Louise von François
Stufenjahre eines Glücklichen

[6] Wiegensegen

[6] In der Pfarre von Werben hat man den letzten freien Ausblick in das Tal, das sich von da ab zur Aue verflacht. Der Garten umzieht nach drei Seiten das Haus; gegen Mittag trennt es nur ein Fußpfad von dem rebenbepflanzten steilen Uferhange; rasch bewegt strömt unten der Fluß; seine jenseitigen Ränder steigen, mit Laubwald bedeckt, mählich empor hinter saftigen Wiesenflächen, die rings das untere Dorf nebst dem Talgute umschließen, während auf der nördlichen Hochfläche unübersehbare Korngebreite sich dehnen. Die Kirche, vom Friedhof umschlossen, wie auch weiterhin das Oberdorf, liegen eine Strecke rückwärts im freien Felde; das Schloßgut aber, mit seinen sich zum Fluß absenkenden Terrassen, steht nur auf halber Uferhöhe und zieht die Auffahrt zu ihm sich entlang einer Schlucht, deren beide Seiten von ärmlichen Frönerhütten eingefaßt sind. Die alleräußerste, die allerärmlichste von ihnen, wie ein Nest an den Felsen geklebt, ist die des Gemeindehirten, das Hutmannshaus.

So hat man in der Pfarre den Blick weder zum Grunde hinab noch zum Himmel hinan beschränkt; sie bildet ein herzerquickendes Lug ins Land; ein Odem gesunder Frische und Fülle umweht sie von allen Seiten, und gesunde, herzerquickende Menschen sind es auch, die sie bewohnen.

Es ist Johannisnachmittag; sieben Kornblumenkränze vor den Fenstern deuten den Kindersegen an, der dem Hause entsprossen ist; der Vater mustert im kleinen Vorgarten seinen Rosenflor; Stock für Stock werden die vollreifen Blüten abgeschnitten, auf daß die Knospen sich zu entfalten Saft und Raum gewinnen und die gesammelten Blätter, in der Wäschtruhe verduftend, mitten im Winter an die köstlichste Blumenzeit gemahnen.

In der Weinlaube, dicht neben der Haustür, sitzt die [7] Frau Pastorin; der Strickstrumpf ruht in ihrem Schoß und der Blick auf dem jüngsten der Sieben, das vor ihr in der Korbwiege schlummert. Es zählt erst vierzehn Lebenstage, und wäre heute nicht das Fest des Täufers, an welchem jegliches Unternehmen zum Segen gedeiht, hätte es wohl noch ein Weilchen sich in der verhüllten Wochenstube gedulden müssen. Es ist ein unruhiges, spärliches Geschöpfchen; nun aber hat die hohe, stille Junisonne und hat die Würze der Rebenblüte es dem kleinen Unhold angetan; er schläft seit einer Stunde nach Wiegenkinder Art und Pflicht.

So zart und bläßlich das Kind, so rund und rotbäckig ist die Mutter; und sie ist keine junge Mutter mehr. Sie könnte gut und gern schon Großmutter sein, und daß sie mit den Freuden und Sorgen einer Kinderstube nicht kärglich bedacht worden ist, bekunden die Johanniskränze an ihrem Haus. Dennoch hat sie den kleinen Spätling sieben Jahre lang mit Sehnsucht erwartet und sich seiner Anmeldung wie der eines Erstlings erfreut. Denn die sechs Vorläufer sind Mädchen, lauter Mädchen, und nun sollte und mußte die Siebenzahl durch einen Knaben abgeschlossen werden.

Nicht um ihrer selbst willen; Frau Hanna Blümel fühlte sich von Grund aus eine Töchtermutter, meinte auch – es ist ein Menschenalter her, daß sie also meinte, und die Meinungen ändern sich in einem Menschenalter –, dazumal aber meinte sie, daß doppelt so viel Mädchen leichter zu erziehen und dereinst leichter zu versorgen seien als halb so viel Knaben. Nein, nicht sich selbst, aber ihrem Gatten hätte sie doch so herzlich einen Sohn gewünscht, mit dem er wiederum so jung werden konnte, wie sie es zwischen ihren Töchtern geblieben war; wiederum jung werden, indem [8] er ihn durch die Reihen seiner geliebten alten Heiden und Christen führte. Und nun war es zum siebenten Mal ein Mädchen, das kein Vater durch alte Heiden- und Christenreihen zu führen Verlangen trägt, und Frau Hanna Blümel fühlte sich nahezu beschämt, als hätte sie ihren irdischen Beruf nur zur Hälfte erfüllt. Zwar hatte der fromme Herr ob der Enttäuschung weder gemurrt, noch geklagt, noch auch nur geseufzt. Er hatte einfach geschwiegen. Es gibt aber ein sehr beredsames Schweigen, und für Pastor Blümel gab es ein speziell beredsames.

Pastor Blümel war Blumist; von allen Gottesgeschöpfen liebte er keine zärtlicher als die, welche lautlos am Boden erblühen; – die, wenn auch mitunter etwas allzu lauten Menschenblüten selbstverständlich ausgenommen. »Zwischen Kindern und Blumen ist Wohlsein,« sagte er gern. Nachdem er daher seine älteste Tochter, die noch während der Leidenszeit der hehren Königin geboren ward, auf deren Namen und die beiden nächstfolgenden auf die ihrer Großmütter getauft hatte, wußte er für die drei nachfolgenden, – da seine Hanna, häuslicher Verwechslungen halber, auf eine Namensteilung verzichtete, – keine ansprechenderen zu wählen als einen von denen seiner Blumenkinder; die kluge Hausfrau aber ließ sich neben dem Luischen, Lorchen und Dorchen eine Liane, Balsamine und Erika bereitwillig gefallen. Sie sah ein Liebeszeichen in der Wahl, und das botanische Namenserbe für den Hausgebrauch gätlich in ein Linchen, Minchen und Riekchen umzuwandeln, war ja so leicht.

Nun aber hatte der Vater sein Letztgeborenes noch nicht ein einziges Mal auf seine Blumenverwandtschaft hin angeschaut, sich keine Blumenpatenschaft für dasselbe auserkoren. [9] Tauftag und Taufzeugen waren festgestellt. Die älteste Tochter sollte das Schwesterchen über das heiligende Wasser halten; der Amtsbruder Kurze in Bielitz und Frau Amtmann Mehlborn, die Gutspächterin, sollten ihr zur Seite stehen, und weil dieser guten Freundin Geburtstag heuer just auf den sechsten Sonntag nach Trinitatis, will sagen auf den Perikopentag von dem brüderlichen Versöhnungsopfer, Pastor Blümels Leibtext fiel, war es seiner Gattin leicht geworden, ihn zum Verschieben des Weiheaktes bis auf diesen Festtag zu bestimmen. Als sie nun aber auch den Namen des Täuflings in Erwägung stellte, da hatte der Vater lächelnd erwidert: »Wähle ihn nach deinem Gefallen, liebe Hanna!«

»Nach ihrem Gefallen!« deutlicher hätte er doch wahrhaftig seine Gleichgültigkeit nicht ausdrücken können! Und das inmitten des üppigsten Juniflors! Er hatte in seinem Treibbeet zum ersten Male eine neue Sommerpflanze zum Blühen gebracht; wäre es ihm beigekommen, sein Töchterchen nach ihr Gloxinia zu taufen, Frau Hanna würde kein Wort dagegen erhoben und für den Hausgebrauch dem Linchen und Minchen ein Sinchen angereiht haben. »Nach deinem Gefallen!« sie empfand die Kränkung ihres unschuldigen Lämmchens bis in den Muttergrund hinein, ja als sie heute, zum ersten Male seit zwei Wochen, den hartherzigen Töchtervater mit so viel Sorgfalt zwischen seinen Blumenkindern walten und dabei so achtlos an der kleinen Menschenblüte in der Wiege vorüberschlendern sah, da hätte sie vor Entrüstung Tränen vergießen mögen; und Frau Hanna Blümel hatte wohl schon manchmal Kummertränen und öfter noch Freudentränen geweint, eine Träne der Entrüstung aber hatte ihr noch nie die guten, klugen Augen getrübt. Sie beugte sich über die Wiege und küßte ihr [10] kleines Mädchen so ungestüm, als ob sie es durch doppelte Zärtlichkeit für den Abbruch an Vaterfreude entschädigen müsse.

Aber die Liebe macht schlau und Mutterliebe am schlausten. Als sie den grausamen Vater sich wieder einmal der Laube nähern hörte, zog Frau Hanna das Gesicht hastig unter dem Wiegenhimmel hervor, lehnte sich auf der Bank zurück und setzte ihre Stricknadeln in Bewegung. In ihrem anschlägigen Haupte war ein verwogenes Stratagem reif geworden; in heller Kampfeslust hatten die Wangen sich noch eine Schattierung höher als in Friedenszeiten gefärbt, und aus den blauen Augen blitzte ein lächelnder Trotz: »Dir soll und wird zu deinem Recht verholfen werden, du unschuldige Kreatur!«

Die unschuldige Kreatur unterstützte die mütterliche Kriegslist durch verdrießliches Gemurr. Ob sie der Schlummerruhe, die durchaus nicht in ihrem Temperament zu liegen schien, überdrüssig, ob sie durch den ungestümen Kuß vor der Zeit aus derselben geweckt worden war: kurzum sie murrte, und das Murren schlug in Greinen um, just als der Vater herantrat, seine Rosenernte darzubieten. Frau Hanna beachtete weder das Greinen noch die Ernte; die Stirn in krause Falten gezogen, strickte sie mit Vehemenz.

»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna,« mahnte der Vater. Frau Hanna nahm die fünfte Stricknadel zwischen die Lippen, zog die Brauen in die Höhe und zählte die Maschen ihres Strumpfes.

Pastor Blümel schob das schwarze Käppchen von der Stirn zurück, wischte die Brillengläser mit dem Taschentuche ab und blickte in hellem Wunder auf das befremdliche Gebaren. Er stand noch mehr wie seine Gattin in dem [11] Alter, wo Elternfreuden, selber bei einem Landpfarrer, Ausnahmen werden; er schaute auf eine mehr als zwanzigjährige Ehe zurück, aber noch nie hatte er sein frohgewilltes Weib ärgerlicher Laune gesehen, noch niemals seine Stirn gefurcht und die Lippen mißmutig herabgezogen wie heute. Und das umwogt von Balsamdüften und bei einem Anlaß, der das Mutterherz zu inbrünstigem Danke stimmen mußte!

Das Kind schrie jetzt jämmerlich; die Mutter schien über dem Klappern der Stricknadeln taub geworden zu sein.

»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna!« wiederholte der Vater mit ängstlicher Miene.

Sie biß die Lippen übereinander und strickte, als ob es auf der Welt nichts so Wichtiges wie eine Strumpfhacke fertigzubringen gäbe. Der Vater setzte sich an ihre Seite und begann die Schaukel der Wiege zu treten; das Kind schrie und strampelte merklich mit den Beinchen.

»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna!« sagte der Vater zum dritten Male, diesmal mit vorwurfsvollem Klang.

»So laß doch den Schreihals!« versetzte die Mutter, ohne aufzublicken. »Mädchen querelen allemal ärger als Knaben!«

Pastor Blümel schüttelte den Kopf und trat die Schaukel immer eifriger. Er beugte sich über die Wiege, versuchte die Bänder des Wickelbettchens zu lösen und betrachtete aufmerksam das kleine, vom Schreien kirschrote Gesicht. »Ein herziges Püppchen!« meinte er nach einer Weile. »Es sieht dir ähnlich, liebe Hanna.«

»Mir?« widersprach sie. »Dir ists wie aus den Augen geschnitten, Konstantin.«

Der Pastor schüttete seinen Rosenkorb über die Wiegendecke [12] und kitzelte das kindliche Stumpfnäschen mit einer Zentifolie; die Kleine ward für einen Moment still, nieste dann und verzog die Lippen zu einem Lächeln, was bei Wickelkindern ein Zeichen des Unbehagens ist und einen demnächstigen Ausbruch gewärtigen läßt. Der Vater aber erwiderte das Lächeln, nickte seinem Töchterchen zu und sagte:

»Die Kleine spürt wahrlich schon den Rosenduft! Oder meinst du, Hannchen, daß sie auf dem Weiß der Decke die bunten Farben unterscheidet?«

»Sie wird eine Blumennärrin werden,« spottete die Mutter. »Derlei unnütze Steckenpferde sind fast immer ein Tochtererbe. Wäre es ein Knabe – –«

»Würde er jetzt schon mit Stricknadeln spielen, gelt?« unterbrach sie lächelnd der Vater. »Wie vereitelte Wünsche dich doch betören, Hanna!«

»Dich etwa nicht, Konstantin?«

»Gott verhüte es! Nun ja, warum sollte ich es leugnen? Ich habe bei jeder Aussicht auf Elternfreuden, also siebenmal, einen Sohn erhofft. Hatte der Vater sein Genügen, so hätte der alte Pädagog doch gern mit einem Knaben seinen Plutarch noch einmal vorgenommen, der Diener im Amt sich gern einen Nachfolger herangezogen. Mir war mitunter, als ob ich vor der Zeit – wie soll ich nur sagen? – nun ja, zusammenschrumpfe, als ob bei der Bildung eines Sohnes, – ja lächle nur, Hannchen, – ich noch wachsen könne. Als aber der Herr für den Sohn, den er versagte, mir – –«

»Sieben nichtsnutzige Mädchen bescherte, die von alten Heiden den Kuckuck verstehen, menschliche Wesen zweiter Klasse, Mitteldinger zwischen Aff und Mann –«

»Frevle nicht, Weib!« rief der Pfarrer schier entsetzt. [13] »Versündige dich nicht! Wie wirst du eines Tages deinem Gott noch dafür danken, daß dieses Kind wiederum ein Mädchen war! Vota Diis exaudita malignis! Das heißt: Böswillige Götter erhören unsere Wünsche, sagten die alten Heiden, deren du soeben höhnend erwähntest, weil du sie nicht verstehst, liebe Hanna, nur weil du sie nicht verstehst, da sie in manchen Gebieten heute noch uns weit überlegen sind. Was uns aber himmelhoch über sie erhebt, ist, daß wir eines Vaters Weisheit verehren, wenn uns die natürlichsten Wünsche versagt, die teuersten Hoffnungen zunichte werden. Und darum, Hanna, werden wir unser kleines Mädchen lieben, nicht nur als unser Fleisch und Blut, sondern auch als einen besonderen Gottessegen. Es lag eine Absicht in dieser Gabe, die wir uns mühen wollen zu verstehen. Und dann, Hannchen,« – setzte er nach einer kleinen Pause tröstend hinzu – vielleicht nur sie, vielleicht auch ein wenig sich selbst, – »Hannchen, es braucht ja just noch nicht die letzte Hoffnung zu sein.«

»Hilft der Himmel – doch!« rief Mutter Hannchen mit dem hellsten Farbenklang der Aufrichtigkeit.

Das Kind hatte, wie sein Lächeln angedeutet, während des Vaters erbaulicher Rede seiner Schreilaune in wahrhaft erschrecklicher Weise die Zügel schießen lassen. Das Schaukeln verschlug nicht mehr; der Vater mußte es aus der Wiege heben und auf den Armen schwenkend es vor der Laube hin und wieder tragen, bis die roten Deckelchen sich von neuem über die Augen senkten. Die Mutter blickte mit verstohlener Rührung auf die absonderliche Gruppe; sie überlegte, ob ihr diplomatisches Kunststück schon im ersten Angriff gelungen sei, hielt es indessen für geraten, der Krise bis auf weiteres zuwartend ihren Lauf zu lassen. Sie strickte, aber gelassener, und begnügte sich, nachdem ihr [14] Konstantin die Kleine wieder in der Wiege untergebracht, derselben hinter seinem Rücken die Lage etwas behaglicher herzustellen.

Der Pfarrer hatte die Laube verlassen; in ernsten Gedanken ging er den Gartenweg auf und ab. Wie sollte er sich die naturwidrige Verfassung seiner Gattin erklären? Sie, bisher die verkörperte Mutterlust, am ersten Tage der Genesung, unter dem strahlenden Johannishimmel, umwogt vom Weihrauch der Sommerblüte, plötzlich die Seele voll Unmut, die Rede eitel Sarkasmen, Verdruß, ja Zorn gegen ein unschuldiges Kind! Und das lediglich aus dem Grunde, daß dieses Kind sich unter ihrem Herzen zu einem Wesen ihrer eigenen Gattung gestaltet hatte! Konstantin Blümel hatte in seiner persönlichen Konstitution, wie in der seiner Familie, Gott sei Dank! wenig Bekanntschaft gemacht mit den geheimnisvollen Zwischenträgern, die nur allzu häufig Hader auf Leben und Tod unter den gewaltigen Zweiherrn Leib und Seele anzustiften pflegen. In diesem außerordentlichen Falle konnte er indessen lediglich auf eine krankhafte Überreizung der Nerven infolge des Wochenbettes schließen, und so viel sah er ein, daß in gegenwärtigem Stadium es verlorene Mühe sein werde, mit christlicher und menschlicher Pflichtenlehre direkt gegen die Dämonen zu Felde zu ziehen. Um sich greifen durfte er, als Seelsorger und Vater, das Unheil indessen auch nicht lassen, und so gelangte er zu dem Beschluß, auf einem Umwege die Gedanken in die natürliche Bahn zurückzulenken, so wie etwa der Dichter eine zuträgliche Moral dem Volke im Gewand der Fabel zu Gemüte führt. Er kehrte in die Laube zurück und hob an, indem er sich an der Seite seiner Gemahlin niederließ:

»Ich habe dir, liebe Hanna, noch nicht von meinem[15] gestrigen Abendgange durch das Dorf erzählt. Du warst, als ich heimkehrte, ruhebedürftig, und ich war erregt wie immer, wenn ich mit dem Hutmannshause in Berührung komme. Der bloße Anblick schneidet mir in das Herz! Ein derartig menschenunwürdiges Obdach am Eingange zu einem wohlangesehenen Edelhofe, – ja fürwahr, kein feiner Ruhm würde es zu nennen sein, hätte unsere gnädige Herrschaft diesen ihren Erbsitz in der neuen Provinz jemals in Obacht genommen.«

»Eine Sünde und eine Schande nenne ich es, Konstantin, ohne Wenn und Aber,« entgegnete Frau Hanna.

Ihr Eheherr seufzte. »Was dem Auge fern ist, ist es dem Herzen auch,« sagte er darauf. »Dazu, wir wissen es ja, die finanzielle Lage! Der leidige Kriegszustand hat schon manchen reichen Grundbesitzer zu einem Ärmling gemacht.«

»Den von Werben mehr der Friedens- als der Kriegszustand, Konstantin.«

Pastor Blümel tat, als hätte er den Widerspruch nicht gehört.

»Und was den Pächter betrifft,« fuhr er fort, »so können Reparaturen aus eigenem Säckel dem Manne billigerweise doch auch nicht zugemutet werden.«

»Ei, warum denn nicht, Konstantin?« wendete Frau Hanna ein in ihrem allernatürlichsten munteren Ton. Ob sie die Rolle der Rabenmutter vergessen hatte oder, siegessicher, sie fortan für überflüssig hielt – genug, sie lachte, und ihr feiner Seelsorger lächelte. »Ihn, den Pächter, haben weder Kriegs- noch Friedenszeiten zum Ärmling gemacht. Mittel sind da! ist des Großhansen Spruch, und woher stammen die Mittel als aus den Vorteilen der Pachtung, die von Vater auf Sohn den Mehlborns zugute gekommen sind?«

[16] »Erweisbar doch aber nur gesetzlich gestattete Mittel, Hanna!«

»Lehre mich meinen Harpax kennen, Konstantin!« eiferte Frau Hanna, worauf ihr gern entschuldigender Konstantin anführte, daß ohne eine streng erhaltsame Ader ein Bauer, trotz aller Arbeit, es nicht zum Wohlstand bringen werde, in bezug auf den Großhansen indessen nicht umhin konnte zuzugestehen, daß dem Manne dieser Wohlstand samt der adligen Verschwägerung einigermaßen zu Kopfe gestiegen seien.

»Indessen,« setzte er hinzu, »wem schadet er durch seinen Sparren als sich allein? Bei aller Klugheit merkt er bis jetzt noch nicht, daß er die Zielscheibe des Spottes geworden ist. Eines Tages aber wird er es merken und – es tut mir immer weh, liebes Hannchen, wenn ich dich unter den Spöttern sitzen sehe.«

»Aber Konstantin, wozu wären denn die Narren gut, wenn man nicht einmal über sie lachen dürfte?«

»Es ist ja eine so alltägliche Narretei, Hanna; in alten wie neuen Komödien bis auf die Grundneige ausgenutzt, langweilig oder traurig je – –«

»Im Gegenteil, Konstantin; ein Sonntagssparren ist es, der kurzweilig wirkt durch den Kontrast. Wie es Quartalstrinker gibt, die durch einen periodischen Rausch sich für die Alltagsnüchternheit entschädigen, so sticht auch unseren Bauer nur in Pausen eine nobele spanische Fliege, und in der Zwischenzeit ist er ein Grobian und ein Filz der ersten Sorte. Man käme aus der Erbosung nicht heraus, wenn seine Narretei den Patron nicht dann und wann ein bißchen erträglicher machte.«

»Warum willst du dich nicht aber lieber an die gesunden Kräfte halten, die allen Schäden und Schrullen zum Trotz[17] – Adams Erbteil, liebe Hanna, in irgendeiner Weise keinem seiner Kinder erspart! – sich in seiner Natur behauptet haben? An seine Tüchtigkeit, Mäßigkeit, Unermüdlichkeit und – ich will nicht das höchste Wort gebrauchen, aber ich bleibe dabei, daß ein schlechthin unredliches Geschäft dem Manne weder nachzuweisen, noch auch nur zuzutrauen wäre. Wie zum Magnaten ist er auch zum Schwindler, Gott sei Dank! allzu standfest ein Bauer.«

»Das heißt ein Schlaukopf, der das Risiko eines Schwindels scheut!« rief Frau Hanna, welche jetzt unwiderstehlich aus der tragischen Rolle in ein lustiges Lieblingsthema verfallen war. »Aber warte nur, warte, du mein titulierter Herr Rittergutsbesitzer und Baronin spe! bei der ersten Lektion, welche die gräfliche Exgouvernante dir wieder in der höheren Tafelkunst erteilt – wir sind beim Gabelführen mit der linken Hand stehen geblieben, Konstantin! – bei der nächsten Quartalsschrulle soll das baufällige Hirtenhaus dir recht erbaulich zu Gemüte geführt werden, und für ein neues Schindeldach vor Winters, dafür mindestens, Konstantin, bin ich dir gut.«

»Nun mache es nur gnädig mit deinem alten Zögling, Hannchen,« versetzte der Pfarrherr lächelnd. »Glückt es dir aber mit dem Schindeldach, so freue dich, daß dasselbe noch den armen Freys, das heißt den Ärmsten der Gemeinde zugute kommen wird. Auf meine Vorstellung hat der Herr General ihnen das Wohnungsrecht in einem der Frönerhäuser wie bisher zugestanden, wenn auch weder die Gemeinde, noch der Amtmann zu bewegen war, den Klaus über den Johannistermin hinaus als Schäfer beizubehalten. Gestern hat er die Herde zum letzten Male ausgetrieben.«

Der gütige Mann seufzte bei den Worten; seine Hanna dagegen erklärte die Gemeinde und in diesem speziellen [18] Falle sogar den schnöden Amtmann für durchaus in ihrem Recht.

Wie hatte sie, Frau Hanna nämlich, den Klaus seit Jahr und Tag gemahnt, gewarnt, gescholten! Wer nicht hört, muß fühlen. Die vermaledeite Schenke lag dem Hutmann, ob er aus- oder eintrieb, allemal bei Wege. Die Herde wurde seinen wilden Buben, wenn nicht gar dem alten, lahmen, blinden Phylax überlassen, und die gutmütigen Schäfchen sind lange nicht so dumm, wie sie aussehen: sie wissen fette Wiesen einem abgeweideten Anger vorzuziehn. Der Ungehörigkeiten – gelinde ausgedrückt –, die bei der vorjährigen Schur vorgekommen sind, noch gar nicht einmal zu gedenken.

Der Pfarrer konnte diesen Bezichtigungen leider nicht widersprechen, setzte aber milde hinzu: »Schuld geht fast jedem Elend und Ungeschick fast jedem Mißgeschick voran, liebe Hanna. Werden Elend und Mißgeschick aber weniger erbarmenswert, oder etwa erbarmenswerter, weil sie sich erweislich, sei es aus unsern Handlungen, sei es aus unsern Unterlassungen entwickelt haben? Und wenn wir hier ein Gemeinde glied auf abschüssiger Bahn sinken sehen so tief, wie meiner Zeit noch keines gesunken ist, vom ansässigen Bauer zum Schafhirten und von diesem – –«

»Zum Tagedieb und Strolch!«

»Dieses Äußerste abzuwenden war der Zweck meines gestrigen Weges, liebe Hanna. Helfen, das heißt dauernd Arbeit geben, kann allerdings nur der Amtmann; bis dieser aber seinen Widerwillen gegen den Klaus überwunden haben, bis er, bei kaum vermeidlichen Rückfällen des Arbeitsscheuen, zu christlicher Langmut zu bewegen sein wird, – was meinst du, mein Hannchen, wenn wir den Klaus zunächst unsere Spargelbeete umrajolen ließen?«

[19] »Aber, Konstantin, damit hat es ja noch Jahr und Tag Zeit!«

»Mit dem Spargelbeet allerdings, Hannchen, aber mit dem Klaus hat es Eile.«

»Eile mit Weile, Konstantin! Die Ernte steht vor der Tür, und die Spargelbeete laufen nicht davon, bis einmal die Arbeit nicht haufenweis bei Wege liegt. Aber erzähle doch deinen Dorfgang zu Ende. Du warst auf des Klausen abschüssiger Bahn angelangt. Nun weiter!«

»Ja, weiter,« seufzte der Pfarrer. »Der Mann ist schuldig, unleugbar schuldig, Hanna. Aber ebenso unleugbar ist er zu entschuldigen. Er ist ein Bauernsohn, aber ihm fehlte nun einmal das Erbe jeglichen Bauernsinns und Schicks; daß ich so sage eine Mehlbornsche Ader. Und an schlimmen Zufälligkeiten, wie wir törichterweise das Unberechnete, oder vielleicht Unberechenbare nennen, hat es wahrlich auch nicht gefehlt. Neun lebendige Kinder, und das zehnte vor der Tür! Könnte halbwegs ein Gotteslästerer da nicht versucht sein auszurufen: Herr, halt ein mit deinem Segen! Schon das Aufbringen, welche Last und Qual! Und sind sie endlich so weit: wie die Vöglein, wenn sie flügge geworden, fliegen sie hinaus in die Welt, und hülflos, unfähig zur Hilfe, haben die Erzeuger das Nachsehen. Des Klausen Weib, die arme Kreuzträgerin, ist eine Mutter nach Gottes Herzen. Aber wußte sie ein Wort davon, als ihr Erstgeborener, der Gardist, im Lazarett mit dem Tode rang? Und hätte sie darum gewußt, würde sie zur Pflege an seine Bettstatt haben eilen dürfen? Oder, was konnte sie für ihren Zweitgeborenen, den blöden Friede tun, als er, kaum eine Stunde von ihr fern, vom Gänsejungen zum Kuhjungen und vom Kuhjungen zum Pferdejungen herangeprügelt wurde, bis auch ihn schließlich der [20] heilsame Korporalstock unter seine Zucht genommen hat? Ein Glück, daß den jüngeren Sieben die gleiche Schule in Aussicht steht. Neun Jungen! Prachtjungen! Wahre Enakssöhne, geborene Flügelmänner, einer wie der andere! Der Stolz eines Vaterlandsfreundes und die Lust eines wohlgerichteten Vaterherzens! Hanna, Hanna! Wer ermißt aber die sonderbare Führung, welche dem einen das Heißersehnte hartnäckig versagt und dem anderen es bis zum Übermaß, bis zur Überlast verleiht?«

Frau Hanna zog bei dieser unerwarteten Rückfälligkeit die glatte, rosige Stirn in die allerkrausesten Falten; sie ließ das Kind, welches, weil es wiederum zu murren begonnen, sie auf ihren Schoß zu nehmen im Begriffe war, so unsanft, als sie es über das Herz brachte, in die Wiege zurücksinken und rief, indem sie ihm eine Faust machte: »Da hörst du's, unnütze Mädchenkreatur! die ärmsten Hirtenbuben wachsen ohne Zuck und Muck zu Flügelmännern und Vaterlandsverteidigern heran, während ihr, armselige Jammerbasen – –«

Der Vater hatte auf dem falschen Wege, in den er sich verirrt, erschrocken innegehalten. Er trat wieder energisch die Schaukel, fächelte das Gesichtchen mit seiner Zentifolie, bis die roten Augendeckel wieder zufielen, und lenkte, ohne seine Hanna ausreden zu lassen, nach seinem eigentlichen Ziele zurück.


»Der Klaus saß auf einem Klotz seiner Tür gegenüber; er mochte das Valet von seiner Herde einem der Buben überlassen haben und eben erst aus der Schenke heimgekehrt sein, denn der Fuseldunst qualmte ihm gleichsam aus dem puterroten Schädel, und halb im Taumel – ganz in Taumel gerät er schon längst nicht mehr – glotzte er in das Blaue [21] hinein. Der Schenkwirt ist auch schuldig, hauptschuldig, Hanna. Wozu er keinen Besseren hat, hat er den Frey, und der Frey ist ihm gewärtig – leider ihm allein – und wäre es mitten in der Nacht; denn jeder eilige Botenweg, jeder noch so gröbliche Dienst wird statt mit Brot oder Geld mit den eklen Branntweinneigen bezahlt, die kein Gast mehr mag. Mein Gang, ich sah es, war verfehlt; wozu hätte in dieser wüsten Verfassung mein Arbeitsvorschlag führen sollen? Ich stellte mich, als ob ich den Mann nicht bemerkte, indem ich den Kopf nach dem engen Hofraum drehte, auf dessen magerem Dunghaufen das junge Hirtenvolk sich mit ein paar Hühnern und Ferkeln herumjagte. Das liebe Vieh eitel Haut und Bein, die Menschenbrut pausbäckige Apfelgesichter! Das gedeiht wie durch Wunder bei allem Unflat und Hunger.«

»Ich würde sagen, Konstantin,« wendete die Pastorin ein, »das gedeiht, weil eine brave Mutter den Unflat alle Tage wieder abwäscht und kämmt und weil die Brosamen von unserer Amtmännin Tische so reichlich fallen, als die Batzen aus des sauberen Herrn Amtmanns Tasche knapp. Aber weiter, Konstantin. Du redetest den Klaus also nicht darauf an?«

»Ich nicht ihn, aber er mich, Hanna. – ›Sie kundschaften wohl nach Ihrem Dezem, Herr Pastor,‹ fragte er mit schmunzelndem Hohn. – Du mußt wissen, Hanna, mit dem Dezem, da meinte er, landläufig, das Zinshuhn, das auf der armen Frönerhütte lastet, und das am Johannistermin regelmäßig in Erinnerung zu bringen der Kantor törichterweise noch immer für seine Schuldigkeit hält.«

»Du solltest den Beyfuß darum loben, Konstantin. Ordnung muß sein, und Recht bleibt Recht. Der reichste Hofbesitzer [22] beruft sich schließlich auf den armen Fröner, dessen Zinshuhn eingeschlummert ist.«

Pastor Blümel seufzte tief. »Hanna,« sagte er darauf, »den Tag, an welchem die langgeplante Ablösung dieses widerwärtigen Opfers an Korn und Blut zu einer Wahrheit wird, den Tag wollen wir feiern wie ein zweites Hochzeitsfest.«

»Insofern die Welt auch bei uns nicht ein bißchen auf den Kopf gestellt werden sollte, wird es mit dem Feste Weile haben, Konstantin,« entgegnete Frau Hanna lachend. »Denn gehts ans Steuern, greift der Bauer immer noch eher in den Sack als in den Säckel. Aber weiter, Freund, was gabst du denn dem Kujon auf seine Unverschämtheit zurück?«

»Ich entgegnete ihm einfach, daß ich nicht um des Huhnes willen gekommen sei, wie selbiges ja auch bisher alljährlich von mir gestundet worden.« Worauf der Spottvogel dann kichernd erwiderte:

»Weil mein Gezücht der Frau Pastorin in ihren Suppentopf nicht fett genug ist, gelt?«

»Ei, du Höllenbraten!« rief die Pastorin mit drohender Faust. »Aber warte nur, warte! Nun auf diesen Dank, Konstantin, hast du, will ich hoffen, deinem Beichtsohne doch gebührentlich gedient?«

»Gebührentlich, Hanna, ich schwieg. Leider indessen nicht beharrlich genug; denn als auf meine ablenkende Frage nach seiner Frau der Klaus mir gleichmütig erwiderte, daß sie seit Morgens auf der Gutswiese mit Heuwenden beschäftigt sei, da, ich gestehe es mit Scham, übermannte mich Wort um Wort der Zorn, welcher, wie gerecht auch immer der Anlaß, für einen in meinen Jahren und in meinem Amte doppelt sträflich ist, daher ich mich denn auch über [23] die herbe Lektion, die er mir eintrug, nicht beklagen darf. ›Scheut Ihr Euch nicht der Sünde,‹ fuhr ich auf, ›das Weib, das Euch neun Söhne geboren hat...‹

›Ist es meine Schuld, Herr Pastor,‹ höhnte der Klaus, ›daß kein Mädchen drunter ist, das mir derweile zu Hause eine Suppe kochen könnte?‹

›Das Weib, das zum zehnten Male ihrer Stunde entgegensieht – –‹

›Hätte ich was dawider, Herr Pastor, wenn sie ihr nicht entgegensähe?‹

›Das arme, schwache Weib hetzt Ihr in dieser Johannisglut zu saurer Arbeit hinaus –‹

›Hetz ich sie, Herr Pastor? Sie geht von alleine.‹

›Während Ihr, baumstarker Mann, ein Simson von Gestalt und Kraft –‹

›Schön Dank, Herr Pastor, für den frommen Vergleich.‹

›Die paar Heller, welche die Arme im Schweiße ihres Angesichts erwirbt, in der Schenke verschlemmt –‹

›Wohl bekomms dem Herrn Pastor, daß er seinen Durst im eigenen Keller löschen kann!‹

›Und dann daheim, die Hände im Schoß, in giftigem Kraute verqualmt.‹

›Kann ich mit Feuer dienen? Das Pfeifchen ist dem Herrn Pastor ausgegangen?‹

Dieser letzte Spott, Hanna, traf mich wie ein Natterstich. Ich spürte eine Blutwoge vom Herzen zum Hirn und vom Hirn zurück zum Herzen treiben. Nun ja, ich hatte geraucht. Du weißt, Hanna, ich rauche niemals unter meinen Kindern und niemals unter meinen Blumen; das heißt niemals, wenn ich mich erhole. Aber ich rauche, wenn ich mich anstrenge, und ich strenge mich an auf meinen einsamen [24] Abendgängen durch Dorf und Flur. Da suche ich Anknüpfungen für die Erbauungsstunden im Gotteshause und für die Seelsorge in jedem Gemeindehause. Denn leider ist es ja so, daß ich nach zehnjährigem Wirken denen, auf die ich wirken soll, noch immer nahezu ein Fremdling geblieben bin. Es fehlt ihnen zu mir der sympathische Heimatszug, dessen der Pfarrer mehr als jeder andere Lebensgenosse bedarf. Da möchte ich denn mein Gemüt recht weit auftun, daß sie es verstehen lernten bis auf den Grund, und ich möchte meine spürenden Sinne schärfen, daß das, was not tut, denen, die Gott mir gegeben hat, auch wohltue. Darum rauche ich, Hanna. Und wahr ist es und bleibt es, es prickelt ein seltsamer Reiz in diesem Kraut; aufräumend das Hirn, anregend Auge und Ohr, unschätzbar für den Arbeiter im Geist. So ungefähr wird denn auch wohl die Vorhaltung gelautet haben, mit welcher ich mich vor dem Klaus gleichsam zu rechtfertigen suchte; möglich jedoch mit etwas ungebärdigeren Worten; denn der Mensch grinste, während er Stahl und Stein aneinander schlug, recht hämisch vor sich hin, und auf jede meiner Thesen gab er gleichsam eine Antithese, die mir die Galle immer leidenschaftlicher erregte.

›Also für Ihre Sonntagsepistel rauchen Sie, Herr Pastor? Kurios! habe ich doch immer gedacht, die könnte einer ohne Tobak fertigbringen.‹

Wie ich nun aber, als Folgerung meines Vordersatzes, die gesundheitlich und wirtschaftlich verderbensvollen Wirkungen des Tabaksgiftes auf die bloßen Handarbeiter, das heißt auf die ungeheure Mehrheit des Volkes hervorzuheben begann, da schlug der Mensch eine wilde Lache auf und sagte, indem er mir den brennenden Schwamm hinüberreichte:

[25] ›Na, lassen Sie's gut sein, und dampfen Sie, Herr Pastor. Es ist die alte Geschichte. Tausende sollen sich placken und schinden mit trocknem Speichel und wüstem Hirn, auf daß ein einziger Tobak rauchen und seinen Kopf für eine Sonntagsrede aufräumen kann. Das wird so des lieben Herrgotts natürliche Ordnung genannt. Wenn aber einer von den Tausenden auch einmal seinen Kopf aufräumt, um zum wenigsten in Gedanken eine Sonntagspredigt zu halten, da heißt er ein Rebeller gegen die göttliche Ordnung, und das höllische Feuer ist nicht heiß genug für ihn.‹

Auf diese Rede schwieg ich und ging. In mir wirbelte es und wogte es. Was hatte ich mir bieten lassen müssen und von dem elendesten meiner Gemeindeglieder! Ich konnte nicht also bald zurück unter die Stätten der Menschen, auch nicht in meine eigene. Hinaus in die friedsame Natur. Ich schlug den Wiesenweg ein; anfangs mit ungestümen Schritten, allmählich gelassener. Die Sonne war gesunken, vom Abend her wogte ein goldener Flor über Himmel und Fluß; im Morgen stieg schon die Nacht empor, die stille, heilige Täufernacht. Ich sog den süßen Heubrodem wie einen Balsam in die Brust; ihre Unruhe löste sich; jenes Etwas kam über mich, das wir Weihe nennen, jenes seltene Etwas im Weltverkehr. Mir war, als ob alle Schleier des Daseins sich senken, alle Klüfte des Menschengeistes sich füllen müßten, und wie durch Zauber stand plötzlich der trunkene Tagedieb Frey vor mir, ein anderer Mann, der vielleicht, zu welchem sein Schöpfer ihn erschaffen hatte. Lerne deinen Feind begreifen, und du wirst ihn lieben lernen, nicht mit Menschenliebe, aber mit Heilandsliebe. Und da sagte ich mir denn und sage es heute noch, Hanna: der Mann, in welchem der Schenkendunst sich zu so ätzendem [26] Geifer zersetzt, das ist kein Alltagskopf, Hanna; wahrlich, wahrlich, er ist es nicht. Dieser Mann war von Natur vielleicht ein Genie; ein Halbgenie will ich lieber sagen, denn ihm fehlte jenes Bruchteil von Kraft, das zum Vollbringen wie zum Entsagen unerläßlich ist und mit welchem auch er die Fesseln des Erdengeistes gesprengt haben würde.

Dein Schicksal, Hanna, und meines stiegen neben dem seinen in meiner Erinnerung auf. Du, die brotlos gewordene Erzieherin, ich, der brotlos gewordene Erzieher, wir waren hundertmal ärmer als dieser Mann und sein Weib, als wir in bitterböser, vaterländischer Zeit, vertrauend auf Gott und unsere Liebe, die Hände ineinander legten. Aber wir waren von Haus aus richtig gestellt. Der Kandidat und seine Frau haben manchen Hungertag und manche Kummernacht durchringen müssen, aber sie arbeiteten mit ihren natürlichen Kräften in der Mädchenschule und im Jünglingsauditorium. Und dieses mühselige Tagewerk unterbrach die mannhafte Erhebung des Vaterlandes. Auch der arme Kandidat schied von Weib und Kind; hochgeschwellt die Brust, stürzte er sich in den befreienden Strom. Wiederum eine Tat des Geistes! Und der ewige Herr hat die Getrennten emporgehalten in dem Strudel von Blut und Not, hat sie liebend einander wieder zugeführt in dem erlösten Vaterlande, hat ihnen in der neuerworbenen gedeihlichen Provinz eine Heimstätte erschlossen, wo sie frohgemut ihr Tagewerk weiterführen in der göttlichen Forschung und der Reinigung der Herzen, den beiden Endpunkten, um welche jegliche Geistesarbeit sich bewegt. Würden sie, an ein Handwerkszeug gebannt, das nämliche Ziel erreicht haben?

Siehe dahingegen diesen hohngeblähten Mann, dessen Geist im Schenkenqualm verdunstet; würde er ein Ärmling, [27] ein Trunkenbold und Strolch geworden sein, wenn ihm statt des Dreschflegels und des Pflugs, die er mißmutig regierte, die Leuchte der Wissenschaft, nach der er sich sehnte, in die Hand gegeben worden wäre? Die Alten der Gemeinde erzählen, daß es nie mals einen eifrigeren Schüler unter ihnen gegeben habe als den Frey. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf den Advokaten zu studieren. Pfarramt und Anwaltsstube sind ja heute noch so ziemlich die einzigen Zielpunkte geistigen Strebens, die der Bauer kennt und anerkennt. Aber der Klaus war ein Erbsohn; der Vater hielt ihn mit Gewalt im Knechtsdienste fest auf dem Hofe, über welchen er eines Tages als Herr gebieten sollte. Voll Grimm und Groll entwich er und wurde Soldat. Er ist heute noch ein beherzter Mann. Du weißt, Hanna, wie er sich bei der Feuersbrunst in Bielitz hervorgetan hat. Es war schreiendes Unrecht, daß, um seines üblen Leumunds willen, der Landrat verweigerte, ihn zur Rettungsmedaille einzugeben. Die Anerkennung hätte ihm ein Sporn auf gute Wege werden können. Dazumal durchlebte er im Dienste der Fremdherrschaft die gleißende Niedertracht seiner vaterlandslosen Zeit und Zone, und als er nach Jahren heimkehrte, war die letzte Spur von Bauernemsigkeit und Zucht in ihm erloschen. So seine Konstellation. Würde er mein Ziel erreicht haben an meiner Statt?«

Der Pfarrherr schwieg, und seine Gattin schwieg auch. Sie hätte auf die wunderliche Frage nicht ja sagen können, und das Nein wollte ihr doch auch nicht flott über die Lippen; schon darum nicht, weil ihr Kleinglaube ihren Konstantin, ihren edlen, herrlichen Konstantin betrübt haben würde. Nach einer gedankenvollen Pause fuhr der Pfarrer fort:

»Sind es nicht aber gleichsam Stiefkinder der Natur, jene Ungezählten, die der allerhärtesten Tyrannei erliegen, [28] der eines aufgepfropften Geschicks, das zu erfüllen oder zu bewältigen sie nur halb die Erkenntnis und halb die Ausdauer haben? Hier die Last eines Zuviel, dort die Leere eines Zuwenig! Stiefkinder der Natur und doch Gotteskinder! Wer löst den Widerspruch? Aber milde soll es uns machen, milde und hülfreich, Hanna, wenn wir solch einen Halbbruder im Geist falsch gestellt oder verirrt am Abgrunde taumeln sehen. Nicht die Gerechtigkeit, die Versöhnung ist der Ankergrund der sittlichen Welt.«

Von neuem versank der Pfarrer in seine Gedanken, und auch diesmal störte seine Hanna ihn nicht. Er grübelte über den Halbbruder im Geist, und ob er letztlich nicht dennoch sich zu einem Kinde Gottes emporziehen ließe? Sie grübelte über den Tagedieb Frey, und ob er letztlich nicht doch noch durch rechtschaffene Arbeit vor dem Korrektionshause zu bewahren sei? Im Grunde grübelten demnach beide brave Eheleute, die sie waren, über ein und das nämliche.

»Deine Geschichte ist wohl zu Ende, Konstantin?« fragte endlich die Frau. Sie hatte ihr Problem früher gelöst als der Mann, und es prickelte ihr in Händen und Füßen, ihren Plan zur Tat werden zu lassen.

»Noch nicht ganz, Hanna,« versetzte der Pfarrer, indem er nicht ohne Anstrengung die ursprüngliche Pointe der Erzählung in sein Gedächtnis zurückrief. »Am Kreuzwege zwischen Dorf und Stadt begegnete mir des Klausen Frau. Himmlischer Vater, wie abgehärmt und abgezehrt schlich sie einher, als zählte sie siebenzig Jahr! Und sie ist doch noch im blühendsten Alter, von deinem Jahrgang, Hannchen, und deinen Namen trägt sie auch. Sie hatte bei Wege an den Rainen das Abendfutter für ihre Ziege abgesichelt und schleppte nun schwer an der doppelten Last, denn ihre [29] Stunde ist nahe. Aber kein Klagelaut entschlüpfte ihren Lippen; kein Wort der Anklage gegen den schlimmen Mann, der sie so weit gebracht. Wahrlich, wahrlich, die Hanne Frey ist ein Weib nach Gottes Herzen! Ich mußte an unseres Pestalozzi herrliche Gertrud denken. Sie wünschte mir Glück zu der Geburt unseres Töchterchens und setzte mit einem Seufzer hinzu: ›Ach, wenn doch nur einer von meinen Neunen ein Mädchen wäre, daß es mir beistände in der Wirtschaft und für mich einträte, wenns einmal vollends mit mir zum Ausspannen kommt. Sie werden sehen, Herr Pastor, diesmal übersteh ich die Kampagne nicht.‹

Ich tröstete sie, so gut ich mit halbem Glauben es zu tun vermochte, meinte, daß ihr Verlangen nach einer Tochter ja wohl diesmal erfüllt werden könne und daß sie sich nach dem Wochenbett zu ihrer früheren Rüstigkeit erholen werde. Sie schüttelte traurig den Kopf. ›Wie Gott will!‹ flüsterte sie nach einer langen Stille. ›Er ist ja der Vater der Waisen.‹ Und dabei schlug sie die eingesunkenen Augen gen Himmel mit einem Blick, den ich bis in meine Sterbestunde empfinden werde. Und damit ist meine Geschichte zu Ende, liebe Hanna.«

Über Frau Hannas guten blauen Augen lag ein feuchter Flor. Sie hatte die Moral der Geschichte wohl gefaßt, wollte etwas sagen, schluckte, räusperte sich und lief dann, ohne es gesagt zu haben, dem Hause zu. Unter der Tür machte sie halt, trocknete sich die Augen und kehrte dann, lachend über das ganze Gesicht, in die Laube zurück. »Ich habs!« rief sie schon von weitem, »Konstantin, ich habs! Ich gebe dem Amtmann alle Sonntage eine französische Stunde, und der Amtmann gibt dafür dem Frey Arbeit in seinem Schacht. Steinklopfen lohnt. Des Klausen Brustkasten ist heil und vom Schacht zur Schenke ein gehöriges [30] Ende. Du schüttelst den Kopf, Konstantin? Der Amtmann tuts nicht, meinst du? Ei, er soll schon, Konstantin. Der alte Narr mit dem urdeutschen Namen brennt auf Fremdwörter, und jedes Fremdwort heißt ihm französisch. Wie lange quält er mich schon um die feine Konversation. Eh bien, Monsieur Mehlborn, so oder so: keinen Klaus im Schacht – keine feine Konversation!«

Pastor Blümel lächelte und wünschte gedeihlichen Erfolg, meinte jedoch, daß, da die Grammatik füglich erst nach Tauffeier und Kirchgang aufgeklappt werden dürfe, zuvor mit dem Rajolen der Gartenbeete ein Anfang gemacht werden müsse.

Frau Hanna erwiderte weder ja noch nein, sie eilte zum zweiten Male dem Hause zu, kehrte indessen pflichtschuldigst wieder um, als sie ihren Eheherrn freundlich ihren Namen rufen hörte.

»Ich werde einen Johannisstrauß für die arme Gertrud – ich meine für die arme Hanne Frey schneiden,« sagte er. »Vielleicht daß du, liebe Hanna, aus deinen Schatzkammern dem Erfreulichen etwas Nützliches beizufügen hättest. Eine unserer Töchter würde dann noch vor Abend die kleine Spende der guten Frau hinuntertragen.«

Frau Hanna nickte einverstanden; nachdem sie in Gedanken blitzschnell Musterung unter ihren Vorräten gehalten, flog sie zum dritten Male dem Hause zu, wurde aber zum zweiten Male von ihrem Konstantin zurückgerufen. »Noch eins, Hannchen,« sagte er, indem er ihre Hand faßte. »Bist du über den Namen, welchen unsere Kleine tragen soll, schlüssig geworden?«

Der Mutter klopfte das Herz; es galt die Probe auf ihr Exempel. »Ich hatte an Konstanze gedacht,« antwortete sie lauernd; »weil sie dir doch so ähnlich sieht, Konstantin.«

[31] »Sie sieht dir ähnlich, Hannchen,« versetzte der Vater. »Was meinst du, wenn wir sie Rose nennten?«

Pastor Blümel hatte mit dieser Wahl keineswegs eine ehemännische Galanterie bezweckt, und sie wurde auch keineswegs als solche aufgenommen. Dennoch erglänzte das Muttergesicht wie von inwendigem Sonnenleuchten. Stumm vor Glückseligkeit küßte Hanna ihrem Konstantin vielleicht zum erstenmal im Leben die Hand, riß das Kind aus der Wiege, preßte es an ihr Herz und flog mit ihm in das Haus. Die siebente Tochter, auf welche der Vater den Namen seiner stolzen Lieblingsblume übertragen hatte, die spärliche kleine Rose würde, die Mutter wußte es, der Liebling seines Herzens werden.

Pastor Blümel starrte dem Schatten von Mutter und Kind noch eine lange Weile, nachdem er im Hausflur verschwunden war, mit Wunderblicken nach. War es die einfache Erzählung von der unglücklichen Neunsöhnermutter, welche das verstimmte Seeleninstrument der glücklichen Siebentöchtermutter zurückgestimmt hatte auf seinen reinen Kammerton? Oder, oder – – wie Schuppen begann es von seinen Augen zu fallen, – sollte er, der das Studium des Menschenherzens zu seiner vornehmsten Aufgabe gemacht hatte, nach einer zwanzigjährigen Ehe in seinem nächsten Herzen zum erstenmal den alten Satz bestätigt finden, daß auch die aufrichtigste Frau zuzeiten eine Larve trägt? Eine häßliche Larve über einem lieben Gesicht; der Fall soll umgekehrt öfter vorkommen. Pastor Blümel wiegte nachdenklich sein ergrauendes Haupt, lächelte aber dabei sogar ein wenig schelmisch vor sich hin, klappte dann sein Taschenmesser auf und begann den Johannisstrauß für das arme Hirtenweib zu schneiden.

Wie er nun so wählend und bindend die Rabatten auf [32] und nieder schritt, hörte er durch die offnen Wohnstubenfenster die helle Stimme seiner Hanna, welche einer der Töchter den Auftrag gab, flink die gute Freundin, Frau Amtmann Mehlborn, zu einem Besuche in die Pfarre zu entbieten, und leicht war ja zu schließen, um welches Anliegen es sich bei dem Entbote handelte. Denn die Pastorsfrau und die Pächtersfrau fügten sich und griffen ineinander, wie es von guten Freundinnen nicht immer zu rühmen ist. Die eine wußte zu leben, die andere hatte zu leben; die eine, von Haus aus gebildet, war ihrem Gatten zu Liebe und Hülfe der Bauernart in einem gewissen Sinne vertrauter geworden als der Gatte selbst; die andere, von Haus aus eine Bäuerin, war in einem gewissen Sinne so gründlich aus der Bauernart geschlagen, als ihr darüber hinausstrebender Gemahl zäh darin wurzelte; die eine hatte sieben Töchter, die ihr Freude machten; die andere nur eine einzige, die ihr Sorge machte; der einen war der Stammhalter versagt, der anderen genommen; Frau Rosine verfügte über einen vollen Wirtschaftssäckel, Frau Hanna über einen knappen; beide halfen gern; die letztere mit ihrem offnen Kopf, die erstere mit ihrer offnen Hand, und daß das Zusammenwirken von Rat und Tat heute solche Eile hatte, dafür war von Pastor Blümel selbst ja just der Anstoß gegeben worden: Klaus Frey, der schlimme Patron, sollte schleunigst in die Kur genommen werden.

Pastor Blümel schüttelte daher von neuem und bedenklicher als vorhin das ergrauende Haupt, als er dem freundschaftlichen Entbot einen unerwarteten Nachtrag folgen hörte. Im Fall – so hieß es – die Frau Amtmännin, der Heuernte halber, heute nicht abkömmlich sei, solle Luischen ihr vorläufig mitteilen, daß der gute Vater die kleine Schwester Röschen nennen wolle, weil die Frau [33] Amtmännin Rosine heiße und in ihrer Jugend doch auch Röschen genannt worden sei. Die Frau Amtmännin werde sich über die Aufmerksamkeit freuen und ihr Patenkind darum desto lieber haben.

Zum zweiten Male seit einer Viertelstunde ertappte der treue Seelenhirt auf einem Schleichwege das Weib, welches er ein Vierteljahrhundert lang zu kennen geglaubt hatte, gründlicher als sich selbst – denn wer ist schwerer gründlich auszukennen als einer selbst? – Auf einem blumenbesetzten Wege, es ist wahr, im Pfadsuchen nach einem Herzen; aber doch auf einem berechneten, hinterhältigen, zweideutigen Wege! »Evas Töchter, Evas Töchter, die ihr alle seid!« murmelte Konstantin Blümel und war entschlossen, den Tag nicht vorübergehen zu lassen, ohne seinem anderen Ich die fälschliche Auslegung des Heilandswortes von der Schlangenklugheit klargemacht zu haben.

Sein Luischen huschte nickend an ihm vorüber, den Weg zum Schlosse entlang, die übrigen Kinder tummelten sich im Obstgarten, wo heute die ersten Kirschen gepflückt worden waren; die litauische Lene, die sämtlichen Blümelschen Nachwuchs gewartet hatte und den Eltern aus der alten Heimat in die neue gefolgt war, hantierte auf dem Bleichplatze hinter dem Hause; darin war es seelenstill.

Den Rosenstrauß für die Hirtenfrau, würdig einer Prinzessin, in der Hand und eine Strafpredigt auf den Lippen, stieg der Pfarrer die Treppe hinan; die Tür der Kinderstube stand nach dem Flur geöffnet; sie war die räumlichste des Hauses, da sie dessen ganze Morgenseite einnahm. Frau Hanna hatte in ihrem Eifer die leisen Tritte überhört, sie kauerte am Boden vor der Wäschkommode und musterte ihr Kinderzeug; ein Geschäft, in welchem ein guter Hausvater nicht stören soll, zumal wenn [34] es die erste Musterung nach einer Wochenpause ist. Wie leicht kann eine Nummer verzählt, ein Untätchen übersehen werden! Fach für Fach war ausgekramt, Stück für Stück gegen das Licht gehalten worden, um sorgfältig zu drei Teilen abgesondert zu werden. Sämtliche noch ungebrauchte Hemdchen, Windelchen und dergleichen, neuerdings eigenhändig gesponnen und gefertigt, kamen als Vorrat in das untere Fach zurück, vielleicht für den lange zögernden, immer noch denkbaren Sohn, vielleicht aber auch erst für eine spätere Generation; denn eine Mutter von sieben Töchtern rechnet auf Enkelfreuden und -sorgen. Die zweite Abteilung, die zwar schon Spuren einer Geschichte in der Kinderstube trug, aber noch keine, die irgend unheil zu nennen waren, wurden zu jezeitigem Gebrauch in den oberen Fächern geordnet; wo aber fadenscheinige Stellen im Flanell oder Stopfflecke im Linnen augenfällig geworden, da fanden die Stücke ihren Platz auf einem blaugewürfelten Federkissen, das abseits am Boden lag, um schließlich durch eine Wickelschnur zusammengefaßt zu werden.

Der heimliche Lauscher wartete das weitläufige Geschäft nicht ab; er kannte seinen Zweck, und dieser Zweck hatte Eile; leise legte er seinen Strauß auf das blaugewürfelte Federkissen und stieg hinab in sein Studierzimmer, das am Ende des unteren Flurs gelegen war und in der Familie das geistliche Gemach genannt wurde.

Wo in einem ländlichen Pfarrhause für ein Häuflein Kinder auskömmlich gesorgt, auch der Gastfreundschaft nach Neigung und Christenpflicht Rechnung getragen werden soll, da erübrigt für das geistliche Gemach nur ein schmaler Raum. Und buchstäblich ein schmaler Raum war es denn auch, in welchen Konstantin Blümel sich jetzt zu stiller Sammlung zurückzog, aber einer, der auch den fremdesten [35] Gast vertraulich angeheimelt haben würde, denn nicht nur das Wesen des Bewohners spiegelte er wider, sondern auch seinen Lebensgang, so wie er ihn diesen Nachmittag sich selbst und seiner Gattin in das Gedächtnis zurückgerufen hatte: ein friedlich dahingleitender Bach, der nur ein einziges Mal, aber mit unvergänglich befruchtenden Spuren, im Sturmeswogen der Zeit sein Gelände übertreten hatte.

Das einzige Fenster war von außen grün umrankt; die ersten Sonnenstrahlen blinkten morgens durch das zarte Laub, vom Garten herauf grüßten die Blumenkinder. Längs der weißgetünchten Wände liefen Repositorien von rohem Holz; links auf ihnen mahnten die alten Heiden, rechts die alten Christen bis einschließlich Martin Luther an des geistlichen Herrn Schüler- und Lehrerzeit. Die jüngeren Christen waren verhältnismäßig schwach vertreten, da das Amt in der Gemeinde, der Familie und im Blumengarten weder Zeit noch Reiz zu neuen geistigen Bekanntschaften allzu häufig aufkommen ließ; indessen deutete dieses und jenes Exemplar schon durch sein Äußeres auf einen häufigen Verkehr und hatten die beiden großen Landsleute Kant und Herder sogar auf dem Schreibtische dauernd Platz gefunden, zu ihnen auch, als dritter, der treue Menschenfreund Pestalozzi sich gesellt.

Dieser Schreibtisch, nebst zwei Stühlen das einzige bewegliche Zimmergerät, füllte den Fensterbogen; von schlichtem Tannenholz, mit Wachstuch bezogen, bildeten die alte silbergekrampte Familienbibel und ein aus Elfenbein geschnitztes Kruzifix seinen einzigen Schmuck. Über dem Kruzifix aber hing, in Glas und Rahmen gefaßt, des Königs Aufruf »An mein Volk« und inmitten desselben des friedlichen Pfarrherrn tapfer erworbenes Eisernes Kreuz.

[36] Und hier in seinem häuslichen Allerheiligsten, den beiden Kreuzen gegenüber, saß nun der friedliche Pfarrherr, und es wollte ihm lange nicht gelingen, die wechselnden Eindrücke der letzten Stunden in seinem Innern glatt und gleich zu legen.


Wenn Konstantin Blümel erregt war, vollzog sich vor seinem geistigen Auge ein Prozeß des Wachsens und Wandelns, der sonst nur Kindern, Dichtern und schwärmerischen Liebhabern für eigentümlich gilt. Und doch ist mehr als ein Menschenalter verlaufen, seitdem Konstantin Blümel ein Kind geheißen hat, und insofern zu einem Dichter wesentlich gehört, daß er Gedichte macht, ist er nichts weniger als ein Dichter, denn er hat sich selbst in der sangquellenden Jünglingszeit zu keiner einzigen Liedesstrophe gedrungen gefühlt; was aber den Liebhaber anbelangt, so hat er seine Hanna zwar geliebt und liebt sie heute noch als sein anderes Ich, just darum aber keineswegs als einen Engel. Sie, seine Hanna, nannte ihn einen Idealisten und war gütig genug, sich zu freuen, wenn seine optimistische Gabe ihm manche innerliche Trübung löste, und geschickt genug, ihm zu helfen, wenn sie ihn nach außen hin in mancherlei Wirrnis verstrickte.

Hatte diesen Nachmittag nun sein dürftiges Töchterchen sich in eine blühende Rose umgewandelt, ein braves, beladenes Hirtenweib sich zu einem Dichtergebilde verklärt, des Weibes lästerlicher Gespons wohl gar sich ausgereckt zu einem revolutionären Advokatengenie, dem zu einem Danton oder Robespierre nichts als – Gott sei Dank! – der Boden fehlte, auf dem es sich entwickeln durfte, so blieben nach alledem Herz und Hirn doch immer noch von unlösbaren Problemen geschwellt. Die ungeahnte Schlangenempfänglichkeit [37] seiner Eva hatte er zwar vor der Hand auf dem blaugewürfelten Federkissen zur Ruhe gebracht, dafür aber plusterte sich in der behelligendsten Weise das dürre Dezemhuhn des Exhirten Klaus zu einem grausamen Raubvogel auf. Er vermochte sich von der Vorstellung dieser Ungebühr, zu deren Praxis er nicht nur berechtigt, sondern schlechthin verpflichtet war, nicht loszureißen, und die Blicke auf das Ehrenzeichen über dem Kruzifix gerichtet, verfiel er in schier rebellische Untersuchungen über die Vereinbarlichkeit derartiger »Gelübde und Opfer« mit einer Zeit, in welcher das Eiserne Kreuz gestiftet worden war, und über den Widerspruch der Pflichten, dem selbst im friedfertigsten bürgerlichen Berufe, dem des Priesters, das Gewissen des Christen und Menschen nicht zu entgehen vermag.

Wie er es in beunruhigenden Stimmungen zu halten pflegte, schlug er endlich seine Erbbibel auf und las im dritten Buch Mose das siebenundzwanzigste Kapitel, auf welches das Zehentopfer sich gründet, von A bis Z; las, obgleich er es von Jugend ab auswendig wußte, es zum zweiten Male, und als er endlich die Krampen wieder schloß, hatte er keine andere Lösung gefunden, als die ihm von jeher die natürliche gewesen war. »Du sollst deinen Weinberg nicht genau lesen und dem Armen und Fremdling etwas übriglassen,« sagte er vor sich hin, indem er sich erhob mit dem Vorsatze, zugunsten des Exhirten Frey auf die Spargelernte einiger Jahrgänge zu verzichten.

Die Sonne hatte sich während seiner Betrachtung gesenkt, es dämmerte im geistlichen Gemach, die Stunde drängte zu dem gewohnten Vespergange durch das Dorf. Er griff nach Hut und Stock, er griff auch nach seiner Pfeife; aber nein; die Pfeife ließ er heute im Winkel stehen. Im Begriffe, nach der Tür zu gehen, hörte er vom Flur aus [38] harte Tritte und einen ungewohnten Lärm in seine Stille dringen.

Die nämlichen Tritte, den nämlichen Lärm hörte verwundert auch die Hausfrau, als sie die Treppe herabkam, das blaugewürfelte Bündel, blumengekrönt, Tochter Lorchen zur schleunigen Besorgung zu übergeben. Die Haustür war wuchtig aufgerissen worden, eine hünenhafte Gestalt stapfte den Flur entlang, um im Dämmerlicht des geistlichen Gemaches zu verschwinden; eine zweite folgte ihr, schattenhaft schwankend, unter Ächzen und Stöhnen.

»Was gibt es, Beyfuß?« fragte die Pastorin.

Keine Antwort.

Mit weitgeöffnetem Munde, nach Atem ringend, die Hände zusammenschlagend über dem schweißtriefenden Haupt, stürmt der Kantor dem Hünen nach. Die Hausfrau hinterdrein bis unter den Rahmen der Tür. Hier steht sie starr. Sie sieht ihren Mann, der vor jachem Schreck auf seinen Stuhl zurückgetaumelt ist, mit beiden Armen ein Bündel umspannen, dem ähnlich, das sie selber in der Hand hält, – aber nicht blumengekrönt! Es ist ihm von der Tür aus zugeschleudert worden, und noch steht der Hutmann Frey mit emporgehobener Faust auf ihrer Schwelle.

»Da habt Ihr Euren Dezem, das Weib ist tot!« brüllt er mit der Stimme eines Wütigen und stürmt, wie er gekommen, aus dem Hause.

Die drei im Zimmer starren ihm nach, regungslos, sprachlos eine lange Weile.

»Das Weib ist tot!« haucht kaum hörbar endlich der Pfarrer.

»Tot!« schluchzt die Pastorin.

»Tot!« bestätigt der Kantor mit Stentorstimme.

Frau Hanna faßt sich. Vor ihren Augen ist es klar[39] geworden; sie nimmt das Bündel von ihres Gatten Schoß, um, dicht an das Fenster tretend, es zu enthüllen. In einen zerfetzten Frauenrock ist etwas Festes eingewickelt: Frau Hannas Hände zittern. Ein Kind! Ein Kind, nackt und bloß, wie es aus dem Mutterleibe gekommen, aus dem erstarrten Mutterleibe! Ein Knabe – der zehnte Sohn! Die Tränen eines Vaters und einer Mutter träufeln auf den Leib der Waise.

Während dieser Untersuchung hatte Kantor Beyfuß die Erläuterung des unerhörten Geschehnisses vorgebracht; weit ausholend, umständlich, so, als gäbe der einzige Augenzeuge eines kriminalistischen Falles den Tatbestand zu Protokoll. Freilich vor einem Gerichtshof mit tauben Ohren.

Der Kettenhund in der Schenke hat seit ein paar Tagen die Laune. Bei dieser Johannisglut die Laune! Da schwant dem Wirt nichts Gutes. Am besten ein Ende mit dem alten Vieh. Mein Klaus, nicht faul, würgt es ab. Der Wirt mag mit dem Salär nicht geknausert haben, denn des Klausen Schädel raucht sozusagen, als Kantor Beyfuß, der just in seiner Eigenschaft als Küster, das heißt Adlatus des Herrn Pastors, seinen Termingang hält, ihn vor sich her taumeln sieht. Nicht weit vom Hirtenhause holt er ihn ein und bringt das Dezemhuhn in Erinnerung. Der Klaus schlägt eine wiehernde Lache auf und rennt in das Haus. Der Kantor steht im Hofe auf der Lauer, denn ein Gewieher ist keine Replik, und Recht bleibt Recht. Kaum drei Minuten, und der Klaus stürzt wieder heraus, vergleichbar nicht einem Menschen, nicht einmal einem trunkenen Menschen, sondern einem rasenden Bullen. Die Wehmutter hinter ihm drein. Sie will ihm ein Pack entreißen, das er mit beiden Fäusten umklammert hält; sie ringt mit ihm; er macht sich los. »Das Kind, das Kind!« schreit [40] die Wehmutter, »er wills ersäufen!« Der Wüterich rennt voran, der Kantor hinterdrein; ein paar Nachbarn, die just vom Heuen kommen, sind auch nicht faul. Keiner hält mit dem Riesen Schritt. Immer vorwärts, das Paket im Arm: nach der Wasserseite etwa? Gott bewahre! Die Schlucht hinan, am Schlosse vorbei, durch das Dorf, in die Pfarre und – »bums, da liegts!«

Lange bevor die Erzählung ihr Ende erreichte, hatte Frau Hanna das Neugeborene in ihre Kinderstube getragen, es auf ihr Bett gelegt und Licht gezündet. Es war ein wohlgebildeter Knabe, so kräftig, wie zehnte Kinder wohl nur selten geboren werden. »Die letzten Blutstropfen deiner Mutter sind dir zugute gekommen, mein armes Lamm,« flüsterte Frau Hanna mit einem weheleidigen Blick auf ihr eigenes Lämmchen; dann aber faltete sie die Hände zum Dank, daß diesem schwächlichen Wesen die pflegende Mutterhand erhalten worden sei, und was sie in der Stille des Herzens sich gelobte, das wird in der Geschichte eines Glücklichen zu erlesen sein. Ein sonniges Lächeln breitete sich über ihr gutes Gesicht; sie badete den Kleinen in ihres Töchterchens Wanne, kleidete ihn – nicht aus dem Inhalt des blaugewürfelten Bündels –, sondern aus ihres Töchterchens Garderobe, reichte ihm die erste Nahrung aus ihrer Brust und bettete dann den zehnten Sohn zu der siebenten Tochter unter dem Wiegenhimmel. Sie lagen nebeneinander wie ein Zwillingspärchen und schlummerten unbekümmert um Lebens Leid und Lust.

Währenddessen war der Pfarrer, die Hände auf dem Rücken, die Blicke am Boden, ohne einen Laut zu äußern, das geistliche Gemach auf und ab geschritten. Tief im Herzgrunde lag das Problem gelöst; aber wel che schwere Gedankenrätsel hatte es aufgewirbelt! War es ein heimliches [41] Ahnen und Mahnen gewesen, das ihn zur Zeit der Katastrophe im Hirtenhause so unwiderstehlich in die Betrachtung des Zehentopfers bannte? War es ein unbewußtes Regen des Vaterherzens gewesen, das den trunkenen Mann im Rasen der Verzweiflung zu einer rettenden Liebestat entflammte? Der Pfarrer hatte in seinem Sinnen nicht ein Wort vernommen von den philosophischen Bemerkungen über die menschliche Niedertracht im allgemeinen und die des Klausen Frey im besonderen, welche sein Adlatus dem Bericht über die Vorgänge im Hirtenhause angereiht hatte. Als die Pastorin sich unbemerkt der Tür wieder näherte, hörte sie den Philosophen sagen:

»Ich stehe noch immer starr und steif, Herr Pastor. Ist so ein Malefiz auf dieser Erdenwelt schon dagewesen! Seinen leiblichen Wurm splinterfasernackig, wie ihn Gott geschaffen hat, aus dem Hause zu tragen, – ins Wasser etwa? Nun freilich, es wäre eine Mordtat gewesen, aber in der Rage – nach Gelegenheit – sozusagen verzeihlich. Ja, prosit die Mahlzeit! Hinauf in die Pfarre schleppt er ihn, sozusagen in Abrahams Schoß schleppt er ihn! Herr Pastor, Herr Pastor! dieses menschliche Individuum ist hundert Prozent boshaftiger, aber tausend Prozent weniger dumm, als es das Aussehn hat. Mich soll nur wundern, wie der Kujon die Leiche unter die Erde schwindeln wird.«

Das Wort »Leiche« schlug an des Pfarrers Ohr wie der erste Hahnenschrei an das eines Träumenden. Gescheucht aus seinem metaphysischen Ideengange, gemahnt an seinen nüchternen Arbeitstag, richtete er den Kopf in die Höhe und sprach: »Beyfuß, ich halte der edlen Gertrud – ich meine der Hanne Frey – einen Sermon.«

Der Kantor prallte drei Schritte zurück. »Einen Sermon, [42] Herr Pastor? Einen Taler vier gute Groschen, Herr Pastor! Und ich habe mir im stillen schon den Kopf zerbrochen, wie ich nur den halben Gulden für den Segen auftreiben will!«

»Beyfuß,« wiederholte der Pfarrer mit Nachdruck, »ich halte der Hanne Frey einen Sermon. War sie darum weniger unsere Schwester, weil sie ein Lumpenkleid trug? Und kann ein Weib mehr für die menschliche Familie tun, als wenn es ihrem Verbande zehn kräftige Glieder einreiht?«

»Liebliche Rangen!« murmelte der Kantor.

Aber sein geistlicher Oberherr ließ sich nicht dadurch beirren.

»Angenommen – die Statistik soll es leider lehren, und Sie sind ein Rechenmeister, Beyfuß, angenommen also, daß von vier Kindern des Volks im Durchschnitt eines leiblich oder sittlich Schaden leidet, daß demnach von den zehnen der Hanne Frey ungefähr zwei – –«

»Zwei und ein halbes, Herr Pastor!«

»Abzuzählen wären, so bleiben immer noch ihrer acht zum Segen der Welt. Und sind wir nicht Staatsbürger, Beyfuß? Kann ein Weib mehr für das Vaterland tun, als wenn es zehn, oder sagen wir nur acht kraftvollen Verteidigern das Leben gibt, ja das des jüngsten sogar mit ihrem eigenen Leben erkauft? Das Wochenbett ist das Schlachtfeld der Frauen! Zwei von ihren Söhnen tragen bereits des Königs Rock, die anderen werden ihn tragen – –«

»Jawohl, im Zuchthause, Herr Pastor, wie ihr sauberer Erzeuger, wenn er das Leben behält. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Klaus Frey war von Haus aus keine unedle Natur,[43] Beyfuß, und Söhne schlagen im Temperament gewöhnlich nach der Mutter. Diese Mutter aber war eine gottgefällige Frau in all ihrer tiefen Not. Sie hätte einen Lebenslauf am Altar und eine Predigt von der Kanzel verdient – –«

»Einen Taler fünfundzwanzig Silbergroschen, Herr Pastor!«

»Aber die Welt liegt im argen. Der Mann ist tiefer herabgekommen als jemals ein ansässiges Gemeindeglied; die Frau in ihren Lumpen und ihrem Plack hat sich nicht regelmäßig zum Gotteshause halten können; eine Andacht innerhalb der Kirche würde als unziemlich aufgenommen werden, darum – –«

»Stimme ich allenfalls für eine Rede im Hof, mit Ehren zu melden, eine Mistrede, für sechzehn gute Groschen, Herr Pastor!«

»Der beschränkte Raum verbietet sie hier, Beyfuß, und der letzte Segensakt ist allemal am weihevollsten dort, wo wir den geöffneten Erdenschoß unter uns und den ewigen Himmelsschoß über uns sehen. Es bleibt bei dem Grabsermon, alter Freund!«

»Und was soll aus dem armen, nackten Johannisküchlein werden, Konstantin?« fragte vortretend jetzt die Frau Pfarrerin.

»Ei nun, mein Hannchen,« versetzte der Pfarrer lächelnd, »da es nun einmal als gebührender Dezem uns in das Haus getragen worden ist, wirst du es wohl bis auf weiteres in deinem Hühnerkorbe heranziehen müssen.«

Frau Hanna lachte froh auf; ihr Freund Beyfuß jedoch blickte erbarmungsvoll zu ihr hinüber. »Ein zweites Wickelkind zu dem ersten. Eine schwere Last in Ihren Jahren, wertgeschätzte Frau Pastorin.«

[44] »Ein Splitter von unseres Heilands Kreuz,« entgegnete Konstantin Blümel mit aller Würde der Liebe; »für den Seelenschatz eine segenbringendere Reliquie, als die in irgendeinem Heiligenschrein angebetet wird. Beyfuß, es bleibt bei dem Sermon!«

Frau Hanna küßte ihrem Konstantin heute zum zweiten Male die Hand, und Kantor Beyfuß empfahl sich mit dem Wunsche einer geruhsamen Nacht.

Sein Wunsch ging in Erfüllung; die Mutter hatte seit zwei Wochen die erste ruhsame Nacht, denn ihr kleines Schreihälschen tat neben dem schlummernden Wiegenbruder nicht Zuck und Muck.

Am anderen Tage erhandelte die Pastorin durch die Vermittlung Kantor Beyfußens, für gewisse Verrichtungen auch ihres Adlatus, von dem Witwer Frey die Ziege, für welche seine Frau das Futter abgesichelt hatte mit ihrer letzten Kraft und Liebessorge; denn sie hegte ihre »Heppe« für das Kind, das ohne Mutterbrust gedeihen sollte. Und es war eine brave, erkenntliche Ziege; sie tat ihre Schuldigkeit nicht nur an der Waise ihrer ersten Futterfrau, sondern auch an dem Nesthäkchen der zweiten, dem ihr Überfluß zugute kam. Der murrende kleine Spärling ründete, rötete, beschwichtigte sich von Tag zu Tage. Ob die Johannissonne das Gedeihen bewirkt hat, ob die Ziege, oder die Nachbarschaft des stämmigen Wiegenbrüderchens –? Wer wills entscheiden?

Wider alle Siebenschläferregel lachte am Bestattungsnachmittag der Hutmannsfrau der Himmel blau und goldig, wie bestellt für einen Sermon am offenen Grabe. Das Gefolge war so bescheiden wie die Frönerhütte, aus der es sich bewegte; auch Kantor Beyfußens männliche Schuljugend, welche dem vorangetragenen Kreuze nachtrabte, [45] nur schwach vertreten. Auf dem Gottesacker jedoch drängte es sich Kopf bei Kopf. Selber eine Armenleiche ist ein Schauspiel, das auf dem Lande ungern versäumt wird; heute aber hatten die Ehren einer Mittelleiche, welche der elenden Tagelöhnerin erwiesen werden sollten, auf die Beine gebracht, was sich irgend von der Heuernte abzumüßigen vermochte; und niemals hatte Pastor Blümel an einem offenen Grabe wärmer und, was die Hauptehre war, länger gesprochen. Hätte den schweizerischen Seelenfreund das Leidwesen getroffen, seiner Gertrud den letzten Nachruf halten zu müssen, er würde nicht rühmlicher gelautet haben als der der armen Hanne Frey. Nein, weniger rühmlich! Denn auf das Helden-und Martertum von zehn der Welt geschenkten Söhnen konnte, bei aller Trefflichkeit, das Weib des Lienhard vor Gott und Welt sich doch nicht berufen.

Wie aber die Heldin des Lebenslaufs sich nach dem Liebesmaße des Seelenfreundes gemodelt hatte, so war dessen Schatzkästlein auch das Textwort entlehnt, das neben dem vom seligen Leidtragen dem Sermon zugrunde gelegt worden war:

»Die Freude über unsere Kinder ist die herrlichste Erdenfreude. Sie macht das Herz der Eltern fromm und gut; sie hebt die Menschheit empor zu ihrem Vater im Himmel. Darum segnet der Herr die Tränen solcher Freude und lohnt den Menschen jede Vater treue und jede Muttersorge an ihren Kindern.«

In den mannigfaltigsten Modulationen, wie in einer fuga libera seines Bach, durchzog diese Melodie Pastor Blümels oratorisches Meisterstück.

Wenn Pastor Blümel indessen die Hoffnung gehegt, durch diese Melodie die Vatertreue in dem Herzen des Witwers Frey aufzuwecken, so hatte er seine Rechnung [46] buchstäblich ohne den Wirt gemacht. Klaus Frey war durch den Erlös seiner Ziege für ein paar Tage zum Krösus geworden und während dieser Tage nicht ein einziges Mal in dem Hause eingekehrt, aus welchem die Gegenwart der Leiche den sonst so furchtlosen Mann mit spukhaftem Grauen scheuchte. Er hatte sich von Schenke zu Schenke in der Gegend umhergetrieben, die Nächte in einem Totenschlafe auf irgendeinem Heuschober hingebracht und selber zu dem letzten Geleit von dem Wirte mit Gewalt getrieben werden müssen. Nun heulte und schrie er freilich, zerraufte sein Haar und würde in die offene Grube getaumelt sein, hätte die Leichenfrau ihn nicht am Rockzipfel festgehalten. Aber es waren Schenkentränen, die er vergoß, und ein Schenkentaumel, der seine Füße schwanken machte; das beseligende Leidtragen und die Vatertreue, die empor zum Himmel hebt, hatten an sein Ohr geschlagen als eitel Schall.

Auch die fünf, welche von den Söhnen am Grabe standen, starrten nur stumpf und dumpf auf das letzte schwarze Bretterbett der Mutter. Die beiden Soldaten wußten um ihre Verwaisung noch nicht einmal, und die beiden halbwüchsigen, die auf sie folgten, wußten wohl darum, denn sie dienten auf Nachbardörfern, hatten aber des Heuens wegen nicht zur Leiche kommen können. So waren es nur die fünfjüngsten, welche der Mutter die letzte Ehre erwiesen, und diese fünf erfüllte das Behagen, von der gutmütigen Amtmannsfrau für die Trauerfeier gründlich satt gemacht und nach Möglichkeit herausstaffiert worden zu sein. Der kleine Christel zupfte an dem schwarzen Flor, der an seiner Pudelmütze flatterte, und Hannes, der allerkleinste, nagte an einem Wurstzipfel, den er bei Wege in den Mund geschoben hatte; die drei größeren aber hatten genug zu tun, die Leichenfrau beim Festhalten des Vaters zu unterstützen. [47] Das beseligende Leidtragen schlug an das Ohr der Kinder, die nie etwas von heiliger Vaterfreude gespürt, erst recht als ein Schall.

Was nun aber die zuhörende Gemeinde anbelangt, so machte die erhebende Grabrede geradezu böses Blut. Wenn solche Ehre dem Weibe eines Taugenichtses widerfuhr, was blieb dann für die reputierlichen Leute, die Spesen und Dezem nicht hinter die Esse schreiben? Ist es eine Tugend, zehn Kinder zu kriegen? Eine Sünde und eine Schande ists, wenn sie statt des Zinshahns dem Pastor in den Schoß geworfen werden müssen, und wo der Mann zum Schelmen und Säufer wird, wird es mit der Frau auch allemal einen Haken haben. So und noch weit ärgerlicher gingen Gemunkel und Gemurmel von Mund zu Mund; insonderheit die wohlgestellten Familienmütter fühlten sich in ihren Ehrenrechten gekränkt. Doch auch die Väter schüttelten bedenklich die Köpfe. Gut meinte er es ja, ihr »neuer« Pastor; wer wollte etwas dawider haben? Aber diese preußischen Raupen!

»Landsmann bleibt Landsmann, Nachbar!« sagte der Schulze Thränhard zu dem alten Walbe.

In ein Herz jedoch drang die Rede von der heiligendsten Erdenfreude wie ein Erlebnis, und aus zwei Augen rannen warme, beseligende Muttertränen. Das waren die Augen und das Herz der guten Pfarrersfrau, die, auf dem einen Arm das eigene Kind und auf dem anderen das verwaiste, unter der Pforte stand, welche aus ihrem Garten in den Friedhof führte. Die Johanniskränze auf den Gräbern waren noch nicht völlig abgewelkt, der Jasmin am Zaune blühte, es duftete wie Weihrauch in dem engen Gehege, und die hohe Junisonne leuchtete gleich einem Gottesblick. Als aber der letzte Segen gesprochen war, Hand um Hand, und [48] dann Schaufel um Schaufel die harten Erdbrocken auf ein letztes Menschenbett rollten und die Pfarrersfrau in ihren Garten zurücktrat, da nickte sie dem fremden Kinde, das seine Augen aufgeschlagen hatte, zu und flüsterte: »Die Liebe einer Mutter kann ich dir freilich nicht ersetzen, du armes Lamm; aber einen guten Hirten hast du gegen den schlimmen, den du Vater nennen müßtest, eingetauscht, und darum bist du dennoch ein Segenskind, ein echtes, rechtes Johanniskind, mein kleiner Dezem.« Und ihre Lippen lächelten bei den Worten, während in den Wimpern noch die Tropfen hingen.

Es war eine traurige Ernüchterung, welche heute, wie schon manches Mal vordem, der verklärenden Wärme des Pfarrherrn folgte. Solange sein Blick zwischen dem offenen Erdenschoß und dem ewigen Himmelsschoß geschwebt, da hatte er nur die Mutter aus dem Volk gesehen in ihrem Heldenkampfe für das Leben, das sie gab und nährte bis zu der Stunde ihres Sieges im Tode. Nach dem Amen aber, als der Blick auf der je mehr und mehr sich füllenden Grube ruhte und auf dem gleichgültigen Gedränge um sie her, da erkannte er, wie aus einem Traume erwachend, die Verworfenheit und Verwahrlosung, die Mißgunst und Herzenshärtigkeit, gegen welche er als Streiter in seinem Amt berufen war, und gegen welche sein Rüstzeug sich wieder einmal als falsch gewählt und stumpf erwiesen hatte. Seine Streiche waren in die Luft geführt worden. Er stand nicht als ein Hirt, aber als ein Fremdling unter seiner Herde. Wohl dann dem edlen Mann, daß er in solchen Stunden des Verzagens seine Blumen, seine Kinder und ein Weib wie seine Hanna hatte!

Als er von seinem leidvollen Gange heimkehrte, stand in der Laube der Kaffeetisch gedeckt; die beiden Neugeborenen [49] schlummerten unter dem Wiegenhimmel, die drei, welche im Hause noch Kinder hießen, spielten zwischen ihren Blumenschwestern; Lorchen reichte dem Vater den herzaufmunternden Trank, Dorchen – heute ausnahmsweise zwischen Blumen und Kindern – das lange Rohr mit dem kopfaufräumenden Kraut; und dann krüllten sie die ersten Sommererbsen aus, die Luischen inzwischen gepflückt, plauderten, neckten sich, lachten nach glücklicher junger Mädchen Art. Der Vater aber blieb in sich gekehrt, und die Mutter, die schäffternd ab und zu ging, ließ ihn still sich austrauern.

Erst als gegen Abend das junge Volk samt Wiege und Kaffeezeug sich in das Haus verzogen hatte, setzte sie sich mit dem Vorsatze der Ausdauer an seine Seite. Es galt eine Abmachung zwischen ihnen, für welche, obgleich der Plan fix und fertig vor ihr lag, sie ihm klüglich das erste Wort vergönnte.

Da Vater Klaus neben allen übrigen Elternpflichten sich auch der ersten begeben zu haben schien, fiel die Sorge für die Aufnahme seines Sohnes in den heiligen Christenbund des Kindes Pflegern anheim. Die Vereinigung der Feier mit der des eigenen Töchterchens lag aus gemütlichen Gründen beiden Gatten nahe, empfahl sich aber auch aus praktischen Gründen. Der Mutter ersparte sie ein zweimaliges Kuchenbacken, dem Vater eine zweimalige Taufrede. Denn Stegreifsreden, frei aus dem Herzen heraus, hätte Pastor Blümel ohne Anstrengung wohl Tag für Tag halten mögen; für sakramentale Amtshandlungen arbeitete er aber die Vorträge gewissenhaft aus und memorierte sie bis auf das Tz; von allen Seelenkräften aber war Pastor Blümel, nächst dem Rechensinn, mit dem Gedächtnissinn am kürzesten gekommen. So wurde denn ohne Einwände [50] festgestellt, daß der zehnte Hirtensohn und das siebente Pfarrtöchterchen am Evangelientage von der brüderlichen Versöhnung gleichzeitig durch das Taufbad für ihr Erdenwallen zum Himmel gereinigt werden sollten.

Auch bei der Patenwahl stieß man nur auf einen einzigen Haken. Schwester Luischen würde selbstverständlich für zwei junge Christen noch viel lieber als für einen dem Teufel und seinen Werken entsagt haben; von dem Amtsbruder Kurze in Bielitz durfte man sich eines Gleichen versehen, zumal wenn für den Ärmling ausdrücklich auf das Eingebinde verzichtet wurde; auch die gute Freundin Mehlborn hätte zu der doppelten Pflichtenübernahme sicherlich lächelnd mit dem Kopfe genickt, wenn nur durch Kirchenordnung wie Sitte für einen Knaben nicht mindestens zwei männliche Zeugen geheischt worden wären. Wer sollte nun dieser zweite männliche Zeuge sein?

Der Amtmann wäre der nächste und beste, meinte die Pastorin.

Das gab der Pastor zu; aber der Amtmann stand nun einmal nur bei Honoratioren Gevatter. Das gab wiederum die Pastorin zu, um so mehr als sie mit der Schachtarbeit für den Frey vor der Hand leider ihren letzten Trumpf gegen den Hochmutsnarren ausgespielt hatte.

Nach einer nachdenklichen Pause hob sie, wie von einem Einfall durchzuckt, von neuem an: »Es ist nicht lange her, Konstantin, da rühmtest du mir als eine echte Königssitte, daß Seine Majestät die Patenschaft bei jedem siebenten Sohne, und wäre es der des ärmsten Schächers, übernähme.«

»Übernahm, Hanna,« versetzte Pastor Blümel, der seine kleinmütige Stimmung noch nicht überwunden hatte. »Übernahm, als unser Staat arm an Männern geworden war [51] und Kindersegen für einen Landessegen galt. Wohl möglich, daß nach unserem Wachstum und einer Reihe gedeihlicher Friedensjahre eine veränderte volkswirtschaftliche Anschauung den patriarchalischen Brauch verdrängt hat. Sieben Kinder sind heutzutage keine Seltenheit, Hannchen.«

»Aber zehn Söhne sind es, Konstantin. Wags, bitte den König zu Gevatter, Freund.«

Pastor Blümel schüttelte den Kopf. »Kannst du dir eine Vorstellung machen, Hanna, in welchem Maße unser gütiger, hoher Herr mit Bittschriften jeglicher Gattung und nicht bloß aus niedrigem Stande behelligt wird?« fragte er; worauf seine Hanna lachend erwiderte:

»Ob ich mir eine Vorstellung davon machen kann? Habe ich etwa nicht in vornehmen Häusern konditioniert? Gnadengesuche heißt bei denen, die es nicht bedürfen, was bei denen, die es bedürfen, Bettelbriefe heißt; just so wie den Armen kleine Notschulden schänden, aber den Reichen große Luxusschulden nicht. So steht es nun einmal geschrieben im Kodex der großen Welt. Aber was haben wir damit zu schaffen, lieber Konstantin? Bittest du denn für dich oder eines der Deinen?«

»Gott verhüte das Elend, das mich zu diesem Äußersten treiben könnte!«

»Als Diener des Amtes bittest du den hohen Patron deiner Kirche für die hülfloseste Waise deiner Gemeinde; als Ritter des Eisernen Kreuzes rufst du deines Kriegsherrn Protektorat an für den jüngsten Sprossen eines Geschlechtes, das bereits durch zwei kräftige Söhne unter des Königs Fahne vertreten ist und dermaleinst, wills Gott! durch noch acht ebenso kräftige Söhne vertreten sein wird. Wer weiß, ob du durch diesen Patenbrief dem armen kleinen Jungen späterhin nicht eine Stelle im Militärwaisenhause [52] erwirbst! Konstantin, Herzenskonstantin, glaube mir, es gelingt! Und selber, wenn infolge irgendeiner neumodischen Staatsmaxime die hohe Patenschaft abgelehnt werden sollte, für ein eigenhändiges Antwortschreiben Seiner Majestät an den freiwilligen Jäger von 1813 stehe ich dir ein, und diese Erinnerung an eine beabsichtigte Guttat würde dich bis an dein Lebensende erquicken.«

Die Augen des freiwilligen Jägers leuchteten; er entwarf in Gedanken bereits den allerhöchsten Patenbrief. Seine Gattin fuhr in voreiliger Siegesfreude fort:

»Und du kannst ja auch einfließen lassen, Konstantin, daß es auf einen Geldbettel keineswegs abgesehen ist. Nur um die Ehre. Friedrich Wilhelm von Preußen deckt den Tagedieb Klaus Frey. Vor der Hand ist gesorgt. Wo sieben Kinder satt werden, wird es ein achtes auch. Und in einem Falle der Not muß der Amtmann dran. Ja, Konstantin, er muß! Ei, wäre es nicht um den Narren Mehlborn, wir würden unsern lieben, alten königlichen Herrn ja herzlich gern in Frieden lassen. Aber warte nur, warte, du mein zugeknöpfter hochwohlgeborener Herr Rittergutsbesitzer und Baron in spe: alle zehn Finger sollst du danach lecken, und schöne Batzen sollst du dafür zahlen, als Stellvertreter Seiner Majestät von Preußen am Tauftische des armen Hirtensohnes stehen zu dürfen.«

Frau Hanna lachte vor Herzenslust hell auf, während ihr Konstantin, die Brauen bis unter die Haarwurzeln in die Höhe gezogen, ihr starr in die blitzenden blauen Augen blickte und mit drohend erhobenem Zeigefinger, so wie er es bei einer großen Gebotsmahnung von der Kanzel zu tun pflegte, sich also vernehmen ließ: »Mit einem über die Welt verbreiteten Schibboleth, Hanna, bezichtigen wir als ihre ärgsten Feinde die, welche für einen guten Zweck des [53] ungute Mittel nicht verwerflich finden, und nicht zum ersten Male, Hanna, entdecke ich dich auf so unchristlichen Schlangenwegen. Soll auch die Mutterliebe ihre Jesuiten haben? Mit einem Komödienspiel auf die Schwächen seiner Nebenmenschen spekulieren, durch Hochmut Großmut erwecken –«

»Mitleiden durch ein saures Gesicht,« fiel Frau Hanna ein, indem sie ihm zärtlich die Wangen strich. »Ich will es nicht wieder tun, Konstantin; aber sage mir doch: hast du im großen Weltwesen wie im bescheidensten Einzelnleben jemals einen guten Zweck ohne Jesuitenkünste, wie du es nennst, erreichen sehen?«

»Hast du mich jemals auf Schlangenwegen entdeckt?« fragte schier entrüstet ihr Konstantin dagegen.

»Niemals!« antwortete sie mit dem reinsten Klang der Aufrichtigkeit.

»Aber – aber« –, sie stockte, und nur in Gedanken setzte sie hinzu: »Wie häufig hast du auch, redliches Herz, deine besten Zwecke verfehlt!«

»Aber – warum stockst du, Hanna?« fragte der Pfarrer.

»Aber was sehen wir denn in der Natur, Konstantin, auf die du uns so oft als eine Lehrmeisterin verweist: Übles aus Gutem entstehen, oder Gutes aus dem Übel?«

»Beides,« antwortete er, »beides, Hanna. Allein Moral und Natur decken sich nicht wie – wie –«

»Friedrich Wilhelm den Exhirten Klaus,« ergänzte sie mit einem Lächeln; worauf ihr Konstantin dann fortfuhr: »Die Pflanze saugt erstickende Dünste ein und haucht Lebensluft aus; ein tödlicher Giftstoff wird zur heilsamen Arznei, – wir wollen diesen großen Gegenstand zu gelegener Stunde gründlich miteinander besprechen, Hanna,« unterbrach [54] er sich selbst. Ihn drängte der Patenbrief an seinen königlichen Herrn.

Und an stilistischem wie kalligraphischem Schwung ein Meisterstück, würdig eines allerhöchsten Gevattersmannes, war es, welches in der Mitternachtsstunde dieses Siebenschläfers Konstantin Blümel, evangelischer Pfarrer zu Ober- und Unterwerben, freiwilliger Jäger von 1813, Ritter des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse, unterzeichnete, an Seine Majestät den König Friedrich Wilhelm III., zurzeit in Bad Teplitz, adressierte und, nachdem er den teuren Namen mit seinem Atem trocken gehaucht hatte, über Nacht zwischen den Blättern seiner Erbbibel verwahrte. Früh am andern Tage trug er das Schreiben persönlich nach dem städtischen Postbureau, empfahl es, wennschon bereits »Rekommandiert« darauf stand, dem Beamten zu gewissenhafter Beförderung und verbrachte darauf sechs Tage in einer patriotischen Spannung, wie er sie, seitdem er in den Friedensstand zurückgetreten war, nicht wieder empfunden hatte. Beide Gatten hatten sich bis zur Entscheidung unverbrüchliches Schweigen gelobt.

Und endlich, endlich am siebenten Tage, da traf es ein, das heißersehnte blaue Kuvert, dessen Inhalt sogar Frau Hannas verwegenste Hoffnungen überbot. Denn den eigenhändigen vier Zeilen, in welchen der »wohlaffektionierte König« die Taufzeugenschaft bei dem zehnten Sohne des Klaus Tobias Frey in Oberwerben huldvollst akzeptierte, war ein Patengeschenk von zehn Zehntalerscheinen beigefügt.

Die zehn Zehntalerscheine hat die Frau Pastorin bei ihrem nächsten Stadtgange als Heckepfennig für den armen Hutmannssohn in die Kreissparkasse getragen; das allerhöchste Handschreiben aber ist von ihr, als Seitenstück zu [55] dem Aufruf »An mein Volk«, dem schwarzweißen Bande des Eisernen Kreuzes angeheftet worden. Und so hatte der Segen des Täufertages sich an der armen Mutterwaise schon im ersten Naturzustande, bevor sie noch ein Christ geworden war, in doppelter Art bewährt. Der zehnte Hirtensohn war ein Kapitalist geworden und hatte seinem Wohltäter eine unvergängliche Herzensfreude eingetragen.

Nachdem Pastor Blümel mit feuchten Augen und fliegender Hand sein alleruntertänigstes Dankesschreiben abgefaßt hatte, rüstete er sich zu dem Gange nach dem Pächterhause, um gleichzeitig die Frau Amtmännin Mehlborn als Zeugin für sein Töchterchen und den Herrn Amtmann Mehlborn als stellvertretenden Königszeugen bei dem Sohne des Exschäfers Frey zu Gevattern zu bitten.


Die Rittergüter unserer Gegend sind keine Latifundien und die Edelhöfe, wenngleich sie häufig Schlösser heißen, weder mittelalterliche Burgen, noch moderne Prachtpaläste; so war auch das Hauptgut von Werben nur mäßigen Umfangs und das Schloß mit seiner langgestreckten, glatten Fassade nur ein räumliches Wohnhaus, das – abgerechnet seine breiten, sich zum Flusse niedersenkenden Gartenterrassen – ebensogut in einer städtischen Straße hätte stehen können. Die Schäden des Krieges waren selbst von außen nur oberflächlich an ihm ausgeheilt, denn es blieb unbewohnt, seitdem es zu Anfang des Jahrhunderts aus den Händen der im Mannesstamme erloschenen, reichbegüterten sächsischen Familie der Werben als Tochtererbe in die der preußischen von Hartenstein übergegangen war.

Auch die Pächterwohnung, die mitten im Schloßhofe lag, war zwar umfänglicher, aber weniger ansehnlich als [56] manches Bauernhaus im Dorfe; das Dach mit Schindeln gedeckt, der Fußboden mit Estrich ausgegossen, das runde Fensterglas in Blei gefaßt; das vorspringende Deckengebälk hätte ein Mann vom Schlage des Schäfers Frey mit der Hand erreichen können. Der reiche Mehlborn aber fühlte sich heimisch in diesem bescheidenen Vaterhause und bewirtschaftete von ihm aus das Gut, obgleich er es ebenso leicht von dem besser erhaltenen Hofe Unterwerbens, ursprünglich einem großen Vorwerk und Filialdorfe des Hauptgutes, hätte tun können. Es war dieses Talgut kurz nach dem Kriege käuflich auf ihn übergegangen; nicht das einzige, auf welchem in diesen drangvollen Zeiten der Pächter zum Herrn des Edelhofes ward, auf welchem sein Vater als Großknecht gedient hatte. Lieferungen und Lasten werden unerschwinglich; der Bodenwert sinkt, und der Hypothekenwert steigt; nach dem Frieden droht, unverstanden oder mißverstanden, das neue Ablösungsgesetz; das Inventarium eignet bestenteils dem Pächter, der indessen auf fremdem Boden geerntet und sein Heu ins trockene gebracht hat. So hier wie anderwärts. Ehren-Mehlborn, der überdies keinen verächtlichen Mahlschatz erheiratet hatte, würde schon dazumal auch das heiß von ihm ersehnte Hauptgut haben an sich bringen können, wenn die Generalin von Hartenstein sich zu der Entäußerung des Stammsitzes ihrer Familie hätte entschließen können. Heute, das heißt zehn Jahre später, lag diese Entäußerung vor den Augen ihrer Erben als unvermeidliche Perspektive.

Bis zu dem Erwerb des Talgutes hatte Johann Mehlborn sich nicht mehr gefühlt als jeder andere emsige, zähe, reichgewordene Bauer. An dem Tage jedoch, wo Exzellenz von Hartenstein als Sachwalter seiner Gemahlin die geschäftliche Korrespondenz statt an den Pächter Mehlborn [57] Edelgeboren an den Rittergutsbesitzer Herrn Mehlborn Hochwohlgeboren richtete, stach ihn zum ersten Male die bewußte nobele spanische Fliege. Hatte er sich bisher mit dem Haben begnügt, nun warf er sich nebenbei auch auf das Werden und Sein. Zunächst das Werden und Sein eines titulierten Mannes.

»Denn siehst du, meine Röse,« sagte er zu seiner Frau, »Rittersleute wären wir nun; richtiger Adel bis auf das kleine ›von‹, das aber auch nicht ausbleiben wird, zum wenigsten für unsere Kinder. So weit hätten wirs mit Gottes Hülfe gebracht. Jedennoch mich auf den Kreistagen und im Kreisblättchen schlecht weg als Herr Mehlborn traktieren zu lassen und dich von den Nachbarn als bloße Madame, das geht mir wider den Strich. Mittel sind da: ich kaufe mir den Amtmann, Röse.«

Frau Röse nickte zustimmend mit dem Kopfe, ihr Johann kaufte sich für so und so viel hundert Taler den Amtmann und fühlte sich, was seine eigene Person anbelangt, mit dieser Würde allenfalls zufriedengestellt. Für seine Kinder aber wollte er höher hinaus, »dem Throne um ein paar Stufen näher«, und ein kluger Kopf, wie er war, faßte er das Ding auch beim richtigen Zipfel: er sparte für sie und ließ sie etwas lernen.

Sie wurden daher der Dorfkameradschaft in Kantor Beyfußens Schulstube entrückt. Die Tochter, ein ungewöhnlich befähigtes Kind, bereiteten die kürzlich aus der Fremde herbeigezogenen Freunde in der Pfarre so weit vor, daß sie, die erste Bauerntochter unserer Gegend, nach ihrer Konfirmation in ein vornehmes Institut der Hauptstadt aufgenommen werden konnte.

»Denn siehst du, Mutter,« so sagte der Amtmann zu seiner Amtmännin, »siehst du, was für die Grafentöchter [58] in Bielitz drüben nicht zu gut ist, das ist für unsere Brigitte allenfalls gut genug. Sie erben von ihrem Alten einmal einen Sack voll Schulden, und unsere Brigitte erbt von mir zum allerwenigsten ein Rittergut. Aber unter einem Baron tue ich es einmal für sie nicht.«

Mutter Rosine hätte bei dieser Schlußwendung freilich gern mit dem Kopfe geschüttelt, sie nickte aber doch, und ihr Amtmann brachte seine Brigitte zu den Gräfinnen in die »Institution«, bei dieser Gelegenheit aber auch unter die Augen der gutsherrlichen Exzellenzen, die bisher persönlich ihm unbekannt, durch gewisse Beziehungen zu seiner Tasche indessen erwünschtermaßen vertraut geworden waren, und da in dem Worte »Erbe« ein anzügliches Medium liegt, tat durch dieses persönliche Bekanntwerden die Vertrautheit einen mächtigen Vorwärtsschritt.

Oder wäre Hilmar von Hartenstein, weil Geld und Gut ihm zu entschlüpfen drohten, nicht ebenso, wie Brigitte Mehlborn eine Erbin war, ein Erbe gewesen, ja mehr als ein Erbe, war er nicht im Genuß? Im Genuß eines alten, stolzen Namens, des Glanzes, welcher von einem ruhmwürdigen Vater auf den einzigen Sohn zurückstrahlt, im Vollgenuß der traditionellen Stattlichkeit, Ritterlichkeit, Frohlebigkeit seines Geschlechts, ein Hartenstein par excellence? Sind diese Erben eines Temperaments, welches die Gabe des Reichwerdens und selber des Reichbleibens auszuschließen scheint, nicht allemal auch die des Zaubers liebenswürdiger Unwiderstehlichkeit? Und unchristliche, das heißt herzenshärtige Gottesgeschöpfe sind sie beileibe ja auch keineswegs. Naturphilosophinnen, wie Frau Hanna Blümel, wollen freilich behaupten, daß derlei kat'exochén liebenswerte Lebeleute den Gegenbeweis liefern zu dem Gesetz, welches aus dem Schlimmen häufig ein Gutes erwachsen [59] läßt und daß durch ihre kavaliere Liebenswürdigkeit weit mehr Übel und Weh über die Welt verbreitet worden ist als durch die Langweiligkeit der sogenannten Philister samt und sonders; mögen auch erst nachfolgende Geschlechter die bittere Hefe des süßen Weines zu verwinden haben. Aber Brigitte Mehlborn war bei sechzehn Jahren noch keine Philosophin, wennschon sie starke Anlage hatte, es eines Tages zu werden. »Der und kein anderer!« sagte sie zu sich selbst, als sie den Tag vor ihrer Einführung in die residenzliche Kostschule an der Tafel der Exzellenzen dem schönen Gardereiterleutnant in seiner blitzenden Uniform zum ersten Male gegenübersaß.

Und: »Meinetwegen auch die!« sagte zwei Jahre später seufzend der schöne Gardereiterleutnant, vor die Alternative gestellt, sich aus einem hauptstädtischen Schuldensumpfe auf den soliden Boden eines provinzialen Infanterieregimentes zu retten und den letzten Anspruch an sein einstiges Muttererbe fallen zu lassen, oder diese Erbaussicht aus der Hand der Pächterstochter, um den Preis des Graziengürtels, zurückzuerhalten.

Der tapfere General überwand das Loch im Stammbaum, wie es einem Helden ziemt; seine Gemahlin kränkelte und dachte an eine selige Ewigkeit, in deren Angesicht man es hinsichtlich gewisser geistigen Gewöhnungen, Vorurteile genannt, glimpflicher als in gesunden Tagen zu nehmen pflegt. Mutter Mehlborn wurde nicht gefragt, würde aber, wenn gefragt, schwerlich mit dem Kopfe geschüttelt haben. Vater Mehlborn aber schrieb, unter Frau Hanna Blümels freundseelsorgerischer Korrektur, triumphierend Ja und Amen, und seine Brigitte kehrte als strahlende Braut in das Pächterhaus zurück.

In kurzem präsentierte sich auch der ritterliche Bräutigam, [60] wie es hieß, weniger strahlend als seine Braut, und leider, der Frühlingsparaden halber, nur für einen halben Tag, so daß den Freunden in der Pfarre der Vorzug seiner Bekanntschaft versagt blieb. Indessen soll vor dem Abschied die Verlobtenstimmung doch noch recht merklich zum Durchbruch gekommen sein, da ein gewisses heikles Geschäft, von Vater auf Sohn übertragen, sich über Erwarten glatt abgesponnen hatte.

Und warum hätte wohl auch Vater Mehlborn, selbst abgesehen von seinem edelmännischen Gelingen, die Schnüren seines Säckels allzu straff anziehen sollen? Der Bodenwert stieg, das Gut trug jetzt allenfalls eine Hypothek mehr; noch eins oder das andere von diesen gewissen heiklen Geschäften, und der Stammsitz der Werben war ungeteilt Mehlbornsches Erbe.

Schon im Sommer wurde die Hochzeit gefeiert, weder in Ober- noch Unterwerben, die beide zu exzellenzlichen Festivitäten nicht angetan waren; auch nicht in der Residenz, aus welcher vor kurzem General von Hartenstein zu einem Oberkommando in die östliche Provinz versetzt worden war, sondern möglichst still in einem kleinen märkischen Badeorte, in welchem die kranke Generalin sich zur Kur aufhielt. Amtmann Mehlborn war es zufrieden, sich als Brautvater mit einer Gasthofsrechnung abfinden zu dürfen, obschon dieselbe, der Rangstufe der Hochzeitssippe entsprechend, mit doppelter Kreide angeschrieben wurde. Auch daß die Brautmutter, der Ernte und anderer Unvermeidlichkeiten halber zu Hause geblieben war, konnte ihm nur zur Genugtuung gereichen. Er hatte, da er noch Ehren-Mehlborn hieß, seine Röse gern zu Kirmes- und Erntetanz unter lustige Festgenossen geführt; seitdem sie jedoch seine Gemahlin und eine gnädige Frau ohne kleines »von« geworden,[61] sah er sie nur gern innerhalb ihrer vier Pfähle. Sie war und blieb nun einmal unempfänglich für jede höhere Kulturbestrebung.

So das Schicksal der Tochter. Aber schon Jahr und Tag vor deren Einführung in das residenzliche Institut war auch der Sohn der Sphäre des Pachthofes entrückt worden und wäre es bei diesem Anlaß nahezu geschehen, daß Mutter Rosine zum ersten und einzigen Male energisch den Kopf geschüttelt hätte. Denn der Hannes war von ihrer eigenen stillen Art und beiden am wohlsten, wenn er ihr im Milchkeller und Hühnerhof am Schürzenzipfel hing. Er wuchs ihr daher auch weit dichter an das Herz als die nach dem Vater schlagende aufgeweckte Tochter, und sie hätte ihn dort großziehen mögen, wo er nach seiner wie ihrer Meinung, und sicherlich auch nach der der Natur, hingehörte: auf dem elterlichen Hofe. Wenn aber Vater Mehlborn sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, was konnten Mutter Rosine und ihr Hannes dann wohl dagegen tun? Und Vater Mehlborn hatte es sich in den Kopf gesetzt, seinen Stammhalter dem Throne um verschiedentliche Stufen näher rücken zu lassen.

»Hannes,« hatte er gesagt, »Hannes, du studierst; ich schenke dir ein Rittergut; du wirst Landrat, heiratest eine Gräfin, meinethalben eine arme, und alles, was weiter hinaus liegt, findet sich von selber.«

So wurde denn der arme stille Hannes mühsam durch das Gymnasium gedrillt, brachte es auch bis zur Universität, aber bis zum Landratsamte und allem, was weiter hinaus liegen sollte, brachte er es nicht, denn der arme Hannes fiel im Zweikampf mit einem Korpsbruder, der das kleine »von« vor seinem Namen ererbt und dem reichen Landsmann, welcher es erst erwerben sollte, den Spottnamen »Mehlwurm« angehängt hatte.

[62] Zuverlässig: der arme Hannes war von Natur kein Raufbold, der sich durch einen unschuldigen Mehlwurm zu Mordgedanken hätte treiben lassen. Aber sie hetzten und stachelten ihn in Spott und Ernst, und der am eifrigsten hetzte und stachelte, ihn mit dem, was er der Ehre der Familie schuldig sei, ganz toll und töricht machte, das war der Mann, den er Bruder nannte, weil er der Gatte seiner Schwester geworden war. Und so kriegte der arme Hannes denn einen Stich in die Brust, lag ein paar Tage purpurrot in loderndem Fieber und Phantasien von dem heimischen Hof, und dann wurde er weiß und stiller denn je. »Ach, Mutterchen, wie kühl muß es in deinem Milchkeller sein!« war sein letztes Wort.

Die Leiche wurde nach dem Talgute gebracht und mit möglichstem Pomp in einem Gewölbe unter der dortigen Kirche beigesetzt, das auf diese Weise zur Erbgruft der Mehlborn eingeweiht wurde. Diese Feierlichkeit, samt ritterlicher Grufterrungenschaft, trug viel dazu bei, daß der Vater sich von dem Wetterschlage, so jach als er ihn niedergeworfen hatte, wieder emporrichtete. Denn kein Schmerz, der nicht eine Not in sich schließt, wandelt das Grundwesen eines Menschen um; und Vater Mehlborn hatte wohl den einzigen Sohn, aber nicht, was eine Not in sich geschlossen haben würde, den einzigen Blutserben verloren. Er schaffte in die Breite und baute in die Höhe wie zuvor; als ihm aber bald darauf von seiner Brigitte, die von jeher sein Liebling gewesen, der erste Enkel geboren ward, tröstete er sich, als hätte er nie einen Sohn besessen, in der Zuversicht, den freiherrlich Hartensteinschen Namen dem Namen Mehlborn verbunden zu sehen, sobald nur erst auch das Hauptgut Mehlbornsches Erbe geworden sein würde.

Für die Mutter dahingegen war der Tod des Sohnes [63] ein Schmerz der umwandelnden Not. Ein Stoß in den Herzgrund brachte, wie Pastor Blümel es ausdrückte, den Heilandstrieb zum Durchbruch, über welchem im gleichmäßigen Tageslauf sich eine Erdenschicht gebildet hatte. Und vielleicht hat nur der Mutterschmerz diese Gewalt. Rosine Mehlborn hatte bis in das Matronenalter still vor sich hin geschäfftert, keinem Menschen zuleide, aber auch keinem, außer ihren Allernächsten, zuliebe. Nun, da sie an ihrem tiefsten Bedürfen Mangel litt, wurde sie die leise Helferin bei jedem fremden Mangel, auf welchen ihr Blick gerichtet ward. Ihr Amtmann durfte es nicht merken, einer aber merkte es, der ihr nimmer aus den Augen wich. Im Morgendämmer und wenn der Mond in ihre Kammer schien, zwischen den Lämmerwölkchen, welche das blaue Himmelsfeld überziehen, vom ersten Stern des Abends und von dem letzten früh blickte ihres Hannes gutes Gesicht auf sie herab; und wenn der Mangel, den sie gewahrte, ein recht großer und ihre Hülfe ein Opfer war, da sah sie ihren Hannes lächeln, und sie lächelte auch, nickte ihm zu und sagte: »Mein Hannes, ich komme bald!«

An ihre Brigitte dachte sie wohl auch, sie war ja ihr liebes Kind; wenn sie aber nicht ihr liebes Kind gewesen wäre, würde sie an jeden Menschen eher als die Brigitte gedacht haben. Der Tochter Natur war ihr unverständlich und wurde es durch ihr Schicksal je mehr und mehr.

Die beiden Erbkinder von Werben waren erst wenige Monate ein Paar geworden, als der einzige Bruder, ein Opfer seiner unfreiwillig überkommenen Standespflichten, fiel: im Pächterhause brach schier ein Mutterherz; höher hinauf jedoch, »dem Throne näher«, trat der beklagenswerte Ausgang hinter dem Spottreiz des Anlasses zurück; der Name Mehlborn erhielt einen belustigenden Klang, [64] den seine alten Träger, gottlob! nicht ahneten, der von dem chevaleresken Gatten der vormaligen Trägerin jedoch die Ehrenpflicht heischte, mit seinem besten Kameraden ein paar Kugeln zu wechseln. Ein Menschenopfer war in diesem zweiten Kampfe um den Mehlwurm nicht zu beklagen, der Wurm selbst aber um so weniger zur Ruhe gebracht worden. Hilmar von Hartenstein verstand daher einen gnädigen Wink von oben herab und vertauschte bis auf weiteres die blitzende Gardeuniform mit einer schlichten der Linie unter seines Vaters Kommando und in dessen wenig vergnüglicher Garnison. Wehe aber der liebenden Frau, welcher ein solches Opfer unter Zähneknirschen gebracht worden ist!

Vier Jahre waren seitdem verflossen, die alte Frau von Hartenstein war gestorben, die junge Frau von Hartenstein ein einziges Mal in der Heimat gewesen, um den Eltern die beiden Enkel vorzuführen, auf welchen ihre irdische Zukunftshoffnung beruhte; bei dieser rührsamen Gelegenheit aber auch gegen Vater Mehlborn ein Geschäft der allerheikelsten Art – weil ohne die Entäußerung des Stammgutes – durchzusetzen. Unbegreiflicherweise für Vater Mehlborn sträubte sich gegen diese Entäußerung mehr als der Erbe der Mutter die Mutter der einstigen Erben. Brigitte von Hartenstein wollte die Lebensstellung ihrer Kinder nicht ausschließlich auf den Reichtum ihres Vaters gegründet sehen.

Die Entwicklung, welche die vormalige Schülerin seit ihrer Verheiratung in Wesen und Willen genommen hatte, gab den Freunden in der Pfarre mancherlei zu denken und vertraulich zu besprechen. Brigitte von Hartenstein war auf bestem Wege, zu werden, was ungefähr von ihrer Zeit ab eine »bedeutende« Frau genannt worden ist; eine [65] Spezies, die man in früheren Tagen wohl auch dann und wann gefunden, allein an ders betitelt hat. Kein Landmann würde in ihr den ländlichen Ursprung vermutet, aber auch kein Edelmann sich ihr als seinesgleichen vertraulich genähert haben; sie hätte für eine Gelehrtentochter gelten können, so nach dem Grunde hin hatte sie sich mit zäher Ausdauer vertieft und so geflissentlich vermied sie den Schliff der Kreise, in welche sie sich einem Einzigen zuliebe gestellt. Sie hatte unter diesen Menschen seit dem Tode ihres Bruders, aber nicht durch diesen allein, bitterlich gelitten; sie verachtete, ja, sie haßte diese Menschen. Jenen Einzigen aber liebte sie noch immer mit der hartnäckigen Ausschließlichkeit einer nüchternen Verstandesnatur. Sie nannte diese Liebe ihre Pflicht und forderte ausschließliche Gegenliebe als ihr Recht. Daß sie ihren schönen, charakterlosen Gatten liebte, lediglich weil er ihr heute wie in der ersten Stunde gefiel, gestand die charaktervolle Frau sich nicht ein. Daß sie, um von ihm geliebt zu werden, erst lernen mußte, ihm zu gefallen, würde sie unter ihrer Würde gehalten haben.

»Hanna,« sagte Pastor Blümel zu seiner Gattin nach einem langen Spaziergange mit seiner einstigen Schülerin, »Hanna, diese noch minorenne Frau hat die Kritik der reinen Vernunft gelesen und merkwürdigerweise verstanden.«

»Würde sie nicht besser daran sein, Konstantin, wenn sie dieselbe nicht verstanden hätte?« entgegnete Frau Hanna.

Seit diesem Besuche hatten die Amtleute kein Mitglied ihrer angefreiten Sippe wiedergesehen. Pünktlich am ersten jedes Monats traf ein Brief der Tochter ein, ein braver, kluger Brief, ein Musterbrief, »man könnte ihn drucken lassen«, sagte der Vater; die Mutter aber weinte allemal den ganzen Tag, nachdem ihr Amtmann ihn vorgelesen, und [66] sehnte sich mehr denn je nach ihrem Hannes, dessen Briefe nicht wie gedruckte geklungen hatten, aber »wie mit Lettern« in ihrem Herzen geschrieben standen.

Und so war es bis auf die heutige Stunde geblieben. Die Amtmännin hatte ihr Trauerkleid nicht abgelegt, der Amtmann trug den Kopf höher denn je. Frau Hanna Blümel, die mitunter das Gras wachsen hörte, wollte ihm indessen doch anspüren, er hätte den bisher höchsten Schritt auf seiner Jakobsleiter ebenso gern oder wohl gar lieber unterlassen.


Pastor Blümel war festlich angetan in kurzem Beinkleid, langen schwarzen Strümpfen und Schuhen, über dem Leibrock ein schmales Chormäntelchen am Rücken niederhängend. Er hatte, als er in die Gegend versetzt wurde, diese Art halbamtlicher Interimstracht als eine übliche vorgefunden und, vielleicht noch der einzige in der Ephorie, sie beibehalten bei einem Kranken- und Trostbesuch, oder, wie heute, als Gevatterbitter. Eben griff er nach dem Hute, den er bei derlei Gängen aber nicht über das Käppchen setzte, sondern, dem Brauche nach, in der Hand trug, als gegen alle Familienordnung die kleine Balsamine – häuslich Minchen – in das geistliche Gemach stürmte, um einen Besucher anzumelden, der sich der Mutter in der Laube »Herr von Hartenstein« genannt habe.

Herr von Hartenstein! ein Landsmann aus der alten Heimat, ein Held aus seiner großen Zeit, sein Patron, nach dessen Bekanntschaft er sich seit zehn Jahren gesehnt hatte! Welche neue, frohe Überraschung an diesem Tage frohester Überraschungen! Oder sollte es der Sohn des Ersehnten sein, seiner Schülerin Gatte, vielleicht sein künftiger Patron? Ei nun, dieser oder jener, jedenfalls ein teurer, hochwillkommener Gast.

[67] Nun gab es aber noch einen dritten Hartenstein; einen, den Konstantin Blümel persönlich gekannt hatte zu einer Zeit, wo er eine nähere Beziehung zu jener Familie sich nicht träumen ließ, ja dem er diese Beziehung recht eigentlich dankte; einen Kameraden vom Yorckschen Korps und – seltsamste Wandlung bei einem Hartenstein! – einen geistlichen Amtsbruder, dessen Name, neuerdings laut in die Öffentlichkeit dringend, des alten Waffenbruders Erinnerung lebhaft angefacht hatte; einen, dessen Wiedersehen er noch inniger als die Bekanntschaft der beiden anderen ersehnt – und just auf die Vermutung dieses dritten kam Konstantin Blümel nicht. Ja, als der Gemeldete jetzt, von der Hausfrau geleitet, die Schwelle überschritt, selber da schwankte er noch zwischen der Annahme von Vater und Sohn. Erst als der Fremde sich mit den Worten einführte: »Sie scheinen mich nicht wiederzuerkennen, Herr Prediger: ich bin der Doktor Joachim von Hartenstein,« erst da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen; allein – wunderbar! eine steife Verbeugung war alles, was ihm zum Willkomm des Ersehnten gelang.

Während er nun aber, stumm vor Überraschung, dem bleichen, ergrauten, bürgerlich gekleideten Manne gegenüberstand, den er zuletzt mit kampfgeröteten Wangen, in der blauen Litewka, das Eiserne Kreuz auf der Brust, gesehen hatte, während er in plötzlicher Scheu kaum die Fingerspitzen des Amtsbruders zu berühren wagte, wo er so gern die Hand des Kameraden geschüttelt hätte, da entschleierte sich mit der Gedankenschnelle, für die es keinen Maßstab gibt, vor Konstantin Blümels Seelenauge die Wechselwirkung von Natur und Schicksal, die diesen lange verehrten Mann ihm plötzlich zu einem Fremden machte. Es war der Kämpfer, welcher dem Versöhner gegenüberstand.

[68] »So schön und so tapfer wie ein Hartenstein« galt als Sprichwort unter dem preußischen Soldatenadel, und von fünf Söhnen eines alten tapferen Obersten aus der friderizianischen Schule war der jüngste, Joachim, der schönste und feurigste, »den Hektor der Armee« hatte ein hoher Frauenmund ihn genannt. Sämtlich waren sie Militärs, und sämtlich folgten sie dem Vater in den Feldzug von 1806. Der unselige 14. Oktober zertrümmerte Ehre und Glück auch dieses heldenmütigen Geschlechts. Das vaterländische Heer lag am Boden, einer Leiche gleich, an der die Würmer zu nagen begannen. Auch gegen den Obersten tauchten aus einem unentdeckbaren Winkel Bezichtigungen auf, welche bei Freund wie Feind ein höhnendes Echo weckten. Wer unterscheidet in so trüben Tagen scharf die Linie, auf welcher Unglück und Unglimpf sich scheiden? Wo so viele unrein werden, ätzt das geblendete Auge ein reiner Punkt. Erst beruhigten Zeiten liegt die Klärung ob.

Als nach dem Frieden die militärische Untersuchungskommission ihr Werk begann, war der jammervolle Greis seiner Pein erlegen; von oberster Stelle ist der Flecken auf seinem Ehrenschilde nicht bestätigt worden; in den Herzen seiner Söhne lebte er fort als ein Held. Vier von ihnen umstanden seine Bahre; der fünfte moderte in den Gruben an der Saale. Die Armee war aufgelöst, der Brüder Zukunft eine Frage. Dort auf das tote Haupt des Vaters leistete einer nach dem anderen den Schwur, die verdunkelte Ehre rein zu waschen, dereinst im Kampfe gegen den Überwältiger des Vaterlandes, zunächst in dem gegen den Verleumder des Vaters.

Es war ein Kamerad, ein Freund, ja, ein Blutsfreund, von welchem die Schmähung wenn nicht ausgegangen, so doch erweislich nachgesprochen worden war. Die Brüder [69] stritten sich um den Vorzug der rächenden Hand; sie losten, ein jeder mit dem heimlichen Vorbehalt, für den Rächer einzutreten, wenn er unterliegen sollte.

Die blutige Reihenfolge wurde ihnen erspart; der das Los zog, war Joachim, noch ein Jüngling; doch hielt er sein Mannesrecht fest gegen den Widerspruch der Männer und führte es durch als ein Mann.

Der Beleidiger fiel; aber auch dem Rächer war eine Kugel in die Brust gedrungen, die er nach langen Jahren mit in das Grab genommen hat. Als er von seinem schweren Krankenlager erstand, war die Hartensteinsche Blüte auf seinem Antlitz einer Marmorblässe gewichen, und durch sein blondes Lockenhaar zogen sich weiße Silberfäden; ein Leidensmerkmal, aber ein adelndes; ein Merkmal der Wandlung, die auch in der Seele des Jünglings sich vollzogen hatte und die, wie tief Erinnerung und Gegenwart drücken mochten, bei einem Hartenstein eine sonderbare genannt werden mußte.

Nur der älteste der Brüder, der gegenwärtige General, blieb im Dienst der reorganisierten vaterländischen Armee. Die beiden mittleren suchten in der Fremde einen Platz, auf welchem sie sich früher als jene mit dem Überwältiger messen durften. Joachim ging nach Königsberg und studierte Theologie; unter den Armen der Ärmste, unter den Eifrigen der Eifrigste. Er war noch nicht großjährig, als er, anhebend mit den Wunden und der Schmach des Vaterlandes, die lange Reihe jener Erdenmächte hatte kennen lernen, mit denen im Ringkampf der Mensch zum Gottesleugner oder zum Heilandsjünger wird.

Er hatte seine geistlichen Prüfungen eben zurückgelegt, als in seiner unmittelbaren Umgebung die bahnbrechende Erhebung ihren Ausgang nahm. Auch Joachim griff wieder [70] zu dem Schwert. Seine beiden Brüder waren in Österreich und Spanien gefallen; nur der älteste und jüngste der Söhne des unglücklichen Obersten von 1806 erlebten den Tag der Befreiung, beide mit den höchsten Zeichen der Tapferkeit auf der Brust.

Als Kameraden im Yorckschen Korps hatte der Rittmeister von Hartenstein den freiwilligen Jäger Blümel wiedergefunden, dem er schon während seiner Studienzeit in Königsberg flüchtig begegnet war; und da nach dem Frieden die Pfarrstelle in Werben neu zu besetzen stand, machte er deren Patron, seinen Bruder, auf diesen treupreußischen Mann als den geeignetsten Seelsorger in der jüngsterworbenen, noch zweifelhaften Provinz aufmerksam.

Auch er selbst kehrte von der Fahne zur Kanzel zurück; sein Sinn war aber nicht derart gerichtet, um sich in einer stillen Landpfarre, wenn auch warm und behaglich einzunisten; und bald genug fand er denn auch den Wirkungskreis, in welchem sein Name, seine bedeutende Erscheinung, eine ungemeine Rednergabe und vor allem sein Temperament und Wille zur völligen Geltung kommen durften. Als Oberdomprediger und Propst in einer provinziellen Hauptstadt, als Doktor der Theologie, dessen Ehrendiplom die Universität jener Stadt ihm verliehen hatte, als ein Magnat der Kanzelberedsamkeit, würde die höchste Würde seines Standes, die eines Generalsuperintendenten oder protestantischen Bischofs, ihm nicht entgangen sein, wenn nicht auf neuem Gebiet die alte kampfesmutige Ader seines Geschlechtes in ihm entzündet worden wäre. Er hatte auf das lutherische Bekenntnis geschworen und sein Versöhnung suchender reformierter König durch Einführung der Union ein Scharmützel der Geister heraufbeschworen, als eine von dessen Haupttriebfedern der Propst von Hartenstein sich [71] erwies. Er war der Erste und Oberste von denen, welche sich der neuen Ordnung widersetzten. Seine Hartnäckigkeit kostete ihm die glänzendste Perspektive. Was fragte er danach? Sie konnte, ja, sie mußte ihm sein gegenwärtiges Amt kosten. Was verschlug es ihm? Er wäre Reiseprediger, Agitator geworden, ein zum Märtyrer berufener Streiter für seines Gottes Ehr.

Der eigenartig strenge Zauber seiner Persönlichkeit und Begabung hatte ihm in weiten Kreisen Anhang erworben; selbstverständlich auch Gegner und Spötter. »Viel Feind, viel Ehr,« sagte Joachim von Hartenstein und sagten seine Getreuen. Die Frauen zumal schwärmten für ihn wie für einen neuen Propheten. Der dreifältige Ritter der Geburt, des Schwertes und des heiligen Worts würde nicht vergebens die Hand nach den glänzendsten Erbtöchtern seiner Provinz haben ausstrecken dürfen, und er hatte in frühreifer Jugend als stark empfänglich für Frauenhuld gegolten.

Dennoch dachte er an eine Verheiratung erst nach dem Tode seiner Mutter, die er als treuester Sohn unter seinen Schutz genommen hatte; und wenn bei seiner Wahl die Stimme des Herzens sich auch mit weltlicher Zweckmäßigkeit verband, für den Entschluß gaben den Ausschlag das Pflichtgebot eines lutherischen Bekenners und der starke Hartensteinsche Stammessinn, da in Hilmar, seinem einzigen Neffen, das alte Geschlecht voraussichtlich nicht in ruhmwürdiger Weise seinen Abschluß gefunden haben würde.

Die Erkorene war ein blutjunges Fräulein, Schwestertochter seiner Schwägerin, in deren Hause sie, frühverwaist, heranwuchs. Der General und seine Gattin sollen sich mit der Hoffnung getragen haben, durch Ottiliens liebliche Sanftmut dem unbotmäßigen Sinne ihres Sohnes einen [72] Zügel angelegt, gleichzeitig aber auch das Stammgut des gemeinschaftlichen Großvaters von Werben durch das Erbteil der Waise der Familie erhalten zu sehen. Ebenso ging die Rede, daß der Vetter dem Bäschen überaus hold, das Bäschen dem Vetter mindestens nicht abhold gewesen sei, bis des Oheims unerwartete Werbung dem kindlichen Gemüte plötzlich eine veränderte Richtung gab. Die Waise blickte zu dem edlen Manne empor nicht nur wie zu einem Vater, sondern wie zu einem Helden, einem Helden auf dem Gebiete, in welchem sie selbst einen Platz, wenn auch den demütigsten, einnahm; sie fühlte sich durch seine Wahl in ihren eigenen Augen gehoben und würde ja haben sagen müssen, selbst wenn im heimlichsten Grunde eine Stimme nein geflüstert hätte.

So sagte sie denn ja und wurde in ehrfürchtiger Hingebung das Weib des Mannes, der ihr Vater sein konnte. Hilmar von Hartenstein aber sagte, eingeklemmt zwischen Trotz und Not: »Meintwegen auch die!« und heiratete Brigitte Mehlborn.

Das Resultat der weltlichen Ehe lag zurzeit selbst vor Freundesblicken noch im Nebel; die geistliche Ehe dahingegen leuchtete bis in weite Ferne als eine jener »wohlgeratenen«, welche der große Meister Luther »die allersüßeste Gottesgabe« nennt; der Familie aber, zu der sie sich je mehr und mehr erweiterte, gaben des Vaters unbedingte Autorität, seine kirchliche Ausnahmestellung und angeborene adlige Sitte ein Gepräge, das sie vor profanen Berührungen fast klösterlich abschied.

So halb Prälat und halb Patriarch, mit einem merklichen Überguß vom Militär und Kavalier: so war der Mann, oder so erschien er mindestens Konstantin Blümel, nachdem dieser ein hochwertes Bild aus seiner Erinnerungsmappe [73] mit dem gegenwärtigen Original verglichen und für dieses Original in der Galerie seiner Phantasiegestalten vergeblich nach einem Seitenstück gesucht hatte.

Eine hohe, schmächtige Gestalt, das frische Kolorit und die tiefe Augenbläue aller Hartenstein bläßlich abgedämpft, der dunkle Reiseanzug von weltmännischer Einfachheit, nichts was an den Pietisten, aber auch nichts, was an die Eitelkeit der Gesellschaft erinnerte, vornehm vom Scheitel zur Zehe, herzenskühl und doch eiferartig: so sah Frau Hanna ihres Gatten vielbesprochenen einstigen Gönner, sah ihn ihrer Vorstellung gemäß, und weil sie ihren Konstantin kannte, begriff sie dessen stumme Verwirrung und war beflissen, den Pflichten landpfarrlicher Gastfreundschaft an seiner Statt gerecht zu werden. Sie nötigte Hochwürden in das behaglichere Wohnzimmer. Zu welchem Zweck? der Raum genügte ja, meinten Hochwürden. Sie bot Erfrischungen an; Hochwürden dankten dafür. Sie erlaubte sich die Hoffnung, Hochwürden ein Nachtlager in ihrem Hause annehmen zu sehen. Hochwürden erklärten, daß sie ihren Wagen nach dem Pächterhause vorausgeschickt und sich frische Postpferde dorthin bestellt hätten, da die Universitätsstadt noch vor Nacht erreicht werden sollte und an der neuen Verwandtschaft doch nicht ohne Gruß vorübergegangen werden dürfe.

Der Propst – er selber nannte sich, analog seinem großen Vorbilde, den Doktor von Hartenstein – begleitete die letzten Worte mit einem Lächeln, welches die heitere Pfarrfrau nicht zum Mitlächeln reizte, hinterdrein jedoch einen lachenden Eifer in ihr entzündete. Sie sah, daß ihre Gegenwart im geistlichen Gemach von Überfluß sei, und zog sich mit der Verneigung einer alten, gräflichen Gouvernante zurück.

[74] »Geht mir doch,« so hatte sie bei einem ähnlichen Anlasse gesagt, »geht mir doch mit den Freunden, die sich vermessen, für uns durch Feuer und Wasser zu laufen! Wann gerät denn ein Mensch in Feuers- und Wassersgefahr? Und gerät er einmal hinein, ist es unter hundert Fällen neunundneunzig Mal nicht der Freund, sondern der erste Beste, der, rasch bei der Hand, die Hülfe bringt. Sein Alltagspäckchen sollen wir dem Freunde tragen helfen, vor den kleinen Scherereien, die der Fremde übersieht oder verlacht, nicht die Nase rümpfen und nicht erst Handschuhe anziehen, wenn es gilt, seinen Karren aus dem Sumpfe zu ziehen: nicht mehr, nicht weniger heißt das, was in der vierten Bitte unserm täglichen Brote zugezählt wird.«

Dieser ihrer Auslegung vom täglichen Brote, das Frau Hanna selber »hausbackenes« nannte, gemäß, brach sie heute – drei Tage vor dem Danksagungsgottesdienst und dem heiligen Taufakt! – die Klausur der Wochenstube, um ihrer guten Freundin in einer nie erlebten Verlegenheit mit den Erfahrungen einer in angesehenen Familien konditioniert gewesenen Hauswirtin unter die Arme zu greifen. Sie lachte hellauf, wenn sie sich den Wirrwarr im Pächterhause vorstellte, nachdem der fremde Diener den Besuch des vornehmen Herrn Vetters angemeldet hatte. Und just in der ersten Juliwoche, wo alle dienstbaren Hände bei der Ernte beschäftigt waren!

Schade, daß die kluge Pfarrfrau nicht auch im geistlichen Gemach die Mittlerrolle übernehmen durfte!

Sobald die beiden Amtsbrüder sich allein gegenüberstanden, der eine den anderen um Kopfeshöhe überragend und darum auch unwillkürlich auf ihn niederblickend, sagte der Fremde:

»Sie werden in gegenwärtigen Zeitläuften nicht voraussetzen, [75] Herr Prediger, daß ich auf einer Vergnügungs- oder Vetternreise hier haltgemacht. Mein Kommen gilt ausdrücklich Ihnen, das heißt dem Pfarrer.«

Pastor Blümel verbeugte sich schweigend. Der andere fuhr fort:

»Da mein Standpunkt sattsam bekannt ist, darf ich mir Präliminarien ersparen.«

Wiederum eine stumme Verbeugung von seiten des Pfarrers.

»Wohlan denn, Herr Prediger. Wie stellt sich das Pastorat Ihrer Ephorie zu der neuen Agende und der Durchführung der Union?«

Pastor Blümel wußte seit dem ersten Wort, worauf die Glocke ausgehoben. Er hatte sich zum Widerstande gefaßt und antwortete ruhig:

»Man hat sie, soviel mir bekannt, einmütig als einen königlichen Akt versöhnender Christenliebe aufgenommen.«

»Auch Sie?«

»Ich unbedingt.«

»Und das Patronat?«

»Hat in Stadt wie Land keinen Widerspruch erhoben.«

»Auch mein Bruder?«

»Seine Exzellenz schrieben mir auf meine Anfrage: die Heilsordnung, die meinem König genügt, wird auch mir genügen. Ich gedenke das nächste Abendmahl innerhalb einer unierten Gemeinde zu genießen.«

»Es sieht ihm ähnlich!«

»Das freut mich, Hochwürden.«

»Aber die Gemeinden?«

»Werden, soweit sie die Unterscheidung begreifen, sie [76] nicht als eine Beeinträchtigung ihres protestantischen Bekenntnisses auffassen.«

»Warum auch nicht? Es sind ja Sachsen! Landsleute der großen Aufklärer von Leibniz an bis Lessing und – –«

»Und vor diesen Martin Luthers!«

»Gewiß. Vor allen Luthers!«

»Ich fürchte, Hochwürden nicht mehr zu verstehen.«

»Und ist doch so verständlich. Jede Zone kann einen Helden zeugen, aber in jeder Zone wird der Held verschieden wirken. In keinem anderen deutschen Gau würde eine kirchliche Neuerung so rasch Wurzel schlagen und sich so behaglich haben ausbreiten können wie in diesem.«

»Hochwürden scheinen das zu beklagen.«

»Sie irren, Herr Prediger. Ich bin Lutheraner. Ich kann und will nichts anderes sein; ebensowenig wie ich als Preuße wieder ein Reichsdeutscher – und damit meine ich das Reich vor seinem kläglichsten Verfall, das heißt vor der Reformation und lange bevor es einen preußischen Staat gegeben hat – werden könnte. Aber eben weil ich nichts anderes sein kann, will ich das, was ich bin, ganz sein und werde mich bäumen bis zum Äußersten, ehe ich mir und den Meinen Luthers Heldentat verpfuschen lasse.«

»Ich nenne es sie vollenden, Hochwürden, so wie der Meister selbst sie vollendet haben würde, wenn – –«

»Er, er?« rief der Propst mit durchbrechender Leidenschaft. »Er, welcher der Satansversuchung so urkräftig widerstand, daß er lieber ›dem stärksten Puff, den er dem Papsttum versetzen konnte,‹ – seine eigenen Worte! – entsagte, als daß er das Sakrament vom Fleisch und Blut in ein Abendmahl von Brot und Wein verhunzen ließ.«

»Mehr als zehn Menschengeschlechter sind seit diesen Erstlingskämpfen für eine erneuerte Norm abgestorben,« [77] entgegnete, nunmehr gleichfalls warm werdend, Konstantin Blümel. »Sollen der Wahn und die Wut des sechzehnten Jahrhunderts nicht in dem weiten Grabe des siebenzehnten verschüttet worden sein? Sollen sie heute, im neunzehnten, zu einem Scheinleben wieder aufgerüttelt werden?«

»Und was hat diesen Wahn und diese Wut, wie Sie es nennen, Herr Prediger, in den Menschengeistern abgelöst? Goldmacher, Forscher nach dem Stein der Weisen; Betrüger und Betrogene auf den Thronen und zu Füßen derselben; der nüchternste Vernunftsdienst, ein künstlich aufgewärmtes Heidentum, Atheisten und Sanskülotten auch unter uns; dünkt Ihnen deren brütendes Wühlen menschenwürdiger als jener Leben und Sterben für ein untrügliches Wort, für eine ewige Idee?«

»Die ewige Idee beharrt, Hochwürden, aber die Ideen, die sie gebiert, wechseln und wandeln in den Menschenseelen. Auch wir haben zu leben und zu sterben gewußt für eine Idee, und unsere Kinder und Enkel werden es für die ihre wieder wissen. Sie haben, verehrter Herr, noch eben sich mit Wärme auf den jungen Staat berufen, den Sie und ich mit gleicher Liebe unser Vaterland nennen. Nun wohl, dieser Staat hat jüngst einen Zuwachs von Millionen römisch-katholischer Christen erhalten: sollte das nicht eine Mahnung sein für alle protestantischen Gruppen, das, was sie trennt, zu vergessen, um als geschlossene Phalanx unseren Widersachern gegenüberzustehen?«

»Als lose, wehrlose Banden, wollen Sie sagen, Herr Prediger, gegenüber einer Armee in Reih und Glied! Wird diese unselige Neuerung vollendete Tatsache, so gibt es in einem halben Jahrhundert nur noch griechische oderrömische Christen und deutsche Heiden. Jede Kirche heischt für ihren [78] Bestand ein unumstößliches Dogma. Wir haben die Tradition, die Glorie der Heiligen, das Erbteil Sankt Peters, den Mariadienst, das Meßopfer und noch vier der Sakramente über Bord geworfen, verschleudern wir auch noch die Lehre von der Ubiquität, das heißt den Wortlaut der Schrift – –«

»Wir verschleudern sie nicht, Hochwürden – –«

»Ihr verwässert sie nur. Das Phlegma setzt sich zu Boden, was von der Essenz sich nicht verflüchtigt hat, sammelt sich in einer spiritualistisch stark anziehenden Zone. Mit anderen Worten: die Böcke scheiden aus in das freigeistige Lager, die Schafe in die römische Herde. Halten wir aber zusammen wie ein Mann, Ihr zumal in dieser neuerworbenen Provinz, deren Stimmung geschont werden muß, und die so ungemischt wie keine zweite der lutherischen Lehre angehört, so wird man die heillose Zumutung fallen lassen, und das undeutbare Gotteswort wird der Wall bleiben, an welchem die stolzen, römischen Wellen, so hoch ich sie vorahnend steigen sehe, sich brechen werden.«

Es war dem Pfarrer von Werben eine neue Erfahrung, solch einem eiferartigen Kämpen auf religiösem Gebiete Widerpart zu halten. Auf dem bewegten Schauplatz seiner Jugendjahre tummelten sich die Geister in einer anderen Richtung, und in seinem späteren Stilleben war es die Sitte mehr als der Glaube, die ihn zu reinigender Fehde herausforderte. Aber in diesem Widerstande lag ein Reiz, welcher die Schüchternheit überwand. Seine Blicke hafteten leuchtend an den beiden Kreuzen, welche für ihn, so gut wie für seinen Gegner, die Regulatoren des Lebens und Wirkens waren, und ein warmer Strom entquoll der bewegten Seele. Er schilderte sein Traumbild einer auf dem evangelischen Urgrund geeinigten und gereinigten Kirche [79] als einer Anstalt menschlicher Liebe zur Verkündung der göttlichen, als der idealsten Macht für das unter den harten Forderungen der Materie sich abringende Menschengeschlecht, als der höchsten Instanz für alle dunklen, strittigen Lebensfragen. »Dieser hehre Tempelbau,« so schloß er seine Rede, »er leuchtet mir vor wie den Wüstenpilgern das Gelobte Land. Mit Augen schauen werde ich ihn nicht. Aber schon das ist hohe Freude, zwischen Unglauben und Aberglauben, zwischen Willkür und Knechtung ein Sandkorn zu seinem Untergrunde beizutragen. Und das meine ich zu tun, indem ich unbeirrt in die Fußspuren eines ersten Schrittes versöhnender Weisheit und Bruderliebe trete.«

Herr von Hartenstein hatte ihm mit merklicher Ungeduld zugehört. Nach den letzten Worten ergriff er rasch seinen Hut und erwiderte: »Ich bin zu positiv gerichtet, zu nüchtern, wenn Sie so wollen, um Ihnen in dieses Phantasienreich –›Schlaraffenland‹ würde unser kerniger Meister es vielleicht genannt haben – folgen zu können. Überdies drängt die Zeit. Und so habe ich nachträglich nur zu sagen: Verzeihung, daß ich Sie aufgehalten habe, Herr Prediger. Sie waren im Begriff, in Amtsgeschäften auszugehen.«

»Nur in einer privaten Angelegenheit zu Amtmann Mehlborn, Hochwürden,« versetzte der Pfarrer.

»Dann freut es mich, daß unser Weg der gleiche ist,« sagte Herr von Hartenstein, und sie brachen auf.

Sie schritten an der Kirche vorüber, deren Tür von Sonnenauf- bis Untergang offen stand; eine Neuerung des Blümelschen Regiments, von welcher leider seltener als er gehofft ein stiller Einkehrer Segen zog. Ohne weitere Erklärung trat der Propst ein, und der Pfarrer folgte ihm.

Des Erbaulichen an Konstruktion wie gottesdienstlichem Gerät war hier so wenig wie an allen anderen ländlichen [80] Bethäusern unserer Gegend wahrzunehmen. Wände und Deckengebälk weiß getüncht, ein roter Ziegelboden, Kanzel, Altartisch und Bänke, ohne Schnitzwerk, von dunkel gebeiztem Holz. Eine Falltür, aus rohen Bohlen gezimmert, führte hinab in die von der Werbensche Gruft, die voraussichtlich keinen erdenmüden oder noch erdenfrohen Pilger mehr aufnehmen sollte. Der Propst äußerte kein Verlangen, der abgelebten Sippe seine Ehrfurcht zu bezeugen, dahingegen er einer geistlichen Geschlechtsfolge, auf die er unerwartet stieß, einen bemerkbaren Anteil zuwendete. Es waren die Bildnisse sämtlicher Gemeindepfarrer seit dem ersten lutherischen Bekenner, die den schmalen Altarplatz in doppelter Reihe umzogen. Der damalige Patron hatte ein Legat zu dieser Stiftung ausgesetzt und der Kunstwert nach dem Maße des Geldwerts unverkennbar abgenommen. In gleicher Größe und gleichem schwarzen Talar und Barett standen die würdigen Herrn, einer neben und einer über dem anderen in Reih und Glied. Kein geistlicher Nachfahre würde sich durch den Aufblick zu ihnen erbaut oder physiognomisch belehrt, kein leiblicher Nachfahre sich also einen werten Ahnherrn geträumt oder gewünscht haben. Die Gemeinde aber hing mit Liebe an ihrem einzigen Ornament und, bis auf die kürzlich erlebte Franzosenzeit, ihrer einzigen historischen Erinnerung. Die Namen selber der ältesten der alten Seelenhirten hatten sich fortgeerbt von Geschlecht zu Geschlecht; von diesem ein Erlebnis, von jenem ein Charakterzug, von den beliebtesten ein Schwank; und man würde sich williger irgendwelche Veränderung der alten Agende, ja sogar ein neues Gesangbuch haben gefallen lassen, als eines der kaum noch erkennbar nachgedunkelten alten Pastorbilder gemißt.

Die Altarwände waren bis auf einen einzigen Platz gefüllt. [81] »Soll die Reihe dieser treuen Männer geschlossen werden mit einem, der von ihrem Glauben abgefallen ist?« sagte, auf die leere Stelle deutend, der Propst mit einem Ton, der halb wie Spott und halb wie eine Beschwörung klang.

Pastor Blümel unterdrückte die Antwort. Die Kirche, seine Kirche, würde ihm der letzte Ort zu polemischer Widerrede gewesen sein. Er hatte im stillen längst auf den letzten Platz in der geistlichen Galerie verzichtet. Seine Werbenschen Beichtkinder, er wußte es, würden ihn keineswegs als einen Abtrünnigen verketzern, weil er auf des preußischen Königs Befehl zwei neue Worte, von denen eines obendrein der Herr Jesus war, in die alte Spendeformel aufnahm; die Werbenschen Leute waren ja überhaupt beileibe keine widerborstigen Untertanen. Daß aber ihre geistliche Galerie an Reliquienwert für sie eingebüßt haben würde, wenn sie mit einem neuen Preußen anstatt mit einem alten Landsmann ihren Abschluß fand, das wußte Pastor Blümel auch, und Pastor Blümel, obgleich oder weil Unionist, verstand Reliquienwert zu schätzen.


Pastor Blümel »herbergete gern« nach christlicher Vorschrift, wie seine Hanna es tat nach natürlicher Neigung; wenn Pastor Blümel aber die Gastlichkeit eine germanische Erbtugend nannte, so nannte Frau Hanna ihren Konstantin einen deutschen Schwärmer. Und zu leugnen ist allerdings nicht, daß Konstantin Blümel zu den Schwärmern gehörte, die ihr Volk – selbstredend en bloc! – in jeglicher Völkertugend leuchten sahen mit alleiniger Unterschätzung derjenigen, in welcher es allezeit geleuchtet hat und wills Gott auch fernerhin leuchten wird, denn die Bescheidenheit ist die Tugend des Würdigen.

[82] Verwies dann der Gatte die Gattin auf seines armen Volkes notgedrungene Arbeitsamkeit, welche den gastfreien Naturtrieb in Zügel halte, so verwies die Gattin den Gatten aus der Völkerkunde auf die weit größere Armut just der gastfreiesten Stämme und aus seiner persönlichen Erfahrung auf das Institut der Schenke, für dessen Pflege es dem deutschen Mann niemals an Muße und Batzen gebreche.

»Die Schenke,« sagte sie, »ja die Schenke, Konstantin, ist eine urteutonische Einrichtung; und wenn dein alter Heide ihrer nicht gebührentlich Erwähnung getan haben sollte, bewiese es, daß er der blondgelockten Germania nicht bis in den Herzgrund gedrungen ist. Der Schenkenzug aber bläst naturgemäß das gastliche Herdfeuer aus. Leben wir denn in einer Wüstenei? Sind wir nicht eine zivilisierte Nation? Vivat fürs Geld! jeder für sich und die Schenke für alle! vivat die Schenke! Und dann die deutsche Humanität, Konstantin! Die armen Gastwirte müßten ja bankrott werden, wenn jeder Hauswirt seinen Anhang in seinen eigenen vier Pfählen beherbergen wollte! Ist einer ein wohlhäbiger Mann und hat er bedürftige Anverwandte, denen seine deutsche Gemütlichkeit die Gasthofsrechnung ersparen, oder einen guten Freund, mit dem er sich einmal vertraulich aussprechen möchte, ei nun, da findet sich allenfalls oben zwischen den Rumpelkammern des Bodens ein Plätzchen, wo man ihn untersteckt; für die Hauswirte selbst würden diese hohen Regionen im Sommer zu heiß, im Winter zu frisch und keinenfalls behaglich gefunden werden; für einen auswärtigen Besuch dahingegen sind sie hinlänglich temperiert und von genügendem Behagen.«

Frau Hanna erzählte dann recht kurzweilig ihre gastfreundlichen Erlebnisse bei dem städtischen deutschen Biedermann [83] und bei dem ländlichen ungefähr desgleichen. Will sagen, wenn der ländliche kein Bauer ist, denn richtige Bauern besuchen sich nicht. Bewirten und bewirtet werden ist ein Spaß für Leute, die nichts zu tun haben: für Pastoren und Adel.

Zwei oder drei Tage jedoch, hierzulande in der Zeit, wo das Kirchenjahr auf die Neige geht, da ist unser Bauer in der Tat ein ideal germanischer gastfreier Mann, da kracht seine Tafel von Speisen und Tränken, die er sich zwölf Monate lang am Munde abgezwackt hat, da wird auch der Ungeladene nicht ungesättigt entlassen, die Brosamen fallen in des Armen Schoß, und die auswärtige Freundschaft nächtigt in den dicksten Federbetten. Prosit die splendide Kirmeszeit!

Und in dieser splendiden Weise war die heilige Kirchweih auch von Johann Mehlborn gefeiert worden, solange er sich nur noch als reicher Bauer fühlte; seitdem er sich aber als titulierter Erb-, Lehn- und Gerichtsherr fühlte, wurde noch zehnmal mehr gebrodelt, gebackt und gezapft, nur, versteht sich, für eine erlesenere Gesellschaftsschicht als die bäuerliche Bekanntschaft und Freundschaft der Pflege. Es kamen benachbarte Kantoren und Pastoren, Amtsleute und Gutsbesitzer, unter letzteren bis jetzt freilich nur noch die ohne kleines »von«; es kam der städtische Anhang, der für den Hof arbeitete, vom Schornsteinfegermeister bis zum Schuhmachermeister hinab; die willkommensten Gäste aber waren jene anderweitigen Kunden, die als Müller, Fleischermeister, Bäckermeister und so weiter die Produkte des Hofes bezogen. Wäre der gnädige Herr Propst zur novemberlichen Kirmeszeit in den Hof geschneit, er hätte vor der christlichen Herbergslust seiner neuen Sippe Respekt bekommen müssen.

Nun aber fuhr er in das Haus wie ein Blitz zu hoher [84] Sommerszeit; in der Natur der reichsten, in der Wirtschaft der kahlsten und für die Gastfreundschaft der ungelegensten des ganzen Jahres. Kleeernte, Heuernte, Rapsernte noch nicht vollständig eingebracht und die Kornernte vor der Tür! Für einen städtischen Kurierdienst kein Pferd im Stall, kein Knecht, keine Magd auf dem Hof, kein Kuchen gebacken, kein Braten im Vorrat, die Gardinen ungewaschen, nicht einmal die gute Stube frisch gescheuert!

Und diese unwirtliche Blöße, dieser sozusagen Naturzustand stieg mit grausamer Helligkeit jach vor Johann Mehlborns Seele auf, als er, in Hemdsärmeln und Leinenhosen zum höchsteigenhändigen Abbansen auf einem Heuwagen stehend, zum ersten Male im Leben eine Equipage mit silbernen Wappenschildern an den Schlägen in den Hof fahren, einen Livreediener mit silbernen Wappenknöpfen vom Bocke springen sah und von unten herauf ihm, Johann Mehlborn, den bevorstehenden Besuch des Herrn Propstes von Hartenstein ankündigen hörte. Der feine Bediente hatte ihm demnach, trotz Hemdärmeln und Leinenhosen, die freiherrliche Verwandtschaft an der Nase angesehen; er konnte, weiß Gott! sich doch nicht selbst verleugnen, wie der Portier im exzellenzlichen Hause bei ungelegenen Besuchen seine Herrschaft verleugnete. Er hätte aus der Haut fahren oder in ein Mäuseloch kriechen mögen.

Wenn aber gastlicher Sinn eine zweifelhafte Volkstugend ist, eine ritterliche Tugend ist sie sonder Zweifel. Ein einziger schwacher Moment, und Ritter Mehlborn ist tapfer gefaßt und gewillt, dieser Tugend Raum zu geben. Vom Wagen herunter, ins Haus hinein!

»Röse, Röse, den Schlüssel zur guten Stube! Einen Besen, Sägespäne, Röse! Weißen Sand, ein Wischtuch, eine Bürste, Röse!«

[85] Selbst ist der Mann! gefegt, gewischt, gebürstet mit eigener ritterlicher Hand; der geschicktesten Jungemagd zum Muster. Der Sofabezug von klatschrosenrotem Moiré leuchtet, als hätte noch niemals ein Kirmesgast darauf Platz genommen; das Holzwerkvon strohgelber Birkenmaser blitzt und blinkt wie pures Gold. Aber das Blankwichsen der geschnitzten, schwarzen Delphine, welche den Fuß des Sofatisches zieren, das kostet noch Schweiß! Ist die gute Stube des Amtmannshauses Stolz, so sind die geschnitzten Delphine der Stolz der guten Stube. Die Tische der Nachbarschaft samt und sonders haben noch vier dünne glatte Beine; Amtmann Mehlborns Sofatisch hat einen dicken Fuß mit drei geschnitzten »Philadelphias«!

»Aber, Mutter, so rühre dich doch, du stehst ja wie im Traume!«

Die unschuldige Mutter Röse, sie im Traume! Als ob in solcher Hatz einem Menschen der Frieden käme, wo er seinen Liebling zwischen den Abendwolken lächeln sieht! Hatte sie denn nicht erst dem abtrabenden Postillion ein Kümmelchen reichen müssen und dem feinen Bedienten ein Schmalzbrot dazu schmieren? Und pustete sie denn jetzt nicht nach Lungenkräften die Fliegenleichen aus den goldenen Tassen auf der guten Kommode? die armen, hochmütig verirrten Fliegen, die in der guten Stube einem grausamen Hungertode erlegen waren, da sie in der bescheidenen Wohnstube drüben sich behaglich bis in den Winter hinein hätten mästen können!

