dorothea Rodde den Schimmer einer melancholischen Poesie gab. Die Revolutionsmänner in Frankreich hatten ihm seine Schrift über die Freiheit gewaltig übelgenommen. Er mußte fliehen. Auf Irrfahrten durch allerlei deutsche Städte kam er nach Göttingen, um Schlözers Vorlesungen zu hören, und lernte dort Dorothea kennen. Für sie schrieb er damals in Briefform eine Anweisung über die beste Methode, sich der französischen Sprache zu bemächtigen.

[120] Villers war mittellos und blieb es sein ganzes Leben. Er versuchte von Göttingen über Lübeck nach Petersburg zu kommen. In der Hansestadt sah er Dorothea wieder. Ein wundervolles geistiges Verstehen flammte zwischen beiden auf, und Rodde bot ihm mit einer vornehm großartigen Geste eine unbegrenzte Gastfreiheit an. Für alles, was er an Wohltat von dem Mann und an geistigem Besitz von der Frau empfing, hat er in ernsten Tagen später, wichtig und praktisch, heiße Dankbarkeit erwiesen. In jenen Zeiten waren die auf der Grenze zwischen Liebe und Freundschaft stehenden Seelenbündnisse sehr häufig. Die Vorbedingungen dazu lagen in den ungeheuren und erregenden Umwälzungen alles Bestandenen. Dennoch blieb es nie aus, daß solche Seelenbündnisse die Mäuler der Zeitgenossen und die Federn der Nachwelt in Bewegung setzten. Nicht jedermann würdigte, wie sollte auch der Alltägliche je verstehen, was den Auserlesenen Notwendigkeit ist, daß zwischen dem edlen Franzosen und der bedeutenden Frau ein herrlicher Austausch von Kulturblüten ihrer Nationen stattfand. Villers fand in Dorotheas Nähe aber auch Männer von literarischem Ruf; mit dem Eutiner Dichterkreis wurden lebhafte gesellige Beziehungen unterhalten. Der Briefwechsel, den Villers hinterließ, zeigte, daß die erlesensten Deutschen der Zeit, an ihrer Spitze Goethe, Dank und Verständnis für sein Wirken hatten. Daß Frau von Staëls Werk über Deutschland auf Beeinflussung von Villers zurückzuführen ist, haben seine Biographen dargelegt; er war ihr unmittelbarer Vorläufer, aber auch der tiefere Erkenner deutscher Art. Und ganz gewiß hat die genaue Kenntnis einer edlen deutschen Frau, deren Seele und Leben offen[121] vor ihm dalag, sein Verständnis so eindringend werden lassen.

Auf die Beziehungen zwischen Villers und Frau von Staël und auf deren Stellung zu seiner Freundschaft für Dorothea Rodde-Schlözer einzugehen, gestattet der Rahmen des Aufsatzes leider nicht. Dieses interessante und wenig gekannte Blatt der Literaturgeschichte schlage ich vielleicht ein anderes Mal auf.

Aber all dies freundliche Glänzen und hohe Streben konnte nicht ungestört bleiben. Über Europa ballte sich das furchtbare Gewölk der napoleonischen Kriege zusammen. Wenn kleine politische Gemeinwesen in das Chaos großer kriegerischer Bewegungen hineingerissen werden, trifft es sie härter als den widerstandsfähigeren großen Staat. Im unglücklichen Kriege, den Preußen und Österreich seit 1792 gegen Frankreich führten, kam es endlich soweit, daß auch die drei Hansestädte laut Reichsbeschluß zum Unterhalt all der Truppen beitragen sollten, obschon sie eine Anerkennung ihrer Neutralität von Frankreich hatten. Sie trachteten durch Gewährung einer großen Anleihe an Frankreich, sich diese Neutralität besonders zu sichern. Aber dann fiel es Rußland ein, die Neutralen zu beschützen! Ähnlich wie England »beschützt« – Kaiser Paul ließ dänische Truppen in Lübeck einziehen. So hatte die Stadt von allen Seiten her Last aufgebürdet bekommen. In Rastatt tagte in jenen verworrenen Jahren ein Kongreß, und Dorotheas Gatte, der Senator Rodde, vertrat dort die Interessen seiner Vaterstadt. Ein Kongreß wie alle, das heißt mit sich fortsetzenden Unklarheiten als Resultat. Endlich schien es für die Hansestädte geraten, in Paris selbst mit dem Konsul Bonaparte zu verhandeln; Lübeck[122] schickte Matthäus Rodde hin, der inzwischen von Kaiser Franz II. in den Reichsfreiherrnstand versetzt worden war.

