François René de Chateaubriand
René

(René)

[107] Als René bei den Natsches ankam, war er genöthigt worden, ein Weib zu nehmen, um sich dem indianischen Brauch und Herkommen zu fügen; er lebte jedoch nicht mit ihr. Sein Hang zur Schwermuth zog ihn in die Wälder: dort brachte er Tage und Wochen einsam zu, und glich einem Wilden unter den Wilden. Außer Schakta, seinem Adoptivvater, und dem Pater Souël, dem Missionsprediger des Forts Rosalie 1, pflog er fast gar keinen Verkehr mit den Menschen. Diese beiden Greise hatten großen Einfluß auf sein Herz gewonnen; der Erstere durch eine liebevolle Nachsicht, der Andere hingegen durch eine außerordentliche Strenge gegen ihn. Schon seit der Biberjagd, wo der blinde Saschem dem jungen René seine Geschichte erzählte, war dieser nie dazu zu bringen gewesen, auch die seinige einmal zu erzählen. Und doch war sowohl Schakta, als der Missionsgeistliche im höchsten Grade begierig, von ihm zu erfahren, durch was für ein Unglück ein Europäer von vornehmer Abkunft auf den Gedanken gekommen sein mochte, sich so in den Wildnissen von Louisiana zu begraben. René gab als Grund seiner Weigerung nur Eines an, nämlich, daß sich seine Geschichte blos auf die seiner Gedanken und Empfindungen bezöge, und daher zu wenig Interessantes für andere Menschen habe. – Was hingegen das Ereigniß selbst anbelangt, das mich nach Amerika getrieben hat, sagte er einmal zu seinen Freunden, so ist es am besten, es bleibt mit ewiger Nacht bedeckt. – So gingen einige Jahre hin, ohne daß die beiden Greise im Stande gewesen wären, [107] hinter sein Geheimniß zu kommen. Ein Brief, welchen er durch das Bureau der fremden Missionen aus Europa erhielt, vermehrte plötzlich seine Traurigkeit in einem solchen Grade, daß er sogar seine zwei einzigen Freunde floh. Um so eifriger setzten sie ihm zu, doch endlich einmal offener gegen sie zu sein. Sie benahmen sich dabei mit solcher Schonung, Sanftmuth und würdigen Ruhe und Freundschaft, daß er ihnen endlich nachgeben zu müssen glaubte. Er setzte also einen Tag fest, an dem er ihnen – nicht die wundersamen Abenteuer seines Lebens, denn deren gab es in seiner einfachen Geschichte keine, sondern die geheimen Erlebnisse seines Herzens zu erzählen versprach.

Am 21. des Monats, welchen die Wilden den Blumenmond nennen, begab sich René in Schaktas Wohngezelt. Er gab dem Saschem den Arm und führte ihn unter einen Sassafrasbaum am Strand des Meschacebe, wo gleich darauf auch der Pater Souël sich einfand. Die Morgenröthe war gerade angebrochen; in einiger Ferne erblickte man in der Ebene das Lager der Natsches mit seinem Wäldchen von Maulbeerbäumen und seinen wie Bienenkörbe gestalteten Hütten. Zur Rechten davon, gerade am Flußgestade, erhob sich das Fort Rosalie mit der französischen Kolonie. Zelte, halbfertige Häuser, angefangene Festungswerke, Neubrüche, mit Negern bedeckt, einzelne Gruppen von Europäern und Indianern, gaben in diesem engen Raum ein Bild von dem eigenthümlichen Kontrast zwischen dem europäischen Leben und dem des Urwalds. Gegen Morgen, im Hintergrund der Landschaft, stieg die Sonne zwischen den zackigen Gipfeln der Apalachen herauf, deren tiefes Blau sich in wunderbar klaren und scharfen Linien vom Gold des Himmels abhob; gegen Westen wälzte der Meschacebe seine Fluten in majestätischer Ruhe dahin und bildete den Rahmen des unermeßlichen Gemäldes.

Der Jüngling und der greise Missionsgeistliche bewunderten eine Zeitlang dieses schöne Schauspiel, und beklagten den Saschem, dem dieser hohe Genuß versagt war; dann setzten sich der Pater Souël und Schakta auf dem Rasen am Fuß des Baumes nieder; René nahm zwischen Beiden Platz und sprach, nach kurzem Stillschweigen, zu seinen Freunden:

[108] Ich kann mich beim Beginne meiner Erzählung einer Anwandlung von Scham nicht erwehren. Der Frieden eurer Herzen, ihr ehrwürdigen Greise, und die Ruhe der Natur um mich her machen, daß ich erröthe ob dieses ewigen Sturms und dieser ewigen Unruhe meines Herzens.

Wie erbärmlich muß ich euch nicht erscheinen! Wie kleinlich müssen euch nicht meine ewigen Beängstigungen dünken! Was werdet ihr, die ihr den Kelch des Unglücks bis auf die Hefe getrunken habt, von einem jungen Mann ohne höhere sittliche Kraft denken, der die höchste Qual nur in seinem eigenen Herzen trägt, und der sich im Grunde über gar kein anderes Uebel beklagen kann, als was er sich selber zugefügt hat? Ach, verurtheilt ihn nicht, er ist nur allzuschwer schon dafür gestraft worden!

Schon meine Geburt kostete meiner armen Mutter das Leben; mit Hülfe des blanken Stahls zog man mich aus dem Schooß der Sterbenden heraus. Ich hatte einen Bruder, welchen mein Vater segnete, weil er sein erstgeborner Sohn war. Mich dagegen übergab er sehr bald fremden Händen, und ließ mich fern von meinem Elternhaus erziehen.

Ich war von heftiger Gemüthsart, und jeden Augenblick wechselte meine Stimmung. Bald flog ich, ein fröhlich lärmender Knabe, durch Wald und Feld, bald war ich wieder still und schwermüthig; bald versammelte ich meine jungen Spielkameraden um mich her, und bald verließ ich sie plötzlich wieder, um mich an irgend ein einsames Plätzchen hinzubegeben, und eine flüchtige Wolke zu betrachten, oder auf das Rauschen des Regens zu horchen, wie er im Gezweig der Bäume von Blatt zu Blatt herniederrieselte.

Jeden Herbst kehrte ich auf unser Schloß zurück, welches so zu sagen im Herzen ungeheurer Forsten, in einem fernen Theil des Landes, nahe an einem See lag.

Schüchtern und befangen in Gegenwart meines Vaters, gewann ich Muth und heitern Frohsinn nur bei meiner geliebten Schwester Amalie, die nur um ein paar Jahre älter war als ich. Eine süße Harmonie der Gemüthsart und der Neigungen fesselte uns auf das Innigste an einander. Unsere Hauptlust war, selbander das nahe Gebirge zu durchstreifen, zur Herbstzeit durch [109] Wald und Feld zu schweifen, und auf dem See herumzurudern: – gemeinsame Wanderungen, an die ich noch jetzt oft mit Entzücken denken muß. O Zauber, o freundliche Erinnerungen der Kindheit und der Heimat! Euer Bild umschwebt doch den Jüngling wie den Greis mit seiner sanftbeschwichtigenden und beseligenden Macht!

Bald wandelten wir stumm, und ohne ein Wort zu reden, neben einander her, und liehen unser Ohr dem Säuseln des Herbstwinds und dem melancholischen Rauschen des feuchten, rothen Laubes zu unsern Füßen; bald liefen wir bei unsern unschuldigen Spielen der Schwalbe auf dem Anger nach und suchten den farbigen Regenbogen auf den Hügeln zu haschen; bisweilen recitirten wir auch still für uns hin Gedichte, die der Anblick der Natur uns eingab. In meinen Jünglingsjahren opferte ich nämlich den Musen; nichts ist poetischer, als ein Herz von sechszehn Jahren in frischem Frühlingswehn seiner Leidenschaften; der Morgen des Lebens ist, wie der des Tages, lieblich hell und rein, und dabei voll Reichthum an Bildern und seligen Harmonien.

An Sonn- und Festtagen vernahm ich oft im dichten Forst zwischen den Bäumen das Läuten der fernen Glocke, welche den Landmann zur heiligen Messe rief. An den Stamm einer Ulme gelehnt, lauschte ich still den frommen Klängen. Jeder leise Ton goß in meine unverdorbene Seele die Unschuld und fromme Einfalt des Landlebens, die Ruhe und den tiefen Frieden der Einsamkeit, den Zauber des religiösen Gefühls und die schwermüthigsüßen Erinnerungen der ersten Kindheit. Ach, wo wäre denn ein Herz so arg verwahrlost, daß es nicht sanft erbebte bei dem Klang der Heimatglocken, – jener Glocken, die mit frohen Feierklängen seine Ankunft auf dieser Welt begrüßten, die den ersten Pulsschlag seines Kinderherzens bezeichneten und der ganzen Nachbarschaft die heilige Freude seines Vaters, so wie die Schmerzen und noch unbeschreiblicheren Freuden seiner Mutter verkündeten? Unsere schönsten und besten Gefühle klingen an in den seligen Träumereien, in die uns das Glockengeläute der Heimat einwiegt: – Religion, Vaterland, Familie, Wiege und Grab, Vergangenheit und Zukunft.

[110] Meine Schwester und ich schwelgten indessen auch mehr als irgend Jemand im Genusse dieser ernsten und zärtlichen Gefühle; im tiefen Grund unserer Herzen lag ein Hang zu Traurigkeit, den wir von Gott selbst oder von unserer Mutter empfangen haben mußten.

Inzwischen verfiel mein Vater plötzlich in eine Krankheit, die ihn in wenigen Tagen unter die Erde brachte. Er starb in meinen Armen, und ich lernte den Tod auf den Lippen Desjenigen kennen, der mir das Leben gegeben. Dieser Eindruck war groß, und ich habe ihn jetzt noch nicht verwunden. Zum erstenmal trat mir die Unsterblichkeit der Seele recht klar und deutlich vor Augen; ich konnte nicht glauben, daß dieser leblose Körper, der da vor mir lag, der Urheber all meines Denkens und Fühlens sei; ich fühlte, daß diese Kraft aus einer andern Quelle fließen mußte, und eine heilige Wehmuth, die fast an Freude gränzte, ließ mich die einstige Wiedervereinigung mit dem Geiste meines Vaters hoffen.

Noch ein anderes Phänomen bestärkte mich in diesem erhebenden Gedanken. Die Gesichtszüge meines verstorbenen Vaters hatten sich im Sarge so zu sagen verklärt. Warum sollte dieses wunderbare Phänomen nicht ein Zeichen unserer Unsterblichkeit sein? Warum sollte der Tod, der doch so furchtbar gewaltig ist und der so Vieles weiß, was wir nicht wissen, der Stirne seines Opfers nicht die Geheimnisse einer anderen Welt aufgedrückt haben? Warum sollte das Grab nicht einen weiten Blick in die Ewigkeit hinein gewähren?

