Fëdor Michajlovič Dostoevskij
Der Teufel
Iwan Fjodorowitschs Alptraum

Aus: Die Brüder Karamasow

[470] Ich bin kein Arzt, und doch fühle ich, daß der Augenblick gekommen ist, wo ich dem Leser etwas über die Natur von Iwan Fjodorowitschs Krankheit mitteilen muß. Ich will vorgreifend nur das eine sagen: Er befand sich heute, gerade an diesem Abend, im Vorstadium eines Nervenfiebers, das seinen schon lange zerrütteten, aber der Krankheit hartnäckig Widerstand leistenden Organismus zuletzt doch überwältigte. Obwohl ich von Medizin nicht das geringste verstehe, wage ich die Vermutung auszusprechen, daß er es vielleicht tatsächlich durch eine gewaltige Willensanstrengung fertiggebracht hatte, die Krankheit vorübergehend zu bannen, natürlich in der Hoffnung, ihrer vollends Herr zu werden. Er wußte, daß er krank war, hatte sich aber heftig dagegen gesträubt, es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt zu sein, in den bevorstehenden, schicksalshaften Momenten seines Lebens, wo er persönlich erscheinen, kühn und entschieden Rede und Antwort stehen und »sich vor sich selbst rechtfertigen« mußte. Übrigens hatte er auch einmal den gerade erst aus Moskau eingetroffenen berühmten Arzt konsultiert, den Katerina Iwanowna infolge einer ihrer bereits erwähnten phantastischen Einfälle hergerufen hatte. Der Arzt war, nachdem er ihn angehört und untersucht hatte, zu dem Schluß gelangt, daß es sich hier um eine Art Störung der Gehirnfunktionen handle, und hatte sich nicht im mindesten über das Eingeständnis gewundert, das [470] jener ihm, wenn auch widerstrebend, gemacht hatte. »Halluzinationen sind in Ihrem Zustand durchaus möglich«, hatte der Arzt gesagt, »man müßte sie allerdings erst genau konstatieren, außerdem ist es gänzlich unerläßlich, daß Sie sich, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, einer ernsthaften Kur unterziehen, sonst kann sich die Sache nur verschlimmern.« Aber Iwan Fjodorowitsch hatte den verständigen Rat nicht befolgt und sich nicht ins Bett gelegt, um sich auszukurieren. »Noch kann ich herumlaufen, noch bin ich bei Kräften. Breche ich zusammen, ist's etwas anderes, dann mag mich kurieren, wer will«, hatte er gesagt und sich über alle Bedenken hinweggesetzt. Und so saß er denn da, selbst so gut wie sicher, daß er Fieber habe, und starrte, wie schon gesagt, unablässig zu einem Gegenstand auf dem Diwan an der gegenüberliegenden Wand. Und plötzlich wurde er gewahr, daß dort jemand saß, der Gott weiß wie ins Zimmer gelangt sein mochte, denn er war noch nicht dort gewesen, als Iwan Fjodorowitsch von Smerdjakow zurückgekommen war. Es war ein Herr oder, besser gesagt, ein russischer Gentleman von einer bestimmten Sorte, nicht mehr ganz jung, »qui frisait la cinquantaine« 1 wie die Franzosen sagen, mit leicht graumeliertem, dunklem, ziemlich langem und noch dichtem Haar und einem Spitzbärtchen. Er trug ein braunes Jackett, das augenscheinlich von einem erstklassigen Schneider gearbeitet, aber schon ziemlich abgetragen war; es mochte vor ungefähr drei Jahren angefertigt worden sein, war aber inzwischen vollständig aus der Mode gekommen, und von den wohlhabenden Herren der besseren Gesellschaft hätte schon seit zwei Jahren keiner mehr eine solche Fasson getragen. Die Wäsche und die lange schalartige Halsbinde, das alles war wie bei allen Gentlemen mit Schick, aber wenn man genauer hinsah, bemerkte man, daß das Hemd schmuddelig und die breite Halsbinde abgescheuert war. Die karierten Beinkleider des Gastes saßen vorzüglich, waren aber wiederum zu hell und zu eng, wie man sie nicht mehr trägt, und ebenso entsprach auch der weiche weiße Kastorhut, den der Besucher mit sich führte, nicht der Jahreszeit. Kurz, der Herr machte den Eindruck von Anständigkeit bei äußerst schwachen Geldmitteln. Der [471] Gentleman schien der Gattung jener Gutsbesitzer anzugehören, wie sie zur Zeit der Leibeigenschaft müßig in den Tag hinein lebten. So einer hat die vornehme Welt und die gute Gesellschaft kennengelernt, hat dort seinerzeit manche Beziehungen gehabt und sie vielleicht sogar bis heute aufrechterhalten können, ist aber infolge eines fidelen Lebens in der Jugend und der Aufhebung der Leibeigenschaft allmählich verarmt und hat sich in eine Art von besserem Schmarotzer verwandelt, der überall bei seinen guten alten Bekannten umhervagabundiert, die ihn wegen seines verträglichen, angenehmen Charakters gern bei sich aufnehmen sowie auch in Anbetracht dessen, daß er doch immerhin ein Mann von Stande ist, dem man auch in Anwesenheit vornehmer Gäste jederzeit einen, wenn auch bescheidenen, Platz an der Tafel anweisen kann. Solche Schmarotzer, Gentlemen von angenehmem Charakter, sind meist witzige Plauderer und stehen beim Kartenspiel sehr wohl ihren Mann, nur mögen sie es absolut nicht, wenn man sie mit irgendwelchen Aufträgen belästigt; in der Regel sind sie alleinstehend, entweder Hagestolze oder Witwer, vielleicht haben sie auch Kinder, die aber stets irgendwo weit entfernt aufwachsen, bei irgendwelchen Tanten, die der Gentleman in anständiger Gesellschaft nur ungern erwähnt, als ob ihn diese Verwandtschaft geniere. Seine Kinder vergißt er allmählich immer mehr, nur hin und wieder erhält er von ihnen zum Namenstag oder zu Weihnachten Gratulationsbriefe, die er manchmal sogar beantwortet. Der Gesichtsausdruck des unerwarteten Gastes war nicht eigentlich gutmütig, aber verträglich und bekundete die Bereitschaft zu jedem den Umständen gemäßen liebenswürdigen Benehmen. Eine Uhr trug er nicht, wohl aber eine Schildpattlorgnette an schwarzem Bande. Am Mittelfinger der rechten Hand prangte ein schwerer goldener Ring mit einem billigen Opal. Iwan Fjodorowitsch schwieg ärgerlich und wollte nicht als erster zu sprechen anfangen. Der Gast wartete und saß ganz so da wie ein Schmarotzer, der soeben aus dem ihm angewiesenen Zimmer im oberen Stockwerk zum Tee heruntergekommen ist, um dem Hausherrn Gesellschaft zu leisten, der aber demütig schweigt, weil er sieht, daß jener mit seinen Gedanken beschäftigt ist und mit gerunzelter [472] Stirn über etwas nachgrübelt; indes ist er zu jedwedem liebenswürdigen Gespräch bereit, sobald nur den Hausherrn die Lust ankommt, eine Unterhaltung zu beginnen. Plötzlich nahm das Gesicht des Gastes einen besorgten Ausdruck an.