»Aber, Mutter, ist denn heute Zeit für die Fliegen? Wer guckt denn auch gleich in die Oberköpfchen!«

Mutter Rosine stellte das Pusten ein und machte sich an das Putzen der Fensterscheiben, denen durch die abgelebten Insekten erbärmlich mitgespielt worden war.

[86] So, nur noch ein paar Hände voll Sand auf die gefegten Dielen gestreut, und die gute Stube ist in Stand. Bleiben der Herr Vetter über Nacht, wird ein Bett darin aufgeschlagen. An Federbetten ist kein Mangel und an Überzügen auch nicht; sogar ein paar weiße sind für erhofften vornehmen Besuch angeschafft worden, und bis zum Beziehen ist auch die Jungemagd wieder auf dem Hof.

»Jetzund ans Decken!«

Amtmann Mehlborn ist ein Fünfziger, aber noch bei Jünglingskräften. Ein Spiel für ihn, die schwere eichene Tafel aus der Leutestube in die gute zu rücken, die beiden Enden herauszuziehen und, während die Amtmännin Weißzeug und Geschirr auflegt, die Vorräte herbeizuschleppen, welche Rauchkammer und Keller in Julitagen bieten. Treppauf, treppab, wie ein Wetter! Beim Heuladen in der Mittagsglut würde dem beleibten Herrn der Kopf nicht so schmählich geraucht haben wie bei diesen gastfreundlichen Ritterdiensten. Zweien Schinken und einem Dutzend diverser Würste werden Holzzeichen und Bindfäden abgeschnitten, das letzte Sauergurkenfaß geöffnet, ganze Batterien von Weinflaschen des edelsten – Werbenschen – Gewächses aufgepflanzt; was der Tafel an Mannigfaltigkeit gebrach, ersetzte die Masse. Eine Schwadron hätte sich beim Herbstmanöver an ihrer Fülle sättigen und in undisziplinarischen Taumel zechen können. Aber immer hatte der Hausherr seiner Gastlichkeit noch nicht genug getan; – das liebe Gut, blieb etwas übrig, kam ja nicht um! – immer hatte er noch etwas zu fordern, etwas auszusetzen.

»Aber, Mutter, hausmachenden Drell! fix, ein blumiges Tischtuch!«

»Röse, der Teller hat einen Sprung!«

»Aber Frau, hast du denn gar kein Augenmaß? Dort [87] hinunter noch eine Wurst; die Geometrie muß doch rauskommen, Röse.«

Die arme Mutter Röse wußte nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Das Weinen war ihr näher als das Lachen. »Ach, daß die gute Frau Pastorin auch gerade in Wochen liegen muß!« seufzte sie.

»Ja,« brummte ihr Amtmann, »wenn man die Leute nicht braucht, hat man sie das ganze Jahr, und braucht man sie endlich einmal – –«

»Hat man sie auch!« ergänzte eine lachende Stimme, und Holland war aus seiner Not.

Numero eins brachte die gute Freundin heimlichen Trost: Hochwürden blieben nicht über Nacht, es brauchte kein Bett aufgeschlagen zu werden. Numero zwei: verurteilte sie die Strategie der Massen: zu einer Abendmahlzeit war die Stunde viel zu früh. Hurtig die Tafel wieder hinaus! Dort auf den Sofatisch eine leichte Kollation, eine Schale Milch, ein Körbchen Erdbeeren, frisch von den Kindern im Pfarrgarten gepflückt und fürsorglich mitgenommen; das genügte.

Dem gastlichen Rittersmann kam es hart an, sein geometrisches Kunstwerk eigenhändig wieder zu zerstören, Brote, Butter, Käse, Schinken, Würste, saure Gurken und sämtliche Weinflaschen bis auf zwei, eine rote und eine blanke, die sich absolut nicht abdringen ließen, bis auf gelegenere Zeit nebenan in die Schlafkammer zu tragen. Gottserbärmlich kam ihm die »Kollision« über den »Philadelphias« vor! Aber die Frau Pastorin war Gouvernante in einem Grafenhause gewesen, sie mußte sich auf den Appetit vornehmer Leute in der Vesperstunde verstehen.

»Wenn der gnädige Herr nun aber bis in den Abend hinein bleibt?« fragte Mutter Rosine schüchtern.

[88] »Dann machen wir Tee, Frau Amtmännin.«

»Tee? Ist der arme Herr denn krank?«

»Gottlob! nein. Aber seinesgleichen trinken, auch wenn sie gesund sind, abends Tee.«

»Was Sie sagen, Frau Pastorin! Kamillen oder Flieder?«

»Aber Mutter, Mutter, wie dumm!« fuhr der Amtmann dazwischen. »Amerikanischen Tee, Tee aus Chinarinde natürlich.«

»Ich schicke durch Luischen schon die rechte Sorte, und sie besorgt das übrige, wenn er bleibt. Aber Sie werden sehen, er bleibt nicht.«

»Desto besser,« dachte der Amtmann; laut jedoch sagte er: »Das täte mir leid.«

»Nun aber fix an die Toilette. Dein seidenes Abendmahlskleid, Mutter! Und Handschuhe, hörst du, Handschuhe! Und noch eins: Rufe mich nicht ›Jôhann‹, so heißen bei den Vornehmen alle Kutscher, und wenn du von mir redest, sage nicht ›mein Amtmann‹, wie gegen die Bauern und das Gesinde. Nenne mich – –«

»Ich werde dich gar nicht nennen, Jôhann,« versprach Frau Rosine, und ihr Amtmann gab sich damit zufrieden. Sie hätte »mein Gemahl« oder »lieber Johannes«, wie es diesem geistlichen Vetter am eindrucksvollsten geklungen haben würde, doch im Leben nicht über die Lippen gebracht.

»Sie ist und bleibt Hentschler-Röse!«

Mit diesem Stoßseufzer sprang der korpulente Herr, leichtfüßig wie ein Hirsch, die Treppe zum Boden hinan, wo in dunkler Kammer, zwischen Pfeffer und Mottenkraut eingepackt, das Kleid des Hochzeitsvaters ruhte, das, um schweres Geld vom königlichen Hofschneider geliefert, binnen fünf Jahren selbst nicht zum Genuß des heiligen Mahles aus der Lade genommen worden war.

[89] Unten in der Wohnstube aber blickten und nickten die beiden guten Freundinnen sich lächelnd zu. Das Gottestischkleid blieb ruhig im Schranke hängen; nur eine frische Haube wurde aufgesetzt und statt der leinenen eine schwarze Taffetschürze über den Alltagsoberrock gebunden, der seit des armen Hannes Tode ein Trauerrock geblieben war. Die Amtmannsfrau sah häuslich nett aus, recht wie die liebe stille Seele, die sie ja war. Und dann saßen die beiden guten Freundinnen nebeneinander und plauderten, nicht von dem fremden vornehmen Besuch, sondern von dem Wiegenpärchen in der Pfarre und der geplanten sonntägigen Doppeltaufe. Frau Hanna vertraute Frau Rosinen, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, – bis es jedenfalls heute noch von ihrem Konstantin gelöst werden würde, – das Geheimnis von dem königlichen Mitgevatter und seinem Stellvertreter. Frau Rosine hatte sich darauf gefreut, auch die arme Hutmannswaise ihr Patchen nennen zu dürfen; sie erkannte es aber doch dankbarlichst an, daß ein so hoher Ehrenposten, für den der Herr Landrat sich nicht zu groß geachtet haben würde, ihrem Amtmann zugedacht worden war. Das Eingebinde, versicherte sie, werde sie sich indessen nicht nehmen lassen, so als ob sie die richtige Gevatterin wäre, und was in späteren Tagen Patenpflicht sei, darauf könne die Frau Pastorin sich von ihr Rechnung machen.

Während dieses gemütlichen Zwiegesprächs unten in der Wohnstube machte oben in der Bodenkammer der germanische Hauswirt recht ungemütlich die Erfahrung, was es bedeuten will, daß Hoffart Zwang zu leiden hat. In seinem Alltagsrock hatte er es kaum bemerkt, wie umfänglich die hohen Bestrebungen auch seinem Leibe angeschlagen waren. Der blaue Frack würde geplatzt sein, wenn er die gelben Knöpfe hätte schließen wollen, die Arme staken wie [90] in einer Zwangsjacke in den Ärmeln, die steife, hohe, weiße Krawatte ging hinten nicht mehr zu, und die noch höheren weißen, steifen Vatermörder reichten nur noch bis hinter die Ohren; die feinen Lackstiefeln aber preßten, daß der arme Gestiefelte laut aufstöhnen mußte. Ist es indessen nicht ein Merkmal des Wohlstandes, wenn der Mensch in die Breite auslegt? und gewöhnt er mit einiger Geduld sich schließlich nicht an alles, selbst an pressende Stiefel? beides wahr! allein, – ach, daß unser heißestes Verlangen doch fast immer zu früh oder zu spät in Erfüllung geht! seit acht Tagen hat der städtische Meister den Bartwuchs nicht geschoren, den üppigen Haarwuchs seit vier Wochen nicht gestutzt! Freund Beyfuß würde willig seine Hand zur Aushilfe geboten haben, aber wo in dieser Hast den Allerweltsmann Beyfuß auftreiben?

Ei nun, was einmal nicht geht, das geht nicht, und ein kluger Kopf wird aus jeder Not eine Tugend zu machen wissen! Die feinsten Pastores fangen alleweile an, ihre Haare lang zu tragen, der Propst von Hartenstein tuts am Ende auch; warum Amtmann Mehlborn also nicht, da er, wenn auch nicht selbst ein Pastor, doch halb und halb der Patron des Pastors ist und die Quatember zu zählen sind, wo er es ganz und gar sein wird? Was aber die Stoppeln im Gesicht anbelangt, so wird Amtmann Mehlborn es gelegentlich einfließen lassen, daß er sich nicht nur zwei zivile Backenbärte, sondern auch einen ritterlichen Schnurrbart stehen läßt, und das wird keine leere Ausflucht sein; Rittersmann Mehlborn begreift sich selber nicht, daß er des kennzeichnenden Schmuckes so lange entraten konnte! Mit außerordentlicher Genugtuung steckt er den Siegelring an, dessen Karneolstein mit einem verschlungenen I. M. und einer Krone, aber leider noch ohne Perlen darüber, das Mittelglied [91] des Zeigefingers erreicht; wer hätte dieses Juwel bemerkt, wenn die weißen Hochzeitshandschuhe noch an die Hand zu bringen gewesen wären? Der Herr Amtmann wird sie in der Hand tragen, vornehm wedelnd, nach Art eines Kavaliers. Es ist ein befriedigtes Lächeln, mit welchem der Herr Amtmann einen letzten Blick in seinen kleinen Handspiegel wirft. Die dicke goldene Erbskette an der silbernen Uhr macht einen nobelen Effekt, das dicke Berlockebündel hüpft und blitzt, daß es eine Lust ist, über der schwarz verhüllten rundlichen Leibesfülle. – Er langt nach seinem Hut und – läßt ihn fallen, ein Stich ist ihm jählings durch das Mark gefahren!

»Fix, Jôhann, fix! Sie sind schon da!« hört er von unten herauf das unverbesserliche Weib rufen, das er noch eben im Geiste »seine Gemahlin« angeredet hat.

In seinem Aufruhr, seiner Hast und der pressenden Fußbekleidung wäre er um ein Haar die steile Bodenstiege hinabgestürzt, und was er unten im Flur zu sehen und zu hören bekommt, ist wahrlich nicht dazu angetan, ihm die Kontenance zurückzugeben. Im Hintergrunde entschlüpft die geistliche Beraterin verstohlen durch die Hoftür – in diesem entscheidungsvollen Moment! O, daß ihr guter Freund im nämlichen Moment ihr nicht Schur um Schur vergelten konnte! – Im Vordergrunde steht seine Gemahlin im kattunenen Alltagsoberrocke, sonder Reverenz noch Handschuhe ihrem Pastor und erst nach diesem dem hohen Gastfreunde die schwielige Hand zum Gruße reichend und ihn in den reinsten Werbenschen Naturlauten willkommen heißend.

»Zum Katholischwerden ists!« sagte Johann Mehlborn; das heißt, er dachte es nur; denn dieser bedeutende Mann wußte, was er seinem Stande, den Ehestand eingeschlossen, schuldig war. Wer verlangt von dem häuslichen Weibe [92] die Bildung des Mannes? Wie das hochzeitliche Gewand den kattunenen Oberrock, wie den etikettewidrigen Händedruck die Reverenz, zu welcher, so tief als in sotanem knappen Gewande tunlich, der stattlich breite Rücken abwärts gezogen wird, so deckt der Wohllaut der männlichen Rede die »kalligraphischen« Schnitzer der Frau. Noch niemals hatte Johann Mehlborn Gelegenheit gehabt, sich so im Zusammenhange vor einer Standesperson auszusprechen. Inständigst war sein Bedauern, dem hochwürdigen Herrn Propst in diesem bescheidenen Amtshause, das er, nämlich Johann Mehlborn, nur ihrem beiderseitigen Herrn Bruder, Exzellenz, zu Gefallen und Vorteil noch nicht geräumt habe, keinen solenneren Empfang bereiten zu können; zuverlässig war seine Beteuerung, daß der hochwürdige Herr Propst mit aller Standesgemäßheit aufgenommen werden würde, wenn er ihm, nämlich Johann Mehlborn, künftighin auf dessen eigenem Rittergute die Ehre seines Besuches vergönnen werde. Wie Honigseim floß der »französisch« gewürzte Vortrag über Johann Mehlborns rote Lippen, wie Musik klang sie in sein eigenes Ohr; in seinem stolzen Haupte reifte während desselben der Entschluß, als Bewerber um den Platz eines ritterschaftlichen Abgeordneten im Provinziallandtage aufzutreten und durch seine leider erst so spät erprobte rednerische Gabe die große, lange schwebende Frage der zu verbreiternden Wagenspur zum endlichen Austrag zu bringen. Als aber von seiten des so standesgemäß Gefeierten der Vortrag nur mit einer stummen Verbeugung gefeiert ward – es schien heute der Tag stummer Verbeugungen –, da wird es jedem natürlichen Menschen einleuchten, daß Johann Mehlborn an der so laut gerühmten oratorischen Kraft des geistlichen Hartenstein bedenklich irre ward.

[93] Und auch im Punkte der feinen Lebensart schien es schwächer mit ihm bestellt, als es von einem Freiherrlich von Hartensteinschen Familiengliede zu erwarten gewesen wäre. Denn was sollte man dazu sagen, daß er, in die gute Stube und auf den Ehrenplatz des klatschrosenroten Kanapees genötigt, auch von dieser Höflichkeit keine Notiz nahm, sondern wie der ordinärste Bauer sich einen Rohrstuhl aus der Ecke holte und sich nicht einmal darauf setzte, nein, nur die Hände auf die Lehne gestützt, stumm wie ein Ölgötze hinter demselben stehen blieb?

Ei nun, mochte er stehen, der kuriose Menschensohn! Ein gebildeter Hauswirt muß Langmut üben. Was er sich aber nunmehr herausnahm, wird der langmütigste Hauswirt sich von dem kuriosesten Menschensohne schwerlich gefallen lassen. Erquickte er sich wohl durch einen Tropfen an der Kollision, die über den Philadelphias aufgetragen stand? Armselig genug war sie; was wahr ist, muß wahr bleiben. Jedoch wer trug die Schuld als die superhelle Pastorsfrau, die eines Mehlborn Gastfreundschaft nach ihrer eigenen Pauvreté taxierte! Gut. Aber durfte von der doch gewiß reputierlichen Mahlzeit, die in der Schlafkammer bereitstand, wohl ein Bissen hereingebracht werden? Bewahre! Als ob man es an Aufzählen, Anpreisen, Nötigen hätte fehlen lassen! Und mir nichts dir nichts, ohne alle Fasson schlug er eines wie das andere ab, schüttelte den Kopf und bat – um ein Glas Wasser. Ein Glas Wasser! nicht der miserabelste Landstreicher hätte in des reichen Johann Mehlborn Hause mit einem Glas Wasser fürliebgenommen, und dieser nobele Anverwandte – –!

»Dieser nobele Anverwandte kann mir gestohlen werden!« dachte der reiche Johann Mehlborn, tat nun auch nicht mehr [94] dergleichen, warf sich in einen Stuhl und hielt seinen Mund. Ein Engel, ach nein, kein Engel, ein höchst unfriedsamer Geist flog durch die gute Stube.

Aber so ungemütlich ihm selbst zumute war, ein friedsamer Geist gab dem guten Pastor Blümel ein, was allenfalls noch geeignet schien, der überhandnehmenden üblen Laune zu steuern. Er setzte sich auf den Ehrenplatz, ließ sich ein Glas Wein einschenken, stieß mit dem Herrn Amtmann an auf sein Wohl, trank es aus ohne allen Appetit und sann – mit dem stärksten Verlangen nach seiner Pfeife – auf einen ablenkenden Unterhaltungsstoff, zu welchem er sein persönliches Anliegen nicht geeignet erachtete.

Noch hatte er denselben indessen nicht gefunden, als die Hausfrau in die stille gute Stube zurückkehrte, ihrem Gaste das gewünschte Glas Wasser reichend, das sie frisch am Brunnen geschöpft hatte. Er dankte und trank; sie bat ihn, ihr die Ruhe nicht mitzunehmen. Er ließ sich an ihrer Seite nieder, und nun brach sie das Eis, indem sie, in ihrer so arg- wie harmlosen Weise, sich nach dem Befinden der gnädigen Frau und der lieben kleinen Familie erkundigte.

Die gute Frau schien den Schlüssel zu ihres schweigsamen Gastes Herz und Lippen gefunden zu haben; denn er gab freundlich den Bescheid, daß es seiner Ottilie recht wohl gehe und daß Gott sein Haus mit drei Kindern gesegnet habe, einem Sohn, Martin, –«

»Wie unser Herr Doktor Luther!« fiel Frau Rosine ein.

»Nach ihm, Frau Amtmann, wie es einem lutherischen Pfarrer für seinen Erstgeborenen ziemt. Die beiden jüngeren sind Töchter.«

»Wie heißen denn die lieben kleinen Fräulein, gnädiger Herr?«

»Lydia und Priscilla, Frau Amtmann.«

[95] »Die Namen habe ich aber noch niemals gehört. Wohl Freundschaftsnamen, gnädiger Herr?«

»Evangelische Namen, treue Bekennerinnennamen,« erklärte der Propst, und sein ungetreuer Amtsbruder hörte, mit Recht oder Unrecht, zum zweiten Male eine Anzüglichkeit aus der Erklärung heraus.

»Mein seliger Sohn hatte auch einen schönen frommen Namen. Er hieß Johannes, gnädiger Herr,« flüsterte die arme Mutter, und ihre stillen Augen blickten tränengefüllt gen Himmel.

Auch Joachim von Hartenstein schlug die Augen groß in die Höhe, sein bleiches Gesicht wurde noch einen Schatten bleicher; er stemmte die Hand gegen die Brust, und seine Lippen zuckten wie von verbissenem Schmerz. Zum zweiten Male flog ein Engel durch die gute Stube, wenn es nicht der Geist alter, blutiger Stunden gewesen ist.

Pastor Blümel räusperte sich, was seine Freundin an ein Wort des Dankes, das sie ihm schuldig sei, gemahnte.

»Ich freue mich recht auf den Sonntag,« sagte sie, indem sie ihm über den Tisch hinüber die Hand reichte. »Wie ein Kind freue ich mich, mein lieber Herr Pastor. Und daß das kleine Herzchen halbwegs nach mir heißen soll, und daß – –«

Der Pastor Blümel drückte bedeutungsvoll ihre Hand, gab auch mit den Augen einen Wink, nicht fortzufahren; die ehrliche Seele hatte jedoch in seiner Hanna Schlangenschule allzu geringe Fortschritte gemacht, um diese Warnungszeichen zu verstehen. »Und daß,« setzte sie hinzu, »daß auch mein Jôh – – mein guter Mann, wollte ich sagen, die Ehre haben soll.« –

Der gute Mann war froh, bei schicklicher Gelegenheit das vornehme Schweigen brechen zu dürfen. »Was für [96] eine Ehre?« fragte er. »Bin ich auch mit gebeten, als Fr – –, als Speisegevatter, meine ich, he? Schön Dank, Pastorchen. Ich bin dabei. Schön Dank!«

»Behüte, Vater,« entgegnete die Amtmännin, ihr Pastor mochte blinken, soviel er wollte. »Behüte, nicht bloß so nebenher. Stehen sollst du, selber stehen bei dem armen kleinen Frey.«

»Sollte mir fehlen!« brummt der Amtmann, dem der alte Mehlborn bedenklich in den ritterlichen Nacken zu schlagen begann. »Komm mir doch nicht mit deiner alten Litanei. Der Herr Pastor weiß es ja, ich stehe nicht, ein für allemal nicht bei – –«

»Aber, Jôhann, bei dieser ehrenvollen Gelegenheit – –«

»Schöne Gelegenheit! Schöne Ehre, den zehnten Jungen von einem Bruder Saufaus übers Wasser zu halten! Schönes Exempel, für zehn Kinder Bettelpatenbriefe an honette Leute auszutragen! Und tuts einer beim zehnten, muß ers beim neunten auch tun, und dann beim achten, beim siebenten, am Ende wird ein Observatorium draus, und der herzallerliebste Allerweltspate kann selber Bettelpatenbriefe austragen gehen.«

Es wäre jetzt dringend Zeit gewesen, mit der Eröffnung vom Königsgevatter einzuschreiten. Aber die gute Freundin hatte sich besonnen, daß sie ihrem Pastor damit nicht vorgreifen dürfe, und dem Pastor widerstand sie jetzt erst recht. Er war sich kaum deutlich bewußt, aus welchem ersten oder letzten Grunde. Witterte er erneuten Streit mit dem geistlichen Zeugen? War es die Entrüstung über seines Beichtsohnes erbarmungsloses Gebaren, heute doppelt empfindlich vor diesem streng richtenden Zeugen? In der Stille entschlossen, die Ehre der königlichen Stellvertretung einem Würdigeren als diesem hartherzigen reichen Manne zuzuwenden, [97] begnügte er sich, ihm zu sagen, daß er die geziemende Erwiderung auf eine schicklichere Stunde verschiebe.

Leider jedoch ließen Rede und Gegenrede sich nicht mehr aufhalten. Herr von Hartenstein war auf den beregten Fall aufmerksam geworden und seine Nachbarin in vollem Zuge, ihm die gewünschte Aufklärung zu geben. Mit einer Geläufigkeit, welche bei der stillen Seele nur erklärt werden kann durch die Freude, mit der ein guter Mensch des anderen Loblied singt, Tränen der Rührung und des Freundesstolzes in den Augen, erzählte sie von dem Trauerfall im Hirtenhause, von des Herrn Pastors erbaulichem Grabsermon und der Wohltat der lieben Frau Pastorin. Wie sie das verwaiste Kind an das Mutterherz und sogar an die Mutterbrust genommen habe, wie der zehnte Sohn und die siebente Tochter in der Wiege nebeneinanderlägen, als wären sie ein Zwillingspärchen, und wie sie, die schon jetzt in aller Unschuld, nicht anders denn zwei Engelchen, miteinander in der Badewanne säßen, sie gleicherweise auch nächsten Sonntag miteinander im Bade der heiligen Taufe zu Christen geweiht werden sollten.

Der Gastfreund hatte ihr zugehört mit gefälligerem Anteil als der Ehegatte, der irgend etwas Unverständliches in seinen Bart brummte. Jetzt richtete der erstere an den letzteren die Frage:

»Verstehe ich Sie recht, Herr Amtmann, so entziehen Sie sich einer der wesentlichsten Christenpflichten aus dem Grunde, daß in Ihrer Gemeinde wie in etlichen anderen mir bekannten die Unsitte waltet, die Taufzeugen an Stelle der Eltern das Kirchenopfer tragen zu lassen?«

»Na, das fehlte gerade noch!« rief der alte Mehlborn und lachte dabei mit so gröblichem Spott, daß sein vornehmer Widerpart schier entsetzt zusammenzuckte. »Auch [98] noch die Spesen den Gevattern auf den Hals gewälzt! Daß das Stehen egal ein Muß würde,notabene bloß für den, der was zu spesen hat, und daß zu guter Letzt der rückständige Herr Taufzeuge in den Turm spazieren müßte, derweile der Mosjö Lump von Vater sein Fleisch und Blut anstatt des Zinshahnes in die Pfarre trüge. Quod non, Herr Hochwürden, so dumm ist die Werbener Gemeinde nicht. Verlangts nun einmal die Humorität, daß dem Kindersegen Tor und Tür geöffnet und dahero, wie unser Herr Pastor es beliebt, die Taufgebühr erlassen wird – –«

»Die Taufgebühr darf auch den ärmsten Eltern nun und nimmer erlassen werden,« unterbrach ihn der Propst mit einem strengen Seitenblick auf seinen Amtsbruder. »Die Christenliebe mag der Menschennot auf anderen Wegen entgegenwirken. Jedwede unserer Gebühren ist ein Opferzoll, welchen der große Reformator aus der alten Kirche in die neue gerettet hat.«

»Ein gemein Almosen, das man williglich gäbe und austeilete unter die Armen nach dem Exempel Sankt Pauli,« zitierte Pastor Blümel mit ruhiger Würde, und der standfeste Lutheraner mochte das Zitat wohl gültig finden, da er kein anderes dagegen anführte. Aus seiner persönlichen Amtspraxis war bekannt, daß er die Stolgebühren seiner reichen Gemeinde zwar nicht bloß als ein freiwilliges Almosen in Empfang nehme, daß er aber das, was er mit der rechten Hand gefaßt, alsobald mit der linken in seine Armenbörse lege und daß diese Börse lose Schnüre habe.

»Wenn demnach,« so wendete er sich von dem geistlichen Widerpart zu dem weltlichen zurück, »das Gottesopfer es nicht ist, das Ihnen widersteht, und ich nicht annehmen kann, daß der heilige Akt an sich es ist, da Sie ja in höher [99] gestellten Kreisen sich demselben nicht zu entziehen scheinen, so ist mir unerfindlich, was – –«

»Was mir bei Betteltaufen widersteht?« unterbrach ihn nicht der Ritter, sondern der Bauer Johann Mehlborn im allertrautesten Werbenschen Deutsch. »Na, sehen Sie, Herr Hochwürden, das Menschenopfer ist es, das, was man ein Beutelmassakrieren nennt, um mich noch christlich auszudrücken. Höher hinauf, ei freilich, Geldkosten machts da auch; ganz gehörige Kosten: Gevatterkutsche, Gevatterbukett, Gevatterhandschuhe, ein feiner Präsentierteller für die Frau Gevatterin, die schweren Douceurs noch gar nicht in Anschlag gebracht. Aber es bleibt unter der Freundschaft, man hat seine Ehre und seinen Spaß davon, dem Amen folgt ein Traktament, und damit hat die Geschichte ein Ende. Konträr bei solcher Lumpenbagage, da fängt die Drangsalei nach dem Amen erst an. Als da ist: Eingebinde, niemalen schwer genug; soundso viel ins Becken für den Küster, soundso viel der Hebamme in die Hand. Was geht mir, Johann Mehlborn, die Hebamme an? Anjetzo: die Suppen für die Gevattermutter, sechs Wochen lang, und die Altgevattern desgleichen; den Topf gehaufte voll, daß die ganze wertgeschätzte Familie während des Wochenbettes hübsch satt wird. Anjetzo: Patenpräsent am ersten Geburtstag und an jedem kommenden von neuem bis in Methusalems Alter hinein; Weihnachtens ein Wecken; Auslösung am Kindeltage; was Blankes für den Neujahrskarmen; Kleidasche zum ersten Abendmahl; Geschenk zur Hochzeit, zur Großpatenschaft; kurz und gut: eine Schraube ohne Ende, eine quasi vom hohen Herrgott eingesetzte Sakriererei. Du hast was, heißts, und ich habe nichts; du bist mein Herr Pate, folglich mußt du mich füttern, mich anziehen, mich was lernen lassen; mußt für mich gutsagen, [100] mir borgen, mir helfen und immer wieder helfen. Sela.«

Der erzürnte Bauer schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, daß Gläser und Flaschen aneinanderklirrten; Mutter Rosine wimmerte, Pastor Blümel blickte ernst vor sich hin, Herr von Hartenstein zog die Lippen, ob es nun Ekel bedeutete oder bloß ein Lächeln, so tief hinab, als Lippen sich ziehen lassen. Dann aber äußerte er mit strengem Ton: derlei weltliche Verquickung schädige die Würde des Sakramentes und müsse ihr von berufener Seite durch Lehre und Beispiel gesteuert werden. Der Taufzeuge sei bewußter Bürge für des Täuflings unbewußtes Christengelübde; er habe darauf zu halten, daß auch kein Jota desselben in seiner geistigen Zucht verkümmert werde. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die leibliche Fürsorge, das weltliche Fortkommen sei Sache der Familie, eventuell der Gemeinde, welcher es, insofern sie wohl geführet werde, an gutgewillten Christenbrüdern mit offenem Herzen und offener Hand nicht fehlen werde; wobei jedoch in erster Ordnung darauf zu achten sei, daß der Pflegling auf seinem natürlichen Grund und Boden erwachse, damit die Wohltat sich nicht in eine Wehetat verwandele.

»Man soll eines Kindes Wiege nicht verrücken,« fuhr er darauf, aus schließlich zu dem Pfarrer gewendet, fort. »Das aber um so weniger, wenn, wie im gegenwärtigen Falle, außer dem urväterlichen Sündenerbe, aus dessen Joche uns alle nur die Gnade erlöset, außer dem Erbe elementarer Not, unter dessen Joche, nach göttlicher Ordnung, die ungeheuere Mehrzahl der Menschheit im Schweiße ihres Angesichts seufzt und seufzen wird bis an das Ende der Tage, auch noch ein besonderes Erbteil bösen Blutes einem Kinde eingeimpft ist und je mehr und mehr zu wuchern droht. Die [101] Sünde der Väter soll heimgesucht werden bis in das dritte und vierte Glied; oder, falls Ihnen dieser Wortlaut antiquiert dünken sollte, Herr Prediger: auch das Laster entwickelt sich von Geschlecht zu Geschlecht, wie die Tugend, wie die Sitte, wie alle sogenannte Kultur. Der Großvater dieses Knaben war vielleicht nur ein Bärenhäuter; der Vater ward zum Trunkenbold. Der Sohn, im Taumel gezeugt, der elementaren Arbeitsstufe, in die er hineingeboren ward, entrückt, für die höhere, auf welcher er erwächst, unzulänglich beanlagt, ein heimliches Gift in seinen Adern, wird als Tor und kann als Verbrecher enden. Gefährlicher als Sünde tun, wirkt Sünde gutheißen, und der vor allen, welcher einer Gemeinschaft als Hüter göttlicher Zucht und Ordnung vorzustehen berufen ist, soll es unterlassen, das warnende Beispiel der Sündenfolge zu vertuschen. Ich nehme den Einwand, den Sie mir machen wollen, Herr Prediger, von Ihren Lippen. Jawohl, im Reiche Gottes, da sind wir Gleiche. In ihm, und nur in ihm, da gibt es wohl Stufen, aber keine Schranken; da konnte der niedrigste Sprosse des niedersten Volkes, konnte selber der sündige Zöllner noch zum Apostel werden. Und solch ein Apostel, von Gottes Gnadenfinger berührt, solch ein Erwählter war auch der arme Bergmannssohn, auf dessen Namen wir geweiht sind. Die abgelebte Schule des Klosters, in der er selbst gebildet worden war, zu sprengen, die Christenheit in ihre natürliche Ordnung zurückzuführen, die verweltlichte Kirche zu einem sichtbaren Gottesreiche wieder aufzurichten, das war der hehre Plan, dessen Bau die Nachfahren in Trümmer schlagen, und von dem es wie ein scharfer Splitter in das Auge eines Getreuen dringt, wenn er das erste Sakrament gleich einem Markttrödel abschätzen sieht.«

[102] Im Hofe schmetterte ein Posthorn. Der Propst erhob sich; der Pfarrer auch. Seltsame Widersprüche rangen in des friedlichen Mannes Brust: die Liebe, die ihm Glaube war, und Zorn, ja Feindseligkeit gegen zwei Menschen, welche er seit Jahren im gemeinen wie im erhabenen Sinne Freunde genannt hatte, drängten ihn zum Protest gegen des einen schnöde, des anderen grausame Konsequenzen. Hatte er bis zur Stunde einen mutterlosen Säugling zu zeitweiser Obhut in sein Haus genommen, in diesen Minuten der Leidenschaft nahm er ihn an sein Herz als eines jener Stiefkinder der Natur, an welchem er den Beweis adelnder Menschenliebe zu führen habe. Und so sagte er denn mit gehobenem Haupt und der Klangfarbe der Ironie, die wahrlich in seinem Gemüte ein Fremdling war, und trotzdem Wort um Wort sich bis zur heimlichen Schadenfreude steigerte:

»Sie würden mich wohl kaum so sträflicher Fahrlässigkeit in meinem Amt, so schwerer Irrtümer in meinem Glauben und Handeln vor Zeugenohren bezichtigt haben, Hochwürden, wenn Sie nicht mindestens den Versuch einer Rechtfertigung meinerseits erwartet hätten, wäre es auch nur, um Ihrer mächtigen Logik mit meiner schwächlichen neue Beweismittel zuzuführen. Wohlan, ich wage den Versuch: vor diesen Zeugenohren selbstverständlich auf beregten Einzelfall beschränkt. Ist es ein Irrtum, das Erbteil, welches uns der Erlöser mit seinem Leben und Sterben erworben hat, für wirksamer zu halten als das, welches uns im Blute des ersten und vielleicht des letzten Vaters überkommen ist, so bin ich dieses Irrtums schuldig, indem ich mich vermesse, einen Erben väterlicher Sündhaftigkeit aus seinem Wurzellande in das meine zu verpflanzen und unter der Zucht meines Hauses, wenn auch nur zu elementarer [103] Arbeit und Not, aber, so Gott will, zu einem Erben seines Reiches heranzubilden. Und fernerhin: ist es Schädigung eines sakramentalen Weiheaktes, wenn brüderliche Liebeswerke aus ihm gefolgert werden, so bin ich in hohem Maße dieser Schädigung schuldig, denn ich habe meiner Gemeinde bei jedem amtlichen Anlaß das Steuern und Stillen menschlicher Not als christliche Tugend und Sitte an das Herz gelegt; ja, ich war noch in dieser Stunde gewillt, einem Gliede meiner Gemeinde das Gemüt für jenes Erbteil der Barmherzigkeit zu erwecken und seinen rückwirkenden Segen ihm zuzuwenden. In letzterem Betracht und durchaus ohne Vorbehalt bekenne ich mich endlich schuldig einer Irrung, deren Konsequenz auch mir, Hochwürden, und mir zumeist, wie ein scharfer Splitter in das Auge gesprungen ist; eines sträflichen Mangels von Gott gebotener Klugheit in der Berechnung des Herzens, das ich für jene Zuwendung empfänglich und darum ihrer würdig achtete. Aus diesem Grunde, Herr Amtmann, ziehe ich mein Gesuch an Sie zurück, noch bevor ich es gestellt. Es fehlt – Gott Preis! – in meiner Gemeinde weder an gläubigen Christen noch an gutwilligen Menschenfreunden, welche für die Waise des armen Hirtenweibes das weihende Gelübde mit allen barmherzigen Folgerungen nicht scheuen und daher ein Anrecht haben, es im Namen des ersten Gottes- und Menschenfreundes in unserem Vaterlande auszusprechen. Unser teuerer König hat sich selbst geehrt, indem er den zehnten Sohn eines der ärmsten seiner Untertanen mit seiner Patenschaft beehrte.«

Der Redner schwieg, und seine drei Hörer schwiegen auch; der eine starr mit offnem Munde, die andere schluchzend mit vor die Augen gehaltener Schürze; der dritte lächelnd. Aber es war nahezu ein amtsbrüderliches Lächeln, mit [104] welchem der standfeste Lutheraner sich von dem biegsamen Unionisten in der Stille verabschiedete. Der eiferartige Widerspruch schien ihn priesterlicher angemutet zu haben als vorhin das ideale Schlaraffenland.

»Aber Mann – Blümel – Pastor – Freund!« stieß endlich Johann Mehlborn hervor, indem er seinen Seelenhirten mit beiden Armen schüttelte, als wäre er ein Apfelbaum. »Im Namen Seiner Majestät! Königlicher Prokurist! Allerhöchster Mitgevatter! Und das sagen Sie erst zu guter Letzt?«

»Hätten Sie Ihrem irdischen Lehnsherrn zu Gefallen tun sollen, Herr Amtmann, was Sie dem himmlischen verweigerten!« entgegnete Pastor Blümel, drückte Frau Rosinen die Hand und folgte Herrn von Hartenstein, der sich mit leichtem Gruße empfohlen hatte.


Mit hastigen Schritten schlug Konstantin Blümel den Heimweg ein. So hoch hatte er sein Haupt nicht getragen, so stolz seine Brust sich nicht geschwellt, seitdem sein Kommandeur das Eiserne Kreuz an dieselbe geheftet. Ja, solch eine Kampfesstunde macht frisches Blut!

Und doch, warum ging er mit Siegerschritten? Daß er ein verworfenes Stiefkind der Natur als das seine angenommen – war das ein Triumph? Vor zwei Stunden würde er das gleiche getan, würde, hätte er es durchzuführen vermocht, sämtliche Waisen seiner Gemeinde angenommen haben – ohne jeglichen Tugendstolz. Daß er einen betörten Mann vor Zeugenohren mit einer Hohnrede gegeißelt? Hatte er den alten Mehlborn nicht gekannt? Hatte er nicht schlechthin gelogen mit der Entschuldigung, daß er das Herz ihm zu öffnen gehofft? Ja, hatte er nicht geradezu mit Schlangenklugheit auf seine Torheit spekuliert? Daß er [105] einem tapferen geistlichen Obersten tapfer Widerpart gehalten? – Das also war es, – allein das!

Unwillkürlich mäßigte er seinen Schritt. Was schied ihn plötzlich von dem Manne, den er viele Jahre freudig und dankbar verehrt hatte? Was machte ihn zu seinem Gegner? Hatte jener eine Tat getan, ein Wort geredet, das der reformatorische Held, auf welchen sie beide geschworen, verleugnet haben würde? Widersprach Konstantin Blümels eigene Satzung der von den durch Gott gesetzten Erdenschranken, von dem Erbe der Sünde in unserem Blut, von dem kaum merkbaren Fortschritt der sittlichen Kultur? Wie oft hatte er denn das Wagnis, eines Kindes Wiege zu verrücken, gelingen sehen?

Vor der offenen Kirchtür hielter still. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf die schwarzen Priesterbilder am Altar; die leere weiße Stelle glänzte wie eine Silberscheibe. Wäre er in Wahrheit nicht mehr würdig, diese Stelle einzunehmen? Wäre er in Wahrheit ein Abtrünniger, weil – –

Hastende Schritte, ein gekeuchtes »Halt, halt!« unterbrachen die Prüfung. Der arme Quartalsritter! Wie der Schweiß von seiner Stirn tropfte, wie er pustete im knappen, goldknopfigen Hochzeitsfrack! Wie er Lippen und Augen zusammenkniff, sooft die zierlichen Lackstiefel auf ein Steinchen stießen!

»Aber, Pastor, Pastor!« schrie er schon von weitem. »So nehmt doch nur Räson an, alter Freund! Kann denn einem Menschen nicht einmal was Menschliches passieren? Ich war in der Bosheit, Pastor. Hol der Henker diesen hochmütigen Narren mit seiner verrückten Wiege und seinen Schranken und Stufen! Der pure Tusch! Auf mich gings, Blümel, egal auf mich. Na, drei Kreuze hinter dem Patron! Ich stehe, Pastor! Ich stehe aus gutem Herzen, und bleibt[106] Ihr trotzig, so stehe ich mit Gewalt. Aber, so wahr ich Johann Mehlborn heiße: ich stehe!«

Pastor Blümel war kein hartköpfiger Christ; er pflegte dem reuigen Sünder die Hand entgegenzustrecken, und Neinsagen ist ihm keiner Zeit eine leichte Sache gewesen. Dennoch würde er in diesem außerordentlichen Falle schwerlich nachgegeben haben, hätte er sein eigenes Gewissen völlig rein gefühlt, – und wäre nicht seine Hanna von der Gartenpforte aus des Sturmes und Abpralls Zeugin gewesen und herbeigeeilt, die Mittlerschaft zu übernehmen. Mit dem Handgelübde, auch ohne französische Stunde, den Exhirten Frey gegen braven Lohn in seinem Schacht arbeiten zu lassen; mit dem fernerweitigen Handgelübde, in Zukunft, wenn gewünscht, der Patenpflicht samt Pertinenzien bei jedem Werbener Frönerkinde gerecht zu werden, erkaufte der Rittergutsbesitzer Mehlborn die Ehre, kommenden Sonntag am Tauftisch der Werbener Kirche und für ewige Zeiten in deren Taufregister als Stellvertreter Seiner Majestät von Preußen zu paradieren. Die Versicherung: »Wen Johann Mehlborn über das Taufwasser gehalten hat, den wird er auch bei gemeinen Gelegenheiten über Wasser halten,« gab er in seiner Herzensfreude ungefordert noch drauf und drein.

Ach, er ahnete nicht, der wohlgemute Ritter, daß er mit dieser Ehre die höchste Stufe zum Throne erklommen haben sollte und daß er seiner Magnatenlaune zum letzten Male volles Genügen getan; aus welchem Grunde denn auch diesem Tage ein ausführliches Kapitel in der Geschichte seines Stiefpaten bewilligt werden mußte. Denn mit dem Besuche des geistlichen Hartenstein war in seine stolze Brust ein Keimkorn mißtrauischer Abneigung gegen eine Familie, um deren Gunst er bis dahin so eifrig geworben hatte,[107] eingesenkt worden. Und das Korn sproßte und bestockte sich. Als seine Brigitte das nächste Mal ein Schuldenregister ihres flottlebigen Gatten, ohne gleichzeitigen Kontrakt für den Verkauf des Gutes, einreichte, schlug er die Tilgung rundweg ab.

In Konstantin Blümels Seele dahingegen hatten nach einer schlummerlosen Nacht die stolzen Wellen sich gelegt, und Joachim von Hartenstein nahm als Mensch, als Patriot und Priester fast uneingeschränkt den bisherigen Raum in seinem Herzen wieder ein. In seinem Tageskalender, welcher diesen Aufzeichnungen vielfach zur Vorlage dient, steht unter jenem Datum geschrieben:

»Alles Unheil ist werdendes Heil. Ein absoluter Trieb nach Erhaltung wirkt daher unheilvoll, weil er sich feindlich gegen das Werdende verhält. Mit Recht ist in verwandtem Sinne behauptet worden, ›daß sogar ein absoluter Trieb nach Vollkommenheit eine Krankheit sei.‹ Hätten vollkommene Menschengeschlechter eines Heilands bedurft? Und bedürfte seiner ein vollkommener Mensch – wenn es einen gäbe? Bei alledem: welch ein Zauber liegt doch in der Macht eines Glaubens, auch wenn wir ihn nicht verstehen und selbst wenn er zum Fanatismus wird, den wir auf jedem anderen Gebiet als dem göttlichen hassen.«

Bei dem Verrücken der Wiege und der Liebesprobe an einem Stiefkinde der Natur blieb es selbstverständlich, und bei dem gemeinsamen Tauffest blieb es auch. Nur das Programm für dieses erlitt eine kleine Abänderung insofern, daß auch die Täuflingin einen Vizepaten erhielt und der Täufling ihrer sogar zwei. Es hatte sich nämlich der werte Amtsbruder Kurze in Bielitz am Tage zuvor den Knöchel verstaucht und schickte als Stellvertreter seinen Sohn. Der Feierlichkeit tat dieser Wechsel indessen keinen Eintrag, und[108] der darauffolgenden Fröhlichkeit kam er nur zugute, da der ehrwürdige alte Herr Amtsbruder als Gevatter für Gevatterin Luischen lange nicht so gepaßt haben würde wie der junge, muntere Herr Kandidat. Das wunderbare Wasser wirkte in den jugendlichen Herzen einen bis dahin schlummernden sympathischen Zug, und das obligate Gevatterküßchen zauberte auf die jugendlichen Wangen einen Rosenflor, welcher das Herz der Taufmutter verheißungsfroh klopfen ließ.

Frau Hanna Blümels Taufkuchen war noch niemals so hoch aufgegangen wie bei diesem Doppelfeste, und die Erdbeerbowle, welche sie aus den Gewächsen ihres Gartens und Weinbergs gebraut, war noch keinem ihrer Herrn Gevattern so angenehm prickelnd wie heute Amtmann Mehlborn zu Kopfe gestiegen.

Als majestätischer »Prokurist« trug er, selbstredend, den goldknopfigen Frack, dem ein städtischer Meister unter den Armen ein Stück bequemlich eingesetzt hatte. Ebenso selbstredend würde für einen bloßen Prokuristen das Eingebinde eitel Verschwendung gewesen sein. Aber die Gesundheit der Täuflinge stand ihm zu und wurde glorreich von ihm ausgebracht, nach dem das erste Glas vom Taufvater auf das Wohl des Allerhöchsten Gevattersmannes geleert worden war. Als spät am Abend der Vizegevatter der Taufmutter zum Abschied die Hand drückte, rief er in seinem kräftigsten Baß: »Ich will nicht Johann Mehlborn heißen, wenn dieser Königspate es nicht einmal bis zum Verwalter auf einem von Johann Mehlborns Rittergütern bringt!«

So großartig war die Perspektive des zehnten Hutmannssohnes schon an dem Tage, da er einen Namen erhalten hatte!

Dieser Name war ein gebotenes Paten- und zwiefältiges [109] Muttererbe. Da der Freysche Nachwuchs jedoch bereits durch einen Friede und durch einen Hannes vertreten war, mußte dem »Friedrich Hans« ein Rufname beigefügt werden, und entschied sich Pastor Blümel für den einigermaßen sonderbar, aber kennzeichnend lautenden Dezimus, der auch in der Gemeinde, da er an das schmählich ausgetauschte Dezemhuhn erinnerte, lange nicht so »preußisch« gefunden wurde wie der der Septima, welche, geschwisterlicher Analogie halber, der Rose Konstantia angehängt ward. Kantor Beyfuß äußerte sogar bedenklich: »Wenns nur nicht eine böse Sieben bedeutet!«

Und so schlummerten und strampelten denn Rose und Dezimus als junge Christen nebeneinander unter dem Wiegenhimmel, und weil sie mit ihrem Kosenamen Ma und Mus hießen, waren die ersten Laute, die sie lallen lernten, Mus und Ma.

[110]

Knabenstern

[111] [113]Noch bevor das Korn geschnitten worden, war der kleine Mus auch von Vaterseite eine Waise; und hatte der Hutmann Frey des Gerechten sanftes Schlummerkissen auch leider verwirkt, so ist es – Gott sei heute noch Dank dafür! – doch kein Sünderende, das er etwa im Taumel oder in der Verzweiflung genommen hat. Er starb im Gegenteil einen Opfertod, wennschon unbewußt und ohne daß einer von denen, welchen er schweres Unheil abgewendet, es ihm gedankt hätte.

Ein wildes Gebaren ging dem Sterben voran; keiner in der Gemeinde hatte Ähnliches erlebt, daher denn auch in ihr der alte heidnische Erbfeind, Kobold geheißen, seit der Kriegsdrangsal nicht dermaßen seinen Spuk getrieben. Selber der aufgeklärte Kantor Beyfuß konnte nicht leugnen, daß er, spät am Abend von einem Besuch in der Weidenmühle heimkehrend, einen bärengroßen schwarzen Kater mit Gluhaugen, gleich illuminierten Fensterscheiben, das Hirtenhaus habe umschleichen sehen. Der noch aufgeklärtere Amtmann Mehlborn lachte freilich seinen Freund Beyfuß aus und nannte des Klausen Zustand schlechtweg Säuferrappel; der Kreisphysikus, den Pastor Blümel zu Hilfe rufen ließ, nannte ihn dahingegen Wasserscheu. Der verdächtige Wirtshund, welchen er in der Geburtsstunde seines Sohnes erdrosselt, hatte den Klaus in die Hand gebissen. Wer achtete darauf? Der Klaus am wenigsten. Es war ein Tollhundsbiß.

Da seit dem Siebenschläfer keine Leiche im Dorfe bestattet worden war, fand Klaus Frey sein Reihengrab an der Seite seiner Frau. Pastor Blümel sprach den Segen darüber, und im Frühling sproßte der Rasen auf dem Hügel des lästerlichen Mannes so grün wie auf dem des tugendlichen Weibes; aber nur auf letzterem lag Jahr für Jahr ein Johanniskranz.

[113] Die Waisen, welche seit der Mutter Tode ein Vagabondenleben geführt hatten, wurden nunmehr in die Welt verstreut. Zweien von ihnen erwirkte der Pfarrer ein Unterkommen in provinziellen Versorgungsanstalten; dem dritten, durch seines Patrons Vermittlung, sogar eine Stelle im königlichen Militärwaisenhause. Die älteren Brüder wurden auf Bauernhöfen zu Knechten herangezogen; keiner jedoch in der heimischen Gemeinde, wo seit des Vaters nach wie vor nicht geheuerem Ende der Widerwille gegen die Hirtenbrut ein unüberwindlicher geworden war und die Ehre, welche dem jüngsten Sproß als Pastorziehkind angetan ward, das böse Blut obendrein ätzte.

Die gute Amtmannsfrau hätte wohl gern das Beispiel in der Pfarre nachgeahmt und den kleinen blondlockigen Hannes als Sohn in ihr Haus genommen. Aber welchen Kampf mit ihrem Amtmann würde das gekostet haben! Und die gute Amtmannsfrau fühlte sich von Tage zu Tage weniger eine Kämpferin. Ihre Kräfte gingen auf die Neige; bald, so getröstete sie sich, würde sie mit ihrem rechten Hannes im rechten Vaterhause vereinigt sein. Sie begnügte sich daher, in die Hand ihrer Pfarrfreundin eine kleine Summe niederzulegen, die für das Kostgeld zweier der Waisen, solange sie zum Dienen noch nicht herangewachsen waren, eben zureichte. Darüber hinaus klapperte sie aber auch oftmals – den Ohren beider Freundinnen recht tröstlich und wohlgefällig – mit dem Inhalt einer Sparbüchse, die sie die Gevatterbüchse nannte und in die sie wohl jeden Tag ein Münzstück für ihre Zwillingspaten steckte.

So stand das Hirtenhaus denn leer; der Rest seines Gerätes, Bett und Lumpen, waren der Tollwut halber verbrannt worden; das Schindeldach blieb unausgebessert, [114] denn lange Zeit fand sich – gottlob! – in der Gemeinde keine Familie, die arm genug gewesen wäre, zwischen den kahlen Lehmwänden ein Obdach zu suchen.

Die nächsten Jahre brachten böse Seuchen über das Land; bei uns die alten Blattern, weiterwärts die neue Cholera. Die Hälfte des jungen Freyschen Enaksgeschlechtes war dahingerafft, bevor der jüngste des selben ahnete, was Brudersein heißt. Man hat ihm späterhin seine Abstammung nicht verheimlicht; er kannte aber keine Familie außer der, welche ihn aus dem kalten Mutterleibe warm an ihr Herz und fest an ihre Hand genommen hatte; und fürwahr, er würde denen seines Blutes nicht mit gleicher Innigkeit angehangen haben, denn das zärtliche Neigen des Kindes stützte die tiefe Dankbarkeit der Waise.

In der töchterreichen Pfarre aber wurde das fremde, männliche kleine Anwesen von keinem als Überlast oder unnützer Brotesser angeschaut, sondern wie der Zugehörigste gehätschelt und gehegt. Alle Welt hatte ihre Freude, wenn sie den Mus und die Ma nebeneinander auf der Mutter Schoße sitzen oder späterhin sie Hand in Hand laufen und spielen sah. Sie waren unzertrennlich wie Zwillingskinder, dabei aber so verschieden geartet, wie leibliche Geschwister es selten sind. Ma: zart, zierlich, behende, ein schwarzlockiges Strudelköpfchen, zu Lust und Verdruß nervös erregt. Mus schon dazumal, wie er lebenslang geblieben ist: groß, stämmig, weiß und rot, niemals krank und niemals ungebärdig. Blinkende Sternchen nannten die Schwestern die Augen der kleinen Ma; die des Bruders Mus hätten sie Vollmondsaugen nennen müssen, so groß und rund waren sie, so hell und still. Aber nicht wie der liebe Mond, oder hinter ihrem dichten Wimperschleier die Sternchen der Ma, blickten sie stetig hinunter zu den Käferchen und Blümchen [115] im Grunde, sondern unverwendet und ungeblendet aufwärts zu den Himmelslichtern, wenn sie durch die Scheiben oder durch die Laubenblätter drangen.

»Das Mädchen sieht, wie sie kriechen, der Junge, wie sie fliegen,« sagte Kantor Beyfuß; mit welchem Sprichwort er freilich dem einstigen Verwalter ein bedenkliches Prognostikon stellte. Die Mutter aber verteidigte ihren Mus; erklärte, daß er die Augen nicht von dem Schwesterchen verwende, sooft sie ihn allein mit ihr in der Kinderstube oder auf dem Rasenplatze lasse; daß er den Quirlequitsch hüte wie einen anvertrauten Schatz und ihr den Ärger mit einer Kindsmagd erspare.

Überhaupt wußte die Mutter sich etwas mit ihrem Mus; und zwar nicht etwa, wie es mancher anderen Mutter beigekommen sein würde, um der Wohltat willen, die sie ihm erwies, sondern, was schwerlich einer anderen beigekommen sein würde, um eines geheimnisvollen Segens willen, der mit dem Mus unter ihrem Dache eingezogen sei. Frau Hanna Blümel war gegen gute wie böse zauberische Einbildungen in der Gemeinde ihrem Konstantin bisher eine rüstige Hilfsstreiterin gewesen; nun mußte sie sich um ihres Johannisglaubens willen manchmal von ihm strafen lassen.

So glatt und gleich, so ohne jegliche Krankheitsnot und Fährlichkeit war es noch nie in ihrer Kinderstube abgelaufen. Auch in der Wirtschaft glückte alles; alles gedieh; die Familie breitete sich aus über Hoffen und Erflehen. Seitdem am doppelten Tauffeste aus dem Gevatterküßchen ein Verlobungskuß geworden war, hörten die Bräute in der Pfarre von Werben nicht auf. Sooft nach dem Hochzeitsschmaus der Brautkranz ausgetanzt wurde, spielte das blinde Glück der nächstfolgenden Schwester das ahnungsvolle Symbol auf das Haupt, und kaum ein Jahr verging, [116] daß aus der Krone nicht eine Haube geworden wäre. Es zählte kein Nabob und kein Pair zu der Freierschar; aber wer in der Pfarre von Werben hatte sich auch Rechnung auf einen Nabob oder Pair gemacht? Das junge Paar baute seinen Herd, und das Elternpaar sah ihn bauen auf seinem eignen bescheidenen Grund; das junge Paar zog aus, und das Elternpaar sah es ziehen oftmals in weite Ferne; wenn aber die Wehmutstränen gegen die Freudentränen hätten abgezählt werden sollen, würden die letzteren überwogen haben. An dem Tage, wo Balsamine – das Minchen des Hauses – mit einem amerikanischen Schulmanne, vielleicht auf Nimmerwiederkehr, zu Schiffe ging, da sagte Pastor Blümel zu der bewegten Mutter, indem er dem Liebling zu seinen Füßen die dunklen Löckchen streichelte:

»Erkennst du jetzt, Hanna, die väterliche Liebe, die uns statt des ersehnten Benjamin dieses Röschen gab? Denn ein Haus ohne Töchter kommt mir vor wie ein Garten ohne seinen holdesten Schmuck, die Blumen.«

»Und einen Baum, der unserem Alter Frucht und Schatten geben soll, hat eine gütige Hand ja auch zwischen die Blumenkinder eingepflanzt,« versetzte Frau Hanna und sah ihren Dezem mit echten Mutteraugen an.

Aber das ist weit vorgegriffen. Als bei der jüngsten Pfarrhochzeit, in Ermangelung anderweitiger Bewerber, Schwester Rosen der Brautkranz und Bruder Dezimus der Bräutigamsstrauß gereicht wurden, da feierten Rose und Dezimus ihren dreizehnten Johannistag. Zurzeit jedoch stehen sie erst im Beginn ihres zweiten Stufenjahres, das heißt, sie sind vom Mus und der Ma zum Dezem und Röschen vorgeschritten und traben selbander in Kantor Beyfußens Schulstube.

Und da muß denn leider bekannt werden, daß im flüssigen [117] Lesen und zierlichen Schreiben der große Dezem von dem kleinen Röschen auf eine für den Helden einer Geschichte bedenkliche Weise überholt worden ist; ja, wäre zwischen menschlichen Hirnschalen nicht eine unsichtbare Zahlenwelt aufgetaucht – nach dem Sprachlaut vielleicht das erste Mysterium, welches den urwilden Jäger von dem urwilden Jagdtier unterschied –, da müßte dem Biographen für seines Helden Schülerehre bange werden. Die Arithmetik rettet sie. Schwester Röschen hat es im Leben nicht über das dritte der Spezies hinausgebracht; aber mit Addieren und Multiplizieren hat das klügste Frauenköpfchen ja auch für seine Lebenszeit mehr als genug getan, während, wenn möglich, noch ein Dutzend weitere Spezies erfunden werden müßte, um diesem oder jenem männlichen Schädel sein Gnügen zu tun. Und hinreichend dick für derlei Speziesappetit war Held Dezems Schädel schon in seinem ersten Stufenjahr. Kantor Beyfuß, der sich als einen zweiten Adam Riese schätzte, erklärte den Pfarrdezem für ein Quatermillionengenie, wie es ihm in seiner Praxis noch nicht vorgekommen sei. Die heidenmäßige Fertigkeit müsse dem Täufling mit dem heidenmäßigen Namen eingebunden worden sein, äußerte er vertraulich gegen Frau Julchen, seine Hausehre. In einem städtischen Kaufmannsgeschäfte, da könne der Junge es einmal zu etwas bringen; was aber ein Verwalter auf Amtmann Mehlborns Wirtschaftshofe mit solcher Quatermillionenkunst anfangen solle, das war dem Kantor Beyfuß ein Rätsel.

Und dem Pastor Blümel war es um so mehr ein Rätsel, als er sich niemals für einen Nebenbuhler Adam Riesens gehalten und es niemals beklagt hat, daß von allen idealen Gebieten das sogenannte unumstößliche ihm das verhüllteste gewesen, ja nahezu ein grauenerregendes geworden ist, als [118] er in der Schülerzeit einen Zipfel seines Schleiers zu lüften gezwungen ward. Wie sollte er, des Knaben vor Gott und Men schen verantwortlicher Führer, die ihm selbst so fremdartige Gabe entwickeln, wie sie in seiner bescheidenen Lebenssphäre dereinst verwerten?

Dieser erst durch die Schule geweckte Sinn wurde indessen noch bedenklicher, wenn der Vater ihn mit einem zweiten in Verbindung brachte, der sich schon früher, ohne durch Lehrwort oder Beispiel erregt worden zu sein, in dem Knaben offenbart hatte, bis dahin aber von den Eltern als eine Kinderlaune belächelt worden war: der nämlich für das Licht und die Lichter des Himmels.

»Es ist der dem Menschen eingeborene Trieb des Suchens,« sagte der Vater, »des Suchens ohne bestimmten Zweck. Das Kind sucht mühsam Steinchen und Blümchen und wirft sie, hat es sie gefunden, wieder fort. Ich alter Knabe sogar, bücke ich, wenn ich mich im Walde ergehe, nicht hundertmal meinen steifen Rücken, um mich mit Pilzen zu beladen, deren Wohlgeschmack mir unerfindlich ist, die du, Hannchen, der Giftgefahr halber, nicht auf den Tisch zu bringen wagst und die ich wieder fortwerfe, wie die Kinder ihre Steine und Blumen, wenn mir nicht eine alte Kräuterfrau begegnet, der ich mit meinem Funde einen Gefallen erweise.«

»Aber was sucht denn unser Dezem zwischen Wolken und Sternen, Konstantin?« fragte nach dieser Erklärung Mutter Hanna.

Ja, was suchte der Dezem, wenn er im Sommer stundenlang auf dem Hünengrabe hinter dem Pfarrgarten saß und – unverwendet wie ungeblendet – der Sonne nachstarrte, ohne etwas anderes zu sagen als: »Nun steht sie über dem Turm,« oder: »Nun ist sie am Zornberg, – über den Fluß [119] weg, – in der Stadt«? Was suchte er, wenn er an langen Winterabenden oder in stiller Morgenfrühe den aufgehenden Mond erwartete, sich verwunderte über seine wechselnde Gestalt und, ohne den Namen eines einzigen zu wissen, sämtliche größere Sternbilder kannte, die er am Horizonte auf und nieder steigen sah? Ehe er noch einen Blick in einen gedruckten Kalender getan, hatte er sich auf eigene Hand einen Familienkalender gebildet, hatte herausgebracht, um welche Stunde zu Vaters Geburtstag, im Dezember, die Sonne aus ihrem Nebelbette stieg, und um welche sie sich zu Mutters Geburtstag, im August, in ihr Flußbett niederlegte. Wie vor Jahrtausenden vielleicht auch schon ein Hirtensohn, sah er in den Sternen des Himmelswagens eine Freundesgruppe und taufte sie, der Größe nach, auf die Namen seiner sieben Schwestern; seinen Liebling aber, Winters den letzten im Morgendämmer, also den ersten, welchen er beim Erwachen gewahr ward, den nannte er noch ganz apart seinen Röschenstern.

Dem ruhigen, kräftigen Knaben durfte frühzeitig mancher Botenweg in Stadt und Umgegend anvertraut werden. Als er eines Tages mit seinem gefüllten Henkelkorbe von einem solchen außer Atem zurückkehrte, schalt ihn die Mutter ob seiner Hast. Er aber sprach, und seine runden, stillen Augen sprühten dabei von heller Lust:

»Ich bin mit der Sonne um die Wette gelaufen, Mutter, und früher angekommen als sie.«

»Die Sonne läuft nicht, Mus,« versetzte die Mutter lächelnd, »unsere Erde ist es, die mit den lieben Sternchen ringelrund um sie tanzt wie ihr Kinder um eure alte Mama.«

Das war das erste Problem in Dezimus Freys kindlichem Hirn, und es erregte in ihm einen Aufruhr wie kaum ein [120] zweites in späteren Tagen. Die Sonne, die er laufen sah, sollte stillestehen, und die Erde, die er feststehend unter seinen Füßen fühlte, sollte sich drehen, hatte die kluge Mutter gesagt, war also wahr.

Die kluge Mutter bereute ihre Übereilung; sie wußte, daß ihr Konstantin derleivorzeitige Aufklärung nicht billigte, und sie war eine gehorsame Ehefrau, wenn sie auch dann und wann auf schlängelnden Wegen das Ziel zu erreichen suchte, das sie ihn auf geradem Wege verfehlen sah. Wer aber A sagt, muß B sagen, und so half sie sich am Abend aus der Verlegenheit mit einem Kunststückchen, dessen sie sich aus ihrer Gouvernantenzeit erinnerte. Sie steckte eine Stricknadel durch ihr Wollknäuel und drehte es als Mutter Erde im Kreise um sich selbst und gleichzeitig auf halbschiefer Bahn um die leuchtende Astrallampe, die als Großmutter Sonne präsentiert worden war, während Schwester Riekchen mit einem Zwirnsknäuel, Enkelchen Mond genannt, eine ähnliche Bahn um die Erdenmutter beschreiben mußte.

Die lustige Ma lachte hellauf, nicht über das Experiment, nach welchem sie gar nicht geguckt hatte, sondern über ihren dummen Mus, der mit gläsernen Augen und offnem Munde, starr wie ein Götzenbild, den Wunderbeweis anstarrte. Der Mutter aber war es, als ob sie das Herz des Versteinerten hämmern hörte. Er saß die ganze Nacht aufrecht in seinem Bett, die Blicke an den Vollmondshimmel geheftet, am anderen Tage aß und trank er kaum, schlich gleich einem Nachtwandler achtlos auf seine Umgebungen umher; nach Sonnenuntergang aber kam er jubelnd vom Hünengrabe gesprungen, fiel der Mutter um den Hals und rief: »Jetzt hab ichs weg!«

Ähnliche Probleme folgten sich: nach einem starken Gewitter [121] ein Doppelregenbogen, ein Sternschnuppenfall und noch mehrere; alle aber waren weniger packend oder leichter zu lösen als jenes erste und ihre mähliche Enträtselung im Herzen dieses glücklichen Kindes vielleicht das am stärksten empfundene Glück; ein Glück, wie es so rein und freudig ja immer nur in der Kindheit, die nicht nach dem Zusammenhange forscht, empfunden werden kann.

Die Mutter half ihm in seinem kindlichen Ringen nicht weiter. Im Herzensinnersten aber weidete sie sich an ihres Knaben sonderbarer Doppelgabe, deren eine sie sein Dezemsteil, die andere seinen Johannissegen nannte. Sie baute Luftschlösser auf ihren Grund, wie jede rechte Mutter sie für ihren Liebling baut, mag der besonnene Vater sie auch unerbittlich wieder niederreißen. Und Vater Blümel riß die ihren unerbittlich nieder.

Konstantin Blümel gehörte nicht zu den eifrigen Glaubenshelden, welche dem urewigen Menschendrange aus dem Dunkel zum Licht das zürnende »Eritis sicut deus« entgegenhalten. Gewißlich nicht. In der Tiefe seines Gemütes hatte er den Punkt gefunden, auf welchem Glauben und Wissen, Denken und Dichten sich decken, und ehrte er darum jegliche Forschung, welche den Menschen dem Menschen näher bringt, dem vergangenen, dem gegenwärtigen, dem zukünftigen, ob sie nun Kenntnis wirke, Nutzen, Sitte oder auch nur Freude. In der Himmelskunde aber sah er einen Größendrang, welcher den Menschen von dem Menschen abzieht und den er dem Erklimmen unwirtlicher Gletschergipfel verglich. Es war Konstantin Blümel nicht gegeben, den Begleitstern eines Fixsterns zu entdecken oder seine Bahnelemente auch nur hypothetisch festzustellen. Wäre es ihm aber gegeben gewesen, würde er höchstwahrscheinlich die Mühe der Entdeckung und selber [122] der Hypothese sich erspart und während der Zeit seine alten Heiden und neuen Christen auf den Gehalt der Bergpredigt hin geprüft oder seine Rosenstöcke okuliert haben.

Wie aber der Größenwahn in der Himmelsforschung ihm widerstand, so wies er als einen Liebeswahn auch im eigenen Herzen die Versuchung zurück, sich auf einer jener fernen Welten eines leibhaftigen Wiedersehens seiner Vorangegangenen zu getrösten. Denn unsere Heimkehr ist in Gott und Gott ein Geist, der wohl seinen Willen, aber nicht sein Wesen zu offenbaren uns Menschen fähig und würdig erachtet hat.

In Schauern der Unendlichkeit sich entzücken beim Aufblick zum nächtlichen Sternenhimmel; lieben, auch als Symbol, die wärmende Leuchte, die aus dem Erdenstaube neues Leben weckt, das und nicht mehr hieß ihm menschliches Teilhaben an jenen unerreichbaren Weltenräumen, und mit vorlauter Neugier, mit plumpem Werkzeug sich in ihre Bahnen drängen, hieß ihm den Adel ihrer Poesie, den Zauber ihrer Heimlichkeit entweihen.

Darum waren es auch nur vorübergehende Bedenken, welche ihm bei seines Pfleglings eigenmächtigem Kalendarium oder seinem Vorsprung in den vier Spezies auf Kantor Beyfußens Schulbank aufstießen, und ferne lag es ihm, aus ihnen den Schluß auf eine Dissonanz für seine Zukunft zu ziehen. Nicht zu einem Arbeiter im Geist, zu einem verständnisvollen, gesitteten Arbeiter in Feld und Flur ihn heranzubilden, hatte er den Knaben an seine Hand genommen, und der ruhig starke Pulsschlag, den er in dem jungen Herzen spürte, galt ihm als Bürge, daß es sich von seinem natürlichen Grunde nicht verirren werde. Weise aber war es, mütterlichen Hirngespinsten, die sich gar leicht dem Kindergemüte einnisten, von vornherein zu [123] steuern; weise, auch nach außenhin, den Knaben seinem Ursprung und seiner Bestimmung gemäß heranzuziehen; und wenn der Hirtensohn seinem geistlichen Vater eine Wohltat mehr als die andere gedankt hat, so ist es die Pflege des schlichten Sinnes, der sein mütterliches Erbteil war und der dem Durchbruch seines Wesens aus dem Dunkel zum Licht Raum und Freiheit wahrte.

Mutter Hanna verstand und liebte es, ihre Töchter – und das hübsche Nesthäkchen zumal – zierlich zu kleiden. Sie hätte fürs Leben gern auch mit ihrem Sohne ein bißchen Staat gemacht. Wie schicklich ließen sich aus Konstantins abgelegtem Zeug Pumphöschen und Wämschen für den Mus zurechtstutzen! Aber der Mus trug noch als Dezem, und sogar Sonntags, einen blauen Leinenkittel, reinlicher, aber nicht zierlicher wie der ärmste Frönersohn; er schlief, schon da er noch Mus hieß, allein in einer kalten Bodenkammer, und wenn Schwester Ma, die ein Leckermäulchen war, ihre Semmel nicht dick genug mit Butter gestrichen und womöglich noch Honig darauf haben wollte, so tunkte Bruder Mus ein Stück Schwarzbrot in seine Morgen- und Abendmilch, ohne nach Butter und Honig zu lechzen. Bis zu Tränen hat es ihn aber oftmals gerührt, wenn er seine Pastormutter, um nichts vor ihrem lieben Jungen vorauszuhaben, auch nur ein Stück Schwarzbrot tunken sah. Er wußte, er war ein armes Waisenkind, und wenn er groß war, diente er als Knecht auf einem Bauernhofe. Seine stolzen Patenaussichten waren gleich luftigen Schemen verflogen.


Denn während unter einem liebreichen Walten im Pfarrhause alles Gute zum Besseren sich entwickelt hatte, war im befreundeten Amtshause die Skala des Friedens und der [124] Freude tief unter Null gesunken, seitdem Mutter Rosine zu ihrem winkenden Hannes in den Himmel gegangen. Pate Mus spürte den schlimmen Wandel zum ersten Male, als er an der Hand seiner Pastormutter der Leiche folgte und sein Herr Vizegevatter, der ihm bisher allezeit lachend einen Klaps auf die Backe gegeben und »Mosjö Verwalter« genannt hatte, heute, als Hauptleidtragender, ihn mit einem grimmigen Blick beiseitestieß und »Zudringlicher Bengel!« zwischen den Zähnen murmelte. Die schlimme Wandlung hatte indessen eine Vorgeschichte, die fast so alt wie Pate Mus selber war.

Seit bei dem Besuche des geistlichen Hartenstein ein erster undeutlicher Schatten in Johann Mehlborns stolzes Gemüt gefallen war, sah er die Ehe seiner Tochter in einem getrübten Lichte, das bei den geringfügigsten Anlässen nachdunkelte. Der spekulative Bauer hatte die exzellenzliche Spekulation auf ein von Schulden befreites Erbgut klar genug durchschaut und sie nicht minder berechtigt erachtet wie seine eigene väterliche Spekulation auf ein freiherrliches Wappenschild. Aber, wohlgemerkt! fest in der Hand, gleich einer Goldbarre, mußte das Besitztum gehalten werden, nicht flüssig wie Quecksilber zwischen den Fingern zerrinnen. Darum hatte er wohl eine Zeitlang die Wechsel des Generals, der Universalerbe seiner Gemahlin war, honoriert, sein Darlehn auf das Gut eintragen lassen und die Zinsen vom Pachtschilling abgezogen. Als sein Guthaben jedoch so hoch angeschwollen war, daß die Zinsen den Pachtschilling überstiegen, protestierte er die Wechsel und öffnete seine väterliche Hand nur noch zu der im Heiratskontrakt bedingten äußerst mäßigen Rente; ein, wie er meinte, unfehlbares Mittel, das Gut, das er buchstäblich in der Tasche hatte, auch dem Namen nach an sich zu bringen. Daß das [125] Werbensche Erbe, welches die Hartenstein verschleudert hatten, aus Mehlbornscher Hand auf beider Enkel übergehe, das war nun einmal eine von den fixen Ideen, deren vielleicht nur ein so harter Bauernschädel wie Johann Mehlborns fähig ist.

Wohlgemerkt aber auch zum zweiten: der Blutsfreundschaft seiner Tochter mußte die Ehre angetan werden, welche den faktischen Besitzern zweier Rittergüter und eines Geldkastens, der leichtlich noch ein drittes in sich schloß, gebührte. Hieß das aber, – um nur den Anlaß aufzuführen, der sozusagen dem Fasse den Boden ausschlug, – hieß das aber den faktischen Besitzern beider Werben die schuldige Ehre antun, wenn die Tochter mit den beiden Enkeln herbeieilt, den letzten Segen der verlöschenden Mutter zu empfangen, der Herr Eidam jedoch bleibt seelenruhig zu Hause, als ginge ihm die Sache keinen Pfifferling an, entschuldigt sich nicht einmal wie in früheren Zeiten mit Manövern und Paraden, erscheint auch nicht beim feierlichen Begängnis und schenkt sich sogar, so gut wie sein Herr Vater Exzellenz, die schriftliche Kondolenz, an welcher doch selber die gräflichen Nachbarn auf Bielitz es nicht fehlen lassen!

Nun aber war die Frau mit dem guten Herzen tot. Es fehlten hier ihre sänftigenden Tränen, dort die heimlich nachhelfende Hand. Hier wie dort steigerte wechselseitig Ursache die Wirkung, Wirkung die Ursache der Abneigung bis zur Erbitterung, bis zur Verwilderung und schließlich bis zum Bruch. Als der junge Herr schuldenhalber den Dienst quittieren mußte, lachte er über die Zumutung, auf dem Gute, dessen Erbherr er nominell noch war, abhängig von seinem widerwärtigen Schwiegervater und unter dessen Augen ein knappes Bauernleben zu beginnen. Bei Nacht und Nebel war er seinen Gläubigern [126] und unleidlichen Familienbanden entwichen; es ging die Rede, daß durch Vermittlung seines Vaters ihm in russischen Diensten eine förderliche Stellung erwirkt worden sei. Die Ehe wurde gerichtlich geschieden.

Seine Gattin hatte diesem Schritte, zu welchem ihr Vater seit Jahren gedrängt, bis zum Äußersten widerstanden. Nicht, daß der Zauber, der ihr junges Herz berückt, auf die Dauer sich gegen Gleichgültigkeit und Zügellosigkeit behauptet hätte: Brigitte Mehlborn war keine Romanheldin. Nicht, als ob sie sich über die Gründe getäuscht hätte, welche nach bürgerlichem und selbst nach christlichem Recht eine Scheidung gestatteten: Brigitte Mehlborn hatte ein scharfes Auge, Ungehöriges an Menschen und Zuständen zu sehen und zu sichten. Aber Brigitte Mehlborn gehörte zu den spröden Naturen, welche den einmal erwählten Standpunkt behaupten gegen Freund und Feind. Eben weil sie nicht mehr liebte, wurde es ihr leichter, Lieblosigkeit zu ertragen als sich über sie zu beschweren; eben weil sie ihre Klageberechtigung kannte, scheute sie deren demütigendes Eingeständnis; und so geschah es, daß, während der schuldige Gatte nach einer vollgültigen Befreiung, die er nicht beanspruchen durfte, drängte, die schuldlose Gattin in eine solche erst dann willigte, als es galt, ihr mütterliches Alleinrecht gegen jedweden Anspruch zu wahren. Nicht dem Vater, der kein Verlangen danach trug, dem Vater des Vaters, der Verlangen danach trug, entzog sie durch eine gerichtliche Scheidung die Obervormundschaft über die Kinder, die nur auf diese Weise ihr ausschließliches Eigentum werden konnten.

Aus dem gleichen Grunde entzog sie diese Bevormundung aber auch ihrem eigenen Vater, über dessen Sphäre sie sich erhoben hatte nicht erst durch ihre Ehe, sondern durch einen [127] eingeborenen Bildungstrieb, den späterhin ein stark herausgeforderter Widerstandssinn nur stachelte. Vater und Tochter hatten jetzt die nämlichen Feinde; sie konnten aber nicht mehr die nämlichen Freunde haben.

Johann Mehlborn war, in jachem Rücklauf der spät entwickelten Magnatenschrulle, über deren Ursprung hinweg zum alten zähen Bauerntrotz zurückgekehrt. Er würde, hätte er die Macht dazu besessen, aus republikanischer Tugend niemals einen Königsthron gestürzt, und kommunistische Weltverbesserer, die zur zeit auch im deutschen Vaterlande einen stillen Anhang fanden, würde er, mochten sie Professoren oder Schneider heißen, ohne Gnade zu Galgen und Rad verurteilt haben. Aber alles, was Edelmann hieß, das haßte Johann Mehlborn trotz einem Robespierre. Ehre und Macht der Gesellschaft gipfelten für ihn, wie einst für die Helden des Bundschuhs, wenn auch aus anderen Gründen, in dem Stande, der die Scholle bebaut und sein Geld in Eisentöpfen vergräbt. Er aß nicht mehr mit der linken Hand, sondern aus der Faust, wie sein Vater, der Großknecht, es getan, trug Schmierstiefeln und im Winter einen Schafspelz, bediente sich »französischer« Redensarten nur, wenn ihm im ehrlichen Werbener Deutsch keine volkstümlich genug klingenden einfielen, und würde sich des »Amtmanns« mit Freuden entäußert haben, wenn ihm die Regierung das schöne Geld, das er ihm gekostet, zurückerstattete. Hätte er es durchzusetzen vermocht, würde seine Brigitte den Namen Hartenstein oder mindestens das schnöde Adelszeichen vor ihm abgelegt und als ländliche Wirtin auf ihrem Erbhofe gewaltet haben; ihre Kinder würden als Bauernenkel erzogen worden sein, und das leichte Patrizierblut würde sich zu dauerhaftem Arbeiterblut verdichtet haben.

[128] Aber er vermochte es nicht durchzusetzen. Seine Brigitte war die Erbin seines harten Kopfes; sie beharrte bei Namen und Titel und übersiedelte als Wirtschafterin auf ihres Vaters Hof so wenig, wie sie als Dame des Hauses in den Palast ihres Schwiegervaters übersiedelt war, sondern zog in die den Familiengütern benachbarte Universitätsstadt der Provinz. Wie Vater Mehlborn keine tragfähige Krume seines Ackers unbebaut ließ, so hätte sie jede geistige Faser in ihren Kindern entwickeln mögen, und hier fand sie ausgiebige Bildungsmittel für sie. Für ihre eigene Person aber fand sie hier einen Boden, in welchem sich leichter Wurzel schlagen ließ als in dem kalten, schweren des Nordens; fand die Ansprüche an das äußere Leben so bescheiden, wie sie sie finden mußte, wenn sie auch nach außen hin sich Geltung verschaffen wollte. Da sie Erziehungsgelder von ihrem Schwiegervater nicht annahm, ihr erbitterter Vater aber jegliche Unterstützung verweigerte, sah sie sich auf ihr mütterliches Erbteil beschränkt und trug kein Bedenken, das Kapital anzugreifen, weil die Zinsen für ihre Zwecke nicht ausreichten. Es wurde ihr leicht, sich in schicklicher Mitte von Hartensteinschem Übermaß und Mehlbornschem Untermaß zu halten; ein alter Name, eine reiche Erbaussicht woben einen gewissen Nimbus um ihre Person und ihr Haus; im Kreise ihrer neuen Lebensgenossen wurde Brigitte von Hartenstein unbestritten gefeiert als eine »bedeutende« Frau, die einzige Eitelkeit, für die sie empfänglich war.

Sie hat es wahrscheinlich niemals erfahren, daß ihr alter Freund in der Pfarre es gewesen, dem sie das aus der Not helfende mütterliche Erbteil zu danken, und daß er um dieses Erbteils willen die Gunst seines Patrons in spe verwirkt, auch manches kleine Scharmützel mit seiner [129] Hanna zu bestehen hatte. Auch Dezimus ist hinter das Geheimnis erst gekommen, lange nachdem er es als einen Segen erkannt, die Schutzherrschaft seines Vizepaten wider Wissen und Willen verscherzt zu haben. Die Sache hatte sich aber also zugetragen:

Als Mutter Rosine das ersehnte letzte Stündlein nahen fühlte, ließ sie an einem Tage, wo sie ihren Amtmann fernab auf einem großen Viehmarkte wußte, den treuen Seelsorger an ihr Lager entbieten, um, nachdem sie das heilige Abendmahl aus seiner Hand empfangen hatte, die Bitte an sein Herz zu legen, daß er ihren letzten Willen aufsetze und denselben hinter ihres Amtmanns Rücken gerichtlich dingfest mache. Zwar wolle sie ihrem Amtmann, da er nun einmal seinen Kopf daraufgesetzt, nicht zuwider sein und ihr Eingebrachtes ihm ganz allein verschreiben, so wie die selige Frau Exzellenz mit ihrem Gute es an den Herrn Exzellenz getan. Ihre liebe Brigitte sei ja ihres Johann einziges bißchen Fleisch und Blut, was könne ihr durch die Verschreibung entgehen? Heiraten wolle ihr Amtmann nicht wieder, weil das schöne Werbensche Anwesen nicht zerkleinert werden solle, und in der Hand ihres lieben Schwiegersohnes würden die paar Tausend Mütterliches seiner Frau ja doch verdunsten wie Wasser auf einem heißen Stein. Mit dem Eingebrachten sollte ihr Amtmann also seinen Willen haben; von ihrem Ersparten aber habe sie, Mutter Rosine, diesem und jenem eine kleine Zuwendung zugedacht, um welche die gute Frau Pastorin wisse, ihr Amtmann aber nicht früher wissen solle, bis sie, Mutter Rosine, unter der Erde sei. Und dazu gehöre eine Verschreibung, welche sie allein nicht fertigbringe.

Pastor Blümel lehnte nicht nur dieses Ansinnen ab, sondern redete ihr auch das Testamentsvorhaben aus. Der [130] Großteil ihres Vermögens gebühre dem Gesetze nach der Tochter, und gesetzlichen Ordnungen entgegen zu verfügen, mache selbst unter den nächsten Angehörigen fast allemal böses Blut. Amtmann Mehlborn sei reich, weit reicher, als seine Gattin mutmaße; auf etliche Tausend Taler mehr oder weniger könne es ihm nicht ankommen, während sie unter Umständen der Tochter zu einer Wohltat zu werden vermöchten; sie habe einen klugen Kopf, und bis zu ihrer Großjährigkeit in Jahr und Tag bleibe das Vermögen ja ohnehin in des Vaters Hand. Die Mutter solle der gesetzlichen Ordnung daher ihren Lauf lassen, etwaige besondere Wünsche ihrem Manne anvertrauen und sich auf deren redliche Erfüllung verlassen.

In der Hauptsache leuchtete dieser Freundesrat der guten Frau ein. Sie hatte zu der Verschreibung sich überhaupt ja bloß, um Ruhe zu haben, entschlossen; nur gegen die letzte Versicherung schien sie Bedenken zu hegen, nickte indessen auch hierzu schließlich mit dem Kopfe, richtete sich im Bett in die Höhe und kramte tief aus dem Stroh eine tönerne Sparbüchse hervor, in deren Spalt sie hastig noch einen Papierschein, den sie unter ihrer Jacke verborgen gehalten hatte, klemmte. Die Büchse wollte sie dem Pastor absolut aufnötigen; seine liebe Frau wisse schon, was sie zu bedeuten habe.

Und der Mann der lieben Frau wußte es auch. Es war ja die Gevatterbüchse, mit welcher die Frau Patin manches Mal vor den Ohren ihrer guten Freundin geklappert hatte, um ihr den wachsenden Inhalt bemerkbar zu machen; auch manches Mal, wenn sie vor ihren Augen wiederum einen Taler hineinsteckte, den Taler »einen Heckepfennig für ihre Patenkinder« genannt. Denn Mutter Rosine ließ es sich nun einmal nicht nehmen, daß sie, obgleich nur für [131] einen der Täuflinge in das Kirchenbuch geschrieben, für beide das Christengelübde ausgesprochen habe, wie sie ihre Patenpflichten denn auch allezeit für beide in der herkömmlichen Weise betätigt hatte.

Selbstverständlich, daß Pastor Blümel die Annahme des heimlichen Patengeschenkes noch viel entschiedener ablehnte als die Abfassung eines heimlichen Testamentes. Das Hin- und Widerreden hatte die Kranke merklich erschöpft; die Tochter, welche der alte Freund schon vor einigen Tagen herbeigerufen, langte nur noch rechtzeitig an, der Mutter die Augen zuzudrücken. Der Amtmann aber hatte über einem, allerdings vorteilhaften Ochsenhandel den letzten geeigneten Moment für die Verschreibung verpaßt; er mußte das gesetzliche Kindesteil auszahlen, will sagen sich des Schraubstockes begeben, durch welchen er die Scheidung der freiherrlichen Ehe, einschließlich des Gutsverkaufs, erpreßt haben würde. Von mündlich vorgebrachten letzten Erdenwünschen und Auslieferung der Patenbüchse war keine Rede. Die geheime Unterredung mußte dem Amtmann aber doch zu Ohren gekommen sei, denn er hatte seitdem auf die Freunde in der Pfarre einen argen Zahn.

Frau Hanna empfand und verstand vollkommen, daß ihr Konstantin nicht anders, als er gehandelt, hatte handeln können. Sie war eine ehrenhafte Ehefrau. Sie hatte aber auch ein Mutterherz, und darum zwickte sie heimlich, ja dann und wann auch wohl vernehmlich, der Unwille über den entschlüpften Heckepfennig. Die Patenbüchse hatte gar zu getröstlich vor ihren Ohren geklappert. Nicht um ihres Röschens willen; der Inhalt würde ungeteilt dem Dezem zugute gekommen sein. Erlebte sie es denn nicht Jahr für Jahr, wie ohne Kopfzerbrechen sich Töchter versorgen? Aber ein Sohn, der das Brot erwerben lernen soll, welches [132] Frauen nur zu backen und zu verzehren brauchen! Ihr braver Junge! Der reiche Mann hatte die arme Waise ihres Notpfennigs schnöde beraubt. Dabei blieb sie, und wenn Vater Blümel dagegen einwendete, der Tod sei der Kranken zuvorgekommen, ehe die Wünsche ausgesprochen wurden, dann rief seine Hanna aufgebracht:

»Konstantin, Konstantin! die Menschheit kennst du, aber den Menschen kennst du nicht. Warum geht der Amtmann dir aus dem Wege, sucht, statt wie sonst bei uns, Rat und Tat bei allerlei fremdem Volk? Warum schneidet er unserem guten Jungen ein Gesicht, schimpft ihn einen zudringlichen Bengel und gibt ihm einen Rippenstoß? Versündige dich nur einmal an einem Unschuldigen, und du wirst ganz gewiß sein Feind geworden sein, – das heißt, wenn du ein Mehlborn bist,« setzte sie lachend hinzu, und ihr Konstantin konnte in der Stille des Herzens ihr nicht gänzlich unrecht geben.

Die Tochter war übrigens nicht besser als die einstigen Freunde mit dem Amtmann daran, obgleich ihr kein Unrecht durch ihn widerfahren und obgleich sie notgedrungen die Scheidung endlich beantragt hatte. Sie hatte nachher den Vater nur für so lange Zeit wiedergesehen, als erforderlich war, ihm ihre getroffenen Einrichtungen auseinanderzusetzen und das mütterliche Erbteil in Empfang zu nehmen. Sein Zorn, seine Drohungen prallten an ihr ab, wie ihre Vernunftsgründe an ihm; er aber erboste sich über sie, und sie erboste sich nicht. Ärger lag so wenig wie Nachgiebigkeit in ihrer Natur. Sie tat, wie sie überzeugt war, ihre Pflicht. Sie würde ihn öfter besucht haben, aber er lud sie nicht ein; er betrat niemals ihr Haus, selbst wenn er in ihrem Wohnorte Geschäfte hatte. Sie schrieb ihm lange Briefe, aber es war zweifelhaft, ob er sie nur las; [133] jedenfalls beantwortete er sie nicht. Nach allem Vorhergegangenen, – und dazu gehörte, daß durch einen Zufall der schmähliche Anlaß von seines Sohnes Tod dem Vater erst nach Jahren kund geworden, da die Tochter ihn doch von Haus aus gekannt und schweigend hingenommen, – hatte sie es gründlich bei ihm verschüttet, weil sie während der Scheidungsverhandlungen nicht die Abtretung des Gutes von ihrem Schwiegervater durchgesetzt; eine Forderung, die bei einiger Nachgiebigkeit ihrerseits schwerlich auf Widerstand gestoßen wäre.

Aber warum ihre intimste Angelegenheit mit der eigennützigen ihres Vaters verquicken? Was verschlug ihr der Besitz von soundso viel hundert Morgen altheimischen Landes? Sie hatte auf dem elterlichen Hofe sich niemals zu Hause gefühlt; sie dachte an nichts weniger, als ihre Kinder zu Landwirten zu erziehen, und kaum hätte etwas ihr unverständlicher sein können, als daß der alte Bauer, ihr Vater, jetzt mehr denn je nach dem Besitztitel als nach einem Racheakt an dem verhaßten Geschlechte trachtete. Sie, Brigitte, hegte keine Rachegedanken und keinen Haß gegen eine Familie, mit welcher sie ein für allemal abgeschlossen hatte, nachdem sie ihre mütterliche Freiheit gegen jener Ansprüche durchgesetzt. Im Guten wie im Schlimmen dachten Vater und Tochter nur an sich selbst; eine Einigung war daher nicht abzusehen.

Der Pachtkontrakt von Hochwerben lief in diesem Jahre zu Ende, und keine der beiden Parteien hatte bis in den Sommer hinein einen Schritt zu seiner Erneuerung oder Kündigung getan. Der General offenbar nicht, weil er die erstere für unvermeidlich erachtete. Er hätte heute ja leichtlich die doppelte Pachtsumme erzielen können; aber das Inventar eignete dem Amtmann, und die Schuldenlast [134] war nicht abzuschütteln. Wohl oder übel, es mußte alles beim alten bleiben. Der Amtmann dahingegen war entschlossen, endlich kurzen Prozeß zu machen. Zu Michaelis kündigte er die Hypothek. Voraussichtlich hatte er dadurch gewonnen Spiel; trotzte aber sein Widerpart, kam es zur öffentlichen Versteigerung, nun so erstand es Johann Mehlborn; freilich mit schwerem Verlust; denn den Spottpreis der Pachtung und die hohen Prozente konnte die beste eigene Bewirtschaftung nicht ersetzen. Aber er hatte seinen Willen und hatte seine Rache, und Wille und Rache sind schon das Risiko eines Geldopfers wert, zumal wenn das Opfer ein so unwahrscheinliches ist wie in gegenwärtigem Falle.

Seitdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, betrachtete Johann Mehlborn das Werbensche Hauptgut als sein unbedingtes Eigentum, war aber seltsamerweise der Aufenthalt daselbst ihm verleidet. Er wandelte, vorläufig nur in Gedanken, die Säle des Schlosses zu Kornböden, das Pächterhaus samt guter Stube zu Gesindekammern um und übersiedelte in Wirklichkeit schon vor der Ernte mit seiner Wirtschaft auf das Talgut. Das dortige Wohnhaus hieß nicht ein Schloß; kein Edelmann hatte jemals in ihm gefaulenzt und gepraßt; unter der dortigen Kirche ruhten keine ritterlichen Gebeine, nur die seiner Rosine und ihres Hannes, an welchen letzteren er Tag und Nacht mit wurmendem Grimme zurückdachte, nicht mehr als an einen seiner Standesehre sich opfernden Kavalier, sondern als an einen von einem Junker gemordeten redlichen Bauernsohn. Ja, um den Preis des eigenen Lebens hätte er den zurückgesetzten Erben wieder lebendig machen mögen, seitdem die vorgezogene Erbin sich in schnödem Hochmut von dem Vater abgewendet hatte. Und wahrlich ein hoher Preis wäre es nicht gewesen, den er für die Erweckung des [135] guten Jungen gezahlt haben würde. Johann Mehlborn hatte keine Freude am Leben mehr als höchstens die, anderer Lebensfreude zu verkümmern und vergällen. Sobald er nur erst Herr beider Werben hieß, würde er sich willig in die Gruft zu seiner Rosine und ihren Hannes haben tragen lassen.


Es war in der Morgenfrühe nach einem gestrigen Unwetter, dem der erwähnte Regenbogen folgte, nicht der erste, welcher vor Dezems Augen, aber der erste, welcher vor seiner Seele sich als neues Himmelswunder aufbaute.

»Was ist das?« hatte er staunend gefragt, als er, nachdem gegen Abend die Sonne sich durch das chaotische Gewölk gerungen, eine bunte Brücke, über den Fluß hinweg, sich vom Zornberge bis zum Hünengrabe spannen sah.

Der Vater, welcher, bis die herrliche Erscheinung sich verzogen, schweigend mit gefaltenen Händen am Fenster gestanden hatte, schlug die Heilige Schrift auf und las das Kapitel von der Sündflut und dem Friedensbunde Gottes mit der geretteten Menschheit.

»Und wenn es kommt, daß ich Wolken über die Erde führe, soll man meinen Bogen sehen über den Wolken.« Das war die Antwort auf des Dezem Frage.

Und gewiß eine herzbewegliche Antwort! Der närrische Dezem hätte nun aber gern auch noch gewußt, wie der liebe Vater im Himmel es anfange, seinen Friedensbogen zwischen den schwarzen Wolken in aller Geschwindigkeit so schön bunt anzumalen und in ebensolcher Geschwindigkeit ohne Farbenspur wieder auszulöschen? Und auf diese Fragen blieb Vater Blümel die Antwort schuldig. Als er aber nach dem Abendsegen sich an das Klavier setzte – Vater Blümel war bis an sein Lebensende ein eifriger Musikant – und [136] des alten Gellert Lied von der Ehre Gottes in der Natur zum Vortrag brachte, da geschah es zum ersten Male, daß der arme Dezem an aller Menschenweisheit irre ward. Denn nun sah er die Sonne, die nach der Mutter Sagen sich nicht rühren sollte, in des Vaters Sang aus ihrem Zelte geführt werden und ihren Weg laufen gleich als ein Held. Daß dem Hirtenjungen von Werben für eine Sonne solch ein Heldenlauf weit schicklicher als das Stillestehen dünkte, wird jedes Kind begreiflich finden.

Er hatte wiederum eine ruhelose Nacht, und da der andere Tag ein Sonntag, also keine Schule war, der Himmel aber so rein, als hätte niemals ein schwarzes Wolkenheer auf ihm gelagert, rannte er, den letzten Bissen des Morgenbrotes noch im Munde, hinaus auf das Hünengrab.

Das Hünengrab, hart an der Pfarrgartenmauer, wurde ein Erdaufwurf genannt, wie die Gegend unter gleichem Titel verschiedentliche aufzuweisen hat. Ob wirklich Heldengebeine darunter eingescharrt waren, hatte bis dato niemand untersucht. Unmöglich wäre es just nicht, da diese Landschaft seit grauer Vorzeit der Tummelplatz wilder Entscheidungen gewesen ist. Pastor Blümel achtete indessen dafür, daß lediglich alte Steinbruchreste auf diesen Punkten zusammengehäuft worden seien. Weil das Hünengrab aber in die nördliche Ebene hinein eine noch weitere Aussicht als selbst das Pfarrhaus bot, hatte der Pastor seinen schmalen Gipfel geebnet, ein paar Ebereschenbäume darauf gepflanzt und eine Ruhebank unter ihnen angebracht, auf welcher jeder, der fremd des Weges kam, gern eine Umschau hielt.

Auf diesem Hügel, der ihm gestern wie ein Pfeiler der wundersamen Wolkenbrücke vorgekommen war, dachte der arme Dezem nun allen Ernstes irgendein geheimnisvolles [137] Überbleibsel aus Gottvaters Bau-oder Malkasten aufzufinden; da jedoch ringsumher nichts zu entdecken war als allbekanntes Himmelblau und Erdengrün, setzte er sich auf die Bank, mit dem löblichen Entschluß, auf seiner Schiefertafel, die er zu diesem Zwecke mitgebracht, Kantor Beyfußens Exempel für die nächste Rechenstunde zu lösen. Wie manchem bedeutenden Helden, im Widerstreit von Stimmung und Pflicht, geschah es nun aber auch dem bescheidenen dieser Geschichte, daß der Stimmung der Obsieg blieb. Für die Exempel war immer noch Zeit. Zuvörderst galt es auf der leeren Tafelseite das Phänomen, das ihm so gewaltig im Kopfe rumorte, sich durch eine Illustration zu vergegenwärtigen und zu verdeutlichen. Das aber machte er so:

Quer über die Tafel zog er einen doppelten Strich, auf denselben schrieb er »Fluß«; zwischen krausen Schnörkeln über dem Flusse stand zu lesen: »Wolken«. Hart am Fluß, in dessen Mitte, trug ein Haus die Inschrift »Pfarre« und in einem ihrer Fenster ein dicker Punkt das Wörtchen »Ich«. Am äußersten Tafelende war der städtische Kirchturm nicht zu verkennen; ob aber das Gesicht, welches mit einer Strahlenglorie umstrichelt, Gottvater oder Mutter Sonne zu benennen sei, darüber grübelte der Künstler eine Weile und entschied sich endlich, die Frage offen zu lassen, wie er demgemäß auch auf die Brücke, welche am entgegengesetzten Ende hoch oben den Fluß überspannte, mit lateinischen Lettern malte: »Regenbogen oder Friedensbogen«. Trotz dieses Entweder-Oders, so viel hatte er über seiner Arbeit doch glücklich ausgeklügelt, daß das zweideutige Strahlenantlitz über dem Turm das Farbengebilde hervorgezaubert haben müsse und daß dieses mit der Glorie jener Strahlen erloschen sei. Und das war für den Anfang genug.

[138] »Was ist das?« fragte er, selber strahlend vor Freude, indem er seinem Röschen, das im rosa kattunenen Sonntagskleide einhergetänzelt kam, sein stolzes Kunstwerk vor die Augen hielt.

»Dummes Zeug!« antwortete Röschen lachend und beachtete das Nachbild so wenig, wie sie gestern das Vorbild beachtet hatte.

Sie trug im Schürzchen einen Haufen Blumen, die ihr Papa zu einem Kranze geschnitten hatte: denn Kränzebinden war Röschens Lust weit mehr als selber »Puppens spielen«, geschweige denn Stricken oder am Kinderrädchen spinnen. Kein Tag, solange es Blüten gab, verging, daß sie nicht ein Prachstück der Gärtnerkunst geliefert und eines der alten Großvater-oder Großmutterbilder in der Wohnstube damit geschmückt hätte. Im Winter aber half sie sich mit Efeublättern, welche ihr Mus auf der Gartenmauer pflücken mußte, und mit Blumen, welche die geschickten Fingerchen aus farbigen Papierstreifen zusammenkniffen. Wo das Röschen waltete, ging es bunt und lustig zu; am lustigsten aber in ihres Dezem Herzen. Er war aus einem Hüter des Schwesterchens Handlanger geworden, allezeit willig in Arbeit und Spiel. Mutter Hanna sagte manchmal ärgerlich: »Der Junge wird dem Prinzeßchen noch einmal die Strümpfe stopfen müssen!« Dazu kam es indessen nicht. Mutter Hanna stopfte Prinzeßchens Strümpfe lieber selbst.

Auch heute ließ der Dezem auf Röschens Geheiß seine Schilderei im Stich, um sich neben sie auf einen Stein am Fuße des Hügels zu hocken. Er pflückte ihr Zweige vom Zaun, reichte ihr die Blumen zu und erwies sich wieder einmal als der klägliche Stümper, welcher er in der Botanik geblieben war, trotz der täglichen Übungen auf dem Gartenbeet und beim Kränzebinden. »Mus, eine Nelke!« Und [139] er reichte ein Löwenmaul. »Dummer Mus, eine lila Levkoie neben den blauen Rittersporn! das schändet sich ja! Mus, fix! hole dort die Gänseblümchen! Und drüben am Rain die Kornblume! Fix, Mus, fix!«

Und Mus ließ sich schelten und rannte und pflückte und tat alles, was das Strudelköpfchen ihm hieß, mit so viel Vergnügen, daß er sämtliche Himmelsprobleme darüber vergaß.

Der Kranz war eben fertig geworden, als die Glocken zum ersten Male läuteten. In einer Stunde hieß es zur Kirche gehen. Die Kinder hatten in ihrem Eifer und über dem Geläut nicht bemerkt, daß auf dem Feldwege, der von der Landstraße zum Dorfe führte, eine herrschaftliche Equipage sich genähert hatte, daß seine Insassen ausgestiegen und von der entgegengesetzten Seite auf das Hünengrab gestiegen waren, während der leere Wagen weiter nach dem Dorfe fuhr. »Gefällt es dir hier, Lydia?« hörten Mus und Ma jetzt eine kräftige Männerstimme fragen.

Sie fuhren auf und schauten in die Höhe. Da oben stand ein mächtig großer Herr mit schneeweißem kurzem Lockenhaar und einem schneeweißen Schnurrbart, dessen Spitzen fast die Ohrläppchen berührten. Ein weißes, achtzackiges Kreuz war auf den blauen Zivilüberrock geheftet; den hohen, runden Hut hatte er abgenommen, denn erhitzt, wie er von dem Aufstieg schien, trocknete er sich mit seinem Taschentuche die Stirn, die glatt und rosig wie die eines Kindes glänzte.

Und neben dem alten Herrn stand ein Mädchen – nein, wohl schon ein Fräulein – in der Größe zwischen Röschen und Dezem, aber von so ruhig ernsthafter Haltung, daß es wohl ein paar Jahr mehr zählen mochte als die beiden. Unter dem breitrandigen Strohhut hing das mattblonde [140] Haar, in zwei dicke Zöpfe geflochten, bis zu den Knien hinab; nicht nach Kinderart und auch nicht nach der Mode der Zeit reichte dahingegen das weiße Kleid weit über die Knöchel. Als sie den langen weißen Schleier zurückschlug, blickte Dezimus in ein Gesicht so schneeig, wie er noch kein Menschenantlitz gesehen hatte. Die lichte Gestalt auf der Höhe, wo er im Geiste noch immer den Friedensbogen eingesenkt sah, kam ihm schier vor wie ein Engelsbild.

Sie hatte bei der Frage des alten Herrn still den Kopf geneigt und richtete nun die großen Augen, dunkel wie Hyazinthenblüten, aufmerksam das Tal entlang, während ihr Begleiter aus ihrer Hand einen Gegenstand nahm, fast so lang wie ein Spazierstock, aber bei weitem dicker. Dezem dachte an die Posaunen, auf welchen in des Vaters großer Erbbibel die himmlischen Heerscharen Halleluja blasen; Röschen dachte an die Blaserohre, mit welchen die Dorfjungen nach den Spatzen schossen; da der alte Herr aber die Posaune oder das Blaserohr statt an den Mund vor das rechte Auge führte und also bewaffnet gleichfalls die Gegend nach allen Seiten musterte, da Dezimus überdies am Ende des Instruments eine Glasscheibe blinken sah, war er schlau genug, auf eine Art von Riesenbrille zu schließen, mit deren Hilfe irgend etwas Außerordentliches zu erspähen sei. Vermochte sein Pastorvater doch die feine Schrift, welche mit bloßen Augen er selber bei Tage nicht unterschied, durch seine Brille die halbe Nacht hindurch ohne Anstrengung zu lesen, und gehörte seines Pastorvaters Brille doch auch zu den Weltwundern, über welche der Hirtensohn sich stille Gedanken machte. Er hatte mehrmals durchzuschauen versucht, aber nichts als grauen Nebel wahrgenommen. Nun brannte er vor Begierde, es mit dem großen Rohr zu versuchen.

[141] »Du, Mus,« flüsterte Röschen ihm in das Ohr, indem sie ihn an den Haaren zupfte, »du, Mus, der Herr da oben, das ist unser General!«

Und alsobald hüpfte sie, flink wie ein Eichkätzchen, den Hügel hinan, machte höflich, wie alle Pastorkinder von Papa und Mama erzogen wurden, vor dem alten Herrn einen tiefen Knix, reichte ihm den Kranz und sagte dreist: »Da, Herr General!«

Der Herr nahm das Rohr vom Auge und legte es hinter sich auf die Bank. »Woher kennst du denn den General, kleine Maus?« fragte er mit einem freundlichen Blick auf das hübsche, muntere Kind.

»Am Bart und am Stern, Herr General!«

So gut verstand das kleine Pfarrröschen sich auf die Menschen schon zu Anfang ihres zweiten Stufenjahres. Wo hätte ihr großer Wiegenbruder wohl so viel Witz und so viel Mut hergenommen? Er drückte sich verstohlen um den Hügel herum und erreichte die Höhe von der entgegengesetzten Seite, den Herrschaften im Rücken.

Der alte Herr lachte belustigt, hob die Kleine unter den Armen in die Höhe und küßte sie herzhaft ab, was sie sich ohne Sträuben gefallen ließ, trotz des gewaltigen Barts. »Sag mal, Kind, ist das Haus dort zwischen den Bäumen das Gut?« fragte er darauf.

»Nein, unsere Pfarre, Herr General,« antwortete Röschen.

»So bist du wohl gar ein Pfarrtöchterchen, Kleine?«

»Freilich; das siebente, Herr General.«

»Das siebente? Potz tausend! Ist dein Papa zu Haus?«

»Alleweile noch, ja, Herr General. Wenns aber zum drittenmal läutet, muß er in die Kirche und ich auch.«

»So wollen wir während des Gottesdienstes einen[142] Spaziergang machen, Lydia, und erst danach unseren Pfarrbesuch abstatten,« sagte der Herr zu seiner Begleiterin, die still beiseitestand. Als er sich nach dem Pfarrtöchterchen umsah, flog es wie ein Schmetterling den Abhang hinunter und der Gartenpforte zu.

Sonntags wurde der Betstunde um ein Uhr halber bald nach der Frühkirche zu Mittag gegessen, der angekündigte Besuch fiel daher just in die Tischzeit. Papa würde die vornehmen Gäste natürlich zur Tafel laden, ein vorbereitender Wink Mama natürlich von Wichtigkeit sein: so hatte Schwester Röschen, die noch nicht einmal das kleine Einmaleins konnte, während jener Rede blitzschnell kalkuliert. Wie wäre Bruder Rechenmeister auf solchen Schluß verfallen?

Der alte Herr wendete sich rückwärts, um seinen Dollond wieder aufzunehmen, und da lachte er denn noch belustigter als vorhin, indem er hinter der Bank einen Bauernjungen auf den Knien liegen und ohne es anzurühren durch das Fernrohr gucken sah, aber wie es eben lag, von der verkehrten Seite.

Der arme Dezem fuhr in die Höhe und schlug die Augen nieder wie ein ertappter Dieb.

»Bist du auch ein Pfarrkind?« fragte der Herr.

Dezem schüttelte.

»Aber doch aus dem Dorf?«

Dezem nickte.

»Du möchtest wohl gern durch mein Glas gucken, gelt?«

»Ja, ja!« stotterte Dezem mit freudiger Hast.

»Nun, so guck! Wohin soll ich es richten?«

»In die Sonne, gnädiger Herr.«

»In die Sonne? Ei, was willst du denn in der auskundschaften, Junge?«

[143] »Ob sie läuft,« antwortete Dezimus jetzt ganz dreist.

»Nun, probiers, kleiner Kopernikus!« sagte lachend der alte Herr.

Er richtete das Glas nach der Sonne, und Dezimus starrte hinein, bis ihm die Augen übergingen; aber entdecken von dem, was da oben getrieben wurde, konnte er nichts außer einer Lerche, die mit bloßen Augen sich wie ein Schmetterling ausgenommen hatte und durch das Glas in ihrer natürlichen Größe erschien. Ein Wunder blieb freilich auch das, und nachdenklich legte er den Tubus in die Hand des weißen Fräuleins, das ihn sorgfältig zusammenschob.

Die Zeit mußte hingebracht werden. Der alte Herr setzte sich auf die Bank und nahm die Tafel, welche Dezimus darauf niedergelegt hatte, zur Hand. Für das illustrierte Phänomen auf der Rückseite schien der würdigende Sinn ihm zu gebrechen; die Exempel dahingegen mochten ihn an alte Bakelzeiten erinnern; er betrachtete sie und versuchte sogar eines von ihnen auszurechnen.

»Wahrhaftig, Lydia, ich kann nicht mehr multiplizieren,« sagte er nach einer Weile, indem er lachend den Kopf schüttelte. »Ist leider von jeher meine schwache Seite gewesen,« setzte er mit einem Seufzer hinzu. »Sind es deine Aufgaben, mein Junge?«

Dezimus nickte wieder stumm.

»Rechne mal hier das, was ich Alter nicht herausbringe.«

Der Quatermillionenheld wurde rasch damit fertig, machte darauf die Probe der Division, und als dieselbe ohne Fehl zutraf, schmunzelte der alte Herr: »Sieh! sieh!«

Er musterte den Jungen vom Kopf zur Zeh, so wie er einen Rekruten gemustert haben würde. Der Dezem war ein strammer Bursche, und – ohne Heldenschmeichelei! – [144] wenigstens ein ehrliches Gesicht ihm nicht abzusprechen. Der schneeweiße Hemdskragen, die blanken Stiefeln, – vom Helden eigenhändig gewichst! – machten auch einen guten Effekt. Der alte Herr schüttelte wohlgefällig das schöne, weißgelockte Haupt. »Wie heißt du, mein Junge?« fragte er.

»Dezimus Frey, gnädiger Herr.«

»Dezimus! ein kurioser Name, nicht wahr, Lydia?«

»Weil ich der zehnte Sohn bin, gnädiger Herr.«

»Der zehnte Sohn! Potztausend, das nenn ich Segen! Aber halt! halt! wie ist mir denn? Am Ende gar der arme Schäferjunge, für welchen der Werbener Pfarrer den König zu Gevatter bat, als ich das letztemal mit ihm in Teplitz war. Wie lange ist es doch her? Weiß Gott schon acht Jahr. Auch dein Vater, Lydia, hat mir dazumal – wie einem derlei alte Geschichten doch plötzlich wieder auftauchen! – über die tolle Dezemswirtschaft unter meinem Patronat gründlich die Leviten gelesen. Ich habe herzlich über die Geschichte gelacht. Bist du der Königspate, Junge?«

Dezimus sagte: »Ja.« Zum ersten Male war er stolz auch auf die zeitliche Ehre, die ihm in der heiligen Taufe angetan worden war. Ja, so stolz, daß er auf das weiße Fräulein, das ihm bisher unnahbar feierlich gegenübergestanden hatte, nahezu verwegen seine Augen richtete.

»Prächtig, prächtig!« rief der alte Herr, indem er sich vergnügt die Hände rieb. »Wie das unsere alte Majestät amüsieren wird! und welchen stattlichen Gardisten kann ich ihm in Aussicht stellen! Flügelmann im ersten Garderegiment, Feldwebel, schließlich Zahlmeister mit Leutnantskompetenz – was sagst du zu der Karrière, Königspate?«

Der Königspate sagte nichts dazu; er ahnete nicht im [145] entferntesten, was diese Würden zu bedeuten haben. Da aber ein so hoher Gönner sie in Vorschlag brachte, mußte der Ersatz für den Verwalter ein unermeßlicher sein; und das freute ihn in die Seele seiner Pastormutter, die diesen mißglückten Posten noch immer nicht verwinden konnte. Aufgetaut, wie er einmal war, schwoll ihm das Herz von stolzem Glück. Noch nie hatte ein Mensch ihn gefragt: Wie ist dirs ergangen? Wie hast dus getrieben in deinen langen acht Lebensjahren? Noch nie hatte er einem Menschen die Wohltäter rühmen können, die ihm der Inbegriff alles Würdigen waren; der alte Herr lächelte über die treuherzige Weitschweifigkeit des kleinen Schwätzers, und selber das stille weiße Fräulein belebte sich bei der Vorführung von Pastorvater und Pastormutter, von den sechs großen Schwestern und der kleinen siebenten, die eigentlich sein Zwilling sei. Auch Kantor Beyfußens und der litauischen Lene wurde gebührentlich Erwähnung getan, und nur erst, als der alte Herr ihn mit der Frage unterbrach: ob er den alten Mehlborn kenne? da stockte der Redefluß einen Augenblick, dann jedoch wurde wahrheitsgemäß erwidert, der Dezem kenne den Herrn Amtmann freilich ganz genau, da selbiger ja auch sein Herr Pate sei und es früherhin so gut mit ihm gemeint habe, daß er ihn sogar zu seinem Inspektor machen wollen. Seit dem Tode der Frau Amtmännin könne der Herr Amtmann den Dezem aber nicht mehr leiden, und seitdem der Herr Amtmann hinunter auf das Talgut gezogen sei – –«

Der alte Herr fuhr von der Bank in die Höhe. »Wie, was?« brauste er auf, »der Mehlborn wohnt nicht mehr im Schloß? Aber zum Henker! das verdirbt mir ja das halbe Gaudium! Wann ist er denn – – –« Er hatte nicht Zeit, die Frage zu vollenden; denn: »Dort kommt der Herr [146] Prediger, lieber Onkel!« rief das weiße Fräulein; und wirklich bog Pastor Blümel, bereits im Ornat, hastigen Schrittes um die Gartenhecke. Röschen flatterte wieder vor ihm her wie ein Schmetterling.

Der fremde Herr ging ihm mit ausgestreckten beiden Händen entgegen.

»Ihr liebes Töchterchen hat unser Inkognito zu Ihnen ungelegener Stunde aufgehoben, Herr Pfarrer,« sagte er. »Richtig gespürt hat indessen das kleine Ding. Ich bin in der Tat der General von Hartenstein, und diese hier ist meine Nichte, die Tochter des Propstes, den Sie ja kennen.«

Pastor Blümel freute sich – und wie von Herzen! – des ersehnten Bekanntwerdens, bedauerte, durch sein Amt für ein paar Stunden in Anspruch genommen zu sein; rechnete aber, wie sein Liebling wiederum richtig vorausgespürt, auf das Glück, Onkel und Nichte als Mittagsgäste in seinem Hause zu begrüßen.

Der General nahm ohne Umstände an. »Es ist ein leidiger Anlaß,« sagte er darauf, »der mich zum ersten und voraussichtlich zum letzten Male in meine Besitzung führt. Davon indessen später. Leider höre ich, daß mein Pächter seine Residenz verlegt hat. Besucht er Ihre Kirche regelmäßig?«

»Nur noch die seines eigenen Gutes, das mein Filial ist, Exzellenz.«

»Bon!« versetzte heiter die Exzellenz. »So möchte ich heute seinen Kirchenplatz einnehmen. Denn vor der Eröffnung, die ich ihm zu machen habe, und auf die ich mich bei aller Kläglichkeit des Anlasses freue wie ein Schneekönig, item vor dieser Eröffnung an seiner Seite Ihren Segen, Herr Pfarrer, zu empfangen, würde mich einigermaßen gotteslästerlich angemutet haben.«

[147] Die beiden Herren schlugen den Kirchpfad längs der Gartenmauer ein. Röschen flatterte wieder voran, Mama den zusagenden Bescheid zu hinterbringen. Dezimus ging mit dem weißen Fräulein hinterdrein. Beide schwiegen eine Weile still. Der Bauernjunge im blauen Leinenkittel wußte nichts, womit er das vornehme weiße Fräulein privatim hätte unterhalten können, und das vornehme weiße Fräulein mochte von dem Bauernjungen bereits zur Gnüge unterhalten worden sein. Endlich fragte sie aber doch:

»Du hast wohl noch niemals durch ein Fernglas gesehen?«

Er antwortete: »Nein«; weil er jedoch allemal beherzt wurde, wenn auf seine Wunder die Rede kam, setzte er hinzu: »Ich möchte aber alle Tage durch solche Gläser sehen können.«

»Hast du schwache Augen?«

»Nein, Falkenaugen, sagt die Mutter.«

»Wozu brauchst du dann ein Glas?«

»Weil ich in den Himmel blicken möchte.«

»An den Himmel meinst du wohl, Dezimus. In den Himmel blicken wir hienieden nicht. Wenn du größer wirst, mußt du einmal auf eine Sternwarte gehen.«

Dezimus fragte, was eine Sternwarte sei, und das weiße Fräulein belehrte ihn, soweit als ein zehnjähriges, frühreifes Kind über ein derartiges Institut, dessen forschende Insassen und deren Werkzeuge zu belehren vermag. Sie erzählte auch, daß sie mit ihrem älteren Bruder von dessen Hofmeister auf das Observatorium ihrer Vaterstadt geführt worden sei und daß sie durch ein mächtiges Fernrohr die Berge auf dem Monde deutlich gesehen habe und eine Menge Sterne, die sie mit bloßen Augen gar nicht wahrgenommen, deutlich wie die leuchtendsten am Himmel.

[148] »Ist Ihre Vaterstadt weit?« fragte Dezimus mit fliegendem Atem. Ihm schwindelte das Hirn.

»Sehr weit,« antwortete das weiße Fräulein. »Ich glaube aber, eine Sternwarte gehört zu jeder Universität, und ihr habt ja mehrere Universitätsstädte in der Nähe. Gestern haben wir in einer übernachtet, und heute wollen wir in einer anderen übernachten. Da kannst du ja leicht einmal hinkommen, Dezimus.«

Wieviele Menschen sind sich wohl bewußt, in welchem Momente die Sterne, welche ihr Leben regieren sollten, zum ersten Male an ihrem Horizont gedämmert haben? Dem Hirtensohne von Werben dämmerte der seine in den Minuten, wo das schöne weiße Fräulein ihm verkündete, daß die großen und kleinen Lichter am Himmel Welten seien, wie unsere Erde eine ist, und daß es kluge Männer gäbe, die ihre Bahnen zu berechnen wissen.


Unter der Kirchtür trafen sie mit den beiden Herren und Röschen zusammen; die älteren Schwestern waren schon vorausgegangen; Frau Hanna gestattete sich, an diesem Ausnahmsfeste Herrendienst vor Gottesdienst gehen zu lassen. Da der Prediger seinen Eingang durch die Sakristei zu nehmen hatte, wurde Dezimus mit der Ehre betraut, die Herrschaft in den Patronatsstuhl zu geleiten. Lydia erklärte indessen, daß sie des Oheims Rückkunft auf dem Gottesacker erwarten werde.

»Du kleine Betschwester willst die Sabbatfeier schwänzen?« fragte Herr von Hartenstein lachend.

»Der Vater würde es nicht erlauben,« versetzte Lydia sehr leise, aber bestimmt.

Der General stampfte mit dem Fuße. »Narretei und kein Ende!« rief er unwillig. »Allons, voran!«

[149] Pastor Blümel aber sprach nach einem langen Blick in das bleiche, ernste Kindergesicht: »Ihre Nichte handelt recht, Exzellenz!« Und seit diesem ersten Blick hat er nicht minder wie sein Dezem Lydia von Hartenstein wie eine Idealgestalt in seiner Seele gehegt.

So blieb das weiße Fräulein denn zurück, und das Pfarrröschen wurde ihr zur Gesellschaft vom Kirchenbesuche dispensiert. Sie klatschte vor Vergnügen in die Hände, während die andere sich still auf einen alten Pastorgrabstein neben der Kirchtür niederließ.

Dezimus dagegen schritt als Majordomus dem Gutsherrn voran zu dem Erbstuhl der Werben und nahm, auf des Herrn Befehl, auch an seiner Seite Platz, welche Auszeichnung halb eingeschlummerte böse Erinnerungen an das Hutmannshaus in der frommen Zuhörerschaft aufstörte. Denn so klug wie sein Röschen war Pastor Blümels Gemeinde auch: männiglich erkannte den General an Bart und Stern. »Die Exzellenz!« raunte man sich von Ohr zu Ohr. Solch denkwürdigen Gottesdienst hatte man in beiden Werben nicht erlebt, seit Anno 17 die Luthereiche gepflanzt worden war. Nicht das älteste Mütterchen nickte ein; alle Augen hingen an dem stattlichen Herrn, dessen mächtiger Baß Orgel und Chor übertönte. Dezimus hielt ihm gewissenhaft das Gesangbuch unter das Gesicht; weil der alte Herr aber vorzog, ohne Brille sich in der Kirche umzusehen statt mit der Brille in das Buch, sang er aus dem Kopfe, und wollte der Kirchenvogt, als er den Klingelbeutel herumtrug, erhorcht haben, daß der Herr der Melodie des Morgenliedes »Mein erst Gefühl sei Preis und Dank« den Text des Reiterliedes »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!« untergeschoben habe. Der Kirchenvogt meinte indessen, einer Exzellenz, die statt eines [150] Pfennigs einen Taler in den Klingelbeutel stecke, einer solchen Exzellenz werde ein Text nach ihrem Gusto wohl zu gestatten sein.

Nun aber die Predigt. Sie klang vom ersten Gruß bis zum letzten Amen wie eine Ruhmeshymne nicht nur in den Ohren der friedfertigen Gemeinde, sondern auch in denen des tapferen Waffenbruders, zu dessen Ehren der sorgfältig ausgearbeitete Perikopentext für den nächsten Jahrgang beiseitegelegt und dem heroischen Priestergeschlecht der Makkabäer ein heroisches königlich preußisches Soldatengeschlecht an die Seite gestellt worden war. Niemals hatte Konstantin Blümel schwungvoller extemporiert, niemals waren ihm seine großen Erinnerungen so freudig aus der Seele geströmt. Er schilderte den Lebenslauf eines vaterländischen Helden vom ersten Erwachen noch unter des einzigen Friedrich wehender Siegesfahne, durch Drangsal und Erlösung bis zu den abschließenden drei Salven über dem frisch gefüllten Hügel. Dem närrischen Dezem fiel über der Rede das gestrige Abendlied ein, und Mutter Sonne wurde ihm zu einem hohen General. »Er kommt und leuchtet und strahlt uns von ferne und läuft den Weg gleich als ein Held.«

In der Gemeinde hatte die Predigt einen gewaltigen Eindruck gemacht und der »neue« Pastor samt seinem Preußentum binnen achtzehn Jahren den ersten festen Schritt in die Gemüter getan. Seit heute wußte man, was man an dem Manne und an dem Vaterlande, welches das unsere geworden war, besaß. »Sprit haben sie, diese Preußen,« sagte am Abend in der Schenke der Schulze Thränhard zu dem Hoferben des alten Walbe. »Und Kurage haben sie auch, das muß man ihnen lassen. Aber, aber, wenns mit den drei Salven nur nicht vorgespukt hat, Nachbar!«

[151] Auch der gefeierte Held sagte auf dem Heimwege zu dem Prediger: »Wolle der Himmel, Freund, daß die Grabrede, die ich einmal nicht hören werde, so rühmlich lautet wie die, mit welcher Sie mich heute a priori erbaut haben.« Und der alte Herr lachte bei den Worten, doch mit einer Träne in der Wimper; Pastor Blümel aber hätte die drei Salven lieber ungelöst gelassen.

Weit unbefriedigender war der Erfolg, welchen das Pfarrröschen mit seiner Gespielin erzielte. Sie hatte das kindesmögliche vorgeschlagen, das närrische Mädchen von dem alten Pastorstein fortzulocken: Blumen pflücken, Kränze winden, im Garten Beeren suchen, zu Mama in das Haus gehen, Kochens spielen und wer weiß was noch. Das närrische Mädchen hatte zu einem wie dem anderen schweigend den Kopf geschüttelt, während des Gesanges und der Liturgie unbeweglich mit gefaltenen Händen gesessen und, als sie drinnen die Predigt beginnen hörte, aus einem Täschchen, das ihr am Gürtel hing, ein kleines Neues Testament hervorgezogen, in welchem sie die Kapitel des Evangeliums und der Epistel des Tages andächtig las. Röschen war währenddessen in das Haus gelaufen und rasch zurückgekehrt, in einem Arme ihre Wickelpuppe, in der anderen ihre Tirolerin, die sie mit Stolz präsentierte. Da das närrische Mädchen aber nur abwehrend mit der Hand winkte, hatte Röschen ein Mäulchen gezogen, dann aber hellauf gelacht und, ohne sich weiter um ihren Gast zu kümmern, begonnen, sich auf eigene Hand zu unterhalten. Sie pflückte zwischen den Gräbern Wegebreitblätter und kleine Blüten, heftete sie mit Dornen zu zierlichen Puppenhütchen zusammen und legte sie auf einem Leichenstein wie in einem Putzladen aus, dem die Tirolerin als Ladenmamsell präsidierte. Röschen hätte bei ihrem Geschäft [152] gern ein Liedchen gesungen mit den Lerchen hoch oben im blauen Himmel um die Wette; aber das schickte sich dicht an der Kirchtür, während Papa predigte, am Ende doch wohl nicht; Röschen sang ihr Liedchen nur im Herzen.

So saßen die beiden Kinder, jedes nach seiner Art beschäftigt, auf den alten Pastorsteinen sich still gegenüber, bis die Leute aus der Kirche kamen und nun auch Dezimus sich zu ihnen gesellte.

»Du hast zu Hause wohl viel schönere Puppen als meine?« fragte Röschen, während sie selbander nach der Pfarre gingen.

»Ich habe gar keine Puppen,« antwortete Lydia; »aber die, mit welchen meine Schwestern spielen, sind nicht so schön gekleidet wie diese.«

»Mit was spielst du denn aber, wenn du keine Puppen magst?«

»Ich habe sonst mit meinem kleinen Bruder gespielt, und jetzt spiele ich mit meinem Schwesterchen.«

»Wie alt ist denn dein Schwesterchen?«

»Sechs Wochen.«

»Aber mit einem Wickelkinde kann man doch nichtspielen.«

»Doch! Besser wie du mit deiner toten Wickelpuppe.«

»Ich spiele mit meiner Wickelpuppe aber auch nur, wenn mein Mus nicht da ist. Sonst spiele ich immer mit meinem Mus.« Und dabei zupfte sie ihren Mus neckisch an den Haaren und flüsterte ihm in das Ohr: »Du, Mus, dies fremde Mädchen ist noch weit närrischer wie du mit deinen Sternen.«

In der Weinlaube vor dem Hause empfing Frau Hanna ihre Gäste. Da an diesem außerordentlichen Tage das Abhalten der Betstunde dem Adlatus Beyfuß übertragen, das Diner demnach zu einer späteren Stunde als der, in [153] welcher Exzellenzen ihr Frühstück zu nehmen pflegen, angesetzt worden war, hatte die kluge Hausfrau für einen Imbiß gesorgt, einen Ohnmachtsbissen, wie sie lachend sagte, weil Kirchenluft zu zehren pflege. Die Exzellenz lobte ihre Fürsorge und tat ihr Ehre an; alle anderen aber auch; sogar das weiße Fräulein, von welchem Dezimus es doch weit natürlicher gefunden haben würde, wenn es sich bloß von Mondenschein und Sonnenstrahlen genährt hätte.

Nach dem Ohnmachtsbissen verfügten die beiden Herren, um durchaus ungestört zu sein, sich in das geistliche Gemach; auf besonderen Wunsch der Exzellenz folgte ihnen die Hausfrau, nachdem sie ihre wirtlichen Obliegenheiten mit den exaktesten Vorschriften den beiden erwachsenen Töchtern, die noch im Hause waren, übertragen hatte; die Kinder tummelten sich im Garten.

Der General von Hartenstein gehörte von Natur nicht zu der Spezies, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube macht. Heute aber war ihm erst unter dem Heldenlauf im Gotteshause und dann unter den fröhlichen Menschengesichtern in der Gartenlaube die Seele absonderlich flott geworden, und sprudelte er nun ohne Bedenken aus, was bis zur Stunde schwer auf ihr gelastet hatte.

»Habe ich«, so hob er an, »jemals eine Kreatur gehaßt, so ist es diesen Mehlborn. Denn einen Feind, den er bewundert, wie den Napoleon etwa, den haßt kein Soldat, so was mir hassen heißt. Er ringt mit ihm Mann wider Mann, und gibt Gott die Ehre, hat er ihn abgetan. Aber diese bäurische Kanaille – zertreten möchte ich sie wie ein widriges Reptil!«

Pastor Blümel schreckte mit einer Gebärde des Entsetzens zusammen. Sein Gast reichte ihm über den Tisch hinüber die Hand und sagte mit seinem Hartensteinschen kordialen [154] Lachen: »Beruhigen Sie sich, frommer Herr. Ich erfreue mich, Gott seis geklagt! nicht des nervus rerum, mit dessen Hülfe einem Mehlborn der Garaus gemacht wird; nur auf einen, – nun wie sage ich doch gleich? – nun, auf einen Schabernack ist es abgesehen, und dieses Gaudium denke ich mir heute nachmittag zu bereiten, indem ich zu dem Patron sage: ›Unser Kontrakt läuft mit diesem Jahre ab. Die Pachtung ist anderweitig vergeben. Mein Justitiarius wird Ihr Darlehn tilgen samt Zins und Afterzins. Salve, auf Nimmerwiedersehen!‹ Der Scherz ist mir zur Hälfte vereitelt, da ich den Schächer nicht mehr aus dem Tempel jagen kann. Den kleinen Racherest sollen Sie mir aber gönnen, Freund. Denn, Hand aufs Herz: wie würde Ihnen zumute sein, wenn Sie, ein alter, lendenlahmer Wicht wie ich, Ihren Sohn, Ihr einziges Kind, am Rande eines Abgrundes taumeln sahen, und der Nächststehende, der, welcher allein ihn retten konnte, zog seine Hand zurück und ließ ihn sinken?«

»Exzellenz – –«

»Still, Freund, still! Ich weiß, was Sie mir vorhalten dürfen. Die Stirnlocke hat sich mir weit über die ziemlichen Jahre hinaus gebleicht, und ich ziehe kein Jota von meiner Torheit ab. Auch meinen armen Jungen kann und will ich nicht rein waschen. Aber was wollen Sie? Er wuchs heran in einer tatenreichen Zeit und ward zum Mann in diesen faulen Schlendertagen. Seitdem wir Hartensteine von Ahnen wissen, rumort in unseren Adern Soldatenblut. Nehmen Sie meinen Bruder an, den Propst, zu welchen Windmühlenkämpfen die Hartensteinsche Ader ihn hetzt. Sie werden ihn einen Don Quixote nennen – –«

»Gott sei dafür, Exzellenz!« unterbrach ihn der Pastor mit Wärme. »Es ist als Diener im Amt mein bitterster Schmerz [155] gewesen, die Toleranz zur Tyrannei werden zu sehen, und es ist nur natürlich, daß die Treue den Trotz gebiert.«

»Nun, wie Sie wollen, Pastor,« entgegnete der General. »Um so eher werden Sie zugestehen, daß es ein Kunststück ist, wenn solch ein prickelndes junges Soldatenblut am häuslichen Herdfeuer ausdauert, ohne überzuschäumen oder einzusickern. Eine zärtliche Huldin wie meine Schwägerin Ottilie, so ein Weib in Gottes Namen, die hätte das Kunststück allenfalls fertiggebracht, aber diese bäurische Marzibille – –«

»Verzeihen Sie, Exzellenz,« fiel bei dieser Wendung Frau Hanna dem aufgebrachten Herrn in das Wort. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihr Urteil über die Mutter Ihrer Enkel zu berichtigen wage. Frau Brigitte von Hartenstein ist nicht nur eine charaktervolle, sie ist auch – trotzdem sie meine Schülerin war, fragen sie nur Konstantin – eine gediegen gebildete Frau.«

»Aber wer bestreitet denn das, Verehrteste?« erwiderte der General. »Gediegen wie eine Barre. Mit ein wenig unsoliderem Zusatz legiert, würde sie handlicher geworden sein. Sie lächeln, werte Frau? Ei nun, so zu lächeln hätten Sie Ihre Schülerin lehren sollen. Aber solch eine Gangart, wie auf hoch gespanntem Seil, Schritt für Schritt, die Balancierstange in der Hand und zwischen den Lippen einen scharf geschliffenen Stahl, – – still davon! Es ist überstanden. Was übersteht einer nicht? Mein armer Junge, – helf ihm Gott! Der Kaukasus ist eine Schule. Zum äußersten ein Tscherkessenblei! – Den Vater, der schon in der Rheinkampagne gefochten, triffts, ist der Himmel gnädig, nicht mehr mit. Still davon!«

Der alte Herr machte eine Pause. Es ging kein Atemzug durch das geistliche Gemach.

[156] »Was ich aber niemals überwinden kann und will,« so fuhr der General, nachdem er sich gefaßt hatte, fort, »was mich stacheln wird, solange meine Augen offen stehen, ist, daß ich auf mein Fleisch und Blut den geringfügigsten Einfluß, ja den natürlichsten Anteil an ihm verwirkt haben soll, daß ich, ohne es hindern zu können, erleben muß, wie der alte, tapfere, lebensfrohe Pulsschlag meines Geschlechtes entartet dort unter der Geißel eines Schwärmers, hier unter dem Dreschflegel in einer Bauernfaust.«

Pastor Blümel saß still in sich versunken; er durchlebte im Geiste die Peripetien eines Vaterherzens, das sich in derlei wunderlichen Sprüngen des Leides und der Laune offenbarte, und überließ auch diesmal seiner Hanna, das beschwichtigende Wort an seiner Statt auszusprechen.

»Wer, der selber Kinder hat, empfände diesen Stachel Ihnen nicht nach, Exzellenz,« sagte sie seufzend, setzte darauf aber mit ihrem wirksamen Lächeln hinzu: »Wenn indessen der Verdruß eines Widersachers ein Trost ist, so halten Sie sich an den, daß der mütterliche Großvater Ihrer Enkel den nämlichen Pfahl in seinem Fleische fühlt, da die Tochter auch ihm den geringfügigsten Einfluß auf ihre Kinder verwehrt und dieselben seinem Zürnen zum Trotz in gebildeten Lebenskreisen erzieht.«

»Wirklich! wirklich!« rief der alte Herr, indem er sich vergnügt die Hände rieb. »Ei nun, ähnlich sieht ihr diese kindliche Gemütlichkeit, und Sie haben recht: ein Trost bleibt es immer, wenn auch nur ein halber. Jetzt aber steht es fest: morgen dringe ich bei ihr ein, mag sie ein Gesicht schneiden, so sauer sie es fertig bringt. Ich will und muß mich überzeugen, was sie aus den Kindern macht, ich will und muß meine Enkel wiedersehen – vielleicht zum letzten Male sehen. Und nun zur Hauptsache: wie, glauben Sie,[157] wird Brigitte die Überraschung aufnehmen, daß ich Hochwerben verkauft habe?«

»Verkauft – und nicht an den Amtmann?«

»Würde es dann für Brigitte eine Überraschung sein? Nein, an meine Schwägerin.«

»Die Gemahlin des Propstes?«

»Leider nicht an sie. Auch diese liebe Seele ist eine Hartenstein geworden, das heißt, sie hat ihre Geldtasche nicht fest genug gehalten, um einen alten Familiensitz gegen einen Mehlborn zu behaupten. Just ihr indessen wird der Handel wie jetzt, so hoffentlich dereinst zugute kommen. Die Käuferin ist ihre Tante, Schwester ihrer Mutter und meiner seligen Frau; ein lediges Fräulein in meinen eigenen blühenden Jahren, die Letzte der Werben.«

Hätten in dem bescheidenen Pfarrhause schöngeistige Zeitblätter Eingang gefunden, so würde für dessen Insassen die neue Patronin keine Unbekannte gewesen sein. Denn da erschien wohl selten eine Korrespondenz aus »Elbflorenz«, ohne Thusneldas von Werben als einer Polyhymnia oder mindestens Mäzena zu gedenken. Ihr Geist, ihre Originalität, ihr Harfenspiel, die schönsten Frauenarme – noch im siebenzigsten Jahr! – wurden gerühmt und sogar besungen; aufrichtig besungen, denn Ironie zählte nicht stark zu der Ästhetik ihrer Zeit und Zone. Das gastliche Werbensche Haus in der Ostraallee, als dessen Spezialität es galt, daß neben ausgesuchten künstlerischen Genüssen diejenigen, welche Leib und Seele zusammenhalten, nicht verabsäumt wurden, war ein Zielpunkt der einheimischen wie durchziehenden Hautevolee; auch der des Geistes, und letztere revanchierte sich für obenerwähnte Genüsse durch obenerwähnte Huldigungen.

Aber Pastor Blümel und seine Hanna gehörten zu keiner [158] Art von Hautevolee, leider ja nicht einmal zu der des Kirchentums; sie waren in der neuen Provinz niemals über ihre beiden kleinen Nachbarstädte hinausgekommen, hatten niemals ein Exemplar der Abendzeitung oder Eleganten Welt in der Hand gehalten, und da weder die preußische Staatszeitung noch ein theologisches Fachblatt der Harfenkönigin Thusnelda von Werben jemals Erwähnung getan, gutsherrliche Traditionen aber seit einem Menschenalter in der Gemeinde erloschen waren, war nicht bloß die Bedeutung, sondern sogar die Existenz einer noch lebenden Werbenschen Schwester neben den beiden verblichenen dem Pfarrerpaar eine absolute Neuigkeit; um so lebhafter aber auch das Interesse an dem, was der bisherige Patron mit bravem Reiterhumor von der gegenwärtigen Patronin berichtete.

Eingängliches war es just nicht, und eine Besserung der Patronatszustände deutete es leider auch nicht an. Ein geistreiches Weltkind, das in der Jugend, wenngleich reich und schön, den Dienst der Musen dem der Laren vorgezogen, nach dem Verlust einer trefflichen Singstimme es im Harfenspiel zu ungewöhnlicher Virtuosität gebracht und den Mittelpunkt eines großen geselligen Kreises gebildet hatte, darauf beschränkte sich ungefähr, was der Schwager von der Schwägerin wußte oder mitzuteilen beliebte. Die Dame war überdies – keineswegs aus religiösem Drang, sondern lediglich weil das Vaterland ihren gesteigerten ästhetischen Bedürfnissen Gnügendes nicht mehr bot – in alten Tagen noch gen Rom gepilgert, mit der noch kürzlich ausgesprochenen Absicht, bei Lebzeiten nicht in die Heimat zurückzukehren, dahin gegen dereinst ihre Gebeine, statt unter der Pyramide des Cestius, in der Werbenschen Erbgruft eine Ruhestatt finden zu lassen. »Ein Indizium,« so meinte [159] der alte Herr, »daß auch in der verdrehtesten aller schöngeistigen und freigeistigen Schrauben eine patriarchalische Erbader nicht zu verwüsten ist.«

»Meiner Person«, so erklärte er weiterhin, »war die Harfenistin, wie man so sagt, spinnefeind. Nicht sowohl aus königlich sächsischem Patriotismus, denn die Musen und ihre Jünger sollen ja Kosmopoliten sein; vielmehr aus Verdruß, weil ihr Vater meiner Frau und nicht ihr, der ältesten Tochter, die Werbenschen Erbgüter hinterlassen hatte. Zugegeben, daß sie diese standhafter als meine gute Sidonie behauptet haben würde. Die Harfenistin hat ihre bare Abfindung zwischen ihren geschmeidigen Fingern nicht nur wacker zusammengehalten, sondern noch klüglich vermehrt; auch von anderer Seite ist ihr eine Erbschaft zugefallen, sie gilt für eine sehr reiche Person und hatte das Zeug dazu, es zu werden. Aber was wollen Sie? Zum Erben von Land und Leuten sucht ein Mann sich einen Mann, und wenn Künstlerinnen auch nicht altern, der Vater rechnete nicht nach dem Genie, sondern nach dem Kalender und dachte: immer noch besser ein preußischer, mit einem Sohne gesegneter Oberst, als eine sächsische alte Jungfer. Kurz und gut: Sidonie erhielt die Güter, und die Fäden zwischen der Harfenkönigin und der Soldatenfrau rissen seitdem kurz und klein. Ich tat daher schlechthin einen Schuß ins Blaue – auch, weiß Gott! nicht mit vergnüglichem Herzen! –, als ich ihr vor einiger Zeit den Vorschlag machte, das letzte Familiengut den Krallen dieses Mehlwurm zu entwinden, will sagen, es mir zu einem zivilen Preise abzukaufen, und seit dem Abschied von meinem armen Jungen hat mir zum ersten Male wieder ein Tropfen geschmeckt, als sie umgehend, kurz und bündig, meinen Vorschlag akzeptierte und eine Kaufsumme bewilligte, just hinreichend, [160] daß kein Schmuhl und kein Mehlborn sagen sollen, sie seien durch die Hartenstein Vater und Sohn um eines Deutes Wert zu kurz gekommen. Für die Enkel mag einer sorgen, dem Sorgen leichter wird als den Hartenstein. Eingebüßt haben sie durch den Handel nichts, – der alte Bauer wird das ausgezahlte Kapital nicht zum Fenster hinauswerfen; – leicht aber könnten sie nach anderer Seite einer Erbaussicht näher gerückt worden sein. Mein Sohn und Ottilie sind Thusneldens nächste Blutsverwandte, und wird sie den alten Stammsitz nicht, wie vielleicht ihr bewegliches Vermögen, in fremde Hände kommen lassen. Blieb also nur die Rücksicht auf Brigitte – –«

»Die,« fiel die Pastorin ein, »dafür bürge ich, Exzellenz, aus der Entäußerung weder Ihnen einen Vorwurf machen noch auf einen Vorteil für die Zukunft rechnen wird.«

»Nun, um so besser!« versetzte gutmütig der alte Herr. »Ich will kein Vatergefühl für diese Tochter heucheln, kann ihrerseits mich auch keiner Tochterzärtlichkeiten rühmen. Allein auf Rosen ist sie in meiner Familie nicht gebettet gewesen, und sie zu guter Letzt noch mit einem Dorne ritzen zu müssen, würde mir wahrlich den sonst so erwünschten Handel verleidet haben.«

Der alte Herr machte von neuem eine Pause; auch das Pfarrerpaar schwieg. Er wie sie legten nach ihrer Art sich die Veränderungen zurecht, die urplötzlich über eine liebe Heimat gekommen waren.

»Nach dieser Eröffnung«, hob Herr von Hartenstein wieder an, »bin ich noch mit einer zweiten im Rest, die Sie, Freund, als Ortspfarrer nicht sonderlich anmuten, Ihr gutes Herz aber, denkich, mit mir altem Schadenfroheinigermaßen aussöhnen wird, da dieses Anliegen weit mehr als der Mehlbornsche Kitzel es war, das mich bewogen hat, [161] in den sauren Apfel der Unterhandlung mit meiner feindlichen Schwägerin zu beißen. Es handelt sich um meinen Bruder, den Propst. Sie kennen ihn und wissen, wie er sich gegen die Auslegung dreier Buchstaben gebäumt, Amt und Brot dafür in die Schanze geschlagen und, wie billig, den kürzeren gezogen hat. Sie werden vielleicht auch gehört haben, in welcher Weise er es seitdem unter den Getreuen seiner alten Gemeinde getrieben, dem Anschein nach als Privatmann, in Wahrheit als geistliches Parteihaupt, kurz und bündig: als konservativer Revolutionär. Der Name Hartenstein hat ihn bisher geschützt; aber die Allerhöchste Langmut ist erschöpft. So oder so: er muß zur Ruhe gebracht werden. Sehr möglich, daß es dem Starrkopf gar nicht unerwünscht gewesen wäre, hinter Schloß und Riegel mit einer bescheidenen Märtyrerkrone verehrt zu werden und bei einem Umschlag im Regiment – wie er sich fest überzeugt hält – mit einer Siegerkrone um so strahlender zu leuchten. Zu seinem Glück oder Unglück ist er seinem Helden Luther aber auch in den heiligen Ehestand gefolgt, und hat die Familiensorge, zumal bei seiner Kränklichkeit, ihn mürbe gemacht. Was soll ich weiter sagen? Er ist ein Hartenstein; das heißt ein unbesonnener Haushalter und ein Stümper in allem, was die Welt Geschäfte nennt. Schon als er die reichste Pfründe der Provinz innehielt, kam er niemals aus. Seitdem er sie verscherzt hatte, seitdem es obendrein galt, abgesetzte Amtsbrüder, bedürftige Glaubensgenossen, Schüler und Konventikel zu unterstützen, Traktate auf eigene Kosten drucken zu lassen, lebte er von der Schnur. Allerwege offenes Haus und offene Hand, allerwege wie ein Prälat im guten Glauben apostolischer Einfachheit; dazu unkluge Anlagen und superkluge Anwälte, insolvente Schuldner und insolente Gläubiger, wer, der ein [162] Hartenstein ist, wüßte nicht ein Lied über diesen Text zu singen? Wenn uns die Schuppen von den Augen fallen, ist es regelmäßig zu spät. Enfin: Not bricht Eisen; er geht ins Exil, will sagen: nach Werben!«

»Nach Werben?« rief das Pfarrerpaar aus einem Mund.

»Nach Werben! In das Bereich der alten Heidin Thusnelda, die er mit Augen zwar niemals gesehen, mit Worten jedoch um so öfter in den Bann getan hat. Sauer genug mag es ihm ankommen. Aber der Blöße mußte ein Anstandsmäntelchen umgehangen werden. Er ist trotz allem und allem ein Hartenstein und die Heidin trotz allem und allem eine Blutsverwandte. Wo würde er einen schicklicheren Ruheplatz gefunden haben? Das Schloß wird restauriert; nicht, wie mir die alte Kunstseele schreibt, weil sie selbst es jemals zu bewohnen gedächte, sondern weil sie sogar in Rom keine Freundin von Ruinen geworden sei, am wenigsten von modernen. Da aber bewohnte Räume sich besser als unbewohnte erhalten, könne es ihr nur erwünscht sein, wenn dieser posthume Kirchenvater sich in den ihren einen Familientempel errichten wolle. Nun, ich sollte denken, Freund, daß man weniger demütigend keine Nothilfe leisten könne.«

»Aber, Exzellenz,« entgegnete Pastor Blümel, »eine Gemeinde, eine Landschaft, in welcher der eiferartige Herr weit und breit keinen Gesinnungsgenossen treffen wird – –«

»Sind eben darum die geeigneten für den eiferartigen Herrn,« versetzte der General. »Die Isolierhaft auf einem Familiengute, das binnen kurzem voraussichtlich sein Erbe sein wird – denn die Mehlbornsche Kreuzung in meinem Nachwuchs wird, fürchte ich, der Letzten der Werben nicht sonderlich anziehend sein –, in lachender, wohlhäbiger Umgegend kann sich ein Märtyrer schon gefallen lassen. [163] Dieser Blick in das Tal – – ich hätte hier wohl meine Tage beschließen mögen. Vorbei, vorbei! Ich sterbe, wie ich gelebt, als ein Hartenstein, als Soldat!«

Der alte Herr sprang auf und machte einen Gang durch das Zimmer. »Uff!« rief er, »solch ein Vortrag strapaziert ärger als ein Gefecht. Ein Glas Wasser, bitte, liebe, freundliche Frau!«

»Eine Flasche Wein, Hanna!« verbesserte ihr Konstantin.

Frau Hanna holte und kredenzte den Labetrunk. Der alte Herr küßte ihr dankbar die Hand und fuhr, nachdem er sich zu einer abschließenden Anstrengung gestärkt hatte, also fort:

»Sie werden die Beweggründe einsehen, aus welchen ein kaum Gekannter mit dem Vertrauen eines alten Freundes diese Intimitäten vor Ihnen enthüllt hat! werden den Mann, der Ihr nächster Nachbar, wenn auch nimmer Ihr Beichtsohn werden wird, aus seiner Lage heraus beurteilen, und wenn seine Familie in ihrer völligen Fremde Rat und Hülfe von Ihnen erbittet, werden Sie raten und helfen. In diesem guten Glauben wende ich mich zunächst an Sie, Frau Pfarrerin. Ich denke morgen in X. einen Bauverständigen für die Restauration des Schlosses anzuwerben. Raum und Komfort für eine Familie der höheren Stände, nicht mehr, nicht weniger fordert meine Mandatarin. Da ich selbst indessen zu häuslichen Anordnungen tauge wie jener Wohlbekannte zum Lautenschlagen, habe ich mir als Adjutanten mein Nichtchen mitgebracht.«

»Das Kind, Exzellenz?«

»Ja, lächeln Sie immerhin, werte Frau: die Lydia ist nur den Jahren nach ein Kind. Um ehrlich zu sein, ich, für meine Person, wüßte mit solchem Dämchen Heiligkeit nicht etwas Rechtes anzufangen. So wie Ihre Kleine wünschte [164] ich mir meine Enkelin. Haben Sie sie kürzlich gesehen, Frau Pfarrerin?«

Frau Hanna verneinte, und Herr von Hartenstein meinte, halb mißgestimmt und halb galant, er fürchte, seine Sidi sei zu sehr ihrer Mutter Kind, um mit Frau Hanna Blümels Sprößlingen Ähnlichkeit zu haben.

»Abgesehen davon,« setzte er mit einem Anflug von Bitternis hinzu, indem er die rechte Schulter in bedeutungsvoller Weise in die Höhe zog. »Still davon! Ich weiß nicht, ob viele Kinder aus der Wiege fallen, aber das weiß ich, ein Kind Ottiliens würde nicht aus der Wiege gefallen sein. Die arme Kleine! Still, still! Wir sprachen ja von Lydia. Wollen Sie glauben, daß das Mädchen bei seinen zehn Jahren die Seele des Hauses ist? Dem lässigen älteren Bruder eine anspornende Lerngenossin, den jüngeren Schwestern eine Art von Gouvernante und dem Vater schon nahezu eine Freundin.«

»Aber der Mutter, Exzellenz?« rief Frau Hanna schier beängstet. »Ums Himmels willen, was ist sie der Mutter, und – verzeihen Sie –, aber was ist die Mutter?«

»Die Mutter,« antwortete der alte Herr herzlich lachend, »ei nun, die Mutter ist eben das Mütterchen in der Kinderstube, und die Tochter wird ihr, denke ich, eine dienstwillige Pflegerin sein, so eine Art barmherzigen Schwesterleins, wenn sie, wie zur Stunde, wieder einmal eine ihrer Heldentaten – Sie verstehen mich, Frau Pfarrerin – glorreich vollbracht hat. Die Ottilie gehört zu der schwerlich stark vertretenen Spezies Ihres Geschlechts, die nur die Augen aufzuschlagen wagt, wenn sie eine Wiege an ihrer Bettseite stehen sieht. Jenseit der Kinderstube hört ihr Anspruch an die Welt, wie der an sich selber auf. Nun, Sie werden ja bald genug diese absonderlichen Kostgänger an unseres [165] Herrgotts Speisetische kennen und zutreffender als ich alter Haudegen beurteilen lernen. Was ich zunächst noch auf dem Herzen habe, Frau Pfarrerin, ist die Bitte, meine Kleine nach dem Schlosse zu begleiten und ihr eine zweckmäßige häusliche Einrichtung an die Hand zu geben. Lydia weiß und erklärt, was die Familie nach ihrer bisherigen Gewöhnung bedarf; Sie sehen zu, wie sich diesem Bedürfen in den vorhandenen Räumen ungefähr gnügen läßt. Ich übermittele Ihre Vorschläge an den Bauverständigen und verweise ihn auf Ihre fernerweitigen Anordnungen. Schlagen Sie ein, liebe, freundliche Frau?«

Die liebe, freundliche Frau schlug in die dargereichte Hand, und der alte Herr atmete auf wie erlöst von schwerer Last. Bald danach stellte, von ihm entboten, Justizrat Hecht, der Patrimonialrichter beider Werben, sich ein, mit welchem der General sich zu einer privaten Unterredung zurückzog. Als der Rat, der muntere Gesellschaft und Tafelfreuden liebte, dringende Geschäfte an Gerichtstagen daher immer zu verschieben gewußt hatte, heute, am Sonntag, »dringender Geschäfte halber« die Tischeinladung der Pfarrfreunde ablehnte und nach der Stadt zurückkehrte, um erst am Nachmittage auf dem Talgute mit seinem bisherigen Patron wieder zusammenzutreffen, sagte die kluge Frau Hanna:

»So wahr ich lebe, Konstantin, der alte Fuchs hat bei dem Gutskauf die Hand im Spiel gehabt. Um es aber mit dem Amtmann nicht zu verderben, stellt er sich als Überrumpelten. Die Exzellenz ist ausgeschröpft, vivat der Bauer! Wo wäre der Advokat, dem selber ein Mehlborn das Kraut nicht ein bißchen fetter schmalzen müßte!«

Im Lichte gestanden hatte der schlaue Rat sich indessen stark, denn an der Pfarrtafel ging es nicht nur munter, [166] sondern auch hoch heute her. Wäre statt der Waffeln in der Eile ein Staatskuchen herzustellen gewesen, es hätte Hochzeit oder Kindtaufe gefeiert werden können. Sämtliche Schüsseln waren erzdelikat, und der Bowle, welche die ersten Pfirsich des Pfarrgartens würzten, sprach nicht nur der weinkundige preußische General wacker zu, sondern auch das weiße Fräulein nippte wie ein Bienchen von dem süßen Trank. Dem Dezem kam überhaupt das weiße Fräulein gar nicht mehr so überirdisch vor, seit es auf dem Bleichplatze, anfänglich ein wenig ungelenk, dann aber so gewandt wie die Pfarrschwestern groß und klein, Kämmerchenvermieten und Reifchenwerfen mitgespielt und später bei Tische die lachende, schwatzende Gesellschaft zwar erst mit großen Augen angestaunt, dann aber ganz herzhaft mitgelacht und mitgeschwatzt hatte.

»Wie meine Lydia auftaut!« rief der alte Herr, und Pastor Blümel nannte die rosige Färbung ihrer Wangen einen Anemonenhauch. Er verwendete kaum die Blicke von dem fremden, eigenartigen Kinde.

