Théophile Gautier
Mademoiselle de Maupin
(Mademoiselle de Maupin)

1. Der Chevalier d'Albert an seinen Freund Silvio

[9] I
Der Chevalier d'Albert
an seinen Freund
Silvio

Lieber Freund, du beklagst dich über meine Schreibfaulheit. Aber was soll ich dir denn schreiben? Daß es mir gut geht und daß ich dir immerdar treugesinnt bin? Das weißt du auch so. Wenn man jung ist, versteht sich das von selbst. Es wäre also geradezu lächerlich, ein Blatt Papier in die weite Welt hinauszujagen, das nichts weiter verkündet als bloß dies. Wie sehr ich auch nachdenke, ich finde nichts, was der Mühe lohnte, berichtet zu werden. Mein Leben ist so gleichmäßig wie nur möglich. Nichts durchbricht seine Eintönigkeit. Das Heute fließt in das Morgen über wie das Gestern in das Heute. Ohne ein Prophet sein zu wollen, kann ich an jedem Morgen getrost voraussagen, was mir der Abend bringen wird.

Ich stehe auf. Das ist selbstverständlich. Damit beginnt eben der Tag. Ich frühstücke, mache ein paar Florettstöße, gehe ein wenig spazieren und komme wieder zurück. Ich esse zu Mittag, mache ein paar Besuche oder lese etwas. Einen wie alle Tage zur nämlichen Stunde gehe ich zu Bett. Ich schlafe ein, und da meine Phantasie durch neue Dinge nicht befruchtet worden ist, träume ich immer wieder die alten oft schon dagewesenen Träume, die ebenso einförmig sind wie mein tatsächliches Leben. Das alles ist nicht sehr ergötzlich. Indessen [9] finde ich mich mehr und mehr in dieses Dasein, das ich nun schon seit einem halben Jahre führe. Ich langweile mich, gewiß, das ist nicht zu leugnen, aber in einer friedsamen, resignierten Art und Weise, die fast etwas Glückseliges in sich hat: das Wonnige, Süße der blassen lauen Herbsttage, das einem nach der sonnengrellen Sommerglut so unsäglich wohltut.

Dieses Dasein, in das ich mich offenbar ergeben habe, ist gleichwohl kaum das rechte für mich. Zum mindesten entspricht es nicht dem Leben, das ich mir erträume, für das ich mich geschaffen halte. Vielleicht täusche ich mich über mich selber, und ich eigne mich gerade für ein solches Hindämmern. Es fällt mir indessen schwer, es zu glauben. Wäre ich wirklich dazu bestimmt, dann müßte ich mich leichter dareingeschickt und mich zu Anfang nicht so qualvoll beengt gefühlt haben.

Das Abenteuerliche und Fremde übt eine mächtige Wirkung auf mich aus. Ich vergöttere alles Sonderliche, Maßlose, Gefahrvolle. Romane und Reisebeschreibungen verschlinge ich. Vielleicht gibt es keine so üppige zigeunerhafte Einbildung wie die meine. Muß es mir da nicht wie ein Verhängnis erscheinen, daß ich niemals ein Abenteuer erlebt, nie eine große Reise gemacht habe? Meine weiteste Reise ist immer wieder nur der Rundgang um die Stadt, in der ich wohne. Mein Daseinskreis ist in jeder Richtung buchstäblich greifbar. Ich führe das Leben des Heimchens am Herde. Wahrlich, ich wundere mich, daß meine Füße noch nicht im Boden Wurzeln geschlagen haben.

Ich habe einen Diener, einen recht tölpeligen und ziemlich dummen Burschen vom Lande. Aber der Kerl kennt die ganze Welt. Ich glaube, er ist sogar schon beim Teufel gewesen. Alles, was ich mir in Märchenfarben vorträume, hat dieser Mensch mit seinen blöden Augen wirklich gesehen, ohne daß es ihn auch nur ein bißchen aus dem Gleichgewicht gebracht [10] hätte. Er hat sich in den verrücktesten Umständen befunden. Er hat die erstaunlichsten Abenteuer erlebt, die einem überhaupt zustoßen können. Zuweilen lasse ich ihn erzählen. Dann zapple ich vor Wut, daß alle diese Wunder solch einem Idioten widerfahren mußten, der keines höheren Gefühls, keines gescheiten Gedankens fähig ist, sondern gerade nur gut zu seinem Dienste, zum Kleiderklopfen und Stiefelputzen.

Unleugbar hätte sein Leben eigentlich meins sein müssen. Dabei findet mich dieser Mann beneidenswert und kann sich vor Verwunderung nicht lassen, wenn er mich trübsinnig sieht.

Irgendwie anregend ist das alles nicht und kaum wert, niedergeschrieben zu werden. Das gibst du mir wohl zu? Aber da du durchaus willst, daß ich es aufzeichne, so will ich dir erzählen, was ich denke und was ich fühle. Aus Mangel an Erlebnissen und Taten werde ich dir meine Innenwelt vorführen. Vielleicht ist es recht unbedeutend und auch nicht weiter neu, was ich Dir zu sagen habe. Aber du willst es ja hören. Du bist mein Jugendfreund; wir sind zusammen erzogen worden. Unser beider Leben war lange Zeit ein und dasselbe. Wir sind gewohnt, die geheimsten Gedanken einander auszutauschen. Ich kann dir also, ohne zu erröten, all das dumme Zeug berichten, das mein berufsloses Hirn durchkreuzt. Ich will kein Wort zu viel und keins zu wenig nehmen. Vor dir bin ich nicht eitel. Ich werde also offen und ehrlich sein, bis ins Kleinste und Beschämendste. Wozu sollte ich mich vor dir anders hinstellen als ich bin?

Hinter dem gleichmütigen, gelangweilten äußeren Menschen, den ich dir eben geschildert habe, regt sich zuweilen eine – nicht schon ganz gestorbene, aber wohl gewissermaßen eingerostete Idee. Höre zu! Ich bin nicht immer der sanfte, verzichtende Melancholiker! Ich habe meine argen Rückfälle, die mich [11] in einen anscheinend überwundenen aufgeregten, sehnsuchtschweren, qualvollen Zustand zurückversetzen. Ach, nichts macht mehr matt als diese Unruhe, die keine Beweggründe hat, als dieses heiße Sichverzehren nach ... man weiß selber nicht was! An solchen Tagen stehe ich sehr früh auf, obgleich ich nicht mehr und nicht weniger vorhabe als sonst; noch vor Sonnenaufgang. Ich habe das Gefühl, als hätte ich es ungeheuer eilig, als wüßte ich gar nicht, woher ich die nötige Zeit nehmen solle. Ich kleide mich in höchster Eile an, als ob es im Hause brenne, ziehe an, was ich gerade ergreife, und jammere über jede verlorene Minute. Wenn mich jemand dabei beobachten könnte, müßte er denken, ich wolle zu einem Stelldichein oder Geld holen. Keineswegs. Ich weiß nicht einmal, wohin ich gehen werde. Nur fort muß ich. Auf jeden Fall. Es ist mir, als riefe man mich hinaus, als wandle das Schicksal draußen auf der Straße, als wäre der Wendepunkt meines Lebens da.

Verstört und aufgeregt stürme ich hinunter, Haar und Anzug noch in Unordnung. Die Leute drehen sich nach mir um und lachen über mich. Man hält mich für einen jungen Leichtfuß, der die Nacht in einer Kneipe oder wer weiß wo durchgebracht hat. Ich bin auch wirklich berauscht, obgleich ich nichts getrunken habe. Ich laufe sogar unsicher wie ein Bezechter, bald langsam, bald rasch. Wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat, renne ich durch die Stadt, aufs Geratewohl suchend, rastlos, im höchsten Grade aufmerksam. Beim geringsten Geräusch wende ich mich um. Wo ein Zusammenlauf ist, dränge ich mich dazu, ohne auf das Geschimpfe der Leute zu hören, die ich anstoße. Und dabei bemerke ich alle Vorgänge mit einer Hellsicht, die ich sonst nicht kenne. Dann mit einem Male wird es mir klar, daß ich irre gehe, daß das, was ich suche, ganz sicher nicht hier ist, daß ich wo ganz anders hinmuß, ans andere Ende der Stadt ... was weiß ich? Von neuem [12] laufe ich los, als wäre mir der Teufel auf den Socken. Kaum berühre ich den Erdboden mit meinen Fußspitzen, Wie eine Feder so leicht, fliege ich hin. Ich muß wahrlich einen sonderbaren Anblick abgeben, aufgeregt und gehetzt, wie ich aussehe, mit den Armen herumfuchtelnd und unverständliche Laute ausstoßend. Bin ich schließlich wieder in kühler Gelassenheit, so lache ich mich selber herzlich aus, und doch hält mich das nicht ab, daß ich mich demnächst genau wieder so, benehme. Wollte mich jemand fragen, warum ich so eile, so würde ich gewiß in die größte Verlegenheit geraten, was ich antworten solle. Ich habe ja kein Ziel, keinen Anlaß zum Hasten. Niemand wartet auf mich.

Was fehlt meinem Leben? Was suche ich in dunklem Drange? Ein Weib, ein Abenteuer, geistige Beschäftigung, Gelderwerb? Will ich meine Existenz erweitern? Ist es das Verlangen, mich von meinem Heim, von meinem Ich zu erlösen? Bin ich meiner Lebensweise überdrüssig? Sehne ich mich nach einer andern?

Etwas hiervon ist es, vielleicht alles zusammen. Auf jeden Fall ist mein Zustand ganz abscheulich: eine fieberhafte Aufgeregtheit, der gewöhnlich die ödeste Teilnahmlosigkeit folgt. Mitunter quält mich der Gedanke, daß ich eine Stunde früher zur rechten Zeit gekommen wäre. Ich hätte noch einmal so rasch gehen müssen oder einen andern Weg! Ich hätte mich durch nichts aufhalten lassen sollen! So aber habe ich das Gesuchte, dem ich schon so lange ins Blaue hinein nachjage, wieder verfehlt!

Die tiefste Schwermut, die düsterste Verzweiflung umfängt mich, wenn ich sehe, daß alles das zu keinem Ziele führt, daß mir meine Jugend entschwindet, ohne daß mir irgendeine Befriedigung zuteil wird. Dann fahren die hungrigen Leidenschaften in meinem Herzen jäh auf und zerfleischen einander [13] wie die Bestien im Tiergarten, wenn der Wärter vergessen hat, ihnen ihr Fressen vorzuwerfen. Bei allen den mich insgeheim schwer bedrückenden Enttäuschungen lebt und webt etwas in mir, das sich nicht unterkriegen und morden läßt. Hoffnung ist es nicht, denn um zu hoffen, muß ein Wunsch da sein, eine ausgesprochene Sehnsucht, daß sich die Dinge nach einer gewissen Richtung wenden möchten. Ich wünsche nichts, weil ich mir alles wünsche. Etwas Bestimmtes erhoffen, kommt mir töricht vor. Und was um mich existiert, ist mir im höchsten Maße gleichgültig.

Ich warte. Worauf? Das weiß ich nicht. Aber ich warte. Es ist ein banges Harren, voller Ungeduld, Unruhe, Nervosität. So muß der Zustand eines Verliebten sein, der seine Geliebte erwartet. Niemand kommt. Ich gerate in Wut oder fange an zu weinen. Ich warte auf eine überirdische Offenbarung durch ein himmlisches Wesen. Eine Revolution könnte kommen und mich zum Welteroberer machen. Die Sixtinische Madonna könnte aus ihrem Rahmen steigen und mich küssen. Mir bisher unbekannte Verwandte könnten sterben und mir alle Schätze aus Tausend und Eine Nacht vermachen. Ein Flügelroß könnte herbeifliegen und mich nach sagenhaften Gegenden entführen ... Ach, worauf ich auch warten mag: etwas Alltägliches und Mittelmäßiges ist es ganz gewiß nicht.

Mein Wahn beherrscht mich dermaßen, daß ich jedesmal, wenn ich nach Haus komme, fragen muß: »Niemand dagewesen? Auch kein Brief gekommen? Sonst nichts Neues?« Ich weiß ganz genau, daß nichts da ist, daß nichts da sein kann. Einerlei. Ich bin immer arg verwundert und stark enttäuscht, wenn ich die gewohnte Antwort vernehme: »Nein, nichts, gar nichts!«

Manchmal, doch das ist ziemlich selten, wird das Ziel meiner Sehnsucht bestimmter. Irgend eine schöne Frau wird da sein, eine Unbekannte, die mich nicht weiter kennt, die mich im Theater, [14] in der Kirche, irgendwo, flüchtig, im Vorübergehen gesehen hat. Ich laufe durch das ganze Haus, und bis ich nicht auch in das letzte Zimmer geschaut habe, – kaum wage ich es zu sagen, so toll ist das! – glaube ich, daß sie gekommen ist und daß sie wartet! Dabei bin ich keineswegs eingebildet. Im Gegenteil. Verschiedene Male habe ich durch Dritte erfahren, daß mir die oder jene Dame insgeheim, zärtliche Gedanken gewidmet hat, während ich der Meinung gewesen, sie mache sich gar nichts aus mir. Zu vermuten, daß sie sich für mich interessiert, hätte ich nie gewagt. Das ist es also nicht!

Tagelang träume ich mir die seltsamsten Umstände aus, unter denen ich mit der ersehnten Unbekannten in unvorhergesehener mich beglückender Weise bekannt werden möchte. Alle die Ränke und Listen, die ich ersinne, um mich bei ihr einzuführen und ihr meine Liebe zu gestehen, würden einen dickeren und amüsanteren Band füllen als die hundert Historien des Messer Boccaccio oder die Abenteuer des Seigneur Casanova.

Nach allen diesen Bekenntnissen könnte man mich reif fürs Narrenhaus halten. Aber trotzalledem bin ich äußerlich ein ganz vernünftiger Mensch. Meine tollen Phantasien setzen sich nicht in Taten um. Alle meine Bizarrerien bleiben sorglich behütet im tiefsten Grunde meiner Seele verborgen. Niemand merkt etwas davon. Ich gelte allgemein für eine kühle, stille Natur, für einen Weiberfeind, für einen jungen Mann, der sich den dummen Streichen seiner Altersgenossen fernhält. Ein neuer Beweis, wie unzulänglich und grundfalsch das Urteil der Welt zu sein pflegt!

So viele schöne Dinge mir wohl entgangen sein mögen, einige meiner Wünsche haben sich doch erfüllt. Da mir diese Erfüllungen aber sehr wenig Genuß bereitet haben, so fürchte ich mich längst vor der Verwirklichung meiner übrigen Träume.

[15] Mit brennender Begierde, wie ein Kind, wünschte ich, mir ein gutes Reitpferd. Vor kurzem hatte mir meine Mutter eins geschenkt, genau so eins, wie ich mir ersehnt hatte: einen englischen Vollblüter, eine schnittige Rappenstute, kohlpechrabenschwarz, einen kleinen weißen Stern auf der Stirn, wundervoll fein im Haar, mit prächtigem Fasanenschweif und langer seidiger Mähne. Als mir das Tier zum ersten Male vorgeführt ward, konnte ich eine Weile kein Wort hervorbringen. Blaß und zitternd stand ich da. Dann aber ging es in den Sattel, und, noch immer wortlos, galoppierte ich hinaus ins Freie. Länger als eine Stunde stürmte ich querfeldein. Meine Freude war unbeschreiblich! So trieb ich es über eine Woche lang. Heute wundert's mich, daß die Stute dabei kein Bein gebrochen hat oder nicht mindenstens kreuzlahm geworden ist. Allmählich legte sich meine Passion. Bald machte ich meine Ausritte im Trabe, dann im Sehritt, und jetzt reite ich so gemächlich des Wegs dahin, daß mir der Gaul mitunter stehen bleibt, ohne daß ich's merke. Überraschend schnell ist der Genuß zur Gewohnheit geworden.

Ich habe die Stute Beatrice getauft. Ein entzückendes Tier. Voll Temperament und doch lammfromm. Wenn sich mein Reitkoller auch ziemlich gelegt hat, so liebe ich das Pferd doch über die Maßen. Es hat einen liebenswürdigen Charakter. Ich ziehe es aufrichtig vielen Menschen vor. Wenn ich in den Stall komme, wiehert es mir entgegen und schaut sich mit seinen klugen Augen nach mir um. Diese Zeichen der Zuneigung rühren mich. Ich fasse meine Beatrice um den Hals und küsse sie so zärtlich, als wäre sie ein schönes Mädchen.

Lange Zeit hatte ich noch einen andern Wunsch, einen glühend heißen, wilden Wunsch, der niemals einschlummerte und den ich mit tausend zärtlichen Träumereien nährte. Er wohnte in dem wunderbarsten Märchenschloß meiner Phantasie, das [16] oft genug in sich zusammensank, das ich aber mit der Geduld der Verzweiflung immer wieder neu aufbaue. Ich wünschte mir eine Geliebte, eine Geliebte, besonders für mich geschaffen. Wenn sich mir dieser Wunsch erfüllt hätte, ich weiß nicht, ob es mir so ergangen wäre wie mit dem Pferd? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nein, sicherlich nicht! Oder sollte ich doch unrecht haben, und wäre die Ernüchterung ebenso rasch gekommen? Es ist ganz eigentümlich: was ich begehre, begehre ich leidenschaftlich, und doch rühre ich keinen Finger, um es zu erringen. Gelange ich aber durch einen Zufall oder sonstwie in den Besitz des Ersehnten, dann verfalle ich so sehr in seelische Öde, Willensmangel und Unlust, daß es mir an der Kraft zum Genüsse gebricht. Daher kommt es, daß mir das, was mir unvorhergesehen zuteil wird, meist mehr Freude bringt als langerträumte Dinge.

Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt. Nicht mehr unschuldig. Ach, in unsrer Zeit ist man das in meinem Alter nicht mehr, weder körperlich noch (was viel schlimmer ist) seelisch. Abgesehen von den gekauften Dirnen, bei denen ich mir die bloße Sinnlichkeit befriedigt, habe ich hier und da in stillen Winkeln auch etliche anständige Frauen gehabt oder solche, die dafür galten. Sie waren weder schön noch häßlich, weder jung noch alt. Wie sie einem jungen Manne, der nichts im Kopf und nichts im Herzen hat, just in die Arme laufen. Mit etwas gutem Willen und einer ordentlichen Dosis romantischer Einbildung nennt man das Geliebte. Ich, ich habe es nicht vermocht. Tausende von dieser Sorte ... und meine Sehnsucht bliebe doch ungestillt wie zuvor!

Ich habe also noch keine Geliebte gehabt. Gleichwohl ist es mein höchster Wunsch, eine zu besitzen. Dieser Gedanke quält mich in seltsamster Weise. Nicht, daß meine Natur darnach verlangte, daß mein Blut wallte, daß meine Jugend es erheischte! [17] Nicht Frauen begehre ich, sondern eine Frau, eine Geliebte! Die will ich und die werde ich finden und nicht weit von hier! Gelingt mir das nicht, dann bin ich ein gebrochener Mann, dann werde ich mich im geheimen vor mir selber fürchten, und eine dumpfe Mutlosigkeit wird schwer auf mir lasten, so lange ich noch lebe. Dann muß ich mich in vielerlei Beziehung für mangelhaft, für zerrissen oder für sonderlich halten, für eine körperliche wie seelische Mißgeburt. Im Grunde fordere ich nichts als mein gutes Recht, nichts, was die Natur nicht jedem schuldig wäre. Solange mein Traum unerfüllt bleibt, will ich mich als ein Kind betrachten und auf das Selbstbewußtsein des Mannes verzichten, das ich längst haben müßte. Eine Geliebte ist für mich das, was dem jungen Römer die Toga virilis war.

Wenn ich sehe, daß eine Unmenge Männer, die in jeder Hinsicht unvornehm sind, schöne Frauen haben, Frauen, deren Lakaien zu sein sie nicht einmal wert wären, dann steigt mir Zornesröte ins Gesicht – ihretwegen und meinetwegen. Ich habe eine erbärmliche Meinung von den Frauen, da ich sehe, wie sie sich in den ersten besten Trottel vernarren, der sie mißachtet und betrügt, anstatt daß sie sich einem schlichten treuen jungen Menschen schenkten, der überglücklich wäre und in der Geliebten eine Heilige sähe. Mir zum Beispiel! Es ist wirklich wahr: während jene die Salons überfluten und den Frauen den Hof machen, stehe ich zu Haus am Fenster, drücke das Gesicht gegen die Scheiben und schaue hin, wie der Fluß dampft und die Nebel steigen. Dabei baue ich in meinem Herzen an dem weihrauchduftenden Heiligtum, dem Wundertempel, den meine künftige Göttin bewohnen soll. Eine keusche Romantik, für die einem freilich die Frauen recht wenig Dank wissen!

Die Frauen haben keinen Sinn für die beschaulichen Naturen unter uns. Sie schätzen den Tatenmenschen merkwürdig [18] hoch ein. Im Grunde haben sie damit nicht ganz unrecht. Erziehung und gute Sitten gebieten ihnen stumm zu warten. So geben sie natürlich dem Manne den Vorzug, der zu ihnen kommt und redet. Er macht ihrer unwahren, langweiligen Rolle ein Ende. Ich weiß das wohl, aber niemals in meinem Leben brächte ich es über mich, wie ich es von vielen andern sehe: in einer Gesellschaft meinen Platz zu verlassen, quer durch den Salon auf eine Dame loszugehen und ihr unvermittelt ins Gesicht zu sagen: »Gnädige Frau, in diesem Kleide sehen Sie aus wie ein Engel!« oder »Ihre Augen schimmern heut abend ganz eigentümlich!«

Das hat aber eigentlich gar nichts damit zu tun, daß ich unbedingt eine Geliebte haben muß. Ich weiß nicht, wer sie sein wird. Unter meinen Bekannten wüßte ich keine, die sich zu dieser hohen Würde eignete. Sie haben samt und sonders herzlich wenig von dem, was ich begehre. Die leidlich jung wären, denen fehlt es an körperlicher Schönheit oder an geistigen Gütern. Manchmal sind sie jung und hübsch, aber sie haben irgend etwas Gewöhnliches oder Unangenehmes im Wesen, oder sie sind mir nicht beweglich genug. Obendrein ist immer der Ehemann, der Bruder, die Mutter, irgendeine Tante oder weiß der Teufel wer da, mit glotzenden Augen und gespitzten Ohren, mit denen man sich gutstellen soll oder die man wegekeln muß. Keine Rose ohne Dornen – und kein Weib ohne eine Schar von Verwandten! Erst wenn man sich geschickt davon befreit hat, kann man sich seines Sieges freuen. Die allerentferntesten Vettern aus den gottvergessensten Nestern, Leute, die sich sonst kaum haben blicken lassen, tauchen urplötzlich auf, um die keusche Unschuld einer geliebten Base ewig unberührt zu erhalten. Das ist widerlich. Nie werde ich die nötige Geduld haben, all das Unkraut auszurotten und all die Hindernisse zu beseitigen, die den Weg zu jedwedem hübschen Weibe sperren.

[19] Frauen, die schon Kinder gehabt haben, mag ich nicht besonders. Junge Mädchen gleich gar nicht. Aber ich muß gestehen, auch die jungen Frauen reizen mich nicht absonderlich. Es ist da Unklarheit und Halbheit mit im Spiele, und das empört mich. Der Gedanke, die Geliebte mit einem Andern zu teilen, wäre mir unerträglich. Für einen von beiden, für den Geliebten oder den Gatten, ist sie doch die Dirne, die sich preisgibt. Oft für alle beide. Es wäre mir unmöglich wegzugehen, weil der Andre kommt. Ich bin viel zu stolz, um eine derartige Selbsterniedrigung zu ertragen. Und wenn ich die Frau dadurch gefährdete, wenn sie verloren wäre, wenn ich über ihren Leib hinweg mit dem Andern kämpfen müßte, um Leben oder Tod, – ich bliebe! Hintertreppen, Wandschränke, kleine Kämmerchen und all die schlauen Rückzugswege der Ehebrecher wären mir schlechtweg zu armselig!

Wenig Geschmack finde ich an der sogenannten jungferlichen Frische, kindlichen Unschuld und ähnlichen entzückenden Dingen. Die machen sich wunderhübsch in lyrischen Almanachen. Für mich ist es Albernheit, Unerfahrenheit, Stumpfsinn oder Heuchelei. Solche Jungfräulichkeit, die sich immer bloß auf die Stuhlkante setzt, mit niedergeschlagenen Augen und steif angezogenen Armen, die nur zu lispeln wagt, wenn es die Großeltern erlauben, – solche Primitivität, mit dem üblichen glatt hinausgekämmten Haar und dem weißen Kleidchen, – solch kindliche Einfalt, die ihr hochgeschlossenes Kleid doch nur trägt, weil sie an Hals und Schultern noch nichts zu zeigen hat: Verführerisches finde ich daran wahrlich nicht!

Ich sehe keinen Reiz darin, einem kleinen Dummchen das Liebesalphabet beizubringen. Um Vergnügen hierbei zu finden, bin ich nicht alt und nicht verdorben genug. Außerdem würde es mir gar nicht gelingen. Habe ich doch nie jemanden etwas lehren können. Nicht einmal Dinge, in denen ich Meister [20] war. Ich gebe mich lieber mit Frauen ab, die fließend lesen können. Mit ihnen kommt man schneller zum Ende des Kapitels. Bedenke das Ende! Das ist nun einmal bei jedem Ding die Hauptsache, ganz besonders aber in der Liebe, Ich gehöre somit gleichsam zu den Leuten, die einen Roman auf der letzten Seite beginnen, um erst einmal zu sehen, wie die Geschichte ausgeht. Man blättert wohlgemut von hinten nach vorn und dann erst von vorn nach hinten. Diese Art zu lesen und zu lieben hat ihre Vorzüge. Man genießt die Einzelheiten viel inniglicher, wenn man über das Ende beruhigt ist. Unerwartetes bringt in Verwirrung.

Die jungen Mädchen und die verheirateten Frauen streiche ich also von der Liste. Blieben mir die Witwen bei der Wahl meiner Göttin! Die letzte Rettung! Indessen, ich fürchte, auch unter ihnen finde ich die Gesuchte nicht.

Verliebte ich mich in solch eine tränenbetaute blasse Trauerrose, die sich in graziöser Melancholie über den Grabstein ihres jüngst glücklich verschiedenen Gatten beugt, so würde ich sicherlich, und zwar in kürzester Frist, genau so unglücklich sein, wie es der Selige zu seinen Lebzeiten war. So jung und reizvoll Witwen sein mögen, eine fürchterliche Schattenseite haben sie doch den anderen Frauen gegenüber. Steht man sich nicht ganz vorzüglich mit ihnen, so heißt es beim Anzug jedweden Wölkchens am Liebeshimmel immer gleich hochmütig und verachtungsvoll: »Wie du nur heute bist! Genau wie Felix! Wenn er sich mit mir zankte, hatte er genau dieselben Redensarten. Merkwürdig, du hast ganz seine Stimme. Auch denselben Blick. Offenbar hast du keine Ahnung, wie sehr du ihm ähnelst, wenn du böse bist! Richtig zum Fürchten!« Es ist kein Vergnügen, derlei ins Gesicht gesagt zu bekommen! Manche treiben die Taktlosigkeit noch weiter. Sie schwärmen von dem Toten mit der Geschwätzigkeit einer [21] Leichenrede. Er habe über ein besseres Herz verfügt und über schönere Beine als unsereiner. Hingegen mit Frauen, die bloß einen Geliebten, oder auch mehrere, gehabt haben, hat man den unschätzbaren Vorteil: sie verhimmeln den Vorgänger nie in unsrer Gegenwart. Das ist viel wert. Frauen sind Legitimisten. Man ist stets der erste Geliebte. Unbedingt.

Meine tiefe Abneigung ist schwer zu erschüttern. Ich gebe gern zu: Witwen ermangeln durchaus nicht eines gewissen Reizes, Wenn sie jung und hübsch sind – und noch Trauer tragen. Sie haben etwas allerliebst Schmachtendes im Gesicht, eine reizende Lässigkeit in ihren Gliedern, bestimmte amoureuse Bewegungen des Kopfes und Rückens. Unter dem durchsichtigen Krepp treiben tausend Verführungskünste ihr Spiel. Mit der Trostlosigkeit läßt sich wunderbar kokettieren. Im passenden Augenblick ein Seufzer, ein paar schimmernde Tränen im rechten Moment, das hat seine Wirkung! Tatsächlich, nach dem Wein, oder sagen wir: neben ihm, ist mir der Tau, der an einer braunen oder blonden Frauenwimper glitzert, der köstlichste Trank. Kann man da kalt bleiben? Niemals!

Schwarz steht überhaupt den Frauen gut. Weiße Haut, an und für sich schon ein holdes Wunder, glänzt im schwarzen Rahmen wie Elfenbein, wie Schnee, wie Alabaster. Braune Haut erscheint heller und matter und läßt die Glut und das wilde Blut darunter nur noch leise ahnen. In Trauer machen alle Frauen Eroberungen! Schon deswegen möchte ich mich niemals verheiraten, weil ich fürchtete, meine Ehegattin könnte sich meiner entledigen, lediglich, um in Schwarz gehen zu dürfen. Allerdings, man muß auch das Weinen verstehen. Mit einer roten Nase kann man lange auf Trost warten.

Man wird fragen: Jungfrauen liebt er nicht, verheiratete junge Frauen nicht, Witwen nicht! Mütter nicht, also Großmütter erst recht nicht! Zum Teufel, was liebt er denn?

[22] Schwer zu sagen! Wenn ich das wüßte, würde ich mich nicht so sehr quälen. Bis jetzt habe ich keine Frau geliebt. Ich habe die Liebe geliebt und liebe sie noch. Obgleich ich also eine Geliebte noch nicht geliebt habe, – die Frauen, die ich besessen, haben in, mir nur Sehnsucht nach Liebe erweckt, – weiß ich doch, was Liebe ist. Ich habe sie empfunden und gefühlt. Ich habe mich in die Eine verliebt, die ich noch nie geschaut, die aber irgendwo lebt und die ich finden werde, wenn es mir bestimmt ist. Ich weiß genau, wie sie aussieht« Wenn ich ihr begegne, werde ich sie sofort erkennen.

Hunderttausendmal habe ich mir ausgeträumt, wie sie wohnt, wie sie sich kleidet, was sie für Augen hat und was für Haar. Ich kenne ihre Stimme. Unter Tausenden würde ich ihren Gang herausfinden. Wenn zufällig jemand ihren Namen ausspräche, würde ich mich umsehen; von dem halben Dutzend, die ich ihr in meinen Träumereien beigelegt habe, muß einer der ihre sein.

Sie ist keine Unschuld mehr, aber auch nicht verdorben – und genau sechsundzwanzig Jahre alt. Das ist das beste Alter zur Liebe ohne Zimperlichkeit und ohne Frivolität. Sie ist mittelgroß. Riesinnen und Liliputanerinnen mag ich nicht. Ich will meine Aphrodite bequem von der Chaiselongue in das Bett tragen können. Sie drinnen suchen zu müssen, das würde mich verdrießen. Wenn sie sich ein bißchen auf die Fußspitzen stellt, sind ihre Lippen gerade in Kußhöhe. Im übrigen ist sie mehr mollig als mager. Hierin bin ich ein wenig Türke.

Meine Geliebte hat blondes Haar und schwarze Augen, eine Haut von der Zartheit der Blondinen mit der Farbenfülle der Brünetten. Wenn sie lacht, röten Licht und Feuer ihr Gesicht. Ihre Unterlippe ist voll; die Brüste sind rund und klein; die Handgelenke schmal, die Hände schlank und fleischig. [23] Beim Gehen wiegt sie sich ein wenig in den Hüften. So ist sie graziös und kräftig, rassig und derb, Fee und Erdentochter; eine Vision von Giorgione, gestaltet von Rubens!

Sie geht wie eine Fürstin gekleidet, trägt Perlen und Diamanten, Seide und Batist, Einen Filzhut, kapriziös aufgeschlagen wie der der Helene Systermann. Und immer frische Blumen. In meinen Träumen habe ich Kaiserinnen und Königinnen, Prinzessinnen und Herzoginnen besessen, hohe Damen und berühmte Kurtisanen, niemals aber Bürgerfrauen oder arme Mädchen. Ich kann in keinem Bett von ordinärem Stoff küssen. Schönheit und Überfluß müssen beieinander sein. Eine schöne Frau ohne Reichtum ist etwas Unharmonisches. Weibesschönheit ist ein Edelstein, der Goldfassung erheischt. Ein hübscher Fuß gehört in einen feschen Schuh, ein fescher Schuh auf dicke Teppiche, in einen eleganten Wagen usw. Eine hübsche Frau in dürftiger Kleidung und armseliger Umgebung ist für mich ein schmerzlicher Eindruck, der mir die Liebe unmöglich macht. Nur schöne und reiche Menschen dürfen lieben, ohne lächerlich oder bemitleidenswert zu erscheinen. Liebe ist der erlesenste Luxus.

Nach diesem Spruche hätten nur ganz wenige Menschen das Recht auf Liebe. Ich selber wäre aus diesem Paradiese verstoßen. Gewiß, aber es bleibt meine Ansicht.

Ich weiß: eines Abends sehen wir uns zum ersten Male, bei einem wunderbaren Sonnenuntergang. Der Himmel prangt in mattroten, hellgelben und blaßgrünen Farben wie auf den Bildern der frühen Meister. Eine lange Allee läuft vor uns hin, mit blühenden Kastanien und hundertjährigen Ulmen, schönen hell- und dunkelblättrigen Bäumen, die geheimnisvoll kühlen Schatten spenden. Dazwischen lauschige Lauben, schneeweiße Standbilder und große Marmorvasen. Auf einem kleinen Teiche zieht ein Schwan seine Kreise. Dahinter schimmert [24] das Schloß, ein Bau aus der Zeit Heinrichs des Vierten, mit steilem Schieferdach und schlanken Schornsteinen, mit Wetterfahnen auf allen Giebeln und hohen, schmalen Fenstern, In dieser Umgebung begegne ich meiner Herzogin. Ein Negerboy mit einem Riesenfächer trippelt hinter ihr her ...

Das ist vollendeter Blödsinn, gewiß, aber ich weiß, so werde ich es erleben.

Die Schöne verliert einen Handschuh. Ich hebe ihn auf, drücke ihn an meine Lippen und überreiche ihr ihn. Es entspinnt sich ein Gespräch. Ich lasse den Geist spielen, den ich nicht besitze, und rede allerliebstes dummes Zeug. Ebensolches bekomme ich zu hören. Ich gebe mir noch mehr Mühe, Meine Reden und Gedanken sprühen wie Brillantfeuerwerk. Mit einem Worte: ich bin entzückt – und entzückend.

Es ist die Zeit des Abendessens. Ich werde eingeladen und nehme an. Ein Souper ohnegleichen. (Meine Phantasie ist eine famose Köchin!) Edlen alten Wein in Kristallgläsern. Getrüffelter Fasan auf drachengeschmücktem Porzellan.

Das Mahl währt bis tief in die Nacht hinein, die ich selbstverständlich nicht im eigenen Bett beschließe.

Ein andermal treffe ich meine Fee im Walde. Ich gehe spazieren. Eine Fuchsjagd saust an mir vorüber. Hörnerklang, bellende Meute, der Master und das rote Feld der Reiter, alles fliegt blitzschnell über meinen Weg. Meine Schöne in Dreß, auf einem schlohweißen feurigen Araberhengst. Auf den ersten Blick erkenne ich die kühne schöne Reiterin! Da ... der Schimmel scheut ... wird ungehorsam ... sie reißt ihn in den Zügeln ... er geht ihr durch ... und in Karriere auf einen tiefen Abgrund zu ...

Natürlich stehe ich – vom Himmel hingesetzt – dort bereit, halte den durchgebrannten Gaul mit kecker Hand auf und nehme die ohnmächtig gewordene Prinzessin in meine Arme. Ich bringe sie ins Leben zurück und in ihr Schloß.

[25] Welche edle Frau versagt ihrem mutigen Lebensretter ihr Herz? Keine! Dankbarkeit ist immer schon halbe Liebe.

Das ist nicht nur romantisch; das ist ebenso verrückt wie unmöglich! Meinetwegen! Ich liebe nun einmal alles, was aus dem Alltag führt.

Genug der Ungereimtheiten und des Aufkritzelns! Du siehst, wenn ich einen Brief zu schreiben beginne, wird gleich ein ganzes Buch daraus! Jetzt lege ich aber die Feder für heute hin. Nun will ich etwas erleben ... Ach, da bin ich wieder bei meinem alten Liede: bei der Sehnsucht nach einer Geliebten. Von neuem gehe ich auf die Suche. Wo sie auch verborgen sein mag: ich muß sie finden! Und wohnte sie am Nordpol oder auf dem Mars!

Ich werde mich auf das Allersorgfältigste kleiden, mein Haus verlassen und nicht anders heimkehren als mit der Geliebten meiner Träume!

2.

[26] II

Lieber Freund, ich bin wieder zu Haus und war weder am Nordpol noch auf dem Mars. Und was das Drolligste ist: ich habe immer noch keine Geliebte. Dabei habe ich mir hoch und heilig geschworen, bis an das Ende der Welt zu wandern und erst am Ziele Halt zu machen. Ach, ich bin nicht einmal an die Grenze der Stadt gekommen!

Woran das liegt, weiß ich nicht. Das ist mein Verhängnis. Nehme ich mir vor, morgen auszugehen, dann bleibe ich bombensicher zu Haus. Will ich in die Galerie gehen, so verliere ich mich in eine Kirche. Will ich in die Oper, so verlaufe ich mich in ein Kabarett. Manchmal irre ich wer weiß wohin. Die Straßen verführen mich. Wenn ich mir vorgenommen habe zu schlemmen, faste ich – und umgekehrt. Ich glaube beinahe, ich finde die Gesuchte aus dem einfachen Grunde nicht, weil ich mir gerade dies in den Kopf gesetzt habe.

Wie ist es mir nun gestern ergangen?

Zwei volle Stunden hatte ich auf meine Toilette verwendet. Ich war schließlich ganz leidlich mit mir zufrieden. Alles tiptop. Guten Muts verließ ich meine Wohnung. Selbstbewußt und siegessicher schritt ich durch die Straße. Ich kam mir vor wie Jason, als er auszog, das goldne Vließ zu holen. Ach ja, Jason hatte mehr Glück als ich: er brachte nicht nur das Goldne Vließ heim, sondern auch noch eine schöne Prinzessin.

[27] Ich ging also meines Wegs. Jedes weibliche Wesen, das mir begegnete und von weitem des Ansehens wert dünkte, musterte ich prüfend. Manche schauten tugendsam an mir vorüber. Andre ärgerten sich erst über mich, dann aber lächelten sie, das heißt, nur, wenn sie hübsche Zähne hatten. Wieder andere wandten sich nach ein paar Schritten nach mir um und wurden kirschrot, wenn sie sahen, daß wir uns gegenseitig nachstarrten.

Das Wetter war prächtig und die Promenade voller Leben. Eine Beobachtung drängte sich mir alsbald auf: das sogenannte schöne Geschlecht – bei aller meiner Vorliebe für diese interessanten Wesen muß ich das sagen – ist eigentlich verteufelt häßlich. An jeder bemerkt man gleich immer auch einen tüchtigen Fehler. Und abgesehen von Gestalt, Gesicht, Haut, Gang, Haltung, das heißt vom Rein-Körperlichen: wie ermüdet der Ausdruck fast aller ist, verblüht und vergrämt durch Alter und Sorgen, verbraucht und verlebt durch niedere Leidenschaften und kleine Laster. Wieviel Neid, Bosheit, Neugier, Habsucht und freche Koketterie machen sich da bemerkbar! Unschöne Frauen sind viel häßlicher als unschöne Männer.

Aufgefallen ist mir keine, ausgenommen ein paar Ladenmädel. Die reizen mich nicht. Baumwolle! Ich liebe Seide! Tatsächlich, unter allen Tieren auf Gottes Erdboden ist der Mensch – Mann wie Weib – das abscheulichste. Dieser auf seinen Hinterbeinen stolzierende Vierfüßler maßt sich den ersten Rang in der Schöpfung an. Aber Löwe, Pferd und Hund sind schöner als der Mensch. Das einzelne Tier erreicht häufig die Idealschönheit seiner Art. Unter den Menschen ist das der Ausnahmefall. Auf einen Antinous kommen immer hunderttausend Thersitesse. Auf eine Helena eine Legion Nachteulen.

[28] Ich fürchte mehr und mehr: ich werde mein Traumbild nie in meine Arme schließen, obgleich ich im Grunde gar nichts Außergewöhnliches begehre, gar nichts Übernatürliches. Ich erträume mir keine Märchenfee. Ich verlange weder Elfenbeinbrüste, noch Marmorschenkel, noch Azuraugen. Ich lasse die Sonne am Himmel und hole die Sterne nicht herunter. Mein Ideal ist beinahe spießbürgerlich-einfach. Mich deucht, für ein paar Dukaten könnte ich es mir auf dem ersten besten Sklavenmarkt in Konstantinopel oder Smyrna erstehen. Vielleicht wäre es da nicht einmal so teuer wie hier ein Vollblüter oder ein Rassehund. Und so etwas soll mir unerreichbar sein? Mir ists, als fände ichs nicht. Das ist zum Verrücktwerden.

Vielleicht ist das Glück einmal an mir vorübergegangen. Ich Blinder hab es nur nicht erschaut. Vielleicht hat es mich leise angesprochen, aber der Schrei meiner Sehnsucht hat seine Worte übertönt. Vielleicht hat mich heimlich ein schlichtes Herz geliebt; ich hab es nicht gemerkt und hab es zertreten. Vielleicht war ich das Heiligenbild eines Herzens, der Pol einer todtraurigen Seele, ihr Traum in der Nacht, ihr Gedanke bei Tage. Hätte ich zur rechten Zeit niedergeblickt, so hätte ich vielleicht eine Magdalena mir zu Füßen geschaut, in aufgelöstem Haar, nach köstlicher Narde duftend. Aber ich streckte meine Arme gen Himmel, um fliehende Sterne zu erhaschen. Das Veilchen im Verborgenen, das sich mir im Morgentau öffnete, übersah ich.

Ich habe einen großen Fehler begangen. Ich habe von der Liebe etwas andres denn Liebe erheischt, etwas, was sie mir gar nicht schenken kann. Ich hatte es vergessen, daß die Liebe nackt ist. Ich verstand dies schöne Symbol nicht. Ich wollte sie in kostbaren Kleidern, im Besitz von Gold und Edelsteinen, mit hoher Bildung, in künstlerischer Verklärung, in Schönheit, Jugend und Macht schauen. Alles das hat nichts mit ihrem Wesen [29] zu schaffen. Die Liebe vermag nur sich selber zu geben. Wer andres von ihr erwartet, verdient nicht, geliebt zu werden.

Zweifellos hatte ich es viel zu eilig. Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Die Schöpfung hat mir das Leben gegeben und wird es mir nicht wieder nehmen, ehe ich es ausgelebt habe. Ein Menschenleben ohne Liebe ist wie eine Harfe ohne Saiten, ein Widerspruch der Natur. Sicherlich wird mir im richtigen Augenblick die Frau in den Lebenskreis treten, die ich lieben soll und die mich lieben wird.

Warum aber ist mir die Liebe eher genaht als die Geliebte? Warum spüre ich Durst und habe doch keinen Quell, meinen Durst zu stillen? Warum vermag ich nicht zum Wasser zu fliegen wie die Vögel der Wüste?

Für mich ist das Leben eine Sahara ohne Oasen und Dattelpalmen. Nicht einen einzigen Schattenwinkel habe ich, wo ich vor dem Sonnenbrand Schutz fände. Die Gluten der Leidenschaft verzehren mich. Ich kenne alle ihre Qualen, nicht aber ihre Wonnen und Seligkeiten.

Wer du auch seist, Engel oder Teufelin, Dame oder Kurtisane, Hirtenkind oder Fürstentochter, im Norden oder im Süden Geborene, mir Unbekannte und doch so Geliebte, laß mich nicht länger deiner harren! Sonst verbrennt die Flamme den Altar, und statt meines Herzens findest du nur noch ein Häuflein kalter Asche! Schwebe aus deinem Himmel hernieder und kühle meine Seele mit dem Schatten deiner Fittiche. Komm, geliebtes Traumbild! Komm nicht zu spät, damit ich noch die Kraft habe, dich zu lieben!

Lieber Freund, Gefährte meiner Kindheit, Du bist der Einzige, dem ich solche Dinge erzählen kann. Schreibe mir, daß Du mich bedauerst und daß Du mich nicht für einen Neurastheniker hältst! Tröste mich! Ich habe das nötiger denn je.

Ich verliere mich immer wieder in Grübeleien und Zweifel. [30] Ich sage mir: wenn die Geliebte, die ich mir erträume, nirgends auf Erden wandelt, was ist das dann für eine rätselhafte Kraft, die mich in etwas Unmögliches verliebt macht? Und nicht in etwas, was leibt und lebt? Wer legt in mein Herz das Bild eines imaginären Wesens? Wer hat die hehre Gestalt meiner Visionen geformt?

Wir sagen oft von einer Frau, sie sei schön, sie sei häßlich, sie sei hübsch. Wo ist das Urbild, das Muster, der Typ, der uns hierbei den Vergleich ermöglicht? Schönheit ist nichts Absolutes. Man kann sie nur in ihrem Unterschiede von einem heimlichen Ideal bestimmen. Haben wir das vor unserm Erdendasein geschaut? Haben wir es einem früh vergessenen Erlebnisse zu verdanken? Einer seltsamen Begegnung? Oder entstammt es einem Kunstwerke? Einem Bilde Lionardos, einer Gestalt des Praxiteles, des Myron? Einer Madonna, einer Diana, einer Aphrodite, einer Beatrice?

Wie Adam sitze ich vor der Pforte des Paradieses, an der Treppe, die in eure Welt führt, ihr Maler, Bildhauer und Dichter! Durch das Tor fallen Lichtschimmer, heller als Sternenschein; dringen verwehte Klänge seraphischer Musik. Jedesmal, wenn ein Begnadeter des Sonnenreiches aus- oder ein geht, beuge ich den Kopf vor, um einen Blick in die Herrlichkeit zu tauchen. Ich sehe ein Märchenschloß in einem Zaubergarten ...

Aber, das Tor schlägt zu, und meine sehnsüchtigen Augen sehen wie zuvor nichts als das nüchterne Erdengeschlecht, blaß und blutlos, in armseligen Behausungen und in tristen Lumpen. Nichts als die elendigliche Wirklichkeit. Felsenland, auf dem nichts gedeiht.

Der Bettler an der Tür des Reichen! Das ist mein Schicksal. Es ist das Grausamste, in einer Hütte gegenüber dem Schlosse zu wohnen, mitten im Alltäglichen angesichts dem Märchenhaftesten. Jetzt verstehe ich den herzlosen Haß der Armen [31] auf die Reichen, der Niedrigen auf die Großen. Sie sitzen in Nacht und Not, und von drüben weht der Wind Lautenklänge und Liebesgesänge her.

Ihr Dichter und Maler, Bildhauer und Musiker, warum betrügt ihr uns? Was erzählt ihr von euren Träumen, ihr Poeten? Warum laßt ihr erlogene Schönheit aus eurer Leinwand steigen, ihr Farbenmeister, und ruft: Das ist das Weib! Warum wandelt ihr eure geheimen Lüste zu Marmor, ihr Bildner? Und ihr Tonkünstler, warum stehlt ihr in den Nächten den Sternen und Blumen ihre seligen Rhythmen? Warum sind eure Melodien so wunderschön, daß uns Liebesgeflüster aus süßestem Menschenmunde wie Sägengeknarr und Rabengekrächz klingt? Seid verflucht, ihr Gaukler!

Das ist Überschwang, Verrücktheit!

Ich habe mich in Phantastereien verloren und schwatze schon viel zu lange das lächerlichste Zeug. Zurück zu meinem Thema: der glorreichen und sieghaften Historie vom Chevalier d'Albert, der, wie es in den alten Romanzen und Balladen heißt, auszog, die Minne der schönsten Prinzessin zu erringen. Die Geschichte ist ohne das Beiwerk der Selbstbetrachtung recht dürftig. Ich will hoffen, sie bleibt nicht immer so und der Roman meines Lebens wird wirrer und bunter als ein spanischer improglio.


Nachdem ich eine Zeitlang ziellos durch die Stadt geschlendert war, kam es mir in den Sinn, einen Bekannten aufzusuchen. Ich erinnerte mich, daß er mich in ein bestimmtes Haus einführen wollte, wo eine Menge hübscher vornehmer Frauen zu verkehren pflegt. Mein Freund schwärmte mir von ihnen das Unglaublichste vor. Er rühmte sich seiner Erfolge bei fünf oder sechs Schönen. Ich seufzte und bezweifelte, das gleiche Glück zu haben. Er versicherte mir das Gegenteil. Seiner [32] Meinung nach hätte ich nur den einen Fehler, den ich jedoch mit der Zeit im Tun und Treiben der Gesellschaft verlieren würde, nämlich den: die Frau zu sehr zu vergöttern und zu wenig die Frauen! Er mag damit nicht unrecht haben. Wenn ich diese kleine Schwäche überwunden hätte, meint er, würde ich unwiderstehlich sein. Geb es der Himmel!

Offenbar fühlen die Frauen in der Tat, daß ich sie geringschätze. Wenn ich nämlich einer eine Schmeichelei sage, die sie im Munde eines Anderen entzückt hätte, errege ich Mißfallen und Zorn, als ob ich ihr eine bitterböse Malice versetzt hätte. Sicherlich hängt das mit dem zusammen, was mir mein Freund, der Baron von C***, zum Vorwurf macht.

Ich hatte Herzklopfen, als ich die Treppe hinaufstieg. Meine Erregung hatte sich kaum gelegt, als C*** mich anstieß und mich einer Dame vorstellte. Sie mochte dreißig Jahre alt sein. Eine recht hübsche Frau, kostbar, aber erlesen einfach gekleidet. Geschminkt war sie allerdings ungeheuerlich. Es war die Hausherrin.

C*** nahm den näselnden spöttischen Ton an, dessen er sich in Gesellschaft zu bedienen pflegt, wenn er den Galantuomo spielt. Mit übertriebener Verbindlichkeit, deren Ironie sie der gründlichsten Verächtlichkeit gleichstellte, schnarrte er:

»Der junge Herr, von dem ich neulich erzählt! Wirklich ein hervorragender Mensch. Tadellos in jeder Hinsicht. Bin überzeugt, Gnädigste sehen ihn mit Vergnügen im Hause. Habe mir deshalb die Freiheit genommen, ihn Ihnen zuzuführen.«

»Sehr nett von Ihnen,« erwiderte die Dame mit viel Koketterie. Dann wandte sie sich mir zu und musterte mich mit Kennermiene von oben bis unten. Ich ward rot bis hinter die Ohren.

»Seien Sie mir willkommen, verehrter Marquis! Betrachten Sie sich ein für allemal als unser lieber Gast! Kommen Sie, so oft Sie nicht gerade etwas Besseres vorhaben!«

[33] Ich machte eine ziemlich linkische Verbeugung und murmelte ein paar zusammenhanglose Worte, die ihr ganz gewiß keine besonders hohe Meinung von meiner Intelligenz beigebracht haben. Neue Gäste kamen und überhoben mich der unvermeidlichen Langweile einer frischen Bekanntschaft.

C*** zog mich alsbald in eine Fensternische und hielt mir folgende Standpauke:

»Zum Teufel, willst du mich blamieren? Ich sage dich an als wahres Wundertier von Witz und Temperament, als einen Menschen von phänomenaler Phantasie, als Dichter von Gottes Gnaden, als leibhaften Übermenschen ... und dann stehst du da wie ein Holzklotz und sagst keinen Ton! Einfach unglaublich. Hielt dich wirklich für geistreicher! Menschenskind, bring deine Zunge etwas in Schwung! Schwatze meinetwegen drauf los! Tiefsinniges und allzu Gescheites brauchst du ja gar nicht vom Stapel zu lassen! Im Gegenteil. Das wäre zu nichts nütze. Rede! Das ist die Hauptsache. Rede viel! Rede lange! Lenke die Aufmerksamkeit auf dich! Nur nicht ängstlich und bescheiden! Bilde dir ruhig ein, sämtliche Anwesende seien Schafsköpfe oder wenigstens nahezu! Und vergiß nicht, daß ein Redner, der fesseln will, seine Zuhörerschaft niemals genug vor den Kopf stoßen kann ... Na, wie gefällt dir die Frau des Hauses?«

»Kein bißchen! Obgleich ich keine drei Minuten mit ihr gesprochen, habe ich mich geödet als wäre ich ihr Ehemann ...« »Ist das wirklich deine Meinung?«

»Aber ja!«

»Also unüberwindliche Abneigung auf der männlichen Seite! Schade! Anstandshalber hättest du mit ihr anbändeln müssen. Und wenns nur auf vier Wochen gewesen wäre. Das hätte einen guten Eindruck gemacht. Es gilt für fashionabel, sich von ihr protegieren zu lassen.«

[34] »So! Dann werde ich sie mir zulegen,« sagte ich in ziemlich kläglichem Tone. »Ists denn aber wirklich so nötig, wie du mir das einredest?«

»Doch. Unumgänglich! Ich will dir erläutern, warum. Frau von Themines ist en vogue. Sobald eine Modetorheit aufkommt, ist sie obenan. Oft erfindet sie selbst die neueste Mode. Nur mit der von gestern hat sie nichts zu schaffen. Sie ist immer von heute. Was sie trägt, tragen alsbald die Andern. Aber was die Andern tragen, trägt sie nicht mehr. Sie ist reich, und alles, was sie hat, beweist ihren Schick und Geschmack. Geistvoll ist sie nicht, aber recht witzig. Sie ist sehr sinnlich, wenn auch nicht besonders leidenschaftlich. Man kann ihr gefallen, aber ihr Innerstes gewinnt man nicht. Ihr Hirn ist lüstern, ihr Herz kalt. Wenn sie das hat, was man Seele nennt, (ich bezweifle es so ziemlich,) dann hat sie die einer Teufelin. Ich traue ihr jede Bosheit und jede Niederträchtigkeit zu. Indessen ist sie außerordentlich gewandt und weiß immer den Schein zu wahren. Man kann ihr nicht das geringste Schlimme nachweisen. So zum Beispiel schläft sie kreuzfidel mit einem Manne zusammen, aber er bekommt auch nicht das gleichgültigste Briefchen von ihr. Selbst ihre herzlichsten Freundinnen können ihr weiter nichts vorwerfen, als daß sie sich ein bißchen zu stark schminkt, oder daß gewisse Körperteile an ihr in Wirklichkeit nicht so rundlich seien wie sie scheinen ... Übrigens eine Verleumdung!«

»Woher weißt du das?«

»Die Frage ist gut! Woher man solche Sachen weiß? Na, durch eigene Anschauung.«

»So hast du also Frau von Themines ...?«

»Gewiß! Warum auch nicht? Es wäre maßlos inkorrekt von mir gewesen, wenn ich sie nicht gehabt hätte. Sie hat mir große Dienste geleistet, für die ich ihr riesig dankbar bin.«

[35] »Ich verstehe nicht, was für große Dienste das gewesen sein könnten.«

Mein Freund sah mich mit der pfiffigsten Miene der Welt an.

»Bist du wirklich so dumm? Ich möchte es beinahe meinen. Ich muß wohl deutlicher werden. Also, Frau von Themines gilt, und zwar mit Recht, in gewissen Dingen als eine Meisterin sondergleichen. Ein junger Mann, der eine Zeitlang in ihrer Schule gewesen, kann sich getrost allerwegen sehen lassen. Er ist ein begehrter Artikel. Sobald die sogenannten Damen der Gesellschaft sehen, daß du der erklärte Geliebte dieser Frau bist, erblicken sie ihr Vergnügen und ihre Pflicht darin, dich der Modekönigin abspenstig zu machen, und wenn sie dich noch so häßlich fänden. Du brauchst nicht das Geringste dazu zu tun. Hast nur die Qual der Wahl. Bist die Zielscheibe der Koketterien und Eroberungsversuche aller ... Genug! Da sie dir aber ganz und gar mißfällt, so laß sie! Es zwingt dich nichts, höchstens die Höflichkeit und das allgemeine Beispiel. Entschließe dich zu einer Andern! Aber schnell! Die dir am besten gefällt, oder die dir die meisten Avancen macht, die attackierst du! Sowie du zögerst, verlierst du den Vorteil der Neuheit, den du ein paar Tage lang vor sämtlichen Rivalen hast. Alle diese Frauen haben kein Verständnis für Leidenschaften, die heimlich entstehen und in stiller Verehrung wachsen. Sie sind für das Kommen-Sehen-Siegen. Hat auch was für sich! Da gibt es keine langen und langweiligen Belagerungen, kein ewiges Hin und Her wie in den Liebesromanen der guten alten Zeit, erfunden, um das, was doch zum Schluß kommt, unnötig hinauszuschieben. Die Damen von heute sind mit ihrer Zeit geizig. Sie dünkt sie so kostbar, daß sie über jede unnütz verronnene Minute untröstlich sind. Im Grunde eine höchst lobenswerte Menschenliebe. Man soll den Nächsten lieben wie sich selbst. Das tun sie. In christlichster Weise. [36] Aus purer Barmherzigkeit lassen sie es nie so weit kommen, daß sich ein Mann aus unglücklicher Liebe totschießen könnte. Um alles in der Welt keine Wertheriaden! Drei oder vier sind dir allemal gewogen. Ich gebe dir aber den freundschaftlichen Rat, kümmere dich um selbige, anstatt daß du mit mir hier in der Fensternische schwatzt. Das bringt dich keinen Schritt vorwärts!«

»Aber, bester C***, auf diesem Gebiete bin ich gänzlich Anfänger. Bin viel zu wenig Gesellschaftsmensch, um auf den ersten Blick zu erkennen: diese Frau interessiert sich für mich und jene nicht. Ich werde dir die unglaublichsten Dummheiten begehen, wenn du mir nicht mit deiner Erfahrung zur Seite stehst.«

»Tatsächlich, du bist von einer geradezu vorsintflutlichen Naivität, wie sie mir noch nicht vorgekommen ist! Der reine Urmensch – und das in unsrer begnadeten Kultur! Zum Teufel, wozu hast du eigentlich deine beiden großen pechschwarzen Augen?. Wenn du diese Dinger gehörig zu benützen verstündest, könntest du jedes Frauenzimmer zur Strecke bringen! Schau dich einmal um! Dort in der Kaminecke, die kleine Frau in Rosa, die späht mit ihrem Lorgnon nach dir seit einer Viertelstunde mit einer Beharrlichkeit, die höchst verheißungsvoll ist. Es ist ihre Spezialität, bei aller Dreistigkeit überlegen und vornehm zu bleiben. Den andern Damen mißfällt das aufs allerärgste. Keine kann ihr nämlich diese entzückende Unverschämtheit nachmachen. Den Männern gefällt sie selbstverständlich über die Maßen, das heißt denen, die Dirnenhaftes an Damen reizend finden. Aber man muß es ihr lassen, sie ist bei aller Verdorbenheit reizend, voller Launen und Einfälle, und von wunderbarem Temperament. Für einen jungen Mann, der noch in Vorurteilen steckt, ist sie die beste Geliebte, die er sich wünschen kann. Binnen acht Tagen hat sie dir die Seele von jedwedem Bedenken gereinigt und dir das [37] Herz gefeit, gegen was es auch sei. Nie machst du dich wieder lächerlich. Sentimentalität kennst du nicht mehr. Über jedwedes Ding hat sie ein sicheres Urteil. Mit erstaunlicher Fixigkeit durchschaut sie alles. Diese kleine Frau ist die verkörperte Mathematik. Für einen Träumer und Schwärmer ist sie gerade die rechte. Sie wird dich im Handumdrehen von deinem überspannten Idealismus heilen und dir damit einen großen Dienst erweisen. Übrigens wird sie mit dem größten Vergnügen dazu bereit sein. Es liegt ihr im Blute, Poeten die Romantik zu rauben.«

Damit hatte mich mein Freund angestachelt. Ich gab meinen Beobachterposten auf, schlängelte mich durch die verschiedenen Gruppen und näherte mich der Dame in Rosa. Ich sah sie mir genau an. Sie mochte fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein. Sie war nicht groß, aber ebenmäßig gebaut und ein klein wenig zur Fülle geneigt. Ihre Arme waren rund und weiß, die Hände elegant, der Fuß anmutig, beinahe zu zierlich, die Schultern voll und glatt wie Elfenbein. Soweit ich den Hals sehen konnte, befriedigte er mein Auge und ließ mich vom Übrigen nicht Unübles ahnen.

Ihr Haar schimmerte wie blauschwarzes Vogelgefieder. Die Augen hatte sie eigentümlich mandelförmig. An der feinlinigen Nase weiteten sich die Flügel, und unter dem wollüstigen Mund machte sich auf der Unterlippe eine kleine Scharte bemerkbar. In all dem atmete Leben, Beweglichkeit, Gesundheit, Kraft und eine eigentümliche leise Sinnlichkeit.

Sie gefiel mir. Gleichwohl wußte ich genau, daß sie bei allen ihren Reizen mein Traumbild nicht verkörperte. Es kam mir nicht in den Sinn zu sagen: Das ist sie!