»Höre mal«, wandte er sich an Iwan Fjodorowitsch, »entschuldige, ich möchte dich nur an etwas erinnern, du bist doch mit der Absicht zu Smerdjakow gegangen, etwas über Katerina Iwanowna in Erfahrung zu bringen, hast ihn aber verlassen, ohne etwas über sie gehört zu haben, gewiß hast du es vergessen ...«

»Ach ja!« entfuhr es Iwan, und sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr. »Ja, ich habe es vergessen ... Übrigens ist es jetzt doch einerlei, ich hab alles auf morgen verschoben«, murmelte er vor sich hin. »Du aber brauchtest es mir nicht zu sagen«, fuhr er den Gast gereizt an, »es wäre mir gewiß auch selbst gleich eingefallen, weil gerade dieser Umstand mich so verdrießlich machte! Warum drängst du dich so auf, ich soll dir wohl glauben, du hättest mich darauf gebracht und es wäre mir nicht auch von selbst eingefallen?«

»So glaube es doch nicht!« erwiderte der Gentleman und lächelte zuvorkommend. »Was wäre das für ein Glaube, der einem aufgezwungen wird? Überdies wird der Glaube durch keinerlei Beweise gefördert, am allerwenigsten durch materielle. Thomas glaubte nicht, weil er den auferstandenen Christus gesehen hatte, sondern weil er schon vorher den Wunsch gehabt hatte zu glauben. Da gibt es beispielsweise die Spiritisten ... ich mag sie sehr gern ... stell dir vor: Sie meinen doch tatsächlich, sie dienten dem Glauben, weil ihnen die Teufel aus jener Welt die Hörner zeigen. ›Das ist‹, sagen sie, ›sozusagen ein materieller Beweis für das Vorhandensein des Jenseits.‹ Das Jenseits und materielle Beweise, o weh! Und schließlich, ist selbst die Existenz des Teufels bewiesen, so ist doch noch lange nicht gewiß, ob auch die Existenz Gottes bewiesen ist. Ich will einer idealistischen Gesellschaft beitreten und dort Opposition machen. ›Ich bin Realist‹, werde ich sagen, ›aber kein Materialist, hehe!‹«

»Höre«, Iwan Fjodorowitsch stand plötzlich vom Tisch auf, »ich bin jetzt wie im Fieber ... und ich hab tatsächlich [473] Fieber ... schwatze, was du willst, mir soll's recht sein! Du wirst mich nicht so in Harnisch bringen wie voriges Mal. Ich schäme mich nur über etwas. Ich will im Zimmer auf und ab gehen ... Zuweilen sehe ich dich gar nicht und höre nicht einmal deine Stimme, wie beim letztenmal, aber ich errate immer, was du für Unsinn verzapfst, denn ich selbst bin es, der da spricht, und nicht du! Nur weiß ich nicht, habe ich das vorige Mal geschlafen oder hab ich dich wirklich gesehen? Ich will mir ein nasses Handtuch auf die Stirn legen, vielleicht verschwindest du dann.«

Iwan Fjodorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und fing an, mit dem feuchten Handtuch auf der Stirn im Zimmer auf und ab zu wandern.

»Es macht mir Spaß, daß wir beide so ohne weitere Umstände dazu übergegangen sind, uns zu duzen«, hob der Gast an.

»Idiot!« versetzte Iwan lachend. »Soll ich etwa ›Sie‹ zu dir sagen? Ich bin jetzt ganz gut aufgelegt, nur in den Schläfen hämmert der Schmerz, und hinten im Schädel ... nur, bitte, komm nicht wieder ins Philosophieren wie beim vorigen Mal! Wenn du dich schon nicht fortscheren willst, so erzähle irgend etwas Lustiges! Gib ein paar Klatschgeschichten zum besten, du bist ja ein Schmarotzer, also mußt du auch Klatschgeschichten kennen. Was muß sich mir auch so ein Alpdruck aufdrängen! Aber ich fürchte mich nicht vor dir. Ich werde schon mit dir fertig. Man wird mich nicht ins Irrenhaus schaffen!«

»C'est charmant 2: Schmarotzer. So was Ähnliches bin ich ja wirklich, wenn man's recht betrachtet! Was bin ich denn auf Erden anders als ein Schmarotzer? Apropos, ich höre dir zu und muß mich dabei ein bißchen wundern, fängst du doch wahrhaftig an, mich allmählich für ein wirkliches Wesen zu halten, und nicht bloß für eine Ausgeburt deiner Phantasie, wovon du letztes Mal nicht abzubringen warst.«

»Nicht einen Augenblick halte ich dich für reale Wahrheit!« fuhr Iwan zornig auf. »Eine Lüge bist du, meine Krankheit bist du, ein Phantom. Ich weiß nur nicht, wie ich dich loswerden könnte, und sehe ein, daß ich dich noch ein Weilchen werde dulden müssen. Du bist meine Halluzination. [474] Du bist eine Verkörperung meines eigenen Ich, freilich nur einer Seite desselben, eine Verkörperung meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der widerlichsten und dümmsten. In dieser Hinsicht könntest du mir sogar interessant sein, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben.«

»Erlaube, erlaube, gleich hab ich dich. Denk doch bloß mal daran, wie du Aljoscha vorhin bei der Laterne angeschrien hast: ›Das hast du von ihm! Woher weißt du, daß er zu mir kommt?‹ Damit hast du doch mich gemeint, oder? Folglich hast du immerhin ein kleines, winziges Augenblickchen daran geglaubt, hast geglaubt, daß ich wirklich existiere«, schmunzelte der Gentleman zuvorkommend.

»Ja, das war eine natürliche Schwäche ... aber an dich glauben konnte ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich letztes Mal geschlafen habe oder wirklich umhergelaufen bin. Vielleicht hab ich bloß von dir geträumt und dich gar nicht im wachen Zustand gesehen.«

»Aber warum wurdest du dann vorhin so ausfallend gegen ihn, gegen Aljoscha, meine ich? So ein liebenswürdiger Mensch.«

»Schweig mir von Aljoscha! Wie kannst du es wagen, Knechtsseele!« versetzte Iwan, mußte aber wieder lachen.

»Du schimpfst zwar, mußt aber selbst darüber lachen, ein gutes Zeichen. Übrigens bist du heute viel liebenswürdiger gegen mich als vergangenes Mal, und ich begreife auch, warum: dieser große Entschluß ...«

»Schweig von meinem Entschlusse!« schrie Iwan außer sich.

»Ich verstehe, oh, ich verstehe durchaus, c'est noble, c'est charmant 3, du gehst hin, um deinen Bruder zu verteidigen und dich selbst zu opfern. C'est chevaleresque ... 4«

»Schweig, sonst gebe ich dir einen Tritt!«

»Das wäre mir in gewisser Hinsicht nicht einmal unangenehm, denn dann hätte ich mein Ziel erreicht. Wenn du mir Fußtritte anbietest, glaubst du an meine Realität, denn einem Phantom versetzt man keine Fußtritte. Aber, Scherz beiseite, mir ist es völlig schnuppe, schimpfe, soviel du Lust dazu hast, freilich, besser wär's schon, wenn du ein klein wenig mehr Höflichkeit walten lassen wolltest, selbst mir[475] gegenüber. Aber ›Idiot‹, ›Knechtsseele‹, was sind das für Ausdrücke!«

»Wenn ich dich schelte, schimpfe ich auf mich selbst!« entgegnete Iwan wieder lachend. »Du bist ich, ich selbst, lediglich mit anderer Visage. Du sagst haargenau, was ich denke, und kannst mir absolut nichts Neues verkünden.«

»Wenn ich mit deinen Gedanken übereinstimme, so gereicht mir das nur zur Ehre«, erwiderte der Gentleman mit taktvoller Würde.

»Aber du nimmst immer nur meine häßlichen Gedanken, und vor allem meine törichten Gedanken. Du bist schäbig und dumm. Furchtbar dumm. Nein, ich kann dich nicht ertragen! Was soll ich machen, was soll ich nur machen!« rief Iwan zähneknirschend.

