Karl Emil Franzos
Leib Weihnachtskuchen und sein Kind

1

[96] I

Wer im Waggon von Lemberg nach Czernowitz dahinfährt, mag leicht versucht sein, Ostgalizien für menschenärmer zu halten, als es ist. Meilenweit öde Heide oder dürftiger Ackerboden, einige Hütten in der Ferne, aber selten ein großes Dorf. Anderwärts kann der Reisende oft aus der Lage der Hütten, der Form der Gärten erkennen, wie gewalttätig die Bahnlinie hindurchgeführt worden. Hier ist dies wohl nur an einer Stelle so: wo das Dampfroß von Halicz weg, dem uralten Flecken, der dem Land den Namen gegeben hat, weiter gegen Südost eilt und die Gemarkung des Dorfes Winkowce berührt. Da sieht man zur Rechten einen stattlichen Bauernhof, schief zur Bahn gestellt, zur Linken den großen Obstgarten. Hier hat der eiserne Strang ein blühendes Anwesen entzweigeschnitten.

Der Besitzer jenes Hofs war ein ruthenischer Bauer und hieß Janko Wygoda. Das ist eigentlich ein komischer Name: »Hans Bequemlichkeit«, aber er wird keinem Landeskind so erscheinen, schon weil er überaus häufig ist. Wer das Geschick dieser armen Menschen erwägt, könnte glauben, daß dies eine Art Notbehelf ist, damit man unter ihnen doch wenigstens etwas finde, was an Wohlleben erinnert. Aber Wygoda heißt auch ein die Straße kürzender Feldweg, dessen Benutzung den Nachbarn gestattet wird; der Name haftete am Grundstück und ging, als Kaiser Josef die Familiennamen einführte, auf den Besitzer über. Freilich heißen heute, bei dem ungemeinen Niedergang dieses Bauernstandes, schon viele Hunderte so, die keinem Menschen mehr etwas zu gestatten oder zu verbieten haben.

Unser Janko Wygoda hatte es besser; er saß auf dem Erbe seiner Vorfahren, aber hart genug war es ihm geworden. Vielleicht rettete ihn nur seine Häßlichkeit vor [96] dem Verderben. Vater und Mutter waren die lustigsten, leichtsinnigsten, durstigsten Menschen in der Gemeinde und von jenem Schlag, den man so oft in diesem reinblütigsten Slawenstamm findet, dem nur einige Tropfen Mongolenblut eingemischt sind: groß, stark, fettleibig, mit blondem Kraushaar und wasserblauen Augen. Und diesem Paar legte das Schicksal einen kleinen schwarzen Mongolen in die Wiege. Die Nachbarn lächelten, selbst der Pope unterdrückte bei der Taufe den Witz nicht, den Wurm gehörig unter Wasser zu setzen: »Das Teufelchen kann's brauchen!« Die Mutter weinte, der Vater tröstete: »Vielleicht holt der Teufel den Wechselbalg wieder ab, und Gott schenkt uns ein christlich Kind!« Beide Wünsche erfüllten sich nicht; Janko blieb der Einzige und gedieh zu einem kräftigen, sehnigen, freilich hageren und kleingewachsenen Knaben, dem im gelblich blassen, von straffem, schwarzem Haar umstarrten Antlitz die schief geschlitzten, scheu blickenden Augen standen. Wohl das Häßlichste an diesem Antlitz war der Ausdruck dumpfen, traurigen Trotzes; selbst die Hohnreden der Nachbarn, die Schimpfworte der Mutter, die Fußtritte des Vaters hatten den Janko nicht heiterer gemacht.

Aber tüchtiger und arbeitsamer. Er hielt sich an die Knechte, weil ihn diese nicht schlugen, arbeitete rastlos auf den entlegensten Äckern, wohin der Vater nie kam. Allmählich freilich konnte er sogar den Garten am Hause betreten, ohne dem Alten zu begegnen; der hatte zuviel Geschäfte außerhalb. Des Vormittags mußte er zu einem der drei Wucherer gehen, in deren Hände er geraten war, dem Gutsherrn von Winkowce, Wladislaus von Paterski, dem armenischen Pächter der Haliczer Herrschaft, Stefan Kastanasiewicz, und dem Juden Moses Erdkugel in Halicz. Die drei Männer übten ihre Wohltaten zu demselben Zinsfuß, fünfzig, hundert und, wenn es sein konnte, zweihundert Prozent; aber nur der würdige Erdkugel war bereits wegen Wuchers bestraft. Und mit Recht, denn er hatte sein Geschäft offen betrieben und jene Rücksicht vergessen, die man befreundeten Beamten schuldet. Der Pole und der Armenier übten diese Rücksichten, und darum waren sie Ehrenmänner; auch Hritzko Wygoda ging lieber zu ihnen und zum Juden nur, wenn es sein mußte. Das war [97] seine Arbeit am Vormittag; des Nachmittags betrank er sich in der Schenke, des Abends mußte ihn Janko mit Hilfe eines Knechts heimschleppen.

Das waren die einzigen Begegnungen zwischen Vater und Sohn, und sie liefen friedlich ab, weil der Alte besinnungslos war. Als Gast betrat Janko niemals die Schenke und war achtzehnjährig geworden, ehe der erste Tropfen Schnaps seine Lippen netzte. Auch das war gegen seinen Willen geschehen; er brach an einem glühheißen Tage vor allzu großer Anstrengung auf dem Felde zusammen; die Knechte wollten den Ohnmächtigen durch den Trunk wieder ermuntern; mehr als der brennende Geschmack brachte ihn der Abscheu vor dem wohlbekannten scharfen Duft wieder zum Bewußtsein.

Sooft er auch sein Schicksal verfluchte, für eines war er ihm dankbar: daß ihn die Eltern nie zur Schenke mitgenommen, weil sie sich seiner Häßlichkeit geschämt. Das war gut; er konnte die Wirtschaft aufrecht halten. Freilich war alles nutzlos, solange sie lebten; die Mutter ließ das Hauswesen verfallen, der Vater verkaufte die Frucht auf dem Halm und schaffte selbst das nötigste Gerät nicht an; aber sie mußten ja bei solcher Lebensführung ein frühes Ende nehmen. Er hatte sie als Kind gehaßt, solange er sie gefürchtet; als Jüngling ging er mit stumpfem Gleichmut neben ihnen her; er wünschte ihren baldigen Tod nicht, aber das mußte ja kommen, wie auf den Herbst der Winter folgt.

Und dann war er der Herr und alles gut. Daß in Wahrheit alles verloren war, daß eigentlich kein Halm mehr dem Vater gehörte, sondern jenen drei Wohltätern, wußten mehrere im Dorfe, er nicht, den es zunächst betraf. Der Vater war den Wucherern Geld schuldig, das mußte dann eben zurückgezahlt werden; Schlimmeres ahnte er nicht. Wer auch hätte es ihm sagen sollen? Er sprach mit keinem mehr als das Notwendigste, hatte keinen Freund. Die Leute verhöhnten den Wechselbalg und Duckmäuser, einige mochten das arme traurige Arbeitstier vielleicht bemitleiden, gingen ihm aber doch gern aus dem Wege. Ebenso seine Knechte; er war ja als Herr gerecht, mutete keinem so viel zu wie sich selbst, aber sie atmeten doch auf, wenn er ihnen den Rücken kehrte. Ihm jedoch waren [98] eigentlich alle Leute im Dorfe gleichgültig, bis auf einen, den er grimmig haßte, den Pächter der Schenke, Leib Weihnachtskuchen.

Wieder ein seltsamer Name, und auch er ist nicht vereinzelt. Gleich anderen, ähnlichen Namen unter den Juden des Landes erklärt er sich daraus, daß die Beamten, die sie ihnen aufnötigten, witzige Herren waren. Aber dem Großvater des Leib tat der Name schwerlich wehe, und auch er selbst hatte größere Sorgen. Ein kleines, armseliges, verknittertes Stückchen Menschheit, das immer mit einer scheuen, demütig fragenden Miene umherschlich, als wollte es die Leute anflehen: Nicht wahr, du hast doch nichts dagegen, daß Leib Weihnachtskuchen lebt?! Kein Schenkwirt in Podolien nimmt es seinen Gästen übel, wenn sie ihn »jüdisches Hundsblut« nennen und an den Wangenlöckchen zerren; Leib ließ sich, wenn's sein mußte, noch ganz anderes gefallen. Aber dazu kam es selten; im Gegenteil, er wurde von seinen Gästen besser behandelt als die meisten andern Wirte. Erstlich hatten sie Mitleid mit dem kränklichen Männchen; ferner war zum Neid kein Grund; er war so arm wie kein Knecht in Winkowce und hungerte mit Weib und Kind öfter, als er satt wurde. Denn wohl ging die Pacht auf seinen Namen, aber Herr Paterski, dem die Schenke gehörte, hatte »aus Barmherzigkeit« auf die Kaution verzichtet, Moses Erdkugel die Vorräte angeschafft, und nun hielten ihn die beiden für immer in den Krallen. Endlich aber war der Mensch so dumm; wäre er kein Jude gewesen, sie hätten ihn für ehrlich gehalten; er wässerte den Schnaps nicht, gebrauchte keine doppelte Kreide, munterte niemand zum Trinken auf, und wenn ihn jemand um Vermittlung eines Darlehens bei seinen eigenen Wohltätern ersuchte, mahnte er – bei Hritzko war's freilich vergeblich gewesen – gar davon ab. Nein, dem Leib taten sie nichts.

Nur Janko haßte ihn glühend, weil sich ihm in dem kleinen Menschen die beiden Verderber seiner Eltern verkörperten, der Schnaps und der Wucher. Leib wußte dies, und wenn der Jüngling des Abends die Schenkstube betrat, den Trunkenen zu holen, schlich er nach scheuem Gruß in die Ecke und wich ihm auf der Straße weit aus. Einmal aber war kein Platz dazu, und das sollte ihm schlecht bekommen.

[99] Auf jener Wygoda war's, von welcher der Name der Familie rührte, und an einem kalten, nebligen Novembertag. Zähneklappernd eilte der Kleine in seinem dünnen, geflickten Kaftan den schmalen Steg dahin, der über einen künstlich erhöhten Damm führte; rechts und links waren sumpfige Wiesen, die nur im Hochsommer zur Weide dienten, nun aber unter Wasser standen, über das der erste Frost eine dünne Eisdecke gelegt. Da tauchten aus dem Nebel die Umrisse eines Menschen, der ihm entgegenkam; er erkannte seinen Todfeind und blieb zitternd stehen. »Aus dem Weg!« rief der Janko, »für Juden ist die Wygoda nicht geöffnet!« – und er hob die Faust. Leib wollte dem Hieb ausweichen, strauchelte dabei und kollerte den Abhang hinab, die Eisdecke brach unter ihm. »Hilfe!« schrie er in Todesangst auf. Aber Janko ging weiter, einem Hund hätte er herausgeholfen, dem Leib nicht. »Hilfe!« klang es noch einmal, schon schwächer; der Bursche hielt an, sein Herz begann zu pochen, dann setzte er seinen Weg fort. Ertrinken wird er nicht, dachte er, dazu ist das Wasser zu seicht! Und wenn auch – hab ich ihn hineingeworfen?! Aber das Herz schlug ihm nun so arg an die Rippen, daß er doch nach einer Weile anhalten mußte.

Er blickte zurück, die Dämmerung war eingebrochen, die Nebel wogten dichter, weit und breit war kein Laut als das leise Krachen des Eises im Sumpfland. Da kam's wieder – ein Röcheln nur und wie aus weiter Ferne, aber er hörte es doch deutlich: »Hilfe!«, und er eilte zurück. Aber als er jener Stelle nahe kam, vernahm er den Klang anderer Stimmen: zwei Männer des Dorfes, sie brachten den Leib auf den Armen dahergeschleppt. »Ist er tot?« fragte Janko. »Wahrscheinlich!« erwiderte der eine, und der andere fügte mitleidig bei: »Wer mag nur das arme, kleine Hundsblut hinuntergestoßen haben? Es hat doch keinem was getan!«

Leib war nicht tot, aber lange Wochen lag er in hitzigem Fieber, zwischen Leben und Sterben. Aus seinen Delirien erfuhr man, wie sich der Unfall gefügt. Die Eltern, ja alle Leute im Dorf überhäuften Janko mit Vorwürfen, das ließ ihn kalt. »Hab ich ihn hineingeworfen?« erwiderte er anfangs und dann nicht einmal dies.

Aber etwas anderes traf ihn: wenn er des Abends in die [100] Schenke trat und die Frau des Juden ihn anblickte; das bleiche, verhärmte, früh gewelkte Weib sprach kein Wort, aber dieser drohende, verzweiflungsvolle Blick, ließ ihn erbleichen. Seine schlimmsten Augenblicke jedoch hatte er, wenn er des Tags das einzige Kind des Schenkwirts, die kleine, blondlockige Miriam, vor dem Hause sah – sie war sonst so lustig gewesen und saß nun still da und ließ das Köpfchen hängen ...

Vor allem dieser Anblick war's, der den Janko zu einem für ihn schweren Entschluß brachte.

Nächst dem Juden war ihm der Pope der verhaßteste Mann im Dorfe, schon jenes Taufwitzes wegen, aber auch weil der hochwürdige Vater Jephrem täglich von Mittag ab betrunken war. Nun ging er zu ihm hin und bestellte um zwei Zwanziger eine Messe »für das Leben eines Kranken«.

»Schön!« sagte Jephrem. »Er wird gesund!«

»Auch wenn es ein Jude wäre?« fragte Janko.

»Nein!« rief der Hochwürdige, besann sich aber sofort. »Auch dann, nur dauert's dann länger! verstehst du? natürlich! Auch kostet es dann drei Zwanziger!«

Es kam so, wie der Hochwürdige versprochen. Leib Weihnachtskuchen wurde gesund, nur dauerte es etwas lange.

Als Janko hörte, daß der Kleine wieder in der Schenkstube sitze, ließ er den Vater durch die Knechte heimschleppen, er vermied die Begegnung. Wozu? dachte er. Am Ende gibt's Streit! Und wie wird er mich nun ohnehin bei allen anschwärzen!

Aber damit kam's anders, so ganz anders, daß es der Jüngling zunächst gar nicht fassen konnte. Da trat bald der eine, bald der andere auf ihn zu: »Du, ich habe dir Unrecht getan, der Leibko sagt ja, daß du dran unschuldig warst.« Selbst Hritzko bestätigte es in seiner Art: »Du gehst ewig herum, als hättest du Würmer gefressen, du Wechselbalg, gönnst deinem alten Vater kein Schlückchen, aber ein Mörder wenigstens bist du nicht!« ...

Wie ist das möglich, dachte Janko, der Jude lügt ja zu meinen Gunsten. Dahinter steckt was! Und als er eines Morgens an der Schenke vorbeiging, trat er ein, von einer seltsamen Empfindung getrieben, von Trotz, Reue und [101] Dankbarkeit zugleich.

Er war etwas bleich, als er eintrat, aber noch bleicher wurde der Jude bei seinem Anblick. Dann fragte er zitternd, ob der Pan Janko vielleicht ein Gläschen befehle.

»Dein Gift brauch ich nicht!« stieß dieser hervor. »Aber wissen will ich, warum du so lügst?! Du bist ja meinem Hieb ausgewichen, ich bin an deinem Unglück schuldig!«

»Warum -–?!« fragte der Jude erschreckt. »Verzeiht, Pani Janko, es war ja gut gemeint!«

»Eben darum! Das verdien ich nicht!«

Nun verstand ihn erst der andere. »Laßt das meine Sorge sein«, sagte er mit seinem traurigen, demütigen Lächeln. Und erst, als Janko in ihn drang, meinte er: »Das ist nicht so leicht gesagt. Erstens, was nützt es mir, wenn ich mich an Euch räche? Sind dadurch die sechs Wochen Krankheit ausgelöscht, und kann ich dadurch plötzlich gesunder sein, als ich leider jetzt bin? Und dann, wer bin ich? Ein armer, schwacher Jud! Und Ihr seid ein starker Christ! Ihr hasset mich ohnehin, soll ich Euch reizen, daß Ihr mich am Ende totschlagt? Dann kämet Ihr ins Kriminal, Pani Janko, aber davon könnten mein Weib und Kind nicht satt werden. Aber auch die Furcht allein war's nicht, sondern daneben ...« Er stockte. »Aber Ihr werdet böse werden, wenn ich das sage!«

»Nein, sprecht nur!« Unwillkürlich hatte der Jüngling die Form seiner Anrede geändert.

»Es war ... Also ... Ich bin ein unglücklicher Mensch, Pani Janko, ewig die Not, und jeder tritt auf mir herum, aber ich hab doch mein Weib und meine Miriam ... Ich kenn einen im Dorf, der ...«

»Da irrt Ihr Euch!« rief der Jüngling heftig. Und trotz seines Versprechens fuhr er zornig fort: »Ich brauch Euer Mitleid nicht ... Ich werde noch einmal die Wirtschaft aufrichten!«

Der Jude schüttelte den Kopf. »Das werdet Ihr nicht, Pani Janko!«

»Warum nicht?!« rief dieser. »Weil du dem Vater zuviel Gläschen einschenkst und zuviel Wechsellohn zwischen hier und Halicz hin- und herträgst?!«

Der kleine Mann wich zurück, sein blasses Antlitz rötete sich. »Bei Gott dem Gerechten!« rief er, »da tut Ihr mir [102] Unrecht! Ich hab nie ermuntert, immer abgehalten. Freilich, ich schenke Schnaps, vermittle Geschäfte! Aber wenn nicht ich, da tut's ein anderer! Und ferner: Geld– Schnaps – beides Gift, sagt Ihr, es richtet die Leute zugrunde. Aber dann ist das Messer in Eurem Gürtel da auch Gift, denn man kann sich damit den Hals abschneiden. Ihr gebraucht es fürs Brot, wohl Euch – aber das Messer wäre auch an Eurem Tod nicht schuldig! Freilich, gefährlich sind alle drei, Geld, Schnaps und Messer. Aber was red ich da – Ihr versteht mich doch nicht!«

Nein, Janko verstand ihn nicht, wenigstens nicht ganz. Aber soviel begriff er doch: er hatte diesem Menschen Unrecht getan. »Hm ... das mit dem Messer ...«, murmelte er verlegen und fragte dann: »Warum glaubt Ihr, daß ich die Wirtschaft nicht wieder in Ordnung bringe?«

Der Jude zuckte die Achseln. »Was weiß ich?« murmelte er. »Ist es meine Wirtschaft? Vielleicht irre ich mich!« Und mehr war auch nicht aus ihm heraus zubringen.

Diesmal nicht, wohl aber im Lauf der Zeit. Denn Janko kam wieder, immer häufiger, bis er endlich im nächsten Winter fast täglich in der Schenke saß. Die Leute staunten darüber, denn er trank auch nun keinen Tropfen. Noch weniger freilich begriffen sie es, warum Leib mit diesem Gast, der ihm nichts zu verdienen gab, die Zeit vertrödelte.

In der Tat begriff das der Jude manchmal selber nicht. Janko kam zu ihm, weil er allmählich das Gleichnis vom Messer verstanden, den Haß, der ihn wie eine fixe Idee von Kindesbeinen beherrscht, abgetan hatte, weil er hier erfuhr, wie es um ihn stehe, und beraten konnte, wie das Verhängnis noch abzuwenden sei. Aber Leib?! »Vielleicht mach ich noch einmal Geschäfte mit ihm!« suchte er sich und sein Weib zu beschwichtigen, denn er wußte ja: nach des Vaters Tod war dieser Mensch ein Bettler; seit ihm das Weib gestorben war, trieb es der Hritzko womöglich noch wüster. Und die Wahrheit, daß es aus Mitleid geschah, wagte sich der Jude kaum einzugestehen; durfte er, der arme Mann, soviel Zeit verschwenden?! Da ersann er sich lieber gleich noch einen Grund, der zum mindesten wahr war: »Und er ist so freundlich zu dem Kind!« In der Tat war die kleine, damals zehnjährige Miriam das einzige [103] Wesen, das den düsteren Menschen zum Lächeln bringen konnte, und wochen lang konnte er sich mühen, bis er ihr mit ungeübter Hand ein neues Spielzeug angefertigt hatte. Denn etwas zu kaufen, fehlte ihm das Geld. »Bis ich's habe!« sagt er, und Leib lächelte gutmütig und dachte: Auf Erden nicht, vielleicht im bessern Leben!

Im nächsten Frühling – der Jüngling war damals einundzwanzig Jahre alt – starb Hritzko, wo er gelebt: in der Schenke. Die drei Wucherer klagten die Wechsel ein, der Termin der Feilbietung wurde angesetzt, ungewiß war nur, welcher von ihnen den Hof erstehen werde. Vergeblich lief Leib in Jankos Auftrag vom Edelmann zum Armenier, vom Armenier zum Juden, Schonung zu erflehen.

Da begab sich ein Wunder; gerade der Schlimmste von ihnen, Herr von Paterski, warf eines Tages den Juden nicht, wie gewöhnlich, gleich hinaus, sondern hörte ihn an und sagte dann: »Wenn der Janko wirklich ein so fleißiger Mensch ist, so könnt's ich ja mit ihm versuchen. Schick ihn mir!« Nie hat ein Mensch in Winkowce den Weg vom Gutshof ins Dorf so rasch zurückgelegt als damals Leib mit seinen kurzen, krummen Beinen.

Auch Janko war betäubt von dem unerwarteten Glück und fühlte sich wohl zum ersten Mal im Leben selig, als ihm der Edelmann sagte: »Wohl, ich will das Gut für dich zu halten suchen.« Aber das Wunder klärte sich sehr natürlich auf, als er seine Bedingungen kundgab; er wollte offenbar nur die Kosten des Kaufvertrags sparen, das Gut ohne Aufwand in bessern Stand bringen lassen, denn die großen Zinsen und Amortisationen, die er vorschrieb, ließen sich nach menschlicher Voraussicht nicht aus dem verwahrlosten Anwesen herausschlagen, und hielt Janko eine einzige Rate nicht ein, so war alles verloren.

Der junge Bauer verstand das nicht, um so klarer der kleine Jude. Verstört schlich er umher und flehte dann den Jüngling an, nicht zu unterschreiben.

»Ich bin ja ein Narr, daß ich abrate!« jammerte er. »Drei Gulden verspricht mir Paterski für das Geschäft, zwei Gulden wenigstens wirst du mir geben – fünf Gulden sind ja ein Vermögen! Und unterschreibst du nicht, so will er mich aus der Schenke jagen. Aber grad das hat mir die Augen geöffnet! Geh lieber als Knecht in die Fremde, du [104] bist tüchtig, bekommst guten Lohn, heiratest vielleicht eine Erbtochter – und wenn auch das nicht, weil du leider gar so häßlich bist – alles besser als dieser Vertrag. Mit mir mag geschehen, was Gott will – hat er mich einen solchen Narren werden lassen, so muß er mich auch versorgen!«

Aber Janko blieb dabei, es werde schon glücken, unter Fremde wolle er nicht.

»Weil sie dich hier so gern haben!« rief der Jude. »Wen hast du hier?«

»Mein Erbe! Und dich! Und dann – siehst du! ich habe mich so daran gewöhnt –, mir fehlt etwas, wenn ich dein liebes Kind nicht lachen höre!«

»O du Narr!« rief Leib. Aus der Ecke aber kam die kleine Miriam hervorgestürzt, das sonst so fröhliche Gesichtchen von Tränen überströmt, und rief schluchzend: »Bleib, Janko, ich hab dich so lieb! Und sonst spielt niemand mit mir!«

Und so wurde der Vertrag unterschrieben.

Aber er wurde auch eingehalten. Monat für Monat konnte Leib dem Herrn die fällige Rate überbringen. »Mir scheint«, sagte Herr von Paterski argwöhnisch, »du holst es beim Armenier oder gar beim Erdkugel; diese elenden Menschen arbeiten ja jetzt, mir zum Trotz, zu neunzig Prozent!« Er irrte; Janko brachte das Geld selbst auf, durch gute Ernten begünstigt, aber doch unter unsäglichen Mühen. Kein Knecht hätte sich so nähren, so kleiden mögen; selbst die Hütte war an den Hilfsprediger vermietet, den Vater Jephrem bezahlen mußte, weil er selbst jetzt nur noch in aller Frühe nüchtern war; Janko schlief sommers und winters im Stall. Und so gearbeitet hatte noch niemand in Winkowce; morgens war er mit den Hühnern auf und sank erst spätabends auf das armselige Lager. »Unsere Hunde haben's besser«, sagten die Nachbarn verächtlich, denn sein Tun erschien ihnen nicht bloß eines Hofbesitzers unwürdig, sondern auch töricht: wie konnte ein Mensch seinem Schicksal entgehen wollen?! Nur die Mitleidigsten fragten zu weilen auch: »Wie kann man ein solches Leben ertragen?«

Hörte Janko davon, so lächelte er nur: er hatte sich in diese Anstrengung und Entbehrung hineingewöhnt wie andere ins Prassen, und dann fehlte es ihm ja auch an [105] Freuden nicht. Er hatte täglich eine gute Stunde, von elf bis zwölf, die Mittagsstunde in Ostgalizien, wo alle Arbeit ruht; da saß er in der Schenke, aß sein Brot, trank Wasser dazu und unterhielt sich mit dem Leib und der Miriam. Spielsachen brachte er ihr nicht mehr; er hatte nun keine Zeit zum Anfertigen, sie zum Spielen; die Zwölfjährige mußte der Mutter in der Wirtschaft beistehen. Aber sie lachte noch wie früher, und ihm leuchtete das düstere Antlitz, sooft er dies Lachen hörte; um das Kind zu erheitern, fiel sogar ihm zuweilen ein Scherz ein; es kam ihm selbst hinterdrein sonderbar vor, aber es war so. Die Miriam konnte ihn zu allem bringen, sogar sich zuweilen Fleisch oder einen neuen Kittel zu gönnen, aber sie tat's nur, wenn sie wußte, daß das Geld für den nächsten Ersten beisammen war.

Vielleicht dankte er dieser einen Tagesstunde die Kraft, daß daran nie ein Heller fehlte, bis ein volles Sechstel abgezahlt war. Nun begann auch der kleine Leib zu hoffen. Sein Weib wurde immer kränklicher und siechte endlich sichtlich an der Auszehrung dahin, Not und Sorgen drohten ihm über den Kopf zu wachsen, aber er hatte noch immer Zeit, sich um den Janko zu kümmern.

»Ich bin ein Verbrecher gewesen«, sagte er ihm, »weil ich dir vor fünf Jahren nicht noch mehr abgeredet habe, aber nun will ich mir das Gewissen erleichtern. Denn du bist dem Paterski jetzt doch schon etwas weniger schuldig, als dein Hof wert ist; nun findet sich wohl ein braver Mann, der dich aus seinen Klauen erlöst und dir geringere Zinsen abnimmt.«

Ein solcher Mann fand sich wirklich, der Pope von Solince, der Vater jenes Hilfspriesters, der bei Janko wohnte; er tat's, weil das Geschäft sicher schien und der Sohn seinen Hausherrn pries, schon zu zwanzig Prozent; für Galizien ist das kein Wucherzins.

Freilich wußte Paterski, wer ihm das schöne Geschäft verdorben hatte. »Warte nur, Weihnachtskuchen«, herrschte er den Kleinen bei der nächsten Begegnung an, »ich backe dir zu Neujahr eine Pastete, an der du ersticken sollst«

Leib kam sehr bestürzt heim, aber bald faßte er Mut und konnte sogar zu seinem Weibe ein Witzchen darüber machen, [106] freilich war's dünn und schüchtern wie er selber: »Aus einem anderen lassen sich nicht so viel Rosinen herauspressen; er kündigt mir nicht – und bis zu Neujahr sind's vier Monate!«

Die Frau jammerte: »Du opferst dich für diesen Janko! An mich und das Kind denkst du nicht!« Er schwieg eine Weile und ließ das Wetter austoben, sagte dann aber schüchtern: »Vielleicht – vielleicht mach ich mit dem Bauern noch einmal ein gutes Geschäft.«

»Aber wie denn?« rief sie.

Und darauf verstummt er wieder, denn das Wie war auch ihm nicht klar.

2

II

Einige Wochen später wiederholte sich dies Gespräch. Es war an einem Montagvormittag; Chane zählte die Anzahl Gläschen zusammen, die auf der Schiefertafel hinter der Barre vom Tag vorher verzeichnet standen; die Summe war ein glänzender Beweis für den Durst der Leute von Winkowce. Und obendrein waren sogar drei Gulden bar eingenommen worden. »Wir könnten uns vielleicht halten!« klagte sie, »und nun müssen wir dieses Janko wegen hinaus.«

»Ich hoffe«, tröstete Leib, »daß uns Paterski doch da läßt. Ein anderer läßt sich doch nicht so viel von ihm gefallen. Und der Janko – siehst du ...«

»Nun?« rief sie ungeduldig, als er innehielt.

»Er ist schon sechsundzwanzig geworden«, sagte er zaghaft, »ein tüchtiger Mensch, ein großer Hof – gib acht, Chane, das trägt zehn Gulden!«

»Nicht zehn Kreuzer«, rief sie. »So alt und häßlich ist keine, daß sie diese Vogelscheuche nimmt! Das weißt du selbst sehr gut, willst dich aus Güte für ihn abplagen und, belügst nur dich und mich, daß es auch ein Geschäft für uns ist.«

Der Kleine schwieg verlegen, wie immer, wenn er seine schwarze Seele enthüllt sah, dann versuchte er doch zu widersprechen.

»Unsinn!« schnitt sie ihm in die Rede. »hast du Zeit, so [107] such lieber einen Bräutigam für unsere Miriam.«

Weihnachtskuchen riß Mund und Augen weit auf. »Was – was fällt dir ein«, murmelte er bestürzt. »Das ist ja noch ein Kind!«

»Bald sechzehn ist sie«, erwiderte Chane. »Sieh sie dir doch nur an!« Und sie wies in den Hof hinaus, wo Miriam eben die Wäsche zum Trocknen aufhängte.

Sein Blick folgte ihrer Hand und wurde immer starrer, je länger er hinblickte. Dann seufzte er tief auf.

»Nun!« fragte Chane ungeduldig.

Aber der Kleine konnte noch nichts erwidern; der jähe Schreck preßte ihm die Kehle zu. Und doch war der Anblick, der sich ihm bot, so schön: ein reines, kraftvolles Menschenkind in der ersten schwellenden Blüte. Aber das eben war's! Wie so das Mädchen auf den Zehen dastand, das dürftige Röckchen hoch aufgeschürzt, daß darunter das kräftige, runde Bein sichtbar wurde, den Leib zurückgebeugt und die Hände zur Leine erhoben, daß das hochgewölbte Rund des jungen Busens unter dem groben Hemde straff hervortrat – war das noch seine kleine Miriam, wie er sie seit langen Jahren mit denselben Augen zu sehen gewohnt war?! ... Das muß über Nacht gekommen sein, fuhr es ihm durchs Hirn; daß es nur an seinen Augen lag, den stumpfen Augen, die immer nur nach einem Stückchen Brot umherspähen oder sich ängstlich vor einem drohenden Faustschlag schließen mußten, die armen Augen, die für dies holdeste, natürlichste Wunder um ihn her keinen Blick haben konnten, kam ihm gar nicht zu Sinne ...

»Was starrst du so hin?« rief Chane zornig. »Wie sie aussieht, weißt du ja!«

Er konnte nur nochmals tief aufseufzen. Ja, jetzt wußte er's. Und als sich das Mädchen draußen nun wieder auf den Zehen erhob, das nächste nasse Hemde über die Leine zu hängen, und abermals jede Linie des blühenden Leibes hervortrat, fuhr dem Männchen ein Glutstrom über das graue, faltige Gesicht. »Chane«, murmelte er, »sie sollte eine – eine Jacke anziehen und – und den Rock nicht so aufschürzen«, ergänzte er verschämt.

»Narr!« brach sie gellend los. »Ist das alles, was du zu sagen hast? Soll sie in einem Schleppkleid die Wäsche [108] besorgen? Und was schadet es ihr, wenn jemand sieht, daß Gott –gelobt sei sein Name! – sie so schön und dick und schwer hat werden lassen?!« Ein Anfall ihres bösen Hustens unterbrach sie; es währte lange, bis sie fortfahren konnte: »Schaden bringt's ihr nur, wenn's nicht die Rechten sehen: Leute, die einen braven Jungen haben ... Warum sorgst du nicht dafür?!«

Es war für den kleinen Mann gut, daß das Gespräch unterbrochen wurde; in die Schenkstube trat ein Bauer, den Chane zu bedienen ging; Leib konnte in der Schlafstube bleiben, die nach dem Hofe lag, und die Gedanken im wirbelnden Hirn zu ordnen suchen. Wenn er dabei nur nicht immer nach der Tochter hätte blicken müssen! – Der Anblick befremdete und beklemmte ihn immer, wieder.

Kein Kind mehr – das war alles, was er zunächst dachte. Dann erst kam, winzig, schüchtern und allmählich aufschwellend, ein Hauch von Stolz und Glück in dies vergrämte, zertretene Gemüt: Chane hat recht, sie konnten Gott danken, daß Miriam so geworden war, nicht bloß gesund, sondern auch schwer und dick! Das heißt: nicht etwa unförmlich, kein Fettklumpen, wo ihm ein Vater, dem er sie antrug, hätte antworten können: So eine Frau noch weiter aufzunudeln, ist mein Sohn nicht reich genug, – aber saftvoll und quellend, wie eine eben gereifte Birne, und dabei so wuchtig, daß sich im Hofe – er sah es deutlich – kein Grashalm mehr regte, auf den der nackte braune Fuß getreten war, sondern für immer zerdrückt am Boden haftete.

»Ein schweres Mädchen« – das ist das Schönheitsideal dieses Volkes, das es, gleich so vielem, was seine Seele erfüllt, sie beflügelt und niederzieht, aus der fernen, heißen, auf ewig verlorenen Heimat mitgebracht hat. Miriam war schwer und schon darum schön, aber als sich nun Leib ihr Antlitz besah, so gespannt und aufmerksam, als tauchte es heut zum ersten Mal vor ihm auf, war er offenbar auch davon entzückt; er schloß die Augen, wiegte den Kopf hin und her; ein stolzes Lächeln glomm um die dünnen, blassen Lippen auf und hob die sonst abwärts geneigten Mundwinkel. Doch auch ein minder befangener Richter hätte an diesem frischen, runden Gesicht seine Freude haben mögen: die Züge freilich derb, aber wohlgebildet; über dem stark [109] hervorspringenden, eigensinnigen Kinn der kräftige, rote Mund; die Nase fein geschwungen; die großen, runden braunen Augen strahlend von unschuldigem Feuer und Frohsinn; um die niedrige Stirn die Fülle des rötlichen, natürlich gelockten Haars, das sich schwer zu Zöpfen fügte und im Sonnenlicht wie ein schwankender, schimmernder Schein um das Haupt wob. Dies helle Goldrot ist unter den Jüdinnen des Ostens sehr selten; sie sind, wenn hellhaarig, fahlblond oder fuchsrot; aber der Schnitt der Nase, das Feuer der Augen erwies deutlich, welchen Blutes sie war.

Das übersah der beglückte Vater; im Gegenteil – sie sieht gar nicht wie ein jüdisch Kind aus! dachte er, und die Mundwinkel hoben sich noch stärker. Wer wollte den Ärmsten, dessen ganzes Leben ihm mit Geißelhieben die Erkenntnis ins Hirn geschrieben hatte, daß »jüdisch aussehen« ein Unglück, die sichere Anweisung auf tausendfachen Schmerz und Schimpf sei, um dieser Schwäche willen schelten! Und nun fiel ihm auch bei, was ihm der alte reiche David Münzer, der Besitzer der Sägemühle bei Halicz, einige Tage vorher, als er vor dem Hause angehalten und sich von Miriam als Labung in der Sonnenglut ein Glas essigsauren Moldauers hatte reichen lassen, lächelnd gesagt: »So was gedeiht nur im Dorf!« Auch Herr von Paterski hatte ihm einmal zugerufen: »Leibko, deine Chane hat dich betrogen! Das kann nicht deine Tochter sein!« Er hatte es nur eben für ein Witzchen des Herrn gehalten – damals, wo er das Geschäft zwischen dem Popen von Solince und dem Janko noch nicht vermittelt, wandte ja der Gnädige zuweilen noch einen Scherz an ihn – jetzt glomm ihm der Sinn auf; er nickte befriedigt. Denn daß ihm seine Chane untreu gewesen wäre, daran dachte er ebensowenig, als daß etwa die Sonne jemals vom Himmel gefallen; er schloß daraus nur, daß auch der Edelmann das »christliche« Aussehen seines Kindes bemerkt.

Da irrte er freilich; Paterski hatte nur in seiner rohen Art das Staunen darüber ausdrücken wollen, daß dem schwächlichen Paar ein so kraftstrotzendes Kind beschieden war. Aber auch Chane war einst blühend gewesen und nur durch die allzufrühe Heirat, den Druck der Not rasch gewelkt – und zudem erweist sich die Lebensfülle dieses Stammes, dessen Zähigkeit mit nichts zu vergleichen sein würde, [110] wenn nicht sein Unglück fast ebenso groß wäre, gerade zumeist an den Frauen. Die jüdischen Jünglinge des Ostens schwächlich, klein, engbrüstig, ganz so, wie es ihre Lebensverhältnisse bedingen, aber die Mädchen stark, voll üppiger Kraft, rätselhaft anmutend in diesem Dunst und Moder mißachteter Armut und Niedrigkeit – aber zugleich jede eine Lösung des Rätsels, wie dies Volk all die ungeheure Drangsal hat überdauern können.

Horch! Der Kleine fuhr zusammen – nun sang sie bei der Arbeit. Schmetternd klang ihre helle Stimme in den sonnigen Herbsttag hinaus:


»Janko, komm nie wieder her,
Meine Mutter leid's nicht mehr!
Und mein Vater warnt: O Kind,
Weißt du nicht, wie Männer sind?«

Er kannte das Lied; jedes Mädchen im Dorfe sang es; auch von Miriams Lippen hatte er es oft gehört, ohne etwas dabei zu denken, obwohl die zweite Strophe nicht ganz harmlos war. Jetzt aber überkam's ihn: Sie singt ja auch ganz wie eine Christin! und dies, empfand er nicht mehr freudig. Chane aber trat in die Türe und rief scharf:

»Miriam, was hab ich dir am Freitag gesagt?! Du singst nicht mehr! Du bist zu groß dazu!«

Und als das Mädchen gehorsam verstummt war, wandte sie sich an den Mann: »Was sitzest du noch immer da?! Such lieber einen Verdienst, oder« – sie senkte die Stimme, daß Miriam sie nicht hören konnte-, »geh nach Halicz und sprich mit Mendele Schadchen.«

»Ja, ja!« sagte der Kleine und sah sich nach Mütze und Stock um. »Ich geh nach Halicz, ich hab dort ohnehin ein Geschäft. Aber mit Mendele soll ich reden?«

»Mit wem sonst?« höhnte sie. »Mit dem Popen? Es ist ja Mendeles Geschäft! Und bis du selber einen Eidam findest, bekommt sie graue Haare ... Bald sechzehn! Es schreit ja zu Gott!«

»Du hast recht«, sagte er begütigend. »Ich hab nur gemeint: weil Mendele so viel fordert ... Aber was soll ich ihm sagen?«

»Was du ihm sagen sollst?! Daß du ein Gut im Mond [111] kaufen willst!« Aber dann seufzte sie tief auf und ließ sich betrübt in einen Stuhl sinken. »Natürlich, Mendele wird ja nach der Mitgift fragen! Und wir haben nichts! Wir können ja nicht einmal anbieten, den Eidam für einige Jahre zu uns zu nehmen. Zu Neujahr kündigt dir der Paterski – im nächsten Sommer sind wir selbst Bettler!«

»Er wird mir nicht kündigen«, tröstete Leib. »Und wenn auch, so findet sich eine andere Pacht!« Und als sie nun unter heftigen Tränen, die jählings das welke Antlitz überströmten, den Kopf schüttelte, faßte er ihre Hand, und seine Stimme klang fast feierlich: »Weißt du nicht, was er kann? Er kann mehr, als den kleinen Leib eine andere Schenke finden lassen!«

»Wegen eines häßlichen Bauern!« stieß sie leidenschaftlich, kaum verständlich hervor, so sehr erstickten Groll und Tränen ihre Stimme.

Er versuchte zu lächeln. »Nun ja«, sagte er schüchtern, »häßlich ist der Janko und ein Bauer auch ... Aber«, fuhr er dann fort, und die Stimme festigte sich, und auf den vergrämten Zügen glomm es wie ein Leuchten auf, »um des Janko willen habe ich es ja nicht getan, sondern um seinetwillen. Hat er uns nicht befohlen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, auch wenn er ein Fremdling ist?! ... Und auch um meinetwillen hat es sein müssen! Siehst du, ich frage sonst nicht viel nach mir, so wenig wie die andern – alle, alle treten sie auf mir herum, und auch du, Chane, auch du bist ja gewiß immer recht – nun, unzufrieden bist auch du oft mit mir ... Aber dies eine muß mir bleiben.«

Sie hielt im Weinen inne und blickte auf; seine Stimme klang so seltsam voll, wie sie es kaum je zuvor an ihm wahrgenommen. »Was meinst du?« murmelte sie.

»Daß er mit mir zufrieden ist und daß ich ihm ins Auge schauen kann! Wenn ich so frühmorgens hier stehe« – er deutete auf das Fenster, das gegen Osten ging –, »die Gebetriemen um Stirn und Arm, und die rote Sonn geht drüben über Halicz auf und schaut zu mir herein, dann ist mir immer zumut, als schaute er mich an, durch und durch, und bis in mein tiefstes Herz hinein. Und während mein Mund die Gebete flüstert, spricht mein Herz: Da bin ich, Ewiger, ein schwergeprüfter Mann und dein geringer [112] Knecht, aber was ich dazu vermag, damit dein Name auf Erden durch Erfüllung deines Willens geheiligt werde, geschieht! Und um auch ferner so reden zu können, hab ich dem Janko die Sach mit dem Solincer Popen vermittelt. Glaubst du, er weiß das nicht? Vielleicht läßt er uns deshalb doch zugrunde gehen; sein Ratschluß ist unerforschlich; aber bis es geschieht, hoff ich auf seine Gnade. Sei getrost, Weib, er wird uns Brot und einen braven Eidam senden!«

Er setzte die Mütze auf das Haupt, das nach Sitte der Strenggläubigen glattrasiert und nur durch ein verschossenes Käppchen geschützt war, und faßte den Stock. »Leb wohl! Bis Abend bin ich zurück!«

»Noch ein Wort«, sagte sie.

»Über ihn?« fragte er abwehrend.

»Nein ... Mein Vater selig pflegte zu sagen: ›Sei klug und hilf dir selbst, dann hilft dir auch Gott!‹ Und mein Vater selig war auch ein frommer Mann ...Aber etwas anderes will ich dir noch sagen. Du kannst ja Mendele auch von unserer Absicht reden, den Eidam bei uns aufzunehmen, dem jungen Paar und, so Gott will, den Kinderchen für einige Jahre Unterhalt zu geben. Aber das darf nicht die Hauptsache sein. Denn erstens ist ja jetzt alles ungewiß, und selbst wenn es sich wieder ordnet, so finden wir doch schwerlich einen frommen, kräftigen, braven Jüngling, der sich in solche Armut hineinsetzen will. Der findet ja, wenn er sich mit der Kost als Mitgift begnügen will, leicht Besseres ...«

»Aber kein solches Mädchen!« wandte er ein.

»Sind wir Christen?« erwiderte sie. »Kennt man bei uns die ›Liebe‹? Heiratet man bei uns der Schönheit wegen? Wenn ein Mädchen brav und gesund ist, so fragt man nicht nach dem Gesicht! Darum mußt du Mendele vor allem fragen, ob er uns nicht einen weiß, der ein Mädchen mit Geld vergeblich suchen würde. Ich meine einen Witwer mit vielen Kindern, oder einen Mann, der Pflege braucht ...«

Er taumelte zurück, als hätte ihn ein Schlag getroffen. »Chane!« schrie er auf. »Unser blühendes Kind!«

»Glaubst du«, fragte sie mit zuckenden Lippen, »daß es mir leicht fällt? Aber hältst du für die größere Sünde gegen Gott: daß wir sie einem solchen Manne geben oder daß [113] sie ledig bleibt? Und was für ein größeres Unglück: daß sie durch einen solchen Mann versorgt wird oder mit uns betteln muß? Also – du mußt es Mendele sagen! ... Es muß ja nicht heute sein«, fügte sie bei, als sie sah, wie bleich er geworden, »aber geschehen muß es. Hörst du?«

Er nickte nur. »Dann lieber heut als morgen!« würgte er endlich hervor, und die krummen Beine hasteten vorwärts.

Aber nicht lange; als er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich hatte und das Wäldchen betrat, das sich an der Straße gegen Halicz hinzieht, schlich er immer langsamer dahin, und das Köpfchen mit dem dünnen, grauen Bart senkte sich immer tiefer auf die Brust. Endlich hielt er ganz an, blickte sich scheu um, als hätte er Heimliches vor, und schlich ins Wäldchen. Dort sank er auf dem Wurzelwerk einer Buche nieder und begann zu weinen – zu weinen – stromweise brachen ihm die Tränen aus den Augen und rannen über die gefurchten Wangen.

Das war eine Seltenheit bei dem Männchen; er hatte seit langen, langen Jahren nicht mehr geweint, seit jenem Tag vor fünfzehn Jahren, wo er sein einziges Bübchen begraben. Nur zweijährig war das Kind geworden, es hatte noch nicht sprechen gelernt, und doch war ihm sein Tod wie ein Schwert durchs Herz gegangen. Denn der Arzt hatte ihm gesagt, daß sei nem Weibe keine Mutterfreuden mehr gegönnt seien, und nur eine Tochter haben, keinen Sohn, der das Geschlecht fortsetzt und die Jahrzeit, den Todestag der Eltern, durch sein Gebet heiligt, ist das tiefste Weh, das den frommen Juden treffen kann. Er hatte nie geglaubt, daß ihm je ein ähnliches Weh zubestimmt sein könnte, und nun war es doch so gekommen ...

Leib Weihnachtskuchen weinte selten, und darum erleichterten ihm die Tränen auch diesmal das Herz, wie einst nach dem Begräbnis des Knaben. Und diesmal noch weit mehr, denn nun war's ja nur erst eine Gefahr für sein Kind, die ihn so schmerzvoll erschüttert, freilich weit mehr der Gedanke, daß er dazu verurteilt sei, die Gefahr mit eigener Hand auf das teure Haupt zu lenken. Aber er ersparte ihm dies vielleicht, und die Gefahr war ja noch nicht da ...

Er band den morschen schwarzen Tuchgürtel los, der seinen Kaftan zusammenhielt, und benutzte ihn als Taschentuch, [114] sich die Tränen abzutrocknen. Daß der Gürtel abfärbte und ihm über das faltige, nun gerötete Antlitz seltsame, schwarze Striemen zog, sah er nicht. So saß er, nachdem sich das wohltätige Gewitter entladen, noch lange mit stillem Antlitz, mit gestilltem Herzen unter der Buche. Nur zuweilen noch brach ihm ein verspätetes Tränlein aus den Lidern und rann übers Gesicht; er wischte es hastig weg, daß die Striemen nun vollends seltsame Figuren auf Stirn und Wangen bildeten. Das war, als ihn der Gedanke überkam: Und ich Esel hab mich gefreut, daß sie nicht jüdisch aussieht. Was nutzt ihr das? Soll sie denn einen Christen heiraten? Und könnt's ihr auch nur ein Lot an dem Zentner ersparen, den sie durchs Leben schleppen wird? Hätt es mir was erspart? Und wenn meine Beine grad gewesen wären, wie mein Stock da, und ich hätt ein Gesicht gehabt wie ein Oberleutnant – Jud bleibt Jud – sie hätten mich doch geschlagen ... Ach ja!

Aber dann seufzte er nur noch zuweilen auf, und endlich konnte er sogar wieder lächeln. Ich Tor, dachte er, während er langsam weiterging, was sorg ich mich? – Er fügt ja doch alles anders, als wir kurzsichtigen Menschen meinen! Wer mir gestern gesagt hätte, daß ich heut nach Halicz gehen würde, für mein lieb klein Miriamchen einen Mann zu suchen – für verrückt hätt ich ihn gehalten. Und nun tu ich's ja doch! Und da soll ich mir den Kopf zerbrechen, wen er mir als Eidam zubestimmt hat?

Er begann rascher auszuschreiten, da hemmte ihm ein Gedanke den Fuß. Nach Halicz geh ich jedenfalls; ich muß ja für Onufrij den Schmied zwanzig Gulden borgen. Aber zu Mendele? ... Chane hat ja gesagt, es muß nicht heut sein! ... Aber warum nicht heut? Nur sprech ich mit ihm so im allgemeinen und von dem, was sie die Hauptsache nennt, kein Wort! Das hat Zeit, und ich hoff, ich hoff zu ihm, er wird's uns ersparen!

Und nun lief er, noch rascher als gewöhnlich, daß das Wäldchen bald hinter ihm lag und das rote Holzkreuz ob dem Brunnen an der Straße, das die Grenze zwischen den Äckern von Winkowce und Halicz bezeichnet, vor ihm auftauchte. Schon hatte er den Brunnen fast erreicht, als er von fern seinen Namen rufen hörte.

Er blickte auf; es war der Janko. Die Äcker an der[115] Gemarkung gehörten ihm; er pflügte eben zur Wintersaat; ein Jungknecht lenkte die Ochsen, er ging neben dem Pflug daher. Ohne sich in der Arbeit zu unterbrechen, winkte er den Kleinen heran.

Der kam denn auch über die Stoppeln gelaufen. Aber als er dem Gespann näher kam, wurden die Augen des Knechts ganz starr vor Staunen, und dann brach er in ein wieherndes Gelächter aus. Selbst über das gelbliche, düstere Antlitz des Janko zuckte es.

Dann aber trat er hastig auf Leib zu. »Mensch!« rief er. »Wie siehst du aus? ... Die Flecken im Gesicht ...«

Der Jungknecht wieherte noch immer, wie von einem Krampf erfaßt; Janko aber schrak zusammen: »Du hast geweint ... Um Himmels willen – ist etwas – zu Hause –?!« Er konnte es kaum hervorstoßen und faßte die Hand des Juden.

Leib versuchte zu lächeln, aber die dünnen Lippen verzogen sich nur zu einem verlegenen Grinsen. »Behüte! was sollte geschehen sein? ... Geweint? warum sollt ich –? Aber der Wind« – den Tag über hatte sich kein Lüftchen geregt – »nun ja, alte Augen tränen leicht.« Er griff sich ins Gesicht und sah bestürzt die Hand an, sie war schwarz.

»Der Staub ...«

Janko schüttelte den Kopf. »Wend um!« befahl er dem Knecht, der sich Tränen über die Backen gelacht, und hob seinen Leinenkittel vom Gespann. »Wir fangen wieder ganz oben an!«

Als sich der Knecht entfernt hatte, faßte er den Kleinen und führte ihn zum Brunnen. »Nun wasch dich!« Leib tat's. »So! Und nun trockne dich!« Er reichte ihm den Kittel von der Innenseite.

»Nein«, wehrte Leib. »Die Luft tut's schon ... Das gibt Flecke ...«.

Aber Janko bestand darauf. »Sonst bleiben die Flecke. Du willst ja nach Halicz ... Er ist ohnehin seit einem Jahr nicht gewaschen«, fügte er ermutigend bei. Aber nachdem ihm der Jude den Willen getan und nun fragte: »Du brauchst wohl etwas in Halicz? Rasch, ich hab wenig Zeit!«, hielt er ihn fest.

»Nein«, sagte er, und die kleinen schwarzen Augen bohrten sich fest in die des Schenkwirts. »Ich habe dich [116] gerufen, weil du so gelaufen bist. Da habe ich mir gedacht: vielleicht ist die Miriam erkrankt oder sein Weib. Also das ist's nicht?! Oder der Paterski hat dir schon heute gekündigt, und du läufst zu deinen Leuten um Rat? ... Auch nicht? ... Also was sonst?«

»Aber wenn ich dir sage, nichts.«

»Du lügst!« Der Bauer zwang den Kleinen auf die Bank am Brunnen nieder und setzte sich neben ihn. »Dich kenn ich! Du hast selbst damals nicht geweint, als ich dich ...«

Jene Szene auf der Wygoda war ihm wieder in der Erinnerung aufgetaucht; er wußte selbst nicht warum. Aber wie sie ihm nun vor Augen stand, da übermannte ihn auch die Empfindung, die ihn nie verließ, nur daß er sie verschlossen in sich trug: Der einzige Mensch, dem er je Böses getan, war auch der einzige, der ihm Gutes erwiesen. Er wurde weich; es war sonst nicht seine Art, höchstens dem »Kinde« gegenüber; aber da suchte er es auch zu verbergen.