Und so kam Dorothea nach Paris. Mit ihren Kindern, in Begleitung von Villers, folgte sie dem Gatten; wer war berufener als der teure Freund, ihr die Kunstschätze der interessantesten Stadt der Welt (und das war Paris gerade damals) zu zeigen. Rodde, ein diplomatischer Kaufmann und kaufmännischer Diplomat, eine staatsmännische Mischung ersten Ranges, von welcher es den Hansestädten in ihrer vielhundertjährigen Geschichte bis auf den heutigen Tag nie an prächtigen Exemplaren gefehlt hat, ging unterdes seinen politischen Geschäften nach. Sie waren unerquicklich, und »Geldzahlungen« hieß das ständige Leitmotiv, bei deren Zusicherungen, besonders an den unersättlichen Talleyrand, Rodde seinen persönlichen Kredit in der aufopferndsten Weise einsetzte, um nur die Selbständigkeit seiner Vaterstadt zu retten. Es gelang ihm – scheinbar. Roddes diplomatische Umsicht ebenso wie seine Eitelkeit auf seine schöne, berühmte Frau berieten ihn dahin, Dorothea fürstlichen Aufwand treiben zu lassen. Da nun auch Villers von seinen inzwischen zu Macht gelangten Freunden freudig willkommen geheißen worden war, so machten sie viel Aufsehen in Paris, und der deutsche weibliche Doktor war geradezu Mode. Man führte damals in verstümmelter Form »Die Zauberflöte« in der französischen Hauptstadt auf, und Dorothea schrieb darüber einen verurteilenden Aufsatz, den alle Zeitungen abdruckten. Das künstlerische und wissenschaftliche Paris drängte sich um sie; vor allem begegnete ihr der große Naturforscher Lacepede [123] mit Auszeichnung, ebenso Georg von Cuvier, dessen auf der württembergischen Karlsschule begonnener Bildungsgang ihn bis zur naturwissenschaftlichen Professur an der französischen Akademie geführt hatte. Ebenso zeigte Dolomien, der berühmte Geologe und Mineraloge, ihr verehrungsvolles Interesse. Auf einem Hoffeste wurde Dorothea Napoleon vorgestellt, der sehr schmeichelhafte Worte für sie hatte. Es war eine letzte Zeit des Glanzes und der Pracht für Dorothea, die damals in der vollsten Reife ihrer Schönheit stand.

Mit vielerlei Verträgen in der Tasche, reiste Rodde endlich mit den Seinen heim. Villers blieb nicht allein in Paris zurück! Alle Ehren verheißenden Anerbietungen, die man ihm dort machte, schlug er aus. Seine freigewählte Aufgabe, zwischen zweien gleichinnig von ihm geliebten Nationen zu vermitteln, hieß ihn, wieder nach Deutschland zurückzuziehen, dahin, wo auch seine verehrte Freundin lebte. Und wie nötig er ihr war, sollte sich bald erweisen.

Die Verträge, die Rodde heimbrachte, sind nie gehalten worden; alle Bemühungen um die Gunst Napoleons zeitigten nur Scheinerfolge oder schlugen fehl, obschon Rodde nochmals zur Krönung des Kaisers nach Paris fuhr, auch später in Berlin als Bittender vor ihm stand. Die Kriege, sich durcheinanderwälzend und einer aus dem andern gebärend, gingen weiter. Frankreich und England fochten ihren Streit, wie das in früheren Jahrhunderten so Brauch war, zunächst auf deutschem Boden aus. Die französischen Truppen verschlossen Elbe und Weser den englischen Schiffen. Zunächst zwar entstand dadurch für Lübeck 1806 die gleiche günstige Fügung, wie sie 1914 sich ergab: im Hafen drängten sich [124] die Schiffe, und der ganze Handel zog den Weg durch die Trave.