»Mein Freund, ich wünsche dennoch ein Gentleman zu sein und als solcher angesehen zu werden«, begann der Gast in einem Anfall typisch schmarotzerhaften und schon im vorhinein zum Nachgeben bereiten, gutmütigen Ehrgefühls. »Ich bin arm, aber ... ich will nicht behaupten, daß ich sonderlich ehrenhaft wäre, aber ... in der Gesellschaft gilt es landläufig als Axiom, daß ich ein gefallener Engel sei. Weiß Gott, ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jemals ein Engel gewesen sein könnte! Wenn ich's aber wirklich einmal gewesen sein sollte, ist das schon so lange her, daß es keine Sünde ist, es vergessen zu haben. Jetzt lege ich nur mehr Wert auf meine Reputation als anständiger Mann und lebe, wie es sich gerade trifft, stets bemüht, mich jedermann angenehm zu machen. Ich liebe die Menschen aufrichtig – oh, man hat mich in vieler Hinsicht verleumdet! Wenn ich zeitweilig zu euch übersiedle, läuft mein Leben hier so dahin, als ob es Wirklichkeit wäre, und das gefällt mir am allermeisten. Auch ich leide ja, genau wie du, unter dem Phantastischen, und darum habe ich nun mal eine Schwäche für euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist jedwedes Ding klar abgegrenzt, hier gibt es Formeln, gibt es Mathematik, während bei uns dort alles immer nur unbestimmten Gleichungen ähnelt. Hier wandere ich umher und träume. Oh, ich überlasse mich nur zu gern meinen Träumereien. Übigens werde ich auf Erden sogar abergläubisch – bitte, lach mich nicht aus! –, ich finde es sogar sehr hübsch, daß ich [476] abergläubisch werde. Ich nehme hier alle eure Gewohnheiten an, ich habe Geschmack daran gefunden, in öffentliche Badstuben zu gehen – kannst du dir so was vorstellen? –, und finde es wundervoll, in Gesellschaft von Kaufleuten und Popen im heißen Dampf zu schwitzen. Mein Schwarm wäre es, mich in eine korpulente, sieben Pud schwere Kaufmannsfrau zu verwandeln, aber wohlgemerkt, endgültig und unwiderruflich, und an alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal wäre, in die Kirche zu gehen und dort reinen Herzens eine Kerze zu weihen, bei Gott, so ist es. Dann wären alle meine Leiden zu Ende. Desgleichen habe ich auch Geschmack daran gefunden, mich hier bei euch allerlei Kuren zu unterziehen. Im Frühjahr kamen die Pokken, prompt ging ich hin und ließ mich im Findelhaus gegen Pocken impfen – wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tage war, ganze zehn Rubel habe ich für die slawischen Brüder gespendet! – Aber du hörst mir ja gar nicht zu! Wie ich sehe, bist du heute wirklich nicht recht bei Laune.« Der Gentleman schwieg ein Weilchen. »Ich weiß, du hast gestern jenen Arzt aufgesucht, nun, wie steht es mit deiner Gesundheit? Was hat der Doktor gesagt?«

»Idiot!« war Iwans einzige Antwort.

»Dafür bist du um so gescheiter. Du schimpfst schon wieder? Ich frage ja nicht eigentlich aus Anteilnahme, sondern bloß so. Meinetwegen brauchst du nicht zu antworten. Jetzt gibt es wieder eine Menge Rheumatismus überall.«

»Idiot!« knurrte Iwan noch einmal.

»Immer die alte Leier bei dir; dabei hab ich mir vergangenes Jahr einen solchen Rheumatismus geholt, daß ich heute noch daran denke.«

»Der Teufel hätte Rheumatismus?«

»Warum denn nicht, wo ich doch zuweilen menschliche Gestalt annehme. Wenn ich das tue, nehme ich auch die Konsequenzen auf mich. Satan sum et nihil humanum a me alienum puto.« 5

»Wie war das, wie? Satan sum et nihil humanum ... nicht dumm für den Teufel!«

»Freut mich, daß ich endlich einmal deinen Geschmack getroffen habe.«

[477] »Aber das hast du nicht von mir«, Iwan blieb plötzlich betroffen stehen. »Das ist mir nie in den Kopf gekommen, sonderbar.«

»C'est du nouveau, n'est-ce pas? 6 Diesmal will ich ehrlich sein und es dir erklären. Paß auf. Im Schlaf und besonders beim Alpdrücken, etwa infolge einer Magenverstimmung oder dergleichen, träumt der Mensch manchmal ganz bizarre Dinge zusammen, eine so komplizierte und reale Wirklichkeit, solche Ereignisse oder sogar eine so vollendet zusammengefügte Welt von Ereignissen, mit unerwarteten Details, angefangen von euren höchsten Offenbarungen bis zum letzten Knopf am Vorhemd, wie es, ich schwöre dir, selbst ein Lew Tolstoi nicht zu schildern vermöchte; und dabei haben solche Träume häufig gerade Menschen, die gar nicht sonderlich phantasiebegabt sind, ganz gewöhnliche Leute, Beamte, Feuilletonschreiber, Popen ... Manches dabei ist schlechterdings rätselhaft; so hat mir einmal ein Minister gestanden, daß ihm seine besten Ideen immer im Schlaf kämen. Na, und so ist es auch jetzt. Ich bin zwar nichts als deine Halluzination, aber ich rede, wie das auch beim Alptraum der Fall ist, lauter originelle Dinge, wie sie dir nie in den Sinn gekommen wären, so daß ich nicht mehr bloß deine eigenen Gedanken wiederhole, und doch bin ich nichts weiter als ein Traumgebilde.«

»Du lügst. Deine Absicht ist es ja gerade, mir weiszumachen, du seist ein selbständiges Wesen und kein Traumgebilde, und jetzt behauptest du auf einmal selbst, du seist nur ein Phantom.«

»Mein Freund, heute habe ich zu einer besonderen Methode gegriffen, ich werde dir das hernach noch auseinandersetzen. Warte mal, wo war ich gleich stehengeblieben? Ach ja, wie ich mich damals erkältet habe, das war aber nicht bei euch, sondern noch dort ...«

»Wo dort? Sag mal, hast du eigentlich die Absicht, noch lange bei mir zu bleiben? Kannst du dich nicht endlich fortscheren?« rief Iwan, der Verzweiflung nahe. Er unterbrach seine Wanderung durch das Zimmer, setzte sich auf den Diwan, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und preßte beide Hände an die Schläfen. Er riß das nasse Handtuch [478] vom Kopf und schleuderte es ärgerlich fort, augenscheinlich hatte es nichts genützt.

»Dein Nervensystem ist zerrüttet«, bemerkte der Gentleman ungeniert und lässig, aber durchaus liebenswürdig. »Du regst dich sogar darüber auf, daß ich mich erkältet habe, und dabei ist das doch auf die natürlichste Weise von der Welt geschehen. Ich mußte mich damals furchtbar ranhalten, um noch rechtzeitig zu einer diplomatischen Soiree bei einer hochgestellten Petersburger Dame zu kommen, die den Ehrgeiz hatte, Frau Minister zu werden. Na, ich war schon in Frack, weißer Halsbinde und Handschuhen, befand mich aber noch Gott weiß wo und mußte, um zu euch auf die Erde zu gelangen, noch den Weltenraum durchfliegen, was freilich nur einen Augenblick dauert, obwohl selbst ein Lichtstrahl von der Sonne aus ganze acht Minuten dazu benötigt; aber stell dir bitte vor: das alles im Frack und ausgeschnittener Weste! Allerdings erfrieren Geister nicht, aber da ich bereits menschliche Gestalt angenommen hatte ... Kurz, ich war leichtsinnig und machte mich auf den Weg, aber dort im Weltenraum, im Äther, in diesem, ›Wasser über der Feste‹ herrscht bekanntlich ein so grimmiger Frost ... das heißt, was sage ich Frost – Frost kann man das schon nicht mehr nennen, hundertfünfzig Grad unter Null, kannst du dir so was vorstellen?! Es ist ja ein alter Ulk der Bauernmädels. Bei dreißig Grad Kälte fordern sie einen Neuling auf, an einem Beil zu lecken, die Zunge ist im Nu festgefroren, und der Tölpel reißt sich die Haut blutig, wenn er wieder loskommen will; so ist das schon bei dreißig Grad, bei hundertfünfzig Grad aber brauchte man, glaube ich, nur einen Finger ans Beil zu legen, und er ist wie weggeblasen ... das heißt, falls man dort irgendwo ein Beil auftreiben könnte ...«

»Wo sollte man denn da ein Beil herbekommen?« unterbrach ihn plötzlich Iwan Fjodorowitsch zerstreut und angewidert.

Er sträubte sich mit aller Kraft dagegen, seinen Fiebertraum für Wahrheit zu halten und endgültig ins Delirium zu fallen.

»Ein Beil?« gab der Gast erstaunt zurück.

»Na ja, was würde dort aus dem Beile werden?« brauste [479] Iwan Fjodorowitsch auf, der sich mit seltsamer Halsstarrigkeit in diese Frage verbohrt zu haben schien.

