An seinen ältesten Bruder

Ich schreibe nur, was ich empfinde,
Und dichte, liebster Bruder, nicht.
Wann dieses Lied zu zärtlich spricht,
So rechn' es der Natur zur Sünde.
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Je weiter du entfernet bist,
Je minder dich mein Hertz vergist.
Ein Bootsmann blicket noch mit Zittern
Vom sichern Strand aufs hohe Meer,
Wo ihm der Fluten stürmend Heer,
Bey finstrer Nacht und Ungewittern
Sein schwerbeladnes Schiff umrang,
Am Fels zerschlug, und denn verschlang:
So schauert mir auch mein Gebeine,
Kömmt mir die Kranckheit in den Sinn,
Wovon ich zwar entbunden bin,
Doch die ich einsam noch beweine,
Weil sie des Leibes Marck und Kraft,
Nebst meiner Jugend hingeraft.
Sie kam in Nerven und Gelencke,
Vertrocknete der Adern Blut,
Und trotzte mit vermehrter Wuth
Des Artztes edlen Kräuterträncke.
Ach! rief man bald mitleidig aus,
Erschrick nicht, und bestell dein Haus.
Ich thats, und schwieg in meinen Schmertzen;
Die Gnade stärckte den Verstand;
Doch lag mir noch mein Vaterland,
Nebst meinem Schöpfer, nah am Hertzen,
Und jeder Freund den ich verlohr,
Kam mir in der Verwirrung vor.
Da sah und grüst ich meine Brüder,
Und gläubte, daß ich sie umfieng.
Doch wenn die Phantasie vergieng,
Ach! so verschwanden sie auch wieder;
Dies machte, daß in meinen Schoos
Ein Strom von bittern Zähren flos.
[12]
Sprach man denn, mich vergnügt zu machen,
Sie haben sich vielleicht versteckt,
Und werden, wenn der Morgen weckt,
Dir anmuthsvoll entgegen lachen;
So wacht ich, bis der Morgen kam,
Und fand sie nicht, und schlief für Gram.
Hierauf erhub sich erst mein Leiden,
Weil mirs so denn im Traume schien,
Wie sie im grünen Felde fliehn,
Und sonder Abschied von mir scheiden,
Ja, auf mein wehmuthvolles Flehn
Nicht einmal freundlich rückwärts sehn.
So ward mir jeder Tag zur Wochen,
Und jede Woche wie ein Jahr;
Und was von mir noch übrig war,
War ein Geribbe dürrer Knochen,
Das sonst nichts mehr vom Leben wies,
Als daß es nur noch Athem blies.
Einmahl erwacht ich unzufrieden,
Sas in dem öden Lager auf,
Lies meinen Thränen freyen Lauf,
Und wandt mein Antlitz gegen Süden,
Wo die beglückte Gegend liegt,
Da man mich ehedem gewiegt.
Ach! sprach ich, hier in fremden Mauern,
Wart ich aufs Ende meiner Noth,
Kein Freund erfähret meinen Tod,
Ich Armer! wer wird mich bedauern?
Wer drücket mir die Augen zu?
Wer wünscht mir eine sanfte Ruh?
Gehabt euch wohl, ihr theuern Seelen,
Du, welche mich zur Welt gebahr,
[13]
Du, meiner werthen Brüder Schaar,
Last euch nicht meinen Abschied quälen;
Ich folge meines Vaters Spur,
Der vor mir in die Grube fuhr.
Ja, Vater, zwar die stärcksten Mauern
Zerstört der Zeiten Grausamkeit;
Doch soll dein Nachruhm lange Zeit
Auf deiner Kinder Lippen dauern,
Die du gleich guten Gärtnern zogst,
Und schon als zarte Pflantzen bogst.
Dies wahre Lob, beweinter Schatten,
Nimm noch in deinen Grüften hin,
Und warte bis mein treuer Sinn,
Gebunden in des Himmels Matten,
Aus kindlicher Erkäntlichkeit
Dir ein vollkommner Opfer weiht.
Auch ihr, o weitentlegnen Auen
Der alten Vaterstadt am Rhein,
Lebt wohl, und steht voll Korn und Wein;
Ich werd euch niemahls wiederschauen;
Doch allzeit, wie bisher geschehn,
Für euer Wohl gen Himmel flehn.
Nun liefr' ich meines Leibes Bürde
In Kurtzem in des Todes Hand;
Beglückt! wenn ich in deinem Sand,
Geliebtes Worms, verscharret würde.
Mich dünckt, daß ich noch eins so wohl
Alsdenn im Grabe ruhen soll.
So sprach ich, und sah schon von weiten,
Von dieser Erde jähem Rand,
[14]
Der blassen Schatten stilles Land,
Das grosse Reich der Ewigkeiten:
Geliebtester, da kamest du,
Und mit dir all mein Glück und Ruh – – –

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Götz, Nicolaus. Gedichte. Versuch eines Wormsers in Gedichten. An seinen ältesten Bruder. An seinen ältesten Bruder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E596-9