[94] Der Herbstmorgen

Die frühe Morgensonne flimmerte schon hinter dem Berg herauf, und verkündigte den schönsten Herbsttag, als Micon ans Gitterfenster seiner Hütte trat. Schon glänzte die Sonne durch das purpurgestreifte, grün und gelb gemischete Reblaub, das, von sanften Morgenwinden bewegt, am Fenster sich wölbte. Hell war der Himmel, Nebel lag wie ein See im Thal, und die höhesten Hügel standen, Inseln gleich, draus empor, mit ihren rauchenden Hütten, und ihrem bunten herbstlichen Schmuck, im Sonnenglanz; gelb und purpurn, wenige noch grün, standen die Bäume, mit reifen Früchten überhangen, im schönsten Gemische. In frohem Entzücken übersah er die weit ausgebreitete Gegend, hörte das frohe Gebrüll der Heerden, und die Flöten der Hirten, nah und fern, und den Gesang der muntern Vögel, die bald hoch in heller Luft sich jagten, bald tiefer im Nebel des Thals sich verloren. Staunend stand er lange so; aber in frommer Begeistrung nahm er izt die Leyer von der Wand, und sang:

Möcht ich, ihr Götter! Möcht ich mein Entzücken, meinen Dank euch würdig singen. Alles, alles glänzt in reifer Schönheit, alles überströmt in vollem Segen; Anmuth herrschet überall und Freude, und von Bäumen und vom Weinstock lächelt des Jahres Segen. Schön, schön ist die ganze Gegend, in des Herbstes feyerlichstem Schmucke.

Glücklich ist der, dessen unbeflecktes Gemüth keine begangene Bosheit nagt; der seinen Segen zufrieden genießt, und, wo er kann, Gutes thut. Ihn weckt zur Freude der helle Morgen; der ganze Tag ist ihm voll Wonne, und sanft umfängt die Nacht ihn mit süssem Schlummer. Jede Schönheit, jede Freude, genießt sein frohes Gemüthe; ihn entzückt jede Schönheit des wechselnden Jahres, jeder Segen der Natur.

Aber gedoppelt glücklich ist, der sein Glück mit einer Gattin theilt, die Schönheit und jede Tugend schmückt; einer Gattin, [95] wie du bist, geliebte Daphne! Seit Hymen uns verband, ist jedes Glück mir süsser. Ja, seit Hymen uns verband, war unser Leben wie zwo wohlgestimmte Flöten, die in sanften Tönen das gleiche Lied spielen; kein Mißton stört die süsse Harmonie, und wer es hört wird mit Freud' erfüllt. War je ein Wunsch, den mein Auge verrieth, den du nicht erfülltest? War je eine Freude die ich genoß, die du nicht durch deine Freude versüßest? Hat ein Unmuth je mich bis in deine Arme verfolgt, der nicht, wie ein Frühlingsnebel vor der Sonne, verschwand? Ja, da ich als Braut dich in meine Hütte führte, folgte dir jede Anmuth des Lebens. Zu unsern freundlichen Hausgöttern setzten sie sich, um nimmer von uns zu weichen: Wirthschaftliche Ordnung und Reinlichkeit, und Muth und Freude bey jedem Unternehmen; und alles, was du vollführest, ist von den Göttern gesegnet.

Seit du, o seit du der Segen meiner Hütte bist, seitdem ist mir alles mit gedoppelter Anmuth geschmückt; gesegnet ist meine Hütte; gesegnet meine Heerde, und alles was ich pflanze, und alles was ich sammle. Freudig ist jeden Tages Arbeit; und, komm ich müde zurück unter mein ruhiges Dach, o wie entzücket mich da deine holde Geschäftigkeit mich zu erquiken! Schöner ist mir der Frühling, schöner der Sommer und der Herbst; und, wenn der Winter um unsre Hütte stürmet; dann, beym Feuerheerde, an deiner Seite, unter Geschäften und sanftem Gespräche, fühl ich: ganz die Anmuth häuslicher Sicherheit. Bey dir eingeschlossen mögen Winde wüten, und Schneegestöber die ganze Aussicht rauben: Dann erst fühl ichs, wie du mir alles bist.

Die Fülle meines Glückes seyd ihr, ihr anmuthsvolle Kinder, mit jedem Liebreitz der Mutter geschmückt; was für Segen blüht in euch uns auf! Die erste Silbe, die sie euch stammeln lehrte, wars, mir zu sagen, daß ihr mich liebet. Gesundheit und Freude blühen in euch auf, und sanfte Gefälligkeit herrschet schon in jedem eurer Spiele. Die Freude seyd ihr unsrer Jugend, und euer Glück wird einst des Alters Freude seyn. Wenn ihr, komm ich vom Felde oder von der[96] Heerde zurück, an der Schwelle mit frohem Gewimmel mich ruffet; an meinen Knien hangend, mit kindischer Freude die kleinen Geschenke empfanget, süsse Früchte, oder was ich bey der Wartung der Heerde kleines Feld- oder Gartengeräthe euch schnizte, eure kleine Geschäftigkeit zu üben; o wie erquickt mich dann jede eurer unschuldvollen Freuden! Mit Entzüken eil ich dann, o Daphne, in deine offnen Arme, und mit holder Anmuth küssest du die Thränen meiner Freude von meinen Wangen.

Aber izt kam Daphne, ein anmuthsvolles Kind auf jedem Arm; schön war sie, wie der thaubenezte Morgen, mit Freudenthränen auf den Wangen. O mein Geliebter, so schluchzte sie, o wie bin ich glücklich! Wir kommen, o wir kommen dir zu danken daß du so uns liebst.

Izt schließt er alle drey in seine Arme. Sie redeten nicht, sie empfanden nur ihr ganzes Glück: Und wer sie da gesehen hätte, würde, durch die ganze Seele gerührt, empfunden haben, daß Tugendhafte glücklich sind.

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TextGrid Repository (2012). Gessner, Salomon. Gedichte. Idyllen. Neue Idyllen. Der Herbstmorgen. Der Herbstmorgen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D5E9-7