Hedwig Dohm
Der Missbrauch des Todes

Senile Impressionen

[3] Lieber, alter, treuester Freund! Ich bin in Seelennot! Hilf mir! Ich verstehe ja nichts von Politik. Ich brauche deine klare Objektivität. Deine unbeirrbare Logik. Voll düstern Erschauerns erlebe ich diesen Weltkrieg. Ich kann nachts nicht schlafen. Zwangsvorstellungen von Blutströmen, die ich durchwaten muß, lassen mich nicht los, von furchtbaren Schreien, die weißen Lippen entgellen, von Augen, die nicht aufhören zu weinen. Meine Speisen sind mir vergiftet; die Blumen im Zimmer ekeln mich; wie sie duften, duften! Fühllos, zudringlich in das große Sterben hinein. Hilf mir, oder ich gehe an Kriegspsychose zugrunde. Dir will ich all meine Gedanken sagen, dir allein; sagte ich sie auch anderen, man würde mich steinigen; denn ich kann die Kriegsjahrmode der prunkend-patriotischen Pathetik nicht mitmachen. Die widersprechendsten Gefühle verbrennen mir das Herz. Sieh, dieser Krieg hat für mich einen Januskopf. Das eine Antlitz gleicht dem der Medusa. In Entsetzen erstarrt, wer es schaut. Das andere Gesicht ist von hoheitsvoller Schönheit. Im Anfang des Krieges sah ich nur das Medusenhaupt, und ich dachte: Christus ist vergebens gestorben, sein Erlösungswerk hat er nicht vollbracht. Wie vor Jahrtausenden herrscht noch immer die Macht der Finsternis. Im Krieg sind die Gesetze der Menschheit aufgehoben, in den Urzustand ist sie zurückversetzt. In einem ungeheuren Irrtum waren wir befangen. Wir glaubten an die innere Kultur der europäischen Völker. Wir müssen umlernen. Es war nur Firnis, Tünche. Noch war die Tierheit, das Raubtier in ihnen. Nun ist es wieder ausgebrochen, und mit derselben zerreißenden Wildheit wie vor Jahrtausenden wütet es. Ich vergehe an diesem Erkennen. Wie soll ich den schaurigen Wahnsinn des Gedankens fassen, daß Millionen schuldloser Geschöpfe sich gegenseitig abwürgen, die einander nie etwas zuleide getan! – »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.« Das gewisseste dieser Dinge ist der Krieg – Kannibalismus. Sättigt der Kannibale sich buchstäblich vom Fleisch seines Mitmenschen, so mietet der Krieg unzählige Mäuler, die der Kanonen, die unersättlich nach Menschenfraß gieren. Brennendes Blut speien die vesuvischen Entladungen der Schlachten über die Erde. Die Sense des Todes hat der Teufel geschliffen, daß er ganze Generationen blühender Jugend fortmähte wie Gras. Der Höllenspaß der Zentralisationslager vollendet das Weltbild eines Tollhauses.

Es war Friedrich der Große, der seine Soldaten, bei denen er keine Kriegsbegeisterung spürte, anschnauzte: »Ihr Rackers, wollt ihr denn ewig leben!« Wie anders heut. Ein römischer Kaiser erstickte seine Gäste in Rosen. Unserm Kriegsvolk versüßt man den bittren Tod mit der Lockung der Seligkeit des Sterbens auf dem Feld der Ehre. Der Tod ist im Krieg der Herr der Welt. In purpurner Glorie erstrahlt er zu feierlicher Schönheit – der Heldentod fürs Vaterland. Und trägt auch nicht jeder Kriegsmann in seinem Tornister den Marschallstab, so doch eine Anweisung für Petrus, ihm die Himmelstore weit zu öffnen, und als verklärter Geist geht er in die Unsterblichkeit ein. Jeder Soldat ein Held, ein Liebling Gottes. Armer, verheiligter Zwangsheld, dein Heiligenschein phosphoresziert in Schwefelglut, deine Lorbeeren haben den Duft der Verwesung, man parfümiert sie mit Weihrauch, damit sie dir gottselig duften. In Erdlöchern auf naßem Stroh röchelst du dein Sterbelied.

