Personen.
- Der Kaiser.
- Giwau, dessen Geliebte.
- Tozi, Giwaus Mutter.
- Ginyo, Giwaus jüngere Schwester.
- Hotoke, eine junge Sängerin.
- Diener.
- Dienerin.
Personen.
[19] [21]Personen.
[38] Personen.
Personen.
Was is' denn ... Gleich ... Ich komme gleich ... Ich muss erst zusammenrechnen, ehe der Herr heimkommt ... Wer weiss, ob er nicht doch einmal überraschend kommt?
[57]Ach, du Gerechter ... hundertfünfzehn ... hundertsiebenundzwanzig ... dreihunderteinundachtzig ... gut ... das ist ein Geschäft ... Mit dem alten Möbelkrame aus dem herrschaftlichen Schlosse hat Herr Nelken weiss Gott doch noch seine dreihundert Perzent herausgeschlagen ...
Du ... Samuel ... rechne nicht! ... er wird nicht kommen ... oh ... wo wird er denn schon heimkommen vor Ladenschluss ... du sollst mich ansehn ...
Da ... die Kette ... und die Spangen mit dem Stein ... und diese Perle ... und diese Perle ... alles hat er in Schüben und Kisten ... verschliesst es ... verbirgt es ... lässt es nie im Licht funkeln ... gefall ich dir so, Samuel? ... nie hat er mir eine Perle geschenkt! ... küsse gleich die Stelle auf der Stirn ... die Perle macht so kühl ... ich fühle sie den ganzen Tag und die ganze Nacht an meiner Stirn ... küsse die Stelle gleich noch einmal ... Du, es geht jemand auf der Treppe ... nein nein, Er kommt nicht heim vor Ladenschluss ... sieh mich nur an, Liebchen ... von oben bis unten ... ich habe die Schlüssel ... ich weiss zu öffnen ... für dich habe ich mich heimlich geschmückt ... und lege dann alle Kostbarkeiten bald wieder richtig an Ort und Stelle ... nein, nahe kommen darfst du mir nicht ... drücken darfst du mich gar nicht ... bleibe fern ... nur ansehn darfst du mich ... nur anstaunen darfst du mich, wie ich schön bin ... nicht, Samuel? ... schöner als Achsa, die Moses Hände küsste, als er uralt war ... und Josuas [59] Tochter war wahrhaftig ein herrliches, keusches Mädchen ... war voll Wonne ... voll Zärtlichkeit ... glitt nieder von dem Esel, wie wenn Ohnmacht in ihrem schlanken Leibe verzitterte ... spielte die Halbtote aus Sehnsucht und aus Liebe zu dem Einen.
Ah ... still ... Du ... Samuel ... es klopft! Es kommt noch jemand fragen oder heimlich was verkaufen.
Ach .... entschuldigen Sie nur ... brauchte notwendig etwas ... das sind sehr wertvolle Bücher ... ich gebe sie durchaus [60] nicht gern ... nur eben, weil ich notwendig etwas brauche ... und, Herr Nelken ...
Zeigen Sie mal her ... Gott der Gerechte ... warum kommen Sie hierher in die Wohnung? ... warum gehen Sie nicht zu ihm in den Laden?
Herr Nelken hat mir gestern unten im Geschäft ausdrücklich gesagt, ich sollte um dreiviertel Sechs an seiner Wohnung sein.
Ja ja ja ja ... warten ... Sie könnten schon warten! ... Samuel ... auf der Treppe soll er warten ... unten vor der Haustür soll er warten ... wenn Sie durchaus brauchen und durchaus warten wollen ... nicht, Samuel? ... Der Herr Nelken wird kommen ... und wenn er Eisenstäbe durchbrechen müsste, um zu kommen ... er wird kommen ... wenn er den Atem, verlöre, und das Herz ihm stille stünde ... er wird kommen! ... nicht, Samuel? ... sage es doch dem jungen Herrn, dass er sich zufrieden gibt!
Nein, nein, nein, nein ... Herrn Nelkens Misstrauen duldet hier niemand ... Er würde gleich mürrisch gegen Sie losfahren, wenn er, Sie hier in der Stube träfe ... und da drinnen, wo der Gehilfe arbeitet, ist überhaupt gar kein Platz zum Stehen vor den tausend Dingen ... nein nein ... hier gar nicht! ... Herr Nelken würde Sie nur von oben bis unten ansehn ... gar nicht sprechen, Sie nur ansehn mit seinem bösen Blick, wenn er Sie hier allein in der Stube fände ... und wenn ich bei so einem jungen Herrn sässe ... bei Gott! ... Nicht, Samuel?
Und wenn er Eisenstäbe durchbrechen müsste, um zu kommen ... er wird kommen ... und wenn er Atem und Herzschlag verlöre ... seine Brunst ist heiss ... er wird kommen ... huh, Geliebter!
Und er wird kommen ... immer geängstigt ... immer gehetzt ... er besitzt alles ... er möchte alles verbergen ... er möchte alles nur für sich fühlen ... er leidet ewig heimliche Pein, weil er nicht alles in seinen Sacktaschen unterbringt ... und er lacht ... weisst du, wie er lacht, Samuel? ... wie ein Bock meckert, so lacht er ... huh, Samuel! ... nein, nein, nein, nein ... aus Furcht lache ich immer ... nur aus Entsetzen lache ich, wenn seine eisige Unbarmherzigkeit aus seinem Blicke aufwacht ... aus tödlicher Angst lache ich vor seiner unbarmherzigen Seele ... nicht, Samuel?
Solche Aufgaben gibt der alte Schuft nur, damit man angeschmiedet steht jede Minute und sich nicht wegrührt ... Weiss Gott ... ich würde ihm das Geschäft vor die Füsse werfen ...
Und kein Brunnen ist so tief ... und kein Grab ist so stumm, wie meine Seligkeit und deine Freude ... nicht, Samuel?
Weil ich deine zärtlichen Blicke gern hab' ... [66] die mich suchen ... die mich locken, wie Kinder. Ich hasse den Blick, der immer leer ist ... immer innerlich rechnet ... immer fremd bleibt dem andern ... immer vor dem Lichte geblendet die Augenlider verkneift ... scheu abirrt vor jedem guten Blicke, der um Güte bittet ... und der immer nur Gewalt übt ... Küsse mich von ferne sanft auf die Stirn, Samuel!
Und kein Brunnen ist so tief ... und kein Grab ist so stumm, wie meine Seligkeit und deine Freude ... nicht, Samuel?
Aber sein Misstraun ist noch stummer, wie deine Seligkeit. Und seine Wut würde noch tiefer hervorbrechen, wenn er dächte ...