Amalie hatte sich, von Schmerz zu Boden gedrückt, in einen Thurm zurückgezogen, von wo sie den Gesang der Priester beim Leichenzug und den Wiederhall der Todtenglocke unter den Gewölben des gothischen Schlosses vernahm.

Ich gab meinem Vater unter kindlichen Thränen das Geleite zu seiner letzten Ruhestatt. Ueber seiner Asche schloß sich die Erde; die Vergessenheit und die Ewigkeit lagen mit ihrem ganzen Gewichte auf ihm; schon am nämlichen Abende schritt der Geist der Gleichgiltigkeit kalt hinweg über sein Grab, und für die Andern, außer mir und seiner Tochter, war es in wenigen Tagen so, als hätte er gar nie gelebt.

[111] Ich mußte das Vaterhaus verlassen, welches meinem Bruder als Erbtheil zufiel; ich selbst zog mit Amalien zu älteren Verwandten hin.

Beim ersten Schritt auf des Lebens trügerischen Irrpfaden schon strauchelnd, warf ich einen prüfenden Blick in die Welt hinein, ohne es zu wagen, einen weitern Schritt zu thun. Amalie schilderte mir oft das Glück und den heiligen Frieden der Klosterzelle: sie sagte mir, ich wäre das einzige Band, das sie noch in der Welt zurückhielte; und dabei heftete sie ihre Blicke voll Trauer auf mich.

Diese frommen Unterredungen machten einen tiefen Eindruck auf mein Herz; oft lenkte ich meine Schritte einem Kloster zu in der Nachbarschaft meines neuen Aufenthalts, und war sogar einen Augenblick versucht, auch mein Leben darin zu begraben. O glücklich Diejenigen, denen es beschieden war, die Fahrt durchs Leben zurückzulegen, ohne daß sie den Hafen verließen, und die nicht, wie ich, in Sturm und Nebel öde, für mich selbst und für Andere unfruchtbare Tage hinschleppten!

Die in einer ewigen Unruhe lebenden Europäer sind genöthigt, sich eigene Einsiedeleien zu errichten. Je stürmischer und heftiger der Pulsschlag unseres Herzens ist, desto mehr sehnt es sich nach Ruhe und Frieden. Die Klöster meines Landes, die den Schwachen und Elenden Schirm und Zuflucht bieten, liegen sehr oft in Thälern versteckt, welche dem Herzen das dunkle Gefühl des Unglücks und die Aussicht auf eine Freistatt einflößen; bisweilen erblickt man sie auch auf freien Anhöhen, wo das fromme Gemüth sich gleichsam zum Himmel emporschwingt, wie die Gebirgspflanze ihm ihre Blüthengerüche zusendet.

Noch jetzt sehe ich die herrlichen Gewässer und Waldungen, die jene altehrwürdige Abtei ringsum umgaben, in der ich mein Leben gegen die Launen des Schicksals zu sichern gedachte; noch jetzt irre ich im Geist Abends im Hof und in den hallenden Gängen des einsamen Klosters auf und ab. Wenn dann der Mond die hohen Bogenpfeiler halb beleuchtete und ihr dunkles Bild auf die gegenüberliegenden Mauerflächen hinwarf, dann blieb ich stehn, um das Kreuz, das die Gefilde des Todes bezeichnete, und das [112] hohe Gras zu betrachten, das zwischen den Grabsteinen hervorwuchs. O Menschen, die ihr fern von dem lärmenden Gewühl der Welt eure Tage im heiligen Frieden dieser Mauern begrubt, und die ihr von der schweigenden Ruhe des Lebens zum ewigen Schweigen des Todes übergingt, wie kam mir der Glanz und das Glück der Erde so hohl und schaal und öde vor, indem ich an euern Gräbern stand!

War es nun natürliche Unbeständigkeit oder nur Vorurtheil gegen das Klosterleben, genug, ich änderte plötzlich wieder mein Vorhaben, und entschloß mich, zu reisen. Ich sagte meiner Schwester Lebewohl; sie drückte mich mit einer Bewegung an ihr Herz, die beinahe der Freude glich; es war als fühlte sie sich glücklich, mich los zu werden; ich konnte mich eines schmerzlichen Gedankens an den oft erfahrnen Wankelmuth menschlicher Neigungen und Freundschaften bei dieser Wahrnehmung nicht erwehren.

Indessen, voll jungen Lebensmuths und voll Feuer, wie ich war, stürzte ich mich kühn in das stürmische Weltmeer hinaus, dessen Häfen, wie dessen Untiefen und Felsenrisse mir gleich unbekannt waren. Zuerst besuchte ich, ein einsamer Pilger, jene Länder und Völker, von deren Größe nichts mehr da ist, als ein paar öde Ruinen und die Geschichte. – Ich ließ mich auf den Trümmern Roms und Griechenlands nieder, jener Länder, die uns so gewaltige Erinnerungen in unserer Seele wachrufen; wo die Paläste im Staube liegen, und die Grabmäler der Könige mit Disteln überdeckt sind. O Riesenkraft der Natur, und Schwäche des Menschen!

Oft dringt ein Grashalm durch den härtesten Marmor dieser Gräber, welchen all diese vormals so mächtigen Todten nicht mehr wegrücken werden.

Bisweilen erblickte ich mitten im Sand der Wüste eine aufrechtstehende Säule: wie sich nicht selten in einem Gemüthe, das Zeit und Unglück zerstörten, noch ein großer Gedanke erhebt!

Bei all meinem Thun und Treiben und zu jeder Tageszeit beschäftigten mich jene Denkmäler der Vorzeit. Bald ging das nämliche goldene Gestirn, welches den Gründungstag dieser Städte gesehn, voll Majestät vor meinen Augen unter, und [113] bestrahlte mit seinem letzten Purpurglanz deren spärliche Reste; bald beleuchtete der dämmernde Mond, zwischen zwei halbzerbrochenen Urnen, bleiche Gräber. Oft glaubte ich, bei den Strahlen dieses den Traumbildern holden Gestirnes, den Genius der Erinnerungen zu erblicken, wie er in tiefen Gedanken neben mir auf einem Grabe der Vorwelt saß.

Doch ich ward es müde, in Nichts als Gräbern zu wühlen, wo ich nur zu oft den Staub eines Verbrechers aufrührte. Ich war neugierig, zu erfahren, ob bei den lebenden Völkern mehr Tugenden und weniger Unglück zu finden seien, als bei denen, die nicht mehr vorhanden sind. Als ich so eines Tages in einer großen Stadt, hinter einem Palaste, in einen abgelegenen einsamen Hof trat, nahm ich eine Statue wahr, welche mit dem Finger nach einer durch ein blutiges Opfer geschichtlich berühmt gewordenen Stelle wies 2.

Ich war von der Todteneinsamkeit und Ruhe dieses Orts überrascht; nur der Wind umseufzte den tragischen Marmor. Arbeiter lungerten gleichgiltig an dem Fuß der Statue herum, und ein paar Steinhauer trieben pfeifend ihr Geschäft. Auf meine Frage nach der Bedeutung dieses Denkmals konnten mir es die Einen kaum sagen, die Andern wußten nicht einmal das Geringste von der schrecklichen Katastrophe, an die es erinnerte. Nichts gab mir einen richtigeren Maßstab für die Weltereignisse und für unsern eigenen geringen Werth. Was ist aus den berühmten Männern geworden, welche im Leben die Blicke einer ganzen Welt auf sich zogen? Die Zeit hat einen Schritt vor wärts gethan, und die Gestalt der Erde ist schon wieder eine andere geworden.

Ich suchte auf meinen Reisen vorzüglich die Künstler und jene göttlichen Männer auf, die auf der Leier das Göttliche und das Glück solcher Völker besingen, bei denen die Gesetze, die Heiligthümer der Religion und die Gräber geehrt sind. Diese Sänger sind göttlicher Abkunft; sie besitzen die einzige unbestreitbare Gabe, womit der Ewige unsere Erde beschenkt hat. Ihr Leben ist voll Einfalt und sittlicher Größe; mit goldnem Mund [114] preisen sie die Götter, und sind dabei die einfachsten der Menschen; sie unterhalten sich mit einander, bald wie die Unsterblichen, bald wie Kinder, so fromm und unschuldsvoll; sie erklären die Gesetze des Weltalls, und begreifen oft die alltäglichsten Geschäfte des Lebens nicht; sie haben bewunderungswürdige Begriffe vom Tode, und sterben wie Neugeborene, ohne es zu merken.

Auf den Gebirgen Caledoniens sang mir der letzte Barde dieser Einöden die Lieder vor, mit denen einst ein Held sein einsames Greisenalter erheiterte. Wir saßen auf vier moosigen Steinen; ein Waldstrom rauschte zu unsern Füßen; einige Schritte von uns weidete ein Reh zwischen den Trümmern eines Thurmes, und der Seewind pfiff hin durch die grauen Haiden von Cona. Jetzt hat die christliche Religion, die auch eine Tochter der Gebirge ist, Kreuze auf die Denkmale der Helden von Morven gepflanzt, und läßt die Saiten Davids erklingen am Gestade des nämlichen Stroms, wo in den Tagen der Vorzeit die Lieder Ossians erklangen. So fromm und friedlich, als Selmas Gottheiten kriegerisch waren, hütet sie die Heerden, wo Fingal Schlachten schlug, und hat jene Gewölke, die blos von schrecklichen Phantomen des Grabes bewohnt waren, mit Friedensengeln bevölkert.

Der klassische Boden der schönen italischen Halbinsel schloß mir den ganzen Reichthum seiner unsterblichen Meisterwerke auf. Mit welchem heiligen und echt poetischen Schauer wandelte ich nicht in jenen herrlichen Gebäuden umher, in denen die himmlische Kunst des Richtscheits, des Meißels und des Pinsels den religiösen Glauben verherrlicht hat! Welches Labyrinth von Säulengängen! Welche prächtige Reihenfolge von Bögen und Gewölben! Wie wunderbar ist das Rauschen der Lüfte, welches man ringsumher zu hören glaubt, wenn man das gewölbte Dach eines dieser Dome und Thürme ersteigt! Bald gleicht es dem Brausen der Meeresflut, bald dem Geflüster der Winde im Walde, bald der Stimme Gottes in seinem Tempel. Der Baumeister verkörpert gleichsam die Gedanken des Dichters, und macht sie anschaulich fürs Auge.

Indessen, was hatte ich bisher mit all meiner Mühe gewonnen? Nichts Sicheres und Gewisses bei den Alten, nichts Schönes bei den Neuern. Die Vergangenheit und die Gegenwart [115] sind zwei unvollendete Bildsäulen; die eine ist, in einzelne Stücke zerschlagen, aus den Trümmern der Vorwelt hervorgegangen, die andere hat noch nicht ihre letzte Vollendung von der Zukunft erhalten.

Ihr macht euch nun gewiß so eure eignen Gedanken darüber, meine greisen Freunde, und gerade ihr mehr als Andere, da ihr so in der weiten Wildniß wohnt, daß ich in der Geschichte meiner Reisen noch nicht ein einziges Mal von den Denkmälern der Natur gesprochen habe?