Freilich waren es damals meist englische Schiffe, die mit schwerbeladenen Borden in die Ostsee hinauszogen und von ihr hereinkamen. Eine kurze, großartige Blüte des Handels begann; frohen Herzens konnte man sich ihrer aber nicht erfreuen, denn unaufhörlich preßten die Franzosen der Stadt große Summen ab. Endlich wurde die Kontinentalsperre erklärt – ein Wort, das nach mehr als hundert Jahren abermals mit drohendem Klang den Hansestädten um die Ohren schwirrte. Und der Handel schlief ein. 1806 kamen 1508 Schiffe in den Hafen, wenige Jahre später waren es nur noch 78. Diese Zahlen haben eine erschütternde Bildkraft, man sieht förmlich, wie blühendes Leben langsam verdorrt. – Und das Haus Rodde ward ein Opfer dieser Zeit.

Vorher aber noch raste der Krieg an die alte, aus Vorsicht schon entfestigte Hansestadt heran und durch ihre Straßen. Alle Berufungen auf die Eigenschaft als offene, neutrale Stadt nützten nichts. Blücher ward von der Not in sie hineingezwungen und von der Übermacht wieder aus ihr hinausgeworfen. Die Franzosen tobten in ihr voll brutaler Siegertrunkenheit. Tage des Entsetzens kamen. Der 6. November 1806 brachte eine so unerhörte Anhäufung von Leiden, daß Scharnhorst drei Tage darauf schrieb, er habe Dinge gesehen, die zum Glück für die Menschheit selbst den erfahrenen Kriegern unbekannt bleiben. In diesen Tagen, wo Plünderung, Mord, Schändung und Mißhandlung aus der Stadt eine Hölle machten und die Regierung machtlos zusehen mußte, zeigten sich Dorothea und ihr Freund von hoher Fassung. Dorothea gewann es über sich, dem [125] bei ihr einquartierten Marschall Bernadotte in voller Würde, doch in den verbindlichsten Formen der geistreichen Weltdame zu begegnen. Er war von ihr bezaubert, und vielleicht ließ ihn vor allem dieser Eindruck den leidenschaftlichen Bemühungen Villers' Entgegenkommen zeigen. Charles de Villers trat überall den plündernden Soldaten beredt entgegen; er wurde zu Bernadottes Geheimsekretär ernannt, um einen Titel zu haben, der seinem Auftreten Nachdruck gab. Was Villers in den schändlichen Tagen von den Truppen Davousts sah, hat er in seinem berühmt gewordenen »Brief an Fanny de Beauharnais« niedergelegt, Schilderungen, die ihm den Zorn Napoleons und die ihn später noch lange verfolgende Rache Davousts zuzogen. In dem ernsten Bernadotte jedoch, den beide übrigens schon von Paris her kannten, gewannen sie sich einen Freund. Villers ertrotzte durch diese mächtige Gönnerschaft nicht nur der Freundin Schutz, sondern auch dem Elend der Stadt Linderung, ihr so hingebend die Gastlichkeit dankend, die er lange in ihren Mauern genossen. Bernadotte aber gab noch nach Jahren, als er Dorothea in Göttingen wiederbegegnete, ihr die schmeichelhaftesten Beweise seiner Bewunderung ihres Geistes und ihres Charakters.

Der Orkan der Plünderungstage verbrauste. Aber danach legte sich ein erzener Druck auf die Stadt, der auch Dorotheas Daseinsbedingungen unabwendbar zerpreßte. Einquartierungslasten und Kriegskontributionen nahmen das Geld aus dem Verkehr und den Taschen der Bevölkerung. Der laute Krieg mit Kanonengebrüll und Blutrausch hatte die Bevölkerung betäubt – der stille gegen den Handel war wie ein Vampyr, der [126] ihm alle Lebenskraft auszog. Auch das Roddesche Haus starb in diesem elenden Kampf dahin, und 1810 mußte Matthäus Rodde seine Zahlungen einstellen.