Und ich dachte: Gott! Gott, wo bist du? Wer bist du? Der Allmächtige? Nein, der Ohnmächtige, denn du kannst der Hölle nicht gebieten. Man stülpt dir die Krone des mors imperator auf. Der Gott des Krieges gleicht der Hyäne, die sich von Leichen nährt; oder ist der uralte Gott Kronos wieder erstanden, der seine eigenen Kinder verschlingt! Seine Altäre sind auf Katakomben von Schädeln erbaut. Ein Gottesdienst, bei dem der Orgel anstatt der Choräle wilde Todesschreie entdonnern. Der Krieg ist die verruchteste aller Gotteslästerungen.

Und ich dachte: Alle christlichen Gebote verkehrt er in ihr Gegenteil. »Du sollst nicht töten.« Doch – doch, du sollst töten, je mehr, je besser. Es ist heilige Pflicht des Deutschen, so viel Franzosen, Engländer, Russen, als ihm möglich ist, niederzumetzeln, ebenso wie es heilige Pflicht dieser Völker ist, den Deutschen dasselbe zu tun. Hallali! Die Jagd auf Tiere ist nur wildfröhliche Lust, die Jagd auf Menschen im Kriege ist neben der wilden Lust – unsterbliche Ehre. Hallali! Hurra! Hurra! So will es der Krieg.

»Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen!« Jede der kriegführenden Nationen reklamiert den Herrn der himmlischen Heerscharen für ihre irdischen Heerscharen und verpflichtet ihn, gerade ihre Kanonen, Bajonette, Bomben zum Zweck der Massentötung zu segnen, und etliche Völkerschaften greifen dabei ihrem Gott mit besonders tückischen Hilfsmitteln unter die Arme. So will es der Krieg! Wie aber, wenn nun der mißbrauchte Gott diesem oder jenem Lande anstatt der Siege Niederlagen bereitet? Werden sie einen neuen Gott kreieren, der besser Bescheid weiß? Nimmermehr glaube ich an einen Gott der Kanonen und Bajonette! Wo die Erde blutet, weint der Himmel.

»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.« Doch – doch, du sollst nicht nur sein Haus, auch sein Land, sein Leben sollst du begehren. So will es der Krieg.

»Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.« Und sie reden falsches Zeugnis – immerzu – immerzu. So will es der Krieg. Jesuitismus im Krieg, der die niederträchtigsten Mittel nicht scheut, die seinen »heiligen« Zwecken dienen. Die Staats- und Presseleiter aber, die sich ihre Lügen – sie halten sie für erlesene Kriegskunst – aus den schmutzigen Pfoten saugen, schleudern ihre Stinkbomben mit beispielloser Virtuosität, und – mit Erfolg. Was für eine höllische Verruchtheit, Todgeweihte – das ist jeder Soldat im Krieg – schändlich zu bedrecken.

Und wer könnte sich des grenzenlosen Erstaunens erwehren, daß die blödsinnigsten Schauermähren, daß dieses Riesen-Völkergeklatsch, das machiavellistische Schlauköpfe den Völkern suggerieren, begierig von ihnen eingeschlürft werden! – Die Gläubigen so kindisch plumper Lügen müssen dumm sein, um die Wände einzurennen, oder sie glauben so leicht, weil sie so gern glauben, weil sie glauben wollen.

Vor den Posaunen des jüngsten Gerichts mögen die Urheber solchen nie erlebten Krieges erzittern. Millionen in Qualen Verendete werden als Blutzeugen gegen sie aufstehen. Jawohl, Jawohl, der Krieg ist die verruchteste aller Gotteslästerungen!

Ob ich diesen Brief zerreiße, ehe deine hellen Augen sich darüber verfinstern? – Schrieb ich's nicht schon, daß ich politisch ganz und gar ungebildet bin? Aber sie behaupten doch immer, Frauen brauchten nichts zu wissen, nichts zu lernen, sie wüßten alles aus sich selbst, intuitiv, mit dem Gefühl. Da siehst du, was aus dem Nurgefühl herauskommt: Fieber der Kriegspsychose, das in dem Krieg nur ein Gemetzel sieht, nicht den Geist, der über den Blutströmen schwebt. – Schwebt er? Ist das deine Meinung? Ach nein – nein – siehst du sie nicht – die vielen, vielen selig grinsenden Kadaver? Weh, ach weh! Aus Massengräbern steigen sie. Schatten nur, und doch rinnen aus furchtbaren Wunden ihnen Bäche von Blut. Gierig, gierig trinkt sie die Erde, und Dämpfe wallen auf wie blutendes Feuer, ihre Funken zersprühen mir das Herz. Weinen muß ich, alle Tage, alle Tage, und alle Nächte muß ich weinen – immerfort!