Einst hatte ich den Gipfel des Aetna erstiegen, eines feuerspeienden Berges, der gerade im Herzen einer Insel glüht. Ich sah in dem unermeßlichen Gesichtskreis die Sonne unter mir emporsteigen, sah Sicilien zusammengedrängt wie einen Punkt zu meinen Füßen, und darumher in weiter, weiter Ferne das ewige Meer. In dieser Vogelperspektive erschienen mir die Flüsse höchstens wie geographische Linien auf der Landkarte; während jedoch mein Blick auf der einen Seite diese Gegenstände betrachtete, fiel er auf der andern in den Schlund des Aetna hinab, dessen hellrothe Lava ich zwischen schwarzen Dampfwolken glühen sah.

Ein von Leidenschaften beherrschter Jüngling, welcher am Krater eines Vulkanes sitzt und die Men schen beklagt, deren Wohnungen er in weiter, dem Auge kaum mehr sichtbarer Ferne unter seinen Füßen erblickt, kann nur ein erbarmenswerther Gegenstand für euch, ihr edeln Greise, sein; was ihr indeß auch von René denken mögt, diese Schilderung ist ein treues Bild seines Charakters und seines Daseins; gerade so hatte ich während meines ganzen Lebens eine unermeßliche Schöpfung, die ich kaum wahrnahm, vor meinen Augen, und einen offenen Abgrund neben mir.

Bei diesen Worten schwieg René plötzlich still und saß einen Augenblick in tiefen Gedanken da. Der Pater Souël betrachtete ihn voll Erstaunen, und der blinde Saschem, der den jungen Mann nicht mehr reden hörte, wußte nicht recht, was er von diesem Stillschweigen denken sollte. Da hefteten sich Renés Blicke plötzlich auf einen Trupp Indianer, welche fröhlich durch die Ebene zogen. Mit Einemmale bemerkte man einen Zug tiefer Rührung in seinen Zügen, helle Thränen traten ihm ins Auge, [116] und er rief aus: Ihr glücklichen Kinder der Wildniß! Warum flieht mich der holde Frieden, den ihr genießt, und den ihr gleich einem Wiegengeschenke schon von Kindheit an besitzt? Während ich Elender, mit so wenig wirklichem Vortheil davon, die Welt durchzog, saßt ihr ruhig unter euern Eichen, und ließt die Tage sanft und still an euch vorübergleiten, ohne sie zu zählen. Auf eure einfachen Bedürfnisse beschränkte sich eure Vernunft, und ihr gelangtet sicherer als ich ans Ziel der Weisheit, ähnlich wie Kinder zwischen Spielen und Schlafen. – Wenn jene Schwermuth, die dem Uebermaß des Glücks entspringt, sich dann und wann eures Gemüthes bemächtigte, so machtet ihr euch bald von dieser vorübergehenden Traurigkeit los, und euer voll kindlicher Zuversicht zum Blau des Aethers emporschauender Blick suchte voll Sehnsucht nach dem großen Geist, welcher da Erbarmen hat mit dem armen Wilden.

Hier erlosch Renés Stimme aufs neue, und das Haupt sank ihm auf die Brust herab. Schakta streckte seinen Arm in die Nacht hinein, ergriff den Arm Renés, und rief ihm in zärtlichem Tone zu: O, mein Sohn, mein lieber Sohn! Bei dieser Anrede kam René wieder zu sich; er schämte sich seines zerstreuten Wesens und bat seinen Vater freundlich um Verzeihung.

Darauf nahm der Greis das Wort: Mein junger Freund! Die Stimmungen eines Herzens, wie das deinige, wechseln und schwanken hin und her wie Wogen; mäßige nur die Heftigkeit deiner Gefühle, die dich schon so unglücklich gemacht hat. Wenn dich deine Erlebnisse schmerzlicher berühren, als manchen Andern, so mußt du nicht darüber erstaunen; eine große Seele muß mehr und größere Schmerzen leiden, als eine kleine. Fahre in deiner Erzählung fort. Du hast uns im Geiste durch einen Theil von Europa geführt, erzähle uns jetzt von deinem schönen Vaterlande. Du weißt, daß ich selbst in Frankreich gewesen bin, und weißt, mit welchen zarten und heiligen Banden meine Seele an diesem schönen Lande der Erde hängt; ich möchte dich wieder von jenem mächtigen Häuptling 3 reden hören, der jetzt längst nicht [117] mehr ist, und dessen prächtiges Wohngezelt ich einstens besucht habe. – Mein Sohn! Ich lebe nur noch im Andenken der vorigen Tage: – ein Greis mit seinen Erinnerungen gleicht der abgestorbenen Eiche unsrer Wälder, die nicht mehr im eigenen Blätterschmuck prangt, sondern ihre Blöße nur dann und wann mit den fremden Pflanzen bedeckt, die sich allmählich an ihre Aeste angerankt haben.

Amaliens Bruder, beschwichtigt durch diesen freundlichen Zuspruch Schaktas, fuhr in der Geschichte seines Herzens fort, wie folgt:

Ach, mein Vater! Ich kann dir nichts von jenem großen Jahrhundert erzählen, dessen Ende ich nur in meiner Kindheit sah, und das bei meiner Rückkehr ins Vaterland nicht mehr war. Nie hat ein Volk eine erstaunenswürdigere und schnellere Umwandlung erlebt, als das französische. Von der höchsten Stufe des Genius war es zu der Gemeinheit, von der Frömmigkeit zur Gottlosigkeit, von strenger Sittlichkeit zur Schlechtigkeit herabgesunken.

Ach, ein thörichter Wahn waren meine Hoffnungen gewesen, im Thal der Heimat jene Ruhe und jenen Frieden wiederzufinden, den ich mit schmerzlicher Sehnsucht überall und überall suchte. Das Studium der Welt hatte mich nichts gelehrt, und doch genoß ich die Wohlthat der Glücklichen nicht mehr, noch nichts davon zu wissen.

Meine Schwester schien, durch eine mir unerklärliche Art, wie sie sich gegen mich benahm, einen Gefallen daran zu finden, meinen Unmuth nur noch zu vermehren; sie hatte Paris einige Tage vor meiner Ankunft verlassen. Ich schrieb ihr, daß ich mich unendlich freue, sie wiederzusehen; sie beeilte sich mir zu antworten, und suchte mich sichtbar von dem Plan eines persönlichen Besuches bei ihr zurückzubringen, indem sie vorgab, sie sei noch ungewiß darüber, wohin sie ihre Geschäfte fürs Erste rufen würden – Welche traurigen Betrachtungen stellte ich damals über die Freundschaft an, die durch die Gegenwart erkaltet und durch die Trennung erlischt; welche im Unglück nicht, und noch weniger im Glück sich standhaft zeigt! –

[118] Bald fühlte ich mich einsamer und weltverlassener in meiner Heimat, als ich es auf fremdem Boden gewesen war. Ich wollte mich einmal auf eine Zeitlang in den Strom einer Welt stürzen, die mir nichts sagte und die mich nicht verstand. Meine noch durch keine Leidenschaft abgestumpfte Seele suchte einen Gegen stand, an den sie sich anschmiegen könnte; allein ich merkte bald, daß ich mehr gab als empfing. Man verlangte von mir weder eine erhabenere Sprache, noch irgend ein tieferes Gefühl; ich mußte im Gegentheil meine Lebensansichten da und dort herabstimmen, um sie nur den Begriffen der Gesellschaft anzubequemen; und dennoch behandelte man mich überall nur als einen romanhaften Sonderling. Ich schämte mich der Rolle, die ich spielte, wurde der Menschen und Dinge um mich her von Tag zu Tag überdrüssiger, und faßte endlich den Entschluß, mich in eine abgelegene Vorstadt zurückzuziehen, und dort in völliger Abgeschiedenheit zu leben. Nicht einmal meinen Namen theilte ich Jemandem ohne Noth mit.

Anfangs fand ich ziemliches Vergnügen an diesem dunkeln und unabhängigen Leben. Ein von Niemandem beachteter Fremdling, mischte ich mich unter die Menge, diese große Menschenwüste!

Oft saß ich in einer wenig besuchten Kirche, und überließ mich Stundenlang meinen Betrachtungen. Ich sah arme Frauen vor dem Allerheiligsten im Staube liegen, und Sünder vor dem Beichtstuhl knieen. Ach, fast Jeder von diesen verließ heiterer, als er gekommen, die heilige Freistatt, und das dumpfe Getöse, das man von außenher vernahm, glich dem Gewoge der Leidenschaften, glich so zu sagen den Stürmen der Welt, die sich an der Schwelle des Tempels brachen und erstarben. Großer Gott, der du an diesen heiligen Zufluchtsorten des Schmerzes meine heimlichen Thränen fließen sahst, du weißt es, wie oft ich mich zu deinen Füßen niederwarf und dich anflehte, mich von der Last meines Daseins zu befreien, oder einen andern Menschen aus mir zu machen! Ach, wer hat nicht von Zeit zu Zeit das Bedürfniß empfunden, noch einmal neu geboren zu werden, sich noch einmal zu verjüngen in der Flut des Stromes und seine Seele von neuem in den Quell des Lebens zu tauchen? Wer hat sich nicht [119] dann und wann von der Last seines ihm angebornen Hanges zum Bösen zu Boden gedrückt und unfähig gefühlt, etwas Großes, etwas Edles und Gerechtes zu vollbringen?

Wenn ich mich Abends wieder in meine Einsamkeit zurückzog, verweilte ich in der Regel einen Augenblick auf den Brücken, um in dem Anblick des Sonnenuntergangs zu schwelgen. Das Gestirn des Tages, die Dünste der ungeheueren Stadt beleuchtend, schien sich in einem Meer von flüssigem Gold langsam zu bewegen, wie der Zeiger an der Uhr der Zeiten. Gegen Einbruch der Nacht begab ich mich durch ein Labyrinth von einsamen Gassen nach Haus. Bei dem Anblick der Lichter, die in den Wohnungen der Menschen erglänzten, versetzte ich mich in Gedanken in die Welt von Schmerzen und Freuden hinein, die sie beleuchteten; ach, und ich fühlte, daß ich unter den Dächern so vieler Menschenwohnungen nicht einen einzigen Freund besaß! Während ich mich solchen Betrachtungen überließ, schlug es am gotischen Thurm der Kathedralkirche mit langsam abgemessenen Schlägen die Stunde, die dann in mannigfaltigen Tönen von Kirchthurm zu Kirchthurm weiter, und dann beständig ferner und ferner erklang. Ach, jede Stunde erschließt ein neues Grab, jede macht neue Thränen fließen! –

Diese Lebensart, die mich Anfangs entzückte, war mir sehr bald zuwider. Die ewige Wiederholung der nämlichen Scenen, Gedanken und Gefühle ermüdete mich. Ich fing an, mein Herz und seine Wünsche zu erforschen; ich wußte selbst nicht recht, was ich wollte, allein ich glaubte plötzlich, die Wälder müßten ein köstlicher Aufenthalt für mich sein. Schnell war mein Entschluß gefaßt, meine kaum betretene Lebensbahn, die mir schon länger als ein ganzes Jahrhundert gewährt zu haben schien, in ländlicher Einsamkeit zu beschließen. Ich verfolgte diesen Plan mit dem nämlichen Feuer, mit dem ich all meine Vorsätze betreibe. Ich reiste mit der nämlichen Eile ab, um mich im Wald in einer einsamen Eremitage zu begraben, mit der ich mich vordem auf meine Weltfahrt begeben.

