[169] [171]Carl Hauptmann
Fasching
Tragikomödie in zwei Vorgängen

[171][173]

Personen

Personen.

    • Meister Tibaldi.

    • Ranke, seine Tochter.

    • Tante Christine.

    • Meister Kropatkin.

    • Diener Hunger.

    • Andere Bedienstete.

1. Vorgang

Erster Vorgang

Ein reich ausgestattetes, weites Atelier des Meister Tibaldi. Diener sind geschäftig, die Staffeleien und mancherlei Malwerk beiseite zu bergen. Einige sehr helle Entwürfe von phantastischen Aufzügen stehen an der Wand. In der Tiefe sind weite Flügeltüren geöffnet, wodurch man in eine Flucht festlich dekorierter, vornehmer Räume hindurchblickt. Auch da sieht man einige Bedienstete geschäftig. Zur Rechten und zur Linken je eine Tür. Alle Türen sind mit schweren Vorhängen versehen. Liegesofa und schwere Stühle stehen herum auf allerlei Pelzwerk. Innerhalb des weiten Raumes etwas tiefer links führt eine Rundtreppe mit Schnitzwerk in ein oberes Gelass.
Ein kleiner, buckliger Diener, Namens.

HUNGER
schreitet selbstbewusst besichtigend aus den tieferen Räumen heran.

Er hat einen leinenen Kittel an und eine blaue Arbeitsschürze vorgebunden. Er ist bis ins Atelier gekommen. Macht nur bloss, dass Ihr hier im Atelier, fertig werdet. Der Meister kommt schon die Treppen herauf.


Zwei Diener sind gerade im Begriff eine grosse Tafel in einen Wandschrank zu schieben.
HUNGER
steht unruhig dabei.

Herr Jesus, da macht doch nur! Meinetwegen [175] könnt Ihr das übrige noch vollends in Ordnung bringen, wenn sich der Herr für den Fasching anzieht ... rasch! ... nur rasch! ... na ja!

MEISTER TIBALDI
ist von rechts hereingetreten.

Er ist ganz achtlos. Er hat eine, beschäftigte, verhärmte Miene, sein bartloses Gesicht ist bleich. In die Diener ist sofort eine Verwandlung zu stummer Devotion gekommen. Sie versuchen auf Zehen zu gehen. Hunger treibt sie verstohlen an.

MEISTER TIBALDI
der in Pelz, Zylinder und mit Schirm und Galoschen eingetreten ist, geht lässigen Schrittes bis zum Tisch wo er unschlüssig dasteht.

Er spricht leise. Schicke die Leute hinaus! Dass wenigstens hier noch Ruhe bleibt ... dass mir wenigstens der Faschingswahnsinn noch diese eine Zuflucht lässt!


Er studiert gleichgültig einige Zettel auf dem Tisch und wirft sie dann beiseite; Die Arbeiter verschwinden in den Nebenraum.
MEISTER TIBALDI.
Zum Teufel ... die Vorhänge zu ... nein nein, zuerst die Tür zu.

Er beginnt mit Kreide auf einen Karton eine Frauensperson zu reissen.

Das sanfte, erstaunte Gesicht mit dem kühlen[176] Blick ... und die schlanke Nase ... und der weite Schleierhut ... der Schleier in grosser Schleife gebunden unter dem Kindskopf.


Er hält es Hunger hin.

Da ... wer ist das?
HUNGER
lacht.
Nun ... das werd ich doch wohl erkennen ... Herr Professor.
MEISTER TIBALDI
zeichnet wieder.
Und die Hand raffte das Falbelkleid genau, wie es meine Tochter tut ... ganz genau so ...

Nun meditierend.

Aber es war doch kein Kind mehr. Es war, doch offenbar eine ganz erwachsene Person ... ja ...

Er zeichnet wieder.

Und dieser Mensch, der gerade um die Ecke verschwand ... diese vornehme Kreatur im dicken Sackmantel ... Wer? ... Wie käme denn nur um Gotteswillen Ranke ...? ... Ist meine Tochter zu Hause? Ist Ranke zu Hause?

[177]
HUNGER
in arglosem Erstaunen.
Das kann doch gar nicht anders ... glaube doch natürlich ganz sicher ...
MEISTER TIBALDI.
Ist meine Tochter zu Hause? ...War meine Tochter zu Hause?
HUNGER
will eilig die Treppe hinauf laufen.
MEISTER TIBALDI
dumpf und hart.
Gott bewahre ... bleibe hier!

Er hat Hut und Schirm hingehalten, und Hunger hilft ihm gleich danach den Pelz abtun. Er ist in Frack mit Ordensband, tritt an den Tisch heran, und durchblickt einige Karten und Zettel.

Du wirst doch nicht das arme, unschuldige Ding stören mit meinem verfluchten Misstraun!

Er schüttelt sich, als ob er fröstelte, geht hin und her.

Na also ...

Er versinnt sich wieder. Dann plötzlich.

Ah! – fort damit! Blödsinn –! Es ist ja doch der reinste Wahnsinn, den es mir jetzt immer vormacht!

Einiges auf dem Tisch nebenbei betrachtend.

Wie ist es? Wer kommt alles?
[178]
HUNGER
selbstgefällig.
Wer sollte denn nicht kommen, gnädiger Herr, wenn bei uns der Fasching ist?
MEISTER TIBALDI.
Kommen die ledigen. Weiber?
HUNGER.
Nun die, erst recht, gnädiger Herr.
MEISTER TIBALDI
sinnt wieder einen Augenblick auf die hingeworfene Skizze.
Ja mein Gott ... Hast du Tantchen ... hast du dem alten gnädigen Fräulein ausdrücklich ...?
HUNGER
sehr vertraulich.

Dem alten, gnädigen Fräulein liegt viel zu sehr selber daran, unser junges Fräulein Tochter in seinen Schutz zu nehmen, wenn bei uns dieser grosse Ball ist. Die alte, fromme Dame hat ja doch einen zu grossen Widerwillen wider den ganzen Fasching ... weil es zu Choralmusik und Kirchgange nicht stimmen kann, solches Maskengetümmel ... sagte das alte, gnädige Fräulein ... und auch überhaupt, weil [179] sehr viele Gefahren dabei wären für einen reinen, keuschen Menschen ...

MEISTER TIBALDI
hat sich verdrossen in einen Lehnstuhl geworfen, ohne zu hören und besieht wieder den Karton.
Für sich redend. Die Hand raffte das Falbelkleid genau wie es meine Tochter tut ...

Er ist plötzlich in grosser Unruhe aufgesprungen und geht erregt hin und her.

Es könnte mich völlig in Raserei versetzen, wenn ich es erleben müsste, dass so irgendeine freche Lebensgier nach dem jungen, geheiligten Leben meiner Tochter Ranke ... heimlich ...

RANKE
ruft von oben, indes die sechzehnjährige sanfte Tochter Tibaldis langsam die Treppe herabkommt.
Ach, Vater! bist du schon da?
MEISTER TIBALDI
ist wie umgewandelt in Freudigkeit und staunt sie an, wie sie Schritt für Schritt die Stufen etwas ängstlich niedersteigt.

Hunger, bepackt mit dem Pelz und Hut des Herrn, geht geräuschlos rückwärts mit dem deutlichen Ausdruck in seiner Haltung, dass er jetzt nicht stören dürfe.

RANKE
geht auf Tibaldi zu und küsst ihn kühl, während er in seinem beglückten Erstaunen verharrt.
Kommst du vom König, Vater?
[180]
MEISTER TIBALDI
hat des Mädchens Kopf jetzt plötzlich in seine Hände genommen und sagt leidenschaftlich.
Meine ... blühende ... reine Ranke!..; mein Kind! ... meine Seligkeit!
RANKE.
Gefallen dem König die Bilder?
MEISTER TIBALDI.
Welche Bilder, Liebchen?
RANKE.
Ist das eine Frage, Vater! Wo du jetzt monatelang nicht Ruhe gefunden! ... Und immer nur ...
MEISTER TIBALDI
ihr ins Wort fallend.