Ein Wort des sterbenden Chamford liegt mir im Sinn: »Je m'en vais enfin de ce monde, ou il faut, que le coeur se brise ou se bronce.« Ich will nicht, daß mein Herz bricht. Darum fort – fort mit dem grauenvollen Medusengesicht. Und meine Blicke glitten hinüber zu des Janus´ zweitem Gesicht!

Und ich höre und lese hymnische Worte über die »Seligkeit des Sterbens in der Schlacht«. »Der Krieg ist Religion, der Krieg ist Leben, nicht Tod.« Und ich lese, »daß die Erde in dem langen Frieden arm, eng, reizlos geworden ist, und daß Neid und Schmerz in den Seelen derer wühlen, die Tag für Tag grollend, hadernd – den altgewohnten Weg zur Arbeit schleichen müssen, während andere jauchzend, todesbereit in den Krieg ziehen.« Der Krieg die Verheißung eines neuen Werdens und Wachsens der Menschheit. »Krieg« – so kündet ein Enthusiast – »muß sein, um den Begriff der Menschheit zu realisieren.«

Ist das so? Sind die Massengräber Siegessäulen? Ist der Krieg »das Chaos, das den Stern gebären« wird? So ist's? Nicht wahr? Nicht wahr? So dachte ich, so empfand ich. Und doch – doch – will schon wieder eine skeptische Regung mich beschleichen? Sage – wird diese mit Blut so schön frisch und rot geschminkte Erde sich nicht wieder abschminken, und alles wird wieder so sein, wie es vor dem Kriege war? Antworte! Können so blutiger Saat Edelfrüchte entwachsen? Das will ich von dir wissen. Höre mich! Höre mich! Ich bin in Seelennot! Hilf deiner treuen, dir zärtlichen Freundin und Schülerin.


Meine liebe temperamentvolle Freundin, nein, du wirst nicht an Kriegspsychose zugrunde gehen. Deine Psyche hat Flügel, du mußt nur hoch genug fliegen!

Nur einige deiner Fragen beantworte ich heut. Ich teile deinen Friedensenthusiasmus.

Du fragst, ob dieser hochherzige Aufschwung eines ganzen Volkes fortwirken werde auch nach dem Krieg, oder ob alles wieder sein wird, wie es vorher war. – Frage mich nicht, frage die Geschichte! Lies die Zeitgeschichte nach der Erhebung des Befreiungskrieges von 1813, lies die nach den Siegen von 1870, lies sie, und – fürchte die Antwort. Das Wort des britischen Denkers: »Die allgemeine Folge eines Krieges ist, den Besiegten moralisch zu heben, und den Sieger zu demoralisieren,« dürften freilich nur bitterste Skeptiker unterschreiben.

Allein, ebenso wenig wie der Ausgang eines Duells zwischen zwei Individuen ein Gottesurteil darstellt, entscheidet bei Völkerduellen Sieg oder Niederlage über Wert oder Unwert, Recht oder Unrecht der Parteien. Mit erzgegossenen Kugeln erschießt sich keine Nation Recht, Freiheit und Fortschritt. Ob der oft zitierte Ausspruch Friedrichs des Großen: »Gott ist immer mit den größten Bataillonen« ins Schwarze trifft?

Du hast aber Unrecht, wenn du die Urheber dieses Krieges vor den Posaunen des jüngsten Gerichts erzittern läßt. Dieser letzte Krieg ist ja nur ein Beweis, daß die Zivilisation die Höhe noch nicht erreicht hat, von der die Vorstellung eines Krieges zur tollen Farce, zu einer Donquichotterie wird. – Solange Kriege möglich sind, werden Kriege sein. Sie beweisen eben, daß der Tiefstand der Völker höhere Einsichten als Ordner der Macht- und Rechtsverhältnisse der Staaten untereinander nicht zuläßt, daß demnach der rohen Gewalt diese Aufgabe zufällt.