Aber was braucht er zu wissen, was zwischen mir und dir ist? Er ist alt. Er wird nie erfahren, was zwischen mir und dir ist.
[67]Küsse mich auf die Lippen, Samuel! Nur ganz sanft sollst du mich auf meine feuchten Lippen küssen ... dass ich es kaum fühle! Ich habe Rosenwasser getrunken. Sie duften ...
Wenn er hereinträte ... jetzt ... in seiner Brust das Geheimnis ... in seinem Blute jagend und kreisend unser Geheimnis ...
Pah ... da würde ich ihm ... Gift geben ... [68] vielleicht ... ehe ich mit ansähe, wie er dich ermordet ...
Was wir nur reden! ... Was wir nur sinnen! Tue deine Arbeit, Samuel ... mach alles zu Ende! ... Herr Nelken ist alt ... Aber er ist ein Abgrund ... Feuer hat er drin in seiner Brust kochen ... er würde dich hassen ... er würde nicht sanft sein ... er würde dich töten ... nicht, Samuel?
Nun ... ja doch ... da würde er mich töten ... mit dem Schächtmesser oder Dolch mich töten ... wenn er mich im Schlafe fände ... denn offen würde er es nicht wagen ...
Nein ... nein ... niemand könnte solche Dinge offen wagen ... auch ich würde ihm nur immer Gift in seine Suppe tun ... immer ein klein wenig ... immer kaum zu spüren ... immer ein Nichts, das ihn ein bisschen bleicher macht ...
Herr Nelken hat eine bleiche Gesichtshaut. Du ... Samuel ... gib mir einmal dein Ohr nahe ... dass ich es dir zuflüstere: Herr Nelken würde dann von Tag zu Tage bleicher ... Herr Nelken betet immer laut zu Gott ... er muss etwas fühlen ... er hat eine heimliche Bangigkeit vor dem Tode ...
Und doch ist kein Brunnen so tief ... und kein Grab ist so stumm, wie meine Seligkeit und deine Freude ... nicht, Samuel?
Sarah ... du wirst keine Sünde begehen, Sarah ... Er wird nie erfahren, was zwischen mir und dir ist ... Keine Sünde wirst du begehn ... süsse Sarah ... meine Taube ... Ich werde dich in meine Arme schliessen mit aller Gewalt jetzt ...
Wo bleibt deine Gewalt? ... Du hast immer nur Gewalt zum Küssen ... und du sollst sanft sein dabei ... und hast gar keine Gewalt zum [70] Hüten meiner Seligkeit ... da bist du feige ... wagst nichts ... wagst nicht zu revoltieren ... verkriechst dich wie ein Hund, wenn der Herr kommt ... dass der Herr immer Herr bleibt über dich und mich ... pfui, Samuel ... dass du dich vor dem Alten fürchtest, wo du und ich jung sind ... und dass du dich vor der Sünde fürchtest, wenn du nach mir brennst ... Ich fürchte mich vor gar nichts ... 'denn ich liebe dich ... nicht, Samuel?
Du, Liebchen, gehe ... gehe in die Küche zurück ... es ist spät ... er wird kommen ... lege Kette und Spangen und das kostbare Kleid rasch wieder in die alte Truhe ...
Nein ... wenn es auch klopft ... ich werde mich nicht verstecken ... vor niemandem ... weder wenn jetzt noch ein Verkäufer in der [71] Not käme, der Herrn Nelkens Hilfe anruft ...
Dort spricht sie laut und arglos. Samuel, öffne doch die Tür ... lass doch eintreten, wer herein will.
Herr ... Herr ... Herr ... nur schweige still ... ich wage es nicht ... ich kenne ihn ... niemand darf draussen einen Laut hören ... Herr Nelken wird es selber sein ... er sieht jetzt bleicher aus als sonst ... Er betet, jetzt immer laut zu Gott ... sein Misstraun kriecht wie eine Schlange in allen Winkeln herum ... wittert deine Seligkeit und meine Freude ...
Du Feigling, der du bist ... Liebchen ... [72] soll man es denken, dass solche jämmerliche Furcht ohne Grund aufwächst! ...
Da ... Samuel ... derselbe Mensch ... derselbe Mensch, der die Bücher bringt ... er wartet noch immer ...
Nein, nein ... nicht hier herein ... Sie müssen draussen warten, lieber, junger Herr. Sie müssen warten ... der Commis hat kein Geld. Herr Nelken kauft alles selber. Aber er wird den Abend und die Nacht keinesfalls fortbleiben. Er wird bald stumm herumgehen unter seinen Schätzen. Er wacht wie eine lauernde Kreatur ... über alles, was sein ist ... Besitzen ist sein Leben ... da wird er nicht wegbleiben ... er wird kommen, eher als uns lieb ist ... Sagen Sie es dem jungen Manne, Samuel!
Machen Sie doch die Tür zu! ... Narr, der[73] es zehnmal gehört hat ... und nicht Lehre annimmt. Werfen Sie ihm doch die Türe vor der Nase zu. Genug Antwort. Will er warten, wird er wissen wo!
Unten vor der Haustür, junger Herr ... oder vielleicht warten Sie besser oben auf der Treppe, wenn sich etwa Herr Nelken durch die Hintertür hereinstähle ... nicht, lieber, junger Herr? ... Ich muss die Türe schliessen. Alle Türen müssen immer bei uns geschlossen sein, ehe Herr Nelken ins Haus kommt.
Der junge Herr wartet oben auf der Treppe ... er wird den Alten laut ansprechen ... wir werden seine schweren Tritte hören, wenn der Alte müde emporsteigt ... wir werden seine [74] mürrische Rede hören ... der junge Herr wird ihn aufhalten, dass wir Zeit finden, uns zu verbergen ... du dorthin ... ich hierhin ...
Küsse mich auf den Hals, Samuel, und flüstere mir nach, was ich dir sage: Du bist mein A und O ... rede ... rede, Samuel!
Einfalt du ... Dummer ... du Bösewicht ... nein nein nein ... gar nicht ... ich meine es nicht im Spass ... ich will dich entflammen mit meinem Feuer ... jetzt noch einmal! ... Küsse mich auf den Hals ... und flüstere, was ich dir sage: ... Du bist mein A und O ... mein Anfang und mein Ende ... Ich bin ein Feuer, das nach dir brennt ... Ich bin ein Dornbusch in lohen Flammen ... Ich lebe und brenne von deiner Liebe Gnade ...