»Mein alter Leibko«, sagte er und strich dem Kleinen sanft über den Kaftanärmel. »Weil du immer so zu mir warst ... und ich sage dir ja auch alles ...«

Der Ton war so ungewohnt, daß er auch den Kleinen rührte. Er widerstrebte nur noch, weil er dachte: Verstehen kann's dieser Bauer doch nicht, so gut er's meint. Was wird er mir antworten: Sechzehn Jahre, und es eilt dir schon so? So warte doch, vier oder sechs Jahre, bis sich einer findet! ... Aber endlich begann er doch: »Gut, Janko, weil du so drängst ... Aber du versprichst mir: Die Miriam erfährt nichts davon?!«

Dem jungen Bauer schlugen die Flammen ins Antlitz. »Also betrifft es doch sie?« stieß er mühsam hervor, und die schief geschlitzten Augen blinzelten, wie vor einem Schlag.

»Ja. Also keine Silbe, Janko? ... Auch nicht so eine Neckerei, wie sie unter euch üblich ist? ... Dein Wort?!«

»Ja ... Rede!« Seine Hand umkrallte den Arm des Juden.

Dem fiel die Erregung des andern nicht auf; er war zu tief in den eigenen Gedanken. »Du scheinst dir eine große Neuigkeit zu erwarten«, sagte er harmlos, indem er mit seinem Stock in den Sand vor ihm ein Wappen Davids [117] zeichnete. »Da wirst du enttäuscht sein; es ist ja etwas, was immer so kommt. Nämlich – ich habe es nicht bemerkt, ich alter Esel, wahrhaftig! – aber natürlich sonst jeder ... Also unser klein Miriamchen ist ja gar nicht klein mehr – was, Janko?«

Der junge Bauer erwiderte nichts. Das Haupt an das Holzkreuz zurückgelehnt, saß er regungslos da; schwer ging der Atem durch den halb offenen Mund aus und ein. Das Antlitz war fahl, bis in die Lippen erblaßt, und in den Augen war noch immer jenes Blinzeln, als sähen sie einen tödlichen Hieb herabsausen.

»Natürlich hast du es bemerkt!« fuhr der Kleine fort. »Ein schönes, schweres, heiratsfähiges Mädchen« – er lächelte stolz und verlegen zugleich – »und ein solches Mädchen ...«

»Nun?« Es klang wie ein Röcheln.

»Da fragst du noch? Ein solches Mädchen verheiratet man eben!«

Darauf blieb es eine Weile still. »Ja, ja, mein lieber Janko«, sagte dann der Alte, »das also will ich jetzt ...«

Weiter kam er nicht. Aus der Brust des jungen Bauern brach ein Schrei, so wild, so röchelnd, daß der Jude entsetzt emporfuhr. Aber noch stärker faßte ihn das Grauen, als er in dieses totenfahle, furchtbar verzerrte Antlitz blickte; die Augen starr, den Mund offen, die Mundwinkel tief herabgesenkt ... Den Kleinen schüttelte der Gedanke: Der Mensch stirbt ...

»Janko!« schrie er auf und faßte die Hand des Bauern. Sie war eiskalt, wie die eines Toten. »Was ist dir? ... Du bist krank?« Ein plötzlicher Krampf, dachte er, und sah sich um Hilfe um. Weitab tauchte der Jungknecht hinter dem Pflug auf. Leib hob die Hand.

»Laß das!« stieß der Bauer heiser hervor. »Hör mich an ...« Die Stimme sank zum keuchenden, fast unverständlichen Flüstern herab. »Es darf nicht sein ...«

»Was?« fragte der Jude angstvoll. Er ist nicht bei Sinnen, dachte er, ein plötzliches Fieber ... Und wieder blickte er nach dem Knecht aus.

Janko richtete sich empor; mit zitternder Hand riß er den Hemdkragen auf, als müßte er sonst ersticken, daß die [118] braune, zottige Brust sichtbar wurde und wie sie sich krampfhaft, nach Atem ringend, senkte und hob. Nun endlich hatte er wieder Luft.

»Ich duld's nicht!« schrie er laut, verzweiflungsvoll, und die Augen, in denen nun plötzlich ein wildes Feuer aufglühte, bohrten sich in die des Juden. »Eher töt ich sie, mich, euch alle ... Laß das!« wiederholte er wild, als der Jude wieder ängstlich nach dem Knecht schielte. »Ich bin nicht wahnsinnig – nein, jetzt nicht. Ich war es – all die Zeit – da hab ich nicht gedacht – wie es kommen kann ... Aber jetzt ...« Er faßte die Hand des Männchens mit eisernem Druck und zog den Zitternden auf das Bänkchen neben sich nieder. »Hör mich an, Leibko, um Gottes Erbarmung willen hör mich an. ... In Güte, Leibko, in Güte ... Ich bin nicht wahnsinnig, ich drohe nicht ... Vergiß, was ich da gesagt habe ... O mein Gott, lieber sterbe ich ja zehn Tode, als daß ich ihr ein Haar krümme ... Aber siehst du – ich habe ja nichts als sie auf der Welt ... Es darf nicht sein ... siehst du ... es wäre ja auch ein Unglück für sie ...«

Dies letzte hörte wohl der Alte nicht mehr. Wie gelähmt saß er da vor ungeheurem Entsetzen, als hätte plötzlich der Blitz vor ihm eingeschlagen, keiner Bewegung, keines Gedankens fähig. Noch vor einer Minute hätte er lieber glauben mögen, daß alle Wiesen plötzlich blaue statt grüner Gräser treiben könnten, als daß dieser Bauer seine Miriam begehre; selbst unmittelbar vorher, bei dem unheimlichen Gebaren des Janko, war er völlig ahnungslos geblieben. Wie auch anders? – ein Bauer und ein jüdisch Kind – derlei hatte ja die Welt noch nicht gesehen– das ging ja gegen die Natur! ...

»Allerbarmer!« stöhnte er auf, schloß die Augen und streckte zitternd die Hände vor, wie er etwa auch getan hätte, wenn ihm plötzlich am hellen Tag ein Gespenst in den Weg getreten wäre, ein Toter, den er selbst hatte begraben helfen. Dagegen kann nur Gott schützen, nur Gott dem armen Menschen den Verstand im Hirn erhalten ...

»Aber so erschrick nicht so«, bat der Bauer. »Ist es denn so furchtbar?! ... Es ist mir so plötzlich entfahren – ich weiß ja nicht, was ich sagen soll ... Nur eins weiß ich jetzt: [119] es darf nicht sein ... Wenn ich so denke: sie ist nicht mehr im Dorfe, gehört einem andern ... Oh!«

Er stöhnte auf. »Ich bitte dich«, fügte er angstvoll, fast schreiend hinzu, »frag sie doch selbst!«

»Allerb ...« Nun konnten die bebenden Lippen des Alten selbst dies Wort nicht mehr vollenden. Aber gerade das Übermaß des Entsetzens, das ihm diese letzten Worte eingeflößt, rüttelte ihn auf; wie ein Ertrinkender wehrte er sich gegen das Grauen, das über ihm zusammenschlagen wollte. Und wie ein Ertrinkender tat er auch; er sprang auf und warf die Arme wild in die Luft.

»Janko!« schrie er, »du hast mir mein Kind ...?!«

Er wankte – die Lippen zitterten krampfhaft, als versagten sie ihm den Dienst, das Furchtbare auszusprechen.

Der Bauer starrte ihn an; dann ging ein Glutstrom über sein Antlitz. »Nein!« schrie er auf.

»Du kannst – es schwören? ... Bei ... bei dem da?!« Die Augen blickten zu Boden, aber die zitternde Hand wies nach dem Bild des Gekreuzigten ob dem Brunnen.

Der Bauer reckte die Schwurfinger empor. »Ja!« sagte er.

Der Jude atmete tief, tief auf. Ich war wahnsinnig, dachte er. Verzeih mir, mein Herr und Gott, und du, mein Kind ... Aber weil heut alles so über mich kommt ... Er fuhr sich über die Stirn und setzte sich; die wankenden Knie trugen ihn noch nicht. »Aber warum«, fragte er, »hast du dann gewollt, daß wir sie selbst fragen sollen?! Glaubst du, daß sie so an dich denkt wie du an sie?! ... Ich bin überzeugt, das ist nicht wahr ...«

Janko nickte. »Da magst du recht haben«, sagte er düster. »Sie ist ja noch ein Kind, denkt nicht an mich, aber auch an keinen andern. Aber eben darum, meine ich, würde sie nein sagen. Ist ja noch so jung, hängt an Euch ... Wie kommst du nur so plötzlich darauf? Habt Ihr sie schon versprochen?« fügte er dann angstvoll bei und faßte die Hand des Juden.

Dieser zögerte mit der Antwort. Vielleicht, dachte er, ist's das klügste, ich sage ja! ... Dann wütet er sich aus, und es ist überstanden! ... »Nein!« sagte er trotzdem; die Lüge widerstrebte ihm, auch schreckte ihn der Gedanke: [120] Vielleicht schreit er dann auf das Mädchen ein, eh wir es noch vorbereitet haben ... »Nein«, wiederholte er, »versprochen noch nicht ... Aber nun laß uns vernünftig reden, Janko.« Er legte die Hand an die Stirne. »Siehst du, ich fasse es noch gar nicht, hätte es nie von dir geglaubt ... Wie ist es denn eigentlich über dich gekommen?«

Der Janko blickte finster vor sich nieder. »Ich weiß nicht!« sagte er. »Ich hab es bis vor einem halben Jahr gar nicht bemerkt. Da habe ich mich nur eben auf die Stunde gefreut, wo ich sie sehen kann, von einem Mittag zum andern ... Daß sie schön wird, habe ich wohl bemerkt und mich darauf gefreut, aber es war nichts Unrechtes dabei ... Du weißt ja, wie ich bin – immer die Arbeit – an Weiber und an solche Sachen hab ich überhaupt nicht gedacht – ich hab ja keine Zeit dazu gehabt ...« »Nun – und vor einem halben Jahr?« Der junge Bauer blickte ihn zornig an, wieder schimmerte es rötlich durch die gelbe Haut. »Was fragst du? ... Wenn du fragst, muß ich antworten, und du bist doch ihr Vater ... Also, siehst du, da war im Frühjahr eine Magd bei mir, die schwarze Xenia aus Horodenka ... Du erinnerst dich? ... Also, ich merke bald, sie ist träg bei der Arbeit und will mich dadurch begütigen, daß sie ... Das soll dir nicht gelingen, Weibsbild, denk ich, bin ich bisher ohne euch ausgekommen, so geht's auch noch ferner so ... Aber eines Abends ... siehst du, Leibko, weil sie nämlich gar so schlau war ... Nun, denk ich am nächsten Morgen, einmal ist keinmal ... und ein Pferd hat vier Füße und strauchelt doch manchmal. Kurz, ich schäme mich eigentlich gar nicht ... Aber wie ich nun gegen Mittag zu Euch gehen will, da beginne ich mich plötzlich zu schämen, es ist mir eine Pein, heut der Miriam vor die Augen zu kommen, und wie ich nun doch in die Stube trete – da – da hab ich mich furchtbar geschämt und sie doch von derselben Stunde ab mit anderen Augen angesehen als früher ... Ich habe gedacht, das gibt sich, wenn ich die Xenia wegjage, und habe es noch selben Tags getan, aber« – er seufztetrief auf – »es hat sich nicht wieder gegeben ...«

Auch dem Kleinen war ein Rot der Scham ins verwitterte Antlitz gestiegen. Eben ein Bauer, dachte er halb entrüstet, halb überlegen. »Aber seither«, fragte er, [121] »mußt du dir doch gesagt haben: Die Miriam ist ja eine Jüdin und ein braves Kind, und der Leibko war immer gut zu mir – das muß ich mir aus dem Kopfe schlagen! Nicht wahr?«

»Nein«, sagte der Janko. »Nichts habe ich mir gedacht, als: Wär's doch schon Mittag, daß ich sie sehe. Was hätt ich auch viel denken sollen?« brauste er auf. »Erst sechzehn Jahre – und bei solchen Sachen denkt man ja überhaupt nichts!«

Und das will ein Mensch sein! dachte der Alte. Laut jedoch fragte er: »Aber nun, wo ich dich frage? ... Möchtest du sie denn heiraten?«

Auf dem Antlitze des Bauern glomm ein ungeheures Staunen auf und blieb wie gebannt darauf haften. »Aber – aber – das ist ja – nicht möglich«, sagte er fast stotternd. »Sie ist ja ...«

»Eine Jüdin!« sagte Leib Weihnachtskuchen lächelnd. »Aber du könntest ja Jude werden!«

»Ich ... ich?!« Die Fäuste des Bauern hatten sich unwillkürlich geballt. »Wenn mir das jemand im Ernst zumuten würde ...«

»Du würdest ihn niederschlagen«, ergänzte der Kleine so mild wie vorher. »Aber da gibt es ja noch einen andern Ausweg: wenn sie Christin würde ...«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Das würdet ihr ja nicht dulden, du und dein Weib. Zwar–dein Weib ist kränklich, lebt nicht mehr lange – und du würdest dich vielleicht einschüchtern lassen, wenn man dir recht drohen würde ...«

»Darauf ist auch nicht zu hoffen«, erwiderte der Kleine, noch sanfteren Tones als vorher. »Was mein Weib betrifft, so kann Gott viel; Gott kann bewirken, daß sie noch aus dem Fenster zusieht, wie deine Leiche vorübergetragen wird. Ich aber –womit könntest du mir drohen? Mit dem Tode? Wenn ich eine solche Sünde auf mich lade, verliere ich die ewigen Freuden im Jenseits – und da sollt ich die paar Jahre hier vorziehen, Jahre eines Lebens, wie ich es hier habe? ... Also, es ist nichts damit, mein lieber Janko. Und nun erwäge: Heiraten kannst du sie nicht, willst aber, daß sie kein anderer heirate – was soll aus ihr werden?« Janko saß gesenkten Hauptes da; er erwiderte nichts.

[122] »Nun?!« drängte Leib. »Was aus ihr werden soll?« »Ich weiß nicht ...«, rief der Bauer. »Du hast ja recht, es mag schlecht, mag dumm sein ... Aber ich duld's doch nicht! ... Es gibt ein Unglück, Leibko, höre, ein Unglück!«

»So wie damals auf der Wygoda«, fragte der Kleine, »nur etwas schwerer?! ... Warum nicht? Du bist stärker als ich! Auch stärker als sie ... Aber bis es geschieht, vertrau ich auf dich und denke besser von dir als du selber!«

Der Bauer schlug die Hände vors Gesicht. »Leibko«, rief er schluchzend, »wenn du wüßtest ...«

»Ich weiß«, erwiderte der Kleine, »daß du ein Mensch bist, kein Tier ... Und das ist mir genug ... Leb wohl, Janko!«

3

III

Erhobenen Hauptes, raschen Schritts ging Leib davon, blickte auch nicht mehr um, als ihm Janko nachrief. Und so aufrecht hielt er sich noch lange, als ihn der Bauer nicht mehr sehen konnte; er machte sich nicht stärker, als er war; das Gefühl der sittlichen Überlegenheit durchströmte kraftvoll den armseligen Körper.

Aber dann sank das Köpfchen auf die Brust, und die Knie wankten so, daß er abermals am Straßenrain hinsitzen mußte. Nun zitterte er wieder vor dem »Tier«, und fast ebenso stark wie das Grauen war der Ekel in ihm. Auch wenn nichts geschah, schon daß der heiße, stickige Brodem solcher Begierde sein Kind anhauchte, war schlimm genug – und nun erst, wenn das Tier in seiner Raserei Schaden tat? ... Mit jedem Atemzug wuchs seine Angst vor dem Unerhörten, dem Unfaßlichen und Unheimlichen, das ihn da plötzlich angetreten. Er brachte es nicht einmal zu einem rechten Zorn über solchen Undank, und vergeblich auch versuchte er sich zu fassen, zu beten; aufihn, auf seine Miriam konnte er sich ja verlassen, aber seine Gedanken verwirrten sich immer wieder. Ich duld's nicht ... es gibt ein Unglück! – er hörte, fühlte nichts anderes als diesen heiseren, dumpfen Klang ...

»Zu Mendele Schadchen!« stieß er dann plötzlich hervor, [123] und der Druck auf seiner Brust linderte sich. Das war die Rettung; es mußte rasch, es mußte sofort geschehen. Und als wäre der Janko mit erhobener Keule hinter ihm her, rannte er nach Halicz und dann durch die armseligen Gäßchen des Fleckens. Endlich stand er vor dem Häuschen mit der blanken Blechtafel:


»Akentschaft für Vieh, Hagl, Menschen und Feir von

MENDEL PULVERBLITZ
Teutsch und Polisch Rat!
Feine Brüfe! Gute Agten!«

Die Vertretung verschiedener Versicherungsgesellschaften und die Winkelschreiberei waren die beiden offiziellen Beschäftigungen des Mendele; die dritte und einträglichste, nach der ihn seine Glaubensgenossen nannten (»Schadchen« ist ein Wort des jüdisch-deutschen Jargons und bedeutet: Heiratsvermittler), brauchte er nicht erst auf die Tafel zu setzen; er hatte ohnehin Zuspruch genug.

Das sollte auch Leib erfahren. Als er die erste Stube, eine Art Wartezimmer, betrat, musterte ihn die dicke Frau des Mendele, die da hinter einem mächtigen Tische saß und schrieb – sie führte die »Akentschaft« – hochmütigen Blicks und schien seine leise, demütige Frage nach ihrem Manne zu überhören. Dann fragte sie doch: »Wozu?«

»Wegen mein' Miriamchen.«

»So-o? Ich fürchte, da bemüht Ihr Euch umsonst! Solche Prinzen, wie Ihr nach Eurer Mitgift verlangen könnt, hat mein armer Mann nicht vorzuschlagen. Übrigens, wenn Ihr trotzdem mit ihm reden wollt, so kommt morgen!« In der Tat hatte Mendele offenbar Besuch; aus der anstoßenden Stube klang das Geräusch mehrerer Stimmen, die gleichzeitig durcheinanderschrien. »Vor Abend wird er nicht fertig«, schloß sie. »Drin wird eben eine Verlobung abgemacht.«

Es war gut, daß sie dies sagte, sonst hätte Leib eher eine Scheidung vermutet. Eine kreischende Frauenstimme zeterte: »Die Schand bringt mich unter die Erd! Noch fünfhundert Gulden müßt Ihr zulegen, sonst leid ich's nicht!«

[124] Worauf eine grobe Männerstimme wetterte: »Nicht einen Heller! Weil Euer Ruben so brav ist?! Aber wenn Ihr versprecht, noch vor der Hochzeit unter die Erd zu gehen, so leg ich hundert Gulden drauf!«

»Worauf wartet Ihr?« fragte die Dicke scharf, als sie Leib neugierig aufhorchen sah. Die Stimme der Frau hatte er sofort erkannt; es war eine übelbeleumdete Schneiderswitwe; auch ihr Sohn Ruben, ein Fuhrknecht, galt als wüst und roh. Aber was mußte das für ein Mädchen sein, wo diese Frau »noch fünfhundert Gulden« zu fordern wagte?!

»Ich frag heut nochmals an«, sagte Leib und schlich zur Tür hinaus.

»Uns kommt Ihr auch nächste Woch noch früh genug!« rief ihm die Frau nach. Er tat, als hörte er's nicht, obwohl es ihm bitter weh tat, gerade heute, wo all seine Hoffnung an dieser Stube haftete. Sonst wäre es ihm nicht nahegegangen; die Frau galt als böse und hochfahrend, und dann – an allzuviel gute Worte war Leib Weihnachtskuchen auch sonst nicht gewöhnt ...

Trüb schlich er am Dnestrufer dahin und überlegte, ob er nun nicht doch heimgehen sollte. Aber da fiel ihm bei, daß er noch ein Geschäft hatte, bei dem dreißig Kreuzer zu verdienen waren: so viel hatte ihm Onufrij, der Schmied, zugesichert, wenn er ihm für einen der beiden Wechsel, die er ihm anvertraut, zwanzig Gulden mitbrachte. Beide Wechsel lauteten auf drei Monate, aber der eine auf fünfundzwanzig, der andere auf dreißig Gulden – hundert oder zweihundert Prozent jährlich, wie es Leib eben bekommen konnte; dem Onufrij war es im Grunde gleichgültig ... Drei Monate! – auf so lange hinaus denkt kein podolischer Dorfschmied.

Aber Leib dachte daran; das gebot seine Geschäftsehre. »Natürlich«, sprach er nach seiner Gewohnheit halblaut vor sich hin, »muß ich beide fragen, den Kastanasiewicz und meinen Mosche.« Er meinte den Moses Erdkugel, dessen Schuldner er selbst war. Und wer's billiger macht, bekommt das Geschäft. Es war auch für den Onufrij nicht gleichgültig, mit wem er es zuerst versuchte; vom Armenier fühlte er sich unabhängig, vom Erdkugel nicht. Und so steuerte er zunächst dem Herrschaftshofe zu.

[125] Der Pächter der Haliczer Herrschaft, Herr Stefan Kastanasiewicz, stand eben auf dem Hofe und feilschte mit einem Bauer um einen Ochsen. Ein stämmiger, alter Mann mit rohem, stumpfem, wie mit der Holzaxt gezimmertem Gesicht, aus dem nur die armenische Hakennase mächtig hervorsprang; einen zerschlissenen, einst schwarzen, nun grauen Kaputrock um den Leib, ein fettiges Mützchen auf dem weißen, buschigen Haar. Wer ihn so sah, wie er den Bauer abwechselnd anschrie und anflehte, zwischendurch den Ochsen kunstgerecht abknetete und dann weinerlich schwor, daß er nicht zehn Kreuzer mehr zulegen könne, hätte ihn sicherlich für einen Schlächtermeister gehalten. Aber das war er vor vierzig Jahren gewesen, noch früher Schweinehirt und Viehtreiber, jetzt war er Millionär und Mitbesitzer der Herrschaft; daß sie ihm bald ganz zufallen müsse, war nun schon entschieden. Seine Tochter hatte er in einem Krakauer adligen Fräuleininstitut erziehen lassen und sich einen herabgekommenen polnischen Grafen zum Schwiegersohn gekauft; der Sohn war gleichfalls Pole geworden, studierte in Lemberg und sollte einst das Gut übernehmen; der Alte trieb sein Wesen fort, wie er's gewohnt war.

»Nun, du Hundsblut«, herrschte er den Juden an, »kommst du mir wieder mit deinen Wuchersachen?! Wie oft habe ich dir gesagt: bleib mir damit vom Leibe, oder ich lasse dich mit meinen Hunden vom Hofe hetzen!«

Leib verzog keine Miene. »Bis Sie fertig sind, Herr von Kastanasiewicz«, sagte er.

Der Pächter pfiff nicht nach seinen Hunden, auch nicht nachdem der Handel mit dem Bauer geschlossen war. Da ging er auf seine Arbeitsstube und ließ die Tür hinter sich halb offen. Der Jude folgte ihm.

»Nun«, fragte der Armenier, »welche Lumperei mutest du mir heute wieder zu?!«

Leib zog den Wechsel über fünfundzwanzig Gulden hervor und erklärte den Sachverhalt.

»Und damit wagst du mir zu kommen, du Halsabschneider?!« fuhr der Armenier auf. »Wegen fünf Gulden soll ich zwanzig riskieren? Der Onufrij ist ja schon bis über die Ohren verschuldet! Dazu ewig betrunken! Als er neulich bei mir war, hat er mir übrigens selbst erzählt, [126] daß er dir immer zwei Wechsel mitgibt! Wo hast du den höheren?!«

»In der Tasche«, erwiderte Leib. »Aber da bleibt er auch. Der Mosche tut's um diesen Wechsel da!«

Der Pächter räusperte sich. »Leibko«, sagte er dann mild, fast bittend, »so sei doch vernünftig! Der andere Wechsel geht wohl auf dreißig Gulden? Nun, ich gebe dir dafür zwanzig Gulden für den Onufrij und einen für dich! Aus Freundschaft, Leibko!«

Der Kleine schüttelte den Kopf. »Das war nicht ehrlich von mir, Herr von Kastanasiewicz!«

Der Armenier fuhr vom Sitz empor. »Du Gauner!« donnerte er. »Was sag ich immer?! – Mit diesen jüdischen Gaunern kann sich ein ehrlicher Mann gar nicht einlassen.« Aber dann verrauchte der Zorn so jählings, wie er gekommen war. »Gut! Also diesen Wechsel. Aber um siebzehn Gulden!«

»Tut mir leid!« sagte Leib und griff nach der Türklinke.

»Achtzehn!«

»Hoffentlich geht's ein andermal besser«, sagte Leib und ging ... Ehe ich zu Mosches Haus gekommen bin, dachte er, holt mich sein Bote zurück.

Das war nur insofern irrig, als ihn der Gutsknecht erst vor Moses Erdkugels Haustür einholte. Und da konnte Leib nicht mehr umkehren, weil Moses gerade im Fenster lag. »Vielleicht später«, raunte er dem Knecht zu und trat ein.

Moses Erdkugel, ein Mann in den Vierzigern, machte seinem Namen wenig Ehre: Alles an ihm war eckig, die Gestalt, das blasse Antlitz, sogar die Nase glich einem scharf abgegrenzten Bergrücken. Seine Züge waren immer tiefernst, aber ruhig; ärgerlich oder zornig hatte ihn noch niemand gesehen.

»Guten Abend, Reb Leib«, erwiderte er den Gruß des Besuchers gemessen. »Gut, daß Ihr zu mir kommt, ich wollt schon zu Euch schicken ... Was bringt Ihr mir?«

Leib trug die Sache vor.

Erdkugel schüttelte den Kopf. »Das laß ich dem Armenier«, sagte er gleichmütig. »Ich hab ja, den Knecht gesehen, er will's machen. Und habt Ihr zuerst seine Türe [127] gefunden und nicht die meine, so gönn ich ihm den Vortritt. Auch tät ich's gegen den höheren Wechsel, den Euch der Onufrij gewiß auch heute für den Notfall mitgegeben hat, und das werdet wieder Ihr nicht wollen ... Nun, reden wir von unseren Geschäften ...«

Er setzte sich. »Ich hab Euch«, sagte er ebenso gleichmütig wie bisher, »vor vierzehn Jahren hundert Gulden für die Vorräte und die Einrichtungen geliehen. Der Paterski wollt es Euch auch vorstrecken, hat aber fünfzig Gulden vierteljährlich Zinsen verlangt; ebenso der Kastanasiewicz, und der hat die Hälfte verlangt. Ich hab's um vierzig Gulden jährlich getan. Glaubt Ihr, daß Ihr das Geld von einem andern billiger bekommen hättet, und könnt Ihr Euch über mich beklagen?!«

»Nein!« rief Leib.

»Das also steht fest.« Die Stimme klang auch jetzt noch ruhig, aber das Gesicht wurde gleichsam immer eckiger; auch die Bewegung der Hand ging nun in kurzen, scharfen Zickzacklinien. »Warum aber hab ich's getan? Aus Wohltätigkeit? Der Pole, der Armenier würden Euch dies vorlügen. Ich nicht; ich lüge niemals; ich bin kein Wohltäter, ich bin ein Geschäftsmann. Oder aus Furcht vor Gott?« Die Augen blickten scheu und finster. »Hab ich seine Strafe zu fürchten, wie unsere Frommen sagen, so wird er mich um des einen willen nicht begnadigen. Oder damit Ihr mir einen guten Ruf macht? Da wär ich ein Tor gewesen; ich hab schon damals gewußt: ich bin und bleib verrufen und gemieden, unter den Christen und unseren Leuten. Der Paterski, der Armenier treiben's nicht besser als ich, aber sie sind Ehrenmänner, sitzen vorn im Kirchenstuhl, und die Beamten essen bei ihnen, denn sie sind Christen. Ich aber bin ein Jud, darum hab ich ins Gefängnis müssen, mein Platz in der Betschul ist der letzte in der letzten Reihe, und für meine Tochter hab ich erst fünfzig Meilen von hier einen Eidam gefunden ... Also warum war ich damals so zu Euch, Reb Leib?«

»Damit ich Euch Geschäfte zubringe«, erwiderte das Männchen. Sein Herz pochte bang; so lange hatte dieser wortkarge Mann noch nie mit ihm gesprochen; das bedeutete Schlimmes; sollte heute noch mehr über ihn kommen?! »Und ich hab auch getan, was möglich war ...«

[128] »Lüge!« Der Ton der Stimme widersprach dem heftigen Wort; sie klang gemessen wie früher. »Ihr habt's immer gehalten wie heute. Mach ich's billiger, so krieg ich's; wenn gleich billig, so entscheidet der Zufall. Dennoch hab ich's geduldet. Warum? Da könnt ich wieder lügen, sag aber die Wahrheit: aus Furcht vor unseren Leuten. Keiner kümmert sich um Eure Armut, jedem seid Ihr für seinen Witz gut genug, aber hätte ich Euch gedrückt, sie hätten alle geschrien: Dieser Wucherer – unsere Schande – nieder mit ihm! Jetzt aber« – er hob die Hand – »jetzt mögen sie schreien, denn mein Kapital will ich nicht verlieren. Zum ersten Oktober haben wir immer Euren Wechsel erneuert; in zehn Tagen also ist er fällig; da erneuere ich ihn nicht, sondern klage ihn ein ...«

»Gott meiner Väter«, stöhnte das Männchen entsetzt. »Warum?«

»Der Paterski kündigt Euch nach Weihnachten für den ersten Juli. Dann seid Ihr ein Bettler, könnt nicht Kapital noch Zinsen zahlen. Auch jetzt schon sind Vorräte und Einrichtung nicht die Hälfte wert. Aber ich rette, was zu retten ist ...«

Leib rang verzweifelt die Hände. »Der Paterski tut's nicht! Er hat mir ja immer gedroht und es nie getan. Einen solchen Zins zahlt ihm ja sonst niemand. Ich bitt Euch ... ich bitt Euch ...«

Moses hatte sich erhoben. »Wir sind zu Ende.« Der Kleine wankte; er hielt sich am Stuhl fest, sonst wäre er niedergesunken. »Erbarmt Euch«, schrie er auf.

»So wartet doch wenigstens bis zu Neujahr, ob er's tut.« Moses war ans Fenster getreten, durch welches das Rot der sinkenden Sonne hereinflutete. »Ich warte nicht«, sagte er, ohne umzublicken.

Leib schlich demütig an ihn heran und rührte zaghaft an sein Gewand. »Erbarmen!« stieß er fast schluchzend hervor. »Ich will in dem Vierteljahr für Euch tun, was ich kann ...«

Der Wucherer wandte sich langsam um. »Da lügt Ihr schon wieder«, sagte er kalt. »Oder nicht? ... Könnt Ihr beweisen, daß Ihr's diesmal ehrlich meint? ... Onufrij hat Euch ja zwei Wechsel gegeben ...«

Leib taumelte zurück. Eine Minute stand er schwer

[129] atmend da. Schon tastete die zitternde Hand nach der Brieftasche, da stach ihm das rote Licht in die Augen ... Was sollte er fortab ihm sagen! ...

Die Hand sank nieder ... Stumm schlich er zur Tür hinaus. Dann stürzte er aus dem Hause, die Straße entlang, dem Gutshof zu, atemlos, als wäre der Verführer hinter ihm her. Erst als er vor der Tür des Armeniers war, hielt er an und suchte sich zu fassen, ehe er eintrat.

»Hinaus, Hundsblut!« donnerte ihm der Pächter entgegen, als er die Tür öffnete. »Jetzt, wo der Mosche nicht will, kommst du zu mir? ... Hinaus!«

Leib hätte sonst nichts darauf gegeben; es war ja auch nur die übliche Einleitung zur geschäftlichen Unterhaltung. Nun, wo er fast betäubt war, schrak er zusammen und wollte gehen.

»Halt!« rief ihm der Armenier nach. »Verrückte Welt, jetzt werden gar auch schon die Juden empfindlich ... Ich wollte dir ja nur sagen, daß das nicht hübsch von dir war, aber deshalb können wir doch ein Geschäft miteinander machen. Also den höheren Wechsel und für dich einen Gulden! Oder anderthalb, hörst du, anderthalb Gulden! ... Du willst noch immer nicht, du jüdischer Gauner?! ... Nun, damit du siehst, was ein Christ ist: wir teilen. Zwei Gulden fünfzig Kreuzer!«

Aber als es auch damit nichts war, nahm er den kleineren Wechsel und zählte die zwanzig Gulden dafür hin.

Gottlob! dachte Leib, als er wieder auf die Straße trat, so sind doch wenigstens dreißig Kreuzer verdient. Und was den Mosche betrifft – hat er nicht erlaubt, daß ich's tue, so wird er auch Rat für mich wissen.

Noch immer tief betrübt, aber nicht mehr zerschmettert, suchte er die »Akentschaft« auf.

Als er sich dem Hause näherte, traten eben mehrere Leute aus der Türe. Leib hatte sich nicht geirrt; es war die Schneiderswitwe und ihr Sohn Ruben. Die beiden anderen, ein älteres Ehepaar, kannte er nicht; es mußten wohl Dorfjuden sein; der Mann trug eine Pelzmütze, die Frau ein bäuerliches Kopftuch. Noch auf der Straße setzten die beiden Parteien ihren Streit fort und gingen dann ohne Gruß auseinander.

Oh weh! dachte Leib, da wird Mendele schlechter Laune [130] sein, das Geschäft scheint ihm nicht geglückt. Aber als er eintrat, rief ihm wohl die Frau entgegen: »Gottlob, daß Ihr uns den Verdienst noch heut ins Haus bringt; ich hätt sonst vor Angst nicht schlafen können!« – Mendele jedoch, der über das ganze Gesicht strahlte, bewillkommte ihn freundlich.

Mendele Pulverblitz war ein noch junger Mann, kaum dreißig, aber er hatte das Geschäft des Vaters früh übernommen und galt nun als der tüchtigste Schadchen der Gegend. Das rote, breite, fröhliche Gesicht war sehr vertrauenerweckend, seine Geduld und sein Redefluß unerschöpflich; die Natur selbst schien ihn für seinen Beruf bestimmt zu haben. Vielleicht auch hatte sie sich bei seiner Erschaffung für die des Moses Erdkugel entschädigen wollen; bestand dieser aus lauter Ecken, so er aus lauter Rundungen; nicht bloß Gesicht und Gestalt, auch die munteren Äuglein, die Knollennase und das Kinn waren rund, sogar der kurze, wulstige Mund, der jetzt, wo er eben Heidelbeeren aß, wie eine Tollkirsche aus dem Gesicht hervorstand.

»Setzt Euch, Reb Leib, setzt Euch«, sagte er freundlich, ohne sich im Essen zu unterbrechen. »Ich muß mir erst wieder die Kehl anfeuchten – was hab ich da zu reden gehabt! ... Also, mein Weib hat mir schon gesagt, warum Ihr kommt. Wie alt ist das Kind?! Schon sechzehn?! ... Etwas spät, warum habt Ihr so lang gewartet?! ... Aber was frag ich da, ich weiß es ohnehin! ... Da seid Ihr da draußen gesessen und habt gewartet, ob nicht Gott doch vielleicht ein Stückchen Mitgift vom Himmel herunterfallen läßt! ... Aber das tut Gott selten, Reb Leib, man muß sie selbst verdienen. Nun, ich will Euch keine Vorwürfe machen, Ihr plagt Euch genug!« Unaufhaltsam strömte die Rede; der Mund wurde, je mehr sich das Schüsselchen mit den Beeren leerte, immer schwärzer. »Also, daß es schwer sein wird, wißt Ihr ... Aber seid getrost, ich mach's; wenn einer, so ich ... Glatte Sachen kann jeder Esel zusammenbringen; ich plag mich gern ... Die Verlobung, die eben hier unterschrieben worden ist« – er schlug auf den Tisch – »die bringt auch außer Mendele Schadchen kein Mensch in ganz Polen fertig ... Also, verlaßt Euch auf mich! Aber – was krieg ich?!«

[131] Leib fuhr zusammen. »Je – je nach der Partie«, sagte er dann stotternd.

Mendele lachte hell auf. »Natürlich, je nachdem ich Euch einen jüdischen Prinzen schaff oder nur den Sohn von Moses Montefiore.« Der Name des englischen Philanthropen ist jedem Juden des Ostens geläufig; er gilt als die Verkörperung des Ruhms und Reichtums ... »Unsinn«, sagte er dann scharf. »Wollt Ihr zehn Gulden geben oder nicht?«

»Reb Mendele«, wollte der Kleine eine längere Rede beginnen.

»Ja oder nein!« Der Vermittler hatte sich erhoben, er konnte auch sehr kurz sein, wenn es ihm paßte.

Leib fuhr wieder zusammen. »Ja«, seufzte er kaum hörbar.

»Schön. Abgemacht. Bei der Verlobung zahlbar. Und nun – was wollt Ihr mitgeben?«

Wieder seufzte der Schenkwirt auf und begann dann schüchtern und weitläufig seinen Plan zu entwickeln, den Eidam für einige Jahre ins Haus zu nehmen.

»Unsinn«, schnitt ihm der andere die Rede entzwei. »Ihr werdet ja selbst weggejagt, hör ich. Und wenn nicht, wer wird mit Euch hungern wollen? Solches Gesindel, das sich darauf einließe, kennt Mendele Schadchen gar nicht. Wär das der einzige Weg, ich hätt Euch gleich fortgeschickt. Aber ich kenn Euer Kind, weiß, daß es gottlob schwer und gesund ist und hab darum eine bessere Hoffnung. Wir müssen einen finden, der nichts von Euch verlangt und sogar die Ausstattung bezahlt.«

Dem Kleinen wurde bang. »Aber brav, muß er sein«, sagte er zaghaft. »Und gesund, und nicht zu alt ...«

»Natürlich! Da weiß ich Euch gleich einen, der ist siebzehn Jahr alt, gesund wie ein Bär – und daß der noch nie eine Lüge im Leben gesprochen hat, dafür leg ich die Hand ins Feuer ... Der Sohn von Reb Srulze. Dubs schreiben sie sich mit dem deutschen Namen ...«

»Der?!« rief Leib entsetzt. »Der Jung ist ja taubstumm, blödsinnig!«

»Bewahre! Wenn Ihr wüßtet, wie gescheit der ist! Antworten gibt der ...«

»Er kann ja nicht reden!« [132] »Ich mein: mit den Händen ... Und hinter den Mädchen ist er schon her, als ob er dreißig wär ... Aber wenn er Euch zu dumm ist, ich weiß einen Klügeren. Der kann sogar deutsch lesen und schreiben, steckt die ganze Gemeinde in den Sack! Freilich ein Witwer mit zwei Kindern, aber erst dreißig, hat sein Auskommen als Winkelschreiber ...«

»Ihr meint doch nicht Avrumele Sturm?«

»Wen sonst?! Früher hat er sich ein paar Jahr Albert Sturm genannt, aber jetzt will er wieder ein ehrlicher Avrumele sein und bleiben ... Was glotzt Ihr mich so an? Weil er wegen eines Mißverständnisses einige Monate ...«

»Es waren drei Jahre und wegen schweren Betrugs. Sein armes Weib hat die Schande unter die Erd gebracht!«

»Nun, das ginge doch Euer Kind nichts an. Auch schwört Avrumele, der Staatsanwalt hat die Sach nicht verstanden, weil er kein Geschäftsmann ist. Kann denn das nicht wahr sein, muß ein Staatsanwalt ein Geschäftsmann sein?! Aber meinetwegen, ich weiß Euch noch einen dritten. Da aber werdet Ihr nichts mehr sagen, gar nichts mehr, als: Reb Mendele, ich dank Euch ... Versteht Ihr?«

»Laßt hören«, bat der Kleine.

Mendele erhob sich feierlich; Leib tat es ihm in seiner angstvollen Spannung unwillkürlich nach.

»Setzt Euch«, sagte Mendele, »Ihr seid ein schwacher Mann, die Freud fährt Euch sonst in die Beine!« Darin deutete er durchs offene Fenster in die Dämmerung hinaus. »Der dort.«

Der Kleine blickte in die Richtung, wohin die Hand wies. Draußen wälzte der Dnestr seine mächtigen Wellen von den Karpaten her in die Ebene hinein. Jenseits des Flusses schimmerte aus einem großen Bau, dessen Umrisse im Dunkel verschwammen, der Schein, mehrerer Lichter ...

»Die Dampfsäge?!« stieß er atemlos hervor. »Reb David Münzers Nathan? ... Das wär ein Glück ... ein Glück!« Die Stimme versagte ihm.

»Nun?!« rief Mendele triumphierend. »Was aber werdet Ihr erst sagen, wenn Ihr hört, daß das Glück noch größer ist, als Ihr glaubt? Es ist nicht der Sohn, sondern der Vater selbst ... Reb David Münzer!« – er betonte jede Silbe und ließ sie gleichsam auf der Zunge zerfließen, wie ein köstliches Gericht.

[133] Leib wich entsetzt zurück. »Der Greis? ... Das geht nicht!«

Mendele wandte sich jählings um. »Wa-as?« rief er langgedehnt und legte die Hand ans Ohr, als zweifelte er, recht gehört zu haben. »Seid Ihr ...«, die Stimme schien ihm vor maßlosem Staunen zu stocken.

»Aber so bedenkt doch«, sagte Leib schüchtern, »er ist vielleicht um sechzig Jahre älter als mein Miriamchen ...«

»Um hundert!« rief der Vermittler und warf die Arme in die Luft. »Hast du's gehört, Beile?!« wandte er sich dann an sein Weib (»Beile«, die korrumpierte Form für: Bella). »Leib der Schenker sagt nein, wenn ich ihm Reb David Münzer für seine Tochter anbiete ... Gut, daß ich eine Zeugin hab, sonst glaubt mir's niemand!«

»Geschieht dir recht!« klang es aus dem Nebenzimmer zurück. »Wirf ihn hinaus!«

Pulverblitz nickte. »Wenn das nicht geht«, wandte er sich, plötzlich kalt und ruhig, an den Kleinen, »so geht Ihr und werdet mir nie wiederkommen. Mit Verrückten hab ich nicht gern was zu tun. Was Ihr seid, wißt Ihr – was aber ist Reb David? Der reichste Mann in Halicz, fromm, angesehen, tüchtig – so eine Dampfsäge findet man in ganz Polen nicht! ... Lebt wohl, Reb Leib!«

Der Kleine stand verwirrt da; in seinem Hirn kreuzten sich die Gedanken. David Münzer war wirklich all das, was ihm Mendele nachrühmte, auch für seine Jahre noch leidlich rüstig, aber doch mindestens siebenzig, auch kürzlich zum dritten Mal verwitwet; fünf Kinder lebten noch im Hause ... Das verwitterte Antlitz des Greises mit den trüben, aus den schweren, geröteten Lidern müde hervorblickenden Augen, die gebeugte Gestalt tauchte vor ihm auf – er schloß die Augen; ihm graute bei dem Gedanken, die blühende Schönheit seines Kindes in diese welken Arme zu legen. Aber da klangen ihm die Worte seines Weibes ins Ohr und die heisere Stimme des Janko– unschlüssig drehte er den Hut in den Händen ...

»Inzwischen wird Reb David nur noch älter«, sagte Pulverblitz höhnisch. »Geht ...«

»Verzeiht ...« Leib suchte sich zu fassen. »Auch ein armer Vater wünscht sich für sein Kind ...« Er wagte den [134] Satz nicht zu vollenden, da der andere eine ungeduldige Bewegung machte. »Ich will heut nichts entscheiden; meine Chane muß doch ihr Wort mitreden ... Also David ... Ich hätt gar nicht gedacht, daß der noch einmal heiraten will!«

»Weil Ihr so klug seid! Alle anderen haben daran gedacht. Das Haus wird ihm eingerannt, und was für Partien! Ich verhandle jetzt für seinen Nathan wegen eines Mädchens in Hussiatyn; sie bekommt zwanzigtausend Gulden mit, der Onkel ist Wunderrabbi. Es geht noch nicht zusammen – und warum nicht? Weil die Familie lieber den Vater möcht! Auf Ehre! Warum auch nicht? Kann sich's eine Frau besser wünschen? Und was sind Siebenzig, wenn man so ist wie er? Gegen ihn bin ich ein Greis! Aber Reb David sagt: ›Nein‹, sagt er, ›die Hussiatynerin ist für mich zu leicht‹, sagt er, ›wozu brauche ich noch mehr Geld – wenn ich mich noch einmal dazu entschließe, soll es ein schönes, schweres Mädchen sein.‹ Darum habe ich an Eure Tochter gedacht. Aber statt vor Freuden zu weinen, sagt Ihr – ich mag's nicht wiederholen ... Übrigens, wahrscheinlich hätt er mich ohnehin hinausgeworfen – Grund genug hätt er dazu!«

»Welchen Grund?« fragte der Schenkwirt gekränkt. »Denkt an Eure Pacht! Er heiratet ja Euch und Euer Weib mit! Und wenn auch nicht – kann ein Mann wie er nicht auch noch Geld verlangen, selbst wenn es ein schweres Mädchen ist? Und seid Ihr etwa aus einer frommen Familie?«

»Das bin ich!« erwiderte Leib eifrig. »Mein Urgroßvater war Gehilfe bei einem Rabbi!«

Pulverblitz lachte höhnisch auf. »Und Euer Großvater? Euer Vater? Ihr? Habt Ihr je Talmud gelernt? Den Bauern Schnaps verkaufen kann ein Bauer auch! ... Aber was red ich da noch viel! Es war eben eine Dummheit von mir!

Was, wird er sagen, Leibs Tochter – ein Mädchen vom Dorf?«

»Das ist doch keine Schande«, sagte Leib.

»Aber nicht angenehm! Kann sie ein großes Haus führen, die Kinder erziehen? Hat sie von den Bauern gelernt, mit den Leuten zu reden? Und dabei denk ich noch gar nicht daran, daß auf dem Dorf manchmal was geschieht ...«

[135] »Was?« stieß Leib erschreckt und darum überlaut hervor.

»Schreit nicht so! Ich sag Eurer Tochter nichts nach. Aber manchmal geschieht da wirklich was, gottlob sehr selten, aber wenn nur in hundert Jahren einmal, so muß man's doch auch mit bedenken.«

»Was?« wiederholte der Kleine heiser; ihm war's, als drehe sich plötzlich die Stube und der dicke runde Mensch da um ihn her. Der Vermittler hielt's für Entrüstung und lenkte ein. »Wie gesagt, so was sollt man bei keinem jüdischen Kind für möglich halten, und Gott bewahr mich, so von Eurer Tochter zu denken, aber die Partie, die ich eben zusammengebracht hab ... Wißt Ihr, wer die Leut sind? Der Vater der Braut ist ein reicher Holzhändler aus Sniatyn und hat für die neue Bahn von Lemberg nach Czernowitz die Schwellen übernommen. Also – darum zieht er im vorigen Herbst, damit er die Arbeit selbst überwachen kann, ins Dorf neben seinem Wald. Und heut?! Heut muß er sich Ruben, den Fuhrmann, um tausend Gulden zum Schwiegersohn kaufen, damit die älteste Tochter zu ihrem Kind einen Mann hat. Sie hat – denkt nur! – mit einem Förster eine Liebschaft angefangen! Dabei ist noch das Glück für den Vater, daß Reb David Münzer bei dem Geschäft beteiligt ist; im nächsten Frühjahr wird ja die Bahn hier gebaut; er kommt her, Reb David empfiehlt ihn mir. Kein Schadchen in ganz Polen hat ihm Hilfe gewußt; ich natürlich hab's fertiggebracht. Denn was bring ich nicht fertig? Ich lob mich doch gewiß nicht gern, aber das muß ich sagen ...«

Und nun folgte ausführlich, was Mendele Pulverblitz, trotz seiner Abneigung gegen Selbstlob, über sich sagen mußte, und das war gut für den armen Leib Weihnachtskuchen. Er konnte inzwischen sein Entsetzen so weit bemeistern, daß der andere nichts davon gewahrte. Aber klar zu denken, einen Entschluß zu fassen, war ihm nicht möglich. Mit einem kurzen Gruß stürzte er ab.

Erst als der Marktflecken hinter ihm lag und er allein auf der einsamen, mondbeschienenen Straße nach Winkowce stand, hielt er an und suchte sich zu besinnen. Aber es ging nicht, noch drängte ihm das Blut zu wild gegen den Kopf.

[136] »Herr Gott im Himmel!« schrie er plötzlich auf und hob die Arme empor.

Es war ein Schrei des tiefsten Schreckens, und das Entsetzen über das eben Gehörte hatte ebensoviel Teil daran wie das Grauen vor der Gefahr, die ihm selbst drohte. Allerdings hatte ihn ja der Gedanke an diese Gefahr schon überkommen, aber das war ihm hinterdrein wie Wahnsinn erschienen, und er hatte Gott und sein Kind dafür um Verzeihung gebeten. Ein Christ und eine Jüdin – es ging eben nach seiner Anschauung gegen die Natur, wie etwa ein Bund zwischen Lamm und Wolf; es geschah niemals, es konnte niemals geschehen, und schon darum brauchte auch er nicht davor zu zittern. Nur vor einer Gewalttat des Janko bangte ihm, aber eine Liebschaft – nein, nicht bloß weil es seine brave, gehorsame Miriam, sondern weil sie eine Jüdin war. Und nun hatte es sich doch begeben, im selben Lande, zur selben Zeit; dem Manne war's, als wanke der Boden unter ihm ... Mendele hatte recht: Und wenn es nur in hundert Jahren einmal geschieht, so muß man's doch mit bedenken – und dabei wußte er nichts von diesem Janko! ...

Herr Gott im Himmel, klang es wieder von seinen Lippen, diesmal leise, ihm selbst kaum vernehmbar, ein Gebet aus tiefster Brust. Du vermagst alles ... Du wirst auch dies zum Guten wenden ... Nicht wahr, du wirst?

Die Lippen bewegten sich lautlos, er dachte es nur. So stand er im Staub der Straße, das Haupt zum Himmel gewendet, daß es vom Mondlicht hell überflutet wurde. Ihm war's, als müßte er ihm ein Zeichen senden ... Aber nichts regte sich als das leise Wühlen des Windes im Gesträuch, und das klang wie ein Seufzer ... Und dennoch – je länger er so stand und schaute, rings alles Stille und Licht, Licht und Stille, desto leichter wurde auch ihm ums Herz. Droben wandelten Mond und Sterne durch das azurne Blau ihre ewigen Pfade, und um ihn schimmerten die Stoppelfelder und der tiefe Staub der Straße wie eitel Silber ... Es war nicht anders, als er es tausend Male gesehen, aber heute labte es ihn, daß das arme, bekümmerte Herz wieder ruhiger zu schlagen begann ... Preis ihm, der erhellet die Finsternis! Er wollte zu beten beginnen, aber wieder bewegten sich die Lippen, nur lautlos.

[137] Wundersam getröstet setzte er seinen Weg fort. Es mußte spät sein, wohl an zehn, Weib und Kind waren gewiß schon in Sorge um ihn; er wollte rasch ausschreiten, aber das ging nicht, die armen, schwachen, krummen Beine konnten sich nur langsam durch den tiefen Staub weiterschleppen. Und dann wurde er immer müder und müder, und endlich ging's gar nicht mehr. Als er die Bank am Brunnen erreichte, wo er heut nachmittag mit dem Janko gesessen, wankte er unwillkürlich auf sie zu. Es war ja spät – auch schimmerte das Bild des Gekreuzigten hell und klar – er hätte den Sitz sonst lieber gemieden, heut ließ er sich ohne Besinnen nieder. »Nur einige Minuten«, murmelte er und das Haupt sank an den Stamm des Kreuzes. Dann hörte er die Kirchenuhr in Halicz schlagen, dumpf, fern, wie meilenfern, nur zwei Schläge. »Halb!« murmelte er schlaftrunken. »Halb zehn – oder schon halb elf?!« Und dann wurde der Schleier vor seinen Augen dichter, und er war eingeschlafen.

Als er wieder erwachte und verwirrt emporfuhr, da wußte er zunächst gar nicht, wo er war und wie er hierher geraten, wohl aber, was ihn geweckt: es war die Stimme der Miriam, die bang nach ihm gerufen. Und nun hörte er es wieder, noch näher, wenn auch noch immer fern genug: »Vater! Vater!« Es klang bang, wie ein Hilferuf. Zitternd richtete er sich empor und rieb sich die Augen. Er war ja wach, und nun wußte er auch, wie es zuletzt mit ihm gekommen, und dennoch träumte er wohl – was sollte sein Kind des Nachts auf der Landstraße? ... Aber nun hörte er von fern einen Schritt und bald auch wieder ihre Stimme. Doch rief sie nun nicht mehr nach ihm, sondern sie sang. Mit jedem ihrer Schritte klang es ihm deutlicher entgegen:


»Janko, komm nie wieder her,
Meine Mutter leid's nicht mehr!
Und mein Vater warnt: ›O Kind,
Weißt du nicht, wie Männer sind?‹
Ja, doch weiß ich's nicht genug,
Selbst erfahren nur macht klug ...
Ob sie schilt und ob er klagt,
Komm, mein Janko, unverzagt!«

[138] »Miriam« schrie der Kleine entsetzt auf und stürzte ihr entgegen.

»Vater!« Mit einem Jubelruf riß sie ihn in ihre Arme.

