[181] 4. Das Wasserhuhn.

Das Wasserhuhn. (Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen)

Eine Taube hatte ihr Nest auf einen hohen Baum gemacht, und brütete daselbst ihre Eyer aus. Sobald die Jungen aber flügge waren, kam immer ein Fuchs und drohte ihr, er werde hinauf kommen und sie mit den Jungen aufzehren, wenn sie ihm dieselben nicht gutwillig gäbe. So brachte er sie immer dahin, daß sie ihm ihre Jungen selbst herab warf, damit nur sie selbst sicher seyn könnte.

Einst saß sie auf ihrem Neste, und brütete traurig auf ihren Eyern. Da kam ein Wasserhuhn, welches im nahen Schilfe sein Nest hatte, und sich von dem Samen der [182] Wasserpflanzen und allerley Gewürm nährte. Dieses fragte die Taube, warum sie so traurig wäre, da sie doch ihre Jungen bey sich habe.

»Ach!« antwortete die Taube, »was können mich meine Jungen freuen? Sobald ich sie ausgebrütet habe, kommt ja immer der Fuchs, und droht mir, bis ich sie ihm hinabwerfe.«

Da sprach das Wasserhuhn: »Kennst du den betrügerischen Fuchs noch nicht? Laß ihn nur drohen so viel er will, und behalte deine Jungen. Denn er kann doch sicher nicht auf deinen hohen Baum zu deinem Neste. Laß dich nur nicht von ihm schrecken.«

Das merkte sich die Taube, und als der Fuchs kam, und ihr wieder ihre Jungen abdrohen wollte, sagte sie ganz gelassen: »Ja ja, wenn du Lust hast, mich mit meinen Jungen zu fressen, so komm' nur herauf!« Und so höhnte sie ihn lange. Endlich fragte er sie, wer ihr gerathen habe, es so zu machen. Die Taube sagte es ihm, und zeigte ihm [183] auch die Wohnung des Wasserhuhns, das er gleich aufsuchte, und ein Gespräch mit ihm begann. »Ey!« fragte er, »du bist hier ja dem Winde und Wetter ausgesetzt. Wie machst du es denn, wenn der Wind geht?«

»Wenn der Wind geht?« sagte das Wasserhuhn. »Ey kommt er von der rechten Seite, so wende ich mein Haupt gegen die linke, kommt er von der linken, so wende ich es gegen die rechte Seite.«

»Das ist wohl gut,« sagte der Fuchs, »aber wie machst du's, wenn es von allen Seiten her stürmt?«

»O, auch dann hat's keine Noth,« antwortete das Wasserhuhn, »dann stecke ich meinen Kopf unter den Flügel.«

Da hob der Fuchs an: »O selig seyd ihr Vögel vor allen andern Geschöpfen! ihr flieget zwischen Himmel und Erde, und das so schnell, wie andre Geschöpfe unmöglich laufen können. Und dazu habt ihr noch die Gnade, daß ihr euere Häupter zur Zeit des Sturmes unter den Fittigen verbergen könnt. [184] Das dünkt mir aber beynahe unmöglich. Wie kannst du denn deinen Hals so herum beugen? Wie machst du das wohl? Zeige mir das doch einmahl.«

Das Wasserhuhn wollte es jetzt dem Fuchse zeigen, und steckte seinen Kopf unter den Flügel. Diesen Augenblick hatte der Fuchs erwartet. Er erhaschte jetzt den unvorsichtigen Vogel, und verzehrte ihn, indem er sagte: »Andern hast du rathen können, dir selbst aber nicht!«

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Albert Ludewig. Märchen. Kindermärchen. 7. Kleinere Märchen, Fabeln und Parabeln. 4. Das Wasserhuhn. 4. Das Wasserhuhn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-FE8C-B