Dorotheas Lebenslinie bog sich abermals um. Sorge und Dürftigkeit drohten. Und da hob die Zeit an, die eine edle Frau auf ragender Höhe zeigte. Größer ward sie nun, als sie jemals hatte sein können im Ruhm ihrer unfruchtbaren, zäh erarbeiteten Gelehrsamkeit. Bezwingender, als sie es im Glanz des Reichtums als gefeierte Herrin eines gastfreien Hauses und in den Sälen von Paris gewesen. Sie ertrug den äußerlichen Wandel ihres Geschicks mit stolzer Fassung. Und was für sie noch zu retten war an Kapital, eroberte ihr der treue Freund. Als die Gläubiger ihres Mannes die Hände auch nach ihrem Vermögen ausstreckten, das sie von ihren, in den beiden vorhergehenden Jahren verstorbenen Eltern geerbt hatte, trat Villers mit seinem ganzen Temperament und all seinem Scharfsinn gegen das Unrecht solchen Anspruches auf. Sogar Rechtsgelehrte staunten über die juristische Feinheit seiner Schrift: »Mémoire sur cette question, savoir, si la femme d'un failli est tenue de payer les dettes de son mari d'après le droit de Lubeck.« Und es gelang ihm, einen Teil ihrer Habe ihr zurückzuerzwingen. Seine französischen Freunde sagten damals, daß er so zum zweitenmal seine Schuld an die Familie Rodde abtrage, allein er wußte es wohl, daß zwischen ihm und Roddes nicht von Schuld und Schenken die Rede gewesen war, sondern nur von edelstem Austausch gleichwertiger, unwägbarer Güter.

Ein Handelsherr, dessen Haus zusammenbrach, kann nicht Senator und Bürgermeister einer Hansestadt werden oder bleiben. Es mußte Roddes noch am leichtesten [127] sein, für den nun so bescheidenen Zuschnitt ihrer wirtschaftlichen Lebenshaltung eine andere Umwelt aufzusuchen. Jugenderinnerungen zogen Dorothea nach Göttingen, wo sie immer sicher war, Anregung und hervorragende Menschen zu finden, ohne daß der Aufwand üppiger Gastlichkeit die geselligen Kreise vereinte. Es traf sich obenein, daß fast um die gleiche Zeit Villers einen Ruf als Professor nach Göttingen annehmen konnte, denn aus dem mit Frankreich vereinigten Lübeck wies Davousts Gehässigkeit ihn aus! Wunderliches Schauspiel: ein Franzose, der wegen seiner Deutschland gewidmeten Liebe und Tatkraft von Franzosen verfolgt ward!

In Göttingen stand dann die Persönlichkeit Roddes offenbar etwas im Schatten; für den staatsmännischen, seiner Basis beraubten Handelsherrn dürften die Professoren keine Kulturgruppe gewesen sein, auf die er sich leicht einzustellen vermochte, denn er kam ja aus einer ganz andern Zone der Willens- und Geistesbetätigung her, deren gewaltige Wichtigkeit für Deutschlands Blüte damals wenigen bewußt war.

Jedenfalls hatte ein Beobachter wie Benjamin Constant, der sich zu jener Zeit auch in Göttingen aufhielt, den Eindruck, daß Dorothea die Oberstimme in der Ehe führe, und in einem Brief an Hochet äußerte er über ihre Stellung zwischen dem Gatten und dem Freund: »Sie beherrscht den einen und stößt den andern zurück (soll heißen, hält ihn in sittenreiner Entfernung) und geht übrigens ihren Weg mit Schroffheit, Sorglosigkeit und Befriedigung.«

Ihr Lebensgang hatte ihr ohne Zweifel eine Sicherheit des Auftretens anerzogen, die manchen Mann in seinem [128] überkommenen Anspruch an Frauendemut gestört haben mag. Aber viele andere Stimmen rühmen gerade, daß Dorothea in den bescheidenen Göttinger Jahren, je mehr sie sich auf ihre Häuslichkeit zurückzog, durch ihre Liebenswürdigkeit fesselte. Der wehmütige Zauber der Resignation mag hinzugekommen sein, denn sie hatte viele herbe Kämpfe mit ansehen und selbst durchleiden müssen. Ganz einfach kann ihre Stellung zwischen dem Gatten, den sie hochachtete, und dem Freund, dem ihr ganzes geistiges Wesen und ihr Herz gehörten, nicht gewesen sein. Auch trug sie dauernd Sorge um ihn, dessen Daseinsumstände immer von den so furchtbar wechselnden Machthabern abhingen; Politik und Gesetze waren in einem beständigen Wirbel der Veränderungen. Professorenneid und hannöversche Intrigen gegen den noch von König Jérôme auf den Lehrstuhl Berufenen erwirkten Villers' Absetzung. Die unerhörte Bitterkeit dieses Undanks gegen ihn, der sein Leben Deutschland gewidmet, zerbrach Villers' Kraft und traf auch Dorothea tief, die voraussah, daß die Trennung vom seelischen Gefährten nun unvermeidlich werde. Villers erlitt aber zwei Schlaganfälle und starb, ehe er, der von der tatsächlichen und geistigen Hinundherwanderung zwischen zwei Nationen ganz Ermüdete, noch einmal den Pilgerstab des Verbannten in die schwachgewordene Hand zu nehmen brauchte.