»Wo hast du nur gesteckt? Wir haben uns ja zu Tod geängstigt! Du bist wohl eingeschlafen, armes Väterchen, hier am Weg?!«

Er machte sich frei. »Miriam«, schrie er und spähte ihr in angstvoller Qual ins blühende Antlitz, »was hast du da gesungen?!«

Sie hatte wohl die Frage überhört. »Eingeschlafen?!« wiederholte sie lachend. »Da war's doch gut, daß mich die Mutter geschickt hat, nach dir zu sehen. Freilich: ›Nur bis zum Wald‹, sagt sie, ›keinen Schritt weiter!‹ Aber ich denke: was soll mir denn geschehen und gehe tapfer vorwärts ... Aber nun komm, komm! Die Mutter ist ganz verzweifelt; ›es ist ihm gewiß was geschehen‹, jammert sie ...«

Er duldete, daß sie seinen Arm in den ihren legte und ihn vorwärts zog. Aber dann fragte er doch wieder: »Warum hast du dies Lied gesungen?!«

»Welches Lied?« fragte sie erstaunt. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich zuletzt gesungen habe. Ich hab auf dem Weg alle Lieder gesungen, die ich überhaupt weiß, und dazwischen nach dir gerufen. Denn mir war ja doch so bang, mußt du wissen, um dich, und dann so ganz allein in der Nacht ... Wenn ich meine Stimme gehört hab, war's etwas besser!«

Er atmete auf und konnte nun rascher neben ihr hergehen. Aber dann hielt er doch inne und sagte: »Miriam, du hast mich nie im Leben angelogen, nicht wahr, du sagst mir auch jetzt alles, wie es ist?! Du hast nur gesungen, weil du dich gefürchtet hast?«

Sie sah ihn verblüfft an. »Ja – natürlich, warum sonst? Bist auch du bös darüber? Ich dachte, nur die Mutter. Sie sagt, es schickt sich nicht, weil ich jetzt groß bin. Aber diese Lieder singen ja auch ganz alte Weiber im Dorf ...«

»Christinnen!« sagte er. »Du aber bist ein jüdisch Kind! Du wirst die Lieder nie mehr singen, nicht wahr? Und wirst immer mein gut, brav Miriamchen bleiben?«

»Ja!« lachte sie. »Aber nun komm!«

»Nein«, sagte er, und seine Stimme klang bewegt, ja [139] feierlich, »nicht so!« Er blieb stehen und legte ihr die Hand aufs Haupt. »Du bist mein einzig Glück auf der Welt, du mußt es mir im Ernst versprechen!«

Auch sie war ernst geworden; so hatte sie ihn noch nie gesehen – ließ der Mondschein seine Augen so feucht schimmern? »Ich versprech's dir«, sagte sie. »Ich werde dir immer gehorsam sein!«

Von da ab sprach er kein Wort mehr, bis sie das Haus erreicht hatten; auch sie schwieg; es war ihr vorhin so seltsam zumut geworden, sie wußte kaum selbst warum.

Vor der Schenke kam ihnen Chane schluchzend entgegen. »Du hast dich nicht heimgetraut!« rief sie. »Was bringst du?« Er suchte sie zu beruhigen, und als sie in ihn drang zu erzählen, wies er sie kurz ab. »Morgen!« sagte er. »Für heut hab ich genug!«

»Genug ... genug ...«, wiederholte er in Gedanken immer wieder, bis er todmüde aufs Lager sank.

4

IV

Der Schlaf war ihm barmherzig; nur noch einige Minuten, wo ihm alle Erlebnisse dieses Schicksalstages, wie noch keiner über ihn gekommen, qualvoll, in tollem Wirbel durchs Hirn stachen – dann wußte er nichts mehr von sich und all seinen Nöten.

Erst gegen Morgen kamen sie ihm im Traum. Er sah sich in einer großen, festlich geschmückten Stube, die er nie gesehen; es war wohl im Hause David Münzers, denn der saß an der Tafel obenan, neben ihm Miriam, totenbleich und vergrämt. »Ich hab nie mehr gesungen, Vater«, flüsterte sie, und er verstand es, obwohl er weit von ihr stand und die vielen Hochzeitsgäste lärmten und schrien. Aber da waren sie alle plötzlich verschwunden, nur das Brautpaar saß noch auf seinen Ehrenstühlen und er in seiner Ecke; da stürzte plötzlich Janko mit hochgeschwungenem Beil herein und auf Miriam zu. Der Träumende schrie auf und wollte sich dazwischenwerfen, aber er war wie gelähmt; »Erbarmen!« stöhnte er und erhob den Arm, »Janko! ...« Da legte sich eine kalte Hand auf seine Stirn, und er erwachte ...

[140] Es war seines Weibes Hand; sie hatte ihn geweckt, weil er so angstvoll gestöhnt. Er blickte um sich – das erste Grau des Morgens brach eben durch die kleinen Scheiben in die Kammer – und starrte Chane verstört an. Ihm war's, als hätte er ihr Antlitz nie so fahl, so abgezehrt gesehen. »Bist du krank?« stammelte er.

»Nicht kränker als sonst«, erwiderte sie scharf. »Aber was ist's mit dir? Was hast du gestern mit dem Janko gehabt, daß du davon träumst?«

»Nichts ... Später ... Nach dem Gebet!«

Er erhob sich, verrichtete die üblichen Waschungen, legte die Gebetriemen an und wandte sein Antlitz gegen Osten. Das war ja auch sonst die hohe Stunde seines Tages, aber nie hatte er so viel Trost, so viel Bedeutung in den liebvertrauten Worten gefunden wie heute. »Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, der du aufrichtest die Gebeugten« – und dann: »der du lenkest die Schritte des Menschen« – o wie wohl das der armen, zitternden Seele tat ... Er hatte die Schritte nach seinem Gebot gelenkt, immer, auch gestern, er konnte ihm auch heute ins Auge schauen ... wer sich solches sagen konnte, brauchte nicht zu zittern ...

Ein Abglanz dieser Zuversicht lag noch auf seinem Antlitz, als ihm nach dem kärglichen Frühmahl sein Weib befahl: »Erzähle!« Er wollte ihr nichts verschweigen, aber trotz seiner gehobenen Stimmung begann er doch mit dem, was ihm die wenigsten Vorwürfe einbringen konnte, seinem Gespräch mit Mendele Schadchen.

Sie hörte unbewegt zu; nur zuweilen ging ein Zittern durch den siechen Leib, und die Linien um den Mund wurden noch schärfer; so als er von dem Taubstummen, dann Avrumele Sturm erzählte. Erst als er den Namen des greisen Freiers nannte, fuhr sie zusammen, die Hand umkrallte in fieberhafter Spannung seinen Arm. »Reb David Münzer ... Was hast du geantwortet?!«

»Daß – daß ich's mit dir bereden will!«

»Gottlob!« Auf den welken Wangen lohte eine fiebrige, scharf begrenzte Röte auf. »Dir hätt's ähnlich gesehen, das Glück abzulehnen.«

»Das Glück?« fragte er schüchtern. »Du glaubst ...«

»Daß wir Gott im Staube danken müssen, wenn was draus wird«, erwiderte sie. »Ja, das glaub ich ... Red [141] nicht«, unterbrach sie ihn heftig, »was du sagen willst, hab ich mir tausendmal selbst gesagt, schon vor Jahren hat's mich nicht schlafen lassen, und nun erst, seit sie erwachsen ist ... Denn ich bin ja nicht blind, nicht närrisch, ich hab vorausgesehen, wie wir sie versorgen können ... Versorgen! – daß Gott erbarm!« Sie begann zu schluchzen. »Damals hab ich zu Gott gefleht: Tu du ein Wunder, sie ist ja so gut und schön!« Zwei jähe Tränen rollten ihr über die Wangen, sie wischte sie hastig hinweg. »Aber Wunder geschehen nicht mehr, und unter dem möglichen ist das noch vielleicht das beste.« Sie fröstelte wieder und zog das dünne Tuch fester um die Schultern. »Ich war auf Schlimmeres vorbereitet ...«, sagte sie dumpf. »Ein braver, reicher Mann, und gerade sein Alter ist ja ein Trost ...«

»Versündige dich nicht!« rief er erschreckt.

»Wünsch ich ihm den Tod?! Aber ein Mann von Siebzig, ein Weib von Sechzehn –« Dann aber fragte sie angstvoll: »Glaubst du, daß Mendele es ernstlich versuchen will?«

Er erzählte das Gespräch nochmals; nun wagte er auch, den Schluß zu berichten.

»Unsinn«, sagte sie verächtlich. »Das hat Mendele erfunden, dich zu schrecken. Und wenn's wirklich so ein jüdisch Kind gibt– man hört ja auch von Kälbern mit fünf Füßen –, was geht's uns an? ... Also Mendele wenigstens scheint's wirklich zu wollen. Und weil er klug ist und nie Unmögliches versucht, so gelingt's ihm vielleicht.« Sie atmete tief auf. »Morgen gehen wir zu ihm und besprechen das Nähere.«

»Morgen schon?!« Es war ihm unwillkürlich entfahren.

»Worauf willst du warten?« fragte sie bitter. »Daß Reb David jünger wird oder du ein reicher Mann? Ich hab keine Zeit dazu; ich bin ein krankes Weib, ich möcht ruhig sterben, und das kann ich nur, wenn ich mein Kind unter dem Trauhimmel gesehen habe. Oder willst du bis zum Sommer warten, wo sie Reb David von der Straße weg heiraten kann?!«

Der Kleine schrak zusammen. Und dabei kannte sie noch sein Gespräch mit Mosche nicht; heut waren's ja nur noch neun Tage bis zum ersten Oktober ... Ein andermal! dachte er, wie wird sie wettern! – und helfen kann ja das [142] auch nichts! Dann aber raffte er doch all seinen Mut zusammen und beichtete ihr zögernd und stockend die neue Bedrängnis.

Sie nahm's noch schlimmer auf, als er befürchtet; eine Flut von Vorwürfen und Klagen ergoß sich über sein tief geducktes Haupt. »Ja, so klug weißt du dich zu den Menschen zu stellen«, rief sie. »Und dabei willst du noch Reb Davids Werbung ablehnen? Was kann uns noch retten, wenn nicht seine Bürgschaft?!« Er erwiderte nichts, aber das traf ihn doch innerlich nicht allzu hart. Reb David hat ja noch gar nicht geworben, dachte er, und was die Geschichte mit dem Wechsel betrifft – kann ich dafür, daß Mosche etwas von mir wollte, was er nicht gestattet? ... So recht schlimm zumute ward ihm erst, als sie schloß: »Und warum ist dies alles über uns gekommen? Des Bauern wegen! Jetzt mag dich dein lieber Janko retten!«

Seine Bestürzung war so sichtlich, daß sie es trotz ihrer Erregung gewahrte. »Nun?« fragte sie. »Aber mir scheint, du hast es schon versucht. Du hast ja davon geträumt: »Janko! Erbarmen!« Was hat er dir geantwortet?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er tonlos. »Mein Traum hat sich auf ein anderes Gespräch bezogen ... Der Janko könnte mir nicht helfen, und seit gestern bisse ich mir auch lieber die Zunge ab, als ihn darum zu bitten ... Seit gestern ...« Er rang nach Luft. »Du mußt alles wissen!« Und er erzählte die Szene am Kreuz, Wort für Wort, nur den entsetzlichen Verdacht, den er einen Augenblick gehegt, brachte er nicht über die Lippen. Das würde sie mir nicht verzeihen, dachte er, und hätte damit recht.

Die Wirkung war eine andere, als Leib sie befürchtet hatte. Zwar hagelten die Vorwürfe auf sein Haupt nieder, daß er sich immer ängstlicher zusammenduckte und schließlich nur noch die Spitze des verschossenen Käppchens über dem Tisch sichtbar war, aber von jener Angst, die ihm Jankos Leidenschaft eingeflößt, empfand Chane offenbar nichts. Im Gegenteil, trotzig und kampfbereit stemmte sie die Arme in die Hüften und rief:

»Dem will ich's heut gründlich besorgen! ... Wein nur, diesen Kunden vertreib ich dir für immer! ... für immer!«

[143] »Weinen?« Das Köpfchen wagte sich ein wenig aufzurichten. »Springen will ich vor Freud, wenn's dir gelingt ... Aber ...«

»Was?« rief sie scharf.

»Ich mein nur ... Du weißt gar nicht, wie er gestern getobt hat ... In dieser Sach scheint er wie verrückt ... Wenn man ihn reizt, so ...«

»Schlägt er uns alle tot!« rief sie hohnvoll. »Ja, ja, einen braven Freund hast du dir ausgesucht ... Aber ich fürcht mich nicht, ich weiß – wie man – mit Tieren – fertig – wird – ich –«

Weiter kam sie nicht. Ein krampfhafter Husten drohte sie zu ersticken; die eingefallenen Wangen röteten sich, der sieche Leib wankte. Erschreckt wollte ihr Leib beispringen, sie winkte ihm ab. Endlich ließ der Anfall nach; sie sank erschöpft auf eine Bank.

»Geh«, murmelte sie. »Später! ...«

Betrübt schlich Leib vor die Türe. Wieder war's ein wunderschöner Tag; der Herbst ist die einzige Jahreszeit, die diesem dürftigen, gleichsam auch von Gott verstoßenen Heideland eine Reihe andauernd heiterer Tage schenkt; sommerlich warm schien die Sonne vom tiefblauen Himmel. Ihn aber fröstelte es bis ins tiefste Herz hinein. Jammer und Sorge, wohin er blicken mochte – und ach, mit jeder Stunde immer neue Sorge ... Wie Chane hustete, wie sie aussah – gewiß nicht erst seit heute, aber auch darauf hatte er, während er so sein armseliges Leben in gewohntem Schritt weiter geschleppt, nicht recht geachtet ...

Er schloß die Augen. Mein Herr und Gott, dachte er, das wenigstens nicht – das nicht ...

Da hörte er seinen Namen rufen; es war Onufrij, der Schmied, der sein Geld holen kam. »Du hast es doch bekommen?« fragte er.

Leib nickte. »Sogar um den kleineren Wechsel.«

»So? – wirklich?« Der wohlgenährte Mann mit der verdächtig roten Nase im breiten Gesicht sagte es gleichgültig, als ginge ihn die Sache kaum was an. »Na – gib her!«

Sie traten in die Stube und machten das Geschäft ab. Und da er nun einmal in der Schenke saß, so ließ sich Onufrij trotz der frühen Vormittagsstunde eine Flasche Schnaps bringen.

[144] »Mir tut nur leid«, sagte er, nachdem er das erste Glas auf einen Zug geleert, »daß ich mir nicht gleich vierzig Gulden geliehen habe.«

»Warum?« fragte Leib. »Braucht Ihr so viel?«

»Oh, du dummer Jud!« lachte der Schmied behaglich, »Geld kann man immer brauchen. Und jetzt habe ich doch keine Sorge mehr ums Zurückzahlen. Du weißt doch: die Eisenbahn ...«

»Ja, im nächsten Frühling wird sie hier gebaut ... Aber warum hofft Ihr dabei Geld zu verdienen, Pani Onufrij?!«

Der Schmied lachte laut auf. »O du Schafskopf! Was ist denn mein Handwerk – he? Und was ist denn eine Eisenbahn –he? Du hast noch keine gesehen, aber ich! – als ich im letzten Frühling in Lemberg war; dorthin kommt das eiserne Pferd ja schon seit Jahren von Krakau hergelaufen. Also – auf Schienen läuft's, guter Leibko! Und kannst du mir vielleicht sagen, wessen Geschäft es ist, Schienen zu schmieden und auf die Schwellen zu nageln? Nicht wahr, hehe, das macht der Glaser?. ... Tausende sind dabei zu verdienen – so ein Haufen Gulden!« Er hielt die Hand hoch über den Tisch. »Und um den Preis wird da mit einem armen Handwerker nicht gehandelt, wie diese knickrigen Bauern tun, wenn sie ihre Schindmähren beschlagen lassen! Denn wer baut die Bahn? Der Herr Kaiser baut sie – verstanden, Leibko?«

Der Kleine hatte kaum hingehorcht; er war wieder in seine trüben Gedanken versunken. »Freilich«, sagte er nun, »da ist Geld zu holen!«

»Aber nicht durch die Schienen allein!« fuhr Onufrij fort; er war inzwischen bereits beim dritten Glase angelangt. »Weißt du schon, daß die kaiserlichen Schreiber nächster Tage hierherkommen? Solche hohen Herren hast du noch nie gesehen! – jeder hat einen großen Bauch und auf der Brust ein goldenes Kreuz, so groß wie ein Fenster – das hat ihnen der Herr Kaiser geschenkt. Und wozu kommen sie?! Um den Weg für das eiserne Pferd abzustecken! Natürlich wird der Boden uns nicht umsonst abgenommen; jeden Zoll vergütet der Herr Kaiser mit Gold! Verstanden?!«

»Wißt Ihr aber auch gewiß«, fragte der Schenkwirt, [145] »daß die Bahn über Euren Acker gelegt wird?!«

»Wa-as?!« Diesmal lachte der Schmied so wiehernd drauflos, daß der Kleine zusammenfuhr und Miriams blühendes Gesicht aus der Nebenstube neugierig hereinguckte. »Oh, das Sprichwort hat recht: ›Unter tausend Juden ist nur einer dumm, aber der ist es dann auch für alle tausend zusammen!‹ Ob die Bahn über meinen Grund ... hahaha! ich lach mich tot! Über wessen sonst?! Etwa den deines Janko, des elenden Knickers, den Gott verdammen möge?! ...Wer zieht denn die Wagen auf der Bahn? Ein eisernes Pferd, hab ich dir schon gesagt. Wie es das macht, weiß ich nicht – das heißt, dummer Leibko, ich weiß nur nicht, wie es so von selber laufen kann, weil das überhaupt niemand weiß. Einige sagen, daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, daß ...« Er blickte sich scheu um und schlug dreimal hastig das Kreuz.

»Der Teufel?« fragte Miriam lachend; sie war in der Türe stehengeblieben.

»Pst!« Wieder blickte sich der Bauer scheu um. »Aber das ist Unsinn – der Herr Kaiser wird sich doch nicht mit – mit ihm eingelassen haben ... Da glaub ich schon eher, was andere meinen: in jedem solchen Pferd steckt ein böser Geist, eine verdammte Seele, aber der Herrgott selbst hat sie hineingesperrt, dem Herrn Kaiser zu Gefallen, und nun müssen sie die Arbeit tun. Gern natürlich nicht, und darum stinken sie von innen her fürchterlich und geben einen Dampf von sich – ich sag Euch ...«

»Aber deshalb versteh ich noch immer nicht ...« meinte Leibko.

»Daß der Weg an meinem Haus vorbeiführen muß?! Aber das muß ja jedes Kind begreifen! Nämlich, was drinnen steckt, weiß ich nicht, weil das kein Christenmensch weiß, aber daß es außen von Eisen ist und daß an diesem Eisen jede Meile was kaputt wird, weiß ich. Nun also! Wenn das hier in Winkowce passiert, wer soll's dann wieder zusammenflicken als ich? – he? Und da sollen sie mich erst eine halbe Stunde weit heranholen müssen?! – he?«

Er hielt die Flasche gegen das Licht; sie war fast leer. »Noch ein Fläschchen, Leibko! Ja, jetzt kommen die guten Zeiten!« [146] »Geb's Gott«, erwiderte der Kleine mit traurigem Lächeln und füllte die Flasche. Dann schlich er hinaus, zu sehen, wie es seinem Weib gehe.

Er traf sie in der Küche, wo sie das ärmliche Mahl bereitete. Der Rauch des Herdfeuers weckte immer wieder den schlimmen Husten. »Du solltest dich schonen«, bat er. »Könnt heut nicht die Miriam ...«

»Warum grad heut?« fragte sie. »Du bist ein merkwürdiger Mensch, Leib«, fuhr sie fort, und diesmal war die Stimme ruhig; nur eine leise, schmerzvolle Bitterkeit klang hindurch. »Daß du eine erwachsene Tochter hast, weißt du erst seit gestern, und seit heut erst, daß deine Frau todkrank ist.«

»Todkrank?!« schrie er entsetzt auf. »Da sei Gott vor!«

»Vielleicht erbarmt er sich meiner«, sagte sie, »und nimmt mich nicht eher fort, als bis ich mein Kind unter dem Trauhimmel gesehen hab. Aber lang darf's dann damit nicht mehr dauern, sonst ...«

Sie verstummte und preßte die Lippen fest aufeinander. Auch er mußte sich erst fassen, eh er sagen konnte: »Chane, da müssen wir ja sofort einen Arzt ...«

Sie schüttelte den Kopf. »Mir hilft kein Arzt mehr«, sagte sie nun so unbewegten Tons, als spräche sie über etwas Gleichgültiges. »Ich hab's auf der Brust; meine Mutter – sie ruhe in Frieden – ist an derselben Krankheit gestorben, und, beiläufig, auch in meinen Jahren – zum nächsten Purim (Fastnacht) werd ich ja vierzig ... Vielleicht irr ich mich«, fuhr sie fort, als sie seine tiefe Erschütterung sah, »aber ...«

Sie brach ab, und wieder preßten sich die dünnen Lippen fest aufeinander.

»Mein Gott!« seufzte er leise. »Mein Gott ...«

»Wir können ja auch morgen den Arzt fragen«, sagte sie, gleichfalls nur zu seiner Beruhigung. »Da sind wir ja ohnehin in Halicz ... Wenn es auf mein Herz allein ankäm, so gingen wir schon heut zu Mendele Schadchen. Aber ich fürchte, es wär nicht klug, ihm zu zeigen, wie dringlich es uns ist.«

Er nickte nur und wollte wieder hinausschleichen; da hielt sie ihn zurück. »Der Onufrij bleibt heut wohl sitzen«, [147] fragte sie scheinbar gleichgültig, »bis sie ihn abends heimtragen?«

»Wahrscheinlich«, erwiderte er.

»Dann kann ich heut nicht mit dem Janko sprechen ... Und ich weiß noch gar nicht, ob ich's morgen tu ... Ich will keinen Unfrieden im Haus«, fügte sie zögernd bei. »Und da du es besser verstehen willst als ich und so sehr dagegen bist ...«

»Aber Chane«, sagte er ängstlich, »wie kannst du das nur sagen? Ich hab ja kein Wort dagegen gesagt. Wenn du es für richtig hältst ...«

Da hielt er inne, weil er ein Zucken der Ungeduld um ihre Lippen sah. Nun wußte er Bescheid: so machte sie es immer, wenn ihr Entschluß sie reute. Sie war zu eigenwillig, um zuzugeben, daß sie etwas Verkehrtes gewollt; so schützte sie denn seinen Willen vor, sich den Rückzug zu decken.

Natürlich hielt es der Kleine in solchen Fällen immer für seine Pflicht, ihr dies zu erleichtern.

»Nun ja«, begann er auch diesmal auf Befehl zu widersprechen und suchte sich sogar eine möglichst feste Haltung zu geben, »ich bin eigentlich dagegen. Denn warum? Er ist ein roher Bauer, du ein krankes Weib – zur Vernunft wirst auch du ihn nicht bringen ...«

»So ereifere dich nur nicht!« unterbrach sie ihn. »Ich sag dir schon, es geschieht nicht. Aber dann darfst auch du nicht mit ihm darüber sprechen. Fängt er davon an, so sagst du ihm: Ach was, darüber reden wir, sobald es an der Zeit ist. Vorläufig haben wir noch keinen Bräutigam für sie, und da wir so arm sind, so finden wir vielleicht überhaupt keinen. Haben wir aber mit Gottes Hilfe einen gefunden, so sagst du ihm das erst recht nicht, verstehst du?«

»Nicht ganz ...«, sagte er zögernd. »Du weißt, Chane«, fügte er so flehend bei, als gestehe er eine unverzeihliche Schwäche ein, »ich kann leider nicht lügen ... Und dann, es würde ja auch nichts nützen, das Kind hält ihn ja für seinen guten Freund und wird ihm gewiß die Verlobung gleich erzählen ...«

»Das wird sie nicht«, fiel sie ihm ins Wort, »wenn ich es ihr verbiete. Natürlich werde ich irgendeinen Vorwand ersinnen, die Wahrheit darf man ihr nicht sagen. Unsere [148] Miriam ist gottlob noch nach ihrem Herzen ein Kind, wie sie vor zehn Jahren war; sie soll nicht erfahren, warum der häßliche Mensch täglich herkommt und was er sich dabei denkt, wenn er sie anglotzt. Sie soll es gar nicht ahnen, und eben darum müssen wir die Sach so leicht als möglich nehmen und ihn hinhalten und sogar dulden, daß er täglich kommt. Denn verbieten wir ihm das Haus, so wird sie den Grund wissen wollen, oder er lauert ihr einmal auf und erschreckt sie durch seine häßlichen Reden ... Auch darum habe ich mich deinem Willen gefügt«, schloß sie, »und dabei bleibt's nun!«

»Ja«, sagte er eifrig; nun leuchtete es auch ihm völlig ein. Einen Augenblick fuhr ihm die wüste Geschichte, die ihm Mendele erzählt, durchs Hirn, aber dann dachte er sofort wieder: Gott, verzeih mir die Sünde an meinem Kinde! Und nicht bloß Frevel war's, sondern auch Unsinn: Chane war ja so viel klüger als er; war auch nur der Schatten einer solchen Gefahr denkbar, sie würde ihn ja voraussehen! ... Gewiß, sie hatte auch diesmal in allem recht; glaubte Janko die Verlobung ferne, so fand er in seiner scheuen, verschüchterten Art gewiß nicht den Mut, mit Miriam zu sprechen ...

Aber freilich, wie er sich dann benahm, wenn er's erfuhr – – den kleinen Mann überflog ein Schauer, er mußte an seinen Traum von heute nacht denken; ihm war's, als sehe er wieder das Beil blitzen und auf das Haupt des geliebten Kindes niedersausen ...

Chane blickte ihn scharf an. »Was noch?« fragte sie kurz. Er erzählte ihr den Traum. »Verzeih«, schloß er, »aber ... vielleicht ... vielleicht hat uns da Gott gewarnt ...«

»Dazu braucht, Gott keine Träume«, sagte sie. »Er hat uns den Verstand gegeben, damit wir die Gefahr vermeiden ... Natürlich werden wir auf unserer Hut sein. Vielleicht hältst du den Menschen für gefährlicher, als er ist, oder er wird mit der Zeit ruhiger, aber wenn du recht hast, so muß das Kind natürlich in dem Augenblick, wo er die Verlobung erfahren kann, aus dem Haus sein. Mag er dann in Halicz rasen. Dort geschieht dabei höchstens ihm ein Unglück, nicht uns ...«

Wie immer, so flößte ihm auch diesmal ihre Entschiedenheit Mut ein. Nur in einem, in der Erkenntnis dessen, was [149] Gott vom Menschen wollte, fühlte er sich ihr überlegen – in allem Weltlichen wußte sie besser Bescheid. Und so kehrte er beruhigter in die Schenkstube zurück, wo Onufrij inzwischen bereits die Hälfte der zweiten Flasche geleert hatte. Das war für den Schmied von Winkowce keine ungewöhnliche Leistung, und er war auch noch lange nicht betrunken, nur eben etwas angeheitert.

»Einen Gulden jeder Zoll«, murmelte er vor sich hin, »zwei ... drei ... vier Gulden.« Und als der Jude wieder auftauchte: »Zwanzig Gulden, dummer Leibko, zwanzig Gulden der Zoll ... Oder was meinst du, dreißig?!«

»Ja, ja!« sagte Leib und setzte sich hinter die Barre.

Er konnte sich heute mit dem Gast nicht unterhalten, wie er es sonst für seine Pflicht hielt, dazu war ihm das Herz zu schwer. Zwar gab es ja nun wohl keinen Auftritt mit dem Janko, vor dem er so sehr gezittert hatte, dennoch bangte es ihm vor dem Wiedersehen. Indes, das mußte eben ertragen sein, aber sein Weib, sein armes Weib! ... Er hatte sie, nachdem sein Vater, ohne ihn zu fragen, die Verlobung abgeschlossen, zum ersten Mal in seinem Leben in der Stunde gesehen, wo sie ihm angetraut worden; früh war ihm der Gegensatz ihrer Naturen fühlbar geworden, und auch er, nicht bloß sie, hatte schwer darunter gelitten; früh war er ihr in allem untertan geworden, wo er nicht noch mehr Gehorsam forderte; die Not war von Anbeginn mit ihnen gewesen, und früh auch war im Dunsthauch dieser Not der Reiz ihres Leibes gewelkt – und dennoch war sie nicht allein seine Gefährtin, die Mutter seines Kindes, sondern auch das Weib seiner Liebe, das Weib seines Herzens wie nur irgendeine Frau dieser Erde, die in freier Wahl erkoren worden und in jedem Herzschlag mit dem Gatten einig war ... Sein Weib war krank, todkrank, und er hatte es nicht bemerkt und nur gedacht: Die Ärmste, sie hustet eben, aber sie hat ja immer gehustet; es wird sich mit Gottes Hilfe wieder geben! ... Freilich, was hätte er tun, zu ihrer Pflege aufwenden können, wenn er's bemerkt hätte?! ... Aber nein, das war keine Entschuldigung, selbst der Ärmste kann den Arzt fragen, selbst der Schwächste noch etwas mehr verdienen ...

Welcher Sünder ich bin! dachte er zerknirscht, und dann brach es ihm halblaut aus der gepreßten Brust: »Barmherziger, [150] rette sie. ... ich will ja büßen!«

»Was?« grölte der Schmied und hielt sich die Hand ans Ohr. »Lauter! Und dein verdammtes Jüdisch versteh ich nicht ... Komm her«, schrie er dann, »ich will dir was erzählen ... Herkommen, sag ich!«

Der Kleine erhob sich und schlich zaghaft dem Fenster zu, neben dem der Schmied saß. Sein Blick schweifte dabei gedankenlos ins Freie – – da ward sein Auge plötzlich starr, und den Körper überfiel ein Zittern ...

Himmel, was war das?! Die Dorfstraße herab kam der Janko geschritten und auf das Haus zu, aber nicht bloß die Stunde war ungewöhnlich – die Sonnenuhr am Pfarrhaus gegenüber wies kaum auf zehn –, sondern auch seine Tracht: er hatte sein Festgewand angelegt, das er vom Vater ererbt, aber sonst nur an den höchsten Feiertagen trug: den langen, pelzgefütterten, vom schwarzen, silberbeschlagenen Ledergurt zusammengehaltenen Rock aus weißgegerbtem Ochsenfell, die hohe braune Schaffellmütze auf dem Kopf, und über der Schulter das Beil mit reich geschnitztem Holzgriff, das Merkzeichen des freien Bauern, der auf dem eigenen Hofe sitzt.

Das Beil! ...

Wie von Entsetzen gelähmt starrte der Kleine auf die Waffe, die im Sonnenschein blitzte, und regte sich nicht, wie sie so langsam näher und näher kam ... Erst als der Schmied den Heranschreitenden gleichfalls gewahrte und erstaunt aufschrie: »Der Janko – und so?!«, fühlte er das Blut wieder in die Glieder strömen und konnte sie regen. Er wandte sich zur Küche, die Frauen zu warnen, aber es war zu spät, schon trat der junge Bauer in die Stube.

»Gegrüßt sei Jesus Christ!« begann er feierlich, als er den Kleinen gewahrte, und nahm die Mütze vom Haupte. »Segen diesem Hause!« Auch dies war beides wahrlich ungewöhnlich, aber nicht deshalb allein fühlte Leib wieder die Glieder erstarren, sondern weil er lange genug im Dorf lebte, um nun ganz genau zu wissen, warum Janko gekommen war. Die Festtracht am Werkeltag, der fromme Gruß in der Schenkstube – der Bauer wollte um Miriam werben und hielt die Formen ein, die unter seinesgleichen üblich waren. Es stimmte alles – bis auf die beiden Zeugen freilich, die der Freiwerber mitzubringen pflegt.

[151] Das war so sichtlich, daß es auch dem Onufrij nicht entging. »Was?« rief er unter wieherndem Lachen. »Der Janko geht auf die Freite?! Hoho!«

Der junge Bauer fuhr zusammen: nun erst gewahrte er, daß noch ein Dritter in der Stube war. Sein Gesicht, das hochrot vor Erregung gewesen, wurde fahl, die straffe Haltung schlaff; dann wandte er sich stumm ab und schlug in hilfloser Verlegenheit den Blick zu Boden.

Noch immer wiehernd kam der Schmied auf Janko zu. »Ich hab's ja immer gesagt«, höhnte er, »unser Janko ist der schönste Bursch im Dorf – hehe. Wie fein er sich herausgeputzt hat! In Lemberg hab ich einen Affen tanzen gesehen-– aber der war lange nicht so schön gekleidet! ... Im Gesicht konnt er's eher mit dir aufnehmen!«

»Schweig!« rief der Bauer und wich zurück.

»Hoho!« rief der Schmied und streifte die Hemdärmel auf. »Spricht so ein grüner Laffe wie du mit einem Hausvater? Ein verrufener Geizkragen wie du mit einem braven Mann, vor dem jeder im Dorf Ehrfurcht hat, weil er lebt und leben läßt?!«

Noch einmal wich der junge Bauer einen Schritt zurück. »Schweig!« wiederholte er heiser.

»Aber warum sollt ich dir nicht Glück wünschen?!« höhnte der andere. »Wen hast du dir denn ausgesucht? Am Ende gar ...«

Er sah nach Leib und brach wieder in ein endloses Lachen aus.

Der Jude war bisher noch immer wie gelähmt, keines Wortes fähig, dagestanden. Nun, da sich der Hohn gegen ihn zu kehren drohte, griff er sich an den Hals, als wollte er die unsichtbare Hand abwehren, die ihm die Kehle zuschnürte ... »Onufrij«, stammelte er, weiter kam er nicht.

Da hörte er im Nebenzimmer die Stimme seines Weibes. »Miriam, du bleibst hier!« rief sie scharf. »Drinnen streiten zwei Betrunkene, das ist nichts für dich!« Sie selbst trat in die Stube. »Der Janko?!« murmelte sie. »Was geht da vor?!«

»Hurrah!« johlte der Schmied, als er sie erblickte. »Da kommt die Frau Schwiegermutter ... Nun hast du wohl mehr Mut?!« [152] Totenfahl stand der Janko da; die Brust hob und lenkte sich wie in heftigem Krampf; keuchend ging sein Atem aus und ein. »Hund!« stieß er heiser hervor und schwang das Beil. »Noch ein Wort und. ...«

Die Frau war ans Fenster geeilt und hatte es aufgerissen. »Hilfe!« rief sie auf die Straße hinaus. Auch Leib hatte nun die Stimme, die Kraft wiedergefunden, sich zwischen die Streitenden zu werfen.

»Aber so laß doch!« lachte der Schmied und drängte das schwache Männchen mit einer Bewegung der Hand beiseite, daß es an die Wand taumelte. »Spaß muß sein! Ich will wissen, wer die Glückliche ist!« Und er trat noch näher auf den Bauern zu. »Am Ende gar wirklich die Jüdin?«

»Hilfe!« rief die Chane noch einmal. »Herr Pfarrer, rasch!« Da hörte sie hinter sich einen dumpfen, un heimlichen Laut, wie das Wutgeheul eines Tieres, und als sie umblickte, sah sie das Beil des Janko über dem Haupt seines Gegners.

Aber im selben Augenblick ward auch die Türe aufgerissen; ein junger Mann in priesterlichem Gewande stürzte herein; es war der Hilfspriester, der bei Janko wohnte; der Ruf der Frau hatte ihn erreicht, als er eben ins Pfarrhaus wollte.

»Barmherziger Gott!« schrie er auf. »Du, Janko?!« Er riß dem Rasenden das Beil aus der Hand und drängte den Schmied zurück. »Frieden, Männer! – im Namen Gottes! ... Was geht hier vor?!«

Niemand erwiderte. Noch immer totenbleich, mit geschlossenen Augen lehnte Janko an der Wand, aber auch der Schmied fand kein Wort. Der Schrecken hatte ihn jählings ganz nüchtern gemacht, und nun lähmte ihm die Ehrfurcht vor dem Priester die Zunge. Trotz seiner jungen Jahre war der Pope Hilarion im Dorfe sehr geachtet; er war verständig, wollte seine Bauern nicht plötzlich zu Engeln machen, hielt aber auf Zucht und Ordnung.

»Nun?« fragte er streng, diesmal zu Onufrij gewendet. »Ihr habt ihn wohl wieder gehänselt?«

»Hm!« räusperte sich dieser verlegen. »Aber beliebet doch zu sehen, Hochwürdiger! ... Der Pelzrock, die Mütze, das Beil ... Also auf Freiersfüßen ... Und kommt hierher ...«

[153]

Hilarion blickte erstaunt seinen jungen Mietsherrn und dann wieder den Schmied an. Er begriff offenbar gar nicht, wohin dieser zielte. Als ihm aber der Sinn aufging, färbte sich sein gutmütiges Gesicht dunkelrot vor Zorn.

»Schweigt!« herrschte er den Spötter an. »Schämt Ihr, ein Christ, Euch nicht, Euren Nächsten so zu beschimpfen? ... Um eine Jüdin werben! – wißt Ihr nicht, daß dies die größte Schmach ist, mit der sich ein Christ beladen könnte?! Er wäre gebrandmarkt und verdammt in diesem wie im künftigen Leben! ... Für einen Süffling und Streithammel hab ich Euch längst gehalten, für einen solchen Frevler nicht ... Daß ich das nie wieder höre! weh Euch, Onufrij, wenn Ihr's nun ins Dorf tragt ... Hört Ihr?!«

Der Schmied senkte zerknirscht den Kopf. »Ich will's nie wieder sagen«, beteuerte er. »Aber gar so schlimm ...«

»Eine Jüdin!« brauste der Pope auf. »Einen schlimmeren Schimpf gibt's nicht! Ist Euer bißchen Christentum ganz im Schnaps ersoffen?! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! – Himmelkreuzdonnerwetter, wißt Ihr das nicht mehr?!«

»Ja, ja!« beteuerte der Schmied. »Aber – was hätt ich sonst denken sollen?! Dieser Anzug am Wochentag ...«

»Geht das Euch was an?« schnitt ihm der Pope das Wort ab. Dann wandte er sich an Janko, der noch immer mit festgeschlossenen Augen, wie betäubt, an der Türe lehnte; nur die Hände zerrten wie im Krampf an dem Ledergürtel. »Nun, Janko, sag's uns, damit das Lästermaul gründlich gestopft ist!«

Der junge Bauer zuckte zusammen und riß die Augen auf. Verstört starrte er den Popen an, der das Beil immer noch in der Hand hielt.

Hilarion deutete den Blick dahin, daß Janko sein Beil wiederhaben wolle. Die einst so kampflustigen Ruthenen schmücken sich heute, wo sie durch die Zuchtrute des Polen, den Weihwedel des Jesuiten der demütigste Slawenstamm geworden sind, nur noch selten mit diesem Wahrzeichen des freien Mannes, aber haben sie das Beil in die Hand genommen, so gilt es als arge Schmach, es sich entreißen zu lassen.

»Da!« sagte der Pope und drückte ihm den Griff in die [154] Hand. »Aber nun rede!«

Der Bauer öffnete den Mund, aber nur ein gurgelnder Laut brach ihm aus der Kehle. Er schüttelte den Kopf, dann wandte er sich ab und taumelte zur Tür hinaus.

Verblüfft blickte ihm der Pope nach. »Seltsam!« sagte er dann. »Ihn muß was Bitteres getroffen haben. Muß er vielleicht zu Gericht, einen Schwur leisten!?« Er wandte sich freundlich an den Kleinen, der all die Zeit fast ebenso verstört dagestanden wie Janko. »Weißt du es nicht, braver Leibko?!« Er nannte ihn immer so, meinte auch das Lob ernst; er schätzte den Juden sehr und hatte wahrlich keine Ahnung, wie sehr er ihn doch eigentlich vorhin durch seine Standrede an den Schmied beleidigt. »Du bist ja sein Freund!«

Leibko fuhr zusammen. »Warum er ...?« begann er stotternd. Muß ich lügen?! dachte er erschreckt. Da fühlte er zu rechter Zeit die knochige Hand seines Weibes in seinen Rippen. »Ich, ... ich ...«

Es war gut, daß der Pope ihn nicht ansah. Er blickte zum Fenster hinaus, dem Janko nach. Langsam ging der junge Bauer dahin, seinem Hause zu, sehr langsam, das Haupt gesenkt, unsicheren, fast taumelnden Schritts, wie ein Mensch geht, der einen furchtbaren Schlag aufs Haupt erhalten.

»Also, du weißt es auch nicht?« fragte Hilarion. »Nun, ich bring's schon heraus ...« Er griff nach seinem Hut. »Und Ihr könntet nun auch heimgehen«, wandte er sich an den Schmied. »Ein Hausvater, der am Wochentag in der Schenke sein Geld versäuft! Und ich wette, Ihr habt es eben erst gepumpt!«

Da aber richtete sich der Schmied auf. »Mag sein«, erwiderte er bescheiden, jedoch fest, »aber das geht weder Kaiser noch Papst was an, geschweige denn Euch. Vorhin habt Ihr recht gehabt, das will ich auch halten, es gehört zum Christentum. Aber wann ich trinke und wieviel ich trinke und woher ich das Geld dazu habe, das gehört nicht zum Christentum!«

Der Pope setzte sich in Positur und stemmte die Arme in die Hüften. Aber er ließ sie rasch wieder sinken. »Wie Ihr wollt«, sagte er gleichmütig. Denn er sah ein, daß er da zu weit gegangen war; verbot er seinen Pfarrkindern das [155] Trinken, dann gehorchten sie ihm selbst in Dingen nicht mehr, die auch nach ihrer Meinung den Popen angingen. »Ein guter Rat steht jedem frei!«

Nachdem er gegangen war, setzte sich der Schmied wieder behaglich hin und ließ sich ein drittes Fläschchen bringen. Leib aber schlich zu seinem Weib in die Küche.

»Nun, was sagst du dazu?« seufzte er. »Ich hoff nur, unser Miriamchen hat nichts gemerkt ...«

»Nein«, erwiderte sie. »Sie weiß nur, daß Janko mit dem Schmied gerauft hat. Daß er betrunken war, glaubt sie nicht, aber daran liegt nichts ... Was ich sonst dazu sage? Daß du der größte Narr in ganz Polen bist!«

Er fragte nicht warum, sondern beugte stumm sein schuldiges Haupt.

»Um ein Haar«, wetterte sie, »und du hättst unser Kind unglücklich gemacht fürs ganze Leben! Ja, ich weiß, meine Tochter will er heiraten! – der Pope hätt dann einen Lärm gemacht, den man bis Lemberg gehört hätt und nicht bloß bis in die Haliczer Dampfsäge ... Du verdienst wirklich nicht, daß uns Gott so gnädig war. Denn es ist ja so gut abgelaufen, wie wir nur wünschen konnten ...«

»Meinst du?« fragte er zaghaft. »Aber mir ist doch das Herz schwer. Im Pelzrock mit dem Beil – also heiraten!

– Daß er es so ernst meint, hätt ich doch nicht geglaubt ...«

»Eben drum!« erwiderte sie. »Nun weiß er, was sein Pope und seine Leut drüber denken! Wenn er noch nicht ganz verrückt ist, so schämt er sich jetzt in Grund und Boden hinein und läßt sich nicht so bald wieder bei uns sehen ...«

Er schüttelte zaghaft den Kopf. »Aber wenn er ganz verrückt ist?« fragte er fast flehend.

»So wird man ihn binden und ins Irrenhaus bringen!« rief sie heftig. »Laß mich in Ruh!«

5

V

Der nächste Tag schien ihr recht zu geben; es war zum ersten Mal seit langen Jahren, daß Janko nicht mit dem Schlag der elften Stunde eintrat. Mit klopfendem Herzen [156] saß Leib hinter der Barre; bei jedem Schritt, der draußen klang, fuhr er zusammen.

Für Miriam hatte die Mutter im Keller Arbeit geschafft. Aber nach einer Weile guckte doch ihr Rotkopf in die Schenkstube. Als sie den gewohnten Platz leer sah, machte sie große Augen.

»Was geht da vor?« fragte sie besorgt. »Gestern soll er betrunken gewesen sein, und heut kommt er nicht?«

»Miriam!« gellte hinter ihr die Stimme der Mutter aus der Küche.

»Gleich«, erwiderte sie, blieb aber noch. »Vater«, bat sie, »du solltest nach ihm sehen. Er ist gewiß krank!«

»Nein ...«, murmelte er. »Aber wenn du meinst ...«

»Miriam!«

»Tu's!« bat sie und verschwand. Ihm aber wälzte sich eine neue Last auf die Brust. Wie besorgt sie um ihn ist, dachte er. Dann aber tröstete er sich: Oh, ich Narr! Sie ist so an ihn gewöhnt und sollt nicht nach ihm fragen?! Und wieder horchte er hinaus.

Endlich schlug es zwölf; Janko war nicht gekommen. Die Dorfstraße belebte sich – die Leute, die zum Mittagessen heimgekommen, zogen nun wieder auf die Felder – auch unter ihnen war Janko nicht. Leib trat vors Haustor; das Herz wollte ihm nicht leichter werden. Fast hätte er sich wirklich zum Janko aufgemacht; nur die Furcht vor seinem Weibe hielt ihn zurück. Es ist ja nicht Mitleid, dachte er, aber vielleicht wär's klug zu erfahren, was er nun eigentlich vorhat. Da belog der Kleine, der keinen anderen belügen konnte, freilich wieder einmal sich selber. Trotz allen Grauens vor dem »Tier« war doch auch Mitleid in dieser Empfindung, ein ehrliches Mitleid. Eben ein Bauer! Hat diese »Liebe« bekommen, als ob's eine Christin wäre, will sie heiraten! Ein dummer Bauer! Aber wie schrecklich ihm das gestern gewesen sein muß, und heut ist er vielleicht noch verzweifelter. Und hatte er nicht seit Jahren für diesen Menschen gesorgt?! Er war's nun einmal gewohnt, um des Janko willen Kummer und Sorge zu haben! Im nächsten Augenblick schalt er sich freilich ob seiner Schwäche. Nein, Unsinn! Aber klug wär's, klug!. ...

Da kam als einer der letzten, die auf das Feld zurückkehrten, ein Knecht des Janko vorbei, der rote Saverko. Als [157] er den Schenkwirt gewahrte, trat er auf ihn zu.

»Du, Jud«, sagte er, »du weißt ja alles vom Herrn, was hat's denn mit ihm gegeben?! Wird er vom Hof gejagt? Nämlich, seit gestern sitzt er in seiner Stube eingeriegelt und läßt die Wirtschaft gehen, wie sie will. Ißt nichts, starrt vor sich hin, spricht mit sich selber. Mir scheint ...« er deutete auf die Stirn.

»Und da läßt du ihn allein?« rief Leib vorwurfsvoll.

»Was soll ich denn tun? Vor der verriegelten Tür sitzen und ihn in seinem Stall bewachen? Gottlob, den stiehlt ohnehin niemand! Ich sag's dir, weil du sein Freund bist!«

Er ging. Eine Sekunde noch stand der Jude unentschieden, dann lief er die Dorfstraße hinab, dem Hause des Janko zu; die kleinen krummen Beine strampelten so hastig im tiefen Staub der Straße, daß er ihn wie ein Wölkchen umhüllte. Er tut sich sonst was an! – mochte Chane schimpfen und toben, Gott wollte, daß er zum Janko ging ...

Endlich hatte er den Hof erreicht und lief um das Häuschen, wo Hilarion wohnte, dem Stalle zu, von dem sich Janko ein Kämmerchen als Schlafraum abgegrenzt hatte ... Die Tür stand halb offen. Gottlob, es war jemand bei ihm – und nun erkannte er die Stimme des jungen Priesters.

»Und ich sage dir«, rief Hilarion eben eifervoll, »sie wird sich nicht taufen lassen. Da kennst du dies gottverdammte Volk schlecht – in der Blindheit sind sie geboren und wollen darin verharren, bis sie zur Hölle fahren – das ist der Fluch, den unser Herr auf sie gelegt hat! Und wenn sie sich taufen ließe – Gott schütze dich vor dem jüdischen Blut! Rachsüchtig sind sie alle und habgierig und verlogen; eher mag ein Stein Mitleid fühlen, als ein Judenherz ...«

Er sprach so laut, daß Leib jedes Wort verstehen konnte. Aber was nun Janko murmelte, konnte er nicht erlauschen. Hingegen klang nun wieder die Stimme des Priesters:

»Nein, das Mädel ist nicht besser als ihresgleichen. Und wenn sie's wäre, werden's dir die Leute im Dorf glauben wollen? Sie werden dich noch mehr hassen und meiden als jetzt, und dann mit Recht; du wirst deinen Hof aufgeben [158] müssen, an dem dein Herz hängt, und wirst ins Elend kommen mit deinem jüdischen Weib und deinen jüdischen Kindern ...«

So weit hatte der Kleine gelauscht; nun schlich er sich sacht hinweg, er fürchtete, entdeckt zu werden ... Erleichterten Herzens ging er seinem Hause zu. Die bösen Worte, die Hilarion über seinen Stamm, sein Kind gesprochen, verwundeten ihn nicht; eben ein Christ, wie sollte der anders reden? Aber gut war, daß er dem Janko so kräftig abriet, und vor allem: nun tat sich der Mensch gewiß nichts an ... Auch war Chanes Angst, daß Hilarion Lärm schlagen würde, sicherlich unbegründet; da er dem Janko wohlwollte, so mußte er schon um seinetwillen schweigen.

Auf der Bank vor der Schenke saß die Miriam und flickte an einem Kleid der Mutter. Als sie den Vater nahen sah, legte sie die Arbeit hin und ging ihm entgegen.

»Nun?« fragte sie, und die großen braunen Augen blickten ihn angstvoll an.

»Gesund ...«, erwiderte er. »Hat nur – zuviel zu tun«, wollte er sagen, aber das wäre ja eine Lüge gewesen – »mit dem Popen zu sprechen ...«

»Gerade um Mittag?« fragte sie erstaunt. »Ist es wegen seines Streits mit dem Onufrij? ... Aber morgen kommt er doch?«

Wieder stieg jenes heiße, dunkle Angstgefühl in ihm auf. »Wahrscheinlich«, sagte er stockend und seine Augen bohrten sich in das frische, derbe Antlitz. »Aber wenn nicht – müssen wir da sehr traurig sein?«

Sie blickte ihn bestürzt an. »Was geht da vor?« fragte sie und faßte seine Hand. »Warum will er nicht mehr kommen?! ... Natürlich würde ich traurig sein, du doch auch? Wir haben ihn ja beide gern!«

Er zog sacht seine Hand zurück. »Es ist ja auch nichts geschehen«, erwiderte er unsicher und ging ins Haus. »Eben die Gewohnheit«, suchte er sich auch diesmal zu trösten, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Für diesen Nachmittag hatte Chane gestern den Weg nach Halicz angesetzt. Er hatte sich vorgenommen, ihr nicht entgegen zu sein, sie aber auch beileibe nicht daran zu erinnern. Ein Greis wie Reb David ... es war doch sehr bitter ... Nun [159] aber, unter diesem letzten Eindruck, begann er schüchtern:

»Du hast gemeint, wir sollten heute zu Mendele ...«

»Gottlob, daß du mich daran erinnerst«, erwiderte sie höhnisch. »Ich hätt sonst nicht an die Kleinigkeit gedacht ... Natürlich gehen wir ... Miriam, hast du den Riß zugenäht?!«

Das Mädchen brachte, das Kleid und war der Mutter beim Ankleiden behilflich. Leib stand unschlüssig in der Ecke. »So mach dich fertig«, herrschte ihn Chane an. Aber er blieb, bis die Tochter gegangen war.

»Sollen wir sie allein lassen?« begann er zaghaft.

»Natürlich! Ist's das erste Mal? ... Du siehst ja, er traut sich nicht mehr her. Und jetzt arbeitet er wohl auch mit draußen ...«

»Er arbeitet nicht«, erwiderte er. Dann richtete er sich auf und sagte mir einer Entschlossenheit, zu der er sich seit Jahren nicht mehr aufgerafft:

»Es darf nicht sein, Chane ... Geh du allein!«

Sie blickte ihn an und lenkte sofort in ihrer Art ein. Denn sie erkannte, daß er diesmal nicht nachgeben würde; auch mochte er ja wohl recht haben ... »So bist du immer«, zeterte sie. »Erkennst du endlich, daß du Unsinn gewollt hast, so schreist du mich doch vor her an, als wolltst du mich fressen! Natürlich geh am besten ich allein, aber wie sollt ich mich trauen, darauf zu bestehen? Du wirfst mir ja immer vor, daß ich das wichtigste ohne dich tue ...«

Er atmete auf. »Ich werd's dir diesmal nicht vorwerfen«, beteuerte er demütig. »Auch mußt du hin, weil du ja den Arzt fragen mußt. Und wenn du schon in Halicz bist«, fuhr er fort, »so sprichst du vielleicht auch mit Mosche ... In acht Tagen ist ja schon der erste Oktober ... Er soll doch wenigstens den Wechsel für so lange verlängern, bis entschieden ist, ob mir Paterski kündigt.«

»Ich hab's sogar als ersten Gang vorgehabt«, erwiderte sie. »Aber was soll ich ihm sagen? ... Mit guten Worten ist Mosche nicht zufrieden ... Und das alles – hast du uns – eingebrockt – du – für deinen – lieben ...«

Wieder einmal befiel sie der Krampfhusten, daß sie zu ersticken drohte. Es währte lange, bis sie den Weg antreten konnte. Nur die Kraft der Seele hielt den armen Körper [160] aufrecht, als sie sich so Schritt für Schritt im Staub der Straße dahinschleppte. Es währte wohl eine Stunde, bis sie auch nur das Wäldchen erreicht hatte, und da mußte sie sich zur Rast niederlassen. Ich komm nicht hin, dachte sie verzweifelt, und wie erst zurück?!