»Was im Weltenraum aus einem Beile würde? Quelle idée! 7 Wenn es nur weit genug von der Erde weggelangt, wird es wahrscheinlich anfangen, die Erde zu umkreisen wie ein Trabant, ohne zu wissen weshalb. Die Astronomen werden Aufgang und Untergang des Beiles berechnen, Gatzuk wird es in seinen Kalender eintragen. Das ist alles.«

»Du bist dumm, schrecklich dumm!« sagte Iwan störrisch. »Du mußt schon ein bißchen gescheiter schwätzen, sonst hör ich gar nicht mehr hin. Du willst mich durch Realismus überwinden, mir weismachen, daß du wirklich da bist, ich aber will nicht glauben, daß du existierst. Ich werde es nicht glauben!«

»Aber ich lüge ja nicht, es ist die lautere Wahrheit, nur leider ist die Wahrheit meistens nicht gerade geistreich. Du erwartest von mir, wie ich sehe, zweifellos etwas Großartiges und vielleicht auch etwas Schönes. Das ist sehr schade, denn ich gebe nur, was ich kann ...«

»Philosophiere nicht, du Esel!«

»Was ist denn für Philosophie dabei, wenn meine ganze rechte Seite wie gelähmt war, daß ich nur noch ächzte und stöhnte? Die ganze medizinische Fakultät hab ich abgeklappert; nun, die Herren stellen vortreffliche Diagnosen, alle Momente deiner Krankheit zählen sie dir an den Fingern her, bloß kurieren können sie dich nicht. Da war auch ein begeisterter kleiner Student, der sagte: ›Wenn Sie auch sterben sollten, wissen Sie doch wenigstens genau, an welcher Krankheit Sie gestorben sind!‹ Und dann ihre Manie, die Patienten dauernd zu Spezialisten zu schicken. ›Wir stellen lediglich die Diagnose‹, sagen sie, ›dann aber müssen Sie sich schon zu dem und dem Spezialisten bemühen, der wird Sie kurieren.‹ Der Arzt von ehe dem, der alle Krankheiten behandelte, ist heutzutage ausgestorben, sag ich dir, jetzt gibt es nichts als Spezialisten, und die annoncieren unentwegt in allen Zeitungen. Tut dir die Nase weh, schickt man dich nach Paris, ›dort‹, sagt man, ›ist ein europäischer Spezialist, der Nasen kuriert‹. Du kommst nach Paris, und er untersucht die Nase. ›Ich kann Ihnen nur das rechte[480] Nasenloch heilen‹, sagt er, ›denn linke Nasenlöcher behandle ich nicht, das ist nicht meine Spezialität. Fahren Sie aber, sobald ich Ihr rechtes Nasenloch gesund gemacht habe, nach Wien, dort wird der dafür zuständige Spezialist Ihr linkes Nasenloch kurieren.‹ Was soll man da machen? Ich nahm meine Zuflucht zu volkstümlichen Mitteln; ein deutscher Arzt riet mir, mich in der Badstube auf der Schwitzbank mit Honig und Salz einzureiben. Ich ging hin, einzig und allein, um noch mal ins Bad zu kommen, ich schmierte mich ganz voll, aber ohne den geringsten Effekt. In meiner Verzweiflung schrieb ich an den Grafen Mattei in Mailand, er schickte mir ein Buch und Tropfen, aber wollte Gott, daß sie genutzt hätten. Und was soll ich dir sagen: Hoffsches Malzextrakt hat mir geholfen! Ich kaufte es mir rein zufällig, trank anderthalb Flaschen davon und hätte tanzen mögen, aller Schmerz war wie weggeblasen. Ich beschloß, um jeden Preis eine Danksagung in den Zeitungen drucken zu lassen, denn eine dankbare Regung war in mir erwacht, und nun stell dir vor, was mir da wieder für eine Geschichte passierte, in keiner Redaktion wurde meine Danksagung angenommen! ›Es würde sich gar zu reaktionär ausnehmen‹, sagte man mir, ›kein Mensch glaubt mehr an so was, le diable n'existe point 8. Lassen Sie Ihre Danksagung doch anonym drucken‹, riet man mir. Aber was wäre das für eine Danksagung, wenn kein Name druntersteht! Ich schäkerte noch mit den Kontoristen. ›An Gott zu glauben‹, sagte ich, ›wäre in unserm Jahrhundert allerdings reaktionär, ich aber bin der Teufel, an mich darf man getrost glauben.‹ – ›Versteht sich‹, erwiderte man mir, ›wer glaubt denn nicht an den Teufel, aber es geht trotzdem nicht, es könnte unserm Blatt schaden, es paßt nicht zu seiner Linie. Oder sollen wir es als Scherz bringen?‹ – ›Als Scherz‹, überlegte ich, ›wäre es nicht gerade geistreich.‹ Ergo ist meine Danksagung nirgends erschienen. Und ob du's glaubst oder nicht, es liegt mir immer noch schwer auf der Seele. Meine edelsten Gefühle, wie die Dankbarkeit zum Beispiel, sind mir allein durch meine soziale Stellung verboten.«

»Bist du schon wieder ins Philosophieren geraten?« knirschte Iwan haßerfüllt.

[481] »Gott behüte mich davor, aber hin und wieder kommt man halt nicht darum herum, sich ein wenig zu beklagen. Ich bin ein arg verleumdeter Mann. Du sagst mir alle Nasen lang, ich sei dumm. Daran sieht man, daß du noch jung bist. Mein Freund, es kommt nicht ausschließlich auf den Verstand an. Ich habe von Natur ein gutes, fröhliches Gemüt, ›ich hab sogar ein paar kleine Lustspiele verfaßt‹. Du scheinst mich für einen ergrauten Chlestakow zu halten, dabei ist mein Los bedeutend ernster. Durch irgendeine uralte Bestimmung, die ich nie habe begreifen können, ist mir aufgetragen worden, zu ›verneinen‹, während ich doch von Herzen gutmütig und zum Verneinen eigentlich gänzlich untauglich bin. ›Nein‹, hieß es da, ›du gehe hin und verneine, denn ohne Verneinung gibt es keine Kritik, und was wäre eine Zeitschrift ohne die »Spalte für Kritik«? Ohne Kritik gäbe es auf der Welt nur eitel Hosiannarufen. Für das Leben ist Hosiannarufen jedoch nicht genug, das Hosianna muß zuvor im Schmelzofen des Zweifels geläutert werden‹, na und so weiter, immer dieselbe Leier. Ich mische mich da übrigens grundsätzlich nicht ein, nicht ich habe die Welt geschaffen, nicht ich trage die Verantwortung. Und da hat man sich eben einen Sündenbock erkoren, hat ihn gezwungen, in der Spalte für Kritik zu schreiben, und somit hätten wir das Leben. Aber wir durchschauen diese Komödie, ich fordere zum Beispiel rundheraus nichts anderes als meine eigene Vernichtung. ›Nein‹, wird mir bedeutet, ›du lebe weiter, denn ohne dich würde überhaupt nichts mehr sein. Wenn alles auf Erden vernünftig zuginge, würde nichts mehr geschehen. Ohne dich gäbe es keine Ereignisse mehr, es muß aber Ereignisse geben.‹ Und so tue ich denn meinen Dienst, obzwar widerwillig genug, und betreibe das Unvernünftige auf Befehl. Die Menschen halten diese ganze Komödie für Ernst, und das trotz ihres unbestreitbaren Verstandes. Darin besteht ihre Tragödie. Nun gut, sie leiden, das ist wahr ... aber dafür leben sie auch, sie leben wirklich, nicht nur phantastisch, denn gerade das Leiden ist ja Leben. Wo wäre der Genuß des Lebens ohne das Leid, alles würde zu einem einzigen, endlosen Lobgebet, das wäre zwar fromm, aber reichlich langweilig. Na, und ich dagegen? Ich leide zwar auch, und doch lebe ich[482] nicht. Ich bin das X in einer unbestimmten Gleichung. Ich bin sozusagen ein Phantom des Lebens, ein Phantom, das jedes Ende und jeden Anfang verloren und zuletzt sogar vergessen hat, wie es sich nennen soll. Du lachst ... nein, du lachst nicht, du bist schon wieder ärgerlich. Immerfort ärgerst du dich, wenn's nach dir ginge, müßte alles nur aus Vernunft bestehen; ich aber sage dir noch einmal: Ich würde mit Vergnügen mein ganzes überirdisches Leben mit all seinen Titeln und Würden dafür geben, wenn ich mich nur in eine sieben Pud schwere Kaufmannsfrau verwandeln und dem lieben Gott in der Kirche eine Kerze weihen könnte.«

»Demnach glaubst auch du nicht mehr an Gott?« fragte Iwan und feixte gehässig.

»Nun, was soll ich dir darauf antworten, wenn du wirklich ernsthaft fragst ...«

»Gibt es Gott oder nicht?« schrie Iwan wieder mit wilder Hartnäckigkeit.

