[36] Die Nymphe Dianens

Ich ging einsam durch die Schatten des idalischen Hayns, den Lustwald der Diane, die hier oft das erschrockne Wild verfolgt, und es auch itzt verfolgte. In weiter Ferne tönten die frohen Jagdhörner dumpfigt zu mir herüber; und schnell sah ich vor mir auf spitzigen Klippen eine der Nymphen hinter einem Gemse daher fliegen, itzt in graunvoller Tiefe von ihm entfernt, itzt, von ihrem Pfeile begleitet, dicht hinter ihm; und es stürzte hinab in die Thäler zu meinen Füßen, das blutende stolze Thier, und auch die Nymphe stand vor mir da.


Wild schoß ihr reizend Aug umher,
Sah den erlegten Raub nicht mehr,
Sah mich nur! ihre Haare flogen
Um Hals und Stirn und Brust; sie stand
So ernst, wie Juno, da! in ihrer rechten Hand
Schwung sie den kühnen Pfeil; die linke trug den Bogen.

[37] Ich zitterte, da ich die schöne Grausame sah, und blickte furchtsam nieder: denn ich fürchtete sie durch ein freyes Auge zu beleidigen, so lang ich den Pfeil in ihrer Hand wahrnahm. Endlich redte ich sie an: Zürne nicht, schönste Nymphe, daß ich so schüchtern dastehe. Ich Unerfahrner bin aus den Staaten der Göttinn Cythere, und habe nie ein drohendes Mädchenauge, noch Bogen und Pfeil in der Hand einer Schönen gesehen. Bey uns zürnt nie eine Schöne; oder wenn sie zürnt:


So ists ein Frühlingstag, der durch ein Wölkchen lacht:
Ihr Mund, zum Kuß so sanft gemacht,
Weis nur zu seufzen, nicht zu dräuen,
Und droht er ja, es plötzlich zu bereuen.

Daher sind keine Mädchen glücklicher, als die Mädchen der Göttinn Cythere. Es ist unglaublich, schöne Nymphe, was für Freuden der Kuß eines Jünglings in ihrem Busen erweckt.


Nenn auf der Welt mir eine Lust:
Durch Küsse zaubr' ich sie in eine schöne Brust.

Deine Brust ist unvergleichlich, o Nymphe! – Ich sprachs, und gleich lächelte die furchtbare [38] Nymphe; ein Seufzer hob ihre schöne Brust; sanft drohte sie, und bereute plötzlich den drohenden Blick. Küsse mich auch, Jüngling, sagte sie, indem sie sich unter eine Fichte setzte; und ich küßte sie, und drückte sie an meinen Busen. Ach! da kam Diana. Wer ist dieser Jüngling, rief die trotzige Göttinn? Es ist Amor, antwortete die schlaue Nymphe: ich habe ihn hier gefangen, als er muthwillig hinter dem Wilde jagte. Seine Flügel habe ich ihm abgeschnitten, und seinen Köcher ins Meer geworfen: soll ich ihn vom Felsen ins Meer stürzen? – Nein, sprach die Göttinn, nimm ihn mit in deine Grotte, und binde ihn; wenn ich diesen Abend von der Jagd zurückkomme, so will ich ihn seiner Mutter zuschicken, daß er die Nymphen nicht verwunde. – Und nun, ihr Liebesgötter, richtet Tropäen dem mächtigen Sieger auf, der eine von Dianens Nymphen bezwang!

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TextGrid Repository (2012). Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von. Gedichte. Tändeleyen. Tändeleyen. Die Nymphe Dianens. Die Nymphe Dianens. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D4E3-C