Man wirft mir Unbeständigkeit in meinen Neigungen vor; man beschuldigt mich, ich sei außer Stande, längere Zeit bei [120] einem und demselben Bilde oder Ge danken zu verweilen; ich sei der Sklave meiner erhitzten Phantasie, welche jedes Vergnügen so schnell als möglich zu erschöpfen suche, als werde sie durch seine Dauer belästigt; ich schweife stets über das Ziel hinaus, das ich zu erreichen vermöchte. – Ach, ich suche ja nur ein Glück, das ich noch nicht kenne, und zu dem der Instinkt mich hinzieht. Ist es denn meine eigene Schuld, wenn ich überall und überall wieder die Gränzen wahrnehme, die dem Menschen gesetzt sind, und daß das Endliche keinen Werth in meinen Augen hat?

Meine gänzliche Abgeschiedenheit und der ununterbrochene Anblick der Natur versetzten mich zuletzt in einen Zustand, den ich unmöglich beschreiben kann. Ohne Eltern, ohne Freunde, so zu sagen einsam auf der Erde, und mit dem schmerzlichsten Stachel im Herzen, daß ich doch von Niemandem auf der Welt jemals so recht von ganzer Seele geliebt worden war, drückte mich ein Uebermaß von Lebenskraft zu Boden. Bisweilen erröthete ich plötzlich, und fühlte in meinen Adern Ströme glühender Lava; hin und wieder stieß ich einen unwillkürlichen Schrei aus, und schwere Träume und Schlaflosigkeit ängstigten mich in der Nacht. Es fehlte mir etwas, um damit den gähnenden Abgrund meines Daseins auszufüllen; ich stieg in die Thäler hinab, ich erklomm die Firnen der Gebirge, und rief mit der ganzen Kraft meiner Sehn sucht das Ideal meines Herzens herbei; ich umarmte es in den Lüften, ich glaubte seine Stimme im Rauschen der Flut zu hören; all mein Schauen und Denken bezog sich auf dieses Traumbild meiner Phantasie. Selbst die Sterne des Himmels und den ewigen Urquell des Lebens im Weltall dachte ich mir im Zusammenhange damit.

Und doch war dieser Zustand von Ruhe und Unruhe, von Armuth und Reichthum nicht ohne seine Annehmlichkeiten: so spielte ich einmal damit, daß ich einen Weidenast ablaubte, indem ich ihn ins Wasser eines Waldbachs hinaushielt. An jedes einzelne Blatt, welches die Welle dahintrug, knüpfte ich einen Gedanken, und kein König, der durch eine plötzliche Revolution seine Krone zu verlieren fürchtet, kann mehr Angst empfinden, als ich bei jedem Zufall litt, der die Kinder meines Zweiges bedrohte. [121] O Schwäche der Sterblichen! O Kindheit des menschlichen Herzens, das nie alt wird! Zu solchen Kinderspielen läßt sich unsere stolze Vernunft herab! Auch ist es ja nur zu wahr, daß die Menschen ihr Schicksal gar oft an Dinge knüpfen, die noch geringer und werthloser sind, als meine den Bach hinunterschwimmenden Weidenblättchen.

Wie soll ich all die flüchtigen Eindrücke beschreiben, die ich auf meinen Wanderungen empfand? Die Töne, welche die Leidenschaft aus der Oede eines einsamen Herzens hervorruft, gleichen dem Rauschen des Windes und der Flut im tiefen Schweigen der Wildniß; man ergötzt sich daran, schildern kann man es nicht.

Unter diesen schwankenden Gefühlen überraschte mich der Herbst; mit Entzücken begrüßte ich die Zeit der Stürme. Bald wünschte ich einer jener Krieger zu sein, die durch Wind und Wolken und graue Nebelgebilde dahinstürmen; bald beneidete ich das Loos des armen Schafhirten, der sich am spärlichen Feuer von Buschwerk in einem Winkel des Waldes die Hände wärmte. Ich horchte seinen melancholischen Liedern, die mich erinnerten, daß der Grundton des Volkslieds überall ein trauriger ist; selbst wenn darin von Lust und Glück die Rede ist. Unsere Seele ist leider ein unvollständiges Instrument; sie ist eine Leier, welcher einige Saiten fehlen, und auf der wir die Freude ir. Tönen auszudrücken gezwungen sind, die eigentlich dem Schmerz angehören.

Am Tage trieb ich mich in den weiten, vom Walde begrenzten Haiden umher. Wie wenig bedurfte ich für meine Träumereien! Ein welkes Blatt, das der Wind vor mir hertrug, ein einsames Waldhaus, aus welchem der Rauch zu den bereits kahl gewordnen Wipfeln der Bäume emporstieg, das Moos, das beim Wehn des Nords am Stamm der Eiche zitterte; ein abgelegener Fels, ein einsamer Weiher, in dem das schwanke Schilfrohr flüsterte! Auch der einzelne Kirchthurm, der sich aus dem fernen Thal erhob, zog meine Blicke an; oft folgte ich mit den Augen dem Fluge der Zugvögel über meinem Haupt. Ich dachte mir die unbekannten Gestade, die fernen Länder, wohin sie ziehen, und [122] wünschte sie auf ihrem Zuge durchs Weltmeer begleiten zu können. Ein geheimer Instinkt quälte mich; ich fühlte, daß ich selbst nichts weiter war als ein Reisender; doch eine Stimme vom Himmel schien mir zuzurufen: Sterblicher! Die Zeit deiner Wanderung ist noch nicht gekommen; warte, bis der Wind der Wüste sich erhebt, dann wirst auch du deinen Flug nach jenen Zonen nehmen, nach welchen sich deine Seele sehnt.

Erhebt euch bald, erwünschte Stürme, um René recht bald ins bessere Leben hinüberzutragen! So sprach ich, und eilte mit großen Schritten vorwärts; mein Antlitz glühte, der Wind schlug mir die Locken ins Angesicht, ich fühlte weder Regen noch Frost; ich war entzückt, geängstigt, und doch wieder von dem Traumbild meines Herzens wie von einem Quälgeiste verfolgt.

Nachts, wenn die Windsbraut meine Eremitage umtobte, wenn der Regen in Strömen auf mein Dach niedergoß, wenn ich durch mein Fenster den Mond erblickte, wie er, gleich einem blaßgoldnen Kahn, der durch die Flut dahinstreicht, sanft durch die wandern den Wolken glitt; dann war es mir, als verdoppelte sich die Lebenskraft im Innersten meines Herzens, dann fühlte ich in mir eine Macht, als ob ich im Stande wäre, eine neue Welt aus dem Nichts hervorzurufen. Ach, hätte ich das Entzücken, das ich fühlte, mit einem andern Wesen theilen können! O Gott, hättest du mir ein Weib nach meinen Wünschen gegeben, hätte deine gütige Hand mir, wie unserm Stammvater, eine aus mir selbst hervorgegangene Eva zugeführt! ....

Himmlische Schönheit! Vor dir hätt' ich mich auf meine Kniee niedergeworfen, dich hätt' ich in meine Arme geschlossen, und zum Ewigen gefleht, dir den Rest meines Lebens zu schenken!

Ach, ich war einsam, einsam auf der weiten Erde! Eine gewisse geheime Apathie beschlich mich. Jenes Gefühl des Ekels am Leben, welches mich schon als Jüngling oft ergriff, kehrte mit neuer Kraft zurück. Bald boten die Gefühle dem Herzen keinen Nahrungsstoff mehr, und daß ich überhaupt noch lebte, merkte ich nur an meinem tiefen Lebensüberdruß.

[123] Ich kämpfte eine Zeitlang gegen dieses Uebel, doch ohne rechten Ernst und rechten Willen, es zu bekämpfen. – Als ich durchaus keinen heilenden Balsam zu finden vermochte gegen diesen Krebs meines Herzens, der überall und nirgends war, entschloß ich mich endlich, dem Leben Lebewohl zu sagen.

O Priester des Höchsten, der du mir da zuhörst, verzeihe einem Unglücklichen, der damals nahezu seiner Vernunft beraubt war! Ich war voll heiliger Ehrfurcht für die Religion, und sprach wie ein Atheist; mein Herz liebte den Schöpfer und mein Geist verkannte ihn; mein ganzes Betragen, meine Reden, meine Gefühle, meine Gedanken waren nichts als Widerspruch, Irrthum und Lüge. Weiß denn überhaupt der Mensch stets, was er will, und ist er stets Herr seiner Gedanken?

Alles kehrte mir zu gleicher Zeit den Rücken, die Welt, das Glück der Freundschaft, der Frieden meines Zufluchtsorts. Zurückgestoßen von der Gesellschaft, von Amalien verlassen, was blieb mir noch übrig, als mir nun zu guter Letzt auch die Einsamkeit noch untreu ward? Sie war das letzte schwache Brett, auf dem ich feste Erde unter den Füßen zu gewinnen hoffte, und das nun, wie ich fühlte, auch noch im Abgrunde versank.

Entschlossen, wie ich war, mich von der Last meines Daseins zu befreien, wollte ich diesen Akt des Wahnsinns mit der größten Ueberlegung vollbringen. Nichts trieb mich zur Eile; ich setzte den Augenblick meines Scheidens nicht fest, um nur die letzten Stunden meines Lebens noch in recht langen Zügen zu genießen, und all meine Kräfte zu sammeln, damit ich, nach dem Beispiel eines Alten, das Scheiden meines Geistes fühlen möchte.

Inzwischen war ich genötigt, Verfügungen hinsichtlich meines Vermögens zu treffen, und ich mußte daher an Amalien schreiben. Es entschlüpften mir einige Klagen darüber, daß sie meiner so wenig gedächte, und ohne Zweifel ließ ich die Rührung durchschimmern, die sich während des Schreibens nach und nach meines Herzens bemächtigt haben mochte. Und doch glaubte ich mein Geheimniß gut bewahrt zu haben; meine Schwester jedoch, gewohnt in meiner Seele zu lesen, errieth es ohne Mühe. Der gezwungene Ton, der in meinem Briefe herrschte, meine Fragen [124] nach Angelegenheiten, mit denen ich mich früher nie beschäftigt hatte, erschreckten sie auf den Tod, und anstatt zu antworten, überraschte sie mich durch ihre plötzliche Ankunft.