»Ah, du meinst es also im Ernst? Bei Gott, ich weiß es nicht, mein Lieber; da hab ich ein großes Wort gesprochen.«

»Du weißt es nicht, und dabei siehst du Gottes Angesicht? Nein, du bist kein selbständiges Wesen, du bist ich, du bist ich und weiter nichts! Ein Dreck bist du, du bist meine Phantasie!«

»Das heißt, wenn's dir recht ist, wollen wir lieber sagen, ich gehöre derselben philosophischen Richtung an wie du, so wäre es billiger ausgedrückt. Je pense, donc je suis 9, das weiß ich bestimmt, alles andere aber, was um mich herum ist, all diese Welten, Gott und sogar der Satan persönlich – bei alledem ist für mich nicht bewiesen, ob es eine selbständige Existenz hat oder nur eine Emanation meiner selbst, die folgerichtige Entwicklung meines urewigen und individuell existenten Ich ist, aber, ich breche ab, weil du, wie mir scheint, gleich aufspringen wirst, um dich mit mir zu prügeln.«

»Du tätest besser daran, irgendeine Anekdote zum besten zu geben«, sagte Iwan gequält.

»Eine Anekdote hätte ich schon parat, und sogar eine, die haargenau zu unserm Thema paßt, das heißt, eigentlich [483] ist es keine Anekdote, sondern mehr eine Legende. Du machst mir meinen Unglauben zum Vorwurf und sagst: ›Du siehst, und dennoch glaubst du nicht.‹ Aber, mein Freund, so geht es ja keineswegs mir allein, sondern bei uns sind sie alle ganz konfus geworden, und das nur wegen eurer Wissenschaften. Solange es bloß die Atome gab und die fünf Sinne und die vier Elemente, da hielt alles noch so leidlich zusammen. Atome kannte man ja auch schon in der alten Welt. Als dann aber auch bei uns durchsickerte, daß ihr hier das ›chemische Molekül‹ entdeckt hättet und das ›Protoplasma‹ und Gott weiß was noch alles, kniff man bei uns die Schwänze zwischen die Beine. Seitdem ging alles drunter und drüber, insonderheit wucherten Aberglaube und Klatsch (Klatsch gibt es nämlich bei uns genau wie bei euch, sogar ein bißchen mehr) und dann die Denunziationen, wir haben ja auch unsere Abteilung, wo gewisse ›Mitteilungen‹ entgegengenommen werden. Um wieder auf diese absonderliche Legende zu kommen, sie stammt noch aus dem Mittelalter (aus unserm, nicht aus eurem Mittelalter), und selbst bei uns glaubt niemand mehr an sie, ausgenommen die sieben Pud schweren Kaufmannsfrauen, das heißt wiederum nicht eure, sondern unsere Kaufmannsfrauen. Alles, was ihr habt, haben wir auch, damit entschleiere ich dir aus Freundschaft eines unserer Geheimnisse, wiewohl das streng untersagt ist. Die Legende handelt vom Paradies. Es lebte einmal, so heißt es, hier auf Erden ein Denker und Philosoph, der ›alles verneinte, Gesetze, Gewissen und Glauben‹, vor allem aber das künftige Leben. Er starb und vermeinte, jetzt ginge es schnurstracks in Finsternis und Tod, doch siehe, da tat sich das künftige Leben vor ihm auf. Darüber war er höchst erstaunt und ungehalten. ›Solches widerspricht meinen Überzeugungen‹, sagte er. Dafür wurde er denn auch verurteilt ... das heißt, du mußt entschuldigen, ich gebe nur wieder, was ich selbst gehört habe, es ist halt nur eine Legende ... er wurde also verurteilt, in der Finsternis eine Quadrillion Kilometer zu durchwandern (bei uns rechnet man jetzt nach Kilometern), und sobald er diese Quadrillion hinter sich gebracht hätte, sollten ihm die Pforten des Paradieses aufgetan und alles vergeben werden ...«

[484] »Was habt ihr denn in jener Welt noch für Qualen außer einer solchen Quadrillion?« unterbrach ihn Iwan mit seltsamer Lebhaftigkeit.

»Was es noch für Qualen gibt? Ach, frag mich lieber nicht danach! Früher sah es damit noch einigermaßen leidlich aus, jetzt aber sind die moralischen Qualen immer mehr in Mode gekommen, ›Gewissensbisse‹ und was dergleichen Blödsinn mehr ist. Das ist auch so eine der von euch eingedrungenen Neuerungen, infolge der ›Milderung eurer Sitten‹. Na, und wer hat dabei profitiert? Profitiert haben nur die Gewissenlosen, denn was können so einem Gewissensbisse schon anhaben, wenn er überhaupt kein Gewissen hat? Darunter zu leiden haben lediglich die anständigen Leute, die noch Gewissen und Ehrgefühl im Leibe haben ... Ja, so ist das nun mal mit Reformen auf unvorbereitetem Boden, noch dazu, wenn sie bloß ein Abklatsch fremder Einrichtungen sind, es kommt nichts als Schaden dabei heraus! Wir hätten lieber das alte Höllenfeuer beibehalten sollen. Da stand also dieser zu einer Quadrillion Kilometer Verurteilte, sah vor sich hin und legte sich dann quer über den Weg. ›Ich gehe nicht‹, sagte er, ›schon aus Prinzip werde ich nicht gehen!‹ Nimm die Seele eines aufgeklärten russischen Atheisten und mische sie mit der Seele des Propheten Jonas, der drei Tage und drei Nächte im Bauch des Walfisches schmollte, so hast du den Charakter jenes Denkers, der sich da quer über den Weg gelegt hatte.«

»Worauf hat er sich denn da gelegt?«

»Na, es wird schon was dagewesen sein, worauf er liegen konnte. Machst du dich auch nicht lustig über mich?«

»Ein famoser Kerl!« rief Iwan immer noch mit derselben eigentümlichen Lebhaftigkeit. Er hörte jetzt mit unerwartetem Interesse zu. »Na, und weiter? Liegt er immer noch da?«

»Das ist es ja gerade, daß er nicht mehr daliegt. Fast tausend Jahre hat er dagelegen, dann stand er auf und marschierte los.«

»So ein Esel!« Iwan lachte laut und nervös, es schien, als dächte er angestrengt über irgend etwas nach. »Ist es nicht völlig einerlei, ob er ewig liegenbleibt oder eine Quadrillion Werst marschiert? Da hat er ja gewiß eine Billion Jahre zu laufen?«

[485] »Sogar viel mehr. Ich hab leider keinen Bleistift und kein Papier zur Hand, sonst ließe sich das leicht errechnen. Aber er ist ja schon längst am Ende seiner Wanderung, und eben da beginnt die Anekdote.«

»Wie das? Am Ende seiner Wanderung? Wo hat er denn die Billion Jahre hergenommen?«

»Du denkst immer nur an unsere jetzige Erde! Aber die heutige Erde hat sich ja vielleicht selbst schon billionenmal erneuert. Sie wurde altersschwach, vereiste, barst, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elementarbestandteile, dann war sie wieder Wasser über der Feste, dann ein Komet, dann eine Sonne, und zuletzt wurde sie aus der Sonne wieder eine Erde – diese Entwicklung hat sich ja möglicherweise schon unzählige Male wiederholt, und immer auf dieselbe Art und Weise, bis aufs I-Tüpfelchen. Eine geradezu unanständig langweilige Geschichte ...«

»Na, und was geschah, als er mit seiner Wanderung fertig war?«

»Kaum hatte man ihm die Pforten des Paradieses aufgetan und er war eingetreten, er war noch keine zwei Sekunden drin, und zwar nach der Uhr, jawohl, nach der Uhr (obgleich seine Uhr sich meiner Ansicht nach unterwegs in seiner Tasche schon längst in ihre Bestandteile hätte auflösen müssen), also, er war noch keine zwei Sekunden drin, da rief er schon, für diese zwei Sekunden verlohne es sich, nicht nur eine Quadrillion, sondern eine Quadrillion Quadrillionen Kilometer zu wandern, ja selbst wenn diese Zahl noch zur quadrillionsten Potenz erhoben würde! Kurz, er jubelte sein Hosianna und trieb es so arg damit, daß einige der Anwesenden von noblerer Denkungsart ihm anfänglich nicht einmal die Hand reichen wollten. Er war allzu Hals über Kopf ins konservative Lager übergewechselt. Ein typisch russischer Charakter! Ich wiederhole, es ist bloß eine Legende, ich erzähle sie genau so, wie ich sie selbst gehört habe. Da kannst du sehen, was für Begriffe über all diese Dinge bei uns gang und gäbe sind.«