Gott ... nein nein ... Das ist zu lang für[75] mich ... Ich habe mir nie Verse merken können, Sarah ... Du darfst mir immer nur einen Satz auf einmal sagen ...
Pfui ... Samuel ... Das ist kein Spass ... das sind keine Verse ... das ist keine Dichtung in meiner Seele. Das ist mein Evangelium ... weisst du es nicht? ... merkst du es nicht? ... ist es nicht auch dein Evangelium? ... Ich will dich froh machen ... ich will dich stark machen ... ich will dir Mut einblasen ... ich will dir Glauben einblasen ... das Gefühl erfüllt mich! Und ich will daran leben und daran sterben ... siehst du ... so muss es auch bei dir sein ... ich werde nicht ruhen, bis auch du so fröhlich bist ... es ist ins Rollen gekommen, ach, Geliebter ... ich will es nicht aufhalten ... meine Liebe springt wie ein Quell zu Tale ... wie ein Bach über Stock und Stein ... er ist nicht mehr aufzuhalten ... niemand wird ihn aufhalten ... gar Furcht! ... gar Sünde! ... er will ins Meer ... er muss frei ins Meer fliessen!
[76]Da ... wenn ich auch immer Arbeit tue ... meine Hand ist weiss und fein, wie Lilienhaut ... weisst du, was ich tue? ich ziehe weiche Handschuh über meine Hände ... nachts, wenn sein böser Blick eingesunken ist ... früh, wenn er im Kaftan an den Tisch tritt, sehe ich's, wie er erstaunt ist ... »Was hast du für weisse Hände, Sarah«, murrt dann Herr Nelken ... »Ja,« sage ich, »ich hatte immer weisse Hände ... denn schon meine Mutter war eine liebliche Frau ... sanft von Stimme ... ihr Lachen klang hell ... eine Ruth war sie ... aber sie hatte niemand, den sie liebte, sie hatte auch nur immer einen Herrn... und doch waren ihre Hände weiss geblieben, wie Lilienhände« ...
Nun ... Samuel ... sieh zu! ... sieh stille [77] zu, was Liebe tändelt ... Ich! werde jetzt gleich auf meine feine, weisse Haut ...
Du lässt mich tun, was ich tun will. Ich bin ein Lamm ... und werde noch zornig werden, wie du vor allen Dingen nur immer auf der Hut bist. Ich will es so ... und tue es so ... da ...
Und wenn du mir jetzt nahen wirst, werde ich dir ein Siegel auf die Stirn pressen, dass du daran gedenken sollst ... an deine Feigheit und an meine Liebe ...
So weckt man Scheintote ... die schon gestorben deuchten. So weckt man Scheintote aus dem tiefsten Schlafe, dass sie plötzlich von dem brennenden, stechenden Schmerz ihre Augen erstaunt wieder auftun ...
Und ich lebe ... und der Schmerz zuckt mir durchs Blut ... versengt meine Seele ... in meiner Heimlichkeit brennt er wie ein glühendes Feuer ... Aber die weisse Hand zuckt nicht ... Meine Seele ist ganz nur Hingabe ... Meine Augen lachen des Schmerzes ...
Weil ich dich liebe, kann ich mehr ertragen, als brennende Schmerzen, und kann noch lachen ... und kann noch fröhlich sein ...
Ach, Liebchen ... oh, wie du stark bist ... oh, wie du schön bist ... wie nur deine Augen strahlen, weil du liebst ... auch in mir ist der [79] Brand aufgewacht ... auch in mir ist kein Frieden eher ... wenn ich dich ansehe, Sarah ... wenn ich dich so ansehe mit meinem saugenden Blicke, Sarah ...
Du siehst Schatten, die nicht Leib haben, Samuel. Samuel. Gehe ... gehe in die Küche zurück ... lege [80] doch das köstliche Kleid rasch wieder in die Truhe ... Du kannst noch fortschleichen ... Er wird nicht wissen, dass du hier warst ... er rührt sich noch nicht ... er lauert noch auf einen Laut ... Ich werde leise ans Pult treten ... Niemand wird wissen, was zwischen dir und mir ist ...
Samuel ... wenn Herr Nelken käme ... vielleicht geht er nicht grade aus ... Misstraun geht Schleichwege ... Vielleicht schliesst er nur leise das schwere Gewölbeschloss auf und erscheint durch das Magazin ... pfui, pfui ... dann weiss ich, dass er auch lauert und lauert und nichts Gutes erhört ... Mag doch der Alte uns wie Kinder spielen sehen ...
Oh nein, denn Herr Nelken soll Freude haben [81] an seinem Weibe, dass sie sich mit seinem Reichtum schmückte ...
Er kommt leise ... Schritt um Schritt ... nur die Diele knackt ... aber ich werde so tun, als wenn ich dich nur angestaunt hätte in deinem schönen Gewande ...
Samuel ... diese Nacht kommst du ... nein, nein, ich komme zu dir, wenn er wieder wie ein Toter schläft ... gehe an die Arbeit ... ich flehe dich ... niemand darf wissen, was zwischen mir und dir ist ... er ist ein Abgrund ... niemand könnte wissen, was geschieht, wenn er es ahnte ... ich fliehe jetzt ... ich werde das Seidengewand schnell wieder in die Truhe legen ... er wird nichts merken ... die Spangen und die Ketten ... liegen sollen sie, wie seine zitternden Knochenhände alles sorglich eingebettet. Alles habe ich mir gemerkt, genau, wie es dalag ... Ich werde mich verbergen ... im Kattunlumpen werde ich mich auf die Herdbank setzen und die Mühle drehn ...
Hah ... er ist schon in der Nähe ... Er hat mit seinem Kaftanzipfel etwas heruntergerissen ... bleibe dort stehen, wo du stehst ... ich [83] werde ganz arglos tun ... ich werde ihn anlächeln, wie wenn ich ihn erwartet hätte ... bleibe auch du arglos ... rühre dich nicht ... staune mich an von oben bis unten ... auch du sollst lächeln, als wenn du ihn erwartet hättest, und nun froh wärst, wenn er endlich hereinkommt ... da ...
Oh, du Furchtsamer, der du ein Hasenherz hast, wie keiner ... Der alte Nelken hat nicht das Gewölbeschloss gerührt ... der Zugwind hat es gerüttelt ... und eine alte Leiste ist abgesprungen ... nichts ist niedergefallen, was der Kaftanzipfel herabstrich ... Ich liebe dich, Samuel ... weil du so furchtsam bist, wie ein Vogel auf dem Zweige ... gleich fortfliegen willst ... oh, ich werde dich schon hüten ... ich werde dich schon hüten ...