Da kam ihr Hilfe in der Not. Eine lange Reihe von Lastkarren zog vorbei, jeder mit einem riesigen Baumstamm beladen; die Kutscher, jüdische Fuhrknechte, gingen peitschenknallend nebenher. Auf dem letzten Karren saß der Aufseher des Zuges, Hirschele Krakauer, ein Angestellter der Dampfsäge. Frau Chane kannte ihn wohl und rief ihn an.

Er ließ sofort halten und machte ihr einen Sitz neben sich zurecht. »Das trifft sich gut«, sagte der freundliche, schwatzhafte Mann. »Man verlernt ja sonst ordentlich das Reden ... Also nach Halicz wollt Ihr? Am End gar ...« Er kniff die Augen zusammen und blinzelte sie schelmisch an.

»Was meint Ihr?« fragte sie.

»Nun, es könnt ja wirklich auf Euch gehen. Euer Rosele ist ja ein Prachtmädel« – er schnalzte mit der Zunge – »und Euer Mann ist ja ein Rendar (Pächter einer Dorfschenke, das korrumpierte Wort für Arrendator). Freilich – wie lang er's noch bleibt ...«

»Sprecht deutsch, Reb Hirschele«, sagte sie scharf. »Größere Sorg sollt Ihr im Leben nicht haben, als wie lang mein Leib noch seine Pachtung behält, und meine Tochter heißt Miriam. Aber wo wollt Ihr hinaus?«

Er blickte sie prüfend an; sie verzog keine Miene. »Nun, dann geht's eben auf eine andere«, meinte er. »Gegönnt hätt ich's Euch ja, aber es war mir gleich unwahrscheinlich: ein schön Mädele wär dem Alten schon recht, aber hier müßt er ja auch euch zwei mitheiraten.« Und dann erzählte er, daß Mendele Schadchen jetzt sehr oft zu seinem Herrn, Reb David, komme; das gestrige Gespräch der beiden habe ein anderer Bediensteter belauscht und ihm vor seiner Abfahrt erzählt; es habe sich um die Tochter eines Rendars gehandelt. »Und wie ich Euch so am Weg treff, denk ich: sie läuft zu Mendele, das Glück nicht zu versäumen!«

»Was Ihr klug seid!« sagte sie spöttisch. »Wer ein Kind hat wie ich, kann ruhig warten, bis der Schadchen kommt ...

[161] Übrigens ist die ganze Geschichte Unsinn; ein Mann wie Ihr, Reb Hirschele, sollt sie gar nicht nachschwatzen. Möglich, daß Mendele bei Eurem Herrn war – der rennt jedem die Tür ein, wo er ein Geschäft wittert –, aber dann hat ihn Reb David hinausgeworfen. Ein siebzigjähriger Mann, der vor sechs Wochen sein drittes Weib begraben hat ...«

»Hoho!« rief Krakauer überlegen. »Mein Freund hat jedes Wort gehört. ›Das paßt mir sehr‹, hat unser Herr gesagt, ›ich kenn das Mädele. Bringt die Sache ins reine‹, hat er gesagt, ›auf hundert Gulden für die Alten soll's mir auch nicht ankommen!‹ Und warum hätt er auch nicht so reden sollen?! Meint Ihr, mit Siebzig hat man Zeit zu warten? Und sollt er sich da als letzte Freud auf Erden eine Alte wünschen?«

Das Herz der Frau pochte zum Zerspringen. »Meinetwegen«, sagte sie dann möglichst gleichmütig. »Aber was geht's uns an?«

Von da ab bestritt nur Reb Hirschele die Kosten der Unterhaltung. Obwohl er von dem Reichtum seines Herrn erzählte und welches große Geschäft Reb David mit der Lieferung der Bahnschwellen mache, für welche auch diese Stämme bestimmt seien, hörte sie ihm doch kaum zu. Welches Glück! jubelte ihr Herz. Nun ist alles, alles gut ...

Bei den ersten Häusern von Halicz verabschiedete sie sich von Reb Hirschele; die Wagen mußten ja an der »Akentschaft« vorbei, aber weder brauchte er zu wissen, wohin sie ging, noch Mendele, in wessen Gesellschaft sie den Weg zurückgelegt. Zu ihm mußte sie nun; das ersparte ihr hoffentlich auch den Besuch bei Moses Erdkugel.

Als Chane das Wartezimmer des Vermittlers betrat, wurde sie von Frau Beile Pulverblitz ähnlich empfangen wie zwei Tage zuvor ihr Mann. Nur kam das dicke, hochmütige Weib diesmal übel damit an.

»Warten soll ich«, fragte Chane, »bis Euer Mann für eine so kleine Sach Zeit hat? Nun, so wird er sich die Zeit nehmen müssen, morgen zu mir zu kommen.« Und sie schritt, an der Verblüfften vorbei, stolz zur Türe hinaus und kehrte erst um, als Mendele das Fenster öffnete und ihr nachrief.

[162]

»Verzeiht«, sagte er dann, »aber mein Weib hat gewußt, daß ich Euch ohnehin noch nichts sagen kann. Ich hab jetzt so viel mit großen Sachen zu tun – dreißig Meilen weit her kommen ja jetzt die Leut zu mir –, daß ich ...«

»Daß Ihr«, fiel sie ihm ins Wort, »gestern schon in aller Früh mit Reb David darüber gesprochen habt! Noch eh Ihr wußtet, daß es uns paßt!«

Aber Mendele Pulverblitz war nicht leicht zu verblüffen. Der wulstige Mund spitzte sich und ließ einen leisen Pfiff hören.

»Es scheint, es paßt Euch nicht«, höhnte er. »Nur so aus Neugierde habt Ihr ausgespäht, ob ich schon dort war. Aber Mendele Schadchen lügt niemals. Ich war dort, nur eben wegen einer anderen Partie, die mir mehr trägt als zehn Gulden. Mir scheint, er geht drauf ein, aber wenn sich die Sach vielleicht doch zerschlägt, dann will ich mit ihm von Eurer Tochter reden.«

»Nicht nötig«, erwiderte sie und erhob sich. »Reb David kennt unser Kind und wünscht sich keine andere als sie, da brauchen wir also Euch nicht. Es spricht eben ein anderer mit ihm, der nichts dafür verlangt, und wir können die hundert Gulden, die er uns geben will, ganz behalten. Wer durch Lügen mehr erpressen will, als abgemacht ist, der verdient die Straf, daß er nichts bekommt. Gott befohlen!«

Diesmal ereignete sich etwas, was noch die wenigsten Menschen gesehen hatten: Mendele schlug wirklich und wahrhaftig den Blick nieder. Aber nur einen Augenblick. Ehe Chane noch die Hand auf die Türklinke legen konnte, hatte er sie erreicht.

»Hat das einen Sinn?« fragte er lächelnd. »Weil ich alles in Ordnung gebracht hab, wollt Ihr die Sach nun durch einen anderen zu End bringen lassen? Ist das gerecht? ... Nehmt Platz, Chane, Ihr seid klug und ich nicht dumm, wir werden uns leicht verständigen. Also: Reb David ist einverstanden, die Tnoim (Verlöbnisakte) können geschrieben werden, wann Ihr wollt, auch morgen schon; nur bleibt die Sach zunächst noch unter uns. Glaubt Ihr, daß Euer Miriamchen schweigen kann, so könnt Ihr es ihr ja sagen; aber fürchtet Ihr, daß sie damit prahlen wird, so erfährt auch sie es besser erst später.«

[163] »Warum?« fragte die Frau mißtrauisch.

»Erstens will er vorher seinen Nathan verheiraten; die Partie mit der Hussiatynerin – Euer Mann hat Euch doch davon erzählt? – hab ich nun auch in Ordnung gebracht; die Hochzeit ist in fünf Wochen, Ende Oktober. Daß er die Verlobung bis dahin geheimhalten will, werdet Ihr doch verstehen? Der siebzigjährige Vater zu gleicher Zeit Bräutigam wie der siebzehnjährige Sohn, und beide unter einem Dach – es wär ein bißchen lächerlich. Dann aber verlobt man sich doch, selbst wenn man so alt ist und es daher eilig hat, nicht sechs Wochen nach seines dritten Weibes Tod mit einer vierten! Also, Eure schriftliche Sicherheit sollt Ihr sofort haben, aber die Verlobung wird erst einige Tage vor der Hochzeit kundgetan ...«

»Und wann soll die sein?« fragte sie.

»Mitte November. Dann hat er volle dreizehn Wochen Trauer gehalten; mehr kann von einem Siebzigjährigen kein Mensch verlangen.«

Die Frau dachte nach. »Ich bin einverstanden«, sagte sie dann kurz. »Und nun die Bedingungen. Was sichert Reb David meiner Tochter zu, wenn sie – ich meine, wenn er vor ihr sterben sollte?!«

Mendele wollte erstaunt, dann entrüstet tun. »Soll ich mit einem Bräutigam von seinem Tod reden?!« rief er. Aber im nächsten Atemzug besann er sich eines besseren. »Ich bin überzeugt«, sagte er, »er lebt noch lange, und die Ehe wird mit Kindern gesegnet. Aber Ihr habt recht, auch für das Gegenteil muß vorgesorgt werden. Wißt Ihr schon, was Ihr fordern wollt?«

Wieder blickte sie sinnend vor sich nieder. »Ich sag's Euch doch lieber erst nächstens«, meinte sie dann. »Mein Mann will doch auch gehört sein. Aber das mögt Ihr schon heut wissen, wenig wird's nicht sein. Sie hat nichts als ihr bißchen Schönheit und Jugend, die opfert sie dem Greis; von uns erbt sie ja nichts; sie soll, wenn sie allein zurückbleibt, versorgt sein.«

Der Vermittler nickte. »Wenn Ihr Vernünftiges fordert, so wird er's gewähren. Aber an dem, was Ihr für Euch verlangt, kann leicht alles scheitern.« Er sah sie lauernd an. »Wie ich Euch kenne«, fuhr er im Ton ehrlicher Entrüstung fort, »verlangt Ihr mindestens dreihundert Gulden, [164] und doch werden wahrscheinlich nur hundert zu erreichen sein, und um jeden Heller darüber werde ich mit dem alten Geizhals raufen müssen.«

Sie sah ihn erstaunt an, dann aber ging ihr der Sinn der Rede auf. »Wieviel«, sagte sie, »sollen wir nach Eurer Meinung verlangen, und was sind Eure Bedingungen?!«

»Dreihundert Gulden«, erwiderte er mit ruhigem Lächeln. »Für mich zehn Prozent, also dreißig Gulden, so daß ich im ganzen vierzig von Euch bekomme ... Chane, was seid Ihr für ein fein Köpfchen! Wenn Euer Mann ...«

»Schweigt!« rief sie heftig. Sie durfte ihrem Leib Vorwürfe machen, sie allein, sonst niemand! »Was wißt Ihr von meinem Mann!« Sie war so erzürnt, daß er Mühe hatte, sie zu beruhigen. Bevor sie ging, verabredeten sie noch, daß sie ihm am nächsten Tage, Donnerstag, Botschaft senden und seine Antwort am Sonntagmorgen erhalten sollte. Ging alles glatt, so sollten die Verlobungsakte am Sonntagnachmittag in seiner Stube unterzeichnet werden.

Erhobenen Haupts trat sie auf die Straße. Nun konnte sie getrost heimkehren; den Arzt wollte sie ein nächstes Mal fragen; das hatte Zeit, und ein Besuch bei Mosche Erdkugel war nun überhaupt nicht mehr nötig; diese Angelegenheit ordnete sich nach der Verlobung gleichsam von selbst.

Die freudige Erregung gab dem siechen Körper Kraft; rasch schritt sie durch den Flecken. Aber es war doch gut, daß sie bei den letzten Häusern von einem Wagen aus Winkowce überholt wurde. Drinnen saß ein kleiner, dürrer Greis, dessen Äuglein in verdächtigem Glanze schimmerten; auch die Hand, die das Leitseil hielt, zitterte. Das war der Richter von Winkowce, Harasim Kozarczuk; die Frau rief ihn an; es war nicht sein Wille, daß er sein Pferd erst nach einer Strecke zum Stehen bringen konnte; es war, als wüßte der kluge Schimmel in solchen Fällen, daß die Last der Verantwortung für die ungefährdete Heimkehr vor allem auf ihm liege, er kümmerte sich nicht viel um Reden und Taten seines Herrn.

»Da siehst du«, jammerte der Alte die Frau an, als sie ihn endlich keuchend erreicht hatte; »nicht einmal mein Pferd gehorcht mir mehr! ... Nun, nimm Platz!« Er rückte beiseite. »Mit einer alten Jüdin fahren ist grad auch kein Vergnügen, aber was muß sich ein armer, morscher Mann [165] nicht gefallen lassen! Hst ho!« Der Schimmel griff aus. »Ja, Chane, ich hab's schlecht auf der Welt! Und warum?« Er begann zu schluchzen. »Weil ich der Richter bin!«

Die Frau wußte, wie man ihn in diesem Zustand behandeln mußte. »Ja, Harasim«, sagte sie mitleidig, »Ihr habt's bitter auf der Welt! Aber was ist Euch heut Besonderes begegnet?«

»Frag nicht!« jammerte er. »Es ist zu hart! ... Da bekomm ich neulich einen Brief vom kaiserlichen Schreiber in Halicz – dieser Mensch schreibt mir nämlich fortwährend, obwohl er doch weiß, daß ich nicht lesen kann, nur um mich armen, alten Mann zu ärgern – und der hochwürdige Hilarion sagt mir: ›Richter‹, sagt er, ›da steht, daß Ihr am Mittwoch nach Halicz müßt, Ihr und die Richter der anderen Dörfer, durch welche das eiserne Pferd laufen wird – wegen der Bahn.‹ Da bin ich Esel ganz fröhlich, daß es nichts Schlimmeres ist, und auch die Ältesten, mit denen ich berate, sind fröhlich, und wir denken: jedes Dorf soll eine Entschädigung bekommen, damit es die Zauberei und den Gestank duldet. ›Verlange nur für Winkowce tausend Gulden‹, sagen sie, ›oder zehntausend, kurz, so viel wie die anderen Dörfer!‹ Gut, heut um zehn stehen wir also alle vor dem Schreiber, und er fängt an zu reden. ›Das eiserne Pferd ist kein Zauber‹, sagt er, ›sondern eine Maschine, und kein Teufel steckt drin‹, sagt er, ›auch keine arme Seele, sondern ein Kessel‹, und solchen Unsinn mehr, und das, will er, sollen wir allen sagen! Nun, denken wir, red nur zu, Bruder, den Gefallen werden wir dir zwar nicht tun, weil uns sonst jedes Kind im Dorfe auslachen würde, aber jetzt, Bruder, jetzt kommst du wohl mit den Gulden herausgerückt! Richtig scheint es so, denn nun fängt er an, uns zu erzählen: ›Das eiserne Pferd ist ein Segen für jedes Land und bringt allen Vorteil und keinen Schaden, und darum – –‹, nun, was meinst du wohl? Ach, diese Enttäuschung war zu bitter!« Und der Trunkene begann wieder zu schluchzen.

»Nun?« fragte die Frau.

Aber es währte lange, bis er erzählen konnte. »›Darum soll jeder dafür sein‹, sagt er, ›und keine Schwierigkeiten machen‹, sagt er, ›und besonders soll sich keiner, über dessen Acker das Pferd laufen wird, einfallen lassen, für [166] das Stückchen Grund mehr zu verlangen all den üblichen Preis. Und wenn er mehr verlangte‹, sagt er, ›so betrübt er dadurch nur den Herrn Kaiser, der das eiserne Pferd sehr gern hat, aber nützen tut's ihm nicht, denn dann schätzt das Gericht das Stück Land ab und spricht ihm nur zu, was ihm gebührt ...‹ Und dazu, Chane, dazu läßt man einen armen, alten Mann eigens nach Halicz kommen ... ›Bereitet eure Leute vor!‹ sagt er – ›bald kommen wir hinaus, alles zu ordnen‹ – oh! oh!«

»Ja, es ist hart«, meinte sie, um nur etwas zu sagen. Ihre Gedanken weilten fern, in der Zukunft: sie sah ihr Kind als Herrin in dem reichen Hause walten, zwar eines greisen Mannes Weib, aber sorgenlos, zufrieden, von allen beneidet ...

In anderem Licht sah zur selben Stunde der kleine Schenkwirt die Zukunft seiner Tochter vor sich liegen, während er so am Fenster der Schenkstube saß und in die Dämmerung hinausstarrte. Janko hatte sich nicht blicken lassen, vielleicht kam er überhaupt nie mehr, aus Furcht vor dem Donnerwort seines Priesters. Vielleicht! – aber recht wagte es Leib nicht zu hoffen. Dieser Janko, dachte er, hat ja einen eisernen Kopf; was er will, setzt er durch! Das läuft nicht im Guten ab ... Und dann sah er wieder das Beil blinken, wie in seinem Traum. Er hatte sich getröstet, dieser Traum sei nur eine Vorbedeutung des Auftritts gewesen, der sich dann zwischen Janko und dem Schmied abgespielt, aber es war doch wohl anders ...

Da trat der Mann ein, den seine Gedanken eben gestreift: der dicke Onufrij, mit ihm einige Hausväter der Gemeinde. Der Kleine mußte die Öllaterne an der Decke anzünden und Schnaps bringen; die Männer wollten hier die Rückkunft des Richters erwarten. Bald füllte sich die Stube immer mehr, so daß auch Miriam bei der Bedienung aushelfen mußte; als sie eintrat, zuckte es im Gesicht des Schmieds von verhaltenem Lachen, doch sagte er nichts. Und als er dann rief: »Na, Leibko, wann verlobst du deine Tochter? Dir ist wohl kein Jud für sie gut genug?!« –da verstand ja nur der Kleine die Anspielung und fuhr zusammen. Doch blieb es bei diesem einen Wort. »Schnaps her!« rief der Schmied, »heut wird vertrunken, was uns der Herr Kaiser schickt!« und die anderen fielen jubelnd ein.

[167] Als mit Einbruch der Nacht der Wagen des Richters vor der Schenke hielt, da war Leib Weihnachtskuchen der einzige nüchterne und betrübte Mann in der Stube.

Das änderte sich freilich, als der alte Harasim unter bitteren Tränen hereingewankt kam, Chane hinter ihm. Ein Blick auf sie richtete den Kleinen auf; sie hatte bei Moses Erdkugel eine weitere Frist erwirkt, vielleicht auch von Mendele Gutes erfahren; jedenfalls brachte sie frohe Botschaft. Ihre Augen blickten sicherer, ihr Haupt war erhobener, als er es seit lange, lange an der kranken, vergrämten Frau gesehen.

Was es sei, konnte er sie freilich nicht fragen; er hatte zunächst, obwohl auch sie sofort helfend eingriff, alle Hände voll zu tun. Denn beim Anblick ihres Oberhauptes jauchzten alle Bauern auf und verlangten ihre Gläser gefüllt; daß er mit beträntem Antlitz vor sie trat, konnte ihnen unmöglich als böses Vorzeichen erscheinen; wenn jemand aus Winkowce nach Halicz kam, so betrank er sich eben dort, und wenn Harasim sich betrank, so weinte er immer. Es währte lange, bis sie aus seinen schluchzenden Worten erkannt hatten, daß er diesmal wirklich eine schmerzliche Enttäuschung für alle heimbrachte. Aber traurig wurden auch dann die wenigsten, die meisten nur eben zornig. »Der Schreiber ist ein Schwindler!« riefen einige. »Das sieht man doch auch an seinen Redereien vom Kessel und der Maschine; es ist eben alles freche Lüge!« Und andere meinten: »Wer will mich zwingen, meinen Acker zu verkaufen, wenn ich nicht will? Dahinter steckt eine Lumperei der Schreiber und der Polen, die ja in letzter Zeit immer hinter einem Busch stecken. Wir gehen zum Herrn Kaiser, und der schafft uns unser Recht!« Am zuversichtlichsten war der Schmied. »Ich habe keinen Schaden davon«, lachte er, »selbst wenn sie mich zwingen können, ihnen den Grund neben meinem Haus billig zu verkaufen. Denn billig zu arbeiten können sie mich nicht zwingen – und was nützt ihnen die Schmiede ohne Schmied?! Oh, die Dummköpfe!« und jauchzend stimmte er den Rundgesang an, in den die anderen einfielen:


»Der Schnaps ist süß, der Schnaps ist gut,
Der Schnaps gibt Kraft und frohen Mut!
[168]
Und wenn das letzte Schnapsfaß leer,
Dann kommt auch gleich der Teufel her!«

Es ging auf Mitternacht, als sich die Reihen zu lichten begannen. Da zog sich auch Chane, welche die Tochter längst zur Ruhe geschickt, in die Schlafstube zurück. »Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie ihrem Manne zu. »Morgen erzähl ich dir von Halicz. Es ist nur Gutes!«

Der Kleine nickte selig; die Bestätigung seiner frohen Ahnung gab ihm ungewohnte Kraft. Das fiel selbst seinen Gästen auf. »Seht nur«, meinte einer, »wie munter der Leibko heute umherhüpft. Auch er glaubt dem Schreiber nicht! Und er ist doch ein Jud!«

»Bah!« meinte Onufrij verächtlich, »aber ein dummer! Da ist ja jeder Bauer klüger! Und nun gar nicht! Und ich sage euch ...«

Und er sagte ihnen zum zehnten Male, wie sie die Komissyja (Kommission) heimschicken müßten, wenn sie wirklich im Dorf erschiene, um ihnen solche Unbill zuzumuten. »Wir lachen sie aus, bis sie davonlaufen!«

Es ging auf zwei, als Leibko endlich seine Lagerstätte aufsuchen konnte. Aber als die Septembersonne vier Stunden später in die Kammer schien, da fand sie den Kleinen bereits an seinem gewohnten Platz, die Betriemen um Stirne und Arm geschlungen. Es tat ihm wohl, daß heut ein Donnerstag war, für den, wie für den Montag, andere und längere Gebete vorgeschrieben sind als für die vier anderen Wochentage. Voll freudiger Zuversicht sah er den rotglühenden Ball sich aus den Nebeln lösen und goldstrahlend emporsteigen. »Bei dir ist Heil! Ich habe auf dich vertraut, und du hast mich erhört!«

Als er nach dem Frühmahl in der Schenkstube neben seinem Weibe saß und erfuhr, was Gutes sie heimgebracht, da wich freilich die Freude aus seinem Gemüt und das Leuchten aus den kleinen geröteten Augen. Er verbarg sein Antlitz, daß sie es nicht sehe, und blieb stumm, als sie die gnädige Fügung pries, daß Reb David Miriam schon gekannt und Hirschele Krakauer gerade im rechten Augenblick mit seinem Wagen vorbeigekommen. Er hatte sich ja in diese Heirat gefunden, es mußte ja sein, und auch Gott der Herr hatte wohl seine Zustimmung dazu gegeben, weil [169] er sonst den Zufall nicht so wunderbar hätte spielen lassen, aber freuen – nein, freuen konnte er sich nicht darüber ...

»Nun, was sagst du?« fragte sie endlich ungeduldig. »Du sitzest ja da, als hätt dir all das Unglück die Red verschlagen?!«

»Nein, nein!« sagte er ängstlich. »Ein Unglück ist's nicht, aber ... kein Glück ...« Und nun, dachte er, nun werden die Scheltworte und Vorwürfe auf mich niederprasseln.

Aber sie blieb still, nur ihr Atem ging schwerer. Und als er sie anblickte, da sah er zwei Tränen jäh aus ihren Augen brechen und ihre hageren Wangen herabrollen.

»Chane«, murmelte er und ergriff ihre Hand; er wollte sprechen und konnte nicht, aber eine Welt von Liebe und Reue lag in dem einen zitternden Laut ...

Sie hatte ihn verstanden. »Sprich nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es ist nicht unsere Schuld, daß uns kein anderes Mittel übrigbleibt, sie zu versorgen ...«

»Deine Schuld nicht ...«, murmelte er demütig, »aber meine?!«

»Klag auch dich nicht an«, sagte sie abwehrend. »Wir brauchen unsere Kraft, laß uns ruhig bleiben. Also, darüber sind wir einig, daß wir sie Reb David geben?«

»Ja«, sagte er fest ... »Aber natürlich müssen wir Miriam vorher fragen ...«, setzte er zaghafter hinzu.

Sie sah ihn so voll starren Staunens an, als zweifelte sie an seinem Verstande.

»Vorher fragen?« wiederholte sie langsam, gedehnt. »Ob sie will?«

»Ich hab nur gemeint!«

»Das ist Wahnsinn«, sagte sie herb. »Mein Vater hat mich nicht gefragt, und dein Vater nicht dich – und niemand fragt – höchstens die Deutschen (die unfrommen Juden) in Lemberg oder Czernowitz. Und deshalb sind unsere Ehen doch glücklicher als ihre. Ist das wahr oder nicht?«

»Es ist wahr«, antwortete er.

»Und was weiß das Kind vom Leben? Sie wird nein sagen, schon weil sie noch länger bei uns bleiben will, und noch mehr, weil sie das Alter des Mannes schreckt. Aber [170] weiß sie auch genau, so genau wie wir, welches Schicksal sie sich durch ein Nein bereitet?«

Er senkte das Haupt. Er hatte den Gedanken ausgesprochen, weil er mußte ... Aber sein Weib hatte recht, und noch viel anderes ließ sich dagegen sagen. Und dennoch! – ihm war's, als wären zwei verschiedene Wesen in ihm, das eine hatte gerufen: Sie muß selbst entscheiden! und rief es noch, und das andere mahnte: Es ist gegen Herkommen und Vernunft! Das erste rief lauter, aber das andere sprach eindringlicher.

»Nun?« rief sie ungeduldig.

»Ich hab nur gemeint: eben weil er so alt ist ...«

»Also bestehst du darauf?« fragte sie zitternd vor Zorn. »Ich hab's dir vorhin von der Seele nehmen wollen, daß unser Leben und unsere Armut und all die Sorge, in der wir nun stecken, deine Schuld sind ... Aber bestehst du nun auf deinen Wahnsinn, so ist das Unglück deines Kindes deine Schuld – und die nimmt dir auch nicht Gott der Herr von der Seele ...«

»Ruf ihn nicht an!« rief er flehend. »Was er will ... Ich weiß nicht, was er da will!« stieß er in qualvoller Angst hervor! »Ich hab nur geglaubt ... ich besteh nicht darauf!«

Sie wollte noch ein zorniges Wort sagen, doch unterdrückte sie es, als sie sah, wie totenbleich er war.

»Nun wohl«, sagte sie. »Dann wird sie erst in vier Wochen erfahren, daß sie Braut ist. Hast du etwas dagegen?«

»Nein.« Denn nun hörte er in seinem Innern nicht mehr die beiden Stimmen, die so herb miteinander gestritten, sondern wieder nur eine, und sie sagte: »Mag sie wenigstens noch vier Wochen das harmlose, fröhliche Wesen bleiben wie bisher.«

»Nun die Bedingungen. Was soll er ihr zusichern? Es ist nicht leicht zu entscheiden. Er ist reich, hat aber viele Kinder. Ich denke, tausend Gulden können wir fordern. Mehr nicht, aber dabei bleiben wir auch.«

»Wie du meinst«, sagte er demütig.

»Dann die Aussteuer ... Wir können ihr ja nichts mitgeben.« Ihre Stimme zitterte schmerzlich. »Nur das Notwendigste; ist er der brave Mann, für den wir ihn halten, [171] so wird er dann sein Weib besser bedenken ... Dreißig Gulden vielleicht für ein Kleid und einige Hemden ...«

Auch ihm zuckte es schmerzlich um den Mund. »Es muß ja sein«, sagte er leise.

»Und endlich: was sollen wir für uns fordern?«

»Für uns?« rief er, und eine glühende Röte überflammte sein Antlitz.

»Ja!« erwiderte sie. »Was wundert dich daran? Wenn ein alter reicher Mann die schöne blühende Tochter armer Leute heiratet, so pflegt er seine Schwiegereltern zu bedenken. Mendele meint, wenn wir ihm den zehnten Teil abgeben, so wirkt er dreihundert Gulden für uns aus ...«

»Chane!« schrie er mit heiserer Stimme und schnellte empor. Nun war sein Antlitz totenfahl. »Chane! – und das willst du annehmen?!«

»Warum nicht?« fragte sie. »Es ist ja so allgemein gebräuchlich, daß er selbst gleich hundert Gulden angeboten hat!«

Leib Weihnachtskuchen rang die Hände. »Chane«, rief er flehend, »das ist ja nicht dein Ernst, kann nicht dein Ernst sein. Weißt du denn nicht, was dies Geld wäre? ... Der« – die Stimme versagte ihm – »der Preis für dein Fleisch und Blut!« schrie er auf.

»Unsinn!« rief sie gellend.

Aber noch lauter, in höchster Verzweiflung: »Mein Kind verkauf ich nicht! ... Ich nicht ... ich nicht ...« Ein krampfhaftes Schluchzen erstickte seine Stimme; er schlug die Hände vors Gesicht und sank auf die Bank zurück.

Einen Augenblick schwieg die Frau; eine so wilde, laute Leidenschaftlichkeit des Schmerzes war ihr an dem demütigen Dulder ungewohnt. Auch regte sich in einem Winkel ihres Herzens die dunkle Empfindung, als ob das doch nicht Unsinn wäre ... Aber diese Regung ging rasch vorbei: was sollten sie besser und klüger sein als alle Welt? Und was würde aus ihnen beiden, wenn sie da nachgab? ...

Sie richtete sich auf. »Schrei nicht wie ein Verrückter«, sagte sie scharf, »und wein nicht wie ein Kind. Hör mich an!« Dann wies sie ihm nach, daß sie nur einem allgemeinen Brauch folge, nannte ihm die Namen einiger Leute, die ebenso gehandelt. »Willst du Reb David das Geld schenken?« [172] schloß sie. »Und wie willst du dann den Mosche bezahlen, wie uns neues Brot schaffen?«

Er hatte sie angehört, ohne sich zu regen. Nun, da er die Hände vom Antlitz sinken ließ, konnte sie sehen, wie fahl es noch immer war, selbst die Lippen waren blutlos. Aber die Stimme bebte nicht, als er sagte:

»Ich tu's nicht, ich duld's nicht. Früher schon hab ich geglaubt, er spricht: Ihr müßt sie fragen! Das war vielleicht ein Irrtum, und wenn es doch so war, so muß er mir verzeihen ... Aber was er mir jetzt sagt, hör ich so deutlich wie deine Stimm, und ich hör seine Worte: Das darf nicht geschehen, Leib, dazu hab ich euch nicht mit einem solchen Kind gesegnet, das wär Sünd und Schmach! Und darum wird's nicht geschehen!«

Er hob die Stimme nicht, aber fest und feierlich wie ein Gelöbnis lösten sich die Worte von den erblaßten Lippen.

Wieder fand die Frau zunächst kein Wort; der Zorn über seine Störrigkeit, das Entsetzen über ihre Folgen hielt ihr die Kehle zusammengepreßt. Und als sie sich endlich mit der Kraft der Verzweiflung dagegen aufbäumen wollte, da übermannte sie der Feind, der in dem siechen Leibe hauste.

»Und Mosche?« rief sie. »Und ich? ... Ich hab durch dich ein elend Leben gehabt ... aber ich fordere ein Sterbelager ... Ich will nicht ... hinter der Hecke ...«

Der Krampf erstickte das letzte Wort; das Gesicht verzerrte sich; auf die Lippen, die sich wie in Todesangst weit nach Luft öffneten, trat blutiger Schaum.

Aber vielleicht noch furchtbarer lag derselbe Zug der Todesangst auf dem Antlitz des Mannes. Er schwankte, wie ein Trunkener; die eine Hand umkrallte die Tischkante, um Halt zu gewinnen, die andere reckte sich zitternd empor.

»Ich kann nicht ...«, stöhnte er, »ich kann nicht!«

Miriam hatte die Mutter husten hören; besorgt kam sie hereingestürzt und umfaßte sie. So entging ihr die Bewegung des Vaters. Erst als Chane, nachdem sie Atem gewonnen, den Blick finster auf ihn richtete, erkannte sie, daß es zwischen den beiden wieder einen Auftritt gegeben wie so oft: die Mutter schalt, der Vater suchte zu begütigen oder nahm die Schelte in demütigem Schweigen hin. Das [173] war so, seit sie denken konnte; es gehörte mit zum Leben wie daß auf den Montag der Dienstag folgte; sie machte sich keine Gedanken darüber. Höchstens, daß ihr der Vater immer ein wenig leid tat, etwas mehr, als sie sich selber leid tat, wenn sie das gleiche Los traf, aber wahrlich nicht allzusehr ... Heute, wo sie ihn so verstört dastehen sah, wie nie zuvor, überkam sie zum erstenmal im Leben der Gedanke: er ist so gut, so nachgiebig, denkt nie an sich selbst; warum ist die Mutter immer so hart gegen ihn? ... Unwillkürlich zuckte der Arm zurück, den sie um Chane geschlungen hatte, und die großen, braunen Augen richteten sich voll Liebe und Mitleid auf den Vater ...

Er sah den Blick, und seltsam, der Mann, der sich sonst nur auf den Verkehr mit ihm verstand, aber mit Kinderaugen in die Welt blickte, erkannte blitzschnell, was in der Seele seines Kindes vorging ...

»Nein! nein!« schrie er auf, als wollte er das Mitleid abwehren, sein Weib entschuldigen. Dann seufzte er tief auf, schüttelte den Kopf und schlich aus der Stube.

6

VI

Auf dem Bänkchen vor dem Hause saß er nieder und starrte vor sich hin. Kam ein Bauer vorbei, so bot er ihm unterwürfig den Gruß; vor dem Popen Hilarion, der ins Pfarrhaus ging, erhob er sich von seinem Sitze, aber er wußte kaum, daß er's tat. Alles, was Leben in ihm war, kehrte sich nach innen und lauschte und lauschte ... Kein Zweifel, es war seine Stimme, und sie sprach: Nein! ... Tief und immer tiefer sank sein Haupt auf die Brust; er konnte sich nicht helfen und nicht seinem Weibe; sein Wille mußte geschehen ...

So saß er noch, als Miriam auf ihn zutrat. »Die Mutter schreibt eben einen Brief nach Halicz«, sagte sie, »du sollst ihn lesen, ehe sie ihn schließt.«

Er erhob sich und schlich in die Wohnstube. Die Frau blickte nicht auf. »Hör zu!« sagte sie finster und las ihm den Brief vor. Sie forderte darin tausend Gulden für Miriam, dreißig Gulden für die Aussteuer; über das andere wollten sie, wenn Reb David in der Hauptsache zustimme, [174] am Sonntag vor der Verlobung mündlich verhandeln. »Und nun schaff einen Boten nach Halicz«, fügte sie bei.

Er stand unschlüssig. »Ich will's tun«, sagte er endlich. »Aber sollen wir dann Sonntag vor anderen ...«

»Schweig!« rief sie heftig. »Heut kein Wort mehr. Meine Kraft ist zu Ende!«

Gebeugten Hauptes verließ er sie. Als er vors Haus trat, schlug die Kirchenuhr eben elf. Miriam kam ihm nachgeeilt. »Vater«, begann sie, »glaubst du, daß er heute kommt?«

Er fuhr zusammen. »Nein«, erwiderte er dann hastig. »Ich hoffe, nein ...«

»Aber warum denn?« fragte sie. »So sag's mir doch! Seid ihr böse miteinander?«

»Nein ... Ein andermal ...«

Er riß sich los und ging. Er fehlt ihr, dachte er bebend ... Aber das ist ja kein Wunder, tröstete er sich dann, auch ein Hund, der so lange Jahre täglich zu einer bestimmten Stunde gekommen wäre, würde ihr fehlen ... Und doch! Wenn sie nur schon verheiratet wäre! mußte er wieder denken. Aber war dies ein Glück?! ...

Und abermals umstrickten ihn seine traurigen Gedanken. Da hörte er lautes Peitschenknallen hinter sich her und sprang beiseite. Es war Hirschele Krakauer, diesmal allein und in einem leichten Wägelchen. »Ihr wollt gewiß nach Halicz?!« fragte er mit schlauem Lächeln und hielt an. »Na, steigt ein; es soll mir eine Ehr sein! Aber rasch! In aller Früh hab ich nach Jezupol müssen, und nachmittags soll ich schon wieder mit den Flößern auf den Dnestr.«

»Ich fahr nicht mit«, konnte Leib endlich dazwischenwerfen. »Aber wenn Ihr mir diesen Brief mitnehmen wollt ... An Mendele Schadchen!«

Hirschele Krakauer lachte laut auf. »Ihr braucht nicht erst zu sagen, an wen. Soll besorgt werden! Maseltow!« (»Gutes Glück!« der übliche hebräische Glückwunsch bei Verlobungen.) Und lachend fuhr er davon.

Bestürzt blickte ihm der Kleine nach. Nun kam ihm erst zu Sinn, was ihm sein Weib von den gestrigen Vermutungen des Mannes erzählt ... In einer Stunde wußte es ganz Halicz, mit wem sich Reb David verloben sollte, und der Greis wollte ja das Geheimnis gewahrt wissen. ... Leib rang die Hände – um Himmels willen, was hatte er da angestellt!

[175] Aber nun war's zu spät – man sah nur noch das Staubwölkchen hinter dem Wagen und bald auch dies nicht mehr ...

Ängstlich schlich er heim – was sollte er Chane sagen, wenn sie ihn nach dem Boten fragte? Und sie hatte heute schon Aufregung genug gehabt!

Als er in sein Haus treten wollte, kam der Pope Hilarion eben aus dem Pfarrhof und rief ihn an. »Höre, mein braver Leibko«, sagte er, »ich habe mit dir zu reden. Des Janko wegen.«

Sie traten in die Schenkstube, sie war leer. Als bei ihrem Eintritt die Klingel ging, ward Miriams Kopf in der Tür der Wohnstube sichtbar, doch zog sie sich sofort zurück.

»Es ist bald gesagt«, begann der junge Priester halblaut. »Du weißt, welchen verruchten Wahnsinn der Teufel dem Janko in den Kopf gesetzt hat?! Nun wohl, wie denkst du darüber?!« –

»Ich?« sagte der Kleine. »Ich bin ein Jud, mein Kind eine Jüdin – was soll ich da erst sagen?!«

Hilarion nickte. »Das hab ich gedacht! Lieber möchtest du ihren Tod erleben als ihre Taufe – nicht wahr?«

Der Kleine fuhr zusammen. »Ihren Tod?!« murmelte er entsetzt und streckte die Hand abwehrend vor. »Mein – mein einzig Kind ...«

»Ich wünsche ihr ja nichts Böses«, beruhigte der Priester. »Ich meinte nur, du würdest ihre Taufe nie zulassen?! Nun, das hab ich auch dem Janko gesagt, aber du mußt es ihm bestätigen. Und ferner: Ich hab ihn bewogen, nicht mehr herzukommen, aber nur, weil ich ihm gesagt habe: Das fordert der Jud von dir zum Dank für seine Guttaten gegen dich, also mußt du's tun! Aber er sagt, das will er von dir selbst hören. Also geh abends zu ihm, wenn er vom Feld heimkommt, denn, gottlob, er arbeitet heut wieder.«

Leib versprach's.

»Gut«, sagte Hilarion und erhob sich. »Aber du bleibst fest, nicht wahr? Er wird dir vielleicht drohen, mach dir nichts draus. Denn da hast du Gott den Herrn zur Seite und alle Heiligen ...«

Leib sah ihn befremdet an, der Priester bemerkte es nicht.

»Nämlich, weil das ein gutes Werk ist«, fuhr er eifrig [176] fort. »Ein Gott wohlgefälliges Werk. Eine Jüdin soll keines Christen Weib werden. Das will Gott nicht, sonst hätt er euch nicht verflucht und euch so schwarze Seelen gegeben ... Also, mein braver Leibko, ich weiß, auf dein Wort kann man Häuser bauen, und so verlaß ich mich ganz auf dich!«

Der Kleine trat in die Wohnstube und nahm mit Weib und Kind das kärgliche Mahl ein. »Der Brief ist besorgt«, sagte er. Chane fragte zum Glück nicht, durch wen. Sie sah heut noch viel bleicher und verfallener aus als sonst; er bemerkte es mit tiefem Schmerz, mit nagender Sorge, aber bereuen konnte er seinen Widerstand nicht – sein Wille mußte geschehen.

Zaghaft erzählte er ihr, nachdem Miriam gegangen war, den Auftrag des Popen; er fürchtete, daß auch dies sie erregen würde. Doch nickte sie gleichmütig und meinte bloß: »Wir müssen uns nur etwas ausdenken, was sein Ausbleiben für Miriam erklärt. Sonst grübelt das Kind darüber, und es soll überhaupt nicht an ihn denken. Ich erzähle ihr heut irgend etwas Häßliches von ihm und daß wir ihm darum das Haus verboten haben.«

Leib wurde unruhig. Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten, dachte er. Laut aber meinte er: »Was könnte das sein? Sie ist klug, hat eine gute Meinung von ihm. Auch ist derlei – verzeih – eine Sünde ...«

Sie wollte auffahren, da trat selben Augenblicks ein Mann in die Stube, der sich lange nicht mehr in der Schenke hatte sehen lassen: der alte Martin, der Großknecht des Herrn von Paterski. »Du sollst sofort zum Herrn kommen«, befahl er.

Leib wurde blaß; welch neue Pein hatte der Gebieter, der ihm zürnte, ausgedacht? Auch Chane war bestürzt, faßte sich aber sofort, lud den Großknecht zum Sitzen ein und brachte ihm ein Gläschen vom Besten. Und dann suchte sie ihn auszuholen.

»Weiß nichts!« sagte er, schnalzte aber behaglich mit der Zunge, nachdem er das Gläschen geleert, und schob es wieder vor sie hin. Sie verstand den Wink und füllte es. »Mir scheint, ein Geschäft!« meinte er nun; sie füllte das Gläschen zum zweiten Male. Und darauf erzählte er: »Der [177] Herr war von gestern morgen bis heut mittag in Halicz und hat dort mit den Schreibern getrunken. Das kostet immer viel Geld; er tut's nur, wenn er was von ihnen will, aber was es diesmal für ein Geschäft war, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er erreicht, was er wollte, denn er war bei der Heimkehr sehr vergnügt. Und dann gibt er mir gleich diesen Befehl. Die Gnädige ist darüber erstaunt, er aber sagt ihr: ›Ohne den kleinen dummen Hund kann ich's nicht machen ...‹ Ja«, schloß er behaglich, »so hat er gesagt, Ihr könnt Euch also freuen!«

In der Tat empfing Herr von Paterski den Schenkwirt, als er unter tiefen Bücklingen vor ihn hintrat, sehr freundlich. »Komm näher, Hundsblut«, sagte er. »Ich will's noch einmal mit dir versuchen, weil ich glaube, daß du mehr dumm als schlecht bist. Du hast undankbar, habgierig, gemein, mit einem Wort, jüdisch gehandelt, als du den Janko bewogen hast, das Geld vom Solincer Popen zu leihen. Aber es war auch dumm, denn was war dir nützlicher, meine Güte oder die zehn Gulden Maklerlohn?«

»Ich hab nur zwei Gulden davon gehabt«, beteuerte Leib. »Die hat mir der Janko freiwillig gegeben. Vom Popen hab ich nichts verlangt und nichts bekommen.«

»Lüge!« rief der Edelmann. »Aber wenn es Wahrheit sein sollte, was dann? Dann hast du keinen Nutzen davon gehabt und der Janko und ich nur Schaden! Vielleicht kommst du mir wieder mit deinem Geschwätz von den geringeren Zinsen! Aber meinetwegen, zwanzig Prozent, war das ein guter Rat? So viel läßt sich vielleicht in guten Jahren herausschinden, aber die erste schlechte Ernte richtet deinen geliebten Janko zugrunde! Auch bleibt er ja ewig der Schuldner des Popen! Vernünftig wär's gewesen, wenn du ihm gesagt hättest: Verkauf ein Drittel deiner Äcker, dann bleibt dir das übrige fast schuldenfrei! Aber daran hast du Dummkopf gar nicht gedacht!«

»Doch!« versicherte Leib. »Aber er, Gnädigster, hat nichts davon hören wollen. Und wer hätte ihm einen halbwegs guten Preis ...«

Er hielt bestürzt inne; er konnte dem Gnädigsten doch nicht ins Gesicht hinein sagen, daß dieser die Preise unerhört drücke und für Winkowce der einzige Güterschlächter sei. Seine Konkurrenten hatte er unschädlich gemacht, [178] den Moses Erdkugel durch die Anzeige wegen Wuchers, den Armenier durch ein Abkommen, wonach dieser nichts in Winkowce kaufen sollte und er, Paterski, nichts in Halicz.

»Wer?« donnerte der Edelmann. »Ich! Du weißt doch, daß ich mich für die Laune, meinen Besitz abzurunden, geradezu zugrunde richte! Und weil wir gerade darauf gekommen sind: ich bin noch heute dazu bereit! Will mir der Janko den Obstgarten neben seinem Hause verkaufen, so zähl ich ihm das Geld morgen auf. Er grenzt an den Garten, den ich vom Wassili Bukowitsch gekauft habe; darum will ich ihn haben. Mit dem Preis soll er zufrieden sein. Der verdammte Kerl, der Pope von Solince – ein Pope, der Wucher treibt, Schimpf und Schande! – hat ja alles schätzen lassen. Du kennst die Schätzung – war sie zu niedrig?«

»Nein«, sagte Leib. »Ganz gerecht.«

»Nun also! Diesen Preis zahle ich und meinetwegen noch einige Gulden drüber. Du kennst mich ja, Leib, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, so bin ich wie ein Kind. Ich habe dich wegen einer andern Sache holen lassen: ich will dem Armenier die Wechsel des Onufrij abkaufen; aber das hat Zeit. Machen wir vorher dies Geschäft. Für dich zehn Gulden Maklerlohn! Und natürlich bleibst du dann in der Schenke. Aber rasch muß es sein; zieht sich die Sache in die Länge, so verliere ich die Lust daran und mache keine Dummheiten mehr! Also?«

Leib war fassungslos vor Staunen; ein solcher Preis, ein solcher Maklerlohn – was war da plötzlich in Paterski gefahren ... Aber es war ja unausführbar!

»Gnädigster«, sagte er zögernd, »das tut der Janko nicht. Er hat sich's in den Kopf gesetzt, der Hof muß ganz bleiben. Und den Obstgarten, den er so pflegt, gibt er schon gar nicht her, eher noch einen Acker ...«

»Hund!« schrie der Edelmann auf. »Ich biete dir Rettung, und du verweigerst mir deine Hilfe?! Der Janko tut, was du ihm sagst – willst du das leugnen, Frechling?! Weh dir, wenn du es mir nicht richtest ... Übrigens, etwas Acker will ich ihm auch noch abkaufen«, fügte er ruhiger bei. »Aber der Obstgarten muß mein sein, nun gerade steife ich mich darauf! ... Geh und sei vernünftig! Daß ich nicht mit [179] mir spaßen lasse, weißt du!«

Bestürzt erzählte Leib seinem Weibe von dem seltsamen Auftrag. »Dahinter steckt was!« meinte er.

Sie schwieg lange, nachdem er geschlossen. Was dahinter steckte, war ihr sofort klar: Paterski hatte in Halicz erkundet, über welche Gründe die Bahn gelegt werden sollte; der Obstgarten des Janko gehörte mit dazu ... Aber das durfte sie ihrem Manne nicht sagen, sonst riet er dem Janko davon ab ... Sie mußte ihn vielmehr dazu bringen, daß er es unter allen Umständen bei dem Bauer durchsetze.

»Narr!« sagte sie, »was zerbrichst du dir Paterskis Kopf?! Wahrscheinlich will er eine große Obstpflanzung anlegen, und dafür ist's ihm das Geld wert. Uns rettest du dadurch aus dem Elend, und für den Janko ist's ja auch ein gutes Geschäft.«

»Aber er wird nicht wollen«, sagte er.

»Er muß wollen!« rief sie. »Sei einmal im Leben klug«, fuhr sie flehend fort. »Denk einmal auch an dich und mich! Reb David will uns Geld geben, du sagst nein! Paterski will dich in der Schenke lassen, du denkst daran, ob das häßliche Tier, das deinem Kinde nachstellt, nicht noch mehr Nutzen davon hat, wenn es den Garten behält ... Du handelst immer nach Gottes Gebot, sagst du, hat Gott mein Elend gewollt?!«

Er ließ sein Haupt sinken. »Ich will's versuchen«, versprach er. »Was ich kann, soll geschehen.«

Mit diesem Vorsatz trat er in der Dämmerung den Weg zum Janko an. Der junge Bauer saß auf dem Bänkchen vor seiner Kammer und verzehrte sein Abendbrot, ein Stück Maiskuchen, und trank aus einem Tonkrug Wasser dazu. Als er den Juden gewahrte, überflog ein Zittern den sehnigen Leib, und in sein abgezehrtes, verhärmtes Gesicht schlugen die Flammen.

»Der Pope hat's mir schon gesagt ...«, stieß er hervor. »Aber du kommst umsonst!«

»Willst du mich nicht erst anhören?« bat der Kleine.

Janko schüttelte finster den Kopf. »Wozu?« sagte er dumpf. »Wie dir zumut ist, weiß ich, und was du mir sagen willst, weiß ich, aber wie mir zumut ist, weißt du nicht ... Ich vergehe nach ihr«, schrie er auf, »ich muß sie sehen, sonst werde ich verrückt! ...«

[180] »Aber so sieh doch ein ... Es ist Unsinn! Du mußt es dir aus dem Kopfe schlagen!«

»Warum?!« rief der Bauer. »Ich bin ein Mann und sie ist ein Mädel, ich hab sie wahnsinnig gern, und sie war immer gut zu mir. Unsinn? Weil sie eine Jüdin ist? Ist etwa sie eine Kuh und ich ein Pferd? – Menschen sind wir beide! Und was ist denn Jüdisches an ihr? Das Gesicht nicht, die Sprache nicht, die Gewohnheit nicht, sie ist ein Dorfkind wie ich. Ich sage dir, Leibko, zu mir paßt sie besser als zu so einem dummen, blassen Bengel mit Wangenlöckchen! Warum sollte sie sich nicht taufen lassen, warum sollte ich sie nicht heiraten? Der Pope will es nicht, du willst es nicht – aber was geht das uns beide an, wenn es uns paßt? Der Pope sagt, ich werde deshalb im Dorf noch übler dran sein als jetzt! Drauf pfeif ich! Oder weil du es nicht leidest? Du wirst es leiden, wenn ich dir sage: mein Weib wird sie und keines anderen! Verlobst du sie, so töt ich sie und dann mich!«

»Janko!« schrie Leib auf. Er hatte ihn bisher vergeblich zu unterbrechen gesucht; ungestüm, wie aufgestaute Flut, wenn der Damm zerborsten, strömte die Rede, die sich der Mann in tagelangem Brüten zurechtgelegt. »Janko! Soll das dein Dank sein?«

»Ich tu's ja nur, wenn ich muß!« rief der Bauer. »Nach meinem Willen soll sie ja leben und glücklich sein! Ich nehme sie, wie sie ist, in Ehren als Eheweib; ich will sie mein Lebtag gut halten, und verdorren mag mir die Hand, wenn ich sie je schlage – ist das nicht auch für dich Dank genug?! Bin ich dran schuld, daß du das nicht willst?! Mir ist die Jüdin zum Weib gut genug, dir ist der Christ zum Eidam zu schlecht – kann ich was dafür?!«

»Nicht zu schlecht«, wehrte Leib hastig ab, »nur geht es eben nicht ... Ich hab schon gehofft, du siehst das ein. Du hast ja dem Popen versprochen, nicht mehr zu kommen, wenn ich dich drum bitte!«

»Ja«, erwiderte er, »aber du solltest es nicht fordern! Denn was hast du davon? Glaubst du, daß ich sie vergesse? Es wird nur immer schlimmer! Ich – ich kann's ja nicht so sagen, aber das waren Tage, Nächte« – er biß die Zähne zusammen und knirschte dann: »In der Hölle kann's nicht schlimmer sein ... Ihr seid Dummköpfe, daß ihr das von [181] mir fordert, denn ich halt es nur, solang ich kann, und lang geht's nicht mehr ...« Er legte die Hand auf die Stirne. »Lang nicht ...«, stieß er verstört hervor, »und dann, dann komm ich und reiß sie in meine Arme und sage: Mein, mein! ... ›Wahnsinn?‹ sagst du? Dann bin ich eben auch wahnsinnig – laß es nicht so weit kommen! Ich will nichts, als sie sehen, mit ihr sprechen, dann bleib ich bei Vernunft! So wahr mir Gott helfe, dann sag ich ihr nichts! Kein Wort, kein Blick – glaubst du mir?!«

Leib schwieg verschüchtert.

»Ja«, sagte er dann zögernd, »daß du es mit dem Versprechen ernst meinst, glaube ich, aber du würdest es ja nicht halten können ... Man darf nicht Öl ins Feuer gießen, verstehst du? ... Du mußt sie vergessen!«

»Niemals!« rief der Bauer leidenschaftlich. »Nie wird eine andere mein Weib, nie wird ein anderer ihr Mann ... Und wollt Ihr nicht, daß wir zusammen leben, so werden wir zusammen sterben! ...«

Er richtete sich hoch auf, das gelbliche Antlitz färbte sich, die scheuen Augen sprühten Flammen, die Rechte zuckte wie unwillkürlich empor, und er hob die Schwurfinger.