Um euch eine richtige Vorstellung von der Bitterkeit meines späteren Schmerzes, und von der Größe meiner Freude bei Amaliens Wiedersehn zu machen, müßt ihr bedenken, daß sie die einzige Person auf der Welt war, die ich geliebt im Leben, und daß sich in ihr all meine Empfindungen mit den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit verschmolzen. Ich empfing daher Amalien mit einer Art von Gefühlsexstase. Ach, hatte ich doch in so langer Zeit Niemanden mehr gehabt, der mich verstand, dem ich so mein ganzes Innere hätte enthüllen können! –

Amalie warf sich in meine Arme und sprach: Undankbarer, du gedenkst zu sterben, und deine Schwester lebt! Du verdächtigst deine beste, deine einzige Freundin! Erkläre, entschuldige dich nicht, ich weiß Alles, ich habe Alles verstanden, wie wenn ich stets bei dir gewesen wäre. Wie kann es dir in den Sinn kommen, mich täuschen zu wollen, mich, die deine ersten Gedanken und Gefühle im Herzen keimen sah? – Das sind die Folgen deiner unglücklichen Gemüthsart, deines Lebensüberdrusses, deiner Ungerechtigkeit. Schwöre mir jetzt, während ich dich an mein Herz drücke, schwöre, daß du dich niemals mehr deinen Schwärmereien und Narrheiten hingiebst, und daß du mir nie die Hand frevelnd an dich selbst legst.

Bei diesen Worten blickte sie mich voll Mitleid und Zärtlichkeit an, und bedeckte meine Stirne mit Küssen; sie war wie eine Mutter, nur noch zärtlicher. Ach, mein Herz schloß sich allen Freuden wieder auf; wie ein Kind wollte ich nur getröstet sein. Ich unterwarf mich gänzlich der Herrschaft meiner Schwester; sie nahm mir einen feierlichen Eidschwur ab; ich schwor ihn ohne Zaudern; ach, und ich ahnte nicht einmal, daß ich jemals wieder unglücklich werden könnte! –

Länger als einen Monat genossen wir den Zauber des Zusammenlebens. Wenn ich am frühen Morgen, anstatt mich wie früher einsam zu finden, die Stimme meiner Schwester vernahm, durchbebte ein Gefühl von Freude und Glück meine Seele. [125] Amalie hatte von der Natur etwas Göttliches empfangen; ihr Geist besaß die nämliche unschuldige Anmuth, wie ihr Körper; unendlich sanft war ihr Gefühl, und ihr ganzes Wesen athmete Lieblichkeit, mit einer kleinen Beimischung von Schwärmerei; man möchte sagen, ihre Gefühle, ihre Gedanken und ihre Stimme waren gleich sanft und schwermuthsvoll; sie verband in sich die holde Scheu und das Liebesselige des Weibes mit der Reinheit und dem Süßharmonischen im Wesen eines Engels.

Der Augenblick war gekommen, wo ich für all meine Thorheiten büßen sollte. – Ich hatte mich in meinem Wahnsinn zu wünschen vermessen, daß mir einmal ein rechtes Unglück begegnen möchte, um doch ein wirkliches Leiden zu haben: schrecklicher Wunsch, den Gott in seinem Zorne nur allzubald erhörte!

Was schütte ich nunmehr für eine schreckliche Beichte, was für ein unbegreifliches Geständniß vor euern Herzen aus, ihr meine beiden Freunde! O seht die Thränen, die meinen Augen entströmen! Kann ich es denn? ..... Vor einigen Tagen noch hätte nichts dieses Geheimniß mir entrissen ..... Jetzt ist es geschehen. Doch soll, o Greise, meine Geschichte mit ewigem Stillschweigen bedeckt bleiben; bedenkt, daß sie nur unter dem Baume der Wildniß erzählt worden ist.

Der Winter war zu Ende, als ich bemerkte, daß meine Schwester nach und nach ihre Ruhe und die Gesundheit verlor, die sie selbst mir wieder gebracht. Ich sah sie magerer und magerer werden; ihre Augen wurden hohl, ihr Gang bekam etwas Träges und Schleichendes, ihre Stimme etwas Tonloses. Eines Tages überraschte ich sie in Thränen zu Füßen eines Krucifixes. Die Gesellschaft der Menschen, wie die Einsamkeit, mein Kommen und mein Gehen, die Nacht wie der Tag, schien sie zu erschrecken. Unwillkürliche Seufzer erstarben ihr auf den Lippen; einmal machte sie kleine Reisen zu Fuße, ohne zu ermüden, ein andermal schleppte sie sich nur mit Mühe fort; sie nahm eine Arbeit vor und warf sie dann wieder weg, öffnete ein Buch, ohne darin zu lesen, begann einen Redesatz, ohne ihn zu vollenden, brach dann plötzlich in Thränen aus und begab sich auf ihr Zimmer, um zu beten.

[126] Vergebens suchte ich hinter ihr Geheimniß zu kommen. Wenn ich sie in meinen Armen hielt, und sie fragte, gab sie mir lächelnd zur Antwort, es gehe ihr ungefähr so, wie mir, und sie wisse nicht, was sie habe.

So gingen drei Monate hin; ihr Zustand war indessen von Tag zu Tag bedenklicher geworden. Ein geheimnißvoller Briefwechsel schien mir die Ursache ihrer Thränen zu sein; denn sie erschien bald ruhig und heiter, bald niedergeschlagen und betrübt, je nachdem der Inhalt der Briefe lautete, die sie empfing. Eines Morgens endlich, als die Stunde, in der wir zusammen zu frühstücken pflegten, längst vorüber war, ohne daß sie sich sehen ließ, begab ich mich auf ihr Zimmer hinauf. Ich klopfe und erhalte keine Antwort; ich mache die Thüre auf, Niemand ist da. Ich erblicke auf dem Kamin ein kleines Paquet mit meiner Adresse. Mit zitternder Hand greife ich darnach, öffne es und lese folgenden Brief, den ich aufbewahre, um mir für die Zukunft jede weitere Regung der Freude zu benehmen.


An René.


Ich rufe Gott zum Zeugen, mein theurer Bruder, daß ich mein Leben tausendmal dahin geben möchte, um nur Dir einen Augenblick des Schmerzes zu ersparen; doch ach, ich bin unglücklich, und kann nichts für Dich thun. Verzeihe mir daher, daß ich wie eine Schuldige von Dir gegangen bin, die sich durch die Flucht der Strafe entzieht; Dir wäre es am Ende gelungen, mich wieder zum Bleiben zu bewegen, und doch mußte ich abreisen .... Mein Gott, habe Mitleid mit mir!

Du weißt schon, René, daß ich von jeher eine gewisse Neigung für das Klosterleben gehabt habe; nun endlich ist es Zeit, daß ich den Wink des Himmels befolge. Warum habe ich so lange gewartet? – Gott straft mich jetzt schwer dafür. Ich war nur Deinetwegen noch in der Welt geblieben ..... Vergieb, der Schmerz, Dich zu verlassen, raubt mir nahezu den Verstand.

Jetzt erst, mein theurer Bruder! fühle ich so recht die Nothwendigkeit dieser Zufluchtsörter, gegen welche Du Dich so oft ereifert hast. Das Leben ist voll von Schmerzen und Leiden, und [127] es giebt in ihm schmerzliche Erfahrungen, die Einen unwiderruflich von der Welt und den Menschen scheiden; was bliebe nun all diesen armen Menschen, als die Verzweiflung und der Tod, wenn es keine Klöster gäbe? – Ich bin überzeugt, daß Du selbst in jenen Asylen des Friedens die Ruhe finden würdest. Die Erde kann Dir nichts mehr bieten, was Deiner würdig wäre.

Ich will Dich nicht an Deinen Eid erinnern; ich weiß, daß Dir Dein einmal gegebnes Wort heilig ist. Du hast es mir geschworen, Du wirst für mich leben. Giebt es denn auch etwas Erbärmlicheres, als beständig daran zu denken, sein Leben dem Schöpfer wieder zurückzuschleudern? Mit einer Gemüthsart, wie die Deinige, ist es so leicht zu sterben; glaube Deiner Schwester, es ist schwerer, zu leben und die Leiden des Lebens mit Gleichmuth zu ertragen.

Eile nur so bald als möglich aus dieser Einsamkeit heraus, die Dir nun einmal nicht zuträglich ist; schaue, daß Du Dich auf irgend eine Art beschäftigst. Ich weiß wohl, daß Du den Zwang, wodurch man bei uns zu Land überhaupt genöthigt ist, einen Stand zu ergreifen, bitter belächelst; verachte indeß die Erfahrung und die Weisheit unserer Väter nicht gar zu sehr; es ist besser, mein theurer René, etwas mehr den gewöhnlichen Menschen zu gleichen, und dafür etwas weniger unglücklich zu sein.

Vielleicht würdest Du in der Ehe eine Linderung Deines Lebensüberdrusses finden. Eine Frau und ein paar Kinder würden Dir zu thun und zu denken geben. Und welches Weib würde sich nicht bestreben, einen Mann wie Dich glücklich zu machen? Die Glut Deiner Gefühle, die Schönheit und Anmuth Deiner Gedanken, Dein edles und durch und durch leidenschaftliches Wesen, Dein stolzer und doch zugleich so zärtlicher Blick, all Deine Vorzüge zusammengenommen, würden Dir die süßeste Gewißheit geben, daß sie Dich treu und von ganzem Herzen liebt. O, mit welchem Entzücken müßte sie Dich nicht in ihre Arme schließen und an ihr Herz drücken! All ihre Blicke und Gedanken würden nur auf Dich gerichtet sein, um jedem und auch dem leisesten Anflug von Schmerz und Gram zuvorzukommen; sie würde ganz Liebe, ganz [128] Unschuld für Dich sein, Du würdest in ihr eine zweite Schwester zu finden glauben.

Ich reise nach dem Kloster .... Seine Lage am Meer paßt vollkommen zu meiner melancholischen Gemüthslage. Nachts werde ich in meiner Zelle das Rauschen der Wogen hören, welche die Klostermauern bespülen; ich werde mich unserer Spaziergänge im Waldgebirg erinnern, wo wir in den wogenden Gipfeln der Fichten das Brausen des Meeres zu vernehmen glaubten.

Theurer Gefährte meiner Kindheit, werde ich Dich jemals wieder sehen? Nur ein wenig älter, als Du selbst bist, schaukelte ich Dich in Deiner Wiege; oft schliefen wir zusammen im nämlichen Bette. O möchte auch einst dasselbe Grab uns umschließen! Doch nein; ich muß einsam unter dem kalten Marmor dieses Heiligthums schlafen, wo die Jungfrauen ruhen, die nie geliebt haben.