Waren die Völker die Vollstrecker der Befehle der Regierungen, der Machthaber, so waren die Machthaber die Vollstrecker von Evolutions-Weltgesetzen, die unbezwinglich sind wie Erdbeben und Sturmfluten. Darum ist es durchaus begreiflich, daß so viele Geistesgrößen der Vergangenheit den Krieg glorifizierten.

Was aber gehen uns Ansichten an, die einmal waren! Wandlung ist das unwandelbarste aller kosmischen Gesetze. Selbst die Götter wandeln sich, wachsen mit den menschlichen Generationen. Auch Moloch war einst ein Gott; der zornbereite hebräische Herr Zebaoth hat dem Christengott, der die Liebe ist, weichen müssen. Vom Affen zum Menschen ist doch vielleicht mehr als ein groteskes Aperçu.

Wären aber die Kriege für Zeit und Ewigkeit eine geschichtliche Notwendigkeit, der Weltfrieden eine unrealisierbare Utopie, so wäre es besser, man erfände Waffen und Maschinen (hörst du Krupp?) oder Chemikalien, die mit einem Schlage alle Millionenheere vernichteten. – Oder – jedes Weib weigere sich, für die Schlachtbänke des Krieges Kinder zu gebären. Wozu erst Geschöpfen das Leben geben, die, kaum erblüht, der Krieg ihnen wieder nimmt. –

In Palästina ließ pharaonische Tyrannei alle männlichen Erstgeburten würgen. Der Krieg fordertalle Söhne einer Mutter. Nach den Frauenherzen, die der Krieg bricht, kräht kein Hahn.

Wieder und wieder wird mit Wucht, mit Energie betont, daß unsere Nation vor dem Ausbruch des Krieges im satten Behagen eines verfettenden Genußlebens faul geworden war, moralische und geistige Krankheitsstoffe angehäuft, die auszuscheiden ein gottgesandter Arzt, der Krieg, berufen sei.

Eine Ansicht, die an die Heilmethode früherer Ärzte erinnert, die jeden Patienten, an welcher Krankheit er leiden mochte, durch Aderlässe kurieren wollten, in der Meinung, nur das kranke Blut würde abfließen.

Bei Gott, der gottgesandte Arzt ist ein Kurpfuscher, ein Charlatan; mit seiner Behandlung würde er allmählich die Welt zu einem Hospital für Inkurable machen.

Zum Glück für das deutsche Volk ist diese Friedensversumpfung eine frei erfundene Schwarzseherphantasie, wobei ich absehe von einigen Gruppen blasierter genießerischer, im Kern wurmstichiger Lebemänner, die der Teufel holen soll. Und auch von jenen Herren sehe ich ab, die so beweglich über die Leere und Langweiligkeit der Friedenszeit lamentierten; ihnen gönnt man gern eine der interessanten, kurzweiligen, zielsicheren Kugeln, um sie für immer vor Rückfällen in ein so langweiliges Dasein zu bewahren.

Ich, der ich ein Lehrer bin, darf mir über das Grundwesen unserer jungen Generationen eine reiche Erfahrung zusprechen. Und ich sah und sehe eine Generation um mich her erblühen, die, altruistisch gesinnt, voll Verständnis und Empfinden für das soziale Wollen unserer Zeit, die Wege beschreitet, die eine Steigerung des menschlichen Typus vorbereiten.

Heut freilich ist die »unvergleichlich läuternde Kraft des Krieges« noch in aller Munde, nicht etwa nur im Munde einer Schar von Belanglosen oder Meinungsmitläufern, auch die Mehrheit unserer geistigen Elite denunziert Zuchtlosigkeit als ein Resultat der Friedenszeit. »Wir haben den Krieg« – ruft einer der Berühmtesten – »und der Schlamm ist verschwunden.« Jawohl, fort ist er! Vor dem Sturm dieses grausen Krieges haben die Zuchtlosen sich verkrochen. Daß man auf Gräbern nicht Cancan tanzt, wissen auch sie. Verkrochen, sagte ich – auf Nimmerwiedersehen?