Als der verehrte Held und Gast das letzte Glas mit einem Hoch auf »Kleinröschen«, das er sich zur Tischnachbarschaft erbeten, geleert hatte, sprang er auf und rief:

»So, nun bin ich in der Stimmung!«

»Eine Tasse Kaffee, Exzellenz?«

»Danke verbindlichst. Kaffee schlägt nieder. Jetzt rasch hinüber zum herzallerliebsten Herrn Bruder!«

Das Talgut lag nur ein paar Büchsenschüsse unterhalb Hochwerbens, weil aber jenseit des Flusses, konnte es zu Wagen nur in weitem Bogen über die städtische Brücke erreicht werden. Fußgänger benutzten den Fährkahn, der dicht unter dem Pfarrweinberge jederzeit bereitstand und den daher auch Herr von Hartenstein dem städtischen [167] Umwegevorzog. Die Begleitung seines Wirtes lehnte er jedoch mit den Worten ab: »Das fromme Freundesgesicht würde mir die Bataillenlaune dämpfen. Der Königspate soll mich hinüber führen.«

Der Königspate ist sich in keinem seiner Stufenjahre einer Bataillenlaune bewußt geworden. Im Beginn seines zweiten schlug er schüchtern einen Haken, sooft er den widerborstigen Amtmann von weitem kommen sah, und heute hätte er hundertmal lieber als den tapferen General vor den Feind das weiße Fräulein auf das Schloß geleitet, um, wie seine Pastormutter ihm geheißen, bei der Vermessung Dienst zu leisten. Aber was halfs? Seufzend legte er Zollstock und Bindfaden, Papier und Bleistift beiseite und schritt dem alten Herrn voran, indem er ihm auf den steilen Bergstufen seine stämmigen Schultern als Stütze dienen ließ.

Im Hofe angelangt, setzte er sich dann ruhig wartend auf eine Bank vor der Haustür, während der fehdelustige General sonder Präliminarien den Gegner wie Zieten aus dem Busche überfiel. Sein rechtskundiger Beistand traf erst eine gute Weile nach der festgesetzten Stunde ein, außer Atem zwar, aber leider zu spät, um der Katastrophe Zeuge und Meister zu werden.


Ein Gewitter hatte am Morgen vor der Sonne gestanden, seinen Ausbruch für die Nacht oder den nächsten Tag ankündigend; die Gerstenernte war noch nicht eingefahren, daher, trotz des Sonntags, Gesinde und Zugvieh draußen auf dem Felde und im Hofe Seelenstille. Der rüstige Amtmann gönnte sich, nachdem er zehn Stunden auf den Beinen gewesen, eine späte Mittagsruhe. Schwerlich daß ihn ein Bombenschlag erweckt hätte; aber nur eine Milchkuh [168] brummte dann und wann im Stall, und der Kettenhund bellte kurz auf, wenn die Augustfliegen ihm gar zu schamlos die Nase kitzelten.

Dezimus konnte hinter Bauten und Bäumen den Tiefgang der Sonne nicht beobachten; er wußte daher nicht, wie lange er auf der Bank gewartet hatte; vielleicht ist es keine Viertelstunde gewesen, wenn es aber auch Stunden gewesen wären, die Zeit würde ihm nicht lang geworden sein. Die Tafelgenüsse und die Hundstagshitze hatten ihn halb betäubt. Er drückte seine Augen zu; es war ihm wie mitten in der Nacht. Er stand auf einer hohen Warte an des weißen Fräuleins Seite und schaute die Berge im Mond und Millionen von Sternen hellglänzend wie das liebe Siebenschwesternbild. Die Himmelslichter verschwammen in eins mit den Menschen, welche er im Herzen trug, und ganz von selbst fand auch das weiße Fräulein den gebührenden Platz in der Höh. »Lydia« nannte er den schönen stilleuchtenden Stern, den er in dieser Sommerzeit jeden Abend zuerst der Sonne folgen sah, ohne zu ahnen, daß es der nämliche treue Begleiter sei, den er im Winter morgens als seinen Röschenstern ihr hatte vorangehen sehen.

Jach fuhr er wie aus einem Traume empor. Die Haustür war hastig aufgerissen worden und der General auf die Rampe getreten, Hut und Stock in der Hand und das Gesicht noch eine Schattierung höher gerötet, als da er vorhin sagte: »So, nun bin ich in der Stimmung!«

Ihm auf dem Fuße folgte der Amtmann. Wirklich der Amtmann? Der arme Dezem erschrak wie vor einem Gespenst. Erdenfahl das braune Gesicht, die Knie schlotternd unter den schäbigen Lederhosen, die geballten Fäuste in die Höhe gereckt. Er rang nach Atem zu einem Wort und [169] brachte es nicht über die Lippen, die ein weißer Schaum bedeckte.

»Komm, mein Junge!« rief der General, indem er flink wie ein Jüngling die Rampe hinabsprang und sich den Schweiß von der Stirn trocknete.

Des Stillwütigen Augen fielen bei diesem Rufe auf den Paten, der starr an seiner Seite stand, – ach! und seine Augen nicht allein!

Was schießen doch für Funken durch ein Menschenhirn, wenn die Leidenschaft ihren Siedepunkt erreicht! Lichtblitze und Irrwische! Heldenopfer fallen, oder Sündenböcke, der nämliche Zünder hat einen wie den anderen zu Boden gestreckt.

Friedfertiges Hirtenlamm, armer Sündenbock!

Die Fäuste stürzen nieder auf dein sternenträumendes Haupt; deine roten Backen schwellen, und die blauen Augen laufen über wie Wasserbäche, – um dein junges Leben, ach, da ist es geschehen! –

Nein, Dezimus, nein: der Todesstreich, auf den du gefaßt bist, er wird von dir abgewehrt, und tapfer gerächt, wie es einem Königspaten gebührt, wirst du auch. Aber das Leben ist dir nicht mehr eine Lust und die Rache kein Schmerzensgeld. Vor Scham und Tränen gewahrst du es nicht einmal, wie glorreich deine Unschuld triumphiert. Ja, solch ein Stock, solch ein alter preußischer Heldenstock, wie Vater Blücher ihn wahrlich nicht für die Langeweile an seinem Sattelknopfe getragen hat! rechts und links fuchtelt er deinem Missetäter um die Ohren, Hieb um Hieb bläut er ihm den Rücken, bis er zusammenbrechend am Boden ächzt. Zu guter Letzt noch einen Fußtritt, und: »Komm, mein Junge!« ruft der alte Herr zum zweiten Male und lacht dabei, daß ihm wie dir, armer Schelm, die [170] Tränen über die Backen laufen. Mit solchem Bravourstück den Mehlstaub von seinen Sohlen schütteln zu dürfen, hätte der Tapfere vor zehn Minuten noch nicht sich träumen lassen.

Sobald er den Rücken gewendet hat, streckt der weiseste aller Räte sein Haupt zwischen dem Rahmen der Haustür hervor. Auch dieser Ehrenmann lacht, aber nur in den Bart. »O weh! Herr Amtmann,« schreit er, »Sie sind die Treppe heruntergestolpert. Ja, diese verflixten Holzpantoffeln!« Und er hilft seinem Gerichtsherrn auf die Beine, während die Exzellenz lachend durch das Hoftor schreitet und der Königspate bitterlich weinend hinter ihm drein schleicht.

Sehr möglich, daß es im deutschen Vaterlande jener Zeit noch keinen Hutmannssohn gegeben, mindestens keinen zehnten, der wie gegenwärtiger in seinem zweiten Stufenjahre noch nie einen Hieb empfangen hatte und, wie hinzugesetzt werden darf, auch nicht herausgefordert. Selber Kantor Beyfuß, der handfeste Bakelmeister, senkte vor dem Quatermillionenschüler sänftiglich sein Instrument. »Leibesstrafen schänden«, war eine von Konstantin Blümels pädagogischen Maximen, und seinem Pastorvater keine Schande zu machen das oberste Gebot, das auf der Tafel dieses Kinderherzens von unsichtbarer Hand geschrieben stand. Und nun war er geschändet, und die Schmach brannte ihn wie eine glühende Kohle. Die Mutter würde ihn freilich liebhaben wie bisher und der Vater ihm vorhalten, daß auch sein Heiland einen Backenstreich erduldet habe: so weit tröstete ihn sein schuldloses Gewissen während des mählichen Dorfweges, welchen er die Exzellenz anstatt der steilen Weinbergsstufen zurückführte. Wie aber würde sein Röschen ihn auslachen und necken! [171] und wie sollte er dem weißen Fräulein, das er vor wenig Minuten als schönsten Stern an den Himmel versetzt hatte, mit der verräterisch flammenden Backe und den verschwollenen Lidern unter die Augen treten? Er sprach auf dem Wege nicht ein Wort, und da er kein Feigenblatt, sein Brandmal zu verhüllen, entdecken konnte, gelangte er zu dem Ausweg, sich heimlich um den Pfarrgarten herumzuschleichen und hinter dem Hünengrabe zu verstecken, bis das weiße Fräulein auf Nimmerwiedersehen über alle Berge sei.

Aber die junge Gesellschaft, welche sein Kommen von der Laube aus wahrgenommen hatte, vertrat ihm den Weg, umringte ihn und zog ihn in ihr munteres Spiel. Die rote Backenschwulst mochte wohl auf den Sonnenbrand geschoben werden, wenn sie nicht gar samt der Tränenspur auf dem Wege verschwunden war, denn weder Röschen noch das weiße Fräulein merkte das Brandmal ihm an. Auch weder Vater noch Mutter schien um die Schändung zu wissen, heute nicht und späterhin auch nicht; den schlimmen Paten sah er in Jahren nicht wieder; und so wurde die schmähliche Erfahrung zwar noch lange Zeit im Gemüte gehegt, dem Skelette gleich, das einem fremden Sprichworte gemäß auch das reinlichste Menschenhaus in einem Winkel bergen soll; allmählich aber zerrann das Skelett in Nebelduft zu einem Schemen. In dem Alter aber, wo schon mancher Mann die verdiente Birkenrute gesegnet hat, da schätzte das glückliche Johanniskind den unverdienten Denkzettel seines Vizepaten als einen Treffer in der Lebenslotterie.

Daß der rächende Held nicht ängstlich wie die gekränkte Unschuld mit den Ritterstreichen, die auf Amtmann Mehlborns Edelhofe gefallen waren, hinter dem [172] Berge hielt, wird von keinem Menschenkenner bezweifelt werden.

»Mir galt die Faust,« rief der alte Herr, nachdem er den Pfarrfreunden den vergnüglichen Abschluß eines verdrießlichen Handels mit satten Farben geschildert hatte. »Ich sage Ihnen, der alte Knabe glich einem wütigen Trakehner Bullen. Mit den Hörnern hätte er den herzallerliebsten Herrn Bruder aufspießen, in Grund und Boden hätte er ihn stampfen mögen. Da dieser Scherz aber nicht so ohne weiteres ausführbar war, kühlte er sein Mütchen an dem ersten Besten, der ihm im Wege stand; wie ich selber im Ärger schon manchmal einen Spiegel oder dergleichen zerschlagen habe, wenn mein Bursche für einen Jagdhieb nicht gleich bei der Hand war.«

»Sie irren, Exzellenz,« entgegnete Frau Hanna in geteilter Stimmung von Zorn, Belustigung, Mitleid und Schadenfreude, »nicht Sie, uns, Konstantin und mich meinte das Ungetüm, als er unseren Pflegesohn mißhandelte. Pudelnaß von dem Sturzbad, das die Spekulation seines ganzen Lebens verschwemmte, durchschießt ihn beim Anblick des armen Jungen der Argwohn eines von langer Hand zwischen Ihnen und uns abgekarteten Spiels, und wird er nunmehr seine wohlverdiente Züchtigung meinem braven Dezem lebenslang entgelten lassen.«

»So wollen wir uns denn beiderseitig unserem Prügelknaben verpflichtet fühlen,« versetzte heiter die Exzellenz, »und uns zu einer Schadloshaltung zusammentun. Schon dem Herrn Paten zur Ranküne müssen wir ihn jetzt höher avancieren lassen als zu dem Verwalterposten, um den mein spanisches Rohr ihn gebracht hat. Und es steckt etwas in diesem Hirtenjungen. Ich rühme mich nicht, ein Psycholog zu sein, aber es steckt ein Element in ihm, das sich entwickeln [173] läßt. Was für eins, ist mir freilich dunkel. Soldatenblut ist es leider nicht. Mein Hilmar in dem Alter würde die Hand, die sich an ihm vergriff, gebissen haben, wie eine wilde Katze würde er dem Stier in das Genick gesprungen sein, ihm die Augen ausgekratzt haben, und Hilmars Sohn täte es, trotz des Bauernblutes in seinen Adern, wills Gott! auch. Ihr Dezem stand still wie ein Ölgötze. Wie wärs, wenn wir ihn Theologie studieren ließen? Was meinen Sie, Herr Pfarrer, zu einem Substituten in alten Tagen, wenn der Mensch sich nach Ruhe sehnt, nehmen wir einmal an in zwanzig Jahren?«

Mutter Hannas Augen leuchteten auf, da plötzlich ihr heimlichster, kühnster Herzenswunsch als etwas leicht Erfüllbares vorgebracht, ja gleichsam als etwas Gebührendes gefordert wurde. Um so bedenklicher überrascht schaute ihr Konstantin drein. Er saß eine lange Weile schweigend und schüttelte den Kopf.

»Der Knabe hat bisher, eine unwesentliche Rechenfertigkeit ausgenommen, weder eine entscheidende Gabe noch ein entscheidendes Verlangen nach wissenschaftlicher Ausbildung offenbart,« wendete er endlich ein; worauf der General erwiderte:

»Zum Henker auch! Gehört denn zu einem Landpastor so etwas ganz Besonderes? Nichts für ungut, Freund; aber wie viele dumme Jungen haben einer Gemeinde schon die Köpfe weidlich heiß gemacht! Und ein dummer Junge ist Ihr Dezem keineswegs. Er hat seinen gesunden Bauernkrips. Wissen Sie, wie unser geistlicher Minister Seiner Majestät einmal den Einfluß der katholischen Landpfarrer auf ihre Gemeinden erklärt hat? ›Nicht weil sie ledige Männer, sondern weil sie der Mehrzahl nach Bauernsöhne sind, wirken sie mehr als die unseren,‹ sagte er.«

[174] Pastor Blümel pflichtete der Erklärung bei. Der städtische Bürgerstand, aus welchem das Amt der Evangelischen sich vorzugsweise rekrutiere, weiche, und wäre es selbst der niedere, in Sitte und Anschauung von denen des platten Landes vielfach ab. »Die universellere Bildung, die wir vor unseren katholischen Amtsbrüdern vielleicht voraus haben,« setzte er mit einem Seufzer hinzu, »bewirkt leider allzu häufig mehr eine Kluft als eine Brücke.«

»Nun da hätten wir ja just, was wir brauchen,« rief der General. »Was Sie mit Ihrer importierten Bildung vermutlich nicht fertig bringen, der heimische Hirtenjunge wird es. Und nun malen Sie sich einmal recht lebhaft den Heidenspaß aus, wenn das ärmste, niedrigste Werbener Kind, Ihr mißhandelter Dezem, diesem Protzen von Mehlborn – denn erleben kann er es noch, Geizhälse werden immer steinalt – in feierlichem Ornate, hoch von der Kanzel herab, vor versammelter Gemeinde die Leviten so recht aus dem Grundtexte liest! Einen Versuch zum wenigsten wäre die gute Sache doch wert.«

»Und wenn der Versuch mißglückte, Exzellenz? Wenn wir des Knaben Blick in eine geistige Sphäre gerichtet hätten, und ihm fehlte die Kraft, in derselben festen Fuß zu fassen? Man soll eines Kindes Wiege nicht verrücken, hat Ihr Herr Bruder, der Propst, gesagt.«

»Meinst du denn, Konstantin,« fiel seine Gattin ihm in das Wort, mit eindringlicherem Ernst, als er sie jemals hatte reden hören, »meinst du denn, daß du dieses Kindes Wiege nicht schon verrückt hast in der Stunde, wo du es in die deines eigenen Kindes legtest? Meinst du, weil du den Knaben einen Bauernkittel tragen und eitel Brot zum Frühstück essen läßt, daß er unter den Knechten und Mägden eines Bauernhofes die Sitte und die Liebe deines Hauses [175] jemals verschmerzen würde? Du hast zu viel getan, Mann, oder nicht genug.«

Ein tiefer Seufzer entrang sich statt der Gegenrede Konstantin Blümels Brust. »Und wenn dem so wäre, Hanna,« sagte er nach einer Pause, »so gehören zu allem geistlichen Werden zeitliche Mittel. Ich danke Ihrer Güte, Exzellenz, diese auskömmliche Pfründe. Aber ich bin ein Fünfziger, habe eine zahlreiche eigene Familie und kein Vermögen. Darum – –«

»Darum muß und wird es meine Sorge sein, Freund,« fiel Herr von Hartenstein ein, »die Stellvertretung bei einem Königspaten, die von Gottes und Rechts wegen mir, als Gutsherrn, von Haus aus zugekommen wäre, fortan zu übernehmen. Habe ich nicht das Geschick gehabt, ein ritterschaftliches Patronat in meiner Soldatenfaust festzuhalten, so viel, um einen armen Hirtenbuben zu einem Kandidaten der Gottesgelahrtheit auszubilden, wird einem preußischen General allemal übrigbleiben. – Komm einmal herauf, mein Junge!« rief er, das Fenster öffnend, unter welchem die Kinder sich im Garten tummelten, und als Dezimus eintrat, fragte er: »Was möchtest du einmal werden, Bursche?«

»Nur nicht Inspektor bei meinem Amtmannspaten!« stieß Dezimus hervor mit zitternder Stimme und einer Blutwoge bis unter das strohgelbe Haar.

»Gut. Was aber sonst?«

»Was mein Vater will.«

»Möchtest du was Tüchtiges lernen, und wenn du groß wirst, studieren?«

»Ja, ja, studieren!« rief Dezimus wie elektrisiert. »Auf den Himmel studieren, gnädiger Herr.«

»Auf den Himmel? Bravo! Du bist unser Mann. Nun [176] lauf, Student, bestelle mir in der Schenke den Wagen und sage meiner Nichte, daß sie sich bereithält.«

Sobald der Knabe das Zimmer verlassen hatte, sagte Pastor Blümel, der während des kurzen Zwiegesprächs mit gefalteten Händen am Fenster gestanden hatte: »Der Mensch irrt nur allzu häufig, wenn er handelt, auch wenn er am besten zu handeln meint. Daher will ich Ihrer Anregung, Exzellenz, als einer Mahnstimme von oben folgen und meinen Pflegesohn der Probe einer wissenschaftlichen Ausbildung unterziehen, so wie ich meinen leiblichen Sohn derselben unterzogen haben würde. Ich bin viele Jahre Informator gewesen und traue mir die Fertigkeit noch zu, einen Knaben für die höheren Schulklassen vorzubereiten. Solange ich lebe, bleibt indes die Sorge für das Kind, dessen Wiege ich verrückt habe, und bleibt seine Führung mein, mein allein, Exzellenz. Schließe ich die Augen, bevor es sein Ziel erreicht – –«

»Sorgt und führt es Gott,« rief die Mutter, indem sie sich mit überströmenden Augen an ihres Gatten Brust warf.

Auch der preußische Herr drückte bewegt seine Hand. »Mann,« sagte er, »Sie sind in Wahrheit unseres Heilands Jünger! Wollte Gott, daß wir uns nicht zum letzten Male gesehen hätten!«

Rasch verließ er das Zimmer und das Haus, vor welchem der Wagen eben vorfuhr.

An der Tür wartete Lydia reisefertig. Sie hatte vorhin bei Dezems eiligem Entbot ihr Gürteltäschchen abgenestelt und es Röschen gereicht, die es den ganzen Tag lüstern bewundert hatte und nun über den Besitz laut aufjubelte. Für den armen Hirtendezem hatte sie ein Geldstück aus ihrer Börse gelangt. Als der arme Hirtendezem aber jetzt atemlos, mit strahlenden Augen aus der Schenke zurückkam und [177] rief: »Ich soll studieren, Röschen! Ich soll auf den Himmel studieren, Fräulein Lydia!« – da steckte sie den Taler leise wieder ein, und ein Hauch der Scham überflog ihre blütenweißen Wangen.

»Ich schicke dir aus der Universitätsstadt eine Himmelskarte, Dezimus,« sagte sie zum Abschied, neigte sich darauf tief vor dem Prediger und seiner Gattin und küßte beider Hände, wie sie Vater und Mutter die Hände zu küssen gewohnt war; dann stieg sie zu dem Oheim in den Wagen.

»Tu deine Schuldigkeit, Königspate!« rief der alte Herr von oben herab, warf Röschen noch eine Kußhand zu, und das Gefährt bog um die Friedhofsmauer.

Dezimus ahnete nicht, was eine Himmelskarte sei, nicht einmal, was eine Erdenkarte, aber er schlief am Abend statt unter den Schauern erlittener Demütigung unter denen einer großen Erwartung ein.

Am anderen Morgen ging er, wie alle Tage, in Kantor Beyfußens Dorfschule; zuvor aber hatte sein Pastorvater die erste lateinische Lektion mit ihm abgehalten, und in der Vesperstunde hielt er eine zweite und also fortan einen Tag wie alle, außer am Sonntag, dem Tage des Herrn. Er lernte stetig, wie der alte Informator es nannte, und weil er dem alten Informator zur Ehre zu lernen hatte, lernte er auch freudig, wennschon er andere Gegenstände, die er nur dunkel ahnete, lieber gelernt hätte als Wortbeugungen und Vokabeln einer fremden Sprache. Konstantin Blümel aber schmeckte seit jener ersten Lektion den Johannissegen, welchen seine Hanna schon von dem Augenblicke an empfunden, wo sie das mutterlose Kind an ihre Brust genommen hatte. War er bis dahin Dezems christlicher Wohltäter gewesen, so machten die alten Heiden ihn zu Dezems Vater.

Im Laufe der Woche traf aus der Universitätsstadt nebst [178] einem großen Himmelsatlas ein fix und fertiger Schüleranzug ein, und der Hirtensohn wurde zum Kandidaten der Zukunft eingekleidet. Jeden Abend fortan aber, sobald er das Pensum, das ihn für ein unsichtbares Himmelreich vorbereiten sollte, zustande gebracht hatte, studierte er auf das sichtbare Himmelreich, das auf den Karten abgebildet stand, und zwar studierte er in Gesellschaft Schwester Erikas – häuslich Riekchens – und unter Anleitung eines wahlverwandten Liebhabers.

Dieser Liebhaber war der Überbringer des Doppelgeschenkes, ein junger Architekt, welcher neben dem Umbau eines alten städtischen Klosters in ein neues Gymnasium die Instandsetzung des Werbener Schlosses übernommen hatte. Konferenzen mit der Hausfrau führten ihn häufig unter deren gastliches Dach, und wen dürfte es wundernehmen, daß er über Schwester Riekchens freundlichen Augensternen die Erklärung der himmlischen Sternenaugen, der er sich gefällig unterzogen hatte, oft und immer öfter vergaß und über dem fremden Hausbau zum eigenen Hausbau Lust bekam. Der Taufsegen erneuerte sich. Bevor das Schloß wohnlich hergestellt war, gab es in der Pfarre wieder einmal eine Braut, Held Dezem, dem Glückskinde, aber war es beschieden, früher als die Grenzen von Reuß älterer und jüngerer Linie die der Milchstraße und der Venusbahn unterscheiden zu lernen.

Alle Welt studierte den Winter hindurch in der Werbener Pfarre; sogar die alte gräfliche Gouvernante wurde von dem Fieber angesteckt, kramte ihren Meidinger hervor und gab Kleinröschen jeden Abend eine französische Stunde. Weil Kleinröschen aber absolut nichts lernen wollte, was Bruder Dezem nicht mitlernte, wurde der Dezem auch Mutter Hannas Schüler, und die Mutter nannte – es ist [179] bewundernswert, was solch ein achtjähriger Held alles fertig bringt! –, aber wahrlich, die Mutter nannte die Fortschritte ihres Dezem im Vergleich zu denen des Quirlequitsch hundert Prozent! »Die lateinische Grammatik arbeitet der französischen vor, Hanna,« entschuldigte Pastor Blümel seinen Liebling, indem er ihm die schwarzen Löckchen streichelte. Es war ein gesegneter Winter.

Daß der Amtmann unwiderruflich zum Feind geworden sei, bezweifelte man zwar nicht, da man ihn jedoch niemals zu Gesicht bekam, so spürte man es auch nicht. Nur daß er seitdem auch in seiner Kirche fehlte, machte dem alten Seelsorger ernstliches Herzeleid. Beim nächsten Gerichtstag erzählte der Justizrat, wie sauer es seinem Herrn Patron ankomme, den ritterlichen Exbruder nicht wegen grober Mißhandlung verklagen zu können. »Aber wo sind die Zeugen?« fragte lachend der Judex. »Der achtjährige Dezem zählt für Null, und ich, – ich habe nichts gesehen, als daß der Herr Amtmann auf der Nase lagen und etwelche Schwielen hatten, die vom Fall auf das kröpelige Hofpflaster gekommen sein können. Im übrigen, was hätte eine Buße der alten Exzellenz geschadet? Auf ein paar hundert Taler kommt es keinem Hartenstein an. Und was hätte sie dem alten Mehlborn genutzt, da ja nicht er, sondern Majestät Fiskus die paar hundert Taler in die Tasche gesteckt haben würde.«

So mußte der arme Amtmann denn auch diesen Grimm hinunterwürgen, und daß er noch im nämlichen Herbst das nachbarliche Bielitz an sich brachte, das war wohl eine gelungene Spekulation, aber ein Trost für die mißlungene war es nicht. Der Auenboden von Bielitz trug kräftiger als der Höhenboden von Werben, aber war es Heimatsboden? Es fiel ihm denn auch gar nicht ein, auf das bedeutendere [180] Gut zu übersiedeln. Nur zu der dortigen Kirche hielt er sich, wenngleich er jeden Sonntag die verdrießliche Bemerkung machte, daß es sich über seiner Gruft doch weit andächtiger als über der der bankerotten Grafen habe beten lassen.

Eine Genugtuung sollte er in diesen bösen Tagen indessen doch erleben; denn die Erdenluft wurde für ihn rein von dem Atem der beiden Menschen, die er auf der Welt am bittersten gehaßt, ja, der beiden einzigen, gegen welche er den Haß, wie vormals die Verehrung, sich nicht bloß in den Kopf gesetzt hatte. Der alte General starb eines raschen Todes, wenige Wochen, nachdem er seinem Bruder eine geziemende Heimstätte vorbereitet und von seinen Enkeln einen friedlichen Abschied genommen hatte; wenige Wochen, nachdem er sich a priori an dem ruhmvollen Nachrufe eines ehemaligen Waffenbruders erbaut. Die drei Salven hatten also doch vorgespukt!

Für die neuen Freunde in dem Werbener Pfarrhause war dieses plötzliche Ende die einzige Trübung des so heiter zur Rüste gehenden Jahres; bald genug aber dankten sie für dieses Ende als für eine Gnade von Gott; denn es ersparte dem greisen Vater die Kunde, daß – wie er weheleidig es als Sühne auch für die eigene Torheit vorausgeschaut – ein Tscherkessenblei seinen armen Jungen getroffen habe. Brigitte Mehlborn war somit, wie dem Herzen und dem Gesetze nach schon längst, auch der reinen Vernunft nach die Witwe Hilmars von Hartenstein. Daß sie als solche dem Vater Mehlborn wieder näher gerückt sei, kann in dieser Chronik von Werben leider nicht verzeichnet werden. Hat die Erbitterung sich nur einmal in einem harten Kopfe festgesetzt, erlischt sie nicht mit ihrem Gegenstand; sie überträgt sich. Und auf wen hätte der[181] Patriarch Mehlborn die seine wohl natürlicher übertragen sollen als auf die unnatürliche Tochter, die sich steifte, die Witwe Hilmars von Hartenstein zu heißen und als solche zu leben?

Gegen den Frühling hin war das Schloß in wohnlichen Zustand gebracht, und auf mächtigen Wagen langte der Hausrat der künftigen Bewohner an, dessen Ordnung Frau Hanna Blümel leitete. Etliche Tage später folgte die Familie nebst einem Hauslehrer und zahlreicher Dienerschaft. Die Gärten standen noch kahl, aber an Gewinden von Tannenreis und Efeublättern hatten Röschens kunstfertige Hände es nirgends fehlen lassen. Sie lauschte mit ihrem Dezem hinter einer Hofmauer verborgen, während der Vater die Ankömmlinge auf der Schloßrampe empfing und mit einer Anrede begrüßte, so warm, wie er eine zuständige Gutsherrschaft begrüßt haben würde.

Alle trugen, zufolge der beiden Familiensterbefälle, denen sich noch der des jüngstgeborenen Töchterchens gesellt hatte, tiefe Trauerkleider. Alle schienen durch Abschluß und Eintritt tief bewegt. Am tiefsten der Propst. Er war tödlich bleich und in den neun Jahren, daß Pastor Blümel ihn nicht gesehen hatte, zum Greise ergraut. Lydia wendete ihre großen, ernsten Augen kaum von seinem Gesicht. Die Mutter schwamm in Tränen. Die Kinder – außer Lydia zwei Söhne und zwei Töchter – ließen die Köpfe hängen. Herr von Hartenstein reichte dem Pastor stumm die Hand und schritt, eine Foliobibel im Arm, in das Haus voran; seine Gattin, Kinder und Dienerschaft folgten in geordnetem Zuge. Die Blümelsche Familie wendete sich heimwärts. Bevor sie den Hof verlassen hatte, ertönte von oben herab der Chorgesang: »Ein feste Burg ist unser Gott«, begleitet von einer kleinen Orgel, welche Kantor [182] Beyfuß in dem Werbenschen Ahnensaale, dem einzigen unverändert gebliebenen Raume im Schloß, aufgestellt hatte. Die Spielerin war Lydia.

Zu einem traulichen Verkehr zwischen den beiden geistlichen Familien, wie ihn die Blümelsche wohl gewünscht, aber kaum erwartet hatte, kam es nicht. Herr und Frau von Hartenstein machten nach Verlauf einer Woche im Pfarrhause einen Besuch, der in geziemender Frist von dem Pastor und seiner Gattin erwidert und von beiden Seiten ein und das andere Mal im Jahre wiederholt wurde. Damit hatte es sein Bewenden. Nach jedem dieser Besuche aber belebte sich im Pfarrkreise das Interesse an diesen edlen Menschen, die in einer dem eigenen Leben so fremden Beschränkung ihr Gnügen fanden, und war es zumal Frau Ottilie, welche in ihrer mädchenhaften zarten Schöne ein herzrührendes Bild hinterließ. Bei mehr als dreißig Jahren war der Ausdruck ihrer Züge und Augen kindlich heiterer als der ihrer zwölfjährigen Tochter; und welche ein Kontrast mit dem ernsten, greisenhaften Gatten!

»Behüte Gott dieses Weib,« sagte Frau Hanna, »daß es nicht eines Tages eine schwere Mutterlast auf seinen Schultern zu tragen habe!«

Lydia war regelmäßig Zeugin jener förmlichen Besuche und unverändert das stille weiße Fräulein wie bei der ersten Begegnung auf dem Hünengrabe. Keine Spur jemals wieder von dem Anemonenhauch beim fröhlichen Exzellenzenmahl. Wie ihre Mutter für die Pfarrfrau, so ward für deren Gatten die Tochter je mehr und mehr zu einem Gegenstande sinnend sorglichen Anteils. Er pflanzte sie in seinen Kindergarten und nannte sie seine Lilie.

»Behüte Gott diese Blume mit dem reinen Trieb zur Höh vor Lohe und Wurm, daß sie nicht schon im Morgenlicht [183] den Kelch des Herzens zusammenziehe!« sagte Konstantin Blümel.

Die Hartensteinsche Familie besuchte die Dorfkirche niemals. Der Vater hielt häusliche Erbauungen und gab den Kindern auch selbst den Unterricht in der Religion. In weltlichen Fächern lehrte sie, als Lebensgenosse, ein von der Regierung suspendierter Dozent der heimischen Provinz, Magister Klein. Da die Standesgenossen weit und breit nicht zugleich Gesinnungsgenossen waren, wurde auch nach außenhin kein Umgang gepflegt. Es gab in der Gegend zwar einige Adelsfamilien von innerlich religiöser Richtung, Stille im Lande, wie sie seit Herrmann Frankes Zeiten genannt wurden; ohne Ausnahme jedoch hatten sie sich dem Unionsedikt unterworfen, und das war eine Kluft, über welche für den Doktor von Hartenstein keine Brücke führte.

So beschränkte sich denn der gelegentliche Verkehr auf etliche Treugebliebene aus dem Gelehrtenstande der benachbarten Universität, die ein dem Hartensteinschen verwandtes, einflußloses Separatistenleben führten. Der dem Propst am nächsten Stehende, aus dessen Händen er für seine Person auch das Abendmahl nach der alten Spendeformel empfing, war der in neuerer Zeit häufig genannte Professor Hildebrand. Während seiner Lehrtätigkeit ohne wesentlichen akademischen Einfluß, hatte bei seiner Suspension die Studentenschaft einmütig durch einen solennen Fackelzug gegen den Gewaltakt demonstriert und den unbeugsamen, still gelehrten Herrn für einen Tag oder zwei zu einem Glaubenshelden erhoben. Seitdem gehörte auch er zu der kleinen Schar der Auserwählten, welche von einem gewissen Wendepunkte erwartete, daß die Dornenkrone sich in eine Siegerkrone verwandeln werde.

[184] So verband sich einem innersten Gesetz eine Art von äußerer Notwendigkeit, um das häuslich klösterliche Wesen, in welches die Familie wie die Perle in der Muschel sich abschloß, vollständig zu machen; vielleicht auch die Absicht, es augenfällig zu machen. Es kennzeichnete das Exil. Die Lebensweise war eine reichliche, aber streng geregelt; die Dienerschaft bejahrt und sinnesverwandt; die Einrichtung etwas kahl und ohne individuelles Gepräge, aber von übereinstimmender Gediegenheit. Das Silberzeug wie das dunkelgebräunte Zimmergerät bekundeten neben Sammlerfleiß und Kunstverstand den früheren kostspieligen Aufwand. Man würde sich in eine Abtei des fünfzehnten Jahrhunderts oder in eine Ritterburg versetzt geglaubt haben, wenn der lichte, glatte, nüchternbehagliche Schloßbau nicht gar zu widerspruchsvoll an eine neuere Zeit erinnert hätte.

Von der Gemeinde wurden die Schloßbewohner nur vom Tale aus bemerkt, sobald sie sich auf den Terrassen bewegten. Selbst Ein- und Ausgang nahmen sie nicht durch den Wirtschaftshof, sondern unterhalb durch den Garten. Diese Ein- und Ausgänge beschränkten sich indessen auf einen fast täglichen Samariterweg die arme Frönerschlucht hinan und allezeit auf den Vater und die älteste Tochter. Was aber auf diesen Wegen erbaulich und hülfreich gespendet und allmählich auch gebessert worden ist, das schätzte und dankte Pastor Blümel als einen persönlich empfangenen Segen. Wie freudig würde er Hand in Hand mit diesem Paar die Schäden in seiner Gemeinde ausgeheilt haben!


Schon vor den Schloßbewohnern war der neue Pächter eingezogen, mit welchem sich indessen, da er nicht eine mildherzige Rosine, sondern eine handfeste Großmagd zu seiner [185] Eheliebsten erkoren hatte, keine Pfarrfreundschaft hegen ließ. Den Wirtschaftsbetrieb änderte er insofern, als er die Hofprodukte in die entferntere nördliche Nachbarstadt absetzte, weil er mit dem Besitzer des Talgutes und des reichen Bielitz, welcher die seinen nach wie vor in die nahe Kreisstadt tragen ließ, nicht Konkurrenz zu halten vermochte. In der Morgenfrühe jedes Mittwoch und Sonnabend fuhr daher ein schwer beladener Pächterkarren nach X., und mehr als einmal saß in Ferienzeiten Dezimus, nicht im neuen Schülerrock, aber im alten Leinenkittel hinter dem Knecht auf einem Butterkübel, um für seinen Vater in der alten Dombibliothek ein seltenes Bücherexemplar zu entlehnen oder bei dem Schloßgärtner ein seltenes Blumenexemplar zu erhandeln, bei Wege auch wohl für die Mutter diese oder jene wirtschaftliche Besorgung abzumachen.

An einem des Predigtstudiums halber lektionsfreien Sonnabend während der Ernteferien des nächsten Jahres machte er wieder einmal diese Marktfahrt mit. Ein werter Amts- und Blumenbruder Vater Blümels hatte von einem ausländischen lieblich duftenden Gewächs berichtet, das der Schloßgärtner heuer in besonderer Üppigkeit zum Blühen gebracht habe. Vater Blümel schmachtete nach dem Duft der unbekannten Gardenia, und sein Dezem freute sich, ihm zu dem Genuß verhelfen zu dürfen.

Doch war es ein Fleischergang; die Spezies bereits ausverkauft. Der Abgesandte wurde an den Gärtner Reichart in der Universitätsstadt, der noch Vorrat habe, verwiesen. In der Universitätsstadt! Den Knaben durchzuckte ein Blitz: das Ziel seiner Sehnsucht seit Jahr und Tag! So oft hatte er die Hälfte des Weges zu diesem Ziele zurückgelegt, ohne daß ihm der Einfall gekommen wäre, auch die [186] zweite Hälfte zurückzulegen. Heute kam ihm der Einfall. »Ich hole meinem Vater die Gardenia auf der Universität!« rief er entschlossen. Würde er sie ihm geholt haben, würde er zwei Meilen in das Blaue hinein gerannt sein, wenn »auf der Universität« nicht die Warte mit den in den Himmel dringenden Rohren gestanden hätte? Weiß schon ein Kind, was ein Vorwand – nun ja! aber auch, was ein Selbstbetrug ist? Gleichviel: ob die Mutter der Weisheit oder Kindesliebe, ein Genius war es, welcher Held Dezem in sein erstes Abenteuer hetzte.

Zunächst in die vorstädtische Ausspännerei, wo dem Knecht die erklärende Bestellung in das Pfarrhaus übertragen wurde; dann spornstreichs voran auf der schnurgeraden, pappelgesäumten Chaussee. Den Weg verfehlen konnte er nicht, und weitere Skrupel sparte er sich. »Erst hole ich die Gardenia, dann gucke ich fix einmal durch das große Rohr und laufe in der Nacht nach Hause zurück.« So sein Programm. Daß das Gucken durch das große Rohr mehr Schwierigkeit machen könne als etwa das Wasserschöpfen an einem Born, daran dachte er nicht. Nach den Sternen gucken kann jeder, so gut wie Wasser schöpfen. Daß er hungrig und müde werden könne, daran dachte er noch viel weniger; so satt war er von Erwartung und so rege von Lust.

Und noch satt und rege erreichte er am Nachmittag das städtische Tor. Er hatte sich eine Universität anders vorgestellt. Nichts als ganz gewöhnliche Häuser, längs ganz gewöhnlicher Gassen in einer ganz gewöhnlichen Stadt, wie er schon ihrer zwei hatte kennen lernen. Die Gassen liefen geradeaus, nach dieser, nach jener Seite, liefen kreuz und quer. Wohin sollte er sich nun wenden? Er fragte eine Heringshökerin – nach der Sternwarte? – o [187] nein! welcher Jüngling wird den Namen seiner ersten Geliebten vor einer Heringshökerin entweihn? Er fragte nach dem Gärtner Reichart.

»Da mußt du erst geradeaus gehen, dann links, dann wieder rechts, und wenn du ans Wasser kommst, mußt du weiter fragen,« belehrte recht anschaulich die Hökerfrau. Und Dezimus lief geradeaus und links und wieder rechts, fragte auch diesen und jenen und schaute sich zwischendurch nach allen Seiten um, ob nicht irgendwo die hohe Warte in den Himmel rage. Aber bis zum Gärtner Reichart sollte es immer noch weit sein, und ein paar Türme sah er wohl über die kleineren Häuser sich erheben, aber einen Bau, so majestätisch, so ganz absonderlich, auf dessen Dache statt der Feueressen goldglänzende Rohre gen Himmel gerichtet waren, solch ein ragendes Wunderwerk erblickte er nirgends.

Endlich gelangte er an den Fluß, und weil nicht alsobald ein Mensch zum Weiterfragen bei der Hand war, schritt er eine Weile auf einem schmalen Pfade zwischen dem schilfbewachsenen Ufer und umzäunten Gärten voran. Über einer von diesen Gartentüren konnte ja leicht das Schild des Gärtners Reichart angebracht sein.

Bei der Wendung um eine vorspringende Gartenmauer stand er jählings wie in den Boden gewurzelt. Sein Atem stockte, die Augen starrten in die Höhe. Auf steilem Felsen, zwischen Bäumen und wirrem Strauchgeschlinge ragte ein Turm, ragten Mauern und Pfeiler, wie er noch keine gesehen. So grau und anscheinend wandelbar hatte er sich allerdings eine Sternwarte nicht gedacht; von blitzenden Rohren keine Spur. Aber wer konnte wissen, was alles noch hinter den Bäumen verborgen stak? Es war auf dem höchsten Punkte der Gegend der am höchsten ragende Bau; eine gewöhnliche Menschenwohnung konnte es nicht sein, [188] auch kein Schloß und keine Kirche, welche beide einem Werbener Eingeborenen ja sattsam bekannt waren. Was also sonst als die Universität mit ihrer Warte? Dem Knaben war, als stände er vor eines alten Königs Thron. Dort oben, dort oben, da lag sein gelobtes Land!

Er hätte hinandringen mögen, hineindringen gleich jetzt. Er mußte bei Tage ja aber erst die Gardenia holen. Nur den Pfad, der auf die Höhe führte, wollte er erspähen, um ihn später in der Dunkelheit ohne Aufenthalt einschlagen zu können. Vorwärts fiel der Felsen steil nach dem Flusse ab; zur Seite hinderte die Gartenmauer den Überblick. Ob er wohl hinanklimmen durfte, um auf ihrer Höhe eine Umschau zu halten, ohne vielleicht wie ein Dieb von ihr heruntergejagt zu werden? Aber halt! dort, nahe dem Ufer, steht ja wie zur Rundschau aufgepflanzt eine alte Buche, breit geästet mit mächtiger Krone. Das Erklettern ein Spiel für den Dezem, der schon manches Jahr das Obst im Pfarrgarten abgenommen hat. Hinan also, hinan bis zum Wipfel! Im Nu ist er oben, und oben, oben, da, – neue Verzückung! da starrt er statt auf die Warte in ein Menschenantlitz, so schön, so wunderschön, wie er noch kein Menschenantlitz gesehen, schöner selbst als das des weißen Fräuleins, denn es blüht wie eine Rose. Ein Knabe, nein, ein junger Herr, wenn auch nicht größer als Dezimus selbst, goldgelockt und geputzt gleich einem Prinzen, sitzt zwischen den Ästen behaglich wie in einer Laube, raucht eine Zigarre und lacht dem Dezem in das verblüffte Gesicht.

»Du, was suchst du hier oben, Junge?« rief der junge Herr. »Vogelnester? Das will ich dir anstreichen!« Er wippte mit einer Reitgerte, die er in der Hand hielt; Sporen an den Stiefeln trug er auch und in das eine Auge ein Brillenglas geklemmt.

[189] »Ich wollte bloß sehen, wie man auf die Sternwarte kommt,« antwortete Dezimus schüchtern, indem er auf den Turm deutete.

Der junge Herr wollte vor Lachen sich ausschütten. »Das alte Gerümpel hältst du für die Sternwarte? Das ist ja die Burgruine, Dummrian!«

Dezimus blickte beschämt zu Boden. »Wo liegt denn die Sternwarte?« fragte er aber doch.

»Die liegt näher der Stadt zu. Von hier aus kann man sie nicht sehen. Was hast denn aber du auf der Sternwarte zu suchen, Bursche?«

»Ich will durch ein Fernrohr die Sterne sehen, die auf meinen Himmelskarten gezeichnet stehen.«

»Du, ein Bauernjunge, eine Himmelskarte? Nein, das ist aber toll? Wo kommst du denn her, Bursche?«

»Von Hochwerben.«

»Von unserem Gut! Na, das nenne ich gelungen! Kennst du die Lydia Hartenstein?«

»Ja.«

»Und den alten Mehlborn?«

Dezimus wurde rot, zögerte einen Augenblick, und dann sagte er leise: »Ja.«

»Ein richtiger Bauernfilz, nicht wahr?«

Keine Antwort.

»Wie heißt du denn, Junge?«

»Dezimus Frey.«

»Dezimus Frey, der Hutmannszehent, der ein Schwarzrock werden soll! Famose Geschichte, ganz famos! Wie sie die Sidi amüsieren wird! Warum hast du denn aber den verschossenen Kittel an? Wir haben dir doch voriges Jahr einen Rock geschickt, so gut wie meinen eigenen. Na, wie dieser da freilich nicht: das ist mein Reitanzug. – [190] Aber still, still!« flüsterte er plötzlich. »Da unten kommen sie!«

Dezimus lugte durch die Zweige nach denen, die unten kommen sollten; und da bemerkte er denn, um die Gartenmauer biegend, einen langen, von Kopf zu Fuß in Schwarz gekleideten Herrn, der an jedem Arm eine Dame führte. Die eine hager und auffallend runzelig, daher wohl hochbetagt, aber in blühende Farben angetan, sogar das kaum handgroße Gesichtchen rosenrot und die zierlich beschuhten Füßchen vogelleicht schwebend; die andere Dame jung, wohlbeleibt, daher der Gang etwas schleppend, das Gesicht bläßlich, der Anzug schlicht und dunkel. Ein kleines Mädchen schlenderte hinterdrein, einen Busch von blühendem Schilf im Arm.

Sobald die vorderen aus dem Gesicht waren, streckte der junge Herr den Kopf durch das Laub und ließ einen Ruf gleich dem des Wachtelschlags erschallen:

»Pittperitt, pittperitt!«

Das kleine Mädchen kehrte um und blickte in die Höh. »Du, Mäxchen!« rief es lachend; worauf der junge Herr mit gedämpfter Stimme fragte:

»Ist die Luft rein? Vermissen sie dich nicht, wenn du hier ein paar Minuten zurückbleibst?«

»Sie schwatzen von untergegangenen Städten; ich pflücke Schilf. Fiele ich in das Wasser wie dazumal aus dem Bett, wer merkte es?« versetzte die Kleine mit munterem Klang, aber einem wenig kindlichen Spott im Blick.

»So warte! Ich habe einen gottvollen Scherz für dich!« sagte der junge Herr, indem er sich behende durch die Zweige wand und von dem letzten mit einem kecken Satz zu Boden sprang.

Dezimus folgte gelassener. Da er die Frage nach dem [191] Gärtner Reichart noch auf dem Herzen hatte, stellte er sich bescheiden beiseite und wartete, bis die beiden miteinander fertig waren. Dabei musterte er das kleine Mädchen, das ihm, wie auch der junge Herr, bekannt vorkam, als hätte er einmal von ihm geträumt. Es hatte ein hübsches Gesicht und ein Paar mächtige Augen, die noch viel heller blitzten als seines Röschens Augen; die erdbeerroten Lippen lachten so häufig wie seiner Pfarrschwestern Lippen; aber nur wenn sie den jungen Herrn anlachten, hätte Dezimus an seiner Pastormutter Lachen denken können. An das weiße Fräulein konnte er bei dem kleinen Mädchen gar nicht denken. Sein Körperchen dauerte ihn, weil es einen so gar großen Kopf mit einem dicken schwarzen Haarwald zu tragen hatte, und daß die eine Schulter ein Ende über die andere hinausragte, nun, das nahm sich freilich neckisch aus, schadete aber nichts; das kleine Mädchen gefiel ihm doch. Der junge Herr aber gefiel ihm so, daß er kein Auge von ihm verwenden mochte und sogar die großen Rohre über ihn vergaß. Die Art, wie er mit dem kleinen Mädchen umging, rührte des Dezem Herz. Er nannte sie nicht ritterlich; aber sie war ritterlich und dabei zärtlich.

»Da bin ich, Schwesterchen!« rief er, indem er die verschobenen Schultern umfaßte. »Aber sieh mich doch einmal an. Mein neuer Rock hat doch kein Loch weggekriegt? Ist mein Haar in Ordnung, Sidi?«

Dabei bückte er sich, und das kleine Mädchen hob sich auf die Zehenspitzen, stäubte ihm den Rücken ab, strich die üppigen Locken glatt, bei welcher Beschäftigung Dezimus sich wunderte, was für lange Arme und Finger doch das kleine Mädchen habe. Der junge Herr zog ein Spiegelchen aus seiner Tasche, betrachtete sich, sagte: »Bon!« und dann erzählte er:

[192] »Ich sitze drüben bei Vogels und bestelle mir eine halbe Sekt. Da sehe ich sie kommen. Sie glauben mich in der Klasse. Wenn bei Vogels Konzert ist! Duckmäuser! was ich bei euch lernen kann, habe ich mir lange an den Schuhen abgelaufen. Item: sie kommen! Der gnädigen Tante muß ein Extravergnügen bereitet werden. Die wird Augen gemacht haben, vom römischen Korso in Vogels Garten! Enfin, sie kommen, sie sind schon da, und daß ich nach einer Vorlesung über Moralphilosophie nicht lüstern bin, kannst du dir denken. Publica nämlich; denn privatissime halte ich sie allenfalls noch aus bis – nun, du weißt ja schon, bis wann. Ich entschlüpfe also durch die Seitentür und, weil vom Garten aus der Weg nach allen Seiten zu übersehen ist, einstweilen auf den Baum. Daß die Harfenmuhme die Musik da drüben nicht lange aushalten würde, konnte ich mir ja denken.«

»Köstlich, köstlich!« rief das kleine Mädchen in die Hände klatschend.

Während der junge Herr nunmehr seinen Zusammenstoß mit dem Werbener Hirtenjungen lustig vortrug, fiel es diesem endlich – o des Schlaukopfs, endlich! – wie Schuppen von den Augen, daß es die Kinder Frau Brigittens von Hartenstein seien, welchen sein gutes Glück ihn so verwunderlich entgegengeführt. Er hatte sie nach dem Tode der Amtmannsfrau vor fünf Jahren ja gesehen, und wieviel war im Pfarrhause von ihnen die Rede gewesen! Sie freilich hatten den Bauerjungen im blauen Kittel damals nicht beachtet, und es war hübsch von der kleinen Sidi, daß sie ihm heute wie einem alten Bekannten die Hand reichte und sagte: »Auf die Sternwarte möchtest du? Aber wie willst du denn da hineinkommen, armer Schelm? Du denkst es dir wohl so leicht wie in eure Werbener Kirche?«

[193] Der arme Schelm mochte den Kopf wohl recht erbarmungswürdig hängen lassen, denn das kleine Fräulein sann offenbar darüber nach, wie ihm zu helfen sei, und endlich rief sie, in den Augen helle Lust, wie sie sich für ihre Jahre schickte, um die gekräuselten Lippen aber ebenso hellen Hohn, wie er sich für ihre Jahre gar nicht schickte: »Ich habs, ich habs! Das trifft sich gut. Heute abend ist zu Ehren der Großtante aus Rom bei uns Tee. Ästhetischer Tee. Schadet nichts, Hirtendezem, wenn du das nicht verstehst. Der Professor, der die Sternwarte unter sich hat, kommt auch, und der soll dich mitnehmen. Verlaß dich auf mich, ich wills schon machen. Aber nun muß ich ihnen nach. Am Ende vermissen sie mich doch und stellen sich ein mit Stangen und Haken, mich aus dem Wasser zu fischen. Komm nur gleich mit, Dezimus.«

Dezimus berichtete von dem Blumenstock, den er erst noch holen müßte, worauf der Junker von Hartenstein versetzte:

»Das hast du nah, Junge. Reicharts Gretchen ist eine scharmante kleine Katze, darum weißich, wo ihr Vater wohnt. Siehst du dort drüben. Lauf rasch, hole deine Blume, komm dann hier unter den Baum zurück und warte auf mich. Ich kann doch, bei Gott! meinen Sekt nicht im Stiche lassen, und eine frische Havanna muß ich mir auch anstecken. Du, Sidchen, gehst voran und eröffnest die Präliminarien. Das heißt, du erzählst, daß du zufällig dem Pfarrdezem aus Werben begegnet bist und die Geschichte von der Sternwarte und der Gardenia. Gelogen ist dabei ja kein Wort; denn lügen, kleine Unschuld, ich weiß es ja, lügen tust du nicht.«

»Nicht gern, Mäxchen. Aber dir zu Gefallen tu ichs doch. Von dir ist nicht die Rede. Du sitzest in der Klasse. [194] Laß mich nur machen. Meine Geschichte ist schon fertig und äußerst interessant.«

Damit ging sie. Sie schleifte den linken Fuß ein wenig, bewegte sich aber dennoch geschickt und sogar graziös. Ihr Bruder sagte:

»Höre, Junge, daß du kein Wort von unserer Baumpartie verrätst!«

»Wenn sie mich nun aber fragen?« wendete Dezimus kleinlaut ein.

»Wer soll dich denn fragen, Dummhut? Aber nun mach fort!«

Dezimus machte fort und erlangte glücklich eine Gardenia. Sie sollte eigentlich zwei Groschen mehr kosten, als ihm der Vater dafür mitgegeben; da er aber verlegen sein leeres Lederbeutelchen zeigte, ließ Herr Reichart mit sich handeln. Hätte der Käufer eine volle seidene Börse gezeigt und statt des Kittels seinen Kandidatenrock getragen, würde Herr Reichart schwerlich mit sich haben handeln lassen. Einer von den Fällen, wo ein Hirtenjunge weiter als ein Junker reicht. »Ein Prachtexemplar« hatte Herr Reichart die Gardenia genannt. Dezimus fand einen roten Feldmohn, der von einem Erntewagen gefallen war, weit prächtiger und den Duft der Lindenblüten im Pfarrgarten weit erquicklicher als den der fremden Gardenia. Zu einem Blumisten wie sein Pastorvater hatte Held Dezem leider nicht entfernt das Zeug.

Unter der Buche mußte er eine Weile warten, bis der Junker kam. Derselbe mochte seine halbe Sekt allzu hastig hinuntergestürzt haben, und das, was er seine Havanna nannte, ihm auch zur Überlast nach dem Kopfe gestiegen sein, denn seine Augen und Backen glühten, und er schwatzte beiwege in das Blaue hinein allerlei krauses Zeug, von [195] welchem Dezem, der Dummhut, gottlob! nicht den zehnten Teil verstand, unbewußt jedoch spürte, daß er es in der Werbener Pfarre nicht gehört haben würde.

»Weißt du, Junge,« fragte der Junker unter anderem, »wer vorhin das angepinselte Gespenst mit dem Blumenhute war, das sich von der schwarzen Hopfenstange am krummen Arme spazieren führen ließ? Die Harfenmuhme wars aus Rom, die morgen auf ihr Gut nach Werben will und heute ihre Erben, nämlich mich und Sidi, Revue passieren läßt. Und weißt du, wer die Hopfenstange war, der mein kugelrundes Mamachen wie ein Strickbeutel am anderen Arme hing? Zacharias heißt der Mann, den ›gelehrten Zacharias‹ läßt er sich schimpfen, und ein Pfaffe ist er, aber so einer – wenn du den Unterschied verstehst –, der seinen Blödsinn nicht von der Kanzel, sondern vom Katheder zum besten gibt, item ein Herr Professor. Und mein gelehrtes, dickes Mamachen will den gelehrten dürren Zacharias zum Manne nehmen. Aber der Henker soll mich holen, wenn ich so einen Philister von Pastor Vater nenne.«

»Mein zweiter Vater ist auch ein Pastor,« versetzte Dezimus mit Stolz, da er des Junkers Pointe nicht verstanden hatte.

»Aber dein erster Vater war ein Schafhirt und der meine ein Freiherr von Hartenstein. Zwischen einem Pflegevater und einem Stiefvater ist übrigens noch ein Unterschied, mein Junge.«

Beide Erklärungen waren unwiderleglich, daher denn Dezimus auch nichts weiter äußerte als sein Lieblingswort: »Ja.«

»Nun meinetwegen,« fuhr der andere fort. »Ehe es zur Hochzeit kommt, bin ich über alle Berge.«

[196] »Wo wollen Sie denn hin, Herr Max?« fragte Dezimus betrübt, daß er den schönen jungen Herrn vielleicht im Leben nicht wiedersehen sollte.

»In die Welt hinaus, so weit als möglich. Überall besser als hier.«

»Doch nicht zu dem wilden Volke, wo Ihr lieber Vater totgeschossen worden ist?«

»Nach Rußland? nein. Rußland ist eine Despotie, und ich bin Republikaner. Und wenn Papa auch noch lebte und mich zu sich riefe, ein Tyrannenknecht werde ich nie! Ich habe es geschworen,« flüsterte er geheimnisvoll, stimmte aber gleich darauf mit heller Kehle an: »Bricht dir nicht entzwei die Schulter, nicht entzwei die morsche Schulter, Autokrator – krator – krator. – Es hats doch niemand gehört?« fragte er, indem er sich scheu nach allen Seiten umsah. »Es wimmelt von Spionen in diesem vermaledeiten räucherigen Nest, und alle halten sie mich schon für einen Studenten. Die armen Burschen! Denen sitzen sie gehörig auf dem Dache.«

»Sie gehen wohl noch in die Schule, Herr Max?«

»Leider, weil ich muß. Aber kein Mensch muß müssen! Und kurzum: ich will nicht mehr. Was diese Philister mir beibringen können, weiß ich längst oder brauche ich nicht zu wissen. In einem einzigen Buche steht mehr als in ihren hohlen Köpfen allen zusammen, und ich lese manchmal die halbe Nacht hindurch. Gings freilich nach meiner Mama, würde ich ein Federfuchser wie ihr Zacharias. Aber ich bedanke mich, Frau Mutter, ich bedanke mich. Die Hartenstein haben an einem Schriftgelehrten genug.«

»Da wollen Sie wohl Soldat werden wie Ihr seliger Herr Großvater, Exzellenz?«

»Ich habe das Alter noch nicht. Und dann: ja wenn[197] man gleich General wäre, das heißt, wenn wir schon die Republik hätten, wo das jüngste Genie am höchsten steigt. – Kommen wird sie, die Republik!« er fiel wieder in den Flüsterton – »wir haben es geschworen, Dezimus! Es ist ein Geheimbund. Er heißt der ›Werdetag‹. Ich bin Präses. Alle Sonnabend kommen wir in der ›Sonne‹ zusammen; aber ganz verstohlen. Heute auch; für mich wird es spät werden wegen Mamas Teegesellschaft. Wir rauchen, wir spielen Karte, wir sind fidel. Die anderen trinken Bier. Es sind lauter arme Schlucker. Aber ich mag kein Bier; ich trinke Wein. Ich bin auch der einzige Edelmann in dem Korps. Und da haben wir es geschworen: Der Tag der Freiheit, oder die ewige Nacht! Wenn du größer wärst, Dezimus, ich meine, wenn du schon auf der Schule wärest, führte ich dich ein als Gast.«

Ei nun! Held Dezimus dachte es sich gar nicht uneben, wenn er erst groß geworden sein werde, in einem fidelen Werdetag mit fidel zu sein, obschon, als armer Schlucker, nur mit Biergenuß. Vor der Hand beschäftigte ihn indessen vorzugsweise die Frage, was der schöne junge Herr werden wolle, wenn er binnen kurzem das Präsidium des Werdetags in weniger würdige Hände niederlegte? Und diese Frage stellte er denn auch ganz unumwunden, indem er zuversichtlich die Antwort erwartete: ein Sternenforscher! und begierig war zu erfahren, welcher Weg zu diesem einem so herrlichen Junker einzig geziemenden Ziele eingeschlagen werden müsse. Als der herrliche Junker nun aber einfach antwortete: »Gar nichts!« da starrte er ihm verblüfft in das Gesicht; denn einen Menschen, der gar nichts war, hatte der Zögling Konstantin Blümels sich bisher nicht denken können.

»Nichts oder alles! Ein freier Mann!« verdeutlichte Junker Max. »Mein eigener Herr. Wenn der alte Mehlborn [198] tot ist, sind Sidi und ich Millionäre; denn Mama will er enterben. Wir werden aber nie vergessen, daß sie unsere Mutter ist, wenn sie auch Madame Zacharias heißt. Und von der römischen Tante erben wir auch alles; denn die pröpstlichen Hartensteins sind ihr zu fromm. Vor der Hand sorgt Sidi; sie hat viel in ihrer Sparbüchse. Wirds vor der Zeit alle, gehe ich unter die Kunstreiter.«

Dezimus fragte, was Kunstreiter seien, und wurde berichtet: die einzigen freien Menschen in diesem geknechteten Jahrhundert; die Schauspieler ausgenommen, deren Kunst aber lange nicht so nobel sei.

»A propos!« unterbrach sich der junge Herr, »du kommst ja über X. Hast du nicht gehört, ob der Le Voisin in der Kürassierreitbahn noch Vorstellungen gibt? Ich bin schon ein paarmal drüben gewesen; versteht sich heimlich. Heute wollte ich auch wieder hin. Wenn aber Mama Gesellschaft hat, muß ich die Honneurs machen.«

Dezimus wußte, daß le voisin in Frankreich der Nachbar heiße; von einem Le Voisin in X. wußte er nichts; und da sie just vor Frau von Hartensteins Hause standen, konnte der Junker ihm nur noch einschärfen, auch wenn er gefragt werde, nichts von ihrer Begegnung zu verraten. »Mucksmäuschenstill, Junge! hörst du? und so ein Schafsgesicht gemacht wie jetzt!« Damit sprang er, je zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinan, um vor dem ästhetischen Zirkel den Geist des Sekts noch ein Stündchen auszuschlummern. »Wenn sie nach mir fragen, mache ich meine Pensa, du weißt schon, Schwesterchen,« sagte er zu der kleinen Sidi, die ihm auf dem Flur entgegenkam. Sie nickte und nahm dann Dezimus, der auf des Junkers Geheiß ihm langsam nachgefolgt war, bei der Hand, um ihn der Mutter vorzuführen.

[199] Das hätte der abenteuernde Schäfersohn in seinem staubigen Leinenkittel sich aber nicht träumen lassen, daß er in dem vornehmen Hause aufgenommen werden würde wie ein Prinz! Ja, Heimat bleibt Heimat, der reinsten Vernunft zum Trotz. Frau Brigitte fragte nach den Bewohnern von Schloß und Pfarre, von Pächter- und Schulhaus, nach Hinz und Kunz. Sie fragte mit Anteil, wennschon nicht mit Wärme. Nur nach ihrem Vater fragte sie nicht, und das wäre ja auch die einzige Frage gewesen, auf welche Dezimus keinen Bescheid hätte geben können. Endlich fragte sie denn auch, ob ihr kleiner Gast Hunger habe und etwas genießen möchte, auf welche Fragen der kleine Gast ehrlich: »Ja« und höflich: »Wenn ich bitten darf« antwortete, demzufolge in die Küche geführt ward und eine gewärmte Mittagsschüssel vorgesetzt erhielt, die er bis auf den Grund leerte. Die kleine Sidi, die von wenig mehr als der Luft und ein bißchen Zuckerwerk oder Obst lebte, sah mit Wunderaugen, welche Stoffmassen solch ein neunjähriger Hirtenmagen unterzubringen vermöge. Gehört ein guter Magen denn aber nicht zu den Grundbedingungen eines Glücklichen?

»Eure neue Gutsherrin, Fräulein von Werben, wünscht dich zu sehen, Dezimus,« sagte Frau von Hartenstein darauf. »Reinige dich daher und kleide dich um. Meines Sohnes Zeug wird dir passen.«

Die kleine Sidi, welche ihr Mäxchen bei seinem Pensum von keinem Dritten stören lassen wollte, war flink bei der Hand, Wäsche und Kleider herbeizuholen und den Dezem in eine Hinterstube zu führen. »Erst nimm ein Bad,« sagte sie, indem sie einen Schrank öffnete.

In der Werbener Pfarre wurde, sobald es im Flusse zu kalt wurde, regelmäßig Sonnabend nachmittags im Waschhause [200] gebadet. Aber da setzte man sich in eine Wanne. Daß einer stehend in einem Schranke baden sollte, dünkte dem Dezem wider alle Naturordnung. Die kleine Sidi lachte ihn jedoch aus, drehte die Hähne auf, ließ kalten und warmen Regen sprühen und verlangte, daß Dezimus sich in ihrer Gegenwart unter die Traufe stelle. Er wurde feuerrot; die Kleine kicherte wie ein Kobold.

»Dummer Dezem,« sagte sie. »Ich bin ja kein Mädchen! Ich habe ja einen Buckel! Ich bin ein Nix!«

Der dumme Dezem fand jedoch, daß sie trotz des Buckels kein Nix, sondern ein Mädchen sei, und jagte sie aus der Tür. Dann ließ er sich vorschrifsmäßig im Schranke bespritzen, rumpelte sich ab, bürstete den Strohwald auf seinem Kopfe glatt und machte sich fein. Obgleich der Junker fünf Jahr mehr zählte als er, paßten ihm jenes Sachen wie angegossen. Ja, Kleider machen Leute! Wenn er sich in dieser Pracht doch seinem Röschen hätte präsentieren können!

Als er eben im Begriffe war, eine Weste mit türkischem Muster anzulegen, trat die kleine Sidi wieder ein. Sie stieg auf eine Hütsche, um eine Krawatte mit künstlichem Knoten unter seinen Hemdskragen zu schlingen. »So,« sagte sie, »so gefällst du mir. Nun gib mir einen Kuß!«

Dezimus leistete Folge. Gleich darauf ging es zur Vorstellung der neuen Gutsherrin in den Salon. Auf dem Flur begegnete ihnen der Junker in glänzendem Wichs und duftend wie ein Veilchen. »Mein Mäxchen ist aber doch viel schöner als du,« sagte die kleine Sidi, und Dezimus stimmte ihr mit voller Überzeugung bei.

Das, was der Salon hieß, war nicht so geräumig wie die Wohnstube in der Werbener Pfarre, und einen herrschaftlichen Saal hatte Dezimus doch auch schon gesehen, wenn [201] auch nur einen von Ahnen bevölkerten. Dennoch stand er auf der Schwelle dieses Staatsgemachs wie geblendet, denn alles blitzte und blinkte in dem Raume. Ein Kronleuchter brannte in der Mitte und eine Lichterreihe über jeder Tür. Vor dem orangegelben Divan war der Teetisch serviert mit funkelndem Gerät; im Hintergrunde lehnte zwischen einer blühenden Hortensiengruppe eine goldene Harfe, und am entgegengesetzten Ende des Zimmers stand ein Flügel geöffnet. Gäste waren noch nicht gegenwärtig; nur die Hausfrau, der projektierte zweite Vater und die blühende alte Dame, welche er neben seiner Verlobten am krummen Arme spazieren geführt hatte. Im eifrigen Gespräch wurde der Eintritt der Kinder nicht alsobald bemerkt.

»Unerhört!« hatte eben Frau von Hartenstein ausgerufen.

»Lächerlich!« die alte Dame leichthin erwidert.

»Nicht ganz so lächerlich, wie es scheinen mag, meine Gnädige,« der zukünftige Hausherr widersprochen. »Ist es doch die natürliche Konsequenz unserer unseligen Staatsmaximen. Jegliches Märtyrertum lockt wie die Phantasie, so den Unverstand. Denken Sie an die Kreuzzüge der Kinder – –«

»In homöopathischer Verdünnung,« spottete die alte Dame. »Wie der Held, so sein Affe.«

Bei diesen Worten traten die Kinder ein.

»Siehst du die angepinselte Mumie auf dem Sofa? Die ists. Du mußt ihr die Hand küssen,« zischelte Junker Max in Dezems Ohr und schassierte graziös mit galantem Beispiel voran.

Die »Junkermuhme«, mit ihren roten Bäckchen und schwarzen Löckchen unter einem umfangreichen Blumenhut, mit den weißen Zähnen hinter den lachenden Lippen, dem [202] smaragdgrünen Gewande und dem palmendurchwirkten Purpurschal stach dem Dezem gar wohlgefällig in die Augen; aber wie der schöne Junker es riet und tat, seine Lippen auf das schneeweiße Handschuhleder zu drücken, nein, solche Verwegenheit kam dem bescheidenen Hirtensohne nicht in den Sinn. Er machte unter der Tür einen Diener so tief, als sein stämmiges Rückgrat sich niederzwingen ließ, und da just die ersten Geladenen sich einstellten, schob er sich sacht in den Ofenwinkel.

Sidi oder, wie sie im Salon genannt wurde, Sidonie zog ihn aus diesem hervor, um sich mit ihm an einem Seitentischchen zu etablieren. Und so war es diesem zum Glück geborenen Johanniskinde beschieden, schon auf der Schwelle seines zweiten Stufenjahres der Teilnahme an einem ästhetischen Teezirkel gewürdigt zu werden. Eine Ehre, die sich auf seinen späteren Lebensstufen nicht wiederholen sollte, daher denn dem Helden im Salon ein ausgiebiges Kapitel gewidmet werden soll.


Den ersten Geladenen folgten die anderen mit der Pünktlichkeit, welche an diesem außerordentlichen Abend den Drang der Huldigung bedeutete: kunstsinnige Damen ohne ihre weniger kunstsinnigen Ehegatten, gelehrte Herren ohne ihre weniger gelehrten Ehegattinnen; die Creme des akademischen Genius; desgleichen etliche ledige schöngeistige Wesen beiderlei Geschlechts aus dem Laienstande. Männiglich wie weibiglich verbeugte sich mit nicht weniger feierlichem Ernst wie der Hirtensohn von Werben vor der farbenprangenden Muse, welche die Magie der Sixtinischen Kapelle umwitterte. Die Hausfrau bereitete den Tee; schweigend in aschgrauem Kleid, weißer Pelerine und spiegelglattem Haarscheitel ein Bild der ernsten Wissenschaft [203] neben dem der heiteren Kunst und, absichtlich oder nicht, dessen Folie. Sie hatte sich, der geselligen Gewöhnung der Verwandtin ihrer Kinder tunlichst zu genügen, zu dieser läppischen Unterhaltung herbeigelassen, in ihren Zügen aber stand geschrieben: »Einmal und nicht wieder.« Jederzeit von bleicher Gesichtsfarbe, glich dieselbe heute der ihres Gewandes, das heißt nichts weniger als einer bräutlichen; ihre Lippen waren fest geschlossen, die Augen verfolgten den Sohn, und als dieser Miene machte, dem um den Teetisch sich bildenden Zirkel sich einzureihen, verwies sie ihn mit einer eisigen Gebärde in den Kinderwinkel.

Soweit es einer Mutter von so strenger Gedankenzucht gestattet ist, einen Liebling oder gar einen Verzug zu haben, das heißt unwillkürlich und unbewußt, so weit, und leider schon viel zu weit, war es Brigitten von Hartenstein dieser schöne Knabe, der Erstling ihres Jugendglücks. Das Blut schoß ihm daher bei dieser unerlebten Demütigung in das Gesicht; trotzig schritt er nach der Tür; ruhig ging die Mutter ihm nach und führte ihn, ohne ein Wort zu sagen, so wie man ein unartiges Kind in die Ecke stellt, an das Pfeifertischchen.

Junker Max schäumte; eine Weile saß er stockstumm, an der Unterlippe nagend, die Hände wühlend in dem lockigen Haar; die kleine Sidi streichelte ihm die Backen, flüsterte die zärtlichsten Schmeichelnamen in sein Ohr, machte nach dem Teetisch hin eine Faust und lief dann, mit der Inspiration der Liebe, ihr noch uneingeweihtes, goldgepreßtes Stammbuch herbeizuholen, auch Tinte und eine feingeschnittene Krähenfeder, die sie dem Erzürnten mit einem aufmunternden Wink in die Hand zwang. Und die Aufmunterung wirkte; das Selbstbewußtsein besiegte die Kränkung; es erwachte der Stolz, welcher dem Tertianer[204] ziemt, wenn er sich von Gottes und Rechts wegen als Primus in Prima fühlt und das Haupt einer republikanischen Verschwörung ist. War dieses Konvivium hochgradigsten Philistertums und allerverdrehtester alter Schrauben das Opfer der Unterhaltung eines genialen Jünglings wert, eines Jünglings, welcher der Apollo des Gymnasiums hieß und nach welchem die holdesten Mädchen sich schmachtend die Augen aus dem Kopfe sahen? Unsinn! Blödsinn! Abgeschmackt! Wert war das Konvivium allein seines satirischen Kunstgeschicks, und was wahr ist, muß wahr bleiben – das Album der kleinen Sidi ist der Nachwelt erhalten worden –, die flüchtigen Federskizzen, welche am Kindertischchen gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt wurden, sie würden dem ernsthaftesten der ernsthaften Herrn am Teetisch ein Lächeln abgezwungen haben, vorausgesetzt, daß er beim Blättern nicht auf die Illustration seiner eigenen werten Person gestoßen wäre. Vor diesem vierzehnjährigen Karikaturisten lag eine Zukunft.

Der arme Dezem freilich saß zwischen dem satirischen Gezischel und Gekritzel hüben und dem ästhetischen Gesumme und Gebrumme drüben wie ein verirrtes Weidelamm. Zum ersten Male im Leben würde er sich sterblich gelangweilt haben, hätte die Spannung nach dem großen Manne, welcher die Sternwarte regieren sollte, sein Blut nicht in Wallung erhalten. Sooft die Tür sich auftat und ein neuer Herr Doktor oder Herr Professor Fräulein Thusnelden von Werben vorgestellt wurde, fragte Dezimus seine kleine Gönnerin: »Ist es der?« Aber immer war es der noch nicht.

Der Tee hatte gezogen, die Hausfrau eine silberne Schelle ertönen lassen; der letzte Stuhl im Kreise war besetzt, Dezems Hoffnung tief gesunken. Da – da öffnete sich die [205] Tür, und ein bleicher Jüngling trat ein mit einer Miene, welche Dezimus an die seines Kantors Beyfuß erinnerte, wenn er als Leichenbitter feierlich von Haus zu Hause wandelte. Auch der schwarze Leibrock, den er trug, hätte füglich Kantor Beyfußens Kleiderschrank entlehnt sein können; nur die Handschuhe waren nicht ganz schwarz, sondern vermutlich einmal weiß gewesen und von einem Stoff, aus dem man Strümpfe macht.

»Da kommt er!« rief Dezimus neubelebt.

Schallendes Gelächter am Pfeifertisch! Unschuldiges Weidelamm, weißt du denn nicht einmal, was ein Lohnbedienter ist, der bei festlichen Gelegenheiten, an Stelle der Köchin, das Teebrett umherreicht? Ach nein, du weißt es nicht. In deinem Pastorhause wird das Brett von den lieben Schwestern umhergereicht, und du selbst bist schon manches mal mit dem Kuchenkörbchen hinterdrein geschritten. Dein Herz wird immer schwerer, armer Dezem.

Aber jetzt, jetzt! Noch einmal öffnet sich die Tür, und ein Herr tritt ein, ein hoher, stattlicher Herr mit blühenden Wangen, aber, kurios! schon mit schneeweißem Lockenhaar wie die selige Exzellenz; und auch wie eine Exzellenz trägt er eine stolze Uniform, silbergeschnürt von silbergrauer Farbe, Beinkleider, die bloß bis zum Knie reichen, weißseidene Strümpfe und Schnallenschuhe; nur keinen Säbel. »Da ist er!« jubelt Dezimus laut auf; und wiederum schallendes Gelächter; selber am feierlichen Teetisch bricht eine joviale Laune durch, als Fräulein Thusnelda zu dem blühenden Herrn mit den weißen Locken, der ihr das Teegebäck präsentiert, sagt: »Bedanke dich bei meinem kleinen Landsmann, Mattner; er hat dich für einen Gelehrten gehalten.« Dem kleinen Landsmann fiel das Herz vor die Schuhe.

[206] Der Tee ist genommen; der Hausherr der Zukunft erhebt sich, um die gefeierte Virtuosin an ihre Harfe zwischen der Hortensiengruppe zu führen. Sie streift die weißen Handschuhe ab, die hinan bis zu dem radförmigen, kurzen Bauschärmel reichen. Die »schönsten« Frauenarme enthüllen sich. Üppig sind sie nicht, denn Kunstübung zehrt; aber mehlig weiß wie des blühenden Mattner Haupt. Sie stimmt die Saiten, sie präludiert; kein Hauch geht durch den Salon, keine Regung; nur die schwarzen Löckchen zittern unter dem Blumenhut: dann ein Lied sonder Dichterwort noch Sangeslaut, aber zart, rein und glühend der tiefsten Seele entströmend, so wie Thusnelda von Werben, und nur sie, die Adelaide einst gesungen hat, als sie jung und neu, eine Liebesbotschaft aus himmlischen Sphären, die lauschende Welt mit Wonneschauern durchbebte. O du Hirtensohn aus Bethlehem! Das Saitenspiel, das dich zum König weihte, es scheucht heute noch wie vor Jahrtausenden die finsteren Dämonen aus dem Menschenhirn; was aber mehr bedeuten will, es schmelzt die Rinde der Philisterherzen. Dein kleiner, deutscher Hirtenbruder vergißt die geträumten Sternenrohre; die weisen Leviten drücken einander stumm die Hände, und die Priesterinnen des Schönen weinen überirdische Entzückungszähren. Das kleine, verwachsene Mädchen aber stürzt sich jauchzend der alten Künstlerin an die Brust, und ihr schöner Bruder Übermut zerknittert sein gelungenstes Blatt, das die Unterschrift »Harfenmuhme« trägt. Nur die Hausfrau hatte unbewegt gesessen, die Blicke geheftet auf ihren Sohn.

Das Dankopfer entsprach dem Enthusiasmus des Eindrucks. Man hatte etwas Vollendetes gehört und, was mehr bedeuten will, etwas Ungewohntes. Aber die vollendetste Piece füllt einen Teeabend nicht aus, und wer hat [207] den Mut oder die Demut, nach dieser Ersten der Zweite zu sein und nach dem Ungewohnten mit etwas Gewohntem aufzuwarten? Kein Mann; nicht der musikbeflissenste der jungen Doktoren, weder der vielbeliebte Cellospieler noch der allbeliebte Balladensänger; ein Weib mußte sie beschämen. Ein Fräulein mit goldenen Hängelocken ließ sich nach schicklichem Sträuben an den Flügel führen, kramte eine Weile sinnend in dem mitgebrachten Notenvorrat und wählte darauf, sei es nun in erweckter heiliger Erinnerung an den Reigentanz vor der Bundeslade, sei es in der profaneren an die eigene leider entschwundene Reigenzeit, genug, das Fräulein wählte Webers Aufforderung zum Tanz; noch immer das beliebteste Vortragsstück der Zeit und gemeinhin ein recht bewegliches Stück. Weil die Dame aber in jenes Stadium getreten war, das zwischen denen des Vogels und Fisches im weiblichen Erdenwallen die Mitte hält, begann sie und beharrte ohne Abirrung in dem feierlich maßvollen Tempo, in welchem der König der Harfe unzweifelhaft seinen Reigentanz vorgeführt haben wird, oder in welchem heutigentages etwa ein Großvater den Reigen mit der Großmutter eröffnen würde.

Keiner von der Dame musikalischen Freunden hatte ihr bis heute eine Beschleunigung dieses Tempos zugemutet; keiner, selber der rigoristische Cellodoktor nicht, hatte es einer in heilige oder profane Erinnerungen Verlorenen bemerkbarlich übelgenommen, wenn bei schwierigen Touren ihr ein kleiner unharmonischer Fehlgriff entschlüpfte. Heute aber zuckten Finger und Füße, wackelten Löckchen und Blümchen am ästhetischen Teetisch, und am satirischen Pfeifertisch wurden ganz ausverschämte Gesichter geschnitten. Bei Gelegenheit einer kleinen Terz, die korrekter gegriffen eine große gewesen wäre, kreischte die kleine Sidi laut auf: [208] »Au!« und dann wechselte sie mit der römischen Großtante einen Blick und ein Kopfnicken, die eine weit nähere Wahlals Blutsverwandtschaft bekundeten.

»Du spielst ja wohl auch, Kind?« fragte Fräulein Thusnelda zum Pfeifertisch hinüber, nachdem die stimmungsvolle Dame geendet und den Tribut der Höflichkeit geerntet hatte.

»Gewiß!« antwortete Sidi dreist.

»So laß einmal hören, Kleine.«

Die Mutter wollte es wehren, aber die Kleine hatte bereits Posto gefaßt auf dem Kissen, mit welchem Bruder Max hurtig das Taburett vor dem Flügel erhöht hatte, und streckte die Hände, die für ihre Figur zwar unmäßig lang, immer jedoch nur die eines zwölfjährigen Mädchens waren, auf die Tasten.

»Was soll ich spielen?« fragte sie nach der Tante gewendet.

»Was du zu können glaubst, Kleine.«

Die Kleine klappte das Notenheft zu, das vor ihr noch aufgeschlagen lag; ihre Augen funkelten wie Koboldsaugen, und aus dem Kopfe statt aus dem erinnerungsreichen Gemüt schlugen die schlanken Finger das eben verklungene Tonstück von neuem an, aber mit »Posaunen und Jauchzen«, im Tempo der Jugendlust und ohne einen einzigen unharmonischen Ober-oder Untersatz. Die Weisesten der Weisen trippelten mit den Füßen wie auf ihrem ersten Studentenball, und dann klatschten sie bravo mit aller Macht; nur die schönsten der erheiterten schönen Seelen blinzelten ohne ein Fünkchen Schadenfreude zu der gedemütigten Mitschwester hinüber; die kleine Sidi aber warf sich in ihres Mäxchens Arme; sie hatte seine Kränkung gerächt, den Pfeifertisch zu Ehren gebracht. Daß sie mit ihrem Triumph über die zum Tanze herausfordernde Jungfrau sich ein [209] Künstlerherz verbunden und eine weittragende Aussicht für ihr verkümmertes Dasein gewonnen hatte, das ahnete die kleine Sidi in dieser Stunde freilich noch nicht. Nur die Mutter hatte das dreiste Wettspiel nicht herausgehört. Sie hegte keine Reigenerinnerungen, und Musik war ihr gedankenstörendes Geräusch; ihre Blicke hafteten an dem schönen Sohn.

Der Muse, welcher ein gastlicher Sinn den Vorrang gegönnt hatte, war mit diesem Bravourstück genuggetan; wennschon für die weniger sinnlichen Darbietungen, die ihm folgen sollten, statt der hüpfenden Stimmung eine elegische empfänglicher gemacht haben würde.

Denn zur Feier der fremden Künstlerin und zur zarten Mahnung an den Wert des deutschen Vaterlandes, dem sie eingestandenermaßen nach diesem letzten Besuche und der Ordnung ihrer heimischen Angelegenheiten für immer den Rücken zu kehren gewillt war, hatte eine Kunstschwester auf verwandtem Gebiet und zugleich Witwe eines grundgelehrten deutschen Mannes, sich bewogen gefühlt, von ihren mannigfachen Reliquien die heimlichste und heiligste zum ersten Male zu offenbaren: einen Brief, in welchem der größte deutsche Dichter mit seiner eigenhändigen Unterschrift sein Beileid an ihrer Verwitwung beglaubigt hatte.

Der große Dichter war, wie der große Gelehrte, wills Gott! ein Seliger geworden; um beide vereint trug die edle deutsche Frau seit Jahren schon den Trauerschleier; und hatte sie den einen von ihnen auch niemals mit leiblichen Augen gesehen, fühlte sie sich geistig dennoch eine Doppelwitwe; denn sie selber war eine Dichterin und nicht gering das huldigende Opfer, ein Wort, das der größte Bruder im Apoll an den Schwestergenius gerichtet, mit einer bloß ausübenden Künstlerin zu teilen.

[210] Die Eröffnung würdig vorzubereiten, hatte ein befreundeter Doktor der Ästhetik einen Vortrag ausgearbeitet, welcher in Betracht, daß sein Hörerkreis wenn nicht der Mehrzahl so doch der Hauptperson nach der schöneren Hälfte des Menschengeschlechtes angehörte, des Altmeisters bildenden Einfluß auf diese schönere Hälfte behandelte, und in welchem er diese Hälfte wieder in zwei Hälften, fachgemäßer ausgedrückt: Kategorien – – –

Aber – der Vortrag ist ja gedruckt und von Mit-und Nachwelt gebührentlich gewürdigt worden; wenn jedoch – denn das ist der Kasus, auf welchen es an dieser Stelle lediglich ankommt, – wenn also der Held dieser Geschichte ihn nicht gebührentlich gewürdigt hat, so wird hoffentlich weder dem Vortrag noch dem Helden ein Abbruch an ihrer Schätzung dadurch geschehen. Fragwürdig würde im Gegenteil erscheinen, ob es der Vortrag verdiente, gedruckt der Nachwelt erhalten zu werden, wenn er auf besagten Helden einen anderen Eindruck gemacht hätte, als den er gemacht hat; und ebenso fragwürdig, ob der Held verdient hätte, dereinst biographisch behandelt zu werden, wenn er – auch abgesehen von einer zweimeiligen Fußwanderung – einem Vortrag über Goethes bildenden Einfluß auf das weibliche Geschlecht, müßig und mucksmäuschenstill sitzend, drei Viertelstunden lang zugehört hätte, ohne – versteht sich nur in seinem zweiten Stufenjahr! – die Wirkung zu erfahren, die er erfuhr.

Der brave Dezimus, er reißt die Augen auf und gähnt mit vorgehaltener Hand, wie es dem Zögling einer einstmals gräflichen Gouvernante ziemt; aber immer schwerer nickt und immer tiefer sinkt sein dicker Kopf, jetzt hinunter bis zur türkischen Weste, jetzt bis auf die Arme, die sich über dem Pfeifertischchen kreuzen. »Ist er da?« lallt er noch, dann fallen die Lider ihm zu, und er hört von der [211] Beileidsbezeigung des großen Goethe und dem, was ihr vorangeht und nachfolgt, kein Sterbenswort. Er schläft; er schläft wie ein junger Ratz; er hat in seinem Leben noch nicht so fest – nein, das wäre zuviel behauptet –, aber er hat in seinem Leben nicht fester geschlafen.

»Dieser Hirtensohn bekundet einen hohen Grad frühreifer Urteilskraft!« bemerkte, keineswegs im Flüsterton, Fräulein Thusnelda gegen ihren Nachbar, den anverlobten Hausherrn, und der anverlobte Hausherr seufzte zur Erwiderung: »Beneidenswerter Stand der Unschuld!«

Weiter kam er nicht; denn der Ästhetiker hatte eben das Heft zugeschlagen, die Reliquie wurde aus dem Busen gezogen, und: »Auf die Suppe folgt der Braten,« sagte Fräulein Thusnelda.

Das Diktat, welches nunmehr zum Vortrag gebracht wurde, enthielt nur wenige schlichte Worte, wie ein Greis bei eines Greises Scheiden sie naturgemäß fühlt und sagt; von einem anderen an eine andere gerichtet, würde, in beruhigter Gemütsstimmung, das Schreiben mit manchen ähnlich lautenden von dem Kaminfeuer verzehrt worden sein, dahingegen von einem Goethe diktiert und von eines Goethe eigener Hand unterzeichnet, es alle Aus sicht hat, die schwungvollsten Trauerkarmen und sogar das gelehrte Elaborat, zu welchem es den Impuls gegeben, um unberechenbare Generationen zu überdauern, ja einem edlen Weine gleich, mit jedem Lagerjahre an Wert zu steigen. Wie fühlte heute schon die glückliche Eignerin, trotz ihres Witwenunglücks, sich beneidet! wie phantasievoll ergründete sie aber auch die geheimnisvolle Tiefe jeglichen Bindeworts, spürte unter dem gelassenen Redesatz den klopfen den Jugendpuls, schöpfte, ohne ihn zu erschöpfen, aus dem Born einer göttlichen Zeugungskraft.

[212] Der Drang nach einem weihevollen Abschluß des Seelenschmauses, bevor das kalte Abendbrot gereicht ward, ist unüberwindlich; die edle Witwe erhebt sich; sie war nicht nur eine Dichterin, sie war in gehobenen Momenten es auch aus dem Stegreife. Die Gesellschaft erwartete eine Improvisation. Die Dichterin wagt an ihre musikalische Kunstschwester die Bitte um leise Harfenbegleitung; die Kunstschwester aber schüttelt schnöde die schwarzen Löckchen unter dem weißen Blumenhut, worauf hin wiederum die Dichterin wehmutsvoll die weißen Locken unter dem schwarzen Schleiertuch schüttelt und mit in die Höhe geschlagenem Blick, einer Seherin gleich, die himmlische Eingebung erwartet, als – – als die Tür sich auf tut und – ja, das Glück kommt nicht bloß Märchenprinzen im Schlaf! – und Er erscheint, Er ist da!

So gering auf einer mittleren Universität die Hörerzahl eines Astronomen auch nur sein kann, so gab es auf der unseren jener Zeit nicht bloß keinen gefeierteren, sondern auch keinen populäreren Lehrer als den alten Herrn mit dem sokratischen Satyrkopf und dem sokratischen Menschenherzen, und nicht Frau von Hartenstein allein strich den Tag, an welchem er ihr Haus zu flüchtiger Einkehr beehrte, rot im Kalender an. Heute scheuchte seine Begrüßung zum ersten Male die Sorgenwolken von ihrer Stirn, wenngleich er auch heute leider nur als Meteor am ästhetischen Firmament auftauchen sollte; denn am wissenschaftlichen Firmament hatte sich eine totale Mondfinsternis angekündigt, und der Umgang mit großen und kleinen Himmelsregenten erzieht nun einmal eine Höflingsschule.

»Indessen,« setzte er hinzu, indem er Fräulein von Werben, als einer alten Bekanntin, die Hand drückte, »ließ es mir doch keine Ruhe, Sie, Verehrteste, noch einmal zu sehen [213] und, wenn es sein kann, zu hören. Denn es bleibt bei Ihrem Wort: unser beider Künste sind Schwestern, und welche von ihnen die ältere ist, ob die erste Harfe, welche ein Thebaner gestimmt, oder die erste Mondfinsternis, welche ein Chaldäer beobachtet hat, diesen zweifelhaften Vorrang wollen wir uns gegenseitig nicht streitig machen. Und darum, edle Thebanerin, rühren Sie Ihr Saitenspiel zu einer Weise, nach welcher der alte Chaldäer für den Rest seiner Nächte die himmlischen Leuchten harmonisch wandeln sehen wird.«

In der nächsten Minute saß Fräulein von Werben zwischen der Hortensiengruppe hinter ihrer goldumrahmten Pedalharfe, vielleicht der klangvollsten und kostbarsten, welche Erards Meisterhand konstruiert hat. Während sie stimmte, sagte der Professor nachdenklich: »Seit ich Sie zum ersten Male hörte, es war in der Dresdener Hofkirche, und lange, lange ist es ja her, ich war fast noch ein Knabe, und Sie, Sie sangen damals noch – Thusnelda mit der Seraphsstimme! wissen Sie wohl? –, seitdem nun hat mir in mancher stillen Sternennacht eine alte italienische Hymne vor den Ohren gesummt, ja ich darf sagen, wie Sphärenrhythmus das Herz sehnsüchtig geschwellt. In Wirklichkeit habe ich die Melodie niemals wieder vernommen. Es wäre ein Wunder, wenn Sie sich ihrer noch erinnerten.«

»Das Wunder könnte sich begeben haben,« versetzte das Fräulein. »Aber sagen Sie, Professor, warum tragen Sie nicht wie ich eine Perücke? Das Organ der Galanterie liegt Ihnen bedenklich bloß. Die Harmonie der Sphären sollen Sie übrigens noch einmal klingen hören, wenn auch nur mittelst eines Notbehelfs. Die Finger sind mir, gottlob! noch nicht lahm geworden.«

[214] »Die Zunge auch nicht,« versetzte der Professor, und beide lachten.

Dann griff die Künstlerin in die Saiten zu einer jener kindlich hehren, friedvollen Palestrinischen Weisen, die man in Deutschland dazumal außerhalb der Dresdener Hofkirche nur selten hörte, welche die Dame aber mit solcher Virtuosität, auch des Gemütes, modulierte, daß der alte Chaldäer durch den Notbehelf der Saiten sich gar wohl in der Jugend goldene Sangestage versetzt fühlen durfte und eine edle Dichterin nur mit übermenschlicher Anstrengung die zuströmenden Gesichte im Herzensgrunde zu stauen vermochte.

»Nun aber Gefallen für Gefallen, Freund,« sagte Fräulein Thusnelda, nachdem sie auf ihren Divanplatz zurückgekehrt war. »Hat die Kunst meiner alten Finger den Weisen auf eine Viertelstunde wieder jung gemacht, soll seine alte Weisheit einen Jungen auf ein paar Jahrgänge älter machen.«

Und sie erzählte darauf das Sternenabenteuer ihres Werbenschen Schäferbuben mit so knapper Anschaulichkeit, wob mit so anmutigem Humor sein Dezemsschicksal ein, daß die Gesellschaft dem Vortrag der gewandten, alten Scheherezade lauschte wie zuvor dem der gewandten, alten Harfenkönigin. Ja, das Glück kommt im Schlaf. Glückseliges Johanniskind, in dieser Schlummerstunde wurdest du zum Romanhelden inauguriert!

»Fast tut es mir leid, Ihren kleinen Träumer ernüchtern zu müssen,« versetzte der Professor. »Wenn er aber ein Rechter ist, würde trotz allem und allem es eines Tages doch geschehen müssen. So früh als möglich demnach die Probe. Wach auf, mein Sohn, wach auf!«

»Dezem, wach auf!« rief die kleine Sidi, indem sie den Schläfer an den Schultern schüttelte.

[215] Dezem fuhr in die Höhe und rieb sich die Augen. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Eben hatte er in dunkler Bodenkammer von seinem Röschen geträumt, und nun saß er in strahlendem Kerzenlicht, und eine vornehme Gesellschaft stand lachend um ihn her. Er wurde wie mit Scharlach übergossen und hätte vor Scham in die Erde kriechen mögen. »Komm, kleiner Kollege,« sagte der Professor, ihn bei der Hand fassend. »Die Sterne haben nicht warten gelernt.«

»Gestatten der Herr Professor, daß ich mich anschließe?« fragte Junker Max.

Der Professor wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit der Mutter und ihrem auserkorenen Gemahl.

»Besser den Mond sich verfinstern sehen als sich einem Sonnenstich aussetzen,« äußerte Fräulein Thusnelda, worauf die Mutter denn in strengem Ton entschied:

»So geh! Daß du aber, sobald der Herr Professor dich entläßt, ungesäumt auf geradem Wege nach Hause kommst. Und du mit ihm, Dezimus, hörst du? Ich verlasse mich auf dich.«

Dezimus sagte: »Ja!« Junker Max war weiß geworden wie eine Wand.

Sie gingen.


Der Weg zum Observatorium war ziemlich weit. Als sie in ein dunkles Quergäßchen der an dunklen Quergäßchen äußerst reichen Stadt bogen, raunte der Junker in Dezems Ohr: »Wir sind verraten, ich muß sie warnen!« und bat darauf mit ausgesuchter Höflichkeit den Herrn Professor, wegen plötzlichen Schwindels nur zu einem Trunk Wasser in ein Haus treten zu dürfen, über dessen offnem Torweg eine schwächliche Öllampe das Zeichen »Zur goldenen Sonne« erkennen ließ.

[216] Der alte Herr schüttelte den Kopf; ehe er aber noch seiner Weigerung in Worten Ausdruck geben konnte, wurde er von einem anderen überholt, mit dem er stumm einen Händedruck wechselte und der alsobald hinter der verglimmenden Sonne verschwand.

»Unser Rektor!« zischelte Max, indem er sich zitternd an Dezems Arm klammerte.

Er sprach kein Wort während des Weges; auch der alte Chaldäer schien den Schwindelanfall für abgetan anzusehn; er wendete sich mit seinen Fragen ausschließlich dem kleinen Sternenfreunde zu, und dieser offenbarte zutraulich alle Heimlichkeiten, die er seinen himmlischen Lieblingen abgelauscht. Als darauf jedoch der alte Chaldäer ihm das heutige Phänomen leichtfaßlich erklärt hatte, da schwieg freilich auch er; aber die hohen Lieblinge blickten in ein ernsthaftes Kindergesicht, das eine Weihe empfangen hatte.

»Du wirst,« sagte der Professor, »nichts anderes als einen Schatten über die Mondscheibe ziehen sehen, wie du schon manches Mal eine Wolke darüber ziehen sahst. Auch wirst du die Sternbilder, die du mit bloßen Augen wahrnimmst, nicht, wie du vermutest, in Mondes- oder gar Sonnengröße schauen, und die, welche dir erst das Fernrohr deutlich macht, werden dir nur als schwache Fünkchen leuchten. Das darf dich aber nicht beirren, mein Sohn. Nichts, was wir hienieden schauen können, ist so groß, als wir es uns denken, und nichts, was wir erreichen können, so vollständig, als wir es erstreben. Weil du nun aber nunmehr weißt, daß es der Schatten deiner Erde ist, welcher dir, seit Jahrhunderten voraus berechenbar, ihren Trabanten ein paar Minuten lang verhüllte, und weil du weißt, daß die kleinen Himmelslichter, [217] welche es dir angetan haben, Welten sind wie die, welche du bewohnst, und daß es millionenmal mehr und millionenmal fernere Welten gibt als die, welche du selbst mit den schärfsten menschlichen Werkzeugen zu erkennen vermagst, darum wird es dir keine Ruhe lassen, ihr gesetzmäßige Bahn, soweit deine Kräfte reichen, zu erforschen, und es würde mich freuen, wenn ich dir bei dieser Forschung dereinst länger als heute ein Führer sein dürfte.«

Und es geschah, wie der weise Chaldäer vorausgesagt. Der sinnliche Eindruck, welchen Dezimus durch das große Rohr empfing, blieb weit hinter seinen Erwartungen zurück, und der des Gemüts war nicht so erhebend wie der des Allnachtshimmels ohne die räumliche Beschränkung durch ein Instrument. Das aber, was als Gedanke schon in dem Kinde geglommen, hatte einen Sporn erhalten, der seinem Mannesstreben die Richtung gab.

Das erste Morgengrau dämmerte, als sie die Sternwarte verließen, welche – auch eine Enttäuschung für den Hirtensohn – nichts weniger als einem hehren Tempelbau glich. Der unglückliche junge Verschwörer hatte während der langen Beobachtungsstunden wie auf Kohlen gestanden und an keinen anderen Erdschatten gedacht als den, welcher den Werdetag verfinsterte. Nachdem der Professor die Knaben in dem Garten, der das Observatorium umgab, verlassen hatte, um nach seiner Wohnung abzubiegen, rief Max mit bebender Stimme:

»Ich muß fort, auf der Stelle! Was hülfe es, wenn sie mich auch noch faßten! Gib Sidi heimlich dies Blatt. Gottlob! daß ich es unbemerkt kritzeln konnte. Sonst gegen keinen Menschen ein Wort. Adieu!«

»Nein, Herr Max,« entgegnete Dezimus, indem er ihm den Weg vertrat. »Sie müssen mit mir nach Hause [218] gehen. Wir haben es Ihrer Frau Mutter versprochen und dem Herrn Sternenprofessor auch.«

»Aber, Junge,« schrie Max außer sich, »bist du denn gar zu dumm? Begreifst du denn nicht, um was es sich handelt? Sie haben die Statuten, sie haben die Mitverschworenen. Ich bin das Haupt: ein gräßliches Exempel wird statuiert werden. Lebenslängliches Zuchthaus, ein Todesurteil – –«

»Ach bewahre!« tröstete Dezimus. »Das läßt ja der Herr Professor, Ihr zweiter Vater, gar nicht zu. Kommen Sie nur, kommen Sie!«

Er wollte ihn fortziehen, jener sich losreißen. Sie rangen miteinander in der stillen, noch nächtigen Gartenallee. Dezimus war der stärkere, Max der gewandtere; der Sieg zweifelhaft. Da – da, wie ein lauerndes Gespenst aus dem Boden geschossen – stand plötzlich der zweite Vater zwischen ihnen, packte, ohne einen Laut von sich zu geben, den zukünftigen Sohn am Arm und schleppte ihn stracks nach Hause.

Als der Dezem nun still hinter den beiden herschlenderte, waren Sonne, Mond und Sterne für ihn am Himmel ausgelöscht. Denn wie Schuppen war es ihm von den Augen gefallen und wie ein Zentner auf sein Herz. Hatte er den schlimmen Streich, den er einem anderen gewehrt, nicht ausgeführt? War er nicht heimlich in die Welt hinausgelaufen? Würde seine liebe Mutter nicht in Angst um ihn vergehen und sein gütiger zweiter Vater zum ersten Male ein gräßliches Exempel an ihm statuieren? Ach, der ruchlose Bösewicht, der er war! Und alles um eines Werdetags willen, gerade so wie Junker Max! Bittere Reuetränen strömten über seine Backen. Er wollte nur bei Frau von Hartenstein seinen Kittel wieder anziehen, [219] dann in einem Atem heimlaufen und, wie der verlorene Sohn, fußfällig für seine Schandtat um Vergebung flehen.

Als er aber das Haus erreichte, in welchem die ästhetische Versammlung sich seit Stunden aufgelöst hatte, stieß er unter der Tür auf die alte Gutsdame, die, nach einer langen vertraulichen Besprechung mit ihrer Verwandtin, im Begriffe war, in ihr Hotel zurückzukehren.

»Du bleibst, Junge!« sagte sie lachend. »Ich bringe dich morgen selbst nach Werben und übernehme die Verantwortung bei deinen Eltern.«

Was sollte Dezem tun? Er blieb, legte sich aufs Ohr und schlief; der ruchlose Bösewicht, er schlief, als hätte er das allerfriedlichste Gewissen zu seinem Schlummerpfühl. Als er aber endlich gegen Mittag durch die kleine Sidi mit Gewalt aus den Federn, in die Kleider und zur Besinnung gebracht worden war, da hätte an schwindelhaftem Erfolg binnen vierundzwanzig Stunden sich wohl nicht leicht ein Abenteurer mit ihm messen können.

Ausgerückt im Bauernkittel auf dem Butterfaß des Leiterkarrens, kehrte er heim im Junkerhabit auf hohem Kutscherthron, neben dem schmetternden Postillion, der ein Viergespann lenkte; rollte im Fluge die Straße entlang, auf der er gestern im Schweiße seines Angesichts getrabt war. Im hinteren Kabriolett hatte, von seinem Ehrenplatze durch ihn verdrängt, der Diener mit den blühenden Wangen und dem schneeweißen Lockenhaar sich mißmütig eingeschichtet zwischen die ältliche Kammerdame und einen Berg von Schachteln und Koffern. Im Fond der wappenprangenden Reisekarosse saß die Gutsherrin mit Junker Max; auf dem Rücksitz ruhte eingekapselt die goldene Harfe, der Künstlerin zweites Ich, das sie eifersüchtig mit [220] den Augen hütete. So glorreich sollte der Einzug in Werben gehalten werden! Und dazu im Arm die duftende Gardenia und im Herzen die Erinnerung an das große Rohr und den weisen Chaldäer!

Was im Inneren des Wappenwagens verhandelt wurde, drang natürlich nicht zu Dezems Ohr. Daß es ein hochnotpeinliches Strafgericht sein könne, befürchtete er keineswegs, war im Gegenteil heute mehr noch als gestern geneigt, den jugendlichen Verschwörer als Helden zu bewundern, da beim Einsteigen sein schönes Gesicht vor Glückseligkeit gestrahlt hatte und er keinen Gedanken an seine nächtlichen Ängste und ihren beiderseitigen Ringkampf bewahrt zu haben schien. Die kleine Sidi hatte sich zwar mit Tränen aus seinen Armen gewunden, aber es waren Tränen, welche ein Schimmer froher Erwartung durchleuchtete.

Als in der Stadt, wo Dezimus gestern die Gardenia vergeblich gesucht hatte, die Pferde gewechselt wurden, langte aus entgegengesetzter Richtung die Personenpost eben an. Mehrere Passagiere stiegen aus; unter ihnen ein ältlicher Herr, der sich seine Peife an der des Schirrmeisters anzündete. »Der Vater!« jubelte Dezimus auf, sprang mit einem Satze vom Bock und hielt die seltene Blume wie im Triumph in die Höhe.

»Mein guter Sohn!« sagte Pastor Blümel gerührt. »Mir zuliebe hast du diesen weiten Weg gemacht!«

Dezimus stand wie angedonnert mit niedergeschlagenen Augen:

»Ach nein, Vater,« sagte er kleinlaut darauf, »ich habe es den Sternen zuliebe getan.«

Bevor der Vater das Rätsel zu lösen vermochte, beugte sich zwischen den Spiegelscheiben des Wappenwagens ein [221] blumengeschmücktes Lockenhaupt hervor, und eine glockenhelle Stimme rief:

»Dieses redliche Hirtenblut wollen wir zu Ihrem Nachfolger heranziehen, Herr Pastor. Ich heiße Thusnelda von Werben.«

Vater Blümel hegte ein zu gutes Vertrauen in seines Dezem rüstigen Körper und ruhigen Kopf, als daß er gestern abend die Nachricht von der ausgedehnten Blumenexpedition mit irgendwelcher Sorge aufgenommen hätte; seine sonst so starkmütige Hanna dahingegen sah ihr verirrtes Lamm dem Wolf in den Rachen rennen und im allerglücklichsten Fall vom Gendarm auf dem Schub in seine Hürde zurücktransportiert. Nach einer ruhelosen Nacht erklärte sie rund heraus:

»Du, Konstantin, oder ich!« und so machte ihr Konstantin sich denn auf die Suche des verirrten Lamms und – der bedrohten Gardenia.

Wie er nun aber halben Wegs beiden im erwünschtesten Wohlbefinden begegnete, durch eine fabelhafte Verkettung obendrein unter Schutz und Geleit der Patronin, die jemals mit Augen zu sehen er nicht zu hoffen gewagt hatte, da spürte er eine Anwandlung von seiner Hanna Glauben an die Himmelsgunst eines Johanniskindes, und mit herzlicher Freude nahm er der Dame Einladung zur Heimkehr in ihrer Gesellschaft an.

Ein Platzwechsel wurde dadurch erforderlich. Junker Max bestieg zu seiner innerlichsten Befriedigung den Thron des Postillions, tauschte sich gegen ein Biergeld die Führung der Leinen ein und lenkte, ohne einen Rest von Verschwörerlaune, zum ersten Male einen Wappenwagen viere lang vom Bock. Dezimus wurde in das Innere des Wagens aufgenommen und mußte zusehen, wie er sich auf einer Kante [222] neben dem Harfenpedal einrichtete. Da jedoch wiederholtes Herunterrutschen das Zwiegespräch der beiden Würdenträger störte, kauerte er sich auf den Wagenboden nieder und hat mit dem Prickeln seiner einschlafenden Gliedmaßen die Ehre, einer gefeierten Künstlerin zu Füßen zu sitzen, ganz gewiß nicht zu teuer erkauft.

Da die Gutsdame nur einen einzigen Tag zur Kenntnisnahme des Besitztums, das ihr seit länger als einem halben Jahrhundert ein fremdes geworden war, bestimmt und die Absicht hatte, dem vormaligen Werbenschen Erbpächter Mehlborn einen Besuch abzustatten, ersparte sie sich einen zeitraubenden Bogen, indem sie, statt der Landstraße, einen Seitenweg auf dem jenseitigen Ufer einschlagen ließ. Die Begegnung ihres Pfarrers, mit dem sie mancherlei Geschäftliches abzusprechen hatte, kam auch ihr erwünscht, und bald war sie mit ihm im Gleise der Vertraulichkeit.

»Man braucht,« hob sie an, indem sie ihm freundlich die Hand reichte, »mit einem Menschen keines wegs einen Scheffel Salz zu essen, um ihm in das Herz sehen zu lernen. Ichziehe, wie bei anderen Naturansichten, einen bedeutenden Totaleindruck einer Menge kleiner Lokaleindrücke vor, und die Bekanntschaft mit Ihrem Dezem gab mir solch ein Gesamtbild Ihres Wesens. Im übrigen hat mein Schwager, der General, es auch an kleinen Einzelnbildern nicht fehlen lassen, so daß ich bei Ihnen und den Ihren hinlänglich zu Hause bin. Sie müssen nämlich wissen, Herr Pastor, daß die feindliche Verschwägerung zu guter Letzt in einen intimen Freundschaftsbund umgeschlagen war und daß an einem noch intimeren Bündnis, wie selbiges durch einen Paragraphen Ihres Landrechts erläutert wird, nichts weiter fehlte, als daß das Bedürfnis der Unterstützung nicht ein gegenseitiges war. Zu meinem Glück, da ich sonst [223] statt dieses Blumenhutes eine Witwenhaube tragen würde.«

Die Dame plauderte diese und alle folgenden Vertraulichkeiten so unbefangen aus, als ob nicht ein Kind derselben Zeuge gewesen wäre. Möglich, daß sie meinte, der unschuldige Dorfjunge verstehe sie noch weniger, als er, wo sie hier und dort in seinen Gedankenkram paßten, sie wirklich verstand. Im übrigen gibt es für geniale Leute ja keine Indiskretionen.

Die Rede kam demnächst auf Frau von Hartenstein, und keine Neuigkeit hätte den alten Lehrer mehr überraschen können als die von ihrer bevorstehenden Wiederverheiratung; und kaum eine bänglicher berühren als die von ihr getroffene Wahl.

»Kennen Sie Zacharias?« fragte Fräulein Thusnelda.

»Nur aus Bruchstücken seiner kritischen Exegese,« antwortete der Pastor seufzend. »Der Mann ist stark im Zerstören! Wie erklären Sie, gnädiges Fräulein, diese so schwer begreifliche Wahl?«

»Ei nun, sehr natürlich aus dem bereits angezogenen Paragraphen von der wechselseitigen Unterstützung. Brigittens Mittel sind nahezu erschöpft; ihr Ehrgeiz ist es aber keineswegs. Jener Trieb zum Zerstören, wie Sie ihn nennen, ein Trieb, zu welchem übrigens gemeinhin mehr Mut als Geist gehört, also ein Charakter und kein Genie, hat dem Mann einen Namen und glänzende buchhändlerische Honorare eingetragen, ohne ihm bis dato seinen Lehrstuhl zu kosten. So hilft der Mann ihr aus der Not. Er seinerseits ist klug genug, zu wissen, daß auch im geistigen Zerstören nicht leicht Maß zu halten ist. Ein Stück bröckelt dem anderen nach. Das Publikum aber liebt allerorten ein Mittelmaß. Hand und Fuß, die Nase, der ganze Kopf [224] sogar mag einer Autorität abgeschlagen werden: ein Torso soll stehen bleiben; Fenster und Türen aus einem Tempel gerissen, das Dach abgedeckt: die Ruine wird um so ehrwürdiger, und am Ende läßt sich noch eine Windmühle auf ihren Grund mauern errichten. Der Tag könnte also kommen, an welchem scharfsinnige Negationen weniger glänzende Honorare eintragen würden; abgesehen davon, daß, über kurz oder lang, der nämliche Umschlag, von welchem mein Neffe, der Propst, die Rückkehr zur Kanzel erhofft, meinen Quasineffen in spe, den Professor, von dem Katheder nötigen dürfte. Und leiblicher Hunger täte dann weh. In dieser eines weisen Mannes würdigen Fürsicht gewähren die Mehlkammern eines reichen Schwiegervaters die tröstlichste Perspektive. So sorgt der Mann für die Zukunft, die Frau für die Gegenwart, und da im übrigen Mann und Frau ungefähr in gleichem Maße aus den gleichen Stoffen zusammengesetzt sind, darum auch die gleichen Bedürfnisse haben, ist eine harmonische Ehe zu prognostizieren.«

»Aber auch ein gedeihliches Elternhaus?« wendete Pastor Blümel ein.

»Das just um so weniger,« versetzte die alte Dame. »Die Familie gedeiht nur in gemischten Elementen, und Kinder badet man nicht in Spiritus. Zumal diese Hartensteinschen Kinder, die, vielseitig begabt, schon jetzt einseitig entwickelt sind. Beide lieben nur sich, das heißt auch sich untereinander; zur Mutter haben sie keinen Zug, und den auserkorenen neuen Papa hassen sie schlechthin. Derlei Stiefverhältnisse können überhaupt nur durch frühe Gewöhnung oder durch die Vernunft erträglich gemacht werden. Für die erste sind die Kinder zu alt, für die letzte zu jung. Beiden Teilen wird es daher einen verdrießlichen Übergang ersparen, wenn ich die Tochter, bis zu einem reiferen Stadium, [225] mit mir nach Rom nehme. Ich vermeide im allgemeinen unschöne Umgebungen; da das kleine Anhängsel aber gescheut und für die Musik ungemein talentiert ist, denke ich es mit ihm aushalten zu können. Schade, daß sie zur Harfe nicht die Figur hat; von einer Gesangstimme kann bei solchem Brustkasten überhaupt nicht die Rede sein. Aber sie empfindet die Kunst, und die Kunst wird sie für manche versagte Empfindungen schadlos halten müssen. Notabene: für unfreiwillige Versagungen; denn freiwillig sind solche der höchste Triumph, den wir Frauen feiern können.«

»Aspasia!« sagte der Pastor lächelnd, und Fräulein Thusnelda nickte ihm befriedigt zu.

»Für die Tochter wäre somit zunächst gesorgt,« fuhr sie darauf fort. »Problematischer steht es um den Sohn. Sein Großvater war der schönste Mann, den meine Augen geschaut, und der Enkel gleicht ihm. Sehen Sie doch, mit welcher Grazie er draußen die Zügel führt. ›Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön!‹ Könnte ein Künstler ihn nicht zum Vorwurf eines jungen Sonnengottes nehmen? Und wie die Glieder, so der Intellekt. Er lernt spielend, sagen seine Lehrer, hat Gabe zu allem, Lust zu vielem, Ausdauer zu nichts. Aus diesen Faktoren bilden sich die Tagediebe, die als Genies ein Monopol nicht bloß der Freiheit, sondern Frechheit zu haben glauben, zumal auf fettem Boden. Stellen Sie sich vor, der Bengel hat gestern abend eine Teegesellschaft seiner Frau Mama – ehrenwerte Philister und langweilige schöne Seelen einer deutschen Provinzialstadt! – mit ein paar Federskizzen hingeworfen, daß sie in einem Witzblatt, wenn Ihr eines besäßet, Parade machen könnte. Hier eine Probe: ›Die Harfenmuhme!‹«

Fräulein Thusnelda zeigte das abgerissene Blatt, auf dessen Rückseite Max in seiner gestrigen desparaten Stimmung [226] die Abschiedsworte an seine Schwester gekritzelt, und welche der lauernde zweite Vater ihm entwunden hatte. Pastor Blümel schüttelte seufzend das Haupt, und seine Patronin fuhr fort:

»Und stellen Sie sich weiterhin vor, daß am nämlichen gestrigen Abend eine republikanische Verschwörung entdeckt und aufgehoben worden ist, deren Obmann dieser kunstfertige Tertianer war. Mich wundert nur, daß er nicht alsobald zur Organisation einer Räuberbande à la Karl Moor vorgeschritten ist. Kleine Gernegroße! Ein Auswuchs Ihrer allerliebsten Staatsmaximen!«

Pastor Blümel stieß einen tiefen Seufzer aus und schlug die Augen zu Boden, als ob er selber ein verantwortlicher Teilhaber dieser Staatsmaximen gewesen wäre. Hätte es sich in seiner Patronin Wappenwagen geschickt, würde er seine Pfeife angezündet haben, so schmerzlich verworren war seine Gedankenarbeit.

»Für die Zukunft eine heilsame Lehre, – falls sie verstanden wird!« sagte die Dame leichthin. »Seis darum. Hängen wird man die dummen Jungen natürlich nicht; man steckt sie stillschweigend irgendwo unter. Was aber den Häuptling anbelangt, so ist seine Mama der Verlegenheit überhoben, den Witwenstuhl verrücken zu müssen in Gegenwart eines Zeugen, der ein Karikaturblatt von der Weiheszene entwerfen würde. Was aber bis auf weiteres anfangen mit dem Tausendsasa? Ich, für meine Person, habe keinerzeit den Trieb zur Grachenmutter in mir gespürt, und der Tropfen Werbenschen Blutes, der in des Burschen Adern noch fließt, kann mir die Verpflichtung nicht auflegen, die Rolle in alten Tagen zu forcieren. Bliebe also der Großvater Mehlborn, dem ich en passant nicht allzu gelinde auf den Zahn fühlen werde. Unter allen [227] Umständen besitzt er den nervus rerum, auf welchen es in der Zukunft ankommen wird, und zugegeben muß ja auch werden, daß der Dreschflegel ein probates Korrektiv gegen Verschwörerlaunen ist, nur nicht gegen solche eines Bluts von vierzehn Jahren. Wer soll zunächst dem tollen Füllen die Halfter über den Kopf werfen? Ich frage Sie, Freund, Sie sind ja halb und halb Pädagog, was sollen wir mit dem Irrwisch anfangen?«

Bis dahin hatte Dezimus, wenn auch mit immer steigender Entrüstung, an sich gehalten. Nun jedoch ertrug er es nicht länger, den schönen jungen Herrn so schmählich verlästert, ihn wohl gar mit des bösen Amtmanns Dreschflegel bedroht zu sehen. Er hatte gestern, um des vierten Gebotes willen, mit ihm gerungen, er, der doch weit schnöder gegen dieses Gebot gefrevelt hatte. Ihm aber war wegen des großen Rohres kein böses Wort gesagt worden, und jener wurde bloß wegen der Republik behandelt wie der verlorene Sohn. Seit die vornehme Dame ihn einen jungen Sonnengott genannt hatte, leuchtete er Dezimus nun vollends vor wie der alleredelste Held.

»Er will unter die Kunstreiter gehen!« platzte er daher heraus mit dem Stolze der reinsten Bewunderung.

Die alte Dame lachte hellauf. »Bravo!« rief sie in die Hände klatschend, »bravissimo! daß man doch niemals an der Mutter Natur verzweifeln soll! Lassen wir ihn laufen, lassen wir ihn reiten, wenn er sich wundgeritten hat, wird er zu Kreuze kriechen, und hängt der Brotkorb ihm dann nur ein wenig hoch, kann aus dem unbärtigen Karikaturenzeichner noch etwas Rechtschaffenes zustande gebracht werden.«

»Ein gewagtes Experiment!« versetzte Pastor Blümel so traurig, als die Dame lustig schien.

[228] »Wissen Sie eine wirksamere Zucht als die der Not?«

»Solange die Liebe nicht erschöpft ist, gewiß.«

»Wollen Sie ihn etwa in Ihrem Töchtergarten schulen? Ich meine es im Ernst, Freund, im allerernsthaftesten Ernst. Versuchen Sie es mit dem jungen Wicht.«

»Mir bleiben,« entgegnete Pastor Blümel nach einer Pause, »Kraft und Zeit nur allenfalls für einen Schüler, meinen Pflegesohn, und der ist ein Anfänger, ein Lehrling auf Probe. Bestände er diese, dürfte ich auch für seine höhere Ausbildung Kenntnisse und Methode mir nicht mehr zutrauen; schon jetzt werde ich für die Anfangsgründe der Mathematik mich leider nach einer Aushülfe umtun müssen. Nicht als einen Schüler kann ich daher Ihren jungen Verwandten in die Obhut meines Hauses nehmen, wollen Sie ihm denselben als Gast für eine Übergangszeit anvertrauen, wird er darin herzlich willkommen und, so Gottwill! wohlgeborgen sein.«

»Probieren wirs denn zunächst einmal in der Klosterschule des frommen Herrn Ohm, wohl möglich, daß sie die Wirkung der Reitschule wettmacht,« versetzte die Patronin, führte ihr Projekt aber nicht weiter aus, da man in der Nähe des Talgutes angekommen war. Sie beugte sich aus dem Wagenfenster. »Dort oben Ihre Pfarre!« rief sie, »und hier die Kirche! Ich bin in ihr getauft worden, – eingesegnet, – und wenn ich zum letzten Male meinen Einzug in ihr halten werde, – machen Sie es dann gnädig, Freund, mit dem alten, harfespielenden Heidenkind.«

Die Lippen lachten bei den Worten, über den Augen aber lag ein feuchter Nebel, wie er wohl nicht häufig deren Funkelblick verschleiert haben mochte. Gleich darauf jedoch sagte sie in ihrem gewohnten kecken Ton: »Ich bin auf dem Schlosse nicht angemeldet, und meine Nerven haben auch [229] in Rom den Heiligenduft nicht vertragen lernen. Würde Ihre Hausfrau, Freund, mich und meine Harfe zur Nacht beherbergen wollen? Max und die Diener mögen sehen, wie sie auf dem Schlosse unterkommen.«

Pastor Blümel drückte ihr erkenntlich für diesen Vorzug die Hand, hieß den Wagen halten und Dezimus aussteigen. Er sollte zu Fuß heimkehren, der Mutter den werten Gast anmelden, die Gardenia sorgfältig mit Wasser bespritzen, aber, wie er ihm noch besonders einschärfte, von dem, was er im Wagen vernommen, kein Wort gegen irgendeinen Menschen verlauten lassen. Mit dieser Vorschrift zog Dezimus ab.

Die alte Dame lachte belustigt über die frühe Erziehung zur Beichtheimlichkeit. »Der Junge sieht danach aus, als hätte er auch ohne Ihre Mahnung den Mund gehalten,« meinte sie. »Der ist kein Karikaturenzeichner! Mein Wort darauf, er besteht Ihre Schülerprobe. Bilden Sie ihn in Gottes Namen, soweit es Ihnen bequem ist, zu Ihrem Nachfolger oder in irgendeinem ihm vielleicht gemäßeren Fach zu Ihresgleichen aus. Für die Mittel seiner späteren Lehrjahre werde ich Sorge tragen.«

Pastor Blümel dankte ablehnend für dieses Anerbieten, wie er schon vor Jahr und Tag dem General dafür gedankt hatte. Solange er lebe, wäre der Knabe, den er auf seinen Boden verpflanzt, sein Sohn. Ernte er Vaterfreude von ihm, habe er Vatersorge und väterliche Verantwortung für ihn zu tragen, er allein. Jegliche fremde Wohltat mache das Verhältnis zu einem schielenden.

»Sie sind ein weiser Tor, oder ein törichter Weiser,« versetzte das Fräulein. »Ich habe die Mittel, und Sie haben sie nicht. Aber wie Sie wollen. Man soll keinem Menschen den Genuß verkümmern, etwas Rechtes auf eigene Hand [230] durchzuführen. Für einen möglichen Todesfall, meinen oder Ihren, will ich indessen jetzt schon mit dem Justitiarius festsetzen, daß das theologische Stipendium, welches auf Werben ruht, seinerzeit zum ersten Male einem Werbenschen Bauernsohne zugute komme. Es tut keiner Weisheit Abbruch, wenn sie von einem Vater im Himmel ihren Ausgang nimmt, mag sie auch nicht allerwegs auf dieses Familienverhältnis hinauslaufen. Dem Gottesgelehrten kann späterhin immer noch ein weltliches Pfropfreis beliebig aufgesetzt werden.«

Als die vierspännige Wappenkutsche, mit dem jungen gepuderten Lakaien und der geputzten alten Zofe im Kabriolett, im Talhofe einfuhr, saß Johann Mehlborn in Hemdsärmeln und Leinenhosen auf der ominösen Bank vor seiner Tür. Er sprang in die Höhe, ging bis an das Haus, kehrte aber um, setzte sich wieder und ließ dem kuriosen Geschehnis seinen Lauf. Irgend etwas rumorte bei dem stolzen Schauspiel in seinem Blut; vielleicht der aufgestörte Bauerntrotz, vielleicht die unterbundene Magnatenader. Im Verlauf jedoch fand die alte Dame mit den rosigen Runzelwangen und den klugen Blitzaugen seinen Beifall, und auch ihr resolutes Mundwerk war nach seinem Geschmack. Als sie dem Sohne ihres väterlichen Großknechts die Hand reichte und ihn daran erinnerte, daß sie ihn zum letzten Male als pausbäckigen Posaunenengel auf seiner Mutter Arme gesehen habe, stieg eine Zähre in sein Auge, und sie würde übergelaufen sein, wenn das mobile Fräulein nicht in einem Atem auf ein weniger rührsames Thema übergesprungen wäre.

Dieses Thema war der seiner Familie bevorstehende Ersatz des Geblütsaristokraten durch einen der hohen Wissenschaft. Der Amtmann war durch seine Brigitte schon von [231] der Affäre unterrichtet; auch durch seinen Bielitzer Pastor von der Schriftgelahrtheit des Mosjö Zacharias. Seinethalben! wäre sie in ihrem Witwenstande ohne leiblichen Vater fertig geworden, werde sie in ihrem zweiten Ehebunde wohl auch noch ohne Gottessohn fertig werden. Er, Johann Mehlborn, halte es mit dem zweiten Artikel und dem vierten Gebot. Damit basta!

Als die Dame darauf ihm seinen Enkelsohn vorstellte, winkte er ihn heran, musterte ihn stillschweigend vom Kopf zur Zeh, griff dann in seine Hosentasche und schenkte ihm einen Taler.

Junker Max wurde rot und schnitt ein Gesicht wie ein verkleideter Lustspielprinz, den einer im Ernst für einen Kammerdiener hält und ihm ein Douceur anbietet. Seine Hand zuckte, als ob er dem schäbigen alten Bauer, der sein Großvater und ein Millionär war, das Geldstück vor die Füße zu werfen Lust habe. Fräulein von Werben aber sah ihn mit einem scharfen Blicke an und sagte in noch schärferem Ton: »Bedanke dich schön, Herr Neffe; es wird dir manchen Schweißtropfen kosten, ehe du den ersten Taler verdienst.«

So machte Junker Max denn eine stumme Verbeugung und steckte den Taler ein, mit dem nobelen Vorsatz, sich seiner als Biergeld an den Postillion zu entledigen.

Die Dame rückte nunmehr mit der Frage nach des Großvaters Ratschlägen und Plänen für seines Enkelsohnes Zukunft hervor. Wie zu erwarten stand, erhielt sie den Bescheid, der Junge solle lieber heute als morgen aus der Schule genommen und unter seine, des Großvaters, Schere gebrächt werden. Sobald er das feine Früchtchen zu einem richtigen Ökonomen zugestutzt, wolle er ihn als Inspektor über eines von seinen Gütern setzen. Der Junker [232] von Hartenstein wurde demnach der Erbe von des Hirtendezem glänzenden Patenaussichten!

Damit schloß die Zusammenkunft der beiden nach barlichen Gutsherrschaften. Alles in allem, und noch dazu gezählt, daß Bielitz in diesem trockenen Sommer eine weit einträglichere Ernte als Hochwerben geleistet hatte, würde der alte Erbpächter der Letzten seiner angestammten Gutsherrschaft die Wiedererwerbung ihres Vätersitzes aufrichtig gegönnt haben, insofern sie selbst anstatt der verhaßten geistlichen Hartensteine auf ihm residierte. Da sie aber morgenden Tages schon wieder außer Lands zu gehen beabsichtigte und ihre widerwärtige Sippschaft ihm vor der Nase sitzen blieb, hätte er ihr die stolze Staatsvisite lieber geschenkt und den Taler für das dicknäsige Früchtchen von Enkel nicht zum Fenster hinausgeworfen.

In noch weit höherem Maße fand die neue Herrin, daß sie sich den Umweg über das Talgut hätte sparen können, und auch der friedfertige Pastor Blümel zog unbefriedigt von dannen, da zu einer erhofften Wiederanknüpfung mit seinem ungetreuen Beichtsohne die Gelegenheit keineswegs günstig gewesen war. Seine Patronin hatte nicht ohne Absicht der Überraschung erwähnt, die sie aller Welt, also auch der Pfarrfamilie, durch den Gutskauf bereitet habe. Das aber hatte der kluge Bauer ja schon lange erspürt oder erfahren. Seine »Bosheit« auf die einstigen Freunde war von weit älterem Datum, und so blieb es auch zwischen Talgut und Pastorei bei der eingenisteten Entzweiung.

Während dieser ungemütlichen Zusammenkunft trabte Held Dezimus in höchster Beseligung heimwärts. Bild um Bild tauchte die Zauberwelt, in welcher er einen Tag lang geschwelgt hatte, vor seinen Blicken wieder auf. Dem Wunder folgte der Zweifel. Am Ende hatte er die Herrlichkeit [233] nur geträumt oder in einem Märchenbuche gelesen. Aber nein doch, nein! Er trug ja auf seinem Leibe des Sonnengottes stolzes Junkerkleid, unter dem Arme zusammengerollt seinen eigenen Bauernkittel und in der Hand die duftende Gardenia. Er war der Märchenprinz. Er hob den Kopf höher, als er ihn gestern gehoben; sein Herz klopfte stolzer, als es gestern geklopft; er sah sich gleichsam in eine neue Konstellation versetzt; funkelnde Erdenlichter schlossen eine Kette, zwischen welcher sein Stern fortan eitel lustig sich drehen werde. Dämmernd, wie es nicht nur Kindern geschieht, spürte er das Regen bisher ungeahneter Dämonen.

Hüte dich, armer, zehnter Hirtensohn! Du wirst nie in deinem Leben wieder der Held eines Märchenabenteuers sein, wirst nie wieder in einer Wappenkutsche von einem jungen Sonnengotte viere lang vom Bocke gefahren werden und einer berühmten Künstlerin zu Füßen sitzen; von den Erdenlichtern, in deren Kreise du dich eitel lustig drehen siehst, könnte manches als Irrwisch dich in einen Sumpf verlocken. Nur an den ewigen Himmelslichtern, Dezimus, an ihnen halte fest!

Da die Weinbergstür unter Verschluß gehalten wurde, hatte er nach der Überfahrt den Umweg durch das Dorf zu nehmen; vorüber an dem Hutmannshause, das heute noch wandelbarer als an dem Tage, wo er darin zur Welt gekommen, an dem Felsen klebte und von einer ebenso dürftigen Familie wie damals bewohnt wurde. Dezimus kannte seinen Ursprung, ohne ihn je als ein Leid empfunden zu haben. Noch keinmal, sooft er an dieser elenden Herberge vorübergekommen, waren ihm die Waisen eingefallen, die vor ihm unter dem nämlichen Dache dem nämlichen Blute entsprungen waren. In seinem heutigen Hochgefühl würden sie ihm noch weniger eingefallen sein.

[234] Da öffnete sich die Tür, und ein Kind in den Armen wiegend, trat das weiße Fräulein über ihre Schwelle. Er hätte ihr entgegenlaufen, ihr die bevorstehende Überraschung ankündigen mögen; allein der lange, ernsthafte Blick, mit welchem sie zu ihm hinübersah, bannte seinen Schritt. Vielleicht war es nur das bunte Junkerkleid, das sie in Verwunderung setzte; vielleicht verglich sie aber auch in ihrer nachdenklichen Art dieses durch die Liebe gerettete Kind mit dem siechen Wurm, den sie in der vorigen Minute auf der Streu sich hatte winden sehen und den sie zur Beschwichtigung in das Freie trug.

Und als ob es diesem Mädchen bestimmt sei, die verborgensten Lebenskeime in dem Knaben zu erwecken, drang sein stiller Blick ihm in das Herz. Zum ersten Male fühlte er sich gemahnt an die Brüder, die in der Welt umherirrten, vielleicht gestorben, verdorben waren, er wußte nicht, wo und wie. Es war kein Blutessehnen, das sich in ihm regte. Aber er sah sich zurückgedrängt auf seinen natürlichen Grund, und eine Aufgabe für seine Mannesjahre hatte sich angebahnt.

Der Propst, der zur nächsten Frönerhütte vorangeschritten war, winkte Lydia zu sich heran; sie legte das Kind in seiner Mutter Arm und eilte an Dezimus vorüber dem Vater nach. Von der Höhe herab flog jubelnd, mit ausgebreiteten Armen das liebe Röschen, das den verloren gegangenen Bruder im Kahne stehend erkannt hatte. Es gab einen und dann noch einen zweiten lauten, bunten Tagesschluß, in welchem Dezimus seines weißen Fräuleins still mahnenden Blick vergaß. Als er aber nach der Gutsherrin Abreise zum ersten Male wieder durch die Schlucht in das Tal hinunterstieg, stand er wie erstarrt: das Hutmannshaus war verschwunden; abgetragen bis auf den [235] Grund, die arme Frönerfamilie zeitweise in einem Nebenbau des Schlosses untergebracht.

Tag für Tag trieb es den Knaben nun hinunter an den leeren Platz, und Tag für Tag sah er etwas Neues entstehen. Der vorhängende Felsen wurde abgetragen, der gewonnene Raum geebnet, ein frischer Grund gelegt, Mauer um Mauer aufgezogen; noch vor Winters stand ein sauberes kleines Haus an Stelle des armen Nestes, in welchem er das Erdenlicht erblickt hatte. Im Laufe der Zeit wandelten, eine nach der anderen, sämtliche Frönerhütten sich in freundliche Wohnstätten um, wurde die Straße gepflastert, von Bäumen eingefaßt und so zu der nettesten im ganzen Dorfe hergestellt.

Es war nicht Fräulein Lydias frommer Liebessinn, welcher diese Umwandlung bewirkt oder auch nur angeregt hatte; es war Fräulein Thusneldas Schönheitssinn, der empört worden war, als sie bei der Auffahrt zu ihrem Väterschloß sich derartig von Verfall und Unflat umgeben sah. »Unter einem italienischen Himmel erträgt sich das allenfalls,« hatte sie zu Freund Blümel gesagt; »hier aber will ich selbst als Leiche diesen Ekelweg nicht noch einmal passieren.«

So griff sie denn tief in ihren Säckel, erhob den Ortspfarrer zu ihrem Schatzmeister, seine Gattin zu ihrer Werkführerin und spornte zur Eile. Denn wer über das siebenzigste Jahr hinaus sich noch eine Grabesstraße anlegen will, der darf nicht lange fackeln lassen.

Dezimus hatte diesen Zusammenhang bald genug erfahren. In seiner Phantasie aber schwebte das weiße Fräulein, so wie er es zum letzten Male aus seinem Geburtshause hatte treten sehen, als Engel des Trostes über der erneuerten Stätte. Und mit dem natürlichen Wege, auf welchen jener stille Blick wie ein Leitstern ihn gewiesen hatte, soll seine Knabenstufe abgeschlossen sein.

[236]

Der Kampf am Jugendhimmel

[237] [239]Und wieder ist nahezu ein Stufenjahr zurückgelegt; solch eine Spanne, in welcher die Knaben Jünglinge, die Männer Greise werden, die Greise ihre Augen schließen, und deren sachter Wandel in dem Pfarrhause von Werben nichts geändert hat, als daß nur noch zwei Kinder darin glücklich sind. Aus dem Röschen ist eine Rose geworden, die holdeste Blüte in Konstantin Blümels Töchtergarten; Bruder Dezimus, nach wie vor ein frisches Hirtenblut, ist fortgeschritten auf ebener Bahn und steht jetzt dicht vor jener hohen Schwelle, die aus der Vaterhut in die Freiheit führt.

Kurze Zeit nach der Gutsherrin Wiederabreise hatte der Propst an Pastor Blümel die Bitte gerichtet, seinen Pflegesohn den mathematischen Unterricht mit Martin, dem ältesten der Hartensteinschen Kinder und vier Jahr mehr zählend als Dezimus, teilen zu lassen. Der Vater machte kein Hehl daraus, daß dem Knaben alles Lernen ohne treibenden Sporn schwer falle. Sei nun bisher Schwester Lydia selber in alten Sprachen seine Studiengenossin gewesen, so müsse auf deren Teilnahme bei jener strengen Disziplin doch füglich verzichtet werden; und eben in ihr wäre eine bedeutendere Ausbildung geboten, da Martin sich für die militärische Laufbahn entschieden habe.

»Der Verzicht, ihn zu einem Diener unseres Amtes heranzuziehen, ist mir hart angekommen,« äußerte der Propst. »Leider aber hat er die schmiegsame Natur seiner Mutter geerbt, und was zu anderer Zeit paradox klingen würde, für die heutige gilt, daß der geistliche Stand mehr Energie erheischt als der des Soldaten. Der letztere schließt die Selbständigkeit aus, welche jener bedingt. Mein zweiter Sohn mit seinem lebhafteren Temperament wird, will es Gott, die Hoffnung erfüllen, die ich auf den ältesten gesetzt hatte. Ich hätte Martin nun gern bis nach seiner Konfirmation [239] unter der Zucht meines Hauses erhalten; schlügen Sie mir meine Bitte indessen ab, würde ich mich genötigt sehen, ihn schon jetzt dem Hannoverschen Alumnat einzureihen, in welchem er bis zu seinem Diensteintritt weitergebildet werden soll. Auf eine in äußerem Betracht sich ja empfehlende Erziehung in unserem Kadettenhause, wie meine Brüder und ich selbst sie genossen haben, muß ich aus Gründen, die zu erörtern überflüssig sein würde, verzichten.«

Pastor Blümel erspürte in diesem Anerbieten Fräulein Thusneldens nachwirkenden Einfluß, gab aber um so williger seine Zustimmung, da auf diese Weise die bedenkliche Lücke in seinem eigenen Unterricht ausgefüllt wurde. Und so hatte der Quatermillionenjunge an diesem Tage zum letzten Male auf Kantor Beyfußens Schulbank gesessen, um fortan als mathematischer Kumpan Martins von Hartenstein in dem suspendierten Magister Klein einen tüchtigen Lehrmeister zu finden.

Von den übrigen Schloßbewohnern sah er während dieser regelmäßigen Unterrichtsstunden wenig; in dem treuherzigen Martin aber fand er einen Freund für das Leben, und zwischen den Familien der beiden Freunde wurden teilnehmende Beziehungen angebahnt; vornehmlich zwischen Röschen und Martins beiden jüngeren Schwestern; das weiße Fräulein war und blieb für das frohmütige Pfarrtöchterchen zu still und ernst oder, wie Röschen selbst es nannte, zu alt und klug.

Als nach etlichen Jahren Martin in das strenglutherische Alumnat abging, war auch Dezimus reif für die höheren Gymnasialklassen geworden. Es würde seinem Pflegevater leicht geworden sein, ihm eine Freistelle in Schulpforta zu erwirken, sehr schwer dagegen, sich schon jetzt von seinem Sohne zu trennen. Nicht mehr aus Gewissenssorge wie [240] einst, aus reiner Vaterfreude wollte er ihn so lange als angänglich unter seinen Augen behalten und wenigstens der Repetent seiner Studien in den alten, lieben Heiden bleiben. Da das einstige Kloster, welches der baubeflissene Eidam räumlich umgeschaffen, sich auch geistig als eine lichtvolle Lehrstätte bewährt hatte, trabte Dezimus fortan jeden Morgen seelenvergnügt nach der Stadt und kehrte jeden Nachmittag seelenvergnügt heim in sein Dorf, rückte gesetzmäßig von Stufe zu Stufe, und alle Zeichen deuten darauf hin, daß er auch fernerweitig seelenvergnügt und gesetzmäßig emporrücken werde, wenn er zum nächsten Herbstsemester, ausgerüstet mit dem Werbenschen Stipendium, als Studiosus der Gottesgelahrtheit in die Stadt einzieht, in welcher er zum ersten und einzigen, aber hoffentlich nicht zum letzten Male den Sternenhimmel durch ein großes Rohr betrachtet hat.

Bei dem gelehrten Professor Zacharias wird er dort allerdings keine Kollegia hören können – was Vater Blümel nicht im entferntesten beklagt –, und in der Frau Professorin Zacharias wird er keine sorgliche Heimatsfreundin wiederfinden; was Mutter Blümel auf das tiefste beklagt, um ihres Sohnes willen, aber auch um der Frau Professorin willen. Denn die Gegenströmung, welche, wenn die alte Gutsherrin recht hatte, er selber deutlich vorausgewittert, hatte den freisinnigen Kritiker geheiligter Überlieferungen von seinem Lehrstuhl gescheucht – lange vor der Zeit, wo die reiche Erbstätte seiner Gattin ihm eine Zuflucht hätte bieten können und ohne daß von dieser einstigen Erbstätte aus ihm in der Gegenwart eine Nothülfe geboten worden wäre.

Johann Mehlborn wirtschaftete unermüdet weiter manches Jahr, nachdem der königliche Greis, als dessen [241] Stellvertreter er am Tauftische des Werbener Hirtensohnes gestanden hatte, in die Gruft gesenkt worden war; er erwirtschaftete sich sogar ein drittes Rittergut zu den beiden ersten; aber die einzige Erbin, für die er sie erwirtschaftet hatte, ließ er Mangel leiden, weil sie selbst und der Gatte, welchen sie sich erkoren, nicht Hand in Hand mit ihm wirtschaften wollten und konnten. Und doch nagte dieser Mangel schärfer an ihm selbst als an denen, welchen er ihn auferlegte. Es gab im weiten Umkreis keinen friede-und freudeärmeren Menschen als den reichen Johann Mehlborn. Wie ein grimmiger Höhlenbär trottete er brummend unter Gottes freiem Himmel umher, zwischen den unübersehbaren Feldgebreiten, die er sein eigen nannte.

Eine schweizerische Hochschule hatte den Professor Zacharias aufgenommen. Wie aber im monarchischen Vaterlande nicht gegen die Ungunst von oben, so vermochte er im republikanischen Auslande nicht gegen die Ungunst von unten seine Forschungen als Lehrstoff zu verwerten. Er lebte nur noch von schriftstellerischen Arbeiten und war Manns genug, keine seiner Konsequenzen zu unterdrücken, obgleich das Publikum – auch darin hatte die alte Harfenkönigin richtig vorausgespürt – ihm nicht mehr goldene Früchte ernten ließ.

Auch seine Gattin hatte um des lieben Brotes willen zu der Feder gegriffen und erzielte durch populärwissenschaftliche Elaborate, zumeist pädagogischen Inhalts, einen Ertrag, welcher der praktischen Frau eine leidlich bequeme Hausführung ermöglichte. In dieser gemeinsamen Beschäftigung, aus gleichem Grundquell und in gleicher Richtung, wennschon die Zielpunkte der Frau die Höhe der männlichen nicht erreichten, fühlte Frau Brigitte sich in ihrer eigensten Sphäre, und ihre zweite Ehe wurde in [242] Wahrheit eine Musterehe, – obgleich oder weil dieselbe kinderlos blieb.

Die kleine Sidi war bis heute bei der Großtante in Rom geblieben und schwamm in deren kühlem, klaren Element wie eine Forelle im buntumblühten Bach. Hätte ihr Mäxchen an ihrer Seite schwimmen dürfen, würde niemals ein glücklicheres Kind als dieses arme, verunstaltete Geschöpf zur Jungfrau herangewachsen sein. Jene einzige Herzenssehnsucht blieb ihr indessen ungestillt; sie hatte den Bruder nicht wieder gesehen, seitdem er als vorzeitiger Karbonari von der alten Harfenkönigin dem bräutlichen Hause seiner Mutter entführt worden war.

Er jedoch wie sie in eine ihm zusagende neue Welt. Da er weislich dem Gelüste entsagte, sich der in diesem geknechteten Jahrhundert einzig freien und dabei nobelen Menschengattung zuzugesellen, wurde das Experiment ihm erspart, das die alte Dame lachend gebilligt hatte. Er war nicht als verlorener Sohn reuig heimzukehren gezwungen, nicht durch Not zur Vernunft gebracht, und der Brotkorb ihm nicht allzuhoch gehängt worden; freilich aber auch Konstantin Blümels Liebesschule hatte er nicht kennen lernen. Ein kurzer Aufenthalt im Bereiche seines geistlichen Oheims, dessen gleichalteriger Sohn in Fassen und Wissen tief unter ihm stand, hatte genügt, eine Koststelle in einem adeligen Erziehungsinstitute Dresdens ihm äußerst anziehend erscheinen zu lassen; auch hinderten die republikanischen Antezedentien des Tertianers den nunmehrigen Sekundaner keineswegs, sich unter hocharistokratischen Kameraden recht von Grund aus wohlzufühlen.

So unangemessen den Grundsätzen der Mutter dieser Bildungsgang sein mochte, sie war für den Augenblick zu sehr durch ihre persönliche Lebenswendung in Anspruch [243] genommen, um sich nicht einen Ausweg gefallen zu lassen, der ihr nach der drängendsten Seite hin Freiheit gewährte. In ihrer Nähe konnte sie nach den kindischen Vorgängen den Sohn nicht halten, so gab sie in bezug auf ihn dem Rate der klugen alten Weltfrau nach, wie sie schon in bezug auf die Tochter demselben nachgegeben hatte.

Brigitte von Hartenstein war nicht eine zärtliche, aber auch keineswegs eine gleichgültige Mutter; so, wie sie zu lieben vermochte, liebte sie ihre Kinder und nur sie auf der Welt. Die Sorge für ihre Kinder war es zumeist, welche sie zu der Verbindung mit einem redlichen, geehrten und äußerlich wohlgestellten Manne bewog, und sie irrte nur, indem sie die kindlichen Bedürfnisse ihren eigenen gemäß erachtete.

Denn kein schwierigeres Verhältnis, in welches eine pflichtvolle Frau sich zu stellen vermag, ist auszudenken, als wenn sie ihren Kindern einen Stiefvater gibt; unberechenbar schwieriger als das, selber Stiefmutter zu werden. Hier hat sie sich der von Natur und Sitte gesetzten Autorität des Mannes zugunsten fremder Kinder zu unterwerfen, dort vielleicht zuungunsten ihrer eigenen. Nun war es Brigitten aber beschieden, in der Verbindung mit ihrem zweiten Gatten ihr volles Genügen zu finden; ein geistiges Ineinanderziehen, das in ihrem natürlichsten Verhältnis um so mehr eine Lücke entstehen ließ, als das, was Sehnsucht heißt, ihrem Gemüt ein fremdes war. Dazu der räumliche Wechsel und eine Lage, die ihr bald genug Beschränkung und konzentrierte Arbeit zur Pflicht machten, wenngleich die Arbeit zu einer genußvollen Pflicht.

Nur so ist zu erklären, daß das, was lediglich einen Übergang erleichtern sollte, zur dauernden Entfernung und wenigstens von der Kinder Seite zur völligen Entfremdung [244] werden durfte, und daß die Frau, welche ihr Mutterrecht so eifrig gewahrt hatte – die Anhängerin des kategorischen Imperativs, welche gelehrte Traktate über die Erziehungskunst veröffentlichte! –, die ihren Kindern angemessene Ausbildung fremden Einflüssen und fremder Unterstützung überließ. Sie vermochte zurzeit dem Sohne Hilmars von Hartenstein nur zu bewilligen, was sie dem Sohne von Thomas Zacharias bewilligt haben würde. Darüber hinaus sorgte die alte väterliche Verwandte, und die Mutter wußte vielleicht nicht einmal, wie weit diese Sorge ging.

Nachdem sie indessen durch innere wie äußere Notwendigkeiten sich zu diesem Abweichen von vernunftgemäßen Satzungen hatte drängen lassen, durften die Resultate dieser Inkonsequenz sie wohl zufriedenstellen. Beide ihre Kinder waren glücklich; daß sie es nicht durch sie waren, diese Kränkung – falls sie überhaupt als solche empfunden worden wäre – würde sie als Regung von mütterlichem Egoismus überwunden haben, und konnte ja wohl auch das Glück, welches einem verehrten Manne durch sie gewährt ward, sowie ihr eigenes Wohlbefinden dafür entschädigen. Die Zeugnisse ihres Sohnes priesen ihn als ein Genie. In einem Alter, wo andere erst die Prima erreichen, ging er zu juristischen und kameralistischen Studien ab nach der Universität; der aristokratischen Vorschule entsprechend, zu der am Rhein, welche man jenerzeit eine Prinzenakademie zu nennen begann. Es folgten ein paar Semester in der Hauptstadt, und das Doktorexamen, das mit Auszeichnung bestanden ward, krönte die flugartige Entwicklung.

Daß es der Krone aber auch nicht an einer modischen Perle fehle, entzündete dieser universale Wunderjüngling durch sprühende Liederfunken die vaterländischen Herzen, [245] die mehr denn jemals lyrisch empfänglich waren, so wie eine Flamme, bevor sie erlischt, noch einmal hell aufzulodern pflegt. Seltsamerweise indessen zündeten am lebhaftesten nicht die erotischen Ergüsse, für welche es dem Dichter, trotz seiner Jugend, doch keineswegs an Stimmung und Erfahrung gebrach, sondern die Hymnen stolzer Freiheit, für welche er an Stimmung und Erfahrung zwar auch keinen Mangel litt, aber doch vielleicht nicht in dem Sinne, in welchem er sie besang; ja sie entzündeten sogar das hohe Publikum seines Lebenskreises und vor allen dessen weibliche Hälfte.

Der Dichter von Hartenstein trug um diese Zeit, als freiwilliger Husar, eine der blitzendsten Uniformen der Armee. Aber keiner seiner loyalen Kameraden nahm Anstoß an seinem schwungvollen metrischen Barrikadenbau. Irgendeinen Gegenstand muß ja der Dichter zum Vorwurf haben, und so wußte man einen fiktiven Tyrannenhaß von einem effektiven zu unter scheiden. Ein junger Kavalier von altritterlichem Namensklang und neuritterlicher Lebensart, ein freiwilliger Husar, welcher der einzige Enkel eines Großgrundbesitzers ist und sich außerdem auf eine steinreiche und steinalte Erbtante berufen darf, erfreut sich nicht bloß in materiellem Betracht eines weittragenden Kredits; abgesehen davon, daß der Modestrom einem Lustrum gefällig macht, was einem anderen verwerflich dünkt.

Über die Richtung, welche er für die Zukunft einzuschlagen habe, war der junge Baron noch im Schwanken. Sollte er, der Tradition seiner Väter gemäß, die militärische Laufbahn fortsetzen oder, dem Rate der gelehrten Mutter und selber dem der alten Künstlerin gemäß, die staatsmännische erwählen, für welche seine Studien und Verbindungen ihn glänzend vorbereitet hatten? Am nächsten [246] lag es, in der Freiheit eines Gentleman und in ästhetischer Universalität der Jugend goldenen Tag zu genießen und unter frohem Wechsel zu erwarten, was das Glück seinem Günstling mühelos in den Schoß werfen werde.

Der klangvolle Tenor seiner Poesien hatte einen Widerhall gefunden selbst in dem unpoetischen Gemüt der Mutter. Nach so vielen Schönen, Tapferen, Lebensfrohen seines Geschlechtes gab es zum ersten Male, schön und lebensfroh auch er, einen Genialen, einen Dichter von Hartenstein, und dieser Auserwählte war ihr Sohn! Wie hätte ihr Herz nicht in stolzer Freude und Erwartung schlagen sollen! Wiedergesehen hatte sie ihn nur ein einziges Mal während einer schweizerischen Ferienreise und, wenngleich nur flüchtig, hinreichend lange wenigstens für sein Bedürfen. Auch waren seine Briefe nur seltene und kurz; um so länger und lehrreicher dagegen die ihren.

Auch »auf seinen Gütern«, wie er den Werben-Mehlbornschen Komplex nicht nur nannte, sondern allen Ernstes a priori betrachtete, hatte der junge Herr seit jenem unfreiwilligen Knabenaufenthalte sich weder sehen noch jemals von sich hören lassen. Hätten nicht Frau Zacharias und Fräulein Thusnelda in Briefen an Pastor Blümel seiner regelmäßig erwähnt, würde er dort, wo naturgemäß seine Heimat war oder doch eines Tages werden sollte, spurlos vergessen worden sein. Diese Briefe jedoch nährten in der Seele des ihm so ungleichartigen Hirtensohnes eine bewunderungsvolle Erinnerung, ja steigerten diese zu einem heroischen Phantasiegebilde, und wo wäre ohne solches Phantasiegebilde ein Knabe jemals zu einem tüchtigen Manne geworden? Max von Hartenstein war und blieb das glänzendste Gestirn an Dezimus Freys Frühlingshimmel, und wie er in der holden Venus, wenn sie im [247] Morgendämmer der Sonne vorleuchtete, sein fröhliches Röschen sah, und wenn sie im Abenddämmer der Sonne nachleuchtete, die treue Lydia, lange nachdem er wußte, daß es der nämliche Wandelstern sei, welcher die hohe Himmelskönigin umkreise, so sah er in dem herrlichen Jupiter seinen Max.

Aber noch in einem anderen ebenso ungleichartigen Gemüte hatte das schöne junge Menschenbild eine unverlöschliche Spur hinterlassen. Auch dem stillen weißen Fräulein hieß alles, was Freude weckt, Max. Sooft sie Dezimus begegnete, schlug sie den beiden so wohlklingenden Namen an. Sie tat es ruhig, auch vor Zeugen ohne künstliche Umhüllung, einfach, wie sie allezeit war. »Hat Frau Zacharias Maxens erwähnt? Schreibt Tante Thusnelda, wie sich Max in Bonn gefällt?« Oder auch: »Wissen Sie noch, Dezimus, wie schön Max diese Ballade deklamierte, jenes Volkslied sang?«

Und wenn Dezimus nun jeden Laut noch wußte, jeder Bewegung sich erinnerte, wenn er mit sonst ihm keineswegs eignender Geläufigkeit berichtete von den riesenmäßigen Fortschritten, den glänzenden Zeugnissen, den Erfolgen seines Idols, dann röteten sich leise der Hörerin bleiche Wangen, und die großen graublauen Augen färbten sich gleich den dunkelsten Hyazinthenblüten.

»Nicht wahr, Sie haben ihn auch lieb, Fräulein Lydia?« fragte Dezimus dann wohl, und: »Sehr lieb« antwortete Lydia in ihrer natürlichen Weise.

Durch dieses gemeinsam gepflegte Andenken hatte sich zwischen Lydia und Dezimus eine Art von Verhältnis gebildet, das sich aus der Kinderzeit in die der Erwachsenen hinüberzog und nur insofern eine Heimlichkeit war, als kein Dritter sich gläubig genug erwies, ihren Kultus zu [248] teilen. Wie auch Fernstehende sich Freunde nennen, wenn sie einen Helden, einen Dichter oder Künstler mit gleicher Inbrunst verehren, so machte das Traumbild »Max« das Fräulein und den Hirtensohn zu Freunden, indem es sie über den trennenden Unterschied der Jahre und Verhältnisse hinweghob.

Nun aber entpuppte sich aus dem Traumbild der Dichter mit seinen greifbaren Stanzen und Terzinen; Dezimus schwärmte für diese feuriger als für irgendeine Ode des Horaz, und wenn die Tiefe des Sinnes ihm mitunter unergründlich, der Schwung der Bilder ihm zu hoch bemessen war, so schlug der Rhythmus des Lautes doch wie Musik an sein Ohr, und er schmetterte ihn, ohne einer Melodie zu bedürfen, mit seinem sich just zum Baß umsetzenden Alt hinaus in die wonnige Frühlingsluft.

Die reifere Lydia dagegen wollte fühlen, was ihr klang, und was sie fühlte, wollte sie verstehen. Sie hatte nicht nur ein fein musikalisches Ohr, sondern mehr noch ein tief musikalisches Herz, dem schon für manches liebe Lied eine Melodie aufgegangen war. Die des liebsten von ihnen: »Wenn alle untreu werden« sang sie ihrem Vater jeden Abend an der kleinen Orgel im Ahnensaale vor. Wie sie aber auch sinnen mochte, für keines von Maxens Gedichten fand sie im Herzen oder auch nur im Ohr eine Melodie; und wenn ihr Vater dieselben mit einem seinem sangeskundigen Meister nachgebildeten Kraftworte »Sprühteufel« nannte, so tat ihr das zwar weh, aber sie widersprach ihm nicht, wie doch Dezimus es wagte, wenn sein Pastorvater sie lächelnd »Strohfeuer« nannte.