Ich weiß nicht, ob Du diese von meinen Thränen halb verlöschten Zeilen wirst lesen können. Bedenke jedoch, daß wir, ein wenig früher oder später, uns doch einmal hätten trennen müssen. Ist es denn nöthig, Dir erst noch mehr zu sagen von dem ungewissen Loos und dem geringen Werth dieses Lebens? Du erinnerst Dich doch des jungen M........, welcher bei Isle-de-France Schiffbruch litt? – Als wir seinen letzten Brief empfingen, waren nicht einmal seine irdischen Reste mehr vorhanden, und als Deine Trauer um ihn in Europa erst begann, war sie in Indien bereits zu Ende. Was ist also der Mensch, dessen Andenken so schnell auf Erden verschwunden ist? Ein Theil seiner Freunde erfährt seinen Tod erst dann, wenn der andere Theil schon längst wieder getröstet ist. O theurer, o mein nur zu theurer René! Wird denn mein Andenken auch so schnell in Deinem Herzen erlöschen? O Bruder, wenn ich in der Zeitlichkeit so von Dir hinwegeile, so geschieht es ja nur darum, um in der Ewigkeit nicht von Dir geschieden zu sein.

Amalie.


P.S. Ich lege hier die Schenkungsurkunde über meine Güter bei, und hoffe, Du werdest diesen Beweis meiner Freundschaft nicht von Dir weisen. –


[129] Wäre der Blitz zu meinen Füßen niedergefahren, so hätt' er mich nicht mehr erschreckt, als dieser unvermuthete Brief. Welches Geheimniß verbarg mir Amalie? Was zwang sie, so plötzlich ins Kloster zu gehen? Hatte sie mich durch den Zauber der Freundschaft nur deßwegen wieder ans Leben gefesselt, um mich einen Augenblick nachher aufs neue im Stiche zu lassen? Warum kam sie, um mich von meinem Vorhaben abzubringen? Eine Anwandlung des Mitleids hatte sie in meine Arme zurückgeführt; bald wird sie es jedoch müde, sich einer so schweren Pflicht zu unterziehn, und eilends verläßt sie einen namenlos Armen und Elenden wieder, der doch nichts weiter auf Erden besaß, als sie. Man glaubt schon sein Möglichstes gethan zu haben, wenn man einen Menschen vom Selbstmord abhält. – So klagte ich; dann that ich einen Blick in mein Inneres: O undankbare Amalie, sprach ich zu mir selbst, wenn du an meiner Stelle gewesen wärest, wenn du in einem freudlosen Dasein dein Leben dahingeschmachtet hättest, von deinem treuen Bruder wärest du gewiß nicht so im Stiche gelassen worden!

Wenn ich inzwischen ihren Brief wieder überlas, so fand ich etwas so Trauriges und Zärtliches darin, daß mein Herz auf das Innigste davon gerührt war. Auf einmal kam mir ein Gedanke, der mir einigen Trost gab; ich glaubte nämlich, Amalie habe zu Jemandem eine heftige Leidenschaft gefaßt, die sie mir nicht zu gestehen wage. Dieser Verdacht schien mir ihre Schwermuth, ihren geheimnißvollen Briefwechsel und den leidenschaftlichen Ton zu erklären, der in ihrem Briefe herrschte. Ich schrieb ihr auf der Stelle, und bat sie, mir doch ohne Rückhalt zu sagen, was sie denn eigentlich auf dem Herzen habe.

Sie antwortete mir unverweilt, ohne mir jedoch ihr Geheimniß zu gestehen; sie theilte mir in diesem Brief nur mit, sie habe die Lossprechung vom Noviziate erhalten, und werde bereits in kürzester Zeit ihr Gelübde ablegen.

Amaliens Eigensinn, das Geheimnißvolle ihrer Worte und ihr geringes Zutrauen in meine Freundschaft empörten mich.

Nach kurzem Hin- und Herdenken, was ich nun thun sollte, entschloß ich mich, nach B.... zu eilen und einen letzten Versuch [130] bei meiner Schwester zu machen. Das Landgut, auf dem ich erzogen worden war, lag gerade am Wege. Als ich die Wälder wieder erblickte, wo ich die einzigen glücklichen Augenblicke meines Lebens zugebracht, konnte ich mich der Thränen nicht erwehren, und es war mir unmöglich, der Versuchung zu widerstehen, all diesen theuern Orten noch ein letztes Lebewohl zuzurufen.

Das Erbe unserer Väter war von meinem älteren Bruder längst verkauft worden, und der neue Eigenthümer bewohnte es noch nicht. Durch die düstere Fichtenallee kam ich an das Schloß; ich durchschritt die schweigenden, einsamen Höfe desselben; dann und wann blieb ich stehen, um mir die verschloßnen oder halbzerbrochnen Fenster, die an dem Fuß der Mauern wuchernden Disteln, das Laub, welches Thür und Schwelle bedeckte, und die verlaßne Eingangstreppe zu betrachten, auf der ich vormals so manchmal meinen Vater und seine treuen Diener gesehn. Die Stufen waren schon mit Moos bedeckt; die gelbe Levkoje wuchs zwischen den auseinanderbröckelnden, lockern Steinen hervor. Ein neuer Wächter öffnete mir mit mürrischem Gesicht die Thüre. Als ich einen Augenblick zögerte, die Schwelle zu betreten, rief mir dieser Mensch zu: Nun, macht Ihr's auch wie die Fremde, die vor ein paar Tagen hieher kam? Wie sie gerade im Begriff war, ins Haus zu treten, fiel sie in Ohnmacht, und ich mußte sie zu ihrem Wagen zurückbringen. – Es war mir ein Leichtes, diese Fremde zu errathen, die, wie ich, hieher gekommen war, um Thränen und Erinnerungen zu suchen.

Die Augen mit meinem Tuche bedeckt, trat ich unter das Dach meiner Ahnen. Ich eilte durch die hallenden Gemächer, in denen man nur den Schall meiner Tritte vernahm. Sie waren von dem Lichtschein, der durch die geschloßnen Läden drang, nur schwach erleuchtet; ich besuchte jenes, in dem meine Mutter bei meiner Geburt das Leben verlor; dann ging ich in das Kabinet meines Vaters, in den Raum, wo meine Wiege gestanden, und dann in den, wo ich der Freundschaft zuerst gehuldigt am Herzen meiner Schwester. Sämmtliche Säle waren leer, und ringsumher an Bettstatt und Sopha hingen, ein Bild der Oede, graue Spinnengewebe. Schnell verließ ich diesen Ort; ich floh ihn mit [131] langen Schritten, ohne daß ich es wagte, nur noch einmal zurückzublicken. Wie süß sind die Augenblicke, welche Brüder und Schwestern im seligen Traum der Kindheit unter den Fittigen der Eltern mit einander dahinleben, und wie schnell eilen sie vorüber! Eine Menschenfamilie währt nur einen Tag, der Athem Gottes zerstreut sie wie Rauch. Kaum kennt der Sohn den Vater, kaum der Vater den Sohn, der Bruder die Schwester, die Schwester den Bruder! Die Eiche sieht ihre Sprößlinge rings um sich her emporwachsen; so ist es nicht mit den Kindern der Menschen!

In B.... angelangt, ließ ich mich in das Kloster führen; ich verlangte mit meiner Schwester zu sprechen. Man erwiderte mir, sie empfange Niemanden. Ich schrieb an sie; sie antwortete mir, da sie im Begriff stehe, sich Gott zu weihen, so sei ihr kein Gedanke an die Welt mehr erlaubt; wenn ich sie wahrhaft liebe, so werde ich sie nicht durch meinen Schmerz noch mehr beunruhigen wollen. Im Fall, daß Du indeß Lust hast, setzte sie hinzu, am Tage meiner Einkleidung am Altare zu erscheinen, so habe die Freundlichkeit, Vaterstelle bei mir zu vertreten; diese Stellung ist die einzige, die Deines Muthes würdig ist, die einzige, die sich für unsere Freundschaft schickt, und die mir eine Gewähr giebt für meine Ruhe. – Diese eisige Kühle und Unerbittlichkeit, die sie meiner glühenden Freundschaft entgegengesetzte, brachte mein Gemüth in heftige Wallungen. Bald war ich nahe daran, wieder zu gehen, bald blieb ich wieder, und zwar nur, um die heilige Handlung mit Gewalt zu stören. Ich gerieth sogar auf den höllischen Gedanken, mir am Altare den Dolch in die Brust zu stoßen, um meine letzten Seufzer mit den Gelübden zu vermischen, die mir meine Schwester entreißen sollten. Die Priorin des Klosters ließ mir sagen, sie habe einen eigenen Sitz im Chor für mich herrichten lassen, und lud mich ein, der Feierlichkeit beizuwohnen, welche für den nächsten Morgen festgesetzt sei.

Bei Anbruch des Tages gaben die Glocken das erste Zeichen. Gegen zehn Uhr schleppte ich mich in einer Art von Todeskampf nach dem Kloster. Es giebt nichts Schauderhaftes mehr für Denjenigen, der einmal einem solchen Schauspiel beigewohnt, und keinen Schmerz mehr für Den, welcher es überlebt hat. Die Kirche [132] war von einer ungeheuern Volksmenge angefüllt; man führte mich zu meinem Sitz hin; ich warf mich auf die Knie, fast ohne zu wissen, wo ich mich befand, und was ich zu thun gedachte. Schon wartete der Priester am Altare; plötzlich öffnete sich das geheimnißvolle Gitter, und Amalie schritt, mit all der Pracht und Herrlichkeit dieser Welt geschmückt, langsam vorwärts. Sie war so schön, ihr Angesicht strahlte von einem so überirdischen Glanz, daß ihre Erscheinung allgemeine Ueberraschung und Bewunderung hervorrief. Dieser Strahlenglanz, der die heilige Dulderin umgab, das Erhabne der religiösen Feierlichkeit beschwichtigte mein wildes Gemüth, und all meine gewaltthätigen Absichten und Pläne traten zurück; meine Kraft verließ mich; ich fühlte mich von einer unwiderstehlichen Gewalt gefesselt, und statt Gotteslästerungen und Drohungen fand ich in meinem Herzen nur Anbetung und Seufzer der Reue.

Meine Schwester trat jetzt unter einen Baldachin. Die heilige Messe begann beim Schein der Kerzen, unter Blumen und Weihrauchgerüchen, welche den Zweck haben, das Opfer angenehm zu machen. Beim Offertorium legte der Priester sein Prachtgewand ab, behielt nur noch sein Chorhemd an, bestieg die Kanzel, und schilderte in einer einfachen und herzergreifenden Rede das Glück der Jungfrau, welche sich dem Herrn weiht. Als er die Worte sprach: Sie ist erschienen wie der Weihrauch, der sich im Feuer verzehrt, da war es mir, als wenn himmlische Düfte und himmlische Ruhe sich in der Kirche verbreiteten; man fühlte sich gleichsam geschützt unter den Flügeln der mystischen Taube, und glaubte Engel zu sehen, die auf den Altar herniederschwebten und mit Kronen und himmlischen Blumengerüchen wieder zur Höhe sich erhoben.