Ich trat zu meinem Freunde hin und berichtete ihm:

»Sie gefällt mir ganz gut. Vielleicht werden wir uns verstehen. Aber ehe ich mich entschließe, bitte ich dich, mir gütigst [38] ein paar Worte über die andern Schönen zu sagen, die huldvoll Kenntnis von mir genommen haben. Ich werde dann wählen. Mache mir das Vergnügen und sei mein Cicerone! Gib mir von jeder einzelnen eine kurze Charakteristik! Sage mir, welche Fehler und Vorzüge jede hat, wie man sie belagern muß, welche Behandlung sie liebt und dergleichen. Ich möchte nicht allzu sehr als Provinzler oder Professor erscheinen.«

»Sehr gern, lieber d'Albert!« entgegnete mir mein Freund. »Siehst du dort die leibhaftige Elegie? Wie sie ihren schönen Schwanenhals graziös biegt und ihre Arme wie Flügel bewegt! Sie hat Seerosen im Haar. Eine Unberührbare! Schneestirn, Eisherz, Madonnenblick, Kinderlächeln! Weiß wie ihr Kleid ist ihre Seele. Was Keuscheres gibts nicht. Sie gehört mehr dem Himmel denn der Erde an. Nie hat sie einen bösen Gedanken. Woran sich ein Weib von einem Manne unterscheidet, das weiß sie nicht. Die heilige Jungfrau ist im Vergleich zu ihr eine Bacchantin. Aber alles das hindert sie nicht, mehr Liebhaber gehabt zu haben als sämtliche andre mir bekannten Damen zusammen. Und das will etwas heißen! Betrachte bloß einmal den Busen dieser Sphinx! Eine Raffinerie sondergleichen: bei so viel Verhüllung so viel zu zeigen! Diese Frau ist zehnmal schamloser als ihre Nachbarin zur Linken, die ihre beiden feisten Halbkugeln so tapfer zur Schau trägt. Oder als die ihr zur Rechten, die bis zum Nabel ausgeschnitten geht und mit ihrer Nacktheit so spaßig unverfroren paradiert. Ich glaube mich sicherlich nicht zu täuschen, daß sich dieses keusche Wesen aus deinem blassen Gesicht und deinen heißen Augen bereits den Grad deiner Liebesfähigkeit und Leidenschaft ausgerechnet hat. Sie hat nämlich noch kein einziges Mal zu dir hergesehen, wenigstens anscheinend. Trotzdem ist ihr nichts an dir entgangen. Sie ist eine Meisterin der heimlichen Beobachtungskunst. Wenn du sie dir gewinnen willst, darfst [39] du nicht keck und siegessicher vorgehen. Sprich mit ihr, ohne sie anzublicken, flüsternd, ohne sichtbare Bewegungen! Spiele den Duckmäuser! Auf diese Weise kannst du ihr alles sagen, aber immer hübsch durch die Blume! Sie wird dir alles erlauben, erst; in Worten und dann in Werken. Vergiß nur nicht, deine Augen zärtlich zu verdrehen, wenn sie die ihren schließt! Und sprich ihr von den Wonnen der platonischen Verehrung und von der Seelenliebe. Dabei kannst du sie vergnüglichst berühren und wer weiß was machen. Sie ist sehr sinnlich, aber auch sehr empfindlich. Nimm sie dir vor, soviel du magst; höre aber nie auf, sie selbst im inniglichsten Beieinander mindestens in jedem Satze dreimal mit Gnädige Frau! anzureden. Sie hat mir den Abschied gegeben, weil ich einmal Du zu ihr gesagt habe und irgend was Dummes dazu, als ich bei ihr im Bette war. Zum Teufel, man ist doch nicht umsonst eine anständige Frau!«

»Nach allem, was du da erzählst, spüre ich keine große Lust, mich in ein Abenteuer mit ihr einzulassen. Die Mischung keusche Messalina ist mir zu unnatürlich und zu modern!«

»Keineswegs! Hat es immer und überall gegeben. Du solltest sie nicht beiseite lassen! Gerade dieses Weib hat einen ganz besondren Vorzug. Man bildet sich bei ihr immer wieder ein, ein Riesenverbrechen zu begehen. Der leiseste Kuß hat das Aroma der Sünde. Aus diesem Grunde kommt man nie dazu, zu denken, es müsse so sein, daß man sie hat. Sie ist länger meine Geliebte gewesen als jede Andre, und wenn sie mir nicht den Laufpaß gegeben hätte, dann wäre sie es heute noch. Sie ist die einzige, die mir zuvorgekommen ist. Deshalb habe ich vor ihr eine Art Respekt. Sie hat allerlei pikante Tricks, sich zu dem nötigen zu lassen, was sie mit Vergnügen gewährt. Das gibt ihrer freiwilligen Hingabe den Reiz der Vergewaltigung. Nichts ist interessanter als sie zu studieren!«

[40] »Wie alt ist denn dies anbetungswürdige Wesen?« fragte ich. Es war mir nicht möglich, ihr Alter zu bestimmen, so prüfend ich sie mir auch anschauen mochte.

»Ja, wie alt? Ein Kunststück, das zu sagen. Der liebe Gott wirds wissen. Bei ihr verläßt mich mein sonst so gutes Auge. Sagen wir: zwischen achtzehn und sechsunddreißig! Ich habe sie in großer Toilette und splitterfasernackt gesehen und vermag dir hierüber doch nichts Genaues zu sagen. Mein Latein ist hier eben zu Ende. Mir ist sie immer wie achtzehn vorgekommen. Aber natürlich ist sie das nicht mehr. Sie hat den Körper einer Jungfrau und die Seele einer Hetäre. Ein erotisches Genie. Grundverdorben und unverwüstlich. Darum ist sie wohl Sechsunddreißig. Aber genau weiß ichs nicht.«

»Hat sie denn keine Busenfreundin, bei der du das herauskriegen könntest?«

»Nein. Sie ist erst vor zwei Jahren hierher gezogen. Aus der Provinz oder aus dem Auslande. Auch das weiß ich nicht.«

C*** machte mich noch auf ein paar andere Damen aufmerksam, die mich seiner Meinung nachmen schenfreundlichst erhören würden. Aber ich fand, sie hielten keinen Vergleich zu der Dame in Rosa und der Pseudo-Diana aus. Andre kamen also gar nicht in Frage.

Während des ganzen Abends plauderte ich mit den beiden; zunächst mit der zweiten. Sie sah mich kaum an. Trotzdem glaubte ich ein paarmal, ihren schimmernden Blick eingefangen zu haben. Etliche meiner ihr in dezentester Form verabreichten kecken Galanterien hatten den Erfolg, daß leises Rot unter ihrer feinen Haut hinhuschte, wie Glühwein, den man in eine durchschimmernde Teetasse gießt, Unsre Unterhaltung war überaus diplomatisch und pointiert. So entzückend und amüsant das auf Augenblicke wohl war; auf die Dauer strengte mich es an. Ich mußte beständig bei der Sache und auf meiner [41] Hut sein, ich, der ich in der Plauderei gerade die loseste Ungezwungenheit liebe. Wir sprachen zuerst von der Musik; dies führte uns selbstverständlich zur Oper, dann zu den Frauen und schließlich zur Liebe. Innerhalb dieser Gebiete kommt man am allerleichtesten vom Allgemeinen auf das Besondere. Du hättest gelacht, wenn Du zugehört hättest. Ich habe mich in die Wolken verloren. Ein zweiter Werther! Das war nicht so einfach! Spaß machte mir nur eines: ich hatte wirklich ein paar gute Momente.

Hätte mich mein Freund nicht vorher aufgeklärt, so hätte ich die Dame wirklich für das ätherische platonische Wesen gehalten, das sie mir vorspiegelte. Ich hätte an jeglichem Erfolge gezweifelt und wäre davongelaufen. Wenn einem ein« Frau zwei volle Stunden lang doziert, die wahre Liebe äußere sich einzig und allein im Entsagen, Opfern, Verzichten, in der Vergeistigung und in derlei schönen Dingen, kann man dann mit einigem Anstand noch daran denken, die Betreffende eines schönen Tages zu bewegen, sich mit einem unter dieselbe Daunendecke zu begeben, um sich auf das Gründlichste kennen zu lernen?

Meine Unterhaltung mit der Dame in Rosa war völlig, anders. Wir haben ebenso viel gelacht wie geplaudert. Wir mokierten uns, und zwar recht witzig, über die anwesenden Damen. Wenn ich sage wir, so ist das nicht ganz richtig ausgedrückt. Ich muß vielmehr sagen: sie mokierte sich, denn ein Mann versteht nicht, sich über eine Frau geistreich zu mokieren. Ich hörte ihr bloß beistimmend zu. Unmöglich kann jemand trefflicher charakterisieren und karikieren als sie. Ich bekam die köstlichsten Satiren zu hören, und in aller Übertreibung und Verzerrung steckte doch ein gut Teil Wahrheit. Mein Freund C*** hat recht. Dieses Weib versteht Poeten zu desillusionieren. Sie leibt und lebt in einer Atmosphäre der Wirklichkeit, [42] in der jeder romantische Überschwang erstickt. Sie ist entzückend und voll der tollsten Einfälle. Aber man hat in ihrer Gegenwart nur sinnliche und gewöhnliche Dinge im Sinne. Während ich mich mit ihr unterhielt, spürte ich allerlei Gelüste, die ganz wo anders hingehörten denn in eine Gesellschaft mit Damen. Am liebsten hätte ich mir eine Flasche Sekt bringen lassen, hätte meine Partnerin auf den Schoß genommen und hätte mir mit ihr zusammen einen Schwips angetrunken. Ich hätte sie auf den Busen geküßt, ihr das seidene Röckchen aufgehoben und hätte nachgeschaut, ob sie die Strumpfbänder unter oder über dem Knie trägt, und weiß der Teufel, was ich noch riskiert hätte. Das Tier war in mir erwacht. Ich hätte mit Vergnügen die Divina Commedia für einen alten Schmöker erklärt und einem Lendenbeefsteak göttliche Ehren erwiesen.

Jetzt verstehe ich übrigens, warum Homer die Gefährten des Odysseus durch die Kirke in Schweine verwandeln läßt. Das ist eine Allegorie! Die schöne Kirke war so ein Teufelsweib wie meine Dame in Rosa.

Das Geständnis ist fast beschämend: mir war sauwohl zumute, wie man burschikos sagt, als ich fühlte, wie ich vertierte. Ich widersetzte mich dem durchaus nicht; im Gegenteil, ich half noch tüchtig nach. Die Verderbtheit steckt im Menschen als uraltes Erbe. Es ist Dreck in dem Lehm, aus dem er geknetet.

Wirr und erregt kam ich ziemlich spät nach Hause. Welche der beiden Frauen gefiel mir nun besser? Welche sollte ich mir nehmen? Zurückhaltend die eine, entgegenkommend die andre. Wollüstig die, pikant jene. Nach gewissenhafter Selbstprüfung gelangte ich zu dem Ergebnis: ich liebte keine von beiden, begehrte aber alle beide, und zwar so stark, daß sie mich bei Tag und Nacht beschäftigten.

Allem Anschein nach werde ich mir eine von beiden erobern, vielleicht auch beide. Und doch wird mich dies nur halb befriedigen. [43] Gewiß sind beide begehrenswert; aber bei keiner hat eine leidenschaftliche Stimme in mir gerufen: Die ist es! Es war kein Wiedererkennen.

Also eine von ihnen wird demnächst meine Geliebte sein. Sonst soll mich der Teufel reiten! Gut! Aber in meines Herzens Grunde flüstert mir eine Stimme zu: Das ist gemeine Untreue an deinem Ideal! Ja, ich habe mich durch das Lächeln der Erstenbesten ködern lassen, statt daß ich unermüdlich durch die ganze Welt pilgre, über Land und Meer, durch Klöster und Lasterhöhlen, durch Paläste und Spelunken, um die zu suchen, die der Himmel für mich bestimmt hat, sei sie Fürstin oder Magd, Nonne oder Dirne.

Dann wieder sage ich mir: Du jagst Hirngespinsten nach! Denn es ist eigentlich ganz gleichgültig, ob ich mein Lager mit der oder jener teile. Die Erdkugel gerät darum nicht um eines Haares Breite aus ihrer Bahn, und der Sommer folgt auf den Frühling und der Winter auf den Herbst, ein Jahr wie alle Jahre. Es ändert sich nichts. Warum quäle ich mich also?

So rede ich mir zu, aber es hilft nichts. Ich finde weder meinen Frieden noch ein Ziel.

Vielleicht ist mein Einsiedlerdasein daran schuld. In einem so einförmigen Leben sehen kleine Dinge oft ungeheuerlich groß aus. Ich bin allzu sehr Zuschauer meiner vita contemplativa. Ich beobachte mich in meinen Gedanken und Meinungen, ich höre meine Pulse pochen und mein Herz schlagen, ich versuche meine Träumereien aus dem grauen Nebelmeere, in dem sie schwimmen, zu fischen und zu fangen, und möchte ihnen gar zu gern Form und Farben leihen.

Führte ich ein tatenreicheres Leben, so würde ich gar nicht dazu kommen, den kleinen Dingen meines Daseins Augenmerk zu schenken. Ich hätte keine Zeit, meine armseligen Gedanken [44] und meine leisesten Seelenregungen durch ein Mikroskop zu betrachten. Jetzt tue ich den lieben langen Tag ja nichts als das. Tatenmenschen grübeln nicht unnütz nach. Sie halten sich an die Wirklichkeit, nicht an Gespenster. Und von den Frauen verlangen sie nichts, was sie nicht geben können. Nichts denn leibliche Freuden.

In der fortwährenden Ausschau nach meinem Traumbild ist mein Auge fernsichtig geworden. Ich sehe die Nahwelt nicht mehr wie sie in Wahrheit ist. Nun rächt sich die Wirklichkeit an mir. Sie foppt mich alle Augenblicke. Ich ertappe mich häufig dabei, Verrücktheiten zu begehen. Wahrscheinlich vollbringe ich eines schönen Tages eine Riesentorheit. Ich bin ein, vollkommener Phantast geworden.

Aber ich will mich zusammennehmen. Ich will meine Hirngespinste hinter Schloß und Riegel legen. Und nun gehe ich frank und frei zu meiner Dame in Rosa. Keine Vergleiche zwischen ihr und dem unmöglichen Trugbild! Ich will mich einmal meines Lebens freuen und Schönheit in Frieden genießen. Ich will sie gar nicht anders haben als sie ist und ihr keine Feengewänder umhängen.

Das ist ein höchst vernünftiger Entschluß. Nur weiß ich nicht, ob ich ihn auch durchführen werde.

Genug! Lebe wohl!

3.

[45] III

Ich bin der erklärte Liebhaber der Dame in Rosa. Das ist eine Beschäftigung, ein Beruf; etwas, das einem in der Gesellschaft Ansehen verleiht. Seitdem mein Erfolg ruchbar geworden begegnet man mir mit merkbar größerer Hochschätzung. Die Damen plaudern neidisch-kokett mit mir und geben sich dabei auffällig Mühe. Die Herren hingegen behandeln mich kühl In den paar Worten, die sie mit mir wechseln, liegt so etwas wie Zurückhaltung, ja Feindseligkeit. Sie wittern in mir den Nebenbuhler, den gefährlichen Gegner, der unter Umständen noch gefährlicher werden könnte. Man bekrittelt meine Art mich zu kleiden. Ich zöge mich weibisch an, meint man. Ich sei ein Komödiant. Der Schnitt meines Haares sei gesucht Mein bartloses Gesicht wirke manieriert. Der Stoff meiner Anzüge sei protzig. Damit bemänteln sie ihre eigenen miserabel sitzenden Röcke und ihre Unsoigniertheit.

Alles das ist mir jedoch höchst gleichgültig. Die Damen finden ich sei sehr adrett und hätte einen exquisiten Geschmack. Damit entschädigen sie mir die Unkosten, die ich mir ihretwegen mache. Denn so naiv ist schließlich keine, daß sie glaubt meine Eleganz habe keinen weiteren Zweck als mein liebes Ich wunschlos zu verschönern.

Die Dame des Hauses war zunächst sichtlich pikiert über meine Wahl, die selbstverständlich auf sie hätte fallen sollen. Ein paar Tage lang war sie ziemlich bissig, das heißt gegen ihre [46] Rivalin. Gegen mich blieb sie immer nett. Ihre Ärgerlichkeit äußerte sich z.B. in der Anrede: »Verehrteste!« Das klang eigentümlich hart und lieblos. Nur Frauen verstehen sich auf solche Sprachmittel. Einmal sagte sie: »Sie haben recht umrandete Augen. Überhaupt, ich finde Sie völlig verändert!« Ein andermal: »Ihr Kleid sitzt unter den Ärmeln schlecht. Sie haben wohl einen neuen Schneider?« Auf dergleichen Sticheleien verfehlte die andere nicht, sich mit der allerschönsten Bosheit zu revanchieren, wo sich die Gelegenheit bot und nicht bot. Sie zahlte mit Zinsen heim. Indessen nahmen irgendwelche neue Ereignisse die Aufmerksamkeit der verschmähten Hausherrin sehr bald in Anspruch. Der kleine Damenkrieg war beendet, und alles kehrte in seine alte Ordnung zurück.

Wie gesagt: ich bin der Favorit der Dame in Rosa. Aber dies wird einem Manne von Deiner Gründlichkeit nicht genügen. Zweifellos wirst Du zuvörderst wissen wollen, wie meine Schöne heißt. Den richtigen Namen möchte ich diesen Blättern nicht anvertrauen, aber wenn es Dir recht ist, nennen wir sie in Erinnerung an die Farbe des Kleides, in dem ich sie Dir vorgestellt habe: Rosette. Das ist ein hübscher Name. Weiterhin wirst Du, gewissenhaft wie Du in derlei Dingen bist, die Geschichte unserer Liebelei genauestens von Punkt zu Punkt kennen wollen. Diesem Verlangen, lieber Silvio, will ich mit dem größten Vergnügen nachkommen.

Es gibt nichts Düsteres in diesem Roman; er ist rosenfarbig, und wenn Tränen drin vorkommen, so sind es nur Tränen der Lust. Er hat keine Längen und Wiederholungen, und alles geht in ihm seinen Gang, munter und behend, wie dies in einem echt französischen Roman so sein muß.

Rosette, wie wir sie also nennen, ist eine sehr kluge Frau. Vor allem weiß sie den Mann wunderbar zu nehmen. Den ersten Sündenfall zog sie eine gute Weile hinaus, ohne daß ich es [47] ihr übelgenommen hätte. Das muß ich besonders bemerken. Sonst gerate ich nämlich in Wut, wenn ich einen Wunsch nicht gleich erfüllt bekomme. Ich liebe es gar nicht, wenn eine, Frau die übliche Zeit überschreitet, die man ihr bis zur Kapitulation gewährt.

Wie das Rosette eigentlich fertiggebracht hat, ist mir selber nicht klar. Vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an hat sie mir zu verstehen gegeben, daß sie die Meine werden wurde. Des war ich denn so sicher, als ob sie mir es mit Brief und Siegel versprochen hätte. Nicht etwa, weil sie in Wort und Wesen zweideutig gewesen wäre. Nein, das ist sie bei aller Ungebundenheit nie.

Im allgemeinen bin ich gegen Frauen, die ich begehre, viel weniger liebenswürdig als gegen die, die mir gleichgültig sind. Schuld daran ist die leidenschaftliche Erwartung der guten Gelegenheit und die Ungewißheit, ob mir der geplante Sturm gelingen wird. Infolgedessen bin ich versonnen und verliere mich in Träumereien. Dadurch verringern sich Geistesgegenwart, Selbstbewußtsein und Verstand. Wenn mir Stunden, die ich mir ganz anders gedacht habe, eine nach der andern verrinnen, dann packt mich unbeschreiblicher Zorn. Ich rede häßliche und bittre Worte, ich werde heftig und rücksichtslos, und ich entferne mich damit hundert Meilen von meinem Ziele.

Rosette gegenüber ist das nicht so gewesen. Die Empfindung, sie widerstrebe meiner Verliebtheit, habe ich selbst bei ihrer Abwehr und ihrem Zögern nicht gehabt. Mit Gemütsruhe habe ich mir ihre kleinen Koketterien angeschaut. Geduldig hab ichs ertragen, wenn ich wieder ein paar Tage länger zu warten na«e. Es lag etwas Sonniges in ihrem Widerstand, das mich tröstete. Aus all ihrer Grausamkeit lachte Menschenliebe.

Rosette ist die erste Frau, bei der ich wirklich ich selber bin. So geschmacklos es klingen mag: ich habe mich noch niemals [48] so wohl gefühlt. Ich bin ungewöhnlich lustig und munter, angeregt durch ihre lebhafte und natürliche Art. Im Grunde bin ich eine elegische Natur, aber in Rosettens Gegenwart zeigt sich dies nicht. Nicht etwa, weil sie – wie mein Freund C*** behauptet – poesielos, das heißt gemütlos wäre. Nein. Aber sie ist so voll Leben, Kraft und Bewegung, sie wandelt so schön sicher über die Erde, daß man gar keine Lust verspürt, Himmelfahrten zu unternehmen. Man lebt mit ihr behaglich und froh wie in einem leichten Traume.

Seit zwei Monaten kenne ich sie nun bereits, und ich habe mich nur in den Stunden gelangweilt, in denen ich nicht bei ihr war. Ehedem war es gerade anders. Die Frauen gefielen mir aus der Ferne besser als in der Nähe.

Rosette ist das gutmütigste Geschöpf, das man sich denken kann, selbstverständlich den Männern gegenüber. Gegen ihresgleichen ist sie eine Teufelin. Sie ist allezeit vergnügt, behend und zu allem bereit, und in ihrer Ausdrucksweise durchaus eigenartig. Ihre überraschenden kleinen Schelmereien sind unerschöpflich. Mit einem Worte, sie ist kein Durchschnittsweibchen, mehr Kamerad und Gefährte denn Geliebte. Wenn ich ein paar Jahre älter und kein so maßloser Romantiker wäre, würde ich mich vielleicht für den Glücklichsten aller Sterblichen halten. Aber so ...

Ich bin ein Narr! Nie zufrieden! Niemals wirklich wunschlos und niemals ganz glücklich ... Ein halbes Glück? Darf ein Mensch denn mehr begehren? Eigentlich sollte das genug sein.

Die andern Männer beneiden mich um Rosette. Mein Wunsch, eine Geliebte zu haben, ist also allem Anscheine nach in Erfüllung gegangen. Und dennoch ist mir im Grunde nicht so zumute. Wenn ich mich frage, ob ich eine Geliebte habe, so antwortet wohl mein Verstand Ja, mein Herz aber Nein! [49] Gegen die allgemeine Meinung, ich hätte das, was man von uraltersher eine Geliebte nennt, hege ich selber die sonderbarsten Zweifel.

Man könnte hieraus schließen, ich liebte Rosette nicht oder sie mißfiele mir in manchem. Das ist aber keinesfalls so. Im Gegenteil. Ich habe sie sehr gern und finde, sie ist ein entzückendes kapriziöses Geschöpf. Nur habe ich nicht das Gefühl, sie wirklich zu besitzen. Das ists! Dabei hat mir noch kein Weib so viel Vergnügen bereitet. Wenn ich je erfahren habe, was Wollust ist, so war es in Rosettens Armen. Wie stimmt das alles zusammen? Gibt es darauf keine andere Antwort als immer nur: des Menschen Herz ist voller Widerspruch?

Ich habe Rosette Tag um Tag und Nacht um Nacht. Ich brauche nur zu wollen. Ich genieße sie in allen Arten der Liebkosung, wie es mich gerade gelüstet. Nackt oder in Kleidern, im Haus oder im Freien. Sie ist von unverdrossener Gefälligkeit und fügt sich allen meinen Launen, so bizarr sie mitunter sein mögen. Eines abends kam mir ein toller Einfall. Ich spürte Lust, sie im Salon zu besitzen, der zum Empfang von Gästen festlich geschmückt war. Alle Kerzen brannten. Im Kamine glühten die Klötze. Rosette war in großer, sehr kostbarer Toilette; Rosen, Perlen und Brillanten angetan. In ihrem Haar nickten die prächtigsten Federn.

Die verdutzte Dienerschaft bekam Befehl, niemanden vorzulassen. Wahrscheinlich hielt man uns für übergeschnappt. Wir lachten. Was ging uns das an?

Ich war im Gesellschaftsrock, den Federhut unterm Arm, den silbernen Salondegen an der Seite, mein Malteserkreuz am Halse. Ich ging auf meine Dame zu und machte ihr eine tiefe Verbeugung wie vor einer Prinzessin. Dann nahm ich neben ihr Platz und machte ihr nach allen Regeln des guten [50] Tones den Hof, das heißt ich redete Blödsinn und raspelte Süßholz. Sogar die Verse irgendeines albernen Pathetikers trug ich ihr vor. Kurzum, ich spielte den artigen Zeitgenossen.

Meine Göttin sah aber so allerliebst aus und benahm sich so anbetungswürdig, daß mir diese Rolle bald langweilig ward. Ich gab Rosette einfach einen Kuß. Und nun erging es der schönen Balltoilette schlecht. Die Schultern befreiten sich ihrer Hülle, der Busen entrann dem Mieder, die Füße verließen ihre Lackschuhe, die Beine hüpften aus den Strümpfen. Noch niemals ist ein funkelnagelneues Kleid so mitleidslos zerzaust worden. Es war aus Silbergaze über weißer Seide mit brabanter Spitzen. Rosette legte bei dieser Gelegenheit einen Heldensinn an den Tag, der an einer Frau höchst ungewöhnlich ist. Ich habe das bewundert. Sie sah der Zerstörung mit großartigem Gleichmut zu. Lustig und ausgelassen half sie, wenn sich etwas nicht rasch genug lösen wollte. Das war wirklich Heroismus! Eine Frau kann ihrem Geliebten keinen trefflicheren Beweis ihrer Liebe geben, als wenn sie in einer derartigen Situation gutlaunig darauf verzichtet zu rufen: »Zerknülle mir doch mein Kleid nicht!« Zumal wenn das Kleid neu und kostbar ist. Nebenbei bemerkt: nichts schützt die eheliche Treue einer Frau mehr als ein neues Kleid. Rosette muß mich also entweder ungeheuer lieben oder sie ist eine Lebenskünstlerin ohnegleichen ...

Meine Verliebtheit ward Raserei, Verzücktheit. Ich hätte es nicht geglaubt, daß sich der Sinnengenuß derartig steigern kann. Rosette küßte, lachte, zitterte, glühte. Ihre wilden und süßen Zärtlichkeiten raubten mir das klare Bewußtsein. Die Kleider und unsere Lage verhinderten eine innige Berührung, aber ich empfand tausendmal mehr Wonnen, als wenn uns nichts« gehemmt hätte ...

[51] Ich mußte mich mühsam wiederfinden. Die Glieder bebten mir. Ich schwankte. Rosette ward von Sorge um mich erfüllt. Schimmernde Tränen traten ihr in die leuchtenden Augen. Sie kam mir wie eine Madonna vor. Die eben durchlebte bacchantische Szene war verweht und vergessen. Ich sank vor ihrer Schönheit und Mütterlichkeit in die Knie und küßte ihr demütig die Hände. Wie eine Fürstin ließ sie dies zu. Dies Weib mag verdorben sein, aber ihr Herz ist rein.

Ich habe den Vorfall aus hundert andern herausgegriffen. Somit darf ich wohl, ohne anmaßend zu erscheinen, behaupten: Ich bin der Geliebte einer Frau. Und doch ist es mir nicht so ums Herz. Als ich hinterher allein in meinem Heim saß, war ich wieder der selbstquälerische Gedankenmensch. Ich erinnerte mich klar und deutlich an jede Einzelheit des Erlebnisses. Ich besann mich auf jede leise Nervenschwingung. Und doch war es mir, als sei mir das alles nicht widerfahren. Mir nicht! Vielleicht einem andern! Vielleicht war es ein Traum, eine Vision, eine Fata morgana. Vielleicht hatte ich dies irgendwo einmal gelesen. Mitunter ersinne ich mir Geschichten, Szenen, Bilder. Vielleicht war es solch eine Phantasie?

Meine körperliche Erschöpfung bewies mir das Gegenteil. Mein Diener und mein unberührtes Bett bezeugten mir, daß ich die Nacht außer dem Hause verbracht hatte. Trotzdem hätte ich beschwören mögen, ich sei am Abend vorher zur gewöhnlichen Zeit zu Bett gegangen und bis in den lichten Morgen darin schlummernd verblieben.

Sonderbar! Ich kann seelisch an etwas nicht glauben, was körperlich glatt bewiesen ist. Was soll ich tun? Der Glaube ist ein Gnadengeschenk des Himmels. Ich vermag nicht einmal an die Wirklichkeit zu glauben.

Ich sehne mich unaussprechlich danach, zu leben wie die andern und mich einmal jemandem völlig anpassen zu können. [52] Es mißglückt mir immer von neuem. Ich mag tun, was ich will: die andern Menschen sind mehr oder minder Schatten für mich. Ihr Vorhandensein macht keinen Eindruck auf mich. Gleichwohl fehlt mir durchaus nicht der Wunsch, andre Menschen kennenzulernen, an ihren Erlebnissen und Plänen teilzunehmen. Es gelingt mir nur nicht. Ich wandle unter blassen Schemen. Es dröhnt dumpf um mich. Mehr spüre ich von der Welt der anderen nicht. Ich bin allein und bleibe allein. Niemand wirkt auf mich in gutem oder schlimmem Sinne. Alle erscheinen sie mir wie von fremder Art. Rede ich mit ihnen und bekomme ich halbwegs vernünftige Antworten, so überrascht mich das genau so, als wenn urplötzlich mein Hund zu sprechen begänne und sich mit mir unterhalten wollte. Der Klang von Menschenstimmen setzt mich häufig in Erstaunen. Ich habe Augenblicke, in denen ich mich wie ein Gott dünke, und dann wieder achte ich mich nicht für mehr als den Spatz auf dem Dache oder die Schnecke im Weinberg. In keiner Gemütsverfassung, weder in der heitern noch in der trübseligen, halte ich die Menschen für meinesgleichen. Wenn ich von mir reden höre: »Der Herr Chevalier d'Albert ...«, so ist es mir merkwürdig, daß ich das sein soll. Ja, mein Name kommt mir überhaupt wie etwas vor, das gar nicht zu mir gehört.

Besonders im Zusammenleben mit einer Frau habe ich immer bemerkt, daß meine Natur jede Verschmelzung und völlige Vermischung ablehnt. Ich bin wie ein Öltropfen in einem Glase Wasser. Man mag noch so stark schütteln: Wasser und Öl vermählen sich nicht. Selbst im Rausch der Sinne, so allmächtig er ist, bin ich nie bezwungen worden. Die heiße Glut, die steinerne Herzen zu Tränen wandelt, hat mein Ich noch mit keinem andern zusammengeschweißt.

Ich bin wollüstig. Aber meine Seele ist die Todfeindin meiner Sinne. Dieses unselige Paar lebt in ewiger Fehde. Es heißt, [53] Weiberarme seien die stärkste Fessel auf Erden. Mir sind sie ein loses Band. Nie bin ich einer Geliebten ferner, als wenn sie mich an ihr Herz drückt. Ich fühle mich beengt. Ich ersticke beinahe. Das ist alles.

Oft grolle ich mir darob. Ich gebe mir die größte Mühe, nicht so zu sein. Ich versuche, zärtlich, verliebt, leidenschaftlich zu werden. Ich möchte meine Seele im Kusse verschenken. Vergeblich! Ach, welche Qual für eine Seele, der Profanation des eigenen Leibes beiwohnen zu müssen!

Ich habe mir geschworen, mit Rosette ein für allemal festzustellen, ob ich wirklich ein geborener Eremit bin. Ich habe mit mir bis zur Erschlaffung experimentiert und bin so klug als wie zuvor! Bisweilen ist meine Seele in der Leibeslust untergetaucht, die ich bei Rosette stärker als bei anderen Frauen verspürt habe. Aber nur für flüchtige Augenblicke. Alles in allem bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß die Lust über den Hautreiz nicht hinausgegangen ist. Meine Seele blieb unbeteiligt. Ich finde an Rosettens Leib Genuß, dieweil ich jung und heiß bin. Aber dieser Genuß hat seine Quelle mehr in mir als im Weibe.

Rosette ahnt – zu ihrem Glück – nichts von alledem. Sie hält mich für den verliebtesten Toren auf Gottes weiter Erde. Meine ohnmächtigen Wallungen erscheinen ihr als Leidenschaft. Sie tut alles, meine Launen zu befriedigen.

Ich habe alles versucht, mich zu überzeugen, daß ich sie wirklich besitze. Ich habe tief in ihr Herz eindringen wollen, bin aber an ihren Lippen oder an ihren Augen hängen geblieben. In der innigsten Umarmung habe ich mich nicht mit ihr eins gefühlt. Nein, dies Weib ist meine Geliebte nicht!

Umsonst hat sich meine Seele bemüht, ihren Leib zu umfassen. Ich habe meine Lippen auf Rosettens Mund gepreßt, meine Arme in ihr Haar versponnen, ihren schmiegsamen Körper um [54] den meinen gewunden. Ich habe ihren Atem getrunken und die Tränen ihrer Wollust. Je enger ich sie an mich zog, um so weiter weg floh meine Seele. Traurig und mitleidsvoll kehrte sie sich von diesem ihr widerlichen Bacchanal ab.

Ich habe Rosette im Bade besessen, in einer Gondel bei Mondlicht und Musik, im Wagen, der über Stock und Stein eilte, bald von Laternenschein durchleuchtet, bald von Dunkel erfüllt. Ich bin nachts auf einer Leiter zu ihr ins Schlafgemach geklettert, obgleich ich den Haus- und den Türschlüssel in der Tasche hatte. Ich habe sie am hellichten Tage in meiner Wohnung umarmt. Mit einem Wort, alle Welt weiß, daß sie meine Geliebte ist, und nur ich zweifle noch daran?

Wegen all dieser Seltsamkeiten betet mich Rosette an. Sie wähnt darin eine wilde Leidenschaftlichkeit zu sehen, die sich durch nichts zügeln läßt und an jedem Ort und zu jeder Zeit die nämliche ist. Sie erblickt darin einen immer neuen Triumph ihrer Reize und ihrer Schönheit. Ich wünschte, sie hätte recht.

Einmal – es war zu Anfang unserer Liebschaft – glaubte ich zu lieben: eine Minute lang! Eine einzige Minute lang! Wäre es eine Stunde lang gewesen, so hätte ich mich als Gott gefühlt!

Wir waren auf einem gemeinsamen Spazierritt, ich auf meiner Rappenstute, sie auf einem schlankhalsigen schönen Schimmelwallach. Wir ritten eine Allee hochragender Pappeln hin. Warm und goldig flutete das Abendsonnenlicht durch die Bäume. Am saphirblauen Himmel standen zarte Zirruswolken. Gegen den Horizont zu wurde das Blau immer blasser, und ganz in den Fernen ging es in Graugrün über. Leichter Wind fächelte uns den Duft wilder Rosen her. Zuweilen flatterte ein Vogel aus den Zweigen auf und flog über den Weg hin. Von einem Dorfe her, das wir nicht sahen, drang silberner Glockenton zu uns, sanft und voller Frieden.

[55] Unsere Pferde gingen im Schritt dicht nebeneinander. Mein Herz weitete sich, und meine Seele durchströmte meinen Körper. So glückselig war ich lange, ach lange nicht gewesen.

Ich sprach kein Wort. Auch Rosette schwieg. Und doch war zwischen uns ein stilles Einverständnis wie noch niemals. Wir waren einander so nah, daß mein linkes Knie ihr Pferd berührte.

Da neigte ich mich zu ihr und umfing ihren Leib. Sie schlang ihren rechten Arm um mich und lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter. Unsere Lippen fanden sich zum köstlichsten Kusse ...

Unsere Tiere liefen an langen Zügeln ruhig weiter. Ich fühlte, wie Rosette mehr und mehr zu mir herübersank. Auch mich überkam es wie Schwäche, und ich verlor das klare Bewußtsein.

In diesem Augenblicke vergaß ich alle meine Selbstbeobachtung. Ich dachte nicht mehr an mich. Das blieb so bis an das Ende der Allee.

Da vernahmen wir Hufschläge. Es waren Bekannte, die auf uns zugetrabt kamen und uns alsbald ansprachen. Wenn ich eine Pistole bei mir gehabt hätte, ich glaube, ich hätte sie niedergeschossen.

Ich machte ein häßliches böses Gesicht. Wahrscheinlich wird man mich sehr sonderbar gefunden haben.

Eigentlich darf ich den Leuten nicht zürnen, denn, wenn auch ahnungslos, haben sie mir einen Dienst erwiesen. Sie haben mein Glück in dem Augenblick unterbrochen, da es nahe daran war, vom Höhepunkt wieder hinab in die Banalität zu sinken. Vor diesem Schmerzgefühl ward ich bewahrt. Das Aufhören zur rechten Zeit ist eine Kunst, die wir viel zu wenig üben.

Trotz der Störung oder gerade deshalb hatte ich eine Glückseligkeit erlebt, die nicht in Ekel erstorben war. Rosettens [56] Seele hatte mich durchflutet und mich ganz erfüllt. Nicht nur unsere Lippen, unsere Herzen hatten sich geküßt.

Vergeblich harre ich auf eine zweite Minute solchen Glücks. Erfolglos versuche ich es zur Wiederkehr zu bewegen. Ich bin mit Rosette im prächtigsten Abendsonnenrot ausgeritten. Durch die nämliche hohe Allee. Die Bäume waren genau so lichtumflutet, der Horizont war genau so blaßblau, die Vögel sangen genau so. Aber es war mir, als wären die Bäume fahl und finster, als sähe der Horizont gräßlich grau aus und als kreischten die Vögel laut und unangenehm. Die geheimnisvolle Kraft fehlte, die uns mit der Natur und miteinander vermählte.

Wiederum ritten wir Schritt und ganz wie damals suchten wir uns im Kuß. Aber ach, es waren unsere Lippen, die sich fanden, nur unsere Lippen! Nichts von der Göttlichkeit des Kusses von damals! Des einzigen wirklichen Kusses meines ganzen Lebens!

Seit jenem Tage kehre ich von unseren Spazierritten immer unsagbar trübselig wieder. Sogar Rosette, die eine frohe Natur ist, wird von meiner Melancholie ergriffen.

Nur Weinduft und blendender Kerzenglanz vermag uns unserer Schwermut zu entführen. Wir trinken beide, als müßten wir morgen sterben, Glas um Glas, in tiefem Schweigen, bis wir lachen und unsere Rührseligkeit verspotten. Wir lachen, wo wir lieber weinen sollten!

Warum war ich an jenem Abend so glückselig? Das ist schwer zu sagen. Ich war derselbe Mann, Rosette dasselbe Weib. Es war nicht das erstemal, daß wir zusammen spazieren ritten. Auch nicht zum erstenmal geschah es in der Abendsonne. Nie aber war mir das alles mehr als ein schönes, mehr oder minder leuchtendes Bild. Oft auch waren wir schon durch prächtige Kastanien- oder Ulmenalleen geritten. Worin lag [57] also der wunderbare Zauber? Was hatte die gelben Blätter in Topase und die grünen in Smaragde verwandelt? Wer hatte uns den Herbstabend vergoldet? Perlen in das tauige Gras geworfen? Wer hatte in den Glockenklang Melodien gelegt? Wer hatte so viel Poesie in die Lüfte gemischt, daß selbst unsere Tiere sie empfanden?

Es war der erste Kuß in meinem Leben, den ich nicht als schal empfunden. Die Wirklichkeit ward meinen Träumen gleich. Werde ich je wieder ein Weib, eine Herbstsonnenlandschaft, eine goldene Abendstunde finden, die meine Sehnsucht so voll befriedigt? Noch eine solche Glücksminute und ich will in ihr sterben!

Ich liebe Rosette nicht. Und doch begehre ich keine andere mehr, seit ich sie habe. Wenn sie eifersüchtig sein wollte, so könnte sie es nur auf Traumbilder sein. Aber dergleichen bereitet ihr keine Kümmernis.

In der Tat ist meine Phantasie Rosettens ärgste Feindin. Sie weiß nur nichts davon.

Wenn die Frauen wüßten, wieviel Treulosigkeiten auch der beständigste Geliebte bei aller seiner Anbetung in Gedanken begeht! Aber wahrscheinlich sind sie selber hierin noch schlimmere Sünderinnen als wir Sünder. Denken wir nicht daran!

Wie oft gelten unsre heißesten Küsse einer andern! Wie oft liebkosen wir in einer Frauengestalt ein ganz andres Weib! Wie oft erntet eine Frau Liebe, die eine andre in uns erweckt hat!

Arme Rosette! Wie oft schenktest du deinen Leib der Sehnsucht meiner Träume! Wie oft hast du dir selbst eine Rivalin erschaffen! An wieviel Treubrüchen trägst du unfreiwillig die Schuld!

Du hast niemals geahnt, daß gerade dann, wenn meine Arme [58] dich am inbrünstigsten umfingen, wenn mein Mund sich am glühendsten auf deine Lippen preßte, daß nur gerade dann deine Liebe und deine Schönheit am wenigsten wert waren! Daß ich dir in solchen Momenten himmelweit fern war! Wenn dir jemand verraten hätte, daß meine vor Liebesweh matten Augen sich verschlossen, um deinem Anblick zu entgehen, weil er mir das Traumglück zerstört hätte, dem du die Körperlichkeit verliehst! Nicht mein geliebtes Weib warst du, sondern ein Mittel zu visionärer Lust!

In Rosettens Armen habt ihr mich beseligt, Ar himmlischen Madonnen mit euern lavendelblauen Augen und euern reinen Lilienhänden, herabgestiegen zu mir aus dem Goldgrund altdeutscher Meister! Ihr süßen Heiligen aus glühenden Kirchenfenstern, ihr frommen Märtyrerinnen mit eurem holden Lächeln unter flammenden Blumen! Ihr wunderschönen nackten Kurtisanen auf euren rosenbestreuten Purpurdecken, mit eurem Goldgeschmeide und euren Perlenketten mit euern Fächern und euern Spiegeln, in denen das Abendgold flackert! Ihr braunen Schönheiten Tizians, die ihr eure üppigen Hüften und festen Schenkel, eure blanken Leiber und geilen Lenden zur Schau spreizt! Ihr antiken Göttinnen, deren Marmorbilder im Schatten unsrer Gärten leuchten! Alle, alle wart ihr mein! Euch alle habe ich besessen! Heilige Ursula, deine Hände hab ich geküßt! In Kleopatras schwarzem Haar hab ich gewühlt ...

Schöne Frauen, wenn euer Geliebter zärtlicher denn gewöhnlich ist, wenn er euch ungestümer denn sonst in seine Arme schließt, wenn er sein Haupt in euren Schoß vergräbt und euch dann irren schimmernden Auges anschaut, wenn der Genuß seine Glut noch vermehrt, wenn er eure Worte durch Küsse erstickt, als fürchte er sich davor, sie zu hören: dann seid sicher, daß er kaum weiß, ob ihr da seid oder nicht! In solchen Augenblicken [59] ist er bei einer himmlischen Geliebten, die er in euch zu besitzen wähnt.

Milliarden irdischer Frauen haben Liebe gestillt, die Göttinnen galt. Phantasten können ein Menschen alter zusammen mit einem Weibe gelebt haben, ohne daß sie wußten, wie sie eigentlich aussah. Das ist der Schlüssel zum Geheimnisse der aller Welt unverständlichen Liebschaften gewisser großer und genialer Männer zu unbedeutenden oder obskuren Frauen. Sie hatten ihr Traumbild nicht gefunden. Wozu sollten sie in ihrer Resignation unter den andern erst lange suchen?

4.

[60] IV

Fünf Monate sind es nun her, daß ich Rosettens Seladon bin. Fünf Monate! Ich könnte ebensogut schreiben: fünf Ewigkeiten. Das ist beinahe ein Wunder. Ich hätte mich nicht für so beständig gehalten. Und sie mich wohl auch nicht. Wir leben wie ein Paar Turteltauben, im zärtlichsten Beieinander, bei ewigem Küssen und Kosen. Es gibt nichts Rührenderes auf Erden. Wir sind ein Herz und eine Seele.

Fünf Monate Gemeinschaft im vollsten Sinne des Wortes! Denn wir waren alle Tage zusammen und fast alle Nächte. Die Tür war für jeden andern Menschen verschlossen. Wer dies liest, den wird es gruseln, wenn er sich das nur vorstellt. Aber zum Ruhme meiner unvergleichlichen Rosette sei es gesagt: ich habe mich nicht groß gelangweilt, und ich glaube, diese fünf Monate werden mir in der Erinnerung die schönsten Tage meines Lebens bedeuten. Ich habe es früher für unmöglich gehalten, daß ein Mann in der bloßen Sinnenliebe in amüsanter Weise immer wieder von neuem gefesselt werden könnte. Es gibt gewiß nichts für den höheren Menschen, was so öde und leer ist wie sogenannte Flitterwochen.

Man kann sich schwer einen Begriff machen, was für Quellen in dieser Frau verborgen sind. In der er sten Zeit strömten die ihres Witzes, nun die ihres Herzens. Sie liebt mich abgöttisch, und sie ist eine Künstlerin, wenn es sie danach gelüstet, den winzigsten Funken zu einem wilden Brande zu entfachen.[61] Das verstellt sie meisterlich. Die feinsten Regungen der Seele weiß sie geschickt zu erfassen. Langweile wandelt sie in süße Schwärmerei. Wenn sie merkt, daß ich an ferne Dinge denke, weiß sie meine Sinne auf einem Umwege wieder zu sich zurückzulocken. Das ist erstaunlich! Hierin ist Rosette ein bewundernswürdiges Genie.

Manchmal komme ich zu ihr sehr mürrisch und mißgestimmt, geradezu streitsüchtig. Ich weiß nicht, wie es diese Zauberin zuwege bringt, aber nach ein paar Augenblicken hat sie mich dermaßen verhext, daß ich ihr Liebenswürdigkeiten sage, obgleich ich auch nicht die leiseste Lust dazu mitgebracht hatte. Ich küsse ihr die Hände und lache wirklich herzlich. Und eben war ich noch der bärbeißigste Isegrim! Wie schon gesagt, das ist eine erstaunliche Meisterschaft.

Aber trotzdem kann dieses Turteltaubenidyll nicht so weiter bestehen. In den letzten vierzehn Tagen ist es mir mehrere Male passiert – früher niemals! –, daß ich beim Plaudern mit Rosette eins der Bücher, die gerade auf dem Tische lagen, ergriffen und ein paar Zeilen drin gelesen habe. Rosette hat es bemerkt, und es ist ihr kaum gelungen, ihren Schreck darüber zu verbergen. Daraufhin hat sie alle Bücher aus ihrem Zimmer entfernen lassen. Bedauerlicherweise! Aber ich wage es nicht, Einspruch zu erheben.

Kürzlich bekam Rosette Besuch. Ehedem hätte mich das geärgert. Jetzt nicht mehr. Ich empfand vielmehr eine gewisse Freude darüber. Ein bedenkliches Anzeichen! Ich war beinahe liebenswürdig und ließ die Unterhaltung nicht ins Stocken kommen, während Rosette sie einschlafen lassen wollte, damit der Besucher ginge. Als er sich endlich verabschiedet hatte, machte ich die Bemerkung, er sei ein passabler Mensch. Er plaudere nett. Rosette erinnerte mich daran, vor zwei Monaten hätte ich gesagt, er sei urstumpfsinnig und der gräßlichste [62] Troddel auf Gottes Erdboden. Ich vermochte nichts zu erwidern, denn das sind wirklich meine Worte gewesen. Trotz des sichtlichen Widerspruchs habe ich in beiden Fällen die Wahrheit gesprochen. Das eine Mal störte er eine süße Schäferstunde, das andre Mal ödeten wir uns gerade und hatten einander just nichts zu sagen.

Soweit sind wir also! Aber die Sache ist durchaus nicht einfach, wenn der eine Teil noch liebt und sich an das letzte bißchen Liebe im andern verzweifelt festklammert. Ich bin in der allergrößten Verlegenheit. Ich liebe Rosette nicht, aber ich hege viel Freundschaft für sie und möchte ihr um alles in der Welt nicht weh tun. Sie soll also so lange wie nur möglich in dem Wahne bleiben, daß ich sie liebe. Ich will es so aus Dankbarkeit für alle die Stunden, die sie mir durchsonnt hat, aus Dankbarkeit für ihre Liebe, die meine Lust gewesen! Ich betrüge Rosette. Aber steht dieser gutgemeinte Betrug nicht über der Wahrheit, die ihr Leid zufügen würde? Nie werde ich es übers Herz bringen, ihr zu gestehen, daß wir nicht mehr eins sind. Das bleiche Trugbild von Liebe, an dem sie sich weidet, ist ihr etwas so Köstliches und Teures; sie küßt es in so heißer Inbrunst, daß ich es nicht zu zertrümmern wage. Immerhin fürchte ich, früher oder später muß sie merken, daß alles nur Einbildung war.

Heute morgen haben wir eine Unterhaltung miteinander gehabt, die ich wortgetreu in der Gesprächsform nacherzählen will. Sie beweist meine soeben angedeutete Befürchtung. Wir stehen am Anfang vom Ende.


Der Schauplatz: ROSETTENS BETT. Ein Morgensonnenstrahl huscht durch die Vorhänge. Es schlägt zehn Uhr. Rosette hat einen Arm unter meinem Nacken; um mich nicht aufzuwecken, [63] rührt sie sich nicht. Von Zeit zu Zeit richtet sie sich ein wenig auf, wobei sie sich auf den Ellbogen stützt. Den Atem anhaltend, beugt sie sich über mein Gesicht. Das sehe ich durch das Gitter meiner Augenwimpern. Ich schlafe schon seit einer Stunde nicht mehr. Rosettens Nachthemd ist am Hals zerrissen; ihr Haar ist in Unordnung. Die Nacht war stürmisch.

Ich sage mir, dieses Weib ist reizend, so reizend wie eben ein junges Weib, das man nicht liebt, mit dem man aber zusammen schläft.

Rosette (merkt, daß ich nicht mehr schlafe): Garstiges Murmeltier!

Ich gähne.

Rosette: Gähne doch nicht so gräßlich! Oder ich will acht Tage lang nichts mit dir zu tun haben!

Ich: Ach!

Rosette: Es kommt mir vor, mein Lieber, als läge dir nicht viel daran, ob ich die Deine bin oder nicht?

Ich: Doch!

Rosette: Wie leidenschaftslos du das sagst! Aber gut! Verlaß dich darauf, acht Tage lang werde ich dir keinen Kuß geben! Heute haben wir Dienstag. Also bis nächsten Dienstag!

Ich: Ach was!

Rosette: Ach was! sagst du?

Ich: Gewiß! Heute Abend wirst du mich küssen – oder ich sterbe!

Rosette: Du und sterben! Komödie! Ich habe Sie verwöhnt, mein Herr!

Ich: Dann werde ich am Leben bleiben, werde keine Komödie machen und werde nicht verwöhnt werden. Einverstanden! Aber eins bitte ich mir aus. Vermeide das ironische Sie! Ich denke, wir kennen uns gut genug!

[64] Rosette: Ich verwöhne dich wirklich ...

Ich: So komm! Gib mir einen Kuß!

Rosette: Nein! Heute in acht Tagen!

Ich: Mach keine Geschichten! Wollen wir uns hinfüro mit dem Kalender in der Hand lieben? Das wäre doch zu kindisch. Also, einen Kuß, mein Schatz, – oder ich werde böse!

Rosette: Fällt mir gar nicht ein!

Ich: So! Du willst, daß ich Gewalt anwende, mein Engel! Schön! Ich werde dich bezwingen! Das heißt, vielleicht, ... vielleicht auch nicht; ...

Rosette: Unverschämter!

Ich: Beachte, bitte, mein schönes Kind, daß ich so artig war, vielleicht zu sagen! Das ist gewiß nett von mir. Aber wir kommen vom Gegenstand ab. Komm! Was soll das heißen, mein Schatz? Wozu die finstre Miene? Ich will einen lachenden Mund küssen, keinen griesgrämigen.

Rosette (beugt sich über mich, um mich zu umfangen): Wie kann ich lachen, wenn du mir so böse Worte sagst?

Ich: Ich möchte dir sehr liebe Dinge sagen. Aus welchem Grund auch böse Worte?

Rosette: Ich weiß es nicht, aber du hast mir welche gesagt ...

Ich: Du nimmst einen harmlosen Scherz für ein böses Wort!

Rosette: Harmlos? Das nennst du harmlos! Und das soll Liebe sein? Weißt du, ich will lieber von dir geschlagen werden als dich so lachen hören!

Ich: Du möchtest wohl, ich solle weinen?

Rosette: Von einem Extrem fällst du in das andere! Weinen sollst du nicht, nur vernünftig reden und nicht so ironisch sein! Das steht dir nicht.

Ich: Es ist mir unmöglich, vernünftig zu reden, ohne ironisch zu sein. Ich muß dich also verprügeln, um deine Gunst zu erringen?

[65] Rosette: Immer zu!

Ich (gebe ihr ein paar leichte Schläge auf die Schultern): Nein, eher schlage ich mich selber, als daß ich deinen geliebten Leib mißhandle und deinen wonnigen weißen Rücken bläue. Mag ein Weib noch so viel Vergnügen empfinden, wenn man es schlägt, – meine Aphrodite soll keine Schläge bekommen!

Rosette: Du liebst mich nicht mehr!

Ich: Dies aus dem zu folgern, was ich eben gesagt habe, ist nicht gerade logisch. Ebensogut könntest du sagen: Es regnet, darum gib mir keinen Schirm! Oder: Es ist kalt, mache das Fenster auf!

Rosette: Du liebst mich nicht mehr und du hast mich nie geliebt!

Ich: Eine verzwickte Geschichte! Du liebst mich nicht mehr und du hast mich nie geliebt! Darin steckt beträchtlicher Widerspruch. Wie kann ich mit etwas aufhören, was niemals war? Meine hohe Herrin weiß wohl nicht, was für eine große Ungereimtheit sie eben gesagt hat.

Rosette: Ich habe mich so innig darnach gesehnt, von dir geliebt zu werden, daß ich mir selber etwas vorgetäuscht habe. Man glaubt so leicht, was man wünscht. Jetzt aber erkenne ich, daß es Einbildung war. Auch du hast dich getäuscht. Hast Verliebtheit für Liebe gehalten, Begehrlichkeit für Leidenschaft! Das kann jedem Menschen so ergehen. Ich nehme dir das nicht übel. Es ist nicht deine Schuld, wenn du mich nicht liebst. Ich bin nicht verführerisch genug. Ich müßte schöner, heiterer, reizvoller sein. Mein geliebter Poet, ich hätte mit dir zu den Wolken emporfliegen müssen. Statt dessen habe ich dich zu mir auf die bescheidene Erde herabgezogen. Ach, ich hatte Angst, du könntest den Himmel stürmen. Ich wollte nicht, daß Hirngebilde dein Herz verschütteten. Der Verstand ist der Todfeind des Gefühls! So habe ich dich mit [66] meiner Liebe umsponnen. Indem ich mich ganz dir schenkte, glaubte ich, du würdest dir davon wenigstens etwas nehmen ...

Ich: Rosette, rücke ein wenig bei Seite! Du bist heiß wie glühende Kohle.

Rosette: Wenn ich dir lästig bin, kann ich ja aufstehen! Ah, du hast ein Herz von Stein! Wassertropfen höhlen den Felsen; aber an dir gleiten meine Tränen spurlos ab. (Fängt an zu weinen.)

Ich: Wenn du so weiter weinst, werden wir bald statt in einem Bett in einer Badewanne liegen, in einem Schwimmbassin, in einem Ozean! Du kannst doch hoffentlich schwimmen, Rosette?

Rosette: Unmensch!

Ich: So? Ein Unmensch soll ich sein? Beinahe schmeichelhaft! Aber ich habe nicht die Ehre. Bin leider ein regelrechter Spießbürger. Nicht das kleinste Verbrechen habe ich vollbracht. Höchstens eine Torheit. Die nämlich, daß ich dich maßlos geliebt habe! Das ist alles! Willst du, daß ich das bereue? Siehst du, ich habe dich geliebt und ich liebe dich noch, so sehr ich kann. Solange ich dein Geliebter bin, folge ich dir wie ein Schatten. Ich bin allezeit bei dir geblieben, Tage wie Nächte. Große Worte habe ich nicht gemacht. Die liebe ich nicht einmal in der Literatur. Aber ich habe dir tausend Beweise meiner Zuneigung gegeben. Gar nicht zu reden von meiner buchstäblichen Treue. Die ist dir ja bekannt. Erwähnt sei auch, daß ich ein paar Pfund abgenommen habe, seitdem ich der deine bin. Mein Liebchen, was willst du noch mehr? Ich liege bei dir, gestern, heute, morgen. Tut man das alles jemandes wegen, den man nicht liebt? Alles, was du willst, mache ich. Sagst du: Geh! – so gehe ich! Sagst du: Bleib! – so bleibe ich! Mich dünkt, ich sei der trefflichste Geliebte unter der Sonne.

[67] Rosette: Das ist ja gerade mein Kummer: du bist ein Meister der Liebe, – tatsächlich!

Ich: Und das ist ein Vorwurf?

Rosette: Durchaus nicht. Ich wäre viel froher, wenn ich dir Mängel vorzuwerfen hätte.

Ich: Komisch!

Rosette: Nein, sehr traurig! Du liebst mich nicht. Ich kann es nicht ändern und du erst recht nicht. Dagegen ist nichts zu machen. Wahrlich, ich wünschte, ich hätte dir etwas zu verzeihen. Dann würde ich dir eine Gardinenpredigt halten. Du würdest dich schlecht und recht entschuldigen. Und dann würden wir uns versöhnen.

Ich: Das könnte dir passen! Je größer der Streit, um so gründlicher die Versöhnung!

Rosette: Unerhört! Du weißt sehr wohl, daß ich die Anwendung solcher Mittel nicht nötig habe! Wenn du mich auch nicht liebst und wenn wir uns auch streiten, so brauchte ich doch nur zu wollen ...

Ich: Aber ja! Ich wüßte keine höhere Huld. Wolle nur mal ein bißchen! Das wäre tausendmal netter als unser endloses Wortgefecht.

Rosette: Du willst eine Aussprache abbrechen, die dich in Verlegenheit setzt! Ich muß aber doch bitten, mein Verehrtester, daß wir uns zunächst damit begnügen, weiter zu reden.

Ich: Zum Verhungern wenig! Das ist gar nicht recht von dir. Gerade wo du so entzückend hübsch bist! Ich spüre Gefühle für dich ...

Rosette: Verrate mir das, bitte, ein andermal!

Ich: Halloh, mein Engel! Heute bist du ja eine wahre Tigerkatze! Grausam ohnegleichen! Oder gelüstet es dich danach, Vestalin zu werden? Das wäre ein großartiger Einfall.

[68] Rosette: Warum nicht? Es geschehen manchmal wunderliche Dinge. Auf jeden Fall aber bin ich für dich Vestalin ... Merken Sie sich, Chevalier: ich gebe mich nur, wenn ich geliebt werde oder geliebt zu werden glaube! Sie gehören jetzt weder zu der einen noch zu der andern Sorte ... Erlauben Sie, daß ich aufstehe?

Ich: Wenn du aufstehst, tue ichs auch. Du legst dich übrigens doch wieder hin. Zu was diese unnötige Mühe?

Rosette: Lassen Sie mich!

Ich: Bei Gott nicht!

Rosette (wehrt sich): Wollen Sie mich loslassen!

Ich: Meine Gnädigste, ich bin so kühn, Nein zu sagen!

Rosette (einsehend, daß sie zu schwach ist): Gut! Ich bleibe ... Sie zerdrücken mir meinen Arm! Was wollen Sie von mir?

Ich: Das wirst du wohl wissen ... Gewisse Dinge darf man tun, aber nicht sagen ... Man muß auf den guten Ton halten ...

Rosette (halb bezwungen): Unter der Bedingung, daß du mich sehr liebst ... will ich mich ergeben ...

Ich: Die Kapitulationsverhandlung beginnt ein bißchen spät, wenn der Feind schon in der Festung ist ...

Rosette (schlingt die Arme um meinen Hals, in wollüstiger Ohnmacht): Bedingungslos! Ich baue auf dein gutes Herz!

Ich: Das einzig Wahre!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Diese Reihe Striche, lieber Freund, sind hier am Platze, denke ich, denn das weitere Zwiegespräch könnte man nur mit den Mitteln der Klangmalerei wiedergeben.


Kürzlich saß Ich nachts im Park. Der Himmel war fast tageshell und so wunderbar klar, daß man bis in die letzten [69] Tiefen zu schauen vermeinte. Die Milchstraße leuchtete wie wehendes Weiß, als hingen Engelsgewänder da droben.

Der Mond war aufgegangen, aber ein mächtiger Baum verbarg ihn mir. Sein Licht sprühte durch das dunkle Laubwerk in Millionen blitzender Fünkchen. Das Flittermeer auf dem Fächer einer Königin! Flüsterndes Schweigen, verhaltene Seufzer glitten durch den Garten.