»Höre!« rief er. »Vor langen Jahren, fast noch ein Kind, hab ich vor Gott dem Herrn den Eidschwur abgelegt: mein bleibt dieser Hof; nicht ein Krümchen Erde soll je einem anderen gehören! Den Eid hab ich bis heute gehalten, obwohl ich deshalb härter arbeiten mußte als mein Zugtier und schlechter leben als mein Hund! Und heut schwör ich: mein wird die Miriam! Ob im Leben oder im Tod, das magst du wählen! ... Und nun geh!

Geh!« wiederholte er heftig, als der Kleine reden wollte, und so schlich dieser betrübt heim.

Scheltend hörte Chane seinen Bericht an. Aber mitten in den bösen Reden hielt sie inne und blickte nachdenklich vor sich hin.

»Dabei darf es nicht bleiben«, sagte sie zögernd. »Sonst« – sie räusperte sich – »sonst geschieht wirklich ein Unglück! ... Was diese Menschen ›Liebe‹ nennen – pfui! pfui! –, aber gleichviel, hat einer von ihnen die ›Liebe‹ bekommen, so ist es oft sehr gefährlich, wenn er plötzlich das Mädchen nicht mehr sehen kann ...Vielleicht ist es besser, [182] wir erlauben ihm, wiederzukommen ... Du hältst ihn ja für einen ehrlichen Menschen. Dann wird er auch wohl sein Wort halten.« Leib sah sie erstaunt an.

»Soweit er kann«, wandte er zaghaft ein. »In der ›Liebe‹ benehmen sie sich ja alle wie verrückt ... Und dann, unser Miriamchen – Gott bewahre, daß ich etwas Schlimmes denke, aber sie fragt doch immer wieder nach ihm – es wäre doch auch darum besser – nun ja! sie soll sich entwöhnen, soll ihn vergessen ...«

»Unsinn!« warf Chane gellend dazwischen. Gebe der Himmel, daß es Unsinn ist, dachte Leib. Laut aber sagte er:

»Gut. Also ihretwegen wär's gleichgültig. Aber wenn er täglich im Haus ist, so wittert er doch vielleicht etwas von der heimlichen Verlobung. Und wird sie gar in fünf oder sechs Wochen offenkundig, so erfährt er's sogleich, und wie willst du sie dann vor ihm schützen?!«

»Das findet sich!« meinte sie leichthin und fügte dann sehr entschieden bei: »Also, er soll von morgen ab wiederkommen!«

Aber Leib schüttelte den Kopf. »Ich bitt dich«, bat er flehend, »laß das sein! Denk an meinen Traum, ich hätt keinen ruhigen Augenblick mehr ... Aber auch wenn keine Gefahr dabei ist ...« Er stockte, das verrunzelte Gesicht färbte sich.

»Nun?« schrie sie auf ihn ein.

Aber er mußte erst tief Atem schöpfen, ehe er schamhaft, mit glühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen fast stotternd hervorbringen konnte: »Jetzt, Chane ... jetzt, wo wir wissen, was er will und wie er an sie denkt ... Ich könnt's nicht ertragen, zuzusehen, wie er mein Kind so mit seinen Blicken ... betastet ...«

»Narr!« rief sie. »Blicke! ... seit wann haben Blicke jemand besudeln können? ... Also morgen früh redest du mit dem Janko ... Oder noch besser, ich tu's selber ...«

»Du?!« Er stieß es halblaut, fassungslos vor Erstaunen hervor. »Du!« wiederholte er langgedehnt, heiser, während alle Farbe aus seinem Antlitz wich und die Augen starr und immer starrer blickten. Ein ihm furchtbarer, ja entsetzensvoller Gedanke schien in ihm aufgestiegen zu sein.

[183] »Du?« rief er zum dritten Male, diesmal fast schreiend, und faßte ihre Hand.

»Was soll das wieder heißen?« Sie wollte es zürnend rufen, aber es klang verzagt. »Warum nicht ich?«

Kreidebleich stand er vor ihr. »Das geschieht nicht«, sagte er langsam und laut. »Ich verbiete es dir – ich, dein Mann, ein armer Mann, der aber ihn fürchtet und sein Kind liebt! ... Du willst dem Janko sagen: Ich erlaub dir, wieder zu uns zu kommen und mein Kind mit deinen Blicken zu umbuhlen, wenn du dem Herrn deinen Garten verkaufst!«

Sie wollte sprechen.

»Leugne nicht!« rief er; nie vorher, in all den langen, langen Jahren, da die beiden Menschen nebeneinander hergingen, hatte er diesen Ton gegen sie angeschlagen. »Das hast du tun wollen! Du hast eben darauf vertraut, daß er in seinem Wahnsinn das Geschäft mit dir macht. Die Rechnung war gut, aber ich lebe ja noch und sage: Nein! nein! nein!«

Chane war in heiße Tränen ausgebrochen. »Nun schimpfst du mich eine Kupplerin!« rief sie außer sich. »In deiner Narrheit, deiner Schwäche hast du uns in dies Elend ohne Grenzen gebracht! Durch deine Schuld muß dein einzig Kind einem Greise hingegeben werden, durch deine Schuld sind wir verloren, wenn sich dieser Greis nicht unser erbarmt! Und will ich etwas von diesem Jammer, dieser Schande abwehren und bewirken, daß wenigstens wir unser Brot auch ferner selbst verdienen können, so beschimpfst du mich!«

Auch ihm waren die Tränen in die Augen getreten.

»Chane«, bat er und suchte ihre Hand zu fassen, »laß uns zwei gebeugte Menschen Frieden halten, und nicht einer des andern Haupt noch tiefer beugen ... Oder, wenn du willst, wenn es dir das Herz erleichtert, klage mich an, gerecht oder ungerecht, gleichviel, ich will mich nicht verteidigen ... Aber das Weh darfst du mir nicht mehr bereiten, daß ich so zu dir sprechen muß wie soeben ... Ich weiß, du hast nichts Böses gedacht und stürbest lieber zehn Tode, als etwas zu tun, was dein Kind nach deiner Meinung beschimpft ... Blicke, denkst du, was sind Blicke?! Ich aber sage dir, ein ehrlich jüdisch Weib darf ihr Kind auch solchen [184] Blicken nicht preisgeben, um Vorteil davon zu haben, ...«

»Ich bin also kein ehrlich Weib?!«

»O ja!« rief er. »Steht einst meine Seele vor seinem Richterstuhl, so will ich ihm sagen: Vieles hast du deinem Knecht auf Erden auferlegt, aber unendlich größer war deine Gnade, denn dreierlei hast du ihm gegönnt: deinen Willen zu erkennen, und dies Weib und dies Kind! Du bist anders als ich, Chane, aber ich weiß, auch du bist gut. Eine Kupplerin?!« Er streckte abwehrend die Hände vor. »Um Himmels willen – nein! Aber die Armut, mein liebes Weib, die Armut und die Sorge, das sind Kupplerinnen, und er allein weiß, warum er sie dennoch so groß hat werden lassen unter den Menschen. Sie verführen, sie machen schlecht, wir aber wollen gut bleiben! Du hast nichts Böses gedacht – aber wir sind Juden, wir müssen mehr auf uns und auf die Reinheit unserer Kinder achten als die andern, denn wir sind sein Volk! Und zudem wäre es auch eine List gegen den Janko gewesen, und man darf niemanden überlisten, am wenigsten einen Betörten ...«

»Geh!« murmelte sie in zorniger Scham, »wir verstehen uns ja doch nicht! ... So hast du mir auch diesen Weg abgeschnitten!«

»Mit seiner Hilfe werden wir einen besseren finden!« sagte er feierlich und trat vors Haus.

Lange ging er in der dunklen Nacht auf und nieder. Es war ein Zwiespalt der Empfindungen in ihm; der Schmerz darüber, daß er seinem kranken, sorgenbeladenen Weibe so harte Worte hatte sagen müssen, und die Genugtuung, daß er stark geblieben. Aber auch in dieser Empfindung war keine Spur von Stolz, demütig beugte er auch da sein Haupt vor Gott. Wie war es nur möglich? dachte er, daß ich solche Worte gefunden habe? Die hat er mir eingegeben – gelobt sei sein Name!

Während er so gestillteren Herzens im tiefen Dunkel dastand, schlug plötzlich durch die nächtliche Stille ein Laut an sein Ohr: es klang wie ein fernes, leises Scharren. Er horchte auf: der Laut wuchs an und ward deutlicher; es war ein Mensch, der zögernden Schrittes, immer wieder anhaltend, die Straße entlang gegen das Wirtshaus geschlichen kam. Die Umrisse konnte Leib nicht unterscheiden, aber wie die Gestalt wieder anhielt, wohl nur [185] zwanzig Schritte von ihm, und tief aufseufzte, da ahnte er, wer dies war ... Angehaltenen Atems und auf den Fußspitzen schlich der Kleine ans Tor seines Hauses und wollte eintreten, den Flügel hinter sich schließen. Aber eine seltsame Empfindung, aus Mitleid und Grauen gemischt, hielt ihn im Torweg fest.

Der junge Bauer kam immer näher; nun stand er dicht vor dem Hause. »Sie schläft schon«, hörte ihn Leib sagen. »Alle schlafen ... nur ich muß wachen.«

Den Lauscher überlief ein Schauer; wieder wollte er den Flügel zuziehen, wieder hielt ihn jene Empfindung fest. Dann wollte er auf den anderen zutreten, ihn ansprechen, aber auch dies konnte er lange nicht. Endlich murmelte er seinen Namen.

Janko fuhr zusammen. »Wer ... wer da?« stieß er mit zitternder Stimme hervor. »Du, Leibko!«

Der Jude trat hervor. »Ja, ich«, sagte er. »Du solltest heimgehen, Janko«, fügte er sanft hinzu. »Du hast morgen schwere Arbeit und mußt früh aufs Feld ...«

»Was nützt das?« sagte Janko dumpf. »Ich will ja nicht ... ich muß ...«

Dann aber begann er plötzlich zu schluchzen und tastete nach der Hand des Juden. »Leibko«, stieß er hervor, »mein lieber, alter Leibko, du warst ja immer zu mir wie ein Vater – erbarme dich doch meiner! ... Erlaube mir, daß ich morgen komme, nur eine Minute lang will ich sie sehen ...«

»Ich darf ja nicht«, sagte der Kleine. »Und es nützt dir ja auch nichts ... Komm, Janko, ich will dich heimbegleiten, wir wollen vernünftig miteinander reden.«

Und er führte ihn sanft, seine Hand festhaltend, hinweg. Aber zum Reden kam es nicht. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis sie den Hof des Janko erreicht hatten.

»Also, du willst nicht?« fragte der Bauer, und seine Stimme zitterte noch immer. »So mag sich Gott unser aller erbarmen!«

»Das wird er!« erwiderte Leib stark und innig. »Gute Nacht, Janko!«

Und er eilte heim.

Am nächsten Morgen, dem des Freitag, als Chane und [186] das Mädchen in der Küche für den Sabbat rüsteten und Leib allein in der Schenkstube saß, traten nacheinander nicht weniger als vier wichtige Botschaften an ihn heran.

Die erste, zugleich die einzige schlimme, erhielt er mündlich. Es war Herr von Paterski selbst, der schon in aller Frühe in die Schenke trat.

»Nun?« fragte er erwartungsvoll, »hab ich den Garten?«

Leib knickte demütig in sich zusammen. »Gnädigster«, sagte er zitternd, unter fortwährenden Verbeugungen, »ich kann da nichts machen. Ich bin nicht einmal dazu gekommen, mit ihm darüber zu sprechen ...«

»Hund!« schrie der Edelmann wütend und hob die Reitpeitsche. »Und das wagst du mir zu sagen?!«

Leib wich zurück. »Nicht aus bösem Willen!« beteuerte er. »Aber er hat mich, noch eh ich dazu gekommen bin, vom Geschäft zu reden, an seinen Schwur erinnert, keine Scholle von seinem Gut zu verkaufen ... Wie gesagt, schon während wir über eine ganz andere Sach gesprochen haben!«

»Was war das für eine Sache?« fragte Paterski und trat einen Schritt vor, noch immer die Peitsche hoch geschwungen.

Wieder wich Leib zurück. »Das kann ich nicht sagen. Aber, so wahr mir Gott helfe, sie hat nichts mit dem Garten zu tun gehabt!«

»Hundsblut, du lügst!« rief der Pole, und diesmal sauste die Peitsche hernieder. Nur ein Sprung in die Türe zum Nebenzimmer rettete den Juden vor der Mißhandlung. Paterski atmete schwer.

»Mir scheint«, sagte er drohend, »du spielst da mit falschen Karten! Hat dir vielleicht ein anderer auch denselben Auftrag gegeben?«

»Nein«, beteuerte Leib. Und erstaunt fügte er bei: »Ein anderer auch? Warum sollten sich die Leut plötzlich um den Garten des Janko reißen?«

Der Edelmann biß sich auf die Lippen.

»Ich wüßte auch nicht warum«, sagte er dann. »Ich dachte nur – weil man einem Juden eben alle Hinterlist der Welt zumuten darf ... Also du willst da nichts tun?« »Ich kann nicht, Gnädigster! Er verkauft nicht.«

[187] »Du mußt ihn aber dazu bringen!« brauste Paterski auf. »Hörst du, du mußt! Tu deine Ohren auf, Jude. Kannst du mir bis heut abend melden, daß der Garten mein ist, gleichviel um welchen Preis, und kann der Kauf Montag in Halicz abgeschlossen werden, so bleibst du in der Schenke und bekommst zwanzig, meinetwegen sogar dreißig Gulden Maklerlohn! Geschieht dies nicht, so hast du zu Neujahr die Kündigung und wirst im nächsten Sommer davongejagt, und wenn der Herrgott selber für dich um Gnade bitten wollte. Adieu!«

Er ging.

Ebenso betrübt wie erstaunt sah ihm Leib nach. Dreißig Gulden! – bis Montag! was ging da vor? Aber es hatte ja leider keinen Zweck, darüber zu grübeln. Soviel war jetzt entschieden – in Winkowce war nun nicht lange mehr seines Bleibens.

Während er noch erwog, ob er seinem Weibe das Gespräch erzählen oder verschweigen sollte, trat ein anderer Besucher ein, der vor den Kleinen kaum minder herrisch hintrat als der Edelmann, obwohl er in allem von diesem so verschieden war, daß keine Phantasie einen schrofferen Gegensatz hätte ersinnen können. Es war ein Schnorrer, einer jener jüdischen »fahrenden Leute«, die unablässig den Osten Europas durchziehen und oft genug auch nach Deutschland, ja nach Amerika und von dort wieder nach Galizien und Rußland pilgern, eine rechte Plage ihrer Glaubensgenossen. Viele wüstes Gesindel, andere nun eben Bettler, wieder andere nicht ungelehrt und unbegabt – man findet oft tüchtige Talmudisten, Musikanten, Wanderprediger unter ihnen –, aber alle hungrig, durstig und dreist.

»Scholem aleichem« (Friede mit Euch!), sagte der Mann beim Eintritt. »Seid Ihr Leib, der Schenker?« Der Dialekt verriet den Russen.

»Aleichem scholem«, gab dieser seufzend den Gruß zurück. »Ich bin's.«

Der Gast sah übel aus; in Fetzen hing ihm der schmutzstarrende Kaftan um den hageren, sehnigen Leib; der Filzhut bestand gleichfalls eigentlich nur aus lauter Löchern, und all sein Hab und Gut trug er in einem Taschentuch am Stock befestigt. Als das betrüblichste aber erschien dem Schenkwirt die rote Nase in dem durchfurchten, [188] bartumstarrten Gesicht. Die fromme Sitte gebietet jedem Juden, einen solchen Schnorrer nicht unbegabt zu entlassen, und kommt er am Freitagvormittag, so muß man ihn, wenn er will, über den Ruhetag bis zum Sonntagmorgen im Hause behalten. Aber das ist meist kein Vergnügen, und am wenigsten, wenn der Gast eine solche Nase hat und der Wirt ein Schenker ist.

»Nehmt Platz«, sagte Leib. »Wollt Ihr einen Imbiß?«

Der Schnorrer sah ihn hochmütig an.

»Was schneidet Ihr für ein Gesicht?« fragte er. »Glaubt Ihr etwa, ich will über Sabbat bei Euch bleiben? Ich bin's, gottlob, besser gewohnt! Auch hat mich Reb Schlome in Jezupol für heut abend geladen – der reichste Mann im Städtchen –, da bleibt man doch nicht bei Leib Schenker! Auch Euer schimmelig Brot brauch ich nicht. Nur ein Glas Schnaps gebt mir, aber vom besten! Hört Ihr? Ich bin Reb Mordche Kremmenitzer und darf das verlangen!«

Leib hatte zwar den Namen nie gehört, tat aber, wie ihm befohlen.

Der Schnorrer leerte das Glas auf einen Zug und schnalzte mit der Zunge. »Das laß ich mir gefallen«, sagte er, »das ist doch Schnaps und nicht Wasser! Kein Wunder, daß Ihr dann ein so armer Teufel bleibt, Reb Leib ... Noch ein Glas!«

Auch dies spendete der Kleine und versuchte sogar, ein vergnügtes Gesicht dazu zu machen; der Gast hatte versprochen, bald wieder aufzubrechen; das verdiente Belohnung.

Dem zweiten folgte ein drittes und viertes Glas. Dazwischen befahl der Fremde nun doch einen Imbiß: zwei hartgesottene Eier und Butterbrot. Gehorsam ging Leib in die Küche und brachte dann das Gewünschte herbei.

Nachdem der Schnorrer ein fünftes Glas geleert, erhob er sich; die Nase war nur noch ein wenig röter, aber er wankte nicht.

»Ihr seid ein braver Mensch, der seine Pflicht tut«, sagte er herablassend. »Das verdient Belohnung. Ich hab hier einen Brief für Euch von Reb Mosche, dem Halsabschneider. Der elende Kerl gibt mir zwei Kreuzer und sagt: ›Dafür müßt Ihr diesen Brief bestellen. Es steht was Gutes darin, Reb Leib wird Euch also gut aufnehmen.‹ Ich aber [189] denke: Gut aufnehmen muß mich dieser Leib, weil ich ein Gast bin; knickert er, so geb ich ihm den Brief nicht, es ist ja was Gutes drin – soll ich Schlimmes mit Gutem belohnen? Nun – Ihr verdient es – hier ist der Wisch!«

Der Russe reichte ihm das Schreiben hin und ging. Mit bangem Herzen erbrach Leib das Siegel und las. Er traute seinen Augen nicht, aber da stand es wirklich und wahrhaftig in den verschnörkelten Zügen der hebräischen Kursivschrift:


»Lieber Freund! Hoffentlich habt Ihr nicht ernst genommen, was ich Euch am Montag gesagt hab! Ich war, wie Ihr wißt, schlechter Laune, aber etwas zu tun, was einem alten Freund unangenehm wäre, fällt mir natürlich nicht ein. Ich bitte, verzeiht mir den Ärger, den ich Euch vielleicht dadurch bereitet habe. Es soll mir ein Vergnügen sein, Euch den Wechsel für so lange zu verlängern, als Ihr nur irgend wollt. Euer Mosche.«


Leib starrte fassungslos vor freudigem Staunen auf das Blatt. Dann eilte er in die Küche. »Lies!« rief er und reichte den Brief seinem Weibe hin. Auch über ihr vergrämtes Antlitz flog ein Schimmer der Freude. Dann aber fragte auch sie: »Was geht da vor?! Mosche ist plötzlich dein Freund und hat's Montag nicht ernst gemeint?!«

»Es steht ja da«, sagte er fröhlich, »also muß es wahr sein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er wird von der Sach mit Reb David gehört haben«, erwiderte sie besorgt. »Und das ist nicht gut! Reb David möcht ja, daß es noch ein Geheimnis bleibt, will am Ende dann gar nichts mehr davon wissen ... Aber wer kann's unter die Leut gebracht haben?!«

Der Kleine wurde bleich; ein Zittern überlief ihn. Sie sah ihn befremdet an. »Durch wen hast du gestern den Brief an Mendele geschickt?!« rief sie.

Die Reue und die Furcht überwältigten ihn so, daß er sich an die Wand lehnen mußte und unwillkürlich die Augen schloß. Mit bleichen Lippen gestand er: »Durch ... durch Hirschele!«

»Schlemihl!« brach sie gellend los; so heißt im Jargon ein Mensch, der durch sein Ungeschick ins Unglück gerät. »Du [190] hast uns alle zugrunde gerichtet!« Und ein Hagel von Vorwürfen sauste auf ihn nieder.

Gesenkten Hauptes ließ er ihn über sich ergehen, ohne ein Wort der Verteidigung zu wagen. Und es fiel ihm auch keines bei. Sie hatte recht, er war ein Schlemihl. Stumm schlich er, nachdem sie sich müde geschrien, hinaus und sank auf das Bänkchen vor dem Hause. Einen Trost fand er auch nun nicht; in dieser Not versagte sogar der Gedanke an ihn. Hatte er ihm befohlen, gerade Hirschele Krakauer zum Boten zu wählen?!

So saß er noch und starrte betrübt vor sich hin, als er plötzlich seinen Namen rufen hörte. Vor ihm stand ein seltsames Männchen in zerschlissenem Kaftan; an Wuchs und Zartheit der Glieder ein Knabe, aber das häßliche Gesichtchen wies tausend Furchen, und in das Fuchsrot des Bartes mischten sich weiße Fäden. Das war Meyerl Spazierstock, der Gehilfe und Botenläufer Mendeles, zugleich sein Ausspürer, der unablässig unterwegs war, um Namen und Verhältnisse der Heiratsbedürftigen auf zwanzig Meilen im Umkreis zu erkunden.

Leib sah das grinsende Gesicht des Männchens nur wie durch einen Nebel, so sehr flimmerte es ihm vor dem Blick. Nun läßt uns Mendele die Sach aufsagen, dachte er schaudernd.

Aber Meyerl bemühte sich im Gegenteil, eine möglichst freundliche Miene zu ziehen. »Wie geht's?« rief er. »Was macht unsere schöne, dicke Braut?«

»Danke!« stammelte Leib. »Was ... was bringt Ihr?«

»Gutes natürlich!« Das Männchen warf sich in die Brust. »Wenn wir was in die Hand nehmen, so geht's glatt! Leicht habt Ihr's uns wahrhaftig nicht gemacht! Was reitet Euch der Teufel, es unter die Leut zu bringen? Reb David war auch sehr zornig drüber. Aber wir haben ihm gesagt: ›Wer kümmert sich um Geschwätz?! Fragt man Euch, so könnt Ihr antworten, Ihr wißt von nichts! Und das gleiche werden Reb Leib und sein Weib antworten. Dafür sorgen wir.‹ Da hat er sich wieder beruhigt. Also das läßt Euch Mendele sagen!«

Leib atmete tief auf. »Darum seid Ihr gekommen?« fragte er erleichtert. Aber so weltfremd, um dies zu glauben, war selbst er nicht. »Nur darum?« [191] »Natürlich«, erwiderte Meyerl. »Und dann – natürlich! – wegen der Bedingungen. Also – aber da muß wohl auch Euer Weib dabeisein?!«

Freudestrahlend holte Leib sie aus der Küche herbei. Sie aber, so sehr sie innerlich jubelte, konnte sich doch nicht enthalten, ihm zuzuflüstern: »Ein Schlemihl bleibst du deshalb doch! Und die Bedingungen mach ich aus!«

Er widersprach nicht und hörte still zu, während Chane die tausend Gulden Witwengeld für Miriam, ferner statt der dreißig nun fünfzig Gulden Aussteuer erkämpfte, weil sie Meyerls Erscheinen mit Recht als Beweis dafür deutete, wie sehr es dem greisen Bräutigam um eine rasche Ordnung der Angelegenheit zu tun sei. Aber unruhig wurde der Kleine, als nun Meyerl sagte: »Was aber verlangt Ihr für Euch? Ihr sagt, Ihr wollt erst Sonntag darüber reden. Warum erst da? Ist das gar so angenehm für Reb David und Euch? Ich mach Euch einen Vorschlag: Ihr bekommt vierhundert Gulden und gebt davon fünfzig für Mendele und zehn für mich. Aber nun sagt auch gleich ja und bedankt Euch schön!«

Das aber taten sie beide nicht. Mit dunkelgerötetem Gesicht schielte Leib nach seinem Weibe hin, und auch sie schwieg, weil sie sich erst die Sache zurechtlegen mußte. Darum also war Meyerl gekommen – die vierhundert Gulden waren offenbar schon dem Alten abgerungen. »Vierhundert!« begann sie dann, »aber davon nur vierzig für euch beide ...«

»Nein!« rief Meyerl. »Lieber mag nichts aus der Sach werden! Wer armen Menschen den ehrlichen Lohn nicht gönnt ...«

»Still!« unterbrach ihn Leib. »Ob wir was fordern, sagen wir Sonntag Reb David selbst!« Und als Chane losbrechen wollte, wiederholte er fast gebieterisch: »Still!«

Diesmal ließ sie sich nicht einschüchtern. »Wir gehen vorher zum Rabbi und lassen ihn entscheiden!« rief sie. »Wißt Ihr, was er will?!« wandte sie sich an Meyerl, als wollte sie ihn zu Hilfe rufen.

Aber Leib hatte auch davor kein Bangen; in dieser Frage gehorchte er ja seiner Stimme. »Nichts will ich«, sagte er. »Ihr könnt es jedem sagen!« Und er schritt aus der Stube.

Starr vor Staunen blickte ihm Meyerl nach. »Ist er verrückt?« [192] fragte er dann. Sie zuckte die Achseln. »Das findet sich noch!« sagte sie, aber es klang etwas unsicher. Dann verabredeten sie, daß die Verlobungsakte schon am Vormittag des Sonntag bei Mendele unterschrieben werden sollten. Denn am Nachmittag mußten sie ja der vielen Gäste wegen wieder daheim sein.

Als Meyerl gegangen war und Leib wieder in die Stube kam, begann sie ihn abermals zu bestürmen. Ob er denn gar so viel auf Mosches Großmut baue?

»Nein«, erwiderte er, »aber auf ihn! Und da wird dir auch der Rabbi nichts nützen! Was er will, weiß ich selbst so gut, daß es mir nicht zehn Rabbiner besser ausdeuten können. Auch meine Seele ist vor dem Sinai gestanden und hat seine Stimm gehört!«

Sie schwieg. Mit Gründen des Glaubens ließ sich ja dagegen nicht ankämpfen. Die Macht des Rabbi ist unendlich groß, wenn es sich um die Einhaltung der Tausend und Abertausende von Geboten und Verboten des Zeremonials handelt; in Gewissensfragen übt er geringere Macht als irgendein anderer Priester. Denn alle jüdischen Seelen sind »vor dem Sinai gestanden«; jeder einzelne fühlt sich seinem Gott nah und bedarf keines Mittlers zwischen sich und seinem Herrn.

7

VII

Um die Mittagsstunde fand sich der vierte Besuch ein, dieser freilich nicht unerwartet. Seit das Ehepaar in der Schenke von Winkowce hauste, kam auch die lange Kasia Freitagmittag aus Halicz herüber und blieb bis Sonntagmorgen bei ihnen. Denn sie war ihre Schabbesgoje, das heißt: die christliche Dienerin, die alle Verrichtungen im Hause besorgte, die ihnen ihr Glaube am Festtag verbot, namentlich die Lichter zu löschen, die Gäste zu bedienen, Geld zu empfangen oder auszugeben. Für manches dürftige Christenweib im Osten bedeutet ein solcher armseliger Posten den einzigen Lichtpunkt in einem Leben voll unsäglichen Elends; ob sie die Woche über noch so viel hungern und frieren mag, am Sabbat wird sie satt und hat's behaglich warm, denn da ist jede Judenstube geheizt und [193] der Tisch darin gedeckt, und wenn sich's die Leute die Woche über vom Munde abdarben oder am Freitag pfennigweise zusammenbetteln müssen. Darum sind alle Versuche einzelner Priester und Beamten, dem Juden die Goje zu verbieten, fruchtlos geblieben; er braucht sie, und sie braucht ihn; um jede solche Stelle, und sei's selbst bei dem Ärmsten, ist ein eifriger Wettbewerb, zudem ja auch der Dienst leicht und die Behandlung gut ist. Streitigkeiten sind äußerst selten, das Verhältnis zwischen Herrin und Dienerin oft genug ein menschlich schönes, trotz des ungeheuren Gegensatzes aller Anschauungen, trotz der Überzeugung beider, daß die andere eigentlich der geringere Mensch sei, schon weil sie keinen richtigen Glauben habe. Die Goje gehört trotzdem zur Familie und fühlt sich so, lernt auch allmählich die Gebräuche, sogar die Sprache ihrer Herrschaft.

Auch die lange Kasia nahm es, was Treue und – Verjudung betraf, mit jeder Standesgenossin in Podolien auf. Eine schier unabsehbare Reihe von Freitagen war seit jenem ersten vergangen, wo einst die noch blühende Chane aus einer ganzen Schar von Bewerberinnen gerade die junge Wäscherin zum Dienste im Hause Weihnachtskuchen erkoren. Es war geschehen, weil ihr das hagere, überlange Geschöpf mit dem häßlichen, eckigen Gesicht gar so leid tat; alle hatten's nötig, aber die am meisten. Eine Wäscherin – das ist ja ein Geschäft, dessen Gedeihen überall auch von den landesüblichen Reinlichkeitsbegriffen abhängt, und darum ist es in Podolien die sichere Anwartschaft auf viel Muße und noch mehr Hunger. Chane wußte, was sie tat, daß sie gerade die Wäscherin von Halicz erwählte, und hatte dies auch nie zu bereuen. Die Kasia erwies sich als anstellig und wußte sogar an dem Tage, wo sie allein in der Schenkstube waltete, Gäste anzulocken, sie sich sonst nicht eingefunden hätten. Das aber geschah wahrlich nicht durch den Zauber ihrer äußeren Erscheinung, sondern den ihres Geistes; die Klatschmäuler von Winkowce freuten sich, von ihr zu erfahren, was die Woche über in Halicz geschehen, und dies um so mehr, als sie in dieser Tätigkeit während des Sabbats den entgegengesetzten Effekt von dem verfolgte, dem ihre Arbeit während der Woche gewidmet war; die Ereignisse von Halicz wurden unter ihren Händen nicht [194] reinlicher und nahmen sozusagen Farbe an ...

Wenn sich am Freitag der Schatten der Sonnenuhr an der Kirche von Winkowce der Ziffer XII nahte, bedurften die Bauern dieses Zeichens nicht, um zu wissen, daß es auf Mittag gehe; womöglich noch sicherer nahte die Kasia in hastigem Stolperschritt, den Oberkörper vorgeneigt und die langen Arme schlenkernd, dem Wirtshaus. Diesmal ging sie noch eiliger, ja sie lief förmlich, so daß das zerschlissene gelbe Umhängetuch wie eine Fahne um die spitzen Schultern wehte. »Welches Glück!« murmelte sie immer wieder. »Kein Naden, im Gegenteil, sie bekommen noch was bezahlt! Oh, wenn ich sie nur schon unter der Chuppe sähe! Und dann ziehen sie nach Halicz, und ich kann täglich kommen, und für jeden Schabbes richten wir einen Scholent, so fett, daß ganz Halicz vor Neid bersten soll!« – Naden heißt Mitgift, Chuppe der Trauhimmel, die durch vier Stangen getragene Decke, unter der die Trauungen im Ghetto vollzogen werden, und Scholent das Sabbatgericht; alle drei sind hebräische Worte, aber dieser richtigen Schabbesgoje waren sie natürlich ebenso geläufig wie unzählige andere, so daß ihr Ruthenisch allmählich ihrem Kittel glich; auf der blauen Leinwand saßen unzählige fremde Flicken.

Endlich war das Haus erreicht; sie riß die Türe zur Küche auf. »Maseltow!« stammelte sie atemlos. »Welches Glück! Und wenn Gott will, so kann sie ja schon in drei Monaten wieder Witwe sein!«

Chane erschrak tödlich und blinzelte dann angstvoll in den Hof, wo das Mädchen eben das Geschirr für den Sabbat wusch; gottlob, es hatte nichts gehört.

»Schweig!« – sagte sie dann halblaut und trat auf Kasia zu. »Keine Silbe mehr – verstehst du?«

Die Kasia blickte die Herrin verblüfft an und nach dem Hofe hin. Dann aber glomm es in den stumpfen Zügen auf. »Sie weiß noch nichts?« fragte sie flüsternd. »Aber warum nicht?«

»Weil wir selbst nichts wissen«, erwiderte Chane barsch. »Weil die Leut in Halicz Unsinn reden!«

Die Wäscherin sank ganz vernichtet auf den nächsten Stuhl. »Und ich hab mich schon so gefreut!« jammerte sie. Es war also nichts mit dem besseren Leben, und der [195] Scholent blieb mager wie bisher und mußte in Winkowce gegessen werden, und sogar mit der schönen Neuigkeit, die sich so saftig bereden ließ, war es nichts. Und das war eigentlich das fürchterlichste, wenigstens für diesen Augenblick. Aber warum sollte es auch damit nichts sein? ... »Dann sollte man ihr doch wenigstens sagen, was die Leute schwatzen«, rief sie und schnellte wieder auf.

»Keine Silbe!« befahl Chane und drückte sie auf den Stuhl nieder.

»Aber warum denn nicht?!« jammerte die Kasia. »Die Leute sagen: ›Der Alte ist ganz toll nach ihr und läßt darum den Sohn gleich heiraten, und in vierzehn Tage ist die Hochzeit!‹ Das muß sie ja freuen, auch wenn's nicht wahr ist! Jedes Mädchen ... Aber ist's denn nicht wahr?!« unterbrach sie sich plötzlich. »Wieviel ein Mensch lügen kann, weiß ich ja«, fuhr sie selbstbewußt fort, und in der Tat, das wußte die Kasia ganz genau, »aber alles erfinden! ... Und wozu war denn der rote Meyerl eben hier?! Ich bin ihm ja begegnet!«

Chane dachte nach. Dieser Klatschbase die Wahrheit zu sagen war unmöglich; sie mußte glauben, daß das Gerücht gelogen. Aber wie verhindern, daß sie überhaupt davon sprach?!

Endlich glaubte sie, das rechte Mittel gefunden zu haben. »Höre, Kasia«, sagte sie eindringlich, »es ist wirklich nichts daran wahr, und Meyerl war nicht bei uns. Das Gerücht hat ein Schenkwirt ausgesprengt, der die Pacht hier haben möchte. Du weißt, Paterski will uns kündigen, aber wir verhandeln mit ihm; der Mensch verbreitet die Lüge, damit auch Paterski von dem reichen Eidam hört und uns Bedingungen macht, die wir nicht eingehen können. Und Miriam darf es auch nicht wissen, denn sie ist noch ein Kind und soll an solche Dinge gar nicht denken ... Redest du also darüber, so bringst du dich und uns ums Brot!«

»Um Himmels willen!« rief die Kasia und bekreuzigte sich. »Ich will schweigen, wie das Grab eines neugeborenen Kindes!«

Und sie wollte es auch halten, wenn nur das Schweigen, ach!, nicht so schwer gewesen wäre! Oder wenn sie noch eine andere große, schöne Neuigkeit mitgebracht hätte. Aber gerade in dieser Woche hatte sich in Halicz nichts [196] zugetragen, als daß der blödsinnige Sohn von Reb Srulze Dubs wieder einmal einem Mädchen nachgestellt und furchtbare Prügel dafür bekommen – und das kam oft vor – und daß der Schneider Boguslawski sich in der Trunkenheit den Fuß verstaucht hatte, und das war auch nicht aufregend. Ferner kam am Dienstag die Kommission nach Winkowce, um den Weg für das »eiserne Pferd« abzustecken, aber das interessierte die Miriam nicht, und neben der arbeitete sie ja nun in der Küche, und wenn man neben jemand arbeitet, so muß man doch mit ihm reden können! Und so erfuhr denn Miriam zwei Stunden später, daß die Leute in Halicz etwas über sie redeten.

»Über mich?!« fragte sie neugierig. »Was denn?«

»Kann ich dir nicht sagen. Ich hab's deiner Mutter geschworen!«

»Meiner Mutter?! ... Sie weiß es also? Aber was kann es nur sein?!«

»Nun, was werden die Leute über ein junges Mädel schwatzen! ...«

Die Miriam blickte sie erstaunt an, dann wurde sie dunkelrot und – lachte so laut und schmetternd drauflos, daß die Kasia zusammenfuhr und schuldbewußt nach der Kammer blickte, wo Chane eben die Kerzen in die Sabbatleuchter steckte.

»Eine Liebschaft?!« rief sie, als sie endlich reden konnte. »Aber ich bin ja eine Jüdin! ... Oder daß ich heiraten soll? Aber dazu bin ich ja noch zu jung ... Hahaha!«

Diesmal ließ Chane ihre Arbeit und kam in die Küche. »Worüber lachst du so?« fragte sie argwöhnisch.

»Nichts«, erwiderte die Kasia ängstlich und streckte abwehrend die langen Arme vor. »So ein dummes Ding!« Aber das Mädchen berichtete es.

»Das hab ich nicht gesagt ...«, stammelte die Magd. »Miriam, bleib bei der Wahrheit! ... Ich habe nur gesagt, die Leute schwatzen ... Frau, es ist nicht meine Schuld, daß sie es erraten hat ... Und was ver schlägt's auch, wenn sie es weiß?! Sie schadet Euch beim Paterski nicht! ... Und es ist ja alles Lüge, sagt Ihr ...«

In Chane kochte der Zorn, aber sie bezwang sich; die Klugheit gebot, die Sache so leicht als möglich zu nehmen.

[197] »Schwätzerin«, sagte sie leichthin. »Die Leut reden nämlich, du hast einen reichen Freier!«

»Ich?!« lachte Miriam. »Und nun gar einen reichen?!« Und sie lachte, lachte, daß sich die rotgoldenen Zöpfe zu lösen drohten.

»Nun ja, Unsinn!« sagte die Mutter. »Aber da zeigt sich wieder die Bosheit der Menschen.« Und sie suchte ihr auch weiszumachen, wer die Lüge unter die Leute gebracht und zu welchem Zweck.

Dann aber wandte sie sich an die Dienerin. »Und nun wirst du es den Bauern sagen?« fragte sie verächtlich. »Damit es Paterski gewiß bald erfährt?!«

Die Kasia schluchzte. »Ich werde schweigen«, beteuerte sie. »Schweigen, wie das Grab eines ...« Sie stockte; es fiel ihr nichts Rechtes bei, nachdem sich sogar das neugeborne Kind als schwatzhaft erwiesen hatte. »Schweigen, wie ein Friedhof!« schloß sie endlich unter strömenden Tränen.

Die Miriam aber war während des Gesprächs sehr ernst geworden und blickte nun in so tiefem Sinnen vor sich nieder, daß sie die Arbeit ruhen ließ ...

»Was hast du?« fragte Chane scharf.

Sie fuhr zusammen. »Es ist nur ... ich meine ... aber es ist gewiß nicht so ... Nämlich, glaubst du, daß der Janko auch davon gehört hat ... und deshalb nicht kommt?!«

Chane wurde verlegen, dann aber, als sie der Tochter ins Antlitz blickte und darauf einen Zug seltsamer Befangenheit, ja Bewegung gewahrt, erschrak sie heftig. Ein furchtbarer Gedanke, der ihr nie vorher gekommen, stieg in ihr auf und ließ ihr Herz stillestehen. Sie mußte alle Kraft zusammennehmen, ehe sie fragen konnte: »Wie kommst du darauf?«

Das Mädchen errötete unter ihrem prüfenden Blick, daß die Glut auch Stirn und Nacken überzog. »Ich weiß nicht ...« murmelte sie. »Es ist ja auch Unsinn«, fuhr sie mit festerer Stimme fort, »warum sollte er deshalb ...'s ist nur«, schloß sie, »weil ich gar nicht weiß, warum er plötzlich ausbleibt.«

Chane hatte sich gefaßt. »Warum? Wenn du es wissen willst, brauchst du mich doch nur zu fragen, es ist kein Geheimnis. Du weißt doch, warum Paterski mit deinem Vater böse ist? Dieses häßlichen Tölpels wegen! Aber wir [198] können doch seinetwegen nicht ums Brot kommen und haben daher mit dem Polen wieder angeknüft. Das weißt du ja auch, oder warst du nicht dabei, wie sein Großknecht, der Martin, gestern hier war? Nun also, bis der neue Vertrag geschlossen ist, paßt es uns nicht, daß der Janko herkommt. Wir müssen den Polen bei guter Laune erhalten – verstehst du?«

»Ja«, sagte das Mädchen zögernd und seufzte unwillkürlich auf.

»Warum seufzt du?« fragte Chane scharf und wiederholte die Worte fast schreiend, als das Mädchen nicht sofort erwiderte. Der furchtbare Gedanke, der ihr vorhin gekommen, übermannte sie wieder, daß sie alle Selbstbeherrschung verlor.

»So fahr mich doch nicht gleich so an!« erwiderte das Mädchen weinerlich. »Ich weiß, du kannst ihn nicht leiden, aber ich – ich hab ihn gern. Der arme Kerl hat ja sonst keinen Menschen im Dorf ... Es wird ihm gewiß sehr hart sein, daß er nun auch nicht mehr zu uns kommen darf ... Und da tut er mir eben leid ...«

Chane atmete auf. Es war der Ton kindlichen Schmollens, mit dem sich das Mädchen stets gegen ungerechte Schelte zur Wehr setzte. Und wie sie so, unsicher nach der Mutter hinschielend, mit abwärts gezogenen Mundwinkeln dastand, glich sie auch ganz einem Kinde ... Nein, gottlob, das Furchtbare, vor dem die Frau zitterte, lag diesem unschuldigen Herzen fern, himmelfern ...

»Und wir täten dir nicht leid, wenn uns Paterski wegjagen würde?!« fragte sie. »Übrigens – sobald wir mit dem Polen einen neuen Vertrag geschlossen haben, kann ja der Tölpel wieder kommen. ... Meinetwegen, aber wie ich über diese Freundschaft denke, weißt du ja ...«

Sie hielt es für gut, damit das Gespräch zu beenden, und verließ die Küche.

Nachdem Chane gegangen war, blieb es eine Weile still. Die Kasia tat, als ob sie ein Schluchzen mit aller Kraft unterdrücke, und weil sie sich viel Mühe damit gab, so tat ihr das gutmütige Mädchen endlich den Gefallen und fragte: »Was hast du nur?!«

»Was ich habe?!« stöhnte die Wäscherin, freilich zunächst noch, trotz heftigen Zwinkerns, mit trockenen [199] Augen. »Zuerst quälst du das Geheimnis aus mir heraus ... und dann stellst du mich als Schwätzerin hin ... Ich eine Schwätzerin ... oh!«

Und nun hatte sie endlich wahrhaftig Tränen in den Augen.

»Wenn's nichts weiter ist«, sagte das Mädchen lachend. »An dies Unrecht könntest du gewöhnt sein!«

»Ich bin aber keine Schwätzerin!« rief die Kasia. »In wichtigen Sachen kann ich schweigen, wie – wie –« Aber nun fiel ihr kein Vergleich mehr ein, der einen so hohen Grad von Verschwiegenheit würdig verbildlicht hätte, und darum erstarb der Schluß des Satzes in heftigem Schluchzen.

»Aber wie hätte ich wissen sollen, daß du es nicht erfahren darfst?« fuhr sie dann mit merkwürdig rasch gewonnener Fassung und ohne alles Zittern der Stimme fort. »Warum hat mir deine Mutter den wahren Grund verschwiegen?! Jetzt weiß ich ihn!«

Und sie hielt mit triumphierendem Lächeln die Blechschüssel, in der die Weißfische für den Abend angerichtet werden sollten, ans Licht, ob sich noch irgendwo ein Fleckchen finde, und zwinkerte dabei das Mädchen von der Seite an.

»Was meinst du damit?« fragte Miriam.

»Oh, das sag ich nicht! ... Du sollst erfahren, daß die Schwätzerin auch schweigen kann ... Ich aber rede nur, was ich verantworten kann ... Wenn man mich zu täuschen sucht, so kann ich nichts dafür, wenn ich Unheil anrichte ... Und hier« – sie begann wieder zu schluchzen, und die Lider gingen blitzschnell auf und nieder – »ist ja auch das Unheil hoffentlich nicht gar zu groß. Du bist klug, du wirst dich fassen ...«

Miriam stand starr vor Staunen. »Fassen? – worüber?!« »Verstellst du dich auch, wie deine Mutter?« stieß die Magd schmerzvoll hervor. »Warum wollt ihr mir verbergen, was vorgeht, zuerst sie, dann du?! ... Ihr kann ich es noch verzeihen – da war wirklich eine Gefahr –, aber du, warum mißtraust du mir?! Du hast doch sonst niemand, mit dem du darüber reden kannst! ... Ist das der Lohn für meine Treue?!« Die Worte sprudelten immer hastiger hervor. »Wer hat dich einst immer beschützt, wer mit dir [200] gespielt? Ich habe dich auf den Händen getragen, ehe du noch geboren warst!«

Miriam lachte laut auf. »Das doch nicht!« rief sie. »Aber es ist ebenso vernünftig wie alles andere, was du heute redest. Was meinst du eigentlich?«

»Was ich meine?!« rief Kasia und stemmte die Arme in die Hüften. »Daß du mit dem alten Juden verlobt bist, ohne es zu wissen! Daß es dir deine Eltern verschweigen, weil sie wissen, daß dir der Janko lieb ist, und daß du darum den Alten nicht wirst nehmen wollen! Das meine ich! ... Aber du wirst es deshalb doch tun«, fuhr sie plötzlich flehenden Tones fort, »obwohl ich es dir leider ohne meine Schuld verraten habe ... Ohne meine Schuld, denn wie hätt ich so was ahnen sollen? Erst wie du vorhin so rot geworden bist, hab ich's erkannt! ... Du wirst den alten David heiraten, denn er lebt ja keine drei Monate mehr, und dann bist du eine junge, reiche Witwe und kannst dein Leben genießen ... Und was willst du mit dem Janko? Er ist ja wirklich ein häßlicher Tölpel! ... Ich bitte dich, Miriam«, schloß sie und hob beschwörend die Hände empor, und die Tränen, die ihr nun die kleinen, gelblichen Augen füllten, brauchte sie nicht erst mühsam emporzupumpen, »nimm den alten Juden – denn sonst jagt mich ja deine Mutter davon!«

Das junge Mädchen ließ den Wortschwall stumm über sich ergehen; die Augen wurden immer starrer vor Staunen und die Glut der Wangen immer flammender, aber sie regte sich nicht. Dann aber warf sie plötzlich die Arme in die Luft und begann zu lachen – zu lachen; jedes Grübchen im runden Gesicht und die Augen und jedes Härchen und jeder Muskel am jungen kraftstrotzenden Körper lachte mit. Das währte minutenlang; immer von neuem brachen die hellen, rollenden Laute, wie das Girren einer Taube, aus ihrer Kehle, bis ihr die hellen Tränen über die Wangen liefen. Und das erste Wort, das sie fand, war: »Kasia! Du bist zu dumm!«

»Dumm? ... Ich? ... Was meine Augen gesehen haben, lasse ich mir nicht abstreiten ... Du wirst rot, so oft man den Janko nur nennt!«

»Dann müßt ich alle Tag vom Morgen bis zum Abend aussehen wie ein gesottener Krebs«, erwiderte sie lustig.

[201] »Nein! Ich habe die ›Liebe‹ zum Janko nicht, wie ihr sagt. Gern hab ich ihn und bin an ihn gewöhnt – das ist alles! Zu solchen Sachen bin ich noch zu jung, hab ich dir schon gesagt – und dann, eine Jüdin bekommt die Liebe niemals, niemals, Kasia, merk dir das ... Und was du von dem Alten sagst, ist auch Unsinn – wer soll's denn sein?«

Kasia nannte den Namen.

Wieder schrie Miriam hell auf. »Der! Ich könnt ja seine Urenkelin sein!« Und abermals lachte und lachte sie, daß sie sich auf einen Stuhl werfen mußte, weil ihr der Atem stockte.

Die Magd hatte sich gekränkt abgewendet.

»Lache nur«, murmelte sie, »mich täuscht niemand ... Und ich bring's noch aus euch heraus, ich bring's heraus!«

Zur selben Stunde, wo sein blühendes Kind so fröhlich war, mußte der Kleine wieder einmal einen schweren Augenblick durchleben. Als er am Gutshof vorüberging, trat eben der Janko heraus. Der Jude wollte mit kurzem Gruß vorbei – die Sonne sank, bald sollte der Sabbat einziehen, und was hatten sie auch noch einander zu sagen! – aber der Bauer hielt ihn an.

»Höre, Leibko«, sagte er, »ist der Pole plötzlich verrückt geworden?! Läßt mich heut mittags durch seinen Martin bitten, zu ihm zu kommen: er hätt was Wichtiges für mich. Ich will anfangs nicht, aber der Mann sagt: ›Stoße dein Glück nicht hinweg!‹ und: ›Wenn du nicht kommst, so muß ich's büßen!‹, und so geh ich hin. Zwei Stunden hat er mich gequält und mir immer von neuem Banknoten auf den Tisch hingezählt – hundert oder zweihundert oder fünfhundert Gulden – was weiß ich?! Ich hab gar nicht hingesehen, sondern nur immer nein gesagt. Nämlich – meinen Obstgarten will er plötzlich haben. Verrückt, was?!«

»Fünfhundert Gulden?« fragte der Jude staunend. »Dann hättest du am Ende ...«

»Nein!« sagte der Bauer trotzig, und in den düsteren Augen lohte es unheimlich auf. »Keine Scholle von meinem Boden soll einem anderen gehören und kein Haar von meinem Mädchen!«

Leib wandte sich ab.

»Dasselbe Bette oder dasselbe Grab!« sagte der Bauer [202] dumpf. »Ich sag's dir nochmals, es soll nicht meine Schuld sein, wenn du nicht dran glaubst.« Und er ging raschen Schrittes davon.

In der Haltung, an die ihn sein ganzes Dasein und nun gar diese letzten, bewegtesten Tage seines Leben gewöhnt, tief gesenkten Hauptes, schlich Leib heim.

Die Schenkstube war dunkel und leer, wie alle solche Stuben in der Dämmerstunde des Freitags, soweit jüdische Schenkwirte hausen und slawische Bauern Geld und Kraft im Schnaps vergeuden. Sechs Tage der Woche ist der Jude für den Bauer da und von Gott dazu geschaffen, damit der Bauer jemand habe, an dem er seinen Witz üben und seinen Spaß haben kann, aber von Freitag abend bis in die Dämmerstunde des Sonnabends hinein gehört der Jude – nicht etwa sich selbst, das würde der Bauer nie begreifen, geschweige denn respektieren – aber seinem Gotte. Und darum darf man ihn nicht für sich in Anspruch nehmen. Am Sabbat kann die Goje den Gast bedienen; aber bei Eingang des Ruhetages braucht sie der Jude zur Betreuung der Lichter und für ähnliche Verrichtungen, und darum betritt kein Bauer um diese Stunde eine Schenke, selbst der durstigste und roheste nicht. Es ist ja nach seiner Meinung wahrlich nicht der rechte Gott, dem diese Stunde geweiht ist, aber doch immerhin »auch ein Gott, der alte Herr Vater von unserem Herrgott« – und darum bleibt er weg. Und aus dem gleichen Grunde hütet sich der Bauer, in die erleuchtete Stube zu blicken, wenn die Hausmutter die Lichter segnet, und dann, wenn der Hausvater die Mahlzeit durch Gebete weiht. Denn er fürchtet, daß er dann vielleicht darüber lachen müßte, und das will er nicht: man darf es auch mit dem »alten Herrn« nicht verderben ...

Wenn der Kleine sonst um diese Stunde sich durch das halbdunkle Schenkzimmer durchgetastet und die Türe des hell erleuchteten Wohnstübchens geöffnet, dann sank ihm bei dem Anblick von Weib und Kind, die ihr bestes Gewand angetan und ihn mit dem »Gut Sabbat« begrüßten, alle Last des Kummers von der Brust. Und kam er, noch ehe sie zur Stelle waren, dann übten die Talgkerzen in den beiden dreiarmigen Zinkleuchtern und das weiße Linnen auf dem Tische dieselbe Wirkung auf sein Gemüt. Anders diesmal. Er fand die beiden seiner harrend: Chane nickte [203] ihm freundlich zu, und sein Kind eilte ihm liebreich entge gen, aber sein Herz blieb schwer. Mit umflorten Augen sah er zu, wie sein Weib die welken Hände über den Lichtern erhob und die uralten Segensworte darüber sprach, und als nun seine Tochter gebeugten Hauptes auf ihn zutrat, damit er sie segne, da zitterten ihm Herz und Hände, und während er mit der Rechten den geliebten Scheitel berührte, stürzten ihm die Tränen über die Wangen ... Ach, war sein Segen stark genug, sie zu schützen?! Erst als er zu beten begann, stillte sich wieder sein Gemüt ... »Gott, du Allmächtiger, du Lebender und ewig Dauernder, du waltest über uns immerdar!« Je weiter er kam, desto mehr Kraft und Trost quoll ihm aus den liebvertrauten Worten, und mancher Satz, den er sonst nicht mehr beachtet als andere, gewann nun für ihn eine Bedeutung, als wäre er eigens für ihn geschrieben. »Laß mich demütig sein gegen alle und meine Seele deinen Geboten nachstreben. Zerstöre du den Anschlag derer, die Böses gegen mich sinnen und vereitle ihr Vorhaben! Der du Frieden stiftest in deinen Höhen, lasse walten deinen Frieden über uns! ...« Er sprach die Worte noch einmal, und zum dritten Male; sie taten seiner geängstigten Seele so wohl ... Gewiß, er nahm dies Kind in seine Hut! ... Und als Miriam, nachdem er geschlossen, auf ihn zutrat und ihn zu Tische rief, da legte er ihr nochmals die Hand aufs Haupt, und diesmal zitterte diese Hand nicht mehr; sein Segen war nicht stark genug, aber sie stand in besserer Hut ...