Ja ja ja ... zwischen diesem bunten Farbenkram dich herum getrieben hast! ... Gott, du geliebtes, reines Kindsgemüt! ... Wie glücklich ich bin, dass ich dich leibhaftig vor mir habe, nicht bloss gemalt! ... Findest du es nicht furchtbar lächerlich, dass man als Mann von Geist nichts Besseres tun kann ... immer, [181] nur zwischen solchem Flitterwerk leidenschaftlich hin und her hantiert, das nur Schein und nicht Wesen ist? ... Nicht einmal so wirklich, wie Blumen, die man hier abreisst und dort hinwirft! ... Natürlich gefällt solche Flitterware dem König. Er muss ja auch immer so gleichsam im Fasching leben, wie ich. Es sind überall nur Schatten ohne Leib ... lockende Gebärden ohne Ton und Stimme ... wer es tiefer suchte, der wäre ein Narr ... Ranke ... das Leben, das mehr ist ... das auf Tod und Leben gelebt ist ... das sich lohnt ... das mit dem letzten Herzblut gelebt ist ... das mit der letzten Sehnsucht gelebt ist, davon man noch träumen möchte, wenn man im Grabe endlich ausruht ... ach ... in solche ewige Gaukelbilder kriecht nichts davon hinein ... solche tolle Phantasielust hat eine schwache, zerrissene Seele, wie der Harlekin. Das Letzte, das Heimliche, das Stillende dringt nicht hinein in solchen ewigen, leeren Fasching.


Während dieser Worte hat Ranke nur wie nebenbei zugehört und auf dem Tische etwas neugierig betrachtet.

Nicht doch! Ich will nicht, dass du mir hier herumkramst.
[182]
RANKE.
Warum soll ich mir nur nie ansehn, was du dir ansiehst?
MEISTER TIBALDI
geht unruhig hin und her.
RANKE.

Du willst ja doch ausdrücklich, dass ich immer um dich bin ... und schiltst mich, wenn ich einmal eine Minute länger fortbleibe und mich nicht immer gleich um dich kümmere. Wie du da nur böse sein kannst! ... Na, ich dächte! ... Ich hätte nur jetzt nicht Eier sein sollen ... das hätte doch wieder richtig einen Krach gegeben ... mit Hunger und mit allen Menschen ... Nicht, Vater ...

MEISTER TIBALDI
immer noch in Gedanken hin und her gehend.
RANKE.

Ach Gott, Vater! ... Was hast du nur wieder? ... Warum quälst du mich' gleich wieder, sobald du herein bist? ... Oh Gott, Gott! ... natürlich, wenn Mama noch lebte ...

[183]
MEISTER TIBALDI.

Mama? .... Sprich mir nicht von Mama! ... Dazu bist du noch viel zu unreif ... Du weisst, das dulde ich nicht ... Deine Mutter war ... eine Heilige ... jung wie eine Blüte war sie ... an Mama kannst du still denken ... an Mama will ich und du mit stiller Ehrfurcht denken ... an Mama können wir beide emporblicken


Emphatisch.

Wenn deine Mutter, gelebt hätte, wie sie nicht gelebt hat, dann wäre weiss Gott manches anders geworden in unser beider Leben ... Oh ja ... unbegreiflich schön war sie ... eine Hüterin wäre sie gewesen ... eine sanfte, sichere Hüterin des Schatzes wäre sie wahrhaftig immer gewesen ...

RANKE
ablehnend.
Ich weiss nur zu gut, dass ich mich mit Mamas Schönheit nicht messen kann.
MEISTER TIBALDI.

Nein, das kannst du auch ganz und gar nicht. Es kann sich niemand messen mit Mama. [184] Keusch wie eine Blüte war sie. Sie war damals wie eine stille Schönheit in meine ärmlichen Räume eingezogen ... damals, als ich nichts war ... gar nichts war ... ein junger, flammender Mensch einfach, den es nach dem Höchsten drängte ... oh, eine Hoheit lebte in ihrer Jungfräulichkeit ... eine wunderbare, zitternde Stille ... nach nichts Aeusserem fragte die ... ach, eine Zärtlichkeit der, Liebe ohne Mass ... eine Seele wie ein kristallner Stein, so heimlich funkelnd von ihrer einzigen Hingabe


Mit Emphase.

In ihr lebte das Unverbrüchliche, das nur einmal lebt und nie. abirrt.
RANKE
hat ein paar Schritte der Treppe zu gezögert.
Ich will jetzt gehen, Vater.
MEISTER TIBALDI
zärtlichen, verwandelten Tones.
Bist du mir böse, Ranke?
RANKE.
Ach ... nein worüber sollte ich böse sein, Vater?
[185]
MEISTER
TIBALDI Dass ich nur immer deine Mutter preise, die du gar nicht gekannt hast! .
.. die dich gebar und dann hinstarb!
RANKE
kühl lachend.
Ach ... ja.. Neues weiter ... nun ... das ist ja doch nichts
MEISTER TIBALDI.
Ranke! Wenn sie jetzt herein treten könnte, deine Mutter ...

Er hat Ranke in seine Arme genommen und redet das Folgende im Ueberschwang in ihre Augen hinein.

Liebchen! ... Meine einzige Tochter! ... Mein Kind! ... Meine Jugend! ... Meine Reinheit! ... Meine göttliche Stimme! ... Was würde nur Mütterchen sagen? ... Uns beide in ihre jungen Arme schliessen ... Denn sie würde natürlich fast so jung kommen, wie du bist! ...


Er lacht heiter.

Und würde es wohl sehen ... mit ihren stillen, tiefen, unentrinnbaren Augen würde sie es wohl einsaugen, dass du Blut von ihrem Blute und Seele von ihrer Seele bist ... dass du mein Himmel geworden bist ... meine Huld ... [186] mein einziger Frieden ... die einzige, wahre Gabe meines Lebens. Denk bloss, unser Mutterchen, die in voller Jugend käme ... wie eine Heilige ... in unverwelklicher Reinheit und Keuschheit, wie sie immer gewesen ...


Leicht widerstrebend hat sich Ranke aus ihres Vaters Armen sanft gelöst.
MEISTER TIBALDI.
Warum errötest du, Kind?
RANKE.
Ich ...? ... Vater?
MEISTER TIBALDI.
Bis unter deine blonden Haarwurzeln an der Stirn errötest du.
RANKE.

Weil du mich drückst, wie ein toller, Liebhaber ... und mir fast wehe tust damit und mit deinen inbrünstigen Geständnissen ...


Es hat an der rechten Tür leicht geklopft.
MEISTER TIBALDI.
Ja ja ... nur herein!
[187]
TANTE CHRISTINE
ein graugescheiteltes, leicht gebücktes, sorgfältig und fromm gekleidetes, altes Fräulein, mit sanftem, ehrwürdigem Gesicht, ist etwas asthmatisch eingetreten.
MEISTER TIBALDI.
Ach ... guten Abend, liebe Christine!
RANKE
für sich.
Da kommt natürlich sehr, zur rechten Zeit diese alte, fromme Huzel.
TANTE CHRISTINE.

Elf ... zwölf ... dreizehn ... vierzehn ...! Wieviel Stufen sind es bis zu euch herauf ...? ... die mir immer, sauer genug werden ... auch diese schönen, flachen ....vornehmen Stufen durch euer herrliches Treppenhaus. Guten Abend, Tibaldi, guten Abend, Ranke!

RANKE
steht unschlüssig, ohne jedes Entgegenkommen.
MEISTER TIBALDI.
Nun? ... Willst du nicht Tantchen begrüssen ... Ranke, wie es sich gebührt?
[188]
RANKE.
Warum kommt sie eigentlich jetzt?
MEISTER TIBALDI
gibt Tante Christine einen Wink.
TANTE CHRISTINE.
Nun möchte ich nur wirklich wissen ... Du Unband! ...
RANKE.
Grade jetzt, zwei Stunden vor dem Balle?
MEISTER TIBALDI.
Gehe in dein Zimmer, Ranke! Denn ich habe mit Tantchen etwas Wichtiges zu besprechen.
RANKE.

Da sagt es mir doch wenigstens gleich grade heraus und spielt nicht ewig solches dummes Verstecken mit mir! Ich soll wieder hinaus gebracht werden! Nicht? Die jungen und alten Künstler werden sich in unserm Hause ein Fest machen, und ich soll mit Tante Christine gehen, die mir von Jesus, dem Heiland, und Maria Magdalena und Maria Jakobi vorlesen und fromme Ostergeschichten erzählen soll.

[189]
MEISTER TIBALDI
emphatisch entrüstet.

Herrgott ... Kind ... wenn ich es noch einmal so haben könnte! Gleich ein ganzes Arom sonntäglichen Geistes strömt mit deinen Worten herein! Wenn ich sie mir denke, die beiden, jungen, in sich verklärten Frauen, wie sie zu Jesu Füssen sassen, ... wie sie sich seinem milden! Blick und seinem sanften Gespräch ganz hingaben!