Das klingt schwülstig, aber es war so ...

Nichts lebte außer mir als das silberblaue Mondlicht. Und doch hatte ich die Empfindung, als seien seltsame schöne Traumgestalten um mich. Obgleich ich allein war, hatte ich nicht das Gefühl der Einsamkeit.

Ich träumte. Ich lebte mit den Blättern, tanzte mit dem Wasserstrahl des Brunnens, huschte mit dem Himmelslichte und atmete mit den Blumen. Ich besaß nicht mehr und nicht weniger Lebensbewußtsein als die Bäume neben mir, die Wasser, die Nachtschatten. Die Landschaft war eins mit mir. Ich glaube, weiter weg kann man sich von seinem Ich nicht entfernen.

Mit einem Male erstarb rings alle Bewegung. Die Blätter rührten sich nicht mehr an den starren Zweigen, der Springquell schlief im Steigen ein und verhielt im Fall, und die Mondlichtflut wurde bleischwer. Nur mein Herz pochte lärmend laut. Plötzlich hörte auch dies auf, und es hob eine solche Stille an, daß man das leiseste Geräusch aus der weitesten Ferne hätte hören können ...

Eine Nachtigall begann ihr Lied.

Was sie sang, verstand mein lauschend Herz, als sei mir die Vogelsprache kein Geheimnis mehr. Sie sang die Geschichte meiner Liebe. Genauer und wahrer als der kleine Vogel kann mir sie niemand erzählen. Nicht die geringste Kleinigkeit, nicht die leiseste Feinheit fehlte. Was ich mir nie zu deuten vermocht, was ich nie verstanden, das erklärte er mir.

[70] Mein stummes Traumbild hatte seine Sprache gefunden. Ich bekam auf alle Fragen Antwort. Ich erfuhr, daß ich geliebt wurde, und der schwellende Sang verhieß mir Glückseligkeit. Mir war, als streckten sich mir aus dem Mondenschein die weißen Arme der göttlichen Geliebten entgegen. Pfingstrosenduft berauschte mich. Mein Herz ward übervoll von Liebe. Ich breitete meine Arme aus und drückte den unsichtbaren Geist der Natur an meine Brust, als sei er ein Weib. Ich küßte den Wind, der über meine Lippen wehte. Ich atmete den Odem der leuchtenden Nacht, die mich umschlang ...

Ach, wenn Rosette da gewesen wäre! Was für wunderbaren Unsinn hätte ich ihr vorphantasiert! Aber die Frauen sind ja nie zur Stelle, wenn man sie gerade haben möchte.

Die Nachtigall verstummte. Der Mond kroch müde in ein Wolkenhaus. Und ich verließ den Park. Die kühle Nacht vertrieb mich.

Ich fror und bekam den gescheiten Einfall, daß ich mich in Rosettens Bett rascher wärmen könnte als in meinem. So ging ich zu ihr. Den Schlüssel zu ihrem Heim habe ich stets bei mir.

Alles ruhte. Auch Rosette. Schmunzelnd stellte ich fest, daß sie über einem Bändchen meiner Gedichte eingeschlummert war. Aufgeschnitten war es übrigens nicht. Sie hatte die Arme unter ihrem Kopf verschlungen. Halboffen lächelte ihr Mund. Ein Bein war ausgestreckt, das andre ein wenig gebeugt. Eine anmutige ungezwungene Haltung! Sie sah so hübsch aus, daß es mir unendlich leid tat, nicht verliebter in sie zu sein.

Ich bin eigentlich ein recht dummer Kerl. Was ich seit langem begehrt, besitze ich: eine Geliebte, die mein ist wie mein Roß und mein Degen, ein hübsches junges zärtliches kluges Geschöpf. Sie hat keine hochmoralische Mutter, keinen ordengeschmückten Vater, keine mürrische Tante, keinen rauflustigen[71] Bruder. Nicht zu vergessen – was sehr wichtig ist! – ihren doppelteingesargten, unter den Quadern seiner Ahnengruft ruhenden Ehegatten! Somit ist sie frei wie die Luft im Hochgebirge. Sie ist reich genug, um sich mit dem erlesensten Luxus und der ausgesuchtesten Eleganz umgeben zu können. Sie redet nie von ihrer Tugend, dieweil sie Amoralistin ist, und nie von ihrem guten Ruf, als ob es das gar nicht gäbe. Sie hat keine sogenannten guten Freundinnen und behandelt alle Damen, als sei sie ein Herr. Von Platonismen hält sie wenig und macht kein Hehl daraus. Sie gibt entweder ihr Herz oder nichts. Im alten Athen, in Rom oder in Alexandria oder in der italienischen Renaissance wäre sie unzweifelhaft die gefeierteste Liebeskünstlerin ihrer Zeit geworden. Aspasias und Kleopatras Ruhm wäre neben dem ihren verblichen.

Dieses Weib gehört mir. Ich mache mit ihr, was mir gefällt. Ich habe den Schlüssel zu ihrem Haus, zu ihren Gemächern, zu ihren Kästen. Ich öffne ihre Briefe. Ich habe ihr einen neuen Namen gegeben. Sie ist ganz mein Eigentum. Ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre Liebe, alles ist mein. Alles das genieße ich bis zum Mißbrauch. Wenn es mir behagt, steht sie bei Nacht auf oder geht sie am hellichten Tage zu Bett. Sie fügt sich mir wie von selbst. Nie merke ich, daß es ihr ein Opfer ist. Nie verzieht sie ihre Miene. Immer ist sie besorgt um mich, immer voller Zärtlichkeiten und immer buchstäblich treu.

Wenn man mir vor einem halben Jahre, damals in meiner Sehnsucht nach einer Geliebten, auch nur aus der Ferne ein solches Weib gezeigt, so war ich toll vor Glück geworden. Jetzt besitze ich dieses Glück und bin kühl und kalt. Ich empfinde nicht mehr, daß es ein Glück ist. Es macht keinen Eindruck mehr auf mich. Mir ists, als sei alles wie zuvor. Und ich bin fest überzeugt: wenn ich Rosette heute verließe, hätte ich sie nach vier Wochen so völlig vergessen, daß ich nicht einmal [72] mehr wüßte, ob sie wirklich in meinem Leben einmal da war oder nie. Und Rosette? Ob es ihr ebenso ergehen würde? Ich möchte es nicht glauben.

Alles das schoß mir durch den Kopf. Eine Anwandlung von Reue überfiel mich, und ich drückte Rosette den reinsten Kuß der Trauer auf die Stirn, den je ein junger Mann einem jungen Weibe zur Mitternachtsstunde gegeben hat.

Sie machte eine leichte Bewegung. Ihr Lächeln ward lebensvoller, aber sie erwachte nicht.

Ich entkleidete mich gemächlich, glitt unter die Decke und streckte mich neben Rosette aus. Die Kühle meines Körpers drang in sie. Sie schlug die Augen auf, und wortlos drückte sie ihren Mund auf den meinen. Dabei schmiegte sie sich so um mich, daß ich im Nu warm ward. Die abendliche vage Wehmut wandelte sich in die süße Wirklichkeit einer Liebesnacht. Von allen den schlaflosen Nächten meines Lebens gehört diese Nacht zu den schönsten. Vielleicht war es die allerschönste.

Wohl werden uns noch immer angenehme Stunden zuteil. Aber sie kommen nicht mehr von selber. Sie sind inszeniert. Ganz zu Anfang unsrer Liebe hatte meine Phantasie keine einsamen Mondscheinpromenaden, keine Nachtigallenmelodien nötig, um zu Liebeswonnen fähig zu sein. Im Netz unsrer Liebe ist noch kein Faden gerissen, aber an manchen Stellen sind die Maschen schon recht dünn geworden.

Noch liebt mich Rosette und tut alles, um das Zerreißen zu verhindern. Aber unglücklicherweise gibt es zwei Dinge auf Erden, die sich niemals befehlen lassen: die Liebe und die Langeweile. Ich gebe mir übermenschliche Mühe, die Müdigkeit zu überwinden, die mich gegen meinen Willen heimsucht. Es geht mir wie den Kleinstädtern, denen in einem Salon der Großstadt Schlag zehn Uhr die Augen zufallen. Ich reiße meine Augen gewaltsam, auf, aber es nützt nichts. Ich gewöhne [73] mir eine mir unangenehme Nonchalance an, als wäre ich verheiratet.

Ich schreibe Dir dies auf dem Lande. Rosette hat mich nach ihrem Gute entführt, einem wunderhübschen geräumigen altertümlichen Schlosse, hinter dem ein stattlicher Park uralter Bäume beginnt. Die Landschaft der Umgegend ist idyllisch. Vor dem Herrenhause eine große Terrasse, daran der Garten. Über ihn hinweg hat man den Blick auf ein anmutiges grünes Tal mit einem Flüßchen, das die Landstraße mit ihren Vogelbeerbäumen auf einer einbogigen Brücke überspringt. An ihr klappert eine Mühle. Drüben glänzt ein sauberes kleines Dorf, dessen Schieferkirchturm über die Strohdächer und die rundlichen Häupter der Apfelbäume in die hügelige Ferne lugt.

Alles das habe ich eigentlich erst am nächsten Tage gesehen. Als wir anlangten, dämmerte es bereits. Wir waren müde, tafelten mit prächtiger Eßlust und hatten dann nichts Eiligeres zu tun als schlafen zu gehen, wohlgemerkt, jedes für sich. Wir wollten einmal ordentlich ausruhen.

Im Traume umgaben mich rote Blumen, bunte Vögel und Waldesduft. Ein linder Hauch streifte meine Stirn, und ein Kuß ließ sich darauf hernieder wie unter Flügelschlag. Ich fühlte einen warmen Mund. Das war unmöglich noch Traum! Ich schlug die Augen auf und erblickte Rosettens weißen Hals. Sie hatte sich über mich gebeugt und küßte mich. Ich schlang meine Arme um sie und küßte sie wieder, verliebter denn seit langem.

Sie zog eine Jalousie auf und öffnete das Fenster. Dann setzte sie sich auf den Bettrand und spielte mit meinen Fingerringen. Sie hatte nichts an als ein weites loses Morgenkleid aus blütenweißem Batist. Kein Mieder, keinen Unterrock. Das Haar hatte sie hochgesteckt. Eine weinfarbene Teerose leuchtete darauf. An ihren nackten Elfenbeinfüßchen hingen weite Pantoffeln mit morgenländischer Stickerei.

[74] Als ich Rosette so vor mir sah, ward ich wehmütig gestimmt, daß sie meine Geliebte bereits war, nicht erst wurde.

Vor dem Fenster blühte der Jasmin, und leiser Wind wehte zahllose weiße Blütensterne auf den Teppich des Zimmers. Der süße Geruch drang bis zu mir herüber. Ich sah draußen den lichtblauen Himmel und die wiegenden Wipfel der Bäume und durch ihr grünes Laub den blinkenden Teich im Garten. Die Vögel schwatzten und zwitscherten, piepsten und pfiffen.

Auf dem Kaminsims, in der großen blauen Marmorvase, schimmerte ein voller Strauß von gelben Rosen, vor dem rosigen Marmorfries mit seiner heiteren Schäferszene.

Dazu das junge schöne blonde halbnackte Weib ...

Kann man erlesenere Augenweide und holderen Frieden um sich haben? Ich weiß nicht, welche Farben die Gelehrten dem Glücke zuschreiben. Ich glaube, ihm gebühren die zarten blassen Farben. Weiß und rosa. Vielleicht hat es auf seiner Palette noch taubengrau, meergrün, türkisenblau und das Gelb der Marschall-Niel-Rosen. Es malt zart und fein und licht wie die japanischen Maler. Unsichtbare Musik singt leise in seinen Farben.

Andere Naturen mögen an andre Arten glauben. Ich kann mir keine andre denken. Derbes Glück ist mir kein Glück, und derbe Farbe überhaupt keine Farbe. Ich träume von seltsamen Abenteuern, bizarren Leidenschaften, vibrierenden Ekstasen, unmöglichen Situationen.

All das wird mir erst bewußt, indem ich es niederschreibe. Ich war im Genuß verloren. Genuß ohne Nachgrübeln, das ist die einzige eines klugen Mannes würdige Beschäftigung. Nur kann es nicht jeder.

Ich brauche unser Landleben nicht weiter zu schildern. Es läßt sich leicht erraten. Waldgänge, Veilchen, Erdbeeren, Küsse, Schmausereien auf dem grünen Rasen, Lesen unter rauschenden [75] Bäumen, Kahnfahrten, Lachen und Lieder und fernes Echo! Ein arkadisches Dasein!

Rosette überschüttet mich mit Liebkosungen und Zärtlichkeiten. Eine girrende Turteltaube in der Maienzeit. Sie ist meine süße Sklavin. Ich liebe diese unterwürfige Demut, denn es steckt in mir etwas orientalischer Despotensinn.

Und doch – ich wünschte, Rosette gäbe mir Anlaß, daß ich ihr Böses oder Untreue vorwerfen könnte. Manchmal versuche ich einen Streit vom Zaune zu brechen. Ich herrsche sie an, bin hart, ungerecht, häßlich. Sie antwortet mir aber mit so sanften Worten, so schimmernden Augen und einem so liebevollwehen Blick, daß ich mir wie ein Löwe vorkomme, der ein Schäfchen zerfleischt. Ich ärgre mich über mich selber und bitte sie um Verzeihung.

Rosette mordet mich mit ihrer Liebe. Sie foltert mich Tag für Tag unter immer größeren Qualen. Offenbar will sie mich dazu bringen, daß ich sie hasse.

Ich langweile mich zu Tode.

Trotz ihrer demütigen Willfährigkeit ist Rosette meiner genau so überdrüssig wie ich ihrer. Aber sie hat meinetwegen so viel Torheiten vor den Augen der Gesellschaft begangen, daß sie nun vor der ehrsamen Korporation ihrer empfindsamen Geschlechtsgenossinnen nicht diejenige sein will, die es zuerst satt hat.

Offenbar denkt sie: Der junge Mann findet nur noch geringen Gefallen an mir. Naiv und gutmütig, wie er ist, wagt er das aber nicht offen zu sagen. Nun ist er ratlos. Ich öde ihn an. Das ist klar wie der Tag. Aber er stirbt eher an seiner Qual, als daß er mich sitzen läßt. Das bringen Leute seines Schlags nicht über ihr gefühlvolles Herz. Solche Poetengehirnkästen sind voll prächtiger Worte über ewige Liebe und Leidenschaft und bilden sich wunderwelche romantischen Pflichten ein. Aber nichts ist unerträglicher als die Liebkosungen eines Menschen, [76] den man aufgehört hat zu lieben. Deshalb werde ich ihn damit überhäufen, bis er es nicht mehr aushält! Entweder jagt er mich schließlich zum Teufel oder er liebt mich wieder wie am ersten Tage, – was er hübsch bleiben lassen wird!

Das ist wohl ihr Gedankengang!

Er ist nicht übel. Die verlassene Ariadne! Die möchte sie gern spielen. Eine herrliche Rolle! Man wird bemitleidet und gepriesen und hört nichts als Verwünschungen gegen den Unmenschen, der so grausam gewesen, ein solch entzückendes Geschöpf zu verlassen. Man setzt die Maske der schmerzlichen Resignation auf und wird zur wandelnden Elegie.

Eine so liebe schöne gefühlvolle opferfreudige makellose Frau, eine weiße Rose, ein auserlesenes Geschöpf, das jeder Mann kniend anbeten müßte, eine Heilige dermaleinst nach ihrem gottseligen letzten Stündlein, eine solche Perle ohnegleichen grund- und ehrlos zu verlassen, sie zu Tode zu verletzen, – denn daran stirbt sie unfraglich! – das bringt nur ein großer Schurke fertig, der ein Herz von Stein hat.

O diese Männer!

So denke ich mir die gegnerische Kriegslage! Vielleicht stimmt es, vielleicht auch nicht!

Die Frauen sind durchweg Schauspielerinnen. Kann man aber eine so große Komödiantin sein?

Ich möchte es nicht glauben.


Meine schöne Schloßherrin hat endlich die Einladungen an ihre Nachbarn und Freunde verschickt. Wir stecken in tausend Vorbereitungen zum würdigen Empfang all dieser Herren und Damen des Hinterlandes.

5.

[77] V

Ich habe mich getäuscht! Mein böses, der Liebe unfähiges Herz hat mir etwas vorgelogen, um mich von der Bürde der Dankbarkeit zu erlösen, die ich nicht zu schleppen vermag. Und mit Freuden habe ich diese Lüge ergriffen, um mich damit vor mir selber zu rechtfertigen. Sie war mein ganzer Halt, diese große Unwahrheit.

Rosette spielt keine Komödie. Wenn je ein Weib wahrhaftig sein kann, dann ist sie es.

Ach, fast grolle ich ihr ob der Aufrichtigkeit ihrer Leidenschaft. Sie bindet mich. Sie erschwert mir den Bruch und läßt keine Entschuldigung zu. Ich wünschte, Rosette wäre flatterhaft und treulos.

Eine verrückte Sache! Man will gehen und – bleibt! Man möchte sagen: Ich hab dich satt! – und man sagt: Ich liebe dich! Das Einst treibt einen immer weiter, läßt einen nicht stillstehen, nicht umkehren. Man bleibt treu und ärgert sich über dieses Treubleiben.

Wenn eine neue Liebe die alte vertreibt, dann fällt einem der Bruch leichter. Dann helfen einem tausend Dinge. Wohl versuchen auch dann Gewissensfragen ihre Stimmen zu erheben, aber das Leitmotiv der neuen Musik übertönt sie. Das Herz war leer und ist nun mit einem Male wieder reich. Die alten Erinnerungen weichen den neuen Erlebnissen. Mir kommt diese Hilfe nicht. Ich liebe niemanden. Nur Überdruß und [78] Langeweile, mehr vor mir selbst als vor Rosette, drängen mich von ihr fort.

Meine alten Träumereien, die ein wenig eingeschlummert waren, sind wieder erwacht; sie sind toller denn je. Wie ehedem quält mich die Sehnsucht nach meinem Ideal, selbst in Rosettens Armen. Es lächelt mir aus seiner Himmelshöhe zu. Wie einst bilde ich mir ein: wenn ich mich unverzüglich in die Postkutsche setzte und weit, weit wegführe, dann käme ich an einen Ort, wo sich mein Schicksal erfüllte. Ich fühle es: irgendwo auf Erden harrt die Erlesene ungeduldig meines Kommens. Aber meine Flügel haben sich in einem Netze verfangen, und ich kann nicht fort. Ich vermag es nicht zu zerreißen und abzustreifen.

Geliebtes Traumbild, wieviel Zeit habe ich verloren, ohne den geringsten Versuch zu machen, dich zu finden! Ich habe mich in den Rausch der Sinnenlust verloren, Ich bin dir zu begegnen kaum noch würdig.

Rosette ...

Eigentlich habe ich ihr nichts vorzuwerfen. Höchstens ihre Vergangenheit. Mir ist sie treu wie Gold. Und dann dürfte man überhaupt keine schöne Frau lieben. Jede hat eine Vergangenheit. Wenn man auch manchmal nicht weiß, wer vor uns ihr Geliebter war; einer war es, ein paar! Sicherlich aber ist man der erste, den sie wahrhaft liebt! Der andre? Nur ein unseliges Verhängnis hat sie in die Arme dieses Unwürdigen gejagt. Die unklare Sehnsucht ihres liebesüchtigen Herzens hatte sie verführt. Die Enttäuschung war alsbald da ...

Es ist etwas Häßliches, daran denken zu müssen, daß man die Küsse seines Vorgängers wegküßt! Daß im tiefsten Seelenwinkel der Geliebten eine unerbittliche Erinnerung lauert, die der Gegenwart Wonnen mit denen von einst vergleicht!

Und eins muß ich noch bekennen. Wenn ich mit Rosette breche, [79] dann dauert es unbedingt einige Zeit, ehe eine andre an ihre Stelle tritt, so leicht es an und für sich ist, die Nachfolgerin zu finden. Ich habe mich mit Rosette an eine erlesene Art des Sinnengenusses gewöhnt. Es wird mir schwer fallen, sie zu entbehren. Es gibt ja Kokotten, und ganz nette. Ich habe ihnen manche vergnügliche Stunde zu danken. Aber über diese Zeiten bin ich längst hinaus. Heute widern sie mich an.

Die Wollust hat mich verweichlicht; ihr Gift ist mir zu tief ins Blut gegangen, so daß ich gar nicht daran denken mag: wie soll ich das Leben vielleicht monatelang ohne Weib ertragen?

Ich weiß sehr wohl, das ist Egoismus niedrigster Sorte. Aber wer hätte aus seinem Leben niemals Ähnliches zu beichten? Die Tugendbolde und Sittlichkeitseiferer sind die allerschlimmsten. Ich bin wenigstens freimütig.

Ohne diese unedle Rücksicht wäre ich längst von Rosette geschieden. Und noch ein Gedanke ist mir gräßlich: von neuem suchen zu sollen! Es ist unsagbar langweilig, einer Frau den Hof zu machen. Verliebte Dummheiten zu reden, die man schon fünfzig andern vorgeschwatzt hat! Den Galanten zu spielen, nette Briefchen zu schreiben, die Erkorene abends eine Stunde weit nach ihrem Haus zu begleiten, sich dabei kalte Füße und einen tüchtigen Schnupfen zu holen, Fensterpromenaden zu machen, Blumensträuße zu schicken und auf Bälle zu rennen! Und alles das, um bloß wiederum dahin zu gelangen, wo ich – mit Rosette – bin! Lohnt das der vielen Mühe? Nein!

An Rosettens Seite empfinde ich satte Ruhe und lässiges Wohlbehagen, wie dies die Befriedigung der Sinne mit sich bringt. Das ist alles. Es genügt mir nicht. Der Schlummer der Wollust wird zu Unempfänglichkeit und der Seelenfrieden zu Langerweile. Und dann kommen die Träumereien, die mich nervös[80] und gemütskrank machen. Diesem Zustande will ich um jeden Preis ein Ende setzen.

Ich verlange vom Weibe nichts als Schönheit. Ich verzichte gern auf Geist und Gemüt. Eine schöne Frau ist für mich immer geistvoll. Schönheit ist körperliches Genie; der Gipfel des natürlichen Menschentums. Blitze aus schönen Augen sind mir lieber denn zündende Worte und funkelnde Gedanken. Ein lieblicher Mund ist mir mehr wert als ein nettes Wort. Eine tadellose Schulter ziehe ich selbst einer der Kardinaltugenden vor. Fünfzig schöne Seelen gebe ich für einen hübschen Fuß und die sämtlichen Werke sämtlicher Poeten meines Jahrhunderts für den Busen der knidischen Aphrodite. Körperliche Schönheit ist das einzige, was der Mensch von der Existenz der Götter zu spüren vermag. Sie ist der Himmel auf Erden.

Ich sehne mich unendlich nach vollkommener Schönheit, wenn ich auch weiß, daß ich ihr wohl nie begegne. Weil Einzelnes an der oder jenen sonst nicht besonders schönen Frau unvergleichlich schön war, habe ich manche geliebt. Ich liebte das Fragment und übersah das übrige. Heute ist meine Phantasie zu nervös dazu. Ich verlange Harmonie. Der Anblick einer gleichmäßig häßlichen Person ist mir erträglicher als der einer nur stückweise schönen. Nichts tut feinen Sinnen weher als ein unorganisches Kunstwerk, als eine schöne Frau mit einem körperlichen Fehler.

Rosette ist ein hübsches Weib, in Einzelheiten sogar von meisterhafter Plastik. Aber mein Schönheitsideal ist ganz anders. Übrigens rede ich nicht nur von der Schönheit der Form und der Linie. Ausdruck, Gebärde, Gang, Farbe, Klang der Stimme, Duft, Kraft, Temperament, Gesundheit, mit einem Worte alles Körperliche spielt mit hinein.

Die Schönheit ist meine Religion. Im übrigen bin ich ein Erzheide. Ich stehe der christlichen Askese verständnislos gegenüber. [81] Da Gott die Sinnenlust in die Welt gesetzt hat, ist es ein Frevel wider Gott, sich der Freuden zu enthalten. Es gibt eine Sonne; darum verlange ich nach ihr. Ich will viel Sonne, viel Licht, wenig Schatten! Ich liebe die Farbe, die schöne Linie, die edle Form. Ich liebe die hehre Nacktheit. Warum soll sich der Menschenleib seiner schämen? Er ist nichts als ein Lobgesang zum Preise des Allerhöchsten.

Ich kaufe einem häßlichen Blumenmädchen nie etwas ab, aber einem in Lumpen gehüllten braunen Italienerjungen, von dem man nichts sieht als seine glühenden großen Augen, dem schenke ich wer weiß was. Ich kann ein edles Pferd oder einen schönen Hund nicht schlagen. Ich möchte nie einen Freund haben, der kein mich gewinnendes Gesicht hat. Der Anblick garstiger Dinge oder kranker Menschen macht mich halbtot. Ein Zimmer kann noch so bequem eingerichtet sein, eine einzige Geschmacklosigkeit an nur einem Möbelstück macht es mir unbehaglich. Den erlesensten Wein schätze ich nur in einem kostbaren Glase. Ich ziehe ein einfaches Butterbrot auf einer silbernen Platte dem leckersten Rebhuhn auf einem gemeinen Steingutteller vor. So stark beeinflußt mich das Äußere. Wenn ich Maler wäre, – es ist mein bitterster Kummer, daß ich keiner bin! – malte ich nur Göttinnen, Feen, Nymphen, Madonnen, Engel und Amoretten.


Unsre Gäste sind eingetroffen, darunter einige liebenswürdige fröhliche junge Herren und ein paar recht hübsche Damen.

Gestern hat sich ein junger Edelmann dazu gesellt, der mich vom ersten Augenblick an bezaubert hat. Er gefiel mir bereits, als ich ihn vor dem Hause von seinem Pferde absitzen sah. Graziöser kann man nicht sein. Eine nicht allzu große, aber [82] schlanke Erscheinung. Er hat etwas unsagbar wohltuend Weiches in seinem Gang und seinen Gebärden. Manche Frau wird ihn um seine Hände und Füße beneiden. Für einen Mann ist er beinahe zu schön, besonders zu fein im Gesicht. Augen wie seine, so wundervoll klar, dabei tiefschwarz, habe ich noch nie gesehen. Es ist ihnen ein rätselhafter Ausdruck eigen. Er ist blutjung und hat kein bißchen Bart. Das braune Haar trägt er lang. Auch das verleiht ihm ein eigentümliches Etwas, über das man nachsinnen muß.

Jetzt habe ich endlich mein Traumbild lebend und leiblich vor mir. Jammerschade, daß es in einem männlichen Exemplar erschienen ist, und nicht als Weib. Ach, ich müßte eine Frau sein!

Übrigens ist mein Antinous geistig sehr reg und vielseitig. Er ist wirklich ein Ideal. Dazu kleidet er sich kostbar und mit geschultem Geschmack. Er hat ein arabisches Vollblut mitgebracht, das wundervoll zu ihm paßt. Ein gleichfalls berittener Page begleitet ihn, ein junger blonder Knabe, der wie ein Engel aussieht. Als sie ankamen, war der Kleine von den Strapazen des langen Rittes dermaßen erschöpft, daß ihn sein Herr aus dem Sattel heben und auf dem Arme in sein Zimmer tragen mußte. Rosette hat den Ankömmling sehr freundschaftlich begrüßt. Es sieht mir ganz so aus, als wolle sie meine Eifersucht erwecken. Aber ich habe keine Neigung, eifersüchtig zu werden. Der Fremdling gefällt mir. Ich würde mit Freuden meine Liebe hingeben, wenn ich dafür seine Freundschaft gewönne.

Er heißt Theodor Marquis von Serannes.

6. Der Roman beginnt

[83] VI
Der Roman beginnt

Nunmehr müssen wir – ich hoffe, der geneigte Leser ist damit einverstanden – für eine Weile die Träumereien des trefflichen Chevaliers verlassen. Die Geschichte soll in der üblichen Form weitererzählt werden, nicht ohne gelegentlich wiederum ein Zwiegespräch einzuschalten oder auch, wo es nötig ist, den jungen Mann in seiner Briefbeichte fortfahren zu lassen.


Der Page war so erschöpft, daß er in den Armen seines Herrn einschlummerte. Sein Köpfchen mit dem zerzausten Haar rollte hin und her, wie leblos.

Die Ankömmlinge erhielten zwei Zimmer angewiesen. Ein Diener ging vorauf. Er bat, den Knaben tragen zu dürfen, aber der Kavalier dankte und gab die – übrigens federleichte – Last nicht aus den Händen. Behutsam legte er sie auf das Sofa. Eine Mutter hätte nicht sorglicher verfahren können.

Als sich der Diener entfernt hatte, machte sich der junge Edelmann daran, dem Pagen die Reitstiefel auszuziehen. Die kleinen Füße waren offenbar geschwollen und schmerzten zweifellos. Die Stiefel saßen fest. Ein paarmal stieß der zarte Schläfer leise Seufzer aus. Aus Furcht, er könne aufwachen, hielt der Herr in seinem Bemühen inne und wartete, bis sein Schützling[84] wieder schlief. Endlich lockerten sich die Stiefel. Nachdem auch die Strümpfe von den mädchenhaft kleinen hübschen Füßen herunter waren, die von dem vielstündigen Ritte gerötet und gedrückt waren, bettete er sie behutsam.

In seiner knienden Stellung verharrend, betrachtete er den Schlummernden mit zärtlichem Blick und küßte ihn leise auf die Stirn. Der Knabe schlug die Augen auf und sah seinen Gebieter schlaftrunken und liebevoll an.

»Mein Gürtel drückt mich!« flüsterte er und schlief wieder ein.

Der junge Mann öffnete die Gürtelschnalle, legte dem Knaben ein Kissen unter den Kopf und deckte ihm seinen Mantel über Leib und Beine. Sodann zog er sich einen Lehnstuhl heran, setzte sich dicht an das Sofa und betrachtete den Schläfer. So vergingen zwei Stunden. Man hörte im Zimmer nichts als die regelmäßigen Atemzüge des Knaben und das Ticken der Standuhr.

Ein entzückendes Bild! Welche Gegensätze von Schönheit in den beiden! Der Herr schön wie eine junge Frau; der Page schön wie ein junges Mädchen. Das rosige runde Gesicht des Schlummernden, von den Locken verdeckt, glich einem Pfirsich, der aus dem Laub lugt. Sein langes Seidenhaar schimmerte halb golden, halb silbern: golden im Schatten, silbern im Licht. Ein paar Knöpfe des Wamses standen offen. Man sah einen zarten, aber vollen Hals, und durch den Spalt des feinen Batisthemdes schimmerte weißes Fleisch und der Ansatz zu einer keineswegs knabenhaften Rundung ...

Der Kavalier hatte ein blasses Gesicht, jedoch mit jener leicht goldbraunen Färbung, die Kraft und Gesundheit verrät. Seine dunklen Augensterne leuchteten auf bläulichschimmerndem Kristall. Durch die feine geradlinige Nase kam Energie und Hochmut in das Profil. Auffällig war der reizende kleine [85] Mund, der trotz seines heiteren und fast kindlichen Ausdrucks etwas Verächtliches und Pikantes hatte.


Wie standen Edelmann und Page zu einander? Offenbar waltete zwischen beiden mehr als sonst zwischen Herrn und Diener. Waren sie Brüder oder Freunde?

»Das liebe Kerlchen!« flüsterte der junge Mann. »Wie süß er schläft! Ich glaube, solch einen weiten Ritt hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gewagt. Zwölf Meilen! Das ist zu viel für ein so zartes Wesen! Ich fürchte, die Überanstrengung hat ihn krank gemacht. Doch nein! Morgen ist er wieder gesund und munter. Morgen wird er seine Frische und seine Farben wieder haben wie eine Rose nach dem Regen.

Er ist wirklich bildhübsch! Wenn ich nicht Angst hätte, ihn aufzuwecken, bekäme er einen Kuß. Dieses entzückende Grübchen im Kinn! Diese feine weiße Haut! Schlafe dich aus, mein Liebling!

Ich bin wahrhaftig eifersüchtig auf deine Mutter! Ich wünschte, du wärst mein Kind!

Vielleicht ist er doch krank? Nein, nein! Der Atem geht regelmäßig ...

Horch! Hat es nicht eben geklopft?«

In der Tat hatte es ganz ganz leise zweimal an der Tür geklopft.

Der junge Herr erhob sich, wartete aber, in der Meinung, er habe sich getäuscht, bis es abermals klopfte.

Wiederum zwei Schläge, diesmal ein wenig kräftiger. Zugleich machte sich eine feine weibliche Stimme hörbar, die flüsternd sagte:

»Ich bins, Theodor!«

Theodor öffnete, aber langsam, gar nicht wie sonst ein junger Mann einer Frau öffnet, die mit süßer Stimme acht Uhr abends geheimnisvoll Einlaß begehrt. Und wer war es? Rosette, die [86] Geliebte des Chevaliers d'Albert. Sie sah rosiger aus als ihr Name, und ihr Busen wogte bewegter als je bei einem Weibe, das abends in das Gemach eines hübschen Kavaliers huscht. »Theodor!« sagte sie.

Theodor legte den Zeigefinger an den Mund, zum Zeichen, daß sie still sein sollte, und auf den schlafenden Knaben weisend, führte er Rosette in das Nebenzimmer.

»Theodor!« begann sie von neuem; sichtlich bereitete es ihr besonderes Vergnügen, den Namen zu wiederholen. Und ohne die Hand des jungen Mannes, der sie zu einem Lehnstuhle geleitete, loszulassen, sagte sie:

»Theodor! Endlich findest du den Weg zurück zu mir! Was hast du inzwischen vollbracht? Wir haben uns ein halbes Jahr nicht gesehen. Theodor, das war nicht recht von dir! Man schuldet einem Menschen, der einen liebt, selbst wenn man ihn nicht wiederliebt, Nachsicht und Mitgefühl!«

Theodor: Was ich vollbracht? Ich weiß es nicht. Ich bin gekommen und gegangen, habe geschlafen und gewacht, gejubelt und geweint. Habe Hunger und Durst verspürt, Kälte und Hitze ausgehalten, habe mich gelangweilt und Geld vertan und bin dabei sechs Monate älter geworden. Alles in allem: ich habe existiert. Und was hast du gemacht?

Rosette: Ich? Ich habe dich geliebt.

Theodor: Nichts als das?

Rosette: Nichts als das! Du hältst das für Zeitverschwendung?

Theodor: Ja, meine arme Rosette, du hättest diese Zeit besser verwenden können. Du hättest zum Beispiel jemanden lieben sollen, der dich wiedergeliebt hätte.

Rosette: Ich bin weder in der Liebe noch sonstwie Egoistin. Ich treibe mit meiner Liebe keinen Wucher. Ich verschenke meine Liebe nur.

Theodor: Das ist ein selten Ding, würdig einer erlesenen [87] Seele! Ich habe mir oft gewünscht, dich so lieben zu können, wie du dies möchtest. Ein unüberwindliches Hindernis lag zwischen uns. Ich kann es dir nicht sagen ... Hast du einen andern Geliebten gehabt, nachdem ich gegangen?

Rosette: Ich hatte einen und hab ihn noch.

Theodor: Was ist das für ein Menschenkind?

Rosette: Ein Dichter.

Theodor: Donnerwetter! Ein Dichter? Wie heißt er? Was sind seine Werke?

Rosette: Seine Werke? Die kennt noch niemand. Er hat mir einmal Gedichte gegeben. Ich habe versucht, eines Abends darin zu lesen.

Theodor: Also ein unerkanntes Genie! Spaßig! Trägt er einen abgetragenen Rock? Unsaubere Wäsche? Schlecht sitzende Strümpfe?

Rosette: Nichts von alledem. Er kleidet sich recht schick. Hat wohlgepflegte Hände und keine Tintenflecke an der Nase. Er ist ein Freund vom Baron C***. Ich habe ihn im Hause der Marquise von Themines kennen gelernt. Weißt du, das ist die Weltdame mit dem Engelsgesicht.

Theodor: Darf man auch den Namen des Unsterblichen erfahren?

Rosette: Selbstverständlich. Er heißt: Chevalier d'Albert.

Theodor: Chevalier d'Albert! Ist das der junge Herr, der gestern auf dem Balkon stand, als ich vom Gaule kletterte?

Rosette: Ja.

Theodor: Der mich so anstarrte?

Rosette: Gewiß!

Theodor: Kein übler Mensch! Trotzdem hat man mich nicht vergessen?

Rosette: Nein. Unglücklicherweise gehörst du nicht zu denen, die man vergißt.

[88] Theodor: Er hat dich sicherlich sehr lieb?

Rosette: Weiß ichs? Es gibt Augenblicke, da scheint er mich sehr zu lieben. Im Grunde aber liebt er mich nicht. Er ist sogar nahe daran, mich zu hassen. Er grollt mir, weil er nicht fähig ist, mich zu lieben. Es ist ihm da ergangen wie so manchem andern – Erfahreneren, denn er hat Verliebtheit für Leidenschaft gehalten, und als seine Begehrlichkeit befriedigt war, da war die große Enttäuschung da ... Es ist eben ein Irrtum, wenn man glaubt, weil man zusammen geschlafen, müsse man in einander vernarrt sein.

Theodor: Was wird nun mit besagtem Schatz, der keiner ist?

Rosette: Es wird ihm ergehen wie dem letzten Viertel des Mondes und der vorjährigen Mode: er verschwindet! Er hat nicht genug Energie, mit mir zu brechen, und obgleich er mich nicht im wahren Sinne des Wortes liebt, hängt er an mir. Der Genuß ist ihm zur Gewohnheit geworden. Es fällt ihm sehr schwer, darauf zu verzichten. Wenn ich ihm nicht zu Hilfe komme, ist er imstande, sich bis zum Jüngsten Tage und noch länger getreulichst mit mir zu langweilen.

Er trägt die Knospen der edelsten Eigenschaften in sich. Es bedarf nur der Sonne himmlischer Liebe, und sie blühen alle auf. Es tut mir innig leid, daß ich seine Sonne nicht war. Von allen meinen ungeliebten Geliebten ist er der, den ich am meisten mag. Und wenn ich nicht so gutmütig wäre, wie ich nun einmal bin, so würde ich ihn nicht freigeben, sondern behalten. Aber das tue ich nicht. In dieser Stunde höre ich auf, ihm zu gehören.

Theodor: Für immer?

Rosette: Wer weiß? So lange du da bist, kann ich keinem andern gehören. Das käme mir wie eine Entweihung vor. Ich hätte dann kein Recht mehr, dich zu lieben.

[89] Du sagst, es gäbe ein unüberwindliches Hindernis. Ich habe also keine Hoffnung, je deine Geliebte zu werden?

Theodor: Behalte deinen Freund aus Liebe zu mir!

Rosette: Wenn du das wünschest ... ja!

Ach, wie anders wäre mein Leben geworden, wenn du mein wärest! Die Leute machen sich ein falsches Bild von mir. Ich werde von hinnen gehen, ohne daß man ahnt, was ich wirklich war. Nur du kennst mich, Theodor! Du allein, du Grausamer! Ich begehrte keinen Andern als dich und bekam dich nicht. Hättest du mich geliebt, Theodor, ich wäre die reinste und tugendhafteste Frau! Deiner würdig! So aber hinterlasse ich dermaleinst – wenn sich überhaupt je einer meiner erinnert – den Ruf, ein leichtsinniges Weib gewesen zu sein, nur durch gesellschaftlichen Rang und Reichtum von der gemeinen Dirne unterschieden. Ach, nichts läßt so tief sinken wie unerwiderte Liebe!

Viele blicken verächtlich auf mich. Sie wissen nicht, was ich gelitten, ehe ich da anlangte, wo ich nun bin. Als ich sicher wußte, daß ich nie und nimmer dem zu eigen sein werde, den ich liebe, da überließ ich mich dem Strom. Ich gab mir nicht einmal Mühe, meinen Leib zu verteidigen. Dir durfte er doch niemals angehören. Aber mein Herz hat keiner besessen und wird auch keiner besitzen. Dir gehört es, wenn du es auch zertreten hast!

Die meisten Frauen halten sich für ehrbar, wenn sie nicht von einem Bett ins andre wandern. Ich bin andern Glaubens. Ich habe meinen Körper preisgegeben und blieb doch mit ganzer Seele und ganzem Herzen unwandelbar die Deine! Dabei habe ich dann und wann einen Menschen glücklich gemacht, indem ich ihm das Trugbild der Liebe geschaffen.

Das ist der Kern so mancher Liebesgeschichte, die man lediglich meinem Leichtsinn zuschreibt. Im Grunde bin ich nichts [90] weniger als leichtfertig! Theodor, wenn du wüßtest, wie unsagbar schmerzensreich es ist, zu wissen, daß man sein Leben verfehlt hat, daß man an seinem Glücke hat vorübergehen müssen!

Theodor: Was du da sagst, Rosette, das ist die Geschichte aller Menschen. Das Beste in uns ist immer das, was in uns bleiben muß. Es kommt nicht zur Geltung, und wir können es nicht einmal verschenken. Denke an die Dichter! Ihre schönsten Verse bleiben ungeschrieben und ungelesen. Sie nehmen mehr Lieder in ihr Grab, als in ihren Büchern weiterleben.

Rosette: Auch ich nehme die Elegie meines Herzens mit in mein Grab.

Theodor: Genau wie ich.

Rosette: Auf mein Grab dürfte man weiße Rosen pflanzen. Ich habe zehn Liebhaber gehabt, und doch bin ich jungfräulich und werde jungfräulich sterben. Und manche, über deren Gruft Jasmin und Orangenblüten duften, war in Wahrheit eine zweite Messalina.

Theodor: Ich kenne dein goldnes Herz.

Rosette: Ja, du allein! Du hast mich im Banne einer hoffnungslosen und somit großen Liebe gesehen. Wer ein Weib nicht kennen gelernt, wenn es liebte, der weiß nichts von ihr.

Daß du mich kennst, das ist mein einziger Trost in meinem Weh!

Theodor: Sage, was denkt der junge Mann von dir, der in den Augen der Gesellschaft jetzt als dein Geliebter gilt?

Rosette: Eines Liebenden Gedanken sind tief wie das Meer. Es ist schwer zu enträtseln, was im Herzen und im Hirn eines Mannes vor sich geht. Mit einem noch so langen Lot kommt man auf keinen Grund. Gleichwohl habe ich bei ihm zuweilen [91] den Boden verspürt, aber das Senkblei brachte mir nicht immer Perlen mit herauf. Zumeist hingen häßliche Dinge daran.

Seine Meinung über mich hat Wandlungen erfahren. Er fing damit an, womit die Andern meist aufhören. Zuerst verachtete er mich. Das beweist, daß er Phantast ist. Der Schritt in die Wirklichkeit ist für Phantasiemenschen immer ein tiefer Fall. Es gibt keine Brücke von der Traumwelt zur Erde. Er verachtete mich. Ich war ihm vergnüglich. Jetzt hegt er Achtung vor mir, und ich bin ihm langweilig.

Er ist über mich hinweggeschritten, um anderswohin zu gehen. Ich war ihm Weg ins Weite. Kein Ziel. Hinter seiner scheinbaren Jugendfrische wühlt die ärgste Zersetzung. Sein Herz ist wurmstichig. In seinem kraftstrotzenden Jünglingsleib trauert eine altgewordene Seele, die unheilbar glücklos ist.

Ich war tief erschüttert, als ich mich zum ersten Male über die dunklen Tiefen seines Innern beugte. Dein Leid und mein Schmerz sind nichts, verglichen mit seiner Qual! Er findet keine Ruh bei Tag und Nacht. Wie der Heliotrop kriecht er an düsterer Kellermauer empor, der Sonne zu, die er nicht findet. Seine Seele ward nicht lange genug in die Flut der Vergessenheit getaucht, ehe der Gott sie in seinen Körper bannte. Nun narrt und martert sie der Nachhall paradiesischer Seligkeit. Sie erinnert sich ihrer einstigen Fittiche, derweil sie über die Erde kriechen muß.

Ich war ihm der bunte Liebestraum einer Sommernacht. Ich hätte ihm einen gewaltigen Sonnentempel errichten müssen. Doch dazu fehlten mir die Kräfte. Ich stellte mich, als verstünde ich ihn nicht. Ich ließ ihn mit seiner himmelstürmenden Sehnsucht weiter am Boden hinkriechen, auf der Suche nach den Höhen, die in die Unendlichkeit ragen. Er glaubt, ich wüßte von alledem nichts. Da ich ihm nicht helfen konnte, [92] so habe ich ihm wenigstens den schönen Wahn geschenkt, sich leidenschaftlich geliebt zu fühlen. Mein herzliches Mitleid hat mir meine fromme Komödie leicht und lieb gemacht.

Ich war eine gute Schauspielerin. Ich war heiter und elegisch, empfindsam und wollüstig. Ich habe ihm Unruhe und Eifersucht vorgetäuscht. Ich habe erheuchelte Tränen vergossen und seligstes Lächeln in meine Mienen gezaubert. Ich habe meine Lügenliebe in die leuchtendsten Gewänder gekleidet. Ich bin mit ihm durch die Wundergärten der Liebe gewandelt, und auf mein Geheiß haben die Vögel in den Büschen gesungen, wenn wir vorüberwandelten, und alle Rosen und Dahlien haben auf meinen Wink ihre Häupter geneigt. Ich habe alles Schöne der Welt überredet, mein Bundesgenosse zu sein. Ich habe der grauen Wirklichkeit meine goldene Maske aufgezwungen.

Wenn die Stunde kommt, in der das Trugbild in Stücke zerschlagen werden muß, will ich alles Unrecht auf mich laden und ihm keinen Anlaß zur Reue lassen.

Sage, ist solch ein Trug erlaubt? Ist solche Preisgabe nicht hehr und heilig?

Theodor: Wer wird dir vergelten, was du für ihn getan?

Rosette: Niemand, da du es nicht kannst!

Theodor: Ach, daß ich es könnte, liebste Seele! Aber verliere die Hoffnung nicht! Noch bist du jung! Man darf nicht bereits an der Schwelle des Lebens verzweifeln. Unser Dasein gleicht dem Turm eines großen Domes. Eine schier endlose enge Treppe führt hinauf. Es kostet viel Mühe, ehe wir sie hinter uns haben. Endlich stehen wir oben. Und nun schauen wir über die Giebel und Kuppeln der Stadt hinweg nach den grünen Höhen und blauen Hügeln und nach dem glitzernden Strom mit seinen weißen Segeln. Goldnes Licht durchdringt uns. Schwalben stoßen dicht an uns vorüber, hin und her, mit fröhlichen kurzen Schreien. Das Gewimmel der Stadt grüßt [93] aus der Tiefe wie Freundesflüstern: ein summender Bienenkorb. Klare Glocken klingen. Winde wehen Waldesluft und Bergblumenduft herüber. Licht, Einklang, Wohlgeruch ringsum.

Wären unsre Füße ermüdet, hätte uns unterwegs Mutlosigkeit befallen, wären wir auf der Treppe irgendwo sitzen geblieben, so wäre uns dies Gipfelglück verloren gegangen.

So ist auch dein Leben. Du mußt Mut und Beharrlichkeit üben. Je länger man emporklimmt, ohne Umblick zu haben, umso weiter wird oben der Sehkreis und umso größer unser Glück, wenn wir uns durchringen.

Manche finden im Aufstiege Gucklöcher; andre haben nur die Wahl zwischen nichts und allem.

Rosette: Ich möchte wenigstens an eines der kleinen Fenster gelangen. Ich tappe schon zu lange durch das Dunkel der Wendeltreppe. Weiß ich denn, ob ich nicht oben über den letzten Stufen ein Gewölbe aus Quadern ohne einen Durchlaß antreffe und nie zur Aussicht komme?

Theodor: So darfst du nicht zweifeln, Rosette! Kein gewöhnlicher Baumeister baut Treppen, die nirgendswohin führen, und Türme, die zu ersteigen zwecklos wäre. Hältst du den bedächtigen Baumeister des Weltgebäudes für törichter oder untüchtiger? Also Mut, Rosette! Vielleicht bist du der Höhe nahe.

Rosette: Und wäre ich es auch: von der Höhe müßte ich mich doch in die Tiefe stürzen!

Theodor: Armes Kind! Verscheuche diese trübseligen Gedanken, die uns wie Fledermäuse umflattern! Wenn ich dich lieb haben soll, dann mußt du fröhlich sein und darfst nicht mehr weinen!

(Er zieht Rosette zärtlich an sich und küßt sie auf die Augen.)

Rosette: Es ist mein Unstern, daß ich dir begegnen mußte! Gleichwohl, finge ich mein Leben wieder von vorn an: ich [94] möchte dich nicht darin missen! Deine Härte war mir süßer als der andern Liebe. Obgleich ich durch dich viel leiden muß, ist mir das bißchen Freude, das mir zuteil ward, doch nur von dir gekommen. Durch dich habe ich erkannt, was ich hätte sein können. Du zucktest wie ein Blitz in die Nacht meiner Seele und erhelltest ihre Dunkelheit. Du eröffnetest meinem Leben neue Ausblicke. Dir verdanke ich, daß ich die Liebe kenne. Es ist eine unglückliche Liebe, allerdings, aber es liegt ein seltsamer tiefer Reiz im Bewußtsein, zu lieben ohne wiedergeliebt zu werden. Und etwas Erhabenes im Denken an die, die einen vergessen. Lieben zu können ist schon an und für sich Glück, auch wenn man einsam liebt. Viele gehen dahin und sterben und haben dies Glück nicht genossen. Keiner ist beklagenswert, der irgendwie geliebt hat!

Theodor: Du leidest und fühlst deine Wunden. Aber du lebst doch wenigstens. Du hängst an etwas. Du hast einen Stern, um den du kreisest, einen Pol, nach dem du sehnsüchtig strebst. Du hast etwas zu wünschen. Du kannst dir sagen: Wenn ich dahin komme, wenn ich das erlangt, dann bin ich wunschlos glücklich! Du leidest furchtbare Todesnot, kannst dich aber doch sterbend trösten: Um seinetwillen lösche ich aus. So sterben heißt auferstehen! Die wirklich rettungslos Unglücklichen sind die, die in ihrer Narretei alle Welt ans Herz drücken, alles und nichts begehren, und verwirrt und stumm vor der Fee verharren würden, die mit der Aufforderung an sie träte: Wünsche dir etwas! Dein Wunsch soll in Erfüllung gehn!

Rosette: Ich wüßte, was ich mir wünschte, wenn die Fee käme.

Theodor: Du weißt es, Rosette. Und darin bist du glücklicher als ich; denn ich weiß es nicht. Viele unbestimmte Wünsche wogen in meiner Brust und verschwinden ineinander und gebären [95] andre, von denen sie schon im Augenblick wieder verschlungen werden. Meine Wünsche sind wie eine Schar Vögel, die ziellos fliegen und umherflattern. Dein Wunsch ist ein Adler, der die Augen der Sonne zuwendet, und nur das Ende der Erdenluft hindert ihn, sich auf seinen entfalteten Schwingen zur Sonnenhöhe emporzuheben.

Oh, wüßte ich, was ich will! Könnte sich der Gedanke, der mich verfolgt, klar und deutlich aus seinem Nebelmeere lösen! Ginge mir doch endlich der Glücksstern oder der Unstern an meinem Lebenshimmel auf! Ein Licht, das mir den Weg zeigte durch die dunkle Nacht, einerlei, ob ein trügerisches Irrlicht oder gastlicher Leuchtturmschein! Wenn eine Feuersäule vor mir herzöge, ich folgte ihr, selbst durch Wüste ohne Brot und Wasser. Nur müßte ich wissen, welchem Ziele meine Schritte zueilen, und läge der tiefste Abgrund dazwischen. Die tolle Jagd eines Gehetzten, Geächteten, über Stock und Stein, wäre mir tausendmal lieber als dieser fade glatte Spaziergang. So leben, heißt ein ähnliches Dasein führen wie ein Gaul, der mit verbundenen Augen eine Brunnenwelle dreht und dabei Tausende von Meilen zurücklegt, ohne weder etwas zu sehen noch vom Platze zu kommen. Ich trotte lange genug im Kreise herum. Der Eimer könnte bald heraufgewunden sein! Rosette: Du hast viel Ähnlichkeit mit dem Chevalier. Wenn ich dich so sprechen höre, ist es mir zuweilen, als ob er rede. Sobald du ihn näher kennengelernt hast, werdet ihr ohne Zweifel sehr gute Freunde. Ihr müßt zueinander stimmen. Auch ihn drängt es ins Ziellose; er liebt und weiß nicht was; er möchte den Himmel stürmen und die Erde ist ihm nichts wert – und doch ist er hochmütiger als Luzifer vor seinem Falle.

Theodor: So ist er ein echter Dichter. Ich fürchtete, er sei einer der Vielzuvielen, die in ihren eitlen Reimereien unechte Perlen aneinanderreihen.

[96] Rosette: Er ist ein Dichter, aber sein bestes wahrstes Gedicht, das ist er selbst. Ich weiß nicht, ob er es je in die Form der Worte gießen wird. Seine Seele hat viele Geheimfächer voll der allerschönsten Gedanken. Er umgibt sie mit dreifacher Mauer. Er hütet sie eifersüchtiger als ein Sultan seine Odalisken. In seinen Versen preist er immer nur die, die ihm gleichgültig geworden sind, die er satt bekommen hat. Die Dichtung ist ihm das Tor, durch das er sie hinausjagt. Und so erhält die Welt nur von ihm, was er selber nicht mehr mag.

Theodor: Ich verstehe seine Eifersucht und seine Scheu. Es gibt Menschen, die gestehen ihre Liebe nicht eher ein, als bis sie vergangen; bekennen nicht eher, diese und jene zur Geliebten gehabt zu haben, als bis sie gestorben oder verdorben.

Rosette: Es ist so schwer, etwas auf dieser Welt ganz zu eigen zu haben. Jedes Licht zieht Scharen von Faltern an, jeder Besitz Diebe über Diebe. Ich liebe die Schweigsamen, die ihr Heiligtum mit in das Grab nehmen, weil sie es nicht den unreinen Küssen und der aufdringlichen Berührung der Menge aussetzen wollen. Ich verstehe die Liebenden, die den Namen der Geliebten in keine Rinde ritzen, keinem Echo anvertrauen und im Schlafe von der Furcht verfolgt werden, ein Traum könnte sie verführen, ihn laut zu rufen. Ich gehöre zu ihnen. Ich verrate meine Gedanken nicht. Und niemand wird von meiner Liebe erfahren ...

Doch, schau, lieber Theodor, es ist beinahe elf Uhr. Ich entziehe dich der Ruhe, deren du sehr bedürftig bist. Indem ich dich verlassen muß, krampft sich mir das Herz zusammen. Voller Bangen bedenke ich, ob ich dich wiedersehe. Deshalb zögere ich zu gehen. Aber es muß sein. Leb wohl! Ich fürchte, der Chevalier sucht mich. Leb wohl, mein Freund!

[97] Theodor geleitete Rosette, den Arm um ihren Leib, bis zur Schwelle. Als sie von ihm gegangen, blieb er in der offenen Türe stehen und schaute ihr nach. Durch die Fensterreihe fiel das Mondlicht in den dunkeln Gang und schuf einen phantastischen Wechsel von Licht und Schatten. Bei jedem Fenster, an dem Rosette vorüberhuschte, leuchtete ihre weiße Gestalt auf wie eine silberne Fee, die rasch wieder in das Dunkel tauchte und immer wieder erschien, ferner und ferner, bis sie schließlich verschwand.

In tiefes Sinnen verloren stand Theodor noch eine Weile regungslos mit verschränkten Armen da. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, warf trotzig den Kopf zurück und trat wieder in sein Zimmer. Er küßte seinen friedlich schlummernden Pagen auf die Stirn und legte sich zur Ruhe nieder.

7.

[98] VII

Am andern Morgen ließ sich der Chevalier gegen seine Gewohnheit zeitig bei Rosette melden.

»Du bist es!« sagte sie verwundert. »Fast möchte ich fragen: So früh? Aber du kommst mir nie zu früh! Zur Belohnung darfst du mir die Hand küssen!«

Sie reichte ihm aus den flandrischen Spitzen ihrer Decke heraus das allerzierlichste Frauenhändchen.

Der Chevalier drückte galant einen leichten Kuß darauf.

»Und das Schwesterlein, soll das nichts bekommen?« fragte er.

»Ach du mein Gott! Warum nicht? Ich bin heute in Sonntagsstimmung. Da!«

Die andere Hand kam zum Vorschein und tippte den Chevalier auf den Mund. »Bin ich nicht riesig nett?«

»Mehr noch! Die Grazie selbst! Man sollte dir einen weißen Marmortempel in einem Myrtenhaine weihen. Wahrlich, ich glaube, es ginge dir wie der Psyche: Aphrodite würde eifersüchtig auf dich!«

Er küßte Rosettens beide Hände.

»Das sagst du alles so, als hättest du das auswendig gelernt.« Rosette schmollte kokett.

»Das ist nicht der Fall. Aber für dich kann man seine Sätze nicht genug ziselieren.«

[99] »Ah! Was ist denn in dich gefahren? Du bist übergalant! Bist du krank? Oder deinem letzten Stündlein nahe? Weißt du, wenn sich jemand ohne rechte Veranlassung urplötzlich völlig wandelt, so ist das ein schlimmes Zeichen! Alle Frauen, die es bisher auf sich genommen haben, dich zu lieben, sind sich darüber einig, daß du für gewöhnlich ein unausstehlicher Griesgram bist. Und mit einem Male so! Mein verehrter Chevalier, du siehst tatsächlich ganz blaß aus! Reiche mir deinen Arm! Ich will einmal deinen Puls fühlen.«

Rosette streifte seinen Ärmel zurück und zählte mit drolligernster Miene des Chevaliers Pulsschläge.

»Merkwürdig! Es geht dir ausgezeichnet. Nicht die leiseste Spur von Fieber! Dann muß ich also heute berückend hübsch aussehen. Gib mir einmal den Spiegel da! Ich will mich überzeugen, ob deine Galanterie berechtigt ist.«

D'Albert holte einen kleinen silbernen Handspiegel vom Toilettentisch und legte ihn ihr auf das Bett.

»Wirklich!« erklärte Rosette. »So unrecht hast du nicht! Mein Herr Poet, warum machen Sie kein Sonett auf meine bildschönen Augen? Warum nicht? Ich bin recht unglücklich daran. Was nützt es mir, daß ich solche Augen habe und einen veritablen Dichter dazu, wenn er mir kein Gedicht darauf macht? Da könnte ich ja auch einäugig sein und zum Liebsten einen Schulmeister haben! Du liebst mich nicht mehr! Geh! Meinen Namen hast du auch noch nie verherrlicht. Und meinen Mund auch nicht! Den Mund, der dich schon tausendmal geküßt hat!«

»Rosette, rede nicht so leichtsinnig! Du weißt, daß ich dich liebe!«

»Das weiß ich gar nicht ganz genau! Du vielleicht?«

»Natürlich. Ganz genau weiß ich das. Und wenn du deine Tür verschließen wolltest, ich würde doch einen Weg zu dir finden!«

[100] »Was du sagst! Ich habe zwar große Lust, den Beweis davon zu sehen, indessen: mein Haus soll doch lieber offen bleiben! Die Sonne scheint für jedermann, und meine Schönheit soll eine Sonne sein! Du hast wohl nichts dagegen?«

»Doch! Ich finde das abscheulich! Aber ich mache dir trotzdem keine Vorschriften. Ich bin dein Diener und Sklave!«

»Das ist nett! Bleibe dies!«

Der ewig lächelnde dicke Neger, Rosettens Boy, erschien in der geöffneten Tür und meldete:

»Herr Marquis von Serannes bittet um die Ehre, seinen Besuch machen zu dürfen!«

»Ich lasse den Marquis bitten!« erwiderte Rosette und zog ihre Spitzendecke bis ans Kinn hinauf.

Theodor trat ein, ging rasch auf Rosettens Bett zu und begrüßte sie mit einer tiefen Verbeugung. Sie dankte mit einem huldvollen Kopfnicken und stellte ihn dem Chevalier vor. Der Ankömmling sagte höflich-freimütig:

»Die Herrschaften waren eben in einem anregenden Gespräch. Darf ich bitten, mich daran teilnehmen zu lassen? Ein paar Worte genügen, und ich bin im Bilde!«

»Ach nein!« erwiderte Rosette, ein klein wenig boshaft lächelnd »Wir sprachen von Geschäften.«

Theodor nahm am Fußende des Bettes in einem Lehnstuhl Platz, während d'Albert als Zuerstgekommener am Kopfende saß. Es kam eine Unterhaltung in Fluß, die sehr bald lebhaft und launig wurde.


Warum war der Chevalier so zeitig aufgestanden, um seine Geliebte in früher Morgenstunde zu besuchen? Er war doch nicht mehr verliebt. War er eifersüchtig? Gewiß hing er nicht mehr sehr an Rosette; er wäre sogar froh gewesen, ihrer ledig [101] zu sein. Aber er wollte der freigebende, nicht der freigelassene Teil sein. Darin war er eitel wie alle Männer.