8

VIII

Während am nächsten Vormittag die drei in der Wohnstube saßen und beteten, füllte sich, wie an jedem Sonnabend, die Schenkstube mit Gästen. Das war in Winkowce nächst dem Sonntag der beste Geschäftstag für den Wirt, und zwar aus zwei Gründen. Einmal deshalb, weil viele Hausväter des Dorfes gründliche Leute waren, die gern die beiden Zwecke des Sonntags voll erfüllten. Der Tag ist zur Erbauung und zur Erholung bestimmt, aber ist es nicht eitel Stückwerk, wenn man diesen Zwecken eben nur dadurch entspricht, daß man des Vormittags zur Kirche[204] geht und dann vom Mittag bis in die Nacht hinein trinkt, solange die Hand das Glas zum Munde führen kann?! Mindestens der Erholung sollte ein ganzer Tag gewidmet sein, und darum beginnen viele am Sonnabend, so daß es anderthalb Tage werden, und bei einigen besonders gewissenhaften Menschen werden's gar dritthalb, weil sie auch noch am Montag in der Schenke liegen. Ferner aber waltete am Sonnabend die Kasia in der Stube, und welchen Zauber ihre Unterhaltungsgabe übte, ist bereits gesagt.

Nie jedoch hatte sich diese Gabe so glänzend bewährt wie an diesem Sonnabend. Schon daß die »Kommissyja«, die den Weg für das »eiserne Pferd« abstecken sollte, bereits am nächsten Dienstag zu erwarten war, bedeutete allen eine wichtige Neuigkeit. Aber allzuviel wurde darüber nicht mehr geredet; man war sich über die Sache seit dem Mittwochabend einig, wo der Richter von Winkowce, der alte Harasim, aus Halicz heimgekehrt war. Und dieser würdige Greis gab denn auch heute der allgemeinen Überzeugung Ausdruck, indem er nun sagte: »Wollen uns die Schreiber wirklich mit dem Unsinn kommen, daß wir den Boden billig abgeben, so antworten wir einfach: Bitte, leget den Weg durch ein anderes Dorf! Wir sind bisher in Winkowce ohne stinkende Teufel, die in eiserne Käfige eingesperrt sind, ausgekommen und werden auch künftig ohne sie gesund bleiben. Oder lasset das Pferd über unser Dorf weg durch die Luft sausen – auf eine Zauberei mehr oder weniger kann es euch doch nicht ankommen! Ja, so will ich für unser Dorf antworten, und ihr rufet: Der Richter hat recht!, und dann – gebt acht, ihr Leute, dann kommen sie mit den Gulden herausgerückt. Jal Ja!« Er sagte es ruhig und heiter, weil er noch kaum beim zweiten Gläschen war; seine wehmütige Stimmung fing erst bei dem zwanzigsten an.

»So wollen wir's machen!« riefen alle, und nur der dicke Schmied meinte: »Ich will nicht dagegen sein, weil ich treu zum Dorfe stehe. Aber ich kann nur wiederholen: Zu welchem Preis ich den Grund neben meinem Hause abtrete, kann mir gleich sein. Je billiger sie mir den Grund berechnen, um so teurer berechne ich ihnen meine Arbeit. Ja, wir in Winkowce sind noch lang so klug wie die Haliczer Schreiber!« [205] Die Scheherezade von Winkowce verstand sich auf ihre Kunst. Erst nachdem diese Neuigkeit gründlich abgetan war, ließ sie ihre zweite und ungleich pikantere folgen. Aber als ehrliches Weib, das seine Schwüre zu halten pflegte, schwatzte sie auch beileibe nichts aus, sondern fragte nur. Da trat sie also an den Tisch, an dem die beiden gewichtigsten Männer des Dorfes saßen: Harasim, der Richter, und Onufrij, der Schmied, und warf leichthin, aber mit einem geheimnisvollen Lächeln, das sofort Besonderes erwarten ließ, hin:

»Wer, meint ihr wohl, hat sich diese Woche in Halicz verlobt? Ratet! Von wem würdet ihr's am wenigsten glauben?!«

Sie ergriff das leere Glas des Richters und ging hinter die Barre, es zu füllen. Und zwar ging sie sehr langsam und brauchte auch zum Füllen viel Zeit. Darum konnten die beiden ihre Vermutungen austauschen. Gewiß war eben zunächst nur eins; es war sicherlich ein sehr altes Männlein oder Weiblein.

Als Kasia zum zweiten Male gekommen und gegangen war, wußten sie, daß es ein Mann sei, beim dritten Male: ein Jude, beim vierten: ein reicher Jude.

Aber weiter konnten sie nun freilich nicht, denn in den Augen der Bauern waren die meisten Juden von Halicz reich. Und als Kasia ihnen dadurch auf die rechte Spur zu helfen suchte, daß sie den Schmied fragte: »Du solltest es doch wissen?!«, da führte dies zunächst zu keinem Ergebnis. »Ich?« fragte der Schmied und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. »Der Mosche Erdkugel? Aber der hat ja ein Weib! Oder der alte Srulko Dubs? Ist auch verheiratet! Oder der Mortche? Oder der Schmulko! Oder der Jankel?« Die meisten Juden von Halicz waren seine Gläubiger, und daß ihn David Münzer zuweilen in Nahrung setzte, weil die Fuhrleute des reichen Unternehmers manchmal in der Schmiede die Pferde beschlagen ließen, daran dachte Onufrij nicht; er dachte überhaupt selten an die Arbeit. Es währte lange, bis die Bauern von Winkowce erfuhren, daß der reiche Greis in der Dampfsäge der glückliche Bräutigam sei.

Und noch länger währte es, bis sie wußten, wer die Erkorene sei, obwohl ihnen Kasia sagte: »Den Namen kann [206] ich euch nicht nennen, aber ratet einmal, wen ihr alle kennt!« Denn daß die Miriam gemeint sein könnte, fiel Ihnen gar nicht bei. Und als Onufrij endlich auch ihren Namen nannte und Kasia es bestätigte: »Um Himmels willen, ihr seid mir alle Zeugen, daß ich's nicht gesagt habe!«, da wollten sie's noch immer nicht glauben. »Unmöglich! – das Kind!« riefen einige.

»Ein Kind ist sie nun gerade nicht mehr«, lachte der -Schmied und bewies dies durch einige kräftige Sätze. »Und ich kenn einen im Dorf ...« Da hielt er aber auch inne. Das Mahnwort seines Popen kam ihm in den Sinn und lähmte ihm die Zunge.

Um so flinker ließen die anderen die ihre spielen. »Schimpf und Schande!« riefen die meisten, »ein Kind so zu verhandeln!« Nur wenige verteidigten den Vater. »Der arme, dumme Leibko hat sich eben nicht anders helfen können! Und bei den Juden ist es nun einmal so! Wenn er nur nicht so viel Geld bekommen hat, daß er die Pacht aufgibt – dann bekommen wir keinen ungewässerten Schnaps mehr!«

»Bei den Juden ist es nun einmal so!« – das war auch das Urteil des Popen Hilarion. Der junge Priester donnerte stets gegen den Wirtshausbesuch am Wochentag, war aber doch fast jeden Sonnabend im Schenkzimmer zu finden. Hier traf er seine Leute beisammen und konnte unter Umständen ein kräftig Wörtlein mit ihnen reden. Das war hier viel wirksamer, als wenn er sie zu sich entbot oder in ihren Hütten aufsuchte. »Meine Predigten am Sonnabend helfen mehr als die am Sonntag«, pflegte er seinen Amtsbrüdern mit einigem Selbstgefühl zu sagen und hatte Grund dazu.

In ihm also fand Leibko den wärmsten Verteidiger. Und nicht bloß, weil er den armen kleinen Menschen schätzte, sondern auch, weil ihn die, Nachricht um des Janko willen freute; das vertrieb wohl den »verruchten Wahnsinn«, den der Teufel dem jungen Bauer in den Kopf gesetzt. »Diesen gottverdammten Juden, ihr Leute«, setzte er seinen Hörern auseinander, »ist eben auch die Ehe nur ein Geschäft.

Diese Juden ...«

»Freilich!« fiel ihm der Richter Harasim ins Wort. Er hatte seine einzige Tochter und Erbin, nachdem ihn ein [207] junger Knecht auf seinem Hofe zweimal Großvaterfreuden hatte erleben lassen, mit einem alten reichen Bauer verheiratet, der auch die Kinder ruhig mit in Kauf genommen. »Die Juden ...«

»Halten aber auch Zucht und Ehrbarkeit«, schnitt ihm der Pope die Rede ab. »Dort könnte, wenn die Verfluchten überhaupt so schöne Bräuche hätten, jedes Mädchen mit dem Kränzlein im Haar vor den Altar treten. Nur das ist leider unter euch anders! Denn auf Geld steht auch ihr, und reich gesellt sich immer zu reich und arm zu arm.«

In dieser Tonart ging's noch lange fort; an saftigen Beispielen fehlte es nicht, zur Freude aller Unbeteiligten, zum Verdruß der Betroffenen. Aber fast noch mehr als diese ärgerte sich die Kasia. Denn solang der Pope in der Schenke war, konnte sie nicht halb soviel reden als sonst. Und darum rief sie ihm, als er freudig schloß: »Das ist einmal eine Nachricht, die ich mir gefallen lasse!«, schadenfroh zu: »Aber, Hochwürdiger, es wird ja wahrscheinlich doch nichts draus! ... Kann man denn ein Mädchen verhandeln wie eine Kuh?!«

»Sie wird sich nicht sträuben«; erwiderte der Pope. »Das kommt bei den Juden nicht vor. Da gehorchen die Kinder den Eltern!«

»Aber wenn sie besondere Gründe hätte ...« Sie stockte.

»Du meinst, weil der Bräutigam zu alt ...«

»Oder ein anderer zu jung ist«, fiel Harasim ein. Denn er war nun gegen die Sache, weil der Pope dafür war. Aber er dachte sich nichts weiter dabei und war sehr erstaunt, als ihm die Kasia scheinbar tief erschreckt zurief: »Schweigt! ... Um Himmels willen, Richter, verratet das Geheimnis nicht ... Wie Ihr dahintergekommen seid, mag Gott wissen, von mir habt Ihr's nicht erfahren, das kann ich beeiden ...« Sie begann zu schluchzen. »Oh, ich schweige ... Das arme Kind ist ohnehin unglücklich genug ...« Die Tränen waren vorläufig noch nicht zu sehen, sie steckten wohl in der Kehle, denn sie erstickten ihr die Stimme.

»Wie?« klang es aus dreißig Kehlen; die einen lachten, die andern waren ernst, aber alle gleich verblüfft. Eine Jüdin ... sie trauten ihren Ohren nicht. Und einer rief: [208] »Unsinn, welcher junge Moschko soll denn der Glückliche sein?«

»Kein Moschko!« jammerte die Kasia. »Ach, wenn es ein Jude wäre, dann wäre ja das Unglück nicht gar so groß ... Aber es ist ja ...« Und wieder konnte sie vor Weinen nicht weiter.

Der dicke Onufrij schnellte vor Erregung von der Bank empor, und seine Augen richteten sich triumphierend auf den Pfarrer. Aber dieser hatte sich gleichfalls erhoben und trat zürnend auf die Kasia zu. Auch sie sollte in dieser Stunde erleben, daß das Kapitol und der Tarpejische Fels nahe beieinander liegen; die Stunde ihres höchsten Triumphes als Dichterin sollte auch die ihrer schlimmsten Niederlage werden.

»Schweig, du Klatschbase!« rief er heftig und faßte sie am Arm. »Daß du die Tochter deiner Brotgeber in Verruf bringst, ist häßlich genug, und nun willst du's gar noch mit ehrlichen Christenleuten tun?!«

»Ich?!« schrie die Kasia auf. »Hochwürdiger, das verzeih Euch Gott ... Ihr Leute, Ihr seid mir Zeugen ...« Und sie tat, als ob sie in Ohnmacht fallen müßte.

Aber das rührte den Popen nicht. »Komm!« befahl er und schleifte sie hinter sich her zur Schenkstube hinaus. »Ich will dir schon den Mund stopfen!«

»Hochwürdiger«, jammerte sie, »die Jüdin jagt mich davon!«

»Da geschähe dir recht«, erwiderte er und trat, die Magd noch immer hinter sich herschleifend, in die Wohnstube. Das Bild, das sich ihm da bot, berührte ihn seltsam. An einem der Fenster stand der Kleine, das Antlitz gegen Osten gewendet, den Leib hin- und herwiegend, auf den Zügen den Ausdruck innigster Versunkenheit; die Lippen murmelten die gewohnten Gebete, nur zuweilen suchte der Blick die Stelle in dem vergriffenen Büchlein, das vor ihm aufgeschlagen lag. Am anderen Fenster standen Chane und die Tochter, auch sie in ihrem besten Gewande, wie der Vater, auch sie betend, nur daß sie den Blick auf ihr »Weiberbuch« geheftet hielten und jedes Wort der frommen, jüdisch-deutschen Betrachtung halblaut vor sich hin sprachen: »Den Sabbat mußt du heiligen durch Ruhe und Gebet, aber am besten tust du ihn heiligen durch ein gut [209] Werk, denn wie Bruder und Schwester sollen dir alle Menschen sein.«

Die letzten Worte unterbrach der Eintritt des Pfarrers aber er hatte sie gehört ... Ihm ward eigen ums Herz. Das waren sonst in seinen Augen nur eben Geschöpfe, die Gott in seinem Zorn geschaffen, und doch war's ihm, als wäre er da in reinere Luft getreten, und wahrlich nicht bloß deshalb, weil die Fenster weit offenstanden. »Verzeiht ...«, sagte er fast verlegen. »Ich habe was Dringendes zu fragen.«

Leib richtete die Augen in Angst und Staunen auf ihn, schlug sie aber sofort nieder und fuhr in seinem leisen Murmeln, fort; er war eben an einer Stelle des Gebetes, wo man sich niemals unterbrechen darf. Chane jedoch trat vor; aber noch ehe sie fragen konnte, hatte sich Kasia heulend zwischen sie und den Popen geworfen. Kniend, die zitternden Hände erhoben, stöhnte sie: »Erbarmen! ... Ich kann ja nichts dafür, wenn die Leute alles erraten! ... Und ich muß ja mit ihnen reden, sonst trinken sie nichts! ...«

»Schweig!« herrschte sie der Pope an und wandte sich dann an die Frau: »Ich höre zu meiner Freude, daß Eure Tochter mit dem David Münzer in Halicz verlobt ist ...«

Über Miriams Gesicht flog ein mühsam unterdrücktes Lächeln, der Kleine aber zuckte zusammen, und auch Chane erschrak. Doch faßte sie sich sofort und sagte: »Es ist nicht wahr, Hochwürdiger ... Wenn meine Tochter Braut wär«, fügte sie hastig hinzu, »so müßt ich's doch wissen.«

»Ich habe ja gesagt, daß es nicht wahr ist«, jammerte die Kasia.

»Du hast gesagt, daß das Mädchen sich weigert. Und warum? – erzähle doch auch dies!«

»Ich hab gesagt«, schluchzte die Magd, »daß es da doch auch auf das Mädchen ankommt ... Alles andere haben sie erraten ...«

»Lüge!« donnerte der Priester. »Und ich will dir dein Handwerk legen! Sofort wirst du drin vor allen Leuten gestehen, daß du gelogen hast. Und wiederholst du je deine Verleumdung gegen deinen Bruder in Christo, dann wehe dir!« Er riß das große vergoldete Kreuz von der Brust, das er nach der Sitte der griechisch-katholischen Geistlichen [210] jener Gegend an einer stählernen Halskette trug und hielt es ihr vor: »Du schwörst, daß du den Namen des Verleumdeten niemals nennst – ich will nicht wissen, an wem du dich so versündigt hast, aber welcher Christ es auch sei – schwöre!«

Das tat die Sünderin. Während sie die Schwurfinger aufs Kreuz legte, wandten sich Chane und Miriam scheu ab, und Leib beugte sich noch tiefer auf sein Gebetbuch nieder.

»Und nun – komm!« befahl der Priester.

Aber die Magd blieb auf dem Boden kauern und suchte seine Knie zu umfassen. »Erbarmen, Hochwürdiger!« Und als er sie hinwegstieß, rutschte sie auf den Knien vor Chane hin. »Frau, erspart es mir. ... Ich habe ja nur fürs Geschäft gelogen ... Wenn ich immer ... die Wahrheit sagen würde ... so würden sie nicht kommen und trinken ... Und wenn ich es ihnen jetzt sagen muß ... so ist Euer Geschäft verdorben!«

Aber Chane schüttelte finster den Kopf: »Das ist ohnehin der letzte Sabbat, wo du sie bedient hast!« Und zum Priester: »Ich dank Euch, Hochwürdiger! Sie soll nur vor allen widerrufen!«

Aber die Kasia fuhr fort zu flehen, und es währte lange, bis sie sich endlich erhob und dem Priester folgte.

Inzwischen hatten sich die Bauern die Zeit durch allerlei Vermutungen darüber gekürzt, wer wohl der christliche Liebhaber der Miriam sei. Fast jeder Junggeselle im Dorfe wurde genannt, nur auf den Janko verfiel keiner. Daß ein Mädchen sich in ihn verliebt haben könnte, fiel niemand bei. Onufrij aber lächelte nur schlau vor sich hin. Mit dem Popen band er nicht gerne an.

Das Geständnis der Kasia gestaltete sich zu einer minder ernsten Szene, als der Pope es gewünscht. Kaum, daß sie dies Geständnis zu stottern begann, lachten die Bauern, und endlich widerhallte die Stube vom Wiehern aus dreißig Kehlen, daß man ihr Geschluchze gar nicht mehr hörte. Der Pope mußte es den Bauern erst nochmals wiederholen. »Schade!« meinten sie dann, »das wäre doch einmal eine hübsche Neuigkeit gewesen. Aber freilich – eine Jüdin und ein Bauer – wann hätte die Welt je schon derlei gesehen?«

Um die Mittagsstunde war die Stube fast leer; einige [211] gingen zum Essen heim, die meisten wurden von ihren Weibern oder Knechten fortgeschleppt. Nur einige wenige hielten aus, darunter der Schmied. Er lächelte noch immer vergnügt vor sich hin, und als ihm die Kasia mit verweinten Augen wieder einmal das Gläschen füllte, flüsterte er ihr zu: »Dir ist Unrecht geschehen! Du hast nicht gelogen!«

»Weiß Gott, Meister!« schluchzte sie. »Wenn ich nicht auf das Kreuz geschworen hätte – was könnte ich erzählen!«

»Wirklich?« fragte der Schmied in aufrichtigem Staunen. »Ich hab's ja längst erraten, daß der Tölpel hinter dem Mädchen her ist und sie sogar heiraten will, aber daß sie sich mit ihm eingelassen, hätt ich nicht geglaubt. Sieh, sieh, da ist ja der Affe eigentlich zu beneiden. Nur eine Jüdin, aber dieses Gesicht, diese Hüften« – er schnalzte mit der Zunge. »Also du hast's gesehen?«

Sie streckte abwehrend beide Hände vor.

»Nichts«, schluchzte sie, »nichts sage ich, denn ich habe geschworen! Oh, wenn ich reden könnte! ... Meister, was haben meine Augen gesehen! ... Aber ich halte meinen Schwur! Nur eins tue ich! Ich gehe, weil ich's nicht länger mit ansehen mag!«

»Wirklich?« fragte der Schmied. »Schade! Aber du wirst dir's noch überlegen!«

»Nein!« rief sie entschlossen. »So etwas läßt ein tugendhaftes Weib wie ich nicht länger geschehen! Das ist der letzte Sabbat, wo ich hier bediene!«

Sie ging, die Schürze an die Augen gedrückt, auf ihren Platz hinter der Barre. Die Geste hatte nur gewissermaßen symbolische Bedeutung, denn ihre Augen waren trocken. Aber als sie nun still dasaß und alles erwog, da begann sie zu weinen; es war ein Gewirre der seltsamsten Empfindungen, das sich in Tränen Luft machte, vor allem die Scham und dann der Zorn, und endlich auch die Reue. Wie schlecht bin ich! dachte sie. Da sag ich dem braven, gutmütigen Ding, das ja noch gar nicht weiß, wozu wir Weiber auf der Welt sind, so Häßliches nach! ... Aber das ist nicht meine Schuld! tröstete sie sich dann bald. Ihre Mutter, die hat alles auf der Seele. Zuerst will sie mich täuschen, und dann stiftet sie den Popen an, daß er mich so beschämt, und schließlich jagt sie mich gar davon! Oh, diese Juden! ...

[212] Jahrelang hält mich das elende Weib zum Lügen an, damit sie auch am Sabbat ein gutes Geschäft macht, und weil ich's mir ihr zuliebe angewöhne, setzt sie mich auf die Straße ... Ja, ja, das ist so die jüdische Art. Es ist eigentlich alles noch viel zu wenig, was man über sie sagt!

Zur selben Stunde aber – es war nach der Mahlzeit, und das Ehepaar saß auf dem Bänkchen im Hofe, während Miriam unfern auf einem Fäßchen kauerte und in ihrem »Weiberbuch« eine Geschichte aus »Tausend und einer Nacht« las – erwogen erst Chane und Leib gründlich, ob sie die Magd wirklich weggeben sollten.

Leib, so milde er sonst war, bestand darauf. »Sie hätt sonst alles Böse tun können«, meinte er, »und ich hätt ihr verziehen. Fünfzehn Jahr ist sie bei uns – da bleibt man gern schon bis zum Ende zusammen. Wie oft hab ich dir das gesagt und für sie gebeten, wenn sie gegen dich oder mich ungehörige Reden geführt hat. Sie hat ja immer vor Augen, wie andere gegen uns arme Juden sind, und sie ist nun einmal eine Christin, da vergißt sie eben, daß wir doch ihre Brotgeber sind. Aber nun hat sie unser Kind verleumdet, und das verzeihe ich ihr nie. Denn wer unserem Miriamchen was Böses nachsagen kann und es in den Augen der Leute zugrunde richten will, muß sehr schlecht sein, so schlecht, daß ich's mir gar nicht denken kann. Und ein schlechtes Weib soll nicht länger in meinem Hause sein!«

Natürlich widersprach Chane, zunächst nur deshalb, weil er seine Meinung so entschieden äußerte. »So bist du immer!« grollte sie. »Zuerst zu nachgiebig und dann zu scharf! Hättest du sie nicht all die Jahre in Schutz genommen, es wär nie soweit gekommen.«

»Aber du hast doch«, wandte er zaghaft ein, »dem Popen selbst ...«

»Aber nur, weil es sich so geschickt hat!« rief sie. »Hätt ich etwa noch bestätigen sollen: Es ist mir recht, daß sie lügt?! – Im Ernst hab ich nicht dran gedacht.« Das war nun freilich nicht richtig, aber sie hatte sich's eben anders überlegt. »Wir müssen sie behalten, wenigstens so lange, bis unser Kind verheiratet ist, denn dann wird sie wahrscheinlich schweigen, weil sie der Pope hat schwören lassen; jagen wir sie davon, so ist die Rachsucht stärker als der Schwur. Bedenk, welches Unglück es wäre, wenn etwa Reb[213] David von diesen Lügen erfahrt!«

Er fügte sich, wenn auch schweren Herzens. Am Abend, nachdem der Ausgang des Sabbats in gewohnter Weise begangen war, erhielt Kasia die Verzeihung angekündigt. Sie tat auch dabei, als ob sie weine, und hatte schließlich nach harten Mühen wirklich nasse Augen, schon aus Mitleid mit sich selber. Denn nun war sie vollends überzeugt, wie schweres Unrecht ihr geschehen, und so war es nicht Heuchelei, sondern ganz ehrlich gemeint, als sie in ihrem hebräisch-slawischen Kauderwelsch schluchzte: »Glaubt doch nicht, daß ihr an eurer treuen Schabbesgoje eine Mizwa (hebr. Guttat) übt, wenn ihr ihr mochel seid (ihr verzeihet). Sie tut eine Mizwa an euch, indem sie euch mochel ist!«

Als die Dämmerung dicht hereingebrochen war und bereits drei Sterne am Himmel blinkten, das Zeichen, daß ein neuer Tag, der Werkeltag, begonnen – nach der jüdischen Satzung gehört bekanntlich die Nacht zum folgenden Tage, so daß jeder Tag mit der Abenddämmerung beginnt und schließt –, betrat Leib erst wieder die Schenke, die er seit vierundzwanzig Stunden gemieden. Nicht jeder Schenkwirt im Osten hält den Sabbat so streng; Leib tat es auch nicht der geschriebenen Satzung zuliebe, sondern einer ungeschriebenen, die er im Herzen trug. Ohne es klar zu denken, empfand er doch dunkel, daß er unter den Lasten seines Daseins längst hätte zusammenbrechen müssen, wenn ihm nicht nach sechs Tagen des Elends, wo er den Bauern und dem Gutsherrn und seinen Sorgen gehörte, immer ein siebenter gegönnt wäre, wo er ihm zu eigen war, nur ihm, mit jedem Gedanken.

Scheu begrüßte er seine Gäste; er fürchtete, daß die Worte der Kasia doch Wurzel gefaßt. Aber es kam besser, als er gedacht; sie glaubten dem Wort des Popen, und es war nur harmlose Neckerei, wenn ihn einige fragten: »Ist das wahr, daß du deine Tochter dem Alten in Halicz nach dem Gewicht verkauft hast, das Kilo um zehn Gulden?!« Er brauchte sich's sogar nicht zu Herzen zu nehmen, als ihm Harasim schluchzend – denn nun war er längst in der wehmütigen Stimmung – sagte: »Nun geht es dir wie mir; ja, ja, mein armer Leibko, eine einzige Tochter ist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe!« –, der Alte wußte eben nicht, [214] was er sagte, und als ihm ein anderer die Rede verwies und mahnte: »Es ist ja alles nicht wahr, unser Väterchen hat's berichtigt!«, stimmte er sofort gutmütig zu: »Freilich muß das ein nüchterner Pope besser wissen als ein besoffener Richter – komm, mein armer Leibko, umarme mich und verzeih mir!«

Erst lange nach Mitternacht leerte sich die Schenke; endlich waren nur noch zwei Gäste da, aber die lagen unter dem Tisch, weil man sie nicht heimgeholt hatte. Und so ließ sie Leib, wo sie waren, nur daß er jedem von ihnen noch ein Bündel Heu unter den Kopf schob. Nun löschte er die Lichter und beriet mit Chane, wie sie morgen vor der Kasia den gemeinsamen Gang zu Mendele Schadchen verbergen sollten. Leib war in derlei Dingen hilflos, aber Chane wußte Rat.

»Ganz einfach«, sagte sie. »Wir sagen der Goje, daß sie bis zum Mittag dableiben muß, weil ich dem Mosche in Halicz die Zinsen zu bringen habe und du in Jezupol einem Geschäft nachgehst. Du brichst früher auf, auf der Straße nach Jezupol machst du dann den Umweg um das Dorf herum und holst mich am Wäldchen ein.«

Er war einverstanden. Aber als Chane am nächsten Morgen dies Kasia und der Tochter gesagt hatte und er nun, wie verabredet, seinen Weg antreten sollte, zögerte er.

»Sollen wir nicht unser Miriamchen mitnehmen?« flüsterte er seinem Weibe zu. »Sie geht mit dir, und wir lassen sie in Halicz bei einer Bekannten, bis wir die Verlobung vereinbart haben. Mir ist so bang, sie hier allein zu lassen. Bedenke, wie leicht der Janko von den andern Bauern etwas hören kann. Und er wird es für keine Lüge halten! Ich habe ihm ja selbst am vorigen Montag gesagt, daß ich nach Halicz gehe, einen Bräutigam für unser Kind zu suchen.«

»Ja, so klug warst du leider«, erwiderte sie. »Aber mitnehmen können wir das Kind nicht, denn in Halicz erfährt es gewiß die Wahrheit, und das wollen wir ja nicht. Wie lange wir nun damit durchkommen, ist eine andere Frage, aber dann müßte sie doch vorbereitet werden. Und fressen wird sie der Tölpel doch nicht!«

»Aber vielleicht erschrecken!« sage Leib. Indes, er sah [215] ein, daß sie es daraufhin wagen mußten, und ging.

Obwohl er den großen Umweg ums Dorf machen mußte, hatte er doch am Ausgang des Wäldchens lange zu harren, bis er endlich sein Weib daherschleichen sah. Er wußte ja nun längst, wie krank sie sei, aber wie er sie so mühsam, wankenden Schrittes nahen sah, erschreckte ihn der Anblick doch wieder von neuem. Er eilte ihr entgegen. »Stütze dich auf meinen Arm«, bat er und spähte ihr bang ins hagere, fahle Antlitz, auf dem nur dicht unter den Augen zwei Flecke auf den Wangen in unheimlicher, scharf abgegrenzter Röte standen.

Sie wehrte schweigend ab. »Nein, setzen wir uns«, keuchte sie dann.

Lange saßen sie darauf schweigend unter einem Baum am Wege. Sie starrte finster vor sich hin, auch er hing traurigen, ach, wie traurigen Gedanken nach. Die beste, höchste Stunde, die ihm das Leben noch zu bieten hatte, war nun da: er sollte sein einziges Kind verloben – und wie erfüllte sie sich ihm! Aber an sich selbst dachte er kaum einen Augenblick, um so länger an sein Kind. Miriam ahnte noch nicht, daß sich ihr Los heute erfüllte, ahnte nicht, welches Los dies war – und doch sollte sie es dann lange, lange tragen, und jedenfalls bestimmte es ihr ganzes Leben ... Ist das recht? rief es in ihm ... Und die arme Mutter! Er wußte, sie hatte von dieser Stunde geträumt; seit langen, langen Jahren, vielleicht seit jenem Augenblick, wo sie ihr Töchterchen zum erstenmal in den Armen gehalten und sein kleines Antlitz mit Küssen und Tränen bedeckt; von dieser Stunde hatte sie alles erhofft, was ihr noch auf Erden werden konnte; nur das Glück der Tochter konnte ihr noch eine Ausgleichung all des Jammers sein, den das Leben auf sie gehäuft – ach, war dies ein Glück?! ... Unwillkürlich tastete er nach ihrer kalten, feuchten Hand und nahm sie zwischen seine beiden.

Aber sie zog die ihre zurück. »Tu nicht so!« sagte sie hart. »Hättest du wirklich Mitleid mit mir, du wärest nicht taub gegen all mein Flehen ...«

Er wandte sich gepeinigt ab.

»Leib«, sagte sie dumpf, »hör mich wohl an, denn es könnte sein, daß dich diese Stunde schon nach wenigen Wochen mehr reuen wird als alles, was du im Leben gefehlt [216] hast ... Leib, eine Sterbende bittet dich: gönne mir einige ruhige Monate, ehe ich von dir und dem Kinde gehen muß. Was harrt unser, wenn du das Geld ablehnst?!« »Mosche schreibt ja ...«, begann er zaghaft.

»Was ist darauf zu geben?« fiel sie ihm ins Wort. »Er hofft, daß dein Eidam für dich bezahlen wird; bekommt er sein Geld nicht, so ist die Freundschaft zu Ende. Und Paterski?! Hast du ihm etwa den Obstgarten verschafft?! Und es war ihm viel daran gelegen, denn ich kann dir sagen, warum er sich plötzlich so danach gesehnt hat: weil die Eisenbahn durch diesen Garten gehen wird ...«

Er sah sie betroffen an. »Möglich ...«, murmelte er.

»Nein! Gewiß!« erwiderte sie. »Und ebenso gewiß ist, daß wir in einigen Monaten als Bettler auf der Straße liegen. Unsere Tochter wird uns aufnehmen, meinst du, unser Eidam Almosen reichen? Möglich! Aber erscheint dir das besser? Kränkt es deinen Stolz mehr, dir heute vierhundert Gulden auszubedingen, als dir vierzig schenken zu lassen?!«

Er blickte sie mild, aber fest an. »Hat mich seine Hilfe bisher davor bewahrt«, sagte er, »so werde ich auch ferner kein Almosen brauchen ... Ich will arbeiten.«

»Und darauf soll ich mich verlassen?!« rief sie verzweiflungsvoll.

»Chane«, bat er, »laß davon ab! Ich kann nicht! Denn ich höre seine Stimme zu mir reden und sagen: Leib, das darfst du nicht tun! ...«

»Ich fürchte«, erwiderte sie, »seine Stimm wird auch an meiner Bahre zu dir reden! ... Aber genug! ... Komm!«

Und von da ab sprach sie auf dem langen Wege von mehr als zwei Stunden kein Wort mehr, und da sie auf seine Fragen nicht erwiderte, verstummte auch er und schlich nur dicht neben oder hinter ihr einher, um sie stützen zu können, wenn sie wankte. Aber auch dies duldete sie nur, wenn sie fühlte, daß sie sonst umsinken müsse.

Erst als sie dicht vor dem Hause Mendeles standen, wagte Leib wieder eine Frage: »Bist du einverstanden, daß ich das Geld für Miriam verlange und vierzehnhundert Gulden Witwengeld für sie fordere?«

»Nein!« erwiderte sie scharf. »Denn er soll uns, wenn wir einst an seine Tür pochen, nicht hinwegweisen dürfen [217] und sagen: Seht, die Schlauen wollten's doppelt haben ... Verstehst du?«

Er erwiderte nichts und trat demütig hinter ihr in die Stube des Schadchens.

Mendele empfing sie mit einer so finsteren Miene, als er sie seinem runden Gesicht nur immer abgewinnen konnte. »Da haben wir die Bescherung«, sagte er. »Meyerl war eben bei Reb David, um ihn zu fragen, wann er sich herbemühen will, und was läßt er mir antworten? Er möcht sich's erst noch überlegen! Ein Wunder wär's nicht, wenn er zurückgetreten wäre; selbst ein so feiner Kopf wie ich kann nichts ausrichten, wenn sich die Leut, mit denen er sich leider aus Güte eingelassen hat, gar so dumm anstellen! Vierzehnhundert und fünfzig Gulden verlangen, das könnt Ihr, aber den Mund halten nicht!«

Leib schrak zusammen. Chane aber ließ sich auf dem Sofa nieder und sagte dann, auf die Uhr blickend: »Es ist halb zehn. Wenn Reb David bis zehn nicht hier ist, so gehen wir heim. Und dann haben wir's uns auch schon für immer überlegt!«

Mendele drehte ihr den Rücken zu und trommelte auf die Fensterscheibe. Da Leib ängstlich schwieg, so war dies auch der einzige Laut, der im Zimmer hörbar wurde, bis Meyerl Spazierstock hereingestürzt kam. Er war scheinbar sehr verstört; der fuchsrote Bart schien sich ordentlich in dem häßlichen, verknitterten Gesichtchen zu sträuben.

»Eben war ich wieder bei ihm«, berichtete er jammernd. »Er will nicht mehr! ›Mit diesen Schwatzmäulern laß ich mich nicht ein!‹ ... Ja« – er konnte es nur noch schluchzen – »so sagt er ...«

»Dann komm!« sagte Chane zu ihrem Manne, den bei der Hiobspost ein heftiges Zittern befallen, und erhob sich.

Bis zur Türe ließ sie Mendele kommen. Da stellte er das Trommeln ein und wandte sich zu seinem Gehilfen: »Meyerl, was meinst du? Soll ich's selbst versuchen? Oder ist alles unnütz?«

Der Zwerg zuckte die spitzen Schultern. »Das ist schwer zu sagen! Denn jedes Kind in ganz Polen weiß, daß für Euch vieles möglich ist, was sonst niemand zustande bringt. Aber mir scheint, er will wirklich nicht mehr ...«

[218] »Dann bemüht Euch nicht«, sagte Chane und ging ins Vorzimmer, Leib gebeugten Hauptes hinter ihr her. Die Ruhe seines Weibes war ihm ordentlich unheimlich.

»Und wer bezahlt mich dann für meine Mühe?!« rief Mendele und griff nach seinem Hut. »Versuchen muß ich's doch, obwohl Ihr es nicht verdient. Aber vorher will ich wissen, wofür ich diese neue Mühe auf mich nehme.«

Da wandte sie sich um. »Daß Ihr mich noch immer nicht kennt!« sagte sie lächelnd. »Da geht's mir mit Euch besser, ich kenn Euch. Ihr habt mit Reb David, dem an der Verlobung mindestens ebensoviel liegt wie uns, ausgemacht, daß er benachrichtigt werden soll, wenn wir kommen. Und das benutzt Ihr, um noch einige Gulden für Euch herauszuschlagen. Aber es nützt Euch nichts, Ihr bekommt doch nicht mehr als die zehn Gulden!«

»Wieso?« rief er, nun wirklich zornig. »Fünfzig habt Ihr mir selbst versprochen, zehn Gulden von Anbeginn und von den vierhundertvierzig!«

»Richtig! aber da wir auf die vierhundert selbst verzichten ...«

»Verzichten!« Mendeles Gesicht färbte sich dunkelrot. »Frau«, rief er drohend, »mich betrügt man nicht! Dahinter steckt eine Finte.«

»Nichts steckt dahinter«, erwiderte sie ruhig. »Wir verzichten eben darauf.«

»Aber warum – warum? Leib Schenker aus Winkowce verzichtet auf dreihundertsechzig Gulden, die er haben kann? ... Auf dreihundertsechzig Gulden?« wiederholte er schreiend.

»Ja«, erwiderte sie kaltblütig.

Leib aber fühlte sich verpflichtet, eine Erklärung zu geben. »Für unser Kind ...«, begann er.

»Laß sein«, unterbrach sie ihn scharfen Tons. Aber er wäre wohl ohnehin nicht viel weiter gekommen, schon aus Verblüffung über Mendeles Gebaren. Denn der dicke Vermittler drehte sich ein-, zwei-, dreimal um sich selbst herum, so daß er in seinem schwarzen Kaftan und mit dem hochroten Gesicht anzusehen war, als wäre eine Doppelkugel, eine große dunkle und eine kleine rote obenauf, in rotierende Bewegung geraten, faßt dann den Kleinen, drehte ihn einige Male um sich herum, wie ein mächtiger [219] Fixstern einen kleinen, dürftigen, blassen Mond, und stellte ihn endlich vor Meyerl Spazierstock hin.

»Sich her!« keuchte er. »Das ist der größte Narr auf Gottes Erde! So schaut ein Mensch aus, der Geld haben könnte und es nicht mag!«

Dem Kleinen war der Atem vergangen. »Ich – ich –« begann er.

Aber sein Weib trat für ihn ein. »Noch ein solches Wort«, sagte sie, »und wir gehen!«

»So geht!« rief der Vermittler. »Ich kann für Reb David ein ander Mädel schaffen, das noch jünger und noch schwerer ist und außerdem Geld hat. Eines? Zwei, zehn, hundert, so viel ich will! Da steht in meinem Buch« – er wies auf sein Pult – »eine Fünfzehnjährige eingeschrieben, die schon heut zwei Zentner wiegt! Zweitausend Gulden Mitgift.«

»Um so besser! Dann braucht Reb David nicht lange zu warten ... Komm, Leib!«

»Komm, Leib!« äffte ihr der Dicke verzweiflungsvoll nach. »Und wo bleibt dann mein Lohn? Und was fang ich mit Reb David an, der sich's nun einmal in den Kopf gesetzt hat: Grad Eure Tochter muß ihn ins Grab bringen und keine andere! ... Er wartet ja schon, bis ihn Meyerl holt! Und die Tnoim sind schon geschrieben! Und der Wechsel über fünfzig Gulden, den Ihr mir ausstellen sollt, liegt auch schon bereit.«

»Dann muß eben alles umgeschrieben werden«, erwiderte sie ruhig.

»Umgeschrieben! ... Aber wozu? Es kann ja alles so bleiben! Ihr könnt ja die vierhundert Gulden dann Eurer Tochter schenken, wenn Ihr schon so närrisch seid, sie nicht für Euch selber zu behalten.«

»Tausend Gulden Witwengeld«, erwiderte sie, »fünfzig Gulden Aussteuer, zehn Gulden für Euch. Dabei bleibt's, entscheidet Euch!«

Mendele faßte sich mit beiden Händen an die Stirne. »Meyerl«, stöhnte er, »tu mir den Gefallen und kneip mich in den Arm, damit ich weiß, ob ich wach oder vielleicht nur so verrückt träumen tu ... Eine Verlobung, die zurückgeht, weil der eine Teil zuwenig verlangt! – wenn je so was schon auf der Welt da war, so will ich, Mendele Schadchen, [220] Seiltänzer werden ... Aber es war noch nicht da! ... Mich trifft der Schlag ... ich platz ... ich fahr aus der Haut!«

Aber dann geschah doch von all dem Schrecklichen nichts, sondern die Verlobungsakte und der Wechsel wurden nur eben umgeschrieben. Und dann eilte Meyerl, den Bräutigam zu holen.

Eine halbe Stunde später fuhr David Münzer in seiner Britschka bei der »Akentschaft« vor. Mühsam kletterte der Greis vom Wagen, aber nur seiner Beleibtheit wegen. Als er vor dem Ehepaar stand, mußten sie sich sagen, daß er rüstiger sei als die meisten seiner Altersgenossen. Eine hohe, breitschultrige Gestalt von mächtiger Körperfülle; der Rücken war gekrümmt, das Haupt geneigt, die Augen blickten aus den halbgeschlossenen, geröteten Lidern müde in die Welt, aber er stand fest auf den Beinen, und die Hand, die er seinen künftigen Schwiegereltern mit freundlicher Herablassung bot, zitterte nicht.

So lang sich das Vorspiel zu dieser merkwürdigen Verlobung gestaltet, so kurz spann sich diese selbst ab.

»Ich hab nicht viel Zeit«, sagte der Greis. »Auch kenn ich Euch, und Ihr kennt mich, was sollen wir da viel reden?! Meyerl sagt mir, daß Ihr auf die vierhundert Gulden verzichten wollt. Bei jedem andern wär ich mißtrauisch, aber ich weiß ja, was Ihr für ein Mensch seid, Leib! Also – ich dräng Euch natürlich das Geld nicht auf – aber ich versprech Euch: Ihr könnt das Geld immer haben, auch wenn es Euch nicht verschrieben ist!«

Er sagte es in freundlicher Überlegenheit, etwa in demselben Ton, in dem er sonst mit einem, armen Mann ein Geschäft vereinbarte.

Chane nickte befriedigt. »Wir danken Euch!« erwiderte sie, gleichfalls möglichst gemessen. »Was sind Eure Wünsche bezüglich der Hochzeit? Mendele meint: Mitte November?«

Der Kleine war bisher stumm in der Ecke hinter dem Tisch gestanden, auf dem die Akte zur Unterschrift bereitlagen, die Hände fest auf die Tischkante gepreßt; seine Beine zitterten, sein Herz pochte wie ein Hammer; auf dem verwitterten Gesicht, das nun noch kleiner, wie unter dem Druck der Herzensnot zusammengepreßt, erschien, wechselten glühende Röte und fahle Blässe. »Reb David«, [221] begann er murmelnd, flehenden Tons, »es ist ...« Der Greis überhörte es. »Die Verzögerung hat nun keinen Sinn mehr«, erwiderte er auf Chanes Frage. »Ich wollt warten, bis mein Nathan verheiratet ist und hätt gern die dreizehn Wochen Trauer nach meiner Malke – sie ruhe in Frieden – eingehalten. Aber da es nun unter die Leut gekommen ist« – er lächelte –, »ich weiß nicht, durch wen, es ist auch gleichgültig – so wär's kindisch, es länger zu verbergen. Ich mein, wir können die Trauung auf nächsten Sonntag ansetzen, heut in einer Woche ...«

»Schon – nächsten – Sonntag?!« stieß Leib hervor; er wollte es laut rufen, aber die Kehle war ihm so zusammengepreßt, daß es nur wie ein heiseres, unverständliches Keuchen klang.

Auch Chane war sichtlich betroffen. »So bald?« fragte sie. »Das Kind ...« muß erst vorbereitet werden, wollte sie sagen, aber das brauchte Reb David nicht zu wissen, »... hat noch keine Aussteuer«, ergänzte sie nun hastig.

»Aber das ist doch kein Grund!« rief Mendele. »In einer Woch kann man in einem Ort wie Halicz zehn Bräute ausstatten, oder hundert, oder tausend Bräute! Hunderttausend Bräute kann man in einer Woche in Halicz ausstatten! Und die fünfzig Gulden gibt Euch Reb David, wie ich ihn kenn, auf der Stell, wenn Ihr ihn nur darum bittet!«

»Das ist ihr gutes Recht«, verwies ihn der Greis. »Die fünfzig Gulden hab ich sofort nach Unterzeichnung der Tnoim zu bezahlen. Wenn's also nur das ist«, wandte er sich an. Chane, »so lassen wir's beim nächsten Sonntag. Denn dann, tiefer im Oktober, häuft sich die Arbeit für mich so, daß ich mich wirklich schwer für einen ganzen Tag freimachen kann ...«

Da trat Leib vor. »Es ist – nicht bloß – die Aussteuer«, stammelte er flehenden Tones und heftete die Augen angstvoll auf das strenge Antlitz des Greises. »Seht – unsere Miriam ist ja noch ein Kind – man muß sie erst – langsam – vorbereiten!««

Mendele lachte zynisch auf. – »Überlaßt das Eurem Eidam!« rief er und klopfte dem Bebenden auf die Schulter.

Auch Reb David konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

[222] »Vorbereiten?« fragte er. »Sie ist sechzehn Jahr ...«

»Er meint nur, weil wir ihr natürlich noch nichts gesagt haben«, fiel ihm Chane ins Wort. »Aber dazu reichen sieben Minuten, und wir haben ja ebensoviel Tage dazu. Und was wär da auch viel zu reden?! ...«

»Oh, doch!« murmelte Leib, sie aber fuhr laut und fest fort: »Also gut, nächsten Sonntag. Wir können unterschreiben!«

Reb David erhob sich schwerfällig, trat an den Tisch und griff zur Feder. Da legte sich die zitternde Hand seines künftigen Schwiegervaters auf die seine.

»Reb David«, flehte der Kleine mit erblaßten Lippen, »noch eins! ... Ein einzig Wort ... Seht, mein Kind ist mein ein und alles ... Und sie ist so schön, so gut ... und so bitter unsere Armut war, ist sie doch bisher heiter gewesen ... licht wie ein Sonnenstrahl, Reb David ... Nicht wahr, Ihr versprecht es mir« – seine Stimme brach sich, aber die Hand krampfte sich immer fester um die des Greises –, »sie ... sie wird es gut bei Euch haben?!«

»Unsinn!« rief Mendele und suchte den Kleinen beiseite zu drängen. »Ihr verdient Eurer Glück nicht! Wißt Ihr nicht, mit wem Ihr redet?!«

Ein strenger Blick des Greises ließ den Vermittler zurückweichen. Aber der Blick, den Reb David nun auf Leib Weihnachtskuchens erregtes Gesicht heftete, war kaum minder verweisend.

»Reb Leib«, sagte er dann ernst, »jedem andern würde ich die Frage sehr verübeln. Euch soll sie verziehen sein, denn ...«, er räusperte sich. »Ich aber bin gegen alles überflüssige Reden. Wozu fragt Ihr? Hättet Ihr wirklich Bedenken, so wäret Ihr doch nicht hergekommen! Und was soll ich antworten? Daß ich sie gut kleiden und nähren werde! Daß ich nicht gewohnt bin, mein Weib zu prügeln?! Sie wird es bei mir so gut haben, wie es ein junges Weib bei einem alten Mann haben kann, das versprech ich Euch ...«

»Ich dank Euch«, sagte Chane. »Verzeiht meinem Mann – uns«, verbesserte sie sich hastig, »es ist eben unser einzig Kind ... Daß sie so jung ist«, fuhr sie bittend fort, »und bisher nur unser Haus gekannt hat und sonst nichts, werdet Ihr gewiß nicht vergessen. Ihr seid ja klug und gut ... Ihr [223] wißt, sie wird erst allmählich lernen, was eine Frau in einem solchen Haushalt ...?«

»Natürlichl« unterbrach sie der Greis. »Meine Schwester Rachel, die Witwe, führt die Wirtschaft weiter wie seit der Zeit, wo meine Malke – sie ruhe in Frieden – es nicht mehr konnte; sie war ja schon seit vier Jahren krank.« Und er wollte abermals zur Feder greifen.

Aber Leibs Hand rührte wieder an die seine. »Zürnt mir nicht«, flehte er, »aber auch wegen Eurer Schwester hätt ich ein Wort auf dem Herzen ... Man sagt, sie ist mit Eurer verstorbenen Frau nicht gut ausgekommen ... Und Eure Kinder – sind sie – ich meine –, werden sie gegen mein Miriamchen ...«

In das Antlitz des Greises schlug eine Glutwelle des Zornes, und er warf die Feder hin. Dann aber bezwang er sich.

»Ihr seid Leib, der Schlemihl«, sagte er in einem Tone, der zwischen Hohn und Mitleid schwankte, »mit Euch darf man nicht über jedes Wort rechten ... Aber weil Ihr davon begonnen habt, so will ich Euch die Antwort nicht schuldig bleiben, und Ihr sollt mir nicht nachsagen dürfen, daß ich Euch die Wahrheit verschwiegen habe. Meine Schwester Rachel und die Verstorbene – sie ruhe in Frieden – haben wirklich jede der anderen und beide zusammen mir das Leben vergällt. Aber warum? Weil Malke die Wirtschaft nicht führen konnte und doch nicht abgeben wollte, und weil sie hochmütig war wegen ihrer Familie und ihrer Mitgift und meine Schwester Rachel sich nichts gefallen ließ, denn nur aus Liebe zu mir ist sie in meinem Hause, und auch unsere Familie kann sich sehen lassen. Wie aber wird das bei Eurer Tochter sein?! Wird sie die Wirtschaft führen wollen, wird auch sie hochmütig sein wegen ihrer Familie und ihrer Mitgift?! ... Was aber meine Kinder betrifft, so sind sie eben jüdische Kinder, und was ihr Vater will, ist ihnen Gesetz, und dem Weib, das er heimführt, werden sie die gebührende Ehre erweisen. Natürlich sind sie im Herzen gegen diese Heirat – ich wär's auch, wenn ich an ihrer Stelle wäre –, schon weil jeder Mensch lieber mehr als weniger erbt. Denn meine Söhne wissen« – er richtete sich stolz auf –, »daß ich trotz meiner Siebenzig ein kräftiger Mann bin, dem ein junges, gesundes Weib noch [224] einen Benjamin gebären wird und, so Gott will, ein Töchterchen dazu. Aber sie fügen sich, weil ich's so will, und ich will's, weil es nicht bloß mein gutes Recht ist, sondern auch das Rechte; ich brauche deshalb vor niemand die Augen niederzuschlagen.« Und wieder reckte sich der sonst gebeugte Nacken kraftvoll empor. »Wer mich darum schelten will, melde sich!«

»Das fällt niemand bei!« riefen Chane und Mendele wie aus einem Munde. Auch Leib murmelte etwas wie eine Verwahrung gegen ein solches Unterfangen. Im stillen aber dachte er: »Ach, wenn es nur nicht eben mein Miriamchen wär!«

Der Greis nickte: »Was auch wär dagegen zu sagen?!« sagte er wieder so ruhigen Tons, als erörtere er ein Geschäft oder eine Talmudstelle. »Nichts! Vielleicht nicht einmal dann, wenn ich ich so alt wär wie König David, da sie ihm die Abisag zuführten. Denn das Weib blüht dazu auf, den Mann zu erfreuen. Aber ich bin nicht wie König David, da sie ihm das Mädchen von Sunem brachten, und erfülle Gottes Gebot, indem ich wieder heirate, denn die Vermehrung seines Volkes ist ihm wohlgefällig. Ein Christ oder ein ›Deutsch‹ (aufgeklärter Jude) täte es freilich wahrscheinlich nicht mehr, er würde das Gespött seiner Leute scheuen und sich lieber eine Geliebte halten, denn das ist bei ihnen für einen Greis keine Schande, aber noch heiraten ist schmählich. Ich aber bin gottlob ein Jude, habe nie ein anderes Weib berührt als mein angetrautes und will's bis ans Ende so halten. Ich nehme Eure Tochter, weil sie jung und schön ist, ich leugne es nicht. Und viel zärtliche Reden wird sie nicht von mir hören – dazu hab ich nicht die Zeit, und es ist auch nicht meine Gewohnheit. Aber was ein Mann wie ich, den so viel Arbeit und so viele Jahre belasten, tun kann, damit das Weib an seiner Seite sich glücklich fühle, soll geschehen ... Und nun – Ihr hättet es früher überlegen sollen, Reb Leib, aber ich stell's Euch noch jetzt frei – entscheidet Euch!«

»Es ist entschieden«, erwiderte Chane, und auch Leib widersprach nicht.