So lockerte denn bis zu einem gewissen Grade der Dichter den Freundschaftsbund, welcher über dem Traumbild geschlossen worden war; mehr denn jemals indessen nistete [249] in dem Freunde die Vorstellung sich ein, so ein Etwas, das man Kinderweisheit nennt, daß diese herrliche weltfremde Jungfrau zu diesem herrlichen weltstürmenden Jüngling notwendig gehöre wie, ei nun, wie etwa der standfeste Dezimus zu seinem neckischen Rosenschwesterchen oder, in seine Sternensprache übersetzt, wie ein Mond zu seinem Planeten gehört.

Lydia hatte bei neunzehn Jahren, in kaum merklichen Übergängen, sich zu einer Erscheinung entfaltet, so wie ein Zögling Konstantin Blümels, der niemals ein gemeißeltes oder gemaltes Bild gesehen hat, das Schönheitsideal sich träumt, der Leib der Seele Überguß. Für Konstantin Blümel selbst aber, den Greis mit dem Dichterherzen, wenn er die hohe, keusche Liliengestalt, den gebeugten Vater am Arm, langsam die Terrassen auf und nieder schreiten sah, nur für seine Schonung besorgt, ihr Blick nur an seinem hangend, das Bild der erfülltesten Kindesliebe, für Konstantin Blümel verwandelte sie sich in die Tochter des blinden Thebanerkönigs, von allen klassischen Heidengestalten ihm die rührendste.

Und wohl trug sie Antigones Los in diesen Frühlingstagen. Ihr Höchstes, Teuerstes, ihr Vater, litt schwer, seine Kraft war gebrochen, scheinbar plötzlich, aber aus altem Keim. Es krankte sein Herz, auch was der Arzt so nennt; jachen Erstickungskämpfen folgte Todesmattigkeit.

Der Wechsel im Regiment, auf welchen der eifrige Mann so zuversichtlich gerechnet, hatte sich seit Jahren vollzogen, ohne seine Erwartungen zu erfüllen; während Professor Zacharias der öffentlichen Wirksamkeit entsagen mußte, war von der seines Antagonisten der Bann, stillschweigend wie er auferlegt ward, genommen worden; aber als Duldung, nicht als Triumph, und gering auch nur war die [250] Zahl der Getreuen, welche die Satzung der Toleranz vorgezogen hatten. Herber hätte ein Mann wie Joachim von Hartenstein nicht enttäuscht werden können. Sollte er seiner stolzen Zurückgezogenheit entsagen, um ein Sektenpriester zu werden?

Dennoch würde er sich noch einmal in den Streit der Welt gewagt haben, wenn jenes zunehmende Körperleiden ihn nicht so empfindlich gehemmt hätte. Nun ergriff ihn eine Unruhe, die ihn heute vorwärts drängte, morgen zurück, und es war nicht der Aposteleifer allein, der in ihm rang, es war, wenn auch nur wenige es ahneten und nur die Tochter, seine vertraute Geschäftsführerin, bis zu einer gewissen Grenze es wußte, es war die Vatersorge.

Seine apologetischen Schriften hatten ihn noch weniger goldene Früchte ernten lassen als die kritischen des Professor Zacharias; nicht das gedruckte Wort, das gesprochene war seine Stärke. Von Jahr zu Jahr in der Zuversicht einer demnächstigen Rehabilitierung, hatte das Stilleben in Werben, so beschränkt es der Familie nach ihrem früheren Zuschnitt erschien, den Rest des mütterlichen Vermögens bis auf einen verschwindenden Bruchteil aufgezehrt, der berufene Ernährer aber sah sich alternd, krank, verlassen und von fünf Kindern nur den ältesten Sohn, der kürzlich Offizier in einem Infanterieregimente geworden war, notdürftig versorgt. Der stolze Mann, der nach seines großen Meisters Vorbild zeitliche Güter so gering geachtet hatte, nun wurde er um zeitlicher Güter willen »zwischen Tod und Hölle« hin und her geworfen und der Gedanke des Lebens wie des Sterbens ihm zu gleicher Marter.

In solchen zweifelhaften Zuständen schwebten, außerhalb des Pfarrhauses, fast alle Menschen, zu welchen Dezimus liebend und ehrerbietig in die Höhe blickte, ja schwebte in [251] gewissem Sinne auch er selbst, da er binnen kurzem aus der Heimat scheiden sollte, als unerwartet die Kunde von dem Ableben der greisen Gutsherrin in Werben eintraf.


Der junge Doktor von Hartenstein hatte die Todesbotschaft dem Justitiarius zukommen lassen, zum Zweck der Mitteilung an die Familie und der Maßnahmen für die demnächstige Beisetzung. Er selbst war im Begriff, nach Rom abzureisen, um seine Schwester heimzugeleiten. Über das Ende seiner Verwandtin berichtete er nur flüchtig, daß es ohne vorhergehendes Krankenlager, bei klarem Bewußtsein erfolgt sei. »Warum kann solch ein schönes Leben nicht von vorn angefangen werden!« wären ihre letzten Worte gewesen. Sie hätte für die Einbalsamierung ihres Leichnams und für den aufzulösenden Hausstand exakteste Vorschriften hinterlassen, wie denn auch schon bei ihrer kurzen Anwesenheit vor neun Jahren in dem Archiv des Schlosses die Anordnung ihrer Bestattung niedergelegt worden, von welcher nun unverzüglich Kenntnis zu nehmen sei.

Im Umkreis der Heimat hatten nur wenige die Abgeschiedene gekannt, keiner sie geliebt; und wie kleinlaut äußert sich denn überhaupt die Totenklage um einen Achtziger, auch wenn er gekannt und geliebt worden ist? Um so lebhafter beschäftigte man sich mit den äußeren Veränderungen, welche der Todesfall nach sich ziehen mußte. Konjektur über Konjektur bei hoch und gering; nur Pastor Blümel versenkte sich mit Innigkeit in das entschwundene Leben – schon um der Parentation willen, welche der Würde wie der Wahrheit gemäß abzuhalten er nicht nur als Pfarrer, sondern mehr noch als Vertrauensmann, den sie Freund genannt hatte, verpflichtet war.

Wie er aber auch sinnend ihre Spur verfolgen, wie er [252] ihre Briefe durchgrübeln mochte, es wollte ihm nicht gelingen, die Widersprüche dieser Natur zu einem Kettenschluß ineinanderzufügen: den scharfen Verstand und die Bizarrerien; das gütige Bezeigen und den Mangel an Liebe; den weichen Künstlersinn und die ätzende satirische Ader; die Unfähigkeit zum Glauben und das Bedürfnis, jegliches wahrhafte übersinnliche Streben zu ergründen und zu ehren; die unverwüstliche Daseinslust und die Bereitwilligkeit aufzuhören. Sooft Konstantin Blümel bei eines Menschen Tode die Magie seines Lebens erspürt hatte, hier fand er die Zauberformel nicht. Nun ja, ihr fehlte das Organ für den Schmerz. War es aber darum allein, daß die glückliche Harfenkönigin sich ihm nicht zu einem Dichtergebilde verklärte wie einst das elende Hirtenweib?

Indessen hatte in seinem Pfarrbereich ein lebhaftes Treiben Platz gegriffen. War die Kirche selbst von innen und außen schon vor Jahr und Tag säuberlich hergestellt worden, hatten selbst die ehrwürdigen schwarzen Herren am Altar sich eine Wäsche und einen aufmunternden Pinselstrich gefallen lassen müssen, so galt es nun schleunigst, die Gruft unter der Kirche zum Empfang des letzten Herbergsgastes würdig zu erneuern. Alle Hände voll waren zu tun, um den modernden, kellerartigen Raum in ein blaues Himmelsgewölbe umzuwandeln, es mit goldenen Sternen zu besäen, bunte Fensterscheiben einzulassen, den Fußboden mit Granitplatten zu belegen, die alten Särge aufzupolieren und, wo selbige mürbe geworden, in neue Gehäuse einzukapseln. Kein Pünktchen über dem I war in der eigenhändigen Vorschrift ausgelassen.

Sobald der Sarg in die Gruft gesenkt worden, sollte die goldene Harfe darauf befestigt und ihm zu Häupten [253] eine Marmorstatue aufgerichtet werden, welche, unter den Jugendzügen Thusneldas von Werben, die Muse der Tonkunst darstellte und, von dem ersten Meister der Zeit gefertigt, der Stolz des gastlichen Hauses in der Ostraallee, möglicherweise auch noch dessen am Monte Pincio gewesen war. Dies aber geschehen, sollte unverweilt, an Stelle der Falltür, die Gruft durch eine Steinplatte für alle berechenbare Zeit geschlossen werden.

»Denn,« so erläuterte die Verordnung, »kein Mensch von heute oder morgen hat ein Interesse daran, diese Stätte der Verwesung wieder zu betreten. Wenn aber nach Jahrhunderten vielleicht – durchaus kein beklagenswerter Schade! – der Oberbau in Trümmer gelegt sein wird, sei es durch verjüngende Barbarenhorden, sei es allein durch die verjüngende Barbarei der Zeit; und wenn, nach Jahrtausenden vielleicht, von den Forschern einer neuen Kulturepoche dieser Trümmerhaufe durchwühlt werden wird, dann soll das, was heute an die Vergänglichkeit mahnt, als ein Merkmal des Unsterblichen auf Erden entdeckt und gewürdigt werden.«

Die stärkste Spannung erregte das Testament, das vor der letzten Abreise nach Rom in Dresden niedergelegt worden war und vorschriftsmäßig jetzt von dort an das Patrimonialgericht ausgehändigt wurde. Als Termin für die Eröffnung war die alte Sitte einer Monatsfrist vom Tage des Todes ab auf die von dem der Bestattung hinausgeschoben worden. »Ein Schabernack, dem alten Spottvogel leichtlich zuzutrauen. Die erblustige lachende Sippe wird aus weiter Ferne auf den Trab gebracht und schließlich ihr ein Schnippchen geschlagen.« So legte nämlich der Judex Hecht, der selbst ein arger Spottvogel war, jene Aufschubsklausel aus, und zwar auf Grund der Aufschrift [254] des Testamentes, die folgendermaßen lautete: »Zu publizieren im Ahnensaale von Werben, durch den Justitiarius von Werben, in Gegenwart ad eins: der Mitglieder der Familie von Hartenstein, insofern selbige dem Geschlechte der Werben blutsverwandt oder verschwägert sind und Verlangen hegen, den letzten Willen der letzten Namensträgerin zu erfahren. Ad zwei: des Ortspfarrers von Werben, insofern am Tage der Publikation der jezeitige Herr Konstantin Blümel noch im Amte stehen oder aber dessen Pflegesohn Dezimus Frey ihm in diesem Amte nachgefolgt sein sollte.«

Nun, hinsichtlich dieses letzten »Oders« hatte die lebenslustige Testatorin ihre Dauerkraft freilich um viele Jahre überschätzt; in Mutter Hannas Herzen aber hatte das »Oder« den Johannissegen gewaltig ins Kraut schießen lassen. Sollte ihr braver Dezem bloß auf dem Testamente stehen und nicht auch darin? Ihr Konstantin belächelte den Aberglauben. Wollte es ihm auch nicht gelingen, den Kitt der einzelnen Seelenteile seiner weiland Patronin klärlich zu analysieren, das Totale, zu welchem die widersprechenden Teile sich so oder so verkittet, hatte er hinlänglich erfaßt, um zu wissen, daß sie nur einen Bluts- oder Kunstgenossen würdig erachtet haben werde des Erbes, auf welchem die heitere Freiheit ihres Lebens wesentlich beruht hatte. Aber einen Vertrauensakt sah er in der Berufung, mutmaßlich ein Bürgenamt für irgendwelches heikle Kommissorium. Und dieses ehrende Zeugnis von Herzenskunde galt Konstantin Blümel als das kostbarste Legat auch für den Jüngling, den er auf seinen Boden verpflanzt hatte.

In des Propstes Zustande trat seit Eintreffen der Todesbotschaft eine auffällige Besserung ein; seine Haltung hob [255] sich, vor den Blicken sank ein Nebel, die Schritte wurden elastisch wie einst.

»Niederschlagendes Resultat!« sagte Pastor Blümel mit einem tiefen Seufzer, »wenn unter dem Druck der Erdgewalten der Idealist dahin gelangt, von einem Lotteriegewinst den Frieden für sein Leben und Sterben zu erwarten.«

Die Beisetzungsangelegenheiten führten Herrn von Hartenstein wiederholt in das Pfarrhaus; er war mitteilsam wie noch nie; einmal äußerte er sogar, daß er seine Tage in der ihm liebgewordenen Stille von Werben zu beschließen gedenke, für den wahrscheinlichen Fall, daß dessen Besitz auf seine Gattin als nächste Erbin übergehe.

Lydia begleitete den Vater regelmäßig bei diesen Besuchen; in ihren Augen leuchtete ein Widerstrahl von seinem neuen Leben, und noch eine zweite Hoffnung zauberte auf ihre Wangen den einstigen Anemonenhauch. Ihr Bruder Martin war bereits zu der Bestattungsfeier eingetroffen; und durften denn nicht auch Sidonie und Max für sie erwartet werden, um voraussichtlich bis zur Testamentseröffnung zu verweilen? Ein voller Monat Freude!

Freund Martin strahlte im neuen Glück der Epauletten; er kam jeden Tag ein paarmal auf die Pfarre stolziert und machte natürlich, seiner Weltstellung entsprechend, Röschen den Hof.

»Ist die aber reizend geworden!« sagte er mit der Miene heimlichen Vertrauens, aber einer Stimme, als ob er seine ersten Rekruten kommandierte. »Dich nicht in die zu ver lieben! Dezimus, bist du denn von Stroh?«

»Ich liebe sie ja,« versetzte Dezimus stillvergnügt.

Röschen dahingegen sagte: »Ein guter Junge, dein Martin. Aber wie kommt es nur? Die Zeit wird mir[256] mit ihm greulich lang, und mit dir, alter Dezem, wird sie es doch nicht.«

»Das kommt: der Martin schwätzt, und Dezem hört dir Plaudertasche zu,« erklärte lachend Mutter Hanna. Denn unter vier Augen betrieben Röschen und Dezem ihre Schmeichelreden und Zärtlichkeiten nicht. Eifersüchtig auf den Leutnant konnte sonach der Primaner aber auch nicht werden.

Häufig brachte Martin seine beiden jüngeren Schwestern, Priszilla und Phöbe, mit; da wurde denn wie zu Kinderzeiten im Garten getollt oder auch in der Wohnstube ein Tänzchen gemacht. Peter Kurze gab den erforderlichen dritten Partner ab, und Peter Kurze war ein gewaltiger Springer vor dem Herrn, trotz eines Fettbäuchleins schon in Schülerjahren.

Und so ist denn die Reihe der Vorführung endlich auch an Peter Kurzen gekommen, der in der Geschichte eines Glücklichen nicht nur eine Rolle zu spielen haben wird, sondern auch selber ein Glücklicher war, zweifelsohne besser als der andere geeignet zur Heldenrolle in einer Geschichte, die in erster Ordnung doch unterhalten soll. Als jüngster Sohn des seligen Amtsbruders von Bielitz, daher Luischens Schwager, und als eine kreuzfidele Haut war er Dezems Intimus auf der Schule geworden, und die Pfarrtür von Werben stand allezeit gastlich vor ihm offen. Wenn sie ihm aber auch ungastlich vor der Nase zugeschlagen worden wäre, würde er durch die Hintertür wieder eingeschlüpft sein und gerufen haben: »Da bin ich, Peter Kurze, ich, ich, ich!« Denn blöde war Peter Kurze eben nicht. Wo er einen Schornstein rauchen sah, dachte er: Hier ist gut sein! Hatte Dame Fortuna just nicht splendid für ihn gesorgt, so sorgte er um so beflissener für sich selbst [257] und schob sich als armer Teufel äußerst vergnüglich durch die Welt.

Da er ein paar Jahr mehr als Dezimus zählte, war er heuer bereits als medizinischer Fuchs zu den Ferien eingesprungen und prangte nun erst recht in der Glorie der lustigmachenden Person. Daß er in seiner Manier nicht weniger als der Leutnant in der seinen dem Pfarrröschen »die Cour schnitt«, verstand sich, wie er selbst es ausdrückte, »am Rande«. Aber – glückselige Organisation für einen Primaner! – auch der Doktorin spe machte Dezem keine Herzbeklemmung.

Vater Blümel wollte freilich das Tanzen, in Erwartung einer Verwandtenleiche, nicht geziemend finden, seine Hanna aber sagte:

»Gönne doch den armen Dingerchen den ersten Luftzug der Freiheit, wer weiß, lieber Konstantin, wer weiß, wie bald ihn ein Trauerhauch verweht.«

Damit schlug sie einen Schottischen an, und die drei Paare hopsten seelenvergnügt rundum; am vergnügtesten die beiden Fräulein. Bei dem flinken Pfarrröschen aber hatte auf diesen ländlichen Bällen der Leutnant entschieden das Prä.

Lydia begleitete die Geschwister niemals. Sie ließ den Vater nicht allein. Ihr jüngster Bruder, Philipp, hatte das Scharlach gehabt, und die Mutter würde nicht um die Welt die Krankenstube vor den gesetzmäßigen sechs Wochen verlassen haben. Den siechen Gatten wußte sie ja unter der Tochter Augen wohlversorgt.

Eines Nachmittags, als das junge Volk im Pfarrgarten wieder einmal recht übermütig den Plumpsack walten ließ, kam Lydia aber dennoch ohne den Vater den Geschwistern nach, gegen ihre Art in ängstlicher Aufregung. Die Kammerfrau [258] der Tante hatte von dem Hafenplatze, wo die Ausschiffung der Leiche stattgefunden, geschrieben; da ihr Eintreffen in Werben binnen zwei Tagen erwartet werden durfte, wünschte der Propst, daß Martin bis zu der Station, wo die Eisenbahn verlassen wurde, ihr entgegenreise, um den Kondukt in die Heimat zu geleiten. Max und seine Schwester hatten bereits in Rom den Landweg eingeschlagen; die Kammerfrau vermutete sie längst in Werben. Und sie waren nicht angelangt, hatten keinerlei Nachricht von sich gegeben. »Wenn ihnen ein Unfall zugestoßen wäre?« schloß Lydia.

»Ach, gar ein Unfall!« widersprach Röschen lachend. »Sie werden sich unterwegs, wo es hübsch war, aufgehalten und gedacht haben: Was schadet es der seligen Tante, wenn sie ohne unser Beisein bei ihren Vätern den Einzug hält?«

Die Schloßgeschwister brachen auf; die Pfarrgeschwister, inklusive Peter Kurzens, begleiteten sie. Den Weinberg hinab, den Uferpfad entlang, die Terrassen hinan ging es in neckischem Fliehen und Sichhaschen. Keiner fragte danach, daß die tolle Jagd aus den Schloßfenstern beobachtet werden könne. Seit dem Eintreffen der Trauerpost aus Rom schien in dem klösterlichen Hause alles außer Rand und Band geraten. Nur Lydia und Dezimus gingen sacht hinterdrein; sie folgten Max auf seiner Alpenreise und langten am Fuße der Terrasse erst an, als die anderen längst im Schlosse verschwunden waren.

Jählings starrte beider Schritt, stockte beider Atem. Von oben herab kam einer ihnen entgegen, mit verwegenem Satz die letzte Mauerstufe hinunterspringend.

»Lydia!« rief Max, umfaßte sie mit beiden Armen und preßte seine Lippen auf die ihren.

[259] Sie war einen Moment von Purpur übergossen; im nächsten hatte sie sich ihm entwunden. Ein Schauer flog über ihren Leib; sie stand entfärbt, mit geschlossenen Augen wie in den Boden gewurzelt.

»Grüß Sie Gott, Dezimus! Himmel, was sind Sie groß geworden. Aber sehen Sie doch dieses Bild, dieses Göttermenschenbild!«

Sidonie war es, welche, langsam die unterste Terrasse niedersteigend, also sprach, indem sie die eine Hand Dezimus entgegenstreckte und mit der anderen auf die versteinerte Gruppe der beiden schönen jungen Verwandten deutete. Dann gegenseitiger Willkommenwechsel, Aufklärung und Mitteilung. Sidonie führte das Wort. Maxens Augen hingen mit gleichem Entzücken an Lydia wie die von Dezimus an seinem Jovisstern.

Aber auch die Verwandlung der kleinen Sidi machte ihn staunen. Eine langwierige orthopädische Kur hatte Wunder an ihr gewirkt; sie war bedeutend gewachsen, und wenn die Unebenheit des Baues auch nicht ausgeglichen werden konnte, der Kopf war nahezu schön; man sah es ihr an, daß nur ein äußerer Unfall die Mißgestalt verschuldet hatte. Das gemischte Blut der Hartenstein und Mehlborn strömte in ihren Adern so gesund wie in denen ihres herrlichen Bruders. Im übrigen war sie, wie schon als Kind, sich ihres Makels bewußt und brach ihm durch rüstigen Humor die Spitze ab. Lydia sprach an diesem Abend kaum ein Wort. Ihre Lider waren wie im wachen Traume gesenkt, sie schwebte einher, als ob ihr Flügel gewachsen wären.

Am anderen Morgen widerfuhr dem vom Glück erkorenen Johannissohne wieder einmal so unverdient wie unversehens eine außerordentliche Ehre. Während er sich mit seinem Vater in der großen Geschäftsangelegenheit [260] des Tages auf dem Schlosse befand, rollte der Wagen vor, in welchem Martin der seligen Großtante bis zur Bahnstation entgegenreisen sollte. Die Begleitung seines Vetters war als selbstverständlich angenommen worden. Fräulein Sidonie erklärte indessen rund heraus, ihr Bruder sei für solch eine ermüdende Partie von der Reise zu angegriffen.

Max lächelte bei den Worten, widersprach jedoch nicht; nur zu der ernstblickenden Lydia sagte er leise: »Ich halte es mit dem Tod, aber nicht mit den Toten.«

»Aber, du lieber Gott! ich ganz allein den weiten Weg hin und zurück, da muß ich ja vor Langeweile sterben!« sagte Martin im allerkläglichsten Ton. »Komm du mit, Dezimus, tu mir den Gefallen!«

Und so geschah es, daß Held Dezimus, wie er einstmals zu Füßen der blumengeschmückten Harfenkönigin eine rasche stolze Fahrt in einem Viergespann gemacht, nach Jahren als Leidtragender in einer Trauerkutsche und geziemend feierlichem Tempo dem stolzen Viergespann folgte, in welchem die nämliche Harfenkönigin im kunstvoll gemeißelten Marmorsarge zur Gruft ihrer Ahnen befördert wurde. Vor dem Sarggehäuse saß neben dem rabenschwarzen Leichenkommissarius silberstrotzend der Diener mit den noch immer blühenden Wangen. Breite Trauerflore wallten vom Hut über seine weißen Locken. In einem zweiten Wagen folgte weinend die alte Kammerfrau nebst der gleichfalls zu versenkenden seligen Harfe; beide dicht in schwarzen Krepp gehüllt. Auf einem dritten Gefährt überwachte ein bewährter Werkführer die Muse der Musik in ihrer hölzernen Umkapselung. Gewiß ein imposanter Kondukt, weit und breit unerlebt!

Aber die Fahrt währte lange, und Morgenluft zehrt, selbst im Gefolge eines Leichenwagens. Ein weislich von [261] Freund Martin mitgeführtes Frühstück tat daher gute Dienste, wurde auch von beiden Leidtragenden mit so munterem Appetit verzehrt, als ginge die Reise flott zu einer Hochzeitsfeier.

An der Grenze des Werbener Weichbildes stiegen die Freunde aus, um sich der Rangordnung ihres Leidwesens gemäß dem Zuge einzureihen; denn hier wartete der Pfarrer samt allen, welche berufen oder auch nicht berufen waren, der Gutsherrin und dem mit ihr abscheidenden angesehenen Geschlecht die letzte Ehre zu erweisen.

»Ein hübsches Zügelchen!« sagte schmunzelnd Kantor Beyfuß zu seinem Nachbar, dem vormaligen Quatermillionenschüler, während der Kondukt sich die neue Grabesstraße hinanbewegte, auf deren Boden Kalmuszweige und Maienlaub verdufteten.

Die Kirche war in eine Laube umgewandelt, der Altarplatz so dicht mit Lorbeer- und Zypressengruppen gefüllt, daß außer für den Sarg nur noch Raum für die beiden Familien des Schlosses und der Pfarre übrigblieb. Im Schiffe dagegen drängte sich Kopf an Kopf. Aus weitem Umkreis hatte hoch und gering den köstlichen Frühlingstag benutzt, um die Fliederblüte und das Begängnis einer Harfenkönigin zu genießen. Auch Amtmann Mehlborn wurde seit vielen Jahren zum ersten Male wieder in seiner alten Kirche, zwar nicht unter den Leidtragenden, aber doch unter den Schaulustigen bemerkt.

Die Glocken hatten in Pausen schon den ganzen Morgen geläutet. Sobald der Sarg über die Kirchschwelle gehoben ward, stimmte, wohleingeübt, die städtische Liedertafel eine Motette an über den Psalmistenspruch: »Ich bin verstummt und schweige der Freuden. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben.«

[262] Nun hielt Pastor Blümel die Parentation; nicht in freier Eingebung seinem Gemüte entströmend; ein wohlbedachtes, wohlgefügtes Redestück, würdig der Künstlerin, deren Lebensabriß es in sich faßte, und diesem entsprechend der Text:

»Wessen Ohr mich hörete, der pries mich selig, und wessen Auge mich sah, der rühmte mich. Denn ich errettete den Armen, der da schrie, Gerechtigkeit war mein fürstlicher Hut, und welche Sache ich nicht wußte, die erforschte ich. Ich gedachte: ich will meiner Tage viele machen und in meinem Neste ruhen.«

Es war sonst nicht Pastor Blümels Sache, solch ein Bibelwort, aus seinem natürlichen Zusammenhange gerissen, einem fremdartigen Anlasse einzuzwängen, und gewißlich hatte Fräulein Thusnelda von Werben keine Seelenverwandtschaft mit dem Dulder von Uz. Da in diesem speziellen Falle aber nun einmal sich durchaus nicht auf den Glauben, die Liebe und Hoffnung eines Christen in diesem irdischen Jammertale berufen werden durfte, half sich auch ein Blümel aus der Verlegenheit, wie mancher seiner frommen Amtsbrüder es ohne Skrupel tut. Die warme Zuversicht aber, mit welcher er aussprach, daß diese Greisin, welche, der seltensten eine, nur mit den guten, nicht mit den bösen Erinnerungen des Hiob aus dem diesseitigen Leben geschieden sei, in dem unerforschlichen Jenseit für die Entwickelungen reifen werde, welche hienieden nur der Traurigkeit entkeimen, dem Leidtragen, das wir eben darum ein beseligendes nennen; diese warme Zuversicht machte auch die Herzen der Hörer warm und gab dem christlichen Segensspruch die Weihe der Wahrhaftigkeit.

Ob auch dem Propst von Hartenstein mit diesem seltsamen Textwort und der Anwendung des Unionisten Genüge [263] geschehen, ließ sich weder behaupten noch verneinen. Er saß in sich versunken, tödlich bleich, die Hand seiner Tochter Lydia in der seinen. Seine Gattin weinte, und die Kinder hoben die Augen nicht vom Boden. Fräulein Sidonie jedoch drückte dem Redner einverstanden die Hand, und ihr Bruder versicherte ihm später lächelnd, er habe seine schwierige Aufgabe bewundernswert gelöst. Amtmann Mehlborn aber soll auf dem Heimwege gegen Kantor Beyfuß, seinen einzigen sogenannten Freund, geäußert haben: Solange er seine Augen offen hätte, möchte er nichts mehr mit dem alten Blümel zu schaffen haben. Es wäre ihm aber doch lieb, wenn er es so lange machte, daß er ihm noch einmal den Lebenslauf auslegen könnte.

Unter entsprechendem Chorgesang war der Sarg in das Gewölbe hinabgelassen worden; die goldene Harfe wurde über ihm befestigt, die Muse der Musik auf ihr Postament gestellt. Noch vor Tagesneigen hatte man die schließende Platte in den Boden gefügt, und die letzte Spur von Thusnelda von Werbens Freudenleben war verschwunden.

Programmgemäß wurde das Erlöschen des alten Geschlechts durch einen Schmaus gefeiert. Der Pächter bewirtete die Dienstleute des Hofes, für die Würdenträger, das heißt die Pfarrfamilie und den Justitiarius, öffnete Herr von Hartenstein zum ersten Male den Werbenschen Speisesaal. Dort wie hier waren die Tafelgenüsse der abgeschiedenen reichen Herrin würdig; die Ehrenbezeugungen zu ihrem Andenken unter freiem Himmel jedoch lauter und nachhaltiger als zwischen den spärlich gefüllten vier Pfählen. Der Propst sehnte sich nach seinem Ruhebett, seine Gattin nach ihres Knaben Quarantänezimmer. Die Sonne hatte schon tief gestanden, als die Suppe, und sie war noch nicht gesunken, als der Kaffee genommen ward. Rat Hecht [264] machte sich auf den Heimweg nach der Stadt, Pastor Blümel mit seiner Hanna auf den nach der Pfarre. Die junge Gesellschaft fühlte das Bedürfnis frischer Luft und brach zu einem Spaziergange auf. Nur Sidonie, die schwache Fußgängerin, blieb zu Hause. Sie schmachtete nach Musik, die sie seit der Abreise von Rom weder geübt noch gehört hatte, und da es in der geistlichen Familie außer einem Kinderklapperkasten ein Klavier nicht gab, wurde im Ahnensaal an Lydias Orgel der Vortrag einer Bachschen Fuge zu einer abschließenden Trauerfeier.

Peter Kurze, der Lustigmacher, war zum Vorteil einer geziemenden Stimmung nicht von der spazierenden Partie, indem er, als ungeladener Tafelgast, sich in die Umgegend verzogen hatte. Die anderen zerstreuten sich gruppenweis unter dem dämmernden Abendhimmel. Leutnant Martin kletterte mit Lebensgefahr am Mühlgrabenufer auf und ab, die zarten Vergißmeinnicht zu pflücken, die ohne seine augenschärfenden Erstlingsgefühle ungesehen verblüht sein würden. Schönröschen, auf einem Baumstamme sitzend, wand einen Kranz aus den Blaublümlein. Des Leutnants Seligkeit hing von dem Besitze dieses Kranzes ab. Er wollte ihn im Schlachtgewühl als feienden Talisman auf seinem Herzen tragen. Das schnöde Röschen aber meinte lachend, für solches Unterfutter sei seine Uniform viel zu knapp, und setzte den Kranz auf ihre schwarzen Locken, worauf der Leutnant versicherte: er stehe ihr göttlich!

An Dezimus' Arm hatten sich die beiden Fräulein Priszilla und Phöbe gehängt mit der Bitte, er solle sie an diesem feierlichen Abend ein wenig mit der Sternenwelt bekannt machen. Und warum sollte Dezimus ihnen dieses weihevolle Verlangen nicht befriedigen? Er führte sie nach dem Hünengrabe und nannte ihnen die Sternbilder, die eines [265] nach dem anderen am östlichen Horizonte auftauchten, während gen Abend der Himmel noch im Karmin des Sonnenunterganges glühte. Nun wollten die Fräulein aber auch für die fünf Schloßgeschwister ein besonderes Sternbild gleich dem der sieben Pfarrschwestern ausgesucht haben. Und warum sollte Dezimus ihnen nicht auch dieses Verlangen befriedigen? Er ließ ihnen sogar die Wahl zwischen der Kassiopeja und dem kleinen Bären. Sie konnten lange nicht einig werden; die Kassiopeja war freilich viel schöner, der lieben Nachbarschaft wegen entschieden sie sich aber doch für das Fünfgespann neben dem Siebengespann.

Max hatte Lydias Arm unter den seinen gezogen und ging mit ihr den Uferpfad entlang. Der milde Abend lud zu einer Wasserfahrt ein, aber der Bootsmann hatte nach dem heutigen sauren Tagewerk zu früher Stunde Schicht gemacht, und der Kahn regierte sich schwer von einem allein.

So setzten sie sich denn auf eine Bank vor der aus Rohr geflochtenen Fährhütte und blickten eine lange Weile schweigend auf den Fluß, der zu ihren Füßen im Abenddämmer glitzerte. Ringsum zog sich das alte Werbensche Fasanengehege. Das Unterholz ist zu Bäumen herangewachsen, und es nisten seit vielen, vielen Jahren keine goldenen und silbernen Jagdvögel mehr in ihrem Laub. Aber unscheinbare Nachtigallen haben sich angesiedelt in dem verlassenen Reich und locken von weit und breit Sangesgenossen herbei. Windstille in dichten Laubkronen, klares Wasser, Ameisenhügel, von keinem Spatenstich gestört, dann und wann ein Ruderschlag und abends vor der Fährhütte ein lauschendes Paar, was braucht eine Nachtigall zum Heimischwerden mehr? Es waren glückliche Kolonisten. So gut jedoch wie heute, wo man die alte Menschenschwester zur Ruhe gelegt, so gut war es ihnen lange nicht [266] geworden, denn sie hatten allerlei Volks an ihrem Gehege vorüberstreifen sehen, und die Nachtigallen sind auch in der Minnezeit gar neugierige Kreaturen.

Nun aber ist es wieder still geworden. Nur dort unter dem Fliederbusch sitzt noch ein Menschenpaar, so schön, wie noch keines ihren Liebesweisen gelauscht, und was ein Maienabend an Wonnen zu bieten hat, dieser bot es. Hoch oben die blaue Nacht mit ihrem Goldgefunkel, linde Lüfte und vom Boden Nektarwürze, aus allen Wipfeln sehnsüchtig schmachtendes Locken. Im engen Bett rauscht weiter abwärts der Fluß; hier aber weitet er sich still und dunkel zu einem Himmelsspiegel.

»Still und dunkel wie deine Augen, Lydia,« flüstert Max. »Ein süßes, heiliges Märchen wie du!«

Und dann saßen sie wieder lange Hand in Hand und schwiegen und atmeten den Zauber des Mai.


Am anderen Morgen nahm die Schloßfamilie mit ihren Gästen das Frühstück auf der Terrasse; der Propst hatte sich über Nacht merklich erholt, Philipp sonnte sich mit seinem Mütterchen zum ersten Male nach der langen Zimmerhaft. Aus aller Blicken sprachen Hoffnung und Lust, so als antworteten sie auf den Maienblick der Natur.

»Mir ist dieses Tal früher gar nicht so anmutig vorgekommen,« sagte Max, und Sidonie, die allen anderen gern neckend widersprach, aber jederzeit ihres Bruders Echo war, setzte hinzu: »Ich hatte keine Erinnerung mehr von ihm, stellte es mir aber vor wie den Anfang der Lüneburger Heide. Im Mai finden wir freilich auch Heideschnucken graziös. Nun, es müßte sich allenfalls hier schon leben lassen.«

Die Geschwister hatten bei ihrer unerwarteten gestrigen [267] Ankunft dem Oheim erklärt, daß sie die Frist zwischen der Bestattung und Testamentseröffnung, welche aus einem ominösen Zufall am 24. Juni, Mutter Blümels Segenstag, statthaben mußte, in Dresden zuzubringen gedächten. Jetzt stellte Max unerwartet die Frage:

»Würdest du mich, liebe Tante, diesen Monat lang dir als Gast gefallen lassen?«

»Und mich natürlich auch,« ergänzte Sidonie, »denn Max und ich sind fortan eins.«

Frau von Hartenstein blickte schüchtern zu ihrem Gatten und dieser scharf eindringend zu Lydia hinüber, die, eine Pupurwoge auf den Wangen, die Lider senkte. »Ihr sollt uns willkommen sein,« sagte der Propst darauf.

»Herzlich willkommen!« beteuerte Frau Ottilie, und die Geschwister sagten Dank.

Nach einer Pause fragte der Propst, ob sie willens seien, den Amtmann Mehlborn aufzusuchen?

»Ich denke nicht daran,« antwortete Max, während Sidonie nur stumm die Achseln zuckte. Lydia aber fragte mit fast strengem Blick:

»Nicht eueren Großvater sehen, eurer Mutter Vater?«

»Das wäre kein Grund, Cousinchen,« äußerte Max leichthin. »Aber gut, du befiehlst, so werden wir ihm aufwarten.«

Sidonie nickte zustimmend, sogar sichtbar befriedigt.

Die Unterhaltung, anfänglich heiter fließend, war unwillkürlich in einen kurzen Trab von Frage und Antwort geraten, der keinem erquicklich schien. Als weiterhin der Oheim zu wissen wünschte, welche Pläne der Neffe für seine Zukunft verfolge, antwortete dieser:

»Im Moment keine. Das Testament wird den Ausschlag geben.«

[268] »Aber, lieber Max,« wendete Sidonie ein, »welchen Einfluß auf deine Wahl dürfte diese Verfügung haben? Du weißt ja, unter allen Umständen bleibt dir freie Hand.«

Der Propst zuckte zusammen, als ob er einen Krampf am Herzen spüre. Mehr als Sidoniens Worte hatten die sie begleitenden Blicke ihm verraten, daß sie sich und ihren Bruder des Werbenschen Erbes versichert hielt. Besaß sie ein Zeugnis dafür, sie, die einzige der Familie, welcher die Erblasserin näher getreten war, die sie vielleicht mütterlich liebgewonnen hatte? Er erhob sich rasch, um sich in sein Zimmer zurückzuziehen, kehrte halben Wegs jedoch um und sagte mit ungewohnter Freundlichkeit:

»Sei unseren lieben Gästen, Lydia, doppelt eine aufmerksame Wirtin, da die Mutter durch Philipps Rekonvaleszenz noch vielfach in Anspruch genommen ist. Ich selbst fühle mich ja, Gott sei Dank, jetzt wohl genug, um deine Gegenwart einmal auch anderen gönnen zu dürfen.«

Sidonie erinnerte sich auch nicht des flüchtigsten Wortes als Zeugnis für das ihr vorbestimmte Erbe; aber sie bedurfte dieses Wortes auch nicht, so fest stand ihre Zuversicht desselben, nahezu wie eines natürlichen Rechtes. Und in der unumwundenen Art, welche sie sich im Verkehr mit der Tante angeeignet hatte, sprach sie diese Zuversicht auch aus, als sie noch am nämlichen Vormittag auf die Pfarre kam, um, wie sie fortan jeden Morgen tat, das dortige Instrument zu benutzen, da dasselbe immerhin noch etwas weniger Klapperkasten als das des Schlosses war.

»Kann eine Verblendung törichter sein?« sagte sie halb ärgerlich, halb im Scherz. »Ich merkte es an all seinem Gebaren und habe es an einer rechtzeitigen Warnung nicht fehlen lassen. Dieser standfeste Jünger des blutarmen Doktor Luther hat sich allen Ernstes in den Kopf gesetzt, [269] die Schatzkammer der leibhaftigen Frau Hulda zu überkommen. Er, der einzige Mensch, der ihr unverständlich, daher schlechthin widerwärtig war, den sie immer nur den Oberdruiden nannte und von dessen Familie sie nicht viel mehr hatte kennen lernen, als daß sie samt und sonders nicht die schwächste künstlerische Ader in sich barg.«

»Die sie aber in drückender zeitlicher Sorge wußte,« wendete Pastor Blümel ein.

»Wußte sie darum? Sie korrespondierte mit keinem von ihnen, und ich selbst bin erst diesen Morgen auf den Argwohn gekommen, als – –«

»Ja, sie wußte darum, liebes Fräulein.«

»Um so schlimmer für sie. Die Sorgen waren selbstverschuldete; ein Grund mehr, die Sorgenträger von einem Besitz auszuschließen, auf dessen Erhaltung es ihr vor allen Dingen ankam. Eine unantastbare Leibrente würde an dieser Stelle die gebotene Hülfe sein.«

»Frau Ottilie von Hartenstein bleibt aber immer der Dame nächste Blutsverwandte.«

»Nach meinem Papa, welcher der Sohn der älteren Schwester und der geborene Erbe von Werben war. Hat sein Vater ihm das Nachfolgerecht verscherzt, ei nun! die schönheitssüchtige Thusnelda nannte Großpapa gern den schönsten Mann, den ihre Augen gesehen, und irre ich nicht stark, war er der einzige, der ihr jungfräuliches Herz schwach gemacht haben würde, wenn er nicht ihre Schwester, die eine treffliche Tänzerin war, der trefflichen Sängerin vorgezogen hätte. Würde denn auch ohne eine gewisse Sympathie sie, nach allem Vorhergegangenen, sich bereitwillig mit ihm ausgesöhnt, für die Erziehung seiner Enkel in so umfassender Weise Sorge getragen haben? Was hat sie für die Kinder Ottiliens getan, die, wenn auch in anderer [270] Weise, der Verkümmerung nicht weniger ausgesetzt waren als wir? Überdies war die Tante so jugendlichen Sinnes, zog bis an ihr Ende die heitere Jugend so unverhohlen aller sogenannten Altersweisheit und Tugend vor, daß es ihr auch in bezug auf ihr Erbe auf einen näheren oder ferneren Verwandtschaftsgrad nicht ankommen konnte, zumal wenn bei dem letzteren auf eine Nachfolge in ihrem künstlerischen Streben zu rechnen war.«

»Und ist Ihnen niemals der Gedanke gekommen, daß die leidenschaftliche Kunstfreundin über ihre Hinterlassenschaft zu kunstfördernden Zwecken verfügt haben könnte?«

»Hinsichtlich ihres Barvermögens, des Hauses in Dresden, ihrer Sammlungen und so weiter höchst wahrscheinlich; hinsichtlich des Werbenschen Stammgutes keinenfalls. Warum hätte sie es als Siebzigerin mit dem Opfer weit höheren Zins tragender Dokumente wieder in ihre Hand gebracht? Ist dies der Platz, wo man etwa eine Harfenschule gründet? Nein, was der Familie entstammte, sollte der Familie verbleiben, und die Repräsentantin dieser Familie war für sie – ich. Mich hat sie gebildet, mein ist ihr Talent, ihre Anschauung, in gewissem Sinne ihr Schicksal. Nur ich kann ihr eigenes Leben fortführen; um dies aber zu können, muß ich zunächst ihre Erbin sein. Ich, das heißt mittelbar mein Bruder. Denn das wußte sie ja ganz wohl, und darin hat sie mich von früh ab festgemacht, daß ich, ein Krüppel, wie ich durch die Vernachlässigung meiner Mutter geworden bin, niemals einen näheren Angehörigen haben werde als meinen Max, der überdies für fast jegliche Kunstrichtung reicher als ich begabt und durch die Fürsorge der Tante vollständig darin ausgebildet ist.«

»Der aber, so gut wie Sie, Fräulein Sidonie, dereinst [271] ein Vermögen besitzen wird, gegen welches das Erbe von Werben verschwindet.«

»Eben darum. Nicht eine mäßig, nur eine reich gefüllte Hand genügte ihren Zwecken. Sehr möglich, daß sie direkt zu meines Bruders Gunsten testiert haben würde, hätte sie in ihm nicht das unwirtschaftliche Hartensteinsche Temperament vorausgesetzt. Mich hielt sie für praktischer und mit Recht. Man kann des Guten nicht zu viel haben für sich und andere, pflegte sie zu sagen. Sie tat in letzerer Beziehung auch viel. Nur daß man ihre Wohltat nicht bemerken, nicht durch sie bedrückt, beschämt erscheinen, ihr nicht anders als durch frohen Genuß dafür danken durfte. Darum gab sie auch meinem Max so gern, weil er alles Förderliche ohne demütigende Phrase, wie himmlischen Regen und Sonnenschein, von ihr angenommen hat.«

Pastor Blümel machte noch den Einwand, daß die Verstorbene ihren letzten Willen ja aufgesetzt habe, bevor sie sich von der ihrer Sinnesart gemäßen Entwicklung ihrer Verwandten überzeugt, und daß er unverändert geblieben sei. Sidonie ließ an ihrer Zuversicht indessen nicht rütteln. Ihre Luftschlösser standen fix und fertig aufgebaut. Die Familie des Propstes mochte, ob der Vater lebte oder starb, nach wie vor das Schloß bewohnen und den Notpfennig, welchen die Erblasserin ihr vielleicht zugewendet hatte, darin genießen. Sie, Sidonie, folgte ihrem Bruder, wohin es auch sei. »Er braucht Freiheit, und ich finde alles, was ich brauche, in seiner Nähe.«

Nach diesem Schlußsatz setzte sie sich an das Klavier, und das Prestissimo einer Beethovenschen Sonate erbrauste in Perlenreine unter ihren schlanken Händen.

»Mir klingt es vor den Ohren, Konstantin, als wäre wieder einmal Lisettchens Milchtopf in Scherben zerbrochen,« [272] sagte Frau Hanna, welche dem Gespräche, ohne ein Wort darein zu geben, zugehört hatte. Ihr Konstantin seufzte.

Für den Besuch des Talgutes am anderen Nachmittag hatte Sidonie, zur eigenen Schonung und zur Belustigung des gesamten jungen Volks, sich eine Kahnfahrt ausgedacht. Lydia wollte zurückbleiben, da ihr Vater seit gestern morgen sich wieder übler fühlte; er selber aber drängte sie zur Teilnahme mit einer Hast, die sie befremdete. Wollte er allein sein? Gönnte er ihr eine flüchtige Freude vor einem unvergänglichen Schmerz? Oder – hatte er einen Blick in ihren heimlichsten Seelengrund getan? Lydia errötete bei dieser letzten Vorstellung, aber sie ging mit erleichtertem Sinn, nachdem sie ihr aufgestiegen war.

Vor der Fährhütte traf die Schloßgesellschaft mit der Pfarrgesellschaft zusammen, ein jeder froh gelaunt und witzig nach seiner Art; nur Max erschien, trotz Lydias Gegenwart, um des unliebsamen Zieles willen, verstimmt.

»Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen, Fräulein Rose?« fragte der Leutnant, und da Fräulein Rose die Vorstellungen eines Leutnants nicht zu erraten vermochte, erklärte er: »Wie ein weißes Täubchen mit einem schwarzen Köpfchen zwischen drei schwarzen Tauben mit weißen Köpfen.«

Auch diese dem Kleiderschrank entlehnte Galanterie wurde lachend gewürdigt.

»Wie gefällt dir Röschen?« fragte Martin seine Cousine, die in Erwartung des Kahnes seinen Arm genommen hatte.

»Allerliebst,« antwortete Sidonie. »Sie gleicht dieser Gegend. Die frische Anmut läßt die Schönheit nicht vermissen.«

[273] »Du hast recht,« fiel Max, der Frage und Antwort gehört hatte, ein. »In solche Gegend zieht man sich zurück, wenn man des Weltlebens überdrüssig geworden ist, und solch ein Mädchen heiratet man, wenn man nicht mehr nach Schönheit und Liebe verlangt.«

»Seid ihr alle beide aber merkwürdig,« entgegnete Martin gegen seine Art ein wenig pikiert. »Was mich anbelangt, so finde ich Röschen wunderschön, und daß nicht immer aus Liebe geheiratet werden kann, das begreife ich. Warum aber einer Röschen heiraten sollte, der sie nicht schön findet und nicht in sie verliebt ist, das begreife ich nicht.«

»Weil sie ein zierliches Pantoffelregiment führen würde, große Schönheiten aber gewöhnlich große Füße haben,« erklärte Sidonie lachend, und der Leutnant war so klug wie zuvor.

Man stieg in den Kahn, Dezimus und Peter Kurze führten die Ruder; die übrigen gruppierten sich je zwei nebeneinander auf den Bänken; Lydia und Max Dezimus zunächst. Die maifrischen Gesichter inmitten der maifrischen Landschaft erquickten das Auge der verwöhnten kleinen Künstlerin. Sie hatte eine besondere Art von Gitarre oder Laute aus Italien mitgebracht und heute nicht vergessen. »Zu einer Gondelfahrt gehört Gesang,« sagte sie, »mache den Anfang, lieber Max.«

Nach kurzer Verständigung griff sie in die Saiten, und ihr Bruder hob eine Barkarole an mit einem Tenor, so weich und glockenhell, wie die Gesellschaft, außer Sidonien, noch keine Menschenstimme vernommen hatte. Lydias große Augen hingen mit Entzücken an seinen Lippen, Röschen jubelte laut auf, und Dezimus bewunderte in neidlosem Verstummen die Fülle der besten Gaben, welche die [274] Natur diesem herrlichen Jüngling eingebunden hatte. Ach, wie arm und gering nahm er sich neben diesem Glücklichen aus, er, der doch auch ein Glückskind hieß!

Wer hätte unmittelbar nach diesem Wohllaut seine Stimme hören lassen mögen? Da Peter Kurze, der unermüdliche Unterhalter, durch das Ruder in Anspruch genommen war, kam somit die Reihe des Witzigseins wieder an den Leutnant, und da ihm just nichts Neueres oder Geistreicheres einfiel, sprang er auf und begann mit ausgespreizten Beinen, bald links, bald rechts tretend, den Kahn zu schaukeln, so daß, stark gefüllt, wie er war, das Wasser um ein Haar über die Ränder getreten wäre.

Priszilla und Phöbe kreischten laut auf. »Halte mich, Dezem!« schrie Röschen.

»Dummer Junge!« brummte Peter Kurze, zum Glück unverstanden. Sidonie aber, rasch gefaßt, zog den armen Spaßvogel an ihre Seite nieder mit den Worten: »Hier bleibst du sitzen! Du, Phöbe, neben Rosen! Nicht gerührt!«

»Ich bin schon als Fähnrich Freischwimmer gewesen, ich würde euch alle gerettet haben,« sagte der Leutnant, leistete aber gehorsam Folge und saß mucksmäuschenstill.

Das Gleichgewicht der Bewegung war somit hergestellt; daß aber auch das der Stimmung wiederhergestellt werde, hob Peter Kurze seinen Leibkanon an, den er bei jeder möglichen Gelegenheit zum Vortrag brachte und in welchen das kunstsinnige Fräulein Sidi unverdrossen einstimmte:

»Sind wir wieder einmal beisamm gewest,

Han uns wieder einmal liebgehat« und so weiter.

Nur Dezimus und die beiden, welche seiner Ruderbank zunächst saßen, sangen nicht mit. Die beiden flüsterten miteinander, und jenem erweckte das Flüstern, von dem ein Wort und das andere zu ihm hinüber drang, bewegliche Gedanken.

[275] Beim Schwanken des Bootes hatte Lydia sich an Max geklammert; er umfaßte sie, drückte sie an sich und hauchte in ihr Ohr:

»So sterben, wäre das nicht schön?« setzte aber lauter rasch hinzu: »Nein, nein, zuvor so leben, Lydia!«

Sie entwand sich seinen Armen und senkte die Lider vor seinen flammenden Blicken. Nach einer langen Stille fragte sie leise: »Du sagtest neulich, Max, du liebtest den Tod, aber nicht die Toten. Hieß das so viel, als du liebtest die Lebenden, aber nicht das Leben?«

»Nein, gewiß,« antwortete er, »das hieß es nicht; denn als ich es sagte, hatte ich noch keinen Lebenden geliebt.«

»Max!«

»Du meinst meine Schwester? O nicht doch, Lydia! Was ich für dieses gute, verkümmerte Wesen empfinde, ist Trauer oder, wie du es nennen magst, Erbarmen. Liebe aber ist Wonne, ist Seligkeit, und heute, Lydia, heute – –«

»Aber das Leben, Max?« unterbrach sie ihn hastig. »Liebst du, erfüllt dich das Leben?«

»Wer liebte es nicht, Lydia, und wer dürfte es nicht lieben, da es einen Tod gibt, der es endet, wenn es kein Leben, keine Erfüllung mehr ist?«

»Was nennst du leben, Max?« fragte Lydia nach einer neuen Stille.

»Das!« antwortete er. Er zog aus ihrem Gürtel eine Frührose, die er ihr vor der Abfahrt gereicht hatte, sog in vollen Zügen ihren Duft ein, bis die Blätter auseinanderfielen, und warf sie dann in den Fluß. »Das!«

Der Kahn stieß in diesem Augenblicke an das Ufer. Max führte seine Schwester nach dem Herrenhause; die übrige Gesellschaft schlug in der Zwischenzeit unter Peter Kurzens Führung einen Spazierweg ein; Lydia blieb zurück. [276] Sie wäre wohl gern ganz allein gewesen; einer jedoch mußte den Kahn sichern, für den es in dieser Nähe der Stromschnellen keinen Anhalt gab; da dieser eine aber Dezimus war, blieb sie wenigstens so gut wie allein. Denn nach den heimlichsten Offenbarungen einer Dichterseele eine Unterhaltung zu versuchen, nein, so ausverschämt war der Held dieser Geschichte nicht.

Lydias Blicke folgten sinnend der Rose weit hinaus, bis sie auf und nieder tauchend zwischen den weißen Strudeln verschwunden war. Jetzt erst schien sie eines Dritten Gegenwart innezuwerden; und da es ihr einfallen mochte, daß er wohl ihr Gespräch mit Max gehört haben könne, fragte sie mit dem ihr eigenen gütigen Lächeln: »Was nennen Sie leben, lieber Dezimus?«

Er dachte eine Weile nach, dann, zu ehrlich, um seine Zeugenschaft zu verleugnen, antwortete er: »Was ich selber vom Leben weiß, heißt auch nur glücklich sein. Wie aber mein Vater mich das Leben verstehen lehrt, heißt es reifen, werden.«

»Und sterben?«

»Ich glaube: das nämliche.«

Ob diese Antwort Lydia genügte? Ob sie dem Glauben sich einfügen ließ, den sie selbst unumstößlich von ihrem Vater überkommen hatte? Gewißlich nicht. Aber ihr Puls schlug heute empfänglich für die Deutungen der Jugend, Freude und Liebe jauchzten in ihrer Brust. Sie stellte keine Frage weiter, saß ganz still mit halbgeschlossenen Augen, so als ob die plätschernden Wellen sie in Schlummer lullen sollten, und wie aus einem Traume erwachend fuhr sie jach in die Höhe, als Max und seine Schwester unerwartet früh zurückkehrten.

Sidonie lachte; aus ihren klugen Augen blitzte ein lustiger [277] Spott; ihres Bruders schönes Gesicht dahingegen war durch einen Zug mehr von Ekel als Zorn bis zur Unschönheit entstellt.

»Ich gehe zu Fuße nach Hause,« sagte er. »Am Fährplatze erwarte ich euch. Du, Lydia,« setzte er freundlicher hinzu, »müßtest eigentlich mit mir kommen. Du hast mir diese häßliche Stunde aufgenötigt und bist mir eine Vergütung schuldig.«

Sie stieg ohne ein Wort der Erwiderung aus, legte ihren Arm in den seinen, und sie gingen den Uferpfad entlang.

Da die übrige Gesellschaft noch zögerte, setzte Sidonie sich neben Dezimus auf die Ruderbank, um ihm in blühenden Farben die Begegnung mit ihrem herzigen Großväterchen auszumalen. Sie ahmte seine Naturlaute nach, schilderte die patriarchalische Toilette, die Schauer der düster romantischen Höhle, Stube genannt, mit ihren Spinnweben, ihrem Staub und Dunst, beschrieb das ambrosische Vespermahl: ein schwarzes Brot, rund und hart wie ein Mühlstein, dazu ein aromatischer Käse, vom ehrwürdigen Grau des Schimmels überzogen, und ein Krug lehmfarbigen Nektars, neuhochdeutsch »Kofent« genannt.

»Alle Genre der Poesie waren vertreten,« sagte sie, »mit Ausnahme des heldenmäßigen, das erst mein Mäxchen in die Heimatszene trug. Sogar das dramatische kam noch als dickes Ende hinterdrein. Und so hätte ich nun auch einmal einen Blick in die ursprüngliche germanische Volksseele getan, von welcher euere Denker die Rettung unserer durch Überbildung angefaulten Gesellschaft erwarten, und könnte allenfalls auch ein Idyll oder, wie eure Dichter es neuerdings auszudrücken belieben, eine Dorfgeschichte schreiben. Ewig schade, Dezimus, daß Sie sich den poesiestrotzenden Inspektorposten bei Ihrem Vizepaten verscherzt [278] haben, und wirklich unverzeihliche Verblendung, daß mein Mäxchen, der als Dichter doch notwendig nach Anregungen trachten muß, sich so hartnäckig dagegen sträubt! Aber sagen Sie, heimtückischer Schäferknabe, was haben Sie meinem trauten Papachen eigentlich angetan, daß Ihr bloßer Name allen bukolischen Frieden aus seiner ungeschminkten Seele scheucht? Als ich, ich weiß auch gar nicht, wie ich darauf geriet, erwähnte, daß Sie nächstens zur Universität abgehen würden und die Werbener Pfarre so gut wie in der Tasche hätten, wenn nach ein vier, fünf Jährchen etwa der alte Blümel sich nach Ruhe sehnen sollte, da war mirs, als sähe ich Bankos Geist in Hemdsärmeln und bocksledernen Buxen vor mir aufsteigen. ›Der, der!‹ krächzte er, daß es mich eiskalt überlief; ›der mich abspeisen! Der Lumpenjunge – verzeihen Sie! – der Lumpenjunge mir den Lebenslauf halten!‹ Und dann brüllte er: ›Sackerment!‹ und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, daß – – aber da kommen die anderen. Unter vier Augen die Fortsetzung. Es handelt sich ja um Ihre Missetat an mei nem eigenen Fleisch und Blut. Nur so viel noch: Ich habe in gutem Glauben Sie christlich herausgestrichen – des Abspeisens halber, Freund Dezimus!«

Die anderen stiegen ein. Sidonie hatte schon während der letzten Worte ihre Gitarre rein gestimmt und löste nun die lustige Dorfgeschichte mit einem traurigen Volksliede ab, das die Gesellschaft mit Brummstimmen begleitete.

Die klagende Weise wehte zu den beiden hinüber, die raschen Schrittes talauf den einsamen Uferweg zwischen junggrünenden Erlenbüschen wandelten. Max war heute nicht wie seine Schwester zum Karikaturenzeichnen aufgelegt; alles, was Adel hieß, hatte sich in ihm empört. Überdies schloß Lydias kindlicher Ernst unwillkürlich bei [279] jedem, der ihr nahte, eine ironische Stimmung aus, ja selbst die gutmütige Deckung des Humors.

»Welch eine Zumutung!« rief Max unwillig, »und welch ein Widersinn, einen Menschen wie diesen ehren zu sollen oder gar ihn zu lieben!«

»Ich kenne deinen Großvater nicht,« entgegnete Lydia sanft, »ich glaube dir aber, armer Max, daß das erste menschliche Gebot ihm gegenüber kein leichtes ist. Allein warum wäre denn auch sonst diesem Gebote eine Verheißung schon für diese Welt gegeben? Wo die Liebe natürlich ist, trägt sie ihren Lohn in sich.«

Sie sah ihn bei diesen Worten mit einem Blicke an, welcher die heimlichste Tiefe ihrer Seele entschleierte und vor dessen Zauber aller Widerspruch und aller Groll aus seinem Herzen floh. Er preßte sie in seinen Arm, an seine Brust. Die Liebe, die natürlich ist, hatte sie zueinander gezogen.

Sie setzten sich auf einen Rasenhügel, und was da unter dem pfingstlichen Blattgesäusel gehaucht worden – der Worte werden es nicht viele gewesen sein; aber selbst diese wenigen wiederzugeben ist dem Erzähler nicht gegönnt.

Muntere Stimmen vom jenseitigen Ufer weckten sie aus ihrem Traum. Er däuchte den Glücklichen ein Moment, und doch war die Sonne gesunken, als Dezimus sie hinüber in das Gehege ruderte, in welchem Sidonie zum heiteren Abschluß ihres Festes ein Tischchendeckedich hergezaubert hatte. Das junge Volk tat sich gütlich und trieb seinen Scherz, während Max seine Schwester abseit führte zu einer Mitteilung, die sie wie das eigenste Schicksal berührte. Lydia war, ohne umzublicken, am Ufer entlang geflohen, die Terrassen hinan, in ihr Haus.

Die Mutter kam ihr auf den Zehenspitzen aus ihres[280] Gatten Zimmer entgegen. Sie hatte Tränenspuren in den Augen, aber ihr argloses Kinderlächeln auf den Lippen. »Er ist eingeschlummert,« sagte sie, auf die halbgeöffnete Tür deutend.

Der Propst saß am Fenster, vor sich einen Haufen Papiere, in welchen er bis zum Tagesneigen geblättert hatte. Sein edles weißes Haupt war auf die Brust gesunken, die welken Lider deckten die Augen; doch schlief er nicht. Seit Jahren quälte ihn ja dieses Schmachten nach Schlummerruhe, das künstliche Mittel nur stillten, um es desto peinvoller zu reizen. Als er seiner Tochter leisen beflügelten Schritt vernahm, hob er den Kopf ihr entgegen. Sie warf sich, ohne jedes Wort, zu seinen Füßen und barg auf seinen Knien das Gesicht, das im Purpur der Scham erglühte.

Derlei affektvolle Bezeugungen waren beider Naturen und dem keusch begrenzten Verhältnis der Familie fremd. Wo aber ein Mensch dem anderen in so seltener Weise verbunden ist wie dieser Vater seiner Tochter, bedarf es keiner Erklärung für einen stark bewegenden Trieb. Der Vater wußte, was die Tochter erlebt hatte; ein Widerstrahl ihres Glücks flog über seine fahlen Wangen, und er erleichterte ihr das Geständnis, das sich so schwer von ihrem Herzen löste, indem er nach einer langen Pause anhob:

»Ich will dir nicht bergen, Lydia, daß, wie ich dich so still umfriedigt heranwachsen sah, ich den Glauben gehegt habe, vielleicht die Hoffnung, du erwüchsest zu einer jener Berufenen, die Martin Luther hohe, reiche Geister nennt, weil sie in edler Freiheit lieber für das Himmelreich wirken wollen als für die Welt. Ich achtete dich zu gut, Lydia, für die gemeine Not. Aber Martin Luther nennt diese Berufenen seltene Menschen, zählt unter Tausenden kaum einen. Und wie ich selber mich der Befugnis nicht würdig [281] erkannte, mich über Gottes natürliche Ordnung hinwegzusetzen, ich, der ich doch ein Mann war mit schweren Lebenskämpfen hinter sich und einer großen Lebensaufgabe vor sich, so werde ich um so williger zu meiner Tochter sagen: Trage Weibes Los, sobald du des Weibes natürlichen Trieb in deinem Herzen spürst. Liebst du Max, Lydia?«

»Ja, ich liebe ihn,« stammelte Lydia mit bebenden Lippen, und sie blieb auf ihren Knien wie der Beichtiger vor dem Hüter seiner Seele.

»Warum zitterst du dann aber und scheust dich wie vor einem Frevel, weil du einen Mann liebst, wie doch das Weib es soll?«

Lydia hatte sich zu einem Ausspruch über Wohl und Wehe gefaßt. Sie erhob sich von ihren Knien und sprach: »Nicht daß ich ihn liebe, aber daß du ihn nicht lieben wirst, mein Vater, darum zittere ich. Er ist keiner von den Unseren, keiner von den Deinen, Vater – –«

»Weiß ich das nicht?« unterbrach sie der Propst. »Er ist nicht einmal ein Christ. Er ist, daß ich so sagen soll, noch ein Fragment. Aber eben darum sehe ich in deiner Liebe eine Mission und segne sie als solche. Du kennst mich, Lydia, und wirst darum es keinen Sophismus nennen, wenn ich dir gestehe: Hättest du dich einem Manne zugeneigt, festgewurzelt in seinem Glauben, der aber nicht der deine, nicht der unsere, meine Tochter, war, oder wäre Max auch dem Geiste nach seiner Mutter Sohn, einer von denen, welche das ewige Geheimnis von seinem Throne reißen, um die nackte Vernunft auf denselben zu erheben, so würde ich deine Wahl zwar nicht haben hindern dürfen, aber meinen Segen hätte ich ihr nicht geben dürfen, denn es war keine Einigung zwischen euch abzusehen. So aber ist in deine Hand gegeben ein unerfülltes Gemüt, in welchem [282] der Strahl einer reinen Liebe den reinen Glauben, das Gebet der Liebe das Wunder der Gnade bewirken wird. Die Skepsis ist niemals unüberwindlich, meine Tochter. Es waren oftmals heidnische Männer, denen untertan zu sein die Apostel ihren Jüngerinnen geboten, und nicht zum geringsten ist durch dieses Gebot das Heil in die Heidenwelt gedrungen. Das, Lydia, ist dein Beruf, und danach handle.«

Lydia stand hochaufgerichtet mit gefaltenen Händen und verklärtem Blick. Dann aber neigte sie sich zu ihrem Vater nieder und küßte voll inbrünstigen Dankes seine Hand. Ein paar Minuten waltete tiefe Stille.

Herr von Hartenstein war wieder schattenbleich geworden; krampfhaftes Ringen zuckte aus seinen Mienen. Was er bis dahin gesagt hatte, war als freudige Überzeugung leicht aus seiner Seele geflossen; nun kostete es ihm einen harten Kampf, zu sagen: »Ich bin noch nicht zu Ende, meine Tochter.«

Lydia setzte sich an seine Seite, nahm seine kalte Hand in die ihre und hielt den Blick unverwendet auf ihn gerichtet. Er hob an:

»Aber auch in dem anderen Sinne, welchen wir neben jenem höchsten als eine heilige Aufgabe hegen und pflegen, im Sinne der Familie, muß ich deine Wahl als eine Schickung der Gnade verehren. Du allein kennst die sorgenvolle Lage, in welche das Gesetz der Treue mich gedrängt hat. Aber auch du kennst sie nicht aus, und jung, wie du bist, vermagst du den martervollen Zustand nicht zu ermessen, unter welchem ein Vater, sehnsüchtig der Erlösung und doch erdenbange, aus dem Kreise hülfloser Kinder scheidet – vielleicht in der nächsten Stunde schon. Jetzt scheide ich beruhigt. Als Gattin eines begüterten Mannes aus unserem [283] Geschlecht ist es nicht nur dir ermöglicht, sondern es ist auch ihm eine Satzung des Blutes, die Pflichten für die Vergangenheit den Aufgaben für die Zukunft zu einen. Bedarf ich deines bindenden Wortes, Lydia, daß du für deine Mutter und deine Geschwister Sorge tragen wirst nach wie vor als für deine eigensten Angehörigen, wenn ich von ihnen gegangen bin?«

»Nein, Vater,« antwortete Lydia, indem sie seine Hand an ihr Herz drückte, »nein, es bedarf keines ausdrücklichen Versprechens, um mich in irgendeiner Lage an das Gesetz der Treue gegen die Menschen, welche bis heute meine nächsten waren, zu mahnen. Aber vergib, wenn ich in diesem Betracht deine Auffassung meines Verhältnisses zu Max nicht begreife. Denn auch seine zweifelhafte äußere Lebensstellung war ein Grund, um dessentwillen ich an deiner Zustimmung verzagte. Er dankt seine Ausbildung fremder Unterstützung, er ist durch diese Unterstützung, die er fortan entbehren wird, verwöhnt, ist sorgloser Gemütsart. Es wird Jahre währen, bevor er irgendwelches Amt, irgendwelche Verwertung seiner mannigfachen Anlagen erringen kann. Und du baust auf ihn als den Schützer deiner Familie? du nennst ihn einen begüterten Mann?«

»Er wird es in der Kürze sein,« versetzte der Propst mit sichtbarem Zwang.

»Sein Großvater ist noch ein rüstiger Mann,« entgegnete Lydia unerschrocken, da Klarsehen ihr jetzt zu einer Pflicht geworden war. »Seine Familie ist ihm gänzlich entfremdet; und zwischen dem Großvater und dem Enkel steht die Mutter.«

»Nun denn, Lydia, –« sagte Herr von Hartenstein nach einem tiefen Atemzuge, »ich hätte diese Erörterung dir und mir erspart gewünscht, da du mich aber zu derselben [284] drängst, so wisse, daß ohne Zweifel Max der Erbe von Werben ist.«

»Der Erbe von Werben – Max –, Vater?« fragte Lydia betroffen.

»Zuverlässig, Lydia. Deine Mutter stand der Besitzerin verwandtschaftlich näher, aber sie stand ihr äußerlich wie innerlich fern. Wenn ich nun das Wesen der wunderlichen Greisin von Grund aus überdenke, so suchte sie für ihr altes Geschlecht einen Stammhalter, auf den sie wohl selbst seinen Namen überträgt; und dürfen wir uns darüber täuschen, wie weit an Glanz der Gaben, die sie über alles schätzte, unser Martin gegen seinen Vetter zurücksteht? Philipp, der ihm einmal ähnlicher zu werden verspricht, lag noch in der Wiege, als sie ihren letzten Willen abfaßte und niemals änderte. Dazu das nahe Verhältnis zu Sidonie, die ihrer Sache gewiß scheint. Es ist so; es kann kaum anders sein; – aber – ich fühle mich erschöpft. Geh, Lydia, hole Max – und dann laßt mich ruhen.«

Lydia ging, aber nicht beflügelten Schrittes wie eine, der sich ein entzückendes Hoffen erfüllen soll. Ein Nebelflor hatte sich plötzlich zwischen ihr Auge und den Sonnenschein gedrängt.


»Max und Lydia sind verlobt!« mit diesem Jubelruf trat am anderen Morgen Sidonie in die Pfarre ein.

Pastor Blümel fuhr erschrocken, wie vor einer Hiobspost, zusammen, und auch seiner Hanna, die doch sechs Töchter mit so gutem Glauben unter die Haube gebracht hatte, wollte der Glückwunsch gar nicht flott vom Herzen gehen. Röschen und Dezimus dahingegen waren wohl erfreut, aber gar nicht überrascht. Sie hatte schon am Bestattungsabend ein Liebesvögelchen über dem Schlosse zwitschern [285] hören; er hatte ja von jeher an eine Konjunktion des herrlichen Jupiter und der holden Venus geglaubt. Die hausbackene Folgerung von Hochzeit und Herdfeuer wie bei gemeinen Sterblichen wollte ihn freilich hier ganz kurios bedünken.

»Sie sind füreinander prädestiniert!« rief Sidonie in ihrer Herzensfreude. »Wer hat schon ein so vollkommenes Menschenpaar gesehen? Ach, die Schönheit gibt doch das einzige Frauenrecht auf Glück! Beide reinster Hartensteinscher Typus und doch Gegensätze, auch seelisch. Hier übersprudelnde Fülle; einsaugende, sammelnde Stille dort! Und daß auf diese Weise ein natürlicher Ausgleich für getäuschte Erbaussichten bewerkstelligt wird, auch das ist mir lieb; denn verdrießlich ist solch ein Vorzug unter Gleichberechtigten allemal. Schade, daß Sie ihnen nicht die Traurede halten dürfen, Papa Blümel. Der Propst wird sich diese natürlich nicht nehmen lassen. Ich möchte um meines Mäxchens willen, sie wäre schon überstanden. Das Hochzeiten müßte eigentlich aus dem Stegreif ganz in der Stille betrieben werden. Den Trauermonat muß man natürlich anstandshalber respektieren. Dann aber auch keinen Tag zwecklosen Sehnens mehr. Die Brautreise gönne ich den Glücklichen allein, wohin und so lange es ihnen beliebt. Geht es aber an das Hüttenbauen, so hausen wir zu dreien, und der Welt wird ein Exempel vorgeführt werden, daß es sich mit einer Schwester weit behaglicher als mit einer Schwiegermutter wirtschaften läßt.«

Max täuschte weder seine Braut noch sich selbst, wenn er sie seine erste Liebe nannte. Wohl war er kein Neuling in der Frauenhuld, er hatte seit den Knabenjahren Knospen und volle Rosen mancher Art umflattert. Eine Blüte so rein und eigenartig wie diese hatte sich aber ihm noch niemals [286] erschlossen, und wie vor einem ungeträumten Gebilde dem Künstler plötzlich ein höheres Ideal aufgeht, so ergriff sein Gemüt der Zauber dieser keuschen, heiligen Schöne. Zum ersten Male blickte er zu einem Menschen empor.

Dennoch war Lydia noch glücklicher als er. Sie, der Emporblicken eine Gewöhnung war, sie fühlte zum ersten Male die Wonne des Umfangens. Ihr innerlichster Kelch öffnete sich dem warmen Sonnenstrahl. War sie im eigentlichen Sinne niemals ein Kind gewesen, nun erst, da das Weib in ihr die Hülle sprengte, ward sie ein Kind. Hatte sie bisher älter geschienen, als sie war, nun schien sie jünger; ihre Wangen färbten sich gleich Maienrosen, die stillen Augen leuchteten in meerdunklem Glanz, sie bewegte sich rascher, die leise Stimme tönte klangvoll aus der Brust heraus; sie lächelte fröhlich wie noch nie.

Denn wann hätte das Nachtgespenst der Sorge standgehalten vor der Liebe erstem Morgenstrahl? Jener Nebel, der jach vor Lydias Augen aufgestiegen war, hatte sich unter dem Verlobungssegen gesenkt; auch ihres Vaters Krankheit sah sie in einem heitereren Licht; ein Widerstrahl ihrer Freude fachte seine Kräfte an, sie war sein liebstes, sein eigenstes Kind, er hoffte für sie und sie für ihn. So lebte sie Tage und Tage im reinsten Äther des Glücks. – Zehn Tage im reinsten Glücksäther! – wie viele Menschen sind es, die auf sie zurückblicken?

War das Brautpaar verpflichtet, sich dem Großvater Mehlborn als solches vorzustellen? Max hatte nein gesagt, Lydia ja, und ein Bräutigam von kaum zwei Wochen gibt nach. Bruder Martin erbot sich, an Stelle des kranken Vaters das junge Paar »zu chaperonnieren«.

So zog man bei hellem Sonnenschein aus, um eine Stunde später unter einem drohenden Gewitter heimzukehren. [287] Amtmann Mehlborn war, wie füglich hätte erwartet werden können, beim ersten Kleeschnitt auf dem Felde gewesen, Leutnant und Doktor von Hartenstein hatten ihre Karten abgegeben; der letztere, da seine Braut über derartige gesellschaftliche Utensilien nicht verfügte, nachdem er unter die seine gekritzelt hatte: »und Lydia von Hartenstein. Verlobte.« Irgendwelche herzliche oder auch nur höfliche Erwiderung wurde, mit gutem Grunde, nicht erwartet.

Trotz des erwünschten Verfehlens empfand Max heute doppelt, weil auch aus einer Art von Scham vor seiner Braut, das Widerwärtige dieses Familienbezugs. Er kam daher während des Heimwegs auf seine neuliche Behauptung zurück, daß derlei aufgenötigte Verhältnisse nicht nach hohen sittlichen oder gemütlichen Werten zu bemessen seien. »Kannst du im Ernst das Band zwischen mir und diesem alten Manne Liebe nennen, Lydia?« fragte er, und da sie nicht augenblicklich eine Antwort gab, gab er sie selbst, indem er fortfuhr: »Im besten Falle wäre es ein Blutszwang, im schlechtesten Heuchelei, und selber das, was du als Tugend oder dergleichen Willensakt anführen möchtest, hieße gerade darum nimmermehr Liebe, die ja die Freiheit selber ist. Und wäre es mein leiblicher Vater, wenn ich ihn nicht lieben könnte, ohne daß er mein Vater ist, dann verdiente mein Gefühl zu ihm diesen Namen nicht.«

Lydia schwieg auch jetzt, die Augen sinnend zu Boden gesenkt; der ehrliche Martin aber erwiderte:

»Nimm es mir nicht übel, Max, aber das finde ich am Ende doch ein bißchen stark. Da wäre ich ja nicht besser als ein Hund oder Pferd, die wohl einem Herrn anhängen, aber keinen Vater und keine Mutter kennen. Sind uns denn die Anverwandten für nichts und wieder nichts vom [288] lieben Gott gegeben? Und wenn dein Großpapa den Spieß nun umdrehte und sagte: mein Herr Enkelsohn ist gar nicht nach meinem Geschmack, ich werde mir einen Erben suchen, der mir gefällt?«

»Würde ich seine Geschmacksrichtung durchaus in der Ordnung finden,« entgegnete lachend Max, »wenn auch die Folgerung auf das Pflichtgebiet anders gezogen werden muß für den, welcher das Leben gibt, und dem, welchem es willenlos gegeben wird. Auch das Tier sorgt für seine Brut. Beruhige dich indessen, Freund; keinem Bauer, richtiger ausgedrückt, keinem Ungebildeten fällt es ein, sich einen fremden Erben zu suchen, wenn ihm der natürliche auch noch so wenig zusagte. Das ist es ja eben, was ich Blutszwang, item der Liebe Gegensatz genannt habe.«

»Ich würde es ganz anders nennen, Max.«

»Und wie, Bruder Leutnant, wenn es beliebt?«

»Das richtige Wort fällt mir nicht gleich ein. Aber würde ich denn, nämlich gar nicht etwa bloß, weil ich es geschworen, sondern ganz von Natur, nicht mehr an meiner Fahne hängen, weil ein siegreicher Feind sie in Fetzen gerissen hätte?«

Lydia drückte ihrem Bruder mit einem zustimmenden Blicke die Hand, und das war das erste Zeichen des Widerspruchs, das sie sich gegen ihren Verlobten gestattete.

Unter Donner und Blitz erreichten sie das Haus. Sidonie war mit den beiden jüngeren Cousinen nach der Pfarre gegangen, dagegen eine Briefsendung der Mutter aus der Schweiz eingetroffen als Antwort auf die Verlobungsanzeige von seiten des Propstes und der Kinder.

Mütterliche Freude hatte die Verbindung mit einer Familie, die ihr so fremdartig gegenüberstand, Frau Brigitten ja nicht erwecken können; schlechthin Einspruch dagegen [289] zu erheben war indessen unstatthaft, und zu pflichtmäßig aufrichtig, um einen Anteil, den sie nicht empfand, mit Phrasen abzufertigen, behandelte sie das Verhältnis eingänglich von einer Seite, die bisher, geflissentlich oder nicht, unberührt geblieben war, von der praktisch häuslichen.

»Du hast, mein Sohn,« so schrieb sie unter anderem, »mit dem Leben bisher getändelt wie ein Kind. Nun baue ich darauf, daß das, was du dein Glück nennst, den Ernst des Mannes in dir reifen und dich für die erste Menschenpflicht, die einer der Gesamtheit nutzbringenden Tätigkeit, tüchtig machen werde. Wenn deine künftige Gattin dir in diesem Sinne eine Gehülfin wird, dann, aber auch nur dann, wirst du wie den Zweck der Ehe mit ihr erreichen, so das Glück der Ehe durch sie erfahren. Ich lese mit Staunen zwischen Sidoniens Zeilen heraus, daß sie, zumeist um deinetwillen, sich auf das Erbe des alten Familiengutes zuversichtlich Rechnung macht. Ich kann euch beide nicht dringend genug vor diesem Fehlschluß warnen. Wie ich eure Großtante – ohne Zweifel richtig – beurteile, überträgt sie in dem Stammsitz ihrer Familie ein Ehrenamt, und solch ein Ehrenamt überträgt keine Werben auf die Enkel eines reich gewordenen Bauers. Daß sie deine und deiner Schwester Wohltäterin gewesen ist, würde nur ein Grund mehr für meine Auffassung sein; denn selten schätzt man die, welche von unserer Großmut Vorteil gezogen haben.

Gesetzt aber auch, du würdest durch irgendwelche Schicksalsgunst vor der Zeit deiner Reife in eine nach außenhin unabhängige Lage versetzt, entbände dich das von deiner ersten Pflicht gegen dich selbst und gegen die Welt? Gibt es etwas Erbärmlicheres als einen vornehmen Müßiggänger, [290] der Kraft, Geld und Zeit in spielerischen Liebhabereien vergeudet und in Genüssen, die, weil sie niemals befriedigen, alle Tage wechseln müssen? Es ist, im Gegensatz zu reicheren Ländern, ein Segen der durchschnittlichen Armut unserer höheren Stände, daß das Faulenzertum, selbst von Erbsöhnen, als Unsitte und das Dienen als Pflicht und Ehre gilt. Oder hältst du eine deiner künstlerischen Anlagen, die leichte Dichtergabe eingeschlossen, für bedeutend genug, um sie, selber bei fleißiger Übung, in langer Zeit über den Dilettantismus zu erheben? Täusche dich nicht, mein Sohn, sie sind es nicht; eben um ihrer Vielseitigkeit willen nicht und ganz besonders bei deiner Temperamentsanlage nicht. Eine großartig schöpferische Künstlerkraft ist fast ohne Ausnahme eine einseitige, und ein großartig schaffender Künstlerwille ist es auch.

Täusche dich aber auch nicht darüber, daß du auf unberechenbare Jahre hinaus – und wahrlich zu deinem Heil! – auf dich allein gestellt sein wirst, auf Selbstüberwindung und strengen Fleiß. Da du nun einmal vorzeitig an die Gründung eines eigenen Hausstandes gedacht hast, somit eine aussichtslose, militärische Friedenskarriere aufgegeben werden muß – und dafür preise ich, wie man so sagt, den Himmel, mein Sohn! –, bleibt dir keine Wahl als die allein deiner würdige: die wissenschaftliche Bahn, zu der du vorbereitet bist, zu verfolgen und mit bescheidenem Anfang einem edlen Ziele zuzustreben. Es naht sich ja mit starken Schritten die Zeit, in welcher auch in unserem Vaterlande mit dem Schlendrian aufgeräumt werden wird. Sei es als Beamter, sei es als akademischer Lehrer hast du dann den Punkt gefunden, von welchem aus ein geistvoller Mann den Hebel an setzt, um für den Umschwung der Zeit sein Pflichtenteil beizutragen.«

[291] Den Schlußpassus von des geistvollen Mannes archimedischem Zeitberuf abgerechnet – denn aus dem Munde einer Brigitte Zacharias schmeichelt die Anerkennung seiner Bedeutendheit auch den unzärtlichsten Sohn –, erregte »der pädagogische Leitartikel, der sich in ein Briefkuvert verirrt hatte« – dem Adressaten ein herzliches Lachen. Die Frau Professorin hatte jedoch ihrem Glückwunsch an den Propst und seine Tochter ungefähr die gleiche Ermahnung beigefügt, indem sie beiden, unter deren vorwaltendem Einfluß sie zurzeit den Sohn sich dachte, die Zügelung vorlauter Erwartungen und unsteter Gelüste zur Gewissenssache machte; und diese beiden nahmen die Sache ernst, wenn auch nicht aus übereinstimmenden Gründen.

In dem Vater weckte das apodiktische Absprechen jeglicher Erbaussicht des jungen Bräutigams kaum zur Ruhe gebrachte persönliche Hoffnungen wieder auf, während gleichzeitig die einleuchtenden Belege für diesen Abspruch den Riß in den Stammbaum, über welchen die Not hinweggeholfen hatte, als empfindlichen Makel erscheinen ließen, und die zweifelhafte Existenzfrage ernstliche Sorge erregte. Hätte er seine Tochter nicht so tief beglückt gesehen, würde er, der Heidenbekehrung zum Trotz, das voreilige Verlöbnis bereut haben.

Seine Tochter dahingegen fühlte sich plötzlich aus ihrer traumumfangenen bräutlichen Seligkeit aufgescheucht und dem ernüchterndsten Tagewerke gegenübergestellt. Arme Lydia, welche widersprechenden Forderungen werden dir gutem, weltfremden Mädchen doch in einem Atem vorgehalten! Ein ungläubiges Weltkind zum gläubigen Lutheraner zu bekehren und eine schwere Familiensorge auf seine jungen Schultern zu legen, heischt der Vater; einen [292] dilettierenden Flattergeist zum liberalen Staatsbürger und praktischen Hauswirt zu bändigen, verlangt die Mutter; und der, welchen du liebst, mehr als dein Dasein liebst, er will, daß du mit ihm den Schaum des Lebensbechers schlürfst und nichts weiter erstrebst, als ihn zu beglücken und durch ihn beglückt zu sein. Ist es ein Wunder, wenn hastig die Maienrosen von deinen Wangen flüchten und deine Blicke der Nebelflor der ersten Glückesstunde wiederum verschleiert? Jenes dunkle Ahnen, daß du den Mann, welchem du lebenslang als deinem Hort vertrautest, an eine haltlose Planke geklammert, in der Brandung verschwinden und den Stern der Liebe, so jach wie er aufgetaucht, an deinem Horizonte verschwinden sehen wirst?

»Nun, Feinliebchen,« fragte Max, nachdem die mütterlichen Briefe gegeneinander ausgetauscht und still zu Ende gelesen worden waren, »wie gefällt dir die Perspektive, in vier bis fünf Jahren – denn früher würde es selbst dem unermüdlichsten Büffel, und wenn er als ein Engel vom Himmel heruntergefallen wäre, bei unserem löblichen Schematismus platterdings unmöglich sein –, item in vier bis fünf Jahren als Hausfrau eines königlichen Gerichtsassessors, notabene vorderhand noch eines Diätarius, in einem kassubischen Landstädtchen hinter dem Kochherd und dem Bükefaß zu stehen?«

»Ei nun, mir würde sie schon gefallen,« antwortete Lydia mit einem Lächeln, das freundlich, aber nicht mehr wie vor wenig Stunden fröhlich war; »wenn nur du, lieber Max, sie dir gefallen ließest.«

»Ich würde sie mir allerdings nicht gefallen lassen, weder für dich, liebes Herz, noch für mich selbst. Ersiehst du aber aus dieser Zumutung, wie unverständlich die Mutter und ich uns gegenseitig sind?«

[293] »Aus dieser Zumutung, Liebster, ersehe ich es nicht. Mir scheint, deine Mutter hat recht.«

»Hinsichtlich der Erbschaft meinst du?«

»Auch hinsichtlich ihrer.«

»Mehlbornsche Verbissenheit, Kind! Alle Plebejer mißtrauen dem Adel. Tante Thusnelda setzte ihren Stolz darein, frei von Vorurteil zu sein; Geld und Gut dagegen wußte sie zu schätzen. Abstrahiert von persönlichen Sympathien und Antipathien, würde schon der Reiz, sich das zersplitterte Werbensche Besitztum einstmals in einer Hand vereinigt und durch einen bedeutenden Landkomplex erweitert zu denken, sie bewogen haben, das Stammgut auf mich zu übertragen. Meine kleine Sidi hat sich die Erbschaft freilich in den Kopf gesetzt, und ich lasse sie gern in ihrem Wahn, da im wesentlichen nichts an der Sache geändert wird. Bruder und Schwester wirtschaften aus einer Tasche. Du aber, Lydia, wirst mir beipflichten, daß die schönheitssüchtige Harfenkönigin nimmermehr ein verunstaltetes, zum Einzelnleben verurteiltes Geschöpf wie meine arme Schwester zur Repräsentantin ihres Geschlechtes erwählen konnte.«

»Ich habe kein Urteil über die Sinnesart unserer Tante,« versetzte Lydia, »und ich sehe mit Schmerz diesen Wirbeltanz um ein goldenes Kalb. Ach, glücklich die Armen, lieber Max, deren Andenken nicht über ihrer Hinterlassenschaft verloren geht! Ist es denn aber nicht unter allen Umständen ein Frevel, über sein eigenstes Schicksal einen bloßen Zufall entscheiden zu lassen?«

»Kleiner Lutherscher Starrkopf! Entscheidet über unser ganzes Leben denn nicht das, was du, höchst unfromm, Zufall nennst, und ich, der Unfromme, Himmelsgunst? Nur der Krämer baut nach Ameisenart; jeder sich fühlende Mensch rechnet auf seinen Stern.«

[294] »Nicht der Christ,« entgegnete Lydia leise.

Ihr Verlobter maß sie mit einem unmutigen Blick. Das »Heilige ihrer Schönheit«, wie er es nannte, hatte ihn angezogen; diese »Betschwesterphrase« stieß ihn ab, weit mehr als die »Schulweisheit« der Mutter ihn abgestoßen hatte. Beide schwiegen.

Lydia fühlte, daß heute nichts mehr von ihm zu erreichen sein würde; sie setzte sich in einen Fensterbogen und blickte hinauf zu dem grauen Wolkenhimmel. Sie rang mit ihrem Nebel. Max wäre, seine Verstimmung abzuschütteln, gern in das Freie hinausgestürmt; aber das Gewitter hatte sich in einen Landregen verzogen, es mußte im Hause stillgehalten werden.

Bruder Martin, unter dem Vorwand, Sidonien den Brief ihrer Mutter zu bringen, hatte Eile gehabt, sich der lustigen Jugend in der Pfarre zuzugesellen, der Propst, ruhebedürftig, sich zurückgezogen. Philipp studierte mit seinem Lehrer in dessen Zimmer; seine Mutter blickte kaum von ihrer feinen Handarbeit auf. Die Bescheidenheit der Unterhaltungsansprüche, welche diese friedliche Seele an sich selbst wie an andere stellte, hatte Max schon wiederholt in Staunen versetzt, heute versetzte sie ihn nahezu in Zorn. Er hätte etwas Zerstreuendes lesen mögen: aber auf dem Schlosse gab es nur vertiefende Lektüre; eine bewegte Weise singen: aber an der Orgel, oder dem Klapperkasten? Er schritt mit unmutiger Hast das Zimmer auf und ab; seine Blicke streiften die stillsinnende Geliebte. Die Vorstellung, daß sie ihre Jugend hingebracht habe und, ohne sein Dazwischentreten, auch ferner hingebracht haben würde, ohne die Einödigkeit ihres Daseins nur innezuwerden, rührte ihn halb, und halb erbitterte sie ihn. So leben Nixen, nicht warmblütige Menschen! Ihn würde [295] die Notwendigkeit, mehr als einen Regenabend in dieser Wohnstubenatmosphäre zu verbringen, schlechthin toll gemacht haben.

Seine Tage waren bisher in so frohem Wechsel verrauscht, und er hatte so wenig auf fremde Existenzen geachtet, daß solch verdrießliche Stimmung ihm eine neue Erfahrung war. Sie hätte, ließe sich meinen, just die geeignete sein müssen zu einem fesselnsprengenden Sang: einem Sturmlied oder einer weltschmerzlichen Elegie. Da sie indessen den Rhythmus in seiner Brust, statt ihn zu lösen, dämmte, da in ihm und außer ihm alles, was Klang hieß, schwieg, mußte Bruder Martin wie ein rettender Genius begrüßt werden, als er, abgesendet von der gesamten jungen und alten Gesellschaft, erschien, das Brautpaar zur Verherrlichung eines musikalischen Abends in die Pfarre einzuladen. Lydia hätte wohl vorgezogen, in stillem Alleinsein sich durch den Nebel zu kämpfen; doch legte sie ohne Einwand ihren Arm in den des Geliebten, und sie gingen.

Wer Max von Hartenstein, dem umhuldigten Dichter und verhätschelten Liebling der distinguiertesten großstädtischen Kreise, noch vor zwei Wochen gesagt hätte, daß er als Matador im Werbenschen Pfarrhause glänzen, – oder am Ende nicht einmal glänzen werde! Er lachte spöttisch über sich selbst und hätte der Liebe zürnen mögen, welche den besten Mann in so läppische Netze verstrickt. Daß einer von seiner Zunft, welchen das Vaterland zurzeit noch seinen größten nannte, es einstmals nicht unter seiner Würde gehalten hatte, das holdeste deutsche Idyll in einem ländlichen Pfarrhause nicht etwa zu dichten, sondern zu durchleben, fiel ihm zur Versöhnung mit sich selbst wohl ein, war aber doch nur ein halber Trost; denn der alte [296] Dichter hegte bloß ein Liebchen, dem er am ersten langweiligen Tage entfliehen durfte, und den jungen Dichter fesselte eine verlobte Braut. Gottlob, daß dieser bräutliche Zwitterzustand zu Ende lief, und daß er bald ein geliebtes Weib, eine Galathea, die unter seinen Küssen zum Leben erwachen würde, in seine wahre Heimat führen durfte!

Sidonie hatte eben eine Mazurka von Chopin, ihrem »melancholischen Liebling«, ausrasen lassen, als der, welcher bisher ihr lächelnder Liebling gewesen war, eintrat, auffällig in der Stimmung eines Furioso und an seiner Seite die Braut, auf deren Wangen die Blüte der Freude erloschen war. Das kluge Fräulein erkannte alsobald die Wirkung der mütterlichen Briefe und suchte sie in einem Zwiegespräch mit ihrem Bruder hinwegzuscherzen. Aber die Wirkung beharrte; nicht sowohl weil sie ihn persönlich so stark ergriffen hatte, sondern weil er das Herz so stark ergriffen sah, das seine Impulse nur von ihm empfangen sollte.

»Ach, geh doch, Brüderchen!« sagte die kleine Sidi lachend. »Ein Poet und eifersüchtig auf die Kritik der reinen Vernunft!«

Das Pfarrröschen hatte währenddessen am Klavier Platz genommen, um, ohne Scheu vor dem demütigenden Abstand, ein munteres Liedchen anzustimmen, auch mit ihrer Lerchenkehle und ihrem Schweizerbuben bei gegenwärtigem Publikum einen Anklang gefunden, der sich mit dem des nationalen Pathos der Virtuosin reichlich messen durfte. Nun aber, da die Sennerin ihr Liebeslocken ausgezwitschert hatte, war an Bruder Apoll die Reihe, sein Liebesgrollen in entsprechenden Tönen auszuströmen.

Sidonie hatte dafür gesorgt, daß ein Teil ihres Notenvorrats »die selige Harfe« nach der Heimat begleitete; sie [297] reichte ihrem Bruder ein Heft Schubertscher Lieder, in deren Vortrag er, wie sein Ruf ging, exzellieren sollte. Da sie selbst diesen Ruf noch nicht erprobt hatte, war sie in der gespanntesten Erwartung.

»Dies!« sagte Max. Sie schlug die einleitenden Akkorde an, und:

»Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst,« schallte es zornsprühend durch das friedliche Blümelsche Familienzimmer.

Max hätte schwerlich eine Wahl treffen können, welche seiner sonoren Stimme, seinem dramatischen Vortrag und seinem heutigen Mißmut sich trefflicher anpaßte als diese musikalische Deklamation; aber auch keine, deren Text die alten wie jungen Herzen seiner Hörer tiefer erschüttert hätte. Nicht einer von ihnen, außer Sidonien, auch Konstantin Blümel nicht, des heidnischen Mythos Freund, auch nicht Peter Kurze, der akademische Fuchs, oder Dezimus Frey, der Primaner, die doch sämtlich mit dem gottzürnenden Titanen einen mehr oder minder behagenden Umgang in seiner Ursprache geführt hatten, nein, nicht einer von ihnen kannte die majestätische Version ihres vaterländischen Dichters, und sie wirkte vielleicht eben darum so mächtig, weil die begleitende Musik dem unerreichbaren rhythmischen Zauber der Sprache nur gleichsam als Folie beigefügt worden ist. In dramatischer Steigerung hob sich Satz um Satz, und als das höhnende: »Und dein nicht achtet wie ich« verhallte, da herrschte minutenlang atemlose Stille. In Sidoniens Augen funkelten Tränen, und dem Greise wie dem Jüngling rieselten Schauer vom Kopf zur Zeh. Rose, Martin und seine jüngsten Schwestern empfanden, was sie nur halb verstanden, und Peter Kurze verstand, was er nur mäßig empfand. Dort aber im Fenster saß [298] Lydia, bleich wie eine Entseelte, die glanzlosen Augen weit geöffnet, ihre Arme hingen schlaff am Körper herab, und zwei kalte Tropfen glitten über ihre Wangen. »Und dein nicht achtet wie ich!« hauchten die bebenden Lippen.

»Hast du die Verse selber gemacht, Max?« fragte endlich der Leutnant. Und mit der Frage kam wieder Leben in die Gesellschaft.

Max gab keine Antwort; er selbst war durch den Vortrag bis zum Verstummen ergriffen; Schwester Sidi aber, schon wieder in belustigter Laune, entgegnete:

»Nimm dafür an, daß er sie selber gemacht, Freund Martin, laß es dir aber nicht einfallen, auch dergleichen machen zu wollen.«

Und Freund Martin nahm dafür an, daß das Genie der Familie die Verse gemacht, und es fiel ihm nicht ein, auch dergleichen machen zu wollen. Röschen flocht mit fliegenden Fingern einen Narzissenstrauß, den sie am Morgen gepflückt hatte, zu einem Kranze, um ihn, statt des mangelnden Lorbeers, dem Sänger auf die Locken zu setzen; Peter Kurze aber raunte in Dezems Ohr:

»Läufts mit der Erbschaft schief, soll er aufs Theater gehen, und sein Glück ist gemacht!«

Max hatte sich zu Lydia gewendet, deren Erschütterung ihn entzückte, er erwartete ein entsprechendes Beifallszeichen; aber sie sah ihn nur flehend an und sagte leise: »Singe das Lied nicht wieder, Max!«

»Da es dir nicht gefallen hat, in deiner Gegenwart gewiß nicht, Liebe,« versetzte er gereizt.

»Gefallen? ach, Max!« entgegnete sie mit sanftem Vorwurf. »Es klang wie aus deiner Seele heraus.«

»Es klang auch aus meiner Seele heraus,« sagte er und wendete sich ab.

[299] Am anderen Morgen hatten die Wolken am Himmel sich verzogen und die in den Gemütern auch. Der gekränkte Prometheus war wieder ein zärtlicher Liebhaber und die verstörte Gläubige eine vertrauende Braut. Dauernd jedoch ließ sich ein reiner Ton zwischen den Verlobten nicht behaupten. Das blinde Glück ihrer Liebe war dahin.

Weit weniger für den Mann mit dem noch unverflogenen Rausch als für die Jungfrau, die aus ihrem Kindestraum gerissen worden war. In seiner Gegenwart umspann sie der Zauber der ersten Liebesstunde; war sie aber allein, dann prüfte sie den Zauber auf seinen Gehalt, und er zerfloß nur allzu häufig in einen Schauder der Scham oder des Zweifels. Der Wohllaut seiner Rede bestrickte sie wie zuvor, suchte sie aber nach ihrem Sinn, dann fand sie selten einen Zusammenklang mit ihrem Gemüt und nicht einmal eine Umschreibung in ihren Gedanken.

Sie sah ein, daß sie erst lernen müsse, ihn zu verstehen. Sie las seine Dichtungen von neuem, und es ging ihr mit ihrem Wohllaut auch heute noch wie mit dem der Rede; sie nahm auch dieses und jenes von den Büchern in die Hand, welche er sich zur Kurzweil für die Stunden, die er nicht mit der Geliebten verbringen durfte, hatte schicken lassen. Das Neueste der Zeit, deutsche Lyrik und französische Romane.

Lydia hatte als Mitschülerin ihres Bruders wie später zur Unterhaltung ihres kranken Vaters, so genau wie nur wenige junge Mädchen, mit Konstantin Blümels alten Heiden- und Christenfreunden Bekanntschaft gemacht; ein Roman war ihr aber noch niemals vor Augen gekommen. Für Max anfänglich ein Reiz der Besonderheit mehr. Er verglich ihren Bildungsgang dem eines Klosterfräuleins [300] im Mittelalter und nannte sie seine Roswitha. Was Wunder nun, daß der Blick, den er ihr in eine neue Dichterwelt erschloß, sie berauschte, daß ihre Pulse flogen und das Leben, welches sie bis heute geführt hatte, ihr eng und schal erschien – solange sie las oder ihn lesen hörte. Wenn sie aber, nachdem die erste Wallung gedämpft war, sich fragte, ob sie eine Freiheit, wie diese Helden und Heldinnen der Passion sie forderten, wie auch Max sie forderte für die Geliebte und für sich selbst, ob sie eine solche Freiheit fordern und dulden nicht nur wolle und dürfe, sondern einfach könne? dann rief aus ihrem heimlichsten Innern eine Stimme: »Nimmer!« Lydias Welt war vielleicht beschränkt, aber ihre Schranken waren tief begründet und ragten hoch. Wären sie ihr nicht durch Erziehung und Schicksal gesetzt worden, sie würde sich solche freiwillig gesetzt und niemals überschritten haben. Sie trachtete danach, sich unter die Oberhoheit eines Gatten zu stellen, wie sie bisher ohne Wanken unter der ihres Vaters gestanden hatte. Und an diesem Trachten scheiterte sie; denn das Heldentum und das Martyrium, deren sie so gut wie alle diese gedichteten weiblichen Opfer unserer gesellschaftlichen Einrichtungen fähig gewesen wäre, waren solche, die hinwiederum der Dichter, den sie liebte, nicht verstand. Wie hätte sie diesem Manne nun vollends der Leitstern werden sollen, der ihm, zwischen Klippen und Strudeln hindurch, die Bahn zum Hafen wies?

Da ihr Vater neuerdings, ebenso lebhaft wie die Professorin, nach einem definitiven Plane für des Sohnes Zukunft drängte, kam sie wiederholt auf diesen Gegenstand zurück, war aber leider zu wenig in Frau Hanna Blümels Lebensschule gewitzigt, um für ihre gute Sache den gelegenen Moment abzuwarten; und so geschah es [301] denn mehr als einmal, daß sie Maxens Widerwillen und Widerspruch sich bis zum Widersinn steigern hörte.

Der Schematismus und die kleinliche Praxis jeglicher Beamtenkarriere dünkte ihm unerträglich, – ihr einziger Ausläufer, der ihn gelockt haben würde, der in die Diplomatie, erheischte die äußeren Mittel, deren Mangel ja eben von seinen Drängern vorausgesetzt wurde. Der Entscheid mußte daher zunächst eine offene Frage bleiben. Im übrigen waren die Prämissen der Mutter wohl die richtigen, aber die Folgerungen, die sie zog, waren verkehrt. Just weil wir mit Riesenschritten einem politischen Umschwung entgegengingen, galt es, sich ungebunden für denselben zu erhalten. Ein Parlament fordert unabhängige Männer. Was aber die akademische Laufbahn betraf, lagen denn nicht auch auf ihr Handfesseln hier, Fußangeln dort? Wer hatte die Freiheit zu lehren, was er dachte, auszusprechen, was in ihm glühte, was die Begeisterung der Jugend entzündete? Leeres Stroh dreschen, abgestandene Formeln wiederkäuen, die bloße Vorstellung erregte Ekel. Endlich aber, welche Zeit erforderte die zu verfolgende Bahn, wenn der süßeste Besitz erst von dem erreichten Ziele abhängig gemacht werden sollte!

»Lieben wir uns denn nicht!« wendete Lydia ein. »Können wir denn nicht warten?«

»Warten!« rief er in heller Entrüstung. »Warten wie der Herr Kandidat und seine ewige Braut! Warten heißt, die gute Stunde verpassen, und kein Unglück wurmt wie ein verpaßtes Glück. Heute liebst du mich, so wie ich eben bin, aber ich kann mich ändern, du kannst dich ändern; weißt du denn, ob du mich in soundso viel Jahren, ja nur in einem Jahre auch noch liebst?«

»Max!« unterbrach ihn Lydia entsetzt, »o Max, mit [302] solchem Zweifel im Herzen denkst du eine Ehe einzugehen.«

»Eben darum muß ich sie eingehen, Kind,« versetzte Max. »Die Ehe, so sagt man wenigstens, hat eine ausgleichende Macht. Unter allen Umständen hat sie die der Gewöhnung, der gemeinsten, aber gewaltigsten von allen Erdenmächten. Die Franzosen heiraten selten aus Liebe und befinden sich, lediglich durch Akkommodation, nicht übler als wir deutsche Idealisten mit unserer Sentimentalität. Freie Liebe, ein Verhältnis ohne gesetzlichen Zwang, wäre unbedingt reiner, schöner, edler, sogar bindender als mit dem Zwang. Jede Schranke reizt zur Übertretung. Ein Verlöbnis aber, das heißt halbe Freiheit und halber Besitz, ist auf die Dauer ein Unding, ein Zwitterzustand, in dem sich die Liebe verzehrt; und da nun einmal, bis auf weiteres, die Liebe nur unter der Form der Ehe von der noch herrschenden sozialen Borniertheit anerkannt wird, müssen wir Mann und Frau werden, Lydia, nicht mit dem abgematteten Puls der Geduld, sondern morgen, heute, diese Stunde noch, im ersten Sonnenstrahl, der die Herzen erschlossen hat.«

Lydia fühlte sich empört. Hätte ihren Vorstellungen, ihren Erfahrungen, ihrem Ideale von der Heiligkeit der Treue in schnöderer Weise Hohn gesprochen werden können als durch dieses Freiheitskredo? Sie hätte vor dem Geliebten fliehen mögen bis an das Ende der Welt. Aber er zog sie an sein Herz, er küßte die eisigen Tropfen aus ihren Wimpern auf, hauchte die glühendsten Liebesworte in ihr Ohr, und als sie sich endlich seinen Armen entwand, da sagte sie lächelnd zu sich selbst: »Gefällt er sich denn nicht in Paradoxen? Ist er nicht ein Poet? Hat er mir nicht vor kaum einer Stunde die geheimnisvolle Operation klarzumachen gesucht, unter deren Bezauberung der Dichter, der Künstler [303] seelische Vorgänge und Temperamentseigenheiten darstellt, die seinem persönlichen Verlangen und Erfahren die allerfremdesten sind? Hat er nicht gesagt, man braucht kein Othello zu sein, um einen Othello zu spielen, kein Don Juan, um einen Don Juan zu schaffen? Im Gegenteil: Passionen verwischen die reine Vorstellung der Passion; Stimmungen, denen wir unterworfen sind, trüben die, welche wir unserem Bilde einhauchen möchten. Du mußt ihn nur besser verstehen, dich ihm akkommodieren lernen, wie er es nennt. Und endlich, Lydia, Hand auf das Herz! du selbst, deren Grundgesetz die Treue und nicht die Freiheit ist, was ersehnst du denn heimlich und heiß, als sein zu werden, morgen, heute, diese Stunde noch und dann – für ewig? Ist deine Liebe anderer Natur als die seine, als – alle Liebe?«

Tage, Wochen gingen hin; je näher der entscheidende Termin rückte, um so ruheloser wurde der Propst, um so auffälliger seine Zerrüttung. Er glaubte sein Ende nahe und hätte sein Haus bis in das Kleinste ordnen mögen. Aber was wäre in dieser Ungewißheit zu ordnen gewesen? Lydia mußte viel in seiner Nähe sein; er ließ sie und Martin mündig sprechen, verpflichtete die erstere, auf die er bauen durfte, im umfassendsten Sinne als Obervormünderin ihrer jüngeren Geschwister! Zum nominellen Vormund bestellte er seinen Freund und Schicksalsgenossen Hildebrand. Auch dieser hatte die Freiheit des Lehrens wiedergewonnen, aber leider wenig Schüler, die davon Segen zogen; auch seine Manneskräfte waren in das Leere verpufft worden.

Unter der Zucht dieses Getreuen sollte denn auch Philipp, jetzt dreizehnjährig, weitergebildet und gefestigt werden, sobald nur immer der Mutter die Trennung von ihrem Hätschelkinde zugemutet werden durfte. Der Knabe hatte [304] leichtes Hartensteinsches Blut, allein der Vater hegte das stärkste Vertrauen in seine Befähigung. Bis zu seiner letzten Stunde träumte er von einer Säule des Protestantismus aus seinem Stamm, da er selbst als solche durch die Ungunst der Zeit gebrochen und verwittert war.

Seinen Neffen sah er wenig. Dessen lebhaftes, zuversichtliches Gebaren war ihm unbehaglich, das zärtliche Bezeigen gegen seine Braut machte den Vater nahezu eifersüchtig, und – Max liebte Kranke so wenig, als er Tote liebte. Er kam daher häufig mit seiner Schwester und auch ohne diese in die Pfarre, die er die friedliche Pastorei von Wakefield nannte.

»Ich schnappe nach einem frischen Atemzug wie ein Fisch nach Wasser,« sagte er. »Meine arme Lydia setzt kaum noch den Fuß aus dieser bedrückenden Siechenstube. Das muß ein Ende nehmen: der Vater ist dem Tode durchaus nicht so nahe, als er wähnt. Ich habe ein paar Semester eifrig medizinische Vorträge gehört. Was kann man auf der Universität nicht alles nebenbei betreiben! Ihnen, Freund Dezimus, werden Exegese und Kirchengeschichte hinlänglich Zeit lassen, sich am Sternenhimmel umzutun. Ihr alter Chaldäer lebt ja wohl auch noch, nicht wahr? Nun, den Mann gönne ich Ihnen. Ein Stückchen Faust steckt in jedem richtigen deutschen Studenten. So zog mich auch die Pathologie an und die des Herzens insbesondere, weil es das bis jetzt unerforschteste Fleckchen an unserem Leichnam ist und – das reinlichste. Ja, wäre die Sache ohne Patientenpraxis zu betreiben gewesen, wer weiß, ob sich nicht statt eines zurzeit höchst überflüssigen Doctor juris ein allezeit unentbehrlicher Doctor medicinae aus dem Ei der Wissen schaft geschält hätte. Das klingt wohl paradox, ist es aber keineswegs.«

[305] »Keineswegs,« bestätigte Mutter Blümel lachend. »Meine Rose blättert auch gern im Kochbuch nach süßen Speisen; sich aber am Kochherd die Fingerchen schwarz zu machen, ist ihr äußerst fatal.«

Max lachte gleichfalls. »Nun, was ich sagen wollte,« fuhr er darauf fort. »Der Vater leidet bekanntlich seit seiner Jugend am Herzen. Ein plötzliches Ende ist möglich, ein langsames, qualvolles Hinsiechen aber wahrscheinlicher. Dem muß Lydia entzogen werden um jeden Preis. Ich bin der Hüter ihrer Gesundheit, ihrer Schönheit, ihres Glücks. Noch in diesem Sommer wird sie mein, und ich entführe sie so weit, daß kein Krankengestöhn ihr Ohr erreichen kann.«

Er kam wiederholt auf diesen Plan zurück; ein Winteraufenthalt in Rom dünkte ihm die leichtest ausführbare Sache von der Welt.

»Wer einmal in Rom gewesen ist, kann nirgend anderswo ganz unglücklich werden, sagt Schwester Sidi unserem Goethe nach. Ich aber sage: wer einmal in Rom gewesen ist, kann nirgend anderswo wieder ganz glücklich werden. Der Blick, den ich darauf geworfen, war leider nur ein Augenblick. Nun zieht es mich wie mit Ketten dahin zurück. Den Honigmond auf Capri, den Winter in Rom! Mit diesem Gedanken wache ich morgens auf und lege mich abends nieder!«

Es war am Tage vor der Testamentseröffnung, daß Max diese Worte sprach.


So war denn der letzte Johannistag gekommen, welchen Dezimus als Kind des Hauses in der Heimat feiern sollte. Die Schule wurde am Morgen für die sommerliche Ferienzeit geschlossen; wenn er gegen Mittag aus der Stadt zurückkehrte, [306] stand der Geburtstagstisch gedeckt; darauf Mutter Hannas Rosinenkuchen mit achtzehn brennenden Wachsstöckchen ringsherum und dem dicken Lebenslicht in der Mitte. Daneben die Briefe und kleinen Angebinde, die in den letzten Tagen von den sechs fernen Schwestern eingetroffen und sorgfältig verborgen worden waren. Und welch ein Prachtstück von Johanniskranz wird das liebe Röschen gewunden haben! Und was mag es nur sein, was sie seit Wochen hinter seinem Rücken gekniffelt und hastig mit einem Tuche bedeckt hat, sobald er das Zimmer betrat? Goldene Sternchen auf blauem Grund, soviel hat er herausgeblinzelt. Am Ende eine Tasche, um seine Kassenscheine darin auf der Brust zu bergen, da er durch das Werbensche Stipendium ja in Bälde ein Rentier werden wird. Oder gar eine Mappe, in welcher die teueren Heimatsbriefe für ewige Zeiten verwahrt werden sollen. Abend für Abend will ja das liebe Röschen schreiben, was am Tage vorgefallen oder ihr eingefallen ist, und jeden Sonnabend soll der Wochenbrief abgehen, um ihrem alten Dezem den Sonntag erst recht zu einem Festtage zu machen.

Nach der Bescherung gab es dann ein Leibgericht. Ganz gewiß die ersten grünen Erbsen des Jahres und dazu Schwemmklöße und Schinken; vor dem Abendsegen aber noch irgend etwas Lustiges, vom lieben Strudelköpfchen ausspintisiert. Heute würde die junge Schloßgesellschaft gekommen und gesungen und gesprungen worden sein, – wenn das Testament nicht gewesen wäre. Röschen hatte schon gestern ärgerlich gesagt: »Die alte Harfenkönigin hätte auch was Klügeres tun können, als sich gerade einen Monat vor deinem Geburtstage einmauern zu lassen. Ich sehe es kommen, Dezem, mein hübsches Plänchen fällt mir in den Born.«

[307] Als Dezimus im Trabe aus der Stadt zurückkehrte, begegnete ihm, nahe dem Schlosse, der Vater, der sich zur Testamentseröffnung begab. Er war im Ornat und tief bewegt. Sollte doch über das Wohl und Wehe einer Familie, an der er den innigsten Teil nahm, in dieser Stunde entschieden werden.

»Du mußt dich mit der Bescherung gedulden, bis ich heimkomme, mein Sohn,« sagte er und ging in den Hof. Der Justitiarius überholte ihn:

»Rüsten Sie sich mit starken Nerven, Freund,« rief er ihn an; »ich wittere eine Tragikomödie, wie sie im Buche steht.«

In der Nähe der Pfarre kamen die drei jüngsten Schloßkinder mit Röschen Dezimus entgegen.

»Wir haben uns Ihre Schwester geholt, weil uns allein angst und bange wurde,« sagte Priszilla. »Kommen Sie auch mit auf die Terrasse, guter Dezimus. Die Eröffnung muß gleich vor sich gehen.«

Naturgemäß hätte Dezimus Hunger spüren müssen, und er hatte ihn auf dem Wege auch weidlich gespürt. Aber die Spannung vertrieb ihn plötzlich; er ging mit auf die Terrasse.

»Ach, was für ein schrecklicher Tag, lieber Dezimus,« klagte das freundliche Backfischchen Phöbe, das sich an seinen Arm gehängt hatte. »Mama zerfließt in Tränen, Papa sieht aus wie der liebe Heiland am Kreuze, und sogar Lydia, die doch sonst immer so ruhig ist, zittert. Bei Tische haben nur der Herr Magister und Philipp ordentlich gegessen; ich bloß ein kleines bißchen Mehlspeise. Max hielt es schon am Morgen nicht mehr aus; er hat sich mit der Cousine vom Pächter in die Stadt fahren lassen. Sie sind aber schon wieder da. Sie haben die Verlobungsringe abgeholt, [308] die gleich die Trauringe werden sollen, und jedem von uns etwas Nettes mitgebracht; mir ein Korallenkreuzchen. Ich darf es freilich, solange wir Trauer tragen, nicht umhängen. Ach, es ist so hübsch in Werben, seitdem die Verwandten da sind. Glauben Sie, daß wir fortmüssen, lieber Dezimus?«

»Nein, das glaube ich nicht, Fräulein Phöbe,« antwortete Dezimus mit Überzeugung. »Ihre selige Tante wußte, wie wert Ihrer Frau Mutter dieser Aufenthalt war, und Ihre Tante hatte ein sehr gütiges Herz.«

»Ein gütiges Herz? Ach, wie mich das freut!« rief die Kleine. »Höre nur, Priszilla, Dezimus behauptet, Tante Thusnelda habe ein gütiges Herz gehabt, und der Herr Magister hat doch gesagt, sie wäre eine Heidin gewesen.«

»Gütig können auch Heiden sein, Fräulein Phöbe,« belehrte Dezimus mit Würde. Das erste Merkzeichen seines geistlichen Berufs.

»Mir ist es ganz egal, ob wir hierbleiben, oder wo wir hinziehen,« fiel Bruder Philipp ein. »Wenn ich nur kein Pastor werden muß. Ich will Soldat wie mein Martin werden.«

»Das darfst du ja nicht werden, Philipp.«

»Ich will aber, und damit Punktum!« rief Philipp, mit den Füßen stampfend.

Sie hatten die Terrasse erreicht und drängten sich in eine Gruppe unter dem Ahnensaale zusammen. Eine Weile blieb noch alles still. Dann ertönte die Orgel. Ohne einen gewissen feierlichen Apparat durfte im pröpstlichen Hause kein irgend wichtiger Akt vor sich gehen.

»Lydia spielt: Befiehl du deine Wege!« flüsterte Priszilla.

Die Fräulein falteten die Hände, und auch Dezimus betete das gute Lied im Herzen nach, bis die Orgel schwieg. [309] Alle blickten gespannt in die Höhe. Max öffnete einen Fensterflügel, verschwand jedoch alsobald von ihm. Bei aller Zuversicht mochte ihm schwül geworden sein, während der Justitiar die Siegel des verhängnisvollen Schriftstückes löste. Auch Dezimus wurde schwül zumute. Seltsamerweise richteten seine Wünsche sich indessen lediglich auf Lydia, da doch sonst nichts reich und groß genug war, was er dem herrlichen Max nicht gegönnt hätte. Röschen dahingegen flüsterte ihm in das Ohr:

»Was wetten wir, Dezem, die alte Dame hat Max zu ihrem Erben eingesetzt, und ich an ihrer Stelle hätte es auch getan.«

Von oben herab drang unverständliches Gemurmel; der Rat las vor. Es mußte ein großes Vermögen und eine lange Reihe von Verfügungen sein, denn der Vortrag nahm gar keine Ende. »Wie es scheint,« dachte Dezimus, »bekommen viele ein Teil; und das ist auch besser als einer alles.«

Da – jählings Unruhe oben, Hin- und Widerlaufen, Stühlerücken, ein schriller Schrei. »Es war Mama!« rief Philipp.

Die Kinder stürzten in das Haus; Rose und Dezimus ihnen nach. Auf der Treppe kam ihnen der Vater entgegen, totenbleich, in tiefster Bestürzung.

»Hole schleunigst die Mutter, Rose,« stammelte er. »Sie soll ihre Lanzette mitbringen; es muß eine Ader geschlagen werden. Du, Dezimus, folge mir in den Saal!«

Als Dezimus den Saal betrat, lag der Propst, anscheinend ohnmächtig, auf seinem Stuhle zurückgesunken in Lydias Armen; die Gattin, auf den Knien, umklammerte in Todesangst seinen Leib; sämtliche Zeugen umstanden mit verstörten Blicken die Gruppe; der Justitiarius brachte vor [310] tauben Ohren hastig den Vortrag, der Schreiber das Protokoll zum Abschluß.

»Eilen Sie mit des Pächters Pferden zur Stadt nach einem Arzt; säumen Sie keine Minute!« sagte Pastor Blümel zu Max, der sich alsobald entfernte.

Martin und Dezimus trugen den ungelenken Körper in das Krankenzimmer, lösten seine Kleider und legten ihn auf das Ruhebett; unterdessen kam Mutter Blümel, die als rechte Pfarrersfrau in dringenden Fällen der Chirurgus der Gemeinde war. Röschen, mit ihr zurückgekehrt, blieb auf ihren Wink im Vorzimmer zurück. In der nächsten Minute trat Sidonie aus dem Krankenzimmer, schattenblaß und zitternd.

»Nur einen Augenblick!« stammelte sie. »Ich kann kein Blut sehen. Bitte, hole mir ein Glas Wasser. Der Onkel hat eine Ohnmacht!«

»Aber wer hat denn das Gut?« fragte Röschen, als sie mit dem Wasser zurückkehrte.

»Vorderhand ich,« antwortete Sidonie, sichtlich enttäuscht. »Nach meinem Tode – Gott weiß wer. Hoffentlich werde ich so lange leben, bis Max auf festen Füßen steht.«

Damit ging sie wieder in das Krankenzimmer, und Röschen blieb allein.

Kluge Jüngferchen sind nicht minder wie Nachtigallen und Spatzen neugieriger Natur, und das kluge Pfarrjüngferchen war keine Ausnahme von der Regel, was bei gegenwärtigem Anlaß auch ein Rigorist ihm nicht als Sünde anrechnen wird. Röschen horchte am Schlüsselloch nach einem Lebenszeichen des Ohnmächtigen – Totenstille; Röschen zerbrach sich den Kopf über das Rätsel, das nichts als Verdrießlichkeit angerichtet zu haben schien – keine Lösung. Röschen wurde selbst ganz verdrießlich.

[311] Zu ihrem Glück kam aus dem Ahnensaal der Justitiar, der allein mit dem Protokollführer das Geschäft hatte zu Ende führen müssen. Der alte Rat war nächst ihrem jungen Dezem des Pfarrröschens Spezial; er nannte sie Töchterchen Augentrost und kehrte niemals im Hause ein, ohne eine Tüte gebrannter Mandeln mitzubringen, die Töchterchen Augentrost fürs Leben gern knabberte. Was konnte natürlicher sein, als daß Röschen sich dem alten Herrn an den Arm hängte, ihn eine Strecke des Heimwegs begleitete und ihren Wissensdurst aus erster Quelle zu stillen suchte.

Der alte Herr seinerseits plauderte gern und ein hübsches Kind am Arm doppelt gern. Ein Amtsgeheimnis war die Sache nicht mehr, ein interessanter Fall aber war sie und würde sie noch lange Zeit für die Abendunterhaltung in der Resource bleiben. So erfuhr denn Röschen auf blumigen Wiesenwegen unter einem lachenden Johannishimmel und aus einem lachenden Munde brühwarm und haarklein, denn Lücken duldete Röschens Gründlichkeit nicht, die »Tragikomödie«, die sich im Ahnensaale abgespielt hatte, und ihr Dezem, der währenddessen den Schlußakt miterlebte, erfuhr erst am anderen Tage aus Röschens Munde, daß sich – für Röschen doch die Hauptsache! – wieder einmal ein Täufersegen über sein Haupt ergossen hatte.

Sobald Lydia den Choral beendet hatte, setzte sie sich zur Linken ihres Vaters, dessen kalte Hand in die ihre nehmend. Er war gespensterhaft bleich. Zu seiner Rechten saß die Mutter, neben ihr Martin, die Weinende mit seinen Armen umfassend. Dann folgte Sidonie. Max stand hinter dem Stuhle seiner Braut. Pastor Blümel verhielt sich in der Nähe des Tisches, vor welchem der Justitiar und der Protokollführer Platz genommen hatten. »Zwischen dem Altar, [312] der Orgel, den alten Ahnenbildern und dem alten Pastor im Ornat, gegenüber der kohlschwarzen, feierlichen Gesellschaft, machte der alte Judex unzweifelhaft einen Effekt, wie er ihn in seinem Leben noch nicht vorgebracht,« meinte vergnüglich der Rat.

Von dem Schriftstück, das nunmehr zum Vortrag kam, versicherte er, daß es, wie von A bis Z durch die Testatorin eigenhändig niedergeschrieben, so seinem gesamten Duktus nach, zuverlässig ohne fremden Beirat von ihr ausgeklügelt worden sei.

»Als ob man die alte Harfenkönigin reden hörte! Paragraphen für Paragraphen waren, wie bei einem Gesetzerlaß, die Motive beigefügt. Meist freilich in verzwickt ironischer Fassung. Einfälle wie ein altes Haus; aber von unanfechtbarer Sach- und Fachkenntnis. Summa Summarum ein mustergültiges Dokument! Wenn es viele solche schneidige Köpfe wie den dieses alten Fräuleins unter seinem Blumenhute gäbe, könnten wir Advokaten nur gleich die Bude zumachen.«

Der Vermögensstand, bis in das Detail aufgezählt und nach den im letzten Lebensstadium geführten Büchern kodizillarisch vervollständigt, erwies sich noch umfänglicher, als man erwartet hatte. Eine erhebliche Barsumme, wie auch das Dresdener Haus fielen musikalischen Bildungszwecken zu. An einem Erardschen Flügel, der in jenem Hause zurückgeblieben war, sollte Pastor Blümel in alten Tagen sich von Töchtern oder Enkelinnen sein Abendlied vorsingen lassen; sämtliche römischen Instrumente und Noten, mit Ausnahme der seligen Harfe, erhielt Sidonie. Die Dienerschaft, etliche verarmte Künstler und andere bisher Unterstützte waren mit Legaten und Renten bedacht; ein eisernes Kapital für die Witwen und hinterlassenen ledigen Töchter [313] der Werbenschen Pfarrer und Schullehrer, ein anderes zu baulichen und wohltätigen Gemeindezwecken niedergelegt. Die Verfügung über beide Stiftungen wurde nach freiem Ermessen dem Ortspfarrer überlassen, insofern und solange als der gegenwärtige Herr Konstantin Blümel oder, als dessen Nachfolger, sein Pflegesohn Dezimus Frey in diesem Amte standen. Bei anderweitiger Besetzung fiel die Verwaltung der Gutsherrschaft unter gerichtlicher Kontrolle anheim.

Mit diesem Ehrenamte war Dezimus Frey aber längst noch nicht abgefunden; denn nachdem der dreijährige Genuß des auf Werben ruhenden theologischen Stipendiums dem ersten studierenden Hirtensohne der Gemeinde noch einmal ausdrücklich stipuliert worden war, folgte nachstehender Passus:

»Da es mir einleuchtend ist, daß besagter Dezimus Frey sich leichter am sichtbaren Himmelszelt als im unsichtbaren Himmelreich umtun lernen wird, vermache ich ihm die Summe von zweitausend Talern. Und zwar soll ihm selbige ausgezahlt werden: vor dem Universitätsbesuch, falls er sich von Haus aus für das Studium der Astronomie entschließt, demnach des Stipendiums verlustig geht; oder nach Genuß des Stipendiums, um bei gereifter Erfahrung die Freiheit zu haben, sich in angemessener Sphäre, wenn auch nur als Nebenzweck, weiterzubilden. Wie ich es denn in keiner Weise verwerflich finden würde, wenn man in jedem Pfarrhause ein Observatorium errichtete, zum Merkmal, daß die Welt sich dreht.«

»Der Dezem ist aber doch ein Glücksvogel!« rief Röschen den alten Freund unterbrechend aus. »Und er kennt nicht einmal eine Note, singt und spielt bloß aus dem Kopf! An mich hätte die alte Harfenkönigin doch auch ein bißchen [314] denken können. Ich mache meine Sache doch ganz anders wie der Dezem.«

»Ei nun, Kindchen, sie hat ja eventuell auch an Sie gedacht,« tröstete der Rat.

»An mich? Ich werde doch wahrhaftig keine alte Jungfer werden! Und vor der Pfarrerwitwe in Werben wird der liebe Herrgott mich doch hoffentlich auch bewahren!«

»Aber bedenken Sie doch, das schöne Instrument!«

»Das ist auch wahr! Und am Ende, was dem Dezem gehört, ist ja auch so gut wie mein.«

»Nun sehen Sie wohl! Da können Sie sich auch noch eine faustdicke, goldene Repetieruhr an den Gürtel hängen, die gleicherweise Ihrem Dezem testiert worden ist. Ein Erbstück von Vaterseite, das in der Hand des Hutmannssohnes wiederum ein Erbstück werden und an den Wandel der Geschlechter mahnen soll.«

»Schönen Dank, gnädige Dame!« rief Röschen mit einem Knix und einer Kußhand, die sie gen Himmel warf. »Aber was hat denn nun eigentlich der schöne Herr Max?«

»Der schöne Herr Max, ei nun, der hat das Nachsehen, Kindchen – –«

»Schändlich, empörend! – –«

»Nach meiner unmaßgeblichen Meinung keineswegs! Im übrigen teilt er diesen Blick in das Leere mit diversen anderen ebenso würdigen Expektanten. Nicht ein einziger Familienname ist in dem Schriftstück als Erbe aufgeführt. Keinem zuliebe und manchem zuleide ist eine Ausnahme gemacht worden.«

»Aber ums Himmels willen, wer kriegt denn da das Gut?«

»Nur gelassen, Herzchen. Das dicke Ende kommt allemal nach. Die trauernde Sippschaft im Ahnensaal ist auf eine weit längere Geduldsprobe gestellt worden als Sie, und [315] die Sentenzpillen, die sie derweile hinunterwürgen mußte, werden ihr schwer genug im Magen gelegen haben. Nachdem also über jeden Batzen und Fetzen verfügt worden war, hieß es zu guter Letzt ungefähr so:

Die Unsterblichkeit meines übernatürlichen Menschen würde mir wünschenswert sein, ist aber bezweifelbar. Unbezweifelbar dahingegen ist die natürliche Torheit oder törichte Natürlichkeit jedwedes Menschen, auf dieser wandelbaren Erdenstätte längstmöglich eine unwandelbare Spur zu hinterlassen. Auch ich bekenne mich dieser Torheit schuldig. Da ich jedoch mit leiblicher Nachkommenschaft Gott sei Dank nicht gesegnet bin, und da die Kunst, die zu hegen mir gegeben war, leider eine ist, die verfliegt wie die Blume des Weines, bleibt mir gleich dem ersten besten alten Bauer nur ein Stück unbeweglicher Scholle, um ihr ein Merkzeichen einzuprägen von dem alten Geschlecht, das auf ihr erwachsen ist und, bis auf etliche fremde Pfropfreiser, mit meiner Person erlischt.

Vor zwei Jahrhunderten hatte der von der Werbensche Grundbesitz durch die geschickte und gefüllte Hand einer Frau sich zu einem der umfänglichsten in sächsischen Landen ausgedehnt. In dem Erbe von Mann auf Mann zerbröckelte er, um schließlich in dem Erbe von Mann auf Weib ein Nichts zu werden. Einer ledigen alten Frau, der letzten, die den Namen trägt, war es gegönnt, seinen Grundstock als käufliche Ware wieder in ihre Hand zu bringen. Um diesen vor nochmaliger Zertrümmerung zu bewahren, befestigt sie ihn zu einem Kunkellehn, und um durch die Zersplitterung der Einkünfte sein verblichenes Ansehen nicht noch weiter verbleichen zu lassen, stiftet sie ein weibliches Seniorat.«

»Den blitzartigen Eindruck dieser letzten Worte,« schaltete [316] der Rat lachend ein, »das Aufflackern des leichenhaften alten Herrn wie unter einem galvanischen Strom, das grimmige Lächeln des jungen Doktors, die Grimasse seiner Schwester hätten Sie sehen müssen, Kind. Leider konnte ich das interessante Schauspiel nur eine Minute lang während des eigenen Verschnaufens genießen. In der nächsten las ich weiter, und in der dritten glich der Umschwung der Stimmung einer Revolution.«

»Die den Jahren nach älteste meiner Großnichten eventuell Urgroßnichten,« so stand geschrieben, »das heißt der leiblichen Nachkomminnen meiner beiden Schwestern soundso, fügt, sobald sie das achtzehnte Jahr erreicht hat und nicht verheiratet ist, ihrem Familiennamen den von der Werben bei und tritt fideikommissarisch in den Genuß meines Rittergutes Werben und so weiter und so weiter, mit der Verpflichtung, sich seiner Verwertung und Erweiterung nach Kräften zu widmen und darum es zu ihrem wesentlichen Aufenthalt zu machen. Beim Umbau des Schlosses ist von vornherein darauf Rücksicht genommen worden, daß durch letztere Bedingung das Wohnungsrecht nicht beschränkt wird, welches meiner Nichte Frau Ottilie von Hartenstein zugesagt ist, solange sie lebt oder solange es ihr beliebt. An dem Tage, wo die Nutznießerin mit Tode abgeht oder etwa in den Ehe stand tritt, folgt ihr in dem Benefizium das den Jahren nach älteste Fräulein nicht der ihr zunächst stehenden Familie, sondern des gesamten Geschlechts.«

»Der Propst war schon bei den Worten: solange sie unverheiratet ist, von seinem Sitze in die Höhe gefahren; er stand mit vorgebogenem Leib und glasig starren Blicken, beide Hände gegen das Herz gestemmt. Jetzt, bei der Satzung von dem gesamten Geschlecht, sank er ohnmächtig in seiner Tochter Arm.«

[317] »Das ist der Schluß der Komödie; denn die nun folgenden exakten Bestimmungen im Fall einer Vakanz, oder gar des Erlöschens der Linie und dergleichen, werden für Sie, Dämchen Neubegier, noch gleichgültiger sein als für die enttäuschte Hörerschaft im Ahnensaal.«

»Wie kann denn Sidonie aber sagen, daß sie zunächst die Erbin sei?« fragte Röschen nach kurzem Nachdenken. »Lydia ist ja acht Monate älter als sie.«

»Aber Braut,« versetzte der Rat.

»Braut sein heißt nicht verheiratet sein,« wendete Röschen ein; wonach der Rat ausrief:

»Ei, Sie kluge kleine Maus! Na, da können wir noch ein erbauliches Handgemenge in diesem Familientempel erleben!«

»Und welche von beiden glauben Sie, hat die kuriose alte Dame vor Augen gehabt?« fragte Röschen.

»Sie hat gar keine Person vor Augen gehabt, lediglich ein Ideal,« antwortete lachend der Rat. »Und dieses Ideal heißt: Auf dem Stammschlosse der Werben eine alte Jungfer in Permanenz.«

Nach dieser Seite hin sattsam aufgeklärt, brannte das liebe Röschen vor Verlangen, wiederum inmitten des Schauplatzes so interessanter Entwicklungen zu stehen. Die Erzählung hatte sie eine weite Strecke auf dem Stadtwege vorangeführt, und da just des Pächters Wagen mit Max und dem wohlbekannten Doktor Brand vorüberkam, verabschiedete sie sich hurtig von ihrem alten Gönner, gab ein Zeichen zum Halten und schwang sich behende in das Gefährt. Der arme, schöne, junge Herr tat ihr in der Seele leid. Sie würde, ja wahrhaftig, sie würde ihres Dezem Legat, – nein, das ganze Legat nicht, aber die Hälfte des Legats darum gegeben haben, hätte sie mit dem Opfer den [318] armen, schönen, jungen Herrn zu ihres Dezem künftigen Patron erheben können.

»Ihr Herr Onkel ist von einer Ohnmacht befallen worden?« fragte sie ihn.

»Ich fürchte mehr als eine Ohnmacht,« antwortete er.

Und seine Furcht war begründet. Doktor Brand konnte lediglich bestätigen:

»Der Propst von Hartenstein ist tot.«


Lydia kehrte am Arme ihres Verlobten von dem Grabe zurück, in welches Joachim von Hartenstein versenkt worden war in der nämlichen Stunde des Siebenschläfers, wo vor achtzehn Jahren das arme Hirtenweib seine Ruhe gefunden und nur wenige Schritte von dessen Hügel entfernt.

Nicht Pastor Blümel, Professor Hildebrand, der Getreue, hatte den letzten Segen gespendet; die Feier war so still und schlicht, wie die der Gutsherrin laut und prunkvoll verlaufen; aber die Junisonne ergoß sich in vollen Strömen, als die letzte Spur von einem vielbewegten Menschenleben verschüttet wurde.

Lydia war unverweilt in das Zimmer ihrer Mutter gegangen, die seit der Sterbestunde des Gatten in sinnverwirrendem Fieber lag. Da sie dieselbe schlummernd und Frau Hanna Blümel als sorgsame Hüterin an ihrer Bettseite fand, schlich sie unbemerkt in das Gemach, wo ihr Vater die Augen geschlossen hatte, und saß dort in sich versunken, bis der Abend dämmerte.

Max schritt währenddessen in bitterem Unmut die Terrasse hastig auf und ab. Der bizarre letzte Wille seiner Verwandtin hatte ihn empfindlicher, als er sich merken ließ, enttäuscht. So sollte ihm denn wieder einmal die Dankbarkeit gegen einen Nächststehenden erspart werden, wie [319] sie ihm gegen Vater und Mutter und gegen deren Väter und Mütter erspart worden war. Selbst in seiner Schwester Seele schuldete er sie nicht; war es doch nur ein Zufall, daß sie Jahr und Tag mehr als Priszilla zählte. Berechtigt, weil empfänglich für jede Himmelsgunst, kam er sich vor wie ein Verstoßener.

Tiefer aber noch als seine Enterbung verstimmte ihn Lydias Gebaren. Er hatte sie seit der verhängnisvollen Stunde kaum gesehen, kein Wort aus ihrem Munde gehört. Ihre Tage und Nächte waren zwischen dem Krankenbett der Mutter und der Bahre des Vaters geteilt gewesen; Max schweifte im Freien und suchte Zuflucht in der Pfarre. Er liebte ja den Tod, aber nicht die Toten, und verstand sich auf Krankheiten, aber nicht auf Kranke. Was hieß das nun aber für eine Liebe, die vor einem natürlichen, längstvorausgesehenen Verluste spurlos verschwunden schien? Was hieß das für ein Glück, das nicht dem alltäglichsten Unglück die Wage hält? Die schnödeste Selbstsucht ist es, sich in einen Schmerz wie in eine Austernschale zurückzuziehen; und eine Perle nennen diese Frommen das krankhafte Produkt, das sich in solcher Schale bildet!

Sidonie, die sich zu ihm fand, teilte seine Auffassung. Sie besaß jetzt reichlich die Mittel, ihm die Freiheit, deren er bedurfte, zu gewähren. Was ihr war, war sein. Sobald die Mutter der dringendsten Lebensgefahr entronnen, sollte er Lydia still sich antrauen lassen und sie dieser Atmosphäre der Trübsal entführen. Für eine fernere Zukunft mochten die Pläne in beruhigter Stimmung gefaßt werden.

Mit dem Vorsatz dieser unumwundenen Forderung kehrte Max bei einbrechender Dämmerung in das Haus zurück. Lydia war weder bei der Mutter noch in ihres Vaters Zimmer; nicht ohne heimlichen Schauder ging er, sie zu [320] suchen, in den Saal, wo vor wenigen Stunden der Sarg gestanden hatte. Ein Leichendunst umwitterte ihn.

Das lebensgroße Bild des Propstes war für die heutige Feier über dem Altar aufgerichtet worden; vor diesem lag Lydia auf den Knien. Sie erhob sich, sobald sie ihn kommen hörte; ging ihm entgegen und reichte ihm schweigend die Hand; seiner Umarmung aber entzog sie sich. Er wollte sie aus dem Zimmer führen; sie winkte ihn nach einer Fensternische und nahm ihm gegenüber Platz, so daß sie das Bild des Vaters nicht aus den Augen verlor. Der aufgehende Mond warf sein fahles, kaltes Licht auf die hohe Gestalt im düsteren Priesterkleide; fahl und kalt war auch das Antlitz der Tochter, die in ihrem faltigen Trauergewande dem Bilde so wunderbar ähnelte wie dem Lebenden kaum je.

Ihre eisige Ruhe, die rücksichtslose Zumutung dieses unheimlichen Aufenthaltes, die phantastische Überspannung des Leidtragens reizten den jungen Mann bis zur Unerträglichkeit. Hätte er sie in Tränen schwimmend gefunden, hätte sie diese Tränen an seinem Herzen ausgeweint, seine Anklage würde sich in Mitklage umgewandelt, und nicht herbe wie jetzt würden die Worte geklungen haben, in welchen er, als Herr ihrer Zukunft, eine beschleunigte Verbindung forderte.

Sie hatte ihn ohne einen Laut oder nur eine Regung weder des Widerspruches noch der Entschuldigung aussprechen lassen; nun sagte sie:

»Du weißt nicht, Max, was es heißt, einen Vater begraben und eine Mutter mit dem Tode ringen sehen; du leugnest das Gefühl, das ich als das erste menschliche zu hegen und zu ehren gelehrt worden bin. Darum vergebe ich dir die harte Rede in dieser Stunde. Vergib du nun aber auch mir, wenn [321] meine Rede dir hart klingen wird. Ich kann deine Forderung nicht gewähren, und bestehst du auf ihr, gebe ich dir dein Wort zurück.«

Er starrte sie an wie betört. Sie fuhr fort:

»Ich habe meinem Vater gelobt, und ich habe mir selbst gelobt, ihn in der Pflicht für seine Hinterlassenen zu vertreten. Ich wußte um welchen Preis. Oder trautest du dir die Hingebung zu, mich in dieser Pflicht nicht zu beirren, und den Mut, sie mit mir zu teilen?«

Er lachte bitter auf. »Ich,« rief er, »ich, der Enterbte, der von der Großmut seiner Schwester die Mittel entlehnen muß, seine eigene Existenz und die seines anverlobten Weibes auf unberechenbare Jahre hinaus zu fristen, ich soll die Verantwortlichkeit und die Verbindlichkeit für eine zweite dürftige Familie – –«

»Ich sehe,« unterbrach ihn Lydia, »daß du die Hülflosigkeit unserer Lage und die Last, die dir erwachsen würde, deutlich ermissest; ich wußte auch zum voraus, daß du keine andere Antwort, als die du gegeben hast, mir geben würdest, wohl auch sie nicht geben konntest. Und eben darum, Max, müssen wir scheiden.«

Er verstand sie noch immer nicht vollständig, brauste aber jetzt schon auf in Hohn und Groll.

»Ei, wie versteht ihr doch, ihr Auserwählten,« rief er, »zu paktieren nicht nur mit dem Begriffe Liebe, als einer trüglichen Naturbestimmung, sondern auch mit dem Schriftkanon, auf den ihr euch, wenn es euch paßt, als untrüglichen Gesetzgeber beruft! Ein warmherziges Weltkind würde nicht daran deuteln, daß es Vater und Mutter zu verlassen habe, um dem Manne, dem es Liebe gelobt hat, anzuhangen, auch wenn dieser Mann – ja dann um so weniger! – um berechtigte Lebensaussichten betrogen [322] worden ist und in ehrlicher Selbsterkenntnis sich scheuen muß, eine Aufgabe zu übernehmen, welche durchzuführen er nicht imstande sein würde.«

»Noch bin ich nicht deine Gattin,« entgegnete Lydia, und ihre Stimme bebte zum ersten Male bei den Worten, »für welche der Laut der Schrift Gesetzeskraft haben müßte; noch gilt für mich die älteste Pflicht. Dennoch ahnest du nicht, Max, was es mich kostet, wortbrüchig zu scheinen, nicht es zu sein; ja, was es mich kosten würde, wäre ich nicht einmal deine Braut, dir und der Schwester, die dich liebt mehr als sich selbst, Aussichten zu verkümmern, die ihr für berechtigte achtet.«

Max fuhr in die Höhe, als hätte ihn eine Viper gestochen. Jetzt erst begriff er die Tragweite ihres Entschlusses. »Das also ist es!« rief er mit einem Hohngelächter, das in dem weiten, düsteren Raume unheimlich widerhallte: »Ein Rechenexempel ist des Pudels Kern!«

Auch Lydia hatte sich erhoben; sie preßte beide Hände gegen die Brust, ein Fieberschauer schüttelte ihren Leib. Doch sagte sie fest: »Ja, das ist das schwerste der Opfer, die ich fordere und bringe; schwerer selbst als das deiner Liebe, Max.«

Er ging mit heftigen Schritten im Saale auf und ab; sie fuhr fort:

»Wüßte ich einen Erwerb, irgendeine Lebensstellung, die mir ermöglichte, meine Mutter und meine verwaisten Geschwister so zu versorgen, wie der brechende Blick meines Vaters es von mir forderte, ich würde, wie demütigend der Ausweg, ihn diesem demütigendsten vorziehen. Da ich keine Wahl habe, nehme ich für eine unbestimmte Frist das Erbe in Anspruch, das deine Schwester sich gesichert glaubte und das ihr ein Jahresdatum – und kein Recht außer[323] diesem – verkümmert. Als du eintratest, Max, flehte ich zu Gott um die Kraft der Überredung, Sidonien zu einer zeitweisen Teilung dieses Erbes zu bewegen. Es ist hinlänglich reich, uns beiden zu genügen. Wenn aber der Buchstabe der Verfügung es auch nicht also heischte, die erste Benefiziatin, das heißt die Versorgerin meiner Mutter und ihrer Kinder, kann nur ich sein, nicht sie.«

»Mit anderen Worten,« rief Max, »du schämst dich der Dankbarkeit gegen die Schwester des Mannes, dem du Treue gelobt hast; aber du schämst dich nicht, mit dem Verlobten zu brechen, weil er ein Ärmling geworden, und jenes edle Geschöpf, von Natur und Schicksal mißhandelt, zu einem Ausgleich berechtigt und bestimmt, wie es war, zur Almosenempfängerin zu erniedrigen. Pfui über diesen Stolz!«

Lydia war bis in den Herzgrund erschüttert. So schroff hatte sie die Deutung ihres Entschlusses nicht geahnet, so grausam nicht die Probe ihrer Standhaftigkeit. »Sei barmherzig, Max,« bat sie mit aufgehobenen Händen. »Nein, sei nur gerecht. Ich darf ja nicht anders, und es ist ja auch nur auf wenige Jahre, daß ich die Entsagung von dir erflehe und die schwere Überwindung von ihr. Ich liebe dich, Max, wie in der ersten Stunde, da ich dein geworden bin, ja tiefer als in ihr, denn ich mußte dir wehe tun. Habe ich dir deine Freiheit zurückgegeben, ich werde dir treu sein, werde deiner warten, bis –«

»Bis der Erbe des reichen Mehlborn dir ein Äquivalent zu bieten hat für soundso viel tausend Taler Rente!«

Max war gewiß keine unedle Natur. Eigennutz in diesem gröblichen Sinne lag ihm so fern, daß er ihn auch nicht leicht in einem anderen vorausgesetzt haben würde, am wenigsten in diesem Mädchen. Das schnöde Wort kam [324] nicht aus seinem Herzen und nicht aus seiner Vernunft. Der Zorn hatte es ihm eingeblasen, und der Trotz bäumte sich zu sagen: »Ich war ein Rasender, vergib!« Wehe ihm! Er hatte mit barbarischer Faust sein Bild im reinsten Herzensspiegel zertrümmert, und solange seine Ohren offen stehen, wird er die Scherben klirren hören. Wie reich des Lebens Becher ihm sprudeln möge, daß er den Adel der Liebe verwirkte, ist die Hefe, die ihn trüben wird. Wehe ihm und ihr! Sie schwankte nach ihres Vaters Zimmer; die Tür fiel hinter ihr in das Schloß, wie die der Zelle, in welcher die Jungfrau sich zur Nonne weiht. Mit stürmischen Schritten verließ Max den Saal nach der entgegengesetzten Seite. –

Im Pfarrhause war der Abendsegen früher als sonst gelesen worden; nach drei abspannenden Tagen sehnte ein jeder sich nach Ruhe. Frau Hanna hatte zum ersten Male das Krankenzimmer der Witwe verlassen, auch Dezimus treulich Dienst geleistet als Totenwächter und Vermittler der letzten schweren Obliegenheiten für ein Menschenleben. Nun dachte er in seiner Bodenkammer »einen langen Schlaf zu tun«.

Da wurde hastig die Klingel gezogen, und wie Sidonie vor wenig Wochen außer Atem eingetreten war mit dem Rufe: »Max und Lydia sind verlobt!« so trat sie heute wieder außer Atem ein mit dem Rufe: »Max und Lydia sind entzweit!« Sie kam, um Lebewohl zu sagen, da sie noch diesen Abend mit ihrem Bruder abzureisen gedachte.

Den Hergang des Bruchs stellte sie dar, so wie sie ihn nach einer Unterredung mit ihrem Bruder und einer leider erst darauffolgenden mit Lydia selbst aufgefaßt hatte. Für dieses kluge Mädchen, scharfblickend, gerecht und billig, wie junge Menschen es selten sind, gab es einen Punkt, auf welchem die Bildfläche sich verkehrte, und das [325] war sein Liebespunkt, sein Max. So viel goldene Luftschlösser hatte die kleine Sidi auf die Freiheit des Reichtums gebaut, sich die Zukunft so reizvoll ausgemalt: ein Künstlerleben, ähnlich dem der alten Harfenkönigin, aber durch das Verhältnis zu ihrem Bruder erweitert und vertieft; nun wurmte die Enttäuschung sie nur um seinetwillen, und ihres eigenen Schiffbruchs gedachte sie kaum. Es handelte sich um ihn, darum statt des sicheren Klarblicks blinder Groll. Der höhnende Geifer hatte sich aus seiner Brust in die ihre gestürzt, hatte sich darin gestaut und ergoß sich nunmehr in brausenden Strömen.

»So sind sie, diese Heiligen!« rief sie aus. »Als sie Max für eine Partie hielten, lockten sie ihn an, fingen ihn ein, wie man einen Gimpel einfängt, den man zum Dompfaffen abrichten will. Nun, im Elend, schlagen sie die einzige Pforte der Freiheit vor ihm zu und berufen sich, wie Shylock auf seinen Schein, auf den Buchstaben ihres Rechts. Kaltblütig zerfleischt dieses Mädchen ihm das Herz und behauptet dabei noch, daß sie ihn geliebt. Als ob solch eine Mondscheinsprinzessin wüßte, was lieben heißt!«

Pastor Blümel widersprach der Aufgeregten warmen Herzens mit allen Gründen der Gewissenspflicht; er nannte Lydias Forderung einen Akt kindlicher Pietät, eine Selbstopferung aus stark empfundener Familientreue; worauf denn Sidonie eifernd erwiderte: »Nun, wie Sie wollen, Pastor. Aber was beweisen Sie mit Ihrer Entschuldigung, als daß auch die Familie ihre Jesuiten hat? Abstrakte Idealisten, denen jedes Mittel das rechte ist für einen Zweck, von welchem ihr Herz nichts weiß. Ihren Vater mag Lydia geliebt haben; ich traue es ihr zu, denn sie ist seinesgleichen. Aber liebt sie ihre Geschwister, die ihr so unähnlich sind, liebt sie nur ihre Mutter?«

[326] »Lieben Sie Ihren Bruder etwa nicht, Sidonie, da Sie doch wohl kaum sich für seinesgleichen halten?« wendete Frau Hanna ein.

»Freilich liebe ich ihn,« antwortete Sidonie, »und eben darum, weil ich nicht seinesgleichen bin. – Ach, wie von Herzen möchte ich ihm doch ähnlich sein! – Aber ich liebe ihn keineswegs, weil er mein Bruder, weil er ein Pflichtbegriff für mich ist; sonst müßte ich auch meinen Großvater lieben. Ich liebe ihn, weil er liebenswürdig ist, mein Bertrand de Born, weil ich keinen anderen zum Lieben habe, weil ich gar nicht anders als ihn lieben kann. Wäre ein Fremder so wie er, Sie zum Exempel, Dezimus, ich liebte Sie wie ihn.«

»Für welche schmeichelhafte Versicherung ich mich im Namen meines Dezem schönstens bedanke,« sagte Mutter Hanna lachend, und Sidonie lachte auch.

Dezimus aber vermochte eine ritterliche Wallung nicht länger zu bemeistern. Denn bei aller Bewunderung für das glänzendste Meteor an seinem Jugendhimmel hatte er in dem Kampfe, der an demselben ausgebrochen war, mit Entschiedenheit Partei genommen für den treuen Abendstern, der sich aus seiner gesetzmäßigen Bahn nicht verdrängen ließ. So einfach, als ob es sich um einen mathematischen Folgesatz handelte, sagte er daher:

»Warum will denn aber, gnädiges Fräulein, Ihr Herr Bruder nicht warten, bis seine Braut ihre edle Aufgabe vollbracht oder er selbst sich eine unabhängige Stellung errungen hat? Einem, der begabt ist wie er, sind Tor und Tür ja nach allen Seiten hin aufgetan, und wie viel reiner muß die Freude des Zusammentreffens am Ziel mit dem Bewußtsein erprobter Kräfte sein!«

»Max und warten!« hatte zu Anfang der Rede Sidonie [327] belustigt der Pastorin zugeraunt. Jetzt beim Schluß des Vortrags sagte sie aber schon wieder in hellem Ärger: »Gut Heil Ihnen, Kandidat in spe, auf solchem Philisterwege. Zuvor aber beantworten Sie mir gefälligst die Frage: da die Demut doch noch weit mehr als die Lammsgeduld eine christliche Tugend ist, warum nahm denn Ihre fromme Lydia die Mittel zur Erfüllung ihrer edlen Aufgabe aus meiner Hand nicht an? Durfte sie mir zutrauen, daß ich die Familie, in welche mein Bruder getreten war, in Dürftigkeit gelassen haben würde? Wenn sie sich gegen ihre Gewöhnung einigermaßen beschränken mußte, nun so büßte sie eben ihres Vaters Schuld. So wäre es recht gewesen, so billig. Aber nein! Zum Danksagen ist man zu erhaben. Ein Weltkind aufzugeben, ein anderes zu berauben, ist ganz in der Ordnung; beiden das Gnadenbrot anzubieten, wohl gar noch Großmut, der bloße Gedanke treibt mir die Galle in das Blut! Komme es, wie es mag, ich danke Gott, daß Max sich aus dieser tugendhaften Umstrickung losgerissen hat. Nun und nimmer würde er an der Seite dieser eisigen Jungfrau anders als elend geworden sein.«

»In letzterem Punkte pflichte ich Ihnen bei,« versetzte Mutter Hanna ruhig. »Auf der anderen Seite jedoch muß ich meines Sohnes philisterhaften Vorschlag dahin ergänzen, daß ein Mann, mag er zehnmal ein Genie sein, das Heiraten bleiben lassen soll, wenn er nicht die Lammsgeduld besitzt, sich ein sicheres Brot verdienen zu lernen. Sie aber, Kind, sollten es sich zweimal überlegen und wenigstens eine Nacht hindurch beschlafen, ehe Sie so eklatant mit Ihrer Familie brechen. Bedenken Sie, daß vernünftige Menschen für ihre persönliche Würde weit weniger heikel als für die ihrer Anvertrauten zu sein [328] brauchen; sich selber würde Lydia getrost zugemutet haben, was sie ihrer Mutter nicht zumuten durfte; wie Sie, Sidonie, Ihrem Bruder nicht, was Sie selber getrost sich zumuten dürfen. Lassen Sie ihn denn ziehen, wohin sein Genius ihn treibt. Mit ihm leben können Sie vor der Hand nicht; bleiben Sie also hier, zunächst bei uns. Eine Vermittlung mit Ihrer Familie wird unschwer anzubahnen sein; vielleicht nach mehr als einer Seite hin. Jedenfalls sind Sie die Großmütige, nicht Ihre Cousine, wenn Sie in eine Teilung der Revenüen willigen.«

»Ja, liebe Sidonie,« nahm nun auch Vater Blümel wiederum das Wort, »ja, bleiben Sie bei uns und sammeln Sie feurige Kohlen auf Lydias Haupt. Das unglückliche Mädchen handelte gemäß seinem Grundgesetz, also recht. Es gibt aber kein weheres Geschick, als wenn wir unserem Gewissen nicht etwa bloß unser eigenes Glück, sondern das Glück derer, die wir lieben, zum Opferbringen müssen. Sie retten den Frieden einer Seele, Sidonie.«

Sidonie blieb nicht unbewegt bei diesen Worten. Die erste Wallung war verdampft, und zu trotzigem Stolz war sie zu klug. Sie reichte den beiden alten Freunden über den Tisch hinüber die Hand und sprach: »Handelte es sich um mich allein, würde ich Ihrem Rate vielleicht folgen und Lydia eine Genugtuung gönnen, wie ich an ihrer Statt sie mir selbst gegönnt haben würde. Mir gegenüber ist sie ja faktisch auch durchaus in ihrem Recht. Aber auch ich habe ein Grundgesetz, Freunde, und das heißt Treue gegen meinen Bruder. Ich darf nicht durch die Hand eines Mädchens, das seine Liebe so gering achtete, um sie einem nüchternen Pflichtgebot unterzuordnen, mir meinen Lebensweg – und das hieße indirekt den seinen – bequem machen lassen. Ich muß sein Schicksal teilen.«

[329] »Und was denken Sie zu tun? Wohin wollen Sie sich wenden?«

»Zunächst gehe ich zu meiner Mutter. Ich habe aus der römischen Fülle eine hübsche Sparsumme gerettet, die für den Anfang genügt. Das Weitere wird sich finden. Tor, der man ist, Programme zu entwerfen, die der leiseste Atemhauch des Schicksals oder der Leidenschaft wie Kartenhäuser umbläst. Ich sage wie mein Max: nur auf die Gunst des Augenblicks ist Verlaß.«

Der Wagen fuhr bei diesen Worten vor. Ihrem Bruder den peinlichen Eintritt zu ersparen, eilte Sidonie ihm entgegen. Die Familie folgte ihr herzlich bewegt. Max sah bleich aus und sprach kein Wort.