Er war mit dem Vorsatze zu Rosette gekommen, sich vor dem Marquis, falls er ihn bei ihr träfe, sehr zugeknöpft zu verhalten. Aber Theodor hatte etwas Sieghaftes in seinem Wesen, eine merkwürdige Mischung von Vornehmheit und Natürlichkeit, so daß ihm niemand mißgesinnt sein konnte, selbst eifersüchtige Männer nicht. Zu seinem größten Erstaunen nahm der Chevalier wahr, daß sein Groll in der Gegenwart dieses jungen Menschen alsbald verflog. Es war ihm unmöglich, nicht ausgesucht liebenswürdig zu sein. Und so kam es, daß man die beiden nach einer halben Stunde für zwei Jugendfreunde hätte halten können.

Insgeheim war d'Albert allerdings davon fest überzeugt: wenn Rosette überhaupt der Liebe fähig war, dann mußte sie diesen Mann lieben. Er hatte also vollauf Grund, eifersüchtig zu sein, wenigstens für die Zukunft, denn davon ahnte er nichts, daß Rosette mehrere Stunden der vergangenen Nacht im Zimmer des Fremdlings verweilt hatte.

Rosette lauschte Theodors Worten andächtig, wie man es tut, wenn man einen geliebten Menschen reden hört. Auch darin konnte d'Albert nichts Beunruhigendes finden, denn Theodor verstand sich aufs amüsante Plaudern. Gegen Rosette benahm er sich artig und ganz wie ein harmloser guter Freund.

»Was wollen wir heute anfangen, Theodor?« fragte Rosette. »Was meinen Sie? Eine Kahnpartie oder eine kleine Steeplechase hinter den Hunden?«

»Ich bin für das Kavalleristische!« entschied sich Theodor. »Zur Seite eines Schwanes durch das Wasser zu gleiten und Seerosen zu pflücken, das macht melancholisch. Sind Sie nicht auch meiner Ansicht, Herr d'Albert?«

»Ich lasse mich eigentlich lieber in einem Boote den Fluß hintreiben, [102] als daß ich ein armes Füchslein zu Tode hetze, aber selbstverständlich richte ich mich nach Ihnen. Zunächst jedoch müssen wir die gnädige Frau aufstehen und sich ankleiden lassen. Darf ich Sie bitten?«

Rosette klingelte der Zofe. Die Herren gingen aus dem Zimmer, wobei sich der Chevalier an Theodors linken Arm hängte.


Eine Stunde später war alles bereit. Der Chevalier und Theodor waren bereits im Sattel, als Rosette auf der Freitreppe erschien. Das kurze knappe Reitkleid stand ihr prächtig.

Ein Diener half ihr beim Aufsitzen. Dann ging es zum Tor hinaus. Auf dem Waldwege galoppierte Rosette an. D'Albert folgte ihr. Theodor ließ den beiden einen Vorsprung und sah sich ein paarmal erwartungsvoll um.

»Theodor, Theodor!« rief ihm Rosette zurück. »Warum kommen Sie nicht? Kann Ihr Gaul nicht?«

Theodor blickte sich noch einmal nach dem Schlosse um, dann begann er in kurzem Galopp nachzureiten. Er hatte gesehen, was er wollte: sein Page verließ soeben das Parktor.

»Theodor!« rief Rosette von neuem. »Ist Ihr Gaul aus Holz? Vorwärts!«

Serannes ließ seinem Araber die Zügel und war bald an Rosettens Seite und über sie hinaus.

»Wer mich liebt, folgt mir!« rief er übermütig und sprang über eine anderthalb Meter hohe Hecke, die den sich wendenden Weg von einer Waldwiese trennte. Jenseits parierte er sein Pferd und nahm die Front wieder gegen das Hindernis.

»Nun, Herr d'Albert, Sie nicht? Ich denke, Poeten reiten Flügelrosse? Schade!«

»Mein Gott,« meinte der Chevalier lächelnd, »man hat nur ein Genick! Hätte ich zwei, so wollte ich eins schon riskieren!« »Folglich hat mich niemand lieb!« erklärte Theodor.

[103] »Doch!« rief der kleine Page, der sich eben einstellte. Er sah seinen Herrn und Gebieter mit großen Augen an. Dann gab er seinem Tiere die Sporen und einen Schlag mit der Gerte – und drüben war er.

Rosette warf dem Knaben einen pikierten Blick zu, wobei sie ein pupurrotes Gesicht bekam. Ein fester Peitschenschlag traf die Kruppe ihres Rappen – und auch sie war auf Theodors Seite.

»Dachten Sie, ich nicht?« rief sie ihm zu.

Der Page schielte die Reiterin von der Seite an. D'Albert war inzwischen die Straße weiter geritten und sah vom ganzen Zwischenspiel nichts. Seit Urzeiten haben ja Väter, Ehegatten und Geliebte das Vorrecht, nichts zu sehen.

»Du bist toll, Kleiner!« meinte Theodor. »Aus dem Stand solch eine hohe Hürde zu nehmen! Konntest das Genick brechen! Und Sie, Rosette, Sie sind noch toller! Das ist nichts für jemanden, der im Damensattel sitzt! Es konnte Ihr Tod sein!«

»Meinetwegen!« erwiderte Rosette unmutig und so schwermütig, daß ihr der Page die Konkurrenz über die Hecke verzieh.

Schweigend trabte man zum Rendez-vous-Platze, wo die Pikeure, der Huntsman und sechzehn Koppeln englischer Fuchshunde harrten. Von einem runden Platz, auf dem ein sechskantiger Stein stand, gingen sechs schnurgerade durch den Hochwald gehauene Schneisen sternartig aus.

Die Hörner klangen. Die Hunde wurden auf die Fährte Meister Reinekes gesetzt, dem man eine Stunde vorher am nämlichen Orte die Freiheit gegeben hatte, – und die Jagd begann. Theodor als Master vorweg. Die drei andern folgten, erst der Chevalier, dann Rosette und zuletzt der Page. Es ging im Galopp durch eine der Schneisen.

[104] »Achtgeben!« rief Rosette mit einem Male. Ein starker Baumast hing drohend über den Weg. Es war aber zu spät. Der Ast hatte den Pagen bereits vor die Brust getroffen.

Durch die Heftigkeit des Stoßes verlor der Kleine die Steigbügel. Er kam aus dem Sitze und fiel vom Pferde. Besinnungslos lag er nun auf dem Wege.

Rosette war heftig erschrocken, aber sie parierte ihr Pferd sofort, und flugs war sie aus dem Sattel. Als sie sich besorgt über den Pagen beugte, rührte er sich noch immer nicht. Er hatte sein Barett verloren und sein langes blondes Haar fiel ihm über die Stirn. Rosette öffnete ihm Gürtel und Weste und wollte das Hemd unter dem Spitzenkragen lockern, damit er Luft bekäme. Da machte sie eine merkwürdige Entdeckung: der Page hatte einen Busen, wenn auch in jungfräulichstem Ansatze.

»Ein Mädchen!« rief Rosette aus. »Ach, Theodor!«

In diesem Augenblick begann der Page leise zu atmen und schlug verwundert die Augen auf. Er war nur ohnmächtig gewesen, hatte sich aber nicht verletzt. Mit Rosettens Hilfe richtete er sich bald wieder auf und bestieg von neuem sein Pferd. Das war gutmütig stehengeblieben.

Die beiden Herren hatten den Unfall nicht bemerkt. Man traf sich erst am Halali.

Als Rosette den Vorfall kurz erwähnte, verfärbte sich Theodor und war fortan recht einsilbig. Auch Rosette war versonnen; erst recht der Chevalier.

8. Der Chevalier d'Albert an seinen Freund

[105] VIII
Der Chevalier d'Albert
an seinen Freund

Lieber Silvio, ich habe Dich durchaus nicht vergessen. Ich gehöre nicht zu denen, die durch das Leben hasten, ohne je zurückzublicken. Die Vergangenheit mischt sich mir in die Gegenwart und noch in die Zukunft. Unsere Freundschaft ist eine sonnige Insel meines Lebens, wenngleich sie im Blau der Ferne liegt. Oft wende ich den Blick dahin, voll unsäglicher Trübsal.

Ich verheimliche Dir nichts, weder von meinen Gedanken, noch von meinen Taten. Ich zeige Dir die geheimsten Winkel meines Herzens. So seltsam, lächerlich, verstiegen die Regungen meiner Seele sein mögen: ich enthülle sie Dir. Aber, glaube mir, seit einiger Zeit bin ich in einem so sonderbaren Zustande, daß ich ihn Dir kaum zu bekennen wage. Wie ich Dir bereits gesagt, hege ich seit langem die Befürchtung, daß ich auf meiner Jagd nach dem Ideal einmal Unerhörtem, Ungeheuerlichem verfallen könne. Jetzt bin ich nahe daran!

Fanatisch habe ich die leibliche Schönheit gesucht. Ich bin in die Form verliebt und hänge an den sichtbaren Dingen dieser Welt. Das ist meine Natur. An die seelische Schönheit zu glauben und ihr nachzugehen, dazu bin ich zu verdorben und zu enttäuscht. Ich stehe jenseits von Gut und Böse. Ich kann [106] es nicht voneinander trennen. Ich bin auf den naiven Zustand zurückgekommen, in dem Kinder und Barbaren leben. Ich habe kein Gewissen im herkömmlichen Sinne. Ich kenne weder Reue noch Mitleid. Nichts scheint mir lobenswert oder tadelhaft, und das Absonderlichste setzt mich nicht in Erstaunen. Im Ehebruche sehe ich etwas Harmloses. Es dünkt mich nur natürlich, wenn sich ein junges Mädchen preisgibt. Ohne weiteres könnte ich meinen besten Freund verraten. Ich würde nicht das leiseste Bedenken tragen, jemanden umzubringen, der mir irgendwie im Wege steht. Ich kann mir kaltblütig die gräßlichsten Greuel ansehen. Im Leid und in den Drangsalen der Menschheit scheint mir ein erhabenes Motiv zu stecken, so daß es mich nicht abstößt. Eine herbe Wollust tröstet meine eigene Unvollkommenheit, mein eigenes Unbefriedigtsein, mein eigenes Unglück. Ich bin ein bewußter Egoist geworden.

Wenn ich als Knabe von großen Heldentaten hörte, durchlief es mich vom Kopf bis zu den Zehen wie Eis und Feuer. Heute ergreift mich nichts, erschüttert mich nichts, begeistert mich nichts. Ich finde Mitleid und Rührung lächerlich. Die Saiten meines Herzens sind so straff gespannt, daß sie davon nicht in die leiseste Schwingung geraten. Ich sehe den Tränen genau so gelassen zu wie dem Regen durch das geschlossene Fenster. Wenn sie über schöne Wangen perlen, und ein Sonnenstrahl oder Kerzenlicht funkelt darin, dann habe ich sogar Genuß daran. Nur für die Tiere hege ich Mitgefühl. Wenn ich im Vorübergehen sehe, daß man irgendeinen Kerl verprügelt, so läßt mich das kalt. Aber ich dulde nicht, daß man in meiner Gegenwart einem Pferd oder einem Hunde Leid antut.

Gleichwohl bin ich nicht bösartig. Ich habe noch keinem Menschen etwas Schlimmes zugefügt und werde es vermutlich auch nie tun; vielleicht mehr aus Gleichgültigkeit und souveräner [107] Verachtung gegen jeden, der mir mißfällt, denn aus anderm Anlaß. Ich verabscheue die Menschen als Gesamtheit. Meines Hasses aber achte ich kaum zwei oder drei für wert. Jemanden hassen heißt sich ebenso um ihn kümmern, als wenn man ihn liebte. Man zeichnet ihn damit vor der Herde aus und verändert seinetwegen den Zustand der Seele. Es läßt einem keine Ruhe bei Tag noch bei Nacht. Man rast bei dem Gedanken, daß er sich seines Lebens freut. Wozu das alles? Nur der darf hassen, der zu gleicher Zeit eine große Liebe in sich trägt. Wilder Haß muß großer Liebe dienen. Ich liebe nichts! Vermöchte ich also zu hassen?

Ich habe zu meiner Qual ungeheure Kraft zu Haß und Liebe in mir aufgespeichert. Sie findet keine Verwendung, und wenn dies so bleibt, so gehe ich daran zugrunde. Hätte ich jemanden, den ich bis in den Tod hassen müßte, vielleicht käme dann auch unversehens die große Liebe ...

Ich sagte eben: ich liebe nichts! Und doch liebe ich, aber es wäre tausendmal besser für mich, zu hassen. Ich bin dem Typ der so lange von mir ersehnten Schönheit begegnet. Ich habe die Schöpfung meines Hirns leibhaft gefunden. Mein Traumbild lebt. Es hat mit mir gesprochen. Ich habe es mit der Hand berührt. Es ist also kein bloßes Phantasiegebilde. Ich wußte das immer. Meine Vorahnungen betrügen mich nie.

Ja, Silvio, es lebt unter dem nämlichen Dache mit mir. Drüben im andern Flügel des Hauses ist sein Zimmer. Der Vorhang an seinem Fenster bewegt sich im Winde. Der Schein seiner Lampe grüßt zu mir herüber. In einer Stunde sitze ich mit ihm an der Abendtafel.

Die schönen morgenländischen Wimpern, der tiefe leuchtende Blick, der matte warme Ambraton, das glänzende schwarze Haar, die feine hochmütige Nasenlinie, die edle Gliederung der schlanken Gestalt in der Art des Parmigianino, die köstlichen [108] Rundungen, die Reinheit des Ovals, die ein Gesicht so rassig und vornehm macht: alles das, was ich an fünf oder sechs Menschen verteilt gefunden und bewundert, hier ist es an einem einzigen beieinander!

Am meisten bewundere ich unter dieser Fülle eines: seine Hände. Du müßtest sie sehen! Vollendete Meisterwerke! Weiß und doch lebensvoll! Wie weich die Haut! Wie elegant die Form der Nägel! Wie feingezeichnet die Nagelaugen! Und wie funkelnd die Politur! Die schönen Hände der Anna von Österreich waren berühmt; aber so wundervoll können sie nicht gewesen sein! Der Gedanke an diese Hände macht mich zum Narren. Meine Lippen glühen und beben. Ich schließe die Augen, um sie nicht mehr zu sehen. Aber etwas faßt leise an meine Lider und Wimpern und öffnet sie mir wieder; diese Hände sind es: eine Vision von Elfenbein und Schnee ... Nein, es ist die Klaue des Teufels, die sich in dieser seidenweichen Hand verbirgt! Ein höhnischer Dämon treibt sein Spiel mit mir ...

Ich sehnte mich nach Schönheit. Aber ich wußte nicht, was ich damit begehrte. Es ist dasselbe, als wenn man mit bloßen Augen in die Mittagssonne sieht oder mit nackten Händen in ein flammendes Feuer greift. Ich leide unsagbar!

Warum kann man sich nicht mit der Vollkommenheit in Einklang setzen? Nicht eins mit ihr werden? Warum fehlt uns die Kraft dazu? Wenn ich vor etwas Schönem stehe, möchte ich es mit meinem ganzen Ich erfassen. Möchte es besingen, es malen, es schildern, es in Marmor nachbilden. Möchte von ihm wiedergeliebt werden. Möchte was nicht ist und nie sein kann.

Dein letzter Brief hat mich unglücklich gemacht, tiefunglücklich. Verzeihe mir, daß ich Dir dies sage! Das friedsame ungetrübte Glück, das Du mir da schilderst, Deine abendlichen [109] Waldeswanderungen, Deine langen Gespräche, zart und traulich, die mit einem keuschen Kuß auf die Stirn enden, Dein heiteres Einsiedlerleben, einen Tag wie alle Tage, alles das hat mir erst recht zum Bewußtsein gebracht, welch inneren Stürmen ich zur Beute geworden bin. Ihr werdet Euch in acht Wochen heiraten. Nichts tritt Euch in den Weg. Ihr wißt genau, eines gehört dem andern auf ewig! Ihr seid glücklich, und Ihr steht vor noch größerem Glücke.

Deine Braut ist schön, aber was Du an ihr liebst, das ist nicht greifbare sterbliche Schönheit, nicht die schöne Materie, sondern unsichtbare ewige Schönheit, die nie altert. Es ist die Schönheit der Vision. Sie ist voller Anmut und Reinheit. Du wirst geliebt, wie man von einer solchen Seele geliebt werden kann.

Nie hast Du Dich gefragt, ob ihr Haar eine Färbung habe, wie Rubens oder wie Gainsborough sie liebte. Es gefällt Dir, weil es ihr Haar ist. Ich möchte wetten, glücklich Liebender, der Du bist, Du weißt gar nicht einmal, ob der Typ Deiner Herzliebsten griechisch, morgenländisch, englisch oder lombardisch ist ...

O Silvio, glücklich sind die seltenen Herzen, die sich mit der Liebe an sich begnügen, dem reinen schlichten natürlichen Leben, die sich nie danach sehnen, heute Eremit in der Thebais und morgen als Fürst der Epikureer mit Kleopatra auf einer Insel des Lago di Garda zu leben ....

Wenn ich den Mut hätte, mich hier loszureißen, würde ich ein paar Wochen bei Euch verbringen. Vielleicht würde ich mich wandeln in der Luft, die Ihr atmet; vielleicht kühlte der Schatten Eures Gartens meine heiße Stirn. Aber, ach, Euer Paradies ist mir verschlossen! Kaum ist es mir vergönnt, aus der Ferne, über die Mauer hinweg, einen flüchtigen Blick darein zu werfen, wo zwei Himmelskinder Hand in Hand, [110] Auge in Auge lustwandeln. In Euer Eden könnte man höchstens in Gestalt der Schlange schleichen. Aber, geliebter Adam, um alles Glück der Welt, ich möchte nicht der Dämon sein, der Deine Eva in Versuchung bringen will.

Mein Blut ist vergiftet. Ein ungeheuerlicher Drang wuchert darin. Die blaßgrünen Blätter dieses Schierlings atmen eisigen Schatten aus. Welch ein Schicksal! Meine kühne Sonnensehnsucht, meine himmlische Begeisterung, meine göttliche Schwermut, meine hehren Liebesträume, meine Religion der Schönheit, meine farbenfrohe Phantasie, meine rastlose Empfänglichkeit, meine verheißungsvolle Jugend, meine schlummernden Fähigkeiten, alles das hatte kein ander Ziel – denn mich zum verworfensten aller Männer zu machen!

Ich suchte die Liebe. Wie ein Rasender rief und schrie ich nach ihr. Im Gefühl meiner Ohnmacht wand ich mich voll Wut. Ich setzte mein Blut in Brand und hetzte meinen Körper durch die Sümpfe der Lust. Ich habe ein junges schönes liebendes Weib an mein leeres Herz gepreßt. Ich bin der Leidenschaft nachgejagt, ohne sie zu fassen. Ich habe mich weggeworfen. Alle die Jahre, die ich vergeudet habe, unreif, dahin und dorthin laufend, voll Verlangen, die Natur und die Zeit zu bezwingen, die hätte ich in Einsamkeit und Andacht verbringen sollen, im Streben, mich der Liebe würdig zu machen! Das wäre klug und weise gewesen. Aber ich hatte Schuppen vor den Augen und lief geradenwegs auf einen grausigen Abgrund zu. Schon habe ich den einen Fuß ins Leere gesetzt, und ich glaube, den andren hebe ich alsbald auch auf. Was nützt es mir, daß ich einhalte? Ich stürze doch in die Tiefe.

Ja, so habe ich mir die Liebe vorgestellt. Jetzt weiß ich, was ich mir erträumt. Ja, das sind die köstlichen und grauenhaften Nächte ohne Schlaf, in denen rote Rosen zu glühenden Kohlen und glühende Kohlen zu roten Rosen werden. Das ist die [111] süße Qual und das leidvolle Glück der Liebe! Todessehnsucht unter goldenen Sternen. Hangen und Bangen, schmerzreiche Lüste, Fiebern und Frieren. Und in den summenden Ohren immer der eine vielgeliebte Name. Das ist die Liebe! Die Dichter haben nicht gelogen.

Wenn ich im Begriff bin, den Salon zu betreten, in dem wir gewöhnlich zusammenkommen, pocht mein armes Herz so wild, daß man es durch den Rock hindurch spüren muß. Ich presse beide Hände darauf, damit es nicht zerspringt. Erblicke ich das geliebte Wesen am Ende der Allee im Park, so schwindet augenblicklich die Entfernung zwischen uns beiden, und ich sehe den Weg nicht mehr. Ich kann nicht mehr weiter oder ich müßte Flügel haben.

Meine Gedanken haben nur noch ein Ziel. Nichts vermag mich abzulenken, nichts zu zerstreuen. Wenn ich ein Buch lese, legt sich sein Bild auf die Blätter. Wenn ich über die Haide galoppiere, so ist es mir, als spürte ich den warmen Hauch des geliebten Mundes über meinen Wangen, als ritten wir zu zweit. Sein Wesen hat mich ergriffen; es folgt mir überallhin. Ich empfinde es am deutlichsten, wenn es mir fern ist. Einst war ich zu beklagen, daß ich nicht liebte. Jetzt muß ich klagen, daß ich liebe und daß ich gerade dieses Wesen liebe! Mein Leben kam mir oft verfehlt vor; jetzt ist es zerstört. Eine unsinnige häßliche ehrlose Leidenschaft hat sich meiner bemächtigt. Die Scham darüber treibt mir das Blut in die Stirn. Bin ich wahnsinnig geworden?

Silvio: ich – liebe – einen – Mann!

9.

[112] IX

Lieber Silvio, es ist so: ich liebe einen Mann. Lange habe ich mich gegen diese Erkenntnis gesträubt. Ich gab den Gefühlen, die ich empfinde, einen andern Namen, kleidete sie in das Gewand reiner harmloser Freundschaft. Ich glaubte, es sei nichts als die Bewunderung, die ich für alle schönen Menschen und Dinge hege. Tagelang trieb ich mich auf dem verlockenden Irrpfade herum, der jede keimende Leidenschaft umgibt. Nun sehe ich mit Schrecken, wohin ich geraten bin. Ich kann es mir nicht verhehlen. Ich habe mich streng geprüft, habe kaltblütig alle Umstände erwogen bis in die kleinste Kleinigkeit. Ich habe meine Seele nach allen Richtungen durchforscht mit der Genauigkeit, wie sie einem die Gewohnheit des Selbststudiums verleiht. Ich wage es vor Scham gar nicht auszudenken, geschweige denn niederzuschreiben. Aber Tatsache bleibt Tatsache. Leider! Ich schwärme für Theodor nicht mit den Gefühlen der Freundschaft, sondern der Liebe. Jawohl, der Liebe!

Du, lieber Freund, mein guter einziger Gefährte, Du hast mir ähnliche Gefühle niemals eingeflößt, und doch: wenn es auf Erden wahre Freundschaft gibt, wenn verschiedene Seelen je einander voll verstehen können, so ist es unsere Freundschaft, so sind es unsre beiden Seelen! Was ich für den jungen Mann empfinde, ist mir unverständlich. Nie hat mich ein Weib so [113] seltsam erregt. Seine helle Silberstimme macht mich nervös und verwirrt mich in der eigentümlichsten Weise. Meine Seele hängt an seinen Lippen und dürstet nach seinen Worten wie die Biene nach dem Seim der Blüten. Ich bebe vom Kopf bis zu den Füßen, wenn ich ihn im Vorbeigehen streife. Abends beim Gutenachtsagen reicht er mir seine wundervolle samtweiche Hand, und all mein Blut drängt nach der berührten Stelle. Noch eine Stunde nachher fühle ich den leisen Druck seiner Finger.

Heute morgen habe ich ihn eine lange Zeit beobachtet, ohne daß er mich bemerkte. Ich stand hinter der Gardine und er an seinem Fenster, das dem meinen gegenüberliegt. Der Flügel des Schlosses, in dem er seine Gemächer hat, ist gegen das Ende der Regierung Heinrichs des Vierten erbaut, halb aus Ziegeln und halb aus Sandstein, nach dem Geschmacke jener Zeit. Das Fenster ist hoch und schmal und hat einen steinernen Balkon. Theodor stützte sich schwermütig auf das Geländer und war offenbar in tiefe Träumerei verloren. Großblumiger roter Damast fiel halbgerafft in schweren Falten hinter ihm bis auf den Boden und bildete einen malerischen Hintergrund. Wie war er schön! Sein braunblasses Gesicht hob sich herrlich von diesem Purpur ab. Zwei dichte dunkle glänzende Haarsträhne hingen ihm über die Wangen wie die Trauben am Haupte der Gorgone. Sein voller Hals war bloß. Er trug einen weitärmligen Morgenrock, der dem Kleid einer Frau ähnelte. In der Hand hielt er eine gelbe Tulpe, die er in unbarmherziger Träumerei zerpflückte. Die abgerissenen Blätter fielen einzeln herab. Ein Sonnenstrahl brach sich in der Fensterscheibe. Das ganze Bild bekam dadurch den warmen Goldton des Giorgione.

In seinem langen Haar, in dem der Wind leicht spielte, dem nackten Marmorhals, dem frauenhaften Gewand und seinen [114] wunderfeinen Händen sah er durchaus nicht wie ein schöner Mann aus, vielmehr wie das allerschönste Weib. Und mein Herz jubelte: Er ist ein Weib! Sicher ist er ein Weib! Und meine närrischen Träume fielen mir wieder ein. Du kennst sie! Was ich da vor mir sah, das war die schöne Dame, ganz so wie sie mir die Vision gemalt: eine vollständige Verkörperung des Urbilds meiner Sehnsucht! Es fehlte ihr nichts: nur war es ein Mann, der da vor mir stand. Aber in diesem Augenblicke hatte ich dies vergessen.

Theodor muß ein verkleidetes Weib sein. Andres ist nicht möglich. Seine selbst für eine Frau ungewöhnliche Schönheit ist nicht die eines Mannes. Selbst Antinous kann nicht so ausgesehen haben. Zweifellos, es ist ein Weib! Beim Teufel, ich bin ein Narr, daß ich mich so quäle! Auf diese Weise erklärt sich alles auf das natürlichste, und ich bin gar nicht so ungeheuerlich, wie ich das glauben mußte. Ach, wenn es so wäre! O Schönheit, wir Männer sind dazu erschaffen, dich zu lieben und kniend zu verehren, wenn wir dich finden, und dich ewig in der ganzen Welt zu suchen, wenn uns jenes Glück nicht zuteil wird. Selbst aber schön zu sein, das vermögen nur Engel und Frauen. Wir Liebenden, wir Dichter, Maler und Bildhauer, wir versuchen dir einen Altar zu errichten. Der Liebende in seiner Geliebten. Der Dichter in seinem Lied. Der Maler auf seiner Leinwand. Der Bildhauer in seinem Marmor. Mehr vermögen wir nicht. Männern ist die Schönheit nicht Eigentum, sondern Augenweide.

Ich kannte einmal einen jungen Mann, der den Leib besaß, den ich selber haben sollte. Er war genau so geformt, wie ich mir mich wünschte. Wo ich häßlich bin, da war er schön. Neben ihm erschien ich wie der mißratene erste Entwurf zu ihm. Er war so groß wie ich, aber schlanker und kräftiger. Seine Gestalt ähnelte meiner, hatte aber etwas Elegantes und [115] Vornehmes, das mir fehlt. Seine Augen waren wie meine gefärbt, besaßen aber einen Schimmer und ein Feuer, die meine niemals haben. Seine Nase war wie meine gebildet, aber vom Meißel eines geschickten Bildhauers verfeinert. Seine Nüstern waren weiter und leidenschaftlicher, die Flügel kräftiger modelliert. Es lag etwas Großartiges darin, das diesem Teile meines Körpers vollständig abgeht. Ich beobachtete ihn, wie er ging und stand und sich vor den Damen verneigte, sich setzte und legte. Alles mit der vollendeten Anmut, die schönem Gleichmaß entfließt. Bisweilen überfielen mich Todtraurigkeit und wahnsinnige Eifersucht. Wenn die Frauen ihn und sein Wesen rühmten, hätte ich ausrufen mögen: Wie töricht seid ihr! Preist mich doch, denn dieser Herr ist ein Plagiat und ich bin das Original!

Die sonderbaren Liebschaften, von denen die Oden der antiken Dichter so viel berichten, erscheinen uns Fremdlingen jener Welt unverständlich, aber sie spiegeln wahre Dinge und für ihre Zeit nichts Ungeheuerliches. Wenn wir in der Schule diese Lieder übersetzten, so lasen wir an Stelle der männlichen Namen darin die Namen unsrer Angebeteten. Aus schönen Knaben wurden hübsche Mädchen. Auf diese Weise wandelten wir den Harem des Katull, Tibull, Properz und Vergil um. Das war eine spaßige Beschäftigung, zugleich der Beweis, daß wir vom Geiste der Antike keine blasse Ahnung hatten.

Ich bin ein Mann aus dem Zeitalter Homers. Die Welt, in der ich leben muß, ist nicht nach meinem Sinn. Ich verstehe die christliche Kultur nicht. Für mich ist Christus nicht in die Welt gekommen. Ich bin ein Heide vom Schlage des Alkibiades und des Myron. Ich pilgre nicht nach Golgatha und pflücke keine Passionsblumen. Das Blut des Gekreuzigten, das die Welt mit einem roten Bande zusammenhält, ist meinethalben [116] nicht geflossen. Ich lehne den Heiland ab. Mein rebellischer Leib sträubt sich, die Hegemonie des Geistes anzuerkennen. Mein Fleisch läßt sich nicht ans Kreuz schlagen. Ich finde die Erde genau so schön wie den Himmel, und ich halte die körperliche Schönheit für die höchste Tugend. Vergeistigung ist nicht mein Fall. Ein Standbild ist mir lieber als ein Gebet, heller heißer Mittag lieber als trübe kalte Dämmerung. Drei Dinge mag ich gern: Gold, Marmor und Purpur – Glanz, Festigkeit und Farbe. Mit ihnen vermählen sich meine Träume, Das sind die Grundstoffe meiner Ideale.

Zuweilen habe ich noch andre Träume. Ich schaue lange Züge ungezäumter und ungesattelter schneeweißer Rosse, auf denen schöne nackte Jünglinge sitzen. Auf dunkelblauem Grunde ziehen sie vorbei wie auf den Friesen des Parthenon. Oder Gruppen junger Mädchen mit Stirnbändern und faltigen Tuniken und elfenbeinernen Musikinstrumenten, die um eine ungeheure Vase tanzen. Nebel und Dunst gibt es da nicht, nichts Ungewisses oder Verschwommenes. Mein Himmel kennt kein Dämmergrau, nur gewaltige haarscharf umrissene weiße Wolken gleich Marmorstücken, von einer Jupiterstatue abgebrochen. Berge mit schroffen Gipfeln und wilden Klüften darunter. Auf der höchsten Spitze thront die Sonne und öffnet weit ihr gelbes Löwenauge mit goldenen Wimpern. Heimchen zirpen. Getreide knistert. Besiegt und matt vor Hitze duckt sich der Schatten am Fuße der Bäume zusammen. Alles strahlt, alles leuchtet, alles glänzt. Jedwede Kleinigkeit erlangt feste Form und spreizt sich keck. Alle Dinge nehmen klare Gestalt und satte Farben an. Es ist kein Platz für die erdenlose Schwärmerei der christlichen Kunst.

Das ist meine Welt!

In meinen Landschaften quellen starke Bäche aus porphyrnen Becken. Im grünen klingenden Schilf, wie es am Eurotas [117] wächst, leuchtet die runde Hüfte einer silberschuppigen Nixe mit wassergrünem Haar. Diana, ihren Köcher auf dem Rücken, mit wehendem Schleier, in Sandalen mit Kreuzbändern, schreitet durch den dunklen Eichenwald. Hinter ihr die Meute und Nymphen mit wohlklingenden Namen.

Meine Visionen sind in vier Farben gemalt wie die Bilder der frühen Meister. Oft sind es farbige Halbreliefs. Ich berühre gern mit den Händen, was ich sehe, und betaste die Rundungen bis in die Winkel. Ich liebe es, die Dinge von allen Seiten zu betrachten, und gehe mit einem Licht in der Hand rund um sie herum.

Die Frauen schaue ich im Geiste der Antike. Sie sind für mich mehr oder weniger gelungene plastische Schöpfungen. Ich schaue: Wie ist der Arm? – Ganz leidlich! – Die Hände? – Herrliche Linien! – Und der Fuß? – Der Knöchel könnte feiner sein. Die Ferse ist plump. Aber der Busen ist gut angesetzt und schön in der Form. Diese Schlangenlinie da ist wellenweich! Die Schultern sind voll und von Eigenart. Dies Weib ist in vielen Stücken wert, nachgebildet zu werden! Man kann sie zur Geliebten nehmen!

So bin ich immer gewesen! Ich betrachte das Weib mit den Augen des Bildhauers, nicht als Liebender im gewöhnlichen Sinne. Mir gilt die Form mehr denn der Inhalt. Ich glaube, wenn ich die Büchse der Pandora in die Hände bekäme, ich würde sie nicht öffnen.

Nach der Art der Alten sehe ich im Weibe eine zu unsrer Sinnenlust geschaffene Sklavin. In meinen Augen hat das Christentum die Frau nicht erhöht. Für mich ist und bleibt sie ein uns unterlegenes Wesen, von ganz andrer Art denn wir Männer. Ein schönes Spielzeug. Wir verklären das Weib durch unsre Phantasie, beten es dann an und genießen es.

Man wird mich beschuldigen, ich sei ein Frauenverächter. Im Gegenteil! Schätze ich sie nicht außerordentlich hoch ein?

[118] Eines verstehe ich nicht. Warum hegt den Frauen so viel daran, den Männern gleich geachtet zu werden? Ich begreife nicht, wie ein Weib als Mann behandelt sein möchte? Die Frauenemanzipation geht über meinen Verstand. Wenn ich mit im Trienter Konzil gesessen hätte, wo man bekanntlich die wichtige Frage erörtert hat, ob die Frau dem Manne gleich sei, ich hätte ablehnend gestimmt. Ich besitze Liebesgedichte von mir. Wenigstens sollten es einmal welche sein. Dieser Tage habe ich etliche davon wieder gelesen. Ich muß sagen, die modernen Liebesmotive fehlen diesen Versen vollständig. Hätten sie die Form der lateinischen oder griechischen Hymnen, so könnte man sie für Erzeugnisse eines Dilettanten der nachklassischen Antike halten. Ich wundre mich jetzt, daß die Frauen, die sie damals erhalten haben, darüber entzückt und nicht ernstlich erzürnt gewesen sind. Allerdings, Frauen verstehen von Dichtung und Kunst nichts. Und zwar mit Recht. Sie sind Instrumente, aber nicht Melodien. Eine Violine versteht auch nichts von der Kantilene, die ich ihr entlocke.

Seit Christi Zeit ist nicht ein einziges männliches Marmor- oder Erzbild entstanden, in welchem Mannesschönheit verklärt worden wäre wie weiland von den antiken Meistern. Das Weib ist das Sinnbild physischer und psychischer Schönheit geworden. Der Mann war mit dem Tage abgetan, da das Kind zu Bethlehem geboren ward. Seitdem ist das Weib die Königin der Schöpfung. Die Sterne reihen sich als Krone um ihr Haupt. Die Mondsichel ist beglückt, sich unter ihre Füße legen zu dürfen. Die Sonne gibt ihr lauterstes Gold, um ihr Geschmeide zu schaffen. Wenn die Maler den Engeln schmeicheln wollen, verleihen sie ihnen Mädchengesichter.

Vor den Tagen des liebenswürdigen sanften Gleichniserzählers war das anders. Da wurden die Götter und Helden, die verführerisch aussehen sollten, nicht verweiblicht. Sie behielten [119] ihren kräftigen und doch feingliedrigen Typ, aber sie blieben immer männlich, wie weich die Linien auch waren, wie glatt, muskel- und aderlos der Künstler auch ihre göttlichen Formen schuf. Die andersartige Schönheit des Weibes ging vom nämlichen Grundtyp aus. Nur machte man die Schultern abfallender, die Hüften schlanker, die Brüste vorspringender, Arme und Schenkel stattlicher. Zwischen Paris und Helena besteht kaum ein Unterschied. Und so ward Hermaphrodit eine vielgeliebte Erscheinung des heidnischen Himmels.

Der Sohn des Hermes und der Aphrodite ist eine der köstlichsten Schöpfungen der Antike. Man kann sich nichts Entzückenderes denken als diese vollkommen zu einem verschmolzenen zwei Körper, als diese beiden so ähnlichen und doch so verschiedenen Schönheiten, die nun eine – beide überragende – bilden. Sie gleichen sich aus und bringen sich gegenseitig zur Geltung. Kann es für einen fanatischen Bewunderer der Form eine reizendere Ungewißheit geben als die, die ihn beim Anblick dieses Rückens, dieser Lenden befällt, dieser feinlinigen, doch so kräftigvollen Beine? Man weiß nicht: soll man sie dem Gott mit dem beflügelten Schritt zuteilen oder der Diana, die dem Bad entsteigt. Der Rumpf ist die wunderlichste und wundervollste Vermengung. Auf der breiten Brust eines Jünglings rundet sich der anmutige Busen einer Jungfrau. Unter den weiblich weichen vollen Flanken ahnt man männliche Rippen und derbe Muskeln. Der Leib ist für eine Frau ein wenig zu flach, für einen Mann ein wenig zu rund. In der ganzen Körperhaltung liegt etwas Unbestimmtes, Unbegreifliches, Unsagbares, das einen eigenartigen Reiz ausübt. Theodor ist ein ausgezeichnetes Vorbild für jene Art Schönheit. Ich finde aber: das Weibliche hat bei ihm die Oberhand.

Eins ist höchst merkwürdig. Ich denke beinahe nie mehr an sein Geschlecht, sondern liebe ihn, als ob es sein müßte. Zuweilen [120] versuche ich mir einzureden, daß diese Liebe krankhaft sei, und nehme mich selbst streng ins Gebet. Es ist aber nur Lippensache. Ich bin nicht überzeugt davon. Diese Liebe ist mir etwas Selbstverständliches. Jedem andern an meiner Stelle ginge es gewiß ebenso.

Ich sehe Theodor. Ich höre ihn sprechen und singen. Er singt wundervoll. Ich finde unsäglichen Genuß daran. Er macht mir dermaßen sehr den Ein druck einer Frau, daß ich ihn eines Tages im Eifer der Plauderei Gnädige Frau genannt habe; worauf er, so dünkte es mich, etwas gezwungen lachte.

Welche Beweggründe, sich zu verkleiden, hätte er nun aber, wenn er eine Frau wäre? Ich vermag mir dies durchaus nicht zu erklären. Daß sich ein bildschöner bartloser junger Kavalier als Weib verkleidet, wäre mir eher verständlich. Es öffnen sich ihm damit tausend Türen, die ihm sonst hartnäckig verschlossen blieben, und der Mummenschanz führt ihn unter Umständen in endlose ergötzliche Abenteuer. Auf diese Weise kann man zur noch so streng bewachten Geliebten dringen oder mit Hilfe der Überraschung Frauengunst erzwingen. Ich vermag mir aber nicht vorzustellen, welchen Vorteil es einem jungen schönen weiblichen Wesen bringen soll, in Männertracht aufzutreten. Eine Frau kann dabei nur verlieren. Sie darf niemals darauf verzichten, verehrt, verherrlicht, angebetet zu werden. Sie täte dann besser, auf das Leben überhaupt zu verzichten. Denn was ist ein Frauenleben ohne all das? Nichts. Lieber sterben als dies verlieren! Ich wundere mich immer, daß sich altgewordene oder blatternarbige Frauen nicht von der Kirchturmspitze herunterstürzen!

Trotz allem ruft mir eine Stimme zu, lauter und stärker als alle Vernunftgründe, daß Theodor eine Frau sein müsse, und zwar das Weib, das ich er träumt, das ich einzig liebe, von dem allein ich geliebt werden soll. Ja, sie ist es, die Göttin mit [121] dem stolzen Blick und den königlichen Händen, die mir von ihrem Wolkenthron herab gütig zulächelte. Sie ist verkleidet vor mich hingetreten, um mich zu prüfen, um zu erforschen, ob ich sie wohl erkenne, ob mein liebendes Auge ihre Hülle durchdringen wird. So geschieht es in den Märchen, wo die Feen zuerst als Bettlerinnen erscheinen und dann plötzlich in gold- und edelsteinblitzenden Gewändern vor einem stehen.

Ich habe dich erkannt, Geliebteste! Vom ersten Anblick an.

Nun lebe ich erst. Bis jetzt war ich tot. Das Leichentuch ist von mir gefallen. Ich strecke meine mageren Hände aus dem Grabe und hebe sie zur Sonne. Die graue Farbe ist von mir gewichen. Das Blut rast durch meine Adern. Die unheimliche Stille, die mich umgab, ist endlich gebrochen. Das dichte schwarze Gewölke über meinem Haupt ist in der Sonne zerstoben. Tausend geheimnisvolle Stimmen flüstern mir ins Ohr. Heitere Sterne funkeln über mir und besäen meinen Weg mit Goldflittern. Die Margeriten kichern mir zu, und die Glockenblumen flüstern meinen Namen. Tausend Dinge, die ich nicht verstand, begreife ich jetzt. Ich entdecke wundersame Sympathien und Wahlverwandtschaften. Ich vernehme die Sprache der Rosen und Nachtigallen, und spielend lese ich das Buch, das ich vorher nicht enträtseln konnte. Ich finde in einem ehrwürdigen mit Misteln und Efeu umwucherten alten Eichbaum einen Freund. Und das zarte schmachtende Immergrün mit den tränenvollen blauen Augen gesteht mir seine seit langem verhaltene stille Zuneigung. Die Liebe öffnete mir die Augen. Die Liebe zeigte mir der Rätsel Lösung. Die Liebe trat in die Gruft, wo meine Seele tatenlos und stumpf trauerte. Sie nahm sie bei der Hand und führte sie die schmale steile Treppe hinauf und hinaus ins Freie. Alle Tore des Gefängnisses sprangen auf, und zum ersten Male stieg die arme Psyche aus mir empor, aus ihrem Kerker.

[122] Ich lebe ein neues Leben. Ich bin neu geboren. Vor diesem Glückstage glich ich jenen trostlosen japanischen Götzen, die unablässig ihren Leib betrachten. Ich war mein eigner Zuschauer, das Publikum bei der Komödie, die ich selber aufführte. Ich sah mich leben und horchte auf das Pochen meines Herzens wie auf die Schläge einer Uhr. Das war alles. Der Außenwelt Bilder verflossen auf meiner Netzhaut. Und ihre Klänge verhallten in der Muschel meiner unaufmerksamen Ohren. Nichts von draußen gelangte bis in meine Seele. Ich wollte von den Menschen nichts wissen. Ich zweifelte am Dasein der andern und war nicht einmal meiner eigenen Existenz ganz sicher. Mich dünkte, ich sei allein im Weltall. Alles andere sei Rauch, Schall, eitle Einbildung, flüchtiger Schein, bestimmt, das Nichts zu bevölkern. Welcher Unterschied mit meinem jetzigen Zustande!

Wenn mich nun aber mein Vorgefühl täuschte, wenn Theodor wirklich ein Mann wäre, wie alle glauben? Jugend täuscht viel vor. Ich will nicht daran denken. Ich verlöre den Verstand. Das Samenkorn, das auf mein steinigt Herz gefallen, hat schon tausend Wurzeln geschlagen. Unmöglich kann ich es wieder herausreißen. Es ward zum Baum, der längst grünt und blüht. Und erführe ich mit tödlicher Gewißheit, daß Theodor kein Weib, – ich müßte ihn lieben trotz alledem!

10. Magdalene Maupin an ihre Freundin Graziosa

[123] X
Magdalene Maupin
an ihre Freundin Graziosa

Liebste Freundin, wie recht hattest Du, als Du mich von meinem Vorhaben abbringen wolltest, Umgang mit den Männern zu suchen und sie gründlich zu studieren, ehe ich einem mein Herz schenkte. Ich bin für immerdar von der Liebe geheilt. Ich habe mir sogar die weitere Möglichkeit genommen.

Ach, Graziosa, dreimal verflucht sei der Augenblick, da ich auf den Einfall geriet, mich in Männerkleider zu stecken! Wieviel Schändlichkeiten, Gemeinheiten und rohe Dinge habe ich sehen und hören müssen! Einen Schatz keuscher köstlicher Unwissenheit habe ich in kurzer Zeit verloren.

Erinnerst Du Dich? Es war in einer wunderschönen Mondnacht. Wir gingen hinten im Garten spazieren, die düstere einsame Allee hinaus. Ganz am Ende steht ein steinerner Faun, der die Flöte bläst. Er hat keine Nase mehr, und sein Körper ist von dunkelgrünem Moos überwachsen. Durch das noch dünne Laubdach der Buchen sahen wir die Blinklichter von ein paar Sternen und die glitzernde Silbersichel des Mondes. Duft von Knospen und Keimen wehte von den Beeten zu uns herüber auf den matten Fittichen eines müden Windes. Irgendwo im Verborgenen sang ein Vogel seine sehnsüchtige wundersame Weise.

[124] Nach Mädchenart schwatzten wir von der Liebe, von Verehrern, vom Heiraten, von einem hübschen jungen Herrn, den wir in der Kirche gesehen hatten. Wir vertrauten einander das bißchen Weisheit an, das uns über das Leben und die Dinge da draußen in die Köpfchen geflogen war. Der Zufall hatte Dir oder mir ein paar Worte zugetragen, die uns geheimnisvoll dünkten und über die wir immer wieder unsere Betrachtungen anstellten. Tausend dumme Fragen flogen hin und her, wie sie unschuldigen Kindergemütern gern entquellen. Wieviel Urpoesie und allerliebste Naivität lachte in der heimlichen Plauderei von uns zwei kindischen kleinen Mädeln, die wir eben aus der Pension entlassen waren!

Du schmachtetest nach der Liebe eines stolzen mutigen Jünglings. Ein Schnurrbärtchen sollte er haben und rabenschwarzes Haar, kecke Federn an seinem Barett, einen langen Degen und Riesensporen. Mit einem Worte, nach einem verliebten Rittersmann. Du schwärmtest für Heldentaten und große Siege, träumtest von Zweikämpfen und Entführung, von fabelhafter Minne und Treue. Am liebsten hättest Du Deinen Handschuh in eine Löwengrube geworfen und Dein Ritter hätte ihn auf der Stelle herausholen müssen. Ach, wie drollig warst Du damals, Du kleines blondes Geschöpf, das immer gleich über und über rot wurde und im leisesten Windhauche erschauerte, und das doch mit blitzenden Augen große Worte und Gebärden machte!

Ich war nur ein halbes Jahr älter als Du, aber ein halbes Dutzend mal weniger romantisch. Mich beunruhigte eigentlich nur ein einzig Ding: ich wollte um alles in der Welt wissen, was die Männer reden, wenn sie unter sich sind, und was sie beginnen, wenn sie die Öffentlichkeit und die Gesellschaft hinter sich haben. Ich ahnte in ihrem Tun und Treiben manchen schwachen und dunkeln Punkt, den sie uns sorgfältigst verbergen. Darüber [125] Aufklärung zu finden, schien mir außerordentlich wichtig. Zuweilen versteckte ich mich im Vorsaal hinter einem Vorhang und belauschte da die Herren, die in unser Haus kamen. Es war mir, als erspähte ich an ihrem äußeren Wesen etwas Unvornehmes, Zynisches, rohes Sichgehenlassen und ungesellige Rücksichtslosigkeit, kurz allerlei, was mir sofort unsichtbar ward, sobald sie die Schwelle des Empfangszimmers überschritten. Wie auf Zaubergeheiß fiel dies beim Eintreten von ihnen ab. Es kam mir vor, als bänden sich alle Männer, junge wie alte, die nämliche Maske des guten Tones vor die Gesichter; als temperierten sie ihre Gefühle auf den nämlichen kühlen Grad der Schicklichkeit; als haspelten sie in ihren Gesprächen immer wieder die nämlichen vorgeschriebenen Gegenstände ab, sobald Damen gegenwärtig waren. Ich setzte mich, steif wie eine Puppe, in eine Ecke des Salons, blieb da kerzengerade sitzen und spielte mit meinem Blumenstrauße. Dabei spitzte ich die Ohren und beobachtete alles, wenn auch mit niedergeschlagenen Augen. Ich sah, was vor, neben und hinter mir vorging. Wie die Fabelaugen des Luchses durchdrangen meine Blicke die Wände. Ich wußte, was in den Nebenzimmern geschah.

So nahm ich auch den auffälligen Unterschied in der Plauderei der Herren mit verheirateten und unverheirateten Damen wahr. Das war nicht die vorsichtige artige mit kindischen Floskeln ausgeschmückte Redeweise, wie sie mir und meinen Genossinnen zuteil ward. Da ging es freier und lustiger zu. Es gab weniger Zwang und mehr Natürlichkeit. Man war weit deutlicher im Angriff wie in der Abwehr. Offenbar spielte hier Verderbtheit mit Verderbtheit! Ich hatte die Empfindung, daß zwischen ihnen etwas Gemeinsames leben und weben mochte, das für uns junge Mädchen nicht bestand. Ach, ich hätte wer weiß was darum gegeben, wenn ich erfahren hätte, was dieses Etwas war.

[126] Unruhig und leidenschaftlich neugierig verfolgte ich mit Augen und Ohren die lachenden schwatzenden Gruppen der jungen Männer, wenn sie von uns gingen. In ihren Gesichtern saßen Hochmut, Verachtung und Spott. Offenbar belachten sie, was sie soeben selber gesagt, und ironisierten die Galanterien, mit denen sie uns überschüttet hatten. Ihre Worte konnte ich nicht verstehen, aber ich las von ihren Lippen, daß sie jetzt eine mir fremde Sprache redeten, eine andre denn in meiner Gegenwart. Sogar die Artigsten und Bescheidensten fühlten sich sichtlich erleichtert.

Ein volles Jahr meines Lebens hätte ich darum gegeben, um nur eine einzige Stunde ungesehen ihrer Unterhaltung beiwohnen zu dürfen. Des Öfteren entnahm ich aus gewissen Gesten und Seitenblicken nach mir hin, daß die Rede von mir war. Vielleicht machte man Bemerkungen über meine Gestalt. Dann saß ich wie auf glühenden Kohlen. Flüsterworte und halbe Sätze drangen hin und wieder bis zu mir und reizten meine Neugier auf das Höchste, ohne sie zu befriedigen. Ich ward die Beute von Zweifeln und mir unerklärlicher Verlegenheit.

Offenbar redete man meist Günstiges von mir. Das war es auch gar nicht, was mich beunruhigte. Es war mir gleichgültig, ob man mich für schön hielt oder nicht. Ich begehrte nichts zu wissen als den Sinn der Bemerkungen, die sie einander leise sagten, fast immer unter sonderbarem Augenzwinkern und spöttischem Lächeln. Für eine einzige dieser Heimlichkeiten hätte ich gern auf alle Komplimente der Welt verzichtet.

Jetzt weiß ich alles, und ich bedaure, daß ich es weiß. So ist es immer!

Mein Einfall war wahnwitzig. Doch Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen. Was man erfahren, vergißt man nie.

Ich hätte auf Dich hören sollen, Graziosa! Jammerschade! Man folgt leider nicht der Stimme der Vernunft, zumal nicht, [127] wenn sie einem ein junger Mund predigt. Eigentlich ist es unbegreiflich, weshalb man einen Rat nur dann für gut hält, wenn ihn ein bemoostes Haupt ausspricht.

Meine Unruhe hat die Schuld. Ich vermochte nicht zu widerstehen, über mir am Baume hing lockend der verhängnisvolle Apfel. Wohl oder übel griff ich darnach. Ich dachte: Wenn er sauer schmeckt, werf ich ihn wieder weg! Mit einem Wort, ich war eine zweite Eva und biß ordentlich hinein.

Durch den Tod meines Onkels, des einzigen Verwandten, den ich noch hatte, ward ich Herrin über mein Tun und Lassen. Nunmehr verwirklichte ich meinen längst gehegten Plan.

Damit kein Mensch mein Geschlecht auch nur ahnen könnte, traf ich alle erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. Fechten und schießen hatte ich längst gelernt. Auch war ich eine gute beherzte Reiterin, manchem Reitersmann überlegen. Ich eignete mir das nötige männliche Benehmen an, und nach ein paar Monaten hatte ich aus einem leidlich hübschen jungen Mädchen einen sehr feschen jungen Mann gemacht. Es fehlte ihm nichts als der Schnurrbart.

Ich setzte etliches Hab und Gut in bar Geld um und zog hinaus in die weite Welt, fest entschlossen, nicht eher in meine Heimat zurückzukehren, als bis ich in die sämtlichen Geheimnisse der Männerwelt gedrungen wäre.

Dieses Ziel zu erreichen, gab es nur diesen Weg. Durch einen Geliebten hätte ich nichts oder nur halbe Dinge kennen gelernt. Ich aber wollte den Mann bis auf die Knochen studieren, ihn auf meinem Operationstische zucken und zappeln sehen und ihm mit dem Seziermesser unerbittlich Glied um Glied zerstückeln. Dazu mußte ich ihn in seinem Dunstkreise aufsuchen, ihm guter Kamerad sein, ihn auf den Korso, in die Schenken und überallhin begleiten dürfen. Verkleidet ward mir das möglich. Da verdeckte und verstellte er sich mir nicht. [128] Da fiel aller Zwang und jede Komödie weg. Da vertraute er mir seine Geheimnisse an. Durch Lügen kommt man hinter Wahrheiten. Ach, die Frauen kennen wohl den Roman des Mannes, niemals aber die Naturgeschichte des Mannes.

Wir Frauen sind unverbesserlich unwissend angesichts der Lebensweise und den Lebensbedingungen derer, die uns zu lieben vorgeben und uns heiraten. Ihr tatsächliches Dasein ist uns genau so unbekannt wie das der Geschöpfe auf dem Saturn oder auf irgendeinem andern Stern, der Milliarden Meilen vom Erdball entfernt durch den Weltenraum fliegt. Wir Frauen sollten die Männer für eine andre Art Menschen halten, denn zwischen Mann und Weib gibt es nicht die geringste höhere Gemeinschaft. Was Vorzug an einem der beiden ist, heißt Fehler am andern. Was einen Mann berühmt macht, schändet eine Frau.

Das Leben von uns jungen Mädchen liegt offen da. Mit einem Blick kann man es durchschauen. Ohne weiteres folgt man uns vom Vaterhaus in das Pensionat und von da wieder zurück. Unser Tun ist für niemanden Geheimnis. Jedermann kann unsre stümperhaften Zeichnungen betrachten, unsre in Aquarellfarben hingepinselten Blumensträuße mit ihrem Vergißmeinnicht, den klumpigen Rosen und dem rosa Band um die Stiele. Die Pantoffeln, die wir unsern Vätern und Großvätern zum Geburtstag sticken, haben ebenfalls nichts Rätselhaftes oder Beunruhigendes an sich. Und unsre Sonaten und Romanzen leiern wir mit kaum zu steigernder Gefühllosigkeit herunter. Wir kommen unsern Müttern nicht von der Seite, und abends um neun, spätestens um zehn, legen wir uns in die schneeweißen Betten unsrer sittsamen netten Jungmädchenstübchen, in die man uns bis zum nächsten Morgen einsperrt. Auch der eifersüchtigste Spürsinn kann nichts Schlimmes an uns entdecken. Solch ein Leben ist kristallklar.

[129] Der uns dann nimmt, kennt also unsern Lebenslauf, soweit zurück er ihn wissen will. Aber das ist gar kein Leben, nur ein Hindämmern wie das der Blumen oder des Mooses.

Wir dürfen uns nicht entfalten. Immer und immer heißt es, gerade, steif, still sitzen, die Augen züchtig niedergeschlagen. Es ist uns verboten, das Wort zu ergreifen und an der Unterhaltung teilzunehmen. Wenn wir gefragt werden, dürfen wir nur mit Ja oderNein antworten. Sobald jemand etwas Interessantes zu erzählen beginnt, schickt man uns aus dem Zimmer. Unsre Musiklehrer sind alte Mummelgreise, die gräßlich viel Tabak schnupfen. Die Nippfiguren in unserm Stübchen sind von fragwürdiger Muskulatur. Und wenn die Götter Griechenlands Einzug bei uns halten, müssen sie sich zuvörderst bei einem Kleiderjuden weite Mäntel umhängen lassen, bis sie wie Droschkenkutscher aussehen. Alsdann macht man für uns Gravüren nach diesen Modellen. Nichts an ihnen kann unser Gemüt in Glut bringen.

Wir sollen um alles nicht Romantikerinnen werden. Eher Idiotinnen. Die Jahre unsrer Erziehung vergehen, nicht indem man uns etwas lehrt, sondern indem man uns hindert, etwas zu lernen. Wir sind leiblich und geistig Gefangene.

Der junge Mann hingegen ist sein eigener Herr. Wenn er noch so zeitig weggeht, braucht er erst am nächsten Morgen heimzukommen. Er hat Geld oder verdient sich welches und verfügt darüber nach Belieben. Niemand fragt ihn, wie er seine freie Zeit verwendet. Und kein Mann erzählt seiner Geliebten genau, wie er seine Tage und Nächte verbracht. Keiner, und gälte er sonst für noch so ehrlich.

Mein Pferd und die Kleidungsstücke hatte ich in einem kleinen mir gehörigen Pachtgute, das vor der Stadt liegt, bereit. Dort zog ich mich um, saß auf und ritt von dannen. Mir war eigentümlich beklommen zumute. Abschiedsweh war es nicht. Ich [130] ließ nichts zurück, woran ich hing, Eltern nicht, noch Freundinnen, nicht einmal einen Hund oder eine geliebte Katze. Trotzdem war ich tieftraurig. Ich weinte sogar ein wenig.

In dem kleinen Bauernhofe war ich keine zehnmal in meinem Leben gewesen. Es war kein Ort, von dem die Trennung mir aus irgendwelchem Grunde schwer gefallen wäre. Gleichwohl wandte ich mich ein paarmal nach ihm, um immer wieder das bläuliche Rauchwölkchen zu erspähen, das über dem Gebüsch in die Lüfte wirbelte.

Dort hinten ließ ich meine Röcke und damit mein Frauentum. In der Stube, wo ich mich umgekleidet hatte, blieben zwanzig Jahre meines Lebens zurück. Sie zählten nicht mehr, gingen mich nichts mehr an. Ich hätte an die Tür schreiben können:


HIER RUHT MAGDALENE VON MAUPIN.


In der Tat war ich nicht mehr die Magdalene Maupin, sondern hieß nunmehr Theodor von Serannes. Niemand sollte mich fortan mit meinem süßen Namen Magdalena rufen. Ich war ein Mann geworden.

Als ich die Wipfel der Kastanien, die den Hof überragten, endlich nicht mehr erblickte, kam ich mir wie neugeboren vor. Ich dachte an mein bisheriges Dasein zurück wie an das eines andern Menschen, das ich nur von weitem beobachtet oder im ersten Kapitel eines Romans gelesen hatte. Allerlei Erinnerungen fielen mir ein und stimmten mich wieder fröhlich, kindliche kleine Erlebnisse, deren Naivität mich lächeln machte. Es war mir, als wollten mich alle diese Dinge noch einmal herzinnig grüßen.

Ich gab meinem Gaul die Zinken, um diesen rührseligen Reminiszenzen zu entrinnen. Rechts und links flogen nun die Bäume an mir vorüber. Aber die losen kleinen Schelme der Kindheitserinnerung [131] flatterten mir immer noch händeklatschend zur Seite und riefen mich in einem fort:

»Magdalene! Magdalene!«

Ein lauter Schlag mit der Reitgerte, und mein Rößlein trabte noch einmal so schnell. Mein Mantel flatterte hinter mir wie ein wehendes Banner. Ich ritt wie toll darauf los. Noch einmal wandte ich den Kopf und erblickte jetzt nichts mehr am Horizont als die Staubwolke, die ich aufgewirbelt hatte.

Ich ging in Schritt über.

Am Wegrand in einem Rotdornbusch sah ich etwas Weißes leuchten. Ein silberglockenhelles Stimmchen schlug an mein Ohr:

»Magdalene! Magdalene! Wohin des Wegs? Sieh, schlohweiß ist mein Kleid, schlohweiß der Blütenkranz in meinem Haar, und schlohweiß mein Leib! Ich bin die, die du warst, die keusche Jungfer Magdalene. Sag mir mal, warum trägst du solche Riesenstiefel? Du hattest einen gar niedlichen Fuß! Reithosen trägst du auch und einen Federhut wie ein Rittersmann, der in den Krieg zieht. Wozu den langen lästigen Degen? Du bist wunderlich ausstaffiert, Magdalene! Soll ich denn da überhaupt mitkommen?«

»Wenn du Angst hast, Beste, so gehe getrost wieder heim! Begieße meine Blumen, füttre meine Tauben! Du sorgst dich unnötig! Unter dieser Männerweste ist meine Jungfräulichkeit mehr geschützt denn unter Batist und Seide. Diese Stiefel sollen meine kleinen Füße verstecken. Mit diesem Degen will ich mich verteidigen. Und die Feder an meinem Hut soll die bunten Vögel verscheuchen, die mir falsche Minnelieder vorpfeifen wollen!«

Ich trabte weiter. Im Windesgebrumm vermeinte ich das Finale der Sonate zu vernehmen, die ich meinem seligen Onkel zu seinem letzten Geburtstage vorgeklimpert hatte. Die Vergangenheit [132] wollte mich immer noch nicht freigeben. Sollte ich nicht hinreiten in das neue Leben?