Dennoch – fort! Fort mit dieser Geißel, die den Leib der Menschheit so brutal zerfleischt. Nicht wahr, auch die lohende Pracht von Feuersbrünsten, die donnerrollenden Sturmfluten, die Blitze, die wie ein Menetekel Gottes den Himmelsdom überflammen, auch sie sind eine ästhetische Entzückung. Dennoch – wir löschen die Feuersbrunst, wir errichten Dämme gegen die Sturmflut, Blitzableiter gegen die Gefahr der Blitze. Ich bewundere die wilde Schönheit reißender Raubtiere – dennoch – wir rotten sie aus. So will es die Zivilisation, die Humanität, unsere seelische und leibliche Selbsterhaltung.


Und wir lesen und hören: Unter allen Kulturländern schlägt Deutschland den Rekord. »An deutschem Wesen soll die Welt genesen.« Dieselben heißen Patrioten aber bezichtigen dieses »tiefste und innerlichste« Volk, daß es im Handumdrehen, in wenigen Jahrzehnten eine Fäulnis entwickelte, die nach dem desinfizierenden Krieg schrie. – Ein Widerspruch, nicht? Widersprüche ergeben sich stets, wo die Behauptungen Falschsprüche sind!

Nichts aber ist törichter als die Furcht, daß in einem langen Frieden alle kriegerischen Tugenden: Mut, Tapferkeit, Heroismus, Selbstverleugnung aussterben würden. Als ob nicht der »Kampf ums Dasein« die Inschrift über allen Lebenstoren wäre. »Krieg im Frieden« ist mehr als ein Komödientitel. Nahezu jeder Fortschritt hat einen Kampf zur Voraussetzung. Mit dem »otes-toi, que je m'y mette« haben von jeher die neuen Ideen die alten, die Kommenden die Gehenden entthront.

Ja, selbst der Kampf um des Kampfes willen, ohne ersichtlichen Zweck, findet in Friedenszeiten passionierte Anhänger. Siehe den Alpinisten. Mit heldischer Kühnheit geht der Hochgebirgstourist auf die Eroberung der Forts los, die die Natur mit ihren Gletscherspalten, ihren Schneeverwehungen, Abgründen und unwegsamen Steilheiten errichtet hat; und auf den Gipfel gelangt, fühlt er sich gleich dem Kriegshelden, der eine schwerarmierte Festung erstürmte. Und anstatt des Eisernen Kreuzes dekoriert er sich mit dem Edelweiß, das er mit Lebensgefahr auf steilstem Abhang für die Liebste daheim gepflückt.

Die Flieger aber, die der Möglichkeit, ja der Wahrscheinlichkeit tödlichen Absturzes trotzbietend, die Lüfte erobern (ursprünglich eine Errungenschaft für die Zivilisation von unberechenbarer Tragweite) – keine Helden? Und denke an die Ärzte, die in verseuchten Ländern, unter Pestkranken ihres Amtes walten, und an jene anderen Ärzte, die Bazillen einschluckten – unsere furchtbarsten Feinde, die die Menschheit mehr dezimierten als alle Kriege zusammengenommen –, um ihre Wirkung am eigenen Leibe zu erproben – kein Heroismus, keine Idealität? Und die vielen, die das Schwert im Munde führen, um Kulturgüter zu erobern, oder Kulturfeinde zu vernichten, ein Kampf, der unvergleichliche Tapferkeit heischt. »Wo ein Mensch seine Gedanken ausspricht, ist Golgatha.«

Blick in die Vergangenheit und du siehst eine Heldenschar – einen Giordano Bruno, Savonarola, Johann Huß, die um ihrer seherischen Erkenntnisse willen ans Kreuz genagelt, auf dem Scheiterhaufen verbrannt, oder in Wahnsinn und Selbstmord getrieben wurden. Es gab auch etliche, die man zu Tode lachte, weil, was ihr Sehermund kündete, den Zeitgenossen ein lustiger Schnack irrsinniger Tröpfe war. Den Tröpfen aber setzten spätere Generationen Denkmale. Ihre Schellenkappe verwandelte sich zum Heiligenschein! Und siehe den mit dem Haupt voll Blut und Wunden, den Dornengekrönten, siehe Jesus Christus.