Den Gram um ihren Verlust verbarg die beherrschte Frau voll stolzer Haltung. Aber auch ihre Kräfte waren zermürbt. Die letzten Jahre hatten viel gekostet. Die beständige Hochspannung der Nerven, an die die kriegerischen und politischen Ereignisse ungeheure Anforderungen stellten, rächte sich. Sicher hatte auch die [129] wahnwitzige Überbürdung, die der Vater in ihren Kinder- und Entwicklungsjahren auf sie geworfen, viel Vorrat von Lebenszähigkeit vorweggenommen.

Dorothea begann zu kränkeln. Nur noch einmal erhob sie sich zu ihrer früheren, gefaßten Stärke – an der Bahre ihrer Tochter Auguste, die im Alter von 26 Jahren ihr geraubt ward. Ein Teil ihrer selbst war mit ihrem eigenen Fleisch und Blut dahingegangen – da wird das schaurig geheimnisvolle Gefühl auch über sie gekommen sein, das jede Mutter niederzwingt, die ein erwachsenes Kind verliert: daß es dämonische Unnatur ist, das Selbstgeborene zu überleben. Die höchste Tragik, die es gibt.

Eine Reise schien die Möglichkeit zu verheißen, mit dem Leben sich wieder einzurichten. Vergeblicher Versuch. Im südlichen Frankreich starb Dorothea zu Avignon, am 25. Juli 1825, nach kurzer, schwerer Krankheit, nur 55 Jahre alt.

Das Bild eines Daseins gleich einem Rechenstück aufzustellen, um nachher Fazit und Lehre daraus zu ziehen, hat Gefahren und verkehrt das Warmblütige eines Schicksals leicht ins trockene Lehrhafte. Aber das Leben dieser außerordentlichen Frau zerfiel so kraß in zwei verschiedene Hälften, daß man doch beide gegeneinander abmessen möchte.

Und auch dem raschesten Blick wird da erkennbar, daß die erste Hälfte, gerade jene, die Dorotheas Namen Unsterblichkeit gab, doch die ödere, magere gewesen ist, während aus der zweiten dem Beschauer volle, befruchtende Ströme entgegenfluten. In der ersten Hälfte war sie ein Mensch gewordener Diktionär, eine angestaunte Merkwürdigkeit. In der zweiten ein wunderbar [130] herzenswarmes, tüchtiges Weib von einer höher gearteten Leistungsfähigkeit als der, die sich im gedächtnisscharfen Aufnehmen von vielerlei Sprachen und Wissensstoffen ausdrückt.

Es muß unentschieden bleiben, ob Dorothea von Natur aus nicht schöpferisch begabt war oder ob ihr Vater im Gelehrsamkeitsschraubstock ihr diese Ader abdrehte. Jedenfalls hat seine Erziehung dieses hochbegabten Wesens genau das Gegenteil von dem bewiesen, was er, gegen Basedow, damit beweisen wollte! Alles was Schlözer seiner Tochter aufdrängte, ihre Jugend bestehlend, war tote Beilast, bereicherte weder sie noch die Welt. Anhäufung zweckloser Sprachkenntnisse scheint schöpferischer Tätigkeit hinderlich; wer sich in zuviel Sprachen auszudrücken vermag, kann es in keiner originell. (Man kennt hiervon nur wenig Ausnahmen. Und daß Bismarck, Wagner, Goethe nicht begabt für fremde Sprachen waren, daß sie ihnen Mühen kosteten, ist kein Zufall.) Jedenfalls hat Dorothea, außer dem schon erwähnten Werk über russische Bergwerks-, Geld- und Münzgeschichte eines kurzen Zeitraums, nur einige Aufsätze in Zeitschriften veröffentlicht.