»Jetzt hab ich dich!« rief Iwan mit fast kindlicher Freude, als sei ihm nun unwiderruflich das Richtige eingefallen. »Diese Anekdote über die Quadrillion Werst stammt ja von mir! Ich war damals siebzehn Jahre alt und ging noch aufs [486] Gymnasium. Ich hab sie mir damals ausgedacht und sie einem Mitschüler namens Korowkin erzählt, es war in Moskau. Die Geschichte ist so charakteristisch, daß ich sie nicht von anderswoher hätte nehmen können. Fast hätte ich sie vergessen, aber jetzt ist sie mir unwillkürlich wieder eingefallen, mir selbst, nicht du hast sie mir erzählt! Wie einem tausenderlei Dinge zuweilen ganz ungewollt ins Gedächtnis kommen, sogar wenn man zum Schafott geführt wird ... im Traum ist sie mir wieder eingefallen. Und du bist dieser Traum! Du bist ein Traumgebilde und existierst nicht wirklich!«

»Nach der Heftigkeit zu urteilen, mit der du mich verneinst«, erwiderte der Gentleman lachend, »bin ich überzeugt, daß du dennoch an mich glaubst.«

»Absolut nicht! Nicht für ein Hundertstel glaube ich an dich!«

»Aber für ein Tausendstel glaubst du doch. Die homöopathischen Dosen sind vielleicht die wirksamsten. Gib zu, daß du glaubst, wenigstens für ein Zehntausendstel ...«

»Nicht eine Sekunde!« fuhr Iwan hitzig auf. »Übrigens wünschte ich schon, an dich zu glauben!« fügte er unvermittelt hinzu.

»Aha! Das ist doch immerhin ein Geständnis. Aber ich bin ja gutmütig, ich will dir auch hierbei behilflich sein. Paß auf, ich hab dich ertappt, und nicht umgekehrt! Ich hab dir absichtlich deine eigene Anekdote erzählt, die du schon vergessen hattest, damit du den Glauben an mich restlos verlieren solltest.«

»Du lügst! Der Zweck deines Erscheinens ist ja gerade, mich davon zu überzeugen, daß du existierst.«

»Ganz richtig. Aber das Schwanken, die Unruhe, der Kampf zwischen Glauben und Unglauben ist mitunter eine solche Qual für einen gewissenhaften Menschen wie dich, daß er besser daran täte, sich aufzuhängen. Gerade weil ich weiß, daß du ein winziges Quäntchen Glauben an mich hast, goß ich dir ein Tröpfchen Unglauben hinzu, indem ich dir diese Geschichte erzählte. Ich führe dich abwechselnd zwischen Glauben und Unglauben und verfolge damit meine ganz bestimmte Absicht. Meine neue Methode, mußt du wissen. Wenn du nämlich erst einmal allen Glauben an mich [487] verloren hast, wirst du mir auf der Stelle ins Gesicht hinein beteuern, daß ich kein Traumgebilde sei, sondern wirklich existiere; schließlich kenne ich dich allmählich. Dann werde ich mein Ziel erreichen. Es ist aber ein erhabenes Ziel. Ich werde nur ein winzig kleines Samenkorn des Glaubens in dich legen, aber es wird ein Eichbaum daraus werden, und zwar ein so prachtvoller Eichbaum, daß du, in seiner Krone sitzend, nur den einen Wunsch haben wirst, dich der Schar der ›Wüstenväter und makellosen Frauen‹ beizugesellen, denn insgeheim trägst du danach großes, großes Verlangen, Heuschrecken wirst du essen und in die Wüste ziehen, um dem Heil deiner Seele zu leben!«

»So wärest ausgerechnet du, Tunichtgut, auf die Rettung meiner Seele bedacht?«

»Man muß doch wenigstens irgendwann einmal ein gutes Werk tun. Du ärgerst dich, du ärgerst dich schon wieder, wie ich sehe!«

»Possenreißer! Aber hast du auch schon mal solche bemoosten Heiligen in Versuchung geführt, die Heuschrecken essen und siebzehn Jahre lang in der Einöde beten?«

»Aber, mein Bester, das ist ja gerade meine Hauptbeschäftigung. Die ganze Welt und alle Welten vergißt man darüber und heftet sich an einen einzigen solchen Menschen, denn das ist ein ungemein köstlicher Brillant, eine einzige solche Seele ist bisweilen ebensoviel wert wie ein ganzes Sternbild – wir haben nun mal unsere eigene Mathematik. Ein solcher Sieg verlohnt sich schon! Und einige von ihnen stehen dir, weiß Gott, an Bildung nicht nach, wenn du es vielleicht auch nicht wahrhaben willst; sie vermögen solche Abgründe des Glaubens und des Unglaubens in einem einzigen Augenblick zu erschauen, daß oft wirklich nur noch eines Haares Breite zu fehlen scheint, und so ein Mensch müßte ›kopfüber in die Tiefe stürzen‹, wie der Schauspieler Gorbunow sagt.«

»Na und? Bist du mit langer Nase abgezogen?«

»Mein Freund«, versetzte der Gast vielsagend. »Manchmal ist es besser, mit langer Nase abzuziehen als ganz ohne Nase, wie kürzlich erst ein kranker Marquis (gewiß hatte ein Spezialist an ihm herumgepfuscht) in der Beichte zu seinem Beichtvater, einem Jesuiten, sagte. Ich war zugegen – [488] es war schlechterdings wundervoll! ›Gebt mir meine Nase wieder!‹ ruft er und schlägt sich an die Brust. ›Mein Sohn‹, windet sich der Pater, ›alles vollzieht sich nach den unerforschlichen Ratschlüssen der Vorsehung, und großes Unglück hat bisweilen auch einen außerordentlichen, wiewohl unsichtbaren Vorteil im Gefolge. Wenn ein gestrenges Schicksal Sie Ihrer Nase beraubt hat, besteht Ihr Vorteil darin, daß fürderhin Ihr ganzes Leben lang niemand mehr wagen wird, Ihnen zu sagen, Sie seien mit langer Nase abgezogen.‹ – ›Frommer Vater, das ist kein Trost!‹ ruft der Verzweifelte, ›ich würde im Gegenteil mit Begeisterung mein Leben lang täglich mit langer Nase abziehen, wenn diese bei mir nur noch am rechten Fleck säße!‹ – ›Mein Sohn‹, versetzt der Pater seufzend, ›man darf nicht alle Güter zugleich verlangen, das wäre ein Murren wider die Vorsehung, die Ihrer doch auch in diesem Punkte nicht vergessen hat, denn während Sie rufen, wie Sie soeben taten, daß Sie mit Freuden bereit seien, Ihr ganzes Leben mit langer Nase abzuziehen, ist auch hierin Ihr Wunsch schon indirekt erfüllt; denn indem Sie Ihre Nase einbüßten, sind Sie doch gerade dadurch sozusagen mit einer langen Nase abgezogen!‹«

»Pfui, wie abgeschmackt!« rief Iwan.

»Mein Freund, ich wollte dich nur zum Lachen bringen, aber ich schwöre dir, das ist echte jesuitische Kasuistik, und ich schwöre dir auch, alles dies hat sich buchstäblich so zugetragen, wie ich es dir erzählt habe. Es hat sich erst vor kurzem abgespielt und mir viel Scherereien verursacht. Der unglückliche junge Mann kehrte nach Hause zurück und erschoß sich noch in der nämlichen Nacht; ich wich bis zum letzten Augenblick nicht von seiner Seite ... Was aber diese Beichtstühle der Jesuiten anlangt, so bilden sie tatsächlich meine liebste Zerstreuung in den melancholischen Augenblicken meines Lebens. Da kann ich dir noch einen Fall erzählen, der erst ein paar Tage alt ist. Kommt da zu einem alten Pater ein kleines, blondes Normannenmädel, an die zwanzig. Hübsch, mit allem Drum und Dran, anschmiegsames Wesen, es lief einem unwillkürlich das Wasser im Munde zusammen. Sie kniet nieder und flüstert dem Pater durch das Gitter ihre Sünde zu. ›Aber, meine Tochter, [489] sind Sie wirklich schon wieder gefallen?‹ ruft der Pater. ›O sancta Maria, was muß ich hören, schon wieder mit einem andern! Wie lange soll das noch so weitergehen, schämen Sie sich denn gar nicht?‹ – ›Ah, mon père‹, antwortet die Sünderin, in Reuetränen zerfließend, ›ça lui fait tant de plaisir et à moi si peu de peine!‹ 10 Stell dir bloß diese Antwort vor! Da mußte selbst ich von ihr lassen, es war, wenn man so sagen will, besser als die Unschuld selbst! Ich erteilte ihr auf der Stelle meine Absolution und wandte mich schon zum Gehen, doch dann sah ich mich genötigt, wieder umzukehren, mußte ich doch hören, wie der Pater sie durch das Gitter auf den Abend zu einem Rendezvous bestellte; ein alter Mann, hart wie ein Kieselstein, und doch in einem Augenblick gefallen! Die Natur, die Wahrheit der Natur hatte ihr Recht verlangt! Nun? Rümpfst du schon wieder die Nase? Ärgerst du dich wieder? Ich weiß nachgerade nicht mehr, wie ich's dir recht machen soll.«