Der Priester beschließt seine Predigt, wirft sein Meßgewand wieder um, und fährt im heiligen Meßopfer fort. Amalie, von zwei jungen Ordensschwestern unterstützt, knieet auf der untersten Stufe des Altares nieder. Jetzt holt man mich, um Vaterstelle bei ihr zu vertreten. Bei dem Geräusch meiner wankenden Schritte ist Amalie einer Ohnmacht nahe. Man läßt mich neben den Priester hintreten und überreicht mir die Scheere, um sie ihm [133] zu geben. In diesem Augenblick geräth mein Blut von neuem in Wallung, meine Wuth will sich Luft machen, als meine Schwester, sich mit Gewalt zusammennehmend, mir einen Blick zuwirft, der einen solchen Schmerz und tiefen Vorwurf ausdrückt, daß ich davon wie vernichtet bin. Die Religion triumphirt. – Meine Schwester benutzt diesen schwachen Augenblick und reicht muthig ihr Haupt hin. Ihr prächtiger Haarschmuck fällt von allen Seiten unter dem heiligen Stahl; ein langes Kleid von grobem Stoff tritt an die Stelle des weltlichen Schmuckes, ohne sie minder schön und anziehend zu machen; die Sorgen der Stirne bedeckt ein leinenes Band, und der verhängnißvolle Schleier, das doppelte Sinnbild der Jungfrauschaft und des Klosterlebens, verläßt nun ihr seiner goldenen Zierde beraubtes Haupt nicht mehr. Nie hatte ich sie so schön gesehen; das Auge der Büßenden ruhte auf dem Staub der Erde, ihre Seele war im Himmel.

Inzwischen hatte Amalie ihr Gelübde noch nicht abgelegt, und um dem Leben abzusterben, mußte sie erst noch durch das Grab wandeln. Meine Schwester legt sich auf den Marmor nieder, man breitet ein Leichentuch über sie aus; vier Fackeln bezeichnen seine vier Enden. Der Priester, mit der Stola um den Hals und dem Buch in der Hand, hebt das kirchliche Lied für die Verstorbnen zu singen an, blühende Jungfrauen singen mit. O Schönheiten der christlichen Religion, wie groß und wie schrecklich seid ihr zugleich! Man hatte mich genöthigt, näher als die Andern an dieser Statt des Todes niederzuknieen. Plötzlich vernahm ich dumpfe Töne unter dem Leichentuch; ich gebe mir Mühe und strenge mein ganzes Gehör an, und folgendes fürchterliche Stoßgebet, nur mir allein verständlich, dringt an mein Ohr: Gott der Barmherzigkeit! o laß mich nicht mehr von diesem Todtenlager auferstehen, und beglücke meinen Bruder, der meine strafbare Leidenschaft nicht getheilt hat, mit all deinen Wohlthaten!

Dieses Wort, welches aus der Gruft herauf an mein Ohr schlägt, verräth mir mit Einem Male das schrecklichste Geheimniß; meine Vernunft umwölkt sich, ich stürze mich auf das Leichentuch hin, schließe meine Schwester in meine Arme und rufe: O keusche Braut Christi, empfange meine letzte Umarmung durch die Eisdecke [134] des Todes und die Tiefen der Ewigkeit, die mich jetzt schon von dir scheiden!

Diese heftige Bewegung, dieser Ausruf, meine Thränen unterbrechen die Feierlichkeit; der Priester hält inne, die Klosterfrauen ziehen sich zurück und schließen das Gitter wieder hinter sich; das Volk drängt sich zum Altare, man trägt mich bewußtlos fort. Wie wenig Dank wußte ich doch Denen, die mich ins Leben zurückriefen! Als ich die Augen wieder aufschlug, erfuhr ich, daß das Opfer vollbracht wäre, und daß meine Schwester an einem heftigen Fieber darniederläge. Sie ließ mich bitten, jetzt ja keinen Versuch mehr zu machen, sie noch einmal zu sehen. – Welches elende Leben! Eine Schwester ist in Angst, mit dem eigenen Bruder, ein Bruder, mit seiner Schwester zu sprechen! Ich verließ das Kloster wie jenen Ort der Sühne, wo Flammen uns für das himmlische Leben vorbereiten, und wo man, wie an dem Ort der ewigen Verdammniß, Alles verloren hat, bis auf die Hoffnung.

Man kann noch Kraft genug in sich selbst gegen eigenes Unglück finden; jedoch die unfreiwillige Ursache fremder Leiden zu sein, ist ein unerträgliches Gefühl. Da ich meiner Schwester tiefen Gram und ganzes Unglück nun endlich klar durchblickte, so dachte ich mich erst recht hinein, wie schwer sie litt, und erst jetzt wurden mir einzelne Erscheinungen an ihr klar, die ich früher nie recht begriff; so jene mit Freude gemischte Trauer, die sie bei meinem Scheiden von ihr blicken ließ, so die Sorgfalt, mit der sie mich bei meiner Rückkehr zu vermeiden suchte, und dann wieder die Schwäche, die sie so lange Zeit abhielt, den Schleier zu nehmen. Ohne Zweifel hatte sich das arme Mädchen mit der Hoffnung geschmeichelt, ihre Leidenschaft mit der Zeit noch zu besiegen. Ihr Plan, sich von der Welt zurückzuziehen, die Lossprechung vom Noviziate, und die Verfügung über ihre Güter zu meinen Gunsten waren es also gewesen, die jenen heimlichen Briefwechsel veranlaßten, der mich so beunruhigte.

O meine Freunde, nun wußte ich es endlich, was es heißt, Thränen über ein Unglück vergießen, das nicht blos in der Einbildung vorhanden ist. Meine Leidenschaften, die so lange kein [135] bestimmtes Ziel hatten, stürzten sich nun mit Wuth auf diese ihre erste Beute. Ich fand sogar eine Art von unerwartetem Vergnügen in der Größe meines Leides, und ich nahm mit geheimer Freude wahr, daß der Schmerz kein Gefühl ist, das man erschöpft, wie das Vergnügen.

Ich hatte die Erde verlassen wollen, bevor es dem Allmächtigen gefiel, mich abzurufen; gewiß war das ein großes Verbrechen: Gott sandte mir Amalien, um mich zu retten und zugleich zu strafen. So hat jeder strafbare Gedanke, jede verbrecherische Handlung Wirrwarr und Unglück zur Folge. Meine Schwester bat mich zu leben, und ich war es ihr wohl schuldig, ihre Leiden nicht zu vermehren. Uebrigens fühlte ich (sonderbarer Wechsel!) keine Sehnsucht nach dem Tode mehr, seitdem ich wahrhaft unglücklich war. Mein Gram war mir zu einer Art Geschäft geworden, welches all meine müßigen Augenblicke in Anspruch nahm: so sehr war mein Herz schon von Natur den Eindrücken des Schmerzes und Elendes Preis gegeben!

Ich faßte daher plötzlich den Entschluß, Europa zu verlassen und nach Amerika hinüberzugehen.

Man rüstete gerade damals im Hafen von B.... ein Geschwader nach Louisiana aus. Ich schloß mit einem der Schiffskapitäne einen Vertrag ab, theilte Amalien mein Vorhaben mit, und traf die nöthigen Anstalten zu meiner Abreise.

Meine Schwester war am Rand des Grabes gewesen; Gott der Herr jedoch, von dem ihr die Palme der Jungfrauen beschieden war, wollte sie nicht so schnell zu sich rufen, und verlängerte daher ihre irdische Prüfung noch. Sie betrat zum zweitenmal die mühsame Bahn des Lebens, und schritt, unter dem Kreuze gebeugt, muthig den Schmerzen entgegen, im Kampf nur den Triumph, und im Uebermaß der Leiden den höchsten Ruhm erblickend.

Der Verkauf der wenigen Güter, die mir noch übrig geblieben, und die ich meinem Bruder überließ, die langen Vorbereitungen zur Abfahrt des Geschwaders, und widrige Winde hielten mich noch längere Zeit im Hafen zurück. Täglich zog ich [136] Nachrichten von Amalien ein, und täglich fand ich neue Gründe, um meine Schwester zu bewundern – und um sie zu beweinen.

Ohne Unterlaß schweifte ich um das Kloster herum, das am Strand der See lag. Oft erblickte ich an einem kleinen Gitterfenster, welches in eine öde Landschaft hinaussah, eine ach, nur allzuliebliche Gestalt im Schleier; – in tiefen Gedanken saß sie da und blickte ins Meer hinaus, so oft ein Schiff darauf erschien, das nach fernen Zonen steuerte. Mehr als einmal sah ich im Mondenschein die nämliche Gestalt am nämlichen Fenster; sie betrachtete das von dem nächtlichen Gestirne beleuchtete Meer und schien ihr Ohr dem Rauschen der Wogen zu leihen, die sich schauerlich am einsamen Felsgestade brachen.

Noch glaube ich den Klang der Glocken zu hören, welche in der Nacht die Himmelsbräute zum Gebete rief. Während sie langsam anschlug, und die Jungfrauen schweigend zum Altare des Allmächtigen gingen, eilte ich zum Kloster hin und vernahm am Fuß der Mauer, in heiligem Entzücken, die letzten Töne der frommen Gesänge, die sich mit dem leisen Rauschen der Flut vermischten.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß all diese Dinge, die meinen Gram doch eigentlich hätten nähren sollen, seinen Stachel abstumpften; meine Thränen waren weniger schmerzlich, wenn ich sie auf Felsen und im Sturme vergoß. Mein Schmerz selbst trug, seiner außerordentlichen Beschaffenheit wegen, eine Art von linderndem Balsam in sich; es liegt ein gewisser Genuß im Ungewöhnlichen, selbst wenn dieses Ungewöhnliche ein Unglück ist. Ich zog daraus fast den Schluß, daß wohl auch meine Schwester sich mit der Zeit nicht mehr so unglücklich fühlen dürfte.