Er tritt herein, nachdem er sein Schlüsselbund sorglich wieder geordnet und die Tür in der Hand behalten hat. Er spricht unverständlich vor sich hin, und sieht sich mit eiligem Blick einmal schnell in der Stube um. Dann redet er laut auf den Hausflur hinaus. Kommen Se rein!
Sehen Sie sich nur die Bücher genau an, Herr Nelken. Die Kosmische Physik allein mit dem Atlas hat meinem Vater zehn Taler gekostet.
[85]Papier sind Biecher ... Der Laden is voll von oben bis unten ... Geld wollen Se haben? ... Wozu brauchen Se Geld?
Gott der Gerechte ... das viele Geld, das ich habe ... wo wollen Sie herwissen, was ich fir Geld habe, junger Mann ... studieren sollen Se de Biecher ... verstehn Se mich ... nehmen Se de Biecher ... was wissen Se, was ich fir Geld habe? ... nehmen Se de Biecher ... verstehn Se mich ... nehmen Se se ... [86] ich hab gar kein Geld fir Biecher ... gehn Se, dass ich schliessen kann!
Als ob der alte Nelken e' Narr wäre, der nur sitzt und wartet, dass ein andrer braucht ... nehmen Se de Biecher ... Biecher gibts zu viele in der Welt ... Geld zu wenig ...
Das schönste Buch, das ich habe, ist die Kosmische Physik. Und bloss, weil ich wusste, dass sie so wertvoll ist, wollte ich sie mir vom Herzen reissen.
Die Bücher sind wie neu. Herrgott, Herr Nelken, seien Sie doch so gut ... und kaufen Sie die Bücher. Ich will sie ja nicht bezahlt haben wie neu. Was wollen Sie denn geben? ...
Die Bücher kosten, wenn ich sie neu kaufe ... der Zschokke zwölf Mark ... das Buch der Erfindungen zwölf Mark ... der Kosmos sechs Mark ... davon habe ich von meiner Tante noch ein Exemplar zu Hause, deswegen verkaufe ich den ... und die Kosmische Physik dazu ... ich müsste mindestens sechzig Mark anwenden, wenn ich sie mir kaufen wollte.
Sprechen Se mer nich ins Geschäft, wenn [88] ich überschlage, was de Sache wert is ... Kaufen is leicht, wenn man Geld hat ... man is immer der Narr ... man hat leicht e' Schund auf'm Halse ... die ganzen Biecher sind neu ... sicher ... neu sind se ... aber wert sind se nischt ... nich zwei Taler sind se wert ...
Hier sind de zwei Taler ... nu' nehmen Se de zwei Taler ... oder nehmen Se de Biecher, dass ich de Tire verschliessen kann.
Nein, Herr Nelken, ein dritt Teil von dem Einkaufspreise muss ich bekommen, sonst wäre das ja gradezu Sünde ...
[89]Der Atlas gefällt mer ... de Bilder von 'e' Sternschnuppen gefalln mer ... ich mechte de Nacht iber dasitzen und studieren, wie der Mond geht und de Sterne gehn am Firmament.
Ja, das ist alles gut und schön, Herr Nelken, aber da müssen Sie noch viel zulegen, wenn es mir nutzen soll.
[90]Acht Taler brauchen Se ... nich finfe sind de Biecher wert ... Mein letztes Wort ... Hier sind de finfe! Nehmen Se de finfe ... oder scheeren Se sich aus meinem Hause, wenn Se sich vor der Sinde firchten, die Se begehn ... Es tut mer leid, junger Mann ... Se sind e' hibscher Mann ... ich will Ihnen helfen, junger Mann, wenn Se in Not sind ... Nehmen Se de finfe ... oder scheeren Se sich ...
Sechse brauchen Se ... junger Mann ... sechse brauchen Se ... und nich einen Pfennig mehr, wenn Se achte sagen ... da ... hier[91] sind de sechse ... machen Se nich, dass mer nich de Zornwelle aufsteigt ... sagen Se kein Wort weiter ... nehmen Se de sechs Taler ... stillschweigend ... nehmen Se se rasch, dass dem alten Nelken 's Geschäft nich leid wird ... der alte Nelken hat e' weiches Herz ... noch freit er sich, dass er Ihnen helfen kann ...
Sagen Se nischt mehr ... wenn Se Hilfe brauchen ... Die Hilfe, die klingt, die finden Se nich in der Welt, bei Freund nich, und bei Bruder nich ... Nehmen Se se, de sechs Taler ... Se werden Ihnen geboten ... der alte Nelken is e Narr ... er tut de Sinde ... er bezahlt bar ...
Wir missen bitten, dass wir bewahrt bleiben vor Schrecken, junger Mann. Gott der Herr behite Ihre Schritte, junger Mann.
E' Mal hat einer gehabt ein' Affen im Haus, und er hat sich den Bart geputzt mit ein' Schermesser ... und er is weggegangen und hat das Schermesser liegen gelassen. Da is der Aff' gekommen ... und hat das Schermesser gegriffen ... und hat welln nachmachen sich zu putzen ...
Gleich, Herr Nelken ... Ich komme gleich ... Ich muss die Seite erst abschliessen ... Gott, wenn man gestört wird, is e' halbes Tun ... Jetzt muss ich noch einmal von oben zählen ...
Huh ... was macht es, dass ich dir immer entgegen wachse, wie das Leben dem Tode! [97] ... und ich dein Weib bin ... still ... dass Samuel es nicht hört ... sonst schäme ich mich ...
Bleich wird mer, wenn man e' Schreck hat. Der Mensch is irrsinnig ... schmeisst mer de kostbare Vase vom Schranke runter ... und will se nich bezahlen.
[98]Du hast nischt zu ihm zu reden ... und er hat nischt zu dir zu reden ... Er wird se nich bezahlen, wenn ich nich will ... und er wird se bezahlen, wenn ich will. Ich bin der Herr, der 's Geld hat ... versteht' Ihr, mich .... Sarah ... gehe ... bring, dass mer essen, und dass mer dann schlafen ... und du, Herr Samuel ... flitze mit deinen Augen, wie de willst ... mag de Vase zerbrochen sein ... kehr se zusammen ... mach mit 'm Buche e Ende .... schlag's zu ... schliess' in e Schrank, dass Ordnung is ... iss ... und dann geh mer aus e Augen, wenn de nich willst, dass mer de Zornwelle neu aufsteigt ...
Bleich wird mer, wenn man e Schreck hat. [99] Der Mensch is irrsinnig ... schmeisst mer de kostbare Vase runter ... und will se nich bezahlen ...