Ein paarmal war ich nahe dran, Kehrt zu machen. Aber das blaue Schlänglein der Neugier zischte mir die heimtückischen Worte zu:

»Weiter, Theodor! Weiter! Du bist auf dem rechten Wege zur Erkenntnis! Was du heut nicht lernst, lernst du nimmer! Willst du denn dein edles Herz so ohne weiteres dem Erstenbesten schenken, der treuherzige Augen macht und dir Liebe vorgirrt? Nein, Theodor, ergründe erst einmal die vielen seltsamen Geheimnisse der Männer!«

Ich begann zu galoppieren. Reiterhosen hatte ich, aber noch kein Männerherz. Ehrlich gestanden, ich empfand ein merkwürdiges Unbehagen, regelrechtes Gruseln, als ich einen düsteren Wald durchreiten mußte. Da fiel ein Schuß. Es war ein Wilderer in der Ferne. Ich war einer Ohnmacht nahe. Wäre mir ein Straßenräuber in den Weg getreten: meine Pistolen und mein scharfer Degen hätten mir nichts genützt.

Wieder in freiem Felde kehrte mein Mut zurück. Am Horizont versank die Sonne wie der Kronleuchter im Theater, wenn die Vorstellung zu Ende ist. Ein paar Hasen, ein Volk Fasane huschten über die Straße. Die Schatten wurden länger und länger. Die Himmelsfernen hatten zarte bunte Streifen, veilchenblaue, orangenrote und zitronengelbe. Dann zerflossen sie alle zu Grau. Die Vögel der Nacht begannen ihre Lieder. Tausend wundersame Töne drangen aus dem nahen Wald herüber.

Die letzte Helligkeit erstarb. Dunkel umfing mich. Die schwarzen Baumschatten verdichteten es« noch. Noch nie war ich abends allein ausgegangen. Und jetzt befand ich mich Glock acht mitten in einem großen Walde. Kannst Du Dir das vorstellen, Graziosa? Du weißt doch, wie ich vor Furcht zitterte, [133] wenn wir nur an das Ende des Parkes kamen? Von neuem packte mich das schönste Grauen. Mein Herz pochte zum Zerspringen; und ich muß gestehen, daß es mir im höchsten Maße angenehm war, als ich dann plötzlich die Lichter der Stadt, in die ich wollte, schimmern sah. Sie flimmerten wie fröhliche Sterne. All meine Angst war weg. Die fremden Lichtpünktchen grüßten mich wie liebe Freundesaugen, die für mich wachten.

Mein Pferd freute sich nicht minder. Es witterte Stalluft und führte mich geradenwegs zum Gasthof zum Goldenen Löwen. Heller Schein drang durch die Scheiben. Ich übergab den Gaul einem Stallknecht und trat in die Küche. Ein riesiger Herd gähnte im Hintergrund mit seinem schwarzroten Rachen. Er verschlang einen Holzklotz nach dem andern. Zu beiden Seiten der Feuerböcke lagen zwei große Hunde und ließen sich mit vollendeter Seelenruhe braten. Nur wenn ihnen die Hitze zu arg ward, hoben sie die Pfoten und stöhnten ein wenig. Gewiß aber hätten sie sich eher zu Asche verbrennen lassen, als daß sie auch nur einen Schritt abgerückt wären.

Meine Ankunft schien sie nicht zu ergötzen. Umsonst streichelte ich sie, um mit ihnen bekannt zu werden. Sie blinzelten mich von unten herauf an, mit Augen, die nichts Gutes verrieten Ich war erstaunt; denn sonst sind Tiere mir zutulich.

Der Wirt kam heran und fragte nach meinem Begehr. Ein dicker Mann mit roter Nase, glasigen Augen und breitem Grinsen. Beim Sprechen zeigte er zwei Reihen auseinanderstehender spitzer Zähne, wie sie den Menschenfressern eigen sind. Das große Küchenmesser an seiner Seite machte einen zweideutigen Eindruck; es konnte zu verschiedenerlei brauchbar sein. Als ich meinen Wunsch geäußert, gab er dem einen Hund einen Fußtritt. Der erhob sich und ging mürrisch auf eine Art Rad zu. Ich bekam einen vorwurfsvollen Blick. Als der Köter einsah, daß ihm keine Gnade blühte, fing er an, das Rad zu drehen [134] und damit den Bratspieß, an dem das Huhn steckte, das für mich bestimmt war. Ich nahm mir vor, ihn für seine Mühe mit dem Reste meiner Mahlzeit zu beglücken. Unterdessen sah ich mich in der Küche um.

Breite Eichenbohlen quadrierten die Decke. Herdrauch und Kerzenruß hatten sie schwarzbraun gebeizt. Zinngerät auf den Schränken blitzte durch das Halbdunkel blanker als Silber. Daneben irdenes Geschirr, weiß mit blauen Blumen. Blitzblanke Pfannen hingen in langen Reihen an den Wänden, gleich den ehernen Schilden, die man nebeneinander an den antiken Schlachtschiffen angebracht sieht. (Verzeihe mir diesen pompösen historischen Vergleich, liebste Graziosa!) Ein paar dralle Mägde hantierten am Tisch und klapperten mit Geschirr und Gabeln. Wie lieblich dünkt einem solche Musik, wenn man Hunger hat! Ja, der Magen hat ein noch feineres Gehör als das Ohr. Alles in allem machte die Herberge trotz des Nußknackergesichts und der Sägezähne des Wirts einen einladenden und rechtschaffenen Eindruck. Und wäre sein Mund noch breiter gewesen und seine Zähne dreimal so lang, ich wäre doch geblieben. Der Regen begann nämlich draußen gegen die Scheiben zu schlagen, und der Sturm heulte, daß einem die Lust zum Weiterwandern verging. Ich kenne nichts Grausigeres als dies Stöhnen der Windsbraut in finsterer regnerischer Nacht.

Ich mußte lächeln. Es fiel mir ein, daß keiner meiner Bekannten darauf kommen könne, mich hier zu suchen. Wer konnte ahnen, daß Magdalenchen nicht in ihrem warmen Bette lag, mit der Alabasternachtlampe daneben, einem Roman unterm Kopfkissen und der Kammerjungfer im anstoßenden Gemach, die beim geringsten nächtlichen Spuk herbeigeeilt wäre? Wer konnte wissen, daß sie statt dessen viele Meilen von der Heimat entfernt in einer Dorfherberge auf einem Rohrstuhle [135] saß, die gestiefelten Füße auf einem Feuerbock und ihre kleinen Hände verwegen in den Taschen?

Ja, Magdalenchen ist anders als ihre Gespielinnen! Sie blieb nicht daheim, um sich zwischen. Jasmin und Jelängerjelieber auf den Balkon zu lehnen, in die Ebene zu träumen und den violetten Himmelsraum anzuschwärmen oder ein rosiges Maiwölkchen zu verfolgen. Sie baut keine Luftschlösser für ihre Lieblingsideen. Sie dichtet auch nicht wie ihr, schöne Träumerinnen, einem Schemen alle erdenklichen Vorzüge an. Ehe sie sich einem Manne hingibt, will sie die Männer kennen lernen. Alles verließ sie: ihre schimmernden Samt- und Seidengewänder, ihren Schmuck, ihre Vögel, ihre Blumen. Sie verzichtete freiwillig auf Anbetung, auf demütige Liebesbeweise, auf Blumengeschenke und Verse, auf das Vergnügen, für schöner und bessergekleidet befunden zu werden denn andere, auf ihren hübschen Mädchennamen, auf alles, was sie war. Mutterseelenallein ging sie davon, das mutige Mädchen, um in der Welt die hohe Weisheit vom Leben zu lernen.

Wüßte man das, so hieße es: Magdalene ist toll! Du wirst wohl auch so sagen, liebe Graziosa. Ich meine aber: wirklich toll sind alle die, die ihre Seele dem Winde überlassen, die ihre Liebe auf das Geratewohl über Stein und Felsen säen, ohne zu bedenken, ob nur ein einziges Körnchen aufgehen wird.

Ach, Graziosa, an eines habe ich immer voll Entsetzen gedacht: einen Mann zu lieben, der es nicht wert wäre! Die Seele einem gemeinen Blicke zu offenbaren! Einen Unheiligen in das Heiligtum des Herzens einzulassen! Die klare Flut des Ichs mit fremdem schmutzigem Wasser zu vereinen! Wenn man sich auch auf ewig wieder trennt: es bleibt doch etwas vom Schlamme zurück. Nie erhält unser Lebensstrom seine einstige lichte Reinheit wieder.

Der Gedanke wäre mir unerträglich, daß ein Unwürdiger mich [136] berührt und geküßt hätte, daß er meinen Leib kennt und sagen kann: »So und so ist sie. Sie hat da und dort dies und jenes Mal. Ihre Seele hat die und die Eigentümlichkeit. Sie lacht über dies und weint um das. So sieht ihre Traumwelt aus. Diesen Ring hat sie mir aus ihrem Haar flechten lassen. Einen Teil von ihrem Herzen enthält dieser Brief. So liebkoste sie mich, und dies flüsterte sie mir in der Verliebtheit zu.«

O Kleopatra, jetzt verstehe ich, warum du beim Morgenlichte den töten ließest, mit dem du die Nacht verlebtest! Erhabene Grausamkeit, die ich ehedem nicht genug verdammen konnte! Königin der Wollust, wie kanntest du die menschliche Natur! Welche Größe liegt in deiner Barbarei! Kein Sterblicher sollte die Geheimnisse deines Lagers ausplaudern dürfen. Die Liebesworte, die deinen Lippen entflohen, sollten nicht wiederholt werden. So bewahrtest du dir ungetrübt deine Illusion. Die nüchterne Wirklichkeit durfte nicht die reizende Traumgestalt zerstören, die du in deinen Armen gewiegt. Lieber wolltest du den Gefährten durch rohe Henkershand verlieren denn durch langsam wachsenden Überdruß. Welche Pein in der Tat, den Erkorenen stündlich das Bild Lügen strafen zu sehen, das wir uns von ihm gemacht! Tausend Schwächen entdecken zu müssen, die wir nicht argwöhnten! Zu erkennen, daß alles, was uns mit dem Blick der Liebe gesehen so schön dünkte, in Wahrheit recht häßlich ist! Man hielt ihn für einen Romanhelden, und er entpuppt sich als prosaischer Philister vom reinsten Wasser, der Hauspantoffeln und Schlafrock trägt! Kleopatras Macht besitze ich nicht. Und hätte ich sie, so fehlte mir sicherlich die Kraft, sie zu gebrauchen. Da ich also einen Liebhaber beim Verlassen meiner Ruhestätte weder köpfen lassen kann noch will, aber nicht geneigt bin, zu ertragen, was an dere Frauen auf sich nehmen, so muß ich doppelt auf meiner Hut sein, wenn ich mir einen nehme; vielleicht sogar dreifach, wenn [137] mich überhaupt je die Lust anwandelt, was ich stark bezweifle nach allem, was ich gesehen und gehört. Ich müßte denn gerade in einem gesegneten unbekannten Lande einer mir verwandten Seele begegnen, wie es in den Romanen heißt, einem unberührten reinen Herzen, das nie geliebt hat, aber im wahrsten Sinne zu lieben fähig wäre. Aber dies ist nicht leicht zu finden.

Mehrere Kavaliere betraten die Herberge. Das nächtliche Unwetter hinderte sie am Weiterreiten. Sie waren samt und sonders jung. Der Älteste hatte sicher nicht die Dreißig überschritten. An ihrer Kleidung erkannte man, daß sie Edelleute waren; aber auch sonst ließ sich ihr Stand aus der ungenierten Ungezwungenheit ihres Benehmens genügend ersehen. Ein paar Gesichter zogen einen an. Die andern zeigten alle, mehr oder minder scharf ausgeprägt, jenen Ausdruck derben Frohsinnes und gedankenloser Kameradschaftlichkeit, den Männer unter sich zur Schau tragen, den sie aber in unserer Gegenwart abwerfen.

Hätten sie ahnen können, daß der auf seinem Stuhl am Kamin halbeingeschlummerte fremde junge Mann nichts weniger war, denn was er schien, vielmehr ein junges Mädchen, Jagdbeute – wie sie es nennen –, so hätten sie gewiß also bald ihren Ton geändert. Sie hätten sich hochgereckt, sich in Positur gebracht und sich mir mit tiefer Verneigung genähert, Lächeln um Mund, Nase, in den Augen, im Haar und wer weiß wo. Sie hätten nur ausgesuchte Worte, Sätze voller Milch und Honig gesprochen. Bei meiner geringsten Bewegung hätten sie getan, als wollten sie sich als Teppich zu Boden werfen, damit seine Unebenheit meine zarten Füßchen nicht verletze. Alle Hände hätten sich ausgestreckt, mich zu stützen. Der weichste Sitz wäre mir am besten Platz bereitet worden. Ich sah aber, wie gesagt, wie ein hübscher Bursche aus und nicht wie eine hübsche junge Dame.

[138] Als ich bemerkte, wie geringe Beachtung sie mir schenkten, hätte ich mich – offen gestanden – beinahe nach meinen Röcken gesehnt. Ich fühlte mich ein Weilchen ernstlich gekränkt. Zeitweise vergaß ich nämlich meine Jünglingstracht. Ich mußte mir immer wieder mein neues Geschlecht ins Gedächtnis rufen, um nicht mißlaunig zu werden.

Stumm mit verschränkten Armen saß ich da und betrachtete mit scheinbar aufmerksamer Miene das Huhn, das sich mehr und mehr bräunte, und den unseligen Hund, den ich so unziemlich gestört und der sich beim Rostdrehen gebärdete wie der Teufel am Weihwasserbecken.

Der Jüngste der Ankömmlinge trat an mich heran und versetzte mir einen Schlag auf die Schulter, der art, daß mir Hören und Sehen verging und ich unwillkürlich aufschrie. Er fragte, ob ich nicht lieber mit ihnen statt allein zur Nacht essen wolle. Zudem trinke es sich in Gesellschaft besser. Ich entgegnete, es sei mir ein unverhofftes Vergnügen. Nur zu gern nahm ich die Einladung an. Die Gedecke wurden aufgelegt, und wir setzten uns zu Tisch.

Keuchend nahm der Hund, nachdem er mit drei Schlucken einen Riesennapf Wasser ausgetrunken, seinen früheren Platz wieder ein. Sein Kamerad hatte sich nicht gerührt, als wäre er aus Porzellan. Die neuen Gäste hatten, Dank einer besonderen Gnade des Himmels, kein Huhn verlangt.

Aus ein paar Reden der jungen Leute erfuhr ich, daß sie sich auf dem Wege nach dem Hoflager zu *** befanden, wo sie noch andere Freunde zu treffen gedachten. Ich erzählte, ich sei ein junger Edelmann, der die Universität verlassen und nun nach rechter Studentenweise den längsten Weg eingeschlagen habe, um seine Eltern in der Provinz zu besuchen. Sie lachten, taten ein paar Äußerungen über mein unschuldiges biederes Gesicht und fragten mich, ob ich eine Geliebte hätte. Ich erwiderte, [139] davon verstände ich nichts. Worauf sie noch mehr lachten. Flasche auf Flasche wurde mit rasender Geschwindigkeit geleert. Obgleich ich darauf bedacht blieb, mein Glas nie ganz auszutrinken, stieg mir der Wein doch etwas zu Kopfe. Aber ich verlor mein Ziel nicht aus den Augen und wußte das Gespräch auf die Frauen zu bringen. Es war dies keine schwere Aufgabe, denn darüber reden die Männer im Rausch am allerliebsten.

Meine Gefährten waren nicht eigentlich betrunken. Dazu vertrugen sie das Trinken viel zu gut. Nun fingen sie an, sich in endlose moralische Erörterungen zu verlieren, wobei sie ungeniert die Ellbogen auf den Tisch lümmelten. Einer schlang sogar seinen Arm um die umfängliche Taille der Magd und drückte seinen Kopf verliebt an ihren Busen. Ein anderer verschwor sich, auf der Stelle wie eine Kröte zu krepieren, der man Tabak gegeben, wenn ihm Jeannette nicht einen Kuß auf ihre feisten roten Wangen zugestände. Jeannette wollte natürlich nicht, daß er wie eine Kröte platze, und gewährte bereitwilligst, was er verlangte. Sie hielt nicht einmal die Hand fest, die dreist durch die Öffnung des Busentuches nach ihrer Brust griff, die ein Goldkreuzchen umsonst hütete. Erst nach leisem Geflüster gab er sie frei und ließ sie den Tisch abdecken.

Trotzalledem gehörten die jungen Herren zum Hofe und hatten im übrigen die besten Manieren. Wenn ich es nicht mit meinen Augen gesehen, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, sie derartiger Vertraulichkeiten mit Mägden zu zeihen. Möglicherweise kam der und jener von einem reizenden Schätzchen, dem er noch eben die schönste Treue gelobt. Es wäre mir wahrhaftig bis dahin nie eingefallen, meinen etwaigen Geliebten davor zu warnen, an Mägdewangen seine eben von mir geküßten Lippen zu entheiligen.

Dem verliebten Schelm schien der Kuß zu schmecken, als habe [140] er eine Schöne aus Tausendundeine Nacht geküßt. Es waren kräftige Küsse, die auf den beiden brandroten Wangen der Dirne weiße Flecken zurückließen. Sie wischte mit dem Rücken ihrer Hand darüber, die soeben Geschirr abgewischt hatte.

Ich glaube nicht, daß er die Göttin seines Herzens je so herzhaft geküßt hat. Offenbar hatte er denselben Gedanken. Denn er murmelte halblaut mit verächtlicher Armbewegung: »Zum Teufel mit den magern Weibern und den erhabenen Gefühlen!«

Dies geflügelte Wort gab offenbar den Geschmack der Anwesenden wieder. Zustimmend nickten alle mit dem Kopfe.

»Zum Henker!« fuhr der andere fort, »ich bin ein riesiger Pechhengst. Ich muß euch unter dem Siegel heiligster Verschwiegenheit anvertrauen, meine Herren, daß ich mich wieder einmal bis über die Löffeln verliebt habe. Die große Leidenschaft hat mich gepackt!«

»Hoho!« riefen die andern. »Die große Leidenschaft! Das klingt ja grauenhaft! Was willst du mit der großen Leidenschaft?«

»Es ist eine anständige Frau. Jawohl, ihr braucht gar nicht zu lachen. Warum soll ich nicht auch einmal eine anständige Frau haben? Habe ich was Lächerliches gesagt? Warte, da unten du! Ich werf dir wer weiß was an den Schädel, wenn du nicht aufhörst zu grinsen!«

»Ruhe! Weiter im Text!«

»Sie ist rein toll auf mich. Die schönste Seele auf Gottes Erdboden. Was Seelen anbetrifft, darauf verstehe ich mich zum mindesten so gut wie auf Gäule. Ich wette sogar, daß sie eine exquisite Seele hat. Diese Unnahbarkeit, diese Schwärmerei, diese Selbstverleugnung und Aufopferung, diese himmlische Zärtlichkeit, diese Übersinnlichkeit! Aber, hol mich der Fuchs, sie hat keinen Busen, nicht einmal die Paradiesäpfel eines Backfisches! Im übrigen ist sie ja ganz nett. Sie hat entzückend [141] niedliche Hände und noch niedlichere Füße. Mit einem Worte: sie hat zuviel Seele und zu wenig drumherum! Am liebsten machte ich wieder Kehrt. Ich bin todunglücklich. Beklagt mich, ihr lieben Freunde!«

Er hatte viel getrunken, wurde rührselig und fing an wie ein Schloßhund zu heulen.

»Jeannette wird dich über dein Unglück trösten, daheim mit einer Sylphide schlafen zu müssen!« sagte sein Nachbar und schenkte ihm sein Glas von neuem bis an den Rand voll. »Deren Seele steckt in genügend Fleisch!«


O Du reine edle Maid! Wenn du wüßtest, was im Wirtshaus vor fremden Menschen ins Blaue hinein der von dir redet, der dir am teuersten ist auf Erden! Alles gabst du ihm hin! Und er? Schamlos entkleidet er dich und liefert dich nackt den frechen Blicken seiner bezechten Genossen aus. Währenddessen schaust du in Sehnsucht, das Kinn in der Hand gestützt, in der Richtung aus, in der er wiederkehren soll.

Käme jemand und sagte dir, daß dein Freund, vierundzwanzig Stunden nach dem Abschied von dir, einer unwürdigen Magd Liebe vorschwatzt und mit ihr ausmacht, die Nacht bei ihr zu verbringen, so würdest du erwidern, es sei erlogen, und es nicht glauben. Vielleicht würdest du nicht einmal deinen eigenen Augen und Ohren Glauben schenken. Und doch ist es so.

Die Unterhaltung, toll und zügellos, zog sich den ganzen Abend hin. Aus allen den übertriebenen Scherzen und oft schmutzigen Witzen spreizte sich ungeheuchelte gründlichste Verachtung der Frau. An diesem einzigen Abend lernte ich mehr als aus einer Wagenladung moralisierender Bücher.

Die ungeheuerlichen unerhörten Dinge, die ich da vernahm, prägten meinem Gesicht einen Anflug von Schwermut auf. Meine Zechgenossen bemerkten es und versuchten, meinen Ernst [142] auf verbindliche Weise zu verscheuchen. Meine Heiterkeit kehrte aber nicht wieder. Ich hatte die Männer wohl im Verdacht gehabt, nicht so zu sein, wie sie sich vor uns geben; daß sie aber so viel anders waren, als sie schienen, hatte ich nicht geglaubt. Erstaunen und Widerwillen waren gleich groß in mir.

Ich wünschte jedem schwärmerischen jungen Mädchen nur eine halbe Stunde solcher Unterhaltung. Das wird sie für immer heilen und besser wirken als alle mütterlichen Ermahnungen.

Die einen rühmten sich, so viele Frauen haben zu können, wie ihnen gefiele; sie brauchten nur ein einziges Wort zu sagen. Die andern teilten sich Mittel und Wege mit, zu einer Geliebten zu kommen. Sie redeten hin und her über die Taktik bei der Bestürmung der Tugend. Etliche machten die Frauen lächerlich, deren Liebhaber sie waren, und nannten sich die größten Einfaltspinsel auf Erden, daß sie sich an offensichtliche Dirnen gehängt hätten. Alle schätzten sie die Liebe sehr niedrig ein.

So sehen also die Gedanken aus, die sich hinter dem schönen Getue der Männer verbergen! Man hält es kaum für möglich, daß das die nämlichen Wesen sind, erst so ergeben und beflissen. Nach ihrem Siege über uns heben sie keck das Haupt und treten schamlos in den Staub, was sie eben noch von fern demütiglich angehimmelt! Wie grausam sie sich für ihre vorübergehende Unterwerfung rächen! Wie teuer lassen sie sich ihre Aufmerksamkeiten bezahlen! Mit wie vielen Kränkungen wiegen sie die Verse auf, die sie gedrechselt! Welch sinnlose Roheit im Denken und Reden! Welch unvornehme Angewohnheiten und welch taktloses Benehmen! Eine völlige Umwandlung, die gewiß nichts zu ihren Gunsten sagt! Wieviel ich auch vorausgeahnt, es stand weit hinter der Wirklichkeit zurück.

[143] Traumesglück, blaue Blume mit dem Goldherz, du öffnest dich, im weichen Lenzeswind, voll süßen Duftes und glitzernden Taus, unter lichtem Frühlingshimmel. Deine zarten Wurzeln, tausendmal feiner als das Seidenhaar einer Fee, senken sich tief in unsre Seele, um unser reinstes Ich zu trinken. Bittersüße Blume, man vermag dich nicht aus dem Herzen zu reißen, ohne ihm schluchzendes Weh anzutun. Von deinem abgebrochenen Stiel perlen rote Tropfen herab und fallen langsam in den See unsrer Tränen. Sie klagen von den schleichenden Stunden unsrer Totenwacht am Lager der sterbenden Liebe.


Endlich war die Mahlzeit zu Ende, und wir dachten ans Schlafengehen. Die Zahl der Gäste übertraf die der Schlafstätten um das Doppelte. Die unvermeidliche Folge war, daß entweder einer nach dem andern ruhen oder je zwei ein Bett teilen mußten. Für die übrigen war die Sache höchst einfach. Nicht so für mich, in Anbetracht gewisser Hügel, die mein Rock und meine Weste leidlich verbergen, die aber ein schlichtes Hemd in aller ihrer verwünschten Rundung offenbart. Ich war wahrlich nicht geneigt, mein Inkognito zugunsten eines dieser Herren aufzugeben, die mir wie urwüchsige echte Ungeheuer vorkamen. Seitdem habe ich erfahren, daß sie riesig gutmütige Burschen sind, nicht schlechter und nicht besser als andre ihrer Art.

Mein Bettgenoß war total beschwipst. Er warf sich auf das Lager, einen Arm und ein Bein über den Rand hängenlassend, und ratzte augenblicklich ein. Es war kein Schlaf des Gerechten, aber er war so fest, daß er nicht einmal erwacht wäre, wenn ihm der Engel des Jüngsten Gerichts mit seiner Posaune ins Ohr geblasen hätte. Dieser Schlaf vereinfachte meine peinliche Lage. Ich legte Rock und Stiefel ab, stieg über den Schläfer und streckte mich an der Wandseite aus.

[144] So lag ich neben einem Manne! Dieser Anfang war nicht übel. Offen gestanden war ich trotz meines Selbstvertrauens merkwürdig verwirrt und erregt. Meine Lage war so neu und ungewohnt, daß ich beinahe glaubte zu träumen. Mein Kamerad schlief wie ein Murmeltier; ich schloß kein Auge.

Er mochte vierundzwanzig Jahre alt sein. Er hatte hübsche Gesichtszüge, schwarze Wimpern und einen braunblonden Schnurrbart. Das Haar umfloß sein Haupt wie Wasser einen Stein im Bach. Leichte Röte überzog seine Wangen wie ein überm Weiher ziehendes Rosenwölkchen. Die Lippen waren halb geöffnet. Weiches verschmitztes Lächeln lag darauf.

Ich stützte mich auf den Ellbogen und betrachtete ihn lange beim flackernden Kerzenschein. Das Talglicht tropfte, und der Docht rußte.

Es war ziemlich viel Raum zwischen uns. Er lag nahe am Rande, und ich hatte mich aus übertriebener Vorsicht ganz an die Wand gedrückt.

Was ich gehört, war gewiß nicht angetan, mich für Zärtlichkeit und Wollust empfänglich zu machen. Ich entsetzte mich vor den Männern. Gleichviel fühlte ich mich rastloser und erregter, als ich es hätte sein sollen. Mein Leib teilte das Widerstreben meines Geistes nicht so recht. Mein Herz pochte wild. Mir war siedend heiß. Ich warf mich hin und her und fand keine Ruhe.

Tiefste Stille in der Herberge. Von Zeit zu Zeit hörte man den dumpfen Hufschlag eines Pferdes im Stall oder einen klingenden Regentropfen, der durch den Schornstein in die Kaminglut fiel. Die Kerze brannte nieder und verlöschte qualmend.

Wie Vorhänge legten sich die schwarzen Schatten der Dunkelheit zwischen uns. Du kannst dir nicht vor stellen, welchen Eindruck das plötzliche Verschwinden des Lichtes auf mich [145] machte. Es schien mir, als wäre alles aus, als sollte ich nie wieder bei Tage leben. Einen Augenblick hatte ich Lust aufzustehen. Was aber tun? Es war erst zwei Uhr und stockfinster. Ich konnte nicht gut wie ein Gespenst durch das fremde Haus irren. Es hieß also stille halten und den Morgen erwarten.

Ich lag auf dem Rücken, hielt die Hände gefaltet und versuchte an etwas zu denken, verfiel aber immer wieder auf das eine, nämlich, daß ich mit einem Manne schlief. Ich wünschte sogar, er möchte erwachen und gewahren, daß ich ein Weib wäre. Ohne Zweifel war der Wein, wenn ich auch nur wenig getrunken, der Urheber dieses ungereimten Gedankens, der mich nicht losließ. Ich war im Begriff, meine Hand nach meinem Nachbar auszustrecken, ihn zu wecken und ihm zu sagen, wer ich sei. Eine Falte unserer Decke hinderte meinen Arm, diese Absicht auszuführen. Dadurch gewann ich Zeit, mich zu besinnen. Während ich meinen Arm befreite, kehrte meine verlorene Vernunft wenigstens so weit zurück, daß ich mich zu beherrschen vermochte. Wäre es nicht höchst kurios gewesen, wenn eine spröde Schöne, die eben noch mindestens zehn Jahre aus dem Leben eines Anbeters genau kennen wollte, ehe sie ihm nur einen Handkuß gewährt, sich in einem Dorfwirtshaus auf elendem Lager dem Erstenbesten hingegeben hätte? Wahrhaftig, viel fehlte nicht daran.

Vermag so ein plötzliches Aufwallen des Blutes die schönsten Entschlüsse unterzukriegen? Übertönt die Stimme des Fleisches die des Geistes? Jedwedes Mal, wenn mein Stolz zu üppig wird, will ich mich an diese Nacht erinnern. Ich beginne zur Ansicht der Männer zu neigen: Was für ein erbärmliches Ding ist doch Frauentugend! Wovon hängt sie manchmal ab? Großer Gott!

Ach, man versucht vergeblich, seine Schwingen auszubreiten. Sie sind voll Erdenstaub. Der Leib ist ein Anker, der die Seele [146] an die Erde fesselt. Sie mag ihre Segel noch so sehr straffen im Wehen hoher Ideen, das Schiff bleibt unbeweglich, als hingen alle Hindernisse des Ozeans an seinem Kiel. Die Natur treibt gern solchen Spott mit uns. Wenn sie merkt, daß ein Gedanke wie ein Säulenheiliger auf dem Hochmut hockt und den Himmel berühren möchte, so veranlasst sie die rote Flüssigkeit, unversehens ein wenig rascher zu kreisen, läßt sie an die Aderwände pochen, gebietet den Schläfen zu klopfen, den Ohren zu klingen. Und es erfaßt Schwindel den vermessenen Gedanken. Alles verschwimmt und zerfließt vor ihm. Die Erde schwankt wie ein Boot im Sturm, der Himmel dreht sich rundum, und die Sterne tanzen Menuett. Die Lippen, die erhabene Grundsätze verkündet, verlangen nach heißen Küssen. Die Arme, die derb zurückstießen, erschlaffen, werden weich und weicher und schmiegsamer denn ein Stück Samt. Denkt euch dazu die Berührung mit fremder Haut, jemandes Atem in eurem Haar, und alles ist dahin! Zuweilen tut es noch weniger: Heuduft, der durchs halboffene Fenster hereindringt. Zwei sich schnäbelnde Vögel. Eine sich erschließende Margerittenblume. Ein altes Liebeslied, das einem wider Willen in den Sinn kommt und das man singt, ohne seinen Sinn zu erfassen. Ein warmer Wind, der einen verwirrt und berauscht. Das Mollige des Bettes oder eine gemütliche Sofaecke. Ein einziger solcher Umstand genügt. Die Einsamkeit des Gemachs verführt zu dem Gedanken, wie hübsch es hier zu zweit sein müsse. Die zugezogenen Vorhänge, das Helldunkel, die Stille, alles verstärkt diesen verhängnisvollen Gedanken, der einen mit seinen trügerischen Taubenflügeln immer wieder schmeichelnd streift und leise umgirrt.

Gewiß liebte ich den Mann nicht, der mir so seltsame Unruhe verursachte. Er besaß nur den Reiz, daß er kein Weib war. Für meinen derzeitigen Zustand war das genug. Ein Mann! [147] Das Geheimnis, das man uns so sorgfältig verbirgt! Das fremdartige Wesen, dessen Geschichte wir so unvollkommen kennen. Der Dämon oder Gott, der allein alle die Träume gestaltloser Lust zu erfüllen vermag, die der Frühling weckt. Unser einziger Gedanke vom fünfzehnten Jahre an!

Ein Mann! Wirre Vorstellung von Wonne gaukelte durch meinen schweren Kopf. Das wenige, das ich erst wußte, entfachte mein Begehren um so mehr. Glühende Neugier trieb mich, ein für allemal die lästigen Zweifel zu heben, die meinen Geist unaufhörlich bestürmten. Auf der nächsten Seite stand des Rätsels Lösung. Ich brauchte nur das Blatt umzuwenden. Das Buch lag neben mir. Ein schöner Jüngling, ein schmales Bett, eine finstere Nacht! Ein junges Mädchen mit ein paar Gläsern Sekt im Hirn! Welch verdächtige Zusammenstellung! Gleichwohl, es kam nichts weiter heraus als ein rechtschaffenes Nichts.

Ich hielt meine Augen auf die Wand gerichtet. Die Dunkelheit wich. Ich unterschied den Fensterrahmen. Die Scheiben wurden durchdringlicher. Das graue Morgenlicht dahinter ward hell und heller. Der Himmel bekam Farbe. Es ward Tag. Du stellst dir nicht vor, mit welcher Freude ich den ersten blassen Schein auf dem grünen Kattunvorhang begrüßte, der das Schlachtfeld umgab, darauf meine Tugend über mein Verlangen gesiegt! Er grüßte wie ein Siegerkranz.

Mein Kamerad lag am Boden.

Ich erhob mich, machte mich flink zurecht und lief an das Fenster. Ich riß es auf. Die kühle Morgenluft tat mir wohl. Zum Haarmachen stellte ich mich vor den Spiegel und staunte über mein bleiches Gesicht. Ich hatte geglaubt, es sei purpurrot. Die Andern kamen um nachzusehen, ob wir noch schliefen. Sie stießen ihren Gefährten mit dem Fuß an. Der schien nicht sonderlich erstaunt, als er gewährte, wo er lag.

[148] Die Rosse wurden gesattelt, und wir setzten unsere Reise fort. Doch für diesmal genug! Meine Feder schreibt nicht mehr, und ich habe keine Lust, mir eine neue zu schneiden. Ein andermal sollst du meine weiteren Erlebnisse erfahren. Liebe mich inzwischen, wie ich dich liebe, Graziosa, im wahren Sinne des Wortes! Habe aber nach dem, was ich dir erzählt, keine zu schlechte Meinung von meiner Tugend!

11.

[149] XI

Ich finde das Theater langweilig, aber es gibt Theaterstücke, die ich liebe: phantastische groteske unmögliche Stücke. Das gewöhnliche Publikum würde sie schon in den ersten Szenen erbarmungslos ablehnen, aus dem einfachen Grunde, weil sie ihm völlig unverständlich wären. Es sind für Märchenaugen gedichtete Feerien.

Unter diesen Stücken, die bei Mondschein gespielt werden müssen, entzückt mich eins ganz besonders. Es hat etwas so fluchtsam Ungreifbares, eine so ätherische Handlung, so seltsame Charaktere, daß selbst der Dichter nicht wußte, wie er sein Werk nennen sollte. Er gab ihm schließlich den Titel Wie es euch gefällt! Die Bezeichnung ist vieldeutig.

Beim Lesen dieses merkwürdigen Stückes fühlt man sich in eine fremde Welt versetzt, in eine Welt, deren man sich aber doch unklar erinnert. Man weiß nicht: ist man gestorben, lebt man, träumt oder wacht man? Liebliche Gestalten lächeln einem leise zu und nicken im Vorüberwandeln einen freundlichen Gruß. Bei ihrem Anblick ist man wirr und bewegt, als begegnete einem zufällig an einer Wegebiegung eine vergötterte Frau, oder als erinnere man sich urplötzlich der ersten Geliebten, der längst vergessenen. Bäche fließen durch frohe Gefilde und murmeln halb verklungene Klagen. Um Urwaldsbäume stöhnt mitleidsvoll des Windes Rauschen vor dem verbannten alten Herzog. Und wenn der schwermütige Jakob [150] sein tiefsinniges Weh den Wellen anvertraut, die es mit den Blättern der Weiden wegführen, so dünkt es einem, als höre man sich selber reden, als bekämen die eigenen verborgensten dunkelsten Gedanken Licht und Sinn.

Hauptsächlich mit Theodor und Rosette habe ich lange Gespräche hierüber. Rosette findet wenig Geschmack an meinen Anschauungen. Sie ist für strenge Naturtreue. Theodor gewährt dem Dichter mehr Freiheit. Er gesteht das Problematische am sogenannten Realismus ein. Und ich, ich bleibe dabei, daß ein Schriftsteller frei schalten darf, und daß die Phantasie die allermeisten Rechte habe.

Die Andern machten vor allem geltend, daß diese Stücke über die Grenzen der Bühnenmittel hinausgingen und unaufführbar seien. Ich entgegnete, das sei ebenso richtig wie falsch. Eine solche Ansicht über die Aufführungsunmöglichkeit sei ungerecht und stütze sich nur auf ein starkes Vorurteil. Und gerade Wie es euch gefällt! – meinte ich – sei sehr wohl aufführbar, zumal für uns, die wir keine berufsmäßigen Schauspieler sind.

Die Aufführung ward beschlossen. Der Herbst ging zu Ende Man hatte Reiten, Jagd und Rudern bereits satt. Selbst das allabendliche kleine Hazard begann seinen Reiz zu verlieren. Umso allgemeineren Anklang fand unser Vorschlag.

Ein junger Mann, der Maler ist, hat sich erboten, die Bühnenbilder zu schaffen. Er arbeitet noch eifrig daran und will in ein paar Tagen damit fertig werden. Die Vorstellung soll in der Orangerie stattfinden, dem größten Räume des Schlosses. Ich denke, es wird sich alles trefflich machen.

Ich habe die Rolle des Orlando übernommen. Rosette sollte die Rosalinde spielen. Das wäre das Natürlichste und Richtigste gewesen. Ist sie doch meine Geliebte und die Herrin des Hauses. Aber aus einer an ihr unverständlichen Laune – prüd ist sie [151] nicht – mag sie in einer Hosenrolle nicht auftreten. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich meinen, sie hätte krumme Beine. Nun wollte keine der anderen Damen minder dezent sein denn sie, und so wäre unser ganzer Plan beinahe gescheitert. Da erklärte Theodor, der bis dahin die Rolle des melancholischen Jakob inne hatte, die Rosalinde zu spielen, die fast durchweg in Männerkleidung auftritt, ausgenommen im ersten Akt. Da Theodor bartlos ist und eine sehr schlanke Taille hat, wird ihm mit Hilfe von Schminke, Korsett und Schleppkleid die Täuschung genügend gelingen.


Wir sind dabei, unsre Rollen zu lernen. Wer nicht zu uns gehört, wird sich über unser Tun und Treiben den Kopf zerbrechen. In allen einsamen Ecken und Enden des Parkes begegnet man Menschen, die, ein Blatt in der Hand, leise vor sich hinmurmeln und wiederholt dieselben Gesten machen. Die Augen, die sie eben noch gen Himmel aufgeschlagen hatten, senken sich plötzlich. Wer nicht weiß, daß Theater gespielt werden soll, würde uns allesamt für Verrückte halten oder für Poeten, was ja dasselbe ist.

Ich glaube, die erste Probe kann bald stattfinden. Meinem Gefühl nach kommt etwas ganz Eigenartiges zustande. Aber vielleicht täusche ich mich auch.


Ich befürchtete erst, unsre Darsteller könnten, statt beim Spielen der natürlichen Eingebung zu folgen, die Posen und Mätzchen irgend eines Modemimen nachäffen. Aber Gottseidank sind sie keine so eifrigen Theatergänger, als daß sie in diesen Fehler verfielen. Es steht also zu erwarten, daß sie, abgesehen von einer gewissen unvermeidlichen Dilettantenunbeholfenheit, echtere und originellere Momente haben als das routinierteste Berufstalent.

[152] Unser junger Maler hat wirklich Wunderbares geleistet. Die alten Baumstämme und der sie umkletternde Efeu sehen geradezu unheimlich aus. Die Bäume im Park haben Modell gestanden, aber der Künstler hat sie stilisiert und monumental gemacht. Anders wirken Bühnenbilder nicht. Alles ist bewunderungswürdig lebendig und eigenartig ausgefallen. Die Felsen und die Wolken haben einen Stich ins Romantische. Auf den zitternden Wassern spielen blitzende Lichter. Herbststimmung fließt aus dem Gelb, das im Blätterwerk vorherrscht. Die Farbenleiter des Laubes steigt vom Smaragdgrün bis zum Purpur des Karneol, die des Himmels vom Mattblau bis zum Feuerrot.

Die Kostüme sind vom Maler samt und sonders nach meinen Angaben entworfen. Es spricht Einheit aus ihrer Gesamtheit. Anfangs behauptete man allgemein, sie wären unausführbar, selbst in Samt und Seide nicht. Die Damen meinten, so viel Farbenpracht ließe ihre schönen Augen nicht genug zur Geltung kommen. Ich behauptete das Gegenteil. Neue Einwände kamen.

»In dieses Kleid komme ich gar nicht hinein!«

»Mein Rock ist mindestens zehn Zentimeter zu kurz! So wage ich mich nicht auf die Bühne!«

»Diese Halskrause ist viel zu hoch. Ich sehe darin aus, als hätte ich keinen Hals!«

»So eine Figur macht mich unglaublich alt!«

Was soll man darauf entgegnen?

»Gnädige Frau, mit Nähnadeln, Zwirn und gutem Willen geht alles! Besonders Sie mit Ihrer Wespentaille! Ich wette tausend Taler gegen einen Kuß, das Kleid muß noch enger gemacht werden, nicht weiter!«

»Ihr Rock ist absolut nicht zu kurz! Wenn Sie die entzückenden Linien Ihrer Fesseln sehen könnten, wären Sie sofort meiner Ansicht!«

[153] »Ganz im Gegenteil! Gerade in dieser Spitzenhülle kommt Ihr Hals verführerisch zur Geltung!«

»Diese Haartracht macht durchaus nicht alt. Und wenn auch: bei Ihrer Jugend dürfen Sie schon einmal ein paar Jährchen älter erscheinen. Das kann sich nicht jede leisten!«

Es ist sonderbar, mit welcher Unmenge von Schmeicheleien man die Damen erst bestürmen muß, ehe sie sich entschließen, Kleider anzuziehen, die ihnen ganz allerliebst stehen. Was für einen Teufelsgeschmack haben doch die Weiber! Was für ein Titanentrotz steckt in einer nervösen kleinen Mondäne, wenn sie sich einmal eingebildet hat, schreiendes Strohgelb stünde ihr besser denn Narzissengrau oder Rosenrot. Wäre ich Diplomat, mit nur der Hälfte der Ränke und Listen, die ich hier anwende, würde ich es zum Staatsminister bringen.


Seitdem die Aufführung eine beschlossene Sache ist, herrscht hier wüste Unordnung. Die Boten kommen und gehen in einemfort. Zwei oder drei sind beständig zwischen dem Schloß und der Stadt unterwegs.

Abends bin ich immer bleimüde und wie zerschlagen. Ich verstehe von dem ganzen Stücke kein Wort mehr. Da ich außer meiner Rolle auch noch die Leitung habe, bin ich doppelt beschäftigt. Ersteht irgendwo eine Schwierigkeit, so rennt man hilfeheischend zu mir, und da meine Entscheidung nicht immer gleich als unumstößliches Orakel geachtet wird, so entstehen aller Augenblicke endlose Erörterungen.

Mein Dasein besteht jetzt darin: immer auf den Beinen zu sein, zwanzig Menschen jederzeit Rede und Antwort zu stehen und den ganzen Tag über nicht eine Minute zum Nachdenken zu kommen. Noch nie bin ich so eifrig beschäftigt gewesen als seit acht Tagen. Dabei nehme ich an all dem Treiben in Wahrheit nur äußerlich teil. Die Erregung bleibt an der Oberfläche. [154] Ein bißchen tiefer schlummern die stillen Wasser. So leicht durchdringt mich das Leben der andern nicht. Gerade darum lebe ich dann am wenigsten, wenn es so aussieht. Tätigkeit lähmt meine eigentliche Existenz. Wenn ich nicht tätig bin, dann denke oder träume ich. Das ist meine Fasson zu leben. Sobald ich aus meiner Porzellanpagodenruhe aufgescheucht werde, höre ich auf, ich zu sein.

Bis jetzt habe ich noch nichts geleistet. Ich weiß auch nicht, ob ich je noch etwas leisten werde. Ich bin nicht Herr meiner Phantasie. In mir gärt es und kämpft es fortwährend, aber ich bin nicht imstande, diesen Springquell, der vom Herzen zum Hirn treibt, zu meistern. All diese Kraft geht verloren. Es ist nicht Armut, wenn ich nichts schaffe, sondern Überfülle. Ich verstehe die Kunst nicht, in der Gegenwart zu leben, weder als Künstler noch als Liebender. Meine Visionen kristallisieren sich erst, wenn sie mich nicht mehr voll beherrschen. Und eine Frau durchdringt mich nur, wenn sie mir entrückt ist oder wenn ich eine andere bei mir habe. Ich bin stark gleichsam nur aus der Erinnerung heraus.


Heute war die Hauptprobe. Noch nie in meinem Leben bin ich so aufgeregt gewesen. Nicht etwa aus Lampenfieber, sondern aus einem ganz andern Grunde.

Wir waren kostümiert. Alles war bereit. Nur Theodor fehlte noch. Wir schickten nach ihm. Er ließ uns sagen, daß er fertig sei und sofort erscheinen werde.

Er kam. Ich vernahm seinen Schritt schon von weitem, obgleich er doch einen so federleichten Gang hat. Meine Vorliebe für ihn ist so stark, daß mir die unsichtbaren Schwingungen seiner Bewegungen durch Wände hindurch zum Bewußtsein kommen. Bei seinem Nahen bekam ich Herzklopfen. Mir [155] war zumute, als sollte sich in meinem Leben etwas Wichtiges entscheiden, als sei ein langersehnter Augenblick im Anzuge.

Endlich erschien er.

Allgemeine Bewunderung!

Die Herren klatschten in die Hände; die Damen wurden rot, Nur Rosette ward totenblaß. Sie schwankte und mußte sich an die Wand lehnen. Eine plötzliche Offenbarung hatte sie ergriffen. Ich habe immer schon den Argwohn, daß sie Theodor liebt. Zweifellos stand sie im Augenblick unter dem Eindruck, die Pseudo-Rosalinde sei wirklich und wahrhaftig ein schönes junges Weib. Mit einem Schlag stürzte das Kartenhaus ihrer Liebessehnsucht in sich zusammen, während sich meines zu schwindelnder Höhe türmte.

Das bedachte ich im Augenblick. Vielleicht täuschte ich mich auch, denn ich war nicht gerade in der Verfassung, gründliche Seelenstudien anzustellen.

Außer Rosette waren drei oder vier hübsche Frauen zugegen. Neben der Sonne erblichen diese Sterne. An Rosalindens Seite sahen alle andern kaum noch leidlich hübsch aus, fast häßlich. Keine reizte mehr die männliche Begehrlichkeit.

Mein Traumbild stand endlich greifbar und lebendig vor mir; nicht mehr in trügerischer Dämmerung, sondern im hellsten Lichte der Gegenwart. Seligkeit durchströmte mich. Mir war, als wäre mein Herz von Bergeslast befreit. Ich fühlte mich frei aller Qual. Ich kam mir nicht mehr ungeheuerlich vor. Ein paar Augenblicke blieb Theodor oder vielmehr Rosalinde – es dünkt mich zu dumm, dies Weib für einen Mann gehalten zu haben – auf der Schwelle stehen, damit sich unser Erstaunen legen solle.

Ihr langes braunes, mit Perlenschnüren durchflochtenes Haar fiel in natürlichen Locken über ihre Wangen. Schultern und Hals waren entblößt. Wie aus herrlichstem Marmor. Am liebsten [156] würde ich diese wundervolle Schönheit auf fünfzig Seiten genauestens zu schildern versuchen. Aber die Sprachen der Erde sind von Stümpern erfunden, die niemals den Busen oder den Rücken einer schönen Frau mit Andacht angeschaut haben. Es fehlen die unentbehrlichsten Wörter.

Ich möchte Bildhauer sein. Wenn man solche Schönheit vor sich hat und nicht die Mittel, sie irgendwie wiederzugeben, so wird man wahnsinnig. Ich habe ein Dutzend Gedichte auf Rosalindens Schultern gemacht. Aber das ist nichts. Ich muß etwas schaffen, das ich mit meinen Händen berühren kann, Das Werk muß dem Urbild gleichkommen. Verse sind nur ein Symbol, kein Abbild der Schönheit. Der Maler erreicht schon mehr, aber auch er bringt nur eine Illusion zustande. Die Skulptur allein nähert sich dem Leben. Was sie festhält, ist allseitig, wirft Schatten und läßt sich angreifen. Das Marmorbild einer Geliebten ist beinahe sie selbst. Nur daß es nicht reden kann! Das ist nur ein geringer Fehler.

Rosalindens Kleid schillerte in Blau und Gold. Ihre nackten vollen Arme schimmerten wie poliertes Silber. Als sie eintrat, flog über ihre Wangen flüchtiges Rot. Begeistert fragte man sich, ob das wirklich Theodor von Serannes sei, der kecke Reiter, der tolle Fechter, der unermüdliche Jäger. Man hatte die Empfindung, als habe diese weibliche Erscheinung niemals andre Kleider getragen. Sie war nicht im mindesten unbeholfen in ihren Bewegungen. Es gab kein Sichverwickeln der Schleppe. Kein linkisches Fächerspiel. Keine unweibliche Koketterie. Die Darstellung war vollkommen. Es war ein wirkliches Weib, was man vor sich sah.

In der letzten Zeit war ich tiefer Mutlosigkeit verfallen gewesen. Ich hatte mich mit einem Gemisch von Staunen, Neugier und Abscheu betrachtet. Und vor allem erfaßte mich Schaudern, wenn ich daran dachte, daß ich noch niemals geliebt und daß die [157] erste Liebeswallung, die erste Blüte meines Liebeslenzes dieser Art sein sollte. Waren meine zarten zärtlichen Träumereien von einer ungeheuerlichen Leidenschaft verdrängt? Hatte sich der Träumer, der auf den goldnen Pfaden des abendlichen Parkes dahinzuwandeln liebte, in ein frivoles Rätselwesen gewandelt? Das vermochte ich nicht zu glauben. Es wäre mein Tod gewesen. Meine Visionen sind meine Welt. Ohne diese Funken der Ewigkeit bin ich lebloser als eine ägyptische Mumie. In den Stunden, da ich in Theodor am verliebtesten war, warf ich mich in Rosettens Arme, voll Grauen und Widerwillen. Ich wollte sie zwischen mich und ihn stellen. Wenn ich neben ihr lag, beruhigte mich die Empfindung ihrer greifbaren Weiblichkeit. Ich liebe sie nicht mehr, aber sie mich doch noch genug, als daß unser Beisammensein etwas Unnatürliches gewesen wäre. Trotzdem spürte ich dabei schmerzliche Reue darüber, daß ich dem Ideal meiner unmöglichen Passion untreu war. Ich grollte mir ob meines Verrats. Ich wußte, daß meine Liebe niemals befriedigt werden könne, und doch war ich unzufrieden mit mir. Und kalt lag ich neben Rosette.


Die Aufführung ist besser ausgefallen, als ich erwartet hatte. Ganz besonders trefflich war Theodors Leistung. Auch mein Spiel hat Lob gefunden, aber keineswegs, weil ich die Fähigkeiten hätte, die ein guter Schauspieler haben muß. Bewahre! In jeder anderen Rolle würde ich versagen. Ein sonderbarer Zufall fügte es, daß meine Rolle dermaßen meiner jetzigen Lebenslage entsprach, daß ich wähnte, eigene, nicht einstudierte Worte zu sprechen. Hätte mich mein Gedächtnis stellenweise im Stich gelassen, so hätte ich gewiß rasch das Fehlende aus dem Stegreif gesagt. Ich war Orlando, spielte ihn nicht bloß.

In der Kampfszene, wo Rosalinde ihre Kette vom Halse nimmt und Orlando reicht, da sah sie mich sehnsüchtig und verheißungsvoll [158] an, und ihre Worte klangen ganz eigentümlich: »Tapfrer Held, tragt dies zur Erinnerung an mich, an eine vom Glück Verstoßene, die gern mehr gäbe, wenn sie euch mehr geben könnte!« Ich ward ganz verwirrt und vermochte kaum fortzufahren.

Vielleicht habe ich mich getäuscht und etwas zu sehen vermeint, was in Wirklichkeit nicht bestand. Es war mir aber, als fühle Theodor meine Liebe, obgleich ich mit ihm nie davon gesprochen, als spiele er unter der Maske des Dichtwerks und seiner Bühnengestalt auf sein wahres Geschlecht und auf unsre beiderseitigen Beziehungen an. Eine so kluge und weltgewandte Frau muß mich und mein Herz vom ersten Augenblick an durchschaut haben. So dicht war der Schleier der Freundschaft nicht, den ich über meine Liebe gebreitet.

Zweifellos liegt für die schöne Frau ein wichtiger, mir unerforschbarer Grund vor, die verwünschte Verkleidung zu tragen. Wie anders wäre alles ohne dies! Längst hätte ich diese kleine weiche Hand meiner Göttin in der meinen. Ich führte das glücklichste Leben der Welt, immer im seligen Bewußtsein, zu lieben. Aber die Götter gönnen mir das nicht.

Ich habe mich in eine Amazone in Reithosen und hohen Stiefeln verliebt, in eine hochmütige Bradamante, die ihres Geschlechts Tracht verachtet. Gesicht und Leib hat sie weiblich, unleugbar aber Mannes Sinn und Art. Sie führt den Degen auf das vorzüglichste. Wer weiß, wie viele Duelle sie schon ausgefochten, wie viel Männer sie verwundet oder getötet hat! Über die breitesten Gräben springt sie mit ihrem Gaul, und auf der Hetzjagd versteht sie ihre Sache wie ein alter Landedelmann. Seltsame Fähigkeiten für eine Geliebte! Derlei kann auch nur mir widerfahren!

Ich lache, obgleich mir eigentlich durchaus nicht so zumute ist. Denn nie war mir so weh ums Herz. Und wie langsam die [159] Zeit dahinschleicht! Die letzten beiden Monate kommen mir wie zwei Jahre vor, ach, wie zwei Jahrhunderte! Die Ungewißheit macht mich krank.

Niemand, nicht einmal Rosette, die doch schon aus eigenem Anteil über mein Inneres einigermaßen Bescheid wissen sollte, weiß etwas von meinem Zustande. Wahrscheinlich lebt auch sie viel zu sehr in Gedanken, die Theodor gelten, und so ist ihr die Erkaltung meiner Gefühle entgangen. Sonst müßte ich mich für einen Meister der Verstellungskunst halten. So anmaßend bin ich nicht.

Theodor hat sich bis zum heutigen Tage nicht anmerken lassen, daß er weiß, was heimlich in mir vorgeht. Er spricht immer freimütig und freundlich mit mir, just wie ein wohlerzogener junger Herr. Wir unterhalten uns gleichmütig über alles mögliche im Gebiete der Kunst, über Literatur und anderes mehr. In keinem Punkte wird dabei unser Innenleben berührt.

Vielleicht erledigen sich die Gründe, die Anlaß zu ihrer Verkleidung gegeben haben. Vielleicht verschwindet dann die Männertracht. Ich weiß es nicht. Sicher aber weiß ich, daß Rosalinde etliche Worte ihrer Rolle mit ganz besonderer Betonung gesprochen hat, sodaß sie doppeldeutig wurden.

In der Szene des Stelldicheins war sie unvergleichlich und zwar vom ersten Augenblick an, wo sie Orlando vorwirft, daß er nicht zwei Stunden zu früh gekommen sei, wie es einem rechten Liebenden gezieme, sondern zwei Stunden zu spät, – bis zu dem Moment, wo sie sich, über die Tiefe ihrer Liebe zu Tod erschrocken, in Clelias Arme wirft und schmerzerfüllt ausruft: »Ach, liebste Muhme, wenn du wüßtest, in welchen Abgrund mich die Liebe geschleudert hat!«

Wieviel Schwermut, Zärtlichkeit und Liebe drangen aus diesen Worten! Ihre Stimme zitterte.

Ich habe bisher vergessen zu erwähnen, daß Rosette, nachdem [160] sie die Rosalinden-Rolle von sich gewiesen, gutmütig die Nebenrolle der Phöbe übernommen und gespielt hat. Phöbe ist eine Schäferin in den Ardennen. Silvius, der Schäfer, ist sterblich in sie verliebt, aber sie kann ihn nicht ausstehen, und deshalb behandelt sie ihn schlecht. Sie ist kühl wie Frau Luna deren Namen sie trägt. Kaum aber hat sie Rosalinden gesehen die in Verkleidung als der schöne Knabe Ganymed erscheint so schmilzt das Eis ihres Herzens. Jetzt liebt die hochmütige Phöbe, die aller Liebe spottete, selber. Jetzt erleidet sie die Qualen, die sie ehedem andern zugefügt. Ihr Stolz sinkt soweit zu Demut herab, daß sie Rosalinden durch den armen Silvius einen leidenschaftlichen Brief schickt, der das Geständnis ihrer Liebe in flehentlichen Ausdrücken enthält. Rosalinde aber fühlt Mitleid für Silvius. Zudem hat sie Grund genug Phöbes Liebe nicht zu erwidern. Nun ist sie grausam gegen Phöbe und macht sich über sie lustig. Trotzdem zieht die Verschmähte diesen Schimpf den verliebtesten Versen ihres unglücklichen Verehrers vor. Sie folgt dem schönen Fremdling überall hin und bedrängt ihn so lange, bis er verspricht, sie solle seine Frau werden, wenn er je ein Weib heirate. Inzwischen solle sie ihren Silvius gut behandeln und sich nicht allzuviel Hoffnungen machen.

Rosette spielte ihre Rolle voll Innigkeit, Schwermut und Grazie Ihre Resignation ging mir zu Herzen. Bei Rosalindens Worten: »Ich wollte dich lieben, wenn ich könnte!« war sie dem Weinen nahe. Nur mit Mühe vermochte sie sich zu beherrschen. Phöbes Schicksal ist ja ebenso das ihre, wie Orlandos Geschick das meine ist. Es besteht nur der Unterschied, daß für Orlando alles glücklich endet, und daß Phöbe, in ihrer Liebe zu ihrem Idol getäuscht, zuguterletzt doch ihren Silvius heiratet. So ist es im Leben. Was des einen Glück, das ist des andern Mißgeschick Mein Glück, daß Rosalinde in Wirklichkeit doch ein Weib ist [161] das ist Rosettens Unglück. Sie steht jetzt vor der nämlichen Unmöglichkeit, die mich bisher gequält.

Das Stück hat uns drei auf das lebhafteste beschäftigt. Den Zuschauern verborgen, lag, nur für uns sichtbar, eine Komödie in der Komödie, die unser Leben symbolisierte und uns unsre heimlichsten Wünsche aussprechen ließ.


Ich habe zwar bestimmte Vermutungen, aber durchaus keine Beweise dafür, daß Theodor ein Weib ist. Diesen Ungewissen Zustand halte ich nicht länger mehr aus. Ich muß mich mit ihm aussprechen.

Schon ein dutzendmal bin ich mit einer wohlvorbereiteten Rede auf der Zunge auf Theodor zugeschritten, aber ich vermag meinen Vorsatz nicht auszuführen. Ich habe keinen Mut. An Gelegenheiten, mit ihm ungestört zu reden, fehlt es nicht. Wir gehen ja täglich zusammen im Park spazieren. Aber ich lasse sie immer wieder unausgenützt verstreichen. Hinterher ärgere ich mich darüber bis zur Wut gegen mich selber. Ich bringe es einfach nicht fertig, das zu sagen, was ich will. Statt meine Liebe zu beichten, halte ich Vorträge über Regenwetter und Sonnenschein und tausend dumme Dinge. Dabei vergeht die Zeit des Landaufenthalts. Sehr bald wird man allgemein in die Stadt zurückkehren. Dann bieten sich nicht gleich wieder so günstige Gelegenheiten. Wer weiß, ob uns der Strom des Lebens nicht in zwei ganz verschiedenen Richtungen voneinander treibt.


Das Landleben ist entzückend!

Der Herbst hat die Bäumezwar schon ein wenigentblättert. Trotzdem spenden sie dem Traume meiner jungen Liebe den köstlichsten Schatten. In solch wunderschöner Landschaft muß man verliebt sinnen! Die Vögel jubilieren, die Blumen durchhauten [162] die Luft, und auf den Hügeln schläft der sonnengoldne Rasen. Die Einsamkeit spielt mit Sehnsucht und Melancholie.

So war es noch gestern. Heute ist es wahrhaft herbstlich. In der Frühe habe ich einen Spaziergang gemacht. Die Luft war mild, aber am perlgrauen schläfrigen Himmel ließ sich nicht ein einziges Fleckchen Blau sehen. Ein paar kleine weiße flockige Wolken krochen langsam hinter der im Dunst verlorenen Höhe am Horizonte hervor. Ein leiser müder Wind, kaum stark genug, die Wipfel der Zitterpappeln zu bewegen, schob sie heraus. An den großen Kastanienbäumen, dort, wo der Fluß rinnt, den man von meinem Wege nicht sah, hingen langgezogene graue Nebelschleier.