»Laß mich in Ruhe! Du hämmerst in meinem Gehirn wie ein schwerer Alptraum, der sich nicht abschütteln läßt«, stöhnte Iwan schmerzlich im Bewußtsein seiner Machtlosigkeit gegenüber der Vision. »Du langweilst mich, deine Gegenwart ist mir qualvoll und unerträglich! Ich würde viel darum geben, wenn ich dich vertreiben könnte!«

»Ich wiederhole: Schraube deine Ansprüche herunter, verlange von mir nicht ›alles Große und Schöne‹, und du wirst sehen, wie gut wir uns verstehen werden«, sagte der Gentleman nachdrücklich. »In Wahrheit ärgerst du dich ja nur über mich, weil ich dir nicht in rotem Feuerschein, unter Donner und Blitz und mit versengten Flügeln erschienen bin, sondern mich in so bescheidener Gestalt präsentiert habe. Du fühlst dich gekränkt, erstens in deinem ästhetischen Empfinden und zweitens in deinem Stolz. ›Wie konnte zu einem so bedeutenden Mann ein so gewöhnlicher Teufel kommen?‹ denkst du. Nein, auch du hast diese romantische Ader, die schon Belinskij verspottet hat. Was ist da zu machen, junger Mann? Vorhin, als ich mich auf den Weg zu dir machte, hatte ich übrigens schon daran gedacht, dich spaßeshalber in der Gestalt eines Wirklichen Staatsrates a.D. [490] zu beehren, der im Kaukasus gedient hat, mit dem Stern des Löwen- und Sonnenordens am Frack, aber dann kamen mir doch Bedenken, dies zu tun, denn du hättest mich ja allein deshalb verprügelt, weil ich mich erdreistet hätte, nur den Löwen- und Sonnenorden anzulegen, und nicht mindestens den Polarstern oder den Sirius. Und in einem fort mußt du mir vorhalten, wie dumm ich sei. Aber, mein Gott, ich erhebe ja gar nicht den Anspruch, es dir an Verstand gleichzutun. Als Mephisto zu Faust kam, behauptete er von sich selbst, stets das Böse zu wollen, aber nur das Gute zu schaffen. Das mag er halten, wie es ihm beliebt, bei mir ist jedenfalls genau das Gegenteil der Fall. Ich bin vielleicht der einzige in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute wünscht. Ich war zugegen, als das am Kreuz gestorbene Wort zum Himmel emporstieg und die Seele des zu seiner Rechten gekreuzigten Schächers am Busen hielt; ich hörte das freudige Jauchzen der Cherubim, die ihr Hosianna erschallen ließen, und den donnernden Lobgesang der Seraphim, von dem der Himmel und das ganze Weltgebäude erbebte. Und da – ich schwöre es bei allem, was heilig ist – wollte ich schon in den Chor einstimmen und mit allen gemeinsam mein Hosianna singen. Schon stieg der Jubelruf aus meiner Brust hinan und wollte sich von meinen Lippen reißen ... ich bin ja, wie du weißt, sehr empfindsam und empfänglich für alles Künstlerische. Aber die gesunde Vernunft – oh, diese unglückseligste Eigenschaft meines Wesens – hielt mich auch diesmal in den gebührenden Schranken, und ich ließ den Augenblick ungenutzt vorübergehen. ›Denn was, was würde die Folge meines Hosianna sein?‹ dachte ich bei mir. ›Im selben Moment würde alles in der Welt erlöschen, und es würde nicht das geringste mehr geschehen.‹ Und so sah ich mich denn einzig und allein meines Pflichtgefühls und meiner sozialen Stellung wegen genötigt, die gute Regung in mir zu ersticken und mich mit den schmutzigsten Gemeinheiten abzufinden. Die Ehre, Gutes zu tun, nimmt ein anderer restlos für sich in Anspruch, bleiben mir also nur die Gemeinheiten. Aber ich beneide niemanden um die Ehre, auf anderer Leute Kosten zu leben, ich bin nicht ehrgeizig. Warum bin unter allen Wesen auf der Welt ich allein dazu [491] verurteilt, von allen anständigen Leuten verflucht und sogar mit Fußtritten bedacht zu werden, denn wenn ich Gestalt annehme, muß ich hier und da auch mit solchen Konsequenzen rechnen. Ich weiß, daß ein Mysterium dahintersteckt, aber man will mir dieses Mysterium um keinen Preis enthüllen, könnte ich doch dann, sobald ich erst einmal gemerkt hätte, worum es geht, womöglich selber lauthals ›Hosianna!‹ schreien, und dann würde augenblicks das unentbehrliche Minus verschwinden und in der ganzen Welt die Vernunft obsiegen, damit aber hätte selbstredend alles ein Ende, sogar die Zeitungen und Journale, denn wer würde sie noch abonnieren? Ich weiß, zuletzt werde auch ich mich versöhnen, meine Quadrillion Kilometer ablaufen und das Mysterium erfahren. Aber bis es soweit ist, schmolle ich und erfülle meine Bestimmung, wenn auch blutenden Herzens, Tausende zugrunde zu richten, damit ein einziger gerettet werde. Wie viele Seelen mußten beispielsweise geopfert und wie viele ehrenwerte Reputationen verdorben werden, nur um den einen gerechten Hiob zu erzielen, mit dem ich seinerzeit so schmählich übers Ohr gehauen wurde! Nein, solange mir das Mysterium nicht enthüllt ist, gibt es für mich zwei Wahrheiten, erstens die von dort, von jener Welt, die mir jetzt noch gänzlich unbekannt ist, und zweitens meine eigene. Und es steht noch dahin, welche davon sich als die lautere Wahrheit erweisen wird ... Bist du eingeschlafen?«

»Gott bewahre!« stöhnte Iwan grimmig. »Alles, was es Törichtes, längst Abgetanes, von meinen Verstand Wiedergekäutes und wie Aas Weggeworfenes in mir gab, tischest du mir wieder auf, als ob es wunder wie neu wäre!«

»Also hab ich's wieder nicht getroffen? Und ich hatte schon gehofft, durch diese belletristische Darstellungsweise dein Interesse zu erregen. Dieses Hosianna in der Höhe klang doch gar nicht so übel in meinem Munde, oder? Und dann eben dieser sarkastische Ton à la Heine, nicht wahr?«

»Nein, niemals bin ich eine solche Lakaienseele gewesen. Wie hat meine Seele nur einen solchen Lakaien wie dich hervorbringen können?«

»Mein Lieber, ich kenne ein ganz reizendes, allerliebstes russisches Herrchen, einen jungen Denker und Freund der [492] Literatur und anderer feinsinniger Dinge, den Verfasser einer vielversprechenden Dichtung mit dem Titel ›Der Großinquisitor‹ ... nur den hatte ich dabei ins Auge gefaßt.«

»Ich verbiete dir, vom ›Großinquisitor‹ zu reden!« schrie Iwan, über und über rot vor Scham.