Nischt wirscht de bezahlen ... wenn ich sage, du wirscht nischt bezahlen, da wirscht de nischt bezahlen ... abgemacht ...
Der Mensch is irrsinnig ... schmeisst mer de kostbare Vase von der Fürschtin vom Schranke runter ... und will in Wut geraten ...
Sie kennen mich noch nicht ... Ich kann [100] auch in Wut geraten ... Und wenn ich in Wut gerate ... Herr Nelken ...
Ich dächte, Ihr ässt jetzt ... und liesst die dumme Vase zerbrochen sein. Nein, es kommt mir so lächerlich vor, sich darüber die ganze Zeit aufzuregen. Ueberhaupt sich aufzuregen ...
Der Mensch is irrsinnig ... schmeisst mer [101] de kostbare Vase von der Fürschtin vom Schranke runter ... und will in Wut geraten ... bleich wird mer ... de Suppe widert mer ...
Da sitzen de Zwei ... der Tauber und de Taube ... drehn ewig de Hälse ... drehn de Hälse ... suchen sich mit e Augen ... spielen Verstecken miteinander vor'm alten Nelken ...
Und wenn wir auch nach einander die Hälse recken ... den ganzen Tag sind wir allein miteinander, weil Sie niemandem im Geschäft traun ... da müssen Sie ja doch immer jeden Heller beäugen, der einkommt ... Was Wunder, wenn dann Samuel ewig am Pulte steht und ich ewig in der Küche ... er dort und ich hier ... und wir dann und wann zueinander laufen und uns ein Wort zuflüstern ...
Jung is er ... Flaum hat er ums Kinn ... de Zähne sind weiss ... de Augen wie Lammaugen ... sieh'n an, Sarah ... zärtlich is er .... sanft is er ... Samuel, se sagt, du weisst, warum se lacht ... sprich, warum lacht se?
Ach Gott! ... das redet man so hin ... wer [103] kann wissen, worum ich lache? ... denn ich habe wohl etwas, das zum lachen ist ... aus der Tiefe lache ich ... und auch Samuel möchte gern aus der Tiefe lachen ... aber deine Augen, Herr, kriechen um ihn ... belauern ihn ... dass er umwunden ist, wie von einer bösen Schlange ... da wagt er nicht aufzublicken ... geschweige, dass er die Luft einmal klingen machte oder gar schüttern mit seinem Lachen ...
Sarah ... was hast de gesagt, Sarah? ... aus der Tiefe lachst de ... aus der Tiefe lachen de gierigen Geister ...
Deine drohenden Blicke sind Feigheit ... Du weisst ganz genau, dass ich mir gar nichts daraus mache ... wenn ich auch im Küchenkleide bin ... und den ganzen Tag nur hantiere mit Topf und Besen ... ein Weib bin ich ... Herrin bin ich ... Deine Herrlichkeit ist bald am Ende, wenn ich mich dehne ... recke dich nur auf! ... Denkst du wirklich, ich fürchte mich? Herrin bin ich ... und wer kann mir gebieten, wohin ich meine Schätze verteile? Da, hier werfe ich meine Gnade hin .... und ich weiss wohl, dass du nur so redest, damit ich dir gnädig bin ... nichts werde ich sein ... ich werde dich verlachen, wenn du nach mir hungerst ... alter Tor ... der den Sanften einschüchtern will ...
Ich weiss wohl, dass dir der Bissen im Halse trocken wird, Nelken, wenn ich stolz rede. Mag er dir trocken werden!
Ich bin nicht feige, wie ich scheine, in meiner Stummheit. Schliesslich fängt es auch in mir an, im Blute zu treiben ... Was sind Sie denn auch? Ein unbarmherziger Geldschneider ... ein Mann, der wie ein finsterer Büffel gewaltig [106] aussieht ... und den ein kleiner David erschlagen kann mit einem Steine ...
Feigheit ist alles ... Dein tolles Lachen ist Feigheit. Du weisst ganz genau, dass ich mir gar nichts daraus mache ... und du ahnst mehr, als dir lieb ist ... darum lachst du ... Du lachst mit Schmerzen ... ich werde nicht weich werden von deinem Lachen ... ich werde fest stehen ... und mich nach dem umblicken, den ich ersehne. Den Tag wird er mein sein ... die Nacht wird er mein sein und wir werden dich beide verlachen ... wie die Mäuse spielen wir Tag um Tag, wenn der Herr draussen ist ... wie die Kinder, wenn die Mutter auf Arbeit ist, hinter der verschlossenen Türe [107] ... mit Feuer spielen die Kinder, mit dem heissen Feuer im Blute spielen die, die jung sind miteinander ... Samuel ... ein Mann bist du ... jung bist du ... und des alten Nelken Weib hat heisses Blut in den Adern ... was kann mir der Herr anhaben ... als dass er dich und mich tötet!
Se will uns versuchen ... Samuel! ... Se will mich versuchen, der ihr Gebieter is ... [108] und se will dich versuchen ... Wonach sehnt sich nicht das Weib, wenn es erst im Käfig is, gehalten wie e Vogel? ... eine Spassmacherin is se ... se singt sich ihre Träume vor sich hin, wie e Lied ... Du derfst nich trauen ... spielen tut se ... singen tut se, wie der Vogel im Käfig zum eigenen Zeitvertreibe ...
Reden Sie sich das nur ruhig ein, wenn Sie es glauben wollen. Ich bin von zäherem Holze gemacht, als dass ich nur Trug redete, um zu täuschen. Täuschen, das ist Ihr Geschäft. Du denkst, dass es in meiner Seele auch so aussieht, wie in der deinen. Ich berechne nicht. Ich habe keine Zahlen im Sinn. Ich fühle, was ich fühle. Und sage es und will warten. Will nicht bloss sehnen. Will warten ... bis ich den sanften Kuss fühle, der mich küsst ... der mich küsst auf die Wange ... auf die Stirn, auf den Hals ... auf meine Handfläche ... der mich auf meine Füsse küsst, wenn sie nackt sind ... nein nein nein ...
Liebe ist süss wie Honig ... duftig wie Blüten ... aber sie muss auch sein gepanzert ... wie Ritter gepanzert sind ... ein Schwert muss sie tragen und einen Dolch muss sie tragen ... hüten muss sie das Weib, das zart ist ... immer ein Kind und immer eine sanfte Tochter ... einen Dolch muss sie tragen ... nicht, Samuel?