Über den Wiesen dampfte es, und die blassen Weiden dahinter sahen kaum wie Bäume aus, eher wie Gespenster. Ein feines Spinnengewebe deckte alle festen Umrisse zu. Es gab keine bestimmbaren Entfernungen mehr.

Während ich hinwandelte, kam ich mir selber herbstlich öde und verlassen vor. Der Blick auf die sterbende Landschaft erschütterte mich. Ach nein, noch keinen Herbst in die Seele lassen!

Wieder in meinem Zimmer, stand mein Entschluß fest. Zu reden vermag ich nicht. Also muß ich mein Schicksal einem Bogen Papier anvertrauen!

Wohl ist es lächerlich, jemandem zu schreiben, mit dem man unter ein und demselben Dache wohnt, mit dem man täglich, stündlich zusammen sein kann. Was liegt mir daran, ob etwas lächerlich ist oder nicht!


Ich habe den fertigen Brief versiegelt – mit zitternder Hand. Dann habe ich den Augenblick erlauert, da Theodor sein Zimmer verließ, und habe mein Schreiben mitten auf seinen Tisch gelegt. Mir war zumute, als beginge ich eine Greueltat.

12. Magdalene Maupin an ihre Freundin Graziosa

[163] XII
Magdalene Maupin
an ihre Freundin Graziosa

Ich habe dir die Fortsetzung des Berichts meiner Abenteuer versprochen.

Wenn ich nicht irre, war ich mit meiner Erzählung bis zum Aufbruch aus dem Gasthof zum goldenen Löwen gekommen, wo ich eine so denkwürdige Nacht verbracht hatte und mit meiner Tugend sobald schon nach dem Verlassen des Hafens beinahe Schiffbruch erlitten hätte.

Wir ritten allesamt die nämliche Straße. Meine Kameraden fanden nicht Worte genug, die Schönheit meines Rosses zu rühmen. Es war in der Tat ein bildschönes Tier, Vollblut, ebenso flott wie ausdauernd. Dieser Besitz erhöhte mein Ansehen gewaltig. Gleichwohl ließen sie Zweifel verlauten, ob ich auch völlig Meister dieses Pferdes sei. Offenbar sei es sehr nervös und heftig. Ich ließ meinen Don Juan ein paar Kapriolen machen, nahm ein paar Hecken, die sich mir am Wege boten, und setzte schließlich einen Galopp über die Wiesen an. Ein paar meiner Kumpane galoppierten mir nach, die andern blieben auf der Straße halten, um uns zuzuschauen.

Als ich einen beträchtlichen Vorsprung vor meinen Verfolgern gewonnen hatte, ritt ich in einem großen Bogen kehrt und jagte ihnen entgegen. Ganz kurz vor ihnen brachte ich meinen [164] Gaul aus dem vollen Galopp zum Stehen. Du weißt, oder auch nicht, daß dies nicht so einfach ist.

Ihre Achtung vor mir erhöhte sich nunmehr zum höchsten Respekt. Daß ein junger Mann, der eben die Universität verlassen, ein so passabler Reiter sein könne, hatten sie nicht erwartet. Und daß ich es war, nützte mir ihnen gegenüber mehr als eine Dissertatio summa cum laude. Sie behandelten mich fortan nicht mehr als Grünschnabel und unterhielten sich mit mir in vertrautester Weise, was mir viel Vergnügen bereitete.

Mit meinen Frauenröcken hatte ich meinen Stolz durchaus nicht abgelegt. Weib war ich nicht mehr. Ich wollte Mann sein, und zwar durch und durch, nicht bloß äußerlich. Ich war entschlossen, als Kavalier auch die Erfolge zu erringen, auf die ich als Weib keinen Anspruch hatte. Eines erfüllte mich mit Sorge. Wie mußte ich es beginnen, ein Held zu werden? Mut und Gewandtheit begründen am festesten eines Mannes Ruf, Ich bin für ein Weib nicht gerade feig und kenne auch jene alberne Geziertheit nicht, die viele haben. Aber von da bis zu der sorglosen Brutalität, die der Männer Ruhm bedeutet, ist es noch weit. Und ich trug mich mit der Absicht, ein Ohnefurcht und Allesüberwinder zu werden, um mir in der Welt Geltung zu verschaffen und alle Vorteile meiner Verwandlung auszukosten. In der Folge gewahrte ich, daß nichts leichter und einfacher war.

Der eine der Kavaliere, mein Bettgenoss, der, den ich in jener denkwürdigen Nacht beinahe am Ärmel gezogen, faßte eine leidenschaftliche Freundschaft zu mir und wich nicht mehr von meiner Seite. Den einen Umstand ausgenommen, daß ich ihn nicht zum Liebhaber mochte, selbst wenn er mir die kostbarste Krone angeboten hätte, mißfiel er mir nicht. Er war klug und witzig. Nur wenn er von den Frauen sprach, verächtlich und spöttisch, dann hätte ich ihm am liebsten die Augen ausgekratzt, [165] besonders, weil seine Übertreibung oft grausame Wahrheit enthielt.

Wiederholt lud er mich herzlich ein, mit ihm zusammen zu seiner Schwester, einer jungen Witwe, zu kommen. Sie wohnte mit einer Tante auf einem alten Schlosse. Ich konnte nicht gut ablehnen. Um der Form willen machte ich ein paar Einwände. Im Grunde war es mir völlig gleich, ob ich hier- oder dorthin zog. Ich konnte mein Ziel auf diese Weise ebensogut erreichen wie auf eine andre. Kurz und gut, ich ließ mich bereden.

An einer Wegegabelung wies mein Begleiter auf die rechte Abzweigung mit den Worten: »Meine Herren, dies ist unsre Straße!« Die andern drückten uns die Hand und ritten links weiter.

Nach stundenlangem Ritt kamen wir beiden nach unserm Bestimmungsort.

Ein ziemlich breiter Graben, der, anstatt Wasser zu enthalten, mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckt war, trennte den Park von der Landstraße. Die Grenzmauer bestand aus Quadern. Eine einbogige Brücke führte hinüber zum Tor. Von da geleitete eine hohe Ulmenallee nach dem Schlosse.

Eine weite Rasenfläche, mit Blumenbeeten übersät, dehnte sich vor dem Herrenhause aus. Verschnittene Sträucher, kugelrunde, würfelförmige und pyramidenartige, bildeten zu beiden Seiten der Allee bis zur breiten Freitreppe Spalier.

Vier oder fünf große Hunde kamen mit lautem Gebell herangesprungen. Sie umwedelten unsre Pferde und sprangen an ihnen hoch. Besonders toll gebärdeten sie sich gegen das Tier meines Genossen. Offenbar hatten sie es oft in seinem Stalle besucht und auf Ritten begleitet.

Auf all diesen Lärm hin erschien eine Art Diener, ein bäurischer Pferdebursche. Er nahm die Gäule bei den Trensenzügeln [166] und führte sie in den Stall. Weiter zeigte sich kein menschliches Wesen, ausgenommen ein kleines Bauernmädel, das vor unserm Anblick erschrak und, scheu wie ein Reh, hinter einem Haufen von Strohschütten verschwand.

An den Fenstern des Schlosses ließ sich keine Seele erblicken. Es war wie ausgestorben. Nicht das geringste Geräusch ward vernehmbar.

Sporenklirrend stiegen wir die Freitreppe hinauf. Da hörten wir Türen gehen. Offenbar kam uns jemand entgegen.

In der Tat erschien alsbald vor uns auf der Terrasse eine junge Dame. Mit einem Sprunge war sie bei meinem Begleiter und flog ihm um den Hals. Er küßte sie, legte seine Rechte um ihren Leib und trug sie die Treppe bis zur Terrasse hinauf. »Weißt du, Alkibiades,« sagte sie alsdann, »du bist wirklich ein riesig galanter Bruder! – Nicht wahr, mein Herr, die landesüblichen Brudermanieren hat er nicht? Aber er ist wirklich mein Bruder, versichre ich Ihnen! Wenn es auch nicht so aussieht.«

Die letzten Sätze galten mir.

Ich entgegnete, es wäre in der Tat kaum glaubwürdig. Im übrigen sei es wirklich ein Unglück, wenn man ihr Bruder wäre, da man dann nicht ihr Verehrer sein könne. Alkibiades sei somit das glücklichste wie das unglücklichste Menschenkind.

Dazu lächelte sie ein wenig.

So plaudernd kamen wir in ein nicht allzu hohes Zimmer, dessen Wände mit alten flandrischen Gobelins behangen waren. Auf ihnen sah man gewaltige spitzblättrige Bäume mit einer Unmenge phantastischer Vögel. Durch die Sonne und die Jahre hatten alle die darauf dargestellten Menschen, Tiere und Dinge die unmöglichsten Farben bekommen. Der Himmel sah graugrün aus, die Bäume mattblau mit gelben Lichtern, und auf den Gewändern der Gestalten hatten die Schatten hie und [167] da eine dem Stoff entgegengesetzte Färbung. Fleisch hatte das Aussehen von Holz, und die im weiß gewordenen Waldesdunkel spielenden Nymphen glichen ausgegrabenen Mumien. Nur ihre Lippen hatten ihr Purpurrot bewahrt und lächelten frisch wie einst. In den Vordergründen reckten sich hohe seltsame grüne Stauden mit buntscheckigen Blüten, deren Staubgefäße wie Pfauenkrönchen paradierten. In einem Weiher, in dessen Schwarz Silberfäden blinkten, philosophierten Reiher, die alle auf nur einem ihrer dürren Beine standen. Die Köpfe hatten sie eingezogen und die langen Schnäbel auf das Brustgefieder gedrückt. Im Hintergrunde lugten aus den Bäumen Pavillons mit spitzen Dächern und Balkonen, von denen schöne Damen in Prachtkleidern Jagdzügen nachschauten. Sonderbar zerklüftete Felsen, von denen Gießbäche herabschäumten, verschwammen am Horizont in weißen Wolkengebilden.

Am meisten in die Augen fiel mir eine Jägerin, die nach einem Vogel schoß. Ihre gespreizten Finger hatten soeben die Sehne des Bogens losgelassen, und der Pfeil war noch im Fluge. Da der Gobelin um die Ecke ging, sah man den Pfeil auf der Nachbarwand. Er hatte sozusagen einen Haken geschlagen. Der Vogel schwebte auf steifen Fittichen nach dem nächsten Baumzweig. Der Pfeil mit seiner goldnen Spitze, der immerdar durch die Lüfte sauste und doch nie sein Ziel erreichte, stimmte mich gar seltsam. Er kam mir vor wie ein wehmutsvolles Sinnbild des menschlichen Lebens. Und je länger ich ihn anschaute, umso Geheimnisvolleres und Unglückseligeres schien er mir zu sagen. Wieder und wieder sah ich mir die Jägerin an, die, den einen Fuß vorgesetzt und das eine Knie gebeugt, dastand. Ihre großen Augen mit den seidnen Wimpern waren weit geöffnet. Der Pfeil war ihren Blicken enteilt. In angstvoller Spannung spähte sie nach dem bunten Wundervogel, den sie erlegen wollte. Sie hatte erwartet, daß er zur Erde falle.

[168] Ich weiß nicht, ob das Einbildung von mir war: die Jägerin sah so verzweifelt und todtraurig aus wie ein Dichter, den der Tod abholt, ehe er sein Lieblingswerk vollendet und der noch im letzten Todesröcheln zu diktieren versucht.

Ich schildere den Gobelin sehr ausführlich. Gewiß war er diesen Wortreichtum gar nicht wert. Aber die in der armseligen Klause eines Gobelinstickers geschaffene Fabelwelt hat mich von jeher eigentümlich bewegt. Ich Hebe diese Phantastereien närrisch: die in der Wirklichkeit nirgends zu findenden Blumen und Blätter, die Wälder mit ihren unmöglichen Baumriesen, die Einhörner und die Paradiesvögel, die darauf sitzen, und die schneeweißen Hirsche darunter, mit goldenen Kreuzen zwischen dem Geweih, die von rotbärtigen Jägern in Sarazenentracht gejagt werden.

Als ich noch ein Kind war, betrat ich Gobelinsäle nur mit Grauen. Die Gestalten darauf, die mir zu leben begannen, wenn der Zugwind das leichte Gewebe streifte oder die Sonne darüber huschte, kamen mir vor wie böse Geister, die mein Tun und Treiben belauerten, um mich bei Gelegenheit vor den Richter zu bringen. Niemals hätte ich es fertig bekommen, einen heimlich geholten Apfel oder ein genommenes Stück Kuchen in ihrer gespenstigen Gegenwart zu verzehren.

Was könnten diese schweigsamen Wesen alles verkünden, wenn sie wirklich gelauscht hätten und wenn sie hinterher ihre Lippen zu öffnen vermöchten? Wieviel tausend Mordtaten, Verrätereien, ruchlosen Ehebrüchen und Ungeheuerlichkeiten aller Art haben sie still und stumm beigewohnt!

Doch genug, ich will meine Erzählung wieder aufnehmen.

»Alkibiades, ich möchte der Tante deine Ankunft vermelden!«

»Schwesterchen, das eilt nicht! Ich stelle dir hier einen Freund von mir vor, Herrn Theodor von Serannes. Er wird uns einige Tage Gesellschaft leisten. Ich brauche dir nicht erst ans Herz [169] zu legen, es ihm recht gemütlich bei uns zu machen. Wie du siehst, empfiehlt er sich von selbst.«

Diese letzten Worte wiederhole ich nur der Vollständigkeit halber. Denke ja nicht, daß es aus Eitelkeit geschieht!

Die schöne junge Frau neigte den Kopf ein wenig, zum Zeichen ihres guten Willens. Sodann entspann sich ein gleichgültiges Gespräch. Währenddem betrachtete ich sie mir bis ins Einzelne. Bis dahin hatte ich dies nicht tun können.

Sie mochte drei- bis vierundzwanzig Jahre alt sein. Das Trauerkleid stand ihr entzückend. Es war keine Frage, daß sie weder besonders betrübt noch gar untröstlich aussah. Offenbar gehörte sie nicht zu den Witwen, die ihres Seligen Asche als Rhabarberpulver in die Suppe streuen. Hatte sie den Verstorbenen heiß beweint? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war nichts mehr davon zu spüren. Das kokette Batisttaschentuch in ihrer Hand konnte unmöglich trockener sein. Auch waren ihre Augen nicht im geringsten rot. Im Gegenteil, hell und klar. Auf ihren Wangen suchte man umsonst Tränenperlen. Nur zwei tiefe Grübchen erblickte man. Sie lächelte also gern. In der Tat, für eine Witwe tat sie das ziemlich oft. Daß sie sich ihres toten Herrn und Gebieters wegen nicht verpflichtet fühlte, dicke Augenlider und eine violette Nase zu haben, gefiel mir besonders an ihr. Auch dafür wußte ich ihr Dank, daß sie sich kein konventionelleidendes Aussehen gab und daß sie ihre Silberstimme heiter und natürlich erklingen ließ, ohne die Worte langzudehnen und ihre Rede mit tugendhaften Floskeln auszuschmücken. Das kam mir außerordentlich schick vor. Ich hielt sie für eine recht kluge Frau. Und darin täuschte ich mich auch nicht.

Sie war gut gebaut. Fuß und Hand elegant. Ihr schwarzes Gewand war nach Möglichkeit leicht und locker gearbeitet, so daß man die Trauerfarbe völlig vergaß. Sie hätte darin zum Ball gehen können, ohne daß einem dabei etwas aufgefallen wäre. [170] Für den Fall, daß ich mich verheiraten und dann Witwe werden sollte, werde ich mir den Schnitt dieses Kleides von ihr ausbitten. Sie war engelschön darin.

Nach einigem Hin- und Herreden gingen wir zu der alten Tante hinauf. Wir fanden sie in einem großen würdesamen Lehnstuhle sitzen, ein Bänkchen unter den Füßen und neben sich einen zotteligen griesgrämigen Hund, der bei unserm Eintritt seine schwarze Schnauze hob und uns mit einem nicht besonders freundschaftlichen Knurren empfing.

Der Anblick alter Frauen hat mir von jeher Widerwillen eingeflößt. Meine Mutter ist ganz jung gestorben. Hätte ich sie altern und ihre Züge mit den Jahren leise verfallen sehen, so hätte ich mich ohne Zweifel daran gewöhnt. Während meiner Kindheit umgaben mich immer nur junge lachende Gesichter. Somit ist meine unüberwindliche Abneigung gegen alte Leute sehr erklärlich.

Unwillkürlich schauderte ich, als ich sah, wie die schöne junge Witwe mit ihren feinen roten Lippen die gelbe Stirn der alten Frau berührte. Dergleichen vermöchte ich nicht über mich zu bringen. Mit sechzig Jahren sehe ich freilich ebenso aus. Dagegen könnte ich nichts tun. Aber ich bete zu Gott, mich so jung wie meine Mutter sterben zu lassen.

Gewisse feine Linien verrieten die ehemalige Schönheit der alten Dame. Häßlich war sie also keineswegs. Obwohl ihre Augen an den Winkeln Krähenfüße aufwiesen und von längst schlaffen Lidern umrahmt wurden, funkelte und glühte in ihnen noch jugendliches Feuer. Vor etlichen Jahrzehnten hatten sie zweifellos zuckende Blitze der Leidenschaft ausgestrahlt. Die schmale dünne Nase, ein wenig wie der Schnabel eines Raubvogels gebogen, verlieh dem Profil den Ausdruck ernster Hoheit, den das nachsichtige Lächeln der habsburgischen Lippen milderte, die nach der Mode entschwundener Zeit karminrot bemalt waren.

[171] Ihre Tracht war altfränkisch, aber nicht lächerlich, durchaus im Einklang mit ihrem Gesicht. Ein weißes Spitzenhäubchen wellte sich überm Haar. Die langen mageren wunderschönen Hände staken in fingerlosen Halbhandschuhen. Ein graubraunes Kleid mit dunkelvioletten Streifen, ein schwarzes Umschlagetuch und eine seidene Schürze vervollständigten ihren Anzug.

Alte Frauen sollten sich immer ähnlich schlicht kleiden und ihren baldigen Tod dadurch ehren, daß sie sich nicht mit Federn und Blumengewinden, leuchtenden Bändern und irgendwelchem Firlefanz behängen, die nur der Jugend anstehen. Sie mögen dem Leben noch so sehr nachwinken, es mag doch nichts mehr von ihnen wissen. Sie haben ihren Lohn dahin.

Die alte Dame empfing uns mit einer Gewandtheit und Höflichkeit, die mir sofort verriet, daß sie am ehemaligen Hofe verkehrt hatte. Es ruhen köstliche Geheimnisse in dieser Urbanität, die in der Welt leider mehr und mehr verloren geht. Ihre Stimme hatte, wenn sie auch zitterte, einen seltsamen feinen Klang.

Ich schien ihr recht gut zu gefallen, denn sie schaute mich sehr lang und höchst aufmerksam an, beinahe voll zärtlicher Rührung. Eine Träne blinkte in ihrem Auge und lief langsam herab in einer der Furchen ihrer Wange. Sie bat mich darob um Entschuldigung und erklärte mir, ich ähnle ihrem Sohne, der vor Jahren im Felde gefallen sei.

Während der ganzen Zeit, die ich im Schlosse verblieb, wurde ich von der alten Dame wegen dieser wirklichen oder eingebildeten Ähnlichkeit mit außergewöhnlichem, geradezu mütterlichem Wohlwollen behandelt. Ich fand hieran viel mehr Vergnügen, als ich dies zuerst für möglich gehalten hatte. Denn im allgemeinen bereiten mir betagte Leute die größte Freude damit, daß sie mich nie ansprechen und daß sie bei meinem Kommen gehen.

[172] Ich erzähle Dir nicht weiter so ausführlich, was ich nun von Tag zu Tag im Schlosse angegeben habe. Wenn ich im Anfang etwas weitschweifig gewesen bin, so geschah dies als Einleitung von sonderbaren und doch wieder natürlichen Erlebnissen, die ich wohl hätte voraussehen müssen, als ich die Männerkleidung anlegte.

Meine angeborene Leichtherzigkeit hat mich zu einer Unklugheit verführt, die ich jetzt bitter bereue. Eine liebe schöne Seele ist durch mich in Herzensnot geraten, die ich nur lindern könnte, wenn ich mich entdeckte. Aber damit würde ich mich ernstlich bloßstellen.

Um gänzlich Mann zu sein und mich ein wenig zu vergnügen, hatte ich nichts Klügeres getan als der Schwester meines Freundes den Hof zu machen. Ich fand es zu spaßig, auf allen Vieren nach ihrem heruntergefallenen Handschuh zu fahnden und ihn ihr ehrerbietigst zu überreichen. Ich gefiel mir darin, mich mit schmachtender Miene über die Lehne ihres Stuhles zu neigen und ihr tausend nette Dinge ins Ohr zu flüstern. Ging sie von einem Zimmer zum andern, so bot ich ihr zuvorkommend den Arm. Wollte sie ausreiten, so hielt ich ihr den Steigbügel und wich während des Spazierrittes nicht von ihrer Seite.

Abends las ich ihr gefühlvolle Verse vor oder sang mit ihr galante Opernduette. Kurzum, ich erfüllte gewissenhaft die Pflichten eines Cavaliere servente.

Ich setzte alle die Masken auf, die ich an verliebten Männern beobachtet hatte. Ich amüsierte mich dabei königlich und lachte toll, wenn ich hinterher, allein in meinem Zimmer, an die Kapriolen zurückdachte, die ich mit würdevollem Tone aufgeführt hatte.

Alkibiades und die alte Dame schienen unsere Vertrautheit gern zu sehen und ließen uns viel allein. Zuweilen tat es mir leid, daß ich nicht wirklich ein Mann war. Ich hätte es sehr leicht [173] gehabt, das Alleinsein ordentlich auszunützen. Denn die reizende Witwe hatte den Verstorbenen sichtlich nunmehr völlig vergessen, oder wenn sie seiner manchmal noch gedachte, so war sie doch nahe daran, seinem Andenken endgiltig untreu zu werden.

Leider mußte ich eine gewisse Grenze einhalten. Ich durfte eben nur in Worten liebenswürdig sein. Ein Zurück aber gab es auch nicht mehr. Zum mindesten wäre das sehr schwierig gewesen. Ich mußte zunächst auf dem eingeschlagenen Wege weiterwandeln. Meine einzige Hoffnung war das Ende des Monats, an dem ich Abschied nehmen wollte, mit dem Versprechen wiederzukehren, ohne daran zu denken, es zu halten. Ich bildete mir ein, die schöne Frau werde sich trösten, nachdem sie mich aus den Augen verloren, und mich bald vergessen. Aber während ich nur mein Spiel trieb, hatte ich eine ernsthafte Leidenschaft erweckt, und so nahmen die Dinge einen andern Lauf, als ich gedacht. Das beweist wieder einmal die Wahrheit einer uralten Weisheit: Mit dem Feuer und der Liebe soll man nicht spielen!

Ehe Rosette mich sah, kannte sie die Liebe nicht. Sie war sehr jung an einen um vieles älteren Mann verheiratet worden, für den sie nichts als eine Art kindliche Freundschaft empfunden hatte. Ohne Zweifel war sie viel gefeiert worden; aber so außergewöhnlich dies scheinen mag: sie hatte keinen Geliebten gehabt. Entweder waren die Kavaliere, die ihr den Hof gemacht, Stümper in der Verführungskunst gewesen, oder, was wahrscheinlicher ist, Rosettens Stunde hatte noch nicht geschlagen. Die Provinzdandys, die nur von Rinder- und Schweinezucht und ihren Jagden auf Zehnender schwatzen und höchstens Kalenderwitze und Gassenhauer in ihre Rede verflechten, waren wahrhaftig nicht imstande, ihr zu gefallen. Somit hatte es ihre Tugend nicht schwer gehabt, sich zu behaupten. Zudem [174] hütete ihr lebhaftes heiteres Temperament sie genügend vor der Liebe, jener Leidenschaft, die so viel Macht über Träumer und Grübler besitzt. Die Proben, die ihr ihr alter Ehemann von der Wollust gegeben hatte, waren offenbar so mittelmäßig gewesen, daß sie nach seinem Hingange nicht das geringste Wiederverlangen darnach verspürte. Vergnügt genoß sie den Frieden ihrer Witwenschaft und freute sich der Wahrscheinlichkeit, noch recht viele Jahre ihre Schönheit zu bewahren.

Mit meiner Ankunft änderte sich dies. Anfangs glaubte ich, mir alle Schuld zuschieben zu müssen. Hätte ich mich ihr gegenüber in den engen Grenzen kühler und bedachter Höflichkeit gehalten, so hätte sie mir vielleicht keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sehr bald aber gewann ich die Einsicht, daß sich dies nicht so verhalten und daß ich mich geirrt hatte. Ach, niemand kann den verhängnisvollen Lauf seines Sternes hemmen und dessen gute oder böse Macht verhindern! Es war Rosettens Schicksal, daß sie nur ein einziges Mal in ihrem Leben der Liebe begegnen sollte und zwar einer unmöglichen Liebe. Dies, ihr Geschick, muß sie zu ertragen wissen.

Ich werde geliebt, Graziosa! Wie süß! Leider ist das mich liebende Wesen ein Weib. Meine Liebschaft hat also etwas der gewöhnlichen Liebe Fremdes an sich. Aber es ist doch köstlich, in der Nacht zu erwachen, sich auf den Ellbogen zu stützen und sich zu sagen: Jemand denkt an dich, jemand träumt von dir und ist auf dein Glück bedacht! Ein Blick, eine Miene von mir bedeuten für einen anderen Menschen Freud oder Leid. Ein Wort, aufs Geratewohl gesagt, wird sorgfältig aufbewahrt und stundenlang hin und her gedeutet. Ich bin der Pol, nach dem ein zitternder Magnet strebt. Mein Auge ist jemandes Himmel. Und mein Mund wird sehnsüchtiger begehrt als das Paradies. Wenn ich stürbe, würden heiße Tränenfluten meine Asche netzen. Mein Grab wäre blumenreicher als eine Hochzeitstafel. [175] Geriete ich in Gefahr, so würde sich jemand zwischen die Degenspitze des Feindes und meine Brust werfen und sich für mich opfern. Wie ist das schön! Ich glaube, Herrlicheres kann man sich auf Erden gar nicht wünschen.

Solche Gedanken erfüllten mich derart mit Glück, daß ich mir Vorwürfe machte. Denn ich hatte so gar keine Gegengabe. Es ging mir wie einem Armen, der von einem großherzigen reichen Freunde Geschenke empfängt und genau weiß, sie niemals erwidern zu können. Aber es ist so entzückend, vergöttert zu werden, und so ließ ich mir die Anbetung artigst gefallen. Man behandelte mich als Mann; ich ward mit Herr angeredet, und ich vergaß nach und nach, daß ich ein Weib war. Meine Verkleidung kam mir wie meine wahre Tracht vor. Ich erinnerte mich kaum, je eine andre getragen zu haben. Ich dachte nicht mehr daran, daß ich im Grunde nichts als eine kleine Schwärmerin war, die sich aus ihrem Rock ein paar Hosen hatte machen lassen.

Es gibt viele Männer, die weiblicher sind als ich. Ich habe vom Weibe kaum mehr als den Busen, ein bißchen mehr Rundung in den Formen und die zarten Hände. Das Frauenkleid trag oder trug ich nur äußerlich. Meine Seele weiß nichts davon. Es mag oft vorkommen, daß Seele und Körper eines Wesens verschiedenen Geschlechtern angehören. Dieser Widerspruch muß notwendigerweise viel Verwirrung anrichten. Ich zum Beispiel wäre tief unglücklich geworden, hätte ich nicht den scheinbar so tollen, in Wirklichkeit aber höchst vernünftigen Entschluß gefaßt, auf meine Weiblichkeit zu verzichten, die ich leiblich und durch Zufall besitze. Ich liebe die Pferde, die Fechtkunst, allen Sport, das Klettern und Herum jagen wie ein Junge. Ich finde es sterbensöde, mit nebeneinandergestellten Füßen und an der Seite anliegenden Ellbogen stillzusitzen, die Blicke bescheiden zu senken, mit honigsüßer Stimme zu flöten [176] und tausendmal den Wollfaden durch den Kanevas zu ziehen. Gehorchen müssen ist mir fürchterlich. Das Wort, das ich am meisten auf der Zunge trage, heißt: Ich will! Hinter meiner glatten Stirn und unter meinem seidigen Haar hausen kraftvolle männliche Gedanken. Die reizenden Nichtigkeiten, die Frauen im allgemeinen betören, berührten mich immer nur flüchtig. Ich bin das Gegenstück zu Achill, der sich in der Verkleidung eines jungen Mädchens gefiel. Ich gebe meinen Spiegel gern für einen Degen hin. Was mir einzig an den Frauen gefällt, das ist die ihnen eigentümliche Schönheit. Trotz aller Unannehmlichkeiten, denen meine weibliche Gestalt mich aussetzt, möchte ich auf sie nicht verzichten, wie wenig sie auch als Hülle für meinen Geist passen mag.

Mein Abenteuer war entschieden eigenartig und pikant. Es hätte mir unendliches Vergnügen bereitet, wenn die arme Rosette die Sache nicht tragisch genommen hätte.

Sie begann mich auf wundervoll natürliche und selbstverständliche Art zu lieben, mit der vollen Innigkeit ihrer schönen Seele. Es war eine Liebe, wie sie die Männer nicht verstehen, von der sie sich nicht die entfernteste Vorstellung zu machen vermögen, eine köstliche glühende Liebe. So möchte ich von einem Manne geliebt werden, und so würde ich mein Traumbild lieben, wenn ich ihm begegnete. Welcher Schatz ist dabei verloren gegangen, ein Kleinod von weißen Perlen, wie sie von keinem Taucher auf dem Meeresboden gefunden werden! Wie viele sehnsüchtige Seufzer sind in der Luft verklungen, anstatt von reinen liebenden Lippen weggeküßt zu werden! Wie hätte diese Liebe einen jungen Mann beglücken können! Unzählige Unglückliche, die schön, liebenswert, reichbegabt, hochherzig und geistvoll waren, haben umsonst kaltherzige und fühllose Götzen fußfällig angebetet. Wieviele zärtliche gütige Seelen haben sich verzweiflungsvoll in die Arme von Dirnen gestürzt![177] Wie viele sind stumm verloschen wie Grabeslampen. Eine solche echte Liebe hätte sie vor Schande und Untergang bewahrt.

Was ist das Menschenlos bizarr! Und was für ein großer Spötter ist der Zufall!

Was so viele andre heiß und vergeblich ersehnen, ist mir, die ich nichts davon wissen wollte und wissen durfte, in den Schoß gefallen. Es kommt einem launenhaften jungen Mädchen in den Sinn, in Männerkleidung durch die Lande zu ziehen, um zu erfahren, welch Geistes Kinder ihre künftigen Verehrer seien. Sie findet in einer Herberge einen fahrenden Ritter, der sie seiner Schwester zuführt. Und diese hat nichts Eiligeres zu tun als sich in sie zu verlieben, gerade wie eine Katze oder eine Turteltaube oder wie sonst was Verliebtes und Sehnsüchtiges. Das Glück liebt es, denen Schuhe zu schenken, die Holzbeine haben, und Handschuhe denen, die der Hände entbehren. Die Erbschaft, die ein behagliches Leben sichert, fällt einem immer erst auf dem Sterbebette zu.

Zuweilen, doch beileibe nicht so oft, wie Rosette sich dies gewünscht, machte ich ihr einen Morgenbesuch. Im allgemeinen empfing sie nur nach dem Aufstehen Besuch. Nur mir zuliebe ging sie von dieser Gewohnheit ab, wie sie über noch manches andre ein Auge zugedrückt hätte, wenn ich nur gewollt hätte. Aber, du mein Gott! Ein altes Sprichwort besagt: Das schönste Mädchen kann nicht mehr geben, als es hat! Ich gab, was ich hatte.

Sie reichte mir ihre kleine Hand zum Kuß. Offengestanden, ich küßte dies Händchen nicht ungern, denn es war über die Maßen mollig und weiß und exquisit parfümiert. Ich fühlte, wie Rosette unter dem grausam verlängerten Druck meiner Lippen zitterte und sich krampfte. Aufgeregt und inbrünstig richtete sie ihre großen feuchtschimmernden Augen voll Sinnenlust auf mich und ließ ihr hübsches Köpfchen, das sie, um mich [178] besser zu sehen, ein wenig erhoben hatte, in die Kissen zurücksinken. Ich sah, wie sich unter der Decke ihr Busen hob und senkte und wie sich ihr Körper wand. Wer imstande gewesen, etwas zu wagen, hätte hier viel wagen können. Ganz sicher hätte Kühnheit nur Dank geerntet.

Eine Stunde, auch zwei, verblieb ich so bei ihr, ihre Hand, die sie wieder auf die Decke gelegt, immer in der meinen. Wir plauderten, lachten und scherzten und konnten kein Ende finden. Rosette lebte nur ihrer Liebe, glaubte sich aber des Erfolgs zu sicher, um ihre Unbefangenheit und ihr schelmisches Wesen zu verlieren. Zuweilen nur warf ihre Leidenschaft den feinen Schleier leiser Schwermut über ihre Heiterkeit. Das machte sie mir noch reizvoller.

Es wäre in der Tat unerhört gewesen, wenn ein Anfänger in der Galanterie, wie ich sichtbarlich einer war, ob solchen Glücks nicht in tausend Seligkeiten geschwebt und es nicht nach Kräften genossen hätte. Rosette war wahrhaftig nicht dazu geschaffen, einem das Herz kalt zu lassen. Von meiner Unmännlichkeit nichts ahnend, verließ sie sich auf ihre Reize und meine Jugend.

Als die Geschichte aber anfing, sich über das übliche Maß hinzuziehen, ward sie von Unruhe erfaßt. Nur mit Mühe vermochten meine verdoppelten Schmeicheleien und meine schönsten Beteuerungen ihre frühere Seelenruhe zurückzurufen. Zweierlei an mir setzte sie in Verwunderung. Sie bemerkte an meinem Betragen Widersprüche, die sie nicht verstand: die Glut meiner Worte und die Kälte in meinem Tun.

Du weißt es am besten, liebste Graziosa, daß meine Freundschaft das Gepräge der Leidenschaft trägt. Sie ist unvermittelt, heiß, heftig, herrisch und eifersüchtig. Ich empfand für Rosette eine ähnliche Freundschaft wie für Dich. Zum mindesten konnte man sich über meine Gefühle täuschen. Und Rosette [179] täuschte sich um so gründlicher, als meine Tracht sie auf den richtigen Gedanken nicht bringen konnte.

Da ich noch keinen Mann geliebt habe, so hat sich mein Überreichtum an Zärtlichkeit gewissermaßen in meinen Mädchen- und Frauenfreundschaften verbraucht. Ich trug in diese Bündnisse wie in alle geliebten Dinge meine Begeisterung und meinen Gefühlsüberschwang. Es ist mir unmöglich, bei irgend etwas maßvoll zu sein, besonders nicht in Herzensangelegenheiten. In meinen Augen gibt es nur zwei Sorten von Menschen: solche, für die ich schwärme, und solche, die ich hasse. Alle andern sind für mich gar nicht da. Ich galoppiere über sie hinweg wie über die Landstraße. Mein Geist unterscheidet sie nicht von Pflaster- und Meilensteinen.

Ich bin von Natur mitteilsam und zärtlich. Zuweilen vergaß ich die Tragweite meines Tuns und legte beim Spazierengehen meinen Arm um Rosette, wie ich es ehedem getan, wenn ich mit Dir in der einsamen Allee im Garten meines Onkels auf und ab wandelte. Ein andermal beugte ich mich über die Lehne des Stuhls, in dem sie saß und stickte, und wickelte die widerspenstigen blonden Härchen an ihrem vollen Nacken um meine Finger. Oder ich glättete mit dem Handrücken ihr schönes, vom Kamm gehaltenes Haar, oder ich machte mich irgendeiner Liebkosung schuldig, wie Du als meine liebste Freundin sie von mir kennst.

Rosette hütete sich wohl, meine Zärtlichkeiten bloßer Freundschaft zuzuschreiben. Was man im allgemeinen Freundschaft nennt, geht ja soweit nicht. Da ich mich aber immer wieder damit begnügte und nie weiter ging, verwunderte sie sich und wußte nicht, was sie davon halten sollte. Zu guter Letzt mochte sie denken, meine übergroße Schüchternheit sei schuld daran, meine Jugend und meine Unerfahrenheit in Liebesdingen. Man müsse mir durch verliebtes Entgegenkommen Mut machen.

[180] Dies hatte zur Folge, daß sie ungezählte Gelegenheiten zum Alleinsein mit mir herbeiführte, immer an Orten, die, einsam und fern von allem Lärm und allen Störungen, mich an sich schon mutiger machen mußten. Sie führte mich in den Wald und versuchte, ob die lüsterne Verträumtheit und schwüle Sehnsucht, die zärtliche Seelen im Waldesdunkel, dem holden Tummelplatz der Liebe, überkommt, nicht ihre Wirkung ausübten.

Eines Tages waren wir schon eine Weile im traulichen Park hinter dem Schlosse herumgewandelt. Da führte mich Rosette auf einem kreuz und quer gehenden, mit Flieder- und Haselbüschen umsäumten Fußpfade nach einer einsamen Hütte, einem Blockhäuschen mit einem Schilfdach und einer roh gezimmerten Tür, die aus vier bis fünf derbgehobelten Holzbrettern bestand. In den Fugen sproßten Moos und Unkraut. In der Nähe sprudelte unter den Wurzeln einer silberrindigen Esche ein starker Quell hervor, der sich einige Schritte weiter über zwei Marmorstufen in ein mit smaragdgrünen Kressen umwachsenes Becken ergoß. Wo keine Kresse wucherte, erblickte man schneeweißen feinen Sand. Das Wasser war kristallklar und eiskalt. Es entströmte unmittelbar der Erde, in undurchdringlichem Schatten, und noch kein Sonnenstrahl hatte es je geküßt. So hatte es nicht Zeit gehabt, warm zu werden oder sich zu trüben. Trotz seiner Härte liebe ich das Quellwasser, und als ich dieses sah, da konnte ich dem Wunsche zu trinken nicht widerstehen. Ich beugte mich nieder und schöpfte zu wiederholten Malen mit der hohlen Hand daraus, dieweil ich kein andres Gefäß zur Verfügung hatte.

Rosette äußerte den Wunsch, auch zu trinken. Sie sei durstig. Und so bat sie mich, ihr ein wenig Wasser zu bringen. Sie selber wage nicht, sich so tief über die Quelle zu beugen. Ich tauchte meine beiden aneinander gepreßten Hände in die klare [181] Flut, hob sie wie eine Schale an Rosettens Lippen und hielt sie so, bis Rosette alles Wasser darin bis auf den letzten Tropfen aufgesogen hatte. Lange währte das nicht, denn das Wasser rieselte zwischen meinen Fingern hindurch, so fest ich sie auch schloß. Wir bildeten eine reizende Gruppe. Es fehlte nur der Bildhauer, sie festzuhalten.

Als Rosette beinahe ausgetrunken, konnte sie sich nicht enthalten, meine Hände zu küssen, freilich so, daß ich denken mochte, sie schlürfe die letzte Wasserperle. Ich ließ mir jedoch nichts vortäuschen. Zudem errötete sie plötzlich aus reizendem Schuldbewußtsein.

Sie nahm meinen Arm, und wir lenkten unsere Schritte der Hütte zu. Die schöne Frau ging so dicht neben mir wir möglich und beugte sich beim Sprechen etwas vor, so daß sich ihre Brust an meinen Oberarm schmiegte. Eine kleine List, die jeden Andern arg verwirrt hätte. Deutlich fühlte ich den festen vollen warmen Busen. Obendrein nahm ich wahr, daß er stürmisch wogte, sei es, daß dies eine kleine Komödie oder wirklich so war. Schmeichelhaft und verführerisch war es zum mindesten.

So gelangten wir vor die Hütte, deren Tür ich mit einem Fußtritt öffnete. Den Anblick, der sich meinen Augen bot, hatte ich nicht erwartet. Ich vermutete die Innenwände mit Stroh ausgeschlagen, eine Matte auf dem kahlen Fußboden und ein paar Rohrstühle in den Ecken zum Sichhinsetzen. Nichts von alledem.

Der Raum war ein köstliches Plaudergemach von höchster Behaglichkeit. Über der Tür und um alle vier Spiegelwände lief ein Fries aus mattlilafarbenem Marmor mit Darstellungen der galantesten Szenen aus Ovids Metamorphosen. Allerlei bekannte Liebespaare aus den griechischen Legenden! Um die Pfeiler zwischen den Spiegeln rankten sich zierlich geschnitzte Rosen- und Margeritenketten aus Gold und Silber. Das Licht [182] drang von oben herein, durch ein großes Auge aus Rubinglas. Mitten in diesem liebesseligen Schlupfwinkel winkte ein breiter Diwan, dessen zartblauen Bezug leuchtende Silberborte zur schönsten Geltung brachte. Auf diesem himmlischen Blau mußte sich ein schimmernd weißer Frauenkörper wie ein Wunder abheben! Mit einem Worte, ein Ort zu klösterlicher Andacht war das Innere der kleinen Waldhütte nicht.

Ich habe vergessen zu erzählen, daß auf einem kostbar eingelegten Tischchen eine prächtige Standuhr thronte. Die Spiegel warfen seltsam spielende Lichter auf sie. Übrigens ging sie nicht. Wahrscheinlich weil es ein Widerspruch gewesen wäre, die Stunden an einem Orte schlagen zu lassen, wo man ihrer nicht gedenken wollte.

Ich gestand Rosette meine Freude über diese Erlesenheit. Ich sagte ihr, wie leidenschaftlich ich gesuchte Eleganz unter dem Mantel schlichter Einfachheit liebe. Ich schätzte es ungemein, sagte ich, wenn eine Frau gestickte Unterröcke und spitzenbesetzte Wäsche unter einem einfachen Leinenkleid trüge.

Um mir zu beweisen, daß sie meiner Meinung sei, hob Rosette ihr Kleid ein wenig und ließ mich ein Stück ihres reich mit Blumen und Blättern bestickten Unterrocks sehen. Es hing nur von mir ab, in das Geheimnis noch traulicherer Herrlichkeiten eingeweiht zu werden. Mich gelüstete es jedoch nicht darnach, zu erfahren, ob die Kostbarkeit ihres Hemds der des Unterrocks entspräche. Sicherlich war es nicht minder prächtig. Rosette ließ den Saum ihres Kleides wieder fallen, betrübt, daß sie nicht mehr geoffenbart. Gleichwohl hatte die Schaustellung ihr gedient, indem sie den Anfang einer wohlgeformten Wade zeigte, der eine nicht üble Vorstellung vom Weiteren erweckte.

Um ihr Unterröckchen besser zur Geltung zu bringen, streckte sie ein Bein vor, das in seinem engen perlgrauen Seidenstrumpfe [183] wirklich wundervolle verlockende Linien verriet. Und die kleinen Halbschuhe mit ihrem Schleifenschmuck konnte man für Aschenbrödels Glaspantöffelchen halten. Ich machte ihr mein aufrichtigstes Kompliment und erklärte, daß ich kaum ein hübscheres Bein und ein zierlicheres Füßchen wisse und daß ich mir nicht denken könne, es gebe noch schönere Beine, worauf sie mit allerliebster Freimütigkeit und Ungeniertheit entgegnete: »Sie haben recht, lieber Freund!«

Jetzt lief sie zu einem Wandschrank, langte eine Flasche süßen Weines heraus und ein paar Teller voller Kuchen und verzuckerter Früchte, stellte dies auf ein rundes Tischchen und ließ sich dicht neben mir auf dem blaßblauen Diwan nieder. Um nicht zu unbequem zu sitzen, war ich genötigt, meinen rechten Arm hinter sie zu legen. Sie hatte beide Hände frei. Ich konnte mich nur mit der Linken bedienen. Sie schenkte mir mein Glas ein und legte mir Früchte und Süßigkeiten auf den Teller. Als sie aber meine Ungeschicklichkeit sah, rief sie: »So geht das nicht, Sie kleiner Junge! Ich muß Sie füttern, dieweil Sie nicht allein zu essen verstehen!«

Und nun fütterte sie mich und zwang mich, die Bissen viel schneller zu verschlingen, als ich wollte, indem sie sie mir mit ihren niedlichen Fingerchen in den Mund stopfte, wie einer Gans, die man mästet. Dabei lachte sie herzlich. Ich konnte es mir nicht versagen, ihren Fingern den Kuß zu erwidern, den sie vorher meiner Hand beim Trinken gegeben. Sie tat, als wolle sie mich daran hindern. Im Grunde wollte sie mir nur bessere Gelegenheit zum Küssen geben, indem sie mir ein paarmal mit dem Handrücken auf den Mund tippte.

Rosette hatte zwei bis drei Schluck Malaga getrunken, ich ungefähr ebensoviel. Viel war das gewiß nicht. Es genügte aber vollständig, um sie, die nur an leichte Mischungen von Wasser und Wein gewöhnt war, in heitere Stimmung zu bringen. Rosette [184] legte sich hintenüber und sank liebevoll in meinen Arm. Sie hatte ihren Schal abgeworfen, und so sah ich ihren in dieser zurückgebogenen Körperhaltung hochstehenden Busen. Er war bezaubernd zart und lichtschimmernd, von edler Form und wundersamer Festigkeit. Ich betrachtete ihn ein paar Augenblicke voll unbeschreiblichen Entzückens. Und der Gedanke kam mir, daß die Männer in der Liebe bei weitem besser daran sind denn wir. Sie besitzen die köstlichsten Schätze an uns und haben uns nichts Gleichwertiges zu bieten. Welch ein Genuß, seine Lippen über die zarte glatte Haut einer Frau gleiten zu lassen, über ihre wohlgerundeten Formen, die dem Kuß entgegenstreben und ihn herausfordern, über den Linienakkord ihres samtenen Fleisches! Wie süß, Küsse auf das seidenweiche Haar eines Weibes zu drücken! Ein Mann schöpft an uns aus Quellen der feinsten Wollust, die wir am Manne nicht finden! Unsre Liebkosungen können kaum anders denn gewährender Art sein. Gleichwohl liegt im Geben mehr Glück als im Empfangen.

Das sind Bemerkungen, wie sie vor einem Jahre sicher nicht aus meinem Munde gekommen wären. Empfindungslos hätte ich alle Mädchenbusen und Frauennacken der Welt sehen können, ohne mir über ihre schönen oder unschönen Formen und Linien Gedanken zu machen. Seitdem ich jedoch das Kleid meines Geschlechts aufgegeben und in Gemeinschaft mit jungen Männern lebe, hat sich in mir ein bis dahin unbekannter Sinn ausgebildet: der Sinn für Leibesschönheit. Im großen und ganzen fehlt er den Frauen, ich weiß nicht warum. Eigentlich sollte man sie für trefflichere Schönheitsrichter halten denn die Männer. Aber da sie es sind, die die süßere menschliche Schönheit besitzen, und da Selbstkenntnis die allerschwerste ist, so darf man sich nicht wundern, wenn sie kein rechtes Auge dafür haben. Gewöhnlich steht es so: findet eine Frau eine [185] andre hübsch, so kann man unfehlbar sicher sein, daß selbige riesig häßlich ist und kein Mann von Geschmack ihr Beachtung schenkt. Andrerseits gelten alle Frauen, deren Schönheit und Anmut von Männern gerühmt werden, bei der gesamten Frauenwelt einstimmig für abscheulich und obendrein für kokett. Da kommen die Heben Lästerzungen gar nicht zur Ruhe. Wäre ich, was ich scheine, ich ließe mich bei der Wahl einer Geliebten von keinem andern Führer geleiten als von der Verunglimpfung durch andre Frauen. Das wäre mir ein genügendes Schönheitzeugnis.

Jetzt liebe und verstehe ich die weibliche Schönheit. Meine Tracht trennt mich von meinen Schwestern und nimmt mir jede Rivalität. Ich bin imstande, sie besser zu beurteilen als ein Mann. Ich bin nicht mehr Weib und doch nicht ganz Mann. Die Begierde wird mich nie so blenden, daß ich eine Äffin für eine Venus halte. Ich sehe die Dinge froschblütig ohne Eingenommenheit für oder gegen. Mein Standpunkt ist so unparteiisch wie nur möglich.

Lange und weiche Wimpern, durchschimmernde Schläfen, kristallklare Augen, die feinen Formen des Ohres, der Farbenton und die Beschaffenheit des Haares, die Vornehmheit der Hände und Füße, das Feingliedrige der Handgelenke und der Fesseln, dies und tausend andre Dinge, auf die ich früher nicht achtete, die aber gerade die wahre Schönheit ausmachen und allein die Echtheit der Rasse verbürgen, das führt mich jetzt bei meiner Einschätzung und läßt kaum eine Täuschung zu. Ich denke, man kann mit geschlossenen Augen jede Frau annehmen, von der ich sage: »Sie ist auf Ehre nicht übel.«

Aus alledem folgt naturgemäß, daß ich mich jetzt auch viel besser auf Gemälde und plastische Werke verstehe denn vorher. Obwohl ich nur eine oberflächliche Kenntnis der großen Meister besitze, kann man mir nicht mehr leicht einreden, irgendeine [186] Stümperei sei gut. Ich finde, Studien über die Darstellung des Schönen in der Kunst schärfen das Auge ungemein. Die Schönheit, sei sie seelisch oder leiblich, erheischt wie jedes Ding auf Erden zunächst ein ernstes Sich-damit-Beschäftigen. Sie läßt sich nicht auf den ersten Blick erfassen.

Zurück zu Rosette! Der Übergang ist nicht schwer. Das sind Varianten über ein und dasselbe Thema.

Wie schon gesagt, lag die schöne Frau in meinem Arm, ihr Kopf an meiner Schulter. Ihre tiefe Erregung hatte zartes Rot auf ihre Alabasterwangen gezaubert. Wenn sie lachte, blitzten ihre Zähne wie Tautropfen auf flammenrotem Mohn. Unter ihren halbgeschlossenen Wimpern schimmerten ihre großen Augen wie nasses Perlmutter. Wo das Licht über ihr schwarzes Haar glitt, floß es wie Purpurlicht darüber. Ein paar Löckchen hatten sich gelöst und schlängelten sich den vollen runden Hals hinab, auf dessen warmleuchtendem Weiß sie sich reizvoll abhoben. Ein paar besonders widerspenstige und mutwillige Locken krausten sich in kapriziösen Spiralen, von seltsamen Lichtern durchsonnt. Alle Farben des Regenbogens glitzerten leise in ihnen. Man mußte unwillkürlich an den goldnen Heiligenschein denken, der auf alten Bildern die Köpfe der Madonnen umrahmt. Wir schwiegen beide. Es machte mir Vergnügen, die blauen Äderchen unter dem Marmor ihrer Schläfen zu verfolgen und den weichen kaum merklichen Flaum, in den die Brauen verliefen.

Rosette hatte ihre Umgebung sichtlich vergessen und sich in verliebte Träume verloren. Ihre Arme lagen schlaff am Körper. Ihr Kopf sank weiter nach hinten, als wären die Halsmuskeln zu schwach, ihn zu halten. Sie hatte ihre Füßchen heraufgezogen, und ihr Leib schmiegte sich in die Ecke des Diwans, die ich innehatte, so daß ein großer leerer Raum auf der andern Seite verblieb.

[187] Ihr leichter geschmeidiger Körper drückte sich wie warmes Wachs an den meinen, wie Wasser um einen Stein im See. So dicht an meine Seite gerückt, glich sie jener Doppellinie, die die Maler der Schattenseite ihrer Gestalten verleihen, um sie voller und körperlicher erscheinen zu lassen. Nur ein verliebtes Weib besitzt solche Schlangenbieg- und schmiegsamkeit. Efeu und Klematis können nicht mit ihm wetteifern.

Ihre süße Körperwärme drang zu mir durch die Kleidung. Tausend magnetische Ströme flossen von ihr auf mich über. Ihre ganze Lebenskraft schien von ihr gewichen und in mich geflohen zu sein. Sie entgeisterte, verflutete und erstarb mir immer mehr. Kleine Perlen erschienen auf ihrer leuchtenden Stirn. Ihre Augen wurden immer feuchter, und ein paarmal machte sie den Versuch, sie mit den Händen zu verdecken. Auf halbem Wege aber fielen ihre matten Arme wieder auf ihre Knie zurück. Sie erreichten ihr Ziel nicht. Eine dicke Träne quoll unter dem Lid hervor und rollte über die glühende Wange, auf der sie bald verlosch.

Meine Lage wurde immer fragwürdiger und beinahe lächerlich. Ich fühlte, daß ich ungeheuer geistlos aussehen mußte, was mir in hohem Grade unangenehm war, obgleich es nicht in meiner Macht stand, mir eine andre Miene zu geben. Eine kecke Attacke war ich nicht imstande zu unternehmen – und doch war dies das einzige, was hier zu tun gewesen wäre. Ich durfte nichts wagen, da ich gewiß keinen Widerstand gefunden hätte! Ich wußte wahrhaftig nicht, wie ich mich aus dieser fatalen Lage ziehen sollte. Schmeicheleien und Verse sind eine sehr nette Ouvertüre, aber auf dem jetzigen Standpunkte der Geschichte waren ganz andre Dinge angebracht. Aufstehen und hinausgehen wäre taktlos gewesen. Zudem möchte ich beinahe glauben, daß Rosette mich wie Frau Potiphar am Mantel zurückgehalten hätte. Ich hätte ihr keinen plausiblen Grund für [188] meine Josefsrolle nennen können. Bei aller meiner Beschämung muß ich aber gestehen, daß diese zweideutige Szene durchaus nicht ihres Reizes für mich entbehrte. Deshalb verlängerte ich sie mehr als nötig. Rosettens heißes Verlangen entflammte mich. Ich war höchst ärgerlich, es nicht befriedigen zu können. Ich wünschte, ein wirklicher Mann zu sein, um Rosettens Glut auf den Gipfel zu bringen. Es tat mir leid, sie betrogen zu sehen. Mein Atem ging rascher. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Ich war kaum weniger erregt als meine arme Verliebte. Allmählich schwand mir das Bewußtsein an unser gleiches Geschlecht. Wollust überkam mich. Meine Augen verschleierten sich. Meine Lippen bebten. Wäre Rosette ein Kavalier gewesen anstatt auch nur ein Weib, so hätte sie gewiß leichten Handel mit mir gehabt.

Da wurde es ihr zuviel. Mit einem Sprung erhob sie sich und begann mit lebhaften Schritten auf und ab zu gehen. Auf einmal blieb sie vor einem Spiegel stehen und strich sich das Haar zurecht. Ich machte während ihres Hin- und Herwanderns eine sehr klägliche Figur. Ich wußte wirklich nicht, wie ich dreinschauen sollte. Rosette stellte sich schließlich vor mich hin. Offenbar dachte sie über mich nach. Sie schien zu vermuten, daß mich einzig und allein übertriebene Schüchternheit zurückhalte und daß ich mehr Anfänger sei, als sie geglaubt hatte. Außer sich und in höchster Liebesraserei beschloß sie den letzten Versuch zu machen und alles einzusetzen, selbst auf die Gefahr hin, alles zu verlieren.

Sie trat ganz dicht an mich heran, saß blitzschnell auf meinen Knien, wand ihre Arme um meinen Hals, schloß ihre Hände hinter meinem Kopf und preßte ihre Lippen mit verzweifelnder Gewalt auf meinen Mund. Ich fühlte ihren halbentblößten stürmischen Busen auf meiner Brust und ihre verschlungenen Finger fest auf meinem Haar. Ein [189] Schauer flutete durch meinen Körper. Auch mein Busen hob und senkte sich wild.

Rosette ließ nicht ab von meinem Munde. Ihre Lippen tranken an den meinen, und ihre Zähne berührten meine Zähne. Unser Atem vermählte sich. Einmal wich ich zurück, und ein paarmal wandte ich mein Gesicht ab, um diesem endlosen Kuß zu entgehen, aber ich wurde so unwiderstehlich wiederangezogen, daß ich Rosette beinahe mit der gleichen Glut küßte wie sie mich.

Ich weiß nicht, wie dies geendet wäre, wenn sich nicht plötzlich vor der Tür lautes Gebell und ein kratzendes Geräusch hörbar gemacht hätten. Die Tür gab nach. Ein bildschöner Schäferhund stand schweifwedelnd und keuchend vor uns.

Im Nu war Rosette an der Tür. Das schöne Tier sprang glücklich und voller Freude an ihr in die Höhe und versuchte, ihr die Hände zu lecken. Sie war so verwirrt, daß es ihr Mühe kostete, ihr Tuch über Brust und Schultern zu nehmen. Der Schäferhund war der Liebling ihres Bruders. Er verließ ihn nie. Wenn man seiner ansichtig wurde, durfte man sicher sein, daß sein Herr nicht fern war. Das hatte die arme Rosette so heftig erschreckt.

In der Tat betrat Alkibiades eine Minute später, gestiefelt und gespornt, einen Reitstock in der Hand, die Hütte.

»Ach, hier seid ihr!« rief er. »Ich suchte euch seit einer Stunde und hätte euch sicher nicht entdeckt, wenn euch nicht der brave Kerl da in eurem Versteck aufgestöbert hätte!« Dabei warf er seiner Schwester einen halb ernsten, halb lachenden Blick zu, unter dem sie bis unter die Haarwurzeln errötete. »Sicherlich hattet ihr euch etwas sehr Wichtiges zu erzählen, da ihr euch hier in die Einsamkeit verkrochen habt. Was war es für ein hochgelehrtes Thema? Von der Seelenwanderung oder so?«

»Du lieber Gott!« stammelte Rosette. »In das Hochgebirge der Lebensweisheit sind wir bei weitem nicht gekommen. Wir [190] haben uns damit begnügt, Süßigkeiten zu naschen und uns über die neuste Mode zu unterhalten!«

»Ich glaube dir kein Wort. Ihr saht alle beide zu versunken aus in irgendeine empfindsame Sache. Damit ihr ein bißchen aus eurer Schwärmerei herauskommt, schlage ich vor: wir wollen alle drei ausreiten! Ich will meine neue Stute erproben. Theodor, du setzt dich auch einmal eine Weile darauf. Ja? Ich möchte dein Urteil hören, ob der Gaul etwas wert ist.«

Nunmehr verließen wir die Hütte: ich an Alkibiadessens Arm, Rosette an dem meinen. Unsre Gesichter zeigten den verschiedensten Ausdruck. Alkibiades sah nachdenklich aus, ich stillvergnügt, Rosette wütend.

Für mich war mein Freund als Retter in der Not erschiene, für Rosette als Störenfried. Durch sein Erscheinen verlor sie – das glaubte sie wenigstens – alle Früchte ihrer schlauen Taktik. Nun mußte sie gelegentlich wieder von vorn anfangen. Der Fuchs soll mich holen, wenn ich wüßte, welchen Ausgang dies Abenteuer eine Viertelstunde später genommen hätte! Ich kann mir keine rechte Lösung denken. Vielleicht wäre ich besser daran, wenn Alkibiades nicht im kritischen Augenblick erschienen wäre wie ein deus ex machina. Auf die eine oder andere Art hätte sich doch vielleicht ein gutes Ende gefunden. Während der unterbrochenen Szene war ich ein paarmal in Versuchung, mich Rosetten zu entdecken. Nur die Furcht, für eine Abenteuerin zu gelten und mein Geheimnis verraten zu sehen, hielt die enthüllenden Worte auf meinen Lippen zurück.

So durften die Dinge nicht weitergehen, und einzig und allein meine schleunige Abreise vermochte dem ziellosen Spiel ein Ende zusetzen. Beim Mittagsmahl verkündete ich also feierlich, daß ich am nächsten Tage abreisen müsse. Rosette, die meine Tischnachbarin war, wurde bei dieser Nachricht beinahe ohnmächtig. Sie ließ ihr Glas fallen. Plötzliche Blässe jagte [191] über ihr schönes Antlitz. Sie warf mir einen so wehen vorwurfsvollen Blick zu, daß ich ebenso verwirrt ward wie sie.

Die Tante hob vor Überraschung ihre faltigen Hände und wandte sich mit ihrer zitternden Altfrauenstimme, die noch matter als gewöhnlich klang, mir zu:

»Mein lieber Herr Theodor! So wollen Sie uns verlassen? Das ist nicht recht von Ihnen! Gestern haben Sie sicherlich noch mit keinem Atemzuge an die Abreise gedacht. Heute ist keine Post gekommen. Sie haben also keine Briefe erhalten und somit keinen Grund, uns so schnell zu verlassen. Sie haben gesagt, daß Sie uns noch vierzehn Tage schenken wollten, und jetzt ziehen sie Ihr Geschenk unvermittelt zurück. Dazu haben Sie wahrhaftig nicht das Recht. Was man gegeben, nimmt man nicht wieder. Schauen sie Rosette an! Sie grollt Ihnen. Ich warne sie. Aber auch ich würde zum mindesten ebenso ungehalten sein wie Rosette. Ich werde Ihnen eine furchtbar böse Miene machen. Und achtundsechzig Jahre sehen im Zorn ein bißchen graulicher aus denn dreiundzwanzig. Setzen Sie sich nicht mutwillig dem Zorn von Tante und Nichte aus, und dies aus keinem andern Anlaß als aus schlechter Laune, die Sie zufällig beim Nachtisch heimsucht!«

Alkibiades schwor mit einem Faustschlag auf den Tisch, daß er die Ausgänge des Schlosses verbarrikadieren und eher meinem Gaule die Sehnen durchschneiden als mich abreiten lassen wolle.