Die Soldaten fallen auf dem Felde der Ehre, sie fallen – in Gräber! Das Feld der Ehre jener Prometheischen ist hoch oben, von wo sie den Menschen himmlisches Feuer holen, um gleich dem legendenhaften Prometheus ein Martyrium zu erleiden.

Wahrlich höher zu bewerten ist die Eroberung einer neuen geistigen Provinz, an der die Kultur der Welt reift, als die lokale Vergrößerung eines Landes, deren Nutzen für eine Höherentwicklung der Bevölkerung mehr als zweifelhaft ist. Den Rittern von Geist gegenüber sind die Helden der Schlachtfelder nur Knappen im Troß. Erfolglos bliebe aller Heldenmut eines Millionenheeres, wenn die Intelligenz der Techniker und Ingenieure ihnen nicht die Waffen geschmiedet, der Geist des Strategen nicht die genialen Schlachtpläne gezeichnet hätte.

Die Wissenschaft mit ihren immer tiefer schürfenden Erkenntnissen, ihren Vernunfterleuchtungen, sie wird wie das Schwert Notung sein, das immer siegt. Vor dem Feuer des Geistes in dem es geschweißt ist, schweigt das Feuer der Kanonen. Vorwärts, ihr Denker, ihr Männer der Wissenschaft! In der edelstarken Kraft und Tiefe eures Denkens ruht der Weltfrieden der Zukunft, nicht in der Macht der Könige und der Diplomatie. Man hat Trostsprüche für die Opfer, die der Krieg einfordert. Ist in diesem titanischen Schlachtparoxismus die Sterblichkeit ins Unermeßliche gestiegen, so hebt sie sich doch – so will's die Kriegsjahrgläubigkeit – vom Goldgrund der Unsterblichkeit ab, einer Unsterblichkeit, die, beinahe in Vergessenheit geraten, heut – es klingt wie ein Widerspruch – ihre Wiedergeburt erlebt oder – erstirbt.

Nicht minder ideal klingt die Tröstung, daß es niemals auf den einzelnen, immer nur auf die Gesamtheit ankomme. Den einzelnen mag die Kugel hinraffen, wenn die Allgemeinheit nur heil und aufrecht bleibt. Ist das so gemeint: Der einzelne mehr Menschheit als Mensch. Kein Ich, nur ein Wir. Das Individuum hat nur Sinn und Wert als Leibeigener des großen Staatsorganismus, gleicht dem Tropfen, der nur im Meer lebt, herausgeschleudert, zerrinnt.

Mir will scheinen, daß diese Gesamtheit nahezu ein abstrakter Begriff ist, ein ferner, blasser Stern, der über uns flimmert, eine Paradephrase, die am häufigsten diejenigen im Munde führen, die am wenigsten in diesem Artikel arbeiten.

Aus unzähligen einzelnen besteht die Gesamtheit. Jeder von uns – du etwa nicht, meine junge Freundin? – lebt sein eigenstes, persönlichstes Leben, nicht das der Gesamtheit. Der Wissenschaftler, der Techniker, der Künstler, sie suchen und finden in der Konzentration ihres Willens und Wollens, in der Hingabe ihres ganzen Seins an ihr Werk ihre vollendete, persönlichste Befriedigung (mag für den einen oder anderen die Aussicht auf Gold und Ruhm ein Sporn gewesen sein). Sie stehen in ihrem eignen Dienst, sind sich selbst König. Die Flamme in ihrem Tiefinnersten leuchtet, erleuchtet sie, nicht der ferne, blasse Stern der Allgemeinheit. Selbst die Köchin, die eine Methode gefunden hat, um einem Nahrungsmittel einen größeren Nährwert auszupressen, bezog ihre Inspiration nicht aus ihrem Gemeinsinn, sondern aus der Freude an der Vervollkommnung ihres Werks. Daß schließlich jede Leistung ganz von selbst den Schatz der Kultur mit größerer oder kleinerer Münze mehrt, ist selbstverständlich. Das idyllische Blumenbild Rückerts: »Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten« ist hier zutreffend.