»Wie Ritter gepanzert sind ... ein Schwert muss sie tragen und einen Dolch muss sie tragen ... hüten muss sie das Weib, das zart ist ... immer ein Kind und immer eine sanfte Tochter ... einen Dolch muss sie tragen ...«
Ich begreife gar nicht, was Sie von mir wollen? Gott der Gerechte, was tue ich denn? Rede ich etwas? Habe ich nicht den ganzen Tag am Pulte gestanden und Ihre Arbeit getan?
[110]Ja ... Gott ... gewiss ... ich möchte nur wissen, wozu das alles noch hintreibt? ... Herr, Nelken verzehrt sich vor Eifersucht, weil sein Weib jung ist ... und weil ich zufällig auch jung bin ... und bei ihm in Arbeit stehe ...
Diese Eifersucht geht nun jeden Tag. Diese Verdächtigungen gehen nun Tag um Tag ... der Herr treibt die Verdächtigungen weiter und weiter ...
Wenn ich hier stehe am Pulte, muss ich[111] schreiben, Stunde um Stunde ... die Finger bluten .... Krampf kriegt man ... Gott der Gerechte ... Wenn wir ein Wort miteinander flüstern ...
Nicht, Frau Nelken ... was können wir flüstern, was nicht die Menschen tausendmal geflüstert haben ...
Aber man kriegt die Sache allmählich satt. Man wird sich nicht ewig in die Gefahr begeben, wenn einen Herr Nelken anblitzt mit seinen bösen Augen. Was reden Sie vom Dolch tragen ...
Herr Nelken und ich, jeder trägt einen an seinem Hosenriemen. Schliesslich werden die Verdächtigungen so weit getrieben, bis man seines Lebens nicht mehr sicher ist ...
[112]Ich tue meine Arbeit ... recht und gut ... gründlich. Den ganzen Tag angebunden, wie ein Hund an der Kette ... das will ich tun ... pah, um was? Keine Hand werde ich weiter rühren ... das ganze lächerliche Misstraun ... diese völlig leeren Verdächtigungen ... diese blasse Eifersucht des alten Herrn Nelken soll mich nicht weiter in Wut reizen ...
Ich sage Ihnen ... zornig bin ich ... und ich werde noch zorniger werden ... Grund habe ich genug, zornig zu sein ... Wenn Sie mir weiter aufspielen, wie Sie jetzt tun, werde ich lieber heute wie morgen hinausgehn aus [113] diesem Hause, verstehn Sie mich, Herr Nelken ... Lieber heute wie morgen können Sie mir den Stuhl vor die Türe stellen ... können Sie mich entlassen, wenn Sie denken, einen Besseren zu finden, wie Samuel ...
Er ist jetzt im Begriff durch das Magazin abzugehen, während er seine Worte erregt herausschreit. Solche lächerlichen Verdächtigungen ... ich werde dieses Haus lieber heute wie morgen verlassen ... lieber heute wie morgen können Sie mir den Stuhl vor die Türe stellen.
[114]Eine Spassmacherin is se ... singen tut se, wie der Vogel im Käfig ... ich kenn de Sarah ... hinter der Tir hängt se mer am Halse ...... hinter der Tir kann se gut schnäbeln ... ich kann se nich abstreifen ...
Personen.
Wollen Sie nicht ganz hereintreten und einen [121] Augenblick hier Platz nehmen, gnädige Frau? Oh, die Mutter!
Gütiger Himmel! Einen Augenblick lassen Sie mir noch Zeit. Ich muss mich erst eine Weile wieder zur Besinnung bringen ... Hier hat sie also gelebt? Hier hat also Nadja den Zusammenbruch erlebt? ... nach den fürchterlichen Ängsten, die wir haben durchmachen müssen um ihr Leben ... Ich bin ganz erschüttert ... Nun also ... vor eine neue Nadja hintreten oder vor die alte Nadja! ... Die qualvolle Unsicherheit der Erwartung bricht mir fast das Herz. Sagen Sie mir doch, liebe Schwester! Sie haben Nadja gepflegt? ... von dem ersten Tage an?
Sehr wohl, Frau Generalin! Gleich von dem [122] Tage an, als Frau Bielew hier im Hotel erkrankt war ... Wohl gleich, als sie von Russland hier angekommen war! ...
Ja ja ... als Nadja aus Russland fliehen gemusst ... um jeden Preis fliehen gemusst, und sie um jeden Preis nach Paris drängte, um dort ihrem leidenschaftlichen Hasse womöglich nur noch leidenschaftlicher weiter zu dienen ... der unabsehbaren Fata Morgana der Volksfreiheit weiter zu dienen, ihr junges Leben den grausamen Schicksalsforderungen des revolutionären Komitees noch vollends als Opfer hinzuwerfen ... Ach, du himmlischer Gott! wenn Sie wüssten! In solchen Zeiten, wie sie über unser Volk hereingebrochen sind, da werden Kindergemüter zu Feuerflammen ... Wir hätten sie schützen können ... jawohl ... wenn wir sie ganz und gar gefangen gehalten. Aber der Tag war gekommen, wo es mit dieser Einsicht zu spät war ... wo Nadja mit der roten Fahne des Aufruhrs den Haufen rachsüchtigen Volkes führte, und das Bild des Zaren vor aller Augen [123] mit Verwünschungen unter ihre zarten Füsse trat. Da sprühten ihre sanften Augen nur Hass. Sie zischte auf wie eine böse Schlange. Und nicht Vater noch Mutter, noch ihr Mann konnten irgend Gehör finden in ihrem gejagten Herzen.
Von Frau Bielew ... von Nadja Bielew, gebornen Lermontoff, meiner neunzehnjährigen, bleichen, engelsanften, geliebten Tochter.
Ja ja ... sie hat nun Sinn und Seele gefunden, wie sie oft sagt ... Ist es nicht das grosse Werk ... ja freilich, es ist das grosse Werk von Doktor Lenoir ... Oh Gott, tätig ist sie immer.
Sagen Sie nur ruhig, immer gewesen, schon mit zehn Jahren. Schon mit zehn Jahren hat dieser brennende Eifer angefangen, hat Nadja zu grübeln und zu arbeiten angefangen ... Und man hat ihr keine Hindernisse bereitet. Man hat sich einfach nicht um sie gekümmert. Das war der ganze Fehler ... Liebe Schwester, sprechen Sie doch! Wie ist sie jetzt? Ist sie sanft geworden, wie sie war?