Rosette sah mich so todtraurig und flehentlich an, daß es der ganzen Bestialität eines seit acht Tagen hungernden Tigers bedurft hätte, um ungerührt zu bleiben. Ich widerstand nicht länger und gab im seltsamsten Widerstreit meiner Gefühle das feierliche Versprechen, zu bleiben. Rosette hätte mich am liebsten umarmt und mir mit einem Kuß für meine Nachgiebigkeit gedankt. Alkibiades nahm meine kleine Hand in seine große [192] Pranke und schüttelte sie so derb, daß er mir beinahe die Schulter auskugelte, meine Fingerringe breitdrückte und mir drei Finger quetschte. Die alte Dame nahm in ihrer Freude eine doppelte Prise Schnupftabak.

Gleichwohl fand Rosette ihren vorherigen Frohsinn nicht wieder. Dass ich abreisen könnte, dies sogar wünschte, das war ihr bis jetzt nicht in den Sinn gekommen. Der Gedanke machte sie versonnen. Die blühenden Farben, die meine Nachricht von ihren Wangen verscheucht hatte, kehrten nicht wieder. Sie blieb blaß, aus Sorge im Herzen. Mein Betragen gegen sie verwunderte sie immer mehr. Nach ihrem unverkennbaren Entgegenkommen war ihr mein kühles Benehmen recht rätselhaft. Auf jeden Fall wollte sie mich vor der Abreise in feste Fesseln schlagen. Dann, so dachte sie, könne es weiter kein Kunststück sein, mich zu ihrer Herzenslust im Schloß zurückzuhalten.

Gewiß. Wäre ich kein Weib, so hätte ihre Rechnung gestimmt. Denn was man auch sagen mag vom Überdruß des Genusses und vom Ekel, der dem Besitz folgt: jedweder Mann, dem das Herz auf dem rechten Flecke sitzt und der nicht gerade ein erbärmlicher Kerl oder rettungslos verlebt ist, fühlt seine Liebe mit seinem Glücke wachsen. Und oft gibt es kein besseres Mittel, sich einen entweichenden Geliebten zu sichern, als die völlige Hingabe.

Rosette nahm sich also vor, mich vor meinem Weggang zur Entscheidung zu zwingen. Sie wußte, wie schwer eine Liebschaft nach einer Zwischenzeit auf die alte Höhe zu bringen ist. Obendrein war es wenig wahrscheinlich, daß wir uns unter so günstigen Umständen je wieder begegneten. Deshalb versäumte sie keine Gelegenheit, mich in eine Lage zu versetzen, in der ich mich deutlich erklären und die Tatenlosigkeit aufgeben sollte, hinter der ich mich verschanzte. Ich dagegen, ich [193] war fest entschlossen, einer Wiederholung des Idylls im Gartenpavillon aus dem Wege zu gehen. Um mich aber nicht lächerlich zu machen, dürfte ich vor Rosette weder allzuviel Gleichgültigkeit zur Schau tragen noch mich wie ein dummer Junge betragen. Mit einem Worte, ich wußte wahrhaftig nicht, wie ich mich geben sollte, und bemühte mich, Rosette immer nur in Gegenwart Dritter zu begegnen. Hingegen tat sie alles, ein zweites Ganz-Allein mit mir zu erreichen. Es gelang ihr ziemlich oft, denn das Schloß lag entfernt von der Stadt und sah nur selten Gäste aus den benachbarten Edelsitzen.

Mein Widerstand betrübte und verwunderte Rosette. Zuweilen befielen sie Zweifel über die Macht ihrer Schönheit, und dann war sie nahe daran, sich für häßlich zu halten, weil sie sich so ungeliebt sah. Sie verdoppelte ihre Bemühungen und Koketterien. Ihre Trauer erlaubte ihr nicht, alle Hilfsmittel der weiblichen Tracht zu entfalten; aber sie verstand ihre schwarzen Kleider so auszuschmücken und mannigfaltig zu machen, daß sie täglich durch Neues von Neuem entzückte, was nicht so einfach ist. Auch sonst ließ sie nichts unversucht. Heute war sie heiter, morgen schwermütig, übermorgen zärtlich, bald leidenschaftlich, bald süßschmeichelnd, einmal kokett, ein andermal schmollend. Der Reihe nach trug sie alle die entzückenden Masken, auf die sich die Frauen so gut Verstehen, daß man sich zuweilen verwundert fragt: Ist dies Verstellung oder ist es ihr wahres Gesicht? So führte sie mir ein Dutzend von einander verschiedenen Rosetten vor, um zu erfahren, welche mir wohl am besten gefiele. Ein ganzer Harem marschierte vor mir auf, Ich brauchte nur zu wählen. Natürlich mißglückte das alles.

Angesichts der Erfolglosigkeit dieser Kriegslisten wußte sich Rosette keinen Rat mehr. Sie hätte selbst dem alten Nestor den Kopf verdreht und die Eiskruste um das unnahbare Herz des keuschen Hippolyt gebrochen. Und ich sah doch nichts [194] weniger dehn uralt oder unverführbar aus! Vielmehr jung, leichtherzig, selbstbewußt, keck und siegesgewohnt; das heißt: ausgenommen unter vier Augen!

Rosette mußte zu der Ansicht kommen, daß ich verhext oder zum mindesten mit einem Talisman gegen die Liebe ausgerüstet sei. Und meine Männlichkeit mochte einen jämmerlichen Eindruck auf sie machen. Sie ist ja auch nicht weit her. Gleichviel geriet sie offenbar niemals auf den richtigen Gedanken. Sie legte meine sonderbare Zurückhaltung lediglich als Mangel an Liebe aus.

Die Tage entschwanden, ohne daß Rosette vorwärts kam. Sie litt sichtlich darunter. Um ihre vordem lebenslustigen Lippen lag jetzt ein Ausdruck von Qual und Kümmernis. Ihr ganzes Gesicht ward ernst und herb. An den Lidern traten ein paar Äderchen mokant hervor. Die ehedem pfirsichroten Wangen verloren ihre Farbe. Zuweilen sah ich sie von meinem Fenster aus, wie sie durch die Blumenbeete des Gartens wandelte. Kaum hob sie die Füße. Die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, so schlich sie dahin, gebeugt wie ein Weidenzweig, der ins Wasser taucht. Es lag etwas Drückendes über ihrer Erscheinung, So stelle ich mir Psyche vor, als sie Amor verloren.

Es gab Tage, an denen Rosette keine Anstrengungen machte, meine Kälte und mein Zaudern zu besiegen. Dann lag in ihrer Liebe so unsagbar viel Schlichtheit und Herzlichkeit, daß sie mich – als wirklichen Mann – entzückt hätte. Dann war sie ganz Schweigen und Vertrauen. Ihre Liebkosungen gewannen etwas Engelhaftes. Mit unerschöpflicher Güte verschwendete sie unbedenklich alle Schätze ihrer schönen Seele. Nichts war darin von jenem kleinlichen Getue, wie es beinahe allen Frauen eigen ist, selbst den ungewöhnlichsten. Nichts von Komödie. Voll Seelengröße ließ sie mich die Tiefe ihrer Leidenschaft erkennen. Ihre Eigenliebe empörte sich nicht einen Augenblick [195] darüber, daß ich so viel Entgegenkommen so wenig erwiderte. Sobald die echte Liebe in ein Herz zieht, weicht jeder Hochmut. Wenn je ein Mensch wahr geliebt worden ist, so ich von Rosette! Sie litt, aber ohne Klage und Bitterkeit. Sie schrieb den geringen Erfolg ihrer Bemühungen nur sich selber zu. Ihre Blässe aber ward von Tag zu Tag merklicher. Die Lilien hatten mit den Rosen auf dem Feld ihrer Wangen eine große Schlacht geliefert und sie gründlich in die Flucht gejagt! Ich war außer mir, konnte aber beim besten Willen nicht helfen. Je sanfter und zärtlicher ich mit Rosette sprach, je liebevoller ich sie behandelte, umso tiefer stieß ich ihr den widerhakigen Pfeil einer ewig unfruchtbaren Liebe ins Herz. Wenn ich sie heute tröstete, vermehrte ich nur ihre morgige Verzweiflung. Meine Heilmittel linderten zwar scheinbar ihren Schmerz, vergifteten aber in Wirklichkeit die Wunde. Meine Versuche, sie ein wenig glücklich zu machen, bereiteten mir fast Gewissensbisse. Um der innigen Freundschaft willen, die mich für Rosette beseelte, wünschte ich, sie möchte mich hassen. Mehr war nicht in meiner Macht. Es hätte mir herzlich leid getan, aber das Beste wäre es gewesen.

Ein paarmal unterfing ich mich, ihr harte Worte zu sagen. Aber schnell kehrte ich zu Liebenswürdigkeiten zurück. Denn vor ihrem Lächeln hatte ich nicht so viel Furcht wie vor ihren Tränen. Als galanter Mann darf man Frauentränen nicht von einem Taschentuche trocknen lassen, und wäre es das feinste Batistgewebe. Man muß sie wegküssen. Damit vernichtete ich aber immer wieder, was ich mit Mühe erreicht hatte. Tränen sind schnell vergessen, nicht so ein Kuß. Ich rief folglich immer neue und doppelte Wirren hervor.

Rosette merkte, daß ich ihr entrinnen wollte. Hartnäckig klammerte sie sich an den letzten Rest ihrer Hoffnung. Meine Lage ward von Tag zu Tag schwieriger. Die sonderbaren [196] Wallungen, in die mich die Liebkosungen der schönen Verliebten damals im Pavillon gebracht, kehrten ein paarmal wieder, wenn auch minder heftig. Oft wenn ich neben Rosette saß, ihre Hand in der meinen hielt und ihre süße lockende Stimme hörte, bildete ich mir ein, ich sei wirklich ein Mann. Und daß ich ihre Liebe nicht erwiderte, sei nur Grausamkeit von mir.

Eines Abends fand ich mich durch Zufall allein mit der alten Dame im grünen Zimmer. Sie arbeitete an einer Stickerei. Trotz ihrer achtundsechzig Jahre sah man sie nie müßig. Ein wenig ermüdet, legte sie die Arbeit zur Seite und lehnte sich in ihren Großvaterstuhl zurück. Forschend ruhten ihre Blicke auf mir. Ihre grauen Augen leuchteten in seltsamem Feuer hinter ihren Brillengläsern. Ein paarmal strich sie mit ihrer faltigen Hand über ihre gefurchte Stirn. Offenbar hing sie bestimmten Gedanken nach. Die Erinnerung an längst entschwundene Zeiten verlieh ihrem Antlitz den Audsruck schwermütiger Trauer. Ich verhielt mich still, um sie nicht in ihrer Träumerei zu stören. Langes Schweigen waltete zwischen uns. Endlich brach sie es.

»Sie haben Heinrichs, meines geliebten Heinrichs Augen. Denselben feuchtschimmernden Blick. Dieselbe Kopfhaltung. Dieselben feinen und doch so stolzen Züge. Ich sollte meinen, Heinrich sei bei mir ... Herr Theodor, Sie haben keine Ahnung, wie sehr Sie ihm ähneln. Wenn ich Sie sehe, vermag ich nicht mehr an Heinrichs Tod zu glauben. Dann bilde ich mir ein, er habe nur eine lange, lange Reise gemacht, von der er nun endlich heimgekehrt. Sie haben mir viel Freude und viel Schmerz bereitet. Freude, weil Sie mich an meinen guten Heinrich gemahnen; Schmerz, weil Sie mir die Größe meines Verlustes von neuem und vermehrt fühlbar machen. Zuweilen halte ich Sie für eine Erscheinung aus anderer Welt. Und mit dem Gedanken, daß Sie uns verlassen, kann ich mich durchaus nicht [197] befreunden. Es ist mir, als sollte ich meinen Heinrich zum andern Male verlieren.«

Ich entgegnete, daß ich gern länger bliebe, wenn mir das nur möglich wäre. Mein Aufenthalt habe längst die Grenze überschritten, die ich ihm von Anfang an gesteckt. Zudem hätte ich die Absicht, wiederzukommen. Das Schloß ließe zu angenehme Erinnerungen in mir zurück, als daß ich es so bald vergessen könne.«

Darauf sagte sie zu mir:

»So sehr mich Ihre Abreise auch betrübt, jemandem andern wird sie noch mehr zu Herzen gehen. Sie wissen, von wem ich spreche. Was soll aus Rosette werden, wenn Sie fort sind? Unser altes Schloß ist zu öde für sie. Alkibiades ist den ganzen Tag auf der Jagd. Und die Gesellschaft einer müden alten Frau bringt einem jungen Gemüt wenig Sonne.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wenn jemand Bedauern empfinden muß, gnädige Frau,« erwiderte ich, »so sind Sie dies nicht, auch nicht Rosette, sondern ich bin es. Sie verlieren nur wenig, ich viel. Mit Leichtigkeit werden sie angenehmere Gesellschaft finden als mich. Hingegen kann mir niemand Ihre oder Rosettens Freundschaft ersetzen.«

»Bester, Ihre Bescheidenheit ist rührend. Aber was ich weiß, das weiß ich, und was ich sage, das stimmt. Wir werden Rosette wahrscheinlich so bald nicht wieder heiter sehen. Denn Sie zaubern Sonnenschein und Regen auf ihre Wangen. Rosettens Trauerzeit naht dem Ende, und es wäre betrüblich, wenn sie mit den schwarzen Kleidern auch ihren Frohsinn wegschlösse. Sie gäbe damit ein schlechtes Beispiel und verstieße gegen die herkömmliche Sitte. Sie können und müssen dies ohne große Mühe verhindern!«

Diese letzten Worte betonte die alte Dame ganz besonders. Ich erwiderte:

[198] »Sicherlich werde ich mein Möglichstes tun,. Ihrer lieben Nichte ihre schöne Fröhlichkeit zu erhalten, da Sie mir einen solchen Einfluß auf sie zutrauen. Zunächst wüßte ich jedoch wahrhaftig nicht, wie ich zu Werke gehen soll.«

»Wissen Sie das wirklich nicht? Wozu haben Sie denn Ihre Augen? Kurzsichtig sind Sie doch nicht! Rosette ist frei. Sie besitzt ein Jahreseinkommen von dreißigtausend Talern ohne jeden Abzug. Und Frauen, die sich bei weitem nicht mit ihr messen können, findet man noch wunderhübsch. Sie sind jung, wohlgestaltet und – wie ich vermute – Junggeselle. Die Sache scheint mir ungeheuer einfach, vorausgesetzt; daß Sie gegen Rosette keine unüberwindliche Abneigung empfinden, was ich kaum glauben möchte ...«

»Was nie und nimmer möglich wäre!« unterbrach ich die Sprecherin. »Rosettens Seele ist so schön wie ihr Körper! Sie gehört zu den Frauen, die häßlich sein könnten, ohne daß man sich dessen bewußt würde oder daß man sie anders wünschte.«

»Ja, sie könnte ungestraft häßlich sein, Gott sei Dank ist sie aber charmant. Und was ich nun sagen wollte; Ich stehe Ihnen dafür, daß Sie ihr nicht gleichgültig sind. Mehr noch! Ich will offen sein. Sie tragen da am Finger einen Ring, der ihr vorzüglich passen muß, denn Ihre Hand ist beinahe so klein wie Rosettens, Sie würde diesen Ring mit Freuden annehmen. Des bin ich ziemlich sicher!«

Die alte Dame machte eine Pause, Sie wollte sehen, welchen Eindruck ihre Worte auf mich ausübten. Ich weiß nicht, ob ihr der Ausdruck meines Gesichts recht war. Ich befand mich in der schrecklichsten Verwirrung und suchte vergeblich nach einer Antwort. Seit dem Beginn der Aussprache wußte ich, wo hinaus sie wollte. Ich war auf das gefaßt, was ich zu hören bekam. Und nun überraschte es mich doch, Mir war beklommen zumute. Ich mußte Nein sagen! Aber welchen triftigen Grund [199] sollte ich angeben? Ich hatte keinen andern, als daß ich ein Weib war. Das ist allerdings ein höchst gewichtiger Grund, aber gerade der einzige, den ich nicht sagen wollte.

Halsstarrige und lächerliche Eltern konnte ich nicht gut ins Feld führen, denn jedwedes Elternpaar hätte in eine solche Verbindung mit Begeisterung eingewilligt. Wäre Rosette nicht schön und gut und vornehm gewesen, wie sie dies alles ja war, so hätten die dreißigtausend Taler Rente alle Schwierigkeiten beseitigt. Und sagen, ich liebte sie nicht, das wäre weder wahr noch schicklich gewesen. Ich hatte sie wirklich sehr lieb, lieber als sich sonst Frauen untereinander haben. Mich anderweitig gebunden hinzustellen, dazu dünkte ich mich zu jung. Ich fand es schließlich am besten, mich für den jüngsten Sohn meiner Familie auszugeben, deren Pläne meinen Eintritt in einen frommen Orden erheischten. Dies verbiete mir jeden Gedanken an eine Heirat, was mich, seitdem ich Rosette kennen gelernt, mit größtem Kummer erfülle.

Meine Antwort taugte keinen Pfifferling. Ich fühlte dies selber am besten. Die alte Dame ließ sich auch gar nichts vortäuschen und sah sie nicht für endgültig an. Sie meinte, ich hätte das nur gesagt, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen und meine Eltern um Rat zu fragen. Die Verbindung mit Rosette war in ihren Augen so vorteilhaft und unerhofft für mich, daß eine Ablehnung ihr unmöglich erschien. Nicht einmal, wenn ich Rosette nur wenig oder gar nicht liebte. Solch ein Glück verscherzt man sich nicht.

Ich weiß nicht, ob mir die Tante diese Eröffnung auf Antrieb der Nichte hin machte, neige aber zu der Annahme, daß Rosette nichts davon ahnte. Sie liebte mich auf zu ursprüngliche und heftige Weise, um an etwas anderes als meinen augenblicklichen Besitz zu denken. Die Ehe wäre sicherlich das letzte Mittel gewesen, das sie aufgeboten hätte. Die alte Dame hatte nicht [200] umhin gekonnt, unsre Vertrautheit zu bemerken, die sie offenbar für viel größer hielt, als sie wirklich war. Und so hatte sie sich in ihrem Sinn diesen Plan zurechtgelegt, um mich zu halten. Ich sollte ihr ihren geliebten Sohn Heinrich ersetzen, der den Heldentod gefunden und dem sie mich so sprechend ähnlich fand. Sie hatte sich in diese Vorstellung eingewiegt und unser Alleinsein benützt, um sich mit mir auszusprechen. An ihrer Miene sah ich, daß sie sich nicht für besiegt hielt, sondern sich vorgenommen hatte, denselben Gegenstand bald wieder heraufzubeschwören. Das war mir höchst unerwünscht.

Rosette machte nun in der Nacht, die jenem Tage folgte, einen letzten Versuch, der so ernste Folgen nach sich zog, daß ich Dir besonderen Bericht darüber erstatten muß. In diesem schon übermäßig dicken Briefe kann ich Dir unmöglich noch davon erzählen. Du wirst sehen, zu welch seltsamen Abenteuern ich auf die Welt gekommen bin und daß mich der Himmel zur Romanheldin geschaffen hat. Freilich weiß ich nicht so recht, welche Nutzanwendung man aus alledem ziehen könnte. Im Leben geht es nicht zu wie in den Fabeln. Es hat nicht jeder Abschnitt seinen gereimten Schlußspruch. Des Lebens Sinn ist oft nur der, daß man nicht tot ist.

Lebewohl, Liebste! Ich küsse Dich auf Deine schönen Augen. Die Fortsetzung meiner glorreichen Historie folgt demnächst.


Deine Magdalene

13. Der Brief des Chevaliers

[201] XIII
Der Brief des Chevaliers

Theodor oder Rosalinde? Wie soll ich Sie nennen? Wie gern möchte ich Sie bei Ihrem wirklichen weiblichen Namen rufen. Er wäre mir der Inbegriff aller Poesie.

Ich kenne Sie kaum, und doch schreibe ich Ihnen. Es fällt mir sehr schwer, dies zu wagen, aber, wenn ich es nicht täte, würde ich zugrunde gehen. Niemand weiß und niemand kann ermessen, was ich leide. Ich selber vermag es nicht in die rechten Worte zu fassen. Für solche Seelenpein und Herzensnot gibt es keine Worte. Versuchte ich es: es würde unnatürlich, überspannt klingen.

Rosalinde, ich liebe Sie! Ich bete Sie an! Ich habe nie eine andre geliebt, nie eine andre angebetet. Ich liege vor Ihnen im Staub und möchte alles um mich her mit in die Knie zwingen. Sie sind mir mehr als die ganze Welt, mehr als ich selbst, mehr als Gott. Wo Sie nicht weilen, ist alles öd, dunkel und tot. Sie allein beleben meine Welt. Sie sind meine Sonne. Ihr Lächeln ist mir das Licht, Ihre Traurigkeit die Finsternis. Sie sind ein Traumbild, aus Himmelshöhn herabgekommen.

Ich kenne Sie kaum drei Monate, aber ich liebe Sie über diese Zeit hinaus. Schon ehe ich Sie zum ersten Male sah, war ich voller Sehnsucht nach Ihnen. Ich rief Sie. Ich suchte Sie. Ich wollte verzweifeln, weil ich Ihnen auf meinem Lebenspfade [202] nicht begegnete. Ich wußte, daß ich niemals ein ander Weib lieben könnte. Sie waren mir allzuoft erschienen. Ich hätte Sie malen mögen, in den Ihnen eigentümlichen Gesten, mit Ihrer Kopfhaltung, im vollen Schmucke Ihrer Schönheit.

So steht Ihr Bild seit meinen Knabenjahren vor mir. Als ich mannbar ward, begann es mich zu quälen. Verächtlich lächelnd drängte es sich zwischen mich und die Frauen, die sich mir schenkten. Sein Himmelsglanz verdunkelte sie alle. Und so kam es, daß ich Frauen häßlich fand, die in Wirklichkeit entzückend waren und jeden andern Mann glücklich gemacht hätten. Die Vorahnung Ihrer Herrlichkeit machte mich unglücklich. Und noch unglücklicher bin ich jetzt, nachdem ich mein hehres Traumbild in Ihnen erschaut habe. Rosalinde, es liegt in Ihrer Macht, mir das Tor zu meinem Paradiese zu öffnen. Sie wachen an seiner Schwelle. Der goldene Schlüssel ruht in Ihren schönen Händen. Rosalinde, sagen Sie: Wollen Sie?

Ich erwarte nur ein einziges Wort von Ihnen. Es wird mir Leben oder Tod verkünden. Sprechen Sie es aus!

Sind Sie Apoll? Oder Aphrodite, die Schaumgeborene? Sind Sie Hermaphrodit? Ach, seit die alten Götter gestorben, gibt es die nicht mehr. Sind Sie ein Weib?

In dem Augenblick, da ich Sie sah, zerriß ein Schleier vor mir. Ströme von Licht umfluteten mich. Ich sah tief in das Leben. Alle Schatten, alle Rätsel wichen. Alles lag licht und hell vor mir bis in die blauen Weiten, im warmen Sonnenscheine. Ich bin nicht mehr bloß Träumer. Ich liebe, ich lebe!

Solange ich daran zweifelte, Sie je zu finden, hieß ich mein Traumbild Trug. In meinem Groll haderte ich mit meinem Schicksal. Ich verhöhnte mich selber, daß ich nach einer Vision suchte. Ich schalt die Natur armselig und unfruchtbar und den Schöpfer unfähig, das Ideal eines armseligen Menschenherzens zu verkörpern. Prometheus hatte den edlen Wahn, [203] den Göttern gleich einen Mann schaffen zu wollen. Ich hatte in meiner Phantasie ein Weib gestaltet. Ich ergab mich darein, für meine Vermessenheit lebenslang dadurch gestraft zu werden, daß ein unstillbares Verlangen mein Herz zerfleischte wie ein Geier.

Da kamen Sie!

Die gefürchteten Qualen verschonten mich, aber ich habe andre erlitten. Ich sah, daß mein Traumbild leibhaft auf Erden wandelt. Insofern hatte mich meine Vorahnung nicht betrogen. Aber Sie standen vor mir in der rätselhaften schrecklichen Schönheit einer Sphinx. Sie waren von einem Geheimnis, umhüllt, dessen Schleier ich nicht aufzuheben wagte, aus Furcht, tot umzusinken.

Wenn Sie wüßten, mit welch atemloser angstvoller Aufmerksamkeit ich Ihnen folgte, Ihren geringsten Bewegungen, während ich versonnen und zerstreut schien! Nichts entging mir. Gierig spähte ich nach jedem bißchen Nackten, das am Hals oder an den Armgelenken von Ihnen sichtbar ward. Ich versuchte Ihr Geschlecht zu ergründen. Ihre Hände wurden mir Erforschungsgebiete. Ich kannte bald jedes Äderchen, jedes Grübchen, jede Linie an Ihnen, soweit ich Sie sehen durfte. Ich zergliederte Ihren Gang, die Art, wie Ihre Füße den Boden berühren, wie Ihre Hand das Haar zurückstreicht. Damit wollte ich Ihrem Körper sein Geheimnis entlocken. Besonders studierte ich Sie, Wenn Sie lässig und müd waren, in der Meinung, in diesem Vergessen und Sichgehenlassen die weiblichen Linien zu finden.

Stundenlang gab ich mich solchen Beobachtungen hin, zurückgezogen in einen Winkel des Salons, ein Buch in der Hand, in dem zu lesen mir nicht einfiel. Ich habe mich sogar einmal in Ihrem durch die herabgelassenen Jalousien halbverdunkelten Zimmer hinter einen Vorhang versteckt aufgehalten. Aber gerade [204] da benahmen Sie sich ganz als Mann, als Weltmann. Ebenso enttäuschten Sie meine Ahnung, Sie seien ein Weib, wenn Sie mich zum Fechten oder zum Tennisspiel holten.

Ich wollte vor Sie hintreten und Ihnen sagen: Ich bete Sie an! Da ward ich Zeuge, wie Sie sich gerade zärtlich-galant zu einer Dame neigten und ihr Schmeicheleien zuflüsterten. Ein andermal bemerkte ich, wie eine Dame Ihren Arm nahm und Ihnen abseits etwas anvertraute. Ich geriet in Zorn oder in Eifersucht, wenn ich Andre so mit Ihnen plaudern sah. Es ist doch ein Mann! sagte ich mir in meiner Qual. Aber noch eifersüchtiger wurde ich, wenn ich Sie ungezwungen und freimütig mit Herren reden sah. Dann dachte ich Sie mir als Weib, wenn es auch jene nicht ahnen mochten. Kurzum, ich war der Spielball einander feindseliger Leidenschaften. Ich verlor alles Gleichgewicht in mir.

Ich machte mir Vorwürfe, daß ich nicht die Kraft hatte, diesen Zwiespalt, dieses Liebesgift aus meinem Herzen zu reißen. Ich verwünschte Sie als einen Dämon, der in mich gefahren. Ich war nahe daran, zu glauben, Sie seien eine Teufelin.

Jetzt weiß ich bestimmt, daß Sie die schönste aller Frauen sind. Ich habe Sie in Frauenkleidern gesehen, ich kenne Ihre vollen Arme, Ihre runden Schultern und den Ansatz Ihres Busens. Sie sind ein Weib, und meine Liebe erscheint mir nicht mehr ungeheuerlich. Und darum gestehe ich Ihnen meine Liebe ein. Meine heimliche Geliebte, sind Sie überrascht? Hassen Sie mich? Lieben Sie mich! Können Sie mich wieder lieben? Ich weiß es nicht. Ich zittere. Ach, ich bin unglücklicher als je zuvor!

Manchmal dünkt es mich, daß Sie mich nicht hassen. Als wir beieinander auf der Bühne standen, legten Sie in gewisse Stellen Ihrer Rolle einen eigentümlichen Doppelsinn, der mich zu einer Erklärung reizte. Aus Ihren Augen und Ihrem Lächeln [205] vermeinte ich ein Versprechen zu lesen und im Druck Ihrer Hand eine Antwort auf meine stummen Fragen zu verspüren. Habe ich mich darin getäuscht? Ich wage mir Ihre Antwort nicht auszudenken.

Ich bin kühn geworden – aus Liebe. Und so schreibe ich Ihnen. Vor Ihnen in Ihrer Männerkleidung könnte ich nicht reden. Rosalinde, ich flehe Sie an: Wenn Sie mich noch nicht lieben, so versuchen Sie es! Lieben Sie mich, der ich Sie trotz allem hebe, trotz Ihrer Verkleidung, die Sie zweifellos nur aus Mitleid mit uns Männern tragen! Stoßen Sie mich nicht für den Rest meines Daseins in die fürchterlichste Not, in unheilbaren Überdruß! Bedenken Sie, daß ich Sie liebe, solange ich ein denkender Mensch bin, daß Sie mir vorbestimmt waren! Sie sind Sinn, Inhalt und Ziel meines Daseins. Ohne Sie führe ich nur ein Scheinleben. Wenn Sie die Flamme, die Sie in meinem Herzen entzündet, auslöschen, dann bleibt von mir nichts zurück als ein elendes Häufchen toter Asche. Sie haben tausend Mittel in Ihren Händen, mein Liebesweh zu heilen. Machen Sie mich gesund! Ich bin schwer krank. Werfen Sie die Ganymedhülle ab und reichen Sie Ihre weiße Hand


Ihrem Orlando.

14. Magdalene Maupin an ihre Freundin Graziosa

[206] XIV
Magdalene Maupin
an ihre Freundin Graziosa

Ich stand an meinem Fenster und sah zu, wie am Himmel Stern auf Stern aufblitzte, und sog den Jasminduft ein, der auf leisen Windesfittichen zu mir her flog. Meine Lampe, die letzte, die im ganzen Schlosse noch gebrannt hatte, war im Luftzuge verloschen.

Meine Gedanken verloren sich in dämmernde Träume. Halbschlaf umspann mich, aber gleichwohl blieb ich am Fenster, vom Zauber der Nacht gebannt oder aus Versonnenheit und Bewegungsunlust.

Von ihrem Zimmer aus hatte Rosette meine Lampe verlöschen sehen, und da ich im Dunkel war, konnte sie mich nicht mehr erkennen. Sie glaubte, ich sei zu Bett gegangen. Darauf hatte sie gelauert, um eine letzte Verzweiflungstat zu wagen.

Sie öffnete meine Tür so leis, daß ich nichts hörte. Als sie mir bereits auf zwei Schritte nahe war, bemerkte ich sie erst. Gewiß war sie höchst verwundert, daß sie mich noch wach und angekleidet fand; aber sie erholte sich rasch von ihrem Schreck.

Indem sie dicht zu mir trat und mich am Arm berührte, rief sie:

»Theodor! Theodor!«

[207] »Rosette!« sagte ich. »Sie hier! Zu dieser Stunde? Allein, ohne Licht und in diesem Anzug?«

Sie hatte nämlich nichts an als ein ganz feines dünnes Batistnachthemd. Ihre marmorkalten Arme waren nackt. Hinter Spitzen schimmerten ihre Brüste.

»Soll das ein Vorwurf ein, Theodor, oder nur ein Ausruf?«

Ich erwiderte nichts.

»Jawohl,« fuhr sie fort. »Ich bin es! Rosette, die schöne Schloßherrin! In Ihrem Schlafzimmer und nicht in meinem, wo ich sein sollte! Nachts in der elften oder zwölften Stunde! Ohne Anstandsdame, ohne Kammerjungfer, ganz allein! Und beinahe nackt, nur in einem dünnen Nachthemd! Das ist höchst merkwürdig und erstaunlich. Nicht wahr? Ich selber bin darüber beinahe ebenso verwundert wie Sie. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen dies erklären soll!«

Während sie dies sagte, legte sie ihren rechten Arm um mich und zog mich zum Bett, auf das sie sich setzte.

Ich versuchte behutsam mich frei zu machen.

»Rosette,« sagte ich. »Ich will einmal sehen, ob ich die Lampe nicht wieder anzünden kann. Nichts ist trübseliger als ein dunkles Zimmer. Zudem wäre es eine Sünde, wenn ich so gar nichts sehen wollte, wo Sie in Ihrer holden Schönheit da sind. Erlauben sie mir, daß ich ein Streichholz suche und damit eine kleine Sonne aufflammen lasse, die mir erhellen soll, was mir das neidische Duster der Nacht verbirgt!«

»Ach, bitte, nicht! Ich möchte um alles in der Welt nicht, daß Sie meine glühenden Wangen sehen. Ich fühle, wie sie brennen. Ich sterbe vor Scham.«

Sie preßte ihr Gesicht an meine Brust. So blieb sie eine Weile liegen, vor Erregung halb leblos.

Währenddem glitten meine Finger, wie von selbst durch ihr aufgelöstes langes Lockenhaar. Ich zerbrach mir den Kopf, [208] auf welche leidliche Art und Weise ich mich aus dieser verzwickten Geschichte ziehen könne, aber ich fand keinen Ausweg. Ich war in meine letzte Verschanzung gedrängt. Offenbar war Rosette felsenfest entschlossen, mein Gemach auf keinen Fall so wieder zu verlassen, wie sie es betreten hatte. Der gewagte Mangel an Kleidungsstücken bei ihr bewies mir dies zur Genüge. Und ich, ich hatte nur einen leichten offenen Hausrock an, der das Inkognito meiner Weiblichkeit kaum wahren konnte. Somit bereitete mir der weitere Verlauf meines Abenteuers beträchtliche Sorgen.

»Hören Sie mich an, Theodor!« bat Rosette, während sie sich erhob und sich das Haar an beiden Schläfen zurechtstrich. Soviel vermochte ich beim schwachen Scheine der Sterne und der eben aufgegangenen schmalen Mondsichel gerade zu unterscheiden. Das Fenster stand noch immer offen. »Mein Benehmen befremdet Sie. Alle Welt würde mich darum tadeln. Aber Sie müssen bald fort – und ich liebe Sie! Ich kann Sie nicht gehen lassen, ohne Ihnen alles gesagt zu haben. Vielleicht kehren Sie nie zurück. Vielleicht ist es das erste und letzte Mal, daß ich bei Ihnen bin. Wer weiß, wohin Sie gehen. Aber wohin es auch sei, überallhin nehmen Sie mich und mein Leben mit. Wenn Sie hätten bei uns bleiben wollen, so hätte ich zu diesem äußersten Mittel nicht gegriffen. Es wäre mir Glücks genug gewesen, Sie zu sehen und zu hören und still neben Ihnen hinzuleben. Mehr hätte ich nicht verlangt. Ich hätte meine Liebe fest in mein Herz verschlossen, und Sie hätten vermeint, in mir eine aufrichtige gute Freundin zu besitzen und weiter nichts. Aber das ist unmöglich. Sie sagen, Sie müßten abreisen!«

Ich machte eine Bewegung.

»Ach, Theodor, es ist Ihnen lästig, daß ich mich an Ihre Fersen hefte wie ein verliebter Schatten, der auch nichts andres kann [209] als dem folgen, mit dessen Körper er eins sein wird. Es ist Ihnen sicherlich unangenehm, immerdar flehende Augen hinter sich zu wissen und Hände, die sich nach dem Saum Ihres Rockes ausstrecken. Ich weiß das und kann es doch nicht lassen. Übrigens dürfen Sie sich eigentlich nicht darüber beklagen; denn Sie sind selber schuld daran. Ehe ich Sie kannte, lebte ich friedsam, ruhig, beinahe glücklich. Da kamen Sie: jung, schön, heiter wie ein Gott. Sie bemühten sich eifrig um mich und bewiesen mir allerlei zarte Aufmerksamkeiten. Sie waren der ritterlichste, lustigste und galanteste Kavalier. Von Ihren Lippen glitten fortwährend Rosen und Rubine. Was Sie sagten, war immer ein Gedicht. Die einfachsten Worte waren in Ihrem Munde das feinste Kompliment. Ich glaube, sogar eine Frau, die Sie in den Tod haßt, ehe sie Sie persönlich kennt, wird Sie alsbald lieben, wenn sie Ihnen begegnet. Ach, ich, ich habe Sie geliebt vom ersten Augenblick an!«

Nach einer kleinen Weile fuhr sie klagend fort:

»Nachdem Sie erst dermaßen liebenswürdig gewesen, warum waren Sie dann so überrascht, so sehr verwundert über meine große Liebe zu Ihnen? Ist sie nicht die natürliche Folge? Ich bin kein hysterisches Frauenzimmer und kein dummer Backfisch, der jedem beliebigen Schwerenöter nachläuft. Ich kenne die Gesellschaft und weiß, was das Leben bedeutet. Jede andre, und wäre es die leibhafte Tugend, täte desgleichen ... Was dachten, was beabsichtigten Sie? Ich nehme an, Sie wollten mir gefallen. Etwas andres kann ich mir nicht vorstellen. Woher kommt es nun aber, daß ich Sie – sagen wir – ärgerlich über Ihren vorzüglichen Erfolg sehe? Habe ich ahnungslos etwas getan, das Ihnen mißfällt? Vergeben Sie mir! Bin ich nicht mehr schön? Haben Sie einen abscheulichen Fehler an mir entdeckt? Gewiß, Sie dürfen viel Schönheit fordern. Aber wenn Sie nicht ganz unglaublich gelogen haben, war ich doch [210] erst schön. Ich bin jung wie Sie und ich liebe Sie. Warum stoßen Sie mich von sich? Sie haben mir so eifrig den Hof gemacht, meinen Arm so selbstverständlich genommen, mir die Hand so zärtlich gedrückt, wenn ich sie Ihnen überließ, und mich mit so sehnsüchtigen Blicken angesehen. Wozu das alles, wenn Sie mich nicht liebten? Sollten Sie etwa so grausam sein, mein Herz in Liebe entflammt zu haben, nur um dann darüber spotten zu können? O, das wäre abscheulich. Das wäre Frevel, das wäre Schändung! Nur ein verdorbener Mensch hat daran Genuß. Von Ihnen vermag ich das nicht zu glauben, so unerklärlich mir auch Ihr Betragen ist. Sagen Sie mir den Grund Ihrer urplötzlichen Wandlung! Ich finde ihn nicht. Was für ein Geheimnis waltet hinter Ihrer großen Kälte? Ich kann mir nicht denken, daß Sie Widerwillen gegen mich empfinden. Ihr Benehmen steht damit nicht im Einklang. Sie haben mir zu stürmisch den Hof gemacht. Gestehen Sie mir! Was haben Sie gegen mich, Theodor? Wer hat Sie so gewandelt? Was habe ich Ihnen getan? Ach, wenn die Leidenschaft, die Sie für mich zu hegen schienen, dahin wäre: meine Liebe bleibt! Ich bringe es nicht zuwege, sie aus meinem Herzen zu reißen. Theodor, seien Sie barmherzig! Ich bin allzu unglücklich! Tun Sie wenigstens, als seien Sie mir ein bißchen gut, und sagen Sie mir ein paar liebe Worte! Das kann Ihnen so schwer nicht fallen, wenn Sie nicht mit einem Male eine unüberwindliche Abneigung gegen mich haben ...«

Bei dieser pathetischen Stelle erstickte ihre Stimme in Schluchzen. Sie legte ihre beiden Hände auf meine eine Schulter und preßte ganz verzweifelt ihre Stirn darauf. Was sie mir gesagt hatte, war durchaus richtig. Was sollte ich aber darauf erwidern? Ich durfte die Sache nicht leichtfertig abtun. Das wäre unritterlich gewesen. Rosette hätte sich das auch gar nicht gefallen lassen. Und obendrein war ich viel zu gerührt, um dergleichen [211] fertig zu bekommen. Ich war mir des Unrechts bewußt, mit dem Herzen einer so reizenden Frau gespielt zu haben, und empfand aufrichtige Reue.

Als die Ärmste sah, daß ich keine Antwort hatte, seufzte sie tief und versuchte sich aufzuraffen. Aber, von ihrer Erregung übermannt, sank sie kraftlos zurück. Sie umschlang mich mit ihren Armen, deren Kühle meinen Rock durchdrang, drückte ihr Gesicht an meines und weinte lautlos.

Ich hatte seltsame Empfindungen, als dieser schier unversiegbare fremde Tränenstrom über meine Wangen rann. Es dauerte nicht lange, und auch meine Tränen flossen. In diesem Augenblicke schaute der bleiche Mond durchs Fenster und umwob unser Idyll mit blauer Lichtflut. Die halbnackte Rosette mit ihrem wehen Gesichtsausdruck glich einem Alabasterbild der Trauer, wie man es auf Gräbern sieht.

Ich war bewegt und liebkoste Rosette noch zärtlicher denn damals. Ich streichelte ihr leise den nackten Hals und die blanke Schulter. Sie zitterte unter meinen sanften Berührungen voller Liebesbegehr.

Ich selbst spürte wirres Verlangen. Wollust durchglühte mich. Ich huschte ihr mit der Hand an den bebenden Busen. So zittert ein im Nest überraschter Vogel. Vorher hatte ich sie kaum kühl auf die Stirn geküßt; jetzt wurde ich feurig und suchte ihren halbgeöffneten Mund. In innigstem Kusse blieben wir vereint, ich weiß nicht, wie lange. Ich hatte keinen Zeitsinn mehr. Auch wußte ich nicht, war ich im Himmel oder auf Erden, tot oder lebendig. Das Mousseux der Sinnenlust war mir zu Kopfe gestiegen.

Rosette umwand mich fester und fester mit ihren Armen und ihrem ganzen Körper. Wir im Krämpfe preßte sie sich an meinen Leib. Wie hörten nicht auf, uns zu küssen.

Sonderbare Gedanken kamen mir. Wenn ich nicht um meine [212] mir fehlende Männlichkeit Angst gehabt hätte, wer weiß, was für tolle Dinge ich gewagt hätte, um dem Schattenmann, den mein schönes Liebchen in Lust und Glut umarmte, etwas mehr Wirklichkeit zu verleihen.

Ich hatte ja selber noch nie einen Geliebten gehabt. Rosettens stürmisches Begehren, ihre unaufhörlichen Liebkosungen, ihr mir so naher schöner Körper, die zärtlichen Namen, die sie mir unter Küssen zustammelte, machten mich grenzenlos wirr, obgleich mich nur ein Weib in den Armen hielt. Der nächtliche Besuch, die romantische Liebschaft, das Mondlicht, alles das kam mir so neu, so reizvoll vor, daß ich zuletzt vergaß, daß ich kein Mann war.

Endlich raffte ich mich zusammen.

»Rosette«, sagte ich lieb und leise, »du kompromittierst dich schändlich, wenn deine Jungfer bemerkt, daß du die Nacht nicht in deinem Zimmer gewesen bist!«

Statt aller Antwort streifte sie ihre Pantoffeln und ihr Batisthemd ab und schlüpfte rasch wie eine Schlange in mein Bett. Offenbar dachte sie, nur weil ich Kleider anhatte, wagte ich so wenig. Wie konnte sie ein andres Hindernis ahnen? Indem sie mit gutem Beispiel voranging, hoffte das arme Kind, es müsse ihr das so mühsam heraufbeschworene Schäferstündlein endlich schlagen.

Statt dessen schlug es zwei Uhr morgens. Ich befand mich in einer höchst kritischen Lage ...

Da knarrte die Tür in den Angeln, und herein trat Bruder Alkibiades. In der Linken trug er einen Leuchter und in der Rechten seinen blanken Degen.

Er ging schnurstracks auf mein Bett zu, hob die Decke, beleuchtete Rosette und begrüßte sie höhnisch:

»Guten Morgen, geliebtes Schwesterchen!« Rosette rührte sich nicht.

[213] »Teuerste tugendsame Schwester,« fuhr Alkibiades fort, »mich dünkt, du seiest der Meinung, Herrn Theodors Bett sei molliger denn dein eigenes. Ist dies der Anlaß, daß du in selbigem nächtigst? Oder hat es in deinem Kämmerlein gespukt, und du hast dich unter den Schutz besagten Herrns geflüchtet, im frommen Glauben, hier sicher und geborgen zu sein wie in Abrahams Schoß? Fürwahr, du bist klug und weise! Und Sie, Herr Chevalier von Serannes, Sie haben mit meinem Frau Schwesterlein karessiert, als müsse das nur so sein! Mein Verehrtester, ich halte es für nicht unangebracht, wir schauen uns mal ein bißchen näher in die Augen. Ich wäre Euer Gnaden ungemein verbunden, wenn Sie die Gewogenheit dazu hätten. Sie haben meine Freundschaft mißbraucht, weshalb ich meine löbliche Meinung über Hochdero Honneur revoziere. Herr Chevalier, Sie sind ein Schelm!«

Ich hatte nicht das geringste Verteidigungsmittel. Der Schein war wider mich. Man hätte mir doch nicht geglaubt, wenn ich dem Sachverhalt gemäß erzählt hätte, daß Rosette aus freien Stücken in mein Zimmer gekommen war, und daß ich, weit davon entfernt, sie zu verführen, versucht hatte, sie von mir abzubringen. Es blieb mir somit nur die Antwort:

»Herr Marquis, ich stehe Ihnen zur Verfügung!«

Während dieses Wortwechsels war Rosette nach allen Regeln der Romantik in Ohnmacht gefallen. Ich nahm eine mit Wasser gefüllte Kristallvase, in der eine große halbentblätterte weiße Rose stak, und benetzte Rosettens Gesicht mit ein paar Tropfen Wasser, worauf sie alsbald wieder zu sich kam. Da sie offenbar nicht wußte, was sie für eine Miene machen sollte, verkroch sie sich in die Kissen. Ihr hübsches Köpfchen verschwand unter der Decke wie eine Maus im Mauseloche. Wenn nicht hin und wieder ein Seufzer hörbar geworden wäre, hätte man meinen können, die schöne Sünderin oder vielmehr die Schöne, die eine [214] Sünderin hatte werden wollen, sei spurlos verschwunden. Offenbar war sie arg darüber empört, daß sie keine Sünderin geworden war.

Sowie Herr Alkibiades hinsichtlich der Ohnmacht seines Schwesterleins nicht mehr beunruhigt war, nahm er unsern Dialog wieder auf. Etwas friedfertiger denn vorher sagte er:

»Wir brauchen uns ja nicht gleich zu schlagen! Das wollen wir uns für den Notfall aufsparen. Ich mache Ihnen zunächst einen friedlichen Vorschlag. In einem Zweikampf würden Sie vermutlich den kürzeren ziehen. Sie sind blutjung und bei weitem nicht so kräftig wie ich. Somit würde ich Sie kampfunfähig machen oder totstechen. Beides möchte ich nicht. Es hätte wenig Zweck. Frau Rosette, die dort unter ihrer Bettdecke verstummt ist, würde mir das mein Leben lang nicht verzeihen. Wenn sie will, ist sie nämlich bös wie eine Tigerkatze! Das wissen Sie natürlich nicht. Sie sind ihr Märchenprinz, der nur süße Zärtlichkeiten zugeteilt bekommt. Aber zur Sache! Rosette ist frei. Sie ebenso. Und ihr Totfeind sind Sie jedenfalls nicht. Das Witwenjahr neigt sich seinem Ende zu. Die Geschichte ist also riesig einfach. Sie heiraten meine Schwester! Dann darf sie getrost hier in Ihrem Bette bleiben, und ich stecke meinen Degen in die Scheide statt in Ihr Bäuchlein, was weder für Sie noch für mich besonders angenehm wäre. Was sagen Sie zu meinem Vorschlag?«

Vermutlich habe ich eine schreckliche Grimasse gezogen, denn dieser Vorschlag war von allen Möglichkeiten, die dumme Geschichte beizulegen, die mir unmöglichste. Eher hätte ich meine Schuhe statt mit Senkeln mit Sonnenstrahlen schnüren können ...

Alkibiades war erstaunt, daß ich nicht ohne weiteres mit Begeisterung bereit war.

Endlich entgegnete ich:

»Verehrter Herr Marquis, Ihr liebenswürdiger Vorschlag ehrt [215] mich über Gebühr. Die Hand Ihrer Frau Schwester wäre ein unerhörtes Glück für einen jungen Mann ohne Rang und Ruhm. Jeder Andre würde sich an meiner Stelle glückselig schätzen. Indessen ... wenn ich die Wahl zwischen Ehe und Zweikampf habe, ziehe ich letzteres vor. Mein Geschmack ist sonderbar. Gewiß, aber ich kann nicht anders!«

Hier stieß Rosette einen schmerzensreichen Klagelaut aus, wobei sie ihren Kopf aus der Decke hervorstreckte wie eine Schnecke die Fühlhörner aus ihrem Häuschen.

»Denken Sie nicht,« fuhr ich fort, »daß ich Rosette nicht liebte. Im Gegenteil. Ich habe aber Gründe, nicht zu heiraten, und zwar Gründe, die Sie unbedingt anerkennen würden, wenn ich sie Ihnen offenbaren dürfte. Überdies ist es zwischen Frau Rosette und mir durchaus nicht so weit gekommen, wie es den Anschein hat. Ein paar Küßchen in Ehren, das war alles! Nun zur Sache, Herr Marquis! Wann findet unser Duell statt? Und wo?«

»Hier auf der Stelle und unverzüglich!« schrie Alkibiades, vor Wut schäumend.

»Das ist doch kaum angängig ... in Gegenwart von Frau Rosette!«

»Zücke den Degen, Elender, oder ich steche dich ab!« rief er und fuchtelte mit seinem Mordinstrument in der Luft herum. »Wollen wir nicht wenigstens in ein andres Zimmer gehn?«

»Wehre dich deiner Haut, oder ich spieße dich auf wie eine Fledermaus an die Hoftüre, schöner Seladon! Dann kannst du lange zappeln, ehe du wieder frei kommst! Hol mich der Teufel! Los!«

Er stürzte gegen mich. Ich zog meinen Degen, denn fürwahr, er hätte seine Drohung wahrgemacht.

Zunächst beschränkte ich mich darauf, seine Stöße zu parieren. Rosette machte einen heldenhaften Versuch, sich zwischen uns [216] zu werfen. Wir waren ihr beide gleich lieb und wert. Aber die Kräfte verließen sie, und besinnungslos sank sie vor dem Bett hin.

Unsre Klingen sprühten und verursachten einen Höllenlärm. Da wenig Raum war, standen wir einander viel zu nahe. Ein paarmal fehlte nicht viel, daß mich Alkibiades getroffen hätte. Wäre ich nicht ausgezeichnet geschult gewesen, so hätte mein Leben in der größten Gefahr geschwebt. Denn mein mir durch seine Körperkraft überlegener Gegner war erstaunlich behend. Er ließ keine Finte, keinen Trick unversucht, um mir beizukommen. Aber in seinem Grimm darüber, daß ihm dies nicht sofort gelang, gab er sich mehrfach Blößen. Ich nützte sie zuerst absichtlich nicht aus. Als er aber immer ungestümer und wilder auf mich eindrang, sah ich mich dazu gezwungen. Außerdem hatten mir Kampfesrausch und Klingenglanz die Besonnenheit geraubt. Ich dachte weder an Gefahr noch Tod. Die heimtückische glitzernde Degenspitze vor meinen Augen ließ mich so kalt wie der Knopf eines stumpfen Floretts. Eins nur erboste mich: die Ungerechtigkeit des brutalen Alkibiades. War ich doch tatsächlich unschuldig!

Immer noch wollte ich weiter nichts als ihn am Arm oder an der Schulter leicht verletzen, um ihn kampfunfähig zu machen. Da schlug er eine geschickte Quart, die ich nur ungenügend parierte. Der Stahl durchstach mir den Ärmel. Ich fühlte das kühle Eisen auf der Haut meines Armes. Aber verwundet ward ich nicht.

Zornerfüllt ging ich nun meinerseits zum Angriff über. Ich vergaß, daß ich Rosettens leiblichen Bruder vor mir hatte, und attackierte ihn wie meinen Todfeind. Indem ich einen kleinen Mangel seiner Fechtkunst ausnützte, brachte ich ihm einen festen Flankenstich bei.

Er stieß einen kurzen Schrei aus und fiel vornüber.

[217] Ich hielt ihn für tot; er war aber, was ich nicht annahm, nur verwundet. Er war hingestürzt, weil er beim erneuten Ausfall gestrauchelt war.

Unbeschreibliche Empfindungen bestürmten mich. Daß ich meinen Gegner überwunden hatte, dünkte mich ein Spiel gewesen zu sein. Daß er jetzt aber dalag und daß sein Blut wie ein dünner Faden über seinen Rock rieselte, brachte mich in die höchste Erregung. Selbstverständlich hatte ich gewußt, daß aus einer Wunde keine Sägespäne rinnen würden, und doch war ich in meinem Leben noch nie so betroffen. Es war mir zumute, als sei Unerhörtes geschehen.

Das Unerhörte war nicht, daß Blut aus einer geschlagenen Wunde floß, sondern daß ich diese Wunde geschlagen hatte, ich, ein junges Mädchen einem starken Manne und erprobten Fechter! Und warum? Weil ich die Schwester dieses Mannes verführt haben sollte und ihr – einer reichen und noch dazu entzückenden Frau – hinterher die Heirat verweigerte.

Es war unleugbar eine seltsame Situation: der Bruder anscheinend tot, die schöne Schwester nackt und besinnungslos, und ich nahe daran, ebenfalls hinzusinken!

Ich riß an der Klingelschnur, überließ es Rosette und Alkibiades, die herbeieilende Dienerschaft und die Tante über den geheimnisvollen Vorfall aufzuklären, und eilte in den Stall.

Die kühle Nachtluft tat mir unsagbar wohl. Ich zog mein Roß aus dem Stande, sattelte und zäumte es eigenhändig, sah Sattel- und Zaumzeug genau nach, machte mich reisefertig und saß wohlgemut auf. Dann ritt ich im Schritt durch den Park, von dem ich jeden Weg und Steg kannte. Die tauschweren Zweige der Bäume streiften mich und machten mir das Gesicht naß. Es war mir, als streckten sich alle Äste nach mir aus, um mich zu halten.

Ich hatte keine bestimmten Gedanken. Ich war noch immer im [218] Banne meines Erlebnisses. Ich hatte einen Mord begangen und war nun auf der Flucht!

Ich fühlte mich todmüde.

An einer versteckten Pforte, die mir Rosette auf einem unserer verliebten Spaziergänge gezeigt, saß ich ab und öffnete die Tür, deren geheime Mechanik mir wohlbekannt war. Dann zog ich mein Pferd durch, saß wieder auf und galoppierte, bis ich auf die Heeresstraße kam. Im Trab ritt ich weiter, und als der Morgen graute, kam ich in C*** an.

Das ist die wahrheitsgetreue Geschichte meines ersten Liebesabenteuers und meines ersten Duells.

15.

[219] XV

Es war Frühmorgens fünf Uhr, als ich im Schritt in die Stadt einritt. Die Eisen klapperten laut auf dem holprigen Pflaster. Hinter den Scheiben spähten neugierige Gesichter nachtmütziger Spießbürger. Man machte sich Gedanken, wer wohl der unsolide Reitersmann sei, der in so leichter Kleidung zu so früher Stunde einzog.

Ich ließ mich von einem Gassenbengel nach einem Gasthof führen, nahm mir ein Zimmer, legte mich in das Bett und schlief sofort ein.

Als ich erwachte, schlug es drei Uhr nachmittags. Ich war immer noch müde, was nach einer schlaflosen Nacht, einem Liebesabenteuer, einem Duell und einem langen scharfen Ritte nicht zu verwundern war.

Ich befand mich über den Ausgang meines Zweikampfes in großer Unruhe, bis ich nach ein paar Tagen erfuhr, daß die Sache gut abgelaufen und Alkibiades bereits halb hergestellt war. Diese Nachricht machte mich wieder froh. Der Gedanke, einen Menschen getötet zu haben, hatte mich schwer bedrückt, wenn ich mir auch sagte, daß es in berechtigter Notwehr geschehen. Damals besaß ich noch nicht die souveräne Kaltblütigkeit von heute.

In der Stadt traf ich zu meiner Freude etliche von den jungen Herren wieder, die ich auf meiner ersten Fahrt kennengelernt. Ich schloß Freundschaft mit ihnen und ließ mich durch sie in [220] etliche gute Familien einführen. An die Männerkleidung hatte ich mich inzwischen völlig gewöhnt. Durch meine derbe tätige Lebensweise und die tagtäglichen körperlichen Übungen hatten sich meine Kräfte und meine Geschicklichkeit verdoppelt.

Ich folgte den lebenslustigen jungen Leuten überallhin. Ich ritt, jagte und schlemmte mit ihnen. Allmählich gewöhnte ich mich ans Trinken. Wenn ich darin auch nicht die beinahe deutsche Trunkfestigkeit einiger meiner Zechkumpane erreichte, so stellte ich doch brav meinen Mann und vertrug ohne Beschwerden zwei bis drei Bouteillen. Das war ein anerkennenswerter Fortschritt. Auch verfügte ich binnen kurzem über einen Reichtum von Kraftausdrücken und bekam eine große Routine im Abküssen von kleinen Mädchen. Mit einem Worte, ich ward ein vollendeter Kavalier, vollendet in meiner Art. Gewisse rückständige Anschauungen, die ich über Moral und ähnlichen Klimbim noch hatte, legte ich alsbald ab. Dafür wurde ich in puncto Standesehre so übertrieben feinfühlig, daß fast kein Tag verging, an dem ich nicht ein kleines Duell gehabt hätte. Es ward dies geradezu eine Notwendigkeit für mich, eine Art unumgänglicher Sport, ohne den ich mich nicht wohlgefühlt hätte. Bot sich einmal keine Gelegenheit, so begnügte ich mich, einem meiner Kameraden oder mitunter selbst flüchtigen Bekannten als Sekundant zur Verfügung zu stehen. Untätig und müßig zu sein, ist mir schrecklich.

Bald war ich im Gerüche riesiger Tapferkeit. Längst fiel es keinem Menschen mehr ein, über mein bartloses Gesicht oder mein mädchenhaftes Aussehen Witze zu machen. Die paar Knopflöcher, die ich Spöttern in den Rock gestoßen, genügten, mir den Ruf der Unbesiegbarkeit in jeder Beziehung zu verleihen. Es gibt sogar Leute, die zu schwören bereit sind, sie hätten illegitime Sprößlinge von mir über das Taufbecken gehalten.

[221] In diesem scheinbar ziellosen, unnützen und liederlichen Dasein vergaß ich meine ursprüngliche Absicht keineswegs: das planmäßige Studium des Mannes und die Lösung des großen Problems von der wahren Liebe. Das ist nicht so einfach. Eher findet man den Stein der Weisen.

Mit gewissen Dingen der Einbildung geht es einem wie mit dem Horizont. Er existiert augenscheinlich. Man hat ihn ja jederzeit vor sich, wohin man auch blicken mag. Aber hartnäckig weicht er zurück, sobald man auf ihn zustrebt, sei es langsam oder schnell. Er bleibt immer in derselben Entfernung. Das ist die Eigentümlichkeit seines Wesens. Er läßt sich halt nicht am Schöpfe packen.

Je mehr ich das Tier im Manne kennenlernte, desto mehr sah ich ein, daß ich mir etwas Unerfüllbares wünschte. Mein Ideal von der Liebe des Mannes lag außerhalb seiner Natur. Ich gewann die Überzeugung, daß mich selbst ein Mann, der mich nach seiner Art wirklich liebte, unbedingt unglücklich machen müsse. Dabei hatte ich die Ansprüche meiner Mädchenromantik bereits erheblich heruntergesetzt. Trotzdem gab ich noch nicht jedwede Hoffnung auf.

Mein Plan sah jetzt so aus.

Es galt, in meiner Verkleidung einen mir zusagenden jungen Mann zu finden. Dem wollte ich mich anschließen. Durch geschickte Fragen und durch falsche Selbstbekenntnisse, die ihn zu aufrichtigen Beichten veranlassen sollten, wollte ich zur vollkommenen Kenntnis seiner Gefühle und Gedanken gelangen. Im Falle nun, daß er meinem Ideale halbwegs entspräche, wollte ich unter einem Vorwande wieder von ihm gehen und ihm drei bis vier Monate fernbleiben, damit er meine Züge vergäße. Sodann wollte ich als weibliches Wesen von neuem in seine Nähe kommen und mir in einem stillen Stadtviertel ein reizendes Häuschen zwischen Bäumen und Blumen einrichten.[222] Eines schönen Tages wollte ich ihm in den Weg laufen. Er sollte sich um meine Gunst bewerben, und wenn ich seiner Liebe sicher wäre, wollte ich mich ihm uneingeschränkt hingeben. Seine Geliebte zu sein, sollte mir genug Ehre sein. Ich wollte keinen andern Titel verlangen.