Ein Brief, den ich noch vor meiner Abfahrt von ihr empfing, schien meine Vermuthung zu bestätigen. Amalie beklagte in zärtlichen Ausdrücken meinen Schmerz, und versicherte mich, daß die Zeit auch den ihrigen bereits mildere. Ich verzweifle nicht mehr an meinem Glücke, schrieb sie mir. Jetzt, nachdem das Opfer vollbracht ist, trägt selbst das Außerordentliche desselben dazu bei, mir einigen Frieden zu gewähren. Die Herzenseinfalt meiner Mitschwestern, die Reinheit der Wünsche, die sie im Herzen tragen, [137] die strenge Stundenordnung, wodurch ihr ganzes Leben geregelt ist, all das giebt meiner Seele allmählich süße Rast und Ruhe. Wenn ich höre, wie der Orkan draußen tobt, und wie die Seeschwalbe mit den feuchten Flügeln an meine Scheiben schlägt, dann fühle ich arme Himmelstaube so recht das Glück, daß ich nunmehr einen Zufluchtsort gegen die Stürme gefunden habe. Ich stehe auf der Höhe des heiligen Berges, auf dem hohen Gipfel, zu dem die letzten Laute vom Erdball herauftönen, wo man die ersten Harmonien des Himmels zu hören glaubt; hier übt unsere heilige Religion ihre süße Gewalt über ein fühlendes Herz aus; durch sie tritt an die Stelle der heftigsten Leidenschaft eine keuschauflodernde Flamme, in welcher die Liebende und die Jungfrau aufs Innigste in einander verschmelzen; sie läutert die Seufzer; das schnellvergängliche Feuer verwandelt sie still allmählich in eine ewige Glut, und wenn das Herz, welches den Frieden sucht, wenn das Leben, welches die Einsamkeit wählt, noch Augenblicke des Sinnenrausches und der Unruhe haben, dann tritt mit göttlicher Milde und Unschuldsie dazwischen und besänftigt die stürmischen Gefühle. –

Ich weiß nicht, was Gott der Herr mir noch vorbehält, und ob es in seinem weisen Plan lag, mir zu zeigen, daß die Stürme überall und überall mit mir gehn würden; genug, der Befehl zur Abfahrt des Geschwaders war bereits gegeben; schon lagen einzelne Schiffe fertig, um mit Anbruch des Abends in die See zu stechen; ich selbst zog vor, die letzte Nacht noch am Lande zu bleiben, um einen letzten Abschiedsbrief an meine Schwester zu schreiben. Während ich mich gegen Mitternacht gerade damit beschäftige und mit meinen Thränen das Papier benetze, dringt das Heulen des Windes an mein Ohr. Ich fahre auf und horche; ich unterscheide durch das Getöse des Sturms hindurch deutlich das Krachen der Kanonen und den Schall der Klosterglocke. Ich eile ans Gestade, wo es einsam und öde war, und wo man nichts als das Brausen der Wogen vernahm. Ich setze mich auf einen einsamen Felsen hin. Zur Rechten von mir breiten sich die leuchtenden Wogen aus, zur Linken verlieren sich die düstern Klostermauern ins Blau der Wolken. Ein schwacher Lichtschein erglänzte [138] an dem oft erwähnten Fenster. Warst du es, o meine Schwester, die da zu den Füßen des Kreuzes zu dem Gott der Stürme betete, deinen armen Bruder zu verschonen? Auf der See tobte der Sturm, in deiner Zelle wohnte friedliche Stille. Dort lagen Menschen an Klippen geworfen, hier stand diesen Felsriffen gegenüber eine heilige Freistatt, deren Ruhe nichts zu stören vermag. Das Unendliche jenseits einer Klostermauer; die im Winde schwankenden Laternen der Schiffe, und die unbeweglichen Leuchtthürme am Gestade; das ungewisse Schicksal der Seefahrer, und die Vestalin, die an einem einzigen Tage ihre ganze Zukunft erfährt; und dann da drüben wieder eine Seele, wie die deinige, o Amalie, stürmisch bewegt wie der Ozean; ein Schiffbruch, schrecklicher als der des Seemanns: dieses Gemälde ist meinem Gedächtniß für die Ewigkeit eingeprägt. O Sonne dieses neuen Himmels, die du da Zeugin meiner Thränen bist, o Echo der amerikanischen Wälder, welches Renés Klagen wiederholt! Was war das für ein Morgen, der dieser schrecklichen Nacht folgte! Es war der Morgen, wo ich vom Verdecke des Schiffes das Land meiner Geburt für allezeit meinen Blicken entschwinden sah! Lange betrachtete ich das Schwanken der Bäume auf der vaterländischen Küste und die Giebel des Klosters, die sich allmählich im Blau des Horizonts verloren.

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Als René mit dieser seiner Geschichte zu Ende war, zog er ein Papier aus seinem Busen und gab es dem Pater Souël; dann warf er sich in Schaktas Arme und unterdrückte gewaltsam sein Schluchzen, um dem würdigen Missionsgeistlichen Zeit zu lassen, den Brief zu durchlesen. Er war von der Priorin des Klosters von ..... und enthielt eine Schilderung der letzten Augenblicke der barmherzigen Schwester Amalie, welche als Opfer ihres menschenfreundlichen Eifers gestorben war, indem sie einige von ihren Mitschwestern pflegte, die an einer epidemischen Krankheit darniederlagen. Die ganze Klostergemeinde war untröstlich und betrachtete Amalien als eine Heilige. Die Priorin fügte bei, sie habe seit den dreißig Jahren, wo sie an der Spitze dieses Hauses gestanden, keine Ordensschwester gehabt, deren sanfte [139] Gemüthsart sich stets so gleich geblieben sei, und die mit größerer Ruhe dieser Welt der Trübsale Lebewohl gesagt habe.

Schakta drückte René an sein Herz und weinte; mein Sohn, sprach er zu ihm, ich wünschte, der Pater Aubry wäre hier; er schöpfte aus dem Grund seiner Seele stets eine Ruhe, welche die Stürme zwar beschwor, jedoch auch zeigte, daß sie ihm im Leben nicht fremd geblieben waren. Er glich dem Mond in einer stürmischen Nacht; die fliehenden Wolken vermögen nicht seinen ruhigen Wandel zu hindern; rein und unveränderlich gleitet er über sie hinweg. Mich hingegen bewegt Alles und reißt mich mit fort.

Bis dahin hatte der Pater Souël, ohne ein Wort zu sprechen, und mit strenger Miene, Renés Erzählung mit angehört. Er trug ein Herz in seiner Brust voll Güte und Theilnahme gegen die Menschen; äußerlich pflegte er jedoch einen unbeugsamen Charakter an den Tag zu legen. Schaktas weiches und seiner Ansicht nach allzu nachsichtiges Wesen ließen ihn nicht länger schweigen. Er nahm das Wort, und sprach zu René:

Ich für meinen Theil kann in deiner Geschichte durchaus nichts finden, was des Mitleids werth wäre, welches dir der gute Schakta da bezeigt hat. Ich sehe nur einen von phantastischen Ansichten beherrschten und mit sich und der Welt unzufriedenen jungen Menschen, der sich den gesellschaftlichen Pflichten entzogen hat, um seinen eigenen eiteln Träumereien nachzuhängen. Man ist darum noch nicht besser als Andere, weil man die Welt in einem pessimistischen Licht erblickt. Man haßt die Menschen und die Welt nur, weil man einen zu engen Gesichtskreis hat und sich allzu sehr blos mit sich selbst beschäftigt. Blicke nur ein wenig weiter, mein Sohn, und du wirst dich bald überzeugen, daß die meisten Uebel, worüber du klagst, nichts als wesenlose Traumbilder sind. Und wie abscheulich ist es dabei noch, daß du an das einzige wirkliche Unglück deines Lebens nicht einmal danken darfst, ohne darüber zu erröthen. Und wäre deine arme Schwester eine Heilige gewesen an Reinheit und Keuschheit, an Frömmigkeit und andern Tugenden, so ist doch schon der bloße Gedanke an deine Leiden kaum erträglich. Sie hat ihr Vergehen nun gebüßt; [140] was hingegen deine Person anbelangt, so fürchte ich, ehrlich gestanden, dieses Geständniß aus dem Grab heraus hat neuerdings unheilvoll gewirkt auf deine Ruhe. Was thust du in diesen Wäldern, wo du deine Pflichten vernachlässigst und deine jungen Tage todtschlägst? – Heilige, wirst du mir zwar einwenden, haben sich ja oft in die Wildniß zurückgezogen. – Sie gingen dahin mit ihren Thränen, und wandten die nämliche Zeit, welche du verdirbst, indem du deinen thörichten Leidenschaften nachhängst und sie nährst, dazu an, die ihrigen zu bezwingen. – Armer junger Mann! Es ist ein Irrthum von dir, zu glauben, Jeder sei sich selbst genug. Die Einsamkeit ist Demjenigen gefährlich, der nicht mit und in Gott lebt; sie erhöht unsere physische Kraft, indem sie ihr zugleich jede Möglichkeit raubt, davon den rechten Gebrauch zu machen. Wer von Natur Kräfte und Fähigkeiten empfangen hat, muß sie dem Dienste des Nächsten widmen; läßt er sie unbenützt, so wird er erst durch seine innere Unzufriedenheit bestraft, und früher oder später schickt ihm Gott noch andere schreckliche Züchtigungen. –

Von diesen Worten erschreckt, zog René seinen Kopf voll Scham und Demuth von Schaktas Brust hinweg. Der blinde Saschem lächelte, und dieses Lächeln des Mundes, zu dem sich kein Lächeln des Auges mehr hinzugesellte, gab seinem Gesichte etwas Geheimnißvolles und Himmlisches. Mein Sohn, sagte der ehemalige Geliebte Atalas, er spricht streng mit dir; er hält dem Greis, wie dem Jüngling eine Strafpredigt, und er hat Recht. Du mußt in der That diesem seltsamen Leben den Rücken kehren, das deinen tiefen Gram nur nährt; das Glück, mein Sohn, ist nur auf dem Weg zu finden, wo es andere Menschenkinderauch suchen.

Einst war der Meschacebe, noch nahe bei seiner Quelle, unmuthig darüber, daß er nur ein klarer Bach war. Er fleht nun die Gebirge um Schneemassen, die Waldströme um Gewässer, die Gewitter um Regen an. Er tritt aus seinem Bett und verwüstet seine lieblichen Gestade. Anfangs frohlockt der stolze Bach über seine Macht; da er jedoch zuletzt merkt, daß rechts und links der Strand hinter ihm öde liegen bleibt und zur Wüste wird; daß [141] seine Fluten, voll Schlamm und trübe, durch eine einsame Wildniß rauschen; da beklagt er mit Schmerz das niedrige Bett, das ihm die Natur gegraben, und vermißt die Vögel, die prächtigen Blumen, die Bäume und die lieblichen Waldbrünnlein, die bescheidenen Gefährten seines früher so friedlichen Laufes. –

Schakta schwieg und man vernahm die Stimme des Flamingos, der, im Schilf des Meschacebe verborgen, ein herannahendes Gewitter prophezeite. Die drei Freunde traten den Rückweg zu ihren Wohnungen an; René wandelte stumm zwischen dem Missionsgeistlichen, welcher betete, und Schakta, der den Weg suchte. Man sagt, René habe auf das Zureden der beiden Greise wieder einige Zeit mit seiner Frau gelebt, ohne jedoch sein Glück bei ihr zu finden. Bald darauf kam er mit Schakta und dem Pater Souël bei dem schrecklichen Blutbad, welches die Wilden in Louisiana unter den Franzosen anrichteten, kläglich ums Leben. – Noch jetzt zeigt man dem Reisenden einen Felsen, wo er bei Sonnenuntergang manchmal zu sitzen pflegte.

Fußnoten

1 Eine französische Kolonie bei den Natsches.

2 Die Statue König Karls II. in London, hinter Whitehall.

Anm. des Verf.

3 Ludwig XIV.

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TextGrid Repository (2012). Chateaubriand, François René de. Erzählungen. René. René. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4EE0-E