RANKE.
Ach ... ich lasse mir durchaus nicht gern immerfort nur Hirngespinste vormachen.
MEISTER TIBALDI
streng erregt.

Ich bitte dich, Ranke, mache mich nicht nervös! ... Es ist doch weiss Gott besser, sich in solche traumhaft-schöne Vergangenheit zu vertiefen, als in die verwilderten Launenspiele beim Fasching! ... Ranke ... für deine Jugend!

TANTE CHRISTINE.

Ich werde dir sagen, liebes Kind! Es ist ausserordentlich sonderbar von dir, wie du [190] deinen guten Vater und deine alte Tante behandelst. Wenn ich an deine selige, reine Mutter denke ...

RANKE
geht zu Tibaldi hin, zögert und sagt demütig.
Sei nicht böse, Papa! Ich will tun, was du willst.
MEISTER TIBALDI
sie lange stumm betrachtend.
Ranke

Er reicht ihr die Hand.

Hab Dank, mein Kind! ...
RANKE.
Bist du wieder ganz gütig, Papa?

Sie küsst seine Hand.
MEISTER TIBALDI.
Nun sage ich nichts weiter! ... Jetzt weiss ich es wieder, dass du deiner Mutter Tochter bist!
RANKE
unerwartet ausgelassen, während sie schon nach der Treppe geht.
Ich vergebe dir auch, mein liebes, kleines Tantchen!
[191]
TANTE CHRISTINE
ihr nachrufend.

Mach dich nur aus dem Staube, lose Hummel! Und sorge du nur hübsch für die Nacht! Denn du wirst ja doch natürlich die Nacht bei mir drüben bleiben müssen.


Ranke ist die Treppe hinauf verschwunden.
MEISTER TIBALDI
eindringlich, nachdem er Ranke solange liebevoll nachgestarrt hatte, bis sie verschwand.

Jetzt geht sie gern mit dir. Wenn sie erst mit den Augen zwinkt, und ihre feinen Nasenflügel zittern, da ist ihr Herz ganz gewonnen.

TANTE CHRISTINE
drollig wehmütig.
Ja ja ... ach Gott ... du bist auch ein bissel ein Narr, lieber Tibaldi!
MEISTER TIBALDI.
Natürlich ... eben ... ja ... das ist es ja, liebe Christine ...
TANTE CHRISTINE.
Aber ich kenne auch deine Schmerzen ... ich kenne auch deine Sehnsucht.
[192]
MEISTER TIBALDI.

Also ... und sie mögen alle da wider reden ... alle es mir verdenken, dass Ich Ranke wie im Kloster halte ... ich weiss, was ich weiss ... ich kenne die Welt genug ... dazu bin ich selber zu verwahrlost ... Wie, liebe Christine? ... Was die Welt fertigbringt mit einem jeden von uns, das hat schon mancher Erfahren ... ha ... ich brauche bloss in meiner Freunde Augen einmal tiefer hineinzublicken ... in jedem brennt noch das alte, sengende Höllenfeuer, vor dem nie«die keusche Seele sicher ist ...


Er ermannt sich, weil man von oben auf der Treppe Schritte hört, und sagt eindringlich.

Du behütest sie mir, Christine!

Ranke kommt die Treppe, zum Ausgehen bereit, langsam hernieder. Sie iat ein wenig auffällig, sehr geschmackvoll und wie eine Erwachsene gekleidet.
MEISTER TIBALDI
sie drollig anstaunend.

Oh ... pique-fein! ... Nicht, Christine? ... Sie versteht es ... Diesen Hut kenne ich ja noch garnicht.

[193]
RANKE
einen Blick in einen langen Spiegel werfend.
Er ist auch noch ganz neu, Papa. Ich trage ihn heut zum ersten Male. Adieu, Vater.

Sie hält ihm ihre Hand hin, die Meister Tibaldi wie einer grossen Dame küsst.
MEISTER TIBALDI.
Adieu, Christine!
TANTE CHRISTINE.
Adieu, lieber Tibaldi!

Im Abgehen begriffen.
MEISTER TIBALDI.
Hab Dank, Liebchen! Hab Dank, Christine!

Die beiden Damen sind nach rechts verschwunden.
MEISTER TIBALDI
der lange in Gedanken dagestanden hat und wie in sich hinein gelauscht, redet vor sich hin.
Meister Tibaldi!

Er redet jetzt in den grossen Spiegel hinein, indem er seine Gestalt zufällig erblickt.

Armes Phantom ... Mensch der schwankenden Lüste ... Mensch der grauen Alltäglichkeit, der sich seine Leere mit bunten Maskeraden tapeziert ... der nirgend einen Halt [194] hat, als noch in dieses einzigen Weibes Ebenbilde ... in diesem Kinde ... in dieser keuschen Pracht ... in diesem Morgenschein ...


Ohne anzuklopfen ist von den Festräumen her Meister Kropatkin geräuschlos von rückwärts an Tibaldi herangetreten.
MEISTER TIBALDI
streckt seine Rechte, ohne sich im Uebrigen zu rühren, noch umzublicken, Kropatkin nach rückwärts und sagt lachend.
Guten Abend, Freund.
MEISTER KROPATKIN
ihn, achtlos betrachtend.
Was phantasiertest du eben?
MEISTER TIBALDI.
Ich weiss es nicht mehr. Es war wirklich. Aber es gehört nicht hierher.
MEISTER KROPATKIN
sieht sich dann und wann wie suchend und unbefriedigt nach oben um.

Ja ... famos sind deine Räume ausgeschmückt! Ich bin eben als stummer Betrachter vom hintersten Zimmer her einsam durchgegangen. Wie bist du nur da auf den heiligen Hain verfallen? Diese Birkenstämme [195] hereinzuschaffen, das hat doch ein unsinniges Geld gekostet?

MEISTER TIBALDI
ist aus seinem Meditieren noch nicht erwacht.
MEISTER KROPATKIN.
Warum bist du denn schon im Frack?
MEISTER TIBALDI.
Ich kam eben vom König.
MEISTEN KROPATKIN.
Ach, das ist mir jetzt ganz egal. Ich wollte dich ... eigentlich ... fragen ...

Immer wieder zögernd.

Nein, famos ist der heilige Hain ... du ... da stellen wir eine nackte Göttin hinein ... was meinst du? ... Ruth ... deine polnische Königin ... brillant ... mit ihrer Haltung, wenn die Akt steht ... schlank wie ein Blumenstengel ... und der Kopf wie der geknickte Blütenkelch.

MEISTER TIBALDI.
Ja ja ja ja ... wegen was kamst du? ... Suchst du wen?
[196]
MEISTER KROPATKIN.
Wieso? ...
MEISTER TIBALDI.

Ja natürlich ... Ruth ... gewiss ... meine polnische Königin! Mag in dem heiligen Hain als nackte Göttin paradieren, wer will, meinetwegen dein Weib ...

MEISTER KROPATKIN.

Du bist wohl verstimmt?

Meister Tibaldi Jedenfalls doch eine, die für das Nackte à tout prix so begeistert ist, wie dein Weib.

MEISTER KROPATKIN
lacht.
Mensch, was vermöchtest du als Künstler ... du, mit deinem ewigen Eldorado voller Nuditäten ...?
MEISTER TIBALDI.
Ich will mich über diese Frage mit dir nicht weiter unterhalten. Augenblicklich widersteht es mir.
MEISTER KROPATKIN.
Weisst du, Tibaldi, beleidigen kann jeder.
[197]
MEISTER
TIBALDI Herrgott .
.. ich will dich nicht beleidigen.
MEISTER KROPATKIN.
Ja aber, was willst du dann mit deinem Hohne?
MEISTER TIBALDI.
Gar nichts! ...

Er geht beschäftigt hin und her.

Du weisst sehr wohl, dass ich das Nackte ...
MEISTER KROPATKIN
drollig.
Na?
MEISTER TIBALDI.
Anbete!
MEISTER KROPATKIN.
Ja ... weiss Gott!
MEISTER TIBALDI.
Nein nein ... in diesem frivolen Sinne durchaus nicht ... das keusch verhüllte Nackte ...
MEISTER KROPATKIN
lacht.
[198]
MEISTER TIBALDI
sehr feierlich.
Das rein ist und rein bleibt bei seiner Enthüllung ...
MEISTER KROPATKIN.
Rein? ... so?
MEISTER TIBALDI.
Ja ... wenn es der wahre Künstler ...
MEISTER KROPATKIN.
Ha ha ha ... der wahre Künstler ...
MEISTER TIBALDI.
In der Weihe seiner Sinne ...
MEISTER KROPATKIN.
Ha ha ha ...in der Weihe seiner Sinne ...
MEISTER TIBALDI.