So wurde der Verlobungsvertrag unterschrieben. Nachdem dies geschehen, zog der Bräutigam seine Brieftasche hervor und legte eine Fünfzigguldennote vor die Mutter hin.

[225] »Reicht es nicht«, sagte er, »so soll es mir auf einige Gulden mehr nicht ankommen. Aber ich meine, sie wird auch als mein Weib noch Hemden und Kleider bekommen können ...« Und weil er wohlgelaunt war und das Geheimnis nun nicht mehr bewahrt zu werden brauchte, so ließ er sich durch Meyerl einen anderen Wagen aus der Dampfsäge holen und überließ den Schwiegereltern den seinen für die Heimfahrt. Sie nahmen dankend an und rollten leichteren Herzens, als sie gekommen, ihrem Hause zu.

9

IX

Dort aber hatte sich inzwischen eine seltsame Szene begeben.

In den Morgenstunden des Sonntags, während des Gottesdienstes und bis nach der Messe, bleibt die Schenke immer leer. Einmal deshalb, weil die Popen darauf achten, ferner aber, weil die Bauern gerne ihren Rausch vom Abend vorher ausschlafen, bis die Kirchenglocken sie zur Andacht rufen. Und so kam's, daß die Kasia volle zwei Stunden, von sieben bis neun, keine Menschenseele fand, der sie ihre Entdeckung hätte mitteilen können, daß Leib und Chane nach Halicz gegangen, um dort ihre Tochter mit dem Alten aus der Dampfsäge zu verloben. Denn daß sie aus keinem geringeren Grunde beide ihr Haus verlassen haben würden, bezweifelte sie keinen Augenblick, dafür kannte sie sie zu genau.

Keine Seele, oder doch keine gläubige. Denn der Miriam teilte es die Goje mit, aber das Mädchen lachte nur laut auf. »Du bist verrückt«, sagte sie, »davon müßt ich ja auch etwas wissen!«

»Aber bei euch wird ja ein Mädchen nie gefragt!« rief die Kasia.

»Vielleicht!« erwiderte die Miriam. »Aber mich würden meine Eltern fragen ... Oder doch mein Vater«, fügte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens hinzu. »Er ist ja so gut! Er würde mich nicht zwingen, ein Kleid zu tragen, das mir nicht gefällt – und nun gar einen so alten Mann zu nehmen!«

»Dein Vater!« sagte die Kasia verächtlich. »Der trägt [226] ja hier im Haus den Unterrock und die Mutter die Hosen! Die Mutter hat's eben befohlen, daß er schweigt.«

»Pfui!« rief das Mädchen heftig, und ihre Augen blitzten. »Daß ich das nie wieder höre! ... Aber über deine Reden darf man sich gar nicht ereifern«, fügte sie wieder lachend hinzu. »Du bist eben ein Schwatzmaul!« Und sie ging trällernd an die Arbeit.

Die Kasia trat vor die Haustüre; vielleicht gelang es doch, irgend jemand zu ergattern. Aber die Dorfstraße lag noch immer verödet, obwohl die Sonnenuhr am Pfarrhause fast schon auf neun wies. Ihre einzige Genugtuung war, daß sie die Miriam plötzlich im Hofe singen hörte:


»Janko, komm nicht wieder her,
Meine Mutter leid's nicht mehr.
Und mein Vater warnt – –«

Da brach sie plötzlich ab. »Aha!« rief die Kasia triumphierend und eilte auf den Hof. »Was hast du da gesungen?« fragte sie.

Ihr Jubel wuchs, als das Mädchen darüber sichtlich verlegen wurde. »Was? Ein Lied ...«, erwiderte sie unsicher. »Du kennst es ja!«

»Das Lied vom lieben Janko!« rief die Kasia höhnisch, änderte jedoch flugs die Tonart. »Miriam«, bat sie, »vertraue dich mir doch an! Ich habe ja auch einmal geliebt! Und er hat auch Janko geheißen.«

Da lachte Miriam wieder. »Unsinn! – Ich hab nichts zu gestehen!« Aber es klang doch nicht so ganz unbefangen, und das entging der Kasia nicht.

»So?« fragte sie. »Warum bist du dann plötzlich verstummt? Weil dir eingefallen ist, daß ich dich hören kann?«

»Nein!« beteuerte Miriam, und da log sie wahrlich nicht. Bei der Stelle von der Warnung des Vaters stand ihr plötzlich die Szene vom Montag in Erinnerung und wie ihr der Vater im Mondlicht den Schwur abgenommen, nie wieder solche Lieder zu singen. Aber so ehrlich dies »Nein!« war, ganz unbefangen blieb sie dabei nicht, und als die Kasia sie scharf anblickte, schlug sie den Blick nieder und wurde rot. Dann plötzlich überkam sie – sie wußte selbst nicht[227] wie – der Gedanke, ob der Vater etwa deshalb so dagegen gewesen, weil in dem Liede von einem Janko die Rede war, der nicht wiederkommen dürfe ...

»Nein!« äffte ihr die Kasia nach. »Und wird dabei rot wie ein Hahnenkamm! ... Hahaha? ...« Und sie lief wieder auf ihren Posten, vor die Türe.

Nun eilten bereits die Leute zur Kirche vorüber; aber es war die höchste Zeit, den Beginn der Messe nicht zu versäumen: der Gruß der Kasia wurde kurz erwidert, aber zum Plaudern war niemand bereit. Unter den letzten kam auch der dicke Schmied herangehastet, etwas unsicheren Schritts und mit schlaftrunkenen Augen. Das ist der Rechte, dachte die Kasia erfreut und rief ihm schon von weitem entgegen: »Meister! – auf ein Wort!«

»Nach der Messe!« wehrte er ab, blieb dann aber doch stehen. »Was gibt's?« fragte er neugierig, als sie mit erregtem Gesicht auf ihn zueilte. »Waren die beiden etwa auch heute nacht ...«

Die Kasia schlug schämig den Blick zu Boden und tat, als ob sie erröte. »Aber Meister«, wehrte sie ab, »warum fragt Ihr, da ich doch nicht antworten kann?! ... Ich habe ja geschworen! Auch haben diese Juden mich gestern abend so lange angefleht, bis ich ihnen doch versprochen habe, es noch einmal mit ihnen zu versuchen ... Nun, und da muß ich bis heute mittag aushalten, denn sie sind ja beide fort, nach Halicz! ... Beide, Meister! – zu einem dringenden Geschäft. ›Es hängt für uns alles davon ab‹, sagen sie, ›und du bist gut, Kasia‹, sagen sie, ›und du bist verschwiegen, Kasia‹, sagen sie, ›und darum wirst du bleiben, bis wir dies wichtige Geschäft erledigt haben!‹ Und fort sind sie, und ich kann nun dieser verdammten Juden wegen nicht einmal zur heiligen Messe gehen.«

»Was Teufel!« rief er erstaunt. »Dann verkuppeln sie das Mädel doch an den Alten – was?«

»Ich habe geschworen«, sagte die Kasia hastig. »Aber denkt Euch nur, Meister, jetzt, in der Stunde, wo sie den Hochzeitstag bestimmen, weiß das Mädel noch immer nichts davon!«

»Und der Janko auch nicht?«

»Nein, gewiß nicht!«

»Schade, daß man ihn nicht mit der Nachricht erfreuen [228] kann«, lachte der Schmied. »Aber der Pope – ich fange mit dem Popen nichts an!«

Er ging zur Kirche; den anderen wollte er die Neuigkeit sagen, daß die kleine Jüdin nun doch verlobt sei, dem Janko nicht. Aber da fügte es der Zufall, daß er an der Kirchentür just mit seinem Gegner zusammentraf; auch der junge Bauer hatte sich verspätet, wie fast immer; er pflegte den Sonntagmorgen zu einem Gang über seine Felder zu benützen. Und als der dicke Onufrij gewahrte, wie finster ihn der Janko aus seinen schief geschlitzten Lidern anschielte, da juckte es ihn, ihm einen Possen zu spielen. Warum auch sollte er es ihm nicht sagen?! Der Pope hatte verboten, den häßlichen Menschen wegen seiner Liebe zur jungen Jüdin zu hänseln, aber warum sollte er ihm die Nachricht von ihrer Verlobung nicht mitteilen dürfen?! Im Gegenteil, das konnte Hilarion doch nur billigen; damit war eben die sündige Leidenschaft zu Ende. »Guten Morgen, lieber Janko«, sagte er freundlich. »Was sagst denn du zu der Neuigkeit?!«

Das gelbe Mongolengesicht wurde um einen Schatten fahler. »Laß mich zufrieden!« Und er hob die Faust.

»Ich ... ich ...«

Der Schmied zog eine gekränkte Miene. »Und ich wollte dir eine Freude machen!« sagte er. »Du gönnst ja dem Leib und seiner Tochter gewiß was Gutes. Verdient wenigstens haben sie's um dich!«

Der Janko war nun vollends bleich wie die Wand, an der er lehnte. »Laßt sie aus dem Spiel«, murmelte er. »Ich rate dir gut!«

»Bestie!« murmelte Onufrij und trat in die Kirchentür.

Zwei Schritte, und er war in Sicherheit.

»Willst du ihr wirklich nicht Glück wünschen?!« fragte er nun vorwurfsvoll. »Sie ist ja Braut, in drei Tagen heiratet sie den alten Juden in der Dampfsäge!«

Und er trollte sich in die Kirche.

Aber es hätte der Flucht nicht bedurft; eine Weile war er vor dem Janko sicher, und wenn er dicht neben ihn getreten wäre. Denn die Nachricht traf den jungen Bauer wie ein betäubender Schlag aufs Haupt, die Knie knickten ein, die zitternden Hände tasteten an der Mauer, wie um sich zu halten, in das Haupt, das sich vorn überneigte, [229] schoß das Blut, daß es die Augen blendete und die Stirnadern dick anschwollen. Dann fiel der Körper in die Ecke der Türe, das Haupt sank zurück, das Atlitz wurde aschenfahl, die Augen schlossen sich, der Atem ging keuchend aus und ein. Das währte lange, bis er sich endlich aufrichtete und mit verstörten Augen um sich blickte.

»Wer?!« stieß er gellend hervor. »Der alte David?!«

Niemand antwortete. Nur der Herbstwind rauschte im welkenden Laub der Linden an der Kirchenpforte. Von drinnen klang das Gemurmel der Beter. Er war allein ...

»Der alte David?!« wiederholte er halblaut und strich sich über die Stirne. »Hund, du lügst!« stieß er dann wieder schrill hervor und wollte in die Kirche.

Da hob sich drinnen Chorgesang; er wich zurück.

»Wozu?« murmelte er. »Es mag ein junger Jude sein, aber verlobt ist sie, da hat der Hund nicht gelogen.« Er legte abermals die Hand an die Stirne und suchte nachzudenken. Im Hirn stach es ihn, als wären da glühende Drähte eingebohrt, und vor den Augen flimmerte es, aber was bedurfte es da erst des Nachdenkens?! Am Montag hatte es ihm Leib selbst gesagt, daß er deshalb zur Stadt gehe, und seither hatte er die Schenke nicht betreten dürfen. Das also war der wahre Grund ...

»Oh-h!« Ein Wehlaut brach aus seiner Brust, dumpf, langgezogen, es klang fast wie das Heulen eines gequälten Tieres. Die Finger tasteten nach dem Halse, den Kragen zu lüften, dann rissen sie den Kittel, das hemde auf und bohrten sich in die braune, zottige Brust so krampfhaft fest, daß das Blut unter den Nägeln hervorspritzte.

»Oh-h! ... Oh-h!« – immer wieder brach der Klagelaut aus dem entfärbten, halbgeöffneten Munde. Es war schauerlich anzuhören; ein Hund, der des Weges kam, blieb stehen, winselte kurz auf und lief dann mit eingeklemmtem Schweif, sich ängstlich umblickend, davon.

So stand der Unglückliche einige Minuten lang. Dann wandelte sich der Ausdruck der Züge, die Lippen schlossen sich fest aufeinander, in den starren, glasigen Augen lohte es düster auf. »Ich hab's dir gesagt, Alter«, murmelte er drohend, »es ist nicht meine Schuld, daß du mir nicht glauben wolltest ...«

Und er schritt langsam, aber festen Schrittes die Dorfstraße [230] hinab, der Schenke zu. Nur einmal noch blieb er stehen. Es fiel ihm ein, daß er keine Waffe habe. Aber dann schüttelte er den Kopf. »Wozu?« murmelte er. »Das findet sich – und vielleicht ...« Wieder lohte es in den düsteren Augen auf, diesmal hell und wild, und über das Antlitz flog eine heiße, jähe Röte. »Vielleicht kommt sie mit mir!« dachte er. Aber der tröstliche Gedanke verflog so rasch, wie er gekommen. »Nein!« flüsterte er. »Nun – dann ein ...« Er sprach das entsetzliche Wort nicht aus, aber er ging weiter, langsam, jedoch festen Schritts, unaufhaltsam, bis das Wirtshaus vor ihm lag.

Die Kasia hielt noch immer am Torweg aus; nur hatte sie sich's, weil der nächste Mensch, dem sie die Neuigkeit anvertrauen konnte, gar so lange auf sich warten ließ, auf dem Bänkchen neben dem Tor bequem gemacht. Als sie den Janko herankommen sah, das Haupt vorgeneigt, im düstern, drohenden Antlitz keinen Blutstropfen, sprang sie entsetzt auf. Der Schmied hat's ihm vorgehalten, dachte sie, er kommt, mich für die Verleumdung zu züchtigen! Einen Augenblick lähmte sie die Angst, dann rannte sie ins Haus und durch Schenkstube und Küche in den Hof, wo die Miriam noch immer lustig trällernd das Geschirr wusch. »Der Janko!« stöhnte sie und hob die gefalteten Hände flehend zu dem Mädchen empor. »Schütze mich – er wird mich töten!«

»Der Janko?« fragte Miriam freudig überrascht. –

»Erbarmen!« schrie die Kasia mit angstverzerrten Zügen und umklammerte das Mädchen. »Ich habe ja nichts gesagt!«

Die Miriam machte sich los. »Bist du verrückt? Warum sollte dir der Janko was antun?!«

»Weil der Onufrij ... Jesus Maria!« schrie sie schrill auf – da stand der junge Bauer schon im Hofe. Wieder stand die Magd einen Augenblick wie gelähmt; nur die Augen flogen blinzelnd in der Runde, ein Versteck zu erspähen. »Der Onufrij hat gelogen«, schrie sie ihm dann zu, streckte die Arme abwehrend vor, stürzte nach der Türe des Kellers und verschwand in der dunklen Öffnung.

Verblüfft starrte ihr das Mädchen nach und dann auf den Janko. »Was soll das heißen?« fragte sie. »Was hat dir der Onufrij – – Barmherziger Gott!« unterbrach sie sich.

[231] »Wie siehst du aus!« Der Ausruf war nur allzu berechtigt. Haupt und Hände vorgestreckt, das Antlitz verzerrt, wilde Glut in den Augen – so stand er da und starrte sie an. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück – war er betrunken? Aber im nächsten Augenblick trat sie auf ihn zu und faßte seine Hand. »Was hast du?« rief sie. »Wieder ein Streit mit dem Onufrij? Du warst doch sonst so vernünftig!« Er umklammerte ihre Hand mit der Linken und hob die Rechte, als wollte er ihren Leib umfassen. Wie Espenlaub zitterte sein Körper vor jähem Begehren, und die halbgeschlossenen Augen verglasten sich. In ihr Antlitz schlugen die Flammen bis ans Stirnhaar. »Janko!« schrie sie abwehrend auf und riß ihre Hand aus der seinen.

Da wich auch er zurück. »Verzeih!« stammelte er und stieß dann bebend hervor: »Schwöre mir! – schwöre mir bei Gott und allen Heiligen – ist es wahr?«

»Bei allen Heiligen« – das gab ihr die Fassung wieder. »Davon hättest du nichts«, erwiderte sie und versuchte zu lächeln, »aber die Wahrheit will ich dir natürlich sagen, wie immer!«

»Bist du ... bist du verlobt?« Er konnte es nur heiser flüstern.

»Das also war's!« rief sie. »Nein, ich bin noch zu haben!« Ihr war eigentlich gar nicht scherzhaft zumute, aber ihr Instinkt ließ sie diese Tonart wählen. »Wer sollte mich auch wollen? Der Greis in der Sägemühle? Im Alter würde ich ja zu ihm passen, aber er denkt leider gar nicht dran! ... Das also hat die Kasia dem Onufrij erzählt und der Onufrij dir?! Es ist alles Lüge!«

Er taumelte, aus seiner gepreßten Brust rang sich ein Schrei, ein Schrei der Erlösung: »Lüge?!«

»Lüge, Janko! Auf Ehre!«

Wieder schrie er auf, diesmal leiser, weil ihm die aufsteigenden Tränen die Kehle zuschnürten. Und im nächsten Augenblick überströmten die Tränen sein Gesicht – unaufhaltsam, wie ein Quell brachen sie hervor, und er stand vorgebeugt da und ließ sie fließen, und zwischendurch lachte er und wiederholte immer wieder: »Lüge! ... Lüge!«

»Aber Janko!« rief sie mahnend. »Was soll ...« Weiter kam sie nicht. Plötzlich, wie ein Blitz, überkam sie die [232] Erkenntnis, was dies heißen solle. Ohne die Reden der Kasia wäre sie wohl auch nun noch nicht darauf gekommen – so aber wußte sie es jetzt. Wieder tauchte sich Antlitz und Nacken in Purpurglut, und ein leises Zittern überflog den jungen, schwellenden Leib ...

Barmherziger Gott, dachte sie, er hat wirklich die Liebe zu mir bekommen. Der arme Mensch – es kann ja nichts daraus werden – er ist ja ein Christ! Das war aber auch der einzige trennende Grund, der ihr beifiel; daß er ein Bauer war, daß ihn die anderen einen häßlichen Tölpel schalten, daran dachte sie nicht – ihr war er weder häßlich noch ein Tölpel, sondern eben der arme, gute Janko, der keine andere Freude hatte als das Geplauder mit ihr, wie sie keinen anderen Freund. Und wie er so in einem Atemzuge lachend und weinend vor ihr dastand, außer sich vor Entzücken, daß sie noch keinem anderen angehöre, da übermannte sie, ebenso urplötzlich wie vorhin die Erkenntnis seiner Liebe, eine andere Empfindung, die sie bisher nie gekannt ...

Ihr Herz pochte wie ein Hammer, und sie wandte sich unwillkürlich ab, ihm die Glut im Antlitz zu verbergen. So standen die beiden lange nebeneinander und sprachen kein Wort; nur sein Schluchzen war noch zuweilen hörbar, oder das Mädchen atmete tief auf.

Der Zufall fügte es, daß Miriam dabei den Blick auf die Kellertür geheftet hielt. So gewahrte sie es sofort, als sich der Kopf der Kasia vorsichtig aus der dunklen Öffnung hob. Der angstvolle Ausdruck wich schnell einem listigen Lächeln, als sie die beiden jungen Menschenkinder so stumm und glühend nebeneinander stehen sah.

Dunkler konnten sich die runden Wangen des Mädchens auch darüber nicht mehr färben, aber in den braunen Augen wich der Ausdruck scheuer Träumerei blitzschnell dem des Zornes. »Komm nur hervor«, rief sie, »und hör zu, welche Geheimnisse wir miteinander zu bereden haben!«

Zögernd stieg die Kasia aus ihrem Versteck hervor. »Ich habe ja nichts gesagt!« beteuerte sie. »Und werde nichts sagen! Keinem Menschen! Vor mir könnt Ihr offen reden!«

»Schönen Dank!« sagte Miriam scharf. »Aber wir haben nichts zu verschweigen! Nicht wahr, Janko?« Aber der [233] stand noch immer wortlos und schaute sie nur mit glückselig strahlenden Augen an. Das machte die Miriam verlegen. »Erzähle doch! Wie steht's in deiner Wirtschaft? Hat deine schwarze Kuh gekalbt?«

»Die schwarze Kuh?!« Er fuhr sich über die Stirne. »Ich weiß nicht ... Doch, ja, sie hat gekalbt ...« Er seufzte tief auf. »Mein Kopf ist jetzt so schwach!«

»Es scheint so!« sagte die Miriam unwillig. »Wenn du kein sorgsamer Wirt mehr bist, was bleibt dann sonst Gutes an dir?! Schäm dich!«

»Ach! wenn du wüßtest! ...« Aber so verwirrt er war, die Anwesenheit der Kasia ließ ihn doch verstummen. Er suchte sich zu fassen. Und selbst wenn das blöde Weibsbild nicht dabei wäre, dachte er, dürfte ich ihr doch nichts sagen. Ich habe ja dem Leibko versprochen, daß ihr kein Wort, kein Blick verraten soll, was in mir vorgeht, wenn ich sie nur täglich sehen darf. Kann sie ihm erzählen, wie vernünftig ich heute war, so erlaubt er mir vielleicht doch wiederzukommen. Und er wollte erzählen, wie es der schwarzen Kuh ergangen und daß auf den Feldern gegen Halicz die Wintersaat nun ganz bestellt sei. Aber kaum daß er damit begonnen, klangen wieder die Kirchenglocken. Die Messe war zu Ende.

»Du mußt nun gehen!« befahl Miriam. »Du weißt, es kann uns bei dem Polen schaden, wenn dich die Leute hier sehen.«

»Bei dem Polen?« fragte er erstaunt.

»Das weißt du ja!« erwiderte sie und wiederholte, was ihr die Mutter erzählt. Er sah sie sprachlos an. »Ist das die Wahrheit?« fragte er. »Mir haben sie ...« Aber so unbehilflich er war, so erkannte er doch noch rechtzeitig, daß er den Grund, den Leib ihm angegeben, nicht mitteilen dürfe, ohne sich dies Haus für immer zu verschließen. »Wo sind deine Eltern?« fragte er dann.

»Die Mutter in Halicz«, erwiderte sie, »der Vater in Jezupol.«

»Die Mutter in Halicz?«

»Und der Vater in Jezupol«, erwiderte sie mit starker Betonung. »Du weißt, ich sage immer und in allem die Wahrheit. Und nun geh. Mit Gott, Janko ... Komm, Kasia.«

[234] Die Magd folgte zögernd; dann, als das Mädchen im Hause verschwunden war, trat sie auf den jungen Bauer zu, der noch immer wie angewurzelt dastand, und flüsterte ihm ins Ohr:

»Sie liebt dich! Wie verrückt ist sie nach dir! Bei allen Heiligen, so ist es. Und ich will euch beistehen ...«

»Was? ... Was?« schrie er auf und faßte ihre Hand so eisernen Griffs, daß sie aufschrie. Da ließ er sie los.

Als die Kasia nach einer Weile einen Blick auf den Hof warf, ging Janko eben erst taumelnden Schrittes davon.

»Das hat bei dem Tölpel gezündet!« murmelte sie befriedigt vor sich hin. »Und ich habe vielleicht nicht einmal gelogen!«

10

X

Um die Mittagsstunde kehrten Leib und Chane heim, auf getrennten Wegen, wie sie gegangen waren. Vor dem Dorfe ließ die kluge Frau den Wagen halten und schleppte, sich heim, so schwer es ihr auch fiel. Leib aber mußte den Weg ums Dorf nehmen, als käme er von Jezupol.

Als sich die Kasia von ihnen verabschiedete, stritt sie einen harten Kampf mit sich, ob sie ihnen den Besuch des Janko mitteilen oder verschweigen sollte. Für die Zukunft versprach es ja entschieden mehr Spaß, wenn sie schwieg; dann wurde das Mädchen sicherlich minder scharf beaufsichtigt. Aber etwas für sich zu behalten, war dieser mitteilsamen Natur unmöglich; sie gab sogar schließlich auch diesmal bedeutend mehr, als sie eigentlich zu geben hatte. Und so erfuhr Chane, daß Janko ihrer Tochter den Tod angedroht, wenn sie den Alten nehme; Miriam aber habe geschworen, daß sie lieber in den Dnestr gehen wolle, als Reb David Münzers Weib zu werden.

Die Frau erschrak ins tiefste Herz hinein, faßte sich dann aber rasch wieder. »Du-lügst wie immer!« sagte sie kalt. »Geh – ich bin froh, daß ich dich nun fünf Tage lang nicht anzuhören brauche.« Als aber die Goje gegangen war, rief sie die Tochter aus der Schenkstube ab und fragte, was denn daran. Wahres sei.

»Nicht viel«, erwiderte Miriam und versuchte zu lächeln.

[235] »Der Janko war hier und hat gefragt, ob ich verlobt bin. Bedroht hat er mich nicht. Und als ich sagte, daß alles Lüge sei, war er wieder ruhig und hat von seinem schwarzen Kalb erzählt.«

Die Worte klangen unverfänglich, aber der Ton war befangen, und die Wangen flammten in dunkler Glut. Frau Chane mußte die Hand aufs Herz pressen, so sehr pochte es in bangem Schrecken. Es währte lange, bis sie sich so weit gesammelt hatte, um etwas zu erwidern. Es schien ihr richtig, das Mädchen scharf auszuschelten.

»Von seinem schwarzen Kalb hat er erzählt?« fragte sie. »Du aber bist ein rotes Kalb! Was hast du mit ihm zu reden, da du doch weißt, daß es uns beim Gnädigen schaden kann? Und was geht's ihn an, ob du verlobt bist oder nicht!«

»Aber wenn er fragt ...«

»So brauchst du nicht zu antworten. Und hast du, ein ehrlich jüdisch Kind, wirklich etwas gegen einen Mann wie Reb David gesagt, der so hoch über uns steht und über allen Juden auf fünfzig Meilen im Umkreis?«

»Nichts!« beteuerte Miriam. »Ich hab nur gemeint, daß die Leut da etwas Unsinniges erfunden haben. Wir passen ja im Alter nicht zusammen.«

»Das gerade ist ebenso dumm als frech«, sagte die Frau. »Was willst du grünes Ding entscheiden, wer für dich paßt! Ein jüdisch Kind überläßt das seinen Eltern und macht sich keine Gedanken darüber ... Das kommt von dem Umgang mit Bauern und Bäuerinnen und von den schamlosen Liedern! Weh dir, wenn ich noch einmal solche Reden von dir höre! ... Geh!«

Heftig schluchzend ging Miriam aus der Stube; Chane aber starrte lange im stummen Brüten vor sich hin. Vielleicht bin ich zu scharf gewesen, dachte sie. Aber nein – da darf man nicht mild sein! Um Himmels willen, wenn sie wirklich nein sagt? Oder wenn der Tölpel schließlich doch in seiner Raserei ein Unglück anrichtet? Sie rang verzweifelt die Hände. Wie konnte man ihn unschädlich machen?! Aber es war ja nun nicht mehr die größte Gefahr, das herbste Unglück, das sie treffen konnte. Noch viel furchtbarer war's, wenn etwa Miriam ... »Nein! nein!« schrie die gequälte Frau auf, »das kann Gott der Gerechte [236] nicht zulassen. Was hätte ich verschuldet, daß über mich größere Schmach und Trübsal kommen sollte als je über eine Mutter in Israel?!« Aber die fromme Zuversicht wurzelte doch nicht so tief in ihr, um ihr das Bangen zu scheuchen. »Sei klug und hilf dir selbst, dann hilft dir auch Gott« – der Spruch ihres Vaters stieg wieder in ihr auf. Sie dachte nach. Sie muß von hier fort, dachte sie, ich muß sie sofort, schon morgen, zu meiner Schwester nach Halicz bringen. Dort ist sie wenigstens vor dem Tölpel sicher. Freilich erfährt sie dort gleich die Wahrheit, aber das muß sie ja nun jedenfalls. Sie wird weinen, vielleicht sogar sich zu sträuben versuchen, aber dort find ich Hilfe, sie zur Vernunft zu bringen. Auf Leib ist ja kein Verlaß, er ist wie ein Rohr im Winde, und wenn sie weint, so weint er eben mit ...

Der Entschluß gab ihr wieder etwas Zuversicht; zudem hatte sie keine Zeit zu grübeln. Seit dem frühen Nachmittag war der lang erwartete Herbstregen eingetreten und goß nun in Strömen nieder; die Schenkstube war noch besuchter als sonst, weil das Wetter die Leute von vornehmerem Geschmack, die es sonst vorzogen, sich in Halicz ihren Sonntagsrausch zu holen, in die Dorfschenke trieb; sie und Leib hatten alle Hände voll zu tun; auch Miriam mußte mithelfen. Es weckte unter diesen Umständen nicht bloß die Entrüstung der Frau, sondern auch die ungestüme Heiterkeit der Gäste, als gegen Abend der rote Saverko, der Knecht des Janko, eintrat und die Botschaft seines Herrn ausrichtete: Leib möge doch sofort zu ihm kommen, er habe etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen.

»Ganz wie unser Pan Paterski!« lachte Onufrij. »Wir aber lassen unseren gnädigen Herrn Janko von Wygoda bitten, sich hierher zu bemühen. Bei dem trüben Wetter ist ohnehin etwas Spaß nötig.«

Leib erfuhr erst am nächsten Morgen von Jankos Unterredung mit Miriam und dem Entschluß, den Chane gefaßt. Zunächst erschrak auch er tödlich, aber jener Gedanke, an dem sie sich vergeblich emporzuranken versucht, gab dann ihm bessere Kraft: »So hart straft er nicht!« sagte er. »Du täuschest dich! Unseres Kindes Herz ist auf rechten Wegen!«

Gleichwohl erhob er keinen Einspruch dagegen, daß [237] Miriam sofort nach Halicz übersiedle. »Mir ist bang ums Herz«, klagte er, »wer weiß, was der Janko gestern von mir gewollt hat.« Nur für den heutigen Tag verbot sich die Reise durch Chanes Zustand; noch immer strömte der Regen in so dichtem Guß hernieder, daß sie nicht einmal die Fahrt, geschweige denn den Gang nach dem Marktflecken wagen konnte.

Was Janko gewollt, sollte Leib bald erfahren: als er noch mit Chane in eifriger Beratung beisammensaß – Miriam war eben in der Küche beschäftigt –, trat der Bauer in die Schenkstube. Die Frau erhob sich und wies ihn heftig hinaus, er aber trat näher und sprach finster und drohend: »Es könnte Euch vielleicht später leid tun, daß Ihr mich nicht angehört habt. Wir sind bald fertig.« Er sagte es in einem Ton, daß sie ihre Weisung nicht wiederholte. »Also kurz«, fuhr er fort. »Warum habt Ihr mir Euer Haus verboten – aus Furcht für Eure Tochter oder aus Furcht vor dem Polen?«

»Wir sind dir darüber keine Rechenschaft schuldig«, erwiderte Chane. »Aber warum sollten wir's verschweigen? – es paßt uns aus beiden Gründen nicht.«

»Ich aber kann beide beseitigen«, sagte der Bauer; er sprach rascher und bestimmter als sonst; offenbar hatte er sich die Worte wohl zurechtgelegt. »Wenn ich will, so verlängert der Pole Eure Pacht auf so viel Jahre, wie Ihr nur wollt.«

»So mächtig bist du?« höhnte Chane.

»Nein! Aber das kann ich versprechen. Der Pole will meinen Obstgarten. Ich habe nichts davon hören wollen. Denn Ihr wißt, daß ich zweierlei geschworen habe: mein Gut bleibt mein und Eure Tochter wird mein. Lebend oder tot – mein. Aber es würde mir schwerfallen, sie töten zu müssen, denn ich habe sie sehr lieb, und darum will ich, wenn es etwas dazu nützt, meinen Schwur wegen des Gutes brechen. So bin ich also gestern, nachdem ich erfahren habe, daß Ihr mich auch deshalb hier nicht dulden wollt, zum Polen gegangen und habe ihm gesagt: ›Für den Leibko die Pacht, so lang er will, und dir meinen Obstgarten zum Preis, den du willst.‹ Er stimmt zu. Das habe ich dir gestern sagen wollen und sage es dir heute. Entschließe dich, aber rasch, denn nur bis Mittag steht er mir im Worte.«

[238] »Wir danken«, erwiderte Chane kurz. Leib aber meinte: »Das könnte ich schon deshalb nicht annehmen, weil du da mit dem Polen ein schlechtes Geschäft machen würdest. Weißt du, warum er deinen Obstgarten ...«

»Das ist mir gleichgültig«, erwiderte Janko. »Schade, schade, denn die Furcht für Eure Tochter könnte ich Euch nun auch benehmen. Seit ich weiß, daß sie nicht verlobt ist, bin ich wieder ganz ruhig. Aber ich werde auch nie wieder unruhig sein, denn seit gestern weiß ich, daß Ihr vergeblich versuchen würdet, sie zu zwingen. Seit gestern weiß ich, daß sie mich auch liebhat. Gewiß nicht so, wie ich sie, denn erstens kann kein Mensch den andern so liebhaben wie ich die Miriam, und es hat auch noch nie einer ein Mädel so liebgehabt, seit die Welt steht, und zweitens ist sie ja noch ein Kind.«

Leib war erbleicht und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Chane aber beugte sich zitternd vor; sie war in diesem Augenblick unheimlich anzusehen, so wild verzerrt war das hagere Antlitz. »Und woher weißt du, daß sie dich liebhat?« keuchte sie. »Hat sie es dir etwa gesagt?«

»Nein«, erwiderte er. »Aber wie sie so ...« Er begann zu stottern; auf diese Frage war er wohl nicht gefaßt gewesen. »Wie sie so ... neben mir stand ... und rot wurde ... und ... das weiß ... ein Mann!« schloß er hastig.

Seltsam, der Mann, der da vor ihr stand, war für sie stets nur ein Tölpel gewesen, und was er nun hervorstotterte, klang wahrlich hilflos genug – und dennoch zweifelte die Frau keinen Augenblick, daß seine Empfindung die richtige gewesen. Immer keuchender ging ihr Atem aus und ein, daß Leib angstvoll den Arm um sie legte und dem Janko heftig zurief: »Nun geh!«

Aber der Bauer blieb trotzig stehen; er mißdeutete die Verzerrung in den Zügen der Kranken, glaubte, daß sie ihn verlache, weil er zuletzt Unsinn geredet, und so rief er höhnisch:

»Außerdem hat es mir auch die Kasia gesagt. Daß du es nur weißt: wie verrückt ist die Miriam nach mir! Bei allen Heiligen hat es mir die Kasia geschworen. Und die Kasia ist eine Christin! Verstehst du, Jüdin? Eine Christin!« [239] »Die Kasia! ...« Diesmal lachte Chane wirklich auf. Aber es war ein grauenvolles Lachen, das jählings in ein Röcheln umschlug.

»Lache nur!« schrie der Bauer in wilder Wut, »deshalb wird deine Tochter doch mein Weib! Und willst du sie nicht taufen lassen, so wird sie meine Metze! Das kann mir noch lieber sein; dagegen hat auch der Pope nichts! Meine Metze – hörst du's, du verdammte Jüdin, meine Metze, wenn ich will!«

Sie wollte erwidern, da brach ein Blutstrom von ihren Lippen. »Geh!« schrie Leib schrill auf, »du hast sie getötet!«

Entsetzt starrte der Bauer auf die Kranke, den Strom von Blut, der sich über Leib ergoß, der sie in den Armen hielt. Ohne die Augen von dem furchtbaren Bilde losreißen zu können, wich er langsam, rückwärts taumelnd, gegen die Türe zurück. Die Miriam hatte den Schrei des Vaters gehört und kam hereingestürzt. Ein Blick auf die Verblutende und den Mann an der Tür genügte, um sie erraten zu lassen, was da vorgegangen. »Mutter«, schrie sie verzweiflungsvoll auf – sie wußte selbst nicht, wie ihr die Worte auf die Lippen traten, ihr war's, als riefe sie eine Stimme in ihrem tiefsten Innern: »Mutter ... ich will dir immer gehorsam sein!«

Die Augen der Sterbenden wurden noch einmal groß und weit; sie versuchte die Hand zu heben, als wollte sie sie drohend gegen den Mann strecken, der, vom Entsetzen gelähmt, noch immer an der Tür lehnte und sie mit starrem Blick ansah. Dann wandelte sich der Ausdruck der Züge und wurde mild und friedlich; mit dem letzten Aufgebot ihrer Kraft ließ sie die Hand auf das Haupt ihres Kindes sinken.

»Bleib« – es klang kaum hörbar und nur wie ein Hauch – »bleib ein ehrlich jüdisch Kind!«

11

XI

Als der Pope Hilarion etwa eine Stunde nach dieser Begebenheit aus dem Fenster seiner Studierstube ins Unwetter hinausblickte, sah er seinen jungen Hausherrn [240] barhäuptig, verstörten Gesichts und taumelnd durch Sturm und Regen heimwanken. Erschreckt ließ er ihn bei sich eintreten und fragte, was ihm begegnet. Aber es währte lange, bis er's erfuhr. Denn was er zunächst von Janko hörte, war nur die Klage: »Jetzt werden wir beide nur noch ein Grab haben«, und damit schloß er auch. »Ich habe die Jüdin in meiner Wut zu Tode geärgert, und sie hat mich verflucht.«

Der junge Pope war ein guter und kluger Mann. Hätte er von dem Tode des verworfensten Weibes im Dorfe vernommen, er wäre sofort aufgebrochen, die Familie zu trösten und ihr hilfreich zu sein. Der Jude, so sehr er ihn persönlich schätzte, ging ihn nichts an. Wohl fuhr es ihm durchs Hirn, wie hilflos der arme Mann nun sei und wie er es beginnen werde, die Leiche nach Halicz zu schaffen, doch ihm beizustehen, war nach seiner Auffassung keines Christen Sache. Aber der junge Bauer da – das war ein Christ, dem mußte er helfen. Und so tröstete, er ihn, daß ihm der Fluch einer Jüdin keinesfalls schaden werde. Die Miriam müsse er sich freilich aus dem Kopfe schlagen, aber nicht deshalb, sondern weil es eben eine Sünde sei.

Am Nachmittag kam der Richter zum Popen. »Hochwürdiger«, klagte er, »was fangen wir nun an? Ohne Schenke kann doch kein Dorf bestehen! Eben waren die Juden aus Halicz da und haben die Leiche fortgeschafft, den Leibko und seine Tochter mit. ›Wann kommt Ihr denn wieder?‹ frage ich, aber darauf geben sie gar keine Antwort. Das Mädel gebärdet sich wie verrückt und klagt sich an, daß sie gegen die Mutter schlecht war, und dem Leibko rinnen auch die Tränen über die Backen, und er schluchzt oder flüstert in der jüdischen Sprache vor sich hin. ›Das versteh ich ja nicht‹, sag ich ihm, ›so antworte doch, wann du wiederkommst oder die Kasia schickst. Für heute mag's hingehen – wir sind ja keine Unmenschen –, aber spätestens morgen früh muß die Schenke wieder offen sein, da brauchen wir sie!‹ Aber er betet nur immerzu, als hätte ich. Unsinn gesprochen, und weint und weint. Hochwürdiger, das ist eine schwere Sache! Wir erwarten ja für morgen die ›Kommissyja‹, die den Weg für das eiserne Pferd bestimmen soll.«

»Die Schreiber brauchen ja die Schenke nicht«, wandte [241] der Pope ein. »Herr von Paterski hat sie zu sich eingeladen!«

»Die Schreiber nicht, aber wir!« erwiderte der Richter. »So bedenke doch, Hochwürdiger, morgen machen wir ja das große Geschäft! Morgen kommt der Haufen Gulden ins Dorf! So ein Haufen!« Er hielt die Hand hoch über den Tisch, um die Größe dieses Haufens Papiergulden zu bezeichnen. »Du hast doch ein Herz für uns, Hochwürdiger, und wirst verstehen: so ein Geschäft will begossen sein!«

Es würde nichts schaden, dachte der Pope, wenn sie es erst am nächsten Sonntag begießen würden. Aber er wußte wohl, daß er einen so freventlichen Gedanken nicht äußern dürfe, ohne seine Volkstümlichkeit für immer einzubüßen, und daß es vielmehr seine Pflicht sei, dem Dorfe in dieser Not beizustehen. Und so gab er dem Richter den Rat, einen Boten zum Vorsteher der Haliczer Judengemeinde zu senden, damit dieser ihm einen Stellvertreter für den Leib schicke.

Danach wurde gehandelt. Am Abend stand, obwohl der Regen fortwährte, das halbe Dorf um die verschlossene Schenke und harrte der Wiederkunft des Boten. Er brachte günstigen Bescheid. »Morgen in aller Frühe kommt der krumme Schimmele mit den Schlüsseln des Leibko und bleibt eine Woche da. Denn so lange müssen der Kleine und seine Tochter mit zerrissenen Kleidern in einer Stube sitzen und dürfen während der ganzen Zeit nur beten und jüdisch reden.« Das kam ihnen sehr merkwürdig vor, noch mehr, daß die Chane schon begraben war; die Unsitte, die Toten noch vor Sonnenuntergang des Sterbetages zu bestatten, war, wie für alle strenggläubigen Juden des Ostens, so auch für die Haliczer Gemeinde unverbrüchliches Gesetz. »Und wie sie dabei geheult haben«, erzählte der Bote, »grad so, als ob die Chane ihre Schwester gewesen wäre. Den wenigstens Lärm hat eigentlich noch der Leibko gemacht; der hat nur immer geweint und zum Himmel geguckt.«

Am nächsten Morgen fand sich in der Tat der krumme Schimmele pünktlich ein, mit ihm als Wirtschafterin die Kasia. »Ihr Leute«, erzählte sie, »seit dreißig Jahren bin ich ja dazu verdammt, bei Juden zu dienen, aber was für ein hartherziges Volk dies ist, weiß ich doch erst seit gestern. Die Miriam tut, als ob sie verzweifelt wäre, aber das [242] ist ja nur die Furcht vor Gott. Ich kann ja nicht darüber reden, aber die Alte ist vor Schreck aber eine Liebschaft des Mädchens gestorben. Und nun gar der Leibko! Wißt ihr, was er den Leuten geantwortet hat, als sie ihn trösten wollten? Ich würde es keinem anderen Menschen glauben, aber das habe ich mit eigenen Ohren gehört. ›Der Herr hat gegeben‹, sagt er, ›der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt!‹ Als ob er seine Ziege verloren hätte!«

Aber sie fand nur wenige, die ihr zuhörten; die Leute hatten heute Wichtigeres zu bereden. Alle Hausväter waren in der Schenke versammelt und harrten, bis die »Kommissyja« erscheinen würde, um mit ihnen zu verhandeln. Wer eine Scholle Bodens besaß, war zur Stelle, nur den Janko ausgenommen, der wieder einmal stumm brütend in seiner Kammer saß. »Ihr Leute!« sagte der Richter, »jetzt heißt es schlau sein! Zunächst werden sie kommen und fragen: Wer gibt den Boden ganz billig? Und darauf ich: Keiner billiger als der andere: Tausend Gulden die Quadratklafter! Und da mögen sie nun handeln! Aber viel lassen wir nicht herunter!« – »So soll es sein!« stimmten alle ein.

Die Geduld der Harrenden sollte auf eine harte Probe gesetzt sein. Erst gegen neun Uhr kamen die Herren zum Gutshof gefahren, und da stärkten sie sich zunächst durch ein Frühstück, das ihnen der gastfreie Paterski anbot. Und als sie endlich um elf Uhr wieder den Wagen bestiegen, da fuhren sie nicht zur Schenke, sondern vors Dorf, zum Grenzrain gegen Halicz.

»Was sie dort tun mögen?« fragten die Leute erstaunt. »Es nützt ihnen ja nichts, sich den Boden auszuwählen, zuerst müssen sie doch wissen, ob er zu haben ist!« – »Freilich«, meinten andere, »aber vielleicht sind sie so dumm oder halten uns für dumm!« Als jedoch die Mittagsglocke läutete und die Herren noch immer nicht sichtbar waren, wurden einige ausgesendet, die erspähen sollten, was sie eigentlich trieben.

Die Boten brachten einen Bescheid, der die Leute in nicht geringe Aufregung brachte. Die Herren waren bereits mitten in der Arbeit; die einen guckten in Papiere und schrieben, die anderen richteten dreifüßige Gestelle auf, die sie mitgebracht, und maßen die Entfernungen ab und [243] riefen sie einander zu; die dritten, ihre Diener, rammten Pfähle ein. Dies alles aber auf Grundstücken, die dem Polen gehörten. Die Pfähle bezeichneten nun eine große Kurve, die das Wäldchen, das der Gemeinde gehörte, umging. Es schien, daß sie nun zunächst auf den Grundstücken des Paterski bleiben wollten. »Betrug!« schrien die Bauern erregt. »Der Pole hat sie bestochen. Zuerst müssen sie doch fragen, wer Grundstücke verkaufen will und zu welchem Preis, und darnach ihre Wahl treffen. Das ist ein Geschäft des Herrn Kaisers – das muß öffentlich sein, und alle sind gleichberechtigt.«

Nur der dicke Onufrij verzog keine Miene. »Die Esel haben sich nicht einmal erkundigt, wo die Schmiede ist!« sagte er verächtlich. »Von der Stelle, wo sie begonnen haben, ist es ja zu meinem Hause über die rote Buche, wo sie jetzt sind, ein ungeheurer Umweg ... Aber meinetwegen – mein Geld wird ja da nicht zum Fenster hinausgeworfen!« Auch mahnte er die anderen zur Geduld.

Aber die Bauern waren unruhig geworden, zudem hatte sie auch der viele Schnaps erregt. Sie brachen auf, »mit den Herren ein Wörtchen zu sprechen.« Niemand mahnte ab, auch der Richter ging mit, nur daß er dabei weinte. Aber das bewirkte nur der Schnaps, nicht etwa das Bangen vor den Folgen eines Auftritts. »Sie betrügen uns«, schluchzte er, »und wenn wir sie totschlagen, so ist's nicht unsere Schuld!«

Bei dieser Stimmung hätte der Zusammenstoß mit der Staatsgewalt leicht schlimm enden können. Wenn es anders kam, so war dies nicht das Verdienst der Ingenieure – es waren Engländer und Deutsche, die nicht recht verstanden, was der Haufe, der da heranzog, ihnen zubrüllte –, sondern des Bezirksrichters von Halicz, Jan Willczuk. Er war selbst Ruthene, und wenn er sich auch mit Haut und Haar polonisiert hatte, so kannte er doch seine Stammesgenossen und wußte sie zu behandeln. Ruhig ging er ihnen entgegen und fragte: »Was wollt ihr? Aber einer soll reden!«

Sie schrien deshalb doch zunächst alle wild durcheinander, da er jedoch fortfuhr, sie mit gekreuzten Armen und lächelnd zu messen, so wurden sie unwillkürlich stiller und schoben endlich den Richter vor. »Gnädigster«, schluchzte Harasim, »es ist wegen der Gulden – der Gründe wollte [244] ich sagen. Ist denn unser Boden für das eiserne Pferd nicht ebenso gut wie der des Polen?«

»Besser«, erwiderte der Beamte treuherzig. »Es ist Ackerboden; wir nehmen wo möglich Heideland, das sonst zu nichts taugt. Für den Preis, den wir bezahlen, können wir guten Boden nicht fordern. Seht doch selbst, wie der Weg jetzt gelegt ist!« Sie folgten der Richtung seiner Hand und sahen sich verblüfft an; in der Tat war es großenteils unfruchtbarer Boden, wo die Pfähle steckten. Nur einer, der dicke Onufrij, schmunzelte schlau vor sich hin. »Verzeih, Gnädigster«, sagte er, »mich geht's ja auch nichts an, aber wenn es schlechter Boden sein muß, den hätten wir Bauern auch!« – »Natürlich«, fielen einige ein, »so schlechten Boden, als Ihr wollt! Warum wird er nur dem Polen abgekauft?!«

Der Beamte wechselte die Farbe; das war ein kritischer Augenblick. So versuchte er es mit einem Scherzwort. »Aber so bedenkt doch, ihr Leute«, sagte er, »das eiserne Pferd kann nicht hin und her taumeln wie einer von uns braven Ruthenen, wenn er seinen Durst gestillt hat. Ihm muß der Weg hübsch vorsichtig ausgesteckt werden. Die Herren hier« – er deutete auf die Ingenieure – »waren schon vor einigen Monaten in dieser Gegend, und dann haben sie auf der Karte den Strich gezogen, und nun sind wir da, den Weg abzustecken und die Ablösungen vorzunehmen. Nämlich – weil es eilt ...«

Das war abermals nicht gut. »Spare deine Worte«, unterbrach ihn Onufrij mit spöttischem Lächeln. »Wäre die Sache wirklich mit Überlegung gemacht, so hätten die Herren sich erkundigt, wo die Schmiede liegt – verstehst du, Gnädigster?! – wo die liegt!«

»Warum?« fragte der Beamte.

»Aber wer anders kann hier im Dorfe das eiserne Pferd ausbessern als ich!« rief der Schmied.

»Hahaha!« brach Herr Willczuk los, und die Diener der Kommission stimmten ein. Das klang so laut und herzlich, daß die Bauern zunächst verblüfft dreinsahen und dann verlegen mitlächelten.

»O du Weiser!« rief der Richter endlich und wischte sich die Tränen aus den Augen, »auf dich haben wir gebaut! ... Das eiserne Pferd kann ja hundert Meilen laufen, ohne [245] anzuhalten, und bleibt gesund und bei Atem, denn es ist von Eisen, Onufrij! Verstehst du, von Eisen!«

Und wieder lachte er schallend los, denn er fühlte, wieviel es auf diesen Augenblick ankam. In der Tat stimmten nun die Bauern ein, und der Beamte benutzte die gute Stimmung. »Leute!« rief er treuherzig, »ein Ruthene belügt den andern nicht! Ich schwöre euch, der Weg ist nur aus dem Grunde so und nicht anders bestimmt, damit das Pferd rasch und sicher durch euer Dorf rennen kann. Denn läuft es langsam, dann stinkt es wie die Pest, und purzelt es um, so bleibt auf drei Meilen im Umkreis kein Stein auf dem anderen! Aber ebenso schwöre ich euch: es werden heute auch Grundstücke eingelöst, die Bauern gehören!«

»Welche denn?« fragten die Leute, nicht mehr mißtrauisch, nur noch neugierig.

Der Beamte zog eine pfiffige Miene. »Unerwartete Freude ist doppelte Freude«, sagte er. »Bleibt doch hier, Gevattern, und seht uns zu!«

Das taten die Bauern eine Weile, aber da es auf der Heide nichts zu trinken gab, so zog einer nach dem andern ab und zur Schenke; als die Herren zum Mittagessen in den Gutshof gingen, folgten auch die Hartnäckigsten ihren Genossen, und als die Kommission die Arbeit wieder aufnahm, war sie wieder so ungestört, wie sie es irgend wünschen konnte. Als die Herren am Nachmittag, gegen die vierte Stunde, einen der Bauern wirklich brauchten, mußten sie ihn erst durch die Gerichtsdiener holen lassen und hatten lange zu warten, bis er vor ihnen erschien. Das war nicht seine Schuld, der gute Szymko Mroza wollte gern kommen, die Gulden des Kaisers einzustreichen, nur trugen ihn seine Füße nicht mehr. Die Diener mußten ihn vor die Kommission schleppen; wer noch gehen konnte, gab ihm das Geleite.

Aber die Neugierde sollte geringe Befriedigung finden. Der Bezirksrichter fragte den Trunkenen, ob er einen Streifen seines Ackers für die Eisenbahn abtreten wolle. »Ja!« grölte der Szymko, »aber die Gulden ...« – »Natürlich«, war die Antwort, »aber wieviel?!« – »Hundert Gulden die Quadratklafter«, war die Antwort, »oder zehn – oder tausend –.« Er wußte nicht mehr, was vorher beschlossen worden. – »Schön«, war die Antwort, »Ihr sagt uns in den nächsten Tagen Euren Preis. Und werden [246] wir nicht einig, so sollen Schiedsrichter entscheiden!« Und die Pflöcke wurden über den Acker des Szymko gesetzt, gegen den Obstgarten des Janko zu.

Die wenigen Zuschauer, die noch ihrer Sinne mächtig waren, sahen dies mit Groll und Neid. Den »Geizkragen«, dem »Duckmäuser«, dem »häßlichen Tölpel« gönnten sie das Glück, »ein Geschäft mit dem Herrn Kaiser zu machen«, fast noch weniger als dem Polen. Hohnlachend vernahmen sie, wie der Beamte den Auftrag gab, nun den Janko Wygoda aus der Schenke zu holen. »Der Lump ist ja gar nicht dort«, riefen sie, »sondern auf seinem Acker.«

Der Beamte befahl, ihn von dorther zu holen. »Ihr könnt ihm sagen«, rief er den Gerichtsdienern nach, »welches Glück seiner harrt, nur muß er sich sputen.« Aber es währte lange, bis sie wiederkamen, und den Janko brachten sie nicht mit. »Gnädigster«, berichteten sie, »das ist wirklich ein Tölpel! ›Ich komme nicht‹, sagt er. ›Mich‹, sagt er, ›geht euer eisernes Pferd nichts an und euch mein Garten nichts!‹ Und wie wir ihm darauf zuzureden beginnen, jagt er uns davon.«

Der Beamte war erstaunt; der Fall, daß jemand die Gulden des Kaisers nicht haben mochte, war ihm noch nicht vorgekommen. »Ich lasse ihm befehlen herzukommen«, gebot er dann. »Ist er nicht zur Stelle, so stecken wir den Weg ohne ihn ab.« Diesmal kehrten die Gerichtsboten rasch zurück. »Gnädigster«, berichteten sie, »das ist ja ein wildes Tier. Er ist totenblaß geworden, wie wir ihm deinen Befehl ausgerichtet haben und hat vor Wut gezittert. Dann ist er zwar hinter uns hergegangen, aber in seine Hütte, offenbar um sein Gewehr zu holen ... Wir müssen uns vorsehen ...«

Die Bauern drängten neugierig heran. »Er hat ja gar kein Gewehr«, trösteten sie. »Und wenn der Duckmäuser wirklich Streit anfangen will, so prügeln wir ihn mit Vergnügen durch.«

Seine Nachbarn hatten recht, ein Gewehr hatte der Janko nicht. Aber sein Beil, das hatte er geholt und eilte nun an das Türchen, das aus seinem umzäunten Obstgarten auf den Acker des Mroza führte. Dicht vor demselben hantierten eben die Ingenieure und ihre Gehilfen. Als sie [247] den todblassen Mann mit der Hacke in der Hand erblickten, wichen sie zurück. Der Janko sah übel aus; der furchtbare Auftritt von gestern hatte ihn jählings verwüstet; in dem verfallenen Gesicht loderten die Augen in unsteter Glut.