Oh mein Gott, was für ein rätselhaftes Wesen [125] sie immer war! Schon als Kind konnte sie mit Leben und Tod spielen wie mit zwei goldenen Kugeln, konnte es ganz arglos und mit Lachen ... Aber sie konnte sich auch plötzlich zu etwas überwinden und sich ehern entscheiden ... Dann hatte sie eine heisse Flamme in der Seele brennen, die alles Ding und Wesen und Menschen und sich selber vor sich zu Schatten machte. Und wenn es in solchen Augenblicken um Mutter und Vater geschehen gewesen, hätte sie kaum mit den Brauen gezuckt. Wenn es um ihren Mann und ihre Kinder geschehen gewesen, würden nur ihre Augen flüchtig gesprochen haben –: »Was habe ich mit Euch zu schaffen?« und nichts weiter. Solche heissen Herzen haben eine Glut wie geweihte Fackelträger.
Sehen Sie! ... da ... nun glaube ich doch, dass sie es ist, die um die blühende Weide biegt und herkommt.
[126]I ... nein ... ein Herr in mittleren Jahren schon ... ein sehr kluger ... ein sehr unzugänglicher Mensch, der auch das Buch da geschrieben hat ... oh ... ein berühmter Gelehrter ... er hat nämlich bei uns auch krank darnieder gelegen ... aber er ist völlig in Genesung begriffen, wie Frau Nadja ... ein ganz abweisender Mensch ... ein bissel unausstehlich manchmal ... ich begreife Frau Nadja nicht, dass sie an ihm so hinaufsieht ... ein[127] alles verachtender ... alles bemäkelnder Herr ... ich als Schwester kann es ja ruhig sagen ... dem auch seine Pflegerin nichts rechttun kann ... Gott ... er mag wohl viele Enttäuschungen im Leben erfahren haben ... und er, hat auch gelebt ... sicherlich ...
Sagen Sie mir nur ... wer ist der dunkle, schlanke Herr, der mit ihr kommt, und von dem sie sich jetzt so hastig und zutraulich verabschiedet?
Sie ruft in den Garten. Nein nein, Frau Nadja! Niemand will sie stören. Machen Sie nur ja keine Umstände erst und kommen Sie .... rasch! ... rasch! ... ganz rasch!
Nadja ist völlig schmucklos, ganz einfach, aber anmutig gekleidet, ohne Hut, hat nur einen seidenen Shawl lässig um Schulter und Hüfte geschlungen, das Kleid ist fussfrei, kurz wie bei einem Mädchen, die Füsse in Sandalen. Sie hat einen Strauss Blumen in Händen. Noch auf der Terrasse ist sie prüfend stehen geblieben und kommt nur Schritt um Schritt zögernd bis zur Tür heran. Sie sagt kein Wort.
Liebe ... Schwester ... meine Mutter? ... Wie denn? Wartet Vater auch draussen? ... Wartet mein Mann auch draussen? ... Kommen sie alle wieder, um mich neu zur Gefangenen zu machen? ... Wollen mich die Augen meiner Mutter wieder mit Zorn anblitzen ... bis ich ganz demütig bin? ... Will Vater mich neu niederschreien mit seiner harten Stimme? ... Und der reiche, duldsame Mann mich anflehen, dass ich das Glanzstück seines Lebens bleiben soll!? ... Werden Sie mich wieder klein und erbärmlich machen vor mir selber? ... Schwester ... ich muss mich retten, Schwester!
Du sollst nicht weinen, Mutter! Ich will auch geduldig sein! Ich werde mir alles anhören! Ich werde kein Wort erwidern ... und alles, was ihr verlangen werdet ...
Nein nein ... gar nichts, Kind! Ich komme nicht, gleich etwas zu verlangen. Ich will dir nur erst wieder in die Augen sehen. Ich will nur erst deiner Seele wieder nahe kommen. Ich will erst wieder zu meiner kindlichen, heiteren Nadja kommen. Ich verlange einstweilen gar nichts von dir. Lass mich nur eine Weile stumm neben dir sitzen, wie früher ... und fühlen ... einmal endlich wieder ... dass du mein Kind bist, und ich deine Mutter bin.
Schwester! Lassen Sie meine Mutter ganz allein mit mir! Vielleicht ... ja ... ich habe doch viele unaussprechliche Qualen durchgemacht ... und aus all der Jagd und dem Fieber ist doch eine andere Nadja auferstanden. Wenn [131] wir jetzt ein paar Augenblicke ohne Worte allein wären, sodass wir unsern Atem und unsre Herzschläge heimlich hörten ... vielleicht, dass dann doch ein Frieden zwischen uns auftauchte.
...Ich hatte es Ihnen ja nie gesagt, Schwester, dass ich meine Mutter hasste, seitdem sie mich vorzeitig um Reichtum verkuppelte, und meinen Vater hasste, weil er mein Volk um seines Amtes willen verleugnete ... trotz der elenden Knechtschaft, in der es seufzt und die er so gut erkannte, wie ich und Millionen.
Ach Gott! Das war... das war ich alles früher einmal. Das ist längst untergegangen. Das soll nie wieder kommen. Ich bin aus den Fieberschrecken der Seele neu und klar aufgewacht. Ich habe ein Chaos durchlaufen ... dort in der Heimat ... hier in der Krankheit [132] ... darin es noch ungebundener nachtobte, wie Irrsinn ... Aber das ist alles wie ein Lärmschrecken verweht, dass die Seele sich plötzlich selber hörte ... Nun bin ich ein glücklicher Mensch geworden, Mutter! ... Nun will ich auch weinen ... an deinem Herzen, Mutter! ... Ich will den finsteren Rest Erinnerung, der noch ferne auftaucht, wegweinen ... an deinem Herzen! ... Oh, Mutter ... sieh mich ... jetzt bin ich endlich ganz genesen zu mir selber. Du kommst zu einem keuschen Menschen, zu einem einsamen ganz in der Stille ... der sich um nichts mehr auf die Gosse wirft! ... Du hast wieder nur eine Zärtliche vor dir ... All das Vergangene waren Alpträume ... Schauer, die allen Hass vollends in mir zerbrachen ... Fürchterliches! ... fort ist es! Ich habe mich heute draussen am See bekränzt, Mutter. Es ist Frühling draussen ...
Ich hatte immer nur den Kopf voll flammender Ideen ... nicht? Und den Mund voll flammender Worte. Ich wusste gar nichts anderes, als das gehetzte Volk weiter zu jagen ... und wähnte immer irgendwo etwas vor mir, wie ein [134] Reich voll Licht und Reinheit ... ein Dunstbild in der Ferne ... dorthin! ... dorthin! ... sollten sie alle getrieben werden! ... Den Widerstrebenden alle Verachtung ... Für die Schönheit der wirklichen Frühlinge und der stillen Sommernächte hatte ich ja nur die ewige Blindheit! ... Oh ... eine Jagd, die mir das Herz zerriss ... Ein Wahnbild aus Rauch, wofür der einzelne weggeworfen ist auf dem Wege ohne Erfüllung ... Nun beginne ich einen andern Traum zu ahnen. Nun beginne ich an die Fülle Leben zu glauben, die in mir ist ... Nun fühle ich mich emporgetragen, ich selber aus der eigenen Tiefe des Daseins ... voll Liebe ... auch zu dir, Mutter! ...