»Ich schreibe bald!« rief Sidonie vom Wagen herab.

Die Freunde lauschten unter der Tür bis zum verhallenden Räderrollen. Dann sagte Röschen, halb betrübt und halb ärgerlich:

»Euch alle dauert Lydia, und ihr bewundert sie. Mich dauert Max, und ich bewundere seine Schwester. Ach, und wie einödig wird es nun in Werben werden! Wenn du auch noch fort bist, alter Dezem, halte ich es nicht mehr aus.«


Der gemütliche und tätige Anteil an dem Schicksalswechsel der Menschen, zu welchen er hoch emporgeblickt, hatte Dezimus völlig in Anspruch genommen. Es heißt etwas für einen Jüngling, zum ersten Male einen idealen Stern sich verdunkeln, ein Idol verkümmern sehen. Nun jedoch, da der Tageslauf wieder in sein Gleichmaß trat, fiel ihm ein, daß die Freiheitspforte, die sich seinem stolzen, gestürzten Helden geschlossen, für ihn, den bescheidenen, aufgetan hatte.

Es war ihm bis heute nicht ein einziges Mal in den Sinn [330] gekommen, daß sein Leben sich in einem anderen als dem von seinen Wohltätern gezogenen Gleise abspinnen könne. Als Stipendiat von Werben seiner Heimat durch treuen Fleiß Ehre zu machen, dereinst seines Vaters Gehülfe und in ferner, Gott wolle, allerfernster Zeit sein Nachfolger zu werden, das war sein Ziel, und er blickte auf dasselbe mit dankbarem Stolze. Völlig unerwartet war nun auf ein diesem Ziele schnurstracks entgegengesetztes als das seiner Natur gemäßere nicht bloß gedeutet worden, sondern auch mit großmütiger Hand die Bahn zu demselben geebnet, und er spürte ein heißes Verlangen, diese Bahn zu betreten. Die Analyse des sichtbar Unendlichen dünkte ihm auf einmal weit interessanter als die Auslegung der Apokalypse; Sternenbahnen erforschen auf stiller Warte weit zusagender als Predigten halten auf der Kanzel von Werben.

Hieß denn nun aber seinem Gelüste folgen, nicht alle Erwartungen seiner Wohltäter vereiteln? Hieß es nicht schnöder Undank, abzuweichen auf einen Pfad, auf welchen sein Vater und Bildner ihm nicht zu folgen vermochte? Und zumal auf einen, der selbst in weiter Ferne und Fremde ein gedeihliches Ziel noch zweifelhaft ließ, während das gedeihlichste in nächster Nähe gesichert war? Mochte ein leibliches Kind solches Opfer von seinen Eltern zu fordern berechtigt sein, aber auch das Kind der Barmherzigkeit, die hülflose Waise vom ersten Lebenshauche an? Und sein Röschen!

Dezimus stand erst im Aufschritt zu der Jünglingsstufe; sein Puls schlug ruhig, und seine Phantasie schweifte mehr zwischen Sternen- als Menschenbildern; sein Verhältnis zu dem schönen Mädchen hatte im Grunde daher noch nicht Hand und Fuß. Wenn Röschen ein Knabe gewesen wäre, würde es sich kaum anders gestaltet haben. Daß er aber [331] dem Kinde, neben dem er in der Wiege gelegen hatte, angehören müsse bis in das Grab, daß eine Liebe, für die er keinen Anfang wußte, auch kein Ende haben könne; daß, unter welchem Namen auch immer, er zu dieses Kindes Schirmer berufen sei, zu seinem Versorger, seinem nächsten, ewigen Freund, das stand für ihn fest wie ein Naturgesetz, nicht erst seit heute oder gestern, sondern seitdem er sich seines Daseins bewußt geworden. Die kleine Rose war ein Teil von ihm, sein bestes Teil. Und was konnte er auf dem neuen Lebenswege für sie werden?

Noch ein drittes kam dazu. Von dem Augenblicke an, wo sein stolzester Knabentag damit abschloß, daß er das weiße Fräulein aus dem Hutmannshause treten sah und er sich zum ersten Male deutlich als das Kind dieser armen Hütte gefühlt hatte, von dem Augenblicke an waren seine Gedanken häufig zu den unbekannten Brüdern in die Ferne geschweift. Nicht aus Blutszwang, wie Max von Hartenstein geringschätzig solchen Trieb genannt, nicht einmal aus neugierigem Verlangen; einfach aus einem Gefühl der Beschämung, wie es jeden gutgearteten Menschen überkommt, wenn er sich selbst in unverdienter Fülle und Gleichberechtigte in ebenso unverdienter Entbehrung sieht. Er hatte damals auch alsobald den Vater nach dem Schicksale seiner Geschwister befragt und erfahren, daß der treue Gemeindepfleger sie nicht aus den Augen verloren hatte. Je mehr sie freilich selbständig im Leben Fuß fassen lernten, um so seltener war eine Auskunft über sie zu ermitteln gewesen. Die Dezimus im Alter zunächst Stehenden waren früh gestorben; die Erwachsenen wie Heimatslose in der Welt verstreut. Ob, wo und wie viele ihrer vielleicht heute noch leben? Gott Vater wird es wissen, ihr Bruder Dezimus weiß es nicht.

[332] Ein erwünschter Zufall war es daher, daß vor Jahr und Tag der älteste von den beiden, die beim Tode der Eltern bereits Soldaten waren, sich mit dem Gesuch eines Taufzeugnisses, zum Zweck seiner Verheiratung, an den Pfarrer von Werben wendete und daß durch ihn ein schwacher Faden sich wieder anknüpfen ließ. Bruder Klaus war nach Ablauf seiner Dienstzeit Ruderknecht, später Matrose und endlich Steuermann auf einem Kauffahrteischiff geworden; er kam nur selten an das Land, wo er dann im eignen bescheidenen Heimwesen auf einer der friesischen Inseln einkehrte. Wer von seinen Brüdern noch lebte, wußte auch er nicht. Nur durch Zufall war er einmal mit seinem soldatischen Kumpan, dem einzigen, der ihm von Angesicht erinnerlich geblieben, zusammengetroffen, als dieser im Begriffe stand, nach Amerika auszuwandern. Dort, so schrieb der Prediger der Insel, der diese Nachrichten seinem binnenländischen Amtsbruder vermittelte, war auch er verschollen und das Enaksgeschlecht aus dem Hirtenhause demnach wahrscheinlich zusammengeschmolzen bis auf zwei.

Diese Rückwärtsgedanken waren in Dezimus nun aber besonders lebhaft angeregt worden, als er bei Gelegenheit des Werbenschen Erbes die Fragen des Blutszusammenhanges und der Verpflichtungen, welche er auferlege, von den verschiedensten Standpunkten erörtern hörte. Sein ganzes Herz gehörte ja den Wahlverwandten; ein heimlicher Gewissensdrang trieb ihn aber den Naturverwandten entgegen, und als durch Stipendium und Legat ihm die Mittel zu einer Nothülfe geboten wurden, schrieb er an den Bruder Steuermann im Inselhause, schilderte sein eigenes glückliches Los, sprach den Wunsch des Bekanntwerdens aus, bat dringend um gelegentliche Forschung nach dem in [333] Amerika verschollenen Friedrich und erklärte sich zu brüderlicher Handreichung froh bereit.

Sein Herz schlug befreit, nachdem er diesen Schritt in seinen ältesten Zusammenhang zurückgetan hatte. Vermochte er denn aber die verheißene Handreichung wahr zu machen, wenn er die abirrende Bahn zu einem zweifelhaften Ziele betrat? Denn mit dem gutgemeinten Verspruch hatte er leider die Dämonen der langen Zahlen und großen Rohre keineswegs ausgetrieben. Er mochte sich winden und wenden, wie er wollte, er kam aus dem Zwiespalt von Lockung und Pflicht nicht heraus. Sogar sein bis dahin unangefochtenes robustes Hirtenblut zeigte Spuren des heimlichen Kampfes, die roten Backen erblaßten, der Leib magerte ab, der Schlaf wurde unruhig, schlechthin hohläugig sah der arme Junge aus, und so mußte es zweifelhaft erscheinen, ob die großmütige Legatarin, indem sie seine Schülerwiege verrückte, ihm nicht eher eine Wehetat als eine Wohltat erwiesen hatte.

Hätte er nur einen weisen Mann gewußt, den er zum Schiedsrichter der strittigen Parteien in seiner achtzehnjährigen Brust hätte aufrufen dürfen. Aber er wußte nur einen, den weisesten der Weisen, und just vor ihm hätte er den Tummelplatz in undurchdringliche Nebel hüllen mögen. Oder hätte er nur einen mitfühlenden jungen Gesellen gewußt, in dessen Herz er seine Ängste ergießen konnte! Aber er hatte gute Kameraden die Hülle und Fülle; ein Spezial jedoch war ihm seit der Kinderstube immer nur sein Röschen gewesen, und was dieser Spezial ihm raten würde, brauchte er nicht erst zu erfragen. »Dummer Dezem, natürlich mußt du Pastor werden und in unserer hübschen Pfarre bleiben. Für das gnädige Legat machen wir uns alle Jahre eine Lust!«

[334] So fragte er denn Röschen nicht, aber er fragte Peter Kurzen, als dieser das nächste Mal in die Pfarre eingesprungen kam; und Peter Kurze zog die Augenbrauen in die Höhe und antwortete mit salbungsvoller Stimme.

»Verehrungswürdiger Gutfreund, dessen Namen ich nicht auszusprechen wage, das Heu beider Bündel duftet süß. So dächte ich, natur- und vernunftgemäß, wir genössen von beiden.«

Von beiden! Mit Peter Kurzen war freilich ernsthaft keine Sache abzusprechen, im Spaße aber traf er manchmal den Nagel auf den Kopf. Von beiden!

Oftmals dachte Dezimus an sein weißes Fräulein, wennschon er ahnete, daß Lydias Ratschluß nicht anders lauten würde als: »Entsage!« Was verlangte er denn aber Besseres als eine unumstößliche Richtschnur für seinen Willen? Ja, gewiß, er würde dieser Meisterin in der schwersten aller Lebenskünste blindlings nachgeeifert haben, hätte er nur ohne Zudringlichkeit sich irgendwo und wie bei ihr Gehör zu verschaffen gewußt. Allein er hatte seit jenem verhängnisvollen Tage sie nur dann und wann aus der Ferne gesehen, wenn sie im Morgengrauen oder Abenddämmer vor ihres Vaters Grabe stand. Sie war eine Nonne geworden und ihr Bereich in Wahrheit zu einem Kloster.

Ihre Mutter genas allmählich im Laufe des Sommers. Obgleich sie bewußtlos auf dem Fieberbette gelegen, hatte dennoch die Zeit ihr linderndes Wunder an der sanften Seele gewirkt, und nun stumpfte die Ermattung das Herzeleid ab. Ihre Umgebungen, ihre äußere Lage waren die gewohnten geblieben; nichts fehlte als der, dessen Qualen sie seit Jahren in der Stille qualvoll mitempfunden hatte, und der war selig bei seinem Herrn. Für eine Ottilienseele [335] ein erträglicher Schicksalsschlag; unter einer schweren Mutterlast wäre sie zusammengebrochen.

So fand sie sich denn auch leichter, als man gefürchtet hatte, in die Trennung von ihrem Liebling, welche gemäß des Vaters letztem Willen in dieser Zeit stattzufinden hatte; leichter zumal auch dadurch, daß der ungestüme Knabe sich aus der Eintönigkeit des Trauerhauses bereitwillig in einen neuen Zustand versetzen ließ. Phöbe war schon zu Ostern von dem Vater eingesegnet worden; der bisherige Informator schied daher aus der Familie, um in einer kleinen lutherischen Gemeinde der alten Heimat das Seelsorgeramt zu übernehmen. Martin war zu seinem Regiment zurückgekehrt; nur seine beiden jüngsten Schwestern wurden dann und wann noch in der Pfarre gesehen, um für ein paar Stunden fröhlich darin aufzuleben.

In den Augen der gesamten Familie und zumeist in denen der kindlichen Mutter war Lydia an die Stelle des Vaters gerückt. Wie sie des Hauses Versorgerin geworden war, wurde sie bedingungslos dessen Autorität. Ein sonniger Frühlingstraum war verweht, ein düsterer Todesschatten vorübergezogen; das Leben glitt hin in gewohntem, nur noch lautloserem Gleis.

Die Mitteilung, welche Sidonie versprochen hatte, blieb aus; monatelang wußte man weder auf dem Schloß noch in der Pfarre, was aus den Geschwistern geworden sei. Erst zu einer Zeit, die eigentlich bereits in den nächstfolgenden Abschnitt gehört, kam durch Martin – unter dem Siegel der Verschwiegenheit! – eine bewegliche Kunde an seinen Freund Dezimus. Max hatte sich schon vor seiner Reise nach Rom zum Landwehroffizierexamen gemeldet, halb und halb wohl mit dem Vorbehalt eines eventuellen Übertritts zur Linie. Nun war kürzlich seine Wahl in eklatantester [336] Weise von dem Offizierkorps abgelehnt worden. Als Anlaß vermutete man eine Reihe von Gedichten, welche unter seinem vollen Namen in einem neugegründeten freisinnigen rheinischen Zeitblatt erschienen waren und in den höchsten Regionen schweres Ärgernis hervorgerufen haben sollten. Der brave Martin war »ganz aus dem Häuschen«, wie er selber es nannte, über die Schande, welche der ganzen Familie angehängt worden sei und welche er selbst in seiner Karriere gehörig werde ausbaden müssen. Auch dauerte ihn sein Vetter, der, bisher ein Glückskind wie wenige, nun auf einmal aus einer Patsche in die andere gerate. »Und,« so schloß der Brave, »und alles um ein paar elender Verse willen, um die kein Hahn gekräht hätte, wenn man nicht solches Wesen davon gemacht. Und wenn ich ihrer ein dickes Buch voll gelesen hätte, mir wäre, als hätte ich Wasser getrunken.«

Da die betreffenden Zeitungsnummern konfisziert worden waren, lag wenigstens eines der Gedichte dem Briefe bei. Pastor Blümel – für welchen das Siegel nicht unerbrochen blieb – nannte es eine gereimte Umschreibung der zweiten Prometheusstrophe; nur daß der nicht mehr Zeus hieße, »dessen Majestät sich kümmerlich von dem Gebetshauch hoffnungsvoller Toren nährte.« Indessen wollte auch dem guten Blümel das ehrenkränkende Verdikt gegen den »Zornesausbruch eines heilig glühenden Herzens, dem die ersten Blütenträume nicht gereift waren« wenig einleuchten. Er sah in der Offiziersuniform das sicherste Korrektiv aller Titanengelüste und fürchtete die Früchte, welche die Erbitterung zeitigt. Pastor Blümel seufzte viel an diesem Tage und rauchte stark.

Als Lydia zum ersten Male die Einkünfte der Werbenschen Stiftung bezog, sendete sie die Hälfte des Betrags [337] durch Pastor Blümels Vermittlung an Sidonien, unter der Adresse ihrer Mutter. Umgehend erhielt sie die Summe auf gleichem Umwege zurück. Die Professorin behandelte, ohne jegliche Spur von Enttäuschung oder Verletztsein, die Angelegenheit rein als Geschäft. Ihre Tochter, so meinte sie, habe für einen derartigen Ausgleich nicht einmal den Anspruch der Billigkeit, da es keinem Zweifel unterliegen könne, daß Fräulein von Werben bei Abfassung ihres letzten Willens an die aussichtslose Familie ihrer Nichte Ottilie gedacht habe und nicht an Sidonie, die weder zurzeit noch, soweit sich voraussehen ließe, in Zukunft einer solchen Zuwendung bedürftig sei oder sein werde. Im übrigen scheine ihre Tochter sich im mütterlichen Hause heimisch einzugewöhnen, und sie sende den Pfarrfreunden ihre besten Grüße. Des Sohnes wurde nicht erwähnt.

Lydia vermochte mit dieser Abweisung sich nicht zufrieden zu geben. Es widerstand ihr, auf Kosten der Verwandten, die sich – und wie Lydia glaubte mit gutem Grund – für die Nächstberechtigte gehalten hatte, ein mehreres in Anspruch zu nehmen, als zur Versorgung ihrer Familie erforderlich war, und sie ersehnte den Zeitpunkt, wo sie auf das Ganze verzichten durfte. Wie tiefes Elend war um dieses leidigen Mammons willen über sie gekommen! – Durch Pastor Blümels, des zeitweiligen Kurators der Stiftung, Hand legte sie daher die Teilsumme bei jedem Termine hypothekarisch nieder, sei es zur späteren Verfügung ihrer Verwandten, sei es zu einem von diesen zu bestimmenden wohltätigen Zwecke.

Der Herbst war gekommen, ein milder, gedeihlicher Weinherbst; aber keiner im Pfarrhause freute sich wie sonst auf die Lese, da der Sohn sie heuer nicht mitfeiern durfte. Das liebe Röschen war, wie es sagte, ganz desperat. Es [338] stellte in seiner Desperation allen Ernstes den Antrag, mit seinem alten Dezem auf die hohe Schule zu ziehen, ihm den Haushalt zu führen, wie schon manche Pfarrtochter es ihren studierenden Brüdern getan, und nebenbei in einer Fabrik das Blumenmachen zu erlernen. Und während dieses Antrags streichelte das liebe Röschen seinem alten Dezem die Backen, kniff ihm zärtlich die Ohrläppchen und zupfte ihn an seinen langen, strohgelben Haaren. Der alte Dezem aber – ei nun, es war ein Vorschlag zur Güte –, und der alte Dezem hätte sich solch eine rosige Studentenwirtschaft mit tausend Freuden gefallen lassen. Zwei gewichtigere alte Leute ließen sie sich aber durchaus nicht gefallen, und diese gewichtigen alten Leute hießen Papa und Mama. Da schmollte das liebe Röschen ein Weilchen, lachte dann und flocht einen Asternkranz; ihr alter Dezem dagegen schmollte nicht, sondern versank wiederum in sein Sternensehnen.

An einem der letzten Nachmittage waren die beiden jungen Schloßfräulein gekommen, um mit Röschen im Pfarrberge Trauben zu naschen. Dezimus hatte den Vater auf seinem Vespergange durch das Dorf begleitet und saß nun mit ihm unter den rotbeerigen Ebereschenbäumen auf dem Hünengrabe, den Untergang der Sonne genießend. Solch ein himmelreines Schauspiel ist im späten Oktober eine seltene Gunst, und wenn es vielleicht das letzte ist, das binnen einer Sonnenwende in einer lieben Heimat genossen wird, da rührt es ein junges Herz wohl bis auf den Grund.

Auch der Vater hatte in andächtiger Stille der versinkenden Flamme nachgeschaut, bis der abendliche Horizont in ein Purpurmeer verwandelt schien. Dann hob er an:

»Zum ersten Male, mein Sohn, und leider Monde hindurch, [339] bin ich irregeworden an dem sicheren Gefühl, dem ich als dem Leitstern deines Lebens vertraut habe. Ich sehe dich bei zufälligem Anlaß schwindelnd schwanken; und wer bürgt dem Schwankenden, daß er nicht strauchele, dem Strauchelnden, daß er nicht falle?«

Dunkle Schamröte überzog des Jünglings Gesicht; er sah sich durchschaut von dem einzigen, vor dem er seine Blöße hätte verhüllen mögen. Denn die Dankbarkeit, wie jede echte Liebe, ist keusch.

»Durch eine förderliche Fügung«, fuhr der Vater fort, »ist dein Blick auf einen Beruf gelenkt worden, welcher dem von dir bisher in das Auge gefaßten zuwiderläuft und welchen du urplötzlich als den dir natürlich eingeborenen erkennst. Hättest du ihn ohne jene Fügung verfehlen können, wenn er wirklich deine Grundbestimmung gewesen wäre? Und warum willst du eine Entscheidung vom Zaune brechen, da sie dir nach einer Probezeit als reife Frucht in den Schoß fallen muß? Es sind nur wenige Gebiete, auf denen in unserem kurzen Hienieden ein gründlicher Forschersinn heimisch zu werden vermag; aber je eines mehr ist eine Verdoppelung unserer Existenz. Warum willst du nicht ein paar Jugendjahre daransetzen, um jenes dir vorbestimmte Gebiet zu prüfen, das, wie dunkel und begrenzt es auch erscheint, doch des Menschen ewigstes Anliegen umfaßt? Ist es dir denn verwehrt, daneben oder danach auf jenes andere abzuschweifen, das klar überschaubar, sich dennoch in das Grenzenlose verliert und in Ewigkeit ein Bruchstück bleiben wird? Warum willst du den seltenen Vorzug nicht nützen, deine Kräfte nach zwei diametral entgegenlaufenden Richtungen hin zu prüfen?«

»Aber die Zeit, die mir auf diesem Kreuzwege verloren geht, Vater?« wendete Dezimus schüchtern ein. »Ich könnte [340] nahe dem Ziele stehen, wo ich dort vor einem Anfang stehe.«

»Doch als ein gefesteter Mann, der ohne Fehltritt weiterschreitet. Wohl dem Jüngling, der nicht mit seinen Lehrjahren zu geizen braucht.«

»Und dann, Vater, und dann – beraube ich nicht einen Bedürftigen, wenn ich eine Wohltat zwecklos vergeude.«

Der Greis blickte zuerst betroffen vor sich nieder, darauf aber mit einem vollen Liebesblick auf den Sohn, und endlich sprach er in freudigster Entschiedenheit: »Ich danke dir für dieses Wort, mein Sohn. Es soll mir als Schiedsspruch gelten, daß ich deine Wiege an den rechten Platz gerückt habe und daß ich als dein Vater verpflichtet bin, die völlige Reife der Entwicklung von dir zu fordern. Ach, mein Kind, das Leben hat nicht Sonnenschein für alle, und wir berauben jedesmal einen Bedürftigen, wenn wir uns einer Himmelsgunst erfreuen. Wo aber wäre ein Mensch ohne solche Selbstsucht fertiggeworden? Und sich selber fertigbringen, soweit die eingeborene Gestaltungskraft reicht, ist des Menschen oberstes zeitliches Gesetz, denn nur nach dem Maße seiner Fertigkeit wirkt er.«

Der Greis machte eine kleine Pause; dann fuhr er fort:

»Bei deiner ruhig wägenden Gemütsanlage, bei der engen Umfriedigung deines bisherigen Daseins würdest du es nur zu einer einseitigen Ausgestaltung bringen, wenn du mit dem ersten Schritt in die Freiheit dich einbürgertest in einem abstrakt ideellen Reich, in welchem es wohl gilt, stetig vorwärts zu dringen, aber nicht zu ringen, wohl zu wägen, aber nicht zu wagen. Leben aber, Mannesleben, heißt Kampf und Kampfes Zeuge sein. Ein solcher Ringkampf um der Menschheit höchste Güter ist nun aber, ohne daß du es ahnetest, während deiner Knabenjahre aufgelodert [341] und wird in deinen Mannesjahren noch nicht ausgelodert sein. Auf weltlichem Gebiet wie auf dem geistlichen, in welchem du deine Schule durchzumachen hast, stehen die Parteien widereinander unter dem Feldgeschrei: Hie Freiheit, hie Autorität! Aus kindlicher Ferne hast du in dem Propst von Hartenstein und Professor Zacharias zwei bedeutende Männer kennen lernen, die dir als Chorführer gelten dürfen. Zwischen ihnen aber streifen Plänklerscharen, diesseit wie jenseit sich berufend auf das nämliche Schiboleth, aber haarspaltend miteinander, hadernd um die Heischungen des Gemütes, des Verstandes, ja der kennzeichnenden Uniform. Auf einen dieser Tummelplätze sende ich dich nun, mein Sohn, um dir, soweit es dem Menschen gegeben ist, eine reine Lösung für den eigenen Geist zu erringen. Denn eine beherrschende Stellung wird kein Heutiger mehr erreichen; noch niemals hat die Menschheit drei Jahrhunderte zurückgelebt. Die segenfördernde Macht des Gottesgedankens, die ewige Botschaft der Barmherzigkeit in der Seele deines Volkes in bescheidenem Umkreis rege zu erhalten, ihm ein Lehrer, ein Tröster, ein Freund und Vorbild zu sein, das und kein glänzenderes ist dein Ziel auf der von Kind ab vorgezeichneten Bahn. Solltest du während derselben erkennen, daß sie weder dich noch andere zu jenem Ziele führen würde, sollten berechenbare Messungen dich stärker locken als das Geheimnis des Wortes, das du zu ergründen und zu verkünden hast, dann, aber nur dann, ist es nicht bloß dein Recht, sondern deine Pflicht, auf jener sich kreuzenden Bahn vorwärts zu dringen nach dem Urgesetz der Wahrhaftigkeit. So ziehe denn aus, mein Sohn, und wie du nach treuer Arbeit dich entschieden haben magst, du kehrest heim, des bin ich getrost, als unser gesegnetes, unser glückliches Johanniskind.«

[342] Lächelnd, doch feuchten Auges schloß der Greis seine Rede. Dezimus aber, der Junge schlecht und recht, fiel wie erlöst zu seines Vaters Füßen, preßte dessen beide Hände gegen sein Herz, und heiße Tropfen rannen darauf nieder. Ein vernehmliches Wort aber sprach er nicht.

Am anderen Tage, obgleich es der Abschiedstag war, ging er wie auf Federn; ja wahrlich, der stämmige Enakssohn, er schwebte, so leicht war sein Herz. Sein Abiturientenzeugnis hatte brav gelautet, und die Trennung währte ja nur kurz; zum heiligen Christ war er wieder da! Er empfahl sich in beiden Gemeinden Haus bei Haus; selbst bei seinem Vizepaten versuchte er vorzudringen, zu seiner Genugtuung indessen vergeblich. Auch Lydia war nicht sichtbar; Frau von Hartenstein aber entließ ihn mit mütterlichen Tränen, und ihre beiden jüngsten Töchter schenkten ihm die Andenken, die ihm schon zum Geburtstage bestimmt gewesen waren. Die kleine Phöbe hatte eigenhändig 365 Blätter je mit einem Bibelverse beschrieben. Alle Morgen sollte ihr guter Dezimus, so wie es im pröpstlichen Hause gang und gäbe war, sich auf einem dieser Blätter die Tageslosung ziehen. Fräulein Priszilla aber brachte gar ein schönes Album, auf das sie unter einem Kornblumenkranze seinen Namen gestickt hatte und in welches sich, mit Ausnahme des kranken Vaters, sämtliche Familienglieder eingetragen hatten; auch Max, dazumal noch hoffnungsvoller Bräutigam, war darin verewigt, wennschon nicht mit einer eigenen Inspiration, so doch mit einer dem Schüler gemäßen Horazischen Sentenz. Lydia hatte geschrieben:

»Dring durch die Kreise bis zum fernsten,

Vor dessen Licht kein anderes sich behauptet.«

Dante war einer der wenigen Dichter, welche Lydia, als [343] Vorleserin ihres Vaters, gründlich kannte und vielleicht der einzige, welchen Max nicht las.

Am Abend war in dem Hause, aus welchem der Sohn scheiden sollte, die tapfer verhaltene Wehmut nicht länger zu bannen. Kein Scherz und kein Ernst wollten mehr verfangen; ein jeder zögerte, mit dem Aufbruch zu beginnen. Erst als es Mitternacht schlug, erhob sich der Vater, legte schweigend die Hände auf des Jünglings Haupt und stieg hinunter in das geistliche Gemach.

»Ich sehe dich noch, mein Dezimus,« sagte die Mutter, indem sie rasch das Zimmer verließ.

Bruder und Schwester waren allein. Sie schlang die Arme um seinen Hals und sagte zwischen Schluchzen und Lachen: »Daß du mich nur liebbehältst, alter Dezem, unter den Scharteken und Rohren deiner dummen Universität!« Dann lief sie, beide Hände vor dem Gesicht, der Mutter nach.

Das liebe, närrische, kluge Röschen, wie wäre es nur möglich gewesen, daß irgendwo und wie und wann ihr alter Dezem sie nicht liebbehalten hätte!

Er dachte den Weg, wie dazumal auf der Suche nach der fremden Blume, zu Fuß zu machen, legte sich daher gar nicht nieder, sondern saß an seinem Kammerfenster, bis der Morgenstern in voller Herbstpracht aufgegangen war. Dann brach er auf.

Als er die Haustür leise öffnete, kam die Mutter ihm nach, drückte ihn an ihr Herz und schluchzte, ja sie schluchzte: »Vergiß nur die Wäschzettel nicht, mein Dezem!«

Die liebe, närrische, kluge Mutter, als ob ein Sohn, den sie erzogen hat, die Wäschzettel vergessen könnte!

Der nächste Weg zur Landstraße führte über den Friedhof. Während er zu einem Abschiedsgruß vor dem Hügel der Mutter stand, deren Liebe ihm eine Fremde ersetzt hatte, [344] trat hinter dem weißen Marmorkreuz, das den Namen Joachim von Hartenstein trug, eine dunkle Gestalt hervor. Es war Lydia, die an dieser Stelle täglich die Sonne aufgehen sah. Er konnte es nicht lassen, er trat an sie heran und reichte ihr die Hand. Sie hielt sie eine lange Weile in der ihren, und schweigend schieden sie.

Als er unter der Pforte sich noch einmal umblickte, stand die hohe, dunkle Gestalt regungslos wie zuvor neben dem weißen Kreuz. Und so war das letzte Bild, das er aus der Heimat in sein neues Leben trug, das der Jungfrau, über welcher der Morgenstern leuchtete.

[345][347]

Die ersten Prüfungen

[347] [349]Die akademische Zeit ist dem Zeitraum nach kein Stufenjahr. Es gibt aber wohl manchen studierten Mann, der mit dieser ersten Sprosse auf der Freiheitsleiter auch die oberste erklommen hat, und keinen einzigen wird es geben, dem, wenn er schon lange Jahre den Berg des Lebens abwärts steigt, nicht ein Rosenflor der Jugend die welken Wangen überflöge, sooft Gedanke oder Rede rückwärts schweifen auf die kurze Spanne, wo er das Gaudeamus sang und Unsinn Weisheit nannte.

Und da will uns denn bedünken, als ob das Wertzeichen des Zustandes, welchen wir einen glücklichen nennen, weit weniger der Genuß sei, welchen er gewährt, als die Erinnerung, welche er hinterläßt. Denn, ach, wie bleiern drückte oftmals die Gegenwart, die im Gedächtnis so goldig leuchtet! Wie viele freie Musensöhne gab es – und gibt es vielleicht auch heute noch –, denen, wenn sie abends im engen Dachstübchen matt und müde sich auf ihr schmales Federbett niederwarfen, der Kopf geraucht hat nicht nur von den unlösbaren Problemen der Weisheitsschulen, sondern weit mehr noch von den Pauklektionen, in welchen sie den Tag über noch manch dickhäutigeres Haupt als das eigene rauchen machten; die, nur halbsatt vom Freitisch im Konvikt und vom barmherzigen Wandertisch, nach dem Bierseidel und der Knasterpfeife, den mundstopfenden Mächten des knurrenden Magens, vergeblich schmachteten; wie viele, denen, wenn sie sich morgens die bedenklich ausplatzenden Stiefel wichsten und am fadenscheinigen Rock die abgesprungenen Knöpfe festnähten, wenn sie die Kragen und Manschetten, welche das einzige Wochenhemd schamhaft verhüllen sollten, auf die umgekehrte Seite wendeten, denen dann wiederum der Kopf geraucht hat über das Problem der fälligen Wäschgroschen und Schustertaler! Ach, wie viele freie Musensöhne, die – ade, Humor! – sehnsüchtig [349] des goldenen Handwerksbodens daheim gedachten, mit Seufzen die Bissen berechneten, die Vater und Mutter für dieses Martyrium der Gelehrsamkeit dem eigenen Munde absparten, und die dann, »grollend schon in Blütentagen«, ausriefen: »O du Galeere, du Sklavenmarkt von Welt!«

Ja, groß war auch in des Hirtensohnes von Werben Zeit und Zone die Zahl dieser Märtyrer der Wissenschaft, welche die beste Jugendkraft verbrauchten, die Dornen und Steine aus ihrem Wege zu räumen, um dann, vom Bücken gekrümmt, ihre Straße sachte bergan zu schlendern und erst beim Rückblick aus weiter Ferne das Haupt wieder zu heben und zu rufen: »Es war doch schön!« Aber der glückliche Hirtensohn und Stipendiat von Werben gehörte nicht unter diese Zahl.

Auch er kehrte abends in ein Dachstübchen zurück; aber es hatte, wie seine heimische Kammer, einen freien Horizont; und schon im zweiten Semester ragte es über die Baumkronen des schönen Gartens, der die Sternwarte umgab, hinweg, und er hatte seinem Hausherrn, dem jetzt urgreisen Chaldäer, statt des Zinses nicht mehr als diesen und jenen Handlangerdienst in seiner Wissenschaft zu entrichten. Auch er hatte sich mit dem Überschwang des Bejahens und Verneinens in den antagonistischen Theologen- und Philosophenschulen abzufinden; aber er zermarterte sich nicht Herz und Hirn über den festen Punkt, an den er sich in diesem Wirrsal zu klammern habe, denn er wußte eine Ausflucht, wo ihm der ewige Gottesgedanke in ursprünglicher Reine entgegenleuchtete, und war er dann und wann übersatt von unverdaulicher Buchstabenspeise, so ward der Durst nach jenem Born, aus welchem wohl Probleme, aber keine Kontraste rieseln, doch niemals gestillt; [350] sei es, daß er sich morgens unter dem mathematischen Katheder ernüchterte, sei es, daß er nachts durch mächtige Refraktoren eine neue Welt im Himmelsozean auftauchen sah.

Auch er gab in freien Stunden Lektionen und Repetitorien, aber in dem Gebiete, das ihm das geläufigste war, und nur an so weit Vorgeschrittene, bei denen er, indem er lehrte, noch zu lernen vermochte. Auch er setzte dann und wann die Füße unter den Tisch einer freundlichen Studentenmutter; aber nur als geladener, gern gesehener Gast. Er brauchte nicht mit Manschetten und Hemdskragen zu knausern, denn das Waschhaus in der Werbener Pfarre war ein flottes Institut, und wenn er auch seine Stiefel eigenhändig wichste und seine Kleider eigenhändig bürstete, Knöpfe und Bänderchen brauchte einer, der sich Frau Hanna Blümels Sohn nannte, sich nicht eigenhändig anzunähen.

Er war ein kerngesundes Blut, das mit sechs Stunden festen Schlafes übergenug und darum von vierundzwanzigen achtzehn freie Zeit hatte für die Verrichtungen, zu denen der Mensch wache Sinne braucht. Er hatte sich keiner der neuzeitlichen gottesgelehrten Verbindungen eingereiht, war auch weder Burschenschafter noch Korpsbruder irgendwelcher Couleur; demnach ein Kamel, aber doch ein kreuzbraver Kamerad und nach wie vor Peter Kurzens, des standfesten Teutonen, spezialster Spezial, sein zweiter Freund; denn der erste war, »natur- und vernunftgemäß«, Peter Kurze selbst. – Er hat sich wenig in Fechthut und Paukhandschuhen auf der Mensur geübt, aber die Flinte lernte er während seiner freiwilligen Dienstzeit gleich im ersten Jahre handlich regieren. Er hatte eine durstige Studentenleber, für alle Tage indessen doch nur auf klaren Born, und durfte er sich auch nicht der Charakterstärke rühmen, die das Übel und Weh der ersten Knasterpfeife mit stoischem[351] Gleichmut überwindet, um es in der Fertigkeit des Giftverdampfens so weit als möglich zu bringen, ein Spaßverderber war er darum nicht. Er konnte sonder Widerwillen Tabaksqualm riechen und mit Lust einen Salamander reiben helfen, konnte singen, allenfalls auch springen und ließ den Spitznamen des »stillvergnügten Hünen« sich gefallen, als ob es ein Ehrentitel gewesen wäre, würde auch schwerlich Blut darum vergossen haben, wenn ein witzboldiger Kumpan den Hünen in einen Philister umgetauft hätte. Alles in allem: er gehörte auch in dem akademischen Stufenjahre zu den Glücklichen, die schon in der Gegenwart rufen: »Es ist doch schön!«

Ach, die köstlichen Sonntagsstunden, wenn er nach einer Sternennacht und dem Morgengottesdienst den allerneckischsten Röschenbrief erbrach, in Gedanken die vergangene Woche Hand in Hand mit dem lieben Kinde nachlebte und am Abend den Gegengruß, berechnet für das Ohr der gesamten Familie, im allerehrbarsten Dezemsstil niederschrieb! Und dann jene allerköstlichste Zeit – zusammenaddiert ein volles Viertel des Jahres –, die er als alter Pfarrdezem in der Heimat verlebte! Fand er die herrlichen Eltern nicht jedesmal wohlauf und frohmütig wie zuvor? Schienen sie nicht von ihrem Seelenfrieden geschirmt wie von einer Glocke, die sie absperrte gegen den zerstörenden Altershauch? Und fand er nach jeder Pause sein Röschen nicht immer lockender zur Rose erblüht? Klopfte das Herz ihm nicht immer bänglicher, wenn er schied? Wußte er aber nicht auch, daß die Liebeshütte, an der er geschäftig baute, kein leeres Luftschloß war?

Ging er dann freilich aus der Pfarre hinunter in das Schloß, da durchschauerte ihn, je länger je mehr, ein frostiger Odem, als ob er aus einem blühenden Garten in einen [352] sonnenlosen Kreuzgang träte, und das Bild, das er von der ersten Idealgestalt seines Lebens in sein Studentenstübchen zurücktrug, beunruhigte ihn wie ein Rätsel, dessen Lösung dem Klarheit suchenden Sinne nicht gelingt.

Lydia war kaum minder schön als während der kurzen Wochen, da der Schmelz der Liebe ihre Wangen überhauchte; ja vielleicht schöner; klassischer würde ein Künstler gesagt haben; das Auge erweitert, die Haltung majestätischer, die Konturen gefesteter, marmorbleich und marmorgleich. Aber er sah in ihr nicht mehr einen Verheißung blinkenden Stern, und unwillkürlich erneuerte sich nach jeder Begegnung in des Jünglings Seele der Eindruck jener Vollmondsnacht, die als lebhaftestes Ereignis aus seinen Knabenjahren ragte. Die Blicke haften an der stilleuchtenden Scheibe wie an einem friedreichen Menschenangesicht; da jählings breitet der Erdschatten sich über sie, und als sie vor dem hundertfältig geschärften Auge wieder auftaucht, starrt er auf ein versteinertes Landschaftsbild mit weißen Graten und dunklen Abgründen zwischen ihnen, aber ohne belebenden Strahl und Strom: eine erstorbene Welt oder eine werdende? Das ist das Rätsel.

Was fehlte Lydia? Der Vater, vor dem sie sich lebenslang gebeugt? Der Geliebte, der sie ein paar Frühlingswochen hindurch umfangen hatte? Gibt es für solches Entbehren keine ausgleichende Macht, nicht einmal die der Zeit? Schritt sie nicht unwandelbar auf einer ihrer Natur gemäßen Bahn? Hatte sie nicht das Bewußtsein unerschütterlicher Treue, das ja Genügen geben soll? Hatte sie nicht einen tiefgewurzelten Glauben, der ja beseligen soll? Ihr Haus glich einem Kloster. Aber spricht man nicht von kindlich stillen, glücklichen Nonnenaugen? Auch Lydias Augen waren still, aber glückliche Kinderaugen waren es nicht.

[353] Was fehlte Lydia? fragten mit dem Jüngling auch die Freunde in der Pfarre, für welche das herrliche Menschenbild, ebenso wie für ihn, fast unnahbar geworden war.

»Freude fehlt ihr,« schalt Röschen, »nichts als Freude. Wozu ist einer auf der Welt, als seines Lebens froh zu sein und andere sich seiner froh zu machen?«

»Wo das Herz traurig ist, hilft keine Freude,« sprach Vater Blümel dem weisen Salomo nach.

»Die liebe Eitelkeit fehlt ihr, nichts als die liebe Eitelkeit,« brummte Peter Kurze.

»Und das soll ein Mangel sein?« entgegnete lächelnd Pastor Blümel.

»Wenn es der pure, blanke Hochmut ist, der dieses lebenspendende Fluidum – universal verbreitet wie der Sauerstoff der Luft! – aufsaugt, mehr als ein Mangel, Papachen, ein Frevel gegen die menschliche Gesellschaft und eine spontane Verkümmerung des eigenen höchst werten Ich,« eiferte Peter Kurze; und setzte erläuternd, mit einem galanten Kratzfuß gegen Schönröschen hinzu: »›Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten‹, hat der – na, der unsterbliche Wieland gesagt.«

»Beschäftigung fehlt ihr, ausfüllende Tätigkeit,« meinte Mutter Hanna, und ihr Konstantin dagegen: »Ja, was soll sie denn tun?«

Ja, was sollte sie tun? Sie tat, was sie vermochte, oder was ihr zu tun gestattet schien. Der Hausstand war nach wie vor in der Mutter Hand verblieben, aber sie sorgte für ihre Familie wie ein Vater, und da es seit dem Vermächtnis Fräulein Thusneldens in der Gemeinde wenig Notleidende mehr gab, ein wohltätiges Eindringen in das Einzelnleben daher unstatthaft geworden war, förderte sie in den Nachbarstädten die Vereine, welche unter dem Namen [354] der inneren Mission allmählich, wenn auch nur schwächlich in Aufnahme kamen. Mit besonderem Eifer, weil durch eine Persönlichkeit angeregt, widmete sie sich aber den Interessen der äußeren Mission.

Einer der getreuesten Freunde ihres Vaters, der Bruder des Professors Hildebrand, hatte, nachdem er seiner Pfarrstelle verlustig geworden, gefolgt von Weib und Kind, sich der englischen Missionsstation in Palästina angeschlossen und daselbst in religiösem wie in ethnographischem Betracht einen ausgiebigen Wirkungskreis gefunden. Sein »Palmental« war der jungen Freundin vertraut wie eine Heimat geworden, aus seiner Seele zog in die ihre das Verlangen, dem protestantischen Deutschland eine bis dahin schlummernde Teilnahme für die Heilsbestrebungen der englischen und amerikanischen Stammes- und Glaubensgenossen an dieser hehrsten Stätte anzuregen. Sie las, korrespondierte, spendete, sammelte für diesen Zweck, sie schrieb zu seiner Förderung sogar in Zeitschriften, die ihm zu dienen geeignet waren, und da ein verwandtes Streben gleichzeitig in höchstgestellten Kreisen wach geworden war, wurde der Name Lydias von Hartenstein zu einem weithin genannten, während doch ihre Person in fast unnahbarer Zurückgezogenheit verharrte. Eine fürstliche Frau bot ihr einen Wirkungskreis in ihrer unmittelbaren Nähe, mit vom Hofleben befreienden Befugnissen an. Lydia lehnte ihn ab. Die Pflicht, der sie ihr Glück und ihren Herzensfrieden zum Opfer gebracht hatte, war noch nicht erfüllt; sobald sie es sein würde, hegte sie den Plan, in dem neuerrichteten evangelischen Krankenhause der Hauptstadt abschließend einen Beruf zu suchen. Auch bewog sie ihre Schwester Priszilla, in der Zwischenzeit für sie einzutreten.

[355] »Nicht,« wie sie dem abmahnenden Pastor Blümel sagte, »nicht, daß das lebensfrohe Kind in diesem schweren Dienst eine dauernde Aufgabe finde, nur eine Schule, wie jedes Mädchen sie durchmachen sollte, um der ernstesten und wichtigsten weiblichen Aufgabe gerecht zu werden.«

Und bevor ein Jahr ablief, hatte das schöne, lebensfrohe Kind aus dieser ernsten Schule einen allerseits befriedigenden Ausschlupf gefunden. Ein Kranker, den sie gepflegt, ein nicht mehr ganz junger Beamter, mäßig mit Glücksgütern gesegnet, aber von guter Familie und strenggläubiger Richtung, daher voller Aussicht zu einer gedeihlichen Laufbahn, bot ihr seine Hand. Sie wurde von Herzen angenommen, und Phöbe, eben herangewachsen, rat an der Schwester Stelle, um nach kaum Jahr und Tag denselben natürlichen Ausweg zu finden. Ja, vielleicht könnte es sich heute noch zutragen, daß einem jungen Fräulein, zumal wenn es sanft und schön wie die Hartensteinschen ist, leichter im Krankensaal als im Ballsaal die Myrte blüht.

Als Dezimus Freys Studienzeit zu Ende lief, lebte Lydia mit der Mutter auf dem Schlosse allein; sie lebten würdig, friedlich und einig nebeneinander, wenn auch nicht miteinander oder ineinander. Frau von Hartensteins Tage waren nach Bedürfen ausgefüllt. Sie schrieb viel mütterliche und empfing viel kindliche Briefe; sie hatte Aussteuern herzustellen, Hochzeiten auszurichten, endlich ein erstes Enkelkind zu wiegen. Was braucht eine Ottilie mehr? Lydia aber, glich ihr Leben denn nicht dem »der hohen freien Geister«, für welches ihr Vater sie zu bilden gehofft hatte, erhaben über die gemeine Not? Und dennoch sagte Konstantin Blümel in jener Zeit von ihr zu seinem Sohn: »Sie siecht an ihrem Ideal!«

[356] Vor keinem Menschen hatte Lydia jemals den Namen ihres einstigen Verlobten wieder genannt; auch Sidonie würde für sie eine Verschwundene gewesen sein, wenn Pastor Blümel, dem die Aussöhnung der Familie eine Herzenssache war, sie ihrem geistigen Gesichtsfelde nicht beharrlich genähert hätte. Die erste Anknüpfung bot der folgende Brief, welchen Dezimus an seinem nächsten Geburtstage erhielt.

»Da die vorjährigen guten Wünsche uns in der Kehle steckengeblieben sind, erhalten Sie, wertgeschätztes Johanniskind, die Dosis heuer verdoppelt. Ich sehe im Geiste Sie umschichtig sich erlaben an den Tafeln der Leviten und Chaldäer und rufe ehrlichen Glaubens: Wohl bekomms! Ein braver Hirtenmagen verträgt sauer und süß.

Nächstdem sollen Sie gebeten sein, sooft Sie etwas zu schreiben wissen, mir einen Brief zu schreiben, frisch von der Leber weg, sonder drapierende Gazewolken, die in unserem biderben Deutsch die Welt allemal gleichsam mit Brettern verschlagen und für geschmackvolle Leute, wie Sie und ich, vollständig aus der Mode gekommen sind. Auch sollen Sie gleiche Gunst von ihrer Rose erbitten; unter dem lockigen Strudelköpfchen blüht manche Blume auf, deren Duft mich erquicken würde.

Ich grüße die gemütliche Pfarrfreundschaft in corpore; die heilige Schloßfreundschaft nicht einbegriffen; denn ich grüße nur solche, mit denen ich es gut meine, und gut meine ich es mit meiner sublimen Sippe noch immer keineswegs. Aber nicht mehr wegen der Johannisoffenbarung vom vorigen Jahr und ihren Konsequenzen. Aus reiner Idiosynkrasie. Der Lilienduft ist für meine Nerven zu stark. Im übrigen verweise ich, konform dem Gesetz der reinen Vernunft, auf Mama Brigittens Deklaration und rechne darauf, [357] daß der Reverend Primrose Numero zwei mich mit seinem Notpfennig aus dem Werbenschen Opferkasten fortan in Frieden lasse. Sela.

Ein Stücklein von Held Martin muß ich indes doch noch zum besten geben, bevor ich hinter die feindliche Basenschaft ein Punktum mache; ein Romanstreich, unverkennbar seiner spezifischen Phantasie entsprungen und doch korrekt ein pröpstlich Hartensteinsches Bravourstück. Vernehmen Sie also, daß er mir in optima forma seine tapfere Hand angetragen hat. Mir sage ich, und bin heilig davon durchdrungen, daß er mit diesem Mir nicht Papa Mehlborns gelegentliche Erbin, sondern die von seiner Familie gekränkte Unschuld im Sinne gehabt hat, wie ich gleicherweise davon durchdrungen bin, daß er unter dem Druck des erhaltenen Korbes nicht an Herzbrechen sterben wird. Und so möge sein ritterlicher Wille ihm mit einer Lorbeerkrone vergolten werden.

In Parenthese und zu Ihrem Nutz und Frommen, hoffnungsvoller Candidatus theologiae und matrimoniae: es gibt keine zärtlichere Paarung, als wo das Fräulein klug und mit einem kleinen Verdruß irgendwelcher Art behaftet, das Männlein statt dessen mäßig gewitzigt, aber schön und womöglich ein Jahrzehent jünger ist. Umgekehrt, will sagen: das weibliche Anwesen jung und einfältig und der Gespons ältlich und hell, da mag der Engel mit dem feurigen Schwert immerhin schon ein wenig auf der Lauer stehen. Wo aber der göttliche Intellekt halbiert ist und Adam dem Evchen, Evchen dem Adam mit gleichscharfen Augen auf die Finger passen, die nach der verbotenen Apfelfrucht langen, da ist der Weg vom Paradies zum Infernum ein Katzensprung; wennschon es auch von dieser Erfahrungsregel gesegnete Ausnahmen gibt, wie ich selbiges [358] an dem philosophischen Konsortium, zu dem ich neuerdings in Kindschaft getreten bin, Tag für Tag erfreulich wahrzunehmen habe.

Nun aber endlich zu den Fragen, mit welchen ich die hochwürdige Blümelei im Chorus mich bestürmen höre: ›Wie treibts die kleine Sidi? Wie geht es, wie gefällt es ihr in der arktischen Zone, nach welcher sie urplötzlich aus Arkadien verschlagen wurde?‹ Ei nun, leidlicher und lustiger, Freunde, als Ihr es Euch träumen lassen mögt; wennschon es ein eigen Ding bleibt, sich die Kindlichkeit anzugewöhnen in einem Stadium, das sich die Würden einer Respektsperson gefallen lassen könnte. Meine Mutter ist keine von den Musen und Grazien, die ich als Nonplusultra der Weiblichkeit zu verehren gewöhnt worden bin; aber eine gescheite, grundredliche, grundtüchtige Frau. Ich merke mit Staunen, wieviel von ihrem Blute in meinen Adern rinnt. Ja, hätte ich mich ihrer physischen Naturkraft zu erfreuen, wer weiß, ob ich nicht im allereigentlichsten Sinne ihre Tochter geworden wäre. Aber diese Natur! Freund Peter Kurze möge hören und staunen! Nie im Leben hat ihr ein Finger weh getan; ich bin überzeugt, daß sie uns Kinder vom Baume geschüttelt hat; nie im Leben hat sie einen Nerv zucken gespürt; härter noch als ihr Wille ist ihre Haut. Stellen Sie sich vor, daß sie bis tief in den Herbst hinein in unserem See badet, während mir mitten im Sommer die Hand abstirbt, wenn ich sie eine halbe Minute aus dem Boot in das eisige Wasser tauche. Reines Nixenblut!

Der Professor – er prätendiert nicht, daß ich Papa zu ihm sage, sondern begnügt sich mit dem guten Freund – ist ein Ehrenmann. Gentleman würde in gewissem Sinne viel zu wenig und in einem anderen ein wenig zuviel für ihn sein. Kurzum wir vertragen uns, sonder anstrengende [359] Toleranz. Das Land sagt mir zu; wenn nicht in Italien, wüßte ich nicht, wo ich lieber leben möchte. Für meinesgleichen kommt gleich nach der hohen Kunst die hohe Natur und die hohe Gesellschaft erst ein weites Spatium hinterdrein. Indessen ist es auch mit der letzteren nicht ganz so eidgenössisch nüchtern, wie ich gefürchtet hatte, bestellt. Wir verkehren fast nur – wennschon nicht absolut aus freier Wahl – mit Ausländern, will sagen zumeist Deutschen: Flüchtlingen, Mißvergnügten, Phantasten, Narren, aber auch etwelchen tüchtigen und vielen gebildeten Köpfen dermang. Frau Brigitte Zacharias spielt unter diesen Römern in spe die Rolle einer inspirierenden Egeria; ihr Fräulein Tochter die einer preußischen Volumnia oder dergleichen. Will sagen, die kleine Sidi spielt die Patriotin im Ernst. Die schwarzweiße Kokarde ist ja ihr einziges Hartensteinsches Erbe. Leider, daß sie es nicht mit ihrem Bruder teilen kann. Sie wissen ja aber wohl, wie man dem armen Jungen im Vaterlande mitgespielt hat.

Doch ich bin noch nicht mit der kleinen Sidi zu Ende, da ich ja kein Wort von ihrem wesentlichsten Ingredienz, der edlen Musika, erwähnt habe. Und da hat das Blatt sich denn so kurios gewendet, daß sie, in Ermangelung von fertigen Meistern, mit sehr unfertigen Schülern fürliebnimmt und – hört, hört! – und – na dreist heraus! – Klavierstunden gibt; Tag für Tag vier bis sechs Stück à vier bis sechs Frank, wobei sie sich das Jahr netto auf tausend Taler steht. Wie die alte Harfenmuhme vor Lachen sich schütteln wird, wenn sie aus hohem Himmelsfenster dieses Treiben einer Werbenschen Geschlechts nach folgerin erspäht! Denn bis zur reifenden Traurigkeit, Papa Blümel, wird sie es binnen Jahr und Tag dort oben wohl schwerlich gebracht haben. Tat sie sich doch noch in ihrer letzten Stunde etwas [360] darauf zugut, in diesem irdischen Jammertale eine Achtzigerin geworden zu sein, ohne, es sei denn im Wickelbunde, eine Träne vergossen zu haben.

Item, es ist ein gutes Geschäft bis auf die rebellischen Nerven. Ihrethalben bin ich indessen schon wiederholentlich auf den Einfall gekommen, in meine sogenannte Heimat zurückzukehren und mich allda redlich, aber etwas gesundheitlicher zu nähren, indem ich mit dem Material Papa Mehlbornscher Kuhställe eine Molkerei im großen begründete. In der Schweiz lernt sich so etwas, und fertig brächte ich allenfalls auch das. Die klügste aller Pfarrmütter hatte, irre ich nicht, schon vorig Jahr, etwas derart mit mir im Sinn. In jenem sturmflutigen Zustand war es zu früh dazu, und heute wahrscheinlich auch noch. Wenn Mama Blümel mir indessen im Milchkeller des Talgutes jährlich tausend Taler verbürgen könnte – denn auf das liebe Geld bin ich ein Vogel, der es Vater Mehlborn wettmacht –, wer weiß, ob ich nicht die patriotische Paukmamsell in der Diaspora aufgäbe und Euch das idyllische Rührstück vorführte: Sidonia in der Käserei!

Und nun zu guter Letzt noch einen Blick auf den, dessen Stern, ist er gleich aus der Region Ihrer regierenden Jungfrau gestürzt, Ihnen, getreuer Hirtensohn, denke ich, doch immer noch anziehender leuchten wird als der, welcher über dem Haupt der Melkerin der Zukunft kulminiert. Nun, auch mein Mäxchen läßt es sich gefallen, so wie er es treibt, treibt er es auch just nicht so, wie Sie und andere Leute es für ihn in Aussicht genommen hatten. Der Mensch zieht ja nun einmal einen Mißstand seiner Wahl dem Wohlstande vor, den sein bester Freund für ihn ausgeklügelt hat, und nennt seine Freiheit das, was er im Grunde seine Unfreiheit nennen sollte. Kurz und gut: das Mäxchen ist [361] auf dem Wege nach Rom in Paris hängengeblieben – dem rechten Platze, häßliche Erfahrungen zwar nicht zu verwinden, aber zu vergessen –, und er schwingt allda tapfer nicht bloß die Adlerfeder des Poeten, sondern, wie tutti quanti, auch die Hahnenfeder des Publizisten. (Falls sein jüngster Ruhm noch nicht bis in Ihre Pflegstätte deutscher Wissenschaft gedrungen sein sollte, erlasse ich Ihnen, denselben auszuposaunen.)

Mag er! ›Singt er sich auch nicht in eine Fürstengruft‹, wird der Huf seines Pegasus auch keine Republik der Gleichheit und Brüderlichkeit aus unserem biderben vaterländischen Boden stampfen, solange er bei diesem oder irgendwelchem anderen unschuldigen Zeitvertreib sich frei fühlt und froh, wird frei und froh sich fühlen auch der kleine Trabant, der, nur mit bewaffnetem Auge erkennbar, sich um diesen bis jetzt noch sehr veränderlichen Stern bewegt. Woher kommt denn alles Glück, freilich auch alles Unglück in der Welt, als daß wir, coûte que coûte, uns an ein Individuum hängen müssen, oder sei es meinetwegen an ein Ding? Bleiben Sie darum den hohen Himmelsaugen treu, Hirtensohn. Sie riskieren mit ihnen weniger von Ihrem Johannissegen als mit allen, die Ihnen hienie den blitzen und blinken würden. Solches wünschend verbleibe ich meines standfesten Freundes Polarius gleicherweise standfeste Freundin Sidi.«

Die Freunde in der Pfarre spürten zwischen den scherzhaften Worten manchen unterdrückten Seufzer und manche unterdrückte Träne heraus; und wenn es eine gute Art des Mitleids ist, anderen Mitleid ersparen zu wollen, so wurde die Absicht hier nicht erreicht.

Der Eindruck wiederholte sich bei jedem der späteren Briefe, die regelmäßig am Johannistage eintrafen und in [362] Text wie Ton nicht wesentlich anders lauteten. Sie wurden gleich dem ersten von der gesamten Familie, in verteilten Gebieten, ausführlich beantwortet, so daß die Entfernte in ihrer sogenannten Heimat wohl orientiert bleiben durfte. Dezimus, als Auswärtiger, begnügte sich mit dem Referat über seine eigene bescheidene Person und die Zustände seiner Akademie. Vater Blümel, der Versöhner, behandelte den Artikel: Lydia.

Das liebe Röschen hatte sich Held Martin als Gegenstand auserkoren und freute sich, schon im nächstjährigen Briefe durch folgende Eröffnung auf einen interessanten Effekt rechnen zu können.

»Den alleruntertänigsten Gratulationsknicks zu der Krone, welche meines lieben Fräuleins Sidi verehrlicher Herr Vetter und Freier sich schon in jungen Tagen erworben hat; wenn es vorderhand auch nur eine Myrtenkrone ist. Binnen weniger Wochen feiert er im Werbenschen Ahnensaale Hochzeit mit einem verwaisten Fräulein, das sich zweiunddreißig reiner Ahnen und des erforderlichen ›Kommißvermögens‹ – seine, des Helden Bezeichnung, nicht meine! – zu erfreuen hat. Ein hochnäsiges, blasses Spürrippchen, nach unserem ländlichen Dafürhalten! Der bravste der Braven gab einem gewissen schwarzlockigen Strudelköpfchen nicht undeutlich zu verstehen, daß er kein weibliches Wesen seinem Ideal so gänzlich entsprechend gefunden haben würde als eben besagtes Strudelköpfchen; daß er aber, auch abgesehen von dem Kommißvermögen, als ein Hartenstein Rücksichten zu nehmen habe, welche gewöhnliche Leute Vorurteile nennen. Ei nun, Spürrippchen oder Strudelköpfchen, einmal unter dem Pantoffel, ist er der Held, der mit diesem oder jenem in ein Himmelreich kommt. Mein Dezem gehört, wenn auch aus einigermaßen [363] abweichenden Gründen, zu der nämlichen Couleur, mit der wir Mädchen uns eigentlich gar nicht einlassen sollten. Denn wenn ein Mann durch uns nicht unglücklich werden kann, wie soll er denn durch uns glücklich werden, oder wir durch ihn? Versucht wird es mit dem Dezem aber doch wohl werden müssen.«

Jedem dieser Briefe wurde allerseits eine herzliche Einladung in das Pfarrhaus beigefügt. Am dringlichsten von Mutter Hanna, wenn sie es auch ablehnen mußte, die Bürgschaft für eine auf dem Talgute zu errichtende Schweizerei so wiet zu übernehmen, daß durch ihre Erträge einem Freiheitsdichter in der Metropole des Genusses die Adlerfeder mit feinem Golde überzogen werde. Über Papa Mehlborn, ihre briefliche Spezialität, konnte Mutter Hanna von Termin zu Termin lediglich berichten, daß er rüstig weiterwirtschafte und nur sein Augenlicht immer bedrohlicher im Abnehmen sei. Er stände ja aber auch hoch in seinem achten Jahrzehnt.


Philipp von Hartensteins Vormund war ein gewissenhafter Herr. Wenn er unter den Hörern seines Kollegs einen gefunden hätte, dessen mathematische Beflissenheit der exegetischen nur annähernd ebenbürtig gewesen wäre, würde er, ohne auf heimische Beziehungen Rücksicht zu nehmen, den Zögling des toleranten Pfarrers von Werben ebenso fern von seinem Zögling gehalten haben, als jener sich schon seit dem zweiten Semester fern von des keineswegs toleranten Herrn Professors Privatissimum hielt. Da außer dem Studiosus Frey solch ein närrischer Kauz, der die Mathesis pura als genußreiches Nebenstudium der Exegese betrieb, nun aber einmal nicht aufzutreiben war, und da der Schematist von Staat nun einmal einen [364] gewissen Grad der Mathesis pura für einen zukünftigen Jünger Doktor Martin Luthers unerläßlich fand, da endlich auf diesem neutralen Gebiet konfessionelle Widersprüche nicht zu befürchten waren, machte er aus der Not eine Tugend und wendete dem armen Hutmannssohne von Werben für wöchentlich vier Pauklektionen wöchentlich acht gute Groschen zu. Denn sotane Lektionen aus landsmannschaftlicher Gefälligkeit gratis anzunehmen, dieses hoffärtige Ansinnen konnte dem armen Hutmannssohne selbstredend nicht zugestanden werden.

Nun, wenn auch dafür abgelohnt, machte es Dezimus Freude, seines weißen Fräuleins erziehende Aufgabe, die in bezug auf den Knaben eine schwere war, um ein Bruchteil zu erleichtern, und er nahm es geduldig in den Kauf, daß, bevor das Buch aufgeklappt wurde, regelmäßig ein Sturm leidenschaftlicher Klagen und ein Strom von Tränen, Tränen der Wut, beschwichtigt werden mußten.

Philipp hatte sich während des Siechtums seiner leidenschaftlich geliebten Mutter darein ergeben, dem vom Vater erwählten Tutor zu folgen, und es war im Grunde ja auch nur eine häuslich strenge Regel, welche er mit der anderen vertauschte. Aber es ist ein Unterschied, ob das Haus, in welchem solche Regel waltet, in lachender Landschaft gelegen ist oder in einer halbdunklen, rauchigen Stadtgasse; ob Andachten und Choräle in hohen Sälen erklingen oder in einer engen Gelehrtenstube, ob Benedikte und Gratias an einer völlig besetzten Familientafel gesprochen werden oder vor und nach dem bescheidenen Mahle eines Professors mit dreihundert Talern Gehalt und den Kollegiengeldern eines Privatissimums, das die Zahl der Musen selten erreichte; ob man in den Freistunden sich auf blühender Gartenterrasse – wenn auch nur in Gesellschaft von ein [365] paar Schwesterchen – austummelt oder sterbensseelenallein in einem mauerumragten Hinterhof; vor allem aber, ob eine zärtliche Mutter wie Frau Ottilie das weibliche Element der Familie vertritt oder eine ältliche, emsige, kinderlose Schaffnerin wie die Hausfrau des Professors Hildebrand.

Hatte schon daheim Magister Klein seine liebe Not mit dem Stillsitzen des lebhaften, nicht unbegabten, aber widerwillig lernenden Knaben gehabt, so war diesem jetzt nun alles und jedes zuwider, sträubte gegen alles und jedes sich sein Hartensteinsches Blut. Unter den Augen seines Zwingherrn saß er mucksmäuschenstill, mit verbissenem Grimm; in der Klasse verstopfte er sich gleichsam die Ohren, um wegen Ungelehrigkeit und Trotz je eher je lieber von der Schule gejagt zu werden. Vor seinem »lieben guten Dezimus« aber tobte er sich aus wie ein unbändiges Füllen. Er wollte fort aus dem Pfaffenhause, in das Kadettenkorps, in die weite Welt, gleichviel wohin, nur fort, fort! Er wollte kein Schwarzrock, er wollte Soldat werden wie alle Hartenstein, sogar sein Vater, als er noch jung gewesen. Warum hatte Martin werden dürfen, was ihm gefiel? Wer gab einer Schwester das Recht, ihren Bruder zu zwingen in ein Verhältnis, das ihm widerstand?

Bei jedem Ferienbesuche brachte er die nämlichen Klagen und Beschwerden auch den Seinigen zu Gehör, wenn auch in abgedämpften Tönen. Denn der Mutter erweckten sie nur unstillbare Seufzer und Tränen, und vor Lydia scheute er sich, da in ihrer Hand ganz allein – das einzusehen war er klug genug – sein Schicksal lag. Wenn er aber niemals eine andere Antwort erhielt als: »Es ist deines seligen Vaters Wille gewesen, harre aus!« dann stürmte [366] er verzweifelnd in die Pfarre, wo er in Röschen eine offene, in Mutter Hanna eine heimliche Verbündete gegen den Gewaltakt, der an ihm verübt ward, fand, und was Pastor Blümel zur Begütigung dagegen redete, redete er in den Wind. Nicht in den Wind, sondern wie gegen einen ehernen Wall redete Pastor Blümel aber auch zu dem Herzen der väterlich geliebten Lydia, sooft er sich ihr gegenüber zum Anwalt ihres Bruders aufwarf. Sie fragte ihn, ob er in seinem Pflegesohn die Neigung zu einem diesem angemessen dünkenden Beruf nicht gleichfalls niedergehalten habe?

»Nur die Entscheidung dafür bis zu der Zeit seiner Reife,« antwortete Pastor Blümel.

»Mehr fordere auch ich nicht,« versetzte Lydia. »Sollte für einen halbwüchsigen Knaben die Zeit der Reife aber schon gekommen sein? Und was geht Philipp ab? Würde er in einem Alumnat, wie Sie es vorschlagen, größere Freiheit haben?«

»Keineswegs, und diese würde auch keineswegs zu wünschen sein. Aber eine jugendlich gesellige Sphäre, in welcher er sich nicht in das Extreme getrieben fühlte. Bei jedem zu bildenden Menschen muß mit seinem Temperament gerechnet werden.«

»Er ist als jüngstes Kind durch übergroße Liebe verwöhnt; strenge Zucht tut ihm not. Das Leben ist kein bequemes Schaukelbett. Er steht unter Obhut der gewissenhaftesten Pfleger, der treuesten Freunde seines Vaters. Er wird eines Tages arm sein. Je einfacher seine Lebensweise geregelt ist, um so leichter wird er künftige Beschränkungen ertragen. Jedes Kind soll erzogen werden gemäß der Lage, welche sein von Gott berufener Hüter für ihn voraus zu berechnen vermag. Mein seliger Vater [367] hat bitterlich gelitten, weil, wie er glaubte, diese Erkenntnis ihm zu spät gekommen ist.«

Was sollte Pastor Blümel diesen logischen Folgerungen entgegenhalten? Er seufzte. Aber der Seufzerhauch machte nicht, wie der Dichter es will, »ihm der Seele Spiegel klar.« Eine deutliche Stimme warnte ihn, daß dieses seltene Mädchen an seiner wichtigsten Aufgabe scheitern werde, indem es sie überspanne, und daß ihr eigener Frieden schwerer als der des anvertrauten, leichtblütigen Knaben bedroht sei. Lydia krankte an ihrem Ideal, und dieses Ideal war der Glaube an vollkommenen Menschenwert. Sie hatte ihre Liebe zu Max als eine Irrung erkannt, aber als eine Irrung, von der sie nicht zu genesen vermochte, und eben darum war sie hart mehr noch gegen sich selbst als gegen den Bruder, in welchem sie einen Bluts-und Geistesverwandten des Geliebten mit nur weit schwächerer Begabung sah. Selbst ihr Vater stand vielleicht nicht mehr ganz so hoch wie einst auf dem Piedestal in ihrer Brust.

Indem Pastor Blümel diese sorglichen Erwägungen in des Sohnes Seele ergoß und dessen Bitten um eine angemessenere Behandlung seines jungen Freundes mit ihnen abfertigte, fühlte sich nun aber der Jüngling weit mehr als der Greis der ersten Idealgestalt seines Lebens innerlich entfremdet. Die kindliche Vertraulichkeit hatte mit Maxens Dazwischentreten ja aufgehört; Dezimus sah Lydia seit Jahren nur noch gleichsam aus der Ferne; Erinnerung und Phantasie jedoch arbeiteten an dem weißen Fräulein geschäftig weiter, bis allmählich und immer dichter zum Herzen hinan ein kalter Nebelbrodem sich zwischen sie und ihren jugendlichen Bewunderer drängte.

Je schattenhafter nun aber das Bild des weißen Fräuleins [368] in seiner Seele verblaßte, um so wesenhafter gestaltete sich die Neigung zu der süßen Rose, deren Duft er nach jeder Trennungspause begehrlicher in sich sog. Er dachte gar nicht mehr daran, nach Ablauf seines Trienniums sich noch einmal zu abstrakten Messungen auf die Schülerbank zu setzen; er dachte nur so rasch als möglich ein fertiger Mann, ja durch Aneignung des besten Teiles seines Selbst erst recht zum Mann zu werden. Dezimus, Dezimus, hüte dich! Du bist bisher sonder Hast noch Rast, wie es einem Glücklichen eignet, deine Bahn gewandelt. Hüte dich vor den Dämonen, Jüngling! Laß es mit deinen Sternen nicht deinen Stern dich kosten!

Peter Kurze war es, der jezeitige Doktorand, welcher, etwas weniger euphemistisch ausgedrückt, diesen Warnungsruf vernehmen ließ. »Stillvergnügter,« sagte er, »das Kandidatenfieber ist bei dir ausgebrochen!«

Aber Dezimus lächelte nur ob dieser Prognose. Die Sache lag nicht entfernt so bedenklich, wie der Medikus in spe erachtete. Keine Spur von Fieber. Peter Kurze war selber verliebt, daher nicht klarsichtig; in das liebe Röschen verliebt, daher eifersüchtig; viel stärker verliebt als Dezimus, weil ein paar Jahr älter und obendrein Mediziner, will sagen ein Praktikus des Natürlichen und keine Spur von Idealist. Wächst solch ein Kandidatenparoxismus zwanzig Jahre lang aus der Wiege heraus? Trägt Dezimus an seinem Finger ein Ringlein, das zu einer künftigen Kette den Anfang bildet? Hat er dem schwarzen Strudelköpfchen eine einzige Locke geraubt? Sammelt er Vergißmeinnicht oder Busenschleifen? Begnügt er sich nicht mit dem Lichtbild in seinem Herzen, statt auf ihm eines zu tragen, wie der fortschreitende Erfindungsgeist seit kurzem sie an Stelle der mühsam mit dem Storchschnabel entworfenen [369] Schattenbilder unserer Väter im Umsehen von der Zauberin Sonne zeichnen läßt? Von all diesen Liebhabermerkmalen kein einziges! Nicht ein Wort ist zwischen dem Studenten und seinem Röschen gefallen, das der Kandidat und seine Rose hätten einlösen müssen. Endlich aber die Hauptsache: was hätte es denn verschlagen, wenn das Kandidatenfieber ausgebrochen wäre? Nur in der Ordnung würde es gewesen sein.

Hieß er denn nicht schon seit Monden Herr Kandidat? Hätte er nicht Predigten halten können, so viel ihm und seinen etwaigen Zuhörern beliebte, ohne daß ein gewogener Professor sein Approbatum darunter setzte? Und ist dieser Abschnitt nicht lediglich darum unerwähnt geblieben, weil er im Grunde ein Abschnitt nicht war und das Aufhören des Trienniums und Stipendiums in seinem Tageslauf so gar wenig geändert hatte! Statt gottesgelahrte Kollegia zu hören gibt er etliche Unterrichtsstunden in einer höheren Lehranstalt, sitzt aber nach wie vor zu Füßen seines herrlichen Chaldäers und arbeitet in der Zwischenzeit mit Feuereifer an der Vorbereitung zu dem Examen pro ministerio, nach welchem der Ordination nichts mehr im Wege steht. Bei dem bevorstehenden österlichen Ferienbesuche wird er seinem Vater erklären, daß im Gestritt der Schulen das, was not tue, ihm unverkümmert geblieben und daß er freudig gewillt sei, dem Vater zur Seite zu treten, sobald dieser ihm sagen wird: »Ich bin müde geworden, mein Sohn. Stehe mir bei, die Seelen unter meinen Augen ein wenig höher gen Himmel zu richten.« Warum soll der Kandidat daher nicht so gut wie jeder andere an Hüttenbauen denken?

Ja, er lachte den Doktoranden recht stillvergnügt ob seiner Diagnose aus. Bei alledem aber lachte er noch viel [370] stillvergnügter, als besagter Doktorand und Rival ihm erklärte, daß er der verflixten Promotion halber sich heuer den Appetit auf Mutter Blümels Osterfladen verkneifen müsse, um ohne Gefühlspause über der Pathologie einer Fettleber, seiner schriftlichen Probearbeit, zu büffeln. Es rann in Freund Dezems Adern kein Othelloblut; absolut ohne Dämonen geht es aber auch in der stillvergnügtesten Brust nicht ab. Die Osterwanderung ohne seinen besten Freund kam ihm noch einmal so vergnüglich vor.

Aber noch ein zweites, leider wenig frohstimmendes Anliegen sollte während ihr erledigt werden. Sämtliche Repetitorien, bis auf das seines jungen Landsmannes, waren aufgegeben worden. Jetzt mußte auch dieses wenigstens beschränkt werden. Die Examenansprüche drängten, und ein erster schriftstellerischer Versuch, ein astronomischer Leitfaden, den er unter der Ägide seines getreuen Himmelsführers unternommen hatte, sollte womöglich noch vor jenem Abschluß vollendet werden. Es galt daher, die Zeit gründlich auszukaufen. Und Philipp hätte doch mehr denn je nicht bloß einer fördernden Nachhülfe, sondern auch eines hingebenden Umgangs bedurft.

Er war zum zweiten Male nicht nach Prima versetzt worden und bäumte sich mit äußerstem Trotz gegen den aufgedrungenen Schülerberuf. Da ihm, als Strafe für seine Lässigkeit, die österliche Ferienreise untersagt worden war, hatte Dezimus sich vorgesetzt, sein Fürsprecher bei Lydia zu werden, um ihre Zustimmung zu der ersehnten Soldatenlaufbahn zu erwirken. Der brave Hirtensohn! Eine Ader Don Quixotes spukte doch wahrlich in seinem mathematischen Kopf. Sich zu unterfangen, woran Konstantin Blümel, der Versöhner, gescheitert war!

Am Nachmittag vor der Reise saß er bei dem Artikel [371] »Sternschnuppen«, einem Leibartikel, über seinem Leitfaden, als Philipp in das Stübchen stürmte und sich lautjubelnd ihm in die Arme warf. Die Decke in seines Professors Rauchneste war zusammengestürzt, es mußte ein Umbau und eine Neuordnung der Bibliothek vorgenommen werden; der unbequeme Hausgenosse wurde daher bis nach den Festtagen zu seiner Mutter entlassen. Dezimus hatte die Eisenbahn, die zwischen der Universitäts- und der Werbenschen Kreisstadt schon seit Jahren fertiggestellt war, noch niemals benutzt; er schritt mit Lust von Zeit zu Zeit einmal tüchtig aus. Dem jungen Faulpelz war nun als Strafe diktiert worden, die Reise statt wie bisher per Dampf diesmal per pedes mitzumachen. Was doch dieser gelehrte Professor für ein Menschenkenner war! Die erste Fußreise, eine Wanderung mit seinem lieben guten Dezimus – eine Strafe! Ach, wenn er doch die ganze Welt mit ihm hätte durchwandern können! Das große Kind hatte sich bereits probeweise Ränzchen und Botanisiertrommel umgehängt, auch einen gewaltigen Knotenstock zugelegt. Er glich dem Vogel, dem die Käfigtür geöffnet worden ist, er sang und pfiff vor heller Lust, krähte wie ein Hahn und wieherte wie ein Roß. Es war ja ganz unmöglich, daß er je wieder in das grauliche Nest zurückkehrte. Wenn nur sein lieber guter Dezimus ihm tapfer beistände, mußte Schwester Lydias steinhartes Herz ja endlich erweicht werden. Der mütterlichen Zustimmung war er längst gewiß. Zum Winter trug er den bunten Rock.

Während dieses wohligen Flügelschlagens erdröhnten die Treppe herauf wuchtige Tritte, die Tür wurde aufgerissen, und in ihrem Rahmen erschien eine Gestalt, die sich bücken mußte, um nicht anzustoßen; halben Kopfs höher als der Hüne unter den Musensöhnen und mindestens [372] noch einmal so breit, wennschon besagter Hüne sich auch keiner Wespentaille zu rühmen hatte. Ein Prachtstück von Mann mit seinem rötlich gelockten Haar und Bart, dem wetterbraunen Gesicht und den weitgeöffneten meerdunklen Augen. Er kam Dezimus bekannt vor, obgleich er doch wußte, daß er ihn niemals gesehen hatte; so wie ihn hatte er sich seinen Vater vorgestellt, seinen armen Vater, ehe er bis zur Hutmannshütte herabgesunken war.

»Na, wer von euch Jungen ists denn?« rief der Fremde mit hauserschütterndem Baß; als aber die »beiden Jungen« verwundert schwiegen, brach er in ein schallendes Gelächter aus und sagte, indem er sich mit der Faust vor die Stirn schlug: »Dummrian! der winzige Piepmatz kanns doch nicht sein!« Dabei kriegte er den Großen beim Kopf, schmatzte ihn auf beide Backen, preßte ihm die Hände, daß ihm, der sonst bei einer Kraftäußerung just nicht zimperlich war, ein »Au!« entfuhr, und erst nach dieser tatsächlichen Begrüßung stellte er sich vor mit den Worten: »Ich bin Bruder Klaus!«

Da gab es denn viel lautes und stilles Vergnügen, dann aber gewaltige Neugier und gewaltigen Durst. Den letzteren von seiten des Steuermanns, die erstere nur von seiten der beiden Jungen. Denn Bruder Klaus wuße ja aus zweilangen Schreibebriefen, wie es dem Zehnten des Hutmannshauses gegangen war, und hätte er es noch nicht gewußt, würde er es ihm an den Augen angesehen haben: nämlich gut, und weiter brauchte Bruder Klaus nichts zu wissen; denn Jahr aus Jahr ein zwischen Wind und Wellen, gewöhnt einer sich das Fragen ab. Dahingegen liebte er es, wenn er einmal auf dem Trockenen saß, seinen Lungen durch Erzählen Motion zu machen; und so tat er denn seinen Mund auf und nicht eher wieder zu, bis die Punschterrine, welche die [373] Haushälterin des alten Sternenprofessors gefällig besorgt hatte, bis auf den letzten Tropfen geleert und das, was das Herz anfüllte, für heute wenigstens genügend ausgeschüttet war.

Der erste große Schreibebrief, dessen Eintreffen der Inselpastor mit der Bemerkung, daß der Steuermann Frey auf einer Indienfahrt begriffen sei, angezeigt hatte, war Jahr und Tag vor des Adressaten Heimkehr angelangt; die erbetene Antwort aber aus guten Gründen unterblieben. Mit dem Buchstabenmalen hatte Bruder Klaus es schon unter Kantor Beyfußens Fuchtel nicht gar zu weit gebracht, und während der zwanzig Jahre, daß er kreuz und quer die Wasserwelt durchsteuerte, war es ihm »rattenkahl« abhanden gekommen. Auch seine Frau, Stina hieß sie, verstand sich auf diese Fingerkunst nur schwach; kontrarie der Inselpastor, der sich sogar bis zum Bücherschreiben auf sie verstand, würde die Sache doch nicht so ausgedrückt haben, wie es der Klaus mit leibhaftigen Worten getan. »Besser,« hatte er zu seiner Stina gesagt, »besser, ich mache bei gelegener Zeit einmal hinein.«

»Denn, nicht wahr,« so fragte er lachend, »bei euch zulande wird immer noch wie sonst allerwegens gemacht, wo bei uns Strandleuten hingesegelt wird?«

Weil Bruder Klaus nun aber erst noch verschiedentliche große und kleine Touren abzusteuern hatte, war er erst gestern dazu gekommen, zum Dank auch noch für den zweiten Schreibebrief, den der neubackene Kandidat in sein Inselhaus geschickt, sich in Hamburg zum ersten Male im Leben auf eine Eisenbahn zu setzen; mußte auch binnen fünf Tagen schon wieder in seinem Hafen sein, um eine Kaffeeladung aus Brasilien zu holen. Dann aber hatte er sich eine Landpause vorgenommen und gedachte, wenn er es nämlich [374] so lange aushielt, den Winter über bei Frau Stinen und dem kleinen pausbäckigen Matrosen zu bleiben, der während jener vom Pastor gemeldeten Indienfahrt in dem Inselhause eingesprungen war. Neckischerweise dieser erste Bube an einem Tage mit dem erwähnten Bruderbrief, dem ersten Schreibebrief in Mutter Stinas Ehestande. Der Inselpastor hatte ihn ihr im Wochenbette vorgelesen, dann hatte sie ihn selber durchstudiert, und zwar so oft, bis sie ihn auswendig konnte von A bis Z. Der Inselpastor aber hatte beim Kirchgange der Wöchnerin eine Predigt über den Bruderbrief gehalten und das Gleichnis vom Säemann, das just an der Reihe war, so erbaulich ausgelegt, wie noch keinmal zuvor. Denn das Korn, das der Säemann ausstreute, hatte er für gewöhnlich Gottes Wort genannt, heute aber nannte er es Menschenkind. Und von zehn Körnern, die aus einer Mutterähre gefallen, wären sieben auf die sandige Düne und die dürre Geest geweht und von den Vögeln gepickt worden und nur zwei, die, als der Schnitter mit der Sense kam, bereits weitab zwischen Dornen und Steinbrocken Wurzel geschlagen hatten, wären schlecht und recht fortgekommen. Das zehnte Korn aber sei auf guten Marschenboden gefallen, sei darin angewachsen und werde, so Gott wolle, Frucht tragen für die verlorenen sieben mit. Denn die Ordnung der Natur sei es wohl, daß eine Kreatur die andere verdränge, um sich das eigene Leben zu fristen; die Ordnung des Geistes aber und unseres ewigen Heilands Gebot sei es, daß ein Menschenbruder für den anderen einstehe und einbringe, was der andere ledig gelassen habe. Und diese Ordnung im Gottesreiche nenne man die Liebe.

Um dieser erbaulichen Auslegung willen hatte die Steuermannsfrau den unbekannten Schwager im Binnenlande [375] als Paten ihres Erstgeborenen in das Kirchenbuch eintragen lassen und darauf bestanden, daß der Bube auf den Namen Dezimus getauft werde; sie rechnete aber stark auf die nachfolgenden Neune, von denen jeder einen so schönen Schreibebrief zustande bringen lernen sollte, daß sein Pastor eine Predigt darüber halten konnte, wie die von dem zehnten Korn. Und was die Steuermannsfrau sich einmal in den Kopf gesetzt, das setzte sie auch durch. Bis jetzt waren es der Buben drei. Der allerinständigste Wunsch, den der Buben Mutter seit der Zeit aber im Herzen hegte, war der, daß der schöne Briefsteller, Schwager und Gevatter sie einmal in ihrem Hause, das das allersauberste der Insel war, besuche, und darum hatte sie ihrem Steuermann keine Ruhe gelassen, bis er sich auf die Eisenbahn gesetzt, die Einladung anzubringen.

Dezimus schlug in die mächtige Bruderhand mit dem Versprechen, gestattete es Gott, nach zurückgelegter Prüfung seinen ersten weiteren Ausflug in das saubere Haus seiner Inselschwägerin zu nehmen, und gestattete es deren Herr Pastor, seine erste Predigt in der Kirche zu halten, wo der Erstling aus dem zweiten Geschlecht, das dem armen Hutmannshause entstammte, auf den Namen und in der Hoffnung des zehnten Kornes getauft worden war.

Weniger froh stimmend als das Inselidyll lautete der Bericht, welchen Bruder Klaus zu geben hatte über das zweite Korn, das just oberflächlich Wurzel geschlagen, als der Schnitter die Mutterähre mähete. Bruder Friede hatte sich von amerikanischen Agenten zur Auswanderung anwerben und das, was man Zufall nennt, ihn später mit seinem Ältesten in einem brasilianischen Hafen zusammenstoßen lassen. Aber Bruder Friede trug ein Lumpenkleid.

»Er hätte im Heimlande bleiben und auf den Unteroffizier [376] dienen sollen,« meinte der Steuermann. »Er war von jeher von einer Gemütsartigkeit, die man bei euch zulande demide oder feige nennt. ›Der blöde Friede‹ hat er schon auf Kantor Beifußens Schulbank geheißen. Unter den Soldaten aber heißt es parieren, was zu der Feigigkeit paßt; drüben in Amerika kontrarie heißt es sich rühren und riskieren, was zu der Demidigkeit ganz und gar nicht paßt. Von wegen des Parierens hätte er nun allenfalls auch zum Matrosen getaugt; aber da war nun wiederum der Umstand mit der Seekrankheit, die dem armen Kerl ganz heidenmäßig mitgespielt und vor der er einen Respekt ärger als vor dem gelben Fieber hatte.«

Einmal wird der blöde Friede es aber doch noch mit dem spaßigen Würgengel auf der Salzflut riskieren müssen. Bruder Klaus weiß ihn zu finden, wenn er nämlich noch am Leben ist, und wird ihn auf der Retour von seiner nächsten Spritzfahrt nolens volens in das Schlepptau nehmen, ihn in sein Inselhaus transportieren und während seines faulen Winters sich nach einem Schlenderposten für den armen Burschen umtun. Also hat Mutter Stina, in Erinnerung an das zehnte Korn, es dekretiert. Und mit Mutter Stina ist nicht zu spaßen; denn ein Ehemann, der durchschnittlich von zwölf Monaten elf das Schiffssteuer führt, hat natürlicherweise das häusliche Steuer auch im zwölften Monat seiner Ehefrau zu überlassen.

Im Haupte des Bruders Kandidaten war dieser Schlenderposten bereits entdeckt. Das Hutmannshaus, jetzt keine elende Herberge mehr, stand wieder einmal ohne Anwärter, da für eingeborene Ärmlinge in der Grabesstraße überflüssig gesorgt war und eine Gemeinde, die wie die Werbener auf sich hält, sich wohl hüten wird, auswärtige Ärmlinge an ihren Benefizien teilnehmen zu lassen. [377] Bruder Friede mag in dem Hause sich nach Belieben die Zeit vertreiben, bis über kurz oder lang – Schäfer Kunz hat seine Siebenzig auf dem Rücken – der Hutmannsposten erledigt wird. Wie aber wird die gute Mutter Hanne sich freuen, wenn sie eines Tages aus hohem Himmelsfenster herniederschauend den einen ihrer Zehne die Weideherde und den anderen die Seelenherde in ihrem Dorfe führen sieht!

Nichts hätte dem Steuermann willkommener sein können als der Wanderplan der beiden Jungen. Natürlich trabte er mit in das alte Nest. Bevor der Hahn gekräht hatte, waren sie seelenvergnügt auf dem Wege, und der Kandidat ließ sich auch die Laune nicht verderben, als wider die Abrede vor dem Tore sein guter Freund und Nebenbuhler aus dem dreiblätterigen Klee ein Vierblatt machte. Das geistliche Blut hatte sich zu guter Letzt in dem Doktoranden geregt und das Gewissen ihm geschlagen, die heilige Osterzeit durch die Vertiefung in eine Fettleber zu entweihen. Da überdies ein mäßiger Grad persönlicher Kurzatmigkeit und ein hoher Grad kaum stillbaren Durstes von jener am unrechten Orte abgelagerten rechtmäßigen Substanz hergeleitet werden durften, mußte es dem Doktoranden nicht nur gesundheitlich, sondern auch ärztlich von Wichtigkeit sein, wenn er den abmindernden Einfluß einer energischen Muskelbewegung auf sotane Substanz an seiner persönlichen Leber ausprobierte. Beide Motive leuchteten ein.

Munter ging es nunmehr die pappelgesäumte Straße entlang, welche vor vierzehn Jahren der Held des Glücks als Abenteurer auf dem Bocke und dann zu Füßen der weiland Harfenkönigin mit einem Viergespann dahingerollt war. Bruder Steuermann führte das Wort; der Doktorand wurde übertönt und versenkte sich in die stille [378] Erwägung, ob sein Weizen ihm nicht etwa als Schiffsarzt blühen könne, oder etwa die Pathologie des gelben Fiebers in dessen endemischer Zone zu studieren sei?

Philipp hatte sich an des Matrosen nervigen Arm gehenkelt, und seine Hartensteinschen frohen Augen hafteten leuchtend an dem wetterbraunen Mannsgesicht. Die Kinderstube auf dem Schlosse von Werben war eine von den wohl seltenen, in welcher Campes Robinson nicht gelesen worden; nun war dem Achtzehnjährigen zumute wie einem Achtjährigen, wenn ihm dieser unersetzliche Liebling der Kinderwelt zum ersten Male unter die Augen gerät. Alles war der jungen Landratte neu: Seeleben und Strandleben, Schiffe und Fische, Wogen und Winde, die gesamte weite, freie Gotteswelt, die jenseit seines grauen, buchgefüllten Kerkers lag. Seine Brust schwellte sich von wollüstigem Sehnen.

Aber auch Dezimus erntete sein Teil von Robinsonfreude, und auch seine Brust schwellte sich von wollüstigem Sehnen. Denn die unstete Woge zu seinen Füßen beherrschen, ist es ja nicht allein, was der Segler auf hohem Meere lernt; auch der Ozean zu seinen Häupten muß ihm ein Vertrauter werden; er muß das Steuer nach den ewigen Gestirnen lenken lernen. Und wie der Freund dieser ewigen Gestirne nun zum ersten Male aus eines Zeugen Munde den Eindruck schildern hörte, den der Weltumschiffer empfängt, wenn er in der Nacht, wo er die Zone überschritten hat, plötzlich eine andere Himmelswelt im Strahlenfeuer der Tropen leuchten sieht und er sich nun vorkommt wie auf einer anderen Erdenwelt, da überrieselten Schauer des Jünglings Leib, und tief aus dem Herzen lockte eine Stimme: Erst einen Blick auf das südliche Kreuz und dann Hütten bauen unter dem Richtstern des Nordens!

[379] Mit kräftigerem Baß war noch kein Osterlied in der Kirche von Werben gesungen worden als von dem Steuermann Klaus Frey; so voll Wunder und Stolz Haus bei Haus in der Gemeinde noch kein Heimatskind willkommen geheißen als der Weltumsegler Klaus Frey. Selber die bleichen Wangen in der klösterlichen Schloßkemnate überflog wieder einmal ein Anemonenhauch. Die Angelegenheit des blöden Friede erledigte sich sonder Bedenken, denn wo es ein Werk der Barmherzigkeit galt, waren Lydia und Konstantin Blümel jederzeit eines Sinnes. Als nach ein paar frohen Tagen Bruder Steuermann aus seinem alten Neste schied, erneuerte Bruder Kandidat das Versprechen, im Verlauf des faulen Winters in dem sauberen Inselhause einzukehren und den Bruder Amerikaner heim in das elterliche Hirtenhaus zu führen.

Nun erst kam die Reihe an Philipps freiheitliches Anliegen. Der arme Philipp! Er hatte das heitere Zusammenleben von der ersten Stunde bis zur letzten hoffnungssicher geteilt; nun traf ihn seiner Schwester Schiedsspruch wie ein Donnerschlag. Es war seit nahezu vier Jahren zum ersten Male, daß Dezimus für länger als eine Begrüßung unter Lydias Augen trat, um als Fürsprecher ihres Bruders diesem den ersehnten Eintritt in den Militärdienst zu erwirken. Lydias strenges Urteil über den Knaben und ihre Weigerung, seiner Lust zu willfahren, waren unüberwindlich.

»Auch zum Soldatwerden,« sagte sie, »gehört tüchtiges Lernen, das heißt lernen wollen; denn Sie selber geben zu, daß Philipp es vermag. Zunächst aber Gehorsam lernen. Mein Vater hat in seinem nächsten Zusammenhange erlebt, bis zu welchem Äußersten ein ungezügeltes Temperament vornehmlich in diesem Stande führt, und er hat an sich selbst [380] erlebt, wie erneuernd Gottes Wort und eine strenge Zucht auf ein Gemüt voll ungestümer Begierden wirken. Eines Vaters Weisheit hat für den Sohn gewählt, er muß unter straffem Zügel ausharren, bis er zur Selbstführung fähig geworden ist.«

Lydia geleitete ihren Bruder persönlich in das Haus zurück, das er seinen Kerker nannte. Da er die unumstößliche Weisung erhalten hatte, nicht früher als nach bestandenem Primanerexamen in die Heimat zurückzukehren, mußte auch während der großen, sommerlichen Erholungsvakanz in unzerstreuter Arbeit stillgesessen werden. Der Knabe, dessen Phantasie eben erst die Fühlhörner in ein Reich der Freiheit ausgestreckt hatte, folgte dem eisernen Willen starr und stumm, in verbissenem Grimm.

Dezimus verhehlte sich nicht, daß Lydia dem Wesen nach das Richtige gesagt hatte und es tat; aber die Weise, in der sie es sagte und tat, beklemmte ihm das Herz. Hätte der Vater an seinen Sohn die gleiche Heischung gestellt, würde selbst Konstantin Blümel sie gebilligt haben. Es rumorte ja ein gefährlich unstetes Blut in diesem Geschlecht. Das Beispiel Hilmars von Hartenstein und in anderer Richtung auch das seines Sohnes warnten laut. Nun aber, da es ein Weib war, ein junges Mädchen, das die Heischung stellte, eine Schwester, die sich Vaterrechtanmaßte, nahm die gemütliche Familie im Pfarrhause samt und sonders gegen sie Partei. Vater Blümel sah mit tiefem Seufzen das Bruderherz sich gegen das Schwesterherz empören und den allzu straff gespannten Bogen brechen; seine Hanna beklagte die arme Mutter, deren Tränen so für gar nichts geachtet wurden; Röschen schüttelte unwirsch die schwarzen Locken und schalt wie ein kleiner Rohrsperling auf die tyrannische Nonnenseele im Schloß. Sie würde in [381] Peter Kurzen, natur- und vernunftgemäß, einen Sekundanten gefunden haben, auch wenn er nicht zufällig ihr zärtlicher Anbeter gewesen wäre. Nun aber, da er es war, verdoppelte sich im Schwelgen von Rosendüften die Idiosynkrasie, welche der nervenstarke Mediziner mit der nervenschwachen Klaviermeisterin gegen das Arom der weißen Lilie teilte. Er nannte sie schlechtweg nur »die Belladonna« und dozierte mit naturwissenschaftlicher Unfehlbarkeit:

»Ein Gramm Blutshoffart, zwei Gramm Heiligenhoffart von der Mutterbrust an stündlich eine Prise voll eingeschnupft, und mit dem Kuckuck müßte es zugehen, wenn aus einem weiblichen Wickelkinde in mannbaren Jahren nicht ein Individuum reif für die Zwangsjacke werden sollte.«

Diese allseitige Schilderhebung hatte plötzlich des Kandidaten eigene feindselige Position verändert; er lief spornstreichs in das andere Lager hinüber und brach für sein weißes Fräulein die allerritterlichsten Lanzen. »Es gewährt die Liebe gar oft ein schädlich Gut, wenn sie den Willen des Fordernden mehr als sein Glück bedenkt,« zitierte er und fand in der Bewunderung von Lydias aufopferndem Streben wenigstens in dem Vater einen standfesten Verbündeten. Des Doktoranden giftige Analyse der hehren Lilie reizte ihn aber Wort um Wort zu weit gewaltigerem Zorn, als die Qualen der Eifersucht auf die liebliche Rose ihn fertiggebracht haben würden, und so muß es als ein Segen gepriesen werden, daß die Pathologie einer Fettleber wieder so mächtig in Peter Kurzen wurde, um ihn schon am zweiten Osterabend in seine Doktorandenklause zurückzutreiben. Wer weiß, ob die Jünglingsstufe eines Glücklichen sonst nicht mit einem blutigen Konflikt abgeschlossen hätte.

[382] Gottlob! der Störefried war fort! Und nunmehr allein im trauten Familienkreise, kam des Kandidaten eigenstes Anliegen an die Reihe der Aussprache. Er eröffnete dem Vater seinen freien und festen Entschluß und hoffte im stillen stark, daß der Vater ihm entgegnen würde: »Salve, mein Sohn! der Greis wird allgemach müde, spute dich!«

Der Greis lächelte aber nur und sagte: »Bene vixit, qui bene latuit! Indessen, mein Sohn, die Stunde der Entscheidung hat noch nicht einmal ausgehoben.«

Für den Kandidaten aber hatte sie vernehmlich ausgeschlagen und für sein liebes Röschen, so schien es, auch. Sie umgaukelte ihren Mus wie der allerzierlichste Schmetterling; hing sich im Garten an seinen Arm und flatterte vor ihm her, als er, den Platz zu einem Tempelbau für das Rohr der Zukunft auszuwählen, die Treppe zum Boden hinanstieg. Natürlich wollte Röschen es nicht dulden, daß um des dummen Rohres willen ihre lieben Täubchen aus dem Schlage vertrieben würden, und wenn ihr alter Dezem ihr handgreiflich demonstrierte, daß die lieben Täubchen über dem warmen Kuhstall ja weit behaglicher logieren würden, da erklärte sie ihrem alten Dezem, daß Kuhdunst sie übel mache und daß sie doch wahrhaftig um der langweiligen Sterne willen nicht auf den Besuch ihrer Lieblinge verzichten könne. Und so stritten sie sich hin und her über Taubenschlag und Observatorium, wohl auch über noch mehr dergleichen wichtige Objekte; lachten aber dabei, gingen Hand in Hand und blickten sich wie die allereinträchtigsten Menschenkinder in die Augen.

So schied denn Dezimus, wie er hoffte, zum letzten Male als Feriengast, aus dem Elternhause. Sein Gewissen war leicht, voll sein Herz, auch der Nerv, welcher bisher beunruhigend auf sein Hirn gedrückt hatte, in das Gleichgewicht [383] gesetzt, seitdem er sich seinem frühesten Zusammenhange wieder eingefügt sah. Frohgemuter als er ist schwerlich ein Kandidat seiner Amtsprüfung entgegengeschritten.


Wer aber überdächte den Lauf auch des glücklichsten Menschenlebens, ob es sein eigenes oder das eines Vertrauten sei, ohne daß in jedem Stufenjahr, ja auf jeder Jahresstufe einer, an welchem sein Blick mit Anteil gehangen oder der, wenn auch nur mittelbar, auf ihn eingewirkt hatte, seinem Gesichtsfelde entrückt worden wäre in das Schattenreich? Klagen und Fragen werden laut; wir fühlen eine Lücke; rasch aber weht die Zeit; Klagen und Fragen verstummen; binnen Wochen oder auch nur Tagen ist die Lücke ausgefüllt, junges Licht verdrängt die Schatten; bald ist es, als hätten wir das, was war, nur geträumt. Das stärkste Menschenherz hat nur für wenige Schmerzen die Kraft, sie treu bis in das Grab zu tragen.

Auch in des Hirtensohnes von Werben engumschriebenem Jugendkreise bewegte sich, wie wir sahen, Stufe um Stufe ein Leichenzug, als dessen Zeuge er klagen und fragen hatte hören, wohl auch bescheidentlich mitgeklagt und mitgefragt, bis, wie ein Windeswechsel, ein Hochzeits- oder Kindtaufszug ihn verdrängte. Und so sollte er auch seine Studienstufe nicht vollenden ohne solchen ebbenden und flutenden Strom.

Noch im Frühling traf ihn die Todeskunde von seines Freundes Martin junger Frau. Sie war im ersten Kindbett erlegen; Dezimus hatte sie nicht gekannt; ihre kleine Waise wußte er an Frau Ottiliens Herzen mütterlich geborgen; so dauerte ihn denn wohl der arme Witwer, er schrieb ihm auch einen herzlichen Beileidsbrief, und dann [384] war Lisbeth von Hartenstein zu den Schatten geweht – vielleicht nicht bloß für ihn.

Tiefer griff für viele und auch für Dezimus selbst, ebenso unerwartet, ein anderes Scheiden während der sommerlichen Zeit.

Sidoniens kürzlicher Johannisbrief hatte des Persönlichen wiederum wenig Neues gebracht. Sie sprach mit wachsender Anerkennung von ihrer Mutter und deren Gatten, obgleich sie den letzteren noch immer nicht Vater nannte. Ihre früheren Heimatspläne hatte sie niemals wieder erwähnt; sie mochten wohl mehr Scherz als eine Fühlung gewesen sein.

Eingänglich und mit geistvollem Humor behandelte sie dagegen das politische Gestritt, das, durch den langer Hand vorbereiteten Sonderbundskrieg in nächster Nähe gesteigert, ihr an Harmonien gewöhntes Ohr als krauses Charivari umschwirrte. Da gab es rings um die kleine Musikmeisterin, als der einzigen standfesten Borussin, religiöse Freigeister, staatlich konservativ, staatliche Radikale, schwärmend für eine neue Religion; Liberale aller Grade; begeisterte Polen, umstürzende Russen, italienische Verschwörer, Groß- und Klein-, Alt- und Neuteutonen, Republikaner, Sozialisten und Kommunisten im widerspruchsvollsten Miteinander und Gegeneinander. Aus der Ferne trug dann noch der französierte Bruder Poet eine Klangfarbe hinein, die zwischen Trikolore und blutigem Purpur schwankte, allemal aber ein wenig in das Hartensteinsche Wappengold schillerte.

»In meinem Mäxchen ist der Junker vom Werdetag wieder aufgewacht,« schrieb die Schwester.

Dezimus bewunderte an seiner jungen Freundin den hellen Sinn, der inmitten eines betäubenden Phrasenschwalls [385] redliche Torheit so haarscharf von gemachter Verwogenheit unterschied, ohne sich durch irgendwas oder irgendwen in der eigenen Meinung, der Billigkeit gegen alle und der Liebe gegen einen einzigen beirren zu lassen. Kritik und Neigung, die feindlichen Schwestern, gingen in ihrer Natur einträchtig Hand in Hand. Sie verstand den Menschen, hielt sich an sein Ursprüngliches und nicht an die verkehrten Äußerungen, durch welche er, in eine schiefe Stellung gedrängt, überschüssige Säfte ausgärte, leider aber auch oftmals seine wesentlichste Essenz verflüchtigte. Bei keinem Menschen aber mehr als bei ihrem Max. Über denselben sagte sie indessen auch heuer weiter nichts, als leider verständlich genug:

»Paris verdirbt ihn; das heißt die Pariserinnen, für welche ein schöner Mann ein Genie ist, auch wenn er es nicht wie in seiner Art mein Mäxchen wäre. Wer fragt beim Belvederischen Apoll nach seiner Leier? Bei aller Abgötterei, die der deutsche Lord Byron mit sich treiben läßt, glaube ich aber dennoch, daß er wahrhaft geliebt nur die einzige hat, für die er kein Genie gewesen ist, und daß er eben darum sie vielleicht heute noch liebt. Das Schwanenlied mit seinem Schmachten nach heilig kühlem Frieden ist das rührendste, was er gedichtet hat; und wahrscheinlich das einzige, das sich in den Herzen dauernd einbürgern wird. Ich habe beim ersten Lesen eine Melodie dazu gefunden, die in Paris entzücken soll; notabene, wenn der Dichter sie selbst vorträgt. Als Ehemann würde er freilich rauhe Seide mit seinem Schwan gesponnen haben. Nun, was eine Frau zur Verzweiflung brächte, eine Schwester hält es aus ohne Herzensbankrott.«

Sidoniens Brief versetzte, wie immer, Dezimus in eine prüfende Stimmung, heute aber vornehmlich nach einer [386] Seite hin, die er bisher so gut wie gar nicht in Betracht gezogen hatte. Seine Grundanlage war die der stillen Forschung und seine heimische Zone für politische Strömungen ein schwach lodernder Herd. Auch auf der Hochschule, welcher er angehörte, hatte das vorwaltend theologische Element Aktion wie Reaktion wesentlich vom staatlichen Gebiet in das geistliche gedrängt. Ein außerhalb stark bewegendes Zeitorgan mit radikalen Tendenzen hatte innerhalb nur schwachen Widerhall gefunden und war kaum vermißt worden, als es polizeilich des Landes verwiesen wurde.

Nun jedoch trafen die erregenden Schweizer Nachrichten zusammen mit denen von dem blutigen Aufstande in Polen, zusammen aber auch mit dem ersten größeren parlamentarischen Versuch in unserem Vaterlande, der von den einen hoffnungsvoll begrüßt, von den anderen vielfältig bemängelt, schließlich keinem einzigen zu genügen schien, und an jeden ernsthaften Mann trat die Frage heran, wie er sich inmitten der immer dichter zudrängenden staatlichen Probleme zu stellen, unter welchem Banner er die Aufgabe zu erfüllen habe, die auch dem Bescheidensten als Bürger und Patriot gestellt ist.

Dezimus legte sich diese Frage zum ersten Male vor, und eben darum konnte er zu einem zufriedenstellenden Abschluß, wie er ihn zwischen den theologischen Parteien gefunden zu haben glaubte, nicht gelangen. Es fehlte ihm der ausschlaggebende Drang des Moments: der Affekt. Vielleicht hat es unter den Hunderten seiner jungen Kommilitonen keinen zweiten gegeben, dessen Natur, die innerliche und die äußerliche, so durchaus eine deutsche war wie die des Hirtensohnes von Werben. In deutscher Weise glauben, denken, wollen, handeln war ihm so eingeboren[387] und unveräußerlich wie Atemholen oder der Mutterlaut; in der fremdartigsten Umgebung würde ein fremdartiger Überguß an ihm abgeglitten sein. Auch schwärmen in deutscher Jugendweise eignete ihm wohl, das heißt schwärmen nicht bloß für ein individuelles, sondern auch für ein zuständliches Ideal; aber das schwarzrotgoldene Banner, für welches die Jünglinge der ihm vorangehenden Generation geschwärmt und gelitten hatten, war für ihn kein solches Ideal. Der Faden, der in ein deutsches Reich der Vergangenheit zurückleitete, war in der Pfarre von Werben schwarzweiß übersponnen worden, und ihn grauste vor den blutigen Strömen, unter welchen allein er in ein deutsches Reich der Zukunft hinübergeleitet werden konnte; die parlamentarischen Forderungen aber, welche jene nämlichen Jünglinge jetzt als Männer stellten, schlugen chaotisch unverständlich an sein junges Ohr. In Summa: der Kulturgipfel seiner Rasse, ja vielleicht aller Rassen, ragte für ihn in einem anderen Kreise als dem staatlichen; in einem engeren für den einzelnen, in einem weiteren für die Gesamtheit. Hätte er wie Max von Hartenstein, als geborener Aristokrat und Millionär in spe, inmitten einer Metropole zeitentzündender Ideen gestanden, wohl möglich, daß die der Gleichheit und Brüderlichkeit einen lebhaften Anklang in seinem Herzen gefunden hätte. Als Sohn der misera plebs auf einem Dorfe durch die Wohltaten höhergestellter, edler Menschen herangebildet, wendete sein Gemüt sich ab von dem demokratischen Schibboleth als einer Undankbarkeit und Überhebung. Wohl dünkte die Zeit ihm herrlich, und er hoffte auf ihre Erfüllung, wo kein verzweifelnder Vater sein Kind statt eines Huhnes oder Lammes als Frönerzins in das Haus barmherziger Menschen zu tragen brauchte; wo kein Richter, wie Ehren-Hecht, [388] die Übertretungen von hoch und gering, von arm und reich mit ungleichem Maße büßen ließe; wo der Glaube eines Joachim von Hartenstein und der Zweifel eines Thomas Zacharias sonder Acht und Bann laut werden durften; für solchen würdigeren Zustand aber mitzuwirken, anders als im persönlichen Dienst seines bescheidenen Heimatskreises, trug er kein herzschwellendes Verlangen. Der Zögling Konstantin Blümels, des freiwilligen Jägers von 1813, hatte gelernt, daß es süß sei, kämpfend für das Vaterland zu sterben; daß es auch süß sei, kämpfend für einen konstitutionellen Staat zu leben, – ei nun, Held Dezimus ist ja jung, vielleicht lernt er es noch.

Der Inhalt von Sidoniens Brief klang noch in ihm nach, als Dezimus aus dem Pfarrhause die Kunde erhielt, daß die lebensvolle Frau, deren noch eben mit würdigender Anerkennung gedacht worden war, nicht mehr unter den Lebenden weile. Kerngesund hatte Brigitte Zacharias sich in die ihr so vertraute Seeflut gestürzt; als Leiche war sie an das Ufer gespült worden; der Glücklichen eine, die mit Bewußtsein in ihrem Elemente leben und unbewußt auch in ihrem Elemente sterben.

Und da wurde denn wieder einmal viel bängliches Fragen und Klagen vernommen; denn ein bedeutender Platz war unausfüllbar ledig geworden. Man fühlte die Vereinsamung des Gatten, der mit dieser Frau in der seltensten Einigung verbunden gewesen war; man fühlte die Schutzlosigkeit der verwaisten Tochter; vor allem aber fühlte man die Qual des Greises, der das letzte, ja das einzige menschliche Wesen, das er geliebt hatte, vor sich hinscheiden sah, ohne es so glücklich gemacht zu haben, wie es in seiner Macht gestanden.

Er hatte sich, nachdem die Schreckenskunde ihm von seiner [389] Wirtschafterin vorbuchstabiert worden war, in seiner Kammer eingeriegelt und ließ keinen, der ihm Trost zuzusprechen kam, vor sich, weder den alten treuen Blümel noch die neuen Prediger seiner beiden anderen Güter noch selbst den Emeritus Beyfuß, den einzigen, welchem er, als einem Zeitgenossen, sich dann und wann vertraulich näherte, und auch der einzige, gegen welchen er späterhin einmal seines Verlustes erwähnte. »Was hilft mir nun meine Gruft, wenn meine Brigitte nicht drinnen schläft?« hatte er gesagt. Ihm graute seit der Zeit vor dem Sterben, nach welchem er in den Tagen seines Grimmes sich manchmal gesehnt hatte. Vielleicht schwante ihm, daß seine Brigitte sich in jener Welt vor dem allerhöchsten Throne wiederum eine Stufe höher stellen werde als er und daß er sich in Ewigkeit ohne dankbare Tochter behelfen müsse; und in dieser Welt hatte er doch wenigstens seine dankbare Scholle.

Auch schritt er schon am dritten Tage die Raine seiner Äcker kreuz und quer wie vor der Hiobspost. Er schritt rüstig, wenn auch am Stock, und vor den Augen einen grünen Schirm. Es war ihm nur ein schwacher Lichtschimmer geblieben. Wehe aber dem, der sein Gebrechen ihm anzumerken schien und daraufhin wohl gar sich eine Ruhepause vergönnt hätte! Er kannte blindlings jeden Platz, der einem Arbeiter angewiesen war, und wähnte, für einen Sehenden gehalten zu werden, wenn er seine Stimme so laut erhob, daß seine Befehle weit in die Aue hinein gehört wurden.

»Der Bär brummt!« hieß es dann in der Gegend, und die Fröner lachten sich in die Faust, weil der alte Spürhund das faule Wesen doch nicht schnüffeln konnte. Er wußte auch recht gut, daß er auf Schritt und Tritt betrogen werde; er witterte einen Dieb hinter jedem Zaun und legte [390] aus Furcht vor Einbrechern sich nicht zu Bett. Das Reichwerden hatte dem Mann keine schlaflosen Nächte gekostet, aber das Reichsein kostete dem Greise die Ruhe Tag und Nacht. Er verfiel sichtlich.

Mutter Blümel fügte daher ihrem Trauerbriefe an Sidonie die unumwundene Mahnung bei, ihren natürlichen Platz in der Nähe des Großvaters sobald als möglich einzunehmen. Nicht nur aus Kindespflicht gegen den blinden Greis, sondern auch zur Wacht über ihr künftiges Erbe. Dringender denn je wurde die Einladung in das Pfarrhaus wiederholt und Tag für Tag auf einen zusagenden Bescheid gehofft. Tag für Tag jedoch vergebens.

Auch Dezimus schickte sich an, Sidonien ein teilnehmendes Wort, ihrem tapferen Sinne gemäß, zu sagen; unwillkürlich jedoch tönte es aus in einen weicheren Klang, als er sich vorgesetzt hatte; denn während des Schreibens überkam ihn zum ersten Male die Vorstellung, daß – und wie bald vielleicht! – er selbst einen gleichen Schmerz zu tragen haben werde, ja dem Gesetze der Natur nach ihn unvermeidlich tragen müsse, da seine Mutter ein Geschlecht vor der geschiedenen vorauszählte. Gottlob! daß ein junger Mensch solche Vorgesichte des Natürlichen nicht lange auszuhalten vermag! Aber mit einem Gefühl der Beschämung ermaß Dezimus den Unterschied des Glücks im Empfangen und Empfinden der Mutterliebe zwischen sich, der Waise, und dem leiblichen Kind; und dieses Ermessen hauchte über seine Worte eine Tränenspur. Auch wollte ihm tagelang nicht gelingen, eine ahnungsvolle Wehmut zu bannen. Endlich aber griff er mit wackerem Entschluß nach seiner Examenpräparation und der Korrektur der ersten Druckbogen seines Leitfadens, und über Präparieren und Korrigieren [391] verwehte das bängliche Ahnen mit Mutter Brigitten zu den Schatten.

Ein nachhaltigerer, weil allzu lebendiger Störenfried blieb der arme Philipp, wennschon der Kandidat ihn nur noch selten zu Gesicht bekam. Die Übungsstunden hatten aufgehört, auch darum, weil der Knabe im mathematischen Gebiet weniger einer Nachhülfe bedurfte als in dem der verhaßten alten Sprachen und diese letztere jetzt von dem Professor selbst in verdoppeltem Maße geleistet wurde. Während der großen Ferien jedoch war den beiden Heimatsgenossen dann und wann ein gemeinschaftlicher Spaziergang – selbstverständlich ohne Schenkenziel – gestattet worden; eine Vergünstigung, die Lydias Fürwort zu danken sein mochte und die der ältere ihr auch aufrichtig dankte, wenngleich er mit dem jüngeren mehr denn jemals seine liebe Not hatte.

Nach Hause sehnte sich derselbe zwar keineswegs; denn die Mama saß fern in des verwitweten Martin Kinderstube, und die ausschließliche Gesellschaft seiner hartherzigen Schwester mutete ihn noch graulicher an als die des Horaz und des Professor Hildebrand. Überhaupt genügte ihm die stille Heimstätte von Werben jetzt nicht mehr; ja, es gab kaum einen erreichbaren Platz, der seinem Knabentrotz genügt haben würde. Es war kein Zweifel, daß er auch bei der nächsten Versetzung nicht nach Prima aufrücken werde, und er wollte auch gar nicht hinaufrücken; er wollte nichts, was er sollte; was er aber an Stelle des Gesollten wollte, das wußte er wohl selber nicht, und Dezimus wußte es noch viel weniger. Denn wenn der Junge nach Tollkopfsart sagte: »Noch einen Winter in dem Loche halte ich nicht aus! Lassen sie mich nicht gutwillig los, dann weiß ich, was ich tue!« da dachte Dezimus: »Ja, was kann er denn tun? [392] Desperate Burschen laufen heutzutage nicht wie zu Vater Klausens Zeiten unter die Soldaten, sondern allenfalls von den Soldaten fort.« Der arme Philipp war des Kandidaten einziges Kümmernis in diesen frohgeschäftigen Sommertagen.


Das Hauptexamen war glücklich bestanden, die wichtigste Stufe zum Altar der Heimatskirche erklommen. Auch der Leitfaden lag zur Überraschung für Vater Blümel bereit, zierlich gebunden, mit kleinen Himmelskärtchen durch schossen und, was die Hauptsache war, gekrönt mit einem Vorwort von des greisen Sternenmeisters eigener Hand. Dieser teuere Gönner hatte von Haus aus, als Einführung in die Gelehrtenzunft, zu einem Versuch aus des Günstlings eigener Gedankenwelt geraten; der Günstling aber sich mit dieser Zusammenstellung für Schülerkreise begnügt. Einmal aus geziemender Bescheidenheit; zumeist jedoch aus dem Verlangen, seinen Vater auf leichtfaßliche Weise in eine Bahn zu locken, welcher der dereinstige Verweser der väterlichen nebenbei keineswegs zu entsagen gedachte. Eine zunftgemäße Abhandlung über die Meteorenschwärme, so luminöse Hypothesen er darin aufstellen mochte, würde Konstantin Blümel, den Greis, noch weniger als in jungen Jahren angemutet haben, während das vorliegende Zeugnis einer der Schule nutzbringenden Tätigkeit recht eigentlich nach seinem Sinne war.

Dezimus nahm nach der Rückkehr aus der Provinzialhauptstadt, vor deren Konsistorium das Examen geleistet worden war, sich nicht die Zeit, sich Lehrern und Freunden zu empfehlen. Binnen kurzem mußte er ja doch wiederkommen, um, je nach des Vaters Entscheidung, Abschied zu nehmen für immer oder seine Lehrertätigkeit zu erweitern. [393] Der Tag sollte aber nicht zur Rüste gehen, ohne daß die frohe Botschaft den teuersten Menschen von Angesicht zu Angesicht verkündet wurde, und darum gedachte der Kandidat, nunmehr ja ein gemachter Mann, sich zum ersten Male den Luxus einer Heimfahrt per Eisenbahn zu gestatten.

Auch das Lebewohl von Philipp wollte er sich und dem armen Jungen sparen. Der morgende Tag brachte ihm wiederum ein kaum vermeidliches Scheitern; es sollte nicht geschärft werden durch den Eindruck des eigenen Gelingens, durch den Sprung in die Heimat die eigene Gefangenschaft nicht noch empfindlicher gemacht. Als er jedoch aus dem Hause trat, um nach dem Bahnhofe zu gehen, kam Philipp ihm entgegen. Er hatte des Freundes Rückkehr erfahren und ihm Glück wünschen wollen. Nun gab er ihm das Geleit.

Er war wortkarg, ja verbissen, wie sonst immer nur in Gegenwart seines »Kerkermeisters«; er hielt die Lider gesenkt, schlug er sie aber einmal in die Höhe, dann glimmte ein seltsam unheimliches Feuer in den schönen, blauen Hartensteinschen Augen. Auch fand der Freund ihn blaß und abgemagert; er mochte harte Strafreden hören, harte Klausur haben aushalten müssen. Dezimus fragte nicht danach. Zu helfen war hier nicht, und das Mitleid eines Glücklichen ist ein so schwacher Trost.

Im Vorübergehen trat er bei einem Uhrmacher ein, dem er am Morgen sein stolzes Erbkleinodium zu einer leichten Reparatur übergeben hatte, und es ist der Biograph verdienten Tadels gewärtig, weil er dieses einzigen Wertstückes seines Helden erst bei so später Gelegenheit Erwähnung tut. Denn der Werbensche »Erbsackseiger« war ein vielbemerkter Gegenstand unter der Studentenschaft gewesen, hier der Bewunderung, dort des Witzes; am häufigsten wohl des[394] Neides, da, wenn auch nicht ein Stutzer, so doch jeglicher Altertümler ein erkleckliches Sümmchen dafür geboten haben würde.

Umschlossen von einem standfesten Goldgehäuse, näherte das Kunstwerk sich der Kugelform und bildete demnach in des Trägers Westentasche eine Aufbauchung, welche einem Uneingeweihten das Leidwesen von Peter Kurzens Doktorandenvorwurf befürchten lassen durfte; dem Eingeweihten erhöhte selbstverständlich das Gehäuse des Pretiosums Wert; wurde nun aber gar auf der Rückseite ein freiherrliches Wappen augenfällig, mit einer Krone darüber, in deren Perlen sieben kleine Diamanten eingelassen waren, so konnte der Hirtensohn, wenn er sich etwa späterhin auf Reisen begeben sollte, sich dreist für einen Baron ausgeben, ja für einen Krösus gehalten werden, falls er auch noch die kurze Kette mit dem faustdicken Berlockenbündel daranhängte, die er, ein Feind alles Übermuts, bis jetzt in seiner Schieblade verborgen hielt. Auch schätzte Dezimus sein nutzbringendes Pretiosum hoch, vergaß beim Aufziehen – jeden Morgen seine erste Tat – niemals, der großmütigen Testatorin in Dankbarkeit zu gedenken; und wenn er, ausnahmsweise, in der Nacht einmal aufwachte, ließ er die Uhr repetieren, lediglich aus dem Grunde, um sich durch den kräftigen Schlag, dessen kein heutiges Werk sich rühmen dürfte, an die energischen Akzente der alten Harfenkönigin erinnern zu lassen. Die Kluge hatte den rechten Mann für ihr Erbstück gewählt.

Die unbedeutende Herstellung war von dem Meister versäumt worden; binnen einer Stunde hätte sie erfolgt sein können; aber der Kandidat durfte keine Minute zögern, wenn er den letzten Zug noch erreichen wollte. Er mußte sich bis zur Rückkehr von seinem Regulator trennen; für [395] einen an Pünktlichkeit gewöhnten Sternenschüler und Musterjüngling ein verdrießliches Ding. Aber halt! hatte – leider Gottes! – Doktor Peter Kurze ihm nicht erklärt, daß er nicht ermangeln werde, sich morgen zum Ministeriumsschmause in der Pfarre einzustellen?

»Holen Sie, lieber Philipp, bitte, die Uhr vor Abend ab, und tragen Sie sie zu Doktor Kurzen, der sie mir morgen nach Werben mitbringen wird,« sagte der Kandidat und erhielt ein williges Versprechen.

Hastig ging es nun vorwärts; denn zufällig war auch Philipp heute ohne Uhr, und ein eiliger Mensch ist ohne Uhr doppelt eilig. Während Dezimus sein Billett löste, bemerkte er, daß sein junger Freund an den Beamten eines anderen Schalters eine Erkundigung richtete, deren Bescheid ihn auffällig verstörte. Was hatte der Junge vor? Dezimus durfte sich mit Fragen nicht aufhalten, da die Glocke zur Abfahrt läutete. Im Begriff in das Coupée zu steigen, fragte ihn Philipp mit niedergeschlagenen Augen:

»Hätten Sie wohl zehn Taler übrig, um sie mir vorzuschießen?« Und als er nicht augenblicklich eine Antwort erhielt, setzte er dunkelerrötend und stammelnd hinzu: »Ich – ich bin – ich habe – eine Schuld – –«

»Ich habe so viel nicht bei mir,« versetzte Dezimus; »aber in ein paar Tagen bin ich zurück, und dann wollen wir die Sache in Ordnung bringen.«

Der Schaffner drängte zum Einsteigen. Philipp warf sich mit Ungestüm in des Freundes Arme.

»Behalten Sie mich lieb, guter Dezimus,« schluchzte er und wendete sich dann rasch ab, seine hervorstürzenden Tränen zu bergen. Er lief den Perron entlang, als werde er gejagt.

Dezimus war tief betreten. Wäre der Zug nicht bereits [396] im Rollen gewesen, er würde dem Knaben nachgeeilt sein, ihn ausgeforscht, ermutigt haben; er wäre morgen dann mit viel leichterem Herzen heimgereist. Ohne Zweifel trug der Arme sich mit dem Plan, nach verfehltem Examen zu seiner Mutter und Martin zu flüchten. Und auch Schulden hatte der Unglücksmensch! Freilich kein Wunder, denn der Vormund hielt ihn knapp, und er war nicht knapp gewöhnt; auch mochte die Mutter heuer nicht, wie sonst in der Ferienzeit, sein Beutelchen heimlich gefüllt haben. Dezimus nahm sich vor, des Knaben Lage noch einmal recht ernstlich mit Vater Blümel und sogar mit Fräulein Lydia zu besprechen. Seine vorgeschrittene geistliche Würde machte ihn schier verwegen.

Das ist wohl etwas Großes, wenn ein Kandidat, reif zum Amt und obendrein als gedruckter und honorierter Schriftsteller, zum ersten Male einkehrt in ein pfarrliches Elternhaus, in welchem ihm eine sorgenlose Zukunft und köstlicher Segen gesichert ist. Da gibt es Lachen und Weinen und Beten und Singen und Händedrücken und zärtliches Umfangen; da gibt es eine schlummerlose Nacht unter Luftschlösserbauen und buntem Erinnern. Aber die glücklichste von allen ist doch die Mutter! Wie gestern erlebt steht vor Hanna Blümels Seele die Stunde, wo sie das arme nackte Dezemkind von ihres Konstantin Schoße nahm und es in ihres Töchterchens Wiege legte mit dem Gelöbnis, ihm eine Mutter zu werden. Dazumal glänzte ihr Haar noch wie eitel Gold; heute ist es ein Silberscheitel, und blühen die Wangen auch noch rosenrot, glatt und gleich sind sie nicht mehr, sondern in hundert krause Greisenfältchen zusammengezogen. Aber ihr Ziel ist ja auch erreicht und so froh erreicht. Wie oft begegnet ihr denn einer Mutter, die im siebenten Jahrzehent, von acht Kindern nicht um ein einziges[397] Herzeleid oder gar ein Trauerkleid getragen hätte? Die sechs Töchter glücklich in das Leben gestellt hat und nun die siebente am allerglücklichsten gestellt weiß, Herz an Herz mit dem einzigen Sohn! So inbrünstigen Dankes voll wie in dieser Nacht hat Hanna Blümel wohl noch nie an ihren Gott gedacht.

Und die Herzenslust währte noch den ganzen anderen Tag; und wie wurde sie laut in Sang und Schwank, als gegen Mittag Peter Kurze zum Ministeriumsschmause einsprang! Ein redlicher Freund war er, Peter Kurze, das müßte der Feind ihm lassen, wenn er einen hätte. Sonder Falsch noch Neid! Beim eigenen Doktorschmause war er nicht fideler gewesen. Freund Kandidat konnte vor lauter Jokus es nicht ein einziges Mal zu einer eifersüchtigen Wallung bringen.

Wo hatte Peter Kurze denn aber die Uhr? Den Erbsackseiger? – Peter Kurze wußte von ihm nichts.

Ach, nur zu natürlich, daß Philipp in seiner Not das Abholen vergessen hatte. Der arme Junge! Zwischen Mitleid und lustiger Torheit fehlte dem Kandidaten das gewohnte Picken auf seiner Leberseite aber doch. Ein Mittelmaß von Gewöhnsamkeit – geniale Leute schimpfen sie Pedanterie – gehört, so scheint es, zu der Substanz eines Glücklichen.

Just um dieser Substanz willen mußte nun aber nach dem Jubeltag der Werkeltag der Pflicht wieder in seine Rechte treten. Und da war es denn zunächst Peter Kurze, der ein ernsthaftes Dilemma zu allseitigem Gehör brachte.

Peter Kurze nannte sich Herr Doktor, laborierte aber, wie die Mehrzahl junger Anfänger seines Zeichens, kläglich am Patientenfieber, und gering war zurzeit die Aussicht auf ein stillendes Labsal in seiner heimatlichen Provinz, der er den Segen seiner Kunst doch vorzugsweise gegönnt haben [398] würde. In einer anderen Provinz dahingegen hatten Mißwachs, Hunger und Not eine böse Seuche gezeugt, von welcher die Zeitblätter ein grauenvolles Gesamtbild entwarfen. Noch grauenvollere Einzelnschilderungen waren in die Pfarre gedrungen durch Lydia, die ein Kind dieser Gegend war und mit ihr noch in manchem Zusammenhange stand. Von verschiedenen Universitäten, und auch von der unseren, waren junge Mediziner zu freiwilligem Helferdienst aufgerufen worden. Sollte Peter Kurze nun diesem Rufe folgen?

Sein väterlicher Freund Blümel sagte mit Entschiedenheit: »Ja«, und sein brüderlicher Freund Dezimus wenigstens nicht mit Entschiedenheit: »Nein«. Das liebe Röschen sagte gar nichts, denn das liebe Röschen war gleich bei dem Worte »Typhus« aus der Ratsstube gelaufen. Mutter Blümel aber sagte achselzuckend: »Ja, mein Junge, wenn du nur ein Tischchendeckedich in deinen Arzneikasten packen könntest!«

Und da saß eben der Haken! Peter Kurze war Arzt mit Leib und Seele, und Arzt sein heißt das Gegenteil von einem Hasenfuß. Er dachte nicht an Ansteckungsgefahr, und er schmachtete nach einem ernsthaften Duell mit dem Würgeengel Tod. Aber wo blieb die Ehre der Wissenschaft? wo der Erfolg? und wo der Lohn, dessen ein braver Arbeiter doch allemal wert ist, insofern er mit dem Pflasterkasten nicht zugleich einen Brotschrank aufzuschließen hatte? »Erst wenn die Hungerleider satt gemacht sind, kann der Vielfraß ausgehungert werden,« sagte er und zog schließlich ab mit der Entscheidung, die Sache erst noch ein paar Wochen mit anzusehen, ehe er in den saueren Apfel beiße. Privatim versprach er Freund Dezimus noch, den armen Philipp ins Gebet zu nehmen und umgehend über den [399] Ausfall des Examens Bericht zu erstatten; sich auch gelegentlich nach der Uhr umzutun.

Nun aber saßen im geistlichen Gemach Vater und Sohn allein sich gegenüber zum Ratschluß über die beiden Wege, die vor dem letzteren geöffnet lagen. Auf jeden von ihnen zog ein Magnet, und jeder von ihnen bedingte einen schweren Verzicht. Entweder Altersruhe für den Vater und Rosenwonne für den Sohn; dann aber blieb die Chaldäerforschung ein Fragment. Oder die Chaldäerforschung fortgesetzt bis zu einem zünftigen Grad und statt der Rosenwonne Hangen und Bangen. Und wie entschied der väterliche Berater?

»Ich fühle mich noch nicht fertig, und du bist es noch nicht, mein Sohn. Lehre und lerne weiter wie bisher. Wenn es not tut, werde ich dich rufen.«

Was aber war das Hauptmoment bei dem Entscheid, das Moment, aus welchem der Greis auch keineswegs ein Hehl machte? Nun eben die ersehnte Rosenwonne.

»Keine Jünglingständelei, mein Sohn, aber auch keine Jünglingsehe. Mannesreife – –«

Bei diesem Worte stockte er; denn die Tür wurde hastig aufgerissen, und wie in des Sohnes erster Lebensstunde stürzte ein verzweifelter Mensch in das geistliche Gemach. Lydia, die stille, unbewegliche Lydia! Bleich wie ein Geist, schauernd und bebend über den ganzen schönen Leib, sank sie in den Stuhl, von welchem Dezimus entsetzt in die Höhe gefahren war, und reichte ihm, keines Wortes mächtig, ein Blatt, das sie zusammengeknittert zwischen ihren fliegenden Händen hielt. Ein Brief, an Dezimus adressiert, aber erbrochen. Philipps knabenhafte Züge.

»Ich fliehe, Dezimus. Wohin? sage ich Ihnen nicht, weil Sie es nicht verschweigen würden, wenn Lydia Sie fragt. Ich will mich nicht langsam zu Tode quälen lassen. [400] Ich will leben oder meinetwegen auch sterben; aber ordentlich sterben; wie ein Hartenstein, nicht wie ein Sklave. Ich schreibe in Ihrer Stube. Wenn Sie den Brief finden, bin ich lange dort, wohin ich will. Dezimus, guter Dezimus, ich habe Sie beraubt. Ich hätte es keinem anderen getan; aber ich weiß: Sie schimpfen mich keinen Dieb. Ich konnte nicht anders. Den ganzen Sommer habe ich gespart, bei Mama und den Schwestern gebettelt, nur bei Lydia nicht, weil die mir doch nichts gegeben hätte. Aber ich weiß gar nicht, es wurde immer wieder alle, und ich mußte immer wieder von vorn anfangen. Nun habe ich alle meine Sachen und Bücher heimlich verkauft, aber es reichte doch noch nicht. Und Sie kommen nicht drum, lieber Dezimus. Lydia gibt es Ihnen wieder; der Schande wegen. Aus Liebe für mich hätte sie es nicht getan. Und wenn wir uns einmal wiedersehen, lohne ich es Ihnen tausendfach; denn dann kann ich es. Lange wirds freilich dauern. Und vielleicht sehen wir uns auch gar nicht wieder. Aber dann glauben Sie mir, Dezimus, daß ich in meiner letzten Stunde an Sie gedacht habe als an den, der außer meiner Mama es auf der Welt ganz allein mit mir gut gemeint hat. Ach, meine liebe, liebe Mama! Aber sie hat ja nun die kleine Tili, und sie wußte ja, wie schrecklich unglücklich ich gewesen bin. Sobald ich angekommen, schreibe ich ihr und Ihnen auch.

Philipp.


P. S. Die Uhr hat Aaron Kalb. Sie ist nur versetzt; für zehn Taler kriegen Sie sie wieder. Meine eigene habe ich verkauft um ein Lumpengeld, weil sie nur von Silber war. Und ich könnte sie auf der Reise so gut brauchen. Ach! Wäre ich nur erst fort!«

Was war für eine Lydia der Bruch mit dem Geliebten, was selbst der Tod des Vaters gegen dieses Erleben! Angeklagt [401] der härtesten Lieblosigkeit, gehaßt von dem Bruder den Gott als Kind an ihr Herz gelegt hatte; verzweifelnd in einen Abgrund, vielleicht in den Tod durch sie getrieben dieses Kind, das einzig auf ihren Schutz gestellt gewesen war!

»Mörderin!« stand es geschrieben in ihren wahnsinnstarren Augen.

»Wo – wo soll ich ihn suchen?« rang es sich aus ihrer Brust.

»Nicht Sie; überlassen Sie es mir,« sagte Dezimus, selbst erschüttert bis auf den Grund; und sie darauf wie belebt:

»Ja, ja, gehen Sie mit mir. Ich bin so fremd in der Welt.«

Pastor Blümel aber und auch der Vormund, welcher während der letzten Worte eingetreten war – das erstemal, daß er diese geistliche Schwelle überschritt –, widersprachen ihrem Vorhaben. Sie sei körperlich zu angegriffen, um einem rastlos Eilenden zu folgen; die Rücksicht auf eine Frau könne ihn nur aufhalten und hindern.

Sie senkte das Haupt bis auf die Brust. »Den, welchen er geliebt hat, läßt Gott ihn vielleicht finden – mich nicht!« Laut gesprochen hat sie diese Worte wohl kaum; aber Dezimus las sie in ihrer gemarterten Seele.

Er vernahm nur Bruchstücke der Erläuterungen, welche der Vormund nunmehr über das Entweichen seines Pfleglings gab. Hier war so wenig zu sagen wie zu hören, nur Eile tat not, fliegende Eile! Der alte Herr hatte die Schilderung seiner Ängste, seines Harrens, Forschens und Suchens, der vergeblichen Anfragen nach allen Seiten, auch seiner Fehlgriffe und falschen Schritte, die laut machten, was geheimgehalten werden mußte, bis zur endlichen Erspürung [402] des Briefes und dem Aufbruch nach Werben noch nicht vollendet, als Dezimus reisegerüstet in das Zimmer zurückkehrte. Nicht einmal den Abschied von seinem irgendwo umherschweifenden Röschen hatte er sich gegönnt; der nächste Zug durfte nicht verfehlt werden. Die günstige Fügung, daß die Mutter die Sparsumme des königlichen Patengeschenkes, deren er zum Zweck etlicher Anschaffungen bedürftig geworden war, kürzlich erhoben hatte, befreite ihn auch hinsichtlich des wesentlichsten Reisebedürfnisses von zeitraubenden Weitläufigkeiten.

»Was darf ich Ihrem Bruder von Ihnen sagen, wenn es mir gelingen sollte, ihn aufzufinden?« fragte er, indem er zum Abschied Lydia die Hand reichte.

»Was das Herz Sie heißt!« hauchte Lydia und bedeckte in Angst und Qual dann wieder das Gesicht mit ihren bebenden Händen. Ihr Bruder, ihr Kind: ein Landstreicher, ein Dieb! seine Spur erforscht von einem Fremden, den er geliebt hatte und sie – sie gehaßt!

Um die Mittagsstunde erreichte Dezimus die Universitätsstadt. Er hatte während der Fahrt mit so kaltem Blute, als er das seine abzudämpfen imstande war, den spürenden Blick auf das Ziel gerichtet, das dem Flüchtigen vorgeschwebt haben konnte, und was ist solch ein anstrengendes Erstreben anderes als ein Gebet um Erleuchtung von oben? Bei seiner Mutter oder einem der Geschwister war der Knabe nicht, und den heimischen Militärdienst – so viel mußte ihm klar sein – verscherzte er durch sein heimliches Entweichen. Was kannte er aber, und was gab es außer diesem Dienst Lockendes für ihn in der Welt? Der Weg nach Rußland, wohin sein Vetter Hilmar geflüchtet, war langwierig und schwierig, die Grenze unentdeckt kaum zu erreichen; ohne Empfehlung, ja ohne Legitimation die bescheidenste [403] Stellung nicht zu erwarten. Amerika? Aber da galt es zu arbeiten mit Axt und Pflug, die Freiheit, die dort zu finden, war nicht die, welche ein junger Brausekopf suchte. Die Fremdenlegion in Algier? Nein doch, nein! Der Franzosenhaß lag allen Hartenstein seit Generationen im Blute, und Freund Philipp gebärdete sich gern wie ein kleiner Marschall Vorwärts. Aber halt doch, halt! Ein Werbeplatz für die holländischen Kolonien!

Das war so eine von den luminösen Hypothesen wie die beim jüngsten Meteorenschwarm, und: »jegliche Entdeckung ist einmal Hypothese gewesen,« hatte sein weiser Sternenvater gesagt.

Wie Schuppen fiel es dem Freunde plötzlich von den Augen. Er sah des Knaben glühende Blicke bei Bruder Steuermanns Wundermären von der Pracht des indischen Himmels, der Üppigkeit der Natur, dem wollüstigen Schlürfen der eingewanderten Nabobs. Möglich, daß auch noch aus weniger redlichem Munde ihm ein Brillantfeuer vorgespiegelt worden war oder daß er irgendwo gelesen hatte von den zahlreichen deutschen Landsleuten unter den geworbenen Truppen, von ihrem glänzenden Sold, dem raschen Aufsteigen, den reichen Pensionen, den Schätzen, die um den Preis des Lebens im Kampfe mit wilden Bestien und Völkerstämmen aufzuraffen sein sollten. Die Jugend nimmt manches Katzengold für echt, und was fragt ein freiheitsdurstiges Herz nach dem Freiheitspreis? Das indische Pfefferland war jener Zeit immer noch das gelobte für abenteuernde Naturen und verlorene Söhne. Die goldenen Berge, welche der arme Junge so hoffnungssicher in Aussicht stellte, bestärkten die Eingebung, daß es auch sein Kanaan gewesen sei.

Je mehr dem Freunde nun aber diese jähe Vorstellung [404] zur Gewißheit ward, um so bänglicher schlug sein Herz. Auch er, der Ältere, war im weiten Weltwesen ja noch ein Kind. Der Zufall aber hatte gewollt, daß er von einem leichtsinnig verlockten Studenten, der als Deserteur sich wieder in das Vaterland durchgeschlagen, die Wahrheit erfahren hatte über den entwürdigenden Zustand des holländischen Fremdenkorps nicht bloß fern in den Kolonien, sondern selbst auf den heimischen Drill- und Einschiffungsplätzen, und so hätte er sich Flügel anheften mögen, um den Verblendeten zu überholen und Lydias Bruder einem Elend zu entreißen, dem von zehnen neun physisch oder moralisch unterliegen.

Sein erstes war, von dem Beamten jenes zweiten Schalters die Erkundigung zu erfahren, welche Philipp neulich an ihn gerichtet hatte. Der Jüngling war eine auffällige Erscheinung, schön wie alle Hartenstein, mit Ausnahme Martins, und dieser Auffälligkeit es zu danken, daß der Beamte sich der Erkundigung noch erinnerte: der schöne junge Mensch hatte nach dem Preise eines Fahrbilletts bis zur niederländischen Grenzstation gefragt; zuerst nach dem der zweiten Klasse, dann bescheidentlich nach dem der dritten, und die unerwartet hohe Summe auch dieser dritten ihn sichtbar niedergeschlagen. Der Arglose ahnete nicht, daß diese Fragen zu einem Fingerzeig für einen praktischeren Verfolger, als sein gelehrter Vormund, werden konnten. Für Dezimus wurden sie zum Beweis, wennschon weder dieser Beamte noch irgendein anderer sich erinnerte, den auffälligen jungen Mann bei der späteren Abreise wiedergesehen zu haben. Da er an jenem Nachmittag nicht nach Hause zurückgekehrt war, vermutete Dezimus, daß er zu Fuße bis zur nächsten, nur eine Meile entfernten Station gegangen sei und von da aus den Nachtzug benutzt habe.

[405] Dezimus selbst blieben bis zum Abgang des westlichen Zuges zwei lange bange Stunden. Um sie nicht völlig nutzlos hinzubringen, begab er sich zu dem Pfandleiher und – und Kandidat, Kandidat! du fühlst dich zum Priester reif und sündigst wider Gottes heiliges Gebot? Du lügst, lügst ohne Erröten, lügst wie gedruckt, daß du in augenblicklicher Geldverlegenheit, im Begriff, eine kleine Reise anzutreten, deinen jungen Freund beauftragt habest, ein Darlehn auf deine Uhr aufzunehmen, und daß du jetzt kämest, sie auszulösen?

Da der Hüne der Studentenschaft eine wohlbekannte Persönlichkeit war und sein junger Freund ausdrücklich auf diese Persönlichkeit behufs der Auslösung hingewiesen hatte, erlitt dieselbe keinen Anstand und war dem bösen Leumund, soweit in der Eile oder leider überhaupt noch möglich Einhalt getan. Einigermaßen erleichtert trabte Dezimus, sein Pretiosum auf dem Herzen, nach dem Bahnhofe zurück, und nun, du Glücklicher, leite dich dein Johannisstern!

In der Nachmittagsstunde, in welcher er mit seinem Röschen einen Superintendentenbesuch in der Stadt verabredet hatte, dampfte er in die Welt hinein auf der Suche nach dem verlorenen Sohn. Er sah im Geiste das liebe Kind daheim unruhig hin und wieder trippeln, wohl auch ein bißchen schmollen und schmälen, und dann sah er eine andere sich die Hände wund ringen im bittersten Seelenjammer; von der weiten Gotteswelt aber, die sich zum ersten Male vor ihm auftat, sah er leider wenig, was – versteht sich in anderer Stimmung – sein Neulingsauge erquickt haben würde. Er hätte sich, wie bei seinem ersten Abenteuer eine Universität, so heute beim zweiten eine Reise anders denken können. Endlose Stoppel- oder Rübenfelder, wirres Bahnhofsdrängen [406] und Treiben, langweilige Gesichter, Gesellen ohne Reiselust wie er selbst, und bald sah er nichts mehr, denn es kam die Nacht, und mit der Nacht kam endlich auch der Genius, der selbst den Unruhigsten ruhig macht. Als des Schaffners Ruf: »Station Deutz!« den Genius verscheuchte, rang sich das erste Morgengrauen durch den Nebel, der über dem Rheinstrom brütete.

Der nordwärts führende Zug ließ ihm so viel Zeit, um über die Schiffbrücke zu gehen und einen Blick auf den Torso des Domes zu werfen, dessen Herstellung seit etlichen Jahren mit so viel Eifer betrieben wurde. Das Königswort, das dieses »Werde« rief, hatte in der Pfarre von Werben einen mächtigen Widerhall gefunden. Es deutete gleich einem Meisterspruch auf einen weit größeren und noch weit unfertigeren Bau, für welchen Hammer und Kelle zu rühren waren. Die Erinnerungen seiner glorreichen Zeit und die Entsagungen, die ihnen folgten, wurden in dem Greise jung; zum ersten Male empfing der Sohn aus dem Munde des alten Christen die Lehre des alten Heiden, daß es süß sei, für das Vaterland zu sterben.

Und dieses Lehrwort wachte an diesem Morgen in seiner Seele auf, als er in dem Irren nach einem sein Vaterland fliehenden betörten Kinde den Strom überschritt, der, von sich hebenden Dunstschleiern umflattert, glanzlos und doch majestätisch, breit und ruhig zu seinen Füßen wallte. Auch dieser Fluß galt ja als Symbol. In gärenden Zeiten wirkt alles Bedeutende als ein Deutnis, und die Zeit, in welcher Dezimus Frey ein Jüngling hieß, kennzeichnete ja durchweg ein gleichsam dichterisches Ringen aus der Vorstellung in die Darstellung.

Jählings haftete sein Blick, starrte sein Schritt. Herr der Welt! Wer ist die jugendlich schmächtige Gestalt, die, [407] bleich wie ein Schatten, mit weiten, übernächtigen Aug en, bebend und schwankend sich über das Gitter beugt, so als ob die nebelumwogten grauen Fluten sie zugleich lockten und schreckten? Der Hut ist vom Kopfe in den Strom gesunken; der feuchte Morgenwind weht durch die wirren, gelben Locken. »Philipp!« schreit Dezimus auf, und – der verlorene Sohn taumelt halb ohnmächtig in seine ausgespannten Arme.

Er zog ihn in das nächste Wirtshaus am Kölnischen Ufer; ein warmer Trunk belebte ihn, die beklommene Brust erleichterte ein Tränenstrom. Ach, dieses ungestählte Muttersöhnchen, wie bald würde es den Heischungen der Macht, die es Freiheit nannte, erlegen sein an jedem Orte, wo es sie wirklich gefunden hätte, nicht bloß sie zu finden gewähnt!

In der Verfolgungsangst und doch wieder der Seligkeit eines der Galeere Entsprungenen hatte er sich keine Raststunde gegönnt, nur immer vorwärts gedrängt von einem Haltepunkt zum anderen, bis er den Werbeplatz am Zuydersee erreichte. Was er dort zu finden hoffte? Eine deutliche Vorstellung wird er nicht gehabt haben. Aber einen bunten Schauplatz, einen lustigen Tummelplatz, vielleicht so etwas von einem preußischen Paradeplatz, auf dem man sang: »Ein freies Leben führen wir!« Und statt dessen sah er das rohe Treiben und Drillen der fremden Söldlinge – der Masse nach Deserteure, Vagabonden, Ausgestoßene aus dem Walle der Familie, der Heimat, der Gesellschaft; mancher mit einem Kainszeichen auf der Stirn –, wurde er Zeuge einer körperlichen Züchtigung, die ihm das Blut erstarren machte.

Ein wohlmeinender Bürger, mit dem er in einem Wirtshaus zusammentraf und den der Anblick des schönen, [408] betörten Jünglingsknaben rührte, belehrte ihn, daß nach den neueren Bestimmungen kein Ausländer es im Kolonialdienst weiter als bis zum Unteroffiziersposten bringen könne, – und der Knabe hatte von Generalsepauletten, von Orden und Lorbeerkronen geträumt! Der wohlmeinende Warner belehrte ihn fernerhin, daß unbärtige Bürschchen wie er fast ausnahmslos schon den Einflüssen des Klimas und seiner lockenden Bodenfrüchte erliegen, daß aber selbst abgehärtete, entsagungsstarke Männer sich nur in einem Bruchteil gegen die Strapazen des Dienstes behaupten, – und das Bürschchen hatte von lustigen Elefantenritten, von Tigerjagden in Palmenwäldern und einer Nabobsheimkehr geträumt!

Aus allen Himmeln gestürzt, entsetzt, verzweifelnd, kehrte der freiheitslüsterne Junge, wiederum ohne Atem zu schöpfen, die Straße, die er gekommen war, zurück. Die Luft war kühl und seine Kleidung noch sommerlich, sein Sparpfennig aufgezehrt. Hungernd, übernächtig, schauernd vor Frost, schaudernd vor Angst und Scham stand er nun auf der Rheinbrücke von Köln zwischen der Wahl – der Heimkehr, als Bettler und Vagabond? nein, der Heimkehr nicht; aber vor der, als Bettler und Vagabond sich bis über die Grenze zu einem Werbebureau für die französische Fremdenlegion durchzuschlagen oder durch einen Sprung in die Tiefe seinem Elend rasch ein Ende zu machen. So stand er, kaum mehr fähig zu einem Entschluß, und sehr möglich, daß die Erschöpfung den Taumelnden jedes Entschlusses überhoben haben würde, wenn der Stern der Glücklichen ihm nicht einen Wegweiser mit stämmigen Armen entgegengeführt hätte.

Dezimus erfuhr diese klägliche Robinsonade von vier Tagen erst nach und nach in weit späterer Stunde. In der [409] gegenwärtigen begnügte er sich, zu dem Ausgehungerten zu sagen: »Iß!« und nachdem er sich sattgegessen, zu dem Übermüdeten: »Nun schlaf!« Und was hätte auch ein weiserer Mentor, als der Kandidat von Werben sich zu sein vermaß, diesem willenlosen Gottesgeschöpf zur Stunde Weiseres heißen können als: iß und schlaf?

Nachdem das Gottesgeschöpf aber ausgeschlafen hatte, lange und fest wie ein Murmeltier, ließ es sich sonder Skrupel noch Unterhandlungen nach dem Bahnhofe von Deutz zurückführen; alle seine Sorge warf es, zwar nicht auf den Herrn, aber auf seinen lieben guten Dezimus, der würde es wohlmachen. Der liebe, gute Dezimus wollte und konnte zwar nichts versprechen als die Vergebung Schwester Lydias nach vorausgegangener reumütiger Buße; dennoch währte es nicht lange, und das leichte Bösebubenblut wallte so frohgemut auf wie je. Was auch über ihn verhängt werden mochte, alles war besser als die Fuchtel von Harderwyk und der Hunger auf der Rheinbrücke von Köln.

Es war spät am Abend, als sie die heimische Pfarre erreichten, unangemeldet, da Telegramme des Privatverkehrs es auf dieser Strecke zu jener Zeit noch nicht gab. Die Bewohner hielten sich schonend zurück; nach flüchtiger, freudiger Begrüßung des Sohnes überließen sie es diesem Glücklichen, seinen Findling in die eigene Bodenkammer zu geleiten und in sein eigenes Bett zu verweisen, allwo er sich denn wiederum in Bälde des Schlummers des Gerechten oder des Murmeltiers erfreute. Dezimus dagegen begab sich, so spät es war, nach dem Schloß.

Dort hatten sich infolge der Schreckenspost die gesamte Familie und deren nächste Freunde zusammengefunden: die Mutter mit ihrem kleinen Pflegling, Martin, [410] seine Schwestern und ihre Gatten, der Vormund und selber der alte, treue Magister Klein waren herbeigeeilt, um gemeinsam mit dem anerkannten Haupte der Familie, mit Lydia, zu beten, zu ratschlagen, je nachdem zu handeln, oder auch nur zu weinen und verzweifelnd die Hände zu ringen. In allen Zimmern des Schlosses brannte noch Licht; ein jeder saß angstvoll wach in seinem Kämmerlein.

Doch sah Dezimus nur Lydia. Als sie seine frohe Botschaft vernommen hatte, faßte sie seine beiden Hände, neigte ihre Stirn zu ihnen herab, und heiße Tränen, die ersten, welche den Krampf des Herzens lösten, rannen auf sie nieder. Ein vernehmliches Wort sprachen die zitternden Lippen nicht. Als sie das schöne Haupt aber wieder erhob, da stand in ihren Augen geschrieben: »Du hast mir mehr als das Leben gerettet, Freund.«

Keiner wußte besser als Dezimus selbst, wie so gar gering sein Verdienst bei dieser Rettung war, wie alles nur das Wirken jener heimlichen Macht, welche die einen Zufall nennen, die anderen Stern, und die Glücklichsten Gottes Rat. Was er im Leben aber noch von Menschenkreuz und Leid zu tragen haben mag, der Dankesblick, der in dieser Nacht aus seines weißen Fräuleins Augen strahlte, wird ihn bis in seine Sterbestunde beseligen.


Eine schriftliche Weisung des Vormunds entbot am anderen Morgen den verlorenen Sohn und »seinen edlen Erretter« – »hört, hört!« spottete das lustige Röschen – nach dem Schlosse. Ein schwerer Gang für den edlen Erretter, denn er ahnte mit Fug, kein festliches Gewand werde dem verlorenen Sohne entgegengetragen und kein gemästetes Kalb zu seinem Willkomm geschlachtet werden, dagegen ein strenger Areopag den Spruch über ihn fällen [411] und das Los über seine Zukunft werfen. Selbst wenn Lydia nach den Erschütterungen der letzten Tage mit solch einer Manifestation des Familienrechtes nicht einverstanden gewesen wäre, wenn sie im stillen Kämmerlein, wo ein Erlöster betet, zu ihrem Bruder hätte sagen mögen: »Ich vergebe dir,« würde sie über Nacht inmitten eines bluts- und wahlverwandten Kreises den hohen, feierlichen Grundton, auf welchen bei aller Abgeschlossenheit ihr Vaterhaus gestimmt worden war, haben herabstimmen können?

Auch Philipp mutmaßte eine widerwärtige Szene, und seine Stimmung war halb trotzig, halb verzagt. »An Ihnen, Dezimus, habe ich mich vergangen, das ist richtig,« sagte er. »Sie aber haben mir vergeben, haben meinen dummen Streich sogar vertuscht. Und was habe ich den anderen getan?«

»Die Ungehörigkeit gegen meine Person war bei weitem die leichtere,« entgegnete Dezimus, »wenngleich sie, nach dem Maße der Welt gemessen, schwer genug in das Gewicht fallen mag. Das bittere Herzeleid aber, das Sie Ihrer Mutter und Schwester angetan haben, kann Ihnen kein Mensch vergeben, bis Sie es durch freudigen Gehorsam gesühnt.«

»O, meine Mama, die ist bloß froh, daß ich wieder da bin,« versetzte der Leichtfuß mit obligater Torenzuversicht. »Und Lydia, was für ein Recht hat denn Lydia über mich? Und was kann sie mir am Ende denn auch tun? Legt sie mich noch zehnmal an die Kette, reiße ich mich noch zehnmal wieder los. Sie wird sich aber wohl hüten; denn mit dem Pastorwerden habe ich es – Gott sei Dank! – doch ein für allemal verschüttet.«

»Mit dem Soldatwerden aber auch,« entgegnete Dezimus.