Enthüllte. Warum lachst du? – Der Künstler will es darstellen als höchstes, edelstes Lebensmass ... nicht? ... Das hat wahrhaftig nichts zu tun mit eurer billigen Nacktheit, die sich lüstern vor aller Blicken gebärdet ... und die jeder Beliebige mit losen Sinnen betasten kann, [199] wie die Bürgerfrau die Semmel im Marktkorbe betastet, um sie wegzutun und die daneben zu probieren!

MEISTER KROPATKIN.
Sehr gesunde Grundsätze! Gegen was redest du eigentlich? Was hast du, Tibaldi?
MEISTER TIBALDI.
Ach – ich habe in diesem Augenblick einen runden Widerwillen ...
MEISTER KROPATKIN.
Gegen was ...? ... gegen den Fasching?
MEISTER TIBALDI.

Gegen die Kunst ... gegen dich ... gegen alles, was wir betreiben ... anstatt das Mysterium zu hüten! Ich habe nun einmal die Inbrunst im Blute ... ich will das Leben für mich aus der eigenen Tiefe heraus ... ich will es ... noch einmal ganz rein, wie es in den höchsten Augenblicken verheissen scheint ... wie es aus den Grossen gesprochen hat ... wie es aus deren gewaltigen Visionen gesprochen hat ... aus Michelangelos Urleibern ... aus der Fünften, aus der Neunten Beethovens [200] gesprochen ... wie es aus diesen einsamen, grossen, aus sich berauschten Seelen gesprochen hat ... während es euch alle nur kaum noch als verhallendes Echo narrt ...

MEISTER KROPATKIN.

Du übst dich wohl schon in der Faschingsmaske des Lebensverächters ... Gott ... du ... das Rennen habe ich wirklich aufgegeben.

MEISTER TIBALDI.

Ach, Kropatkin ... ja ja, du bist anders ... du lebst ... du bist immer nur Gegenwart ... du erfüllst die Stunde mit deinem Tun ... bearbeitest den harten Stein, bis du hungrig oder lüstern oder müde bist ... du bist nicht an die Zukunft, noch weniger an die Vergangenheit genagelt wie ich ...

MEISTER KROPATKIN
beim Gehen mit dem Blick über den Tisch streichend.
Adieu, mein Lieber ...

Nun von etwas unerwartet angezogen.

Donnerwetter ... Ellinor! Wo hast du denn das Bild her? Hast du etwas gehört von Ellinor?
[201]
MEISTER TIBALDI
der in Meditationen, den Kopf in den Händen dagesessen.
Ellinor ... wo Ellinor? ... Herrgott! Gib doch her.
MEISTER KROPATKIN
betrachtet die Photographie.

Ellinor ... allein diese Façon vornehmen Lebens ... ihre Freiheit ... der ganze grosse Zuschnitt ... und diese Grazie bei ihrer königlichen Tollheit ... und hart war sie, wie eine Parze ... und konnte auch so süss melancholisch sein, wie eine Mutter der Tränengärten ...

MEISTER TIBALDI.
Herrgott ... gib doch her!
MEISTER KROPATKIN
das Bildchen aus der Hand lassend.
Da ...

Immer noch unschlüssig zögernd und wie absichtslos nach der Treppe oben blickend. Dann entschlossen.

Na, adieu ...
MEISTER TIBALDI.
Adieu!
MEISTER KROPATKIN.

Ich komme pünktlich. Mein Weib hat sich [202] einen extra Wagen bestellt. Sie will auch von mir ungekannt erscheinen.

MEISTER TIBALDI
vor sich hin brütend mit der Photographie in der Hand.
Kropatkin ... wenn Ellinor heute dabei sein könnte l
MEISTER KROPATKIN
während er noch einmal Schritt um Schritt ins Zimmer tritt.

Natürlich! ... Der Mensch kann nicht ewig feierlich sein. Er kann auch nicht ewig tief sein. Er kann auch! nicht ewig moralisch sein. Aber das ist eine Sache für sich. Natürlich ist das ganze Leben ein Wahnsinn ... eine blöde Maskerade ... ein zielloses Verwandlungsgeschäft ... jetzt ein Geisselbruder ... dann ein Faun, der Büsserstrick und Büsserkutte abwirft ... oder hier eine Heilige, die dort vor bacchantischem Lachen platzen möchte ... pah ... adieu.


Er ist wieder bis zur Tür gegangen.

Ja, was ich dich noch fragen wollte ... du wirst es doch Ränke heut erlauben, dass sie wenigstens die ersten Stunden des Spasses mitmacht.

[203]
MEISTER TIBALDI.
Ich bitte dich inständigst, nenne mir in dieser Verbindung jetzt nicht mehr den Namen Ranke!
MEISTER KROPATKIN.

Na ... nochmals adieu! Ich gehe mich jetzt auch maskieren. Den Mantel irgendeines sentimentalen Tiefsinnes mir um die nackten Lenden hüllen. Vielleicht, dass sich unsre edlen Seelen dann wieder ganz erkennen.

MEISTER TIBALDI
schüchtern für sich.

Mein Gott ... ich bin wahrhaftig heilsfroh, dass mein geliebtes Mädel in Tante Christines Schütze ist.

MEISTER KROPATKIN
im Abgehen.
Ich nicht ... Aber das tut nichts ... Mir wäre sie hier lieber! ... Adieu!

Der Vorhang fällt.

Personen [1]

[204] Personen.

    • Meister Tibaldi in Maske des Lautenspielers.

    • Ranke als Maske.

    • Meister Kropatkin, im orangenen Frack.

    • Diogenes, Maske.

    • Herr mit Ordensband, Maske.

    • Märchenprinzess, Maske.

    • Zigeunerin, Maske.

    • Don Quixote, Maske.

    • Dame in Trauerballett.

    • Dame mit Diadem.

    • Diener Hunger als Maske.

    • Allerlei Masken, Diener usw.

2. Vorgang

Zweiter Vorgang

Im Atelier des Meister Tibaldi. Die Flügeltüren nach den tieferen Räumen sind weit geöffnet. Man sieht in erstrahlendes Fest. Man hört aus einem entfernten Saal feine Streichmusik. Man sieht in ein Durcheinander von Masken. Das Atelier ist zuerst selbst leer.
Diener Hunger als Ritter in Harnisch maskiert, ohne Gesichtsmaske, steht stumm wie eine Statue am Türpfosten. Eine junge, schlanke Frauenmaske in Silberflittern, mit gelöstem Blondhaar, eine Märchenprinzess, ist ins Atelier hereingehuscht, hinter ihr drein ein Herr mit einem breiten, purpurnen Ordensbande über Frack und weisser Weste, einen silbernen Flitterstern an der Hüfte hängend. Sie jagen einander. Die Dame hat sich auf das Liegesofa geborgen. Der Herr kniet davor.

DER HERR MIT ORDENSBAND.

Ach ... bitte ... bitte ... bitte ... Ich muss unbedingt deine Hand sehen ... Herrgott, sei doch vernünftig ... gib doch die Hand ... gib mir doch deine Hand her, ... mit der kleinen Warze am Gelenk die ... die Linke ...

DIE DAME
sträubt sich, ohne einen Laut zu geben.
[207]
DER HERR MIT ORDENSBAND.

Ih ... gar nicht dran zu denken ... du kommst nicht los ... nun gar nicht, wenn du mich kratzt ... Gott ... ich zerreisse dir noch den Handschuh womöglich ...

DIE DAME
versucht mit aller Kraft die Hände des Herrn von ihren Händen abzustreifen.

Der Herr mit Ordensband Gib wenigstens einen Laut von dir, Flitterprinzessin! ... Gib wenigstens ... das wollte ich doch sehen ... einen Seufzer sollst du von dir geben, Flitterprinzessin! ... Willst du nicht wenigstens jetzt ein einziges Wort flüstern ...

DIE DAME
plötzlich gequält und drollig zornig, indem sie sich losmacht.
Gott, Gott ... nur fort ... das wäre noch das Allerletzte ... Das tut ja weh ...
DER HERR MIT ORDENSBAND.
Ich blase es ... oh ... oh!
DIE DAME.
Ich habe deine Roheit dick ... versteh mich.
[208]
DER HERR MIT ORDENSBAND
spielt den begossenen Pudel.
Hahahaha ... ich Narr ... ich war, von Sinnen ...
DIE DAME
lacht toll.