»Na, und die ›geologische Umwälzung‹? Erinnerst du dich? Das ist doch wirklich ein nettes, kleines Poem!«

»Schweig, oder ich schlage dich tot!«

»Nun willst du mich gar noch totschlagen? Nein, entschuldige, aber ich muß mich aussprechen. Um dieses Vergnügen auszukosten, bin ich ja hergekommen. Oh, ich liebe die Schwärmereien meines feurigen, vor Lebensdurst zitternden jungen Freundes. ›Da gibt es neue Menschen‹, so argumentiertest du noch letztes Frühjahr, als du dich anschicktest, hierherzureisen, ›sie wollen alles zerstören und wieder mit der Menschenfresserei anfangen. Welche Toren! Warum haben sie mich nicht um Rat gefragt? Meiner Ansicht nach ist kein großes Zerstörungswerk vonnöten, man braucht lediglich die Gottesidee in der Menschheit zu zerstören; das ist der Punkt, wo man den Hebel ansetzen muß! Damit, damit muß man anfangen – o über die Blinden, die nichts begreifen! Wenn sich die Menschheit erst Mann für Mann von Gott losgesagt haben wird (und ich glaube, daß diese Periode parallel zu den geologischen Perioden eintreten wird), dann wird von allein und ohne Menschenfresserei die ganze einstige Weltanschauung und insonderheit die ganze alte Moral in sich zusammenstürzen, und etwas ganz Neues wird auf den Plan treten. Die Menschen werden sich zusammenschließen, um alles aus dem Leben herauszuholen, was das Leben zu bieten hat, dabei werden sie ausschließlich nach diesseitigen Freuden und einem diesseitigen Glück trachten. Der Mensch wird majestätischer werden durch den Geist eines göttergleichen, titanenhaften Stolzes und schließlich zum Gottmenschen werden. Dadurch, daß der Mensch allstündlich und in unbegrenztem Maß kraft seines Willens und der Wissenschaft die Natur sich untertan macht, wird er einen so hohen, immerwährenden Genuß empfinden, daß dieser ihm seine einstigen Hoffnungen auf himmlische Genüsse ersetzen wird. Ein jeder wird [493] innewerden, daß er sterblich ist, ohne jedwede Auferstehung, und wird den Tod stolz und gelassen hinnehmen, wie ein Gott. Aus Stolz wird er einsehen, daß es ihm nicht ansteht zu murren, weil sein Leben nur einen Augenblick währt, und er wird seinen Bruder hinfort lieben ohne jeglichen Lohn. Er wird seine Liebe auf den kurzen Augenblick des Lebens beschränken müssen, aber gerade durch das Bewußtsein ihrer Vergänglichkeit wird sie um so feuriger werden, genau wie sie zuvor durch die Hoffnung auf eine unendliche Liebe im Jenseits abgeschwächt wurde ...‹ Na, und so weiter in dieser Art. Wirklich allerliebst!«

Iwan saß da, hielt sich mit den Händen die Ohren zu und sah zu Boden, aber dabei flog er am ganzen Leibe. Die Stimme drang weiter auf ihn ein:

»Die Frage ist jetzt die: Glaubte mein junger Denker, daß eine solche Periode jemals eintreten könnte, oder nicht? Wenn sie einmal kommen wird, so ist alles entschieden, und die Menschheit wird sich ein für allemal danach richten. Da dies aber in Anbetracht der fest eingewurzelten menschlichen Torheit vielleicht in tausend Jahren noch nicht geschehen sein wird, so ist einem jeden, der heute bereits die Wahrheit erkennt, gestattet, sich auf den neuen Grundlagen ganz nach seinem Gutdünken einzurichten. In diesem Sinne ist ihm auch ›alles erlaubt‹. Ja, nicht genug damit. Selbst wenn diese Periode niemals eintreten sollte, wird dem neuen Menschen, da es ja keinen Gott und keine Unsterblichkeit gibt, trotzdem erlaubt sein, sich zum Gottmenschen aufzuschwingen, selbst wenn nur ein einziger auf der ganzen Welt dies erreichen sollte, und dann wird er natürlich in seinem neuen Range leichten Herzens jede einstige sittliche Schranke des alten Knechtmenschen überspringen, sofern das nötig sein sollte. Für einen Gott gibt es kein Gesetz! Wo ein Gott sich hinstellt, da ist sein Platz. Wo ich mich hinstelle, wird im selben Augenblick der erste Platz sein ... ›Alles ist erlaubt‹, und damit basta! Das alles hört sich ja sehr hübsch an, aber wenn unser junger Denker schon mal betrügen will, wozu, sollte man meinen, braucht er da noch die Sanktion der Wahrheit? Aber so ist unser moderner Russe nun einmal. Ohne Sanktion kann er sich [494] nicht einmal zum Betrügen entschließen, so sehr ist ihm die Wahrheit ans Herz gewachsen ...«

Der Besucher redete und redete und berauschte sich dabei offenbar an seiner eigenen Beredsamkeit, er erhob die Stimme immer mehr und sah seinen Gastgeber spöttisch an; aber er konnte nicht aussprechen. Plötzlich packte Iwan ein auf dem Tisch stehendes Glas und schleuderte es auf den Sprechenden.

»Ah, mais c'est bête enfin!« 11 rief dieser, indem er vom Sofa aufsprang und sich mit den Fingern die Teespritzer abklopfte. »Dir ist wohl Luthers Tintenfaß in den Sinn gekommen, wie? Dabei hält der Mensch mich für einen Traum und wirft mit Gläsern nach Traumgebilden! Das ist Weiberart! Aber ich hab mir's gleich gedacht, daß du nur so tust, als hieltest du dir die Ohren zu, in Wahrheit hast du genau aufgepaßt ...«

Hier ließ sich draußen am Fensterrahmen ein energisches, anhaltendes Klopfen vernehmen. Iwan fuhr empor.

»Hörst du, mach lieber auf!« rief der Gast, »das ist dein Bruder Aljoscha mit einer höchst unvermuteten, interessanten Neuigkeit, dafür stehe ich dir gut!«

»Schweig, Betrüger! Ich hab schon eher als du gewußt, daß es Aljoscha ist, ich hab sein Kommen geahnt, und natürlich kommt er nicht ohne Grund, natürlich bringt er mir eine Nachricht!« schrie Iwan außer sich.

»So mach doch endlich auf, mach auf! Draußen tobt der Schneesturm, und immerhin ist er dein Bruder. Monsieur sait-il le temps qu'il fait? C'est á ne pas mettre un chien dehors ...« 12

Das Klopfen dauerte an. Iwan wollte zum Fenster stürzen, aber ihm war, als seien seine Arme und Beine gefesselt. Er kämpfte aus aller Kraft, die Bande zu zerreißen, doch vergebens. Das Klopfen am Fenster wurde immer stärker und lauter. Auf einmal zerrissen die Fesseln, und Iwan Fjodorowitsch sprang vom Sofa auf. Verstört sah er um sich. Die beiden Kerzen waren fast heruntergebrannt, das Glas, das er eben noch auf seinen Besucher geworfen hatte, stand vor ihm auf dem Tisch, und der Diwan gegenüber war[495] leer. Das Klopfen am Fensterrahmen dauerte zwar immer noch an, war aber keineswegs so stürmisch, wie es ihm eben im Traum vorgekommen war, sondern sehr maßvoll.

»Das war kein Traum! Nein, ich schwöre, das war kein Traum, es war Wirklichkeit!« rief Iwan Fjodorowitsch, eilte zum Fenster und riß die Luftklappe auf.

»Aljoscha, ich hab dir doch verboten, herzukommen!« fuhr er den Bruder wütend an. »Sag in zwei Worten, was du willst! In zwei Worten, hörst du!«

»Vor einer Stunde hat Smerdjakow sich erhängt«, antwortete Aljoscha von draußen.

»Komm an die Haustür, ich mach dir gleich auf«, sagte Iwan und ging, um Aljoscha einzulassen.

Fußnoten

1 um die fünfzig (franz.)

2 Reizend (franz.)

3 das ist vornehm, das ist reizend (franz.)

4 Das ist ritterlich (franz.)

5 Ich bin der Teufel, und nichts Menschliches ist mir fremd. (lat.)

6 Das ist was Neues, nicht wahr? (franz.)

7 Was für eine Idee! (franz.)

8 es gibt keinen Teufel (franz.)

9 Ich denke, also bin ich (franz.)

10 Ach, mein Vater, es macht ihm doch so viel Vergnügen und mir so wenig Mühe! (franz.)

11 Ah, aber das ist wirklich dumm! (franz.)

12 Weiß der Monsieur überhaupt, was für ein Wetter draußen ist? Bei solchem Wetter jagt man keinen Hund auf die Straße. (franz.)

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Dostoevskij, Fëdor Michajlovič. Romane. Der Teufel. Iwan Fjodorowitschs Alptraum (Aus: Die Brüder Karamasow). Der Teufel. Iwan Fjodorowitschs Alptraum (Aus: Die Brüder Karamasow). Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-820D-1