[412] Der Leichtfuß seufzte und ließ ein Weilchen den Kopf hängen. »Sie sollen mich wie Vetter Hilmar nach Rußland schicken –« meinte er darauf. »Ich wäre von selber hingegangen, wenn es nur nicht gar zu weit gewesen wäre. Und dann wollte ich doch für mein Leben gern einmal eine große Seereise machen.«

Das Wort verhallte in diesem Augenblick eindruckslos an des Freundes Ohr; in dem Augenblick der Entscheidung aber wachte es plötzlich lebendig in dem Herzen auf, wie ein Samenkorn, das ein Insekt in einen Blütenkelch getragen hat.

Sie hatten den wenig bemerkten Eingang über die Terrassen genommen. Im Schlosse herrschte, ungeachtet der zahlreichen Insassen, Totenstille. Es galt ein heimliches Gericht; die weibliche Dienerschaft war durch verschiedentliche Aufträge für die Morgenstunden entfernt worden; nur der alte Wagner, ein Getreuer und Vertrauter aus der einstigen Heimat, zurückgeblieben, und sein auch wohl das Verdienst, jene unzuverlässigen Zeuginnen beseitigt zu haben. Schweigend mit zerwühlten Mienen öffnete er die Tür des Ahnensaales.

Dezimus hatte ihn seit der Leichenfeier für den Propst nicht wieder betreten. Dessen Bild hing wie dazumal über dem kleinen Betaltar; da, wo der Sarg gestanden hatte, stand heute eine dunkelverhangene Tafel, an welcher der Familienrat gehalten werden sollte. Die männlichen Mitglieder waren bereits versammelt; die beiden Geistlichen im Ornat, der Obertribunalsrat und der Kammerherr, die Gatten von Priszilla und Phöbe, das weiße Johanniterkreuz auf den schwarzen Leibrock geheftet; Martin im Dienstanzug, den Helm unter dem Arm. Alle standen mit den Gesichtern dem Bilde des Vaters zugekehrt [413] und schienen den Eintritt seines ungeratenen Sohnes nicht zu bemerken.

Menschen aus einem Gusse – Martin etwa ausgenommen – waren sie über die zu treffende Entscheidung eines Sinnes und der Zweck der demonstrativen Versammlung, neben dem persönlichen Genügen, wohl kaum ein anderer als der, der unglücklichen Mutter in imponierender Weise eine harte Notwendigkeit erklärlich zu machen. Denn ein so schwacher Menschenkenner, daß er erwartet hätte, durch solch feierlichen Aktus einen Philipp zur Zerknirschung und zur Umkehr zu bewegen, ein so schwacher Menschenkenner war doch wohl nur der alte, ehrliche Professor Hildebrand.

Philipp hatte beim Überschreiten der Schwelle die Lippen trotzig übereinandergebissen. Glut und Blässe wechselten auf seinem Gesicht. Er hielt des Freundes Hand fest umklammert; die seinige war eiskalt. Aber nur die Frauen waren es, vor deren Wiedersehen ihm bangte, die geliebte Mutter und die Richterin Lydia. Als er daher gewahr wurde, daß er es nur mit den Männern der Familie zu tun haben sollte und er diese Männer ihm so geflissentlich den Rücken kehren sah, hatte er Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, und drehte in Gedanken dem hohen Gerichtshof eine echte, rechte Bösebubennase.

Dezimus zog ihn in eine Fensternische, welche der Eingangstür zunächst und der Versammlung zufernst lag; und da konnte der brave Martin es denn nicht länger über das Herz bringen: er ging auf Dezimus zu, drückte ihm die Hand, zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, schlug mit einem Seufzer vor seinem Nichtsnutz von Bruder die Augen nieder und kehrte dann schweigend zu dem schweigenden Chor zurück.

[414] Noch dauerte es eine gute Weile, in welcher Dezimus nichts als das Ticktack des Corpus delicti in seiner Westentasche vernahm. Endlich aber öffnete der alte Wagner die Tür, und in den Saal wankte, von Lydia gestützt, von ihren beiden jüngeren Töchtern gefolgt, die unglückliche Mutter, Martins Töchterchen auf dem Arm. Sie sank wie gebrochen auf den ersten erreichbaren Sessel.

Beim Erblicken dieses gramdurchwühlten, gütigen Mutterangesichts, der weiten, leeren Augen, welche in den jüngsten Tagen ihren Tränenborn erschöpft zu haben schienen, riß sich Philipp von des Freundes Hand und stürzte mit einem schrillen Aufschrei zu der Matrone Füßen. So, den Kopf in ihren Schoß vergraben, blieb er liegen während der ganzen Verhandlung. Die Mutter hatte den einen Arm um seinen Nacken geschlungen, als ob sie ihn festhalten wollte gegen den Bannspruch der Gerechtigkeit; im anderen Arme lag die schlummernde Enkelin, ein spärliches Würmchen, das während der jachen Reise unpaß geworden war und das die treue Pflegerin in all ihrer Angst und Not nicht für eine Stunde aus den Augen gelassen haben würde. Sie weinte auch jetzt nicht; nur dann und wann vernahm man ein leises Wimmern, ohne daß man unterschied, kam es aus des Kindes oder der Matrone Brust.

Die schweigende Gruppe unter dem Bilde hatte sich den Eintretenden zugewendet; der Vormund schritt auf sie zu; die drei Schwestern neigten sich bis zur Erde vor dem greisen Seelsorger und Vertreter des Vaters; sie küßten seine Hand, so wie sie beim Morgengruß die des Vaters zu küssen gewohnt gewesen waren. Die sonst so freundliche Mutter grüßte nicht einmal mit den Augen. Sie hatte nicht daran gedacht, ihren Morgenanzug mit [415] einem der Feierlichkeit entsprechenden zu vertauschen. Lydia trug, wie noch immer seit ihres Vaters Tode, ein Trauerkleid, und die beiden Schwestern hatten es ihr heute nachgetan. Es handelte sich ja wieder um einen düsteren Akt im Ahnensaale.

Der Professor bot Frau von Hartenstein den Arm, sie an den Ehrenplatz der Gerichtstafel zu führen. Sie schüttelte schweigend das Haupt und rührte sich nicht aus ihrer mütterlichen Umstrickung. Priszilla und Phöbe hätten sich wohl gern in ihrer Nähe gehalten, doch folgten sie gehorsam ihren Gatten an deren Seite.

Der Ehrenplatz blieb unbesetzt, da auch Lydia ihn ablehnte. Sie trat zur Seite in einen zweiten Fensterbogen, von welchem aus sie die Schmerzensgruppe der Mutter mit dem Sohn im Auge halten konnte. Dort stand sie aufrecht mit gefaltenen Händen, ohne sich zu regen; das, was um sie her laut ward, schien an ihrem Ohr abzugleiten, ein innerlichster Vorgang sich zur Klarheit durchzuringen, aber einer, unter welchem das gebeugte Haupt sich hob. Daß der uneingeweihte Kandidat dem Wink des ordnenden Vormunds an das untere Ende der Tafel nicht Folge leistete, sondern in seinem dunkelumhüllten Fensterwinkel verharrte, wird die Versammlung der Eingeweihten ihm als geziemende Bescheidenheit angerechnet haben.

Magister Klein setzte sich an die Orgel; das alte Lutherlied »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« wurde angehoben; Lydia sang nicht mit, auch die am tiefsten von der Not Bedrängten, Mutter und Sohn, waren nicht gestimmt zu einem Gebet mit Sangesklang. Dann trat der Professor vor den Altar und hielt eine Ansprache über das Heilandsgebot: »So dein Bruder an dir sündigt, so strafe ihn, und so er sich bessert, vergib ihm.« Gewißlich das rechte Gebot [416] in dieser Stunde und mit bewegter Seele auch ausgedeutet, wie es dem Priester gebührt: den Folgesatz an der Spitze.

Aber die schwere Aufgabe dieser Stunde war zur Erleichterung jedes einzelnen unter die Berufenen verteilt worden, und der Folgesatz hatte einen Vordersatz, dessen Klarlegung dem Rat vom obersten Gerichtshof, als Vertreter der weltlichen Gerechtigkeit, sach- und fachgemäß zustand. Daß dieser seine Aufgabe lösen werde sonder Ansehn der Person, daß er streng nach dem Gesetzeslaut deduzieren und urteln werde, durfte von einem preußischen Richter selbst in einem Familienrat vorausgesetzt werden.

Er verlas aus dem Landrecht die Paragraphen, gegen welche der Angeklagte gefrevelt hatte: durch die Aneignung fremden Eigentums, durch seine heimliche Auswanderung vor erfüllter militärischer Dienstpflicht, durch seine Flucht aus der vormundschaftlichen Gewalt. Er verlas auch das Strafmaß, das auf diese Vergehen gesetzt war, und das Maß war kein geringes.

Dies vorausgeschickt, glaubte das rechtsbeflissene Mitglied der Familie sich bei alledem – vielleicht nicht ohne gelinde Beugung seines staatlichen Gewissens – zu dem Antrage befugt: in Betracht der Jugend des Übeltäters, in fernerweitigem Betracht, daß durch den rechtzeitigen Eingriff eines Dritten die sträfliche Handlung hinsichtlich der beiden letzten Anklagepunkte beim Versuche geblieben sei: die dem Staate zustehende Pflicht der Strafe in diesem besonderen Falle auf die Familie zu übertragen; unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß eine so gläubig in sich gefestete Familie wie diese das Maß der Buße dem des Vergehens adäquat bemessen und die bürgerliche Gesellschaft vor fernerer Schädigung durch den jungen Übeltäter schützen werde.

[417] Dieser kriminalistischen Klarlegung, vorgetragen im allerernsthaftesten Ernst, angehört dagegen mit allseitig zerstreuten oder gleichgültigen Mienen, folgte eine Pause atemloser Spannung für die Mutter, ihren Sohn und dessen Freund. Wem von ihnen wäre auch nur einen Augenblick der Gedanke an die materielle Statthaftigkeit eines Rechtsschutzes und Strafaktes von seiten des Fiskus in den Sinn gekommen? Dahingegen die Frage, in welcher Weise die so gläubig in sich gefestete Familie solchen Rechtsschutz und Bußakt fordern werde, schwer die Herzen jener drei belastete. Die übrigen Familienglieder waren über diese Frage schlüssig geworden in einer schlummerlosen Nacht; auch die jungen Schwestern hatten der Entscheidung zugestimmt, wennschon mit zerrüttetem Herzen; auch Lydia, und sie sogar mit gehobenem Herzen. Es handelte sich nur noch, dem verlorenen Sohn, und vornehmlich seiner Mutter, den Beweis zu führen, daß um seiner eigenen Existenz wie um der Ehre und Ruhe seiner Angehörigen willen keine andere Wahl als die getroffene zu treffen war. Und diese Darlegung hatte der Kammerherr von Behrmann, Phöbes Gatte, übernommen. Nach dem Priester und Richter war die Reihe an dem Kavalier.

»Welch eine Zukunft,« so fragte er, »bleibt einem jungen Edelmann, der wohlbegabt und wohlgebildet, in zurechnungsfähigem Alter, von der Scheu vor geistiger Anstrengung und christlicher Zucht sich so weit treiben ließ, die natürlichsten und heiligsten Bande schnöde zu zerreißen und als Abenteurer in die Welt zu gehen? Der, um seiner eigenen Ruchlosigkeit zu frönen, unter trügerischen Vorwänden sich die erforderlichen Mittel erschwindelt, seine Habseligkeiten – gespendete Wohltat seiner schwesterlichen Versorgerin – heimlich verschleudert, ja, sich sogar an dem [418] Eigentum eines Fremden vergreift, eines dürftig von anstrengender Arbeit lebenden Heimatsgenossen, des Schützlings seiner edlen mütterlichen Ahnen? Selbst für den Fall, daß infolge vorbeugender Maßnahmen, welche die Dankbarkeit diesem braven jungen Manne eingegeben hat, der schmähliche Handel als Geheimnis in einem kleinen Kreise gewahrt bleiben sollte – was im höchsten Maße zu bezweifeln ist –, selbst für den Fall, daß, verborgen vor den Augen der Welt, sich eine Umkehr wirkende Buße hätte ersinnen lassen – was keinem seiner nächsten Angehörigen gelungen ist –, selber in diesen günstigsten Fällen: welche Laufbahn könnte in unserem Staate einer betreten, oder in welcher könnte er sich behaupten, der in seinen eigenen Augen und in denen, sei es auch nur eines Dutzend Menschen, ein Betrüger ist, ja ein Dieb? Der Jüngling hat sich auf den im Blute der Hartenstein ererbten Soldatenberuf gesteift: Leutnant von Hartenstein, kann einer dem Verbande eines Offizierkorps angehören, den, sei es auch nur ein Dutzend Menschen, als Betrüger kennen, ja als Dieb?«

Der Leutnant von Hartenstein antwortete kleinlaut: »Nein«, und daß er dabei rasselnd an seinen Säbel schlug, geschah wohl weniger, um das Nein zu verstärken, als es den Ohren des brüderlichen Betrügers und Diebes unhörbar zu machen. Der Kammerherr von Behrmann aber hatte das Nein gehört und durfte sich darauf berufen.

»Sein edler Vater,« so fuhr er fort, »hatte für den Sohn den geistlichen Beruf erwählt. Des Sohnes störriges Widerstreben trieb ihn in die Sünde. Gesetzt den Fall, die Strafe der Sünde wirke Reue, die Reue Besserung: kann einer als Gottes Priester die Gebote, die auf den Gesetzestafeln geschrieben stehen, verkünden, der weiß und von dem auch [419] nur ein Dutzend Menschen weiß, wie schwer er selber gegen mehr als eines dieser Gebote gesündigt hat?«

Die beiden Priester der Versammlung schüttelten schweigend die grauen Häupter. Da sie redliche Priester und sich wohl bewußt waren, daß schon aus manchem freiheitslüsternen Adamssohne mit der Zeit ein um so eifermütigerer Apostel geworden ist, galt ihre schweigende Verneinung gewißlich nicht der Frage im allgemeinen, sondern dem Zweifel an einer geistlichen Umkehr in diesem besonderen Fall. Und in diesem besonderen Fall stimmte ihnen der werdende Priester im Fensterwinkel aufrichtig, wenn auch nur in der Stille des Herzens bei.

»Kann einer Richter sein,« fuhr der Fragsteller fort, »Hüter des gesellschaftlichen Rechts in irgendwelchem Amt, Verwalter der Autorität oder des Eigentums seines Staates, der nur vor eines Dutzend Menschen Augen und seinen eigenen mit dem schimpflichsten Makel behaftet ist?«

»Nein, dreimal nein!« rief der Rat vom obersten Gericht mit der Energie eines Mannes, der für die Sicherheit von König und Vaterland einzustehen hat.

Die Reihe der Erwägungen war mit diesem dreifachen Nein erschöpft; von irgendeinem theoretischen Berufe konnte bei des Jünglings unstetem Temperament nicht die Rede sein und irgendein industrielles Gewerbe nicht in Betracht kommen in einem Kreise, der von allen attischen Anschauungen keine so gründlich wie die der schändenden Handarbeit in sich aufgenommen, der schändenden Handarbeit selbst für einen, den die Natur nun einmal absolut zum Geistarbeiter verdorben hat. Das Korrektiv würde schmählicher als das Übel, welches es herstellen sollte, erschienen sein. Der ritterlichen Hand geziemte das Schwert, die Feder und allenfalls noch – der Pflug.

[420] Freund Dezimus, der während der hochnotpeinlichen Argumentation wie auf Kohlen gestanden und vielleicht mehr als Inkulpat selbst Blut und Essig geschwitzt, hatte die sichere Hoffnung gehegt, daß der kammerherrliche Schwager, der in einer abgelegenen Provinz ein ihm eignendes Rittergut von mäßigem Umfang persönlich bewirtschaftete, abschließend seine Bereitwilligkeit erklären werde, den Bruder seiner Gattin als landwirtschaftlichen Eleven in seine Zucht zu nehmen, und wenn die unglückliche Mutter überhaupt eines Rettungsplanes fähig gewesen wäre, würde auch sie keinen anderen als diesen ins Auge gefaßt haben. Ihr Eidam, der diese mütterliche Hoffnung mutmaßen mochte, war daher beflissen, ihr sie mit ausführlichen Gründen zu benehmen. Nicht nur daß der zeitweilige Dienst bei allerhöchsten Personen, neben anderweitigen ritterschaftlichen Obliegenheiten, ihn außerstand setzten, eine so schwere Verantwortung wie die Korrektur und Rehabilitierung eines derartig verirrten Familiengliedes auf sich zu laden, nicht nur, daß die Zwitterstellung eines Blutsverwandten und Untergebenen fast immer eine unhaltbare ist, daß sie bei einem so zügellosen Temperament zu einem gefährlichen Beispiel für die nächste Familie wie für Untergebene werden kann: welche Aussicht bot, selbst bei soliderer Anlage, die ökonomische Laufbahn einem jungen Edelmann, der gänzlich ohne Vermögen war? Wohl geziemte der Pflug einer ritterlichen Hand; aber der eigene Pflug mußte es sein. Konnte ein Hartenstein wie Hinz und Kunz lebenslang Verwalter oder allenfalls Pächter eines Fremden sein? konnte er der von einem Privatmann besoldete Jäger oder allenfalls Unterförster sein? Eine erneuernde Arbeit in Wald und Flur blieb demnach gleichfalls von der Wahl ausgeschlossen.

Und so lautete denn – wie leider schon oftmals nach [421] einem jugendlichen Tollkopfsstreich! – der Schiedsspruch, der, in der Stille der Nacht einmütig gefaßt, nunmehr im Ahnensaale von Werben verkündet und einmütig bestätigt wurde: »Das Exil!« Nur fern von seiner Familie, seiner Heimat, seinem Staat und Erdteil, von allem, an dem er bisher gehangen, nur als Fremdling in einer fremden Zone, unter einer unfertigen Gesittung, konnte einer, der in seiner Ehre also beschädigt, in seiner Sitte also gesunken war, den Raum finden, auf dem er sich zu einem neuen Menschen umbildete. Fort in eine neue Welt! fort!

Philipp hatte bei der letzten Ausführung den Kopf von der Mutter Schoße emporgerichtet, seine Augen funkelten vor Lust und Ungeduld. Was wollten denn diese törichten Schwätzer als sein eigenes glühendes Verlangen? War die Strafe, die sie diktierten, denn etwas anderes als das Vergehen, dessen sie ihn beschuldigten? »Juchhei in eine neue Welt! Fort! fort!« rief er gleichzeitig mit dem Antragsteller.

Der Brust der Mutter aber entrang sich bei diesem bannenden und jauchzenden »Fort!« ein so markerschütternder Schrei, daß der Redner in seinem Vortrag innehielt und der Sohn den Kopf wieder in ihren Schoß sinken ließ. Alle Blicke richteten sich nach der unglücklichen Frau; Priszilla und Phöbe näherten sich ihr mit überströmenden Augen. Der Knabe war auch ihr Liebling gewesen; beide waren junge Mütter; sie hatten den Streich vorgefühlt, und sie fühlten ihn jetzt nach, der mit dem grausamen »Fort!« das zärtlichste Herz wie ein Todesstreich durchzuckte, ohne daß sie, ach! ihn abzuwehren vermochten.

Nur Lydia war auf ihrem Platze verharrt; mit weitgeöffnetem Blick starrte sie auf die bewegte Gruppe; ihre Glieder bebten unter dem faltigen Trauerkleide, selber ihre [422] Lippen waren weiß. Sie hatte den Schmerz der Trennung, die ihr Rettung hieß, nicht in dieser Muttertiefe geahnt; sie hatte das Opfer, das sie selbst befreien sollte, mehr als das bedacht, welches sie auferlegte. »Das ist dein Werk!« klagte der unerbittliche Genius in ihrer Brust sie an. Das Wort der Erläuterung, der Beschwichtigung, das Wort, welches die Strafe als eine Gnade darstellen sollte, war ihr zugeteilt gewesen; da sie es nicht auszusprechen vermochte, tat es der väterliche Freund an ihrer Statt.

Er ging auf Frau von Hartenstein zu, ergriff ihre Hand und redete ihr zu Gemüt mit bewegtem, ja fast mit zürnendem Klang. Durfte sie ihm zutrauen, daß er ein Kind, an dem er Vaterstelle vertrat, einen Sohn Joachim von Hartensteins, einen Knaben mit noch unentwickelten, selbst körperlichen Kräften, in die Fremde hinausstoßen werde, in die Irre einer ungebändigten äußeren Natur, in das Wirrsal der wüsten Gesellschaft, die jenseit des Ozeans den Boden für neue Kulturen düngt? Nimmer, nimmermehr! Der Port, in welchem ihr verirrtes Kind landen sollte, war ein Friedensport, die Hütte, die ihn bergen sollte, war eine Hütte der Liebe, die Arme, die ihn umfangen und leiten sollten, waren Vaterarme. Kannte die Mutter ihn denn nicht, hieß sie ihn denn nicht ihren Freund, den treuen Mann, der in der Zeit der Drangsal Amt und Heimat verließ, um als Sendbote seines ewigen Herrn das Licht des Heils in das Bereich nachtumschatteter Seelen zu tragen? Wirkten nicht Weib und Kind, lehrend und pflegend, frohbeglückt an seiner Seite? Hatte er nicht manchen Jünger aus seiner deutschen Heimat zu gleichem Wirken sich nachgezogen? Nannten Kirche wie Gelehrtenwelt seinen Namen nicht mit Stolz? Waren es nicht Festtage in der Familie Joachim von Hartensteins, wenn aus dem Palmentale [423] neue Kunde anlangte von dem Gnadenwunder, das die Gebete und die Opfer heimischer Bekenner in immer weiteren Kreisen falschgerichteter Seelen zeugten?

»Unser Vaterland, die Wiege des Protestantismus, hat sich in einer der erhabensten Aufgaben von seinen Tochtervölkern schmachwürdig überholen lassen. Noch wirken an der Stätte, auf welcher das Heil gezeugt, von welcher es in die Welt hinausgetragen worden ist, die deutschen Sendboten, die es in jene verdunkelte Stätte zurücketragen, unter fremder Ägide. Schon jedoch sind die höchsten und hehrsten Herzen dafür erweckt, die Säumnis einzuholen. Bald wird das Friedenskreuz auf preußischem Banner wehen und unter diesem zweifach heiligen Zeichen der dem Vaterlande verlorene Sohn demselben wiedergewonnen werden. Seine Strafe heißt Liebe dulden und seine Buße Liebe üben lernen; sein Exil ist der Boden, der jedes Christen teuerste Erdenheimat ist.«

Es war eine eingängliche Schilderung, welche nach diesen warmen Worten Professor Hildebrand von dem äußeren und inneren Gedeihen der englischen Missionsstation in Palästina entwarf; wohl nur darum so eingänglich, um der aufgeregten Mutter eine Pause der Sammlung zu gewähren. Denn weder ihr noch irgendeinem seiner Hörer wurde etwas Unbekanntes mitgeteilt. Leider auch dem nicht, auf welchen jenes Gedeihen eine Heilswirkung üben sollte. Wenn früherhin der Vormund über seines Zöglings Stumpf sinn, ja seinen Abscheu vor vertiefenden Lehrworten geklagt hatte, so war es zweifelhaft, was dem Kindskopfe gründlicher widerstand, ob die Schulexpositionen der alten Heidendichter oder die Berichte der neuen Heidenbekehrer, die ein Hauptthema der Unterhaltung in seinem »Kerker« bildeten. Was fragte der Sausewind Philipp nach den [424] Operationen der Gnade in einer Berbernseele? was nach den Rudimenten von Sprache und Sage semitischer Völkerbrocken? Die »Friedenshütte des Palmentales« war ihm nur wiederum ein Gefängnis, in welchem gesungen und gebetet wurde, abgeschieden von allem, was auf Erden lacht und lockt, noch weit einödiger als der Ahnensaal von Werben oder die Bücherklause der Gelehrtenstadt.

Während des Professors Vortrag wachte der alte Unband denn auch merkbar in ihm auf; er warf den Kopf in die Höhe, wollte aufspringen, murrte halb unterdrückte Laute. Da die Mutter aber ihren Arm immer dichter um seinen Hals schlang, ihm die Locken streichelte und in sein Ohr flüsterte: »Still, still, mein Kind, ich verlasse dich nicht,« wurde ein Ausbruch notdürftig gehindert, bis der Redner geendet hatte. Zustimmungssicher überblickte er den Kreis seiner Hörer; einer nach dem anderen neigte schweigend das Haupt; nur Lydia stand in sich versunken, und die Matrone erhob sich zu einer Gegenrede von ihrem Platz.

Eine Purpurwoge überflog ihr blasses, kindliches Gesicht; sie zitterte so heftig, daß sie die schlummernde kleine Enkelin, um sie nicht fallen zu lassen, auf ihren Sessel niederlegte und mit beiden Armen den Sohn umklammerte. Sie rang nach einem Wort, war aber so gewohnt, sich schweigend zu fügen, daß sie den Sinn nicht alsobald fand, und den Laut drängte alles, was Angst und Qual heißt, in die Brust zurück. Nach einer erwartungsvollen Pause fragte der alte Freund daher, ob sie gegen das Rettungswerk, welches er nach bestem Wissen und Gewissen, im Einverständnis mit allen den Ihrigen zum Vorschlag gebracht, einen Einwand zu erheben habe.

Sie schüttelte das Haupt. »Nein, nein,« preßte sie hervor. [425] »Aber – aber, ich verlasse meinen Sohn nicht, – ich gehe mit, wohin er geht.«

Die sanfte Frau sah danach aus, als ob sie zu dieser mütterlichen Heldentat unwiderruflich entschlossen sei. Keiner hatte diesen Zug von Energie je an ihr wahrgenommen. Eine lange Pause entstand. Die richtenden Männer blickten betroffen erst die Matrone, dann sich untereinander an. Wo blieb die Strafe und wo die Buße des verlorenen Sohnes unter diesem Geleit? Die jungen Töchter warfen sich an der Mutter Herz, entsetzt von der Vorstellung der Entbehrungen und Gefahren, welche das zarte, teuere Leben bedrohten. Auch Martins Augen waren feucht. Er näherte sich der Gruppe, hob sein Töchterchen von dem Sessel in die Höhe und legte es in der Mutter Arm, während er mit dem seinen ihren bebenden Leib umspannte.

»Und was soll aus diesem armen Würmchen werden, wenn auch du von ihm gehst, Mama?« fragte er mit schluchzender Stimme.

Die unglückliche Frau taumelte auf ihren Platz zurück. Zum ersten Male entstürzte ein Tränenstrom ihren Augen. Im Arm das schwache, mutterlose Kind, an der Hand den geächteten Sohn, schweiften ihre Blicke von jenem zu diesem und von diesem zu jenem. Welches von beiden liebte sie mehr: das schuldige Kind oder das unschuldige? Welches von beiden bedurfte der Liebe einer Mutter mehr? Ach, bewahre doch Gott in Gnaden ein armes Frauenherz vor solcher Liebeswahl! Kein Atemzug wehte durch die Schwüle des Ahnensaals.

Da nahte sich Lydia mit festen Schritten; das schöne Haupt hoch aufgerichtet, ein hehres Feuer in den Augen und auf den Wangen eine Purpurblüte. »Nicht du, meine Mutter,« sagte sie, indem sie die Hand der Witwe an ihr [426] Herz drückte. »Dein Platz ist bei diesem Kind. Mit deinem Sohne gehe ich, und ich gelobe dir, fortan mit deinen Augen über ihn zu wachen.«

Die Mutter lehnte ihr Haupt an der Tochter Brust.

»Lydia!« stammelte sie. »Lydia, du mit ihm! du! – o, mein Joachim, hast du es gehört?«

In diesem unter sich so vertrauten Kreise ahnete keiner, daß der Entschluß, welchen Lydia mit solcher Ruhe äußerte, nicht erst die Eingebung des Augenblicks sei, sondern eine vorbedachte Selbstbefreiung von schwerem Druck, – keiner als Dezimus, der einzige dem Kreise nicht Vertraute. Alle anderen sahen nur das Opfer; die Mehrzahl neben dem moralischen Opfer auch das materielle, da es ja den Verzicht auf das Werbensche Erbe in sich schloß; und gewiß berechnete mancher die Einbuße, die auch ihn mittelbar bedrohte. Aber so natürlich erschien alles, was dieses Mädchen Besonderes tat, so besonders alles, was ihm natürlich war, und so unbedingt war die Schätzung ihrer adligen Natur, daß auch nicht der leiseste Einwand gegen ihr Vorhaben erhoben wurde. Der schwere Familienkonflikt würde heute wiederum wie beim Tode des Vaters durch das Opfer der Schwester erledigt worden sein, wenn – ja, wenn nicht der gewesen wäre, welchem es dazumal einschließlich und heute ausschließlich gebracht wurde.

Der aber, der törichte Knabe, gebärdete sich plötzlich, als ob der böse Geist in ihn gefahren sei. In dem Geleit der Mutter, so aufrichtig es gemeint war, hatte er eine gütige Täuschung gesehen, einen Einfall, der ihm das Wasser in die Augen trieb, aber doch nicht viel mehr als eine Seifenblase. Wenn es auf ihn selber angekommen wäre, ei freilich, was hätte er sich denn Besseres wünschen können, als mit seinem Mütterchen eine Bußfahrt um die halbe Welt [427] zu machen, an irgendeinem hübschen Platze es zum Aussteigen zu bereden und allda seines jungen Lebens froh zu werden! Aber die anderen! Was sollte diese liebe, gute, englische Mama unter Juden, Heiden und Türken? Weit eher, als daß man sie fort ließ, ließ man ihn ja los. Die ganze Geschichte war dummes Zeug.

Nun jedoch, da Lydia an der Mutter Stelle trat, wurde die Geschichte bitterer Ernst, und die lange verbissene Wut brach jählings in dem Unband aus. Er riß sich von der Mutter Hand, ballte die Fäuste und stampfte mit den Füßen. Die Augen sprühten wie wilde Katzenaugen.

»Und ich gehe nicht mit!« kreischte er mit überschnappender Fistelstimme. »Ich kann keine Heiden bekehren, und ich mag keine bekehren. Ich bin selber ein Heide. Ja, ein Heide bin ich. Ein Heide! Ich will nicht beten und singen, zu Hause nicht und im Gelobten Lande noch viel weniger. Schleppt mich nur hin; ich laufe unter die Türken und werde Soldat. Sperrt mich nur in die Kajüte, bindet mich fest, beim Landen müßt ihr mich doch losmachen, und ich springe ins Meer und schwimme mich frei, lebendig oder tot!«

Welcher Umschlag in den Gemütern! Lydia stand starr und fahl wie ein Gespenst; alles Mitleid der jungen Schwestern war verstummt, selbst die Mutter blickte verzagt. Die Männer zitterten oder knirschten vor Empörung.

»In die Zwangsjacke mit dem Besessenen!« murmelten die geistlichen Freunde.

»In das Zuchthaus mit dem Bösewicht!« riefen die weltlichen Schwäger.

Dann eine Pause stummer Ratlosigkeit. Philipp wischte sich den Schweiß von der Stirn und den weißen Schaum von den Lippen. Die Tarantel hatte ausgebraust. Wallt [428] doch selbst in grauen Siedeköpfen die wilde Wut einen Atems auf und ab, und hat sie abgewallt, ist das Gehäus bis auf weiteres entleert. Gegenwärtigen kindischen Siedekopf aber gar, hätte man fünf Minuten, nachdem er sich als Heide proklamiert, ihn an Bord eines christlichen Missionsschiffes geführt, er würde gefolgt sein wie ein Lamm. Ja, er blickte schon wieder ganz wohlgemut dem Freunde zu, dessen Gegenwart er seit einer Stunde vergessen hatte und den er jetzt aus seinem Fensterwinkel auf die rat- und sprachlose Versammlung zuschreiten sah. Sein lieber, guter Dezimus, er würde ihn schon noch einmal aus seiner argen Klemme ziehen!

Die Blicke der weisen Richter waren denen des jungen Toren nicht ohne Befremdung gefolgt. Was wollte Saul unter den Propheten?

Wenn für ein Problem, das Tag wie Nacht hindurch Hirn und Herz zerwühlt hat, im Sturme des Affekts, jach wie ein Blitz, die Lösung uns durchzuckt, dann, nicht wahr? dann nennen wir es Eingebung? Und wenn, wiederum im Sturme des Affekts, die Eingebung einen zündenden Ausdruck findet, dann nennen wir diesen Beredsamkeit? Wirkung und Wirksamkeit solcher Art war dem glücklichen Kandidaten in dieser Stunde beschieden. Er hatte einen Einfall zu rechter Zeit, was allemal ein Treffer ist in der Lebenslotterie; einen recht einfachen Einfall, ebenso einfach wie der des Kolumbus, nicht da er Amerika entdeckte, sondern da er das bewußte Ei zum Stehen brachte.

In Parenthese: Nach Frau Hanna Blümels Dafürhalten ein weit verwunderlicheres Kunststück als die Entdeckung Amerikas, insofern das Ei weder ausgelaufen noch ein hartgesottenes gewesen sein sollte.

Diesen einfachen Einfall brachte der Kandidat nun aus [429] eigener Machtvollkommenheit der bestürmten und bestürzten Versammlung zu Gehör, aus warmem Herzen mit warmem Wort, denn er sprach als Freund. Daß er dabei nicht ohne gewisse diplomatische Rücksichtsnahmen verfuhr, wird man hoffentlich seinem redlichen Hirtensinn weder als Ironie noch als Achselträgerei auslegen. Selber von der Kanzel herab muß ein Redestück ja wohl dem Auditorium ohrgerecht zubereitet werden, wie viel mehr in einem Ahnensaal.

Unabsichtlich kunstgemäß nahm er seinen Ausgang von dem geringfügigsten Punkt, will sagen von seiner eigenen Person. Er erzählte denen, die es noch nicht wußten, und just denen galt ja seine Überredung, von seinem Bruder, einem erprobten Seemann, der den kommenden Winter in einem bescheidenen Heimwesen auf einer der friesischen Inseln auszuruhen gedenke, und daß er, der Kandidat, im Begriffe stehe, einer geschwisterlichen Einladung in dieses Heimwesen zu folgen. Unumwunden richtete er darauf an die, welchen die Entscheidung über seines jungen Freundes Schicksal zustehe, die Bitte, ihm denselben als Begleiter auf dieser Reise anzuvertrauen und, falls die Verhältnisse seinen Erwartungen entsprechend gefunden werden sollten, ihn alldort für eine Probezeit der Obhut braver, einfacher Menschen und der geistigen Führung des Predigers der Insel, dessen Name ja als der eines treuen Christen und bewährten Pädagogen weit über den Kreis seiner nächsten Wirksamkeit hinaus bekannt sei, zu überlassen.

(Erstes Zeichen rednerischen Erfolges: die beiden frommen Seelsorger neigten bei diesem Passus vom Inselpastor zustimmend die Häupter.)

»Insofern nämlich der Jüngling gewillt sei, sich dieser Probezeit ohne Sträuben zu unterwerfen und – –«

[430] »Ja, ja, ich will!« unterbrach ihn Philipp freuderot, indem er Anstalt machte, sich seinem Erretter in die Arme zu stürzen.

Der aber wehrte ihn ab. »Nicht an Ihnen ist zunächst die Entscheidung, und es ist kein Freudenleben, das Sie erwartet, törichtes Kind,« sagte er mit Mentorwürde, für welche Zurechtweisung er ein zustimmendes Neigen auch der beiden schwägerlichen Häupter erntete.

»Ein unruhig neugieriges Verlangen,« so fuhr er fort, »prickelnd in den Adern dieses Jünglings, den ich, über seine Jahre hinaus, noch einen Knaben nennen möchte, hat ihn in eine schwere Verirrung getrieben, und es ist im Kreise dieser Berufenen entschieden worden, daß unsere gesellschaftlichen Einrichtungen einem derartig Verirrten seines Standes, selbst wenn er ein anderer geworden wäre, nicht den Raum gewähren, auf welchem er sich zu einem nützlichen und glücklichen Menschen heranbilden dürfte. Mir, in meiner Stellung, gebricht wie das Urteil so die Befugnis, solchem Entscheid zu widersprechen.«

(In Mienen und Gebärden allseitige Zustimmung des Männerkreises bei diesem Zeugnis bescheidener Selbstschätzung.)

»Sollte aber nicht vielleicht für eine derartig angelegte Natur der Beruf des Seemanns in Betracht zu ziehen sein? Sollte – –«

»Ja, ja, Seemann will ich werden!« unterbrach ihn Philipp zum zweiten Male, um zum zweiten Male zur Ruhe verwiesen zu werden.

»Der maritime Verkehr unseres Vaterlandes,« so hob sein Fürsprecher von neuem an, je mehr und mehr auch von einem sachlichen Eifer beherrscht, »beschränkt sich bis jetzt auf den Handel von Privaten. Die Sehnsucht des [431] Volkes aber drängt zu Schutz, Förderung und Forschung nach einer staatlichen Ausdehnung dieses Verkehrs.«

(Seitens des Kammerherrn Zeichen der Mißbilligung, von dem Redner leider unbemerkt.)

»Und wenn diese Ausdehnung eines Tages errungen werden sollte, würde dann für einen bereits seemännisch Geschulten nicht auf eine angemessene Stellung im vaterländischen Dienst zu rechnen sein?«

(Die Nichtübereinstimmung mit dieser zweifachen Erwartung einer preußischen Flotte und eines auf ihr bediensteten Schwagers wurde jetzt auch an dem hohen Rat so augenfällig, daß der Kandidat sich beeilte, eine sympathischere Saite anzuschlagen.)

»Aber auch abgesehen von dieser zweifelhaften Zukunftsfrage, wie häufig ist es ausgesprochen worden, und wem leuchtete es nicht ein, daß das wagnisvolle Ringen zwischen Ozean und Himmel wie kein anderer Beruf geeignet sei, einen schwanken Menschen fest, einen schwachen stark zu machen; warum nicht auch diesen Jüngling, dem ein unbestimmter Drang in das Weite den Segen der Nähe verkennen läßt? Warum mit der Zeit ihn nicht auch reif für das erhabene Amt, das seine Freunde für ihn erwählten, wenn er auch heute noch nicht fähig ist, seine heiligende Bedeutung zu fassen? Schon manchen unserer wirkungsvollsten Missionare hat der Drang der Forschung, ja der Abenteuer unter die Heidenwelt getrieben, bevor das Erbarmen mit deren geistiger Armut den Eifer des Apostels in ihm zum Durchbruch brachte.

Wenn aber auch dieser höchste Segen eine Frage der Zukunft bleiben muß, so würde der Gewinn für die Gegenwart wohl in keiner Weise eine Frage sein. Ein winterlicher Aufenthalt auf dem einsamen Eiland, unter den Eindrücken [432] elementarer Allgewalt, im ausschließlichen Umgang mit Menschen, die vertraut sind den herben Entsagungen und Drohnissen des seemännischen Berufs, würde die Entscheidung für oder gegen diesen Beruf in dem Jüngling zur Klarheit bringen, würde den Seinen, wie ihm selbst, zur Wahl eines anderen die Frist gewähren; der zarte Körper würde sich kräftigen, äußere Kenntnisse und innere Erkenntnis würden gefördert, knabenhafte Einbildungen verscheucht werden, der Übermut Grad um Grad sich zu besonnenem Mannesmut abdampfen.«

Als der Kandidat mit diesen Worten seine Jungfernrede schloß, erntete er einen großen Triumph. Der verlorene Sohn hing an seinem Halse, nannte ihn seinen Retter, seinen einzigen Freund; Bruder Martin nannte ihn gar ein famoses Genie, und die beiden Schwestern umschmeichelten ihn unter Lachen und Weinen, ohne daß ihre Herren Ehegemahle darob eifersüchtig wurden. Die unglückliche Mutter aber dankte ihm wie eine zum Tode Verurteilte für die erwirkte Gnadenfrist.

»Ja, er soll mit Ihnen gehen,« schluchzte sie. »Handeln Sie für ihn, als ob er Ihr Bruder wäre.«

Und endlich die weisen Richter, was blieb ihnen übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen und ihren Herrgott im stillen zu preisen, weil ihnen einen Winter lang vor dem bösen Buben Ruhe verschafft worden war? Keiner aber inniger als der alte Familienfreund, der vier Jahre hindurch bei seinen Vormundspflichten weit Unleidlicheres auszustehen gehabt hatte als der junge Leichtfuß bei seinen Mündelpflichten. Die Seemannsprobe unter der geistigen Obhut des wohlberufenen Inselpfarrers war eine Erlösung für den gottesgelehrten alten Herrn. Er stellte daher, einer etwaigen weichmütigen Sinnesänderung vorzubeugen, [433] auch lediglich die Bedingung, daß die Reise sobald als möglich angetreten werde; und als Dezimus sich jede Stunde zu ihr bereit erklärte, gleichviel ob Bruder Steuermann bereits in sein Winterquartier gerückt sei oder nicht – Herr im Hause war ja doch die Steuerfrau –, wurde gleich der heutige Abend zum Antritt der Bußfahrt bestimmt. Diese würde unter persönlicher Führung des treuen Vormunds vonstatten gegangen sein, wenn nicht Fräulein Lydia sich zu seiner Stellvertretung erboten hätte; ein Tausch, gegen welchen von keiner Seite Einwand erhoben wurde und von Seite des Kandidaten Frey am wenigsten.

Die unglückliche Lydia! Sie allein teilte die allgemeine Befriedigung nicht. Wohl drückte auch sie Dezimus die Hand, wie man sie einem nothelfenden Freunde zu drücken pflegt; aber die Purpurblüte war auf ihren Wangen erloschen und auf ihre Seele die Last zurückgewälzt, von welcher sie sich durch ein edles Opfer zu erlösen gehofft hatte. Keiner im Kreise ihrer Gleichgesinnten ahnete diese Last. Der einzige Fremde in diesem Kreise aber verstand und empfand sie wie einen eigensten Schmerz.

Im Pfarrhause feierte der Kandidat, der eine bängliche Schicksalsfrage so befriedigend gelöst hatte, einen zweiten außerordentlichen Triumph; wenn auch nicht gerade als inspiriertes Genie, so doch als ein Held des Glücks. Vater Blümel, der Versöhner, würdigte diese Lösung zwar als den ersten tatsächlichen Beweis, daß der Sohn über den Angelegenheiten im hohen Himmel und an demselben nicht zum Simplex und Tolpatsch in den Nöten des Menschenlebens geworden sei; Mutter Hanna aber, die eines solchen Beweises längst nicht mehr bedurfte, sah in dem bösen Buben bereits den Admiral einer in Zukunft möglichen [434] deutschen Flotte oder doch zum allerwenigsten einen wackeren Schiffskapitän; das jedoch keineswegs um seiner maritimen Begabung willen, sondern lediglich aus dem Grunde, daß die Hand ihres gesegneten Johanniskinds sich in seine Untaten gemischt hatte; und Röschen – ja freilich, das liebe Röschen schmollte und schmälte recht strudelköpfisch, bei Lichte besehen war aber auch dieses Schmollen und Schmälen ein Triumph und ein recht süßer Triumph.

Dieser alte Dezem! Kaum in das Haus, wollte er schon wieder fort, und Röschen hatte sich doch den ganzen langweiligen Sommer hindurch auf die Kandidatenvakanz, und zum ersten Male seit vier Jahren auf eine lustige Weinlese gefreut! Und wenn er noch ganz allein auf seine wüste Insel gegangen wäre! Aber in Gesellschaft eines wunderschönen Fräuleins – denn der dumme Junge zu dritt, der zählte für Null – bei Nacht und Nebel in die weite Welt hinein zu dampfen, schickte sich das? Schickte sich das ganz besonders für einen Kandidaten pro ministerio? Nein, es schickte sich nicht. Und darum wollte Röschen mit. Röschen wollte endlich auch einmal eine Reise machen, das Meer sehen, eine große Stadt und was es etwa sonst noch Hübsches bei Wege zu genießen gab.

Ja, das liebe Röschen wollte mit, absolut mit; und ihren alten Dezem, ei nun, den hatte sie bald genug herum. Fürs Leben gern hätte er sie mitgenommen. So als zehntes Korn, von Rosen und Lilien eingefaßt, oder als Dezemshuhn, von Lerche und Schwan begleitet, was hätte das für einen Einzug in Mutter Stinens Inselhause gegeben!

Der Plan scheiterte aber leider an dem Nein des sonst so nachgiebigen Papa Blümel, der seinen Liebling eine [435] kleine Törin schalt; und als nun auch Leutnant Martin sich die Vorstellung erlaubte, daß eine so schöne Dame wie Fräulein Rose doch eine gar zu gefährliche Eskorte für einen jungen Sträfling wie Bruder Philipp sein würde, und weheleidig hinzusetzte, daß er und seine beiden Schwestern sich so herzlich auf ein zerstreuendes Zusammensein mit ihrer liebenswürdigen Freundin gefreut hätten, was blieb dem lieben Röschen da übrig, als zu lachen und ihrem alten Dezem zu erklären: während er mit dem schönen Fräulein Bußpsalmen singe, werde sie, um sich seiner angemessen zu beschäftigen, es sich angelegen sein lassen, einem betrübten Witwer gründlich Trost zu spenden.

Zu welchem lobenswerten Vorsatz der alte Dezem seinen Segen gab.


Ach, es war durchaus keine Lustreise in des lieben Röschens Sinn, zu welcher die drei jungen Menschen mitten in der Nacht aufbrachen. Eine hastige, stillernste Fahrt durch Gegenden, in welchen, auch wenn die Sonne scheint, die schlummernde Seele nicht erwacht und die bedrückte sich nicht erhebt. In keiner der bedeutenderen Städte wurde geweilt; umgehend lösten Dampf- und Postverbindung sich ab. Mit schwerem Herzen durch Dunkel und Nebel nur immer voran!

Aber nicht Lydia allein, auch Dezimus fühlte sich beklommen. Von seinem Heldenstolze war eine klägliche Neige übriggeblieben. Wie ein Experimentator, ja, wie ein Abenteurer kam er sich vor, wie ein waghalsiger Spieler mit fremdem Glück. Graue Dunstschleier umhüllten das Inselhaus, das er als einen Hafen geschildert hatte; und wenn das steuerlose Boot, das er in diesem Hafen bergen [436] wollte, nun als Wrack an die heimische Küste zurückgespült wurde, wie sollte er vor dem Chor der strengen Richter bestehen, wie vor Lydias ernster Seele?

Nur der, welcher diese Zweifel um das Geratewohl einflößte, empfand von ihnen keine Regung. Nachdem er sich den Abschied von seinem Mütterchen aus dem Sinne geschlagen, schaute er so wohlgemut drein wie seit seinen Kinderjahren nicht mehr; bald genug aber drückte er, da es des Unterhaltenden weder zu sehen noch zu hören gab, seine Guckaugen zu und ließ sich in den Schlummer rütteln, der Glückliche seines Schlags auf hartem oder weichem Polster, bei gutem oder bösem Gewissen nicht lange auf sich warten läßt.

So ohne Zeugen, in stiller Nacht dem jungen Manne gegenüber, dem sie so Bedeutendes zu danken glaubte, bezwang Lydia endlich den in sich gekehrten, mitteilungsscheuen Sinn. Dezimus war ihr seit Jahren ein Fremder geworden, und schwerlich mochte sie ihn jemals in irgendeinem Sinne als ihresgleichen geachtet haben. Nun jedoch, da er in einer entscheidenden Weise in ihr eigenstes Leben eingegriffen hatte, erkannte sie sein Anrecht, ihren Nächsten zugezählt zu werden. Denn nur Vertrauen kann eine Guttat lohnen; und wie es einen Spürsinn gibt für die wahrhaftige Teilnahme, welcher der vernehmbare Ausdruck nicht genügt oder nicht gelingt, so löste sich im Sagen und Verstandenfühlen das Band, das ihre Brust zusammenschnürte, und sie redete, wie sie es seit ihrer großen Schicksalswendung nicht mehr getan hatte, in vollen, freien Herzenstönen. So gestand sie denn auch, was Dezimus von vornherein geahnt hatte, daß der Entschluß, ihren Bruder zu begleiten und sich dauernd aus allen heimischen Verhältnissen zu lösen, nicht bloß als Gewissensakt einen lockenden [437] Zauber auf sie geübt und daß seine Vereitelung ihr einen tiefen Niederschlag bewirkt habe.

»Wie oft,« sagte sie, »ist es doch die nackte Selbstsucht, welche die Aureole eines Opfers umschimmert! Ohne es mir deutlich einzugestehen, sehnte ich mich nach einer veränderten Sphäre, nach einem Anfang gänzlich neuen Lebens. Die Aufgabe, welche ich meiner Familie gegenüber zu erfüllen hatte, wäre überdies mit diesem Neuanfang erfüllt gewesen. Meine Schwestern sind versorgt, die Mutter hat in Martins Hause den ihr gemäßesten Wirkungskreis. Den durch meine Schuld verirrten Bruder glaubte ich in meines Vaters Sinne und törichterweise auch in des Knaben eigenem beweglichen Sinne auf einen guten Weg zu führen: ich durfte einen Platz räumen, auf dem ich mich allezeit als Eindringling gefühlt habe.«

Dezimus erlaubte sich, diese letzte Auffassung als eine unrichtige zu bezeichnen. Sie ließ aber seinen Widerspruch nicht gelten.

»Ich mußte,« sagte sie, »in jener äußersten Bedrängnis es als eine göttliche Fügung nehmen, die mir diese Ausflucht bot. Sie kostete mich mein Selbstgefühl; aber ich hatte keine Wahl. Nach ihrer Mutter Tode steht Sidonie heute hülfloser da als ich, und es ist mir nicht etwa Pflicht, nein, Wohltat, sie an meine Stelle treten zu lassen und das, was sie aus meiner Hand ablehnen zu müssen glaubte, dankbar aus der ihren anzunehmen. Das heißt die Mittel, welche Philipps von neuem zweifelhaft gewordene Existenz erfordert, während ich meinen eignen Weg einschlage.«

Dezimus kannte die kleine Sidi gut genug, um voraus zu wissen, daß sie auch diese in eine zu erweisende Wohltat umgekleidete erwiesene Wohltat noch ablehnen werde. Muß einer denn aber wahrlich nicht ein Johanniskind [438] sein, der auf diesem »am Golde hängenden, nach Golde drängenden« Erdenrund das seltene Schauspiel genießt, zwei gleich bedürftige und keineswegs durch Sympathie verbundene menschliche Wesen sich gegenseitig einen Goldhaufen zuschieben und gegenseitig zurückschieben zu sehen? Eine Schimäre ist das Gold leider Gottes nicht, aber hier wurde es schlechthin zur Schikane.

Während er lächelnd diese Betrachtung anstellte, war Lydia unvermerkt auf die jammervollen Einzelnheiten übergegangen, welche ihr alter Lehrer über die Heimsuchung in seiner Provinz den Freunden hinterbracht hatte. Hier wäre nun der geeignetste Platz für eine, die eine Lebensaufgabe sucht, gewesen; ungeschult, wie sie in der Krankenpflege großen Stils indessen noch war, würde sie für die gegenwärtige Not zu spät gekommen sein. Sobald sie aber zu einem einigermaßen befriedigenden Überblick über ihres Bruders neue Lage gekommen sein werde, erklärte sie sich fest entschlossen, sich zur Diakonissin auszubilden und dauernd ihren Beruf in diesem Amt zu finden. Was hätte denn auch einer Lydia angemessener sein können als solcher Entschluß?

Dennoch war Dezimus auf diese Konsequenz ihres Planes, das Vorrecht an Werben ihrer Cousine abzutreten, nicht gefaßt gewesen, und ein Krampf schnürte plötzlich seine Brust zusammen. Er fand keinen stichhaltigen Einwand, und er hätte keinen finden können. Aber Lydia fühlte ihm an, daß er nach solchem Einwand ringe, und kam ihm mit einem ehrlichen Bekenntnis zuvor:

»Meine natürliche Aufgabe war, einigen wenigen viel zu sein. In eigensinniger Verblendung habe ich diese Aufgabe verfehlt, und ich nehme es als Buße hin, fortan allen Einfluß auf des mir anvertrauten Kindes Schicksal seinen [439] besseren Freunden zu überlassen. Was könnte in solcher Lage nun aber gebotener sein als das Streben, vielen etwas zu werden, und gäbe es für eine Frau, die der Familienpflicht enthoben ist, wohl einen erfüllenderen Beruf als den, welchen wir, ziemlich hochtrabend, Samariterdienst nennen?«

Dezimus hätte wohl einen erfüllenderen Beruf gewußt; aber durfte ein dreiundzwanzigjähriger Kandidat der Gottesgelahrtheit dem allerschönsten Fräulein, das es für ihn gab, unter vier Augen raten: »Ja, einem einzigen alles werden!« Obendrein, da dieses allerschönste Fräulein schon einmal an diesem Alleswerden gescheitert war? – So sagte er denn nur kleinlaut, mit niedergeschlagenen Augen, indem er das Blut in seine Wangen schießen fühlte: »Keinen für eine, der das Ungemeine das Naturgemäße ist.«

»Warum,« rief Lydia mit einem Eifer, ja mit einem Feuer, wie sie vielleicht niemals geredet hatte, »warum soll dem Weibe nicht naturgemäß sein, was es dem Manne doch ist? Oder nennen Sie den Beruf des Arztes auch einen ungemeinen? Es müssen mehr solche allgemeine Aufgaben uns erschlossen werden. Die Erfüllung, die Sie zu meinen scheinen, liegt nicht in unserer Gewalt; wofür wir aber die zulängliche Kraft des Organs in uns erkennen, müssen wir auch das Recht haben, uns auszubilden und das Ausgebildete zu verwerten. Ich bin von meinem Vater für ernste Lebenszwecke erzogen worden. Soll ich die letzten Jahre der Jugendkraft ratlos und tatlos in einer Sinekure verträumen? Darf ich es? Und wenn ich dürfte, ich vermöchte es nicht. Nicht mehr. Seit der Stunde, wo mein harter Wille einen schwachen Knaben an den Rand des Abgrunds trieb; seit ich erkannt habe, daß das, was [440] ich für meine Reife hielt, meine Unreife war, drängt eine unwiderstehliche Gewalt mich aus meiner beengenden Stille heraus. Mir ist, als senke sich ein dichter Schleier, der mir seit Jahren das wahrhaftige Leben verhüllte, und ich sehe keine Hülfe für mich als die Hülfe einer Tat.«

Die Sonne war während dieser Rede aufgestiegen, eine goldigklare Oktobersonne. Philipp erwachte von dem Schein, der ihm plötzlich in die Augen fiel, und Lydia versank wieder in stilles Sinnen. Dezimus wechselte mit dem Jünglinge gleichgültige Bemerkungen über äußere Eindrücke; sein Herz aber war froh bewegt; auch ihm hatte sich der Schleier gesenkt, der ihm sein weißes Fräulein seit Jahren verhüllt hatte.

Nach einer ruhigen Überfahrt langten sie auf der Insel an. Die Brüder waren vor ein paar Tagen heimgekehrt; der timide Amerikaner, um – so hatte es die regierende Steuerfrau dekretiert –, bevor er in das binnenländische Hirtenhaus übersiedelte, in kräftigender Strandluft und Beköstigung sich von der läppischen Seekrankheit gründlich auszuheilen.

Die Freude des brüderlichen Wiedersehens und Sichkennenlernens äußerte sich, je nach der Art, in starken, schwachen oder auch in gar keinen Lauten; aufrichtig aber war das Willkommen, das die unbekannten Begleiter empfing. Diese seefahrenden Insulaner sind Leute, die mit allerlei Volk umzugehen lernen, und das saubere Haus am Strande war auf Gastlichkeit eingerichtet. Während der Badezeit hatte es Herrschaften, die ebenso fein waren wie die gegenwärtigen, wohl schon des öfteren beherbergt. Im Winter jedoch und aus barer Freundschaft noch nie; auch erklärte Mutter Stina, so wunderschöne Menschenbilder wie diese Hartensteinschen noch nie mit Augen gesehen zu [441] haben, nicht einmal gemalt. Der blöde Bruder Friede aber, der, wenn auch etwas abgezehrt, an Leibeslänge seinem Ältesten kaum etwas nachgab, verwendete kaum die Augen von dem lieben prächtigen Junkerchen und folgte ihm auf Schritt und Tritt, wie eine Neufundländer Dogge einem freundlichen Kinde folgt.

Die Bedingungen zu Philipps Beherbergung erledigten sich daher zu allseitiger Zufriedenheit, und daß es der kernhaften Steuerfrau, samt Steuermann, kein Hexenstück deuchte, neben ihren bis jetzt bloß drei persönlichen Buben einen freiherrlichen Wildfang zum Schiffsjungen zu dressieren, verdient schwerlich der Erwähnung.

Tiefer eingeweiht in des Wildfangs Vorgeschichte wurde der Inselpastor, ein Mann so recht von Grund aus, wie er Lydia in ihrer gegenwärtigen Stimmung not tat und für ihr dringendstes Anliegen wie geschaffen. Als Sohn eines Schiffskapitäns mit nautischer Kenntnis vertraut, war es ihm leicht, den Jüngling auf den erwählten Beruf hin zu prüfen; als vormaliger festländischer Gymnasiallehrer und als unverheirateter Mann war es ihm ein wohltuender Wechsel, sich ein paar Tagesstunden dem klassischen Unterricht zu widmen und seine Augen wachsam auf eine junge Seele gerichtet zu halten. Philipp versprach seinem Freunde Dezimus in die Hand, gehorsam und fleißig in seiner Verbannung auszuhalten.

»Und da ich Ihnen die Hand darauf gegeben,« so lautete seine Logik, »halte ich es auch. Lydia hatte ich nie etwas gelobt, warum hätte ich ihr parieren sollen?«

Es verschwand demnach von vornherein das kleinmütige Verzagen. Alles und jedes ließ sich an so, wie der Held des Glücks im entscheidenden Moment es geschaut und geschildert hatte. Er hat sich weder auf seinen Scharfsinn, [442] noch auf seine Rhetorik etwas zugute getan, die Wochen aber, welche er an der Seite seines weißen Fräuleins des frohen Gelingens Zeuge ward, hat er nicht aufgehört, zu den köstlichsten seines Lebens zu zählen, denn es waren ewige Offenbarungen, welche beider Seelen auf der stillen Insel eingegeben wurden.

Sie, wie er, feierte den ersten weiten Ausblick in die Welt; sie, wie er, fühlte zum ersten Male den starken Pulsschlag der Natur: denn sie standen am Meer. Wohl waren es nicht die hesperischen Gestade, zwischen welchen Lydia nach dem Palmentale zu segeln gehofft, nicht des Kreuz des Südens, das Dezimus sehnend sich im tropischen Ozean spiegeln sah. Es war ein kahler Strand, ein nebelgrauer Himmel, eine nordische See. Aber doch die See! Und von allen Natureindrücken wirkt keiner so überwältigend wie der des Meeres, weil es nicht nur den höchsten Sinn, sondern jeglichen Sinn des Leibes und des Geistes gefangennimmt.

Wir sehen sein Lächeln und sein Zürnen wie die einer beseelten Kreatur, wir hören den Rhythmus seiner Sprache, atmen seinen seltsam würzigen Brodem, fühlen die wogende Kühle, mit der es uns umspült. Und wie lockt es die Phantasie in seine Tiefen, wie lockt es den forschenden Gedanken in alle erreichbare Fernen, während es gleich dem unerreichbaren Firmament, das es widerstrahlt, das Ahnen und Mahnen des Unendlichen im heimlichsten Seelengrunde aufstört.

Endlich aber: es ist unser eigen! Welches Gemüt erschütterte nicht das Ringen, unter welchem die schwache Eintagsfliege, Mensch, zum Herrn über den Leviathan sich setzt? sei es, daß sein Kiel die Brandung durchfurcht, sei es, daß er mit Ameisenfleiß seine Scholle zum Schutz gegen [443] Sturm und Woge umwallt. Wie zeugt und hebt es jede Mannestugend und Kraft! Wer darf sagen, daß er das Geheimnis der Heimatliebe spüre so wie der spärliche Menschenrest auf diesen Inselbrocken, die einstmals blühender, fester Boden waren? Hunderttausende, die er genährt, hat die einbrechende Flut verschlungen, und die wenigen, die sie verschonte, hat sie jede Stunde zu verschlingen die Macht. Und doch klammern sie sich an ihn, schützen, bebauen ihn, und aus paradiesischer Üppigkeit lockt es den Seefahrer an seine rauhe, umbrandete Küste wie in einen weichumfangenden Mutterarm, und der sturmgepeitschte Wogenschlag hallt ihm wie ein Wiegenlied.

Und all diese Schauer einer hehren, herben Größe empfanden Lydia und Dezimus zu zweien so, als wären sie allein. O, was waren das für Stunden am Strand, im Boot, in dämmernder »heiliger Frühe«, bei glutdurchströmtem Tagessinken, unter dem nächtlich strahlenden Firmament! Wie weitete sich seine Brust, wie färbten sich ihre lange bleichen Wangen! Diese reine Menschenblüte, die unter rauhem Frühlingssturme ihren Kelch zusammengezogen hatte, sie öffnete ihn zu düftereichen Strömen, und die ernste Freundschaft, die sich in diesen Stunden des Erwachens schloß, die wird wohl standhalten wie am mitternächtigen Horizonte der Stern, der dem Piloten auf hoher See die Richtung gibt.


Freund Kandidat saß wieder im Giebelstübchen des Chaldäerhauses. Da der Seelenvater sich wie zuvor schon der Sternenvater für Zurücklegung auch des Oberlehrerexamens entschieden hatte, war wider Hoffen und halb und halb auch wider Verstehen die Rosenwonne in die Ferne gerückt. Indessen ließ nachts die Beobachtung gewisser [444] Lieblingsphänomene, die am novemberlichen Himmel zu schwärmen pflegen, und ließ am Tage die Rückschau auf phänomenale Meeresoffenbarungen es zu beängstigenden Schauern des Kandidatenfiebers nicht gelangen. Unter sprühenden Weltenfunken und goldenen Erinnerungen, unter Träumen von eitel Frieden und Freude flogen Tage und Wochen dem Glücklichen hin, als jach das Schicksal geschritten kam, das mit ehernem Tritt Bahnen verschüttet und Bahnen bricht.

Die mehrerwähnte böse Seuche hatte sich von ihrem ursprünglichen Herd auch über andere Teile des Vaterlandes, wo sie ein dichtgedrängtes Volk der genügenden Nahrung entbehrend fand, ausgebreitet. Für die Werbener Gegend war man jedoch außer Sorge; unter den erquicklichen Luftströmen ihres Tales und seinen der Mehrzahl nach wohlhäbigen Bewohnern hatte seit Menschengedenken selbst keine Kinderkrankheit epidemisch Fuß gefaßt. Die Cholera war vor Jahren in den nachbarlichen Auenstädten und Dörfern wie ein Würgengel aufgetreten; an der Werbener Flurmark machte sie halt. Im frommen Dank für diese Gnade hatte man dazumal in der Pfarre wie auch in diesem und jenem Bauernhofe, wo die Blümelsche Sinnesart allmählich Widerhall gefunden, für die Heimgesuchten gearbeitet, gesammelt, gespart, das Entbehrliche hingegeben, und also geschah es heuer wieder. Tropfen leider auf einen heißen Stein!

Lydia sandte unter des Kurators Zustimmung den größten Teil der aufgesparten Hälfte ihrer Rente in die bedrängten Gegenden; sie glaubte sich zu diesem Eingriff in ihre eigene Ordnung berechtigt, da binnen kurzem ja das volle Einkommen auf ihre Cousine übergehen werde.

Denn das herzstärkende Zwischenspiel am Meer hatte [445] Lydia in ihrem ernsten Zukunftsplane nur gefestigt; Sidonie war durch Freund Blümel bereits davon benachrichtigt, daß jene unmittelbar nach Philipps Entscheidung über seinen Beruf, also zum Frühling, in die große Diakonissenanstalt am Rhein eintreten werde. Sie lebte zurzeit auf dem Schlosse wieder ganz allein. Die Geschwister waren in ihre Heimstätten, die Mutter in Martins Haus zurückgekehrt.

Pastor Blümel bekämpfte ihr Vorhaben nicht; doch bangte ihm vor dessen Ausführung, weniger um ihretwillen als um seiner selber willen. Lydias Verhältnis zu ihm und seinem Hause war seit der Heimkehr von der Insel ein verändertes. Sie besuchte regelmäßig seine Kirche; von Mutter Hanna wurde sie in ihrer Einsamkeit gleich einer Angehörigen gehegt, und auch Röschen gewöhnte sich an das »In die Höhe blicken« und »Schweigenhören«, wie sie es nannte; der Vater aber liebte sie mehr denn je wie ein eigenes Kind, ja wie ein im Greisenalter erfülltes hehres Traumbild der Seele. In seinem Erinnerungskalender aus jener Zeit steht, offenbar in bezug auf Lydia, die Bemerkung:

»Wie gewisse stark organisierte Körper sich erst völlig entwickeln nach einem Fieber, das die in der Ruhe stauenden Säfte in Umschwung bringt, so gibt es hochgerichtete Seelen, in denen erst durch einen Irrtum, ja durch ein Fehl ein Gleichmaß der Wirkungen hergestellt wird. Hier wie dort ringt die unterdrückte Natur sich aus ihrem Bann.«

Auch mit Dezimus war Lydia in Briefwechsel getreten. Der Austausch der immer zufriedenstellenderen Nachrichten von der Insel gab den Anlaß dafür, wenn auch nicht seinen einzigen Stoff. Da aber neben jenen Nachrichten die Außenwelt [446] ihnen wenig Erfahrungen zutrug, tauschten sie die immer reichlicher strömenden ihres inneren Lebens gegeneinander aus, und Dezimus genoß die volle Seligkeit, in die Seele einer Freundin zu ergießen, »was durch das Paradies der Brust« in seinen Sternennächten gewandelt war. Er hätte schwerlich entscheiden können, welches Kuvert er freudiger erbrach, das von einem ernsten Lydiabriefe oder das von seines Röschens schelmischer Wochenepistel.

Es war am Morgen des letzten Sonntags im Kirchenjahr, welcher dem Gedächtnis der Verstorbenen geweiht ist, als Dezimus vor der erwarteten Familienpost einen Brief von Lydia erhielt; schon ehegestern geschrieben, hatte ein Zufall die Beförderung verzögert; leider verzögert, da er eine zur Eile drängende Kunde enthielt: die Fieberseuche war in Talwerben ausgebrochen.

Einer von den Ärmlingen des Eichsfeldes, welche im Frühling aus ihren Dörfern wandern, um tief in das Land hinein Arbeit zu suchen, hatte in Schlesien größeres Elend gefunden, als er daheim verlassen, und statt Winterbrot den bösen Krankheitsstoff zurückgetragen. Bettelnd schleppte er sich mühselig den weiten Weg entlang, bis er endlich vor der Schenke des Talgutes zusammenbrach und in einer Scheune verschied. Unerfahrenheit in der Behandlung und Bestattung mochte die Schuld getragen haben, daß das Unheil mit der Hast und Vehemenz eines bösen Zaubers sich von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf in der Aue verbreitete. Der zur Leichenschau berufene Gerichtsaktuar, der Küster, ein paar Knechte und Mägde des Gutshofes waren bereits erlegen. Ein panischer Schrecken hatte das Volk gepackt, man scheute sich der dringendsten Handreichungen. Lydia durfte autodidaktisch eine tüchtige Vorschule zu dem erwählten Berufe durchmachen. [447] Auch ärztliche Hülfe tat not, da die aus den Nachbarstädten meistenteils erst gesucht wurde und gebracht werden konnte, wenn Hülfe zu spät kam. Lydia forderte Dezimus daher auf, so rasch als möglich einen jungen Mediziner für den Dienst in ihrer Gegend anzuwerben. Sie bot ihm bis zum Erlöschen der Epidemie freie Station im Schloß und neben seinen ärztlichen Gebühren ein Salär aus ihren Mitteln. Noch fügte sie hinzu, daß Hochwerben bis jetzt verschont geblieben sei, der Vater aber seines Amtes im Filial mit Jünglingseifer warte.

Dezimus war entschlossen, noch heute zur Unterstützung seines Vaters und seiner Freundin nach Hause zu eilen, sobald er nur des Auftrags der letzteren sich entledigt hätte. Die natürliche Wahl fiel auf Freund Kurzen, nicht bloß weil er ein Heimatsinteresse für die Sache hatte, sondern auch weil er keinen eifrigeren und tüchtigeren jungen Mann seines Faches kannte und sein gutes Zutrauen ihm noch kürzlich von dem ersten klinischen Lehrer der Universität bestätigt worden war, als er mit ihm bei seinem alten Chaldäer zusammentraf. Er fand den Freund indessen weder in seinem unbehaglichen Dachgelaß noch in den behaglicheren Lokalen, in welchen er seinen gesunden Appetit, zumal auf »flüssiges Brot«, zu stillen pflegte. Wo hätte er ihn außerdem suchen sollen? Auf Praxis leider nicht; denn seit netto sechs Monaten hatte Doktor Peter Kurze in Blättern und Blättchen, zwanzig Meilen in der Runde, seine ärztlichen Dienste ausgeboten wie – sein eigenes Gleichnis – wie sauer Bier; jedweder rationellen Kur, inklusive Zahnausziehen und Hühneraugenschneiden, würde er sich mit Hochgenuß unterzogen haben: dennoch hatte sich, etwelche akademische Kneipkumpane ausgenommen, die honoris causa behandelt werden mußten, noch[448] kein einziges einer rationellen Kur bedürftiges Individuum in seine ausgespannten Netze verfangen.

Als nach langem, vergeblichen Umherirren Dezimus nach seiner Wohnung zurückging, in der Absicht, seinen Auftrag schriftlich anzubringen, stürmte ihm von dorther der Gesuchte entgegen, indem er schon auf zwanzig Schritt Distanz die große Mär zu verkünden begann, daß heute, an dem jedes medizinische Herz bewegenden Totenfeste – obschon für seine eigene ärztliche Person an jeglichem wissenschaftlichen Verbrechen noch unschuldig wie ein neugeborenes Lamm –, der Entschluß in ihm reif geworden sei, aus der Not eine Tugend zu machen und seine Künste bei den Wasserpolacken an den Mann zu bringen. Er hatte seine akademische Legitimation bereits in der Tasche; morgen in Tagesfrühe wollte er aufbrechen.

Da, in der letzten Stunde stößt er auf den Fortunatus aus der Heimatsaue, der ihm statt der fernen Klientel, die den Bettelsack trägt, in nächster Nähe eine andere mit gefüllten Brotschränken anbietet, dazu freie Station in einem Edelhofe und ein ganz respektables Gehalt!

Wie das Elend einer Menge dem einzelnen ja häufig zum Segen wird, so wird die ansteckende Hungerseuche Doktor Peter Kurzen zu einem Schmaus. Er tut auf offener Straße einen Freudensprung in die Luft, dann einen zweiten dem hünenhaften Glücksboten an den Hals. Ade, Wasserpolackei! Morgen mit dem Tagesgrauen ist der Retter in der Heimat! Er würde es schon heute abend sein, wenn er nicht zuvor seinen Pflasterkasten mit Säftchen und Pülverchen für die erste Hülfe zu füllen hätte; zum Zweck welcher Vorsichtsmaßregel auch noch in der Eile ein kleines freundschaftliches Bargeschäft erledigt werden muß. In Peter Kurzes Augen genoß der Stipendiat [449] und Legatar von Werben das Ansehn eines Millionärs.

Während Dezimus sein Bündel schnürte, wurde ihm ein zweiter Brief gebracht; nicht der erwartete von Rosens, sondern wiederum von Lydias Hand. Er war mit citissimo bezeichnet und enthielt nichts als die Worte: »Kommen Sie ohne Verzug!« Selbst Datum und Unterschrift fehlten.

Das Herz stockte in seiner Brust. Welches Unheil hatte diesen Ruf der Todesangst eingegeben? Er hätte sich Flügel anheften mögen und mußte warten, warten, warten bis zum Abend.

Endlich brauste der Zug heran. Gegen die eine Stunde, welche die Dampffahrt währte, dünkten ihm die früheren sieben Wanderstunden ein Flug. In dunkler Nacht erreichte er die Haltestelle; keuchend legte er den Rest des Weges zurück; die Schritte stockten in dem vom Regen erweichten Boden. Kein Stern leuchtete am Himmel, und im Herzen – ach, verhülle dich nicht auch du, Stern aller Bangenden in dunkler Weltennacht!

Des Eilenden Blicke haften an dem lieben Hause auf der Höhe, aus dessen Fenstern je näher je mehr ein flackernder Lichtschimmer den Nebel durchdringt, so als ob angstzitternde Menschen von Zimmer zu Zimmer irrten. Wer war da oben krank, wer vielleicht – tot?

Als er um die Friedhofsmauer bog, rollte von der Pfarre her ein Fuhrwerk ihm entgegen. Doktor Brands wohlbekannte Chaise. Mit einem Satz war Dezimus am Schlag, das fahle Laternenlicht fiel auf seine qualverzerrten Züge.

»Sie kommen zu spät, armer Freund,« rief der alte Familienarzt ihm zu.

»Wer, wer?« stieß Dezimus hervor.

[450] Die Pferde zogen an, Dezimus, der sich an den Schlag geklammert hatte, wurde zu Boden geschleudert; die Antwort verhallte.

Er raffte sich auf und eilte nach der Pfarre. Die Haustür stand offen, doch mochte sein Schritt gehört worden sein, denn auf dem Treppenabsatz trat Rose ihm entgegen. Die blühende, fröhliche Rose, fahl wie ein Gespenst, mit gläsernen Augen, von Schauern geschüttelt, auf den Wangen eiskalte Tränen und eiskalte Schweißtropfen auf der Stirn. Ja, krank auch sie, aber Gott sei gelobt, noch lebend. Ohne einen Laut sank sie an seine Brust.

»Der Vater?« flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Die Mutter also, seine Mutter!

An den Bruder geschmiegt, von seinem Arm umfangen, trat Rose in das Krankenzimmer. Der Vater saß auf dem Bettrande, die Hände der sterbenden Gattin in den seinen. Ihre Augen waren geschlossen, die Züge friedvoll wie in der ersten Stunde nach vollbrachter Erdenqual. Doch lebte sie noch und liebte auch noch. Denn als sie das Nahen der Kinder spürte, schlug sie den Blick in die Höhe, und ein letztes Lächeln flog über ihr gutes Gesicht.

Sie sanken vor dem Bett auf die Knie. Die Sterbende machte eine unruhige Bewegung, indem sie auf ihren Trauring deutete, richtete dann einen flehenden Blick zu ihrem Konstantin hinüber und senkte mit dem Ausdruck freudiger Erfüllung die Lider, als der Vater die Rechte des Sohnes und die der Tochter ineinander und die halberstarrten Mutterhände auf die Häupter der Verlobten legte.

Und so im Segen tat das fröhlichste Mutterherz seinen [451] letzten Schlag. Eine und die nämliche Minute hatte die Liebenden einander zu eigen gegeben und ihnen die älteste Liebe geraubt. Dezimus fühlte nicht seinen großen Gewinn, er fühlte nur seinen großen Verlust; den ersten von den Schmerzen, die ein Glücklicher trägt bis in das Grab.

[452]

Sein Brautstand

[453] [455]Eine jähe Bewegung unterbrach die heilige Stille, in welcher die Verlobten, die kalten Segenshände der Mutter und die warmen des Vaters auf ihren Häuptern, dem Entatmen lauschten. Rose war ohnmächtig zusammengesunken. Als Dezimus sie in seine Arme nahm, um sie in ihre Kammer zu tragen, bemerkte er Lydia, die still zu Füßen des Sterbebettes gestanden hatte. Sie folgte ihm, um die gebotenen Belebungsmittel anzuwenden; tröstend flüsterte sie ihm zu, daß sie keinen Anfall der herrschenden Krankheit befürchte, da diese unter anderen Symptomen aufzutreten pflege. »Sterben sehen ist schwer – und diese Mutter!« sagte sie.

Dezimus kehrte in das Totenzimmer zurück, als eben der Vater der treuen Gefährtin zum letzten Lebewohl die Hand drückte. Er war so ruhig wie alle Tage. »Ich komme bald, meine Hanna,« sagte er leise, und Dezimus las in seinen erschöpften Zügen, daß diese Zuversicht nicht trügen werde.

»Nimm auch du Abschied,« wendete er sich darauf zu dem Sohn, »du darfst dieses Zimmer nicht wieder betreten.«

Während der Jüngling die toten Lippen und Hände küßte, öffnete der Greis die Fenster und drängte den Widerstrebenden dann aus der Tür, die er verschloß und deren Schlüssel er zu sich steckte.

»Es ist unsere Pflicht,« sprach er, »voranzugehen mit dem Beispiel der strengen Vorsicht, die wir von anderen fordern müssen, selbst wenn sie, wie hier wahrscheinlich, nicht vonnöten wäre.«

Während eines Ganges durch den Garten erzählte er dem Sohne darauf den leidvollen Vorgang, der erst in der vorigen Nacht mit einem Schüttelfrost seinen Anfang genommen und dessen Ende, ohne Schmerzgefühl, schon nach zwölf Stunden eine Lähmung auf die sanfteste Weise vorbereitet [455] hatte. Es war daher glaublich, daß, durch Sorgen und Mühen der letzten Tage beschleunigt, es lediglich der Lauf der Natur war, der sich an der Greisin erfüllt hatte. Wenn es aber auch der Beginn der Epidemie gewesen wäre, so gebührte Gott zweifach Dank für diese rasche Erlösung ohne Qual und Angst, in Klarheit und Freudigkeit bis zum letzten Augenblick. Sie hatte vollbracht! Des Greises Sorge galt der Tochter, die erst vollbringen lernen sollte.

»Sie ist dein geworden, mein Sohn, früher, als ich gedacht, wolle Gott nicht zu früh!« sagte er, »führe sie an fester Hand treu durch das Leben!«

Mit dem Händedruck, der statt des Dankesworts des Vaters Rede erwiderte, betraten sie Rosens blumengeschmücktes Mädchenzimmer. Sie lag auf ihrem Bett in Lydias Armen. Das Leben schien ihr in Übermaß zurückgekehrt; das Gesicht flammte, nach Atem ringend wendete sie sich ruhelos hin und wieder. Plötzlich richtete sie mit starrem Blick den Kopf in die Höhe, und ein Blutstrom entquoll ihrem Munde. So in Todesschmerz begann und in Todesängsten endete Dezimus Freys Verlobungsstunde.

Spät in der Nacht kehrte er mit Doktor Brand, den er zu Hülfe geholt, aus der Stadt zurück. Die Geliebte lag einer Schlafenden gleich, doch mit nur halbgeschlossenen Augen; Glut und Blutung waren gestillt; die Flammen auf den Wangen erloschen. Sie gab auf keine Frage einen Laut, kein Zeichen des Verstehens, sie regte sich nicht, atmete kaum merklich. Der alte Vater war auf einem Stuhl an der Bettseite eingeschlummert. Lydia hatte die eine Hand auf die Stirn der Kranken gelegt, mit der anderen hielt sie deren beide Hände, ineinandergefügt, umspannt. Sie glaubte an das Auflegen der Hände. Man braucht aber [456] nicht so starken Glaubens wie Lydia zu sein, um die wohltuende Wirkung zu spüren, wenn durch innige Berührung eines kraftvollen Menschen gleichsam ein Strom warmen Lebens in einen Entkräfteten übergeht, oder ein kühlender Hauch in das Blut des Fieberglühenden.

Der Doktor fand keine beunruhigenden Symptome. Er kannte Rosen seit ihrer Geburt; ihre Lungen waren heil; der matte Puls deutete nicht auf Entzündung. Das frohlebige Kind war ekel und krankenscheu; die schauervollen Schilderungen, die ihr nicht hatten erspart werden können, die Furcht vor Ansteckung, der Anfall der Mutter, Angst und Schmerz, das erste Totenbild im Leben hatten die Nervengeister überreizt und einen abnormen Blutandrang bewirkt, dessen Ergießung naturgemäß die Erschöpfung folgte. Unbedingte Ruhe, zweckmäßige Kost und einige leichte Tonika würden den erschlafften Lebensgeist bald wieder aufrichten, meinte Doktor Brand.

Er hatte sich noch nicht aus der Pfarre entfernt, als, wie er verheißen, Doktor Kurze sich in dieser einstellte. Wenngleich ein Anfänger, konnte ihm als Verwandten und Freunde des Hauses ein Einblick in den Zustand der Kranken nicht verweigert werden. Und so gewährte – wenn auch als Braut eines anderen, wie leider, natur- und vernunftgemäß, seit Jahren vorauszusehen – Schönröschen den heißersehnten ersten kritischen Fall, über welchen Doktor Peter Kurze ein ärztliches Gutachten abzugeben hatte. Da Doktor Peter Kurze aber mit Leib und Seele zu den Erstlingsjüngern der neuen Schule zählte, die beim Abweichen von typischen Lebenserscheinungen das Pünktchen über dem i zu ergründen trachtete, wollte er von des alten Kollegen seelisch gestörtem Lebensgeist nichts wissen und suchte den Sitz des Übels in Störungen[457] eines leiblichen Organs und einem äußerlichen Motiv. Seine erste Frage war nach Quantität und Qualität des entleerten Bluts, und als er von keiner Seite eine befriedigende Antwort erhielt, da es ununtersucht beseitigt worden war, schüttelte er mit energischer Entrüstung sein ärztliches Haupt. Er machte darauf mit der Neuigkeit des Beklopfens, Behorchens und anderer exakten Untersuchungen, allerdings nur bei den Laien in der Krankenstube, einen bedeutenden Effekt. Lächelte nun der alte Spiritualist über den modernen Hokuspokus, mit welchem kein Hund aus dem Ofen gelockt werde, so lachte der junge Naturalist über die blutspeiende Seele und die vor Olims Zeiten ausgeheckten Arkana, die nur den Apothekerkarren schmieren helfen; nannte der Alte den Jungen – selbstverständlich hinter seinem Rücken – einen in der Wolle gewaschenen Scharlatan, so nannte der Junge den Alten – ebenso selbstverständlich hinter seinem Rücken – einen mürben Schlauch, an dem kein neuer Flicken hafte. Und da mußte es denn um der lieben Rose und derer willen, die für ihr Leben zitterten, als ein Segen betrachtet werden, daß der Antagonismus in Diagnose und Prognose sich nicht auch auf die Behandlungsweise erstreckte. Kühle Temperatur, kuhwarme Milch und Ruhe, anderes als der spiritualistische Äskulap wußte der materialistische auch nicht anzuraten, und mit der Vorschrift: »Keine Jammermienen! lachende Gesichter!« – einer Vorschrift, die doch auch nicht lediglich auf eine Störung deutet, die man tastet, hört und sieht, verließ Peter Kurze des geliebten Röschens Lager, um unter Führung des ungeliebten Schloßfräuleins als Held auf sein erstes Kampffeld vorzudringen.

Rose lag unverändert, ohne merkbares Leiden, ohne Regung und Bedürfnis irgendwelcher Pflege. Der alte [458] Vater wich nicht aus ihrer Nähe; am Abend übernahm Dezimus die Wacht. Der Tag war ihm auch äußerlich ruhelos vergangen: er hatte das Begräbnis anzuordnen, das schon am anderen Nachmittag stattfinden sollte, auch die Trauerbotschaft in die Ferne mitzuteilen. Es war des Vaters ausdrücklicher Wille, und er war überzeugt, darin nach dem seiner Hanna zu handeln, daß keines der Kinder oder Enkel um dieser Feier willen die infizierte Gegend betrete.

»Für die unheilvollen Folgen rechtmäßiger Handlungen gibt es keine Verantwortung,« sagte er und machte sich daher auch nicht die geringsten selbstquälerischen Gedanken, den Ansteckungsstoff vielleicht in seine Familie getragen zu haben. Eine Befriedigung des Gemüts und der Sitte, die niemand Hülfe und vielen Gefahr bringen konnte, rechnete er aber nicht zu jenen obligatorischen Handlungen.

Auch die Kranzbinderin der Gemeinde hatte der Mutter nicht den letzten Schmuck reichen können, und als in der schweren Stunde ein Sonnenblick, den Herbstnebel durchdringend, auf ihr Lager fiel und ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen zauberte, da ahnete sie nicht, daß er das frische Grab ihrer Mutter beschien und daß der wärmste Liebesstrahl aus ihrem Leben gewichen war.

Dem Sarge folgte nur der greise Gatte, gestützt auf den Sohn und hinter beiden Lydia. Die angstzitternden Gemeindeglieder hielten sich in weitem Abstand von der Grube. Keinen der Befallenen hatte der Würgengel ja so hastig abgetan wie die alte Pastorfrau. Doch fehlte es an Tränen, an aufrichtigen Tränen nicht. Hanna Blümel hatte viel früher als ihr Konstantin und fast ohne Ausnahme die Herzen seiner Pfarrkinder zu finden gewußt.

»Vater, ich danke dir für den Segen, den du mir für[459] Zeit und Ewigkeit in diesem Weibe bescheret hast,« sagte Konstantin Blümel mit fester Stimme, sprach dann den Friedensspruch über das Grab und stand, bis dasselbe gefüllt war, in stillem Gebet auf der Stelle, die er sich dicht daneben zur letzten Ruhestatt vorbehalten. Wenige Schritte zur Seite lag der Hügel der armen Hirtenfrau, welche Dezimus das Leben gegeben hatte; aber erst heute war ihm eine Mutter versenkt worden.

Das Opfer im Pfarrhause blieb das einzige der Obergemeinde; um so weiter verbreitete sich die Epidemie in der Aue. Doktor Peter Kurze schwamm wie ein Fischchen in seinem Element; er gönnte sich nur wenige Raststunden im Schloß; diese wenigen aber wußte er zu rühmen. Ein Komfort, wie er unter Frau Ottiliens Walten zur häuslichen Regel geworden, war für Doktor Peter Kurzen ein entdecktes Schlaraffenland, und daß er in der unnahbaren Schwanenkönigin, die er vor wenig Monaten reif für das Narrenhaus erklärt hatte, über einen so praktischen, unermüdlichen Amanuensis zu verfügen haben werde, das hätte Doktor Peter Kurze sich noch viel weniger träumen lassen. Lydia schaltete mit angemaßten Herrenrechten in der Untergemeinde Haus bei Haus, und Haus bei Haus ließ man in der Not den angemaßten Herrendienst sich gefallen. Peter Kurze zog aus dem physiologischen Grundsatz von den angewandten Kräften einen ihm neuen psychologischen Beweis:

»Wie scharmant diese heilige Jungfrau latente Stoffe aus sich herausarbeitet,« sagte er zu seinem Freund, dem Kandidaten.

Lydia dahingegen dachte still bei sich: »Wie die Tüchtigkeit in seinem Beruf doch den gewöhnlichsten Menschen zu adeln vermag!«

[460] So blühten »Ysop und Lilie« friedfertig nebeneinander und wirkten einträchtig Hand in Hand. Bei Peter Kurzen aber datierte seit den Erstlingstagen seiner ärztlichen Praxis die Schwärmerei für eine Sprungfedermatratze und ein weibliches Ideal.

Sooft er von seinen Rundgängen nach dem Schlosse zurückkehrte, sprach er in der Pfarre vor, um nach dem »herzigen Dinge«, dem Röschen, zu sehen, dessen ausschließliche Behandlung er für sein Leben gern in die Hand genommen hätte, da die andauernde Erschlaffung ihn zu beunruhigen begann. Sämtliche innere Organe hatte er nach exaktester Untersuchung – wie sein altmodischer Kollege ohne eine solche – als heil erklären müssen; für das Sprengen etwelcher überfüllter Äderchen machte er dagegen statt heimlich empörter Nervengeister den spirituosen Inhalt eines zur Hälfte entleerten Fläschchens verantwortlich, das von dem alten Kollegen als vorbeugendes Mittel in das Haus gestiftet worden war und von welchem das arme Kind im Glauben, daß viel viel helfe, über Gebühr Gebrauch gemacht haben mochte. »Das Blut, so viel dessen noch vorhanden, ist mit Gift versetzt,« erklärte er. Indessen nur guten Muts! Doktor Peter Kurze ist bei der Hand, und wenn alle Stränge reißen, weiß er ein heroisches Korrektiv, für dessen Wirkung, natur- und vernunftgemäß, gutzusagen ist. Einstweilen gilt es, mit gelinden Reizmitteln den Grad der Inertie auf Apathie oder Anästhesis zu untersuchen und zunächst mit dem unverfänglichsten aller Reize, dem auf die Lachmuskeln, eine Probe zu machen. Wenn freilich der kleine Schelm über einen Heidenspaß nicht mehr lachte, dann stand es bedenklich um das arme Kind, und das heroische Korrektiv mußte ernsthaft in das Auge gefaßt werden.

[461] Auf diese Probe hin betrat Doktor Peter Kurze in der Vesperstunde des Begräbnistages das Krankenzimmer, nachdem er sich außerhalb desselben wegen seines notgedrungenen Fehlens bei der Trauerfeier entschuldigt hatte.

»Ich komme direkt von Ihrem großen Feinde Mehlborn, Papa Blümel, und quasi als dessen Friedensgesandter an Sie,« hob er mit seinen muntersten Trompetentönen an. »Nämlich und so, wie Vater Walbe sagt: Auf Befehl meiner hohen Prinzipalin bin ich in die sagenhafte Bärenhöhle gedrungen, nach deren Erforschung ich schon längst ein naturwissenschaftliches Lüstchen gehegt. Muhme Timpel, die Wirtschaftsdame, hatte sich am Morgen gelegt, wie ich schwarz auf weiß geben kann, indessen nicht unter den Erscheinungen des Hungertyphus, au contraire, im Gegenteil unter denen einer übervölligen Ladung von Wellfleisch und Sauerkraut. Das schmaust und zecht anjetzo im Herrenhause, als stünde man vor dem Jüngsten Tag.«

»Ist der Amtmann denn krank?« fragte Pastor Blümel, indem er den Erzähler in die Nebenstube winkte. Der drastische Erregungsversuch entheiligte ihm seines Kindes Leidensstatt. Zu des Heilkünstlers ärztlichem wie zärtlichem Bedauern hatte er sich auch als total unwirksam erwiesen.

»Krank! nichts weniger,« antwortete der Doktor lachend. »Aber rein aus dem Häuschen, sage ich Ihnen. Der Tod der Tochter mag ihm doch ärger mitgespielt haben, als er sich merken ließ, und die unerlebte Seuchennot macht ihn nun vollends toll und töricht. Gott weiß, in welcher alten Scharteke er einmal von dem schwarzen Tod, will sagen von der Pest, die vor soundso viel Jahrhunderten auch in der Werbenschen Gegend reinen Tisch gemacht haben soll, gelesen hat; Cholerageschichten neueren Datums kommen [462] dazu kurzum, der alte Knabe bildet sich steif und fest ein, das schwarze Gespenst sei wieder da und habe ihm, Johann Mehlborn, zur Strafe für seine Sünden den Morbus in den Leib gejagt. Besagten Morbus läßt er sich nun absolut nicht ausreden, wennschon ihm keine Ader weh tut und er lediglich vor Sterbensangst verfällt. Sein Leichnam ist heil wie der eines bemoosten Hechts. Bis auf die Augen versteht sich. Denn die sind futsch, insofern er es nicht auf eine Operation ankommen läßt. Ich habe ihm den Staarstich gratis angeboten. Was täte es, wenn er mißläng'? Blind ist er sowieso; und wo fände ich eine herrlichere Gelegenheit zu einem ersten Versuch? Aber gegen diesen Mehlwurm ist ein Stier ein Lamm.«

»Welches ist denn nun aber der Auftrag, den er dir an mich gegeben hat?« unterbrach mit merklichem Unwillen Pastor Blümel den Vortrag dieses »aufheiternden« Erlebnisses.

»Daß Sie zu ihm kommen und sein Herz entlasten sollen, Papachen,« antwortete der Doktor, in seinem natur- und vernunftgemäßen Vorhaben keineswegs irritiert. »Seit die Timpel ihm dummerweise den Heimgang der guten Mutter hinterbracht hat, ächzt er, ringt die Hände und flennt wie ein geprügelter Bube. ›Wenn ich nur hinan könnte!‹ stöhnt er ein über das andere Mal; ›aber kann einer sich rühren, der den Morbus im Leibe hat?‹ Ich schlug ihm zur Herzensergießung und eventuellen Abspeisung – in deren Folge bei derartigen Todeskandidaten regelmäßig die Genesung einzutreten pflegt –, item, ich schlug ihm den werten Amtsbruder in Bielitz vor. Aber da kam ich schön an, Papachen! Was weiß so ein grüner Junge – er ist vorige Woche ein Sechziger geworden! – von Werbenschen Zeiten und Mehlbornscher Not? Hat [463] der Bielitzer die Brigitte nur mit Augen gesehen? hat er der Röse und dem Hannes den Sermon gehalten? Nein, sein Werbenscher mußte es sein, sein Blümel mußte es sein. Und wenn der 'runter kam und ihm seine Sünden vergab und ihm den Lebenslauf zu halten gelobte, dann mochte es seinethalben mit dem schwarzen Morbus sein Bewenden haben.«

Konstantin Blümel, der Greis, bedachte sich keinen Augenblick, wenige Stunden, nachdem er sein Weib bestattet hatte, das Krankenbett seines liebsten Kindes zu verlassen und, erschöpft von Gram und Sorge, wie er war, bei anbrechender Nacht in das Tal hinabzusteigen, um der Einbildung eines alten Toren genugzutun, des einzigen Menschen, der ihm im Leben feind geworden war. Der Sohn mochte warnen, soviel er wollte, Freund Kurze mochte sich ob seiner übel angebrachten Aufmunterung zehnmal einen Esel schimpfen – wer aber hätte natur- und vernunftgemäß einem Siebziger auch noch solchen Hitzkopf zutrauen können? – Der Pastor hängte sein Chormäntelchen um und schritt voran.

Indessen schon unter der Tür knickte er zusammen; die jungen Männer mußten ihn zu seinem stillen Kinde zurückführen.

»Geh du an meiner Statt,« sagte er zu Dezimus; und als dieser zögerte, Vater und Braut, beide seiner Pflege bedürftig, um eines eingebildeten Kranken und auch seines einzigen Feindes willen zu verlassen, rief der Alte, als ginge es, wie Anno 13, fort von Weib und Kind in den Kampf: »Tapfer voran, mein Sohn! Recht trauern heißt sich selbst überwinden.«

So machte der Kandidat sich denn auf den Weg zur ersten Probe in seinem seelsorgerischen Amt. Freund Kurze [464] versprach, während seiner Abwesenheit in der Pfarre Wacht zu halten.

Dezimus hatte seit seiner großen Erfahrung noch keine Viertelstunde gehabt, in welcher seine Tränen unbeobachtet fließen durften; nun genoß er diese Wohltat auf dem abendlichen Gange. Im Kahn traf er mit Lydia zusammen, die in das Tal ging, die Nacht bei einem schwerkranken Kinde zu durchwachen. Sie reichten sich schweigend die Hände und gingen dann schweigend nebeneinander hin. In Freude oder Leid, mit Lydia fühlte Dezimus sich niemals zu zweien.

Auf dem Talgute sah es wüst und öde aus. Dienstboten zur persönlichen Abwartung hatte der Amtmann niemals gehalten; die alte Ausgeberin lag krank im Oberstock; Knechte und Mägde taten sich gütlich auf Schlenderwegen; keiner kümmerte sich um den blinden Greis. Sie machten sich lustig über ihn und gönnten ihm die Qual, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, da der liebe Herrgott nun einmal mit so unverdienter Barmherzigkeit seine Geißel an dem erbarmungslosen Geizkragen und Leuteschinder vorübergehen ließ.

Der alte Mann saß mutterseelenallein in seiner Bärenhöhle; im Ofen qualmte ein halberloschenes Torffeuer, der Docht der zinnernen Öllampe blakte; schwärzliche Dünste von Ruß und Rauch zogen gleich Wolken durch die wochenlang nicht gelüftete Stube. Auf dem vielleicht ebenso lange nicht abgestäubten Tische standen eine Kanne kalten Kamillentees und ein Napf gleichfalls kalter Roggensuppe; beides noch gestrige Krankentraktamente Muhme Timpels. Daneben lag das Rezept, das Doktor Kurze verschrieben und für das sich noch kein Bote gefunden hatte. Es mochte wohl von dem Kaliber dessen der Muhme Timpel sein, über [465] welches Doktor Kurze vorhin geäußert hatte: »Wäre sie eine Dame gewesen, würde ich gesagt haben: ›Reinen Born getrunken!‹ da sie eine alte Großmagd war, verschrieb ich den Born mit Sirup braun gefärbt.«

Dezimus hatte seit seinen Knabenjahren den Amtmann nicht in der Nähe gesehen. Hätte er nicht gewußt, daß er keinem anderen als ihm gegenüberstehe, er würde den behäbigen Mann nicht wiedererkannt haben in der schier unheimlichen Gestalt mit dem verfallenen Leib, dem eisengrauen, struppigen Haar und Bart, der weißen Nebeldecke über den eingesunkenen, schwarzen Augen. Das ist der Mensch!

Der Kandidat hatte von seiner Adoptivfamilie angenommen, das sachsenhöfliche »schön« vor dem »guten Morgen« oder »guten Abend« fortzulassen; als der Alte daher einen ungewohnten Tritt und die kurze »preußische« Begrüßung hörte, kreischte er vor Freude laut auf, und dann schluchzte er vor Rührung wie ein Kind:

»Sie kommen, Herr Pastor! Ach, Sie guter Herr Pastor, Sie armer Herr Pastor! Weiß der Herr, ich habe nicht zum Begängnis 'nauf gekonnt! Sie sehens ja, kann ich mich rühren? Und was für eine schöne Predigt werden Sie ihr gehalten haben! Und nun sind sie alle beieinander, die Frau Pastorin und meine Brigitte und meine Röse und mein Hannes, alle beieinander, und ich, ich habe den Tod im Leibe und muß auch fort. Herr Pastor, Herr Pastor, glauben Sie, daß ich, wenn ich fort bin, zu den Meinigen kommen werde?«

»Ich glaube, daß wir im jenseitigen Leben mit denen wiedervereinigt werden, die wir hienieden treuliebend im Herzen getragen haben,« versetzte Dezimus, durch seine Erinnerungen bewegt. »Im übrigen ist es nicht Pastor [466] Blümel, der vor Ihnen steht, Herr Amtmann. Da er selbst für den Weg sich körperlich zu erschöpft fühlte, sendete er mich, um ihm Ihre Wünsche zu hinterbringen. Ich bin Dezimus Frey.«

»Dezimus Frey!« schrie der alte Mann auf und fuhr von seinem Stuhl in die Höhe, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Die Schwäche ließ ihn jedoch alsobald zurücksinken, und so saß er eine lange Weile in sich gekehrt und nickte und murmelte vor sich hin, indem er aufwachende Erinnerungen und Vorstellungen, wie sonstmals die Wagnisse und Treffer einer Spekulation, an den Fingern abzählte. »Dezimus Frey, – der Hirtendezem, – dem ich den Inspektor gelobt habe, – der Königspate, – den, den ich um ein Haar massakriert, – der, der kommt gerade alleweile, wo ich den Tod im Leibe habe. – Gottes Finger! Gottes Finger! – Röse, meine Röse! – Herrgott, ich schwerer Sünder! – Und er ist am Ende schon ordentlicher Pastor droben – –«

»Noch nicht, Herr Amtmann,« unterbrach ihn Dezimus. »Und, so Gott will, noch lange Zeit nicht.«

»Aber doch Pastors Substitarius, gelt?«

»Auch dazu bedürfte ich erst noch der Ordination. Ich bin erst Kandidat und nur nach Werben gekommen, um meinem Pflegevater bei den jetzt so schweren Obliegenheiten seines Amtes, soweit ich dazu berechtigt bin, beizustehen.«

»Aber das ist ja Jacke wie Hose! Substitarius oder Kandidat! Pastors Abgesandter, das ist die Sache! Und er kommt aus gutem Willen herunter und fürchtet sich nicht vor dem Gift in meinem Leib. Und abspeisen wird er mich, und mir den Lebenslauf halten wird er. Und ich habe ihn windelweich gebläut, und ich hätte ihn totgeschlagen in meiner Wut. Aber ich will alles wieder gleichmachen, [467] alles wieder gut; verlassen Sie sich auf mich, verehrlicher Herr Kandidat.«

»Nennen Sie mich doch du und Dezimus, wie sonst, Herr Amtmann,« sagte Dezimus lächelnd, worauf der Alte jedoch mit Eifer entgegnete:

»Beileibe nicht! Beileibe nicht ›höre‹ sagen zu einem, der einem zum geistlichen Troste abgesandt ist und einem die letzte Ehre erweisen darf. Nur wenns mir einmal so unversehens herausfährt, da nehmen Sie mirs nicht für ungut um der alten Freundschaft willen, verehrlicher Herr Kandidat.«

Wieder saß er eine lange Weile in Gedanken versunken, wiegte den Kopf und zählte an den Fingern. Dann aber schlug er jählings mit beiden Fäusten auf den Tisch, daß Kanne und Napf aneinanderklirrten, und rief mit einer Stimme, die an den alten Kraftmenschen Mehlborn erinnerte:

»Ja, so stimmts; so solls sein. So und nicht anders; so wahr ich Johann Mehlborn heiße! Alles soll dir zukommen, alles sollst du haben, Kandidat, alles! Denn warum? Wen habe ich außerdem? Und was wird, wenn ich fort bin, aus dem lieben Gut? Und du hasts um mich verdient. Denn warum? Was gehe ich dich an? Habe ich wie ein Pate an dir gehandelt oder nur wie Königs Prokurist? Wie ein Sakermenter habe ich an dir gehandelt, und du handelst an mir wie ein Christenmensch. Und du bist auch der Mann dazu, Kandidat. Was für ein hübscher Kerl du geworden bist! Komm doch einmal recht dicht an mich heran; mein Gesicht ist bei Abend ein bißchen blöde geworden. Aber das hat nichts auf sich. Was ich sehen will, sehe ich doch. Und schneiden lasse ich mich nicht. Partoutement nicht. Aber eine Brille will ich mir anschaffen, [468] wenn ich wieder gesund geworden bin. Eine grüne, wie die von Beyfußen. Grün stärkt.«

Der Kandidat mußte ganz nahe an seinen Stuhl treten, mußte sich bücken, drehen, sich betasten, bestreichen, der Länge und Breite nach mit den Fingerknöcheln ausmessen lassen, genau wie eine Kreatur, die vom Roßkamm erhandelt wird.

»Ja, weiß Gott, ein strammer Bursche bist du geworden,« wiederholte der Alte nach der Untersuchung. »Einen Kopf höher wie mein seliger Hannes und noch einmal so breit. Und schon einen Bart, und Haare so weich wie ein Seidenhase. Wie die Haare, so's Gemüt, stehts geschrieben. Und kein Finger tut dir weh, gelt? Hundert Jahre kannst du werden und was vor dich bringen in deinem Leben. Denn warum? Ein Rechenmeister bist du gewesen, wie du noch im Kittel liefst, und wie mans so nennt, einen Turkel hast du gehabt vom Mutterleibe an. Und siehst du, Kandidat, Glück haben ist im Menschenleben Numero eins und Grütze im Oberstübchen Numero zwei. Und wenn dein Vater auch als ein Saufaus bis zum Schafhirten heruntergekommen ist, ein richtiges Werbener Kind bist du doch und heißt anjetzo Herr Kandidat und dürftest einen abspeisen, und wenns ein König wäre; und wenn einer keine eigenen Angehörigen hat, da ist einem der Pate doch immer noch der nächste. Denn siehst du, Kandidat, meine Brigitte, die ist dir im Seebade ertrunken. Hätte sie ihre Schuldigkeit an mir getan, wäre sie bei mir geblieben, sie lebte heute noch und kriegte nun alles. Für wen habe ich mich geschunden und geplackt? Was habe ich nicht alles an sie gewendet: erst in der Benehmichte und dann bei der Wirtschaft mit dem Windhund von Baron! Hätte sie mir gefolgt, – aber Strafe muß sein, so stehts geschrieben, [469] und darum hat sie in ihren jungen Jahren daran glauben müssen. Und höre, Kandidat, der zweite Mann, den sie genommen hat, der ist dir noch zehnmal ärger als der erste. Denn warum? Der erste, das war doch bloß ein Schwerenöter, dahingegen der zweite, – na, es wird dir nicht verborgen geblieben sein auf deiner hohen Schule, – der zweite, das ist ein Freimaurer, so einer von der Zunft, die den Herrgott im Himmel absetzen will; und meine Brigitte, sagen die Leute, hat ihm mit ihrer Feder bei dem Geschäfte geholfen. Und nun stelle dir einmal die Wirtschaft hienieden vor, Kandidat, wenn den beiden und ihren Helfershelfern ihr Vorhaben gelungen wäre: keinen Schöpfer im Himmel, keinen Vater, keinen Richter und zu guter Letzt keinen Erbarmer! Der Erdenmensch ein Wurm, der auffrißt, was er findet, und am Ende selber von den Würmern gefressen wird!«

Der alte Mann machte eine Pause; er faltete die Hände, vielleicht betete er zu dem Erbarmer für seine Brigitte, die an die Würmer geglaubt, und die nun die Würmer nagten. Der Kandidat machte einen schwachen Versuch, ihn über die freimaurerische Wirksamkeit Frau Brigittens und ihres zweiten Gatten tröstlich aufzuklären, da er heute aber durchaus nicht in lehrhafter Stimmung war, lenkte er des alten Mannes Gedanken auf seine Enkelkinder, die jener völlig aus dem Gedächtnis verloren zu haben schien, schlug jedoch mit den bloßen Namen wie mit einem Stock in einen Wespenschwarm. Der alte Mehlborn, wie er vor zwanzig Jahren leibte und lebte, war jählings wieder aufgewacht.

»Die, die!« schrie er, die Hände zu drohenden Fäusten geballt, »die sind erst recht von der giftigen Couleur! Für die ist das vierte Gebot nun vollends ein Kinderspott. Meine Brigitte, die hat mir zum wenigsten doch alle [470] Monate einen Schreibebrief geschickt. Gelesen habe ich sie seit ihrer zweiten Heirat nicht mehr, aber aufgehoben habe ich sie alle, eine ganze Kiste voll, Kandidat. Aber die, die Brut! Fragt eines nur nach mir in meiner schweren Not? Da lassen sie mich blind werden und sterben und verderben. Und sie, juchhei, oben hinaus! Und wenn ich tot bin, da kommen sie und sacken ein. Aber prosit die Mahlzeit! Nichts sollen sie haben, das blanke Nachsehen sollen sie haben; du sollst alles haben, Kandidat. Grün und gelb sollen sie sich ärgern, bersten vor Bosheit sollen sie, Kandidat!«

Der Kandidat ließ geduldig den aufgebrachten Großvater seinen Ingrimm auspoltern, setzte sich und dachte an seine liebe stille Mutter im Grabe und sein liebes stilles Röschen auf dem Krankenbett. So viel von der menschlichen Naturgeschichte verstand allenfalls auch er, um zu wissen, daß ein deutscher Bauer, solange er noch einen Blutserben hat, sein Hab und Gut nicht einem Fremden gönnt, und wenn der Fremde sein bester Freund und der Blutserbe sein Erzfeind wäre. Der schwarze Tod und die Patenerbfolge erledigten sich Hand in Hand. Ohne Widerrede rückte er daher auch, wie der Alte es ihm hieß, eine schwere Eisentruhe unter seinem Stuhle hervor, setzte sie vor ihn auf den Tisch, öffnete sie und reichte ihm das Kontobuch, das obenauf lag. Des Blinden zitternde Finger blätterten darin, während er mit einem mißtrauischen Schielen sagte:

»Bei Heller und Pfennig weiß ich, was drinne steht, und was im Kasten drinne liegt, bei Heller und Pfennig weiß ichs auch. Nur über das Mußteil bin ich nicht ganz helle. Denn siehst du, Kandidat, das Mußteil kann ich ihnen nicht entziehen, so stehts einmal geschrieben im Gesetz. Aber [471] keine hohle Nuß kriegen sie über das Muß; das übrige kriegst du, alles du, Kandidat. Und wenn wirs miteinander ausgerechnet haben, dann lasse ich anspannen, und du fährst heute noch in die Stadt und holst die Gerichte. Aber nicht den alten Hecht. Ich hätte es für die Langeweile bei ihm, denn er ist mein Justiz. Ich wende es aber dran: du holst das richtige Amt. Denn siehst du, Kandidat, der Hecht, der ist ein Fuchs. Der hat mir die Suppe mit der alten Exzellenz eingebrockt, und du, armer Kerl, hast sie austütschen müssen. Wahrlichen Gott! ich hätte dich totgeschlagen, so war ich in der Wut. Aber nun kriegst du dafür auch deinen Lohn, und wenn die Sonne aufgeht, ist alles baumfest gemacht, und der dickschnäuzige Absalon und seine bucklige Schwester sollen daran glauben lernen, einen Muttervater wie Johann Mehlborn über die Achsel anzugucken.«

»Sie irren, Herr Amtmann,« wendete Dezimus ein. »Ihre Enkelin ist eine vortreffliche Dame, sehr gescheut und gar nicht stolz. Sie wird ohne Säumen zu Ihrer Pflege herbeieilen, sobald ich ihr schreibe, daß Sie nach ihr verlangen.«

»Ich verlange aber nicht nach ihr, dummer Junge,« fuhr der Alte auf, »und das Schreiben sollst du unterwegs lassen! Das Muß sollst du mir ausrechnen, und in die Stadt sollst du fahren und mir die Gerichte holen.«

»Ich verstehe mich auf derartige Berechnungen nicht, Herr Amtmann,« versetzte Dezimus, »und für einen Stadtweg habe ich heute abend keine Zeit. Ich muß nach Hause eilen, da Vater und Schwester krank liegen.«

Der alte Mehlborn zuckte bei den letzten Worten zusammen, als sähe er ein Gespenst. Hatte eben noch der Bär gebrummt, nun krümmte sich der Wurm.

[472] »Die auch! die auch!« ächzte er. »Das Rosenpatchen auch! Großer Gott, in deine Hände! die auch den schwarzen Tod!«

»Wir fürchten so Schlimmes nicht, Herr Amtmann. Nur die starke Erschütterung – –«

»Aber sie liegt doch krank, sie kann doch sterben, und sie wird auch sterben, schon mir zum Schure wird sie sterben und vor mir hinaufgehen und mich droben anklagen bei meiner Röse – und – und – und das wars ja eben, derhalben ich den Herrn Pastor zu mir herunter genötigt habe, und was Sie nun als sein Abgesandter anhören sollen, verehrlicher Herr Kandidat, daß Sie, wenn Sie mir den Lebenslauf halten, mich nicht vor der lieben Menschheit blamieren.«

So hörte denn Pate Kandidat als ehrwürdiger Beichtvater das Bekenntnis an, das halb mit Reue und halb mit Selbstbeschönigung sich der alten Seele in ihrer vermeintlichen Todesnot entrang. Habsucht, Geiz, Hartherzigkeit im allgemeinen war es nicht, was ihn behelligte, und unerwartet Besonderes erfuhr der Sohn Mutter Hannas auch nicht. Der Mann, der für einen Millionär geschätzt wurde, war, um zirka hundert Taler willen, seiner treuesten Freunde Feind geworden, und ohne daß er es sich eingestand, sein eigener zumeist, denn mit dem Respekt vor sich selbst war es seitdem vorbei, mit dem vor allen andern Leuten aber auch; denn was ich denk und tu, das trau ich anderen zu.

Er hatte die Patenbüchse aus der Hand seiner sterbenden Röse genommen, mit dem Gelöbnis, sie der Frau Pastorin zu dem bewußten Zwecke auszuhändigen, und diese Aushändigung nun, »die hatte er in der Rage vergessen.« Er hätte sie freilich auch gar nicht nötig gehabt; denn was in [473] der Wirtschaft erübrigt wird, gehört dem Ehemann und nicht der Frau; so steht es geschrieben im Gesetz; und schwarz auf weiß war auch nichts über die Sache dagewesen. Wenn einer aber einen in den letzten Zügen liegen sieht, verspricht er manchmal etwas, was ihn nach der Zeit wurmt. Kurz und gut: der Amtmann hatte die Patentaler – beileibe nicht etwa unterschlagen – nur auf Hypothek gegeben, jetzt aber wollte er sie ausliefern, obendrein Zins auf Zins; aber freilich nur dritthalb Prozent, denn mehr komme bei der Ökonomie nicht heraus, und tue er ein übriges mit einem Dokument über hundertfünfzig Taler. Das aber sollte der Kandidat noch diese Nacht seiner Schwester aushändigen, ehe sie etwa auch noch daran glauben müsse und Johann Mehlborn am Ende als ein schwerer Sünder von seiner Rosine vor Gottes Thron empfangen werde.

Er kramte während dieser Beichte unter den Papieren in seinem Kasten und tastete trotz Blindheit und schwarzen Todes geschickt genug ein Hypothekendokument hervor, von welchem der Kandidat nicht mit Unrecht vermutete, daß es auf schwachen Füßen stehe, da Johann Mehlborn sich sonst wohl kaum so leichten Herzens von ihm getrennt haben würde. Er, der Kandidat, machte zwar den Einwand, daß er die Sache erst mit seinem Vater bereden und morgen dessen Entscheidung bringen werde, da er aber sah, wie so gar eilig der Alte es hatte, zwei Fliegen mit einem Schlage zu klappen, indem er gleichzeitig sein Gewissen entlastete und sich eines verdrießlichen Wertzeichens begab, steckte er das Schriftstück ein.

Mit merklich erleichtertem Herzen sagte der reuige Sünder darauf:

»Und wie ichs mit dir vorgehabt, Kandidat, dabei[474] bleibts. Denn warum? wer solls kriegen? Und weißt du, was meine Röse in ihrem letzten Stündlein für mich gesagt hat? ›Johann,‹ hat sie gesagt, ›sooft du der armen Hirtenwaise etwas zugute tust, wird es der liebe Heiland dir an Leib und Seele gesegnen.‹ Und was einer in seinem letzten Stündlein prophezeit, das kommt von oben. Der Herr wird mirs an meinem Leiblichen gesegnen. Und darum sollst du alles haben, Kandidat, alles bis auf das Muß.«

Der Kandidat riet ihm, die Angelegenheit zuvörderst zu beschlafen, dann ruhig zu überlegen, bis eines seiner Enkelkinder, mit dem er sie besprechen könne, in seiner Nähe sei. »Nur eine Woche Geduld, Herr Amtmann, und ich bürge Ihnen dafür, daß wenigstens Fräulein Sidonie Ihnen zur Seite steht.«

»Wenn sie die Erbschaft wittert, ja warum denn nicht!« versetzte der Alte mit höhnischem Gelächter. »Was ein Rabe ist, fliegt nach Gold.«

»Ich wiederhole Ihnen, Sie verkennen Ihre Enkelin, Herr Amtmann. Fräulein Sidonie ist weder hoffärtig noch verschwenderisch. Sie hat diese Jahre her Klavierstunden gegeben, um ihrer seligen Mutter die Haushaltung zu erleichtern.«

Das war eine glückliche Wendung. Sie machte dem reichen Mann, der sein einziges Kind hatte darben lassen, sichtbar einen bedeutenden Eindruck. »Stunden? Stunden für Geld?« fragte er.

»Für Geld, Herr Amtmann.«

»Aber was kann bei dem Fingerieren denn herauskommen, Kandidat?«

»Fräulein Sidonie ist sehr geschickt in ihrer Kunst; sie schlug ihren jährlichen Erwerb auf tausend Taler an.«

[475] »Wa–wa–was, tausend, tausend Taler?«

»Sie wird aber keinen Augenblick anstehen, diesen einträglichen Erwerb aufzugeben, um dem Vater ihrer seligen Mutter – –«

»Na, die Spielstunden, die müssen ihr freilich angerechnet werden im Testament,« unterbrach ihn der Alte. »Für dich bleibt dann immer noch genug und satt, Kandidat. Aber mehr, als das Muß und die Stunden zu Kapital gemacht, nicht. Denn siehst du, Kandidat, die Sache hat einen Haken. Das Mädchen ist schief. Und wenn einer schief ist und wenn einer schielt, da traue ich ihm nicht quer über den Weg. Und Männer kriegt sie, weil sie ausgewachsen ist, wohl zehne, aber Nachkommenschaft keine. Und wenn an Nachkommenschaft nicht zu denken ist, was wird da aus dem schönen Anwesen, das Johann Mehlborn sechzig Jahre lang sich zusammengerackert? Grund und Boden wird um ein Dudeldei verschleudert, alles zu bar gemacht für den Bruder Luft und von dem Bruder Luft außer Landes verjuchheit. Nein und ein Punktum dahinter: Nein! Die Wirtschaft muß beieinanderbleiben; der Bruder Luft soll auch auf Umwegen nichts erlangen, keinen Pfifferling über das blanke Muß!«

Dezimus wendete ein, daß Fräulein Sidonie besser als er selbst imstande sein werde, des Großvaters ungünstige Meinung über seinen Enkelsohn zu zerstreuen, und daß sie für ihre eigene Person gar wohl an die Gründung einer Familie denken dürfe, da ihr körperliches Gebrechen durchaus nicht so erheblich sei, als jener es sich in den Jahren der Entfernung vorgestellt. Fräulein Sidonie wäre eine gesunde und sehr hübsche Dame. Das aber waren gute Worte und keineswegs in den Wind geredet. Der Großvater dachte schon gar nicht mehr an das Patenerbe, und [476] wenn er es auch nicht eingestand, brannte er vor Verlangen, sein Tochterkind zur Stelle zu haben. Als Dezimus erklärte, daß er sie morgenden Tages nach Werben einladen werde, da hatte der alte Mann nur noch das einzige Bedenken, daß das Schweizerland erschrecklich weit gelegen sei und der schwarze Tod raschen Prozeß mit einem Menschen mache. Der Kandidat suchte ihn auch darüber zu beruhigen.

»Doktor Kurze versichert ja aber, daß Sie von der bösen Krankheit gar nicht befallen seien, Herr Amtmann, und Sie sehen auch wahrlich nicht danach aus, als ob Sie dieselbe zu befürchten hätten.«

»Nicht, meinst du wirklich nicht, Kandidat? Aber siehst du, meine grausamen Schmerzen!«

»Wo tut es Ihnen denn weh, Herr Amtmann?«

»Hier und da, ach du meine Güte, überall. Das Herzgespanne! das Kreuze – –«

»Aber zum Aushalten ist es doch?«

»Je nun, zum Aushalten wäre es allenfalls. Aber die Beine, wie die steif sind und eiskalt. Und höre nur, Kandidat, wie's mir im Bauche knurrt.«

»Sie werden Hunger haben, Herr Amtmann.«

»Na freilich, Mordhunger! Die Krankheit heißt ja eben darum die Hungerseuche. Denn wenn einer, der sie hat, was zu sich nimmt, drückt es ihm auf der Stelle das Herz ab. Seit zwei Tagen ist kein Bissen über meine Lippen gekommen. Nur wie ichs gar nicht mehr aushalten konnte, hat mir die Timpeln ein bißchen von ihrem Tee und von ihrem Mehlmus geschickt. Ich konnte aber nicht einen Löffel voll hinunterbringen, so wendete sich mir das Eingeweide um. Und siehst du denn nicht, Kandidat, meine Hände sind schon ganz schwarz.«

»Der Lampenschatten fällt darauf, Herr Amtmann. Ei, [477] nicht doch, Sie haben sich beim Torfanlegen geschwärzt. Waschen Sie sich, und Sie werden sehen, daß sie rot wie alle Tage sind.«

»Waschen, ja waschen!« entgegnete der Alte in ärgerlich weinerlichem Tone. »Wo soll ich denn Wasser hernehmen und Seife und eine Quehle? Kann ich denn aufstehen? Habe ich denn einen, der nach mir fragt? Ja, wenn meine Röse noch lebte oder mein Sidonchen wäre schon da. Siehst du, Kandidat, wenn einer ein Lump ist, da springen die Leute ihm bei und greifen ihm unter die Arme. Wenn einer aber in Schweiß und Plack etwas vor sich gebracht hat, da beschreien sie ihn, wünschen ihm die schwere Not an den Hals, und ist sie da, lachen sich die Neidhammel in die Faust. Du wirsts schon auch einmal erleben, Kandidat, wenn du erst oben in deiner schönen Pfarre sitzest.«

Der geistliche Berater und Beichtiger ging in die Küche, holte warmes Wasser und Waschzeug und reinigte dem reuigen Sünder das Gesicht, das nicht weniger wie die Hände von Ruß und Kohle geschwärzt war, dann aber ließ er den Sünder sich die Hände so lange seifen und reiben, bis wieder eine menschliche Farbe zum Vorschein kam. Von Gram und Sorge bedrückt, wie er war, und wahrlich nicht aufgerichtet durch die kindische Zerknirschung und selbstsüchtige Großmut einer Greisenseele, die sich am Grabesrande wähnt, muteten diese Handreichungen ihn nahezu erheiternd an. Denn wenn eine rasche, mutige Tat, für welche einem Menschen – und auch nur dem glücklichsten – vielleicht ein- oder zweimal im Leben die Herausforderung geboten wird, ihn aus seiner Bedrängnis über sich selbst erhebt, so sind es die gemeinen Erweisungen des Tageslaufs, welche das gestörte Gleichgewicht mählich wieder in die Richte bringen. Und ist [478] denn dieses Gleichgewicht am Ende nicht unser wahrhaftes Glück?

Die Hände waren rein; auch das Zimmer notdürftig gelüftet und das qualmende Ofenfeuer zum Lodern gebracht. Der Kandidat riet dem armen Hungerleider nunmehr auf seine seelsorgerische Verantwortung hin, sich etwas Leibliches zugute zu tun, erbat sich die Schlüssel zu Keller und Speisekammer, die der Hausherr Muhme Timpeln bei ihrer Erkrankung abgenommen, holte Brot und einen Schinken, entdeckte glücklich auch noch eine Flasche alten Rheinweins, die während der stolzen Magnatenzeiten in das Haus gestiftet und in einem Kellerwinkel vergessen worden sein mochte. Und der arme Todeskandidat schlürfte den Labetrunk wie ein lechzender Storch und verschlang die köstlichen Mundbissen wie ein ausgehungerter Wolf.

»Ach, wie das gut tut!« rief er ein über das andere Mal sich auf den Magen klopfend. »Nun erzeige mir aber auch noch den Gefallen, Kandidat, und stelle die Neigen hier unter meinen Stuhl, daß keiner dazu kann und ich sie gleich bei der Hand habe. Oder möchtest du etwa auch ein Häppchen?«

Dezimus dankte.

»Aber doch einen Schluck?«

»Auf Ihr Wohl, Herr Amtmann!« sagte Dezimus, indem er ihm das Glas aus der Hand nahm. Der Alte bemerkte schmunzelnd, daß es sich nicht leerer anfühlte, als es ihm wieder zurückgereicht wurde.

Noch mußte der Kandidat die Eisenlade wieder sorgfältig schließen und verbergen, dann entkleidete er den taumelnden alten Mann, führte ihn an sein Bett, und nachdem er ihm die dicke Federdecke bis an die Ohren gezogen, dies kaum geschehen auch schon die ersten Laute eines [479] Mehlbornschen Schlummers vernommen hatte, schüttelte er den Staub von seinen Füßen und eilte freiaufatmend seinem stillen Hause zu. Als er sich der Fähre näherte, hörte er ein Posthorn schmettern; ein Wagen bog von der Stadtseite her in die Dorfgasse ein. »Wiederum ein Kranker, dem ein Arzt zu Hülfe gerufen worden ist,« dachte Dezimus seufzend.

In der Pfarre ruhte der Vater bereits, und Peter Kurze sehnte sich laut gähnend, nach des Tages Lasten auf seiner Sprungfedermatratze einen tiefen Schlaf zu tun. Auch dem armen Bräutigam fielen vor Erschöpfung die Lider zu. Auf die litauische Lene war ja Verlaß. Strickstrumpf und Kaffeetrank halten alte Augen wach; das liebe Röschen war ja auch ihr Hätschelkind, und leider verlangte es nichts anderes als dann und wann mit einem matten Blick nach einem Tropfen Wasser. Dezimus warf sich in seinen Kleidern auf das Sofa der offenen Nebenstube. Der Tag, der im hehrsten Schmerzgefühl begonnen hatte, in Trübsal und Trivialität verlaufen war, endete mit einem Totenschlaf. Darf einer aber ein Glücklicher heißen, der mehr als einen solchen Tag erlebt?


Am anderen Morgen entschied der Vater dafür, das Dokument anzunehmen. Sein Wert erschien auch ihm äußerst fragwürdig; »aber,« meinte er, »was kann es uns auf ein Dankeswort ankommen, wenn der kindische alte Mann durch dieses Scheingeschenk mit sich selber ausgesöhnt wird?«

Dezimus machte den Versuch, sein Röschen durch die Mitteilung von dem Patenlegat zu erheitern. Sie verblieb unbeweglich mit halb geschlossenen Lidern, und als er die blassen Wangen streichelnd sie fragte, ob sie sich denn nicht [480] auf das kleine Treibhaus, das sie sich für das Geld bauen wollten, ein wenig freue, wendete sie, als ob sie kein Wort mehr hören möge, den Kopf nach der Wandseite. Das bewegliche junge Herz schien gegen Wunsch wie Gram erschlafft. Dezimus zitterte bei der Vorstellung, daß das liebste Leben in solch geheimnisvoller Stille entweichen könne. Er hätte die welken Hände nicht aus den seinen lassen, die Blicke nicht von dem weißen Rosenantlitz verwenden mögen.

Aber der Vater gestattete ihm kein müßiges Weilen. »Laß den Greis wachen,« sagte er, »und wirke du an seiner Statt.«

Der Amtsbruder in Bielitz mußte um seine Vertretung bei sakramentalen Handlungen angegangen werden, in manches Kranken-, in manches Trauerhaus der Untergemeinde war Ermutigung und Trost zu tragen. Ja, Vater Blümel ging so weit, an die Vorbereitung zur Sonntagspredigt, des Sohnes erste Predigt, zu mahnen; damit hatte er des Sohnes Kraft und guten Willen aber doch überschätzt.

Der Abend dämmerte, als er das Gut betrat, in welchem er die dankbare Annahme des Vermächtnisses melden sollte. Wie eilig er nun aber auch war, wie tief von Weh und Angst erschüttert, wie bänglich er sich in die stille Leidenskammer der Geliebten sehnte: eine sonderbare Veränderung des verwahrlosten Herrenhauses konnte ihm nicht entgehen. War es doch, als ob kleine dienstfertige Wichtelmännchen über Nacht darin gewaltet hätten. Die blinden Fensterscheiben blinkten hell, die Spinneweben waren fortgefegt, die Steinfliesen des Flurs geschwemmt und mit weißem Sand bestreut; aus Kohlenpfannen wirbelten würzige Wacholderdämpfe in die Höhe. Auch die Wohnstube war gescheuert und gelüftet, auf dem sauber gedeckten Tische [481] Wein und ein Vesperimbiß aufgetragen. Der Amtmann gewaschen, gekämmt und rasiert, mit dem guten Kirchenrock angetan, schien um ein Mandel Jahre verjüngt, um seine breiten Lippen spielte eine neckische Laune, die früherhin keineswegs zu seinen Temperamentseigenschaften gezählt hatte. Als Dezimus vom Flur her das Zimmer betrat, verließ es jemand durch die Kammertür. Wer? war im Zwielicht nicht zu unterscheiden. Das Rauschen eines Frauenkleides ließ indessen darauf schließen, daß Muhme Timpel die Anfechtung von Wellfleisch und Sauerkraut so glücklich überwunden habe wie ihr alter Herr den Würgengel der Hungerseuche, und daß zum Dank für diese Gnade sie einen neuen, reinlichen Menschen angezogen.

Dezimus richtete seinen Auftrag und sprach seine Befriedigung über des Herrn Amtmanns sichtliches Wohlbefinden aus, worauf der Herr Amtmann, indem er das Glas, aus welchem er sich eben gestärkt hatte, aus der Hand setzte, lachend erwiderte:

»Na ja, mein Junge, wie es so den Anschein hat, kannst du es noch zum richtigen Pastor bringen, ehe du mir den Lebenslauf zu halten hast. Aber höre, Kandidat, die Klughänse von Doktores, die sollen mir mit ihrem Mehlmus und Kamillentee gewogen bleiben. Nicht heraus, hinein treiben sie das schwarze Gespenst. Du bist mein Mann, Pate, mit deinem Schinken und deinem Wein! Aber freilich, noch ein drittes muß dazukommen, wenn dem Morbus der Garaus gemacht werden soll.«

Er blinzelte bei diesen Worten mit den Augen, die nicht mehr ganz scharf sehen, und spannte mit den Ohren, die noch immer sehr scharf hören konnten, nach der Kammertür, durch welche der Weiberrock verschwunden war. Pate Kandidat aber lächelte und dachte: »Jawohl, das Gemüt, [482] befreit von dem Druck eines Handgelöbnisses und eines unsicheren Dokuments.«

Der so wunderbar vom Tode Gerettete rieb sich seelenvergnügt die Hände. Plötzlich jedoch schien eine unbehagliche Vorstellung ihm durch den Kopf zu schießen. Er fragte, ob der Kandidat sich mit der Zitation des städtischen Gerichts auch nicht übereilt habe, und als die Frage verneint ward, kehrte die joviale Stimmung ihm zurück.

»Siehst du, mein Junge,« sagte er, »es wäre bloß weggeschmissenes Geld. Wofür brauche ich denn ein Testament? Du wirsts wohl gemerkt haben, es war nächtens in meinem Oberstübchen nicht ganz helle. Die grausame Krankheit hatte mir gar zu schmählich mitgespielt. Und darum hattest du von wegen des Beschlafens wieder einmal ganz recht. Heute bin ich auf dem richtigen Punkte. Wozu brauche ich einen letzten Willen? Ich habe zwei leibliche Tochterkinder, und das mit dem Muß – Pflichtteil nennens die Gerichte, ich konnte mich nur nächtens nicht auf den gehörigen Titel besinnen – wäre zuwider Gottes Ordnung in der Heiligen Schrift. Meinst du nicht auch, Kandidat?«

»Jedenfalls, Herr Amtmann, zuwider der Natur und einem gütigen Vaterherzen,« antwortete Dezimus.

Der Amtmann drückte ihm, nach seiner Art gerührt, die Hand. »Eine ehrliche Haut bist du, Kandidat,« sagte er, »das muß der Feind dir lassen. Eine grundehrliche Haut. Und helle bist du auch, mordhelle, hast ein Einsehn in jedwede Sache, wie sie schmeckt und riecht. Aber dein Schade solls nicht sein. Verlaß dich auf den alten Mehlborn, wenn er auch nicht dein Pate ist. Denn was verschlägt am Ende ein königlicher Prokurist? Der alte Mehlborn hats gut mit dir im Sinn.«

Er machte eine Pause, simulierte ein Weilchen, indem er, [483] wie vorhin, nach der Kammertür starrte, dann hob er von neuem an:

»Siehst du, Kandidat, es ist mir über Nacht, wie man zu sagen pflegt, ein Licht aufgesteckt worden. Mein Enkelsohn betreibt in der französischen Hauptstadt die Wissenschaft und schreibt Lesebücher. Er hat die Kunst von seiner Mutter, meiner Brigitte, geerbt; nur daß das, was mein Enkelsohn macht, sich reimt wie die Lieder, die im Gesangbuche stehen. Aber eine Sünde ist das Versemachen nicht und eine Schande auch nicht; und ein ganz hübsches Stück Geld kommt bei dem Bücherschreiben heraus. Meinst du nicht auch, Kandidat?«

»Unter Umständen allerdings.«

»Unter Umständen bloß, he? Wovon hätten denn meine Brigitte und ihr Professor gelebt und gut gelebt? Geld wie Heu, sage ich dir, wenn auch nicht ganz so viel, wie sich bei der Ökonomie herausschlagen läßt. Aber die kann mein Enkelsohn ja auch noch betreiben lernen, er ist ja noch ein junges Blut. Was aber den Professor anbelangt, den Wittmann von meiner Brigitte, kein Gedanke an einen Freimaurer bei ihm! der Beyfuß ist ein Esel, daß er mir den Freimaurer in den Kopf gesetzt. Die Lesebücher, die der Professor schreibt, kann einer wie Beyfuß ja gar nicht verstehen. Und den Herrgott hat der Professor in seinen Schriftstücken auch beileibe nicht abgesetzt. Nur einen anderen Mantel hat er ihm umgehängt; grasgrün und himmelblau, statt nach der alten Mode Purpur und Gold. Na, das ist seine Sache. Herrgott bleibt Herrgott. Die Hauptsache ist das Gesetz. Was nun aber vollends mein Sidonchen – –«

Er machte von neuem eine Pause, und Dezimus stand vor Staunen starr und stumm. Wer hatte dem blinden [484] Greise dieses Licht aufgesteckt? Ein Traumgeist, der Geist des Weins, oder bloß das Frohgefühl der Genesung? Hatte Peter Kurze ihn in die Kur genommen? oder etwa – etwa Lydia? Zuzutrauen wäre die Absicht dem weißen Fräulein sicherlich gewesen; aber die Wirkung, diese Wirkung einer Lydia auf einen Johann Mehlborn? Des Kandidaten Blicke folgten denen des Amtmanns nach der Tür. Er unterschied aber nichts als die blankgeputzte Messingklinke.

»Was aber mein Sidonchen anbelangt,« fuhr der Alte fort, »so hast du zum dritten Male wahrgesprochen, Kandidat. Mein Sidonchen ist dir ein ganz scharmantes Mädchen; rund und rot wie ein Borsdorferapfel, zum Anbeißen, sag ich dir, und von wegen des Schulterstücks, na, weiß Gott, die Brille müßte einer aufsetzen, wenn er die Schiefigkeit bemerken sollte!«

Kicherte da nicht jemand hinter der Kammertür? Törichte Einbildung! es ist ja alles mäuschenstill, und der über Nacht bekehrte Großvater fährt auch ganz ungestört in der Anpreisung seines Fleisches und Blutes fort: »Zehn Männer, Kandidat, kann dir mein Sidonchen kriegen; ein Dutzend Wochenbetten wären nicht zuviel für sie; bis zur goldenen Hochzeit kann sie's bringen. Und höre, Kandidat, gescheut ist dir mein Sidonchen, gescheut wie ein Advokat, und die Worte kann sie dir setzen wie der allerschönste Pastor, und auf die Wirtschaft versteht sie sich, daß meine selige Röse dir nichts, egal gar nichts dagegen gewesen ist. Eine Käserei will sie bei mir anlegen, so wie sie draußen in der Schweiz schon manchen armseligen Hutmann, wie dein Vater einer war, Kandidat, zum reichen Manne gemacht hat. Nur daß draußen, außer dem Rindvieh, anstatt wie bei uns Schafe, mehrenteils Ziegen gehalten werden und die Ziegen [485] nicht so viel Fütterung brauchen. Dafür haben wir aber die Wolle.«

Der Kandidat faßte sich mit beiden Händen nach der Stirn. Träumte er, oder war hier ein Wunder geschehen? Sollte Sidonie geschrieben haben? Aber der blinde Großvater hätte den Brief ja nicht lesen können. Die Frage nach Lydia brannte auf seinen Lippen, des Alten Redefluß ließ sie aber nicht zum Ausdruck kommen.

»Und siehst du, mein Junge,« fuhr er in einem Atemzuge fort, »weil du doch nun einmal halb und halb meine Pate bist und ich dir den Inspektor versprochen und nicht gehalten habe, – denn warum? du wolltest ja nun einmal absolut auf den Postor studieren, – und weil meine selige Röse dich mir, sozusagen, aufs Herz gebunden hat, und weil ich dir nächtens, wo mich die Morbuslaune ein bißchen benebelt hatte, mit der Erbschaft einen Floh ins Ohr gesetzt habe; desselbigengleichen aber auch, weil die Werbensche Pfarre ein einträglicher Posten ist und einer ganz bequem die Wirtschaft auf dem Talgute daneben betreiben kann, und weil die paar Tausend Legation von dem römischen Fräulein doch auch eine angenehme Zubuße sind, kurz und gut, weil alles klappt und stimmt wie gemaust, derhalben will ich dir mein Sidonchen zur Frau geben, und lieber heute als morgen kann die Hochzeit sein.«

Dezimus, bei aller Betrübnis seiner Seele, hatte Mühe ein Lachgelüst niederzukämpfen, und noch war er zu einer schicklichen Gegenrede nicht gelangt, als eine kühle Frauenhand sich in die seine legte und eine wohlbekannte klangfrische Stimme fragte:

»Nun, was sagen Sie zu dem Antrag, Johanniskind?«

Da stand er denn wie eingewurzelt mit stockendem Atem, so, als wäre der liebe Mond gleich einer Bombe zu seinen [486] Füßen niedergeplatzt. Gottlob! daß es halb Nacht in der Stube war und keiner bemerken konnte, wie der kalte Angstschweiß ihm von der Stirne tropfte.

Der alte Mehlborn hatte nach seiner anstrengenden Werbung sich durch ein Spitzgläschen von seiner bewährten Medizin gestärkt; – Johann Mehlborn stand wahrlich in Gefahr, in alten Tagen zum Bacchusjünger auszuarten! – nun kicherte er, sich die Hände reibend, vor sich hin:

»Stockstumm vor Pläsier steht er da, hihihi! wie der dumme Junge von Meißen steht er da, hihihi!«

»Sie sagen nichts, und das ist genug gesagt,« flüsterte Sidonie, indem sie langsam ihre Hand aus der seinen zog; Dezimus aber, der sich mühsam gefaßt hatte, erwiderte:

»Ich beklage, gnädiges Fräulein, daß diese Greisenschrulle vor Ihren Ohren laut werden mußte, und ich beschwöre Sie, zu glauben – –«

»Na, was tuschelt Ihr denn so heimlich miteinander?« unterbrach der Großvater die feierliche Beschwörung. »Liebeswörtchen schon? hihihi!«

»Nicht doch, Großvater,« antwortete Sidonie mit ruhiger Stimme, wennschon Lippen und Glieder leise zitterten. »Der Schlaukopf hat es gemerkt, daß du deinen Spaß mit ihm getrieben.«

»Ich, einen Spaß? einen Spaß, ich?« rief der Alte völlig verdutzt.

»Nun was denn sonst, Großvater? Habe ich dir denn nicht gesagt, daß er schon seit Jahren ein Schätzchen im Herzen trägt? Nicht? Ei was, da habe ich gedacht, die Sache verstünde sich von selbst. Siehst du, Großvater, ein Kandidat, der bloß mit einer Herzallerliebsten von der hohen Schule abgeht, der kann sagen, daß er noch mit einem [487] blauen Auge davongekommen ist; gewöhnlich erfreut er sich schon einer verlobten Braut. Habe ich nicht recht, Herr Kandidat?«

»Soweit es meine Person betrifft, allerdings, gnädiges Fräulein,« antwortete Dezimus bewegt, »ich habe seit Jahren eine Liebe im Herzen getragen, und die Geliebte ist meine verlobte Braut geworden. Auf ihrem Sterbebette hat meine Pflegemutter die Hand ihrer Tochter in die meine gelegt für das Leben.«

Er atmete nach diesem Geständnis auf wie erlöst. Sidonie war betroffen ein paar Schritte zurückgewichen; es war minutenlang in dem dunklen Zimmer kein Atemzug zu hören. Jählings jedoch schlug der alte Mehlborn mit beiden Fäusten auf den Tisch und stieß mit der Naturkraft seiner guten Tage einen Fluch aus, vor welchem eine andere nervenschwache Dame als die gegenwärtige bis zur Ohnmacht erschrocken sein würde. »Das ist,« schrie er, nachdem das Donnerwetter ihm Luft gemacht, »das ist ja egal wieder so ein hinterrückscher Streich wie dazumal der mit der alten Exzellenz, das ist ja – –«

»Nicht doch, Großvater,« unterbrach ihn Sidonie, die sich gefaßt hatte. »Es ist eine Zuneigung und ein mütterlicher Plan von Kindesbeinen an. Wenn du in letzter Zeit mehr mit unseren guten Freunden in der Pfarre zusammengekommen wärest, würdest du den Braten längst gerochen haben.«

Sidonie lachte bei den Worten mit seltsam vibrierendem Klang; der Bär war aber einmal aufgewacht, und so brummte er sich unerschütterlich aus.

»Schwatz doch nicht so dummes Zeug, Sidonchen! Das ist ja alles nicht hotte und nicht hü. Wenn zwei miteinander in der Boje gelegen haben, zum Henker, das ist ja egal, [488] als ob Bruder und Schwester Mann und Frau werden wollten. Die Geschichte muß auseinander. Ein Sterbebett ist doch nicht etwa Gottes Altar und Brautstand noch lange kein Ehestand. Der Junge müßte ja des Teufels sein, Sidonchen. Die kleine Röse ist arm wie eine Kirchenmaus, und mit dir kriegt er einmal ein Rittergut und eines in der Tasche obendrein.«

Sidonie lachte von neuem und natürlicher als vorhin.

»Ja, wenn er nur früher gewußt hätte, wie gut du es mit ihm vorhattest, Großvater,« sagte sie, trat an den Tisch, schenkte das Spitzgläschen wieder voll, und der Großvater, nachdem er es ausgeschlürft, streichelte ihrzärtlich die Backen und sagte schmunzelnd, von einem lichtvollen Einfall durchzuckt:

»Weißt du was, mein Sidonchen, weil du es bist, will ich ein übriges tun. Höre, die kleine Röse, so pauvre wie sie ist, die geben wir deinem Mäxchen, und er zieht mit ihr hinüber und wirtschaftet als mein Verwalter in Bielitz. Du nimmst den Kandidaten und bleibst hüben bei mir. Und wenn dein Mäxchen etwa – –«

»Du hast recht,« fiel Sidonie ein, »das wäre ein Vorschlag zur Güte, den wir miteinander überlegen wollen, Großvater. Jetzt aber mußt du durchaus ruhen. Das viele Sprechen hat dich angegriffen; du siehst schon ganz blaß aus und bist rauh auf der Brust. Daß um Gottes willen kein Rückfall kommt! Mit solch einer Krankheit ist nicht zu spaßen, Großvater!«

Der störrische alte Mann gehorchte wie ein Kind. Er ließ sich von seinem Sidonchen nach dem Kanapee führen, streckte sich, wie sie es vorschrieb, »der Länge lang« aus und drückte die Augen zu. Bald verriet der schnarchende Atem, daß die ungewohnte Labe auch heute wieder ihre [489] Schuldigkeit getan. Sidonie legte ihren Arm in den des Kandidaten, und sie verließen das Zimmer.

Eine Weile gingen sie nebeneinander her und schwiegen sich aus. Ach, solch ein armseliger Stümper ist ja der stolze Willensheld, Mensch genannt, daß eine unbehagliche Situation die wärmsten Affekte seiner Seele wettzumachen vermag. Wo fänden wir den idealen Helden, welcher die Weihe des Ostermorgens Doktor Fausten unverdrossen nachempfunden hätte, wenn ebenso unverdrossen eine Brummfliege sich auf seine Nase setzte? Dezimus Frey hatte gestern seine Mutter begraben, er zitterte für das Leben einer geliebten Braut, rings um ihn her wüteten Tod und Verderben, in diesen Minuten jedoch empfand er nichts, rein gar nichts als die Verlegenheit des armen Schäfersohnes, der einem reichen Edelfräulein ins Angesicht einen Korb gegeben hat; eine Verlegenheit, die allerdings Märchenhelden öfter empfinden werden als ein Kandidat der Theologie. Die Not wurde aber immer romantischer, da das verschmähte Edelfräulein sich mit der Unbefangenheit einer glücklichen Braut an des Schäfersohnes Arm hängte und zweiselig mit ihm im Mondenschein spazierte über den Hof, durch den Garten, längs des murmelnden Flusses, bis zu dem friedlich ruhenden Nachen. Das Fräulein hätte, fürchten wir, bis zur Stadtbrücke mit dem Hirtensohne spazieren können, ohne daß ihm in der Schwüle seines Intellekts ein würdiges Wort oder auch nur eine unwürdige Redensart zur Aufklärung und Entschuldigung gelungen wäre.

Das Fräulein war es, welches, beherzter als er, endlich den Bann der Stimmung brach, und – ja Laut scheucht Furcht – und mit dem ersten sonoren Klang ihrer Rede, da wurde auch dem verlegenen Kandidaten wieder ganz [490] frisch und beherzt zumute; das aber um so mehr, da er lediglich zuzuhören und nur selten ein Wörtchen dareinzugeben hatte.

»Menschen wie Sie, Dezimus, und ich,« hob Sidonie an, »dürfen sich, denke ich, ohne Verwirrung alles sagen und alles voneinander hören. Und so sage ich Ihnen denn, was Sie ohnehin von vornherein durchschaut haben werden, daß Papa Mehlborns Antrag weder ein Scherz noch die Schrulle eines Greises gewesen ist, sondern mein eigener, zwar rasch gefaßter, aber wohlbedachter Plan. Auf Ihre Ablehnung war ich gefaßt und würde sie Ihnen zugute gehalten haben, auch wenn Sie – worauf ich allerdings nach dem Tone Ihrer Briefe keineswegs gefaßt war – nicht bereits der hoffnungsvolle Ehestandskandidat einer anderen gewesen wären. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte Ihr Röschen von jeher Freund Kurzen zu gedacht. So wenig ich nun aber Ihnen den Ungeschmack in der Lebenskunst zutraue, sich, und wäre es um zehn Rittergüter willen, zum Mann einer Frau machen zu lassen, die Ihnen mißfiel oder einfach bloß nicht gefiel, so wenig werden Sie meiner Person die Abgeschmacktheit einer verliebten Laune zutrauen, auch wenn ich Ihnen ehrlich gestehe, daß Sie der einzige Mann sind, dem ich einen solchen Antrag hätte stellen lassen, ja eben darum nicht. Ich dachte mir aber, Dezimus, daß zwei gute Freunde, beide frei und klug, ohne Anlage zu leidenschaftlichen Problemen, ungeplagt von dämonischen Störefrieden, beide dagegen anhangend einem tief aus der Seele treibenden Lebenszweck, daß diese beiden ihre Hände ineinanderlegen könnten, vertrauend jenem Gleichgewicht und jener verständnisvollen Selbstbewußtheit, auf welchen letztlich die Befriedigung jedes Zusammenlebens doch beruht. Sie, Dezimus, würden durch die [491] Verbindung mit mir Ihrer beschränkenden Lage entrückt, Ihnen die weiteste Umschau am Himmel und auf Erden, die freieste Entwicklung gewährt worden sein, dazu der Anteil, das völlige Verstehen eines Nächstgestellten. Mir gewährte sie ein starkes Herz und eine feste Hand. Und sehen Sie, Freund, die arme kleine Sidi bedarf mehr denn jemals eines starken Herzens und einer festen Hand, um ihr eine Gefahr abwenden und ein Schicksal tragen zu helfen, denen sie ganz allein machtlos gegenübersteht.«

»Sie sprechen von Max?« fragte Dezimus.

»Nun ja, von wem denn sonst? Ist er nicht mein Lebenszweck, wie die Chaldäerweisheit der Ihrige ist? Ihr lebt hier, so scheint es, wie Crusoe auf seiner Insel, spürt nichts von den Wettern, die über dem Festlande brauen, und von den Dämpfen, die unter demselben brüten. Ich aber komme von solchem Herd, und Max steht harsch an dem Krater, von welchem der Ausbruch droht. Nicht Schwarzseherei, Hellblick, Hellblick der Liebe ist es, wenn ich ihn von den speienden Flammen ergriffen und unter der Asche verschüttet schaue. Noch in dieser Nacht werde ich ihm schreiben, und weil die Beredsamkeit eine Gabe ist, die er vor vielen besseren Gaben schätzt und auf sich wirken läßt, werde ich ihn mit so viel rhetorischem Aufwand, als einer Schwester zu Gebote steht, beschwören, vor dem Ausbruch in unseren stillen Hafen zu flüchten. Wenn er sich in Bielitz einrichtete, soviel ihm beliebt als Grandseigneur, es wäre ein ableitender Wechsel. Wenn er sich einen eigenen Herd gründete, es wäre, wie schwach auch immer, eine Bürgschaft der Stetigkeit. Mit den äußeren Mitteln soll nicht gekargt werden; der schwarze Tod hat mir trefflich in die Hände gearbeitet und kein anderer als Sie, Johanniskind, mich auf den Zaubertrank verwiesen, [492] mit dessen Darreichung die geheimnisvolle Wandlung vollzogen werden wird. Ich traue mir zu, diesen halsstarrigen Greis zu regieren wie eine Gliederpuppe, mit List oder Gewalt ihm den Schlüssel seiner Eisentruhe zu entwinden. Was kommt es mir darauf an, um einen vollebenden Zwanziger zu retten, einem absterbenden Achtziger ein X für ein U zu machen? Die Frage ist nur, wird mein Plan an dem nicht scheitern, den er retten soll? Und wenn der Reiz ritterlicher Seßhaftigkeit den Unsteten heimwärts lockte, würde er nicht bald wieder zurückgetrieben werden in sein geniales Zigeunertum? Würde selber die Liebe zum Weibe imstande sein, ihn häuslich zu bannen? Wird, wenn den Rhein herüber die Fanfaren schmettern, die ihm das, was er Freiheit nennt, verkünden, wird er dann, wie ein feuriges Roß, nicht jeden Zügel sprengen, und werden Sie dann, Dezimus, mit Manneswillen und Manneskraft – für ihn einstehen? – Nein, das läge außer Ihrer Macht, – aber zu seiner Rettung für mich eintreten, nicht als ein Bruder, wie ich Törin einen Augenblick gewähnt, aber als – –«

»Sein Freund und Ihrer, Sidonie,« sagte Dezimus mit warmem Händedruck.

Sidonie erzählte darauf, daß sie alsobald nach ihrer Mutter Tode sich bewußt gewesen, wo fortan ihre Heimstatt und welcher Art ihre Werkstatt sei. Die Neueinrichtung ihres Stiefvaters und ein Nervenleiden, das sie hart mitgenommen, hatten die Ausführung verzögert. Bei ihrem endlichen Aufbruch vor ein paar Tagen sei es auf eine Überraschung im Blümelhause abgesehen gewesen. Als sie jedoch beim gestrigen Eintreffen in der Stadt den Ausbruch der Epidemie, den Tod der guten Pfarrmutter und Rosens Erkrankung erfahren, sei sie ohne [493] Verzug nach dem Talgute aufgebrochen und daselbst angelangt, als just der Kandidat die heroische Kur an Papa Mehlborn vollbracht und zum Lohn dafür das Erbe der unartigen Enkelkinder in Aussicht gestellt erhalten habe. Mit ergötzlicher Laune schilderte sie nunmehr, wie sie die günstige Konjunktur benutzt, um sich, in Verbindung mit Traum- und Weingeistern, rasch in des alten, mürbe gewordenen Eisenmannes Gemüt und Hause festzusetzen, und mit welchen Engels- und Teufelskünsten sie gesonnen sei, ihre Position zu behaupten.

»Greise sollen wie Kinder behandelt werden,« sagte sie. »Mein altes Kind wird sich nicht über sein pflegendes Mütterchen zu beklagen haben; er darf aber niemals aufhören, sich vom Würgengel bedroht zu wähnen, und niemals bezweifeln, daß er sieht, was zu sehen er sich und anderen vorspiegelt.«

Sie waren der Fähre nahegekommen, als Sidonie, ihren Arm aus dem des Begleiters ziehend, mit folgender Wendung abschloß:

»So, nun stehen wir, will es Gott, für das Leben klar und fest uns zur Seite; und mir erübrigt nur noch der Glückwunsch zu Ihrer Verlobung, Freund. Ein redlicher Wunsch, aber leider nur ein Wunsch, denn die Zuversicht Ihres Eheglückes habe ich nicht. Brummen Sie doch nicht so unwillig in Ihren kürzlich gesproßten Bart, Kandidat! Als ob ich die Zärtlichkeit Ihrer gegenseitigen Gefühle bezweifelte oder mir anmaßte, irgend etwas von irgendeiner erotischen Gefühlsspezies zu verstehen, und mich nicht gern belehren ließe, daß eine Gewohnheitsneigung, ›aus der Boje‹ herausgewachsen, sich zu einer dergleichen Spielart entwickeln könne. Das aber weiß ich, daß zum Dauerglück in der Ehe, will sagen einer Ehe, die nicht bloß auf [494] die gemeine Plattheit hinausläuft, mehr gehört als irgendeine Spielart der Liebe. Denke ich an den kurzen Wonnetraum von Max und Lydia zurück, wie er, doch wahrlich einer reellen, raschen Herzensglut entspringend, dennoch beim ersten Anstoß in Groll und Zwietracht zerstob, halte ich dagegen die in Kampf und Not unerschütterliche Befriedigung der auf keinen lebhafteren Pulsschlag gegründeten zweiten Ehe meiner Mutter, so sage ich: Kontraste reizen; die Harmonie der Treue erwächst aus verwandten Elementen. Auf die gleiche Sehweite kommt es nicht an, aber auf die gleiche Sehlinie kommt es an. Was aber versteht Liebchen Rose von des Chaldäers Sternenziel? Was der lichtsuchende Chaldäer von seines Rosenliebchens Erdenlust? Falter und Rose, Mäxchen und Röschen – Freund, wären Sie nicht bis über die Ohren vernarrt, Sie nennten den Einfall meines alten, neuen Herrn schlechthin luminös. Sie aber, Sternengucker, trösteten sich, müßten sich trösten, würden sich trösten, nicht etwa mit der kleinen Sidi, die Ihnen außer etwelchen Rittergütern nichts als einen hellen Kopf auf einem ungleichen Schulterstück als Mahlschatz zubringen würde, sondern mit der zum Himmel strebenden, hehren Lilienblüte, die ohne Sie einsam im Mondschein des Klostergartens verduften würde.«

Dezimus prallte schier entsetzt einen Schritt zurück; sein ganzes Wesen protestierte gegen diese wenn auch nur scherzhaft gemeinte Weissagung. Ließ der kleine Kobold an seiner Seite ihn aber nur zu Worte kommen? Lachte er nicht so ausgelassen, wie bloß Kobolde einem verblüfften Menschenkinde in das Gesicht zu lachen imstande sind? Und schmetterte er dann nicht mit seiner metallhellen Stimme sein musikalisches Capriccio unerschütterlich zu Ende?