Möglich, daß der Allgemeinheit an den Millionen zertretener Menschenblüten nichts liegt, daß Kriegssüchtige diese Auffassung teilen (besonders wenn sie gesund und schmerzlos daheim bleiben). Ich bin aber wohl etwas feminin geartet, denn, wie dir, meine liebe junge Freundin, steht auch mir das Herz in Entsetzen still bei der Vorstellung von den Totenpyramiden, über die in dyonisischer Raserei, wie zu einer Menschheitsfeier ein begeistertes Volk schreitet, das um Skelette Purpurgewänder hängt.

Vielleicht, die »Begeisterung« für diesen Krieg war »tief und echt'. Was beweist es? Tief und echt war auch die fromme Inbrunst, die Heiligkeit der Überzeugung, mit der man einst zur Ehre Gottes und zur Rettung ihrer Seelen Ketzer und Hexen verbrannte. Man kann sich ebenso für Irrtümer und Aberglauben (Dummheiten nicht ausgeschlossen) begeistern, wie für Wahrheiten, die den Stempel: ewig! tragen.

Ich bin abgeschweift von dem, was ich sagen wollte. Gerade der einzelne, meine ich, ist das Saatkorn, dem die Ernte entwächst, die die Gesamtheit nährt.

Der Krieg tötet doch nicht nur Leiber, in vielen dieser Leiber schlägt das Herz der Menschheit, lebt der Genius der Zukunft. Das Eiserne Kreuz auf der Brust solcher Toten ist kein Ersatz für den Stern auf ihrer Stirn, den die Kugel zerschmetterte! Noch immer spricht die Stimme Gottes aus dem feurigen Busch, aber nur zu einzelnen, zu Auserwählten. Das sind die Mosesse, die ein irrendes Volk die Pfade hinaufführen zu einem gelobten Land. Sie sind es, »die am Webstuhl der Zeit sitzen, der Gottheit das lebendige Kleid wirken«.

Du fragst, ob es nicht andere Mittel gibt, der Dekadenz der Menschheit vorzubeugen, als die blutige Saat des Krieges? Ich glaube an solche Mittel. Wollte ich dir sagen, das Gesamtniveau der Menschheit muß gehoben werden, so wirst du die Achseln zucken: eine Phrase, wenn du nicht sagst, wie diese Hebung ins Werk zu setzen ist. Ich könnte dir antworten, daß die Zeit, die allmächtige, die zur Rechten Gottes sitzt, durch das immer raschere Tempo einer fortschreitenden Kultur diese Steigerung von selbst bewirken wird; doch will ich auf einige Ideen hindeuten, die mir zur Verwirklichung einer höheren Daseinsform des Menschentums vorschweben; schweben – ja, in der Luft, den Boden der Wirklichkeit haben sie noch nicht berührt.

Ich will eine neue, auf christlichem Gefühlsgrund ruhende Religion. Ich will, daß wir Christen werden. Richtig getaufte, dogmenuntertänige wären wir ja, Gesinnungschristen – nicht. Wir haben nur die Schale des Christentums, nicht den Kern – die Menschenliebe. Der Christ im Sinn und Geist des Heilands soll noch geboren werden.

Es gibt keine Vaterlandsliebe, die den Feindeshaß heiligt. Übrigens nicht immer bereitet man der Vaterlandsliebe Ovationen. In einem eroberten Land, das der Sieger annektiert hat, wird die Vaterlandsliebe, die sich betätigen will, zum Verbrechen, zum Hochverrat, das der Galgen sühnt.

Du hast ein deutsches Herz? Gut. Schlägt es nur für deutsche Volksgenossen – nicht gut. Starb der große internationale Erlöser, starb Jesus Christus nur für das jüdische Volk? Nur Mensch sein, ein guter, edler Mensch sein, ist nicht genug. Nationalist mußt du sein. Der Krieg ist ein Sarg der Menschenliebe, ist Gottesschreck, ist Gottessturz. Und ist es wahr, daß die Lust an der Menschenjagd als ein Wesenszug der menschlichen Natur eingeätzt ist, so ist diese Natur einer Reparatur bedürftig. Ändern wir sie!