Auch dem Beamten ward es unbehaglich, dennoch trat er sofort pflichtgemäß vor. »Seid Ihr der Janko Wygoda?« fragte er. »Durch Euren Garten muß die Eisenbahn geführt werden.«

»Nein«, erwiderte der Bauer schroff und finster, »da wird sie nicht hindurchgeführt. Sucht Euch einen anderen Weg.«

»Das können wir nicht«, erwiderte der Beamte. »Nennt Euren Preis, es soll nicht Euer Schade sein.«

»Ich verkaufe nicht«, war die Antwort. Sein Gesicht wurde noch fahler. »Ich hab's geschworen – dies und noch etwas«, fügte er murmelnd hinzu. »Und ich halte meinen Schwur!«

»Unsinn«, sagte der Beamte ungeduldig, bezwang sich aber wieder. »Nehmt Vernunft an; ich stehe hier in des Herrn Kaisers Namen und sage Euch: wir brauchen den Grund und nehmen ihn, auch gegen Euren Willen!«

»Ja, ja! du Duckmäuser«, riefen die Bauern. »Gehorche, sonst prügeln wir dich durch!«

»Versucht's!« erwiderte der Janko, stellte sich an einen Baum am Türchen so, daß er im Rücken gedeckt war, und hob das Beil. Der Bezirksrichter bezwang den aufsteigenden Zorn. Er flüsterte einem der Diener einen Befehl zu und rief dann die Bauern barsch an, den Mann nicht zu reizen. »Ihr müßt doch einsehen«, wandte er sich nun wieder in den sanftesten Tönen an den Janko, »daß ich nicht anders kann. Versteht doch nur recht, um was es sich handelt. Die Eisenbahn ist für alle Menschen von Vorteil.«

Und er begann eine lange Rede über den Nutzen der Eisenbahn. Inzwischen aber hatten sich die Gerichtsdiener seinem Befehl gemäß ums Haus herum in den Garten und an den Janko herangeschlichen, ihn zu entwaffnen.

»Und dann, wenn Ihr zum Beispiel nach Lemberg wollt«, sagte der Beamte, »früher drei Tage – jetzt sechs Stunden –« [248] Das Wort stockte ihm; er schrie entsetzt auf. Der Janko hatte die Heranschleichenden nicht gewahrt, bis sie dicht hinter ihm standen. Da aber wandte er sich um, und im nächsten Augenblick wälzte sich einer der Diener in seinem Blute am Boden. Der Wütende hatte ihm mit dem Beil aufs Haupt geschlagen. »Kommt nur!« schrie er außer sich. »Lebend betritt niemand meinen Garten!«

Einen Augenblick standen alle starr. Aber im nächsten hatten sich zwanzig Leute zugleich auf den einen gestürzt, Bauern, Gerichtsdiener, die Gehilfen der Ingenieure. Eine Minute später lag er geknebelt am Boden, und sie traten auf ihm herum. Vielleicht wäre in dieser Stunde noch ein anderes und schwereres Verbrechen geschehen. Aber der Beamte warf sich dazwischen. »Zurück!« befahl er. »Der Totschläger gehört dem Gericht!«

12

XII

Es war drei Wochen später, eine Nacht im Oktober, eine kalte, aber klare, helle Herbstnacht. Zwanzig Tage und Nächte hatte der Regen vom Himmel herabgeströmt, dicht, endlos, in betäubender Wucht, wie ein Strafgericht des Himmels, als sollte alles Leben in den armseligen Flecken und Dörfern der Ebene ausgetilgt werden. Die Straßen waren unwegsam geworden, die Äcker um Halicz und die Gäßchen des Marktfleckens ein schlammiges Meer, durch das Mensch und Tier trübselig watete. Der Dnestr war ausgetreten, die Schiffbrücke, die Halicz mit dem jenseitigen Ufer und der Dampfsäge verband, stand seit einer Woche unter Wasser; Kähne vermittelten den Verkehr. Graue, kalte Flut, wohin das Auge blickte; sie stürzte vom Himmel nieder, schwoll dräuend aus der Erde empor. In dumpfem Bangen hatten die Menschen vor sich hin gebrütet, bis sich endlich an einem Freitagmorgen die Nebel geklärt und die Sonne wieder hervorgebrochen. Sie beschien ein trostloses Bild, aber heitere Mienen.

Nur zwei Menschen in Halicz blieben trotz der Sonne noch immer in derselben dumpfen Betäubung wie bisher: Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Wie eine einzige sternenlose Nacht waren ihnen diese drei Wochen vergangen, [249] nicht allein die erste, wo sie in der armseligen Kammer der Schwester der Verstorbenen bei geschlossenen Laden, mit zerrissenem Gewand, auf der Erde hockend, die Totenwacht gehalten und mit trüben Augen, die schließlich kaum noch Tränen fanden, in das Totenlicht gestarrt. Acht Tage und Nächte muß diese Leuchte brennen; zur Erinnerung an die Toten, sagen die einen, und die anderen meinen, damit die Seele, die ihre Wohnstätte hinieden verlassen und jene im Himmel noch nicht gefunden, ihre Ruhestätte auf Erden habe, wenn sie ängstlich die verlassenen Lieben umflattert und hilflos zusehen muß, wie sie ohne sie das Leben auf dieser harten Erde fortfristen müssen. Leib Weihnachtskuchen war eine frommer Mann, dem jeder Aberglauben fern war; er wußte wohl, daß er, der Allgütige, die Seele der Toten in seinen Himmel aufgenommen und daß nun alle Leiden und Sorgen der armen Chane zu Ende seien. Dennoch krampfte sich sein Herz zusammen, sooft das Lichtlein im Windzug flackerte, und Miriam vollends begann zu zittern und schlug sich an die Brust. Dann legte der Vater den Arm um sie und drückte sie fest an sich. Er fragte nicht, was in der Seele des geängstigten Kindes vorging, auch sie sprach es nicht aus.

Aber zu einer solchen Aussprache kam es auch nicht, als die Trauerwoche vorüber war. Für Leib und seine Tochter war sie noch nicht vorüber, und es war ihnen beiden zumute, als sollte sie nie wieder zu Ende gehen. Aber die Leute, bei denen sie Aufnahme gefunden, Schwester und Schwager der Verstorbenen, traten in derselben Stunde, wo die von der frommen Satzung vorgeschriebene Zeit abgelaufen war, vor sie hin und fragten, was es nun werden solle. Not macht hart. Die blutarmen Leute hatten die beiden bei sich aufgenommen, weil dies heilige Pflicht war, und sie hatten dies nicht einmal allzuschwer empfunden, weil die Trauernden selbst die kärgliche Speise, die sie ihnen vorsetzten, fast unberührt ließen, aber nun brauchten sie ihre Kammer und das wenige, was sie selbst zu verzehren hatten.

»Ich weiß nicht ...«, murmelte Leib, als sie ihn fragten. »Ich ... Laßt mir noch eine Weile Zeit zum Überlegen ...«

Not macht hart. »Was ist da zu überlegen?« sagte der [250] Schwager, Schmul Ledermann. »Ihr habt ja Euer Geschäft in Winkowce. Krumm-Schimmele wird nicht ewig für Euch draußen bleiben wollen. Und wenn auch?! Das ist doch Euer Brot und nicht seines; Ihr müßt hin!« Die Miriam hatte bisher kaum zugehört; nun aber verstand sie und zuckte angstvoll zusammen. »Nicht heim ...«, stieß sie bebend hervor und schloß die Augen.

»Was soll das heißen?!« rief ihre Tante Rachel und stemmte die Arme in die Hüften. »Wer bezahlt denn für Euch, wenn Ihr hierbleibt? Der Alte drüben? Es soll mir recht sein, nur müßt er's uns sagen!«

»Der Alte?« fragte das Mädchen erstaunt und strich sich das Haar aus dem blassen Antlitz. »Welcher Alte?«

Die Frau wurde verlegen. Es fiel ihr nun bei, daß Miriam ja noch immer nichts von ihrer Verlobung wisse. Auf diese Weise, in dieser Stunde durfte sie es nicht erfahren. »Ich dachte ...«, stotterte sie, »Reb Froim, der uns gegenüber wohnt ... Er war zwar beim Begräbnis voll Mitleid, aber bezahlen kann er für Euch nicht ...«

»Später ...«, bat Leib nochmals.

Schmul Ledermann zuckte die Achseln. »Wie Ihr wollt«, sagte er. »Aber was soll da beim Warten Vernünftiges herauskommen?«

Als die beiden wieder allein waren, faßte Leib die Hand der Tochter mit der Linken, mit der Rechten strich er ihr leise das Haar aus der Stirn. Er fragte nicht, warum sie nicht an die Stätte zurückkehren wolle, wo ihr ein so furchtbares Bild vor der Seele gestanden, warum sie dem Janko nicht mehr begegnen wolle; er verstand es ohnehin. Alles verstand er, und in seinem weichen, schmerzdurchwühlten, mitleidsvollen Gemüt hallte es wider. Sie aber wußte, daß sie ihm nichts zu sagen brauche, sie lehnte den Kopf an seine Brust und weinte sich wieder einmal aus, wie so oft an diesen Tagen.

Während die beiden noch so beisammensaßen, hörte Leib eine helle, quiekende Stimme draußen nach ihm fragen. Er erkannte sie sofort, es war Meyerl Spazierstock. Sanft machte er sich aus den Armen der Tochter los und trat vor die Tür.

»Reb Leib«, empfing ihn Meyerl herablassend, »ich bring Euch was. Zehn Gulden bring ich Euch.« Er holte seine [251] Brieftasche hervor und hielt ihm die Papiernote ausgebreitet entgegen. »Welches Glück Ihr habtl – Reb David denkt doch an alles! ›In Trauer sein‹, sagt er, ›ist bitter, und in Not sein ist bitter – aber beides zusammen ist zuviel für einen Menschen. Bring ihm das Geld‹, sagt er, ›und wenn er mehr will, so kann er's auch haben. Und das Begräbnis‹, sagt er, ›ist schon bezahlt, und will sein Schwager Schmul für die acht Tage Kost und Wohnung eine Entschädigung, so will ich sie ihm auch geben ...‹ Ja, so sagt er«, schloß Meyerl gönnerhaft, »Ihr seid zu beneiden, Reb Leib!«

Der unglückliche Mann stand mit gesenkten Augen da; seine Lippen bebten. »Ich danke ...«, murmelte er, »aber das Geld ... Es ist ja ... noch alles ungewiß ... Ich muß doch erst mein Miriamchen ...«

Meyerl tat, als traute er seinen Ohren nicht, vielleicht war es wirklich so. »Was?« schrie er gellend auf, »was ist ungewiß?! ... Und worüber müßt Ihr erst Eure Tochter fragen?! ... Wollt Ihr die Partie« – die Stimme schien ihm zu versagen – »zurückgehen lassen?!« ergänzte er dann schreiend.

Leib hob beschwörend die Hände. »Still«, bat er. »Sie hört sonst jedes Wort. Und wenn Ihr wüßtet, wie ihr jetzt zumut ist, wenn Ihr sie sehen würdet – es kann einen Stein erbarmen ... Jetzt kann und soll sie es nicht erfahren«, fuhr er mit festerer Stimme fort. »Und was das Geld betrifft – ich laß mich bei Reb David herzlich bedanken, aber ich hoff, es geht auch ohne dieses ... Es wär zum ersten Mal in meinem Leben ... Krumm-Schimmele ist ein ehrlicher Mann, er ist aus Mizwe (um ein frommes Werk zu tun) hinausgezogen, ich hoff, er hat Geld für mich und bleibt auch länger draußen, wenn ich ihn darum bitte ...«

Meyerl hatte sich gefaßt; desto verblüffter stellte er sich. »Verzeiht«, sagte er und legte die Hand auf die Stirne, »aber mir scheint, Euch hat der Trauerfall Euer bißchen Verstand – – verzeiht, aber was soll man davon denken?! Ihr weiset Geld zurück, Ihr habt auch ohnehin genug, sagt Ihr! Und woher kommt Euer plötzlicher Reichtum? Weil Krumm-Schimmele inzwischen Euer Verwalter war und auch noch länger dort bleiben will! Bisher habt Ihr allein nicht von der Schenke leben können, und jetzt soll's plötzlich [252] für zwei Familien reichen, Euch und Euren Verwalter?! Das ist verrückt, Reb Leib, verzeiht, aber da paßt kein anderes Wort ...«

Der Ärmste schwieg und blickte dann den Zwerg hilflos an. »Ihr mögt recht haben«, murmelte er. »Ich will's ja auch ordnen ... Aber jetzt ... jetzt weiß ich nur zweierlei: ich kann kein Almosen annehmen und kann nicht in die Schenke zurück.«

»Warum?!« fragte Meyerl und sah den anderen lauernd an.

»Weil mein Miriamchen sich davor fürchtet«, war die Antwort. »Ihr müßt bedenken, welche furchtbare Erinnerung der Tod der Mutter für sie ist ...«

»Und ist das der einzige Grund?« fragte der Zwerg, und die quiekende Stimme klang scharf, wie ein Messer.

Leib schlug den Blick zu Boden und errötete. Lügen konnte er nicht und diesem Menschen die volle Wahrheit sagen auch nicht. Er durfte niemand gestehen, daß Miriam auch deshalb nicht nach Winkowce zurück wollte, um dem Janko nie wieder zu begegnen. Der junge Bauer war an dem Tod ihrer Mutter mitschuldig und doch derselbe Mensch, mit dem sie von Kindheit auf vertraut gewesen, und sie wollte ein ehrlich jüdisch Kind bleiben – oh, er verstand alles! ... Aber die anderen?!

»Warum schweigt Ihr?« fragte Meyerl womöglich noch schärfer. »Sollte es wahr sein – um Himmels willen« – er faßte Leibs Arm, und der Schrecken, der sich nun auf seinem Gesicht ausprägte, war nicht geheuchelt –, »sollte es wirklich wahr sein, was die Kasia ...«

»Die Kasia?! ... Was erzählt sie? Sie ist eine Lügnerin!«

»Möge es Gott so fügen, daß sie auch da gelogen hat«, erwiderte der Zwerg erregt, und der Wunsch war ehrlich gemeint. »Sie sagt, der Janko wäre ...«

»Nun?!« rief Leib außer sich und faßte den Zwerg an der Schulter.

»Der Janko – verzeiht – man soll so was nicht über die Lippen bringen, und ich hätt auch geschwiegen, aber da Ihr mir nicht sagen wollt, warum sie nicht heim will, und so verlegen seid – also: der Janko, sagt die Kasia, ist der Liebhaber Eurer Tochter!« [253] »Lügel« stieß der Kleine hervor, und sein Antlitz färbte sich dunkelrot vor Schmerz und Entrüstung. »Elende Verleumdung!«

Der Zwerg atmete auf. Dieser Mensch war ja so dumm, niemals zu lügen, und zudem war dieser Ton sicherlich echt. Eine schwere Last fiel ihm von der Brust: hätte die Kasia die Wahrheit gesprochen, dann wären die wenigen Heller, die von dem Vermittlerlohn Mendeles für ihn abfielen, verloren gewesen. Ein Schadchen gebraucht mancherlei Mittel, um ein schwieriges Geschäft zustande zu bringen oder ein bedrohtes zu retten, aber einem ehrbaren Manne listig eine Entehrte als Braut zuzuführen, mit solcher Schuld belastet kein Mann dieser Zunft sein Gewissen.

»Gottlob!« murmelte er. Dann aber fiel ihm bei, wie weltfremd und leichtgläubig dieser Mann sei. »Euer Wort in Ehren«, sagte er, »aber könnt Ihr für Eure Tochter ... verzeiht«, unterbrach er sich, »ich glaub ja nichts Böses, ich frag nur ... Solche Fälle sind ja sehr selten, aber Mendele und ich haben erst vor zwei Wochen eine solche Sach gehabt. Die Tochter eines Sniatyner Holzhändlers – Ruben, der Schneiderssohn, hat sie vor einigen Tagen geheiratet, jetzt sind sie schon bei der Scheidung ... Also – könnt Ihr dafür einstehen?«

»Ja!« rief Leib entrüstet.

»Ihr könnt es mir schwören?«

»Bei allem, was Ihr wollt! Mein Miriamchen ...« Und er brach in Tränen aus.

Die Türe der Kammer hatte sich geöffnet; sie merkten es beide nicht.

»Bei dem Grabe Eures Weibes?« fragte der Zwerg.

»Ja!« rief Leib.

»Ich danke dir, Vater.« Da stand die Miriam, so blaß wie die Wand, an der sie lehnte, aber ihr Haupt war hoch aufgerichtet und ihre Augen blitzten. »Die Kasia hat gelogen! Stellet sie mir gegenüber, fraget den Janko selbst!«

Meyerl war betreten zurückgewichen, nun faßte er sich wieder. »Verzeiht«, sagte er, »für Eure Ohren war das Gespräch nicht bestimmt ... Der Kasia will ich schon den Mund stopfen, Ihr braucht Euch damit nicht zu bemühen. Und den Janko würden wir auch nicht erst fragen, selbst [254] wenn wir's könnten. Aber wir können ja nicht! Ihr wißt doch – er sitzt im Kerker!«

»Barmherziger Gott!« schrie Leib auf. »Der Janko? Er ist ja ein braver Mensch! Wie ist das zugegangen?!« Die Miriam aber schrie leise auf und wankte. Dann umklammerte sie die Türklinke und hörte bebend zu, wie Meyerl die Szene an der Gartenpforte erzählte. Nach seiner Darstellung hatte der Rasende ein halbes Dutzend Bauern und Gerichtsdiener schwer verwundet; eines der Opfer war nach seiner Versicherung bereits verschieden. »Man sagt«, schloß er, »er wird überhaupt nie mehr freigelassen werden; andere meinen, er bekommt zehn oder fünfzehn Jahre Zuchthaus. Aber weniger gewiß nicht!«

»Fünfzehn Jahre!« jammerte Leib. Miriam aber schwieg, nur ihr Atem ging hörbar aus und ein. Die Dämmerung war immer dichter hereingebrochen; es war nun im Flur fast finster; Meyerl konnte ihre Gesichtszüge nicht mehr unterscheiden. Das war vielleicht gut für ihn, sonst hätte er wohl wieder um seinen Vermittlerlohn zu bangen begonnen.

»Ihr bedauert ihn noch?« fragte er nun vorwurfsvoll, zu Leib gewendet. »Und um die Leut, die er erschlagen oder verwundet hat, tut es Euch nicht leid?«

»Gewiß«, beteuerte Leib, »aber die kenn ich nicht, und er war unser Freund. Nicht wahr, Miriam?«

Sie erwiderte nichts, sondern trat schweigend wieder in die Kammer zurück.

»Eure Tochter ist vernünftiger als Ihr!« sagte Meyerl. »Aber Euch werd ich nicht ändern. Seid wenigstens in der Hauptsach so wie andere Menschen! Überlegt Euch, ob Ihr die zehn Gulden nicht doch nehmen wollt. Ich frag morgen wieder an. Gut Nacht!«

Er ging. Als Leib in die Kammer zurücktrat, in der es nun, da auch das Totenlämpchen nicht mehr brannte, völlig Nacht war, und leise den Namen seiner Tochter rief, erhielt er keine Antwort. Sie hatte sich wohl schon in die anstoßende Kammer begeben, wo neben dem Bette der Tante ihr Lager aufgeschlagen war. In der Tat hörte er, als er an die Türe dieser Kammer trat, von drinnen ihr leises Schluchzen. Er suchte sie nicht zu trösten, er rief sie nicht an. Auch dieser Schmerz war ihm verständlich ...

[255] Er wollte ins Freie treten, das Unwetter scheuchte ihn zurück. So saß er denn auf dem Schemel nieder, auf dem er die Wache beim Totenlicht gehalten, und überließ sich den Gedanken, die auf ihn einstürmten. Aber sie betrafen nicht seine und seiner Tochter Zukunft. Er wußte nicht, wohin er in morgiger Nacht sein und ihr Haupt betten, welche Anwort er Meyerl geben sollte, wenn dieser fragte, ob er die Partie zurückgehen lassen wolle, aber an dies alles dachte er auch nicht. Nur an den Janko dachte er ... Dies Furchtbare also hatte sein Traum vom Beil voraus verkündigt; der Hieb war nun niedergesaust, auf anderer Haupt und vor allem auf das Haupt des Unglücklichen selbst ... Fünfzehn Jahre Zuchthaus – ein verlorenes Leben! – Daß dieser Mensch ihm sein Kind bedroht, daß er mit Recht vor ihm gezittert und nun befreit aufatmen durfte, dies alles huschte ihm nur zuweilen wie ein Blitz durchs Hirn, und dann schlug er sich an die Brust und murmelte: »Herr, rechne es mir nicht zum Bösen an, wenn ich auch daran denke!« Aber das waren nur Augenblicke; stundenlang hingegen und unablässig verfolgte ihn ein anderer Gedanke: Wäre ich doch dabeigewesen, dann hätte ihn dies Unglück nicht ereilt. Ich hätte vernünftig mit ihm gesprochen, hätte ihm erklärt, was man eigentlich von ihm will und daß es nur zu seinem Guten ist. Aber so – da schreien sie auf ihn ein, bis er den Verstand verliert und zu rasen anfängt – nur um seinen Schwur zu halten!

Um seinen Schwur zu halten! – hier setzte jener Gedanke wieder ein, den er als sündhaft empfand, und ließ sich nun nicht wieder verscheuchen. War der Janko zum Verbrecher geworden, um sein Gelöbnis bezüglich des Obstgartens zu halten, dann wäre sicherlich auch sein Schwur bezüglich der Miriam nicht unerfüllt geblieben. Vielleicht hatte er dies gefügt, der Allerbarmer, um nicht noch größeres Unheil geschehen zu lassen. Aber auch diesen Gedanken konnte der Kleine wieder verwinden; wollte er Unheil verhüten, dann bedurfte er eines solchen Mittels nicht!

Erst in später Stunde übermannte ihn die Müdigkeit, und er schlief auf seinem unbequemen Sitz ein. Als er am Sabbatmorgen erwachte, fühlte er sich so matt und zerschlagen, daß er sich kaum erheben konnte. Und nicht bloß [256] in den Gliedern, auch im Gemüt haftete ihm diese schmerzhafte Schwäche. Grau und trostlos, wie draußen der Tag, war's auch in ihm. Er verrichtete sein Morgengebet so inbrünstig wie je, der Gedanke an Gott erhob seine Seele, aber als er sich nach beendetem Gebet fragte: Was nun? – da fühlte er sich wieder ratlos und hilflos wie zuvor.

So traf ihn die Miriam. Sie mußte in der Nacht viel geweint haben – er sah es ihr an den Augen an. Auch klang ihre Stimme leise und befangen, als sie ihm den Morgengruß bot. Und als er nach seiner Gewohnheit mit der Hand leise über ihren Scheitel fuhr, zuckte es schmerzhaft um ihre Mundwinkel, und die Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie bezwang sich, faßte seine Hand und zog ihn auf den Sitz neben sich nie der. »Vater«, sagte sie und versuchte sogar zu lächeln, »du findest es allein nicht heraus, wie es nun mit uns werden soll, und ich auch nicht. Wollen wir es zusammen überlegen?«

»Ja, Kind«, erwiderte er seufzend.

»Nein«, sagte sie, »du mußt tapfer sein. Ich hab gestern gesagt, ich wollt nicht heim. Du weißt, warum?!« Eine dunkle Röte flammte über ihr Antlitz, aber sie sah ihm dabei festen Blicks ins Auge.

»Ich weiß ...« erwiderte er.

»Aber das war Unsinn«, fuhr sie fort. »Leicht fällt's mir ja auch heute nicht, umsomehr, da ich nun weiß, was die Kasia über mich ausgesprochen hat. Aber es muß eben sein. Dort haben wir unser Brot – wenigstens für die nächste Zeit«, flocht sie hastig ein, als er wieder hörbar aufseufzte –, »und dann hilft uns Gott weiter! Und was geschehen muß, wollen wir bald tun. Heut ist ja Sabbat, aber morgen wollen wir zum Grab der Mutter gehen und dann in unser Haus!«

»Du hast recht«, sagte er und versuchte die Tränen zurückzudrängen. Was ihm vorhin den Seufzer erpreßt, was ihn nun so tief ergriff, war neben dem Mitleid mit dem armen, jungen Geschöpf, dem das Schicksal und die Niedertracht der Menschen schon so früh tiefen Schmerz zugefügt, eine Erinnerung, die sich ihm unwillkürlich aufdrängte: so bestimmt und dabei doch wieder so gut und weich war auch Chanes Art gewesen, ehe sie Not und Kampf hart und bitter gemacht. »Du hast recht«, wiederholte [257] er und wehrte den Tränen nicht, die ihm langsam über die Wangen rollten, »morgen wollen wir zum Grabe deiner Mutter gehen und dann heim!«

Am nächsten Morgen tobte das Unwetter schlimmer als je; das focht sie nicht an, und sie machten sich zum Gang bereit. Aber als sie eben das Haus verlassen wollten, trat ein unerwarteter Gast ins Zimmer, der Pope Hilarion.

»Lieber Leibko«, begann er freundlich, »ich habe dich um etwas zu bitten.« Er warf einen Blick auf das Mädchen. »Es wird nicht lange dauern, Miriam.« Sie trat in die Kammer zurück; die beiden Männer blieben auf dem Flur.

»Also, lieber Leibko«, sagte der Pope und schlug seinen regenschweren Mantel fester um die Glieder, denn es zog hier mächtig, »es betrifft den Janko. Was ihm begegnet ist, weißt du?!«

»Ich hab's gehört«, erwiderte der Jude mitleidsvoll. »Er hat einen Mann getötet und mehrere verwundet ...«

»Was nicht noch?!« lachte der Pope. »Die Leute können doch das Übertreiben nicht lassen! Als ob das Unglück nicht ohnehin groß genug wäre! Er hat einen einzigen Menschen verwundet, einen Gerichtsdiener, den allerdings schwer. Einige Tage schien die Sache bedenklich, aber der Kerl hatte zum Glück eine Hirnschale von Eisen; in zwei Wochen ist er wieder frisch und wohlauf.«

»Gottlob!« rief der Kleine in aufrichtiger Freude. »Dann wird auch seine Strafe nicht gar so schwer sein?!«

»Doch!« erwiderte der Geistliche. »Schwere Verwundung, dazu noch obendrein bewaffneter Widerstand gegen die Staatsgewalt – wenn's die Herren sehr gnädig machen, so muß er doch immerhin ein halbes Jahr brummen. Aber das ist nicht zu ändern. Hingegen möcht ich bewirken, daß sie ihn bis zur Verhandlung auf freien Fuß setzen, sonst wird leicht aus dem halben ein ganzes Jahr, und inzwischen geht seine Wirtschaft ganz zugrunde.«

»Gewiß, aber ...«

»Was du dabei tun kannst? Sehr viel! Ich weiß, mein braver Leibko, du wirst mir meine Bitte nicht abschlagen ... Also, kurz und gut, der Bezirksrichter verlangt zwei Bürgen aus Winkowce, um gegen Vorhaltungen seiner Oberen geschützt zu sein, wenn der Mann in der Zwischenzeit [258] wieder irgendeine Gewalttat begehen sollte. Ich war ganz erfreut, als mir Willczuk nur diese Bedingung stellte, aber denke nur – es geht nicht! Der eine Bürge will natürlich ich sein, aber von den Bauern mag keiner dran. ›Dem trotzigen Tölpel ist alles zuzutrauen‹, sagen sie. Und so dachte ich denn: Du, mein Leibko, bist ein braver Mensch, sein guter Freund – du wirst es tun.«

»Ich?« rief Leib erblassend und trat zurück.

»Aber warum nicht?« fragte der Pope, »Weil er dir alles Mögliche angedroht hat, wenn du deine Tochter verlobst?! Gerade weil er deine Tochter so liebt, wird er ihr doch nichts antun!«

Der Jude schüttelte den Kopf. »O doch«, sagte er, »weil er sie keinem anderen gönnt ...«

»Daß doch jeder Jude ein Hasenfuß ist!« rief der Pope unwillig. »Ist das deine Freundschaft für den Janko! Aber ich will dich mit deinen eigenen Waffen schlagen! Für welchen Fall hat er dir denn gedroht? Doch nur, wenn du deine Tochter verlobst! Und am frischen Grabe der Mutter werdet Ihr doch nicht die Tochter Hochzeit halten lassen?! Ihr werdet doch mindestens ein halbes Jahr warten! Nun denn, in sechs Monaten sitzt er ja jedenfalls schon seine Strafe ab!«

Der Jude schwieg und starrte brütend vor sich hin.

»Aber was ist da zu überlegen?!« rief der Pope ungeduldig. »Um Geld an ihm zu verdienen, dazu war dir der Janko gut genug, im Unglück willst auch du ihn verlassen!«

Leib hörte die Worte nicht, oder sie schlugen doch wie ein leerer Schall an sein Ohr. Er lauschte, wie in jedem Augenblick einer schweren Entscheidung, auf die Stimme in seiner Brust, und ob er darunter jene heraushören könne, durch die er zu ihm sprach. Aber er konnte sie diesmal nicht deutlich erkennen. War esseine Stimme, die in ihm rief: Befreie den armen Janko? – oder war sie es, die ihn mahnte: Schütze dein Kind vor dem Rasenden –?!

»Ich weiß nicht ...«, murmelte er endlich und bat um Bedenkzeit. Und als der Pope in ihn drang, erwiderte er entschieden: »Ich kann nichts versprechen. Erst muß ich wissen, was ...« Er hielt inne. Was er will, hatte er sagen wollen, aber das ging den Popen nichts an. »In einigen [259] Tagen«, schloß er und war davon nicht mehr abzubringen.

Erzürnt ging der Pope von dannen. »Was hat er von dir gewollt?« fragte Miriam, als der Kleine wieder in die Kammer trat und sie ihm vom Antlitz ablas, wie sehr ihn das Gespräch erregt habe.

»Frag mich nicht«, bat er, »du weißt, ich kann nicht lügen, und die Wahrheit sagen kann ich dir auch nicht!«

Darauf schwieg sie und machte sich abermals zum Gang bereit. Aber das Geschick hatte es anders beschlossen: sie sollten beide ihre Heimstätte nie wieder betreten. Kaum daß sie ihr Tuch abermals festgeknotet hatte, trat Meyerl ein und winkte den Kleinen hastig auf den Flur.

»Kommt«, sagte er dort fliegenden Atems, »Reb David will mit Euch reden! Er wartet!«

»Mit mir?!« fragte Leib zaghaft. »Was will er ...«

»Das mag er Euch selbst sagen«, erwiderte Meyerl ungeduldig. »Kommt! Ein Mann wie Reb David wartet ungern!«

So folgte ihm denn Leib. Zu wem er so plötzlich müsse, fragte Miriam nicht, und das war gut für ihn, die Antwort hätte ihn in arge Verlegenheit gesetzt.

Wahrscheinlich, war sein erster Gedanke, während er so in Sturm und Regen hinter Meyerl hereilte, wahrscheinlich will er mir die Verlobung aufkündigen. Ist das ein Unglück? Ist es ein Glück?! Dann aber besann er sich eines Besseren. Das würde er mir nicht mündlich sagen. Und selbst wenn er jener Schändlichen glauben sollte – das sagt kein Mann, der selbst Vater ist, einem Vater ins Gesicht! Aber was es ist, kann ich mir nicht denken.

Und doch war es nicht überraschend, sondern entsprach ganz und gar dem Wesen dieses Mannes.

»Reb Leib«, sagte der Greis, »ich will Klarheit haben: wollt Ihr mir Eure Tochter zum Weibe geben, oder wollt Ihr nicht? Ich meinerseits bleibe meinem Wort treu. Warum, wißt Ihr. Erstens und vor allem, weil mir Eure Tochter gefällt. Zweitens, weil sich in den zehn Tagen seit der Verlobung nichts ereignet hat, was meinen Sinn gewandelt hätte. Auf die Reden jener elenden Schwätzerin hab ich nie was gegeben. Ich habe Eure Chane gekannt – sie ruhe im Frieden –, ich kenne Euch – auf Euch ist [260] Verlaß; so weit fällt kein Apfel vom Stamm. Um aber das Meine zu tun, damit das häßliche Gerücht aus der Welt kommt, habe ich Eure Goje noch gestern abend durch unseren Herrn Propst vernehmen lassen. Er hat nicht viel Mühe mit ihr gehabt, sie hat sofort gestanden, daß alles Lüge ist, es auch vor mehreren Zeugen beschworen. Das also ist in Ordnung.«

»Ich dank Euch!« sagte Leib gerührt.

»Nichts zu danken. Ich hätt's für jedes andere Judenkind auch getan. Mir tut der Propst einen Gefallen, weil auch ich ihm gefällig sein kann, anderen wohl nicht. Und Eure Tochter ist meine Braut. Fragt sich nur, ob sie es auch nach Eurem Willen bleiben und mein Weib werden soll. Meyerl sagt, Ihr wäret plötzlich ›ungewiß‹ darüber. Also – wollt Ihr oder wollt Ihr nicht?«

Leib schwieg, aber nur wenige Atemzüge lang. Denn diesmal glaubte er seine Stimme deutlich zu vernehmen. »Ich will«, erwiderte er mit einer Bestimmtheit, die ihm selten zu eigen war; es schien, als hätte sich etwas von dem Wesen des Mannes, vor dem er stand, auf ihn übertragen. »Meine Chane – sie ruhe im Frieden – hat's gewollt, und ich war zu ihren Lebzeiten nicht dagegen; ich kann es auch jetzt nicht sein. Gewandelt hat sich nur eins: jetzt muß ich meine Miriam fragen, ob sie will oder nicht ...«

Dem alten Mann stieg die Röte des Zorns ins Antlitz, aber er bezwang sich. »Wie soll ich das verstehen?« fragte er. »Bei Eures Weibes Lebzeiten habt Ihr eine solche Frage für überflüssig gehalten, jetzt haltet Ihr sie für nötig?! Ich will Euch sagen, wie die Dinge stehen: Ihr seid im Herzen ebenso dagegen, als Euer Weib dafür war; solang sie lebte, habt Ihr kein Nein gewagt, und wagt es auch jetzt nicht, wohl aber hofft Ihr auf ein Nein Eurer Tochter.«

»So ist's nicht«, erwiderte Leib. »So wahr mir Gott gnädig sei – nein! Die Wahrheit ist vielmehr: ich hab immer geglaubt, daß meine Tochter gefragt werden soll, nur hab ich's nicht genau gewußt, ob es Pflicht ist. Inzwischen hat sich etwas begeben, was mich erkennen läßt: ja, es ist Pflicht gegen Euch und gegen mein Kind. Und darum muß ich fragen.«

»Und was war dies ›Etwas‹?«

»Das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte Leib. »Aber, [261] ich schwöre Euch, mit der Ehrbarkeit meiner Tochter hat es nichts zu tun.«

Reb David sah ihn durchdringend an; er hielt den Blick ruhig aus. Es war ein langes Schweigen in der Stube. Der Greis stand auf und schritt einige Male auf und nieder, minder sicheren Schritts, als er gewohnt war; er rang offenbar einen schweren Kampf.

Endlich blieb er vor dem Schenkwirt stehen. »Fragt sie«, sagte er, »und bringt mir dann Bescheid. Ich täte sonst in solcher Sache keinem Menschen den Willen, Euch will ich ihn tun. Denn Ihr seid ein anderer als die meisten, denen ich bisher begegnet bin. Ein Schlemihl – ja, und Euer Verstand kann hundertmal irren, aber Euer Herz irrt nicht. Es ist unerhört, ein Mädchen zu fragen, aber glaubt Ihr, daß Ihr's in diesem Falle tun müßt, so darf ich nicht dagegen sein.:..«

Leibs Augen wurden feucht. »Wie soll ich Euch danken?« stammelte er.

»Das habt Ihr Euch selber zu danken«, erwiderte der alte Mann. »Hätt ich nicht dem Begräbnis Eures Weibes beigewohnt, ich hätt nicht nachgegeben. Aber da habt Ihr mir's angetan. Wie Euch zumut war, wußte ich, und darum hat es mich tief erschüttert, wie Ihr dastandet, als Euch die Leut ihr Beileid sagten. Euer Herz hat geblutet, und dennoch ist es Euch aus dem Herzen gekommen, als Ihr unter bitteren Tränen sagtet: ›Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt!‹ Wer solches vermag, ohne zu heucheln, wer so fromm ist, so wahrhaft fromm, der mag ein noch schlechterer Geschäftsmann sein als Ihr, er ist doch nicht bloß besser, sondern auch klüger als wir alle. Sein Verstand ist blöde, sein Herz ist weise. Tut, was Euch Euer weises Herz gebietet, Reb Leib!«

Und er schob ihn sanft zur Türe hinaus.

Mit wirbelndem Hirn eilte der Kleine heim. Jetzt wird's mir leid tun, wenn sie nein sagt, dachte er. Ich kann ihm zurückgeben, was er mir gesagt hat: auch auf ihn ist Verlaß! Erst als er dicht vor der Hütte seines Schwagers stand, fiel ihm bei, daß er sich doch die Art, wie er es ihr sagen wolle, zurechtlegen müsse. Er beschloß, es erst auf dem Wege nach Winkowce und so vorsichtig als möglich zu tun.

[262] Der Plan wurde zu Wasser. Als er eintrat, kam sie ihm entgegen. »Vater«, sagte sie, »es ist nicht gut, wenn wir beide Geheimnisse voreinander haben. Die Tante hat mir eben gesagt, warum Meyerl so oft zu dir kommt und zu wem er dich gerufen hat. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich mein künftiges Schicksal von dir erfahren hätte.«

»Verzeih ...«, stammelte er. »Aber es ist noch nichts entschieden. Ich hab Reb David eben gesagt, daß alles von deinem Willen abhängt!«

»Von meinem Willen?« fragte sie in größtem Erstaunen. »Ich hab gedacht: das haben die Mutter und du ausgemacht, und ich habe zu gehorchen.«

»Wenn du es nicht willst, so wird die Verlobung aufgehoben«, erwiderte er. »Höre mich an, Kind, und entscheide.« Und er setzte ihr auseinander, was dafür, was dagegen sprach, verschwieg nichts und beschönigte nichts. Er bekannte, wie sehr Chane die Verbindung gewünscht, aber daß auch sie sich ein anderes und besseres Glück für die Tochter ersehnt.

Das junge Mädchen hörte ihn still an, ohne eine Frage zu tun. Und als er zu Ende war, sagte sie nur: »Darf ich's mir überlegen? Nur einige Stunden ...«

»Solang du willst!« rief er.

Aber schon am frühen Nachmittag trat sie mit stillem Antlitz vor ihn hin und sagte ruhigen Tons:

»Ich will's tun!«

»Übereile dich nicht«, bat er. »Hast du es wohl überlegt?«

»Ja«, erwiderte sie. »Es ist das beste für uns alle, für die Mutter, für dich, für mich ...«

Es berührte ihn eigen, daß sie dabei vor allem die Tote nannte. »Deine Mutter«, sagte er, »sie ruhe in Frieden, weiß heute besser als du und ich, was dir wahrhaft zum Guten ist. Die ist im Licht, sie kennt deine Zukunft, wir kennen sie nicht. Vielleicht denkt sie nun anders über diese Heirat, als da sie, gleich uns, im Dunkel war ...«

Sie schwieg lange, erwiderte dann aber: »Ich kann mich nur an das halten, was mir als ihr Wille bekannt ist. ›Bleib ein ehrlich jüdisch Kind!‹ hat sie mir mit ihrem letzten Hauch gesagt; ein jüdisch Kind tut, was seine Eltern wollen. Und ich hab nichts gegen Reb David; im Gegenteil, [263] nach allem, was du mir von ihm erzählt hast, hab ich große Achtung für ihn!«

»Mit Recht«, sagte er. »Aber noch eine Frage mußt du mir beantworten: Du tust es doch nicht auch deshalb, um mich zu versorgen?«

»Nein!« erwiderte sie ruhig. »Denn ich kenne dich und weiß, daß du nichts von ihm annehmen wirst.«

»Nun denn«, sagte er, »so will ich in Gottes Namen zu ihm gehen und es ihm sagen!«

Auch seine Stimme klang fest. Aber als er nun zur Tür ging, geschah etwas Seltsames. Er hielt plötzlich inne und wankte. Sie eilte auf ihn zu und umschlang ihn. »Was ist dir?« fragte sie besorgt. Aber er konnte nichts erwidern vor jähem, ungestümem Weinen. Auch ihre Tränen flossen, bis sie sich endlich aus seinen Armen losriß.

»Nun geh«, sagte sie. »Es muß für einen Mann wie ihn demütigend sein, so lange auf den Bescheid zu harren ... Und noch eins: wenn er für eine baldige Heirat ist, so sei du nicht dagegen!«

»Aber die Trauer?« wandte er ein.

»Die äußere?« erwiderte sie. »Was liegt daran? Und die Trauer, die ich im Herzen um sie trage, und die Erinnerung an ihre Sterbestunde – das vergeht nicht, und wenn ich hundert Jahr alt werde.«

So erhob denn Leib keine Einwendung, als Reb David wünschte, daß die Hochzeit schon nach vierzehn Tagen stattfinden solle. »Es ist das beste so«, sagte der Greis. »Soll meine Braut nach Winkowce heimkehren, unter die Bauern, von denen gewiß noch der und jener glaubt, was ihm die Kasia von ihr erzählt hat? Oder soll sie Leuten wie Schmul und Rachel länger als nötig zur Last fallen?! Bleibet auch Ihr ruhig hier. Die Sach zwischen Euch und Krumm-Schimmele laß ich schon ordnen; vielleicht übernimmt er Eure Pacht, das wäre das klügste. Denn allein werdet Ihr im verödeten Haus nicht wieder wirtschaften wollen. Es findet sich schon etwas anderes für Euch, ob mit oder ohne meine Hilfe, mögt Ihr selbst entscheiden!«

Die Ausrichtung der Hochzeit übernahm natürlich der Bräutigam. »Es soll alles aufs einfachste sein«, versprach er, »nur die notwendigsten Leute, weder Musik noch ein großes Mahl. Am liebsten ließe ich die Chuppe (den [264] Trauhimmel) in meinem eigenen Hause aufstellen, aber das geht gegen den Brauch, und so mag es im Hause des Rabbi sein ... Den Brauch«, fügte er lächelnd bei, »wollen wir überhaupt einhalten. Meine Braut ist gefragt worden, als ob sie eine Christin wäre, aber deshalb bin ich doch ein Jud, sogar ein alter, und darum werde ich sie in den vierzehn Tagen nicht besuchen, auch nicht anderswo sehen.«

So wurde es auch eingehalten, aber das Gegenteil wäre ihm auch schwer geworden. Denn schon nach durch Woche war die Verbindung zwischen beiden Ufern nur noch durch Kähne möglich und die Überfahrt nicht ungefährlich. Miriam hörte auch sonst von ihrem Bräutigam nichts; er war sogar feinfühlig genug, ihr kein Geschmeide zu senden. Auch die Aussteuer, die Rachel für sie besorgte, beschränkte sich auf das Notwendigste. So fehlte dieser Brautzeit aller Duft, alles Licht. Grau und düster, wie Himmel und Erde, war auch das Leben in der engen Hütte.

Wenn der Vater sie ansah, wie sie so mit stillem, erstem Antlitz, von der Trauer und der ungewohnten Stubenluft noch immer bleich, am Fenster der Kammer saß und bei dem kärglichen Licht dieser häßlichen Herbsttage an ihrer Aussteuer nähte, schwebte ihm oft die Frage auf den Lippen, ob sie ihren Entschluß nicht bereue. Er kämpfte lange, bis ihm die Worte doch einmal – es war am Donnerstagabend, und am Sonntag sollte, wenn nur der Bräutigam aus seinem Hause nach dem Marktflecken gelangen konnte, die Hochzeit sein – laut auf die Lippen traten.

»Nein«, erwiderte sie und hielt seinen prüfenden Blick ruhig aus. »Was hätte sich auch geändert, daß ich es bereuen sollte?!«

Der folgende Tag war jener erste sonnige Tag nach dem langen Düster. Er zauberte überall eine andere, hellere Stimmung in den Gemütern hervor, bei diesen beiden Menschen versagte seine Kraft. Blieb es noch die beiden nächsten Tage andauernd schön, dann konnte die Hochzeit sicherlich am Sonntag stattfinden – Vater und Kind wurden dadurch weder schmerzlich noch freudig erregt.

Dem sonnigen Tage folgte eine klare, helle, kalte Nacht. Leib blieb bis Mitternacht auf dem Bänkchen vor der Hütte seines Schwagers sitzen; er empfand die Kälte nicht, [265] auch kein Bedürfnis nach Schlaf. Es war nur wieder eine in der langen Reihe von Nächten, da er den Schlummer vergeblich ersehnte. Aber heute war noch minder daran zu denken als sonst. Der Pope war am Vormittag wieder bei ihm gewesen und hatte neuerdings in ihn gedrungen, die Bürgschaft für den Janko zu übernehmen, diesmal in beweglicheren Worten als das letzte Mal.

»Der Mensch geht im Kerker zugrunde«, sagte er ihm. »Wenn du ihn sehen könntest, du hättest Mitleid mit ihm, auch wenn dein herz von Stein wäre. Und du hast ein weiches, gutes Herz, Leibko. Denk daran, wie viel Gutes du ihm schon im Leben erwiesen hast und füge diese größte, letzte Wohltat hinzu. Du kannst es ruhig tun, er ist ein anderer Mensch geworden, so traurig und ergeben! Er weiß ja – ich habe es ihm gesagt –, daß deine Tochter am Sonntag heiratet; er hat nur leise aufgeseufzt, aber nichts gesagt, geschweige denn gedroht oder getobt. Du läufst also gar keine Gefahr dabei. Auch verlange ich deine Bürgschaft so, daß er erst am Montag frei wird. Da ist deine Tochter bereits Herrin in einem großen, wohlbehüteten Hause – was kann ihr da geschehen?!«

Leib hatte sich abermals Bedenkzeit erbeten, diesmal bis zum Sonntagmorgen. Und nun saß er in der stillen Nacht und lauschte und lauschte in sich hinein. Aber er konnte auch nun nicht erkunden, was er ihm befahl.

Am nächsten Morgen fragte ihm Miriam, warum er so lange schlaflos geblieben. »Woher weißt du das?« war seine besorgte Gegenfrage.

»So kurz vor der Hochzeit schlafen wohl die wenigsten Bräute«, erwiderte sie gepreßt. Dann aber drang sie in ihn, ihr zu sagen, was der Pope von ihm gewollt.

Da gestand er es ihr endlich. Sie wurde um einen Schatten bleicher und sagte dann:

»Ich bin nur ein dummes Mädchen, aber weißt du, was ich an deine Stelle täte? Ich würde Reb David fragen, ob er sich vor dem Janko fürchtet. Sagt er nein, so darfst du das gute Werk tun.«

»Du hast recht«, sagte er erfreut, »so will ich's machen.«

Am Sonntag – es war abermals ein klarer, schöner Tag – ließ er sich schon in aller Frühe über den Fluß setzen; [266] die Schiffbrücke war noch immer nicht passierbar. Reb David war erstaunt, als ihm Leib sein Anliegen vortrug; von der Leidenschaft des Janko für Miriam wußte er ja längst, nicht aber, daß er je so furchtbare Drohungen ausgestoßen.

»Ihr tätet es wohl gern?« fragte er dann lächelnd. »Es sieht Euch ähnlich, Reb Leib! Gutes für Böses, Trost für ein Unglück, das er sich selbst bereitet hat. Aber ob ich Euch den Gefallen tun kann, weiß ich nicht. Ich geb Euch hier einen Brief an den Bezirksrichter mit, er soll Euch sagen, ob der wilde Mensch wirklich so zahm geworden ist, wie der Pope sagt. Natürlich soll er aber erst morgen freikommen.«

Die Antwort des Richters lautete beruhigend: »Zahm wie ein Pudel. Du kannst ruhig unterschreiben, Leibko. Unter uns gesagt, du tust damit nicht bloß ein gutes Werk, sondern auch mir einen Gefallen. Ich fürchte wirklich, er geht mir hier sonst zugrunde.«

So setzte Leib in hebräischen Buchstaben seinen Namen unter die Bürgschaft neben den des Popen. »Aber er wird wirklich erst morgen frei?« fragte er besorgt.

»Morgen!« beruhigte ihn der Richter.

Am Nachmittag kamen Reb David und seine Schwester im Kahn über den Dnestr gefahren, und die Trauung fand im Hause des Rabbi statt, wie es bestimmt war. Nur währte das Hochzeitsmahl doch etwas länger, als der Bräutigam es gewünscht. Er trank und aß wenig, die Braut, die mit stillen, ernsten Mienen im Kreise der Frauen dasaß, fast nichts, aber die anderen Gäste desto mehr. Er ließ Miriam aus dem Weiberzimmer holen, sobald es irgend ging, aber es war doch bereits tiefe Dunkelheit, als er mit seiner Neuvermählten den Kahn bestieg, der sie in sein Haus tragen sollte, das jenseits der breiten, dunklen Flut hellschimmernd herübergrüßte.

»Du mußt vorsichtig rudern, Michalko«, sagte er dem Knecht, der im Boot, auf der Ruderbank zusammengekauert, ihrer harrte. »Du weißt doch? Auf die Pappeln zu! Sonst trägt uns die Strömung zu weit ab!«

Der Mann murmelte etwas Unverständliches und stieß ab.

»So leid es mir tut, du mußt dich recht weit von mir [267] setzen«, sagte Reb David scherzend zu seinem jungen Weibe, »in die Mitte hin, sonst schaukelt der Kahn zu stark.«

Sie tat es, aber das Schaukeln ward immer stärker, und nun zog der Knecht die Ruder ein und erhob sich.

»Was treibst du, Michalko?!« rief Reb David erschreckt. »Bist du betrunken?!«

»Miriam!« Im nächsten Augenblick hatte Janko Wygoda die Entsetzte umfaßt. »Ein Grab ...«

Eine Sekunde später schlug der Kahn um, und die drei Gestalten versanken in der dunklen, kalten Flut.

Das Hochzeitsmahl ging ungestört weiter; erst als nach zwei Stunden die Schwester Reb Davids heim kam und die Neuvermählten nicht im Hause fand, erkannte sie, daß ein Unglück geschehen, fuhr wieder zurück und störte die Fröhlichen auf.

»Der Janko!« stöhnte Leib und brach ohnmächtig zusammen.

Am nächsten Morgen konnte der Bezirksrichter in seinem Protokoll alles aufs beste aufklären; der Kerkermeister hatte seinen Gefangenen eigenmächtig schon am Nachmittag des Sonntag entlassen, und der Michalko war, statt auf der Ruderbank zu harren, in die Schenke am Ufer gegangen. Aber davon wurden Reb David und sein junges Weib nicht wieder lebendig.

Leib Weihnachtskuchen hatte nach dem Tode seines Weibes viel geweint; diesmal fand sein Auge keine Tränen. Stumm, mit starren, blassen Mienen saß er auf demselben Schemel, wo er die Totenwacht um Chane gehalten und blickte in die zuckende Flamme des Seelenlichts. »Sucht! sucht!« – stieß er dann immer angstvoll hervor. Die Hände hingen schlaff herab, nur manchmal griff er sich ans Herz, als empfinde er da einen ungeheuren Schmerz.

Zwei Tage später war sein brennender Wunsch erfüllt, da wurden die Leichen aus dem Strom gehoben. Zuerst die Reb Davids allein, dann jene Miriams und des Janko. Er hatte ihre Hand im Todeskampf erfaßt, und seine starre Rechte umkrallte die ihre noch immer. Mit Mühe lösten sie die Umischlingung.

Als man Leib meldete, daß das letzte, was er noch auf Erden wünschen konnte, erfüllt sei, nickte er still vor sich [268] hin; er erhob die Augen zum Himmel, und sein Antlitz ward wieder friedlich. Auch hatte er die Kraft, der Leiche bis ans Grab zu folgen. Als die ersten Schollen niederfielen, zuckte er zusammen, die Tränen flossen über das Antlitz, und er rief mit markerschütternder Stimme:

»Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn ...«

Das letzte konnte Leib Weihnachtskuchen nicht mehr sagen. Er preßte die Hand aufs Herz und brach tot zusammen.

[269]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Franzos, Karl Emil. Erzählungen. Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B250-C