»Aber so fahren Sie doch nicht gleich aus der Haut, [495] Kandidat, wenn ein alter, ehrlicher Kamerad Sie besser kennt als Sie sich selbst; hören Sie doch ruhig erst den natürlichen Folgesatz: Lieben Sie Ihr Röschen, so zärtlich Sie es fertigbringen, heiraten Sie es meinetwegen auch: das weiße Fräulein war, ist und bleibt bei alledem Ihr Ideal. Indessen nur getrost. Sagte ich Ihnen bei einer anderen Gelegenheit: ein gesunder Magen und ein gesunder Kopf vertragen vielerlei, so sage ich Ihnen bei der heutigen: ein gesundes Herz verträgt noch mehr, ja sogar mehr zu gleicher Zeit. Eine Wiegenliebe wie die zu Ihrer Rose, eine verständige Freundschaft wie die zu der kleinen Sidi und ein hehres Traumbild wie das der Schwanenjungfrau, Sie haben Platz für alle drei und bleiben ungestört und unbeschwert, möglicherweise sogar als Ehemann, unser mustergültiges Johanniskind.«

Damit schüttelte sie ihm herzhaft die Hand und schlug dann lachend, so rasch sie vermochte, den Rückweg ein. Der ungalante Korbverleiher dachte nicht daran, ihr das Geleit zu geben.

Dezimus, du Held des Glücks, sie nennen dich eine redliche Haut und preisen dich ob deines ruhigen Bluts; das große Wort Liebe ist dir niemals allzu geläufig gewesen, sogar nicht gegen deinen besten Freund, und der bist auch du am Ende doch wohl selbst; deine Phantasie hat selten mit Amoretten gegaukelt, und zum Heroismus der Leidenschaft zum Weibe hast du bis dato keinen Drang gefühlt; solange du von deinem Leben weißt, hast du den Zug zu der holden Schwesterblüte gespürt wie dein natürlichstes Recht, und seit du dich als Mann fühlst, wie deine natürlichste Pflicht; was du von Hangen und Bangen empfunden, das hangte und bangte nach ihr. Und da kommt nun ein Menschenkind, lebenskundig und wahrheitsmutig, wie du [496] kein zweites kennst, nennt sich deinen braven Kameraden und sagt dir auf den Kopf zu, daß deine Liebe gar nicht die echte, rechte Liebe sei; daß du – schäme dich, Dezimus! – ein leibhaftiger Don Juan, noch ehe du ein Bräutigam geworden, ein zweites und drittes Verhältnis angebandelt habest, und am Ende kommen noch ein halbes Dutzend hinterdrein, denn wo ist bei solcher Anlage ein Aufhören abzusehen? Zum allerärgsten aber hat dieses kluge Menschenkind sich darauf gesteift, daß du ein Traumbild umkreisest, nicht bloß in der Phantasie, wo es hingehört und, dir wenigstens, nicht schaden kann, sondern als leibhaftiger Mann ein leibhaftiges Weib, als sein prädestiniertes anderes Ich!

Aber so habe dich doch nicht wie ein Narr, Kandidat. Denke doch an deine erste Sonntagspredigt! Du schreist dich ja heiser mit deinem »Hol über, hol über!« Hat der alte Veit sich bereits auf das Ohr gelegt, so erweckt ihn nicht die Posaune des Jüngsten Gerichts. Du nimmst dann den Weg über die Brücke und läufst dir den Wirrwarr von Liebesgedanken aus dem Hirn. Welchem Menschen, der sich gesunder fünf Sinne erfreut, fällt es ein, bei Seuchenzeiten, in rauher Novemberluft durch den Fluß zu schwimmen, um nichts und wieder nichts als eine halbe Stunde früher bei der zu sein, die er wirklich liebt? Und sieh, da kommt ja auch schon der alte Veit, fein gelassen, in deinem eigenen, bedächtigen Hirtenschritt, in welchem ein Mensch sein Ziel am zuverlässigsten erreicht. Und nun bist du jenseit, und wenn du auch wie ein Wetter durch die Dorfgasse fegst, du hast bis zur Pfarre hinlänglich Weile, dir zu überlegen, ob ein Ideal in Wahrheit ein so gefährliches Wesen sei, wie man dir hat einreden wollen, ein Wesen, das dich in deiner Herzenstreue beirren könnte?

[497] Und siehst du wohl, ehe du noch den Gottesacker erreichst, da bist du schon wieder der alte Dezem aller Tage, ja wahrhaftig, du lachst! Was versteht solch ein armes, verkümmertes Wesen, das keinen Näheren als einen Bruder lieben darf und will, von eines Jünglings Rosenwonne? Was versteht die kleine Sidi, mit ihrem altklugen Kopf und vorwitzigen Mund von einem Traumbild der Seele? Sind die hohen Himmelslichter dort oben nicht auch deine Traumbilder gewesen, und würdest du sie als Ideale gehegt haben, wenn du sie mit deinen Armen umspannen konntest wie die blühende Erde, in welcher dein Dasein wurzelte? Sei und bleibe dein weißes Fräulein dir ein Ideal und eine Seelenschwester für das Leben; die, nach welcher deine Pulse schlagen, das ist »die liebliche, geliebte Eine, die Jugend dir und Jugenddrang verbunden«, das ist dein Blumenkind, deine Rose!

Sie lag noch so still, anteillos und doch ruhelos, wie er sie verlassen hatte. In dieser Nacht aber hätte keiner bei ihr Wache halten dürfen als er allein. Er setzte sich auf den Bettrand, schlang den einen Arm um ihren Hals und umspannte mit der anderen Hand die beiden welken, kühlen Kinderhände. Und wie er so eine Weile gesessen hatte, ihr Köpfchen an seiner Brust, da war es, als ob ein Strom von seinem flutenden Leben in das ebbende hinüberwogte. Sie schlug einen Augenblick lächelnd wie sonst die Lider zu ihm in die Höhe, dann fielen sie ihr zu, und sie schlummerte ein. Die heißersehnte Schlummerruhe, Genesungsruhe! Er neigte die Lippen auf die wirren Locken über ihrer Stirn, – der erste Bräutigamskuß! Er sog ihren Odem ein, den göttlichen Lebenshauch! Er hätte das Klopfen seiner Pulse hemmen mögen, um sie nicht zu erwecken, und doch laut jubeln aus voller Brust: »Dich liebe ich, dich ganz allein!«


[498] Doktor Brand fand Rosen am anderen Morgen noch schlummernd; aber es war nicht die erquickende Ruhe der Genesung, es war die betäubende der Erschöpfung. Fast schien es, als ob die Schlummernde, ohne wieder zu erwachen, in den ewigen Schlaf hinübergleiten werde, so matt schlug der Puls, so kaum hörbar schlichen die Züge des Atems. Wohl oder übel mußte der alte Symptomiker der Diagnose des jungen Exaktikers zustimmen; der Blutverlust war stärker gewesen, als er angenommen, und nicht seelische Überwältigung hielt den Körper im Bann, sondern körperliche Erschlaffung die Seele. In welcher Weise aber den Verlust ersetzen, da das liebe Kind die geringste Nahrung verschmähte, der Schlaf, statt zu stärken, abspannte und kein Heilmittel anschlug? Der alte Herr war am Ende mit seinem Latein, und wie in derartigen kritischen Fällen, wo eben kein Rat mehr zu geben ist, auch ein braver Medikus zu der Auskunft gelangen kann, den Patienten aus seinem Gesichtsfelde zu verweisen, z.B. an die Homöopathie, über welche – bei unkritischen Fällen – kein Sarkasmus beißend genug im Sprachschatze einen Ausdruck findet; oder in ein entlegenes Bad, dessen Heilkräfte allerdings innerhalb der eigenen Praxis nicht erprobt worden sind, wo aber, falls sie sich an dem Patienten bewähren, die Genesung dem kundigen Berater zugute geschrieben wird, falls sie sich dagegen nicht bewähren, ein Kurverstoß, Diätfehler, Erkältung und so weiter die Schuld zu tragen hat, im allerschlimmsten Falle jedoch der Patient wenigstens nicht unter des Beraters Augen die seinigen schließt, – desselbigengleichen wollte auch Doktor Brand, obschon er skeptisch die Achseln zuckte, gegen das heroische Korrektiv seines neubacknen Kollegen nicht länger Widerspruch erheben.

[499] Das Korrektiv, in einem Familienrate, dem auch Lydia beiwohnte, dargelegt, hieß: Transfusion fremden Bluts. Kein neues Mittel, allein selten angewendet. Peter Kurze selbst hatte die Operation nur ein einziges Mal von dem Meister, »zu dessen Füßen er gesessen« – eine von den wenigen euphemistischen Redensarten, deren Peter Kurze sich bediente –, vollziehen sehen, aber mit glorreichem Erfolg. Er nannte sie, natur- und vernunftgemäß, den direktesten Erneuerungsprozeß und würde ihm die weiteste Verbreitung in Aussicht zu stellen gewagt haben, insofern sich die Schwierigkeit überwinden ließe, für jedes blutarme oder blutkranke Individuum ein blutreich gesundes aufzufinden, das sich zur Teilung seines wertvollsten Lebensstoffes entschlösse. Denn von dem Lebensstoff als Lebensmittel höchst wertvoller Vierfüßler wollte der materialistische Doktor nichts wissen; der Mensch sei zwar auch eine warmblütige Bestie, aber eine Bestie, die durch Vermittlung ihres spezifischen warmen Blutes denkt. Hypothese zwar noch vorderhand, aber keineswegs eine irrationelle: mit Hülfe frischen Lebenssaftes sei sogar ein Greisenleben wieder jung zu machen!

Der Vortrag, mit Begeisterung zu Gehör gebracht, wurde nicht ohne Begeisterung aufgenommen. In Vater Blümel dämmerte die Erwähnung des Verfahrens bei einem seiner alten Heiden, deren Heilverständnis er von den Neueren selten übertroffen achtete; Lydia sah in dem Akt ein symbolisches Opfer, das ihrem innersten Sinne entsprach; Dezimus aber stimmte voll beseligender Hoffnung zu. Aus wessen Adern als den seinen hätte der lebenspendende Quell in die der Geliebten denn geleitet werden dürfen?

Noch in der Nacht dampfte Peter Kurze nach der[500] Universitätsstadt, um – des ängstlich schwachen Papa Blümel mehr als überflüssige conditio sine qua non! – von dem Meister, zu dessen Füßen Peter Kurze gesessen, ein Zeugnis einzuholen ad eins: über die Zulässigkeit der seltsamen Spende für die bedürftige kranke Tochter und ihre Ungefährlichkeit für den verleihenden gesunden Sohn. Ad zwei: – Superlativ aller Überflüssigkeit! – über Doktor Peter Kurzens Befähigung für die betreffende Operation.

Schon am anderen Mittag kehrte er mit einer Siegermiene zurück. Er brachte schwarz auf weiß die absolute Erledigung aller überflüssigen Bedenken vornehmlich des ad zwei; brachte den erforderlichen Apparat und sogar zwei junge Kollegen, welche des Meisterstücks Zeuge zu werden ein wissenschaftliches Verlangen trugen. Er hätte unverweilt zum Angriff schreiten mögen; da aber in Rosens Zustand verschlimmernde Symptome sich nicht geäußert hatten und die Hoffnung nicht aufgegeben werden durfte, auch ohne das Wagnis eine Besserung eintreten zu sehen, wurde auf Vater Blümels Verlangen die Operation auf Sonntag nachmittag verschoben. Es war der des ersten Advent und des Sohnes erste Predigt eine weihevolle Vorbereitung zu der lebenspendenden Tat.

Das Gotteshaus war am Sonntagmorgen dicht gefüllt, selbst die Untergemeinde durch ihre gesunden Insassen männiglich vertreten, Not lehrt ja beten, und die quasi Probepredigt eines Pfarramtskandidaten lockt auch in Drangsalszeiten an, zumal wenn der Prediger der Sohn des Gemeindehirten ist. Lydia saß im Herrenstuhl, und sogar des Professor Zacharias wahlverwandte Stieftochter hatte ihrem Kameraden zu Ehren die Scheu vor Kirchenluft überwunden. Als während des Morgenliedes »Auf, ermuntere dich, mein Geist« der Kandidat mitten aus den [501] Frauenreihen heraus der kleinen Sidi hohen, hellen Diskant unterschied, hätte der kräftige Zuruf seinen Geist wohl ermuntern können, falls er bänglich bedrückt gewesen wäre.

Aber Dezimus war zu tief bewegt, um bänglich bedrückt zu sein. Hatten Muße wie Stimmung zur Vorbereitung ihm auch gefehlt, nach einer Woche wie seiner letzterlebten und über einen Episteltext wie den des dreizehnten Kapitels des Römerbriefes, da läßt sich frei aus dem Herzen heraus am allererwecklichsten reden. War seine ganze Seele doch voll von dem einen: »Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung« und von dem anderen: »Die Stunde ist da, aufzustehen vom Schlaf.« Ja, hätte er auch nichts über die Lippen gebracht als das Gebet für seine Mutter, die einzige der Obergemeinde, die in dieser Woche heimgegangen war, dies Gebet würde mehr Tränen haben fließen lassen als der kunstfertigste Redebau.

Beide denn auch mit Tränen in den Augen stießen Lydia und Sidonie unter der Kirchpforte aufeinander, zum ersten Male seit ihrem harschen Bruch. Sie reichten sich schweigend die Hände und lebten fortan nebeneinander, wenn auch nicht wie Schwestern, aber doch als so gute Basen, wie es einer Tochter Joachim von Hartensteins und einer Zöglingin der alten Harfenkönigin gegeben sein konnte. Das strittige Erbobjekt war durch Sidoniens dauernde Übersiedlung in ihres Großvaters Haus erledigt, und auch Lydia hatte in ihrer nächsten Umgebung eine Aufgabe gefunden, die sie an auswärtigen Samariterdienst vorderhand nicht denken ließ.

Die Sonne stand am Himmel so hoch und so leuchtend, wie sie am ersten Advent zu steigen und zu leuchten vermag, als man sich im Pfarrhause zu der Tat bereitete, vor welcher das Herz des rüstigen Unternehmers stärker als in seiner [502] bisherigen Praxis, ja als in seinem ganzen bisherigen Leben pochte. Der Wagehals spielte mit seinem »direkten Erneuerungsprozeß« hinsichtlich seines ärztlichen Renommees schlechthin va banque, für seine Heimat mindestens. Das Verfahren war unerlebt und unerhört, in siebenfache mystische Dunstschleier gehüllt. Blut ist eben ein ganz besonderer Saft; es darf, nein, es muß vergossen werden im Kriege, von der Justiz, auch durch die Chirurgie. Die Zahl der Werbenschen Gemeindeglieder, zumal weiblichen Geschlechts, war nicht gering, die ohne gelegentliche Abzapfung mittelst Schröpfköpfen oder Lanzette ihr Leben bedroht erachtet haben würde; aber den abgezapften Stoff, anstatt ihn in die Gosse zu schütten, einem Nebenmenschen in den Leib zu filtrieren, das schien ein Frevel wider die Natur, wenn nicht gar gegen den Heiligen Geist, und scheu von der Seite, schier wie ein Schwarzkünstler wurde der allbekannte Lustigmacher des Pfarrhauses angesehen, als er sich vermaß, mit der geheimnisvollsten menschlichen Flüssigkeit wie mit einem Apothekersäftchen umzuspringen; dahingegen sein stillvergnügter Kumpan, der Hirtendezem, bis dato immer noch ein bißchen über die Achsel angesehen, gleich einem Opferlamm mit weheleidigen Blicken betrachtet ward. Hätte ihn während der Operation etwa der Schlag gerührt, seine braven Werbenschen Landsleute würden einen neuen Märtyrer in ihren Kalender aufgenommen haben.

Weder Neugierde noch Teilnahme sind vorherrschende Bauerneigenschaften, da diese außerordentliche Begebenheit aber einmal direkt durch den Emeritus Beyfuß, indirekt durch dessen vertraute Freundin, die litauische Lene, ruchbar geworden war, zogen Teilnehmende und Neugierige herbei, des verwogenen Bluthandels in der Pfarre Zeuge [503] zu werden, und die alte Lene hatte ihre liebe Not, den Zudrang der Nachbarn und Einwohner im Vorgärtchen festzuhalten, während oben im Flur Freund Beyfuß, die Kantoren beider Gemeinden, der Amtsbruder von Bielitz nebst Sidonien, die ja kein Blut sehen konnte, mit gespanntem Atem nach dem Resultat im Krankenzimmer lauschten.

Dahinein waren dem Doktor Brand zwei wissensdurstige städtische Kollegen gefolgt, im Verein mit den beiden, welche Doktor Peter Kurze aus der Universitätsstadt herbeigeführt hatte, ein Fünfgericht, und wahrlich kein milde gestimmtes, vor welchem ein junger Praktikus sich, sei es als Koryphäe der Zukunft, sei es als Scharlatan zu erweisen hatte. Der junge Praktikus bezweifelte nicht entfernt das Natur- und Vernunftgemäße der Operation an sich; er bezweifelte ebensowenig, daß ohne sie die Patientin ihrer Erschöpfung erlegen sein würde. Erlag sie ihr trotz der Operation, so hieß er ihr Mörder und – Doktor Faust, suche dir eine Klientel unter den Wasserpolacken oder den Antipoden!

An eine Stuhllehne geklammert, stand im Hintergrunde der alte Vater zitternd und bleich. Sein liebes Kind, sein jetzt ach! so weißes Röschen saß aufgerichtet, von Lydias Armen umschlungen, im Bett; das matte Köpfchen an der Freundin Brust gelehnt, ließ sie anteillos, wenn nicht bewußtlos das Erforderliche mit sich geschehen. Lydias Blicke hingen unverwendet an denen des Freundes, als ob sie dringen wollten in den innersten Grund, dem der lebenspendende Quell entsprang. Er hatte ruhig seinen Arm entblößt und mit einer wollüstigen Empfindung die roten Tropfen aus seiner Schlagader strömen sehen. Als nun aber auch der Geliebten die Pforte, durch die das Leben [504] einziehen sollte, geöffnet ward, da erblaßte er, erbebte, und minutenlang, da kein Hauch im Zimmer rege ward, lag vor seinen Augen ein schwarzer Flor.

Aber der Schleier fiel; ein Schein wie vom Morgenrot flog über das weiße Blütengesicht; die Lider weit geöffnet, schauten die Augen fragend und halb lächelnd im Kreise umher. Der Greis lag mit emporgehobenen Händen auf seinen Knien; Jairi Töchterlein war lebendig geworden! dem Verlobten war es, als hätte sich eine Ehe vollzogen.

Ein Moment heiliger Stille, aber nur ein Moment! Der sieghafte Praktikant winkte mit der Hoheit eines Souveräns die gelehrte und bewegte Versammlung aus dem Krankenzimmer, das während der Stunden eines erhofften, herstellenden Schlummers nur von ihm selbst und der unschädlichen litauischen Lene betreten werden durfte. Kein Laut der Freude, der Frage, nicht einmal ein Lobspruch des genialen Wunderdoktors durfte in dem Gehörfelde der Patientin geäußert werden. Unten aber im geistlichen Gemach, da brach der Jubel aus, und war der Kandidat, als er vor drei Monaten im Ahnensaale der Werben das Ei des Kolumbus zum Stehen brachte, ob seines Blicks und seiner Rede wie ein Genie gepriesen worden, so wurde er heute gefeiert, als hätte er ein Heldenopfer vollbracht.

»Edler Freund!« stand in Lydias strahlenden Augen geschrieben.

»Tapferer Kamerad!« schmetterte die kleine Sidi mit einem starken Händedruck.

Der Greis aber zog ihn an sein Herz und stammelte unter Tränen:

»In dieser Stunde, mein Sohn, hast du der fremden Frau die Liebe einer Mutter heimgezahlt!«

Ein paar Unzen überschüssiges Blut für mehr als[505] zwanzigjährige Muttertreue! Ach, wie oft sind es doch so leicht erkaufte Erfolge, die am höchsten angerechnet und am reichsten gelohnt werden! Die wahren Opfer werden im Verborgenen gebracht, und keiner zählt sie, und keiner zahlt sie heim.

»Ein Glückspilz bist du, und ein Glückspilz bleibst du, alter Dezem! Wer sich mit dir einläßt, hat gewonnen Spiel!« sagte mit einem Luftsprung Peter Kurze, und nach des Glückspilzes Dafürhalten hatte Peter Kurze den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen.

Die geliebte Rose erholte sich wie durch ein Wunder; Leib und Seele wachten auf gleichzeitig zu Lebenslust und Todestrauer. Nun erst ward sie das Fehlen der Mutter gewahr, nun erst flossen ihre Tränen und dämmerte das Ahnen, daß in einer kurzen Spanne sie völlig eine Waise sein werde. Denn der erste Todesschmerz, und wenn der Verlust längst überwunden wäre, die sorglose Zuversicht zu dem Leben hat er für allezeit ausgelöscht. Die Tochter wußte, was der hinfällige Greisenleib bedeute, und sie hatte von Kind auf dem Vater stärker als der Mutter angehangen. Ihre Züge trugen seitdem ein vertieftes, herzrührendes Gepräge; Dezimus fand sie reizender denn je; Vater Blümel aber, der Blumist, sah in ihr nicht mehr die zum Entfalten reife Zentifolienknospe, des Gartens köstlichste Zier, und gottlob! auch nicht mehr die weiße Rose mit dem lichtgelben Kelch, die wir symbolisch auf unsere Gräber pflanzen, er verglich sie jener lieblichen Gattung, welche »errötende Jungfrau« genannt wird, weil nur ein verschämtes Glühen aus der Tiefe heraus die zarte Hülle durchschimmert. Da er diesen Wandel aber vornehmlich inneward, wenn er die Tochter in der Nähe ihres Verlobten sah, erfüllte sie ihn mit inniger Freude.

[506] Der Vater hatte nicht wie seine Gattin auf eine Vereinigung der beiden Kinder gerechnet und sie auch kaum gewünscht. Er hielt geschwisterliche Gewöhnung weder für den Grund, aus welchem bräutliches Verlangen, noch für den, aus welchem die Würde der Ehe erwächst. Wohl war ihm des Sohnes zärtlicheres Bezeigen seit seinen Jünglingsjahren nicht entgangen, Röschen aber, sein Spätling, war über die gewöhnliche Grenze hinaus ein Kind geblieben, und ihre unverändert neckende Vertraulichkeit deutete nicht auf einen wärmeren Herzschlag. Er verlängerte daher geflissentlich des Sohnes Entfernung vom Hause, bis die Vernunft oder vielleicht eine andere Neigung das reine brüderliche Verhältnis zu seiner Tochter hergestellt haben würde. Nun jedoch, da sie unter dem Schatten des Todes seine Braut geworden war, da sie dem Liebenden ein neues Leben zu danken hatte, ahnete er in der errötenden Mädchenblüte das heimliche Erwachen des Weibes, und seine letzte Erdensorge ward mit dieser Wahrnehmung gescheucht: denn ist der Liebesschutz eines Gatten nicht allemal erfüllender als der der treuesten Brüderlichkeit?

Fast in gleichem Verhältnis wie die Kranke im Pfarrhause sich erholte, erlosch die Seuche in der Auengegend, und da nach solchem Abschluß ein besonders günstiger Gesundheitszustand einzutreten pflegt, schloß gegen die Weihnachtszeit hin auch Peter Kurzens erster Wettlauf in der ärztlichen Arena ab. Er schied nicht ganz leichten Herzens, aber mit dem Nimbus eines Doktor Eisenbart. Seine Erfolge hatten in der Nachbarschaft Aufsehen gemacht und er selber weislich dafür Sorge getragen, daß sein Licht auch für weitere Kreise nicht unter dem Scheffel leuchte. Weit über die heimische Provinz hinaus stand in wissenschaftlichen Blättern und unterhaltenden Blättchen [507] zu lesen von dem plötzlichen Halt der Werbener Epidemie infolge des energischen Eingriffs und der rationellen Behandlungsweise eines freiwillig zur Hülfe geeilten jungen Arztes Soundso. Auch die wunderartige Rettung eines halb schon erstorbenen jungen Mädchens durch die bisher selten gewagte Übertragung fremden, kräftigen Blutes wurde an dieser Stelle in fachgemäß wissenschaftlicher Beleuchtung, an jener Stelle in herzrührend populärer dargestellt. Auf diese wirksamen Empfehlungen hin fühlte Doktor Peter Kurze sich befugt, sich in der Universitätsstadt, »dem geistigen Zentrum der Provinz«, zunächst zwar nur als Praktiker niederzulassen, unter günstigen Konjunkturen sich aber auch als Dozent daselbst zu habilitieren. Sattelfest auf jeglichem ärztlichen Flügelroß oder Gaul, leuchtete ihm die so glorreich erprobte Blutmethode als demnächst zu kultivierendes Steckenpferd verheißungsvoll vor. Er fühlte sich als gemachten Mann, als selbstgemachten Mann, als den eigenen Schöpfer seines Glücks.

Als gemachten Mann aber auch noch in einem zarteren Sinne als dem medizinisch chirurgischen. Eigentümlicher Rapport mit seinem zweiten Freund: von nicht weniger als drei Huldgestalten umschwebt, und just den nämlichen wie jener skrupulöse Freund, sagte – aber ohne jeglichen Skrupel – Doktor Peter Kurze der Heimatsaue Lebewohl! Numero eins: die alte Flamme, für das Herz; Numero zwei: ein weibliches Ideal, für die Phantasie; unschätzbare Schätze eine jede in ihrer Art. Aber ein gesetzter Mann denkt, wenn er liebt, an Hüttenbauen, und zum Hüttenbauen eines doch immer noch lediglich von der Hoffnung zehrenden Doktors der Medizin war, aus Brotschranks wie anderen Gründen, weder Flamme noch Ideal leider angetan. Dahingegen die dritte, keine Huldgestalt in [508] rationellem Sinn, aber gescheut, pikant, interessant, als demnächstige Erbin mehrerer Rittergüter, zum Hüttenbauen für einen dergleichen Doktor expreß geschaffen schien. Über seinen Erfolg hegte er nicht den geringsten Zweifel. Fräulein Sidonie hatte sich in Gelehrtenkreisen bewegt, wußte daher eine aufgehende Leuchte der Wissenschaft von einem Dreierlicht zu unterscheiden. Fräulein Sidonie trug einen altadeligen Namen, besaß aber hinlänglich Ingenium, um über verrottete Vorurteile erhaben zu sein oder mindestens um Vorurteil gegen Vorurteil mathematisch abzumessen und einzusehen, daß ein ungleicher Schulterbau am Ende eine Freiherrnkrone und mehrere Rittergüter aufwiegt. »Transfusion und Sidonie von Hartenstein!« mit diesem Feldgeschrei rückte Doktor Peter Kurze in die Arena des geistigen Zentrums seiner Heimatsprovinz ein.


Im Frühling wurde es ein halbes Jahrhundert, daß Konstantin Blümel sein erstes theologisches Examen abgelegt hatte. Bis zu diesem Jubiläum, falls er es erlebte, gedachte er sein Amt dem Namen nach beizubehalten, dann sollte der Sohn an seine Stelle treten. Den Sohn drängte es nach diesem Abschluß. Nicht sowohl in seiner Kandidateneigenschaft als in der des Bräutigams, dem das Amt eine nicht mehr bloß mit Freuden, sondern mit Bangen ersehnte Erfüllung bringen mußte.

Denn seltsam! die Rosenwandlung, welche dem Vater so befriedigend erschien, sie erschien dem Verlobten je mehr und mehr befremdlich, und wenn der völlige Besitz die Wandlung nicht rückläufig machte, so hätte er schier verzweifeln müssen. Die errötende Jungfrau, ach! war sein liebes Röschen nicht mehr! Nicht, daß sie sich unschwesterlich gegen ihn bezeigt hätte; im Gegenteil, nur allzu [509] schwesterlich, ja im Grunde erst jetzt schwesterlich, da bisher doch immer mit dem schelmischen Übermute eines Hätschelkindes zu rechnen gewesen war. Nun zeigte sie ihm den Anteil einer mehr Verpflichteten als Berechtigten, sorgte für ihn mit nahezu dem Eifer ihrer seligen Mutter, ging ernsthaft wie eine Freundin auf seine Bestrebungen ein, nannte ihn, Tränen in den Augen, ihren Lebensretter; aber sie neckte ihn nicht mehr, widersprach ihm nicht mehr, umtändelte ihn nicht mehr wie sonst, und wo war die Liebende, die hoffende Braut? Hatte sie sich bisher hüpfend an seinen Arm gehängt, sich die Händchen streicheln lassen, Wangen und Stirn ihm zum Kuß gereicht, nun ging sie ehrbarlich an seiner Seite, entzog ihm die Hand, entwand sich den Armen, die sie verlangend umfingen, und ach! von Sichküssenlassen durfte gar nicht mehr die Rede sein.

Anfänglich ehrte Dezimus diese Zurückhaltung als ein geziemendes Traueropfer, oder er dachte wohl auch: sie hat dem Tode in das Auge gesehen und muß erst wieder leben lernen; bemerkte er aber, wie sie in Gegenwart dritter zu all ihrer früheren Munterkeit zurückkehrte, hörte er die Scherzreden, die sie mit der kleinen Sidi wechselte, überlas er die je mehr und mehr sich wieder freudig stimmenden Briefe, die sie an die Schwestern, an Philipp, Peter Kurzen und sogar Freund Martin schrieb, dann mußte er sich sagen, daß eine natürliche, wenn auch noch so leidvolle Erfahrung das Grundwesen eines Menschen auf die Dauer nicht umwandele und daß das heitere Blumenkind einzig und allein gegen ihn verändert sei. Sollte das in Wahrheit der Umschlag geschwisterlicher in bräutliche Liebe sein?

Die Cousinen Hartenstein trafen sich allabendlich in der Pfarre, und niemals kamen sie, ohne dem Greise irgendeine [510] Erquickung mitzubringen; die eine eine schöne Blume oder Frucht; die andere von dem guten Wein, der sich an Papa Mehlborn dauernd als Spezifikum bewährte. Lydia und der Vater unterredeten sich dann erbaulich miteinander, während Sidonie in der Nebenstube auf dem klangvollen Flügel der Harfenkönigin musizierte. Zwar hatte sie ihren eigenen nicht minder klangvollen sich aus der Schweiz nachschicken lassen; was aber ein richtiger Musikant ist, verlangt nach dem Anklang in einem Menschenohr, und weder das von Papa Mehlborn noch von Muhme Timpel waren akustisch auf ein Echo angelegt. Auch Dezimus leistete seinen kräftigen Baß, und Röschen trillerte wie ein junger Pirol, wenn es, der Trauerzeit entsprechend, auch nur ernste Weisen waren, die zum Vortrag kamen.

Nach dem geistlichen Konzert wurde gelesen. Sidonie, die weitaus am reichsten Gebildete des jugendlichen Kreises und mit allem Trefflichen wohl versehen, hatte das Buch des Tages, den Kosmos, in das Haus gestiftet. Ihr Kamerad trug vor, erläuterte und schwelgte dabei in seinem eigensten Element; der Greis übersetzte, nach seiner Art, die wahrnehmbare Welt symbolisch in die des ahnenden Gemüts; Lydia, die Hände im Schoß, sog mit großen Augen und der Begierde eines dürstenden Kindes ungekannte Lebensstoffe ein; Sidonie nickte verständnisvoll, während die Hände wie auf einer Klaviatur sich dehnten und drückten, Rose aber lächelnd mit den zierlichen Fingern Läppchen und Fädchen zu Blättern und Blumen zusammendrehte und nur mit halbem Ohr auf die Wunder der Welterscheinung lauschte, von denen sie sogar nur wenige mit ganzen Augen betrachtet haben würde. Wenn Peter Kurze Zeuge dieser abendlichen Unterhaltungen gewesen wäre, was er indessen nicht ward – möglicherweise weil [511] ein gewisser Korb ihn beschwerte, wahrscheinlichererweise weil er bereits anderweitigen Spuren folgte –, angenommen aber, daß Peter Kurze den Lektor so inmitten der drei ungleichartigen Hörerinnen, die sich gleicherweise seine Freundinnen nannten, hätte sitzen sehen, würde er ihn dem Hahn im Korbe oder, edler ausgedrückt, der Perle im Golde verglichen, ein Uneingeweihter aber eine Braut unter den Freundinnen schwerlich vermutet haben.

Zwei von ihnen führte der Freund dann regelmäßig im winterlichen Abenddunkel nach ihren Heimwesen zurück; Lydia bis an das Schloß, Sidonie die Terrassen hinab zum Gute hinüber; kehrte er aber dann beflügelten Schrittes sehnsüchtig nach der Pfarre zurück, so hatte die, welche seine Braut hieß, sich bereits zur Ruhe gelegt und dem Vater ihren Gutenachtgruß aufgetragen. Seufzend setzte der Bräutigam, bevor er sich in der Kammer des Vaters auf sein Bett warf, sich an den Arbeitstisch, zerwühlte sich Hirn und Herz, aber die exegetische Abhandlung rückte nicht vor und die über die Sternschnuppen kam ihm gar nicht mehr in den Sinn.

So war es denn ein wunderliches Wesen, das in dem stillen Pfarrhause sich umtrieb; aber froh und reich verlief unter demselben dem Greise der Winter, den er mit ungetrübter Klarheit seinen letzten nannte, ja geflissentlich so nannte, um die Kinder mit seinem Heimgange vertraut zu machen. Seine Körperkräfte schwanden sichtbar, aber die des Geistes und selber die der Sinne blieben rege. Schlummerte er auch oftmals ein, beim Erwachen fühlte er sich aufgefrischt zum Geben und Empfangen. Sein Trachten ging dahin, den friedlichen Zustand, in welchem er schied, ohne Unterbrechung für seine Lieben zu befestigen.

An einem Nachmittage bald nach Neujahr, als er mit [512] dem Sohne zum Zweck von dessen Sonntagspredigt das Evangelium von der Hochzeit von Kanaan mit der herrlichen Epistelperikope des zwölften Römerbriefes erläuternd zusammengestellt hatte, winkte er auch die Tochter an seine Seite, und indem er beider Hände in die seinen nahm, sagte er ohne weitere Einleitung:

»Und warm im Herzen von dieser öffentlich verkündeten apostolischen Vorschrift, die für den priesterlichen Stand wie für den ehelichen eine goldene Regel ist, verlies dann, mein Sohn, das gesetzliche Aufgebot und erflehe Gottes Segen zu deiner Verbindung mit meinem lieben Kind.«

Beide Verlobte stießen einen Schrei aus. Er der hellen Freude, sie des Erschreckens, ja schier des Entsetzens. Der Vater achtete weder des einen noch des anderen, sondern fuhr in seiner natürlichen Gelassenheit fort:

»Daß es mein Wunsch ist, als letzten Dienst in meinem Amt eure Hände ineinanderzulegen, vielleicht noch eine kurze Spanne eures Glückes Zeuge zu sein, dürfte gegen manche schwer wiegende Bedenken kaum in Betracht kommen. Aber indem ich eure Vereinigung beschleunige, erleichtere ich euch die Trennung von mir. Denn das ist ja eben der höchste Segen der Ehe, daß sie die Bürde des Lebens erleichtert, weil sie die Tragkraft verdoppelt. Indessen hat, neben der des Gemüts, noch eine zweite weltliche Erwägung diesen Entschluß in mir gereift. Stürbe ich, bevor ihr Mann und Frau geworden, würde die friedliche Ordnung eurer Gegenwart für längere Zeit unterbrochen. Es gäbe ein Rennen und Laufen, das in Trauertagen doppelt störend ist. Entweder müßtest du, Dezimus, bis nach deiner Ordination die Pfarre verlassen und das Amt, das du im wesentlichen verwaltest, einem anderen anvertrauen; oder Rose müßte im ersten Herzeleid zu einer [513] ihrer Schwestern übersiedeln, da ihr über meinen Begräbnistag hinaus nicht unter einem Dache leben dürftet.«

»Und warum,« rief Rose und schüttelte das Strudelköpfchen so unwirsch wie in ihren fröhlichsten Tagen, »warum, Väterchen, sollen Bruder und Schwester nicht wie bisher unter einem Dache leben dürfen?«

»Weil sie Bruder und Schwester nicht mehr sind, sondern Bräutigam und Braut, mein Kind,« versetzte der Vater, »und weil jeder Mensch, aber ein Diener des Amts zumeist, sich den gemeingültigen Gesetzen der Sitte und Schicklichkeit zu fügen hat.«

»Aber welchem vernünftigen Menschen fällt denn so etwas – so etwas Albernes ein?« eiferte Rose. »Und bloß um der dummen Bauern willen sollen wir die Trauerzeit um unsere Mutter mit einem Feste unterbrechen?«

»Wir werden kein Fest feiern, mein Töchterchen. Ich lege in Gegenwart unserer lieben Abendgäste eure Hände still ineinander, und deine verklärte Mutter wird segnend im Geiste unter uns sein.«

Der Vater sagte das wohl und sagte es mit Überzeugung. Im Herzensgrunde jedoch hatte der Vorwurf der Tochter Einlaß gefunden. Nicht daß er ihn bei sich selbst unerwogen gelassen, aber daß er ihn von ihr nicht erwartet hätte. Er blickte mit bewundernder Liebe auf sein zartsinniges, treues Kind, und als er gar Tränen in seinen Augen gewahrte, sagte er, nach einer sinnenden Pause, mit jener Kindesunschuld, die sich bis zum Grabesrand in diesem seltenen Menschen der gereiftesten Weisheit verbunden hat:

»Wer sollte es nicht würdigen, wenn ein feiner weiblicher Sinn vor der höchsten Erfüllung bangt, solange einem berechtigten Empfinden nicht sein Genügen ward? [514] Kennen wir denn aber nicht unseren Dezimus? Er wird in deiner kindlichen Treue eine Bürgschaft mehr für sein eigenes Glück gewahren und sich, auch als dein Gatte, mit der Liebe einer Schwester begnügen, solange der Trauer um eine Mutter nicht ihr Recht geschehen ist.«

Dezimus legte schweigend seine Hand in die dargebotene des Greises. Er tat es mit niedergeschlagenen Augen, und wennschon er im Leben nicht selten mit verräterischen Blutwogen zu schaffen gehabt hat, so über und über in Karmin getaucht wird sein ehrliches Gesicht schwerlich je zuvor oder je nachdem gewesen sein, aber auch sein Herz selten peinvoller geschlagen haben.

Rose hatte während des Vaters letzten Worten wie versteinert gesessen. Jählings überfiel sie ein Zittern; sie sprang auf, und die Hände vor das Gesicht geschlagen, floh sie aus dem Zimmer. Der Vater lächelte still vor sich hin. Dem Bräutigam lag eine Zentnerlast auf dem Herzen.

Zu seiner Erleichterung trat im nämlichen Augenblick der Emeritus Beyfuß ein, behufs einer amtlichen Anfrage, da er der Küsterpflicht nicht gleichzeitig mit der des Schulregenten entsagt hatte. Sein alter Herr teilte ihm die gefaßte Entschließung mit. Es lag ihm daran, seine Gemeinde über die Beweggründe des immerhin auffälligen Schrittes vorbereitend aufzuklären, und für derlei Vorbereitungen war der Adlatus Beyfuß just der rechte Mann. Mutter Hanna hatte ihn allezeit die wandelnde Glocke genannt.

Rose kehrte in das Zimmer erst zurück, nachdem die beiden Freundinnen eingetroffen waren; sie setzte sich in den Ofenwinkel und sprach an dem Abend kein Wort. Der Bräutigam stand ebenso schweigsam im Fensterbogen. Er starrte zum Himmel empor, an dem doch, so dick war [515] der Nebel, kein einziges Sternchen zum Durchbruch kam. Der Vater teilte auch seinen lieben Abendgästen das Vorhaben mit, das seinem Leben einen beruhigenden Abschluß geben sollte. Da Rose ihre Bedenken nicht von neuem laut werden ließ, blieben sie unerwähnt, und es befremdete Dezimus einigermaßen, daß Lydia, die für alles Edle und Schickliche doch so feine Organe hatte, jene Bedenken nicht vorauszusetzen, sondern das Verlangen nach der väterlichen Weihe für den Bund der Herzen das natürlichste zu finden schien. Das musikalische, für Mißklänge daher äußerst scharfe Ohr der kleinen Sidi dahingegen spürte die durch diesen Akkord gestörte Harmonie bald genug heraus, war auch über die Urheberschaft der Störung nicht im Zweifel. Dem Vater sagte sie zwar nur in trockenem Ton, daß ihm eine recht lange Frist gegönnt sein werde, sich des Glückes seiner Kinder zu erfreuen, da Todesvorbereitungen gewöhnlich in Lebensverlängerungen umschlügen; während des Heimwegs, der heute zu verfrühter Stunde, weil ohne geistliches Konzert samt Weltbetrachtung, angetreten ward, spottete sie jedoch nach Herzenslust über die hochzeitliche Stimmung, die im Schmollwinkel ausgeschwiegen worden sei.

Die kluge Sidi hatte, wenn sie spottete, immer einen Zweck und fast immer einen so guten, daß Lydia ihm zugestimmt haben würde, insofern sie ihn unter solcher Verkappung erkannt hätte. Sie erkannte ihn auch heute nicht. Rosens Widerstreben war ihr wohl nicht entgangen, aber das leichtherzige Kind gewann dadurch in ihrer Schätzung, wie es schon in der des Vaters gewonnen hatte, und so wendete sie mit vorwurfsvollem Tone ein:

»Muß denn nach dunkler Nacht das Auge sich nicht erst an das Sonnenlicht gewöhnen lernen?«

[516] Dezimus drückte ihr für dieses gute Wort die Hand; Sidonie zuckte nur schweigend die Achseln, als sie den Weg aber allein mit dem Freunde fortsetzte, sagte sie unmutig:

»Wenn diese Idealisten doch nur das Urteilen bleiben lassen wollten! Alles wird nach dem eigenen Gefühlsmaßstabe bemessen; nichts nach dem der Natur, der Individualität. Zu stark wäre für dieses frohe Auge das Licht des Glücks? Zu schwach ist es ihm. Das Leben ist mächtiger als der Tod. Rose denkt nicht an ihre Mutter!«

Sie merkte zu spät, daß sie die wundeste Stelle im Herzen des Freundes berührt habe, und lenkte daher begütigend ein:

»Das liebe Mädchen, mit Staunen haben wir alle es bemerkt, hat sich redlich Mühe gegeben, sich Ihrem Wesen, Freund, anzubilden. Nicht weil sie Ihre Braut geworden, dies Verhältnis dünkte ihr von klein auf das natürliche, aber weil sie Ihnen das Leben zu danken glaubt und sie das Leben liebt. Nun müssen aber auch Sie sich Mühe geben, sich ihrem Wesen anzupassen; das heißt nicht nur es sich spielerisch gefallen zu lassen, sondern ernsthaft darauf einzugehen. Rose ist durchaus nicht das Kind, für das sie sich gibt und für das sie genommen wird. Sie ist eine fertige Natur und kann ein Charakter werden. Sie weiß, was sie will, weiß, warum sie lacht und weint, mit dem Lockenköpfchen nickt und es schüttelt. Und eben in dieser bewußten Ursprünglichkeit, in dieser Wechselwirkung von Kindersinn und Überlegung wirkt sie auf jedermann so reizend. Allezeit ein Kind sein macht läppisch, allezeit überlegt sein unausstehlich. Bei alledem ist ihr Grundwesen die Freude, und diesem natürlichen Freudensinn müssen Sie auch bei dem gegenwärtigen Anlaß Rechnung tragen, [517] Dezimus. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist ja nicht auf eine sich über stürzende Leidenschaft angelegt, so wie etwa mein Max eine ›große‹ Liebe versteht. Wie oft mögt ihr beide euch in aller Seelenruhe euer Verhältnis als Mann und Frau ausgemalt haben, kaum viel anders als das von Bruder und Schwester. Aber die Hochzeit hat die Kleine sich jederzeit als ein besonderes Fest gedacht, in ihrem beschränkten Kreise sie niemals anders als hohes Fest gefeiert. Die Hochzeit ist im Frauenleben der trennende goldene Schnitt, der leuchten soll weithinaus in ein nur allzuoft graues, trübseliges Einerlei. Was bedeutet der Braut nicht schon das frohe Schaffen der Aussteuer? die Wahl des Hochzeitskleides, der Gedanke an Schleier und Kranz, in dem auch die Häßlichste einen Schönheitstriumph feiert! Nehmen Sie ihr aber auch noch Sang und Klang des Polterabends und Hochzeitsschmauses, und aus dem goldenen Schnitt wird ein bleierner oder bestenfalls einer, der sich von dem abgebleichten Metall der Altargefäße nicht unterscheidet. Ja, wer weiß, hat sich Ihr bewegliches Bräutchen nicht gar auf eine Hochzeitsreise gespitzt! Es geht nicht, Freund, so ohne Zier und Lust; ein Sterbebett im Hintergrunde und eines im Spiegel vorgehalten, die Kinderstube, in der die Wiege gestanden hat, nunmehr die Hochzeitskammer. Papa Blümel würde freilich diese unklassische Auffassung vom goldenen Schnitte nicht gelten lassen. Sie müssen ihn hinzuhalten suchen; ich will Ihnen treulich darin beistehen. Ich kenne aus alter wie neuer Erfahrung die Zähigkeit eines Greisenlebens. Lassen Sie nur erst die Frühlingssonne scheinen und im Garten die Blumenkinder sprießen, dann wallen auch im Herzen die stockenden Säfte wieder auf, der umnebelte Hochzeitsstern wird golden blinken, und die Kranzjungfern Lydia und [518] Sidi werden mit Peter Kurzen und Held Martin den lustigen Brautreigen führen.«

Hatte das kluge Mädchen recht? War es wirklich nur das? Und konnte es dem Liebenden ein Trost sein, wenn es wirklich nur verkümmerte Freude war, welche den starken Trieb des Weibes also im Banne hielt? Nein, ach nein! Er ahnete es ja nicht erst seit heute, daß es ein anderes war; ein größeres oder geringeres; die Wirkung des unerklärlichen Rosenwandels. Mochte Lydia den Ernst der Stimmung zu hoch anschlagen, Sidonie schlug ihn zu niedrig an. Hier klaffte eine Lücke, und welches Geheimnis auch auf ihrem Grunde brütete, die Stunde drängte, er durfte sein Auge nicht länger vor dem schneidenden Lichtstrahl verschließen.

Stundenlang nach der Trennung von Sidonien war er im dicken Nebel, der Himmel und Fluß umhüllte, den Uferpfad hin und wieder geschritten, Zweifel und Fragen auf und ab wälzend wie den Stein des Äoliden: »daß der Schweiß seinen Gliedern entfloß, von schrecklicher Mühe gefoltert.« Mitten in der Nacht kehrte er heim. Der Vater war längst zur Ruhe gegangen, und eben das hatte er gewollt. Er hätte heute kein Wort mehr aus seinem Munde, den Blick seiner Augen nicht ertragen. Aber im Wohnzimmer brannte noch die Lampe, und schon auf der Treppe kam Rose ihm entgegen, mit dem Finger auf dem Munde und einem Wink, bei ihr einzutreten. Sie sah so blaß aus wie jüngst auf dem Krankenlager; ein Zug fast von Trotz dehnte die Lippen, die sich sonst so anmutig kräuselten, als ob sie in einem gewaltsamen Entschluß die Zähne aufeinanderpresse. Über den Augen jedoch lag ein feuchter Flor; sie hatte geweint.

»Ich habe dich erwartet, Dezimus,« sagte sie ruhig, [519] indem sie auf einen Stuhl dem ihren gegenüber deutete, »weil ich dir heute noch etwas sagen muß. Es wird dir wehe tun; aber irremachen wollen darfst du mich nicht, denn ändern kann ich es nicht, wahrhaftig nicht.«

Sie sann ein Weilchen, den Blick am Boden, dann fuhr sie fort:

»Dezimus, wir müssen dem Vater den Willen tun. Er ist so schwach, und wir wissen jetzt, wie rasch ein Leben endet. Er muß im Glauben an unser Glück die Augen schließen oder ganz allmählich an eine andere Auffassung gewöhnt werden. Darum verkünde nur das Aufgebot. Drei Wochen sind eine lange Frist. Es wird sich bis dahin ein Aufschub ersinnen lassen. Im äußersten Falle werde ich wieder krank. Mir ist schon jetzt, als würde ich es ohne Lüge. Es rückt dann die Fastenzeit heran, in der er nicht leicht eine Ehe schließen würde; es kommt der Frühling, der ihn kräftigen wird, – wenn nicht – nun, du verstehst dies ›wenn nicht‹. Wir ersparen ihm die Wahrheit, oder er könnte sie ertragen; die Wahrheit, Dezimus, daß, seit ich deine Braut geworden bin, ich weiß, daß ich deine Frau nicht werden kann.«

»Hast du mich denn nicht mehr lieb, Rose?« fragte er; nein, er hauchte es, oder vielleicht dachte er die Frage auch nur; aber Rose hatte sie verstanden. Sie mochte die Tiefe seiner Bewegung nicht geahnt, den Grad seiner Wärme nach dem der ihren bemessen haben. Möglich, daß sie bis dahin auch mehr das, was sie selber aufgab, als die Entsagung, die sie forderte, in Betracht gezogen hatte. Nun, da sie seine Erschütterung inneward, sagte sie mit herzlicherem Klang als zuvor:

»Ich habe dich noch lieb, Dezimus, mehr denn jemals lieb, ja im Grunde liebe ich dich erst jetzt; denn erst jetzt [520] weiß ich, was du wert bist, und daß es keine bessere Liebe gibt als die deine zu mir. Sieh, seitdem ich mich auf mich selbst besinne, dachte ich nicht anders, als daß wir von Natur zueinander gehörten; ich freute mich auf die Zukunft, die der Vergangenheit glich, und fühlte mich als deine Verlobte, lange bevor ich es war. Denn in der Stunde, da ich es ward, fühlte ich nur den eisigen Tod, und dann fühlte ich tagelang nichts, gar nichts, bis du mir mit deinem Blute das Leben wiedergegeben hattest und ich nun plötzlich wußte, wie ich dich liebte, wie tief ich dich liebte, – aber nicht als dein verlobtes Weib. Es war eine Blutesliebe geworden, eine Geschwisterliebe, und nicht wahr, guter Dezimus, du würdest mir das Leben erkauft haben, auch wenn du wußtest, welchen Preis du dafür zu zahlen hattest?«

Er sagte nicht ja, obgleich er es hätte sagen dürfen. Nach einer Pause fragte er so leise wie vorhin: »Liebst du einen anderen, Rose?«

Das schelmische Lächeln ihrer früheren Tage flog über ihre Lippen. »Einen anderen?« versetzte sie. »Närrischer Dezem, ei, wen denn wohl? Peter Kurzen oder Held Martin? Schäme dich doch, Dezimus, du beleidigst dich und mich mit derlei Rivalen! Und dennoch,« setzte sie nach einer nachdenklichen Pause hinzu, »und dennoch könnte ich am Ende mit jedem von ihnen leichter fertig werden als mit dir. Denn über sie lachte ich mich hinweg; aber mit dir ist es mir heiliger Ernst; dir könnte ich nichts Halbes geben, heute mindestens nicht mehr geben.«

Sie hielt betroffen inne, da sie ihn mit einem Tränenstrom kämpfen sah; dann aber, immer wärmer und wärmer werdend, fuhr sie mit der ihr eignenden hol den Beweglichkeit fort:

[521] »Ich werde nie einen Menschen, wie du bist, wiederfinden. Ich habe dich lieber als alle anderen Menschen, als meine Schwestern alle zusammengenommen. Nur meinen Vater habe ich ebenso lieb wie dich; aber wie lange werde ich meinen lieben Vater noch haben? Dezimus, ich blicke zu dir auf wie – zu meinem Schutzengel würde ich sagen, wenn ich die fromme Lydia und nicht Rose Blümel wäre, die an Schutzengel nicht glaubt, nur an gute Menschen wie du. Sieh, Dezimus, ich wüßte mir nichts Schöneres auszudenken, als mein Leben lang um dich zu sein, hier in der Pfarre oder anderwärts, wo es dir gefiele, als dein Kind, als deine Schwester, deine Freundin, deine Versorgerin, als – ach, lächele doch nur ein einziges Mal, Dezimus – als deine demütige Magd, nur nicht als deine Frau. Erst seit dein Blut in meinen Adern fließt – oder wäre es, daß der Tod mich reif gemacht? –, erst seit ich deine Braut bin, weiß ich, was es heißt, eines Mannes Weib zu sein, und ich weiß auch, was es heißt, eine Sünde begehen wider den Heiligen Geist. Ich würde den Himmel auf Erden an deinem Herzen haben, und wenn ich dich von mir weise und habe auch meinen Vater nicht mehr, ach, dann bin ich ja das allerverlassenste arme Kind auf der ganzen Welt. Und dennoch, etwas, etwas Heimliches, das ich nicht nennen kann – es muß doch wohl mit dem Dämon, an den des Vaters alte Heiden geglaubt, seine Richtigkeit haben, Dezimus! –, ja, ein Dämon sträubt sich und bäumt sich gegen meinen Willen wie gegen einen Frevel an der Natur. Du weinst, Dezimus? Ach, weine doch nicht! Ich bin ja deine Tränen gar nicht wert. Nein, so traurig darfst du mich nicht ansehn, Dezimus. Hast du mich denn wirklich so sehr lieb? Das habe ich mir ja gar nicht gedacht. Du bildest es dir am Ende nur ein. Du [522] wirst eine andere finden, die besser ist als ich; die wirst du heiraten und glücklich werden und mir es noch einmal danken, daß ich dich nicht so geliebt habe, wie sie dich liebt. Oder höre, Dezimus, wer weiß, ob es bei mir nicht ein Nervenspuk ist, den die Krankheit zurückgelassen hat, oder das Todesgesicht? Die selige Mutter hat mich ja immer einen Querkopf gescholten! dein Blut in meinen Adern kann versickern. Der Mensch wird alle paar Jahr ein neuer, sagt Peter Kurze. Ich glaube es freilich nicht; aber es kann ja sein; du mußt nur Geduld mit mir haben, Dezimus. Ich kann dich ja wieder lieb haben lernen wie sonst, wo ich so gern deine Frau geworden wäre, so lieb, wie ich dich lieb haben möchte. Aber wahrlich, wahrlich, Dezimus, niemals mit einer bessern Liebe als in dieser Stunde, wo ich ohne Neid und Groll eine Stimme im Innersten sagen höre: Es ist sein alter Johannissegen, der ihn vor dir und vor sich selbst bewahrt.«

Dezimus reichte ihr stumm die Hand und schlich in die Kammer, wo der Vater schlief. Und da hat er in dieser Nacht wohl einen guten Kampf gekämpft, aber keinem Menschen ist es eingefallen, ihn ob seines Sieges als Helden zu preisen. Und ob ihm sein schweigendes Bräutigamsopfer eines Tages heimgezahlt werden wird? – Ach, was fragt ein Mensch nach dem Glück, das er gewinnen kann, in dem Augenblicke, wo er das, was er besaß, verlor? Dezimus hatte seine Rose niemals schöner gesehen, sie niemals so heiß geliebt wie in dieser Nacht.

Der Morgen kam, der Vater erwachte. Dem armen Dezimus wurde es plötzlich wieder schwarz vor den Augen. Denn in dem Kampfe, den er auszukämpfen hatte, da schien die Proklamation, welche ihm für den Sonntag aufgegeben [523] worden war, freilich nur ein geringfügiges Hindernis. Wenn aber einer eine schwere Last bergan zu tragen hat, da hemmen die Steinbrocken, die auf seinem Wege verstreut liegen, den strauchelnden Schritt mehr als der jache Felsenvorsprung, der sich in weitem Bogen umgehen läßt. Tag und Nacht rang Dezimus mit dem Entschluß, dem Vater die Wahrheit zu bekennen. Aber der Greis war in diesen Tagen so sterbensmatt; hätte eine starke Erregung gewagt werden dürfen? oder welche schonende Täuschung wäre zu ergrübeln gewesen?

So legte Dezimus sich denn am Sonnabend nieder mit dem Vorsatz, morgen nach der Predigt zu verkünden: »Es sind entschlossen in den heiligen Ehebund zu treten« und so weiter und darauf des Himmels Segen zu seiner Verbindung mit Rose Blümel zu erflehen. Fest jedoch stand es in ihm, nach dieser bewußten, groben Unwahrheit mit dem priesterlichen Amte abzuschließen, sobald er die müden Greisenaugen zugedrückt haben würde.

Einer Nacht ohne Schlaf folgte gegen Morgen ein Halbschlummer ruhelos wie jene. Die häßlichen Zweifel des Wachens verkehrten sich in Schwindelängste des Traums. »Von der Kanzel fallen« nennt der Volksmund das kirchliche Aufgebot. Bräutigam und Braut stehen auf einem hohen Gerüst. Er sieht sie straucheln, sinken, will sie halten, taumelt und stürzt mit einem gellen Schrei ihr nach in die Tiefe. Über dem Schrei wachte er auf. Der Greis stand an seinem Bette.

»Du sollst nicht lügen, mein Sohn,« sagte er ruhig, und das kirchliche Aufgebot wurde nicht verkündet.


Wochen vergingen ohne in die Augen springende Veränderung; der Vater schien seinen Plan vergessen zu haben, [524] und wer hätte ihn daran erinnern sollen! In der Gemeinde hatte sich die Sage verbreitet, der Pastor habe, da er sich merklich kräftiger fühle, die Trauung verschoben, bis er sie zum Frühling in seiner Kirche zu vollziehen imstande sei. Möglich, daß Rose des beflissenen Adlatus Einbläserin gewesen ist; vermutlicher indessen Fräulein Sidonie.

In der Pfarre wurde die Weltbetrachtung fortgesetzt; Sidonie spielte ihre Fugen. Dezimus dankte es Lydia, daß sie, ihre Sangesscheu vor fremden Ohren überwindend, jetzt regelmäßig an seiner Statt den Vater durch ein Beethovensches Gellertlied oder eines von seinem alten Bach erquickte. Nie hatte er einen reineren, edleren Alt gehört. Ohne daß ein aufklärendes Wort gefallen wäre, verstanden beide Freundinnen den Grund von des Bräutigams traurigen Augen. Sidonie, wenig von der heimlichen Lösung überrascht und sie noch weniger beklagend, dachte: »Er muß durch!« suchte ihn mit Ernst und Scherz zu zerstreuen, brachte ihm gute Bücher, Karten, kleine optische Instrumente, machte ihm Freude, wo sie konnte. Mehr aber, wahrhaft wohl, tat ihm Lydia, die, ahnungslos von seiner Erfahrung betroffen und in seine Seele betrübt, ihn mit einer leisen, schwesterlichen Güte umspann und in deren Blicken geschrieben stand: »Ich weiß, was Sehnsucht heißt, mein Freund.« Zu ihrem von Tage zu Tage wachsenden Verständnis seiner wissenschaftlichen Interessen gesellte sich nun noch ein herzliches Mitleid, wie seinerseits der gewohnten hohen Verehrung sich eine dankbare Rührung verband, um ihre gegenseitige Freundschaft zu einer vollständigen zu machen. Oftmals aber schmerzte es ihn, daß von all dieser Güte er allein der Empfangende war, und um die arme Rose, die ihre Brautkrone doch so tapfer der Wahrhaftigkeit geopfert hatte[525] – die Billigkeit dieser Einsicht hatte die Kränkung dem Verschmähten, Gott sei Dank, nicht geraubt –, um sie kümmerte sich keiner als er allein.

Freilich sah Rose nicht danach aus, als ob ihr eine Zukunft verschüttet worden wäre. Ein neuer, seltsamer Geist schien in ihr aufgewacht. Oder wäre es der ihres Einst gewesen, der mit dem »reifenden Todesgesichte« um ein heimlich Werdendes rang? Wallende Unruhe wechselte mit grübelndem Versinken; manchmal war es, als fühle sie sich selbst ängstlich den Puls, manchmal, als dränge es sie, sich einem Menschen an die Brust zu werfen. Die ernste Lydia nannte ihren Zustand Gewissensbangen, die kluge Sidi dagegen einfach Langeweile ob Fugen und Weltbetrachtung. »Das Rosenkind weiß, was es will, wenn es am wenigsten es zu wissen scheint,« war heute wiederum ihr Satz.

Ob die kluge Sidi sich aber heute nicht wiederum täuschte? Ob das Rosenkind wirklich wußte, nach was es verlangte? Und was verlangte es denn? Sich freuen, gefallen, geliebt werden wie einst? Oder was mehr? War die »querköpfige Laune« verflogen? das Blut des Bruders in ihren Adern versickert? Bereute sie den heimlichen Bruch? Hatte die »beste Liebe« der natürlichen Liebe wieder Raum gegeben? Dezimus, wenn er ihren lächelnden Blicken begegnete, wenn sie ihm herzlich die Hand reichte, die er freiwillig nicht mehr zu berühren wagte, der arme, törichte Dezimus hoffte wieder nach armer, törichter Liebhaber Art.

In diese lauernde Stimmung drang nun aber, sonderbar belebend, ein Hauch von dem prickelnden Atem der Zeit, und wie Sidonie es gewesen war, welche die Weltbetrachtung gegen die Todesbetrachtung auf die Tagesordnung gebracht hatte, so war sie es jetzt wieder, welche [526] für die Streitfragen der Herzen in denen der Politik einen Ableiter fand. So zurückgezogen sie gegenwärtig lebte, sie hatte bis vor kurzem in einem regen Verkehr gestanden, stand noch mehrfältig und zumal mit ihrem Stiefvater Zacharias in einem Briefwechsel, der sich nicht mit Intimitäten befaßte; sie hielt die bedeutendsten Zeitblätter und Publikationen auch des Auslandes, und was der Hauptfaktor war, bei starker Erhaltsamkeit der Gesinnung besaß sie einen scharfen Sinn für das Schürende und Treibende im Einzelleben wie im allgemeinen. Allerorten witterte sie Gärung und glimmende Glut, zumeist aber dort, wo das Herz schlug, in dem das ihre pulste.

Für den Augenblick zwar wußte sie Max fern. Der Brief, in welchem sie ihn zu dem Herrenleben in Bielitz einlud, hatte sich mit einem gekreuzt, in welchem er ihr einen Winteraufenthalt in Andalusien meldete. Lange freilich würde es ihn, dem holdesten Himmel zum Trotz, unter maurischen Schönheitsresten nicht dulden; seine Zone war die der Aktualität. Die Schwester war indessen schon froh genug, ihn fern zu wissen in einer Gegenwart, wo sie nun einmal, mochte es ein Nebelbild sein, bedrohliche Dämpfe dem Krater entsteigen sah.

Die Stoffe, die sie am Tage gesammelt hatte, die trug sie am Abend nun hinauf in die stille Pfarre, und der sie am gierigsten verschlang, der sie einsog wie einen belebenden Wein, das war der friedliche, sterbensmatte Greis. Er konnte den Moment kaum erwarten, in welchem seine kundige, junge Freundin das Zimmer betrat; er lauschte, fragte, las in kräftigeren Stunden mit der regsten Neubegier; und wie ein erfahrener Landmann, wenn er in weitem Abstand Blitze züngeln sieht, am Zuge der Wolken und Wechsel der Winde, am Fluge der Vögel und manchem [527] anderen tierischen Instinkt sorglich die Niederschläge berechnet, die seine Heimatsflur erquicken oder bedrohen können, so spähete und spannte der alte Freiheitskämpfer von 1813 nach der elektrischen Spannung, welche, sich entladend, in seinem Preußenlande eine Saat, die er selbst mit ausgestreut hatte und deren Reife er nicht mehr erleben sollte, je nachdem befruchten oder vernichten würde.

Patriotische Erinnerungen und Erwartungen ließen, so schien es, ihn den Zwiespalt zweier junger Herzen vergessen.

Noch war es indessen ja nur die Schwüle vor dem Orkan, welche der Empfängliche spürte; noch ahnete keiner, an welcher Stelle und in welcher Weise der atmosphärische Strom sich entladen werde. Als Sidonie jedoch eines Abends die Neuigkeit von dem Ableben des alten Dänenkönigs brachte, als sie mit apodiktischer Beweisführung dartat, daß sein Nachfolger die strittige Nationalitätenfrage zugunsten des Gesamtstaates lösen werde, ja von seinem Standpunkte aus lösen müsse, da steigerte sich in dem Greise das bängliche Vorgefühl zu einem prophetischen Gesicht. Er sah den Funken in seinem Volke niederschießen, nicht wie schon manchmal als einen kalten Schlag; und wie entfernt und beschränkt auch immer der Herd, große Geschicke sah er sich auf ihm entzünden. Sidonie lächelte über den aufgeregten alten Herrn. Mochte er recht haben! Der Kampf um einen Fetzen deutschen Landes, um eine Handvoll »deutscher Sklaven« war keiner, für welchen ihr Max weder zum Rebellen noch eventuell zum Patrioten ward. Die zündende Idee vertrat ihm auch an dieser Stelle Deutschlands Feind.

In dem Sohne dagegen zitterte des Vaters Erregung nach. Schon während seiner Universitätszeit hatte »der [528] Schmerzensschrei« der Herzogtümer wie in den Herzen der Kommilitonen so auch in dem seinen einen starken Widerhall gefunden. Er hatte dem alten, redlichen Vater Jahn endlosen Beifall klatschen helfen, als dieser bei Gelegenheit eines Sängerfestes in der Umgegend die deutsche Jugend im Binnenlande aufrief, sich zu scharen unter dem Banner der durch einen schmachwürdigen Königsbrief bedrohten deutschen Brüder diesseit und jenseit des Eiderflusses, und als darauf in tausendstimmigem Chorus »Schleswig-Holstein meerumschlungen« gesungen wurde, da erscholl der Baß des Hünen der Studentenschaft so donnermäßig wie vor der Zeit noch nie und nach der Zeit nicht wieder. Er, der Hüne, hatte sogar es ganz plausibel gefunden, als Vater Jahn darauf öffentlich seine Mißbilligung aussprach, daß jenes herrliche deutsche Lied in Klang gesetzt worden sei zu eitlem Prahl; auf die Weise »Flieg, Käfer, flieg!« müsse das heiligste Anliegen seines Volkes schon dem Kinde an der Mutterbrust durch die Ohren in das Gemüt dringen und ihm das Eingeweide umwenden.

Feuerfangen wie Stroh und wie Strohfeuer verflackern ist aber nicht eines Glücklichen Art. Dezimus hatte nach jenem beweglichen Sängerfeste oftmals über die Bruderschaft an der Eider nachgedacht, und wenige Streitfragen der Zeit waren ihm so verständlich geworden wie diese. Zwar schätzte er auch die Inseldänen als deutsche Brüder, aber doch nur als Halbbrüder, und da vollbürtige Geschwister den halbbürtigen im Erbe, auch der Liebe, vorangehen, jene halbbürtigen sich überdies wie recht feindliche Stiefbrüder gebärdeten, fühlte er aus dem Herzen der vollbürtigen heraus ein gutes Recht gekränkt. Als er nun aber bei seinem kürzlichen Inselaufenthalt einen Teil dieser[529] rechten Brüder kennen lernte und so kernhafte, tüchtige Menschenbrüder unter ihnen, als er anschaulich in dem Küstenstreifen, um den es sich handelte, die Pforte in das Weltweite erkannte, deren kein zum Leben berufener Staat entraten kann, da brannte ihn die Schmach, die ein kleines einiges Volk seinem großen uneinigen Volke anzutun wagte, und er ermaß die Gefahr für einen dem letzteren unentbehrlichen Besitz. Mußte dieser Besitz, mußten Recht und Ehre in blutigem Streit erobert werden, diesen Streit hätte er ausfechten helfen mögen; in seiner gegenwärtigen Stimmung aber mehr denn je. Oft, ach, wie oft, sehnte er sich aus seiner Schwüle heraus nach einer erfrischenden Tat!

Wie es denn nun aber in Fragen um das Allgemeine oftmals ein Persönliches ist, welches den Anteil schärft, ja sogar ihm eine veränderte Richtung gibt, so war es an jenem Abend der Gedanke an Philipp, der sorgenvoll aus Lydias Seele in die ihres Freundes zog. War er es doch, welcher den Jüngling in den Umkreis des glimmenden Herdes geführt hatte; die Verantwortung für sein Schicksal fiel auf ihn. Er spürte, wie das Hartensteinsche Blut in dem Jüngsten des Geschlechtes aufschäumte, wie es ihn hinriß zu Torheit und Übermut; er sah ihn ergriffen, verzehrt von den Flammen. Und so spukte der tote Dänenkönig in dem friedlichen binnenländischen Pfarrhause gleich einem drohenden Gespenst.

Zum Glück spuken Gespenster jedoch nicht über Nacht, wenigstens nicht in einem Pfarrhause wie dem Blümelschen. Am anderen Tage fühlte ein jeder, daß er mit seinen Befürchtungen weit über das Ziel hinausgeschossen habe und daß nicht mit Feuer und Schwert erledigt zu werden brauche, was mit Feder und Tinte zu erledigen ist. Der [530] alte Dänenkönig war tot, was wußte die kleine Sidi von den Staatsgedanken des neuen?

Um so friedfertiger, als man gestern kriegerisch gestimmt gewesen, vertiefte man sich heute statt in die Politik der Neuen Rheinischen Zeitung in die Physik des greisen Humboldt; und da war es denn eine Anspielung von ihm, welche, um der gründlichen Lydia genugzutun, den Vorleser zu der Verdeutlichung des optischen Grundsatzes, daß jeder Mensch seinen eigenen Regenbogen sehe, veranlaßte. Das führte Vater Blümel nun hinwiederum recht behaglich in sein Lieblingsgebiet, die Gesetze der sichtbaren Natur auf die der unsichtbaren zu übertragen. Sidonie, die während dergleichen »Transfigurationen« nicht immer streng bei der Sache war, summte vor sich hin: »Zart Gebild wie Regenbogen wird auf dunklem Grund gezogen«, Rose aber sog den Duft einer Hyazinthe ein, lächelnd mit halboffenem Munde, so als ob auch ihr ein heiteres Gebilde sich auf dunklem Grunde male, und als ob auf ihren Lippen der Ruf schwebe, »sieh, die liebe Sonne ist wieder durchgebrochen!«

Dezimus gedachte des Tages, wo ihm der Vater das Wunder der bunten Himmelsbrücke als eine Tat der göttlichen Versöhnung erklärt hatte und er, hinauslaufend, um noch eine Spur aus der himmlischen Werkstatt zu entdecken, sein weißes Fräulein wie einen Engel der Verheißung stehen sah. Und bei diesem Erinnern überkam ihn so völlig wie noch nie das Bewußtsein dessen, was er diesem herrlichen Wesen schuldig geworden war; nicht bloß durch die Wirkung, welche es auf ihn geübt, sondern mehr noch durch die, welche ihm gestattet worden war, dagegen auszuüben. Und das ist ja wohl das Höchste, was ein Mensch dem anderen danken kann. Seine Blicke hingen an dem [531] edlen Gebilde, das auch ihm sich auf dunklem Grunde erhob; er sah, wie sie die Brücke der Versöhnung, die aus dem eigensten Gemüte heraus in den Himmel führt, dem Greise gedankenvoll nachbaute, wie sie verständnisvoll mit einem innigen Blicke ihm die Hand drückte. Dann aber sah er sie, erbleichend, plötzlich auf ihrem Stuhle zurücksinken: die Tür ihr gegenüber war leise geöffnet worden, und in ihrem Rahmen stand, wie von der unerwartetsten Erscheinung gebannt, die Blicke auf sie geheftet, ein schlanker, bleicher Mann, die unerwartetste Erscheinung auch für sie. »Max!« jubelte Sidonie auf, indem sie sich in seine Arme stürzte, »Max!«

Ja, Max! Länger als vier Jahre waren es, daß er den Groll des Titaniden in diesem Raume ausgeströmt; länger als vier Jahre, daß er mit neuen Titanengelüsten gegen den alten Himmel gestürmt, Menschen nach seinem Bilde gedichtet und – wohl mehr denn der ursprüngliche Prometheus – genossen und sich gefreut als geweint und gelitten hatte. Die Büchse der Pandora hatte sich auch über seinem Haupte ergossen; die Jünglingsblüte, das Erbe eines kampfgestählten Geschlechts, war auf dem Antlitz des Mannes verwelkt; die bleiche Farbe, das erweiterte Auge, die gedehnten Züge sprachen von der Müde, die der Überreizung folgt, und dennoch, ja darum erst recht, war er der schönste Mann, welchen alle in dieser Minute auf ihn gerichteten Blicke jemals geschaut hatten oder schauen würden, und darum erst recht war er, wie man es so nennt, ein interessanter Mann.

Menschen aus einem Gusse wie Lydia, oder nach seiner Art auch Held Dezimus, werden schwerlich, sogar von schmeichelnden Biographen, als interessante Leute aufgeführt werden. In Max von Hartensteins Anlage und [532] Schicksal, ja bis auf den äußerlichen Habitus hinab, lag jedoch wie selten in einem jenes zwiefältige oder zwiespaltige Etwas, das als Zauber der Interessantheit wirkt. Er war nach Geblüt und Neigung Edelmann und nach Gesinnung Demokrat; er fühlte sich einen Dichter und lebte wie ein Kind der Welt; er wußte sich und stellte sich dar als den Erben einer Million und darbte wohl manchmal um das tägliche Brot; er betrat den heimischen Boden als ein Fremdling und den Kreis der Gleichgestellten nahezu mit dem Stigma des Ausgewiesenen, aber mit den Ansprüchen und dem Gebaren des Herrn; er trug noch das strenge Trauerkleid um seine Mutter, aber von einem Schnitt, wie im weiten Umkreis seines künftigen Dominiums noch kein Kleiderschnitt gesehen worden war. Und wie trug er das Kleid! Wie ließen dem blondlockigen Germanen mit dem tiefblauen, treuherzigen Hartensteinschen Blick und Ton die flüssigen Allüren, die spielenden Aperçüs eines Eingewohnten von Paris; wie verstand er, wenn er wollte, und heute wollte er es, jedem zu sagen, was ihm zu hören gefiel, wie kaum merklich zu schmeicheln, wäre es auch nur mit einem Augenaufschlag, einer Bewegung der Hand. Und doch war er zum Komödienspiel zu gründlich Stimmungsmensch und zur Koketterie zu selbstbewußt und stolz.

Er war seiner Überraschung alsobald Herr geworden und grüßte nun rund im Kreise mit vollkommener Unbefangenheit. Nachdem er sich vor Vater Blümel ehrerbietig wie vor einem Patriarchen verbeugt, zog er die Hand, die Lydia ihm schweigend gereicht hatte, ebenso schweigend an seine Lippen und hielt sie ein paar Sekunden an denselben fest. Etwas anders nüanciert, nicht ganz so ernsthaft oder vielleicht ritterlich war die Berührung der rosigen Fingerspitzen ihrer Nachbarin, der erste Handkuß, mit [533] welchem irgendein Mensch das Pfarrröschen ehrte; selber ihr alter Dezem war in den Tagen seiner Rosenwonne auf solche Galanterie nicht verfallen; und wer in aller Welt hatte vor diesem aristokratischen Demokraten das Pfarrröschen jemals »gnädiges Fräulein« tituliert, wer sich so ausdrucksvoll gewundert, wie bis zum Nichtwiedererkennen in den Jahren der Trennung eine freundliche Gönnerin größer und schöner – das letzte Epitheton wurde nur mit den Augen gelächelt – geworden sei? Auch der Herr Kandidat würde mit dem biderben Handschlag, den er erntete, wohl zufrieden gewesen sein, wenn die nachfolgende Gratulation zu seinem Verlobungsglück ihm nur nicht wie ein Stich durch die Brust gefahren wäre. Endlich aber die kleine Sidi, die ließ der prächtige Mensch gar nicht aus dem Arm, nicht von seiner Hand. Er streichelte ihre blassen Wangen, ihren schlichten Scheitel, blickte und nickte ihr zu wie eine Mutter ihrem kranken Kind, und alles das so einfach, als ob das Gehörige auch immer das Natürliche wäre.

Er erzählte darauf, daß er in die Heimat gekommen sei, um unter den Auspizien seiner Schwester ein tüchtiger Landwirt zu werden, daß er sich auf ihre Überraschung gefreut und, als er sie nicht in ihrer Werkstatt, den armen alten Großvater aber bereits schlummernd gefunden, er der Lockung nicht habe widerstehen können, sie im Kreise der Freunde aufzusuchen.

Welche wohlgelungene Überraschung nicht bloß für die Eine, der sie galt! diese Eine aber strahlte wie eine Selige; kaum daß sie die Augen von ihrem Liebling verwendete, heute in Wahrheit ihrem Bertrand de Born! Denn auch des Greises Puls schlug in einem lebhafteren Takt, und der betrübte Kandidat des Predigtamts sah seinen Jovisstern [534] leuchten wie in der Schülerzeit; die aber, welche als seine Braut von dem Gaste beglückwünscht worden war, die noch vor einer Stunde so träumerisch prüfend zu dem brüderlichen Verlobten hinübergeschielt hatte, die funkelte und sprühte jetzt wie ein gestreicheltes Kätzchen, tändelte zierlich mit dem Teegeschirr und hatte – wo nahm sie es nur auf einmal her? – für jedes heiter neckende Wort ein heiter neckendes Gegenwort. Das frische Blut, das aus einem fremden Herzen dem ihren eingeimpft worden, war nach langem Stauen in Fluß gekommen, das kindliche Gesicht bis unter die üppigen Locken mit seinem Purpur übergießend. Die verschämte Mädchenblüte hatte sich wiederum zur Zentifolienknospe umgewandelt, die unter dem ersten Sonnenstrahl die Hülle sprengen wird.

Nur Lydia schien von dem allseitigen Zauber unberückt, sie, die doch zweifellos die einzige war, welche der Zauberer des Berückens wert geachtet, und ebenso zweifellos die einzige, für welche ein jeder im Kreise die Bezauberung am natürlichsten gefunden haben würde. Ihr greiser Freund lauschte mit einem Ausdruck froher Hoffnung zu ihr hinüber; ihr junger Freund mit einem der scheuen Furcht, über deren Beweggrund er sich keine Rechenschaft hätte geben können; sie aber war wieder das unnahbare Klosterfräulein geworden; wie das Röschen plötzlich zur Rose aufzubrechen schien, so hatte sie den geöffneten Lilienkelch zusammengezogen. Sie blickte ernst vor sich hin, sprach nur, wenn sie eine Antwort zu geben hatte, und als die Stunde des gewöhnlichen Aufbruchs gekommen war, erhob sie sich vor den anderen, um heimzukehren. Dezimus wollte sie begleiten; Sidonie aber sagte lachend:

»Für heute, Freund, sind Sie Ihres Ritterdienstes quitt. Unser Weg führt ja am Schlosse vorüber. Verzögern Sie [535] Papa Blümel, der über Gebühr aufgeregt worden ist, den Abendsegen nicht.«

Lydia legte ruhig ihren Arm in den, welchen Max ihr bot; Sidonie hing sich in den anderen. Rose flatterte wie ein Schmetterling ihnen bis an die Haustür voran und kehrte nicht wieder in das Wohnzimmer zurück; Dezimus hatte das Nachsehen, ein schmählich ausgestochener Held. Er sang dem Vater das Abendlied, schloß keine Wimper in der Nacht und fühlte am Morgen sich doch, als erwache er aus einem wüsten Traum. Wie gestern die kriegerische Wallung, war heute die zauberische Blendung gescheucht. Aber die Augen taten ihm weh und das Herz wie kaum je.

Rose hatte an diesem Tage zu schaffen wie die Maus in sieben Wochen. War das aber ein Wunder? Rose war ja an die Stelle der Hausfrau gerückt und es Mutter Hanna gleichzutun sicherlich nichts Kleines. Die alte Lene mußte frische Teekringel backen, obgleich der Vorrat noch nicht aufgezehrt war; ei nun, er mochte etwas abschmeckend geworden sein; dem Bräutigam fehlte dafür nur das würdigende Organ; ihm mundete früherhin alles und jetzt leider nichts. Reine Gardinen wurden aufgesteckt. Zuverlässig waren die alten bestäubter gewesen, als sie dem Bräutigam vorgekommen, Sterngucker haben für Mullwolken selten den richtigen Blick; wem aber hätte es auffallen dürfen, daß blühende Hyazinthen und Tazetten mit Myrten und Geranien zu zierlichen Gruppen geordnet wurden? Hatte das liebe Röschen ihre Umgebungen nicht allezeit gern geputzt? Die Lust zum Putzen war ihr nur in den Schattenmonden eingeschlummert. Aber sieh doch! hat sie sich selbst heute zum ersten Male nicht wieder geputzt? Gott behüte; sie trägt ja ihr tägliches Trauerkleid, und wenn die schwarze Krause den schlanken Hals etwas [536] weniger knapp umschließt, die natürlichen schwarzen Löckchen etwas zierlicher sich ringeln, so ist das zufälliges Geraten oder, wenn ja ein bißchen Kunst mit unterlief, das allererfreulichste Zeichen. Sich hübsch machen, heißt bei einem siechenden Kinde genesen sein und bei einem gesunden doch wahrhaftig nicht etwa eine Sünde!

Lydia stellte zu gewohnter Stunde sich ein.

»Aber wo bleibt denn Sidi?« fragte Rose und spähete aus dem Fenster, wenngleich es so rabendunkel war, daß weder auf dem Talwege noch irgendeinem anderen ein lebendes Wesen hätte erspäht werden können; und nach einer Viertelstunde fragte und spähete sie von neuem, obschon der Mond noch immer nicht aufgegangen war. Sidonie kam nicht; das geistliche Konzert unterblieb; Rose erklärte sich für heiser, dem Kandidaten war die Kehle zugeschnürt. Auch der Kosmos wurde heute nicht aufgeklappt, da Lydia es angemessen fand, der Freundin nicht zuvorzueilen, und auch kein anderer ein lebhaftes Verlangen nach einem Horizont, der über den beider Werben hinausreichte, zu tragen schien. Dagegen sang Lydia, ehe sie sich entfernte, zum ersten Male das Novalislied, das sie ihrem Vater jeden Abend vor dem Schlafengehen gesungen hatte:

»Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu.«

Als Dezimus sie nach dem Schlosse zurückführte, fragte sie ihn, welchen Eindruck Max auf ihn gemacht habe, und er bekannte ihr aufrichtig den Zauber, den diese außergewöhnliche Persönlichkeit mehr denn je auf ihn und die Seinen ausgeübt. Sie erwiderte im Augenblick nichts; aber er dankte ihr schon die Frage; es war das erstemal, daß sie den Namen des einst so tiefgeliebten Mannes vor ihm oder irgendeinem anderen ausgesprochen hatte. Liebte sie [537] ihn noch, oder liebte sie ihn wieder? Nach einer langen Stille sagte sie:

»Es ist etwas Seltsames um solch ein Wiedersehen. Man merkt an ihm erst das Wirken der Zeit. Mir ist, als ob eine Binde von meinen Augen gefallen wäre.«

Sie ahnete wohl nicht, daß sie mit diesen Worten dem Freunde ein Rätsel aufgegeben hatte. Denn die Zeit versöhnt, und die Zeit verlöscht.

Rose war heute ausnahmsweise noch nicht in ihr Stübchen gegangen. Sie stand wieder am Fenster und schaute in das Tal hinab, das jetzt vom Mond beleuchtet ward. »Wie langweilig diese Lydia ist,« sagte sie mit krauser Stirn, ein Gähnen unterdrückend. »Hätte Sidonie nicht ein bißchen Leben in die langen Winterabende gebracht, sie wären nicht zum Aushalten gewesen.«

Als sie Dezimus zur guten Nacht die Hand reichte, fragte sie:

»Glaubst du, Dezimus, daß Lydia den Baron noch liebt?«

Das war ja eben die Frage, die ihm so mächtig in Kopf und Herzen herumging; aufrichtig aber, wie er nun einmal war, auch wenn er mit seiner Aufrichtigkeit sich selbst ein Leides tat, antwortete er, daß er das allerdings nicht wissen könne, aber ihre Liebe zu ihm ebenso natürlich finden würde wie die seine zu ihr.

»Er – sie? Ach warum nicht gar!« rief Rose unmutig. »Es ist Torheit, was man von alter Liebe sagt. Was im Herzen gestorben ist, wacht nicht wieder auf. Und wie viele mag er in der Zwischenzeit angebetet haben! Sie ist ja auch viel zu alt für ihn.«

»Sie ist zwei Jahr jünger als er.«

»Aber steif wie eine Großmutter.«

Das liebe Röschen war keineswegs, wie die kluge Sidi [538] behauptete, ihrer Stimmungen allezeit Herr, sonst würde sie die heutige fein für sich behalten haben; denn wehe tun wollte sie ihrem armen Dezem gewißlich nicht.

Am nächsten Sonntag, dem, an welchem das dritte Aufgebot und nach ihm die Trauung stattgefunden haben würde, war Max mit seiner Schwester in der Kirche. Er hatte seinen Platz dem Herrenstuhl gegenüber gewählt, wo er von Lydia bemerkt werden mußte, sobald sie den Blick der Kanzel zuwendete. Sie wendete, nach ihrer Gewohnheit, während der Predigt ihn kaum von der Kanzel ab, der Prediger hätte aber nicht die leiseste weltliche Störung ihrer Andacht wahrnehmen können. Wenn die alte Liebe wieder aufgewacht war, mußte der heilige Ort den gebührenden Bann ausüben.

Unter der Kirchpforte stieß das Geschwisterpaar mit dem nominellen Brautpaar zusammen und geleitete es zu einer Staatsvisite in die Pfarre.

Der Herr Baron wunderte sich, daß er das gnädige Fräulein nicht in der Kirche bemerkt habe, worauf das gnädige Fräulein mit einem allerliebsten Schelmenblinzeln erwiderte, der Herr Baron habe eben mit dem Rücken gegen den Pfarrstuhl gelehnt gestanden. Das hätte der Herr Baron sich nun für künftige Kirchbesuche gesagt sein lassen können. Leider hatte es jedoch bei diesem ersten Besuche sein Bewenden. Es wäre der Werbenschen Erbgruft nur ein Erinnerungszoll dargebracht worden, äußerte der Herr Baron.

Überhaupt drückte in dem Baron der Umschlag aus einer interessant gemütlichen in eine interessant ironische Stimmung sich deutlich aus. Er beglückwünschte Pastor Blümel über das Wunder der Toleranz, das sein Beispiel in der Gemeinde gewirkt habe. Wie müsse dem standfesten Onkel Propst im Chore der himmlischen Heerscharen zumute [539] sein, wenn er seine Tochter mit so seelenruhiger Andacht einem unionistischen Gottesdienste beiwohnen sähe? Schreite die Freisinnigkeit in gleicher Progression fort, könne die einstmalige Seelenfreundin des Professor Hildebrand es noch zur Adeptin von Papa Zacharias bringen.

Pastor Blümel erwiderte ruhig, daß er diese Befürchtung nicht hege, und lenkte das Gespräch auf ein Gebiet, wo er seinen Gast mehr als in dem eines gläubigen Herzens zu Hause halten durfte: auf das der Politik; indessen auch auf dieses nur so weit, als es die vaterländische Grenze nicht berührte. Er bat um eine nähere Erklärung der Reformbankette, die in den Zeitblättern ja nahezu als eine Existenzfrage des französischen Staates behandelt würden, war aber nach erhaltener Aufklärung merklich enttäuscht, da er hinter dem ungestümen Verlangen, ein Mahl zu halten und beliebige Toaste auszubringen, eine karbonaristische Verschwörung oder andere dergleichen Heimlichkeit, welche die Regierung ausgewittert, vermutet hatte. Worauf denn Herr von Hartenstein lächelnd erwiderte, es sei in Frankreich nichts Neues, mit Explosivstoffen in der Form von Knallbonbons eine Feuersbrunst zu entzünden. Im teuren Vaterlande walte die entgegengesetzte Manier ob. Wenn die Mine bis zum Platzen vollgeladen sei, leite man sie in Äderchen und Kanälchen ab, und der erste beste Landregen spüle sie in den Strom der Zeit.

Nun, Konstantin Blümel wußte von einer vaterländischen Mine, und er hatte sie selbst mit laden helfen, die gar wuchtig einen Koloß über den Ozean geschleudert hatte! Doch verlautbarte er diese Erinnerung nicht, sondern erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Amtmann Mehlborn. Der Pulsschlag seines Entzückens hatte sich während dieser Sonntagsvisite indessen bedeutend ermäßigt.

[540] Am anderen Tage fand Rose es dringlichst angemessen, daß der amtliche Stellvertreter des Vaters diese Visite erwidere, fühlte sich selbst auch hinlänglich zu einem Spaziergang bei so prachtvollem Winterwetter gekräftigt, begleitete den väterlichen Stellvertreter demnach ein Endchen und bekam bei Wege ein unwiderstehliches Gelüste, zu sehen, wie Freundin Sidi sich in der alten Bärenhöhle ihr Nest eingerichtet habe.

Ei nun, fürwahr traulich genug. Zunächst gab es gar keine Höhle mehr, sondern ein sauberes Wohngelaß und in dem Gelaß keinen brummenden Bären, sondern einen gemütlichen alten Herrn, der ganz fidel hinter seinem Spitzgläschen sang: »Gestern abend war Vetter Michel da«, und dann seine Augen zutat und schlief. Die Augen seiner Hüterin aber, die klugen Sidiaugen, die hatten noch nie in einer reineren Freude gestrahlt. Zum ersten Male hatte sie einen Menschen, vor dem sie ihre reichen Gaben unter keinem anderen Zwang als dem der natürlichsten Liebe entfalten durfte, den sie hegen und pflegen durfte, den sie zu halten hoffte für das Leben. Denn auch er war glücklich neben ihr und durch sie.


Wer liebte nicht das Neue? wer bedürfte seiner nicht? Wer aber hätte jemals mehr unter seinem Banne gestanden als der Dichter Hartenstein? Er lebte und webte im Wechsel. Der Wechsel war sein Element, sein tägliches Brot. Der erwünschteste Zustand hätte ihn auf die Dauer bedrückt, der unerwünschteste Umschlag ihn momentan aufgeschnellt. Paris mit seiner unerschöpflichen Mannigfaltigkeit war ihm daher der gedeihlichste Boden und die Ebbe und Flut seiner äußeren Mittel, die ihn zwischen den verschiedenartigsten Existenzen auf und nieder trieb, für [541] seine Schaffenskraft das vielleicht notwendige Ferment. Allezeit im Salon, würde er aufgehört haben ein Dichter zu sein; allezeit in der Mansarde, wäre er es wahrscheinlich niemals geworden. Auch die Einsamkeit wurde dann und wann zu einem ersehnten Wechsel. Auf Alpengipfeln, am Meeresstrand, oder wie diesen Herbst unter einem südenprächtigen Himmel, ganz allein, da dehnte sich die Brust, schwellte sich die Künstlerseele – drei, vier Wochen lang, dann aber zog es ihn wieder in das Gewühl wie in ein Heim.

Dieser Aufenthalt mitten im Winter, in nüchterner Landschaft, auf Papa Mehlborns emsigem Wirtschaftshof hätte daher, so scheint es, der widerwärtigste sein müssen, den er erwählen konnte. Aber es war etwas Neues; er nannte ihn ein Idyll. Die Erwartung des großväterlichen Ablebens, das, gegen ihren Glauben, seine Schwester ihm als bevorstehend dargestellt hatte, eine brüderliche Wallung, vielleicht eine momentane Geldklemme hatten ihn hergetrieben; nun hielt das Wohlgefühl zärtlicher Fürsorge, mit welchem zum ersten Male seit seiner Kindheit ein Mensch ihn umspann, ihn fest; die materielle Fülle, das Ansehn der Seßhaftigkeit machten sich geltend, hohe Kulturbestrebungen, im nächsten Zusammenhange mit seinen bisherigen literarischen Tendenzen, tauchten auf. Möglich, daß auch die Wiedereroberung seiner frühesten, einzigen wahrhaft Schönen, auf welche unerwartet sein erster Blick gefallen war, ihn lockte, daß nebenbei das deutsche Pfarrtöchterchen ihm zu einem kleinen Roman allerliebst genug dünkte. Einem Dichter ist Frauengunst ja der Kastalische Quell, und hat denn nicht der alte Meister, welchem der junge bescheidentlich nachstrebte, die angenehme Empfindung einer gleichzeitigen Doppelliebe zu rühmen gewußt?

[542] So war er denn allen Ernstes gewillt, in dem stattlichen Grafenschlosse von Bielitz, dessen Erbe zu werden er jeden Tag erwarten durfte, sich häuslich einzurichten und a priori den Herrn in ihm zu spielen. An dem nervus rerum gebrach es nicht; Sidonie war vollständig Meisterin der Lage, der alte bärbeißige Mehlborn ein stillvergnügter Knabe geworden, seitdem seine junge Pflegemutter ihm die Milch des Alters nicht ausgehen ließ. Er nippte, zippte und nahm seinen Herrgott für einen frommen Mann. Wiederholt hatte Dezimus seinem guten Kameraden diese Behandlungsweise vorgehalten: »Sie schläfern Ihr altes Kind mit Mohnsäftchen ein und erziehen es zum Idioten,« hatte er gesagt, sie aber lachend erwidert:

»Zum Idealisten erziehe ich es, und die guten Genien der Jugend wecke ich auf. Hätte ich mein Papachen bei seinem Dünnbier belassen, fühlte es sich blind und elend, wäre mißtrauisch und mißvergnügt, keifte am Tage mit widerborstigen Frönern und grauelte sich nachts vor Raubmördern und dem Gespenst des schwarzen Todes. Nun ich ihm stündlich ein Gläschen von dieser braven Liebfrauenmilch einschenke – selbstverständlich unter der Etikette ›Werbensches Gewächs‹ –, glaubt er, liebt, hofft, vertraut, sieht mit Augen seine Felder sprießen, an seines Sidonchens problematischem Schulterstück zwei goldene Engelsfittiche leuchten und schlummert von vierundzwanzig Stunden netto zwanzig wie der Gerechte in Abrahams Schoß. Wer ein Achtziger werden will, kann sich nichts Besseres wünschen.«

Indem Sidonie auf diese Weise Genien der Jugend, die in Papa Mehlborn bis dahin geschlummert hatten, zum Leben erweckte, war sie indessen vorsichtig und auch gutmütig genug, die Dämonen des Alters, die von Kindesbeinen [543] an in ihm rege gewesen waren und selten gründlich einzuschläfern sind, nicht heraufzubeschwören. Die vielwerte Eisentruhe blieb unverrückt unter Papachens Bett, ihr Schlüssel tags in Papachens Rocktasche, nachts unter seinem Pfühl. Sein Sidonchen hatte noch keinen Blick in die Truhe getan. Ihr genügten die Wirtschaftserträge, nach welchen Papachen wenig mehr fragte, und gewisse Stempelbogen, zu deren Kontrasignatur – unter der Rubrik Rechnungen, Quittungen und so weiter – sie sonder jeglichen Gewissensskrupel Papachen die Hand führte. Die großjährige Enkelin und Erbin des unzurechnungsfähigen Greises erfreute sich eines weittragenden Kredits, bedurfte desselben aber auch nach Ankunft ihres Bruders in täglich wachsendem Maße.

Er hatte Bedürfnisse der mannigfaltigsten Art, eine allezeit offene Hand, auch große philanthropische Projekte, für welche bis zum reellen Erbantritt wenigstens die Einleitungen getroffen wurden. Sidonie nahm alles auf ihre Kappe; ihres Bruders Kredit blieb unangetastet, sein Name stand unter keinem Wechsel; er war der Schöpfer, sie der Handlager. Da sollten die Lasten der »weißen Sklaven« nicht etwa abgelöst, sondern einfach aufgehoben werden, den freiwilligen Arbeitern Häuser gebaut, gegen welche die der Grabesstraße von Werben armselige Hütten waren, und dergleichen vieles. »Der Baum eines Volkes treibt von unten herauf,« sagte er, und wer hätte etwas dagegen sagen können? »Seine Wurzeln müssen gedüngt und begossen werden.« Wo Max von Hartenstein lebte, mußte menschenwürdig zu leben sein; war er ein Egoist, so war sein Egoismus großmütiger Natur. Ja, er trug sich allen Ernstes mit dem Entwurf eines Phalansteriums auf seinem einstigen Grund und Boden, nachdem er für die [544] Errichtung eines solchen in überseeischen Zonen seit seinen Pariser Tagen geschwärmt und schriftstellerisch gewirkt, sogar gedichtet hatte. In der Neuordnung des Eigentums sah er die große Frage der Zukunft und in der republikanischen Freiheit, der sozialen Gleichheit nur ihre Vorläufer.

Vorderhand mußte man sich freilich begnügen, das eigene Leben menschenwürdig auszugestalten. Die Einrichtung des Herrensitzes, Anschaffungen, Bestellungen, anzuknüpfende Verbindungen ließen es auch für die unermüdliche Intendantin zu regelmäßigen Pfarrbesuchen nicht mehr kommen. Um so erfreulicher waren die Überraschungen, wenigstens für Freundin Rose. Sidonie war beflissen, sie in ihre Nähe zu ziehen, sie zu sich einzuladen, sich auf ihren Fahrten in Stadt und Umgegend von ihr begleiten zu lassen, und der Vater gönnte seinem Liebling diese Erholung, bevor binnen kurzem sich wiederum ein Trauerschleier über ihren Jugendtag breiten würde. Auch das peinliche Zusammensein der dem Namen nach noch immer Verlobten erhielt dadurch eine für beide Teile wohltätige Unterbrechung.

Denn, ohne es auszusprechen, hatte der Vater von der ersten Stunde ab nicht nur die Lösung des Verhältnisses, das seine Kinder ein paar Monate hindurch gequält hatte, klar erkannt, sondern auch ehrend und verstehend deren Grund; und wenn er die Getrennten dennoch vereint in seiner Nähe hielt, so geschah es in der Hoffnung, daß sie sich stillschweigend wieder in jenes geschwisterliche Verhältnis zurückleben würden, das sie mehr als zwei Jahrzehnte beglückt hatte. Er achtete den Sohn für stark genug, diese schwere Probe zu bestehen, und gönnte ihm die Befriedigung, seinem väterlichen Wohltäter bis zu seiner letzten Stunde eine Stütze zu sein. Nach derselben mochte [545] er frei aus seinem Gemüte heraus die Entscheidung über seine Zukunft treffen. Sein Vögelchen ließ er für ein Weilchen fliegen!

Und da waren es für das Pfarrröschen wohl goldene Stunden, wenn es, in seidene Wagenpolster gedrückt oder im lustigen Schlitten, den der schöne, junge Baron hinter den beiden Damen lenkte, ein zierlicher Jockey zu Pferde vorantrabend, in der Gegend umherschwärmte, Stunden, wie sie das Pfarrröschen wohl für eine Märchenprinzeß geträumt, einen wirklichen Menschen sie aber noch niemals hatte durchkosten sehen. Es mochte der weltlustigen jungen Seele bedünken, als ob das Schicksal sie recht irrtümlich in den Schoß einer still in sich begnügten geistlichen Familie getragen habe.

Indem Sidonie die Freundin auf diese Weise ihrer heimischen Sphäre entfremdete, nahm sie den Bruch des Verlöbnisses als ein fait accompli und als des Bräutigams gutes Glück. Hätte sie sein Glück aber auch in Rosens Besitz gesehen, würde sie schwerlich angestanden haben, es auf diesen Bruch ankommen zu lassen, insofern das Wohlbefinden ihres Bruders auch nur auf Momente dadurch gefördert wurde. Es galt, ihn mit starken Reizen an die Heimat zu fesseln. Lydias Wiedergewinn würde der am stärksten wirkende gewesen sein. Aber die Kluge zweifelte nicht bloß an dem aus ihm erblühenden Segen, sondern einfach an seinem Gelingen, und so wurde die leicht zu gewinnende liebliche Rose, coûte que coûte, als Gegenreiz in den Vordergrund geschoben. Dieses von Grund aus gütige, recht und billig denkende Mädchen, das einst seine unglückliche Verwandtin »eine Jesuitin der Familienpflicht« gescholten hatte, es fand jetzt jedes Mittel gut und gerecht für einen Liebeszweck, dem sie sich blind wie einem [546] Schicksalszwang unterwarf. Ach, der Ärmste, den sie ein Johanniskind nannten! Hätte Freund Peter Kurze ihn gegen Ende des Winters gesehen, er würde ihn nicht, wie zu seinem Anfang, als Hahn im Korbe beneidet haben. Verlassen hatte ihn die Braut, verlassen sein Kamerad; ohne das Recht des Eingriffs und doch ohne die Freiheit zur Flucht sah er, in der beschämendsten Lage, ratlos und tatlos ein Verhängnis herantreiben, dem er sich mit seiner letzten Kraft hätte entgegenstemmen mögen, und er würde an sich selbst und an aller Menschenhoheit und Treue haben verzweifeln müssen, hätte nicht sein weißes Fräulein fest und ermutigend ihm zur Seite gestanden. Ja, Lydia war ihm geblieben, Lydia und Konstantin Blümel, der herrliche Greis, der sich noch niemals so väterlich ihm zugeneigt hatte wie jetzt, da es galt, die Wunden zu verbinden, die sein liebstes Kind ihm schlug; die Wunden, welche der Sohn um jeden Preis dem Auge des Vaters – ach nein, jedem Auge – hätte entziehen mögen.

Der alte Vater erkannte mit Reue seinen Irrtum, als er dem flügellahmen Vögelchen den Käfig öffnete. Er hatte seinem Liebling den kleinen Finger bewilligt, und der Liebling herzhaft beide Hände ergriffen. Der alte Vater, so todesgewiß er war, er hätte jetzt leben mögen, leben mit Jugendkräften, um den Flatterling wieder einzufangen, das betörte Kind zu überwachen, das strauchelnde zu leiten und es, würdig seiner selbst, nicht mehr, wie er eine kurze Zeit gehofft, dem Gatten am Herzen, aber dem Bruder an der Hand zurückzulassen.

Der Greis so wenig wie der Jüngling war erfahren in den Vorspiegelungen, unter welchen eine Leidenschaft sich unbewußt in die Herzen schmeichelt, und noch minder waren es beide in den bewußten Kunstgriffen, die jenem [547] natürlichen Ränkespiel in die Hand arbeiten. Aber sie sahen mit Blicken, welche die Liebe schärfte, die einfache Liebe, die sie verstanden. Und da konnte ihnen denn nicht entgehen, daß Max Rosen niemals beflissener entgegenkam, den Zauber seiner Persönlichkeit niemals verführerischer zur Geltung brachte, die Wichtigkeit seiner philanthropischen Pläne, die Vorzüge seiner gesellschaftlichen Stellung niemals geschickter hervorhob, als wenn er Rosen in Lydias Gegenwart sah. Nicht die leichte Eroberung, die schwere war sein Ziel, ohne Zweifel sein ernsthaftes Ziel, und seine gröbliche Täuschung nur die, daß er in tändelnder Laune auf Eigenschaften zu wirken hoffte, welche eine reine Seele nicht einmal begreift, eben darum aber – so widerspruchsvoll geht es in den Phantasien solcher Pseudoidealisten zu –, eben weil sie jede niedrige Regung ausschloß, ihm diese reine Seele zu der begehrenswertesten machte. Denn hätte Lydia das lockende Spiel verstanden und ihm nicht widerstanden, würde sie ihm der Mühe des Spiels noch wert erschienen sein?

Nicht mehr ungetrübt der Sohn, wohl aber der Vater hoffte noch, daß auch die sonst so scharfsichtige Rose dieses Ränkespiel durchschaue und daß sie mit unberührtem Herzen sich nur von der glänzenden Neuheit der Weltfreude blenden lasse. Indessen auch dieser dämonischen Blendung mußte gesteuert werden, und wenn den Bitten nur wiederum Bitten, der Mahnung Liebkosung, der Warnung ein Schelmenlächeln entgegengesetzt wurden, so blieb endlich nur das Gewicht der väterlichen Autorität, um die Wagschale in die Richte zu bringen.

Die jenseitigen Wiesen, über die im Herbst der Fluß getreten, waren zugefroren, auf weiter Strecke eine Eisbahn bildend, welche Max, ein gewandter Schlittschuhläufer, [548] wie als echter Hartenstein der gewandteste Reiter, Schütze und Fechter, täglich benutzte, – vielleicht weil sie aus den Fenstern des Schlosses überschaut werden konnte. Auch die Pfarrkinder waren vom Vater zu dieser Übung angehalten worden, und Rose hatte sie erst aufgegeben, als ihr Dezem auf die Universität zog und sie nun die Schlittschuh sich eigenhändig anschnallen und ohne jeglichen Zeugen ihre Kunststückchen hätte machen müssen. Jetzt aber wachte plötzlich die alte Lust in ihr wieder auf, und Tag für Tag wurden ein paar frohe Stunden auf dem glatten Spiegel vergaukelt. Da Freundin Sidoniens Gesundheit ihr nicht gestattete, als Eismutter am Ufer auf und ab zu spazieren, wurde Freund Dezimus um seinen Anstandsschutz ersucht, und er – ja, was bleibt denn solch einem Quasibräutigam übrig, wenn sein Quasibräutchen nach langer Siechenhaft das Bedürfnis kräftigender Luftbewegung fühlt? – was, als erst dem Bräutchen und dann sich selbst die Schlittschuhe anzuschnallen und bescheidentlich nebenher zu schleifen, wenn die beiden anderen Hand in Hand kunstvolle Kreise und Achten ziehen?

Eines Nachmittags kehrte er mit Rosen von solcher Leistung zurück; er schweigsam und mutlos wie alle Tage, aber auch sie nicht mit den purpurnen Wangen und freudeblitzenden Augen wie bisher; sie fröstelte und ließ das Köpfchen hängen. Der Baron war nicht auf dem Eise gewesen, weder er noch seine Schwester hatten den Tag über etwas von sich sehen oder hören lassen.

Der Vater war im Begriff, mit zitternder Hand die Adresse auf einen Brief zu schreiben; sie lautete an seine Tochter Erika, deren Mann vor kurzem als Bauinspektor in eine näher gelegene Stadt versetzt worden war. Der Greis sah auffällig bleich aus, doch klang seine Stimme [549] ruhig, als er den Sohn bat, den Brief, den er zu eiliger Bestellung empfohlen hatte, heute noch nach der Post zu tragen.

»Das trifft sich gut, Dezimus!« rief Rose plötzlich belebt. »Du gehst mit mir über das Gut und holst mich dort auf dem Rückwege wieder ab. Ich habe Sidonien ein Stickmuster versprochen, das ich ihr heute noch bringen möchte.«

Rasch wollte sie auf und davon; der Vater aber äußerte mit Entschiedenheit, daß es zu einem Besuch auf dem Gute zu spät am Tage sei. So legte sie denn Hut und Pelzpelerine ab, indem sie die Lippen ganz allerliebst zu einem Kinderschippchen verzog und sich knapp auf die Kante des Stuhls, nach welchem der Vater, dem seinen gegenüber, deutete, niederließ. Den Sohn, der sich entfernen wollte, bat er, so lange zu verziehen, bis er seiner Tochter eine Eröffnung gemacht haben werde.

»Du hast dir,« so hob er darauf zu Rosen gewendet an, »seit Jahren einen Besuch bei deiner Schwester gewünscht. Heute willfahre ich diesem Wunsche. Ich habe Erika geschrieben, daß sie dich am übernächsten Tage zu erwarten hat. Dezimus wird die Freundlichkeit haben, dich zu begleiten und bis zum Sonntag zurückgekehrt sein.«

Rose lachte anfänglich über den wunderlichen Einfall; als sie jedoch des Vaters unzerstörbaren Ernst erkannte, wurde sie blaß, streichelte ihm die Wangen und sagte mit ihren schmeichelndsten Tönen: »Wie kannst du nur daran denken, Väterchen, daß ich dich verlassen würde jetzt, wo du deiner kleinen Rose doch ein wenig mehr als in früherer Zeit bedürftig bist?«

»Ich fühle mich entschieden kräftiger als noch vor kurzem,« versetzte der Vater. »Und habe ich denn nicht [550] meinen Dezimus? Stieße mir aber während seiner Abwesenheit ein Rückfall zu, würde die gute Lydia mir gewiß nicht fehlen.«

»Aber welchen Grund kannst du haben, mich fortzuschicken und eine Fremde an meine Stelle zu setzen?« fragte Rose gereizt, wie neuerdings immer, wenn Lydias lobend erwähnt wurde.

»Da du den Grund nicht fühlst, würdest du ihn auch nicht verstehen,« antwortete der Vater so streng, wie er noch nie zu seinem Liebling geredet hatte. »So sage ich denn einfach: ich will!«

»Und wenn ich sage: ich will nicht?« rief Rose mit dem Ton der Schelmerei, aber einem Blick voll Trotz.

Konstantin Blümel war ein milder Vater und gegen sein jüngstes Kind zweifach mild. Aber solch ein dreister Widerspruch war noch aus keines Kindes Munde vor ihm laut geworden. Erst während dieser wenigen Silben wurde ihm völlig der Unsegen klar, der in seinem nächsten Herzen Wurzel geschlagen hatte. Mit den großen, tiefen Augen, welche die Macht seines Gemüts immer noch viel eindringlicher als seine guten Worte ausdrückten, blickte er schweigend in die ihren, bis sie sie schamrot niederschlug. Dann aber sagte er mit leise bebender Stimme:

»Widerrufe dieses Wort, mein Kind. Ich möchte dir die Bitternis ersparen, mit welcher du in naher Stunde dich erinnern würdest, dem letzten Liebeswillen deines Vaters getrotzt zu haben.«

Sie brach in einen Tränenstrom aus, glitt zu seinen Füßen nieder und schmiegte sich an seine Knie wie ein Kind. »Ich will ja, Vater,« schluchzte sie, »will alles, was du willst. Ach, was kann ich denn aber dafür, daß ich hier so glücklich bin?«

[551] Bei diesen Worten wurde hastig die Tür geöffnet. Sidonie wankte in das Zimmer, schattenbleich, die arme, gebrechliche Gestalt wie geknickt. Sie würde zu Boden gestürzt sein, wenn Dezimus sie nicht in seinen Armen aufgefangen hätte.

»In Frankreich – Revolution!« stammelte sie. »Max – fort – ohne Lebewohl!« –

Rosens Kopf war an des Vaters Brust gesunken. Er hielt ihn mit beiden Armen umschlungen. Seines Kindes Hand sollte ihm die Augen schließen.


Nach mehr als dreißigjähriger politischer Windstille über dem Vaterlande schossen mit Sturmesjagd nun Wochen dahin, in welchen jeder Tag, jede Stunde in erschütterte Herzen eine erschütternde Kunde trug. Der Orkan tobte bis in die bescheidenste Hütte. Reiche wankten, Throne und alte Ordnungen stürzten zusammen wie die Luftschlösser im Gesichtsfelde von Werben. Die Nöte des Einzelnen werden in solchen Zeiten geringschätzig übersehen; aber sie drücken nicht minder als in stillen Tagen, und nur die Freuden der stillen Tage sind schal geworden.

War es nun die wehende Frühlingsluft, die Freude über sein in äußerster Stunde ihm zurückgegebenes Kind, oder war es jener allerorten die Geister bis zum Überschwang reizende Gewitterstrom, der auch den mürben Greisenleib elektrisch belebte? Vater Blümel schüttelte wie durch ein Wunder Todesschwäche und Todesschwanen ab. Er hatte zum vorbestimmten Termin sein Entlassungsgesuch und das für des Sohnes Ordination eingereicht; nach dem Osterfest sollte diese statthaben. Er dachte aber allen Ernstes daran, die Kanzel wieder zu besteigen und [552] mit dem ewigen Wort gegen den Dämon der Empörung zu Felde zu ziehen. Der Sohn war ihm längst nicht feurig genug; er paktierte viel zu viel mit den Forderungen des Tages. Sagte der Jüngling: »Alles Recht muß erstritten werden, und die Freiheit ist das höchste Recht!« so sagte der Greis: »Jedes Recht muß mühsam erarbeitet werden; was im Taumel gezeugt wird, reift nicht zu dauernder Geburt. Die Freiheit muß erst als Pflicht erkannt worden sein, bevor sie als Recht gefordert werden darf.«

Es war ein theoretischer Streit; in der Praxis würden Vater und Sohn gar nicht weit auseinander gegangen sein.

Rose hielt sich tapfer. Ihre Wangen glühten und ihre Augen funkelten nicht mehr; aber nur ein Liebender hätte ihr anspüren können, daß mit dem Meteor, welches an ihrem Horizonte für kurze Wochen aufgestiegen, mehr als ein Freudenrausch verschwunden war. Sie sprach nie von Max, es sei denn mit Sidonien, die sie nach wie vor besuchte; aber sie ging sichtlich mit Überwindung; nur weil das Fernbleiben aufgefallen sein würde. Auch der Vater und Bruder oder Bräutigam schwiegen den gefährlichen Flüchtling geflissentlich tot; im Herzen des Bräutigams aber leibte und lebte er als sein einziger Feind, denn er hatte mit einem Glück, das ihm mehr wert war als sein eigenes, ein schnödes Spiel getrieben. Ja, er haßte sein einstiges Idol, und wenn er mit ihm nicht auch die haßte, welche jenes Spiel abgekartet, ohne Bedenken Freundin und Freund in dasselbe eingesetzt hatte, so geschah es um der großen Liebe willen, die sie zu dem Frevel getrieben, und weil sie litt, wie eine Mutter leidet um den verlorenen Sohn.

Das mutige Mädchen war ein zitterndes, händeringendes Weib geworden; auch körperlich krank. Lydia, welche das [553] Talgut überhaupt selten und seit Maxens Anwesenheit niemals betreten hatte, teilte jetzt ihre Zeit zwischen ihm und der Pfarre. Sie pflegte Sidonien, ermutigte sie, soweit ihr wahrhaftiger Sinn es zuließ, und erleichterte ihr die Sorge für den blinden, blöden alten Mann. Peter Kurze würde einen Luftsprung getan haben, hätte er gesehen, wie die »Energien« dieser Schwanenjungfrau sich in Taten umsetzten!

Eines Abends sagte sie zu Dezimus, der seinen treulosen Kameraden nicht wiedergesehen hatte, seitdem dieser so tief aus seinen Himmeln gestürzt worden war: »Versuchen Sie es doch einmal, Freund, Sidonien ein wenig aufzurichten. Sie sind ihr sympathischer als ich. Vielleicht gelingt es Ihnen, sie zur Annahme eines Arztes zu bewegen; wenngleich ihr Zustand mehr zu denen gehören mag, die Doktor Kurzen so unliebsam sind, weil sie sich nur mit Seelenohren aushorchen lassen.«

Als Dezimus am anderen Morgen Sidoniens Zimmer betrat, fand er sie in fiebernder Erregung, mit glühenden Wangen auf und nieder schreitend. Daß sie ihm Leides zugefügt, schien ihr gar nicht in den Sinn zu kommen. Nach kurzem Zaudern gestand sie ihm, sie habe ihren Bruder in der verwichenen Nacht gesehen, heimlich, flüchtig auf der Durchreise nach Berlin! Und der Schluß, den sie aus dieser heimlichen, eiligen Reise zog, hieß: auch hier, auch bei uns Revolution!

Dezimus wollte ihr diese Folgerung ausreden. Sie ließ in ihrer Unrast ihn aber gar nicht zu Worte kommen. Anhebend mit einem Versuch zum Spott, steigerten sich ihre Vorstellungen zu den grausamsten Wahngebilden.

»Da bin ich nun,« rief sie, »in den Ideen aller menschenmöglichen Freiheit und Neuheit herangewachsen, erst in [554] Rom bei der atheistischen Harfenmuhme, dann in der Schweiz bei der parlamentarischen Mutter, unter dem Konvivium der trikoloren und blutroten Fahnenschwenker aller Völkersorten; und ich sehe ja auch weit deutlicher als diese Maulhelden samt und sonders, was uns gebricht und was wir brauchen, um fertig zu werden. Und doch sitze ich hier und ringe mir die Hände wund um mein altes Preußen, so wie ich es als Vätererbe überkommen habe, und hassen, ja, schlechthin hassen möchte ich die, welche es in Trümmer schlagen wollen um eines Neubaus willen, der nicht mehr mein altes Preußen ist. Die Kopie eines größeren hüben, eines reicheren drüben, ein Mischmasch von Pfuscherstil, o, ich kenne die Schablonen! Und mitten unter diesen Zerstörern steht der Mensch, den ich liebe, mehr, tausendmal mehr als mich selbst. Mein Max ein Verschwörer, ein Rebell! Ein Hartenstein siegend auf der Barrikade oder – oder fallend auf dem Schafott!«

Sie kreischte die letzten Worte, die Augen stierten, als sähe sie ihres Bruders blutiges Haupt. »Und ich kann ihn nicht retten – nicht retten –«, flüsterte sie tonlos, von einem Schauder geschüttelt.

Lydia war während der letzten Reden leise eingetreten; entsetzt von dem Unheil, das sie sah und verkünden hörte, hatte ihr Fuß unter der Tür gestarrt. Das kranke, gebrechliche Geschöpf bemerkte sie und stürzte auf sie zu mit Blicken, in welchen das Rasen des Fiebers und der Todesangst funkelte.

»Du, du hättest ihn retten können,« rief sie unter konvulsivischem Schluchzen. »Denn dich hat er geliebt, dich allein. Du kannst es noch heute, denn er liebt dich noch heute. O, liebe ihn, Lydia, liebe ihn, und er ist gerettet.«

»Du bist krank, Sidonie,« entgegnete Lydia erschüttert. [555] »Du wähnst Gefahren, die nicht sind. Wenn aber wirklich eines anderen Liebe einen Menschen retten könnte vor sich selbst, müßte der, für welchen du zitterst, nicht durch deine große Liebe gerettet worden sein?«

Sidonie lachte auf in gellendem Hohn. »Ich, ich? eine verkrüppelte Schwester? Ja, wenn ich ein Weib wäre, ein schönes Weib, ein Schwan wie du, Lydia, wie du! Nur Leidenschaft siegt über Leidenschaft. Rufe ihn zu dir, sage ihm, ich liebe dich – –«

»Du phantasierst, Sidonie,« unterbrach sie Lydia plötzlich mit eisiger Ruhe, »du weißt – –«

»Ich weiß, du liebst ihn nicht, du liebst ihn nicht mehr. Aber sage es ihm nur. Halte ihn auf, halte ihn hin ein paar Tage, ein paar Wochen lang, bis der Krater ausgespieen, und er ist gerettet.«

Lydia wendete sich schweigend von ihr ab.

»Du hast ihn niemals geliebt!« schrie die Unglückliche, indem sie erschöpft zu Boden sank und in einen Tränenstrom ausbrach.

Lydia richtete sie empor, führte sie nach ihrem Ruhebett, setzte sich an ihre Seite und faßte nach ihrer Hand. Sidonie entzog sie ihr, um ihr Gesicht zu bedecken.

»Geht, geht!« rief sie nach einer Pause. »Laßt mich allein! Ihr beide wißt nicht, was Lieben ist. Geht, geht! haltets miteinander nach eurer Art!«

Sie wollten sich entfernen. Sidonie winkte sie zurück.

»Schicken Sie mir Rosen, Dezimus,« schluchzte sie. »Und du, Lydia, du kannst ja beten. Ach bete, bete, daß ein anderer barmherziger sei als du.«

Lydia neigte schweigend ihr Haupt bis zur Brust hinab, drückte dem armen Mädchen die Hand, und dann ließen sie es allein. Im Hofe stießen sie auf Doktor Brand, den [556] Lydia heimlich hatte herbeirufen lassen; nachdem sie ihm das Erforderliche mitgeteilt hatte, verließ sie mit Dezimus das Gut. Beide waren bis in den Herzgrund erschüttert. Nachdem sie eine lange Weile schweigend nebeneinander gegangen waren, hob Lydia an:

»Es waren Wahngebilde der Fieberangst! Aber wie vor einem Rätsel stehe ich vor einer Liebe, welche solche Angst gebiert, und ist es ein Mangel oder eine Gnade, daß ich diese Liebe nicht einmal begreife? Auch ich habe meinen Vater über alle andere geliebt, aber ich habe an ihn geglaubt wie an keinen anderen. Die elementarste Menschenliebe, die einer Mutter, sagt man, mache blind; diese Schwester aber sieht die Irrungen dessen, welchen sie liebt, schärfer, als ein Feind sie sehen könnte, und dennoch liebt sie ihn. Großen Sinnes, denkend und handelnd nach einem anderen Gesetz als er, ausgebeutet, versäumt, verlassen von ihm, frevelt sie um seinetwillen lachenden Mutes und stirbt vielleicht an der Qual dieses unüberwindlichen Zwangs. Hätte ich sie täuschen sollen, Dezimus, vielleicht vom Tode befreien durch ein erheucheltes Wort?«

»Nein,« so beantwortete sie sich die Frage selbst, bevor er sie gleichfalls mit Nein zu beantworten gewagt hatte. »Nein; ich halte sie höher als sie den, welchen sie liebt, und ich halte auch ihn noch zu hoch, um zu glauben, daß er durch eine Lüge gerettet werden könnte.«

Wieder ging sie eine Weile stillsinnend an seiner Seite, dann hob sie von neuem an, indem sie ruhig mit einem großen Blick zu ihm in die Höhe sah:

»Ja, Freund, ich habe diesen Mann geliebt so, wie seine Schwester verlangt, daß ich ihn heute zu lieben heucheln soll; geliebt weit über die Stunde hinaus, in der ich erkannt hatte, daß er nicht mein Leitstern durch das Leben [557] werden konnte und ich nicht der seine. Jahrelang hat der warme Puls sich gegen das kalte Erkennen empört, habe ich lieber an mir selber gezweifelt als an dem, der sich in einer Wallung vielleicht berechtigten Zorns von mir getrennt hatte. Die Ferne blendet, Dezimus. Denn als er mir plötzlich wieder gegenüberstand, war er ein anderer für mich geworden, der, – der er war. Ich wußte, daß ich an diesen Mann nimmer hätte glauben lernen und daß die Liebe ohne Glauben eine Täuschung ist. Wenn ich aber Ihnen, Freund, nach jenem unfreiwilligen halben Geständnis, dessen Zeuge Sie wurden, dieses ganze freiwillig mache, so geschieht es, weil ich Sie mit Erfahrungen ringen sehe, welche den meinigen gleichen. Mögen Sie es nun als einen Vorwurf nehmen oder als einen Trost: auch Ihnen ist eine Liebe ohne Glauben wider die Natur, und Ihr Puls wird eines Tages ruhig schlagen, wenn Ihr Herz sich vielleicht am höchsten hebt.«

Er drückte die Hand, die sie ihm reichte, mit stummem Dank an seine Brust; dann trennten sie sich. Und was hatte er aus jenem Bekenntnis so Ergreifendes herausgehört, daß kein Dankeslaut ihm voll genug erschien? Nichts als das eine Wort: »Ich liebe Max nicht mehr.« Aber solch ein Wort durchzuckt wie ein Sternenstrahl den Nebel!

Im übrigen fand er in seiner Herzensstimmung weder mit Lydias bräutlicher noch mit Sidoniens schwesterlicher Leidenschaft einen verwandten Zug. Wen das Leben zwischen Güte und Liebe so warm gebettet hat wie ihn, dem wird ein einzelner Mensch nicht zum zwingenden Idol; die Gefühle verteilen sich; und eine Neigung, die aus der Wiege herauswächst, berückt das Herz nicht mit der Passion für ein Zauberbild. Er hatte seine Rose geliebt so, wie sie eben war, und so wie er selbst eben war, hatte er geglaubt, [558] von ihr geliebt zu werden. Erwies sich dieser Glaube als ein Wahn, nun wohlan! Er war kein Max, welchem ein ungeteiltes Verlangen zum Sporn des Verlangens wird. Er forderte ein Herz für ein Herz, ein ganzes Leben für ein ganzes Leben, und wurde es ihm versagt, nun – so wußte er zu entsagen.

Sehrlöblich, Freund Dezimus, höchstvernünftig! Nur mit Verlaub: dein Biograph würde es heldenhafter gefunden haben, wenn du zu dieser löblichen Vernunft gelangt wärest schon vor der Stunde, wo dein weißes Fräulein dir die Eröffnung machte, es liebe seinen Einstgeliebten nicht mehr.

Als Dezimus in die Pfarre zurückkehrte, erwartete ihn der nachstehende Brief:

»Lieber Dezimus!

Ich habe Ihnen die Hand darauf gegeben, daß ich nichts ohne Ihre Einwilligung unternehmen will, und ein Wort ein Mann! Nun sehen Sie, die See läuft mir nicht davon, aber einen Krieg gibts nicht alle Tage, und weil die Leute hier alle sagen, es ginge los, darum bitte ich Sie: lassen Sie mich mit ins Feld wider den Dänenkönig. Unser Herr Pastor hat die Sache von der Kanzel herab einen guten Kampf genannt, nur daß er freilich nicht von Blutvergießen dabei gesprochen hat. Was aber ein guter Kampf ist, das ist auch wert, daß ein bißchen Blut darin vergossen wird. Nun sehen Sie, lieber Dezimus, ich verstehe von den alten Traktaten kein Sterbenswort, und was hat mir der neue Dänenkönig getan? Und unser preußischer König kriegt die Herzogtümer doch gewiß auch nicht. Ich denke aber so: der dumme Streich, den ich nun einmal gemacht habe, wird immer noch eher durch ein paar Tropfen Blut als durch ein Meer voll Salzwasser abgewaschen; und nachher kann ich mich mit Ehren vor allen [559] Menschen wieder sehen lassen als ein richtiger Hartenstein, und, wer weiß, am Ende verdiene ich mir noch einen Orden. Denn Courage habe ich, das können Sie mir glauben, Courage wie ein Löwe!

Ihr Bruder, der Amerikaner nämlich, will auch mit; das heißt, wenn er das Fieber bis dahin los wird, das ihn ganz erschrecklich schüttelt. Der arme Pechvogel! Zu Schiffe die Seekrankheit, zu Lande das Schüttelfieber, und im Felde am Ende das Kanonenfieber! Nein, nein! Er ist ja Ihr Bruder, Dezimus. Der Witz fuhr mir nur so heraus. Im Gegenteil, ich denke: im Feuer, da glückts ihm; und weil er ein alter, preußischer Dreijähriger ist, machen sie ihn gewiß bald zum Feldwebel und geben ihm die Litze. Der Steuermann, der würde wohl gar gleich Offizier. Für sein Leben gern möchte er auch mit. Aber seine Frau läßt ihn nicht. Sie denkt, er wird totgeschossen. Als ob das Wasser Balken hätte! In drei Wochen sticht er in See und holt aus der Havanna, glaube ich, eine Ladung Tabak, und wenn bis dahin kein Krieg wird, nimmt er mich mit. Viel lieber als in die Teerjacke möchte ich aber erst ein Weilchen in den bunten Rock.

Und darum, lieber Dezimus, bitte, sprechen Sie mit Lydia. Wenn die ja sagt, brauchen wir den Vormund gar nicht erst zu fragen. An meine Mama schreibe ich selbst. Daß die aber nichts dawider hat, weiß ich voraus. Umgekehrt wie Ihre Schwägerin Stina fürchtet sie die Haifische zehnmal mehr als die Kanonen. Also, mein guter, lieber Dezimus, ich verlasse mich wieder einmal ganz auf Sie und bin und bleibe zu Wasser und zu Lande, auf Leben und Tod

Ihr

dankbarer getreuer Philipp.«


[560] Das gab nun wiederum eine neue Gedankenwende. Dezimus stimmte seinem jungen Freunde ohne Bedenken zu. Brannte ihm selbst doch der Boden unter den Füßen, und hätte er doch kaum einen Kampf gewußt, in dem er sich freudiger aus seiner heimischen Zwitterstellung befreit hätte. Der Vater dahingegen stimmte mit Lydia in dem Zweifel überein, ob der Kampf, falls er entbrannte, eine Revolution zu nennen sei oder, wie die Erhebung von 1813, die Verteidigung eines unveräußerlichen Rechts, und nicht an dem weltfremden Greise und Weibe war es, diese Frage zu entscheiden. Als aber ihr König im Namen Deutschlands sie entschieden hatte, da hat selbst die Mutter ohne Zagen dem Jüngling zugerufen: »Sühne dein Unrecht in einem Kampfe um das Recht!« Denn Soldatenblut ist ein Erbe auch von Mann auf Weib, und eine zärtliche Ottilie, die an einem Masernbette zittert, gürtet ihrem Sohne das Schwert wie die tapferste Römermutter.

Als dieser mütterliche Zuruf geschah, erdröhnte die stille Landschaft noch von dem Donnerschlage des achtzehnten März. Wenn es aber wahr ist, daß ein absterbender Baum, dessen Wurzeln mit Blut begossen werden, junge Triebe zu sprießen beginnt, so glich der Greis, welcher mit seiner Liebe diese Landschaft ein Menschenalter hindurch beschattet hatte, einem solchen Baum. Das Blut, das in der Märznacht geflossen war, hatte seine Wurzeln begossen. In seinem Vaterlande, in Preußen eine Empörung nicht nur versucht, – sondern gelungen!

Eine lange Weile lag er von dem Niedersturz wie zerschmettert: die Kinder hielten ihn für entseelt. Plötzlich jedoch richtete er sich empor, in Blicken, Worten, Schritten ein Jüngling. Dezimus, vor seinem Stuhl auf den Knien liegend, las in seinen Augen den Vorwurf: »Was zauderst [561] du, Träumer? Eile, wohin in dieser Stunde ein Mann gehört!«

Als nun aber der Sohn, nicht länger bedenklich, die Ordre vorwies, welche, gleichzeitig mit der Schreckensbotschaft eingetroffen, ihn als Reservisten zu seinem Regimente einberief, da hätte er wahrlich nicht daran denken dürfen, als stellvertretender, demnächst zu ordinierender Pfarrer gegen sie zu reklamieren! (Er dachte indessen an nichts weniger als an Reklamieren.) Der Vater aber, um ihm zu beweisen, wie entbehrlich fortan seine Aushülfe geworden sei, ordnete für den nächsten Morgen die kirchliche Andacht an, mit welcher der Freund der Blumen und des Sonnenscheins alljährlich Frühlingsanfang zu feiern pflegte. Bei dieser Gelegenheit wollte er sich – nunmehr er der Stellvertreter des Sohnes – seiner Gemeinde wieder vorstellen, und unmittelbar nach dem Gottesdienst sollte, ohne erweichenden Abschied, der Sohn aufbrechen unter die Fahne.

»Ein Windstoß hat die erlöschende Flamme wieder angefacht. Wenn du heimkehrst, mein Sohn, wird sie niedergebrannt sein. Sammeln die Flammen der Liebe sich denn aber nicht zu neuvereintem Leben auf dem ewigen Herd, von dem sie sich ergossen haben?«

Also sprach der Greis am Abend in der Kammer, in welcher er zum letzten Male mit dem Sohne schlafen sollte, legte ihm die Hände auf das Haupt und dann sich zur Ruhe. Bald schlummerte er friedlich wie ein Kind bis in den Morgen hinein.

»Und wie scheiden wir?« fragte Dezimus, als er vor dem Kirchgang Rosen zum Abschied die Hand reichte.

Sie kämpfte ihre Tränen nieder und antwortete lächelnd: »Nun, ich denke, du scheidest wie ein guter Bruder, der [562] seiner törichten kleinen Schwester das Leid, das sie ihm angetan hat, vergibt und ihr die Freiheit dankt, die sie ihm wiedergegeben.«

»Rose, hast du Max geliebt?«

»Geliebt?« rief sie und schüttelte trotzig das Köpfchen. »Lieben einen, der uns als Lockvogel für eine andere am Faden zappeln läßt? Nein, nein, nicht geliebt! Nur froh bin ich gewesen – um hohen Preis – aber ohne Reue!«

Der Vater trat bei diesen Worten ein. Er hatte zum erstenmal seit seiner friedlichen Amtsführung das Eiserne Kreuz an den Talar geheftet, und so, als Freiwilligen von 1813, führte der Reservist von 1848 ihn auf die Kanzel, die er nicht wieder zu betreten gemeint hatte. Dort oben aber hielt der Greis über den Paulusruf: »Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark« jene wunderbare Frühlingspredigt von der Treue im Wandel und Gottes Odem im Sturme der Zeit, die eines großsinnigen Königs Herz erweckt haben würde, die jedoch auch in den Herzen seiner einfachen Hörer gezündet hat wie ein Prophetenwort und nicht vergessen worden ist bis zur Stunde der endlichen Erfüllung. Für den Sohn war es das letzte priesterliche Wort aus Vatermunde, und niemals wieder ist ein Priesterwort ihm so tief in die Seele gedrungen.

Zwischen den Gräbern der Mütter stand wie bei seinem ersten Scheiden aus der Heimat Lydia. Sie haben kein Wort gesprochen, aber Auge in Auge haben sie eine lange Weile die Hände ineinander gehalten. Die Treue im Wandel!

Als Dezimus sein Bataillon, das zu dem Korps in den Marken gezogen worden war, erreichte, hatte es eben den Befehl erhalten, in die Herzogtümer einzurücken.

[563][565]

Die Mannesstufe

[565] [567]Beim Sturm auf das Danewerk wurde Dezimus durch den Arm geschossen, was nicht leicht von einem Menschen für einen besonders glückhaften Aufschritt zur Mannesstufe erachtet werden wird und von ihm selber am wenigsten dafür erachtet worden ist, während, mit den Augen des Historikers, will sagen des Biographen angesehen, es immerhin eine Schicksalsgunst genannt werden muß, wenn einer, der als loyaler Waffenträger gute Miene zum bösen Spiel zu machen hat, das klägliche Ende eines braven Anfangs, zu welchem er selber, soviel an ihm war, mitgewirkt, hinter der Bühne erleben darf. Alles, was Politik heißt, gehört indessen nicht zu der Geschichte eines Glücklichen jener Zeit.

Allseitig wird dahingegen es als ein Treffer anerkannt werden, daß zu den akademischen Kommilitonen, die mit ihm unter die Fahne gerufen worden waren, auch Peter Kurze als freiwilliger Assistenzarzt seines Bataillons gehörte und daß dieser treue Kumpan es war, welcher den Verwundeten nach einem rückwärts gelegenen Lazarett geleitete und ihn allda der Pflege eines nicht minder treuen und geschickten Kumpans überantwortete, der nämlich Bruder Friedens, des timiden Amerikaners.

Der arme Pechvogel war das Fieber nicht rechtzeitig los geworden, um als »Bursche« zugleich mit dem lieben Junkerchen, an das er sein ganzes gutes Herz gehängt hatte, in das Feld zu rücken. Sobald »die Laune« aber einen Tag über den gewohnten Termin ausgesetzt hatte, rückte er seinem lieben Junkerchen nach.

Schon während der Überfahrt stellte der Schütteldämon sich indessen wieder ein; mühsam und langsam schleppte er sich voran, und da war es denn wieder einmal Bruder Dezems Johannisstern, der auch dem armen Pechfriede zugute kam. Denn schauernd und klappernd, weiß wie eine [567] Wand, seines Endes gewärtig, hockte er am Chausseegraben, als das Bataillon der Universitätsstadt, den Flügelmann Frey an der Spitze, und mit ihm Hülfe in der Not, die Straße dahergezogen kam.

Freund Peter Kurze erbarmte sich des armen Teufels mit einer gehörigen Dosis Chinin, steckte ihn auf einem Trainkarren unter und erzielte an dem ersten Patienten seiner militärischen Praxis einen seiner rühmenswertesten Erfolge auch auf dem bisher wenig kultivierten Gebiete der Psychologie. Natur- und vernunftgemäß würde der vierzigjährige blöde Friede mit seinem dreitägigen Schüttelfrost zum Sturmlaufen so wenig der rechte Mann gewesen sein, wie mit der obligaten Würgenot zum Heringsfang; zum geduldigen Krankenwärter aber war er »wie gemacht«; und da bei dem eiligen Aufbruch nach langjähriger Friedenspause die Sanitätskolonne just nicht ausgiebig bestellt war, erschien Doktor Peter Kurzen, dem die Organisation eines Feldlazaretts wesentlich oblag, der blöde Friede als ein erwünschter Lückenbüßer, dem armen Pechfriede aber Doktor Peter Kurze als endlicher Pfadfinder in Fortunas Zauberreich.

Zur Zeit, als sein liebes Junkerchen, heil und munter wie jede Kreatur in ihrem Element, überschäumend von Heldenmut, allerseits wohlangesehen und wohlgelitten, mit der Zastrowschen Freischar im Vordrang nach Jütland begriffen war, saß demnach sein projektierter alter Bursche, ebenso heil und munter wie eine Kreatur in ihrem Element, ebenso heldenmütig in seinem Dienst, ebenso wohlangesehen und wohlgelitten in Doktor Peter Kurzens Lazarett, verband neben manchen anderen Wunden seines »lieben« Bruders zerschossenen Arm, legte kühlende Umschläge auf seine Stirn, wachte nachts an seinem Bett und [568] leistete, nachdem er seiner Pflege entrückt war, einem weit bedeutenderen Blessierten noch weit bedeutendere Dienste. Nach dem Waffenstillstand hat er dann seinen »lieben« Herrn – dazumal Obersten –, in dessen persönlichen Dienst er getreten war, nach seiner Garnison, der der Werbenschen Heimat zunächst gelegenen Festungsstadt, begleitet, hat alldort unwissentlich in seines »lieben« Bruders Dezimus erstem männlichen Stufenjahr eine ziemlich problematische Rolle gespielt und schließlich durch seines »lieben« Herrn, nunmehro Generals, Verwendung den Posten eines Lazarettinspektors in einer schönen Stadt am Rhein erlangt, allwo er heute noch lebt; nach langem Mißgeschick einer der Glücklichsten, deren in dieser Chronik von glücklichen Leuten Erwähnung geschah; und, was Doktor Peter Kurzens wissenschaftliche Errungenschaft bei dem Falle anbelangt, der handgreifliche Beleg, daß einem Individuum, dem der Sauerstoff der Meerluft Würgen und der der Strandluft Schütteln erweckt, der Stickstoff eines Krankenhauses die Atmosphäre ist, in der es gedeiht.

Nachdem er des Wundfiebers Herr geworden, hatte Peter Kurze des Freundes Mißgeschick an Vater Blümel gemeldet und in jenes Namen angefragt, ob während der voraussichtlich lange währenden Frist bis zu erneuter Kriegstüchtigkeit des Sohnes Assistenz im friedlichen heimischen Pfarrhause gewünscht werde. Umgehend und so diktatorisch, wie er noch keine aus Vatermunde vernommen, erhielt Dezimus die Weisung, daß solche Assistenz nicht gewünscht werde. Der Vater wirke so rüstig wie jemals in seinem Amt. Sobald er sich eines Beistandes bedürftig fühle, verspreche er, den Sohn zu rufen. Derselbe solle sich gründlich ausheilen, am ratsamsten in der kräftigenden Seeluft der Insel. Wenn er nach seiner Herstellung [569] sich arbeitsfähig fühle, ohne bereits wieder waffenfähig zu sein, hoffe der Vater, daß er, um keinenfalls mit etwas Halbem abzuschließen, die aufgeschobene Ordination nachholen, dann aber unverweilt seine frühere Lehrerstelle wieder einnehmen und, aller bindenden Verpflichtungen ledig, sich noch einmal auf sein Lieblingsstudium hin einer Selbstprüfung unterziehen werde.

Dezimus hatte seit Jahren nicht mehr an einen Wechsel des Berufes gedacht; hätte das Geschick, an das er sich gebunden fühlte, ihm aber auch diese Freiheit gestattet, nicht mit einem Sprunge würde er die Wendung vollzogen haben. Ob er sich auf der Kandidaten- oder Pfarrersstufe noch einmal zu den Füßen eines Katheders niederließ, in der Absicht, es eines Tages zu besteigen: was hätte es im Grunde verschlagen? Nur wertvolle Zeit hätte es ihm erspart. Aber Glücklichen mit seinem Pulsschlag eignet es nun einmal, allerwege reinen Tisch zu machen.

Wenn der Vater nun plötzlich die aufgegebene Perspektive wieder eröffnete, wenn er mit solcher Dringlichkeit beflissen war, den Sohn von der Heimat fernzuhalten, so hat dieser die bewegende Ursache wohl geahnet und die liebreiche Schonung tiefgerührt empfunden. Max war in die Heimat zurückgekehrt; die öffentlichen Blätter hatten es gemeldet, Privatnachrichten Freund Kurzens es bestätigt; daß aber weder des Vaters noch Lydias Briefe es erwähnten, daß Sidonie ihm gar nicht schrieb und Rose, die früher so plauderlustige, nur flüchtige Zettel über des Vaters Ergehen, das bezeichnete deutlich genug die peinvolle Stellung, welche dem Liebenden oder auch nur dem Bruder erspart werden sollte.

Ob Max von Hartenstein tatsächlich an einem der revolutionären Ausbrüche jener Zeit teilgenommen hat, ist [570] für Dezimus wenigstens niemals an den Tag gekommen. Zu denen, welche man die intellektuellen Urheber derselben nannte, hat er unbestritten gehört, und unbestritten würde die Geschichte der Stufenjahre dieses Glücklichen sehr viel spannender als die seines bescheidenen Nebenbuhlers zu lesen sein, welch ein zwiespältig interessanter, modern romantischer Zauber diesen Helden umwittern! In die Jugendgeschichte des Hirtensohnes von Werben gehört indessen lediglich, daß der gleichzeitige Erbe eines alten ritterlichen Namens und des steinreichen Bauers Johann Mehlborn, nachdem er die äußerste Schattierung republikanischer Freiheit und sozialistischer Gleichheit öffentlich vertreten hatte – wie in dem demokratischen Klub der Hauptstadt, so im Frankfurter Vorparlament, dem er sich zugesellt –, sich nicht abhalten ließ, als Kandidat für das allgemeine Parlament aufzutreten, wennschon er in seinen extremen Bestrebungen von der gemäßigten Mehrheit jener Vorversammlung überstimmt worden war.

Er tat es in seiner Heimat, wo der Kavalier mit altem Namensklang und splendider Hand leichteren Erfolg zu haben glaubte als der Volkstribun in der Hauptstadt, nahm zu diesem Zweck seinen Herrensitz von neuem in dem stattlichen Bielitz, und wohl ist es denkbar, daß der Frühling, den er dort verbrachte, dem für erregende Kontraste so Empfänglichen der genußvollste seines Lebens gewesen ist. Wie aber hätte er in irgendwelcher Stimmung und in dieser spannendsten zumal, des Reizes galanter Huldigung und weiblicher Hingabe entbehren können? Zwei schöne Frauen, beide begehrenswert, standen ihm gegenüber. Die eine liebte ihn nicht mehr, die andere – vielleicht! – noch nicht. Reiz und Reizung hier und dort. Und wenn die andere ihn vor kurzem wirklich noch nicht [571] geliebt haben sollte, war das ein Grund, daß sie jetzt ihn nicht dennoch lieben sollte? Jede Lücke der Heimatsbriefe, welche ein ahnender Sinn auszufüllen hatte, deutete auf das Glück zweier Liebenden.

Der Aufenthalt in der reinen Luft und der heuer selbst während der gewöhnlichen Badesaison ländlichen Stille der Insel hatte Dezimus körperlich gestärkt, der Verkehr mit dem trefflichen Pfarrherrn ihn geistig gefördert; und wie es in dem Schwebezustand einer körperlichen und geistigen Herstellung häufig eine mechanische Tätigkeit ist, welche das Gleichgewicht der Kräfte am sichersten wiederherstellt, so war es die Geduldsprobe des Schreibenlernens mit der linken Hand, welche gegenwärtig den Genesenden von dem schweren Zwiespalt der Zeit und dem kaum minder schweren seines persönlichen Lebens heilsam ablenkte.

Ehe er im Spätsommer die Insel verließ, um sich zum Zweck der Ordination nach der Hauptstadt seiner Provinz zu begeben, brachte ein Brief Freund Kurzens ihm sehr verspätet die Kunde, daß »der rote Hartenstein« nicht nur in der Kandidatur für das deutsche Parlament, sondern auch späterhin bei einer Nachwahl für die preußische Nationalversammlung »gründlich durchgeplumpst« sei. Zwei Kapazitäten der Gelehrtenrepublik waren aus der Urne hervorgegangen. »Rote und Schwarzweiße,« so schloß der Getreue, »schreien unisono Zeter über den unverbesserlichen deutschen Gusto für den zünftigen Zopf. Die ersteren wollen an dem heimlichen Spukedinge, das sie zur Volksseele aufgeschraubt haben, schier verzweifeln. Als ob man nicht Respekt haben müßte vor dem gesunden Augenlicht einer Nation, die bisher nicht einmal der Wahl ihrer Nachtwächter gewürdigt worden ist und nun im Handumdrehen über das Regiment eines – Notabene erst [572] nolens volens zusammenzuklei sternden – gewaltigen Reiches entscheiden soll, wenn sie sich an die einzigen hält, die sie in aller Jämmerlichkeit niemals im Stiche gelassen haben: an die Männer der Wissenschaft, an uns! Auch an dich, alter Dezem, wird einmal die Reihe kommen. An Doktor Peter Kurzen ist sie bereits gewesen. Hätte der Bruchteil jener edlen Volksseele, welcher im Werbenschen Fleisch geworden ist, den Helden des einfarbigen, zwei- oder dreifarbigen deutschen Zukunftsstaates zu stellen gehabt – beim ewigen Äskulap! Transfusion ist die Losung auch für Dame Germania! – kein anderer als jener Meister der Bluts-, staatsmännisch ausgedrückt: Stammverschmelzung, würde auf das Schild gehoben worden sein. Auf zwanzig Stimmzetteln hat sein stolzer Name geprangt; der des roten Junkers nur auf zehn, auf denen obendrein die Handschrift der kleinen Sidi unverkennbar gewesen sein soll. Im übrigen ist er, der rote Junker nämlich, wieder einmal über alle Berge.«

Diesem Briefe folgte während des Freundes Inselaufenthalt nur noch einer von Lydia, in welchem sie ihm mitteilte, daß sie am Erntedankfeste zum ersten Male und mit freudiger Überzeugung das Abendmahl aus der Hand seines Vaters zu empfangen gedenke. Wäre der Termin für seine Ordination nicht bereits festgesetzt gewesen, würde der Sohn diesen Freudentag des Greises mitgefeiert haben als einen eigenen Freudentag.

Länger als eine Woche blieb er von nun ab ohne Kunde aus der Heimat. Jener Termin war unerwartet einige Tage früher, als er ihn dorthin gemeldet hatte, anberaumt worden; spätere Briefe mochten ihn daher noch auf der Insel gesucht und nicht mehr vorgefunden haben.

Er hatte seit Monaten nur Lokalblätter zu Gesicht bekommen; [573] nun erst, im Zentrum der Provinz, erfuhr er, wie kindisch aufgeregt es auch in diesem gemütlichsten aller Landesteile, ja im unmittelbaren Umkreis von Werben zugegangen war. Hatte man es, gottlob! bis zum Blutvergießen auch nirgendwo kommen lassen, wie viele betörte Exzedenten büßten den Frevel, einen Adler abgerissen, ein Steueramt geplündert, die einberufene Landwehr aufgewiegelt zu haben, mit langjähriger Festungshaft oder im glücklichsten Fall mit der Flucht über das Meer! Und bei der Mehrzahl dieser Ausschreitungen wurde der rote Hartenstein als heimlicher Anstifter genannt. Dezimus sah in seinem einstigen Idol jetzt einen Feind; dennoch sträubte seine ganze Seele sich dagegen, ihn verantwortlich zu machen für den Jammer und das Elend, das in unzählige Familien getragen worden war. Von der Mutter eines seinen Eltern bekannten und werten Arztes, eines bis dahin unbescholtenen, gebildeten, wohlsituierten Mannes, der einen seinem letzten Zwecke nach durchaus unverständlichen Bauernaufstand angefacht hatte, wurde erzählt, daß sie sich vor Kummer die alten Augen blind geweint habe. Und alles das, was wenigstens den Vater bis auf den Herzgrund erschüttert haben mußte, hatte man dem Sohne verschwiegen. Aus Schonung – oder warum sonst?

Die bänglichste Ahnung übermannte ihn. Abgesehen von seiner Verwundung würde er schon durch den geschlossenen Waffenstillstand seiner militärischen Verpflichtung enthoben worden sein. Des Vaters Widerspruch durfte ihn nicht länger bannen. In der Nacht, die seiner Ordination folgte, brach er nach der Heimat auf. Ach, mit welch anderen Empfindungen war er nach seiner vorjährigen Prüfung in das liebe Haus zurückgekehrt! Wie öde war es darin für ihn geworden! Nichts ihm geblieben als noch [574] für etliche Wochen oder Monde die Vatertreue eines Greises und nichts für alles Verlorene ihm gegeben als – freilich das Höchste! – der Blick in Lydias hohe, reine Freundesseele.

Früh am Morgen erreichte er die Werbensche Flur. Die Ernte war eingebracht, das Leben auf den Feldern hatte aufgehört. Sobald er jedoch die Friedhofspforte erreichte, umfing ihn dichtes Drängen und Treiben. Er brauchte nicht zu fragen, was es bedeute. Neben dem Hügel der Mutter, die er geliebt hatte, war eine Grube ausgehöhlt. Er erreichte das Haus nur noch zu rechter Zeit, um die treueste Segenshand zum letzten Male zu küssen, den Deckel auf den Sarg seines Vaters zu heben und dann den Friedensspruch über sein Grab zu sprechen.


Erst durch die Kanzelrede des Pfarrers von Bielitz erfuhr er den wunderherrlichen Ausgang dieses teueren Lebens. Niemand hatte ihn, seitdem der Greis die winterliche Abspannung so glücklich überwunden, in dieser Kürze vorausgesehen. Rüstig wartete er seines Amtes, hielt mit der unerschöpflichen Fülle seiner Liebe den schwersten Gemütsprüfungen stand. Am Sonnabend morgen befiel ihn plötzlich eine Ohnmacht; er erholte sich von dieser; doch mag er das nahende Ende vorgefühlt haben, denn er begann einen Brief mit den Worten: »Komm, mein Sohn, den Vater zu vertreten – –.« Nach diesem Satze entglitt die Feder seiner Hand; man drang in ihn, sich zu schonen, allein er bestand darauf, wie alljährlich am Erntedankfeste, das Versöhnungsmahl zuerst sich selbst aus des geistlichen Freundes Hand reichen zu lassen, dann es seiner Gemeinde auszuteilen. Und ohne Zeichen von Schwäche schritt er am Morgen zum Gotteshause, nahm erst selbst die weihende [575] Speisung und darauf in seine Hand den Kelch, um ihn der väterlich geliebten Freundin zu reichen, welche, an der Seite seiner Tochter, sich zum ersten Male in seiner Gemeinde dem Tische des Herrn nahte. Noch sprach er die Spendeformel mit sicherer Stimme, dann sank er zu Füßen des Altars nieder – entseelt.

So in Herrlichkeit mögest auch du einmal heimgehen, du Glücklicher, wenn deine Stunde gekommen ist!

Dezimus hatte bis jetzt Rosen nur flüchtig aus der Ferne gesehen, während der Grablegung unter der Gartenpforte; dann während des kirchlichen Aktes im vergitterten Pfarrstuhl; beide Male an Lydias Seite. Nun erst, nachdem alles vollbracht, fiel es ihm auf, keines der anderen Geschwister gegenwärtig zu finden, mit Ausnahme von Erikas Gatten, der aber auch unmittelbar von der Kirche zum Bahnhof eilte, da seine Frau im Kindbett lag und er nicht über Nacht vom Hause fern sein mochte. Rose hatte in der Überwältigung des Schlages die Anzeige zu machen vergessen, und als Lydia sie nachträglich erließ, war es für die entfernter Lebenden zu spät geworden, der Trauerfeier beizuwohnen.

»Die Kleine ist in einem unzurechnungsfähigen Zustande,« meinte Schwager Bauinspektor; »wohl begreiflich bei der Last, die sie sich auf das Herz geladen. Du tust mir leid, armer Bruder! Brauchst du Beistand, rechne auf uns.« Damit ging er.

Dezimus entfloh den lästigen Beileidsbezeigungen, die ihn umschwirrten. Er suchte Rosen. Im geistlichen Gemach, wo vor wenig Stunden der Sarg gestanden hatte, kniete sie vor des Vaters Stuhl, das Gesicht in ihre Hände begraben. Auf dem Schreibtisch unter dem Kruzifix lag lorbeerumkränzt das Eiserne Kreuz, das Martin von Hartenstein [576] dem Sarge des Veteranen vorangetragen hatte; daneben das Blatt mit den letzten Zügen einer zitternden Hand:

»Komm, mein Sohn, den Vater zu vertreten.«

Lange stand Dezimus unbemerkt an Rosens Seite, und als sie darauf seine Nähe spürte, starrten ihre Augen in unheimlicher Irre, als ob sie ihn nicht erkennten. Er zog sie in die Höhe; schauernd und zitternd lag sie an seinem Herzen, bis endlich ein Tränenstrom den Krampf der Seele löste. »Er hat mir nicht mehr den Kelch der Versöhnung gereicht, aber lieb hat er mich gehabt bis zum letzten,« schluchzte sie, »wird er mich auch liebhaben dort, dort, wo er nun – alles weiß?«

»Ewig!« sagte Dezimus, und dann führte er sie hinauf in das einstige Familienzimmer, unter die verdorrten Blumenstöcke und die lange abgewelkten Kränze ihrer Freudenzeit, und Hand in Hand feierten sie das Trauerfest ihrer Verwaisung. Sie sprachen nur von ihm oder schwiegen in der Erinnerung an ihn. Keine Frage über ihr gegenwärtiges Verhältnis oder das zu einem anderen wurde laut. In Dezimus' Herzen aber hallte das letzte Vaterwort wider, und dieses Wort bedeutete: »Bleib und hilf meinem liebsten Kind!«

Und daß er bleiben werde, wurde als selbstverständlich auch in beiden Gemeinden angenommen. Am Morgen hatten sie ihren alten Pastor hinausgetragen, am Nachmittag kamen sie, ihren neuen Pastor willkommen zu heißen: die Kantoren, die Schulzen, der Pächter, die großen Hofbesitzer, alle voll Preis des Abgeschiedenen, aber auch voll guten Zutrauens in den, welcher ihn ersetzen sollte; alle jedoch nebenbei mit einem Etwas auf dem Herzen, das sich befremdlich in Mienen, Achselzucken und halben Redensarten [577] kundtat und immer noch eher zu der Kondolation als zu der Gratulation zu stimmen schien. Seltsam! während der Trauerfeier war es Dezimus kaum aufgefallen, und jetzt fiel es ihm plötzlich ein: das Augenverdrehen und Kopfnicken und Schütteln und die Blicke, die nach dem vergitterten Pfarrstuhl geworfen wurden beim Erwähnen der schweren innerlichen Anfechtungen in des Greises letzten Lebenstagen. Waren die Zeitzustände gemeint, des Sohnes Verwundung – oder – was sonst?

Etwas deutlicher drückte sich der alte Thränhard aus, der bereits zu Vater Klausens Zeiten die Schulzenwürde bekleidet hatte. »Sie dauern mich, Herr Pastor; grausam dauern Sie mich,« sagte er seufzend, nachdem er eben erst schmunzelnd des Herrn Pastors grausames Glück hervorgehoben hatte, in so jungen Jahren und obendrein in seinem eignen Orte, in eine so schöne Stelle gerückt zu sein. »Und daß der ehrwürdige Herr Pflegevater in seinen alten Tagen das noch erleben mußte!«

»Was erleben?« hätte Dezimus fragen mögen, aber die Kehle war ihm zugeschnürt.