Du suchst doch eines andern Weib ... Sieh' her ... ich habe am Handgelenke keine Warze, wie deine Buhlerin ... auch an der Hüfte nicht ... ih, Gott bewahre ... ich bin noch nicht vermählt ... ich bin noch keusch ... ich buhle mit dem Winde ... ich buhle mit den Göttern, wie Danae ... ich buhle mit dem Schwane, wie die Leda ... ich bin noch nicht gemein, wie die, nach der du rumirrst!


Sie ist unter diesen Worten mehr und mehr in die tieferen Räume zurückgegangen, von dem Herrn gefolgt, der toll hinterdrein lacht.
DIOGENES
ein in graue Lumpen gekleideter, barhäuptiger Mensch, das Gesicht von einer lachenden Larve bedeckt, schreitet von einigen Masken umgeben, an jenen Beiden vorüber.

Er trägt an einem kurzen Stabe, wie an einer Angelrute, eine grosse brennende Laterne. Er leuchtet drollig über Dame und Herrn. Vor sich hinsprechend, indem er nun Schritt um Schritt weiter vorkommt. Nein nein ... hier finde ich es sicher nicht [209] ... obwohl ich sehr bedächtig danach forsche ... und mir das Suchen an sich schon geradezu einen tollen Spass macht.

EINE DAMENMASKE
ruft.
Was sucht Ihr denn, Herr Philosoph?
DIOGENES.

Ih, Gott ... wie meint Ihr das ... was ich hier suche, verliebte Dame? ... hört einmal ... Wenn ich zum Beispiel die üble Nachrede suchte ... ach Gott, alle Nachrede ist übel ... es gibt überhaupt nur eine Nachrede ... die ist übel und die macht übel ... denn selbst wenn die Nachrede gut ist, ist sie es nur als Vorrede ... und scheint nur nicht übel, um einen andern als desto grösseres Übel hinzustellen ... das fliegt wie dichte Spreu in allen Stuben und in allen Strassen herum ... und sammelt sich wie Haufen welker Blätter im Herbste in allen Winkeln an. Nein, mein Herr, das wäre mir zu wohlfeil ... und ausserdem verscheucht mich der üble Geruch ... Oder wenn ich zum Beispiel die hohen Ideale suchte, die in den Köpfen herumfliegen, [210] wie Nebelschemen, und die dann aus den Köpfen auf die Leinwände gemalt werden ... und in Stein gehauen werden ... oder sonst Gestalt gewinnen ... man nennt so etwas dann poetische Gestalt gewinnen ... bei Zeus und Aphrodite! ... zu Tausenden stecken sie in allen Galerien und Museen ... und Bibliotheken ... man könnte sie zusammenkehren zu Bergen, wie die Küchenreste ... oh ... das sind Schätze ...! ... Mit dem tausendsten Teil könnte man weiss Gott ein ganzes Volk wieder auf Seel und Beine bringen ... Aber das ist nicht meines Amtes ... Zum Schulmeister bin ich nicht gemacht ... Zum Prinzenerzieher auch nicht ... Zum Volksredner erst recht nicht ... Und ausserdem sind die zehn Gebote schon seit mehr als viertausend Jahren bekannt, und werden immer noch nicht gehalten ... Ja, lieber Herr und verliebte Dame, denken Sie bloss die Millionen Richter und Büttel und Henker, die in dieser langen Zeit fortwährend gerichtet und gebüttelt und gehenkt haben, was sich nicht nach den zehn Geboten richten gewollt! ... Man könnte dreist verzweifeln an diesem Geschäft[211] ...Nein nein nein ... da schreit auch viel zu viel durcheinander ... die Konkurrenz ist zu gross ... in dieser Zeit der zehntausend neunhundert und neun und neunzig Propheten ... wer; soll denn da noch wissen, auf welchen Propheten er zu hören hat! ... das scheucht mich ... Ich suche, was doch niemand finden kann ... Kinder im Mutterleibe sollen es besitzen.., am frühen Maitage eine schnee-schneeweisse Kirschblüte, die eben ins Morgenlicht aufbricht, soll es besitzen ... manchmal ist auch schon darein der Wurm gekommen ... Er hat einen heimlichen Schlupf entdeckt ... Sehen Sie ... wer weiss denn das alles? ... Wer kann denn immer die Wege wissen, die ein Wurm findet ...


Unterdessen ist ein Bergamaske, ein Hirt mit Laute, von Masken umkreist, hereingekommen. Die Tanzrhythmen in der Ferne sind verstummt. In seinem rechten Arm hängt lose eine Zigeunerin. Im Linken eine Maske im Ballettkostüm in tiefen Trauerfarben.
DER BERGAMASKE
singt melancholisch und sehnsüchtig zur Laute.
»Votre âme est un paysage choisi
Que vont charmant masques et bergamasque
[212] Jouant du luth et dansant et quasi
Tristes sous leurs déguisements fantasques.«

Er schreitet durch das Atelier und um den Tisch, die ganze Schar um ihn in heiteren Gebärden. Diogenes geht fast als Letzter sehr heiter hinterdrein, drollig von hinten die Frauenmasken überleuchtend.
DIE BALLETTMASKE
neben dem Bergamasken ausgelassen.

Verrückt ist der ... betrübt ... anmasslich ... toll ... frech quält er jede ... die sich ihm ergeben ... mit Brand ... mit Eifersucht ... mit kaltem Hohn ... Verachtung ... Dünkel ... Kleinmut ... was ihr wollt.


Das melancholische Singen des Bergamasken überklingt die Worte. Die Schar schreitet wieder aus dem Atelier in die tieferen Räume.
DER DIENER HUNGER
der so lange alles stumm und regungslosen Blickes an sich hatte vorübergehen lassen, schlägt sich plötzlich wie ausgelassen aufs Knie, ein paarmal, wendet sich ab, kichert in sich hinein und sagt vor sich hin.

Das war er ... das war der Meister ... grossartig ... das war doch echt ... ein solcher Ton alleine ... dieser Gesang vom Meister ... der zieht einem gleich die ganze Seele raus ... ich könnte weiss Gott heulen ... [213] nein verflucht ... das ist wahrhaftig eine Träne ... und warum?


Musik und Leben drängt sich in den Nebenräumen von neuem. Der Diener Hunger hat sich wieder zur Statue zusammengerückt und steht neu unbeweglich, als sich von der oberen Treppe ein Geräusch hören lässt und eine weibliche Maske Schritt um Schritt zögernd herniedersteigt. Sie ist in ein graues Tuch bis über den Kopf eingehüllt. Blickt hinter einer grauen Seidenmaske. Sie steigt zögernd und doch hastig hernieder.
DER DIENER HUNGER
ist aufgeschreckt, scheu der Maske näher getreten.
Wer ist es denn? Wer ist es denn nur um Gotteswillen ... wer denn?
DIE MASKE
lacht klingend und kühl auf.

Dann breitet sie plötzlich, indem sie auch ihre Gesichtsmaske hastig einen Augenblick vom Gesicht nimmt, das graue Tuch wie Flügel auseinander. Man sieht, dass sie ein orientalisches loses, freies Gewand trägt, Kopf, Hals, Arme und Fussgelenke mit mancherlei Schmuck und goldenen Ketten behangen. Sie hat ebenso lautlos das graue Tuch rasch wieder umgelegt.

DIENER HUNGER
ist völlig erstarrt in ihren Anblick.

Nein nein nein ... unser Fräuleinchen ... Jesus ... wo kommen Sie denn her, Fräuleinchen? ... was soll man denn dazu sagen? ... des Meisters Lebensmedizin! ... des Meisters [214] Allheilmittel ... wenn er Sie hier bloss sieht, er stirbt vor Schrecken ... er stirbt vor Gewissensbissen. Das könnte ihn umbringen, Fräuleinchen!

RANKE
leidenschaftlich gespannt in das Fest horchend.
Ach ... es zieht mich wahnsinnig ... es zieht mich wahnsinnig ...
DIENER HUNGER.

Jesus, Jesus, wie sind Sie denn nur vom alten Tantchen weggekommen? ... Da hat Sie Meta doch heimlich fortgelassen, während Tantchen schläft ... die Mädchen stecken aber wirklich alle unter einer Decke ... Sie können doch gar nicht hierbleiben ... noch gar, wo Sie dieses Kostüm anhaben, worin der Meister voriges Jahr das schöne Frauenzimmer ... diese Miss ... diese sehr vornehme, tolle Miss, die ihn immer mit ihren langen Handschuhen klappste, ...