Das war natürlich eine Utopie. Solange ich die Männer nur von weitem und mit den herkömmlichen Mädchenaugen kannte, erschienen sie mir erhaben. Jetzt bin ich desillusioniert. Ich finde sie abscheulich und begreife nicht, wie eine Frau von Geschmack ein Exemplar von Mann in ihrem Bette zu dulden vermag. Ich wenigstens, ich brächte es nicht fertig.

Wie roh und unedel sind die Gesichtszüge der Männer, wie ungraziös ihre Bewegungen, wie plump ihre Formen! Wie rauh, braun und hart ihre Haut, wie knochig und behaart ihre Hände! Sie haben gräßlich große Füße, unappetitliche Bärte, bürstenartiges Kopfhaar. Ihre Lippen gleichen Schweinsrüsseln. Sie haben Stiernacken und Athletenmuskeln; manche gar Hängebäuche, die sie vor sich herschieben. Dazu blinzelnde wollüstige Äuglein von undefinierbarer Farbe. Mit einem Worte: Affen in Hosen! Zu alledem riechen sie beständig nach Wein, Schnaps, Tabak oder, was das Allergräßlichste ist, nach Mann. Die noch leidlich aussehen, gleichen schlecht entwickelten Frauen.

In der ersten Zeit verstieg sich mein Abscheu vor den Männern soweit, daß sie mir wirklich wie Ungeheuer erschienen. Ihre Anschauungen, ihre Manieren, ihre Nonchalance, ihre zynischen Redensarten, ihre Brutalität, ihre Weibesverachtung, alles das empörte und beleidigte mich maßlos.

Ungeheuer sind sie ja nun nicht. Vielmehr kreuzbrave lustige Gesellen, die gern gut essen und trinken, einander zu kleinen Diensten bereit sind, vergnüglich zu plaudern verstehen und brav den Degen ziehen, wo es ihr Ehrbegriff erheischt. Manche [223] sind auch treffliche Musiker oder tüchtige Maler, und manche erzählen so schöne Geschichten, daß man sie beneiden möchte. Kurzum, sie sind zu tausend Dingen gut zu gebrauchen, bloß zu dem einen nicht, wozu die Schöpfung sie doch zunächst bestimmt hat: zum Manne einer Frau. Der Mann hat mit dem Weibe absolut nichts gemein, weder in körperlicher noch in seelischer Beziehung.

Es fiel mir lange Zeit schwer, meine Mannesverachtung zu verbergen, aber allmählich gewöhnte ich mich an den Umgang mit Männern. Ihre Witze über die holde Weiblichkeit ärgerten mich schließlich so wenig, als sei ich wirklich einer ihresgleichen. Ich fing an, selber solche Spöttereien zu schmieden, und erntete damit viel Beifall. Ich ward beinahe stolz darauf. Meine Zynismen waren sogar sehr bald gepfefferter als die meiner Kumpane. Hierbei unterstützte mich meine vertraute Kenntnis des Weibes. Das Schlimmste, was ein Mann einer Frau nachsagt, wird immer noch von dem übertroffen, was eine Frau ihren Geschlechtsgenossinnen vorzuwerfen weiß. Hinter dem Spott der Männer über die Frauen versteckt sich oft heimliche Liebe zu einer von ihnen.

Ich habe übrigens gefunden, daß die sogenannten Frauenfreunde hinter dem Rücken die größten Weiberlästerer sind.

Was ich von einem Geliebten vor allem verlangte, war Seelenschönheit. Aber eine auf seelische Dinge begründete Liebe ist ein Unding. Ich freilich, ich bildete mir ein, so lieben zu können, wie mich einer lieben sollte.

Welch herrliche Torheit! Welche göttliche Verschwendung! Sich einem geliebten Menschen ganz hingeben! Nicht das Geringste von sich behalten! Auf Selbstbesitz und freien Willen verzichten! Alles das dem Wunsche des Andern unterordnen! Nicht mehr mit den eigenen Augen sehen, mit den eigenen Ohren hören! In zwei Körpern nur einer sein! Die Seelen so[224] vermählen und verschmelzen, daß man nicht mehr weiß: Bin ichs oder bist dus? Immerfort im andern aufgehen! Den Mittelpunkt des Lebens, der gesamten Welt in ein geliebtes Herz verlegen! Stündlich zu den schwersten Opfern, zur höchsten Entsagung bereit sein! Mit dem Geliebten leiden, wenn er leidet!

Das war die Liebe, die ich mir ersehnte. Wenn ich brav zu Hause geblieben wäre, als junges Mädchen, das an seinem Fensterplatze sitzt, stickt und träumt, dann wäre diese Liebe vielleicht unversehens zu mir gekommen. So aber bin ich in die weite Welt hinausgezogen und bin suchen gegangen.

Mit der Liebe ist es wie mit dem Glück. Man darf ihr nicht nachjagen. Mit Vorliebe neigt sich die Liebe zu denen, die am Wege eingeschlummert sind. Die Küsse von Göttinnen und Königinnen fallen meist auf geschlossene Augen. Es ist Selbsttäuschung, wenn man glaubt, die Liebe sei dort, wo man nicht weilt. Man ist stark im Wahn, wenn man sein Roß sattelt oder sich in die Post setzt, um sie in fernen Landen zu suchen.

Ich bildete mir ein, die Welt wäre voll entzückender junger Männer, sie wimmele von Minnesängern und Frauenlobern. Unsinn! Ich war sehr erstaunt, als ich mich zu der Erkenntnis bequemen mußte, daß es zwar etliche Exemplare solcher Männer gibt, daß sie aber seltene Ausnahmen sind. Ohne mich ausgelebt zu haben, bin ich infolgedessen blasiert geworden. Nichts ist der Freude am Dasein verderblicher als solche – immerhin theoretische Enttäuschungen. Mein junger frischer Leib windet sich gequält unter den Geboten des Verstandes wie ein Falke unter der Haube.

Seitdem ich in der Kameradschaft mit Männern lebe, habe ich gesehen, wie viele Frauen unwürdig behandelt und schamlos betrogen, wie viele Liebesgeheimnisse unbedacht preisgegeben und wie viele lautere Herzen ohne Bedenken in den Staub getreten werden. Wie viele Männer haben die reizendsten Geliebten [225] und rennen doch zu den gräßlichsten Dirnen! Wieviele Frauen werden von ihren Männern und Liebhabern ohne den geringsten stichhaltigen Grund verlassen und verraten.

Nach solchen Beobachtungen war es mir unmöglich, mir einen Geliebten zu wählen. Ich hätte das Gefühl gehabt, mit offenen Augen am hellichten Tage einem furchtbaren Abgrund entgegen zu gehen. Und doch bleibt es mein Herzenswunsch, einen Geliebten zu finden. Ohne zu lieben und ohne geliebt zu werden, kann ich nimmermehr glücklich sein. Das weiß ich. Aber die Männer!

Sie können sich Engelsschwingen ankleben und leuchtende Kronen aufsetzen, ich lasse mich doch nicht täuschen, denn ich weiß, ihr Heiligenschein ist unecht. Ich kenne sie zu gut. Alle ihre schönen Worte helfen ihnen bei mir zu nichts. Ich weiß im voraus, was sie mir vorschwatzen. Ich habe sie ja beim Einstudieren ihrer Rollen, bei der Probe, auf anderen Bühnen, gesehen. Ich kenne alle ihre Mätzchen, ihre Paradeszenen. Und wenn sie noch so blaß vor angeblicher Liebe und Ungewißheit kommen, ich weiß, eine durchschwärmte Nacht, ein paar Flaschen Sekt und eine derbe Dirne sind das übliche Rezept zu dieser interessanten Blässe. Ich war Augenzeuge, wie es einmal ein junger Edelmann angewandt hat, und tatsächlich, er erreichte damit seinen Zweck: er fand Erhörung bei seiner vorher kühlen Angebeteten. Ich weiß, wie schmachtende Verliebte sich über die allzulange Sprödigkeit ihrer Herzensköniginnen zu trösten wissen und stillvergnügt zu warten verstehen, bis ihnen die Gnadenstunde schlägt. Pfui!

Auch abgesehen davon reizt mich der Mann nicht besonders. Er ist mir körperlich nicht schön genug. Wenn es keine himmlische Liebe gibt, dann will ich in der irdischen wenigstens die höchste Wollust. Die wäre für mich nur bei einem wirklich schönen Manne möglich. Alle Männer, die ich kenne, [226] kommen mir abstoßend häßlich vor. Mein Pferd ist tausendmal schöner.

Dandys kann ich nicht ausstehen. Die Offiziere sind mir in ihrem Wesen zu typisch. Und dann haben sie zumeist etwas Despotisches in ihren Zügen. Die Männer der bürgerlichen Berufe finde ich unsoigniert und unmanierlich. Und die Künstler?

Die Dichter denken mir zu viel an ihre Phantastereien. Man kann sie zu nichts Gescheitem gebrauchen. Sie sind meist häßlich und langweilig. Sie vernachlässigen sich in ihrer Haltung und ihrem Anzug. Schneid und Eleganz geht ihnen ab. Es ist erstaunlich, daß Leute, die sich bei Tag und Nacht mit schönen Dingen beschäftigen, kein Auge dafür haben, wenn ihre Schuhe unvornehm aussehen oder ihr Hut aus der Form geraten ist. Die meisten Poeten sehen aus wie Dorfschulmeister. Sie könnten einem beinahe die Freude an schönen Versen verleiden.

Und gar die Maler!

Das sind die allerbeschränktesten Gehirnträger auf Gottes Erdboden. Über ihre sieben Farben hinaus wissen sie von nichts. Ich habe einmal mit einem Maler ein paar Tage gemeinsam verlebt. Als ihn jemand fragte, wie ich ihm gefiele, gab er zur Antwort: »Er hat einen famosen Fleischton, nur in die Schatten müßte ein bißchen mehr Rotbraun!« Dabei hatte er eine Mordsnase und schielte.

Was soll mein Auserwählter sein? Dandy, Soldat, gemeiner Zivilist, Dichter oder Maler? Wen wähle ich mir aus dieser Menagerie? Ich bin ratlos. Im Grunde sind sie alle dumm und häßlich.

Bliebe ein Ausweg: einen Geliebten aus dem Volke zu nehmen, einen Reitknecht oder einen Arbeiter. Unmöglich! Ich bin wirklich ein unglückliches Geschöpf. Eine einsame girrende Taube.

[227] Häufig habe ich mir gewünscht, ein Mann nicht bloß äußerlich, sondern tatsächlich zu sein. Ich habe manche Frau kennengelernt, zu der ich wie geschaffen, wenn ich ein Mann wäre. Ich wäre ein großer Frauenversteher geworden. Ich vermöchte edle Liebe wahrhaft zu erwidern. Es müßte ein göttliches Glück sein!

Wäre ich ein Mann, wie würde ich Rosette lieben! Ich würde sie vergöttern. Unsere Seelen sind füreinander bestimmt. Ihr Charakter gefällt mir wie ihr Leib. Es ist jammerschade, daß meine Liebe zu ihr zum Platonismus verdammt ist.

Jüngst hatte ich ein Abenteuer.

Ich verkehrte in einem Hause, in dem es ein junges Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren gab, das entzückendste Geschöpf, das ich je gesehen, eine zarte kleine Goldblondine. Dieses Geschöpfchen bezauberte mich über die Maßen. Besonders aber gefiel mir ihr harmloses Geplauder, an dem ich stundenlang mein Vergnügen hatte. Ninon – so hieß die Kleine – erzählte mir allerlei Schelmereien. Ich schenkte ihr dafür Bonbons und andre Süßigkeiten, die ich immer, nur für sie, in einer hübschen Elfenbeinschachtel mitbrachte. Das hatte sie gar zu gern, denn sie war eine richtige Schokoladenkatze. Wenn ich kam, lief sie mir jedesmal entgegen und beschnupperte meine Taschen nach der geliebten Bonbonniere. Ich ließ diese von einer Hand in die andre gleiten, um sie zu verstecken, was allemal in einen kleinen Kampf ausartete. Nach einer Weile ward ich besiegt und ausgeplündert.

Eines Tages begrüßte mich Ninon sehr feierlich und kam mir nicht wie sonst entgegengeeilt. Stolz und steif blieb sie auf ihrem Stuhle sitzen.

»Ninon,« fragte ich, »du hast dir wohl die Schokolade abgewöhnt und schleckerst jetzt Salzplätzchen? Oder hast du Angst, dir die hübschen Zähnchen zu verderben?«

[228] Dabei pochte ich auf die wohlgefüllte Elfenbeinschachtel in meiner rechten Hosentasche. Ich sah, wie Ninons allerliebste kleine Zungenspitze über die Lippen glitt, als kostete sie die verschmähten Leckereien. Trotzdem rührte sie sich nicht vom Flecke.

Nunmehr zog ich die Bonbonniere aus der Tasche, öffnete sie und begann andächtig die Pralinés zu verzehren, die sie besonders gern aß. Einen Augenblick lang schien die ihr angeborene Naschsucht über ihren Vorsatz zu triumphieren. Sie streckte ein Händchen aus, um zuzugreifen, zog es aber blitzschnell wieder zurück, wobei sie sagte:

»Kleine Kinder essen Bonbons. Ich bin keins mehr!«

Dabei seufzte sie schwermütig.

»So! Ich kann nicht finden, daß du mit einem Male ganz groß geworden wärest. Du bist ja auch kein Steinpilz, der über Nacht aufschießt. Komm, ich will dich gleich einmal messen!«

»Lachen Sie nur, soviel Sie wollen, Herr Theodor!« versetzte Ninon mit einem entzückenden Schmollmündchen. »Ich bin kein kleines Mädel mehr! Ich will jetzt groß werden.«

»Kein übler Entschluß!« meinte ich. »Bleibe nur dabei! Darf man auch fragen, gnädiges Fräulein, wie diese süperbe Idee in Ihr Köpfchen geraten ist? Vor acht Tagen, deucht es mich, schienen sich Euer Gnaden in den Kinderschuhen noch höchst wohl zu fühlen. Da knabbertest du deine Pralinés ohne das geringste Bedenken, dir damit etwas zu vergeben.«

Ninon blickte mich mit eigentümlichen Augen an. Dann sah sie sich vorsichtig um, und nachdem sie sich vergewissert hatte, daß uns niemand von den Anwesenden im Salon beachtete, flüsterte sie mir geheimnisvoll zu:

»Ich habe einen Verehrer!«

»Teufel auch! Dann wundre ich mich allerdings nicht mehr, daß du plötzlich keine Pralinés mehr magst. Trotzdem könntest [229] du dir ruhig ein paar nehmen. Vielleicht ißt Er auch gerne welche.«

Die Kleine zuckte verächtlich mit der Schulter und zog ein Gesicht wie eine beleidigte Fürstin.

»Wie heißt der große Held?« fuhr ich unbehindert fort. »Natürlich Arthur oder Heinrich?«

Damit meinte ich zwei Jungens, mit denen Ninon gewöhnlich spielte und die sie »ihre beiden Männer« nannte.

Sie blickte mich scharf an.

»Arthur nicht und auch nicht Heinrich!« sagte sie schnippisch. »Ein großer Herr ists!«

Dabei hob sie ihre Hand hoch, um mir einen Begriff von der Körperlänge des Glücklichen zu geben.

»So groß! Donnerwetter! Und wer ist dieser große Mann?«

»Herr Theodor, ich will es Ihnen sagen, aber Sie dürfen es niemandem weitererzählen, weder Mama noch Kunigunde« – das war ihre Erzieherin – »noch Ihren Freunden. Die halten mich alle für ein Kind und würden sich nur lustig über mich machen.«

Ich war neugierig geworden und gelobte ihr unverbrüchliches Schweigen. Aber Ninon zögerte von neuem, weil sie glaubte, ich nähme die Sache nicht ernst. Ich mußte ihr mein Ehrenwort geben, verschwiegen zu sein wie ein Grab.

Jetzt glitt sie aus ihrem Lehnstuhl, hing sich über die Lehne des meinen und flüsterte mir ins Ohr:

»Der Baron de La Bredouille!«

Ich erschrak. Der Genannte war ein schmutziger bestialischer Trottel mit Wachtmeistermanieren, ledern wie ein Schulmonarch, dabei ein perverser Wüstling, ein wahrer Faun, dem bloß die Bocksfüße und die Spitzohren fehlten. Die Kleine tat mir leid, und ich nahm mir vor, die Sache zu vereiteln. Es wäre der reine Mord gewesen, wenn das süße Geschöpfchen einem solchen Erzhalunken in die Hände gekommen wäre.

[230] Ninons Mutter war eine Lebedame, in deren Salon geflirtet, gespielt und gewitzelt wurde. Ihr Töchterchen lag ihr nicht am Herzen. Je mehr es heranwuchs, desto mehr war es ihr im Wege. Dieser wandelnde Geburtsschein hinderte sie daran, mit ihren Jahren zu mogeln. So ward die Kleine vernachlässigt und den Angriffen der Hausfreunde schutzlos ausgesetzt. Es wäre der Mutter höchstens darauf angekommen, dabei ein hübsches Schlößchen oder dergleichen für sich herauszuschlagen. Mit einem Worte, das Schicksal, das der lieben kleinen Ninon harrte, war mir nicht zweifelhaft. Sie dauerte mich, und so beschloß ich, sie der drohenden Gefahr zu entreißen.

Es galt zunächst zu verhindern, daß der Baron ihre Spur verfolgte. Das einfachste und beste Mittel schien mir: einen Streit vom Zaune zu brechen und sich mit ihm zu schlagen. Das war nun nicht so leicht zu machen, denn der Herr de La Bredouille war unglaublich feig und waffenscheu. Ich reizte ihn aber derartig, daß er sich wohl oder übel bequemen mußte, auf dem Duellplatz zu erscheinen.

Obgleich er eine gar nicht üble Klinge schlug, stand er dermaßen im Banne der Angst, daß er vor Aufregung halb blind war. Gleich beim ersten Gang fand ich Gelegenheit, ihm einen netten kleinen Stich beizubringen, der ihn für vierzehn Tage ans Bett fesselte. Das genügte mir. Umbringen wollte ich ihn nicht.

Nun mußte ich die Kleine überreden, sich von mir entführen zu lassen. Das war nicht besonders schwierig.

Ich machte Ninon weis, ihr Verehrer sei mit einer Komödiantin der gerade in der Stadt gastierenden Truppe durchgegangen. Sie war entrüstet, wie man sich denken kann. Ich tröstete sie jedoch, indem ich den Baron gehörig schlecht machte. Er sei häßlich, ein Säufer und viel zu alt für sie. Schließlich stellte ich die Frage, ob sie sich nicht mit mir entschädigen wolle. Das [231] möchte sie schon, war ihre Antwort, weil ich viel netter wäre und hübschere Röcke trüge.

Diese mit ernsthaftester Miene vorgebrachte Naivetät belustigte mich zu Tränen. Die Überredung gelang mir, unterstützt von ein paar Blumen, etlichen Küssen und einer funkelnden Halskette. Ich ließ ihr nun ein fesches Pagenkostüm machen, denn in ihren Mädchenkleidern konnte ich sie unmöglich mitnehmen. Dann kaufte ich für sie einen frommen Gaul, der kinderleicht zu reiten, aber doch genügend leistungsfähig war. Selbstverständlich mußte mein Page so beritten sein, daß er mir und meinem arabischen Vollblut überallhin folgen konnte. Ich galoppiere mit Vorliebe.

Ich bestellte Ninon um die Dämmerstunde vor die Haustür. Sie war prompt da. Auf Umwegen gingen wir zusammen nach meiner Wohnung, ohne daß uns jemand bemerkte. Dort gab ich ihr die Pagenkleider und sagte ihr, sie solle sich zurechtmachen. Ich wollte ihr dabei behilflich sein. Erst zierte sie sich ein wenig. Ich sollte aus dem Zimmer gehen. Ich erklärte ihr aber, zu derlei Umständen hätten wir durchaus keine Zeit. Überdies sei ich ja ihr Schatz. Ein Liebespaar geniere sich nicht voreinander.

Nunmehr fand sie sich mit reizender Grazie in das Unabänderliche. Sie war halb Kind, halb Jungfrau, von wundervoll zierlichem Körper.

Die Pagenhosen standen ihr vortrefflich. Sie sah darin trotzigdrollig aus. Als sie sich vor dem Spiegel musterte, lachte sie laut auf. Ich fütterte sie mit ein paar in Tokayer getauchten Keksen.

Unsere Pferde standen marschbereit im Hof. Wir saßen auf, und fort ging es. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Das biedere Städtchen lag in tugendsamem Dunkel.

Besonders flott kamen wir nicht vorwärts, denn Ninon war eine klägliche Reiterin. Wenn wir trabten, hielt sie sich krampfhaft [232] an der Mähne ihrer braven Rosinante fest. Gleichwohl waren wir beim Morgengrauen bereits so weit fort, daß wir keine Verfolgung mehr zu fürchten brauchten.

Sehr bald gewöhnte ich mich über die Maßen an meine junge Begleiterin. Es ist mir ein Bedürfnis, immer ein geliebtes Wesen um mich zu haben, und sei es ein Hund, den ich liebkosen kann. Nun habe ich Ninon. Sie schläft in meinem Bette, wobei sie ihr Ärmchen um mich schlingt. Sie hält sich allen Ernstes für meine Geliebte und zweifelt nicht im geringsten an meiner Manneskraft. Ihre große Jugend und Unverdorbenheit belassen sie bei dieser Illusion. Ich küsse sie ordentlich ab. Mehr beansprucht sie nicht.

Übrigens bin ich allmählich wirklich ein halber Mann geworden. Zumal im Vergleich mit Ninon bin ich ein reiner Herkules. Ich bin groß und braun, sie klein und blond. Sie hat weiche sanfte Züge, mein Gesicht sieht ernst und herb aus. Neben ihrem Zwitscherstimmchen klingt meine Sprache beinahe rauh.

Sie ist eine lustige kluge kleine Gefährtin, ein entzückendes Schmeichelkätzchen, ein süßes Ding. Es wäre jammerschade gewesen, wenn sie bei ihrer abscheulichen Mutter verblieben wäre. Ich habe mir vorgenommen, sie so lange wie möglich in ihrer Unwissenheit zu erhalten und mich nicht eher von ihr zu trennen, als bis sie es selbst verlangt und ich sie sicher untergebracht weiß. Ich bewache sie vor den Männern wie ein Drache. Keiner wäre wert, diesen Schatz zu besitzen.

Sie begleitet mich auf allen meinen Fahrten. Dieses abenteuerliche Dasein behagt ihr. Sogar an die körperlichen Strapazen hat sie sich ein wenig gewöhnt. Überall sagt man mir Schmeicheleien wegen meines schönen Pagen.

Tagtäglich entdecke ich an Ninon eine neue gute Eigenschaft, die meine Zuneigung vermehrt. Es lebt ein männliches Charakterelement in mir, helfen und beschützen zu wollen, und [233] dies kommt jetzt mehr zur Entwicklung als wenn ich einen Geliebten hätte. Ich möchte keinen haben, der zugleich mein Schutzherr sein will. Mein Stolz empört sich dagegen. Um so glücklicher bin ich, ein schutzbedürftiges Wesen gefunden zu haben. Ich leiste Ninon in jeder Beziehung sorglich Beistand. Ich helfe ihr beim Aufsitzen, reiche ihr bei Tisch die Schüsseln, kleide sie abends aus und trage sie ins Bett. Kurzum, ich tue alles, was ein galanter und verliebter Mann für seine Angebetete tun kann.

Mehr und mehr verliere ich das Bewußtsein, ein Weib zu sein. Nur hin und wieder erinnere ich mich flüchtig daran. In der Anfangszeit entfuhr mir manchmal unbedacht ein Wort, das sich mit meiner Mannestracht nicht vertrug. Jetzt kommt das nicht mehr vor. Sogar beim Schreiben an Dich, meine Vertraute, wahre ich unnötigerweise am liebsten den Herrenton. Sollte mich je die Lust anwandeln, meine Frauenröcke wieder aus den Koffern und Kisten herauszusuchen, was ich übrigens stark bezweifle, es wäre denn, ich verliebte mich bis über die Ohren in einen Adonis, so wird es mir Mühe machen, mich wieder in die alten Gewohnheiten zu finden. Ich bin schon soweit, daß ich in Männertracht weniger verdächtig aussehe denn in Frauenkleidern. Ich gehöre weder dem einen noch dem andern Geschlecht richtig an. Es fehlt mir das Unselbständige, Furchtsame, Kleinliche, das den Frauen anhaftet; andrerseits gehen mir aber auch die Laster des Mannes ab, seine gräßliche Völlerei und sein Hang zur Brutalität. Ich gehöre einem neuen, noch unbenannten dritten Geschlechte an, das die Schwächen und Vorzüge der beiden alten Geschlechter in verfeinerter Auslese besitzt. In mir vereinigt sich der Leib und das Herz des Weibes mit der Stärke und dem Verstand des Mannes. Ich habe von der einen Art zu viel und von der andern zu wenig, und ich kann mich mit keiner von beiden paaren. Deshalb werde ich nie in [234] voller Liebe lieben, als Mann nicht und als Weib nicht. Es ist etwas Unstillbares in mir. Der Geliebte oder die Freundin wird immer nur einen Teil meines Ichs erfüllen. Wenn ich einen Mann liebte, würde zunächst zweifellos das weibliche Element in mir zur Vorherrschaft gelangen, aber nur eine Zeit lang. Sehr bald würde ich mich nur halbbefriedigt fühlen. Habe ich nur eine Freundin, so hindert mich meine Sinnlichkeit, das seelische Glück ungestört zu genießen. Ich finde kein Gleichgewicht und keine Ruhe.

Am liebsten möchte ich doppelgeschlechtlich sein: heute Mann, morgen Weib. Dann könnte ich mich ausleben und wunschlos sein. Das wahre Glück eines jeden Wesens liegt meiner Empfindung nach in der ungestörten Entwicklung seiner vorhandenen Anlagen und Fähigkeiten.

Um meine vage Sehnsucht um etwas Bestimmtes kristallisieren zu lassen, hatte ich die kleine Ninon entführt. Aber bald erkannte ich, daß alle gegenwärtige Zärtlichkeit, alle Zuneigung und Anhänglichkeit mein Herz im Grunde öde und leer ließen. Die rührendsten Liebkosungen der Kleinen befriedigten mich nicht. Ich entschloß mich also, einen Geliebten zu wählen. Es dauerte freilich lange, ehe ich einen fand, der mir nicht mißfiel.

16.

[235] XVI

Ich habe dir bisher noch nicht erzählt, liebe Graziosa, daß Rosette meinen Aufenthalt ausgekundschaftet hatte und mir einen flehentlichen Brief nach dem andern schrieb, ich möchte sie besuchen. Ich konnte ihr diese Bitte schließlich nicht mehr abschlagen, und so habe ich mich auf den Weg nach ihrem Landgute gemacht.

Rosette hatte sich in Verzweiflung darüber, daß ich sie verschmäht, in das tollste Leben gestürzt, wie das zärtliche Naturen oft tun, wenn sie eine große Enttäuschung erlitten haben. Es dauerte nicht lange, so hatte sie eine Menge Abenteuer hinter sich, und die Liste ihrer Liebhaber ist bereits recht ansehnlich. Die keuschen Josefe kann man ja bekanntlich zählen.

Augenblicklich ist ein Chevalier d'Albert ihr Geliebter. Offenbar habe ich auf diesen jungen Mann sofort einen außergewöhnlich starken Eindruck gemacht. Ich bin im Besitze seiner zärtlichsten Freundschaft. Obgleich er gegen Rosette galant und gentil bleibt, so liebt er sie doch nicht oder nicht mehr. Vielleicht hat er ein unerreichbares Traumbild von Schönheit und Leidenschaft vor Augen, und eine unsichtbare Scheidewand steht zwischen ihm und ihr. Aber statt von neuem zu suchen, harrt er aus in den Fesseln, die ihn bedrücken. Er ist eben empfindsamer und ritterlicher als sonst die Männer. Sein Herz erkennt die Forderungen seines Verstandes nicht an.

[236] Daß mich Rosette einmal geliebt hat und mich jetzt noch über alles liebt, davon weiß er nichts. Kurz und gut, er fürchtet ihr weh zu tun, wenn er ihr merken lassen wollte, daß er sie nicht mehr liebt. Aus so edler Regung opfert er sich.

Mein Gesicht hat es ihm angetan. Er hält merkwürdig viel auf das Äußere des Menschen. Trotz meiner Männertracht und meines fürchterlichen Degens hat er sich in mich verliebt.

Offen gestanden, ich empfand Hochachtung vor ihm, weil er mein Geschlecht sofort herausfühlte. Anfangs glaubte er aber selber nicht recht an seine Ahnung, sondern quälte sich mit tausend Zweifeln, was mich insgeheim höchlichst belustigte. Einen Mann zu lieben, dünkte ihn die größte Verworfenheit. Die so natürliche Neigung, die ihn zu mir trieb, erschien ihm wie Teufelswerk, dem er allen nur möglichen Widerstand leisten müsse. Aus diesem Grunde zwang er sich in die alte Liebe zu Rosette. Umsonst. Sein Begehren nach mir entflammte nur noch heißer. Da kam ihm urplötzlich der Gedanke, ich könne ein Weib sein. Er suchte sich zu überzeugen und begann mich genau zu beobachten und eingehend zu studieren. Ich glaube, er kennt jedes einzelne Haar auf meinen Schläfen, jede einzelne Wimper an meinen Lidern. Alles an mir ist von ihm geprüft, verglichen, zergliedert worden: Hände, Füße, Wangen, Hals, Lippen usw.

Das Ergebnis dieser Untersuchung, bei der den Liebenden der Künstler unterstützte, lautete: »Es ist sonnenklar, daß ich ein Weib vor mir habe, und mehr noch: mein Traumbild, mein Schönheitsideal!«

So etwas muß eine wunderbare Entdeckung sein.

Nun brauchte er mich bloß noch zu betören und seinen Liebeslohn zu erbitten, dann konnte er mein Geschlecht einwandslos feststellen.

Es sollte irgend ein Theaterstück aufgeführt werden. Ich nahm [237] eine weibliche Rolle an. Das brachte ihm die Bestätigung. Im Spiel warf ich ihm ein paar bedeutsame Blicke zu und benützte gewisse Stellen meiner Rolle, die unseren Beziehungen ähnelten, um ihn zu ermutigen und zur Erklärung zu bringen. Wenn ich ihn auch nicht leidenschaftlich liebte, so gefiel er mir doch genügend. Ich nahm mir vor, ihn nicht in Sehnsucht verschmachten zu lassen. Da er der erste war, der mich unter meiner Verkleidung erkannt hatte, schien es nur recht und billig, daß ich ihn in diesem wichtigen Punkte aufklärte. Ich war entschlossen, ihn auch nicht im leisesten Zweifel zu belassen.

Zu wiederholten Malen kam er in mein Zimmer, eine Erklärung auf den Lippen. Aber er wagte sie nicht in Worte zu kleiden. Offenbar ist es nicht so einfach, jemandem eine Liebeserklärung zu machen, wenn der weibliche Teil auch Hosen anhat und noch dazu in Reitstiefeln einherstolziert. Da er also keinen Mut hatte, schrieb er mir schließlich einen umständlichen Brief, in dem er mir lang und breit auseinandersetzte, was ich doch viel besser wußte als er selber.

Jetzt weiß ich wirklich nicht, was ich tun soll. Ihn erhören oder abweisen? Letzteres wäre ja äußerst tugendsam. Aber es würde ihm Herzeleid bereiten. Wenn wir denen wehtun, die uns lieben, was sollen wir dann denen zufügen, die uns hassen?

Nach der herkömmlichen Moral wäre es schicklich, noch vier Wochen die Spröde zu spielen und ihn zappeln zu lassen, ehe die Hülle sinkt und der natürliche Mensch erscheint. Aber das fällt mir gar nicht ein. Da ich einmal entschlossen bin, mich ihm zu schenken, so ist es besser sofort als später. Ich habe kein Verständnis für den üblichen mathematisch berechneten Widerstand, der heute einen Finger preisgibt, morgen die Hand, übermorgen den Fuß, dann die Wade, dann das Bein, aber zunächst nur bis zum Strumpfband, und so weiter. Ich will nichts gemein haben mit jenen ungenießbaren Tugendgänsen, [238] die nach dem Klingelzuge stürzen, wenn die amoureuse Attacke einen Zoll die Grenze überschreitet, die auf dem Tagesprogramm steht. Ich lache über die keuschen Frauen, die mit dem gesamten Rüstzeug jungfräulichen Entsetzens wohlbedacht nachgeben und dabei verstohlen über die Schultern blinzeln, ob auch das Sofa, worauf sie fallen wollen, genau hinter ihnen steht. Diese Komödie schenke ich mir.

Ich liebe den Chevalier nicht, wenigstens nicht so, wie ich lieben möchte. Ich finde Gefallen und Geschmack an ihm. Sein Verstand nötigt mir Hochachtung ab. Sein Äußeres ist mir angenehm. Das kann ich nur wenigen Männern nachrühmen. Er hat nicht alles, was er haben könnte, aber vieles. Besonders gefällt mir an ihm, daß er nie brutal ist wie fast alle Männer. Er begehrt das Schöne, wenn auch nur im künstlerischen Sinne. Das ist immerhin genug, um mit ihm in reinen Höhen zu bleiben. Sein Verhalten gegen Rosette beweist inneres Ehrgefühl. Das ist viel rarer und wertvoller als die sogenannte Kavaliersehre.

Und dann will ich Dir gestehen, Graziosa: ich bin die Beute heißester Begierde. Ich verschmachte vor unbefriedigter Wollust. Meine Männertracht verstrickt mich immer wieder in allerhand Abenteuer mit Frauen, schützt mich indessen nur zu gut vor den Angriffen von Männern. Die Wonnen, die mir versagt sind, umgaukeln beständig meine Phantasie. Dieser Liebesträume ohne Fleisch und Blut bin ich überdrüssig.

Viele Frauen im anständigsten Lebenskreise führen ein Dirnendasein. Ich hingegen, die ich inmitten verdorbener Wüstlinge wandle, ich bleibe rein und keusch wie Diana. Ein unberührter Körper im Verein mit einem Geiste, der alles kennt, ist ein elender Zustand. Damit sich mein Fleisch nicht mehr vor meiner entheiligten Seele brüsten kann, soll es auch entweiht werden. Entweiht? Unsinn! Dieses Begehren will genau so [239] gestillt werden wie Hunger und Durst. Mit einem Worte, ich will endlich wissen, was für ein Ding ein Mann eigentlich ist und welche Wonnen er einem Weibe zu gewähren vermag. Und da der Chevalier meine Weiblichkeit trotz meiner Maskerade erspürt hat, so muß er für sein Genie auch belohnt werden. Er soll mir den ersten Liebesunterricht geben.

Es handelt sich nur noch darum, die Gelegenheit fein romantisch herbeizuführen. Ich habe Lust, seinen Brief nicht zu beantworten und ihn ein paar Tage kühl zu behandeln. Wenn er dann recht betrübt und trostlos ist, werde ich ihm unvermutet als Rosalinde erscheinen. Andere Frauenkleider habe ich leider nicht hier. Ich werde in meiner vollen Glorie vor ihn treten und ihm vor die Nase halten, was ich bisher so ängstlich behütet habe. Nichts als loses Spitzengewirr soll meinen Busen bedecken. Und leise werde ich flüstern:

»Idealster und genialster aller Männer! Ich bin wirklich und wahrhaft ein sittsames Jungfräulein, das Dich anbetet und nichts ersehnt, als Dich und mich glücklich zu machen. Bist Du damit einverstanden? Solltest du noch immer an meiner Weiblichkeit zweifeln, so, bitte, greife zu! Habe keine Angst und genieße mich nach Herzenslust!«

Nach dieser trefflichen Ansprache werde ich seufzend in seine Arme sinken, wobei die Spange meines Mieders aufspringen wird, so daß ich mich im sachgemäßen Kostüm befinde, das heißt in Halbnacktheit. Das übrige überlasse ich meinem Ritter. Ich hoffe, am Morgen darauf von all den schönen Dingen Bescheid zu wissen, die mich seit langem beunruhigen. Ich stille meine Neugier und mache obendrein einen braven Menschen glücklich.

Ich habe mir ferner vorgenommen, hinterher im nämlichen Aufzuge Rosetten einen Besuch abzustatten und ihr den Beweis zu geben, daß ich weder aus Gleichgültigkeit noch aus Abneigung [240] ihre Liebe verschmäht habe. Ich möchte nicht, daß sie mich in schlechtem Angedenken behält. Sie verdient genau so gut wie der Chevalier, daß ich meine Maske vor ihr fallen lasse. Was wird sie für ein Gesicht bei der Enthüllung machen? Ihr Stolz wird aufatmen, aber ihre Liebe wird weinen. Lebe wohl, Liebste, Beste! Gebe der Himmel, daß mich die Liebeslust nicht ebenso gleichgültig läßt wie ihre Spender! Mein langer Brief ist voll Übermut und Leichtsinn, aber ich gehe einem ernsten Tage entgegen, der dem Rest meines Daseins seine Farbe aufdrücken wird.

17. Magdalena

[241] XVII
Magdalena

Schon mehr als vierzehn Tage waren vergangen, seit der Chevalier seinen Liebesbrief auf Theodors Tisch gelegt hatte. Aber offenbar hatte das Schreiben nicht den geringsten Einfluß auf den Empfänger gemacht, und d'Albert vermochte sich dieses Schweigen nicht zu erklären. Sollte Theodor den Brief nicht gelesen haben? War er verloren gegangen oder in falsche Hände geraten? Kaum anzunehmen, da Theodor sein Zimmer unmittelbar nach dem Weggange des Chevaliers betreten hatte! Und unmöglich konnte er den auffällig mitten auf dem sonst leeren Tisch liegenden großen Brief übersehen haben.

Also war Theodor doch ein Mann und kein Weib? Oder wenn letzteres der Fall wäre, dann hegte er wohl eine so starke Abneigung gegen ihn und war so sehr hochmütig, daß er ihn nicht einmal einer Antwort würdigte?

Der arme Chevalier wagte alle diese Fragen weder mit Ja noch mit Nein zu beantworten. Traurig verblieb er in qualvoller Ungewißheit.

Eines Abends stand er schwermütig am Fenster, die Stirn gegen die Scheibe gedrückt. Er starrte auf die Kastanienbäume im Park, ohne sie zu sehen. Sie waren bis auf ein paar letzte gelbe Blätter schon kahl. Die weite Ferne über den Wipfeln war [242] von Nebel verhüllt. Die schwarze Nacht schlich heran und kroch still in die Zweige. Der Fluß dampfte. Auf seiner Flut glitt ein Schwan dahin, der von Zeit zu Zeit seinen langen Hals wollüstig in die Tiefe tauchte. Sein Weiß leuchtete wie ein Schneefleck. Er war das einzige Lebende in der todtraurigen Landschaft.

In düstere Grübelei verloren stand der Chevalier da. Die Dämmerstunde, der Nebel, der Herbst, das Windesheulen und die nackten Baumkronen stimmten ihn weltmüde.

Sterbensgedanken überkamen ihn. Der Fluß drüben, das dunkle Wasser ... Dann wieder fühlte er etwas wie Verlangen nach Sinnenlust ... Sollte er sich eine neue Geliebte suchen? Oder gleich zwei auf einmal? Welch unsinniger Einfall! Er kannte nicht eine, die ihn gereizt hätte, nicht einmal eine, die ihn nicht reizte. Soll ich eine Liebelei mit einer Dame anfangen? Ach, war er nicht froh gewesen, sie allesamt los zu sein? Hatte er sie ehedem nicht manchmal durch seinen Diener an der Tür abweisen lassen?

Endlich beschloß er, einen zweiten Brief zu schreiben. Bis zu solcher Torheit war er gerade in seinem Hin- und Herdenken gekommen, da fühlte er eine weiche Hand auf seiner Schulter.

Es war Theodor-Rosalinde oder vielmehr Magdalene Maupin, um sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Der Einsame hätte sich das nicht träumen lassen. Er war so überrascht, daß er laut ausrief: »Oh!«

Magdalene, leibhaftig, schön und sonnig, ihre Perlenschnuren im Haar, in schimmernder Seide, einen kostbaren Fächer aus Pfauenfedern in der Hand, sah ganz so aus wie am Tage des Theaterspiels. Nur ein Unterschied von Bedeutung war an ihr zu bemerken: Hals und Busen waren unverhüllt. Keine Spitzen, keine Schleier. Der tiefe Kleidausschnitt zeigte die Brust, köstlich schimmernd wie aus antikem Marmor.

[243] Der Chevalier erholte sich bei diesem Anblick sehr rasch. Willig überließ er sich andern, losen lüsternen Regungen.

Lieblich lächelnd fragte Magdalene:

»Orlando, kennst du deine Rosalinde nicht mehr? Sind Liebe und Romantik im düsteren Ardennerwalde zurückgeblieben? Ist mein Orlando des Leides genesen, das ihm zu lindern er mich flehentlich gebeten? Es scheint mir beinahe so!«

»Nein, nein, Rosalinde! Mein Leid ist schlimmer denn je! Ich war eben dem Tode nahe!«

»So! Ich finde, Sie sehen trotz Ihres nahen Todes sehr gut aus! Gesünder als so mancher, der nicht ans Sterben denkt!«

Der Verliebte streichelte ihr die Hände.

»Ach, Rosalinde, was habe ich in diesen acht Tagen leiden müssen! Sie vermögen sich das nicht vorzustellen. Tausend Jahre Fegefeuer können nicht schlimmer sein! Darf ich fragen, warum die Antwort so spät kommt?«

»Warum? Weiß ich das? Einfach: darum! Ist Ihnen diese Begründung nicht ausreichend, so will ich Ihnen drei weitere zur Auswahl aufzählen. Erstens, weil vor lauter Leidenschaft Ihre Handschrift ganz undeutlich geworden ist. Ich habe acht volle Tage gebraucht, um Ihr Gekritzel einigermaßen zu entziffern. Zweitens, weil ich mich in meiner Keuschheit erst langsam daran gewöhnen mußte, einen Poeten zum Liebsten zu bekommen. Und drittens, weil ich erst einmal sehen wollte, ob er sich erschießen, vergiften oder an seinem Strumpfbande aufknüpfen würde. Das wars! Wählen Sie sich das Passende, Verehrtester!«

»Grausame Spötterin! Gut, daß Sie endlich gekommen sind. Morgen hätten Sie mich vielleicht schon nicht mehr hienieden gefunden!«

»Wirklich? Armer Junge! Nun machen Sie aber kein so untröstliches Gesicht mehr! Am Ende steckt mich Ihre Trübsal [244] an, und dann käme ich mir dümmer vor als alle Passagiere der Arche Noah miteinander! Empfindsamkeiten bekommen Ihnen offenbar nicht. Wie wäre es mit drei schönen Küssen? Sie müssen aber die drei eben angegebenen schlechten Gründe gänzlich vergessen! Das ist Bedingung. Schließlich bin ich Ihnen soviel – und noch mehr schon schuldig ...«

Sie legte ihm ihre bloßen Arme um den Hals. Der Chevalier zog sie an sich und küsste ihr berauscht die Wangen und dann den Mund; diesen mit einem endlosen Kuß.

Nach Tilgung ihrer Schuld setzte sie sich auf des Chevaliers Knie und streichelte ihm leis das Haar.

»All meine Grausamkeit ist hin, Geliebtester! Die letzten vierzehn Tage sollten ihr Genüge tun. Ich gestehe, die Zeit ist mir selbst lang vorgekommen. Werde mir aber nicht eingebildet, weil ich so offenherzig bin! Ich muß die Wahrheit sagen. Ich gebe mich in deine Hände. Räche dich für meine vergangene Unnahbarkeit! Wenn ich dich für einen beschränkten Kopf hielte, würde ich dir weder dies noch sonst etwas sagen. Ich mag dumme Menschen nicht.«

»Es wäre mir ein leichtes gewesen, dir einzureden, daß ich über deine Keckheit unsagbar empört sei und daß mich deine verliebtesten Seufzer und deine schönsten Reden nicht dazu brächten, dir das zu verzeihen, was mich im Grunde beglückt. Nach dem Beispiel der andern hätte ich dich lange hinhalten und dir dann in Raten gewähren können, was ich dir gern auf einmal schenken will. Ich glaube nicht, daß du mich darum auch nur um einen Deut mehr lieb gehabt hättest. Ich verlange weder von dir den üblichen Schwur ewiger Liebe noch übertriebene Verehrung. Liebe mich, solange es dir gefällt! Ich werde desgleichen tun. Wenn deine Liebe verlischt, so werde ich dich nicht treulos und gemein schelten. Und du wirst die Güte haben, mir die entsprechenden häßlichen Worte auch nicht[245] beizulegen, wenn es mir gefällt, dich wieder zu verlassen. Ich will dann einfach eine Frau sein, die dich zu lieben aufgehört hat. Nichts weiter. Es ist durchaus nicht notwendig, daß man sich ein Leben lang haßt, weil man ein oder zwei Nächte miteinander geschlafen hat. Komme was will, und wo ich auch immer weilen mag, ich verspreche dir, und dies mein Versprechen werde ich halten: dir immer ein gutes Angedenken zu bewahren und, wenn ich nicht mehr deine Geliebte bin, deine Freundin zu sein, wie ich vordem dein Kamerad gewesen!«

»Heute Nacht habe ich vor dir meine Männertracht abgelegt. Morgen werde ich sie vor der Welt wieder tragen. Vergiß nicht, daß ich nur für die Nacht Rosalinde bin. Am Tage bin ich Theodor von Serannes und nichts andres!« Was sie weiter sagen wollte, erstickte in den zahllosen Küssen des Chevaliers. Aber je zärtlicher und ungestümer er ward, desto nachdenklicher und leidenschaftsloser sah Magdalene aus. Er bemerkte es und ward unruhig darüber. Warum lachte und strahlte sie nicht?

Er fragte sie:

»Süße Herrin, was schaust du so keusch und unnahbar aus wie eine Diana, wo du der den Fluten des Meeres lächelnd entsteigenden Aphrodite gleichen solltest?«

»Weil ich Diana, der Jägerin, ähnlicher bin denn sonst wem. Ich trage mit Vorliebe Männerkleider, aus Gründen, die dir aufzuzählen langweilig wäre. Du bist der einzige, der mein weibliches Geschlecht erraten hat. Wenn ich vordem Eroberungen machte, war es immer bei Frauen. Unnütze Siege, die mich nur in Verlegenheiten gebracht haben! Mit einem Worte, so lächerlich und unglaublich es klingen mag: ich bin unberührt. Unberührt wie der Schnee auf dem Gipfel des Himalaya, wie Luna, ehe sie bei Endymion schlief, wie die Jungfrau Maria, ehe der Heiligegeist über sie kam! Ich bin sehr ernstgestimmt, [246] wie das jeder Mensch vor einer Tat ist, die hinterher nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann. Ich stehe vor einer Umwandlung. Ich soll den Namen Mädchen verlieren und soll Frau werden. Morgen werde ich nicht mehr geben können, was ich gestern noch besaß. Das wichtigste Blatt im Buche meines Lebens soll beschrieben werden. Darum, mein Lieber, sehe ich so versonnen aus! Du bist nicht schuld daran.«

Nach dieser etwas langen Rede drückte sie ihre Lippen auf des Geliebten Stirn. Er erfaßte ihre Hände, wundersam bewegt, und küßte andächtig ihre Hände, jeden Finger einzeln. Behutsam heftelte er ihr sodann das Kleid auf.

Sie ließ ihn willfährig gewähren und versuchte zärtlich zu sein. Ihre schneeweißen Brüste wurden frei. Der Chevalier küßte die beiden Paradiesrosenknospen.

»Du findest mich gewiß höchst kalt und linkisch, mein armer Junge. Aber ich weiß wirklich nicht, wie man sich dabei anstellt. Es ist keine leichte Mühe, mich zu unterrichten, sondern gewiß etwas recht Mühseliges.«

Der Chevalier sagte nichts, sondern zog sie noch verliebter in seine Arme und küßte ihr die nackten Schultern. Magdalene ward halb ohnmächtig. Ihr Haar löste sich zu braunen Wellen, und wie auf Zaubergebot glitt ihr Kleid zu Boden.

Sie stand in ihrem dünnen Batisthemd da, wie eine Märchengestalt. Der Chevalier kniete vor ihr nieder und zog ihr Schuh und Strümpfe aus. Von selbst fiel das Hemd von den Schultern, von keiner Hand gehalten.

Geblendet schaute er auf die nackte Schönheit, die sich ihm im milden Lampenschimmer offenbarte. Er war seiner Sinne nicht mehr mächtig.

»Ich friere,« flüsterte Magdalene und kreuzte die Arme über ihren Brüsten.

»Nur einen Augenblick noch!« bat er.

[247] Sie ließ die Hände wieder sinken und bog sich selbstgefällig ein wenig nach der einen Seite, so daß sich die Hüftlinie der andern Seite straffte. Sie sah noch immer marmorkalt aus. Nicht einmal ihre zartrosigen Wangen gewannen Glut, Nur das Herz klopfte ihr etwas rascher denn sonst, und ihr linker Busen zitterte leise.

Der schönheitsdurstige junge Mann konnte sich nicht satt sehen. Er erlebte das Glück des Einmal-nicht-enttäuscht-sein. Die Wirklichkeit übertraf seine Träume.

Alles einte sich in dem schönen Körper da vor ihm: Grazie und Kraft, Farbe und Form, Linie und Nuance. Das Meisterwerk eines Praxiteles in Tizians Farbenfülle! Leibhaft und nahe stand mit einem Male das hehre Traumbild vor ihm, das ihm immer zerflossen und verronnen war, wenn er danach hatte greifen wollen.

Als seine Künstleraugen befriedigt waren, ward er sich der Verliebtheit seiner anderen Sinne bewußt. Er nahm die schöne Eva und trug sie ins Bett. Alsbald war auch er nackt und neben ihr. Magdalene drückte ihn an ihr Herz und schlang ihre kühlen Arme um ihn. Diese Kälte verdoppelte des Verliebten Glut.


Magdalene war nun Wisserin des dunklen Geheimnisses, das sie einst so beunruhigt hatte. Eine gründliche Wisserin. Der Chevalier ließ sie die ganze Nacht nicht aus seinen Armen.

Sie hatte vorzügliche Anlagen zur Liebeskünstlerin, und so lernte sie in dieser einzigen Nacht ungeheuer viel. Ihre körperliche Unerfahrenheit, die über alles staunte, und ihre Lebensanschauung, die sich über nichts wunderte, verliehen ihr einen pikanten Reiz. Der Chevalier war entzückt, berauscht, im siebenten Himmel.

Nach tausend Küssen und Liebkosungen, Zärtlichkeiten und [248] Liebesspielen sank er gegen Morgen am Busen seiner Geliebten, ohne daß er es wollte, in tiefen Schlaf.

Magdalene betrachtete ihn versonnen und voller Schwermut. Und als das weiße Licht der Frühe durch die Vorhänge drang, schob sie den Schläfer behutsam beiseite und sprang leichtfüßig über ihn hinweg. Rasch kleidete sie sich an. Darnach trat sie noch einmal an das Bett, beugte sich über den Geliebten und küßte ihn auf die schlummernden Augen. Noch immer den Blick auf ihm, verließ sie leise das Gemach.

Sie kehrte nicht in ihr Zimmer zurück, sondern trat bei Rosette ein und legte sich zu ihr ins Bett.

Erst gegen Mittag verließ sie Rosette wieder.

Theodor erschien weder zum Diner noch zum Nachtmahl. Weder d'Albert noch Rosette wunderten sich darüber.

Nachdem Theodor zeitig schlafen gegangen war, sattelte er beim Morgengrauen sein Pferd und das seines Pagen.

Einem Lakaien übertrug er die Mitteilung, man solle zu Tisch nicht auf ihn warten. Er käme sobald nicht wieder.

Dann ritten die beiden zum Tore hinaus.

Weder d'Albert noch Rosette vermochten sich den Grund dieses rätselhaften Verschwindens zu erklären; besonders der Chevalier nicht, der nach seinen Heldentaten in der ersten Nacht ein Anrecht auf eine zweite zu haben vermeinte.

Gegen Ende der Woche traf folgender Brief Theodors ein:


Mein lieber Chevalier,


zweifellos sind Sie nach dem Vorangegangenen sehr erstaunt über meine Tat. Ich gestehe Ihnen, daß Sie Anlaß dazu haben. Wollen wir wetten, daß Sie mir schon mindestens ein Dutzend jener Beinamen gegeben haben, die vertragsmäßig nicht in [249] unserm gemeinsamen Wortschatze stehen sollen, als da sind: Treulose! Wankelmütige! Verräterin!

Ist es nicht so?

Freuen Sie sich über Eines! Sie können mich wenigstens nicht grausam oder prüde schelten.

Sie verwünschen mich, aber damit tun Sie mir Unrecht. Sie haben mich begehrt und geliebt. Ich war die Königin Ihrer Träume. Schön! Daraufhin gewährte ich Ihnen unverzüglich, was Sie begehrten. Sie hätten es auch früher haben können. Das lag lediglich an Ihnen. Ich verlieh Ihrer Traumgestalt auf die gefälligste Weise die Körperlichkeit. Ich schenkte Ihnen, was ganz gewiß keiner je wieder von mir bekommt. Das war etwas, auf das Sie gar nicht einmal gefaßt waren. Sie sollten mir dafür umso dankbarer sein!

Nun ich Sie befriedigt, gefällt es mir, von dannen zu gehen. Was ist dabei so Ungeheuerliches?

Sie haben mich eine volle Nacht ohne Zwang und ohne Grenzen besessen. Was wollen Sie mehr? Eine zweite Nacht? Und dann eine dritte? Vielleicht würden Sie sich auch bisweilen die Tage zunutze machen. Und das ginge so fort, bis Sie eines schönen Morgens meiner überdrüssig wären.

Ich höre im Geiste, wie Sie sich gegen diese Prophezeiung auf das Galanteste verwahren. Sie beteuern mir, mich könne man gar nicht satt kriegen. Du lieber Gott, mich genau so wie jede andre!

Vielleicht erst nach einem halben Jahre, nach zwei, drei, meinetwegen nach zehn Jahren. Aber unabwendbar einmal doch. Dann behielten Sie mich aus Rücksicht und Anstand, oder weil Ihnen der Mut fehlte, mir den Laufpaß zu geben. Wozu sollen wir es soweit kommen lassen?

Oder ich wäre es, die zuerst aufhörte zu lieben!

Ich habe Sie entzückend gefunden. Durch den täglichen Verkehr könnten Sie mir unausstehlich werden. Verzeihen Sie mir, [250] daß ich die Möglichkeit annehme! Wenn ich in engster Vertrautheit mit Ihnen lebte, hätte ich zweifellos die Gelegenheit, Sie in wer weiß welcher spießbürgerlichen oder banalen Situation zu sehen. Dann müßten Sie vor mir den geheimnisvollen romantischen Reiz verlieren, der mich verführt hat. Wenn ich Ihr Wesen immer besser kennen lernte, dann hätte es am Ende nichts Rätselhaftes mehr. Wenn ich Sie immer um mich hätte, würde ich mich weniger und weniger mit Ihnen beschäftigen. Ich würde körperliche Mängel an Ihnen finden oder Schwächen an Geist und Gemüt; oder Nachlässigkeit in Ihrer Kleidung. Tausenderlei Enttäuschungen würden mir Leid verursachen, und zu guter Letzt käme ich zu der Einsicht, daß Sie weder Herzensgüte noch Seelengröße hätten, und daß ich eine Liebeseinsame sei.

Sie beten mich an und ich Sie! Sie können mir nicht den leisesten Vorwurf machen, und ich habe nicht die geringste Ursache, über Sie zu klagen. Während der ganzen Zeit unsrer Liebe war ich Ihnen unverbrüchlich treu. Ich habe Ihnen nichts vorgetäuscht. Meine Empfindungen waren ebenso echt wie mein Busen. Sie haben mir das sehr liebenswürdige Geständnis gemacht, ich sei noch schöner als Sie sichs erträumt.

Ich gab Ihnen Schönheit, Sie mir Wonnen. Wir sind quitt. Ich gehe meinen Weg, Sie den Ihren. Vielleicht treffen wir uns hunderttausend Meilen fern von hier zufällig einmal wieder. Leben Sie in dieser Hoffnung!

Vielleicht denken Sie, ich liebte Sie nicht, weil ich von Ihnen lasse. Der Tag wird kommen, wo Sie die tiefe Wahrheit meiner Erkenntnis einsehen. Wären Sie mir weniger wert, so bliebe ich und ließe Sie den Trank schlürfen, bis er Ihnen fad und schal schmeckte. Ihre Liebe würde versiechen und vergehen. Und dann kämen Trennung und Vergessen. Beim zufälligen Wiederlesen meines Namens auf der Liste Ihrer Eroberungen [251] würden Sie sich zerstreut fragen: Zum Teufel, wer war die doch gleich? – So aber weiß ich zu meinem Stolze, daß Sie sich meiner lebhafter entsinnen werden als sonst irgendeiner anderen. In ungestilltem Begehren werden Sie nach mir dürsten. Ich werde immer ein Ziel Ihrer Sehnsucht bleiben, eine der fernen Visionen, zu denen Sie immer wieder auf den Schwingen Ihrer Phantasie fliegen. Und ich hoffe, Sie werden sich in den Betten der Frauen, die Sie nach mir lieben werden, zuweilen der einen einzigen Nacht erinnern, die Sie mit mir verlebt haben.

Diese glückliche Nacht hat Sie auf die Höhe Ihrer Liebesfähigkeit gebracht. Nie wieder werden Sie der sein, der Sie da waren. Und wenn Sie es wären, so wäre es nicht darüber hinaus. Und es ist in der Liebe wie in der Kunst: Stillstand ist Rückgang.

Sie haben es denen sehr schwer gemacht, an die ich mich nach Ihnen verschenken könnte. Aber wer weiß, ob ich dies tue? Keiner wird die Kraft besitzen, die Erinnerung an Sie auszulöschen.

Wenn Sie über meinen Verlust untröstlich sein sollten, so verbrennen Sie diesen Brief. Es ist der einzige Beweis dafür, daß ich die Ihre gewesen bin. Dann können Sie glauben, einen holden Traum geträumt zu haben. Eine Fee ist Ihnen beim Morgenrot entschwunden, just zur Stunde, da die Traumgestalten wieder nach ihrer Heimat zu entschweben pflegen. Wieviele weniger Glückliche denn Sie sind in den Tod gegangen, ohne ihr zur Wirklichkeit gewordenes Ideal auch nur ein einziges Mal geküßt zu haben!

Ich bin weder launisch noch toll noch zimperlich. Ich weiß genau, was ich will. Ich habe Sie nicht verlassen, um Sie von neuem verliebt in mich zu machen. Solche Koketterie ist mir fremd. Versuchen Sie gar nicht erst, mich zu verfolgen und mich wiederfinden zu wollen. Es wird Ihnen nicht gelingen. [252] Ich habe alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um die Spur zu tilgen.

Sie bleiben für mich auf immerdar der Mensch, der mir eine neue Welt des Seins erschlossen hat! Das vergißt eine Frau nicht so leicht. Und wenn ich Ihnen auch fern bin, so werde ich doch viel an Sie denken; mehr, als wenn wir zusammen geblieben wären.

Trösten Sie die arme Rosette, so gut Sie das im Stande sind! Sie wird über meine Flucht mindestens ebenso betrübt sein wie Sie. Liebt Euch beide innigst im Gedanken an mich, die Ihr beide mich geliebt habt, und flüstert Euch im Kusse zuweilen meinen Namen zu:


MAGDALENA.

[253] Abbildungen

Kap. 2, Abbildung zwischen S. 28 und 29
Kap. 2, Abbildung zwischen S. 28 und 29
Kap. 3, Abbildung zwischen S. 50 und 51
Kap. 3, Abbildung zwischen S. 50 und 51
Kap. 4, Abbildung zwischen S. 72 und 73
Kap. 4, Abbildung zwischen S. 72 und 73
Kap. 7, Abbildung zwischen S. 104 und 105
Kap. 7, Abbildung zwischen S. 104 und 105
Kap. 10, Abbildung zwischen S. 140 und 141
Kap. 10, Abbildung zwischen S. 140 und 141
Kap. 10, Abbildung zwischen S. 144 und 145
Kap. 10, Abbildung zwischen S. 144 und 145
Kap. 12, Abbildung zwischen S. 166 und 167
Kap. 12, Abbildung zwischen S. 166 und 167
Kap. 12, Abbildung zwischen S. 182 und 183
Kap. 12, Abbildung zwischen S. 182 und 183
Kap. 14, Abbildung zwischen S. 208 und 209
Kap. 14, Abbildung zwischen S. 208 und 209
Kap. 14, Abbildung zwischen S. 216 und 217
Kap. 14, Abbildung zwischen S. 216 und 217
Kap. 15, Abbildung zwischen S. 230 und 231
Kap. 15, Abbildung zwischen S. 230 und 231
Kap. 17, Abbildung zwischen S. 248 und 249
Kap. 17, Abbildung zwischen S. 248 und 249
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TextGrid Repository (2012). Gautier, Théophile. Roman. Mademoiselle de Maupin. Mademoiselle de Maupin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B644-2