Der Emeritus Beyfuß, als Respektsperson aus Bakelzeiten und als wandelnde Glocke der Gemeinde, glaubte noch weniger ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. »Danken Sie Ihrem Schöpfer, Herr Pastor, daß Sie noch so mit einem blauen Auge davongekommen sind,« meinte er. »Die Menschheit wird alle Tage schlechter! aber, hören Sie, sehen Sie, ich habe dem Pudelkopf sein Lebtage nicht getraut. Schon da sie im kurzen Kittelchen und gestickten Höschen, Tag für Tag ein frisches Bukett im Schürzenbunde wie eine Bachstelze in meine Schulstube gewippt kam, da habe ich zu meiner Frau gesagt: ›Julchen,‹ habe ich gesagt, ›die wird ihrem Manne einmal was zu raten [578] aufgeben!‹ Na, bis zum Manne ist es – Gott sei Dank! – nicht gekommen. Aber, hören Sie, sehen Sie, Herr Pastor, wenn zweie miteinandergehen, und es geht nachhero wieder auseinander, na, das kann einer alle Tage passieren sehen. Liebesstand ist nicht Ehestand. Wenn der Liebste aber für seine Liebste sein Blut vergossen hat und es um ein Haar bis zum Aufgebote gelangt ist, und nur die Gesundheit kommt dazwischen und nachhero die Fasten und nachhero der Krieg: mir nichts, dir nichts, bloß, weil er sich Herr Baron tituliert, sich mit einem so nichtswürdigen Rebellen einzulassen, dem der heilige Ehestand ein Kinderspott ist, dem alten ehrwürdigen Papachen ein Schnippchen zu schlagen, mit dem buckligen Fräulein, das seinen leiblichen Großvater, um ihn nach Herzenslust bemopsen zu können, in alten Tagen zum Saufaus macht, unter einer Decke zu spielen, alle Abende, – na, ich will nichts weiter verraten, aber hören Sie, sehen Sie, Herr Pastor, nehmen Sie mirs nicht übel, aber da steht einem der Verstand stille.«

Die Pein der Gegenrede wurde dem armen Dezimus durch den eintretenden Martin und den Rückzug des Emeritus erspart. Seit dem Frühling in die unferne Festungsstadt versetzt, von welcher aus er mit blanker Klinge, aber gottlob! ohne Blutvergießen, die kleinen Unruhen der Umgegend hatte zerstreuen helfen, war der brave Leutnant eilend herbeigekommen, dem Veteranen die letzte Ehre zu erweisen, und hatte schon am Grabe geweint wie ein rechter Held, der sich seiner Tränen nicht zu schämen braucht. Weinend stürzte er sich auch jetzt dem Freunde in die Arme.

»Das war ein guter Mann,« schluchzte er. »Auf Ehre! der Tod meines Vaters ist mir nicht so nahe gegangen wie der seine; schon um des lieben Mädchens, deiner Rose willen. Aber sie soll gerächt werden, als ob sie meine leibliche [579] Schwester wäre. Du darfst es nicht, weil du ein Geistlicher bist, und dir nimmt es am Ende auch kein Mensch übel, wenn du ihn nicht forderst. Du bist ja kein Offizier, nicht einmal bei der Landwehr. Aber ich, ich! Verlaß dich auf mich! Wie lange dürstet mich schon nach dieses Halunken Blut! Du denkst gewiß wegen Lydias. Aber nein, Dezimus, nein. Lydias wegen tut er mir eher leid. Es ist gewiß nicht leicht, mit ihr auszukommen; sie will zu hoch mit allen Menschen hinaus, und am Ende ist sie es doch gewesen, die ihm den Laufpaß gegeben hat. Ich habe in der Geschichte niemals ganz klar gesehen. Aber unseren alten Namen so schmählich in den Kot zu treten! ›Der rote Hartenstein‹ wird er in den nobelen Zeitungen geschimpft, und die Lumpenblättchen heben den roten Hartenstein in den Himmel.«

»Wo ist Max?« unterbrach ihn Dezimus, dem wahrlich die Geduld, zuzuhören in dieser Stunde, herzlich schwer ankam.

»Ja, wenn ichs wüßte, Freund! Seitdem der Cavaignac mit dem Pariser Plebs reinen Tisch gemacht hat, scheint es ihm in Bielitz nicht mehr recht geheuer vorgekommen zu sein. Wo es aber einberufene Landwehren aufzuhetzen, ein Zeughaus zu plündern gibt und dergleichen, da wird der rote Hartenstein gewiß nicht weit um die Ecke stehen. Es heißt, sie fahnden auf ihn. Und wenn sie ihn faßten! Es wäre schauderhaft! Ein Hartenstein im Zuchthaus Wolle haspelnd wegen Hochverrats! Eher schieße ich ihn nieder. Einmal dachte ich schon ganz gewiß, ich hätte ihn am Kragen. Es war bei dem sogenannten Doktorputsch; du wirst wohl von ihm gehört haben. So ein Pflasterkasten! Was meinst du, Dezimus, wenn am Ende Peter Kurze auch noch anfinge, die Republik auszurufen! Aber dieses Hartensteinsche [580] Genie muß Doktor Faustens Zaubermantel in Pacht genommen haben; der Blondkopf, den ich statt seiner erwischte, war ein armer Hungerleider von Schneider.«

»Deine Voraussetzung ist eben eine irrige gewesen, Freund,« entgegnete Dezimus. »Ein so gescheiter Mensch wie dein Vetter läßt sich nicht auf derlei kindische Versuche ein.«

»Nicht, etwa nicht?« eiferte der Leutnant. »Denke doch nur an den Napoleon in Straßburg und dann noch einmal mit dem Adler in Boulogne! War der etwa auf den Kopf gefallen? Sie sagen ja, er setzt es am Ende doch noch durch! Und bedenke doch nur Maxens Wut! Von der Offiziersliste gestrichen zu werden! Ein Hartenstein! Und warum? Um ein paar lumpiger Verse willen, die kein Mensch gelesen hätte, wenn man nicht solches Wesen darum gemacht. Da kann einer freilich zum Mordbrenner werden. Ich selber, wenn ich an die Schande denke, die dadurch auf die Familie geworfen worden ist, da wendet sich mir das Eingeweide um. Ich habe seitdem auch von keinem Menschen wieder ein Gedicht gelesen, und ich danke meinem Schöpfer, daß ich kein Dichter bin. Weil Max aber einmal einer ist, hat er mir aus dem Grunde am Ende immer leid getan. Und zweitens, Dezimus, daß er sich in Röschen verliebt hat, das kann ich ihm, auf Ehre! auch nicht so übelnehmen. Sie ist dir gar zu reizend! Freilich war sie deine Braut. Aber, siehst du, dein Freund, wie ich, war Max am Ende nicht, und solche Geschichten sind schon unter leiblichen Brüdern passiert. Und wenn er ihr, sei nicht böse, lieber Junge, wenn er ihr, ich meine nur so, ein bißchen besser gefallen hat als du, das solltest du dem armen Dingelchen auch nicht so sehr zur Last legen, Freund. Ich finde dich schöner, schon weil du einen halben Kopf größer bist als Max, [581] aber – de gustibus non est disputandum, so sagen ja wohl wir Lateiner.«

Dezimus machte einen schwachen Versuch zu lächeln; der unwiderlegliche Wortführer schöpfte Atem und geriet darauf allmählich in die blutdürstige Stimmung, von der er ausgegangen war, zurück. »Aber siehst du, Dezimus,« fuhr er fort, »ein schlechter Kerl ist der Max doch. Warum heiratet er Röschen nicht? Und wenn er zehnmal den Namen Hartenstein trägt, seine Mutter war eine Mehlborn, und wer mit blutroten Demokraten auf Duzbrüderschaft steht, der kann sichs doch wahrhaftig nur zur Ehre anrechnen, wenn eine Pastorstochter ihn nimmt. Und denke ich daran, da werde ich fuchswild. Aber ich finde ihn schon noch, und wo ich ihn finde, – na, verlaß dich auf mich! Es ist wahrhaftig auch an der Zeit, daß einer von uns etwas für dich tut. Was sind wir dir nicht alles schuldig geworden! Erst beim Magister, wie ich noch ein recht dummer Junge war und du mir so geduldig nachgeholfen hast, und dann wegen Philipps, den du so klug und nobel aus der Patsche gezogen hast. Denke doch nur, im Militärwochenblatte hat er mit Ruhm erwähnt gestanden! Der Erste ist er oben auf der Schanze gewesen, zum Leutnant haben sie ihn schon gemacht! Und unsereiner muß während der Zeit in dem verdammten Festungsneste auf Wache ziehen und allerhöchstens einen verrückten Pflasterkasten mit seinem Raubgesindel, ohne einen Schuß Pulver zu tun, zu Paaren treiben. Zum Haarausraufen, sag ich dir, ist es, zum Kopfeinrennen! Könnte man am Ende aber nicht an aller Naturphilosophie zum Narren werden, wenn man erlebt, daß das größte Genie in einer Familie ihren guten Namen dermaßen an den Pranger stellt, und der verlorene Sohn der Familie bringt ihn wieder zu Ehren wie ein Held!«

[582] Nach dieser Bemerkung drückte er dem Freunde zum Abschied die Hand, da das verdammte Festungsnest nicht über Nacht einem republikanischen Handstreich ausgesetzt werden durfte, ohne daß ein Hartenstein zur Stelle gewesen wäre, um ihn abzuschlagen.

In Dezimus Freys Hirn sah es so wüst aus wie in seinem Herzen dunkel. Er hätte heute kein Wort mehr hören, keinen Menschen mehr sehen können, Rosen am wenigsten. Und wie dankte er Lydia ihr schonendes Zurückhalten! Ihm war, als müsse er vor der Reinen selbst in Gedanken sein Angesicht verbergen.

Und dann kam die Nacht; und wie der Strahl eines Springquells, der so hoch steigt, wie er tief gefallen ist, und wiederum so tief fällt, als er hoch gestiegen, so rastlos trieben Gram und Grimm in seiner Seele auf und ab.

Früh am Morgen ging er hinunter zu Sidonien. Bei seinem unerwarteten Eintritt flog eine Blutwelle über ihre abgezehrten Wangen. Sie reichten sich nicht wie sonst die Hand, sondern standen sich eine Weile schweigend wie Feinde, die sich messen, Aug in Auge gegenüber.

»Wo ist Ihr Bruder?« fragte Dezimus endlich.

»Da, wo Helden wie Sie und Ihr Freund Martin ihn nicht finden werden, falls sie Lust haben sollten, sich von ihm das Lebenslicht ausblasen zu lassen,« antwortete sie mit einem Ausdruck hämischen Zorns, der ihre klaren Züge widrig verzerrte.

In der nächsten Minute hatten sie indessen schon den gewohnten Ausdruck wiedergewonnen. Die Lippen lachten, aber die Augen blickten ernst unter einem Trauerflor. »Verzeihen Sie mir,« sagte sie ruhig. »Sie können sich nicht denken, wie es mich seit Monaten aufbringt, in jedes Tropfes und in jedes Heuchlers Mienen die Frage zu lesen: [583] Wo ist Ihr Bruder, der rote Hartenstein? Ich weiß, Sie spielen keine Rolle; ich wüßte aber auch wahrlich keine, welche zu spielen Sie ein Recht hätten.«

»Ich habe das Recht, im Namen eines Vaters, der seine Tochter unter meinem Schutze zurückgelassen hat, zu fragen, ob es lediglich ein Spiel war, welches mit dem Frieden eines Herzens und der Ehre eines Hauses getrieben worden ist, oder ob – –«

»Ist es Ihre Schutzbefohlene, die diese Frage Ihnen auf die Lippen gelegt hat?« unterbrach ihn Sidonie mit dem vorigen höhnischen Klang.

»Würde ich die Frage an Sie richten, wenn ich sie ihr nicht hätte ersparen wollen?«

»Vortrefflich! Hätten Sie ihr die Frage indessen nicht erspart, würden Sie wissen, daß sie das Spiel lediglich mit sich selbst getrieben hat.«

»Will das sagen, daß sie Ihren Bruder nicht geliebt?«

»Geliebt? Natürlich hat sie ihn geliebt.«

»Und er sie?«

»Natürlich auch das.«

»Und mit dem Vorsatz der Treue?«

Sidonie lachte. »Das ist mehr, Verehrtester, als ich anzugeben oder auch nur anzunehmen imstande bin. Entscheiden Sie daher nach eigenem Ermessen. Ist die Zeit, in die wir geraten sind, eine, in welcher ein Max an Hüttenbauen denken könnte?«

»Also ein Spiel! Hat mein Vater es geahnt?«

»Er muß doch wohl, weil er dem Amoroso schlechthin sein Haus verboten hat. Allerdings wäre es weiser gewesen, das nicht zu tun; da er es aber einmal getan, hätte sein sonst so kluges Töchterchen klüger gehandelt, wenn es nicht heimlich – –«

[584] Dezimus ließ sie den Satz nicht vollenden. »So habe ich nichts weiter zu hören,« sagte er und wendete sich zum Gehen.

Sidonie aber schritt ihm nach, legte ihre Hand auf seine Schulter und sprach: »Bleiben Sie, Dezimus! Ich habe Ihre Freundschaft verloren, vielleicht verscherzt. Indessen eine Viertelstunde könnten Sie für den Kameraden, der Ihnen einmal etwelche Rittergüter in den Schoß werfen wollte, doch füglich übrig haben, wenn nicht zu seiner Rechtfertigung, so doch Ihnen selbst vielleicht zu Rat und Hülfe. Setzen Sie sich, Dezimus. Sie sehen übernächtig aus. So. Glauben Sie mir, ich erkenne die ganze Mißlichkeit Ihrer Lage. Lassen Sie uns bedenken, wie sie zu erleichtern wäre. Ihnen die abgeschmackte und abgestandene Partie eines Freund-Gemahls im Hintergrunde des ungetreuen Liebhabers zuzumuten oder zuzutrauen, fällt mir nicht ein. Aber zu Ihrer Schutzbefohlenen in ein geschwisterliches Verhältnis, wie Sie es zwanzig Jahre lang gewohnt gewesen sind, zurückzutreten, das brächten Sie fertig, und es würde Ihren fernerweitigen gemütlichen Bedürfnissen auf die Dauer auch kaum hinderlich sein, da über kurz oder lang, ich meine aber über kurz, sich zuverlässig einer finden würde, der das just nicht bequeme Hüteramt aus Ihren Händen nähme. Und wer weiß, ob dieser eine nicht schließlich dennoch der wäre, dem Sie es heute – nun dreist heraus! – voreilig aufnötigen möchten.«

»Bei Gott im Himmel nicht!« rief Dezimus aufspringend. »Sein Opfer ihm entwinden will ich und werde ich; ihn wissen lassen, daß, wenn die bukolische Laune ihn gelegentlich wieder anfliegen sollte, heute ein anderer sein Hausrecht wahrt als der vertrauende, edle Greis, dem es so schnöde mit Füßen getreten worden ist.«

[585] »Ich glaube Ihnen,« sagte Sidonie mit einem warmen Blick.

»So ist es in Ihrer Natur, so verstehe ich Sie. Und nun geben Sie mir einmal die Hand und zwingen sich, auch den zu verstehen, dem Sie feind geworden sind. Ich meine sein Ideal. Denn auch er hegt ein Ideal, und zwar eines, das dem Ihrigen durchaus nicht schnurstracks entgegenläuft. Nur daß Sie ein Ganzer im kleinen sind, und er ist ein Halber im großen. Er hat ein mal gesagt, in jedem Menschen stecke ein Faustschicksal. Das sage ich nicht. In Menschen Ihres Schlags steckt es keineswegs. Aber in dem meines Bruders, da steckt es. Die Idee fließt aus Gott, zur Verwirklichung bietet Satanas die Hand. Meines Max Ideal ist: Freiheit für sich selbst und für alle anderen Gleichheit. Er fühlt den Widerspruch nicht einmal. Ohne Zweifel würde es ihm wie eine höchst sträfliche Beschränkung seines Freiheitsrechtes vorkommen, wenn die Tagelöhner von Bielitz und Werben, deren menschenunwürdiges Dasein ihn empört, eines Tages in seinen menschenwürdigen Salon rückten und sagten: ›Herr Bruder, nimm du einmal zur Ausgleichung unter unseren Schindeldächern fürlieb, und wir wollen uns zwischen deinen Götterbildern gütlich tun.‹ Oder: ›Das Versemachen und Redenhalten wollen wir uns bis auf weiteres selbst besorgen; greife du einmal freundlichst zu Hacke und Kelle und hilf uns, aus den Steinen dieses Schlosses, das wir niederzureißen beabsichtigen, die Häuserchen bauen, von welchen, zum Dank für deine guten Lehren, dir eines, nicht besser und nicht schlechter als die anderen, überlassen werden soll.‹ Derlei praktische Konsequenzen zieht aber ein Schwärmer nicht; oder, wenn Sie so wollen, er macht mit der Praxis den Anfang nach seiner Manier, indem er sein Geld zum [586] Fenster hinauswirft. Immer noch besser, als wenn es in Papa Mehlborns Eisentruhe verrostete. Lassen wir also sein sacré feu auslodern! Weisheit oder Torheit, jeder Mensch bedarf eines Glaubens, um dessentwillen ihm das Leben lebenswert und das Sterben sterbenswert erscheint. Die Zeit ist nicht fern, wo er nicht mehr an seine Artikel glauben und einsehen wird, daß jedes Philosophem, welches so flach ist, daß die große Menge es zu fassen vermag, dem Funken gleicht, den eine Katze aus der Herdasche auf den Heuboden trägt und daß – –. Aber Sie werden ungeduldig. Zur Sache denn. Held Martin, der mit seinem gezückten Pistol bis in meinen stillen Winkel gedrungen ist, ist ein Narr, wenn er Max zutraut, an den albernen Aufwieglungen dieser Gegend teilgenommen zu haben. Er betreibt das Geschäft en gros, hat aber nichts anderes gesagt und getan als hundert andere, auf welche zu fahnden zurzeit noch keiner Regierung eingefallen ist, lebt unangefochten in Wien, Berlin oder Frankfurt, wo der elektrische Strom sich just am anziehendsten entladet. Der Sinn steht ihm so hoch wie je; er glaubt noch hartnäckig an den Aufschwung der Bewegung und ist blind dafür, daß sie mit Riesenschritten niederwärts steigt. Wie still wird es bald geworden sein nach dem wüsten Getös! Wie still dann zeitweise auch in ihm! Alle meine Hoffnung beruht darauf, daß nach der unnatürlichen Überreizung die natürlichen Reize in ihm zur Geltung kommen; zu oberst das Idyll, das er so jählings abgebrochen hat. Sparen Sie ihm Ihre Rose bis zu diesem Wendepunkte auf. Mit ihrem rücksichtslosen Realismus, mit ihren wohlbewußt verführerischen Impulsen ist sie das Naturchen, das wie kein zweites für ihn paßt. Sie haben mir diese Taxierung schon wiederholentlich übelgenommen. Es hilft [587] aber alles nichts: eine Frau, die nicht reizen will, reizt auch nicht, und Rose hat bisher jeden Mann gereizt, und außerdem – liebt sie Max; ja, täuschen Sie sich nicht, sie liebt ihn heute noch. Die Frage ist nur, wo und wie Sie Ihren anvertrauten Schatz bis auf weiteres bergen sollen? Wären Sie nicht ihr Bräutigam gewesen, oder wären Sie wenigstens nicht ein Landpastor, sagte ich einfach: leben Sie zu zweien weiter wie bisher zu dreien. Für den Idealisten wie für die Realistin steht ja doch ein heimlicher Sozius als Schutzwehr zwischeninne. Aber Sie sind nun einmal, leider Gottes! dem Namen nach ihr Bräutigam gewesen, sind nun einmal, leider Gottes! der Hirt einer Bauernherde geworden, und wer wirken will, muß–traurig, aber unerläßlich! – sich der Borniertheit anbequemen. Keiner sähe in Rosen wieder wie einstmals Ihre Schwester; sie würde unter Achselzucken und Naserümpfen bestenfalls zu Ihrer Haushälterin herabgezogen werden, und Sie selbst ständen auf einem verlorenen Posten. Nun sagte ich am liebsten: Schicken Sie das Kind zu mir. Es wäre mir ein Trost für Auge und Herz, das kluge, holde Geschöpf um mich zu haben, und an einem Nektar, welcher die kopfhängende Seelenblume auffrischt wie die Liebfrauenmilch mein altes Väterchen, sollte es ihr nicht fehlen. Ich bin zum Schwestersein geboren, und Musik und ein voller Beutel sind für eine Rose gar sympathetische Medien. Aber da ist nun wieder einmal der liebe Bruderstolz, richtiger ausgedrückt die moralische Ranküne. Das Haus der kleinen Sidi ist dem ehrenfesten Hirtensohn zur Höhle geworden, in welcher das Drachengift ausgebrütet worden ist. Und da weiß ich denn freilich keinen besseren Rat als: bringen Sie Rosen zu der von ihren Schwestern, die materiell am behaglichsten lebt. Lange aushalten wird [588] sie es als Einschiebsel in dieser häuslichen Beschränkung nicht, dafür ist sie zu selbstherrlich gewöhnt und nicht zum geringsten verwöhnt durch den, welchen sie ihren alten Dezem nannte. Aber es handelt sich ja auch nur um ein Interim. Der eine oder der andere wird sie in die Freiheit locken, und von dem einen oder dem anderen wird sie sich locken lassen – wiederum zu einem selbstherrlichen Regiment.«

Dezimus entfloh ohne Gegenwort. Sidonie hatte Öl in die Flammen gegossen, die sie beschwichtigen wollte. Was sie mit klaren Worten ausgesprochen, mit halben ihn hatte ahnen lassen, ihre Voraussetzungen und Voraussagungen, das Ziel, nach dem sie deutete, den Weg, auf den sie ihn wies, eines wie das andere widerstand seinem innerlichsten Sinn. Nein, die Tochter Hanna und Konstantin Blümels war nicht die berechnende Buhlerin, als welche die Schwester Maxens von Hartenstein sie sah und mit eigennütziger Vorliebe sehen wollte. Mochte die Leidenschaft sie verirrt haben, bis an den Rand eines Abgrundes verirrt, sie war fähig und wert, durch die ernste Treue eines Mannes erhoben zu werden, gerettet vor sich selbst, vor den Umstrickungen eines Schwelgers und dem Geifer der Welt. Der aber, welcher, seitdem er von seinem Leben wußte, ihr als seinem nächsten Menschen angehangen hatte, war gewillt, in einem anderen Sinne als vor einem Jahr sein Herzblut mit ihr zu teilen.

Im Wirbelkampf auf und ab wogender Gedanken ging er mit heftigen Schritten den Talweg auf und ab. Oftmals hob er halb in Sehnsucht, halb in Schmerz den Blick zu Lydias Fenstern empor; er hätte ihr sagen mögen »Entscheide du!« Aber nein! Nur er allein hatte aus innerstem Gemüt in diesem Widerstreit zu entscheiden, und [589] bevor er den Spruch über seine Zukunft ihr zur Billigung vortrug, hatte er ein Wort aus einem anderen Munde als dem ihren zu vernehmen. Ihn graute vor diesem Wort, sein Fuß starrte, sooft er ihn hob, um in das Haus zurückzukehren, das jetzt das seine hieß.

Endlich entschlossen, war er bereits die ersten Weinbergsstufen hinangestiegen, als ihm mit raschen Sätzen von oben herab einer, den er am wenigsten erwartet hatte, sein Freund Kurze, entgegenkam. Dem Armen mußte die Kehle wohl jämmerlich trocken geworden sein, denn er biß erst in eine Traube, die er sich im Vorüberrennen vom Stocke riß, ehe er, die Hülsen vor sich hinblasend, dem Bergansteigenden zurief, daß er ihn aus den Pfarrfenstern habe kommen sehen, und weil er nur noch zehn Minuten verziehen dürfe, ihm entgegengesprungen sei. Er habe ihm eine Welt von Mitteilungen zu machen. Dezimus solle ihn daher auf dem Dorfwege bis zur Schenke, wo sein Pferd untergestellt sei, begleiten.

Nach einem kraftvollen, Beileid und Glückwunsch zum Amtsantritt vereinigenden Händedruck erzählte er dann, daß sein Bataillon, auf dem Rückmarsch vom Kriegsschauplatz, gestern in der Nachbarstadt einquartiert worden sei, um heute zur Verstärkung der Festungsgarnison weiterzurücken.

»Mit den Donnerwettern über unsere Retirade,« meinte er, »wollen wir den Zeitungshelden nicht ins Handwerk pfuschen. Die Ohren gellen mir davon, und die Zeit ist edel; das Schlimmste vom Schlimmen aber, daß wir wohl in den Friedensstand zurückgekehrt, aber nicht demobil gemacht worden sind. Wenn nur wenigstens nicht die Feldzulage aufhört! Na, wer weiß, ob in der Festung nicht – en passant – ein Coup zu machen ist? In unserem [590] Gelehrtennest ist der Gesundheitszustand zurzeit von kläglicher Erfreulichkeit. Man munkelte davon, daß in der Festung etwelche angenehme Cholerafälle eingeschleppt worden seien. Ist dir etwas davon zu Ohren gekommen, Alterchen?«

Dezimus verneinte, und Peter Kurze seufzte: »Schadel!« fuhr aber darauf mit natur- und vernunftgemäßer Munterkeit in seiner Welt von Mitteilungen fort.

Gleich nach dem Einmarsch sich zu einem Pfarrbesuch aufmachend, hatte er zuerst vom Schenkwirt, bei dem er abgestiegen, dann ergänzend von Freund Martin, dem er auf dem Wege nach der Pfarre begegnete, den Tod des prächtigen alten Herrn samt »allem, was drum und dran hing,« haarklein erfahren und sich darum gern von Martin bereden lassen, die Nacht, statt in dem Hause der Trübsal, auf der erprobten Sprungfedermatratze des Schlosses zuzubringen; heute morgen hatte er nun aber bereits länger als eine Stunde in Gesellschaft des armen Röschens auf den sein Filial inspizierenden, neubackenen Herrn Pfarrer gewartet.

»Das herzige Dingelchen, deine Rose!« rief er aus. »Und wie ihr die Trauer steht! Nicht einmal das Weinen entstellt sie! Mag einer in der Welt herumkommen, so weit er will, solch ein Schätzchen findet er nicht wieder. Und siehst du, alter Freund, wie ich so den verweinten, schwarzen Blitzäugelchen gegenübergesessen habe und den abgehärmten Grübchenbäckchen, die vorig Jahr noch weißer aussahen wie heute und durch Peter Kurzens Kunst doch wieder zu Rosenknöspchen aufgeblüht sind, da ist es mir wie eine Rakete durch das Hirn geschossen oder meinetwegen durch das urkräftige Pumpwerk, Herz genannt: Transfusion! probatum est! Peter Kurze wird [591] zum zweitenmal ihr Doktor werden, will sagen, unter heurigen hygienischen Umständen – ihr Gemahl! – Na, so reiße doch deine Augen nicht wie Scheuntore auf, als spräche ich chaldäisch, Pastor von einem Tag! Du nimmst sie doch nicht; denn warum? du hast sie schon einmal gehabt, und es steht geschrieben: du sollst auf ein neues Kleid nicht einen alten Lappen setzen, oder meinetwegen auch umgekehrt, keinen neuen Lappen auf ein altes Kleid. Und sie paßt zu einer Pfarrersfrau auf dem Lande auch ganz und gar nicht; dahingegen für einen Doktor mit tüchtiger Praxis, in einer munteren Stadt ist sie wie gemaust. Und ich brauche so bald als möglich eine Frau; denn da der Feldchirurgie so schnöde der Garaus gemacht worden ist, gehe ich damit um, meine Kunst vorzugsweise dem schönen Geschlechte zuzuwenden. Ein rentables Geschäft und ein angenehmes; aber einem Junggesellen fehlt der Kredit: heiraten tue ich sowieso, warum also nicht die, die mir von jeher am besten gefallen hat und heute noch am besten gefällt? Weil sie eine Liebschaft gehabt hat? Na, habe ich etwa keine Liebschaften gehabt? Ich sage dir, so eine Heilige, der das Herz nicht einmal mit dem Kopfe davongelaufen ist, so eine Vernunftsbille, kann mir gestohlen werden. Weil ein dicknäsiger Junker sie im Stiche gelassen? Nun just darum ist es an Peter Kurzen, zu zeigen, wo heute die wahre Humanität zu suchen ist. Einen Strich durch den Handel gemacht und fortan reinen Tisch gehalten. Romane müssen sein. Weit besser gelebt als gelesen. Das kurze lustige Endchen grüner Jugend um Gottes willen nicht vor der Zeit auslaufen lassen in eine altersgraue Chaussee! Im biederen deutschen Vaterlande aber spielt das Schlußkapitel am Altar. Oder etwa, weil Hinz und Kunz und Marthe und Mieke die Köpfe zusammenstecken [592] und sich Schelmenworte in die Ohren flüstern? Was fragt Peter Kurze nach Hinz und Kunz und Marthen und Mieken, außer wenn sie auf der Nase liegen und er sie wieder auf den Strumpf bringen muß. Freilich, sie ist arm wie eine Kirchmaus, und das ist allerdings ein Grund und ein sehr stichhaltiger Grund. Aber bin ich nicht im Handumdrehen und – just durch diese meine erste Kur zum Doktor Eisenbart geworden? Verstehe ich etwa keine Liquidation zu schreiben? Habe ich mir nicht bereits ein rundes Sümmchen zurückgelegt? Siehst du, Alterchen, ich habs mit diesem und jenem Goldfisch probiert; zuletzt sogar mit der kleinen, schiefen Kröte, deinem guten Kameraden. Aber, weiß der Six! keiner biß an. Na, ich habe mich an den Körben nicht lahm getragen, und heute danke ich meinem Herrgott, daß er sie mir aufgebürdet; ich mag keine Reiche, als deren untertäniger Diener ich ersterben müßte. Mich verlangt nach einem drallen, blitzäugigen Weibchen, das zu mir sagt: ›Peter Kurze, ich habe ein bißchen an Schwindel und Herzweh laboriert, aber du hast mich wieder gesund gemacht, Peter Kurze, ich danke dir!‹«

Dezimus lächelte, so wenig lächerlich ihm zumute war. »Und glaubst du im Ernst, guter Junge,« fragte er, »daß Rose Blümel dieses Habdank dir sagen kann und wird?«

»In Dreiteufels Namen, ich meine, in Gott Hymens Namen, warum sollte sie nicht?« versetzte Kurze, laut lachend zwar, aber mit dem Selbstbewußtsein, das dem Meister gestattet ist. »An der Partie, wie ich dir eben weitläufig demonstriert, ist doch vernunftgemäß nichts auszusetzen, und an der Person, na, was könnte sie an der wohl auszusetzen haben? Sieh mich doch an, altes Haus! Steht mir die Uniform nicht wie dem schmucksten Leutnant [593] von der Garde? Und wenn ich erst hoch zu Rosse unter ihrem Fenster Parade machen werde –: Zu Pferd, zu Pferd, da ist der Mann erst was wert! Nur ein bißchen Geduld; mit der Zeit pflückt man Rosen. Heute freilich, heute, – na, geradezu abgewiesen hat sie mich auch heute nicht.«

»Wie – was – du hättest heute – einen Tag, nachdem ihr Vater – –«

»Just darum heute schon. Was der Tod niedergeworfen hat, muß rasch durch das Leben wieder aufgerichtet werden.«

»Und – und – was hat sie dir geantwortet?«

»Sprich mit meinem Bruder, dem ich fortan Gehorsam schuldig bin, Peter,« hat sie gelispelt und die Augen dabei niedergeschlagen, und ich, na, ich hätte um ein Haar laut auf ihr ins Gesicht gelacht. Gehorchen ihrem alten Dezem, den sie seit zwanzig Jahren wie ein Kind seinen Hampelmann am Fädchen regiert! Da sie ihn indessen einmal abwechslungshalber zu ihrem Vormund erhoben hat, halte ich hiermit bei dieser Respektsperson kurz und bündig um ihrer Mündel zierliches Händchen an und hoffe, sie sagt ebenso kurz und bündig – –«

»Nein!« antwortete Dezimus kurz und bündig.

Peter Kurze prallte drei Schritte zurück. »Wie, – was – nein?« schrie er auf, verblüfft, wie er es vielleicht zum erstenmal im Leben war. »Nein! Nein! Höre, Dezimus, nimm mirs nicht übel, aber, beim Äskulap! du bist nicht bei Trost. Meine ich doch Wunder, aus welcher Patsche ich dich ziehe! An wen hab ich denn bei der Geschichte gedacht? Na, natur- und vernunftgemäß, in erster Hand freilich an mich selbst; und in zweiter, ebenso natur- und vernunftgemäß, an das herzige Röschen, aber zu dritt, als [594] guter Freund, doch an dich! Mein' ich doch, daß du mir vor lauter Dankbarkeit an den Hals springen wirst! Und nun rundweg: nein! Oder – solltest du etwa selber –? Na, freilich in dem Falle trete ich zurück. Das muß ich jedoch sagen, Freund: Peter Kurze ist kein Zimperling, aber eine derartige Retourkutsche wäre mehr, als Peter Kurze fertigbrächte.«

»Den Grund werde ich dir ein andermal sagen, wenn er dir bis dahin nicht von selbst klar geworden sein sollte,« versetzte Dezimus. »Sieh, da hält der Wirt schon dein Pferd bereit. Es ist hohe Zeit. Gehab dich wohl!«

Damit schlug er stracks den Pfarrweg ein.

Freund Kurze schaute ihm kopfschüttelnd nach. Dieser gelassene, mustervernünftige Kumpan! Ob er ihm nicht hätte eine Eisblase auf den Gehirnkasten verordnen sollen! Erst nach dem jener hinter der Friedhofspforte verschwunden war, schwang er, noch immer kopfschüttelnd, sich hoch zu Roß, um – ohne Fensterparade – seiner Truppe nachzusprengen.

Dezimus fand Rosen wie gestern im geistlichen Gemach, dem rechten Ort für das, was er auszusprechen hatte. Sie saß in des Vaters Stuhl, den Blick auf das lorbeerumkränzte Kreuz gerichtet, das sie wieder unter dem Rahmen befestigt hatte. »Wenn ich ein Bild von ihm hätte aus der Zeit, da wir Kinder waren, Dezimus!« sagte sie mit dem weichsten Klang, in dem er sie jemals hatte reden hören. »Nun sehe ich über dem Gekreuzigten immer nur sein liebes Haupt so, wie ich es im Sarge gesehen habe, und Tag und Nacht höre ich eine Stimme klagen: Mein Kind, mein Kind, warum hast du mir das getan?«

Dezimus setzte sich an ihre Seite und ergriff ihre Hand. [595] »Rose,« fragte er nach einer Pause, »hat der Vater um deine – deine Liebe gewußt?«

Sie neigte schweigend den Kopf.

»Und im Glauben an die – Zukunft sie – anfänglich wenigstens – gebilligt?«

»Nein!« antwortete sie mit fester Stimme. »Er hat, weil ich nicht fort von hier wollte, Sidonien und – ihm den Verkehr mit unserem Hause und noch entschiedener mir den mit dem ihren untersagt, ich aber, ich – –«

»Ich weiß das, still davon!« unterbrach sie Dezimus und saß dann, ebenso wie sie, eine lange Weile in Gedanken versunken. Ja, dieses Kind, das die Reue so tief, wie nur der Tod sie aufwühlt, hegte, das so ernsthaft Leid trug, das Kind des Mannes, dessen ganzes Leben auf Versöhnung gerichtet gewesen, es war es wert, dem Leben versöhnt zu werden mit dem höchsten Opfer, welches der Sohn dieses Mannes zu bringen imstande war.

»Rose,« hob er von neuem an, »ein mal, ein einziges Mal laß mich einen Blick bis in den Grund deines Herzens tun, und was er mir enthüllt, soll dann zwischen uns unberührt bleiben für das Leben.«

»Frage!« sagte sie mit einem Augenaufschlag so groß und entschlossen, daß auch ein Zweifelmütigerer als Dezimus an der Wahrhaftigkeit ihres Willens nicht gezweifelt haben würde.

»Nun denn,« fragte er, »du hast Max geliebt, aber hast du auch an seine Liebe geglaubt?«

»Ja, Dezimus, so fest wie er an die meine.«

»Und an seine Treue?«

»Nein. Er hat sie mir niemals versprochen, und ich habe niemals gefordert, was ich wußte, das er nicht halten würde.«

[596] »Und hast ihn dennoch geliebt?«

»Dennoch!« rief sie, und ein Strahl entzückter Erinnerung flog über ihr blasses Gesicht. »Ich liebte ihn schon damals, als ich zu stolz war, es dir und mir selber einzugestehen. Ich hatte ihn geliebt auf den ersten Blick, das heißt seit jenem Winterabend; denn vor Jahren, da war ich noch ein Kind. Und als ich ihn wiedersah, liebte ich ihn wieder. Und sähe ich ihn von neuem, ich glaube, – nein, ich weiß es, ich liebte ihn von neuem. Dezimus, Dezimus!« setzte sie mit einem Anflug schwermütiger Schelmerei hinzu, »es ist etwas an dem, was unsere litauische Lene von den Liebestränken der alten Heiden erzählt. Aber – es sind nicht die besten Menschen, die diesem Zauber verfallen, und darum wirst du, Dezimus, ihn nicht einmal begreifen.«

Er wußte genug. Er hätte ihr wie vorhin zurufen mögen: Höre auf! Sie aber fuhr unerschrocken in ihrer Beichte fort:

»Ja, Dezimus, sähe ich ihn wieder, ich liebte ihn wieder. Allein ich will ihn nicht wiedersehen, niemals wiedersehen. Ich möchte vor ihm fliehen bis an das Ende der Welt; ich möchte, daß es auch für uns Klöster gebe. Er hat mich zuviel gekostet. Zuerst dich, Dezimus, und deinen treuen Bruderglauben, und dann meinen Vater. Ach, wie viele Kinder haben denn solch einen Vater? Und er ist betrogen von mir, vielleicht voll Jammer um mich in den Himmel gegangen! Dezimus, es ist zu schön, einmal ganz glücklich gewesen zu sein! Aber alles, was ich von Freuden genossen habe, gäbe ich darum, wenn ich um meinen Vater trauern könnte reinen Herzens wie du.«

»Er war ein Friedenbringer auf Erden und hat nicht aufgehört, es zu sein,« sagte Dezimus innig bewegt. »Du wirst in Frieden um ihn trauern lernen, meine Schwester.«

[597] »Glaubst du?« rief sie sichtbar belebt. »Ja vielleicht, wenn ich eine so rechtschaffene Frau würde, wie unsere Mutter es war, und so viel Gutes täte wie sie. Und darum,« setzte sie mit niedergeschlagenen Augen hinzu, »hat Peter mit dir gesprochen, Dezimus?«

»Ja.«

»Und was hast du ihm geantwortet?«

»Nein!«

»Nein, Dezimus? Ihm genügt, was ich ihm zu geben habe.«

»Vielleicht; aber es genügt mir nicht für dich. Auch in der Liebe macht Geben seliger denn Nehmen. Du würdest ihn niemals lieben lernen, und dein Herz hat noch nicht ausgelebt, Rose.«

Er stand auf und machte ein paar Gänge durch das Zimmer. Sie blickte betreten bald zu ihm hinüber, bald in ihren Schoß. Vor ihr stehen bleibend fragte er darauf: »Würdest du jetzt noch wie einst gern und zufrieden neben mir leben können, Rose, die Schwester neben dem Bruder und die teueren Eltern im Geiste zwischen uns?«

»Neben dir,« rief sie, »bei dir, mit dir, allezeit um dich! Und so glücklich, wie ich es auf Erden noch werden könnte; vielleicht wieder ganz so glücklich wie einst!«

»So gib mir deine Hand, die Schwester dem Bruder. Wir wollen miteinander leben als die, für welche die reinste Erdenliebe uns gebildet hat.«

Sie reichte ihm die Hand, sagte jedoch dabei, anfänglich zaghaft, dann je mehr und mehr entschlossen: »Aber wir dürfen ja nicht, Dezimus, du weißt ja, der selige Vater hat es verboten, um der dummen Bauern willen verboten, damals schon, als ich noch sein schuldloses Kind war. Und [598] dann – dann, Dezimus, wenn er nun wiederkäme, der, den ich niemals wiedersehen will? Nein, Dezimus, hier darf ich nicht bleiben! Bringe mich fort von hier, wohin du willst, und wenn es zu einer der Schwestern wäre, die alle das Haus voll Kinder haben und alle bitterböse auf mich sind, weil ich mich so schmählich an dir vergangen habe, und mich alle wegen meines Leichtsinns scheel ansehen würden und nicht ein bißchen Geduld mit mir haben, wie du so viel. Und erst ihre Männer und deren Sippschaft! Schrecklich, schrecklich! Tausendmal lieber unter Stockfremde, die nichts von mir wissen. Wenn du es aber willst, Dezimus, gehe ich auch zu den Geschwistern.«

»Weder unter Fremde noch zu den Geschwistern, wir bleiben beieinander, Rose, aber – nicht hier.«

»Wo du willst, Dezimus; auf einer wüsten Insel meinetwegen, nur beieinander und nur nicht hier. Denkst du etwa noch auf die Sterne zu studieren und mich zu deiner Schwester Studentin zu machen, wie wir es uns ausgemalt haben, als – ach! als ich noch dein liebes Röschen war und du mein alter Dezem warst?«

»Nein, mein Röschen, das denke ich nicht,« entgegnete Dezimus lächelnd. »Es wäre ein weitaussehendes Brot. Ich bleibe, was ich bin, aber nicht hier. Was meinst du zu einem Tausch mit Schwester Luisens Mann? Er hat sich längst ein einträglicheres Amt ersehnt, und bei dem großen Hausstand tut es ihm not. Wir sind nur zwei, für uns reicht es zu. Ganz so freundlich wie in unserem Tal wird es freilich in der preußischen Heide nicht sein; aber es ist weit entlegen. Niemand hat uns dort gekannt; niemand wird etwas anderes in uns sehen als das, was wir von heute ab einzig wieder sind, die Geschwister des bisherigen Pfarrerpaares. Dort, in unserer lieben Eltern [599] Heimat, wirst auch du, mein Röschen, um deinen Vater in Frieden trauern lernen.«

Sie war bei den letzten Worten zu seinen Füßen niedergeglitten und bedeckte seine Hände mit Küssen und Tränen. »Dezimus, Dezimus!« schluchzte sie, »dich konnte ich aufgeben, von dir mich abwenden, um eines willen, eines – –«

»Still, still!« unterbrach er sie. »Nie wieder zwischen uns ein Wort von – dem!«

Er zog sie in die Höhe, setzte sich an ihre Seite, und ihre Hand ergreifend fuhr er fort: »Glückauf also im Heidedorf, mein Röschen! Aber der Winter kann über diesem Wechsel vergehen, und kaum wiedergefunden, möchte ich dich ungern aus den Augen verlieren. Da weiß ich denn keinen besseren Rat, als daß du die Zwischenzeit auf dem Schlosse verbrächtest, bei – Lydia.«

Er sprach den Namen sehr leise. Alles, was in seinem Entschlusse Opfer hieß, wurde mit dem Namen ja angedeutet.

Auch Rose zuckte zusammen. »Bei Lydia!« rief sie mit gerunzelter Stirn. Und nach einer Pause: »Muß es sein, Dezimus?«

»Wenn du Vertrauen zu mir hast: ja!«

»Nun denn, so will ich. Aber – aber, wird auch sie wollen, Dezimus?«

»Sie wird es,« sagte er mit Zuversicht.

Er ging zu Lydia gehobenen Hauptes, aber mit bebendem Schritt. Sie allein in dem Wandel, der sich um ihn vollzogen, hatte zu ihm gestanden in wandelloser Treue; von dieser Einzigen sich zu lösen, dünkte ihm sich lösen von seinem Stern. Auch sie erbleichte, als er ihr seinen Entschluß mitteilte; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und lange, nachdem er ausgeredet hatte, schwieg sie noch still. [600] Dann aber sagte sie mit schöner Freude: »Ich wäre dieser Wahl für Sie vielleicht nicht fähig gewesen, Freund. Aber sie ist die würdigste, die Sie treffen konnten, und fern oder nah, wir bleiben, was wir uns geworden.«

Und als er darauf sie bat, seine Schwester in ihre Obhut zu nehmen, da stutzte sie zwar einen Augenblick, sagte aber auch dann, indem sie ihm die Hand reichte, mit Freudigkeit: »Ich werde sie zu lieben suchen so, wie Sie meinen Bruder geliebt.«


Noch von keinem Menschen war der Hirtendezem so dankbar als glückbringendes Johanniskind verehrt worden wie von Schwester Luischen und ihrem Manne bei dem Vorschlage des Ämtertausches; auch machte dieser, da Lydia als Patronin von Werben mit ihm einverstanden war, nur bei dem jenseitigen Konsistorium einige Weitläufigkeiten, und man hatte sich bis zu deren Erledigung, etwa zu Anfang des nächsten Jahres, zu allseitiger strenger Heimlichhaltung verpflichtet. War doch des ärgerlichen Geträtsches in Gemeinde und Umgegend übergenug laut geworden.

Ein Liebling der Pfarreingesessenen, wie ihre älteren Schwestern, war das neckische Röschen von jeher nur bei den besonderen Gelegenheiten gewesen, wo sie kam, einer Mieke und Marthe den kunstvoll gewundenen Brautkranz um den Zopf zu legen, oder einem Hinz und Kunz den Totenkranz auf den Sarg. Bauern lieben gesetzte Leute. Ihre rücksichtslose Leidenschaft hatte die Abneigung dann zu einem Ärgernis gemacht und der jähe Tod des Vaters das Ärgernis nahezu zu einem Mord. »Die Schande hat ihm das Herz abgedrückt,« hieß es. Nun jedoch, da man die heillose Kreatur, anstatt sich in den hintersten Weltwinkel zu verkriechen, als Gesellschafterin der unantastbaren [601] Schloßdame unter den Augen der Gemeinde weiterleben sah, dämpften die schwarzen Gesichte sich in ein zweifelhaftes Nebelgrau ab; bald vielleicht würden sie sich vollständig verzogen haben. Hatte im Jahre der Demokratie die adlige Herrschaft auch viel von ihrem Nimbus eingebüßt, so war durch Lydias aufopfernde Wirksamkeit während der kürzlichen Elendszeit nahezu ein Heiligenschein um die unsere gewoben worden; und wahre Güte wirkt ja allerwärts wie ein reinigender Quell.

Rose bezeigte sich tapfer und Lydia milde wie ein Engel. Wohl miteinander werden konnte es indessen den beiden ungleichartigen Naturen, deren Geschick sich so eigenartig in den Herzen der nächsten Menschen verschlang, keineswegs, und wohl zumute war auch keineswegs dem Freunde, der ihnen diese Prüfungszeit auferlegt hatte; wohl nicht einmal, wenn er außer ihrer Nähe war. Denn das soll keiner glauben, daß das Bewußtsein, recht zu tun um schweren Preis, uns von vornherein wie ein Johannissegen erquicke. Erst wenn die Wolken sich gelichtet haben, baut der Friedensbogen sich auf. Es waren die ersten Monate unüberwindlichen Mißmuts, die Dezimus durchlebte. Bei dem bewußten kurzen Interim konnte ihm ein Frohgefühl heimatlichen Wirkens nicht kommen; es lohnte sich kaum, Beziehungen anzuknüpfen, die sich nicht befestigen sollten, ein Samenkorn auszustreuen, dessen Aufgehen nicht einmal er gewahren durfte und von dem er nicht wußte, ob sein Nachfolger es in seinem Sinne pflegen werde. Zum ersten Male seit Jahren und stärker denn jemals wachte der alte Sternengenius in ihm auf, und in mancher schlummerlosen Nacht rang er mit dem Versucher, der ihn von der Kanzel im nordischen Heidewinkel auf die Warte des Chaldäers lockte.

[602] Dazu der Zwiespalt im Weltwesen. In ruhigen Zeiten nimmt man Exaltationen gleich denen, welche in diesem Sommerhalbjahr von Land zu Land aufloderten, nahezu für Krankheiten, über welche der Irrenarzt zu befinden hat; und diese Erinnerungen werden in beruhigten Zeiten aufgezeichnet. Gesagt sei darum nur, daß für den jungen Pfarrer von Werben dieses Halbjahr der Tat eine reifende Schule gewesen war. Er blickte jetzt nicht mehr von fern auf ein unverständliches oder gleichgültiges Treiben, er sah die Wetter über ihm brauen und unter ihm sich entladen. Nach Anlage, Erziehung und Schicksal stand er auf einer mittleren Höhe, auf der er jedoch mit aller ihm eignenden Standhaftigkeit sich behauptet haben würde. Er bedurfte, um sich frei zu fühlen, nur eines bescheidenen Raumes, aber innerhalb desselben reiner Luft und eines klaren Lichtes. Hatte nun bisher der Orkan heiß von Südwesten getobt, so erhob sich von Tage zu Tage frostiger von Nordosten her der Gegenstrom. Schweres, graues Novembergewölk trübte die kurze Tageshelle; wer mochte sagen, ob der Niederschlag noch einmal als zündendes Gewitter oder als dämpfendes Schneegestöber erfolgen werde?

Wenn nun aber schon er, der fest und mäßig Gerichtete, an einer befreienden Klärung verzweifelte, wie tief mußte Sidonie, deren Neigung und Überzeugung so weit auseinanderstrebten, unter diesen wechselnden Strömungen leiden? Er hatte sie nicht wiedergesehen, war aber zu lange ihr Freund gewesen, um nicht zu spüren, unter welchen Kämpfen sie die Skala der Widersprüche eines starken Geistes, welchen die Liebe schwach macht, durchzitterte; und bei aller innerlichen Entfremdung fehlte ihr anregendes Wesen ihm wie ein Gewürz, an welches der Gaumen sich gewöhnt hat. Sie siechte auch körperlich und verließ ihr[603] Haus nicht mehr. Dem alten Kinde, zu dessen Wärterin sie sich aufgeworfen hatte, wirkte der Göttertrank nur noch als Opiat; bei jeder Augenwende konnte der Halbschlummer in den ewigen hinübergeglitten sein; von den Menschen, mit denen die Mitteilsame im vorigen Winter so anmutend verkehrt hatte, war auch ihr nur Lydia treu geblieben, aber Lydias Gegenwart zog ihr das Herz zusammen, während die der einzigen, die es ihr flott gemacht haben würde, weil auch sie liebte, trotz allem und allem liebte, Rosens Gegenwart, ihr versagt war. Wohin Dezimus blicken mochte, in sich wie außer sich, sah er Unruhe und Mißbehagen.

Und der lange drohende, lange ersehnte Niederschlag erfolgte denn endlich auch so, wie des jungen Mädchens feinspürender Sinn ihn schon vor Monden verkündet hatte – ohne Blitzeszünden. Fast scheint es, als ob auch in der geistigen Natur die elektrische Spannung beim Nahen der winterlichen Sonnenwende nicht so mächtig ist, als wenn im Frühling Tag und Nacht sich gleichen. Die furchtbleichen Häupter richteten sich trotzig empor, die siegflammenden Wangen entfärbten sich. Viele, die wild gewesen waren, wurden zahm, manche, die zahm gewesen waren, wild; nur wenige blieben sich unerschütterlich treu; daß aber Max von Hartenstein, der Dichter und Rhetor der Revolution, zu den Getreuen seines Glaubens jetzt um so ritterlicher stehen werde, hat keiner seiner Freunde oder Feinde bezweifelt. Auch Sidonie sah in ihm jetzt einen seiner Heimat Verlorenen; sie grübelte Tag und Nacht über eine gesicherte Neugestaltung seines Lebens, hätte unverweilt sich mit ihm in der Ferne vereinigen mögen und war doch an den Schlummerstuhl des blöden Greises gefesselt. Im Schlosse von Werben glaubte man, daß Max sich in das Ausland gerettet habe.

[604] Der Schlag, der in der Hauptstadt gefallen war, zitterte in den Provinzen nur mäßig nach; in unserer Gegend war es überhaupt fast ausschließlich die Festungsstadt, als Enklave rings von erregten Kleinstaaten umgeben, in welchen die Schürungen von vornherein einen lebhafteren Anklang gefunden. Hatten doch schwarzsehende Kannegießer schon im Sommer dem sogenannten Doktorputsch eine gefährliche Wichtigkeit zugemessen, indem sie, als sein Ziel, einen Handstreich auf diesen festen Platz ausgewittert. Unbestritten gärte in der niederen Bürgerschaft ein gewisses, unruhiges Treiben, gedämpft allein durch das geschickte und energische Auftreten des kommandierenden Generals.

Da ein Teil der Besatzung der Armee in den Marken zugeteilt worden war, hatte man neuerdings zur Verstärkung der Garnison die Reservisten und jüngsten Landwehrklassen der umliegenden Bezirke einberufen, und es gehörte, wie es bei solchem schematischen Verfahren wohl zu geschehen pflegt, der Reservist Frey zu diesen Einberufenen, obgleich er als ordinierter Pfarrer von allen Mordgeschäften entbunden gewesen wäre, selbst wenn er den zum Regieren der Mordwaffen erforderlichen Arm nicht in der Binde getragen hätte. Er hatte sich seit Wochen einen Ausflug nach der Festungsstadt vorgenommen, bevor er in sein neues Amt übersiedelte; er glaubte dem redlichen Freund Kurze die Mitteilung dieser geplanten Lebenswendung schuldig zu sein, gedachte, von seinen kriegerischen Kameraden Abschied zu nehmen, Martin und seine gütige Mutter noch einmal wiederzusehen, da er ja einen wie den anderen vielleicht für immer aus den Augen verlor; vor allem aber verlangte ihn, seinem Bruder, der in der Kürze seinen »lieben Herrn«, anjetzo General, in dessen neue Garnison begleiten würde, noch einmal die Hand zu drücken. Die Einberufung beschleunigte [605] nun die Ausführung dieses Plans. Es mutete Held Dezimus plötzlich an, den Schematismus zu übergipfeln und anstatt sich schriftlich abzumelden, es persönlich an Ort und Stelle zu tun. Möglich, daß sogar eine Art von loyaler Demonstration – um ihrer Wohlfeilheit willen verschämt! – im Hintergrunde schimmerte. Die Einberufung war nirgendwo mit patriotischem Hochgefühl begrüßt worden, die gehorsame Folgeleistung des verwundeten Pfarrherrn dürfte etwa murrenden Wehrkameraden daher immerhin ein wackeres Beispiel geben. Kurz und gut, Held Dezimus war gewillt, für ein paar Tage seine Mißlaune gemütlich und patriotisch zu zerstreuen.

Als er am Nachmittag aus der Stadt, wo er die Vorkehrungen für seinen Ausflug getroffen hatte, zurückkehrte, stürzte ihm die litauische Lene, die seine Haushälterin geworden war, mit verstörten Mienen entgegen. Der »schandbare Junker« war wieder da! Ja, er hatte die Schandbarkeit so weit getrieben, um frank und frei auch auf dem diesseitigen Ufer spazieren zu gehen, am Hünengrabe vorbei, die Gartenmauer entlang, über den Gottesacker, wo er eine lange Weile vor dem frischen Hügel des alten Pfarrers still gestanden, durch das Dorf und unterhalb der Schloßterrassen bis zum Fährboot, in welchem er auf Mehlbornschen Grund zurückgekehrt war.

Die alte Lene hatte dem dazumal »scharmanten« Junker mehr als erlaubt goldene Brücken gebaut, solange sie an ihn als ihres Herzblättchens Zukünftigen geglaubt; nun er das Herzblättchen so schandbarerweise in Verruf gebracht hatte, war die Hölle nicht heiß genug für den Teufelsbraten geheizt. Auch hatte, ihrer Darstellung zufolge, der Höllenkandidat sich bereits zu einem richtigen Räuberhauptmann [606] umgemodelt, trug statt der zierlichen Locken von ehedem einen wilden Haarwuchs, statt des blonden Schnurrbärtchens auf der Oberlippe einen fuchsroten, struppigen Vollbart, und was er auf dem Leibe hatte, war der Wüstigkeit des Hauptschmuckes entsprechend. Aber die alte Lene litt an blöden Augen und nicht bloß im Traume mitunter an feindlichen Erscheinungen. Ihrem jungen Herrn wollte diese neueste Erscheinung nicht recht einleuchten. Selbst Sidonie hatte, da sie keine Kunde von ihm oder über ihn erhalten, ihren Bruder außer Landes in Sicherheit geglaubt. Sollte sie die Gefahr für ihn so wesentlich überschätzt haben? Indessen ging Dezimus die Sache doch im Kopfe herum, und so begab er sich nach dem Schlosse, sie mit den Freundinnen zu beraten.

Rose kam ihm nicht wie sonst, wenn sie seinen Schritt auf der Treppe erlauscht hatte, entgegengesprungen. Auch im Wohnzimmer saß Lydia ruhig lesend allein. Doch bestätigte sie die feindliche Erscheinung. Max war gesehen worden, zwar nicht von ihr selbst, aber von dem alten Wagner und, am entscheidendsten, von Rosen, als er, eine lange Weile am Ufer auf und ab schlendernd, sich mit etlichen begegnenden Landleuten und auch mit dem alten Fährmann unterhalten hatte; durchaus gegen seine bisherige höflich ablehnende Gewohnheit. Denn der volksfreundliche Dichter besaß die feinen, empfindlichen Sinnesnerven geistreicher Köpfe; er konnte den gemeinen Mann – selbstverständlich nur buchstäblich genommen – nicht riechen. Wo aber eine reale Antipathie der idealen Sympathie in das Gehege kommt, behält leider gewöhnlich, und nicht bloß bei für Gleichheit schwärmenden Aristokraten, die Antipathie die Oberhand.

Kein Zweifel demnach: Max wollte bemerkt sein, wollte [607] zeigen, daß er nicht so kompromittiert sei, als selbst seine Schwester angenommen, daß er sich vollkommen sicher fühle und vielleicht sogar die Absicht hege, das ländliche Herrenleben fortzuführen. Lydia konnte nicht verhehlen, daß Rosen, trotz der Herrschaft, die ihr über das bewegliche Temperament gelinge, eine starke Erregung anzuspüren gewesen sei; sie riet, das arme Kind aus der beunruhigenden Nähe zu entfernen, bis der Grund jenes geflissentlichen Gebarens sich aufgeklärt haben werde.

»Denn,« so sagte sie, in seltener Übereinstimmung mit Sidonien, »warum sollte für diesen unsteten Geist ein endliches Bedürfnis der Treue undenkbar sein? Warum sollte er nach der alle Kräfte überspannenden Aufregung in häuslicher Herzlichkeit nicht Frieden suchen und finden? Rose liebt ihn, so wie er ist, und so wie sie ist, das heißt viel charaktervoller, als ich das anmutsvolle Kind bisher beurteilt hatte, wüßte ich kein geeigneteres weibliches Wesen, um ihn nicht nur zu reizen, sondern auch dauernd zu fesseln. Für sie selbst und auch für Sie, Freund, wäre dieser Abschluß aber jedenfalls weit natürlicher als der, welchen Sie hochherzig in das Auge gefaßt haben.«

Sie schlug nun vor, daß Rose ihren Bruder auf seiner kleinen Reise begleiten und einige Zeit bei Frau von Hartenstein, die sie wiederholt freundlich zu sich eingeladen hatte, verweilen solle.

Dezimus ging in Rosens Zimmer; der Abend dämmerte. Sie lag auf dem Sofa, die Augen halb geschlossen, die Lippen halb geöffnet, die Wangen flammend wie im Fieber. »Du weißt es?« rief sie ihm entgegen und – aufgewachte Erinnerungen, aufgewachtes Verlangen, aufgewachte Hoffnung – nur nicht aufgewachte Furcht klang aus dem Vibrieren ihrer Stimme. Hatte er Lydias Vorschlag ihrer [608] Wahl anheimgeben wollen, so sprach er ihn jetzt aus als unumstößlichen Entschluß.

Sie machte jach eine abwehrende Bewegung, sann aber dann eine Weile nach und sagte endlich: »Ja, ja! bringe mich fort!« Freiwillig versprach sie auch, da die Reise erst am übernächsten Tage angetreten werden konnte, sich nicht aus dem Schlosse und Lydias Nähe zu entfernen.

Hätte Sidonie ihr Gebaren zu deuten gehabt, sie würde gesagt haben: »Es heißt hoffen, nicht verzichten. Der kleine Schlaukopf hat gelernt, wie ein Max zu fesseln ist.«

Lydia und Dezimus dahingegen sagten: »Sie kämpft gegen einen natürlichen Zauber, aber mit dem Willen, ihn zu besiegen.«

Beide hatten vielleicht recht. Im Wogen der Leidenschaft tauchen Dämonen und Genien nebeneinander in die Höh und wieder unter. In den Krisen, die sie aufwirbelt, entscheidet aber ohne Wahl ihr Erstgeborener, der Affekt.

Der folgende Tag verging ohne Behelligung und ohne Spur von dem feindlichen Zauberer. Hielt er sich zurück? Hatte er die Gegend wieder verlassen? War er – eine Phantasmagorie des Hasses und der Sehnsucht – vielleicht gar nicht dagewesen? Um nicht schlechthin in das Blaue hinein zu handeln, war Dezimus nahe daran, geradenweges Sidonien zu befragen, ob ihr Bruder die Absicht hege, sich in der Heimat niederzulassen. Nach besserem Besinnen verschob er indes die Frage bis nach seiner Rückkehr. Er gönnte unter allen Umständen der armen Rose einen zerstreuenden Wechsel, und hatte die Gefahr sich verzogen, war eine Heimholung ja leicht bewerkstelligt.

Sie fuhren ab. Rose lachte, und Dezimus lachte selbst über die Figur, welche er in seinem Reisekostüm spielte. Weil eine scharfe Luft wehte und der verbundene Arm sich [609] nicht bequemlich in den wärmenden Paletot fügen wollte, hatte er über den langen schwarzen Pfarrerrock den kurzen, bunten Soldatenmantel gehängt und dementsprechend im Coupe den hohen, steifen, schwarzen Hut mit der handlichen Feldmütze vertauscht, die er zufällig in der Tasche des Mantels fand. Zahlreiche Wehrleute füllten von Station zu Station den Zug, da der morgende Tag der der Gestellung war. Der Nachmittag war vorgerückt, bevor das Ziel erreicht ward.

Als man das dunkle Festungstor passiert hatte, fand man den Bahnhof militärisch besetzt, der umgebende Wall war mit Kanonen bepflanzt, aus dem Inneren der Stadt hörte man Schüsse fallen.

Auf dem Perron wirres Treiben und Drängen; Angst und Entsetzen krächzten wie Raben in der Luft! Eine Revolte, so hieß es, sei ausgebrochen, mit Hülfe der renitenten Landwehr die schwache Besatzung überrumpelt worden. Barrikaden, lange Zeit heimlich vorbereitet, ragten im Handumdrehen häuserhoch aufgetürmt; das Blut flösse in Strömen; der Belagerungszustand sei erklärt. Die Reisenden, welche in der Stadt hatten einkehren wollen, eilten ohne Aufenthalt weiter nach der nächsten Station; die Fremden, die in der Stadt geherbergt hatten, drängten fliehend nach den abgehenden Zügen. Sie wurden streng gemustert, und wenn sie der Legitimation entbehrten, polizeilich zurückgehalten. Der Pfarrer von Werben und seine Schwester waren die einzigen zurückbleibenden Passagiere, und da er sich weislich mit einem Paß für sich und sie versehen hatte, durften sie ungehindert sich in den Wartesaal, dem einzig gestatteten Ein-und Ausgang, verfügen, von dort aus aber ihre Schritte lenken, wohin ihnen beliebte.

[610] Zu den ungeheuerlichen Gerüchten, welche auf dem Bahnhofe gespukt hatten, stimmte indessen verwunderlich wenig die Öde der Straße, welche die Geschwister jetzt betraten. Nur aus der Ferne fiel dann und wann noch ein Schuß. Ortsfremd, wie er war, hielt Dezimus es für geraten, Rose in einem dem Bahnhofe zunächst gelegenen Gasthause unterzubringen, während er selbst über die Lage der Dinge Erkundigung einzog.

Der Wirt stand vor der Torfahrt, wie er lachend sagte, als einziger häuslicher Insasse, mit Ausnahme seiner Frau, die vor Schrecken krank zu Bett liege. Die Gäste seien entflohen, für Kellner und Mägde sei kein Halten gewesen. Die liebe Neugier habe sie samt und sonders auf den Tummelplatz des Skandals im Inneren der Stadt getrieben.

Während er die Herrschaften in das erste beste Zimmer zu ebener Erde führte, erklärte er indes zu ihrer Beruhigung die sogenannte Revolte für einen erbärmlichen Krawall und auch diesen für so gut wie unterdrückt. Nur aus Übermut werde noch hier und dort ein Gewehr abgefeuert. Die Zahl der Gefallenen auf seiten der Truppen sei kaum nennenswert, auf seiten des Pöbels leider Gottes! weit geringer als, um des guten Exempels willen, zu wünschen wäre: Die militärische Tätigkeit beschränke sich lediglich noch darauf, die Häuser nach dem Gesindel, das sich in sie geflüchtet habe, zu durchstöbern; vor allem nach den wohlbekannten Rädelsführern. »Ist es nicht wie ausgestorben?« fragte er lachend, da er »die Herrschaften« an das Fenster treten sah. »Die Vorsichtigen haben sich in ihren Wohnungen abgesperrt, die Vorwitzigen sind ausgeflogen dorthin, wo sie etwas Schreckliches zu hören und zu sehen vermuten. Im Mittelpunkte der Stadt, der in seiner Bauart an und für sich schon einem Gekröse gleicht, mag es ein[611] schönes Schieben und Drängen geben! Nichts geht dem Plebs über das Totgedrücktwerden!«

Dezimus unterbrach den mitteilsamen Herrn mit der Frage nach dem Bataillonsbureau, in dem er sich zu melden hatte. Die Straße lag, nahe erreichbar, abseiten des Gewühls. Auf die weitere Frage nach der Wohnung der Frau von Hartenstein prallte der leichtherzige Herr Wirt erschrocken zurück. Er hatte ein argloses Zutrauen zu seinem geistlich gekleideten Gaste gehegt, da Pfarrer und Hoteliers gemeinhin konservative Gesinnungsgenossen sind, – nun musterte er ihn mit den bedenklichsten Mienen.

»Von Hartenstein!« rief er, nachdem er sich physiognomisch beruhigt hatte. »Von Hartenstein, sagen der Herr? Aber das ist gerade ja der, auf welchen man, als den Urheber des Unternehmens, fahndet! Und klug und verwogen wäre der Patron schon dazu! So ein fester Stützpunkt, halben Wegs zwischen Frankfurt und Berlin, der Plan war, weiß der Deixel, nicht ohne! Wenn der Streich morgen, am Stellungstage, mit geschulten Leuten unternommen worden wäre, kein Zweifel, daß man mit Kanonen darein hätte fegen müssen, und die halbe Stadt wäre zu einem Trümmerhaufen zusammengeschossen worden. Unser Herr Kommandant läßt, Gott sei Dank! nicht mit sich spaßen. Heute ist er in Dienstgeschäften auswärts, und weil man ihn morgen wieder auf seinem Posten wußte, hat man – ein Heidenglück diese Dummheit! – die Ladung vorzeitig zum Platzen gebracht. Denn mit unserer Gassenbande allein brauchte freilich nicht viel Federlesens gemacht zu werden. Die Hauptsache ist nur, dem roten Hartenstein endlich den Garaus zu machen!«

Dezimus erklärte, daß nicht dieser Hartenstein es sei, nach dessen Wohnung er gefragt, sondern ein junger Offizier [612] vom *sten Regiment, der erst vor kurzem hierher versetzt worden sei, und da Herr Goldmann noch nicht die Ehre hatte, den Betreffenden zu kennen, entfernte er sich, das Adreßbuch herbeizuholen.

Rose hatte sich während des Wirtes Rede an eine Stuhllehne geklammert; ihre Glieder flogen, das Gesicht, das sie dem Fenster zugekehrt hielt, war schattenbleich, die Zähne schlugen wie im Fieberfrost aneinander. Dezimus suchte sie zu beruhigen, wennschon ihm selbst nichts weniger als ruhig zumute war.

»So glaube doch solcher Wirtshauskannegießerei nicht, Kind,« sagte er. »Wie wäre diesem vermeintlichen Urheber solch ein Tollmannsstreich zuzutrauen? Und wissen wir denn nicht am besten, an welchem Orte derselbe zu suchen ist?«

Der Wirt trat wieder ein. Er brachte Licht, denn es war in der Zwischenzeit dämmerig geworden, und den Wohnungsanzeiger. Der Leutnant von Hartenstein war noch nicht darin aufgenommen. Dezimus meinte, daß er sich im Bataillonsbureau nach ihm erkundigen werde, und legte, nachdem der Wirt, um nach seiner kranken Frau zu sehen, sich entschuldigend zurückgezogen hatte, sein Soldatenzeug ab. Er gedachte seine dienstliche Angelegenheit so rasch als möglich abzutun und mit Rosen heute noch heimzukehren; wenn auch leider wahrscheinlich erst mit dem Abendzuge, da der nachmittägige binnen einer halben Stunde abging. Wie verwünschte er seine loyale Demonstration!

»Nimm mich mit, Dezimus!« preßte Rose hervor, indem sie sich an seinen Arm klammerte.

»In ein Militärbureau?« entgegnete er lächelnd. »In kurzem bin ich zurück und bleibe dann bei dir, oder führe dich, wenn du es wünschest, zu Frau von Hartenstein. Soll [613] ich dir ein Zimmer im oberen Stock, wo es ruhiger ist, geben lassen?«

»Es ist ja auch hier ruhig,« versetzte sie, plötzlich gefaßt. »Ich schließe die Tür. Geh nur, geh!«

Dezimus ging. Rose öffnete das Fenster und sah ihm nach, bis er in einer Seitengasse verschwand. Es war noch Zwielicht, aber die Straßenlaternen wurden bereits angezündet. Ringsum Seelenstille. Rose zitterte noch immer. Fürchtete sie sich? O, gewiß nicht. Die kleine Rose war nicht furchtsamer Art, und was hätte sie auch für sich selbst zu fürchten gehabt? Sie zitterte für einen anderen, sie spähete nach ihm, hätte – vor ihm fliehen? – nein, hätte mit ihm fliehen, ihn retten mögen um jeden Preis. Sie dachte nur an ihn; es war, als ob sie seine Gegenwart wittere. Und doch ringsumher kein Mensch.

Plötzlich hörte sie Tritte. In der Ferne kam eine Patrouille die Straße entlang. An ihrer Spitze ein Offizier, dessen gezogenen Säbel sie im Lampenlicht blitzen sah. Sonst niemand.

Aber da – da – aus einem Quergäßchen einbiegend, eine Gestalt, – der, nach dem sie gespäht! Nicht der visionäre Räuberhauptmann mit rotem, struppigem Haar und Bart, ein elegant gekleideter Tourist, geht er raschen, aber sicheren Schrittes dicht unter ihrem Fenster hin dem Bahnhofe zu. Wenige Schritte, und das Kommando muß ihn überholen. »Max!« rief sie, »Max!«

Er blickte in die Höhe; bei der doppelten Beleuchtung von außen und innen wurde auch sie augenblicks erkannt. In der nächsten Minute stand er ihr im Zimmer gegenüber.

»Ist hier ein Ausgang nach der entgegengesetzten Seite?« fragte er ohne merkliche Aufregung, während sie [614] besonnen die Kerzen auf dem Tische ausblies und das Fenster schloß.

Das Zimmer hatte nur die Tür, durch die er eingetreten war; Rose flog, sie zu sperren. Der Riegel war eingerostet, der Schlüssel steckte von außen. Indem sie, um ihn abzuziehen, die Tür leise öffnete, prallte sie gegen den eindringenden Offizier. Martin, gottlob, Martin!

Sie war im jachen Anstoß auf der äußeren Schwelle zu Boden gestürzt; er wie ein Rasender an ihr vorüber in das Zimmer gerannt, deren Tür er hinter sich in die Angel schlug. Von draußen herein hallten die Tritte des Kommandos. Atemlos lauschte sie, auf ihren Knien liegend. Es marschierte vorüber dem Bahnhofe zu. Wie erlöst sprang sie auf, wollte in das Zimmer zurück, – da trat der Wirt aus der gegenüberliegenden Tür.

»Der Offizier der Patrouille ist in das Haus getreten,« rief er lachend; »vermutet wohl gar bei mir den roten Hartenstein? Ein dicker Irrtum, mein Herr Leutnant; im Hotel Goldmann sucht kein Verschwörer Unterkommen.«

»Es ist ein Kriegskamerad, der meinen am Fenster stehenden Bruder erkannt hat und für einen Moment bei ihm eingetreten ist,« versetzte Rose mit vollkommener Ruhe. »Ihren roten Hartenstein sollen sie übrigens, hörte ich recht, entdeckt haben. Ich kam, Sie um ein paar Streichhölzer zu bitten, Herr Wirt. Der Windzug hat uns die Lichter ausgeblasen. Und dann: ein Beefsteak für meinen Bruder. Aber, bitte, recht bald. Er hat Eile.«

Damit folgte sie dem Wirt in die jenseitige Schenkstube.

Drüben im Fremdenzimmer standen währenddessen Martin und Max sich auf Armeslänge gegenüber, der eine mit gezücktem Degen, der andere mit gespanntem Terzerol. Ein rascher Degenhieb schlug es ihm aus der Hand.

[615] »Kanaille!« schrie Martin und drang in sinnloser Wut auf seinen Verwandten ein, der ruhig wie eine Säule stand, ein zweites Terzerol ihm entgegenstreckend.

Eine Minute lang ging kein Atemzug durch den Raum, und in dieser Minute war Martin seiner Vernunft wieder so weit mächtig geworden, um zu sagen: »Spare dir den Mord, du hast genug auf dem Gewissen. Entkommen kannst du nicht; draußen steht meine Mannschaft. Aber siehst du, du heißt einmal von Hartenstein, und ich möchte doch nicht, daß ein Hartenstein als Zuchthäusler endigt. Darum warte, bis ich sie abgeführt, und dann – flieh!«

»Sobald Sie mir Genugtuung gegeben haben, werde ich tun, was mir beliebt,« entgegnete Max mit eisiger Kälte. »Dort am Boden liegt mein Pistol; die Straßenlaterne gibt hinlänglich Licht. Wählen Sie Ihren Platz. Schießen Sie.«

»Hier im Zimmer? du bist verrückt!« sagte Martin. »Mach, daß du fortkommst, mit der Person oder ohne sie. Ich habe die Wache am Bahnhof. Ich drücke meine Augen zu.« Damit wendete er sich nach der Tür.

»Nun denn,« rief der andere mit erhobener Stimme, »auf die Kanaille eine Memme! Ein Hasenfuß, der sich nicht schießt!«

Martin zitterte vor Zorn; aber der Zorn, der andere blind macht, ihn machte er klar. »Ich bin im Dienst,« sagte er, als ob er mit sich selbst überlege, doch mit lauter Stimme. »Nicht jetzt und nicht hier! Morgen in Werben – nein, nicht in Werben, der Skandal soll der Familie erspart werden. Halben Wegs zwischen dort und hier. In H. Ein stilleres Nest gibts im Winter nicht. Punkto zwölf im Mordtal jenseit der Ruine. Sekundanten brauchen wir nicht. Ich fände keinen gegen einen wie – du, und einen, [616] den du fändest, könnte ich nicht akzeptieren. Schießest du mich nieder, nun, so hast du deine Rolle würdig ausgespielt. Fällst du – –«

»Ich bitte, sich über diese Eventualität nicht zu beunruhigen,« unterbrach ihn Max mit einem Wink nach der Tür. »Auf Wiedersehen morgen um die Mittagsstunde im Mordtal jenseit der Ruine.«

Martin ging. Unter der Tür rief er noch zurück: »Höre, Max, verliere keine Zeit. Das Hotel kann jede Minute durchsucht werden. Kommts heraus, werde ich infam kassiert. Aber – du bist einmal ein Hartenstein.«

Kaum fünf Minuten waren seit der verhängnisvollen Begegnung hingegangen. Als Martin hastig die Torfahrt durchschritt, trat Rose aus dem Schenkzimmer. Erschleuderte auf »die Person« einen verächtlichen Blick; den Zeigefinger auf den lächelnden Lippen nickte sie ihm zu wie ihrem allerzärtlichsten Freund.

»Gott sei Dank, daß sie ihn haben, Herr Leutnant!« rief der Wirt, der Rosen gefolgt war.

»Wen?« fragte der Leutnant barsch.

»Den roten Hartenstein, wen denn sonst?«

Der Leutnant stürzte mit einer grimmigen Gebärde aus dem Tor.

»Unser Beefsteak, Herr Wirt, so rasch als möglich,« drängte Rose, und Herr Goldmann rannte die Treppe hinan, um seine Frau mit der Freudenpost, daß sie den roten Hartenstein hätten, wieder flott und, in Abwesenheit der Köchin, für die Bereitung des Beefsteaks fähig zu machen.

Rose zog den Schlüssel von ihrer Zimmertür, trat ein und schloß hinter sich ab. Weder sie noch Max sprach ein Wort. Sie schlang aus ihrem Trauerschal eine Binde, in [617] welche sie seinen Arm legte, stülpte ihm ihres Bruders Feldmütze auf, hängte ihm seinen Militärmantel um; dem Himmel Dank! die Pässe steckten in der Tasche. Und daß der verräterische Vollbart, den ein Pfarrer nicht zu tragen pflegt, abrasiert worden, auch das war ein Glück. Sie gab ihm seinen Hut in die Hand, so wie ihr Bruder den seinigen vorhin getragen hatte; sie dachte an jede Kleinigkeit, – nur an ihren alten Dezimus dachte sie nicht. Sie zündete sogar vor dem Fortgehen die Kerzen wieder an, damit der Wirt das Zimmer noch für besetzt halte. Das erste Signal wurde eben gegeben, als sie an Maxens Arm den Bahnhof betrat. Während sie die Billette löste, zeigte er die Pässe dem nämlichen Polizisten, welchem Dezimus sie vor noch nicht einer Stunde gezeigt hatte.

»Kurios, wie das Lampenlicht täuscht, dieser Pastor ist mir vorhin einen halben Kopf größer vorgekommen!« dachte der Polizist, während die beiden eben noch Zeit hatten, ein unbesetztes Coupé aufzufinden und zu besteigen. Der wachthabende Offizier stand, ihnen den Rücken zuwendend, am entgegengesetzten Ende des Zugs.

In der Stadt hat man noch tagelang nach dem roten Hartenstein geforscht. Niemand hat je bezweifelt, daß er der Urheber der Emeute gewesen ist, aber niemand hat auch je ergründet, wie er aus den geschlossenen Toren hat entkommen können.


Des Reservisten Frey dienstliche Meldung war so rasch, als er vorausgesetzt, erledigt worden. »Wenn Sie jemals wieder unter die Fahne berufen werden, Herr Pfarrer,« hatte sein Kommandeur lächelnd gesagt, »wird es als Feldgeistlicher zu einem ernsthafteren Kampfe als dem heutigen sein.«

[618] Er dachte nicht mehr an Bruder und Freunde, sondern nur, Rosen womöglich noch mit dem Nachmittagszuge heimzugeleiten. Als er mit Sturmesschritten das Hotel erreichte, hörte er ihn von der entgegengesetzten Seite heranbrausen; es war also noch Zeit zum Fortkommen. Hastig betrat er sein Zimmer; Rose war nicht darin, auch sein Soldatenzeug fehlte. So hatte sie sich dennoch in das obere Stock geflüchtet. Er ging in die Gaststube. Vom Perron schallte das erste Signalläuten.

»Die junge Dame hat etwas liegen lassen?« fragte der Wirt. »Warum haben Sie sie nicht ruhig hier gelassen? Ich sah oben aus dem Fenster meiner Frau, wie Sie sie nach dem Bahnhofe führten, und bemühte mich vergeblich, Ihnen zuzurufen, daß Sie es nicht nötig hätten. Der Spuk ist zu Ende, der rote Hartenstein eingefangen. Die junge Dame, – sie sprach von Ihnen als von einem Bruder, ich würde sie weit eher für Ihre Fräulein Braut gehalten haben, so zärtlich schmiegte sie sich ja an Ihren Arm, – hat mir den glücklichen Fang selbst mitgeteilt, auch schien sie nicht im entferntesten besorgt zu sein. Holen Sie sie zurück; noch ist es Zeit, oder wenn nicht, so hoffe ich, daß Sie zum wenigsten über Nacht mein Haus beehren.«

Ein grausamer Blitz der Hellsicht hatte während dieser Rede des armen Dezimus Hirn durchzuckt. Was er dem Wirt geantwortet hat, ist ihm nicht bewußt geblieben. In solchen Momenten spricht und handelt im Menschen die Maschine. Atemlos erreichte er die Rampe, die zu dem Bahnhofführte, halb besinnungslos rüttelte er an der geschlossenen Gittertür; der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt, in der nächsten Minute pfiff er durch das dunkle Festungstor. Er war zu spät gekommen, zu spät! Aber würde die Erinnerung an seine Mannesjahre die eines Glücklichen gewesen sein, [619] wenn er in der Wut des Wahnsinns den Verfolgten fünf Minuten früher unter die Augen getreten wäre?

»Du suchst deine Rose. Armer Junge, sie ist auf und davon – mit ihm!« So flüsterte Martin, der ihn bemerkt hatte und zu ihm heraus auf die Rampe getreten war, in sein Ohr.

Er zog darauf des Freundes Arm in den seinen, und während er ihn in dem rückwärts liegenden stillen Hofe auf und nieder führte, ergoß er sein aufgeregtes, übervolles Herz gewohnterweise in behaglichen Strömen.

»Siehst du, Dezimus,« sagte er, seinen Vortrag noch einmal zusammenfassend, »siehst du, du kannst dir von meiner Wut gar keine Vorstellung machen. So muß es in Spanien einem Stier zumute sein, vor dessen Augen sie in einem fort mit einem roten Lappen wedeln. Wo ich hinhörte, schimpften sie auf den roten Hartenstein, wo ich hinsah, stöberten sie nach dem roten Hartenstein; die Kerle von meiner Kompagnie glotzten oder schielten mich auf den roten Vetter Hartenstein an, und wie ich die beiden braven Jungen dicht hinter mir fallen sah, – ja, wärs auf dem Felde der Ehre gewesen, gegen einen Feind, vor dem man Respekt hat, was kann einem am Ende Schöneres passieren? aber in einem Straßenkrawall gegen solch verruchtes republikanisches Gesindel, – da hab ich mirs geschworen, daß ich ihr junges Blut an dem roten Hartenstein rächen wollte. Und wie ich ihn nun auf einmal aus dem Fleischergäßchen biegen sehe, es war beinahe schon dunkel, aber in solcher Bosheit erkennt einer einen, den er sucht, in pechrabenschwarzer Nacht, siehst du, Freund, da hätte ich ihn niederstechen mögen wie einen tollen Hund, würde Schande halber am Ende ihn aber doch haben entwischen lassen, wenn ich nicht unter der Tür auf dein Röschen gestoßen wäre. Das [620] liebe, herzige Ding entführt, verführt, zugrunde gerichtet durch den nichtswürdigen Patron, siehst du, Dezimus, da fuhr mir die Kanaille so heraus, die ein Hartenstein freilich nicht auf sich sitzen lassen kann, und wenn er zehnmal eine ist.«

Dezimus war während der langatmigen Auseinandersetzung seiner selbst so weit Herr geworden, um dem Aufgebrachten den Irrtum in betreff Rosens aufzuklären, worauf der gute Junge, plötzlich besänftigt, mit einem Seufzer sagte: »Ja, hätte ich das vorher gewußt, um so lieber hätte ich ihn entwischen lassen und ihm die Kanaille ganz gewiß erspart.«

Aber geschehen war nun einmal geschehen; einem Hartenstein durfte Satisfaktion nicht verweigert und der Hasenfuß von einem Leutnant nicht eingesteckt werden. »Und darum, alter Freund,« fuhr er fort, »es tut mir leid um dich, und es schickt sich eigentlich für einen Geistlichen auch nicht, aber einer, ein einziger muß am Ende um die Affäre doch wissen und wenigstens von weitem dabei zugegen sein. Einer von uns beiden bleibt ganz gewiß, wer weiß, am Ende bleiben wir alle zwei, und wir können in dem einödigen Walde doch nicht wie die Kadaver von angeschossenem Wild verenden und liegen bleiben? Weil aber so manches darum und daran hängt, womit du, als Vertrauensmann der Hartensteinschen Familie, dich allein befassen kannst, darf dieser eine kein anderer sein als du.«

Dezimus reichte ihm zusagend die Hand. Es würde ihm nicht beigekommen sein, diesem Hartenstein sein blutiges Vorhaben auszureden, auch wenn er selbst in dieser Stunde es für einen Frevel erachtet hätte. Er schärfte ihm nur ein, auch für einen ärztlichen Zeugen Sorge zu tragen, und verwies ihn an den zuverlässigen beiderseitigen Freund [621] Kurze. Dann aber stürmte er fort, um allein zu sein. Allein mit den tobenden Geistern der Hölle in seiner Brust, mit seinem Haß, seiner Rache, seiner Wut.

Die Tore waren gesperrt; er durfte mit seiner bösen Genossenschaft nicht hinaus in das einsame Freie. Aber auch auf den Straßen war es ja still und am stillsten da, wo es den Tag über am geräuschvollsten getost hatte. Er rannte sie auf und ab, kreuz und quer, stundenlang unter dem sternenlosen, nebelnden Novemberhimmel, über dem mit Blut bespritzten Boden. Er dachte nicht daran, daß in manchem Hause, an dem er vorüberstrich, bittere Tränen flossen, Herzen in Todesängsten schlugen. Wenn aber das Merkmal der Männlichkeit das sein sollte, daß es dem Jüngling gelingt, die Sturmgeister des Blutes wie Feinde vor sich niederzuwerfen, so ist Dezimus Frey erst in diesen nächtigen Stunden ein Mann geworden. Und ob man den Mann zum Glücklichen erkläre, weil er über jene Geister ein Sieger ward, oder zum Sieger, weil er ein Glücklicher war, sein Mannesglück wurzelte in diesen nächtigen Stunden.

Als er vor Abgang des Abendzuges nach dem Bahnhofe zurückkehrte, war der Sicherheitswächter des Tages abgelöst worden von einem, der sich über die mangelnde Legitimation nicht zufrieden geben wollte. Die blauen Augen, das blonde Haar, wenn es sich just auch nicht lockte, stimmten zu dem Signalement des roten Hartenstein; die Bürgschaft, welche der wachthabende Leutnant von Hartenstein für den ihm befreundeten Pfarrer eines Hartensteinschen Gutes übernahm, verdoppelte das Mißtrauen; der in der Binde ruhende Arm, die Totenblässe, der Angstschweiß auf seiner Stirn steigerten das Mißtrauen zum gegründeten Verdacht, und so würde der friedliche Pfarrherr von Werben, zum [622] Lohn für seine loyale Demonstration, die Nacht als roter Hartenstein in den Kasematten verbracht haben, hätte sein guter Stern nicht, zum Empfang des mit dem erwarteten Zuge zurückkehrenden Generals, seinen Kommandeur auf den Bahnhof geführt, dessen Zeugnis sich denn der bürgerliche Wächter der Sicherheit wohl oder übel beugen mußte.

Hatte auf seinem Abendgange Dezimus sich nun mit den innerlichen Sturmgeistern notdürftig auseinandergesetzt, so galt es nunmehr, während der nächtlichen Heimfahrt mit dem nüchternen Hausgeist Vernunft zu einem Ziel zu gelangen. Was sollte und wollte er zunächst? Die Flüchtigen suchen. Aber wo sie finden vor dem unseligen Geschehnis des morgenden Tages? Bei Sidonien, bei Lydia? Gewiß nicht. Die Gefahr des Entdeckt- und Aufgehaltenwerdens war in der Heimat größer als anderwärts, abgesehen von der Schwierigkeit, morgen bei hellem Tage unbemerkt den Ort des Stelldicheins zu erreichen. In dessen Nähe würden sie ohne Zweifel weilen.

Und da war denn der Zug, mit dem er fuhr, ein Eilzug, der, gegen sein Erwarten, Winters in dem stillen Badedorfe nicht anhielt. Hatte die Fahrt dem Ungeduldigen bereits eine Ewigkeit gedünkt, so mußte er nun noch bis zu der nächsten Stadt dampfen und von da aus nahezu eine Meile zu Fuß rückwärts wandern. Er kannte und liebte die Gegend, sie war ja sein Heimatstal. Wie so manchesmal hatte er singend und pfeifend die maifrischen Buchenwälder durchstreift, wenn nach einer lustigen Fahrt die Kommilitonen der nachbarlichen Universitäten auf der Ruine Pfingsten feierten; wie so manchesmal als stillvergnügter Gesell inmitten der lautvergnügten, an der Tafel des einzigen Wirtshauses im Badedorfe kommersiert! Heute ist es nebeldicke Novembernacht, der Wald, [623] dessen Saum entlang er schreitet, streckt die entlaubten Äste wie dürre Gerippenarme ihm entgegen; in diesem Walde aber soll, wenn es Mittag geworden, ein blutiges Werk vollbracht werden, an welchem er teil hat wie an einem eigensten Geschick, und wenn er an das Tor des Gasthauses klopft, geschieht es, um ein verzweifelndes Weib zu finden, das nach einer mutigen Liebestat unter Todesschauern ringt.

Aber wahrlich, selbst bis zum Verzweifeln mußte er klopfen und rütteln, bevor der Hausknecht das Tor endlich öffnete und den seltenen Wintergast mit schlaftrunkenen Augen anstarrte. Dieser forderte ein Zimmer – das er nicht betrat, einen Imbiß – den er nicht berührte. Wie verloren warf er die Frage hin, ob das Haus von Gästen stark besetzt sei? Leider war es seit Wochen nur von den Eingesessenen besetzt, eine Auskunft, die kurz darauf Herr Strobel, der Scheffelwirt, bestätigte.

Herr Strobel begrüßte den Ankömmling wie einen alten Bekannten; er hatte den Hünen der Studentenschaft in gutem Gedächtnis behalten, obschon dieser niemals mit Säbel und Sporen geklirrt, auch weniger Seidel ausgestochen hatte als der bescheidenste Knirps. Auch von seinem kriegerischen Mißgeschick und dem so früh errungenen geistlichen Amte erwies sich Herr Strobel durch das Kreisblättchen unterrichtet.

Diesem wackeren Manne band der junge geistliche Herr nunmehr das Märlein auf, welches er beiwege sich mühsam ausgediftelt hatte. Denn welche Kunst ist so schwer, daß in der Not nicht auch ein Stümper sie betreiben lernte? Aus Zufall war ihm zu Ohren gekommen, daß ein alter Schulfreund mit seiner jungen Frau auf der Hochzeitsreise in dem freundlichen Badeorte zu übernachten beabsichtigte. Der Wunsch des Wiedersehens war natürlich erwacht, aber [624] durch Amtsgeschäfte gestern nachmittag abgehalten, hatte der Pfarrer erst den Nachtzug benutzen können, um das junge Paar wenigstens noch am Frühstückstische zu begrüßen.

Leider, wie schon gesagt, war er falsch berichtet; seit Wochen weder ein junges noch altes Paar, noch selbst ein einzelnes Individuum männlichen oder weiblichen Geschlechts im Goldenen Scheffel eingekehrt, auch, wie Herr Strobel wahrheitsgemäß versichern durfte, kein zweites Logierhaus, in welches die Herrschaften sich verirrt haben konnten, im Orte vorhanden. Daß aber ein so außerordentlicher Fall, wie zur Winterszeit die Einkehr in einer Privatwohnung, nicht ohne das größte Aufsehen zu erregen, hätte vor sich gehen können, brauchte Herr Strobel kaum zu erwähnen, erwähnte es aber doch.

Sein Gast bedauerte die zwecklose nächtliche Beunruhigung. Die Freunde waren nicht im Ort: sehr natürlich! Er hatte sich plötzlich besonnen – ein tröstliches Merkmal, wie weit ein Novellist durch Übung es in der Erfindungskunst zu bringen vermag –, daß in einem unfernen Pfarrhause ein zweiter, allerdings älterer Schulfreund heimse, dem der erste ohne Zweifel sein Frauchen präsentiert haben werde; ihn alldort aufzusuchen, war der dritte nun um so lieber bereit, da er sich der Hoffnung nicht entschlagen mochte, das junge Paar zu einem Abstecher in sein eignes freundliches Pfarrhaus zu bewegen. Weil aber nach dem Frühzug bis zum Abendzug kein anderer hier im Orte anhalte, das Wetter mild sei und, wenn nur der Nebel sich senke, die Gegend sogar im Winter einen angenehmen Reiseeindruck biete, beabsichtige er eine Wagenfahrt in Vorschlag zu bringen und bäte daher Herrn Strobel, ihm für den Nachmittag seine Equipage zur Verfügung zu stellen, der zweifelhaften Witterung halber den Wagen [625] geschlossen. Bei näherer Prüfung empfahl es sich auch, den Umweg durch das Dorf zu vermeiden. Die Fußwanderung konnte die junge Frau ermüdet haben. Das Gefährt solle daher in der Mittagsstunde, aber ja recht pünktlich! auf der Landstraße bereithalten an der Stelle, wo das Mordtal, durch welches der nächste Weg nach dem Pfarrdorfe ja führe, auf jene Straße münde. Den Fahrpreis war der Mieter selbstverständlich bereit, auch wenn das Geschirr unbenutzt bliebe, zu entrichten; Weitläufigkeiten zu ersparen, sogar im voraus. Das letztere wäre nun durchaus überflüssig gewesen, der Herr Pastor hatte Kredit; es wurde schließlich aber doch mit dem Versprechen der Geduld im Fall eines Wartestündchens angenommen.

Wie der Wind jagte nunmehr der fabulierende Held von dannen auf die Suche nach seinem glücklichen jungen Paar; zunächst allerdings nicht in das Mordtal, das zum Pfarrdorfe führte, sondern stracks nach dem Bahnhofe. Er blickte durch die trüben Scheiben in das einzige Wartezimmer; der Docht einer Hängelampe kohlte, ein Kellner schlief auf zwei Stühlen ausgestreckt. Tor, der er gewesen! In diesem öffentlichen Raume ein unglückliches Paar auf der Flucht vorauszusetzen oder in diesem unheimlich öden nach einem glücklichen auf der Hochzeitsreise Kundschaft einziehen zu wollen! Jedes weitere Auskunftsuchen war überdies verdächtigend.

So machte er denn einen Gang durch die bergansteigende einzige Dorfgasse; die kleinen Häuser, vor welchen im Sommer geputzte Kindergäste sich tummelten, lagen schlummerstill; nur ein Hahn krähte hier, eine Kuh brummte dort, dann und wann brannte eine Morgenlampe; eine schwache Rauchsäule wirbelte aus dem Schornstein in den Nebel. Alles so friedlich wie daheim, und wie unfriedlich [626] mochten daheim die Herzen schlagen, wenn vielleicht schon in der Nacht die Häscher auf den feindlichen Mann gefahndet hatten, nach welchem er selbst wie betört in der Irre umherspähte.

Ja, in der Irre! Denn Schritt um Schritt war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Würde der Verfolgte hier, im nächsten Bereich der Verfolger, eine Zuflucht gesucht haben, da er von der rückwärts liegenden Station aus auf fremdem Gebiet mit weit geringerer Entdeckungsgefahr den Platz der Entscheidung erreichen konnte? Schieben sich doch in diesem Talwinkel gar mancher Herren Länderchen ineinander, deren Grenzen ein preußischer Gendarm nicht so ohne weiteres zu überschreiten wagt. Auf dem jenseitigen Ufer war er mindestens einen Tag lang geborgen, – aber die letzte Hoffnung erloschen, ihn dort vor der verhängnisvollen Stunde aufzufinden.

In dieser beklemmenden Erkenntnis hatte Dezimus die Berglehne erreicht, von welcher er manchesmal einen erquickenden Blick in das grüne Tal getan hatte. Heute lag es im ersten schwachen Morgendämmer weiß in grau. Der Nebel verdunstete in phantastischen Gebilden, die oberen Regionen klärten sich; ein leiser Reiffrost überzog die entlaubten Äste mit glitzernden Kristallen. Jenseit warf die schmale Mondsichel einen fahlen Schimmer über das schwärzliche Gemäuer der Ruine; ostwärts, da wo die Heimat lag, leuchtete noch der Morgenstern. Ein erquickendes Landschaftsbild auch heute für ein Auge, das hoffnungsfroh darauf geschaut hätte.

Und warum zuckte des Beschauers Auge, warum schlug sein Herz jählings hoffnungsfroh? Was bedeutete das Lichtchen drüben zwischen dem schwarzen Gemäuer, als daß der alte Burgschenke, der Sommers so manches Faß [627] in seinem »Verlies« verzapfte, auch nicht aus demselben gewichen wäre, und wenn ein Gletscherwall sich rings um dasselbe gezogen hätte! Wie manchen akademischen Witz über des alten Kilian Kellertreue und die romantischen Abenteuer seiner beiden einzigen Winterkumpane, Mops und Mietz, hatte Dezimus belachen hören und mit belacht. Der alte Kilian kochte seinen Morgenkaffee, weiter nichts! Und dennoch erleuchtete das Flämmchen auf dunklem Grund den Beschauer plötzlich wie eine Vision, wie ein Blinken seines treuen Johannissterns. »Dort oben, dort oben!« rief er laut auf.

Er nahm sich nicht Zeit zu dem Umwege durch das Dorf, setzte, als wäre er selbst ein Verfolgter auf der Flucht, den steilen Abhang hinunter, quer durch die Wiesen bis zum Ufer, von wo ein Kahn an den Fuß des Burgfelsens trug. Beim Übersetzen fragte er den Fährmann, ob dann und wann wohl noch ein Fremder den alten Kilian besuche? Der Fährmann hatte seit diesem Monat keinen mehr hinübergerudert.

Auf dem jenseitigen Ufer schlug Dezimus statt des sich windenden Fahrweges den steilen Fußpfad ein mit Siebenmeilenschritten und keuchender Brust. Es war licht geworden, ein leiser Lufthauch, die Nebel scheuchend, verhieß einen klaren Sonnenaufgang, einen blauen Himmel über der düsteren Tat.

Schon der Ringmauer nahe, stockte der eilende Schritt. Vom Fuß zum Gipfel war der Pfad von der Ruine aus zu übersehen; einer, der nicht entdeckt sein wollte, konnte sich längst zwischen den weitläufigen Trümmern verborgen oder von der entgegengesetzten Seite entfernt haben. Dezimus seufzte laut auf, als ob es sein Schutzgeist wäre und nicht sein Feind, der vor ihm geflüchtet.

[628] Und wirklich war er von oben bemerkt und erkannt worden, denn der alte Burgwirt stand schon auf der Lauer vor dem halbzerfallenen Tor, schwenkte seine Pudelmütze und schrie ihm das »Salve« entgegen, das er seinen Lieblingsgästen abgelauscht hatte. Dann aber schüttelte er dem Ankömmling herzhaft die Hand und rief: »Das nenne ich Glück!« (Er drückte den schönen Begriff mit einer durchaus nicht schön zu nennenden akademischen Hyperbel aus.) »Seit dem Reformationsfeste kein Gesicht und an Sankt Kathrinen ihrer zwei!«

»Ihr habt schon Gäste, Freund?« fragte Dezimus mit klopfenden Pulsen.

»Nur einen!« antwortete der Alte. »So was dergleichen wie ein Maler kommt er mir vor. Er stellte sich ein wie Nikodemus in der Nacht; von jener Seite. Aus dem Reiche, denk ich mir, denn ein Landeskind ist er nicht. ›Herr Wirt‹ und ›Hören Sie‹ hat er mich tituliert; das erste Mannsen, das wie ein geziertes Berlinsches Mamsellchen den alten Kilian per Herr und Hören Sie traktiert. Und Wein hat er sich bestellt. Bier ist für so einen zu kommun. Na, der alte Kilian kann auch mit Wein aufwarten und an Sankt Kathrinen mit schmackhafterem Wein als Bier. Er hat sich gestern abend auf einer Fußtour im Nebel verirrt und will nun den Sonnenaufgang hier oben genießen. Und dazu kanns allenfalls Rat werden, denn der Nebel ist weg. Aber gestiegen, und ohne Nieselwetter gehts heute nicht ab. Wie er Sie den Berg ransteigen sah, sagte er: ›Noch einer, der die Sonne hier oben aufgehen sehen will. Nötigen Sie ihn herein, Herr Wirt, und bringen Sie uns ein Frühbrot und Wein.‹«

Auf des Alten Erkundigung wärmte Dezimus nun die Fabel – leider war es im wesentlichen ja keine – aus [629] dem Goldenen Scheffel wieder auf, nur daß er das zweiselige Pärchen in einen ledigen Freund verwandelte; worauf der Alte schmunzelnd erwiderte: »Na, warten Sie ihn nur getrost hier oben ab. Ists ein alter Bruder Studio, geht er der Ruine nicht vorbei, und der alte Kilian schreibt in seinen Kalender: ›An Sankt Kathrinen drei Mann hoch oben auf der Burg!‹«

»Sie werden sich mit zweien begnügen müssen, Herr Wirt, der Gesuchte ist gefunden,« sagte hinter ihnen eine Stimme mit wohlbekanntem musikalischen Klang.

Max von Hartenstein war unbemerkt in den Torrahmen getreten, Dezimus Frey folgte ihm in das Verlies. Er zitterte; jener war ruhig wie ein Bild von Stein. Der alte Kilian wunderte sich, daß zwei alte Freunde, die sich suchen und finden, zum Salve sich nicht einmal die Hände schütteln. Aber einer aus dem Reich, der »Hören Sie« zum alten Kilian sagt, und ein weiland Kamel, das den Pastorrock auf dem Leibe trägt, die haben eben ihre absonderlichen Mucken.

»Sie suchen Ihre Schwester?« fragte Max.

»Zunächst allerdings sie,« antwortete Dezimus.

»Nun, sie wird, hoffe ich, gestern abend wohlbehalten im Schlosse von Werben eingetroffen sein. Wir haben uns auf der vorletzten Station getrennt.«

Es kam Dezimus nicht in den Sinn, diesem stolzen Menschen in irgendeiner Lage eine Unwahrheit zuzutrauen. Max hatte Rose berechenbar heimlich verlassen. Sie ahnete sein blutiges Vorhaben nicht. Die ganze Konstellation war verrückt.

Der Wirt hatte das Frühstück gebracht. Max entkorkte die Flasche, kostete, forderte eine zweite, bot Dezimus ein Glas, das dieser ablehnte, und trank dann selbst in [630] durstigen Zügen, ohne daß es ihn zu erregen schien. Darauf sagte er:

»Sie würden mich verbinden, Herr Pfarrer, wenn Sie dieses Blatt bis auf weiteres an sich nähmen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß ich Werben in der Kürze wiedersehe, und das Leben kann wohlfeil werden in dieser Zeit. Für den Fall meines Todes geben Sie diese Zeilen meiner Schwester.«

Er nahm bei den Worten von dem Tische im Fenster ein Blatt Papier, faltete es und schrieb mit Bleistift »An Sidonie« darauf. »Mir fehlt eine Oblate,« setzte er hinzu. »Aber auch unverschlossen weiß ich, daß Sie vor dem genannten Termin keinen Einblick nehmen werden. Nach jenem Termin steht er Ihnen frei.«

Dezimus barg das Blatt in seiner Brieftasche. In einer späteren Zeit ist ihm der Inhalt mitgeteilt worden. Er lautete:

»Ich erwarte von meiner gütigen Schwester, daß sie ihre Freundin Rose Blümel in jedem Sinne als die rechtmäßige Witwe ihres Bruders betrachten wird.

Max.«


»Und nun wären wir wohl fertig miteinander, Herr Pfarrer,« sagte Max.

Seine frostige Ruhe, die Ironie in Miene und Klang hatten in Dezimus das Feuer der Verfolgung unter den Zweifelgrad hinabgedämpft; die Gleichgültigkeit, mit welcher er des Mädchens erwähnte, das so großmütig, die tiefste Kränkung vergessend, mit Hintenansetzung von allem, was es hochzuhalten hatte, ihn der dringendsten Gefahrentrissen, empörte ihn. Aber er dachte an dieses Mädchen und an die beiden anderen, die mit ihm um diesen Mann leiden würden, und so zwang er sich zu dem Worte, das, er wußte [631] es, in den Ohren dieses Mannes wie eine Narrenrede verhallen würde.

»Nein, Herr von Hartenstein,« sagte er, »der Zweck, um dessentwillen ich auch Sie gesucht, ist noch nicht einmal berührt.«

»Eh bien! Was möchten Sie?«

»Sie beschwören, bei allem, was Sie wert und heilig achten, von der Tat dieses Tages abzustehen.«

»Sie wissen darum?« fuhr Hartenstein auf. »Und wer noch außer Ihnen?«

»Keiner, mindestens durch mich; und, bei Gott! in keinem anderen Auftrag als dem meines Herzens habe ich – –«

»Ich weiß die Ehre zu schätzen,« unterbrach ihn Max mit einem schnöden Lächeln, »und ich sage Dank dafür, daß der eifrige Levit von mir, dem Heiden, voraussetzt, er werde eher als der gläubige Bekenner die linke Wange bieten, wenn die rechte den Streich empfangen hat.«

»Sie irren, Herr von Hartenstein. Es war nicht priesterlicher Eifer, es war einfach die Freundschaft für die Ihnen nächststehenden Menschen, die mich zu Ihnen trieb statt zu dem anderen, den ich im Bann unüberwindlicher Vorurteile befangen wußte.«

»Und was berechtigte Sie,« rief Max, indem eine Blutwoge sein marmorbleiches Gesicht überflog, »was berechtigte Sie zu der Annahme, daß ich, ich diese Vorurteile, wie Sie es nennen, nicht hege? Meinen Sie, daß ich die Sache der misera plebs, für die ich meine Existenz in die Schanze geschlagen, so verstanden habe, um im Sinne des Plebs ein Schimpfwort für ein Scherzwort zu nehmen und nicht vielmehr des Volkes Schranken so weit hinauszurücken, daß es wie wir für sein Recht und seine Ehre den Einsatz des Lebens nicht zu hoch erachte?[632] «

Dezimus blickte eine Weile betreten zu Boden; dann erwiderte er, aber kleinlauter als vorhin: »Ein ungemeines Streben in ungemeiner Zeit zieht keine Alltagskonsequenzen. Ihre Freunde, Herr von Hartenstein, werden es schwerlich verstehen und sicherlich es Ihnen nicht vergeben, wenn der Tribun sich dem Kavalier zum Opfer stellt. Retten Sie sich für die Sache, um derentwillen Sie, wie Sie sagen, Ihre Existenz in die Schanze geschlagen haben.«

»Ich habe keine Freunde, an deren Verständnis mir gelegen wäre,« entgegnete Max mit einem geringschätzigen Achselzucken, »und die Sache, die ich die meine nannte, ist über meine Lebenszeit hinaus eine verlorene. Das Volk – es bleibt bei dem Weidetier.«

»Wills Gott, nicht!« rief Dezimus. »Solange die Menschheit währt, wird der Kampf für die Menschlichkeit geführt werden, wenn auch mir anderen Waffen als den heutigen. Wollen Sie die Flinte in das Korn werfen, weil – lassen Sie mich Sie an die Stunde erinnern, in der ich den frühesten Blick in Ihre Seele getan –, weil Ihre ersten Blütenträume nicht reiften? Sie haben auf unberechenbare Jahre hinaus mit Ihrem Vaterlande gebrochen, wollen Sie mit einem Mord von ihm scheiden? Suchen Sie ein neues, ein nach freieren Satzungen bereits geordnetes, mit dem Bewußtsein einer selbstüberwindenden, einer hochherzigen Tat. Fliehen Sie, Herr von Hartenstein! Die Stunde drängt, nein, die Minute; gelüstet es Sie, in Handschellen mit Ihrer Jugend abzuschließen?«

»Seien Sie ruhig, Freund,« versetzte Max lächelnd. »Ich werde keine Handschellen tragen.«

»Sie wollen sterben, Max! Warum nicht leben? Nicht lebend sühnen, was Sie vielleicht noch nicht einmal einen [633] Irrtum nennen; was aber, nachdem der Irrtum zu einem Verhängnis geworden ist, nicht für Sie allein, Sie, wie Sie sich auch stellen mögen, als ein Frevel gemahnen wird? Der Tod scheint nur unreifen Geistern eine sühnende Tat. Leben Sie, eilen Sie. Sie haben meinen Paß; tauschen wir die Kleider; fliehen Sie nach der Insel; berufen Sie sich bei meinem Bruder auf mich. Er rudert Sie nach Helgoland. Ihre Schwester, die jede Stunde von ihrem traurigen Posten erlösen kann, wird Ihnen folgen und – –«

»Und – Rose?« fragte Max mit einem lauernden Seitenblick.

»Soweit die Macht eines Bruders über die Schwester reicht, bei Gott im Himmel! niemals!« antwortete Dezimus, und sein Ton mochte den Ernst seines Willens nicht bezweifeln lassen, denn Max reichte ihm die Hand, und über seinen Augen lag ein feuchter Nebel.

»Sie sind ein seltener Mensch, Dezimus, in Wahrheit ein Glücklicher,« sagte er mit weichem Klang. »Ich danke Ihnen, Sie haben mir den Glauben wiedergegeben, dessen letzten Rest ich gestern verloren hatte.«

»Den Glauben an die natürliche Gutheit der misera plebs?« versetzte Dezimus, und diesmal war er es, welcher lächelte. »Wahren Sie sich diesen Glauben, Herr von Hartenstein, auch wenn er in bezug auf mich sich nicht völlig zutreffend erweisen sollte. So wenig wie es der Priester war, der sich bekehrend in Ihre Nähe drängte, so wenig ist es der Sohn des armen Hutmanns Ihrer Heimat, der aus natürlichem Drang an die Kraft Ihres Gemütes appelliert. Es ist der Zögling des Mannes, dessen liebstes Kind Sie höher gehalten hat als Ehre und Herzensfrieden, obgleich es wußte, daß Ihre Neigung nur eine Wallung war. Und[634] es ist der Freund einer anderen, welcher mit dem Leben eines Bruders das des Mannes auf dem Spiele steht, dem sie einst ihr reines Herz geöffnet hatte.«

»Lydia!« rief Max. Er machte einen Gang durch das Zimmer.

Dezimus trat an das Fenster. Die Sonne war, ohne daß sie es bemerkt hatten, klar aufgestiegen, schon jedoch wieder von auf und ab wallenden Dünsten umschleiert. Der Tag würde in Regen enden, in Tränen ahnete Dezimus.

Max war an seiner Seite stehen geblieben. »Es kann nicht sein, Freund,« sagte er. »Das Blut ist stärker als die Logik Ihrer Großmut. Schon das gestrige Unternehmen, dessen unzeitige, kindische Ausführung Sie wenigstens nicht auf meine Rechnung setzen sollen, hat meinen Namen zum Spott gemacht. Soll ich nun noch unter dem Gelächter meiner Zeitgenossen aus der Arena flüchten, in die ich mit vollen Backen zum Kampf geladen habe? Ich würde vor dem gestrigen Begegnis versucht haben, nach Süddeutschland zu entkommen, wo eine nochmalige Erhebung für eine wenn auch nicht soziale, doch politische Neuerung Deutschlands nicht völlig undenkbar ist. Nach jenem Begegnis habe ich von der Hand eines beherzten Weibes, welches, wäre mir die Frist gegönnt, das meine werden würde, mich entführen lassen, nicht zu schmählicher Flucht, sondern zu einer Rettung der Ehre, dem einzig geziemenden Abschluß, der mir übrigblieb. Es muß geschehen. Aber, Freund, Lydia wird um keinen Bruder Leid zu tragen haben, und falle ich – so oder so –, mögen Sie ihr sagen, daß das Leben wenig Wert mehr für mich hatte, seit sie ihr reines Herz vor mir verschließen mußte.«

Lydia! Warum hatte Dezimus diesen teuersten Namen aufgerufen, warum die schwerste Versuchung für sich selbst [635] heraufbeschworen? Sprach sie: »Nimm die Schmach auf dich, Max, ich teile sie mit dir,« er würde sich gerettet haben für sie, um ihretwillen, vielleicht – nein gewiß.

»Schieben Sie die Tat auf, bis Lydia über sie entschieden haben wird, erwarten Sie ihre Weisung auf der Insel.« Sein Herz krampfte, während er diese Worte sprach, und seine Blicke wurzelten am Boden, während er die Antwort erwartete.

»Nein!« lautete sie nach kurzem Zögern. »Sie liebt mich nicht mehr, und ihr Mitleid ließe mich nur noch tiefer sinken, als ich mich gesunken fühle. Ist es aber möglich, so lassen Sie ihr das Schicksal dieses Tages verborgen bleiben.«

Der letzte, schwerste Versöhnungsklang war machtlos verhallt. Lydias hehres Bild vor der Seele schieden sie.

Am Bahnhofe traf Dezimus mit Martin und dem getreuen Doktor Kurze zusammen. Nachdem er bei dem beleidigten Feinde gescheitert war, machte er noch einen Versuch, den beleidigenden Freund umzustimmen; er erinnerte daran, wie dieser mit dem unantastbaren Ehrenruf, nachdem er noch gestern die Feuerprobe auf das tapferste bestanden, so viel leichter als sein allseitig und auch von ihm geschmähter Gegner die Hand zur Versöhnung bieten, ja sogar dem Zusammentreffen aus dem Wege gehen könne. Er erinnerte auch – wennschon er über diese Eventualität im Innersten beruhigt war – bei einer traurigen Möglichkeit an den Jammer seiner Mutter, an die Verwaisung seines Töchterchens, und gewiß blieb das zärtliche Vater- und Sohnesherz bei diesem Mahnen nicht ungerührt.

»Ich habe mein Testament gemacht und dich zum Vormund meiner kleinen Tili ernannt, Dezimus,« sagte er mit Tränen in den Augen. Aber es gibt nun einmal einen [636] Punkt, auf welchem auch der Schwache unbeugsam ist, und je schwächer, häufig desto mehr.

So brachen sie denn nach dem Mordtale auf, das Freund Kurze »wie seine Tasche« zu kennen versicherte. Er hatte auf einer Lichtung desselben während der pfingstlichen Burgkommerse an mancher kameradschaftlichen Paukerei mit Nadel und Heftpflaster teilgenommen, hin und wieder wohl auch mit Schläger und Rapier. Er war beileibe kein Feind von derlei Entladungen eines überschüssigen Bluts; weder im Spaß noch sogar im Ernst. Das gegenwärtige bitter ernsthafte Vorhaben erklärte er jedoch, natur- und vernunftgemäß, für einen Raptus der Absurdität.

»Denn,« so sagte er beiwege zu Freund Dezimus, während der sonst so mitteilsame Martin stillschweigend voranschritt, »denn Numero eins: Blut wäscht einen Flecken von der Ehre ab, aber Blut wehrt ihn auch ab. Gibt mir mein Bruder einen Knuff, gebe ich ihm wieder einen, und er und ich sind so gut wie vorher. Demgemäß können Brudersöhne sich schon einmal einen dummen Jungen anbrummen, ohne gleich loszuknallen. Der dumme Junge erstickt im natürlichen Blut. Numero zwei: bei jeglichem Ärgernis entscheidet die Präsenz. Müssen Kanaille und Hasenfuß gewärtig sein, Tag für Tag oder allenfalls auch nur dann und wann mit den Köpfen gegeneinander zu rennen, na, so schießen sie sich wieder zu Ehrenmännern zurecht oder meinetwegen auch tot. Wissen sie aber von vornherein, daß sowieso, selbigen Tags einer von ihnen auf Nimmerwiedersehen ins Zuchthaus transportiert wird oder bestenfalls über das Weltmeer echappiert, item, daß Kanaille und Hasenfuß quasi nicht mehr füreinander vorhandene Individuen sind, warum soll einer dem anderen [637] zuvor mit Teufelsgewalt das Lebenslicht ausblasen oder, was noch weniger angenehm sein würde, es sich von ihm ausblasen lassen? Narren sind sie alle beide, diese Hartensteine, der rote wie der blaue. Indessen, ich habe die Hoffnung, sie zu kurieren, noch nicht aufgegeben. Woran die Weisheit zuschanden geworden ist, das hat schon manchmal ein Jokus zustande gebracht. Laß mich nur machen, alter Dezem.«

Trotz dieser tröstlichen Versicherung entwarf er indessen mit der ihm eignen praktischen Umsicht das Programm für jeglichen mehr oder minder schwierigen Fall und fühlte sich, der redlichsten Teilnahme unbeschadet, durchaus con amore bei dem verzwickten Handel.

In der Waldlichtung wartete Max bereits. Er hatte als Beleidigter keine weitere Bedingung als die des gleichzeitigen Feuergebens zu stellen, eine Bedingung, welcher Martin mit einem Kopfneigen zustimmte. Dezimus drückte erst dem Freunde, dann dem Feinde die Hand; nur dem letzteren mit einem Abschiedsgefühl, und wahrlich! mit einem wehe tuenden. Dann nahm er seinen Platz außerhalb des erwählten freien Raums.

Peter Kurze dahingegen stellte sich in dessen Mitte. Er reckte sich, räusperte sich und begann darauf in seiner kommentwidrigen vierfältigen Eigenschaft als Medikus, Unparteiischer und Sekundant beider Parteien – denn der priesterliche Hüne, der sich mit mäusefahlem Angesicht dort an die alte Hagebuche lehnte, zählte lediglich für eine »geistige Natur« – recht weidlich die Narrenkappe zu schütteln und die Narrengeißel über das natur- und vernunftwidrige wie auch nebenbei brudermörderische Vorhaben zu schwingen.

Der Wahrheit die Ehre! Peter Kurzens Rede war ein [638] satirisches Musterstück, wie er kein zweites geleistet hat. Auch blickte er, nachdem er geendet, mit siegesstolzer Zuversicht von einem der feindlichen Hartensteine auf den anderen. Der Dichter lächelte; um so grimmiger schaute der Leutnant drein. Das war nicht der Mann, der sich eine bitter ernsthafte Sache von einem Bajazzo verpfuschen ließ! Da jedoch zu einer Rückwärtsbewegung, wie der Mittelsmann sie empfohlen, denn auf eine Handreichung hatte er von vornherein bescheidentlich verzichtet, weder der Lächelnde noch der Grimmige Anstalt machte, da auch von außen her kein willkommnes Hindernis in die Szene sprang, keine Feuerkugel vom Himmel fiel, kein Spaziergänger des Weges kam, kein Forsthüter, nicht einmal ein Gendarm, raunte er dem Freunde unter der Hagebuche zu: »Vor derartigem Blödsinn erbleicht sogar dein Johannisstern!«

Dann aber setzte er sich in Positur, maß die Schritte ab, reichte mit einer Verbeugung einem jeden seine Waffe, führte ihn an seinen Platz und zählte ohne Zagen: »Eins – zwei – drei!«

Die Schüsse fielen. Max, der in die Luft gefeuert hatte, brach leblos zusammen.

»Ist er tot?« schrie Martin auf. Er sah so sterbensfahl aus wie der, welcher am Boden lag. Der Doktor zuckte schweigend die Achseln.

Die Kugel war nahe der Schulter in die Brusthöhle gedrungen. Kurze legte den blutstillenden Verband an und entfernte sich darauf, um, wie verabredet, die diplomatischen Maßnahmen zu treffen, die kaum weniger als der ärztliche Dienst eines Meisters Kunst erheischten.

Er eilte nach dem Ausgang des Tales, wo der Wagen pünktlich eingetroffen war, präsentierte sich dem Kutscher als der vom Mieter erwartete Freund, der vorangegangen [639] sei, um für einen plötzlich erkrankten Begleiter einiges Erforderliche im Dorfe einzuholen. Als Ortsunkundiger bat er den Kutscher, indem er ihm ein Trinkgeld in die Hand drückte, diese Besorgungen für ihn abzutun: Wein und einen Imbiß aus dem Wirtshause, Hofmannsche Magentropfen aus der Apotheke, vom Kaufmann eine Flasche Kölnisches Wasser; kurzum, er schickte ihn von Pontius zu Pilatus, indem er versprach, in der Zwischenzeit die Leinen gewissenhaft festzuhalten. Kaum aber, daß der Mann aus der Gehörweite war, schwang Peter Kurze sich auf den Bock, um über Stock und Stein nach der Lichtung zu jagen.

Hier hatte währenddessen der Verwundete ohne Zeichen des Lebens am Boden gelegen, den Kopf an Dezimus' Brust, dessen Hand gepreßt auf den Verband der Wunde. Martin an seiner Seite kniend, küßte seine Hände, weinte wie ein Kind. »Bei Gott im Himmel!« schluchzte er, »ich habe es nicht gewollt. Ich hatte auf den Oberarm gezielt, und ich treffe das Daus in der Karte. Warum hat er auch in die Luft gefeuert und dabei gezuckt, daß ich die Brust treffen mußte. In meinem Leben kann ich dem armen Röschen nicht wieder in die Augen sehen.«

Als der Doktor mit dem Wagen zurückkehrte und den Verband erneuert hatte, wurde der Kopf des Verwundeten mit verschiedentlichen Taschentüchern umwunden, das Gesicht obendrein durch ein breites schwarzes Pflaster unkenntlich gemacht, des Pastors Feldmütze ihm über die Ohren gezogen, der Soldatenmantel ihm übergehängt und, auf diese Weise umgewandelt in Bruder Frieden, den blöden Amerikaner, der beim gestrigen Straßenkampfe in der Festung zufällig einen Schuß wegbekommen hatte, der rote Hartenstein in den Wagen gehoben.

[640] »Und nun machen Sie sich aus dem Staube!« sagte der Doktor zu Martin. »Sie haben Ihre Heldentat getan. Das Weitere ist unsere Sache!«

Martin ging. Wie einst sein Vater hatte er die Ehre der Hartenstein mit blutiger Hand gerächt. Daß er aber, wie sein Vater, deshalb ein krankes Herz durch das Leben tragen werde, wird für den Sohn nicht zu befürchten sein.

Der Verwundete ruhte in Dezimus' Armen. Freund Kurze, nachdem er sorgfältig die Gardinen geschlossen hatte, führte den Wagen Schritt für Schritt nach der Haltestelle, versprach dem Kutscher, als dieser zurückkehrte, ein doppeltes Trinkgeld, wenn er zur Schonung seines kopfleidenden guten Freundes ein gleich langsames Tempo beibehalte, und nahm dann seinem Pflegling gegenüber auf dem Rücksitze Platz.

Wie der alte Kilian prophezeit hatte, war das Wetter in einen Landregen umgeschlagen, die Dämmerung daher noch früher als sonst im Spätherbst hereingebrochen; die Straße menschenleer. Wohin nun aber mit dem vielleicht sterbenden Mann? Wo Rast für ihn suchen, selbst im günstigsten Falle lange währende, heimliche Rast? Wo die sorgsame Pflege für ihn finden, deren er unumgänglich bedurfte? Eine weite Fahrt würde er nicht überstanden haben. Selbst Werben war im Grunde zu weit. Welche Wahl blieb aber außer Werben? Auch hatten beide Freunde von Haus aus an keine andere Zuflucht als die des Talgutes gedacht. Bei näherer Überlegung mußten sie sich jedoch sagen, daß dort, bei den Seinen, der Verfolgte zuerst gesucht und unvermeidlich entdeckt werden würde. Wohin aber sonst?

»Aufs Schloß mit ihm!« rief plötzlich der Doktor mit dem Trompetenton der Unwiderleglichkeit. »Bei seiner [641] feindlichen Exbraut vermutet den roten Hartenstein nicht die feinste Schnüffelnase. Still wie in einem Kloster! Matratzen und Verpflegung ideal! Dort oder nirgend ist er geborgen! Dort oder nirgend leistet Peter Kurze sein ärztliches Meisterstück! Aufs Schloß mit ihm!«

Wie Dolchspitzen hatte des armen Dezimus Brust ein jeder dieser natur- und vernunftgemäßen Sätze mit den Erinnerungen, die sie weckten, und nur allzu naheliegenden Folgerungen durchzuckt. Er schwieg eine lange Weile, kämpfte schwere Seufzer nieder und sagte dann, auch seiner Natur und Vernunft gemäß: »Ja, auf das Schloß!«

Vor der Station, von welcher aus er gestern abend seine Fußwanderung angetreten hatte, verließ er den Wagen, da er, wenn er den Nachmittagszug benutzte, einen mehrstündigen Vorsprung gewann, um in der Heimat Rat und Hülfe vorzubereiten. Und von allen Martern, die er seit vierundzwanzig Stunden zu bestehen hatte, ist die Unheilsbotschaft an die beiden Frauen wahrlich nicht die am wenigsten martervolle gewesen.

Rose hatte, als sie am verwichenen Abend allein, aufgelöst in Schmerz und Angst auf das Schloß zurückkehrte, die Geschehnisse dieses Tages und ihren Anteil an ihnen ohne Hehl der Freundin mitgeteilt und war von dieser um ihrer großmütigen Tat willen aufrichtig bewundert worden. Sie selbst wäre des gleichen Entschlusses ja fähig gewesen, allein schwerlich der gleichen praktischen Durchführung. Von dem bevorstehenden Zweikampf hatte Rose keine Ahnung. Sie wie Lydia schwankte, ob es Absicht oder unfreiwillige Verspätung, wenn nicht gar eine verhängnisvolle Begegnung gewesen war, daß Max, als er auf der letzten außerpreußischen Station das Coupé ohne Vorwand verlassen hatte, nicht dahin zurückkehrte.[642] Mit Zittern und Zagen hatten sie im Geiste ihn umherirren sehen, verfolgt, erkannt, verhaftet, gefangen; aber dann auch wieder hoffnungsvoll, ihn geborgen und unentdeckt den Hafen erreichen, von welchem das nächste Schiff ihn in die Freiheit trug.

Und nun zu hören, daß er, von allen Seiten bedroht, als ein zum Tode Verwundeter in seine Heimat geführt werde! Rose stand vernichtet, starr und stumm. Seit gestern fühlte sie sich nicht mehr als die verlassene Geliebte, die mutvoll gegen ihr Begehren und die Schmach der Mißdeutung kämpft. Sie hatte gehandelt wie ein zur Treue verpflichtetes Weib, bekannte ihre Liebe ohne Scheu, war froh gewillt, Gefahr und Verbannung mit dem Geächteten zu teilen. Höher denn jemals vor sich selbst gestellt, stürzte eine Minute sie in den Abgrund alles Entsetzens.

Aber auch Lydia stand erschüttert wie eine Liebende. Selbst wenn sie nicht die Tat eines Bruders zu sühnen, nicht der Großmut dieses Mannes das Leben eines Bruders zu danken gehabt hätte, würde es kaum einen Preis gegeben haben, der ihr für seine Rettung zu hoch erschienen wäre. Denn wenn die Sehnsucht der Liebe in einem Herzen auch erlischt, das Mitleid der Liebe bleibt lebendig bis zum letzten Atemzuge. Dezimus hatte ja nicht daran gezweifelt, daß sie ohne Besinnen ihn bergen und pflegen werde; sie hätte nicht Lydia sein müssen, wenn das unbedingt Menschliche ihr nicht höher gestanden hätte als die bedingte Natur, die gemeinhin dem Weibe eignet. Und dennoch, als er sie jetzt so freudig, ohne jegliches Bedenken dessen, was sie für sich selbst auf das Spiel setzte, in seinen Vorschlag willigen sah, krampfte in seinem Herzen eine Empfindung, der er sich schämte einen Namen zu geben. Er fühlte den Puls des Weibes für den Einstgeliebten schlagen.

[643] Man hatte allerdings schon am Morgen auch auf dem Schlosse nach Max geforscht; eine Haussuchung, wie sie auf dem Talgute und auch in Bielitz stattgefunden, war, auf Lydias Wort hin, jedoch unterblieben. Sie hoffte, daß es bei dieser Nachfrage sein Bewenden haben oder daß sie einer späteren zu begegnen wissen werde.

Rose jedoch widersprach ihr mit plötzlich aufgewachter Energie.

»Nein!« rief sie. »Es wird bei dieser ersten nicht sein Bewenden haben, und je eifriger du dich einer Haussuchung widersetzest, um so mehr wirst du dich verdächtig machen. Er ist hier so wenig wie auf dem Talgute zu verbergen. Schon daß er bei der Ankunft, wenn auch im Dunkeln, durch das Dorf und über den Hof gefahren werden muß, da er in seinem Zustande nicht die Terrassen hinangetragen werden könnte; daß die Schenke dem Gute gegenüberliegt und von ihr aus jeder ungewohnte Ein- und Ausgang beobachtet werden kann; daß die Fenster des Schlosses von allen Seiten zu übersehen sind und es in ihm wohl eine zusammenhängende Zimmerflucht, aber keinen einzigen Schlupfwinkel gibt, keine Seitentreppe oder Hintertür! Und was machte wohl Bruder Frey auf dem Schlosse der Hartenstein? Was brauchte der unschuldige Hirtenfriede mit so viel Heimlichkeit darin gepflegt zu werden? So dumm wäre nicht der dümmste Bauer, wieviel weniger ein geschulter Polizist, um nicht am ersten Tage hinter dem versteckten Hutmannssohn den verfolgten Herrensohn auszuwittern.«

Alle diese Einwendungen hatten auch für Dezimus einen einleuchtenden Grund. Aber der Seitenblick, mit welchem Rose dabei die sinnende Schloßbesitzerin streifte, bekundete noch einen heimlichen Vorbehalt, und – [644] keineswegs edel, aber leider wahr! – daß dieser Vorbehalt in seinem Herzen einen lauten Widerhall fand.

»Nein, Dezimus!« fuhr Rose fort, mit schmeichelnden Tönen die Rücksichtslosigkeit umhüllend, deren nur der Egoismus weiblicher Liebe fähig ist, »nein! du hast um meinetwillen, um seinetwillen Großes getan und geduldet: aber du hast nichts getan, weil alles umsonst, wenn du nicht auch das Letzte tust: wenn du ihn nicht dorthin bringst, dort birgst, wo er allein geborgen ist, wo keiner ihn sucht, wo dein Bruder mit Recht hingehört, – wenn du ihn nicht aufnimmst in deine stille, abgelegene Pfarre!«

In die Pfarre! Ein preußischer Hochverräter verborgen in einer preußischen Pfarre! Minutenlang herrschte atemloses Verstummen. Des weißen Fräuleins Blicke hingen mit nicht minderer Spannung als die des glühenden Weibes an des jungen Pfarrherrn Lippen.

»Ein Samariterdienst, der Ihnen das priesterliche Amt kosten würde, Freund,« sagte Lydia endlich mit leise zitternder Stimme. Als er aber dennoch das Haupt zustimmend neigte, da drückte sie ihm die Hand mit einem Freudenblick, der allen Zweifel und Vorbehalt aus seiner Seele scheuchte und ihm alle Qualen seines qualvollsten Lebenstags lohnte.

Eine Stunde später trug der Pfarrer den Hochverräter in das Haus, dessen höchster Schmuck seit einem Menschenalter das schwarzweiße Kreuz über dem des Erlösers gewesen, und bettete ihn zur Pflege in dem stillen Gartenzimmer, wo einstmals der mutterlose Hirtenknabe in die Wiege des eigenen Kindes gebettet worden war. Dazumal hatte die Junisonne hoch am Himmel gestanden; heute stürmte und ergoß sich der Novemberstrom. Aber, von Nacht und Nebel verhüllt, war es doch die nämliche Leuchte, welche das Samenkorn, in jener Stunde ausgestreut, zur Reife brachte.


[645] Und in diesem stillen Gartenzimmer haben die drei liebenden Frauen den Verwundeten gepflegt, zwar nicht heil, aber doch allmählich zum Leben. Nie hat ein Mensch geahnet, daß es der Feind des Hauses war, der unter einem Brudernamen in Todesqualen rang. Selbst die litauische Lene nicht. Denn wenn auf ihre blöden Augen auch guter Verlaß war und auf ihre treue Seele der beste, die Zunge lief ihr dann und wann davon, wenn sie mit ihrer guten Freundin Beyfuß vertraulich Zwiesprach hielt, und ganz unversehens würde die Sturmglocke im Dorfe geläutet haben. Es war daher klüglich gehandelt, daß ihr Hätschelkind sie von vornherein in ihr eigenstes Revier, die Küche, verwies und Lydia ihren alten Wagner, der an und für sich schweigsamer Natur war und auf seines Fräuleins Verlangen stumm wie ein Fisch, in die Krankenstube versetzte, um die Dienste zu erweisen, für welche Frauenhände nicht ausreichten und dem Pfarrer die Zeit gebrach.

Doktor Peter Kurzen gelang eine schwierige Operation, indem er die Kugel aus der Brust löste, und eine treffliche Kur, indem er die verletzten Gewebe ausheilte. Beider Darstellung hat – wenn der interessante Fall auch in eine andere Zeit und Zone verlegt werden mußte – dem ärztlichen Rufe, welcher just vor einem Jahre in dem nämlichen Raume begründet worden war, wesentlichen Vorschub geleistet. Unter den friedlicheren politischen Auspizien wurde Doktor Peter Kurze just um diese Zeit seiner militärischen Pflichten quitt. Zu seiner höchsten Befriedigung, da in der Festungsstadt die erhoffte Cholera morbus sich als Illusion erwiesen hatte und die wenigen Opfer der Emeute seinem Tatendurst auch nicht annähernd zu genügen vermochten. Bevor er in »das geistige Zentrum der Provinz« zurückkehrte, machte er daher in dem befreundeten Pfarrhause von [646] Werben Station, »um den Ansprüchen seiner bedeutenden Klientel in jener Gegend gerecht zu werden«. Diese Klientel beschränkte allerdings zurzeit sich auf einen einzigen Fall, zählte materiell jedoch für zehn, ja für hundert. Sidonie würde, wenn verlangt, die Rettung ihres Max mit dem demnächstigen Erbe eines Rittergutes gelohnt haben. Aber Doktor Peter Kurze war ein bescheidener Mann.

Über die ärztliche Behandlung hinaus hatte nebenbei zwischen der schwächlichen Korbverleiherin und dem rüstigen Korbträger sich ein literarisches Verhältnis eingefädelt, das zunächst zwar nur den Zweck hatte, verdächtigende Spuren von dem Krankenzimmer im Werbenschen Pfarrhause abzulenken, beiden Praktikanten aber zu einem Quell erheiterndster Laune wurde. Schon in den nächsten Tagen bekam man in der einen Zeitung zu lesen:

»Zuverlässigen Nachrichten zufolge ist der bekannte Max von Hartenstein am 25. huj. in Lausanne gesehen worden. Wem es daher, schon aus Gründen der Vernunft, nicht einleuchten sollte, daß ein Mann, sagen wir ein Agitator, von seinem Kaliber an dem kindischen Putsch in X. keinen Teil gehabt haben kann, dem würde es doch schon aus räumlichen Gründen unbezweifelbar werden.«

Einige Zeit später stand in dem Blatte einer anderen Farbe:

»Einsender hat in einem lauschig stillen Winkel am herrlichen Lemansee die Bekanntschaft des berühmten Dichters Max von Hartenstein gemacht und das Glück gehabt, eines Blicks in seine jüngste Schöpfung ›Pandora‹ gewürdigt zu werden, welches großartige Epos, in ottave rime abgefaßt, an Schwung und Farbenglut sich dreist mit den höchsten Leistungen der Byronschen Muse messen darf und eigentümliche Streiflichter auf eine Zeit fallen läßt, über [647] welche Pandorens Büchse wieder einmal die Fülle ihres Unsegens ausgegossen hat.«

Wenn diese und ähnliche Artikel im Werbenschen verbreitet wurden, dann lachte Sidonie wie in alten glücklichen Siditagen, und die übrigen Wächter im Krankenzimmer lächelten, denn sie wußten, wessen Phantasie die Dichtung entsprungen war und welche Hand sie unter die Druckerpresse befördert hatte.

Peter Kurzen war bei derlei »Fickfackereien« so wohl zumute wie einem Schmerlchen im klarsten Bachwasser. Er verhöhnte seinen Freund Dezimus, der über den Rudimenten der diplomatischen Kunst wie ein Abc-Schütze stockerte und unter den Praktiken, zu denen sie den Diplomaten nötigt, sich krümmte »wie die Bauern, wenn sie in den Turm kriechen sollen«. Und doch war im Grunde Peter Kurze keine weniger ehrliche Haut als sein geistlicher Freund. Erzählt man denn aber nicht, daß einzelne Individuen einen Giftstoff, von welchem ein Partikelchen der großen Mehrzahl den Tod bringen würde, in zehnfältiger Dosis als Arznei, ja als Leckerbissen und sogar als Schönheitsmittel zu sich nehmen und bei dieser Diät gesund und kräftig ein Patriarchenalter erreichen?

Der junge Pfarrer von Werben war leider jedoch ein solcher Arsenikschlecker nicht. Leib und Seele siechten an den Konsequenzen seiner Samaritertat wie an vergiftetem täglichen Brot.

Wenn er von der Kanzel herab das Grundgebot vom »Ja, ja, nein, nein« verkündet hatte oder das von der Obrigkeit, die Gewalt über einen jeden haben soll, und auf dem Heimwege erkundigte sich ein wißbegieriger Familienvater nach den näheren Umständen von seines Bruders verwunderlicher Blessurgeschichte – Peter Kurze [648] hatte dieselbige in Kurs gesetzt –, oder eine teilnehmende Gemeindemutter fragte nach dem Befinden des armen, guten Friede, dem sie ein selbst bereitetes Pflaster gar zu gern eigenhändig mit einem die Heilung bedingenden heimlichen Spruch auf seine Wunden gelegt hätte, dann trat kalter Angstschweiß auf das Pfarrers Stirn, und der Bescheid würgte wie Wurmsamen in seiner Kehle. Wohlwollende Amtsbrüder warnten ihn ob seines bedenklichen Aussehens. Sie meinten, er habe sich nach seiner Verwundung nicht hinlänglich geschont, und rieten zu einer ernsthaften Erholungskur. Erwiderte er nun auf solchen Rat, daß er sich eine Luftveränderung vorgesetzt habe, indem er seinen Bruder nach dessen Genesung auf die Insel zurückgeleite, so sagte ihm der heimliche Störefried im Herzen, daß diese Antwort wiederum nichts als ein diplomatischer Kunstgriff sei. Und ach! wie ernsthaft war sie doch gemeint; wie aus tiefster Seele schmachtete er nach den reinigenden Elementen und ach! wie sehnsüchtig nach den hohen, stillen Sternen, deren Priesteramt kein Samariterdienst entweiht!

Auch Lydia leistete ja verstohlen Samariterdienst, auch sie pflegte dem Namen nach den armen Hirtenfriede, der sich fern am Rhein in der Abwartung seines lieben Herrn, nunmehro Generals, so behaglich fühlte, wie im Leben noch nie. Aber Lydia war nicht falsch gestellt, indem sie es tat; sie übte des Weibes natürliche Pflicht, nicht eine Ausnahmspflicht, welche der Alltagspflicht widersprach. Selber Lydias Beispiel konnte dem armen Pfarrherrn das Herz nicht erleichtern.

Noch weniger jedoch als der Samariter schien der, welcher verwundet am Wege gelegen hatte, der Tat der Barmherzigkeit froh zu sein. Nachdem Max Fieberwahn [649] und Lethargie so weit überwunden hatte, um seine Erinnerungen mit dem Bewußtsein der Gegenwart verknüpfen zu können, da las Dezimus oftmals in seinem düsteren Blick und den zusammengezogenen Brauen den Vorwurf: »Warum hast du mir nicht den Abschluß, der mir ziemte, gegönnt?«

Seine Pläne waren gescheitert, sein Rausch ernüchtert; er war ein Geächteter, sein Name gebrandmarkt bei denen, die, aller Theorie zum Trotz, er allein für seinesgleichen hielt, über die sich zu erheben, über die eines Tages zu herrschen er geträumt hatte. Und dann: er war ein Siechling geworden; er, dem niemals eine Ader weh getan, der das, was Schonung heißt, in keiner Weise gekannt hatte, ein hinfälliger Mann, – wie er ahnete, für kurze Lebensfrist.

»Als standfester Philister können Sie es wie Papa Mehlborn zum Achtziger bringen, als roter Hartenstein, oder meinetwegen auch nur als blauer, gebe ich Ihnen keine zwei Jahr,« hatte Doktor Peter Kurze erklärt; Max von Hartenstein aber war einer, dem viel leben mehr gilt als lange leben. Er hatte wie ein Künstler sich an dem Anblick seiner eigenen Schön heit geweidet, nun zeigte der erste Blick in den Spiegel, den Rose ihm vorhielt, eine verfallene Gestalt, hohle Augen und abgezehrte Züge, die er kaum für die seinigen halten mochte; ihn graute vor der Zukunft dieses wandelnden Gerippes. Auch die Großmut, deren Gegenstand er sich fühlte, drückte ihn. Er war eine Natur zum Geben, nicht zum Empfangen. An die Aushülfe seiner Schwester hatte er sich von Kind ab als an etwas Selbstverständliches gewöhnt; er schenkte ihr, indem er von ihr nahm; sie dankte ihm, nicht er ihr, wenn er sie für sich sorgen ließ. Und nun diese Hingebung dulden zu müssen von Lydia, die ihn verschmäht hatte, deren Wimper [650] nicht zuckte, deren Hand nicht zitterte, wenn sie den Verband auf seine Wunden legte, eine barmherzige Schwester und – weiter nichts! von dem Sohn der misera plebs, dem der reiche Mann sein einziges Lamm geraubt hatte und der als Entgelt seine Existenz auf das Spiel setzte und sein Gewissen belastete! Wahrlich, es war eine grausame Rache, die sie genommen, indem sie dieses Dasein der Schmach gefristet hatten.

So war denn keiner froh als Sidonie und mit ihr natürlich Rose, denn Lydia war nur ruhig, voll frommen Dankes für eine gelingende gute Tat. Rose aber, Rose war selig, denn Rose liebte, und wenn sie sich auch schwerlich darüber täuschte, daß ihr nicht die höchste Empfindung zum Lohne ward, wenn ihr holdes Getändel dem Genesenden auch nur ein flüchtiges Lächeln erweckte, schon dieses Lächeln war ein Gewinn, denn sie allein zauberte es auf die bleichen Lippen. Und gibt es denn nicht auch weibliche Naturen, denen ein erobertes Glück schwerer wiegt als eines, das ohne Kampf in unsere Arme läuft? Sie war des Sieges über ihre Nebenbuhlerin in seinem Herzen gewiß. Liebte er Lydia noch, sie liebte ihn nicht mehr, und eine Geliebte, die nicht liebt, wird zum Schemen. Sie aber, Rose, sie liebte, und darum fühlte sie sich liebenswert. Sie war es ein paar Wochen lang für den Flatterling gewesen, und sie würde es wieder sein, unentwegt sein, wenn sie ganz die Seine geworden und treu zu dem Unglücklichen stand, nachdem der Glückliche ihr entflohen war. So rechnete die kleine Rose, und die kleine Rose war allezeit eine geschickte Rechnerin gewesen, wo es just nicht auf ideale Ziffern ankam. Die kluge Sidi aber sagte:

»Mein Mäxchen hat seine Meisterin gefunden und ist, [651] gottlob! auf dem besten Wege, aus einem Freiheitshelden ein Pantoffelheld zu werden. Gut Heil dem armen Jungen zu der Chance! Ihnen aber, Kamerad, seinem moralischen Gegenfüßler, zweimal gut Heil! Muß man doch wahrlich ein Johanniskind sein, wenn sogar unsere Missetaten uns zum Segen gereichen sollen. Als Tugendheld wären Sie lebtags ein Sklave geblieben; als Hehler und Helfershelfer eines Verschwörers kommen Sie zur Freiheit und zu Ihrem Ideal. Aber so werden Sie doch nicht rot, junger geistlicher Herr. Ich meine ja nur die lieben Sterne!«

So drängten alle und alles fort aus diesem Zwitterzustand, fort in reine Luft; das aber um so mehr, da die Zeit sich näherte, in welcher der Wechsel der Ämter verabredet worden war und ein Aufschub kaum ermöglicht werden konnte, ohne neue Menschen in das Geheimnis zu ziehen. Wie eine Heilsbotschaft wurde es daher aufgenommen, als in der Weihnachtszeit Meister Kurze den Ausspruch tat, daß er nunmehr eine Translokation gestatten dürfe, wenn auch natur-und vernunftgemäß nicht in einem Atemzug, sondern mit einer Kunstpause in der Mitte, zu welcher aus diplomatischen wie ärztlichen Motiven Mutter Stinas Inselhaus sich empfehle. Man rüstete sich demnach zur Reise.

Sidonie hatte nicht anders angenommen, als daß sie ihren Bruder begleiten werde, um sich im Leben nie wieder von ihm zu trennen: so zuversichtlich rechnete sie auf den Befreier Tod; und kein Tag, keine Stunde verging, wo sie ihn nicht hinter des Greises Schlummerstuhle lauern sah, wo sie das Ohr nicht an des Greises Brust lehnte, nach dem letzten Atemzuge lauschend. Immer aber regte sich wieder das wunderbare Geheimnis, Leben [652] genannt, und die Maschine taktierte weiter, lange nachdem der rastlose Arbeitsgeist, der sie achtzig Jahre regiert, sich abgenutzt hatte.

Am Silvestermorgen ging Dezimus Frey zum letzten Male in die Stadt seiner Ephorie, und wenn es in diesen Aufzeichnungen gelungen ist, das Wesen seiner ersten Lebensstufen deutlich zu machen, bedarf es keiner Schilderung des Kampfes, den dieser mit allem Heimatlichen abschließende Gang ihm kostete. Der altbefreundete Superintendent war längst vertraulich in den Ämtertausch eingeweiht; nun erbat sein junger Amtsbruder, zum Zweck einer Erholungsreise, sich eine geistliche Stellvertretung bis zur Ankunft des neuen Pfarrers und löste darauf einen Paß nach der Insel, ausgestellt auf seinen Namen, den seiner Pflegeschwester und seines kranken Bruders. Und das war Dezimus Freys letzte bewußte Lüge.

Heimgekehrt empfing ihn Sidonie mit der Kunde, daß ihr Großvater eingeschlummert sei für immer. Lachende Erben beim Augenschluß eines Mammonsnarren sind keine Seltenheit; diese Erben lachten nicht; erlösender aber ist kein Augenschluß empfunden worden als der dieses alten betörten Kindes von seiner jungen Hüterin. Noch eine mahnende Besprechung mit seiner Schwester unter vier Augen, eine zweite mit dem Genesenden, aus beider Munde ein entschlossenes »Ich will!«, dann fügte Dezimus Frey in Konstantin Blümels geistlichem Gemach Maxens und Rosens Hände ineinander und sprach des Priesters Segen über ihren Bund.

Ein wunderliches Dreiblatt von Verschmähten und Verschmähenden, Lydia, Sidonie und Peter Kurze, war des Bundes Zeuge und unterzeichnete ein Dokument über den geistlichen Akt, das im Schloßarchiv niedergelegt wurde, [653] da das Kirchenregister an dem geächteten Hartenstein und seinen Hehlern und Helfershelfern nicht zum Verräter werden durfte. Solches aber geschehen, entkleidete Dezimus Frey sich des priesterlichen Ornats und richtete an seine vorgesetzte Behörde seinen Verzicht auf das geistliche Amt. Als Beweggrund nannte er mit voller Wahrheit das Verlangen, sich dem Studium der Astronomie zu widmen.

Sobald es Abend geworden war, der letzte Abend dieses schweren Kampfesjahres, bestieg er mit der, welche seine Schwester, und dem, welcher sein Bruder hieß, den Wagen, welcher sie nach der nördlichen Bahnstation führte. Dort im Coupé stieß – seinerseits unter einem Schrei der Überraschung – Doktor Peter Kurze mit den Geschwistern zusammen, setzte die Reise auch in ihrer Gesellschaft fort, da er – wie mit weitschallendem Posaunenton verkündet ward – den Ruf in ein holsteinisches Lazarett, behufs einer eine Meisterhand heischenden Amputation, erhalten hatte.

Es mußte mit dieser Operation indessen nicht allzu drängende Eile haben, denn der Operateur dampfte wohlgemut an der Lazarettstadt vorbei, segelte auch ebenso wohlgemut mit den Freunden nach der Insel hinüber, der er erst acht Tage darauf, nachdem er seinem Patienten ein zuversichtliches »Gut Heil!« zugerufen hatte, den Rücken kehrte. Er schwelgte in dem Plane, sich in der Universitätsstadt zu habilitieren und mittelst seiner auf Mehlbornschem Acker erwachsenen goldenen Ernte eine Privatklinik zu gründen, die sich gewaschen haben sollte. Was, das Gewaschensein nämlich, nach seiner unmaßgeblichen Meinung, nicht von jeder Klinik zu rühmen sei. Seinem zweitbesten Freunde vertraute er außerdem, daß er sich kürzlich in ein [654] allerliebstes Wittweibchen verschossen habe, auf geneigtes Gehör rechne, unter allen Umständen aber entschlossen sei, fortan nur noch auf Witwen – natur- und vernunftgemäß der handlichsten Spezies des schönen Geschlechts – zu reflektieren.

Max erholte sich sichtbar unter dem Wehen der Meerluft und dem Gefühle der Freiheit. Rose triumphierte. Er war weich und bewegt, oftmals mit Tränen in den Augen. Leise begann er wieder sich des Lebens zu freuen, und dieses Leben dankte er ihr.

Nach Ablauf einer Woche kam Sidonie, und Lydia begleitete sie zum letzten Lebewohl.

Lydia und Dezimus standen am Strande allein, als das Boot abstieß, in welchem Bruder Klaus die Freunde nach Helgoland ruderte. Der erste Sonnenschein des Jahres rang sich durch den Inselnebel, den Fliehenden und denen, welche ihnen nachblickten, das Symbol eines neuen Lebens.

Als der letzte Schimmer des weißen Segels verschwunden war, da stand die treue Weltenmutter glorreich leuchtend über ihren Häuptern, und Dezimus Frey hielt an seinem Herzen das Weib, welches seinen Jugendträumen als Leitstern vorgeschwebt hatte und seinen Mannesjahren die Erfüllung bringen sollte.


Bis zu diesem Abschluß, mein Konstantin, bin ich gelangt, während der Wochen, die wir auf dem unwirtlichen Eiland hinbrachten in Erwartung des Phänomens, an welchem wir die Entfernung unserer Erde von der alten, guten Sonnenmutter zu ermessen hoffen. Morgen ist die entscheidende Stunde; es regnet, am Horizonte brauen dichte Nebel, die Gefährten blicken beklommen, [655] noch vertraue ich aber meinem bewährten Johannisglück.

Und nun lege ich die Feder aus der Hand, mit welcher ich die Erinnerungen an dieses Glück als ein Vatererbe für dich niedergeschrieben habe. Die Tatsachen sind treu. Wie aber eine Landschaft, die sich uns im Morgengold eingeprägt hat, verwandelt scheint, wenn wir im Nachmittagsschatten auf sie niederschauen, so mag auch die Farbe, über Menschen und Dingen von dazumal, sich im Gedächtnis nachmittägig verwandelt haben, und wenn es dich etwa bedünken sollte, daß das Licht mit ungebührlichem Glanze auf die Gestalt des Helden gefallen sei, – ei nun, mein Konstantin, es sind nur die besten Autoren, die heller als ihre Helden leuchten, und wem wird ein Fünkchen Eitelkeit wohl so gern verziehen werden als dem Vater, der seinem Sohne ein Erinnerungsbild hinterlassen möchte?

Es sind nur die Stufenjahre der Jugend, die ich vollenden konnte; nicht mit Unrecht aber hat man gesagt, daß die ersten beiden Jahrzehnte, »die süßen zweiundzwanzig«, wie der Dichter sie nennt, die Hälfte eines Manneslebens umfassen, und wenn es Methusalems Alter erreichen sollte. Die andere Hälfte, die mit Lydia beginnt und den Sternen, mag, soweit du sie nicht miterlebt, deine Mutter dir ergänzen. Drücke auch aus meiner Seele heraus die Segenshand an dein Herz, die so warm in der meinen gelegen und dich so treu bis heute geleitet hat.

Aber es war nicht gemütlicher Zeitvertreib, nicht die erquickende Rückschau in blaue Fernen allein, die mich trieben, deinen Blick auf das gute Heimland zu lenken, dem du Korn auf Korn entsprossen bist. Wie es einem Geschichten erzählenden Vater ziemt, lag mir eine Lehre im [656] Sinn, die ich dir zurufen wollte just aus der antipodischen Zone, in die ich seit Monden und auf Monde hinaus mich gebannt, um eines Lichtmomentes willen, den ein Wolkenschatten verdunkeln kann.

Es ist nahezu ein Postulat geworden, daß die Zeit, in der du zu reifen berufen bist, den idealen Lebensgehalt verkümmern läßt. In dir erfahren wirst du es nicht. Einem Sohne Lydias verkümmert nicht sein Ideal. Glaube es aber auch nicht, wenn du es hörst oder liest. Die Ideale wandeln und wechseln, erhellen und verdunkeln sich wie die Ideen, das Ideale währt und webt ewig wie die Idee. Du kennst nunmehr den Mann, den diese Zuversicht bis in seine Todesstunde beseligt hat. Und wenn es dir nicht gegeben sein sollte, die unlöschbare Flamme in Ausnahmsgeistern leuchten zu sehen und glimmen selber da, wo ihr geflissentlich Hohn gesprochen zu werden scheint, so wirst du ihren warmen Strom doch spüren in jedem guten Menschenherzen. Die Güte, deren Namen selbst unsere Sprache von Gott entnommen hat, ist das reinste Ideal.

Es sind Feiglinge, mein Sohn, und sie waren es seit Jahrtausenden, die da sagten und sagen: Nichts lieben und nichts glauben, nichts erstreben noch ersehnen als die Ruhe des Nichts heiße weise sein und einzig Erdenglück. Schwächlinge und Ärmlinge! Die Ärmsten unter uns! Sie kennen unseren Reichtum nicht einmal, unseren Reichtum selbst in der Traurigkeit, die kein Menschenglück und keine Menschenweisheit löst, weil sie das ewige Erbteil ist, das den Menschen erst zum Menschen macht.

Kämpfe darum mutig, mein Sohn, und scheue der Wunden nicht, um das, was du in dir trägst, zu behaupten im Gestritt der Welt. Denn nur dieses Eigenste ist dein Glück. Das holde Gestirn, an dem wir die Sonnenkraft [657] ermessen, es hat auch über deiner Wiege gestanden und wird dich leiten durch das Leben, bis es als Abendstern dir leuchten wird dort hinüber, wo wir mit reiferen Sinnen das Wandelbare zu erfassen und mit tieferem Sinn das Unwandelbare zu ergründen hoffen.

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TextGrid Repository (2012). François, Louise von. Romane. Stufenjahre eines Glücklichen. Stufenjahre eines Glücklichen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B21B-6