RANKE
wieder ihre grauen Schleier auseinander breitend.

Bin ich nicht entzückend? ... Ja ja ...[215] worin Vater voriges Jahr die tolle Miss Ellinor viele Male gemalt hat ... immer so als orientalische Königin ...

DIENER HUNGER.

Hahahaha ... diese vornehme tolle Miss, die immer mit den Füchsen gefahren kam ... mit dem kleinen Kerl hinten, den sie Krum nannte ... und die den Meister gar nicht aus dem Garne liess ... Himmlischer Vater ... wenn der Meister die hier wittert ...!

RANKE
leidenschaftlich in die Säle beobachtend.

Wo ist Kropatkin? ... ich muss es sehen, wenn die Männer toll werden ... da ... der mit dem purpurnen Ordensband ... wie sie alle dumm einherstolzieren, diese Herren Ritter ... und Narren ... und die losen Damen erst ... ha ha ha ha ... und denken nur alles immer in die Luft, was sie sind ... das ist Meister Rauch ... oh, ich erkenne sie alle ... das ist Frau Kropatkin, die ein bissel watschelt, wie ein Enterich, und die Brust so rausreckt ... und Papa näselt immerfort wie ein Schwermütiger ... [216] das Lied geht mir schon im Blute um und macht mich bald ganz traurig.


Sie springt unversehens wieder die Treppe hinauf.
Ein grösserer Schwarm hat sich der Tür genähert. Drei weibliche Masken haben sich daraus gelöst, die offenbar in Erregung ins Atelier herein eilen.
DIE DAME MIT DIADEM
die ihren Königsmantel und ihre Schleppe sehr achtlos nachzerrt.

Ach ... Quatsch ... ich kenne doch Tibaldi ... er ist wieder in seiner verrückten Laune ... jedesmal, wenn ich ihm in den Weg komme, biegt er ab ...

DIE MASKE IN TRIKOT
als kleiner Beelzebub.

Tibaldi hat uns noch nicht gesehen ... er hat uns sicher noch nicht erkannt ... wir wollen ihm einmal gerade in den Weg treten.

DIE DAME MIT DIADEM
äugt gespannt auf den Schwarm, indem sie die beiden andern Masken festhält.

Ach, du hast Ahnung ... was der für Augen hat, wenn er sehen will ... da ... kannst du dir so etwas Freches denken? ...

[217]
DER BERGAMASKE
dem Schwarm jetzt voran, hat sich, sobald er die drei Masken gesehen hatte, sofort wieder zurückgewendet.
DIE DAME MIT DIADEM.
Diese Kanaille ...

Sie ruft hinter ihm drein.

Tibaldi ... Tibaldi ...
sieht uns ... glotzt mich an mit Feuerblicken ...

Sie folgen dem Schwarm.
EINE HERRENMASKE
als purpurner Teufel mit Reiherfeder ruft hinter drein.

Das verfluchte Lied ... wenn er doch endlich aufhörte dieses Lied zu winseln ... mir ist schon rein, als wenn es mir aufstiesse, wie eine süsse Speise ... dieser ewige Klang in Moll ... die Glieder zittern einem heimlich davon ...


Unterdessen ist ein Don Quixote vor sich hin meditierend einsam herein gekommen. Er steht einen Augenblick und starrt vor sich hin. Dann
blickt er sich plötzlich verstohlen nach der oberen Treppe um, umgeht die Treppe und Bucht mit den Augen wie absichtslos herum. Eine Gruppe unmaskierter Herren stürmt herein.
EINER DARAUS.
Wo sind denn die Diener mit dem Sekt?
[218]
EIN ANDERER.
Ich bin verdurstet wie ein gejagtes Tier ...

Diener, die in den tieferen Räumen servierten und herum standen, bieten Champagner an.
EIN ANDERER.
Wir müssen uns stärken ... um anzubeten ...
EIN ANDERER.
Wird denn nicht die Komödie im heiligen Hain bald beginnen?
EIN ANDERER.
Ich bin nur neugierig, was sich für eine Göttin auf den Altar wagen wird.
DON QUIXOTE
während sich alle wieder aus dem Atelier entfernen.
Keine Spröde!

Das Atelier ist wieder leer.
Ranke ist plötzlich die Treppe herabgeeilt. Hunger will sie zurückhalten.
RANKE
leidenschaftlich in das Fest beobachtend.

Oh ... es zieht mich wahnsinnig ... es zieht mich wahnsinnig ... da ... und wird so körperlich alles ... dieser Lärm ... dieses Geflirr ... dieses Schluchzen ... dieses Durcheinander ... [219] diese Grimassen in allen Gesichtern ... ich habe Duft in meine Kleider gegossen ... ich werde auf einmal ganz taumelig ...


Sie lacht leise vor sich hin.

Ach ... wenn ich auch nicht so schön bin, wie meine tote Mutter ...

Sie breitet langsam wie für sich wieder ihr Tuch wie Flügel aus.

Ich bin schön, wie Rahel ...

Sie nimmt ihr Tuch zusammen. In sich.

Ich zittere an Händen und Füssen, ich kann sie gar nicht mehr stillehalten ... es ist so himmlisch kühl in diesen losen Gewanden ... huh ... ich muss hineinlaufen unter alle die Tollen ... halte mich doch nicht so fest an dem kostbaren Kleide ... du zerdrückst womöglich etwas, du Tollpatsch ... gerade werde ich laufen ... und wie eine Tigerin auf den Altar springen womöglich, während die andern es noch nicht wagen ... werde oben stehen ... und alle die Augen rings um mich werden im Glänze schwimmen ... berauscht sein ... mich demütig flehen ... mich demütig versuchen ... [220] bis ich ganz langsam Schleier um Schleier fallen lasse ... einen um den andern ... ganz ganz langsam ... ganz feierlich ... ohne alle Hüllen emporsteige, nackt wie die Venus ... Meister Tibaldis schöne Tochter ... ah ...


Sie zuckt fast.
DIENER HUNGER
ranke zurückdrängend.

Um Gotteswillen, sie kommen wieder alle im Schwärme ... Der Meister mit der Laute vorneweg. Nur gehen Sie, Fräuleinchen, nur verstecken Sie sich, Fräuleinchen!


Ranke geht fast taumelnd bis zur Treppe zurück und schreitet dann wie eine Schlafwandlerin zaudernd mit rückgewandtem Gesicht Schritt um Schritt die Treppe empor. Unterdessen ist Don Quixote und bald dahinter ein Herr im orangenen Atlasfrack, mit schwarzer Atlasweste und Kniehosen, der statt Hut ein Tintenfass mit grossem Federkiel auf dem Kopfe trägt, vereinsamt hereingekommen. Beide durchschleichen wie Hyänen lauernd den Raum.
EINE HERRENMASKE
psalmodierend durch das Atelier wandelnd.
»Der Morgen erwacht, der Abend verglüht,
wir jagen Falter und werden nicht müd.
EINE WEIBLICHE MASKE
drollig mit ihm.
Nur freilich schlägt uns das Herzchen oft
[221] heiss über dem Gürtel, und unverhofft
kribbeln und krabbeln Gelüste:
und es ist uns, als ob man uns küsste ...«
DER HERR IM ORANGENEN FRACK
während beide gelangweilt mit den Augen an den Wänden des Ateliers und nach der oberen Treppe herumsuchen zu Don Quixote.
Wen sucht Ihr zu verschlingen, Herr Ritter?
DON QUIXOTE.
Und wen Ihr?
DER HERR IM ORANGENEN FRACK.
Ich ...?
DON QUIXOTE.
Ich ...?
DER HERR IM FRACK.
Die Unschuld suche ich.
DON QUIXOTE.
Die Unschuld suche ich.
DER HERR IM FRACK.
Wie heisst die Unschuld heut?
[222]
DON QUIXOTE.
Nennt rasch den Namen, denn morgen ist es aus damit.

Beide lachen ausgelassen.
DER HERR IM FRACK.
Nur ernsthaft, Ritter ...
DON QUIXOTE.
Ernsthaft ... ha ha ha!
DER HERR IM FRACK.
Seid Ihr ein Ehrenmann?
DON QUIXOTE.
Seid Ihr ein Ehrenmann?
DER HERR IM FRACK
lacht.
DON QUIXOTE.
Kropatkin ...
DER HERR IM FRACK
reicht ihm die Hand.
Freund ... ach, sie ist göttlich. sie ist [223] kindlich ... sie ist schamlos ... und ist nicht hier!