Ich glaube an den Fortschritt der Menschheit. Alles, alles schreitet sich wandelnd aufwärts, nur die Menschenseele sollte immer dieselbe bleiben? Die phänomenalen Errungenschaften der Technik, die Erkenntniswunder der Geisteswissenschaften sollten spurlos an der Menschenseele vorübergehen! Wer glaubt's!

Und weiter: Ich will eine Anders- und Umgestaltung der Volkserziehung. Jedem einzelnen Individuum, welcher Volksschicht es angehöre, muß die Möglichkeit der vollkommnen Entwicklung all der inneren Kräfte, die die Natur ihm verliehen, geboten werden; ja, diese Entwicklung muß ihm unter Umständen an gezwungen werden.

Der Gärtner, der die Blüten eines Obstbaumes durch Mangel an Pflege, an Luft und Sonne verkümmern läßt, beraubt sich der labenden, nährenden Früchte des Baumes. Der Staat, der breiten Volksmassen die Sonne der Entwicklung entzieht, wird zum Dieb an sich selbst. »Du sollst mit deinem Pfund wuchern.« Das gilt, wie für den einzelnen, auch für den Staat.

Oder, hältst du etwa den Pöbel, den von je her zu den brutalsten Ausschreitungen bereiten, für eine unauslöschbare Ziffer im Weltganzen? Glaubst du, daß Gott bei der Schöpfung diesen Bodensatz gleich miterschaffen hat? Die menschliche Gesellschaft hat ihn geschaffen, ihn zu entbarbarisieren ist sie verpflichtet.

In unentwickelten Gehirnzellen pflegen sittliche Ideale sich nicht aufzuhalten.

Ferner: Daß ich die Beseitigung der Prostitution, dieser abstoßenden Karikatur der Erotik, will, ist ebenso selbstverständlich als mein Wille zur restlosen Aufhebung der Schranken, die den vollen politischen Rechten des weiblichen Geschlechts entgegenstehen.

Ideologischer Futurismus? Unmöglichkeiten? Unmöglichkeiten sind Ausflüchte anemisch steriler Gehirne. Schaffen wir Möglichkeiten! Alle geistig-seelischen Schätze, die ungehoben in Menschenbrust ruhen, sie seien wachgerufen! Ein großes Wecken, eine Revolutionierung der Geister! Ein Brechen und Zerbrechen schadhafter Gewohnheitssitten – nein Unsitten, die wie ewige Unsterne über uns hängen.

Und das sei unsere Proklamation an die Kommenden: Tod dem Mißbrauch des Todes im Krieg! Das Leben den Lebenden im Frieden bis zu seiner natürlichen Vollendung.

Das reine Gold der Kultur wird erst klar werden, wenn seine dunkelste Schlacke – der Krieg, beseitigt ist.

Wenn ich nicht irre, war es Kleist, der einmal sagte, »daß der Deutsche die vollkommene Ausbildung eines Kulturtypus sei, der Besitzer des echten Ringes der Lessingschen Parabel.«

Kann sein, kann aber auch nicht sein, denn auch alle andern Völker halten sich für die Besitzer des echten Ringes. So will es die »Vaterlandsliebe«. Einmal sicher werden sie alle den echten Ring besitzen, aber erst dann, wenn der Nationalismus zum Anationalismus geworden, Menschen- und Vaterlandsliebeeins sein werden.

Du liebst die Bilder, darum sage ich: Das hohe Lied des Friedens harfen die Engel aus seligen Höhen, den wilden Kriegsgesang spielen die Kanonen zu Totentänzen auf, und man erwartet von den Tänzern noch Freudensprünge. »Krieg muß sein, um den Begriff der Menschheit zu realisieren?« Mit nichten. Der Krieg realisiert dieTierheit im Menschentum, ihre Gottnatur wird sich erst realisieren, wenn der Krieg – das Kainszeichen der Menschheit – gelöscht ist, der Bruder nicht mehr den Bruder totschlägt, wenn aus aller Seelen der hymnische Jubel sich löst: »Alle Menschen werden Brüder.«

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TextGrid Repository (2012). Dohm, Hedwig. Essays. Der Mißbrauch des Todes. Der Mißbrauch des Todes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8019-6