Tief verborgen unter den hundert papiernen Decken war Dorotheas Wesenskern unverkümmert geblieben, und in der Stunde, wo sie der Freiheit und dem natürlichen Frauenberufe zurückgegeben war, erhob sich ihre Vollnatur zur köstlichen Entfaltung, Gatten, Kinder, Freund und Freunde beglückend und bereichernd. Welche Liebe zu ihr, wieviel erquickende Heiterkeit des Verkehrs lassen allein die Briefe des Eutiner Kreises an Villers erkennen. Mit welchem Respekt versäumt sogar Benjamin Constant nie, an Madame Rodde tausend [131] Grüße sagen zu lassen. Hohe Schätzung ihrer spricht aus den Zuschriften der Hamburger Freunde. Wie vermochte sie es klug und stark und sicher, die einander widerstreitendsten Pflichten zu vereinbaren und zu erfüllen. Obgleich ihr die Ehe kein vollkommenes Glück gebracht haben kann, denn sonst wäre in ihrem Leben kein so großer Raum für die leidenschaftliche Freundesliebe zu einem anderen gewesen, gab sie niemals das Schauspiel einer unverstandenen, unbefriedigten Frau. Und doch hat sie ja eigentlich Villers geliebt, denn ihre eigene Mutter schrieb schon 1797 an ihn, daß ihre Tochter sterben würde, wenn er sie verließe, und sie beschwor ihn, es niemals zu tun!

Immer schien sie gerade an ihrem Platz: voll heiterer Freude am Reichtum, als er sie glänzend umgab; voll stolzer Zufriedenheit, als die harte Zeit Kraft zum Entbehren von ihr forderte. Das sittliche und erzieherische Hinüberwirken einer solchen Haltung auf Schwächere kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn in dunklen Tagen ist das Bedürfnis Verzagender nach leuchtenden Beispielen immer dringlich.

Wissen, aus leidenschaftlicher Freude daran erobert, ist ein köstlicher Besitz, wenn alle Kräfte der Besitzenden sich regen, um ihn klug zum Gewinn für viele auszumünzen. Eingedrillt und auf Kosten natürlicher Jugendfreudigkeit erzwungen, in Unmengen angehäuft, um Zuschauer in Staunen zu versetzen, ist Wissen im besten Fall gleich Metall in nie erschlossenem Erz. Solcher Art waren Dorotheas ungeheure Kenntnisse. Praktischen Nutzen haben sie weder ihr noch ihrer Zeit gebracht. Und ihr geistiges, nach Nahrung aller Art verlangendes Wesen, ihre hohe Begabung hätten sich auch [132] ohne diese Belastung vielleicht sogar voller entfaltet; es ist so sehr bezeichnend, daß sie, gleich einer Hungernden, nach ganz anderer Sättigung suchte, kaum daß sie des Vaters Lehrstrenge entronnen war.

Und welchen Wert hatte all die ungemeine Gelehrsamkeit Dorotheas, als die entsetzensvollen Kriegsjahre kamen und unerhörte Anforderungen auch an sie stellten? Da zeigte sich an Dorothea, was sich hundert Jahre später, im furchtbaren Kriege von 1914, unter ganz veränderten Kulturverhältnissen tausendfach erwies. Gerade durch Frauen, die, sei es aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, sei es einer geistigen Strömung folgend, oder durch seltene Gaben, sich einen andern Platz selbständig erobert hatten als den am Familienherd. Nämlich, daß in entscheidenden Epochen der Anteil der Frau an der vaterländischen Erhebung, an der sittlichen und materiellen Kraftentfaltung eines Volkes nicht aus der Summe ihres Wissens geschöpft werden kann, sondern ganz allein aus dem ungebrochenen Schatz einer starken und gesunden Weiblichkeit.

Und daß Dorothea Schlözer sich diesen so reich zu bewahren vermocht, bleibt ihr bester Ruhm. Das macht sie zur Vorerscheinung aller jener Frauen, die im harten Berufskampf, in ausgeübter Gelehrsamkeit, im Zwange technischer Erwerbsarbeit sich ihre opferbereite, kraftvolle deutsche Weiblichkeit unzerstört erhalten hatten und in ihr dann in unserm heiligen Kriege so unvergeßlich tapfer dem Vaterland dienten.

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TextGrid Repository (2012). Boy-Ed, Ida. Essays. Dorothea Schlözer. Dorothea Schlözer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3D6E-A