Unterdessen hat sich die Lautenmusik wieder dem Atelier genaht.
DER BERGAMASKE
mit der Laute ist von Masken umkreist, neu herein gekommen.

In seinem rechten Arme, lose eingehakt hängt jetzt die Dame mit Diadem, während links noch die trauernde Balletmaske eingehakt geht. Er singt melancholisch und sehnsüchtig, indem er wieder das Atelier um schreitet.

»Tout en chantant sur le mode mineur

L'amour vainqueur et la vie opportune,

Ils n'ont pas l'air de croire à leur bonheur

Et leur chanson se mèle au clair de lune.«


Er hat die ganze Schar, die ihn umtollte, auch die beiden Herrenmasken wieder mit sich hinausgezogen. Diogenes geht mit der Laterne hinterdrein, drollig den Damen nachleuchtend.
Ranke ist wieder von der Treppe oben niedergehastet. Da schleppt sich gerade die Zigeunerin müde und einsam ins Atelier herein. Ranke stutzt zurück, weil sie nicht mehr entfliehen kann. Aber die Zigeunerin geht an Ranke völlig achtlos vorüber und legt sich sofort auf das Sofa. Plötzlich erhebt sie sich wieder, reisst ihre Maske vom Gesicht und wirft sie widerwillig zur Erde.

Verfluchte heisse Maske ... macht mich rasend ...

Dann betrachtet sie die Rosen, die sie vorgesteckt hat, nimmt sie von der Brust und sagt drollig.

[224]

Vom Feuer meines Herzens welken alle Blumen ... da ... nimm die eine, die noch frisch ist ... schöne Frau ... weil du dich noch verhüllst!

RANKE
nimmt die Rose und küsst der Zigeunerin scheu und kindlich die Hand.
DIE ZIGEUNERIN
streckt sich aufs Sofa, um zu schlafen.
Eine Gruppe Herrenmasken stürmt herein, sodass Ranke von neuem die Treppe emporflieht.
EINER DARAUS.
Wo sind denn die Diener mit dem Sekt?
EIN ANDRER.
Man krepiert rein in der Hitze ...

Diener bieten Champagner herum.
EIN ANDRER.
Werden sie nicht endlich die Komödie beginnen?
EIN ANDRER.
Die Komödie im heiligen Haine beginnt bald.
EIN ANDRER.
Hat sich denn schon die Göttin gefunden?
[225]
EINE DAMENMASKE.
Der Wein fährt einem in die Beine.
EINE ANDRE.
Ich bin auch müde wie ein Hund ... Ich könnte mich gleich unter den Tisch verkriechen ...
EINE HERRENMASKE.
Tue es nicht ... vielleicht liegt schon ein andrer, drunten.
DIE VORIGE DAME
lacht.
Da sind wir zwei ...
EINE ANDRE.
Pfui, pfui, Zypresse!
DIE VORIGE DAME.
Wer zweifelt hier an meiner Reinheit?
EINE HERRENMASKE.
Ich zweifle an allem.

In der Tiefe der Räume merkt man ein Zuströmen zu dem heiligen Haine hin. Der Lärm nimmt von diesem unsichtbaren Saale aus immer mehr zu. Indess jetzt ein lustiger Flötenspieler mit einer lieblichen Hirtenweise die noch versprengten Masken vollends hinter sich drein sammelt und nach sich zieht.
[226] Eine weibliche Maske schleppt sich müde herein und legt sich auf einen Fauteuil im Atelier zum Schlaf.
ANDERE
die hinter dem Flötenspieler herziehen.
Er sammelt die Beter.
EINE ANDRE.
Er lockt zum Altar der Kunst.
EINE
ruft.
Wer wird denn die Göttin sein?
EIN ANDRER.
Wir müssen sehen, ob es sich lohnt, anzubeten ...
EIN DRITTER.
Der Sockel steht noch leer ...
EINE ANDRE.
Er wird nicht mehr lange leerstehen ...
EIN DRITTER.
Tausend für eine ...
[227]
EIN ANDRER.
Die Weiber sinnen heimlich in sich, kämpfen mit sich und zaudern noch.

Die Räume sind jetzt ganz leer geworden. Auch Diener Hunger hat sich schliesslich dem Zuge neugierig nachgeschlichen. Nur die Zigeunerin schläft auf dem Sofa. Eine weibliche Maske schläft im Lehnstuhl.
DIE ZIGEUNERIN
ruft im Halbschlaf.
Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her, Tibaldi!
RANKE
ist plötzlich die Treppe herabgehastet.
Sie fliegt durch die leeren Räume und verschwindet ebenfalls in der Tiefe.
DIE ZIGEUNERIN
ruft im Halbschlaf.
Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her, Tibaldi!

Eine Pause. Man hört nur Lärm von dem tieferen Saale.
EINIGE MASKEN
erscheinen wieder.
Hast du den Meister Tibaldi gesehen ...?
EINE ANDRE.
Habt ihr Meister Tibaldi gesehen?
[228]
ANDERE.
Jetzt umtanzen sie die Göttin im Haine der, Büsser.
ANDERE.
Eine sonderbare Heilige! Sie ist noch ganz in graue Schleier eingehüllt.
ANDERE
durcheinander.

Sie sprang auf den Marmorsockel ... sicher wie eine Gemse ... wo selbst noch Kropatkins Weib in nagendem Ehrgeiz zögerte. So muss es sein!

ALLE
lachen toll.

Man ruft durcheinander. Habt ihr's gesehen? ... Kropatkins Weib reisst sich die Maske vom Gesicht ... auch andere Weiber schäumen vor Wut.

ANDERE.
Die alten und jungen Narren beginnen zu wallfahrten ...
ANDERE WEIBLICHE MASKE.

Habt ihr Meister Tibaldi gesehen? Er steht erstarrt und berauscht unter dem verhüllten Götzenbilde und rührt keine Saite mehr.

[229]
EINE ANDRE.
Ich glaube, er zittert ...
EIN ANDRER.
Meister Tibaldi steht berauscht ... und zittert vor Erwartung ...
EINE ANDRE.
Göttin ... enthülle dich!
ANDERE.
Sie spielen dazu den Pilgerchor ... hört nur!

Die Räume sind wieder ganz leer geworden.
DON QUIXOTE
schreitet allein einsam suchend aus der Tiefe ins Atelier.

Oh diese Anbeter! ... die noch Wahn haben! ... die noch von dem Geheimnis sich narren lassen! ... die noch Genuss suchen! ... Ich suche die Dämmerung ... ich trage den schwelenden Brand ... ich liebe die Verachtung ... ich liebe den Hass ...


In dem Augenblick, wo er die schlafende Zigeunerin gesehen hat, schleicht er nahe.

Da ... Ruth! ...

Dann ruft er leise.

[230]

Weib ... du machst mich rasend in diesem Kostüm ... ich verzehre mich nach dir ... Oh, wenn ich jetzt ein Gott wäre ... wenn ich jetzt das ganze, übrige Gesindel von dieser Erde wegfegen könnte ... Einen Donnerschlag in diesen Taumel, der die Musik verstummen machte ... ich möchte noch einmal wieder ...

DIE ZIGEUNERIN.

Was? ... Phantast ... du möchtest immer, was du nicht besitzt ... Komm mir nicht nahe ... bleibe fern ... Auch ich möchte zwischen grünen, schaukelnden Ähren liegen ... wenn die Sommerstille aus den Hummeln summt ... Dämon du ... und Narr ... begnüg dich ... es ist Winter draussen ... der Märzwind rüttelt an der Balkontür ... hörst du ... du musst dir schon die Zeit vertreiben, wie du bist ... in deine Narrenhülle eingenäht.

DON QUIXOTE.
Erkennt Ihr mich denn, schöne Ruth?
DIE ZIGEUNERIN.

Ach, was heisst kennen ... Ich kenn dich [231] nicht ... will dich nicht kennen ... und du ... du kennst mich nicht ... nun gut ...

DON QUIXOTE.
Das klingt ja grossartig ...
DIE ZIGEUNERIN.

Und ist doch klein, wie alles ... heb dich fort ... Ich bin nicht dein Modell ... dem du befiehlst ...

DON QUIXOTE
roh.
Ach ... du bist nicht um ein Haar besser, als jedes andere Weib.
DIE ZIGEUNERIN
indem sie sich wieder umlegt.
Satanas!
DON QUIXOTE.
Dein bisschen Tun ...

Er lacht höhnisch.

Dein bisschen Musik machen vor der Menge Ohren ... dein bisschen Virtuosentum mit den Lilienfingern ... das ist alles doch nur Sand in die Augen der Menge ... raffiniertes Versteckenspielen ... eine Glanzkomödie der Seele, wie der Pfau[232] sein Rad schlägt alle sind .... Du bist doch, wie sie

DIE ZIGEUNERIN
gespannt.
Was bin ich ....? ... bitte!

Es ist eine tiefe Stille plötzlich eingetreten. Man hört nur noch ein rhythmisches, dumpfes Schreiten aus den tieferen Räumen. Es drängen gleich danach wieder einige Masken hervor.
EINE FRAUENMASKE.
Habt ihr Meister Tibaldi gesehen?
EINE HERRENMASKE.
Es ist jetzt alles stumm geworden ...
EINE ANDERE HERRENMASKE.
Jetzt enthüllt sich die Göttin ... hört nur, wie sie stumm werden.
EIN ANDRER.
Und Meister Tibaldi steht erstarrt davor und weint ...

Diogenes kommt mit seiner Laterne herein.
DON QUIXOTE
ruft in prahlerischer Laune.

Weib bist du ... von feiner Haut umschalt ... ein schöner Käfig, worin der grosse Lockvogel ... der süsse Weltbetrug gefangen [233] sitzt ... verliebt bist du ... sonst nichts ... und bist rein gar nichts, wenn dich der Mann nicht zur Geliebten macht ... in diesem Fasching ...


Die Räume füllen sich jetzt von neuem. Diener präsentieren Sekt.
DIOGENES
kommt immer näher.

Jetzt könnte man weiss Gott viele abgelegte Herrlichkeiten zusammenkehren, wie die Mandelschalen von einem Festtische. Jetzt knackt man die Mandeln ... und sieht den Kern ... huh, huh, das ist ja die Tollheit in der Welt, dass alles nur halb ist ... den Armen hungert nach Gelde ... den Keuschen nach Verführung ... aber jetzt kann man überhaupt gar nicht mehr unterscheiden, was oben oder unten ist ...

HERRENMASKEN
kommen.
Wer ist denn nur dieses orientalische Weib?
ANDERE.
Ich könnte ein Königreich wegwerfen ... ein Vermögen verschwenden ... um diese orientalische Göttin.
[234]
ANDERE
rufen.

Wer ist denn nur dieses orientalische Weib? ... Schockschwerenot ... wer ist denn nur dieses orientalische Weib?


Es ist ein lautes Durcheinander im Atelier. Der Pilgerchor ist hörbar.
DER BERGAMASKE
demaskiert als Tibaldi erscheint mit Anderen in leidenschaftlicher Erregung.

Himmel ... habe ich denn eine Vision? ... Haltet mich an den Händen! ... Packt mich fest an! ... Erschüttert mich denn der Wahnsinn? Ist das Ellinor? Wo kommt Ellinor her? Bin ich in paradiesischem Taumel? Bin ich! irre vor Seligkeit? ... Macht es mir Grimassen vor? ... Was denn nur ... bei allen Göttern? ... Wer denn? ... Ellinor ... Ellinor ...


Er stürmt mit anderen wieder in die Tiefe.
EINIGE
rufen durcheinander.
Prosit!
EINER.
Auf was?
EIN ANDRER.
Auf ...
[235]
EINE WEIBLICHE MASKE.
Ach, schweigt still! Es sind doch nur Halbheiten, die die Männer reden.
EINE ANDRE.

Schweigen gilt heut als geistreich ... und auch als vornehm ... es erweckt den süssen Schein des grossen Sehers und steckt doch meist ein behaglicher Wiederkäuer dahinter, der sich nur im Augenblicke nicht recht Rat weiss.

EINE WEIBLICHE MASKE
kommt aus der Tiefe gestürmt.
Bringt doch nur das Kind fort ... bringt doch nur das Mädchen fort ...
STIMMEN
und Sektgläser klingen durcheinander.
Die Kunst ... die Kunst ...
ANDERE
kommen.
Wer ist denn nur dieses Mädchen, das sich so feierlich gebärdet?
ANDERE
rufen.
Es ist Meister Tibaldis Tochter.
[236]
EINE HERRENMASKE
die mit dem Glase dazu tritt.
Hat niemand einen Spruch?
EINER
ruft.
Hat niemand einen Gott?
EINE WEIBLICHE MASKE.
Plappert doch nach, was sie alle reden, wenn sie sich öffentlich gross tun.
DIE MASKEN
im Vorderraum durcheinander.
Das Vaterland ... die Liebe ... die Kunst ...
DON QUIXOTE.
Die Kunst ... die Kunst ... es lebe die Kunst ...
EINE ANDERE FRAUENMASKE.
Ach, ihr seid langweilig.
ANDERE.
Wenn Meister Tibaldi sie erkennt, erdrosselt er sie.
ANDERE.
Habt ihr Meister Tibaldi jetzt gesehen?
[237]
ANDERE.
Meister Tibaldi starrt wie ein Wahnsinniger auf das junge Weib, das wie eine Königin aufragt.

Man hört neuen Lärm und Jauchzen. Man hört.
STIMMEN
durcheinander schreien.
Kropatkin ... pfui ... Kropatkin ... du wirst es nicht wagen ...
ANDERE.
Er will ihr die letzten Schleier vom Leibe reissen.
ANDERE.
Wie sie kühn abspringt ...

Andere lachen.
ANDERE
rufen.
Wie dieses Frauenzimmer kämpfen kann ...
ANDERE.
Wer ist es denn nur?
EINE FRAUENMASKE.
Bringt doch nur das Kind fort!
EINE ANDRE.
Es ist Meister Tibaldis Tochter.

Im nächsten Augenblick stürmt eilig fliegend Ranke herein. Meister Kropatkin hinter ihr drein. Taumelnd dahinter Meister Tibaldi.
[238]
MEISTER KROPATKIN
ruft.
Weib oder Unschuld ... ich muss dich erkennen ...

Meister Tibaldi ist plötzlich in der halben Tiefe erstarrt stehen geblieben.
Ranke und Kropatkin jagen einander. Ranke eilt wieder in die Tiefe. Als Kropatkin bei Tibaldi vorüber jagt, fällt ihm Tibaldi an die Gurgel.
MEISTER TIBALDI.
Kropatkin ... Freund ... um alle Seligkeiten ... Himmels und der Erde ...

Er stösst Kropatkin gewaltsam von sich und eilt Ranke nach.

Ellinor!
EINIGE RUFE.
Wenn Meister Tibaldi sie erkennt, erdrosselt er sie.

Ranke erscheint wieder von Meister Tibaldi gejagt.
MEISTER TIBALDI.
Ellinor ... o Ellinor ...

Er hat sie endlich ergriffen und hält sie fest.

Um jeden Preis ... wer bist du ... Ellinor ...

Tibaldi kommt ein heimliches Grauen an. Er hat Ranke erkannt. Er lässt sie langsam abwehrend entwischen. Er ist wie nicht bei sich. Blickt sich scheu und voll Scham nach allen Seiten um, indessen Ranke wieder in die tieferen Räume flieht. Alles strömt ihr nach. Es wird ganz leer [239] um Meister
Tibaldi. Meister Tibaldi ist auch wieder noch ein paar Schritte wie sinnverwirrt mitgelaufen.
DIE SCHLAFENDE ZIGEUNERIN.
Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her ... Tibaldi!
MEISTER TIBALDI
tastet sinnverwirrt nach seiner Laute und singt und spielt schrill und zerhackt.
»Au calme clair de lune triste et beau
Qui fait rever les oiseaux dans les arbres
Et sangloter d'extase les jets d'eau,
Lesgrands jets d'eau sveltes parmi les marbres.«

Er ist bei der vorletzten Zeile langsam zurückgekommen. Er steht jetzt ganz einsam im Atelier.
DIE IM LEHNSTUHL SCHLAFENDE MASKE
ruft ebenfalls.
Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her ... Tibaldi!

In der Tiefe ungesehen ist von neuem lautes Jauchzen und Getümmel ausgebrochen. Man hört neu die Klänge des Pilgerchores.
Meister Tibaldi greift plötzlich seine Laute am Griff und zerschlägt sie an der Wand. Dann starrt er vor sich hin und legt langsam die Hand vor die Augen.
DIE SCHLAFENDE ZIGEUNERIN
ruft.
Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her ... Tibaldi!

Der Vorhang fällt.

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TextGrid Repository (2012). Hauptmann, Carl. Fasching. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-38CA-F