Wenn ich auch deine Worte nicht ganz verstehe, liebes Kind, so scheint mir doch das eine daraus klar, dass du endlich die furchtbare Krankheit deines politischen Fanatismus deutlich erkannt hast ... Dass du endlich deine [135] ideale Verstiegenheit von dir getan hast ... Dass du zum ersten Male mit dir selber beginnen willst ... Und das wäre doch eine Basis, auf der sich eine Zukunft errichten liesse! ... Wo hätte ich denn auf der Herfahrt an eine solche Fügung je zu denken gewagt! ... Ich bin ja doch in zitternder Sorge gleich vom Coupé aus hierher gehastet ... ich hatte wohl noch manch' andre Worte von früher gellend im Ohr, dass du eine geborene Revolutionärin wärst, und dass du keine tiefere Leidenschaft besässest, als deinen Kopf abzugeben, wenn dein Volk es verlangte. Robespierre spukte ja damals in deinem Kopfe.
Du musst aber jetzt auch hören, liebes Kind! Du kannst dir denken, wie mich die weite Reise tief ermüdet hat ... Und ich bin noch genug erschüttert, dass auch ich alle meine Kräfte zusammenraffe ... für dich ...
[136]Ich bin ja doch hierher gefahren mit der verzehrendsten Unruhe, endlich einen Weg für dich deutlich zu erkennen ... auch nur eine kleine Hoffnung für dich und uns ... deutlich zu erkennen! ... Du weisst ja doch sicher, wie es in den Deinen aussieht ... wie es um uns steht ... wie wir heimlich zittern und beben, dich um Gotteswillen nicht ganz von uns zu lassen, dich in unser schlichtes, friedliches Menschendasein neu zurück zu gewinnen ...
Wo hätte ich denn jemals an eine solche Wandlung denken können, an eine solche Milde und stillen, sanften Sinn. Es ist ja wie ein reiner Gottesfriede über dich gekommen, mein geliebtes Kind ... Du stehst ja da, wie ein [137] schüchternes Mädchen ... wirklich ... und ich beginne in meiner geängstigten Seele ... wirklich ... ach Gott ... noch in Petersburg damals ...
Nein nein, ich will von alledem nicht mehr reden. Ich will gar keine Erinnerungen weiter heraufbeschwören. Die Zerwürfnisse mit deinen Eltern und mit deinem Manne sollen jetzt nicht mehr zwischen uns stehen. Das Vergangene ...
Ja, du sollst es vergessen und begraben in dir! Deine Eltern haben dir voll verziehen. Deine Kinderchen rufen nach dir ... Dein sanfter Mann hatte ja doch immer nur Liebe und Güte, um nicht zu sagen Anbetung für dich. Er würde dich aus einem brennenden Hause herausgeholt haben ... Du kennst ihn ja ... [138] und wenn er dabei zehnmal selber zu Staub und Asche geworden wäre. Er hat dir deine verstiegenen Launen nie angerechnet ...
Dein guter Mann läuft die ganze Zeit unten [139] ruhelos auf dem Kiesplatz hin und her ... und wartet nur deines Winkes ...
Gut ... ich gehe, liebes Kind. Es ist durchaus besser, wenn wir dir jetzt Zeit lassen ... und du uns Zeit lässt. Ein jeder mag sich jetzt erst eine Weile hinstrecken, um sich von der ersten, furchtbaren Angst zu erholen.
Dein Mann und ich, wir sind unten in dem Hotel am Kurpark sehr gut untergekommen ... Nadja ... wenn ich deine sanfte Stimme höre ... wenn ich dich ansehe ...
[140]Habe ich noch den harten Blick und die scharfen Linien auf der Stirn und um die Mundwinkel, die der Enthusiasmus der Aufreizung in ein junges Gesicht bringt? Fange ich nicht wieder an, aufzublühen? Du sagtest doch selbst, ich erschiene dir, wie ein schüchternes Mädchen?
[141]Nadja Lermontoff hat jetzt eine Frühlingsblüte auf den Lippen und ein Lied in der Seele, ein Schwärmerlied ... zum ersten Male ...
Und wann willst du, Kind, dass wir wiederkommen, um uns endlich von einer besseren Zukunft zu unterhalten?
Kommen? ... wer? ... ach, nein nein ... für diese Nacht wäre es doch am Ende ganz zwecklos ... oder ... Gott ja, Mama ... komme nur du gegen die Dämmerung ... Nicht vor acht, Mama! ... Und wenn Herr Bielew wirklich auch noch daran dächte ... später [143] liegt der Garten in tiefem Frieden ... und das Herz wird gewappnet sein ... mit Güte, Mama ... mit eherner, klarer Güte! ... Adieu, Mama!
Ach, Mama, weisst du es nicht, dass ich das schon tat, als ich ein zehnjähriges Mädchen war! Es tat mir oft fast weh ... aber ich liebte diesen Schmerz.
Aber du sollst es jetzt nicht tun ... um alles in der Welt nicht ... denn ich will mich nicht neu zu fürchten beginnen ... ich will mit ruhiger Hoffnung von dir gehen.
»Ich will mit ruhiger Hoffnung von dir gehen!« Oh, ihr gütigen Geister! ... Diese Stunde muss über viel entscheiden ... muss über sehr viel entscheiden!
Ich muss wohl doch jetzt ein bissel für Ruhe sorgen ... Gott ... liebe Frau Nadja ... nur nicht so hastig ... nur nicht immer gleich ruhelos werden!
Hat es so den Anschein? ... Oh ... ich bin [145] es gar nicht ... ich bin durchaus nicht hastig ... ich bin sehr ruhig jetzt.
Nein nein, da haben Sie nur zu recht. Als Kind unterlag ich immer dieser Bewunderung ... Oh, eine Mutter ... dachte ich.
Und das war also Ihr lieber Mann ...? ... Und Ihre beiden Kinderchen sind doch gewiss auch mitgekommen?
Aber diese Blumen von Doktor Lenoir ... nein nein ... Sie sollen keine Blumen hier haben, wenn Sie schlafen. Der Duft erregt Ihre Nerven viel zu sehr.
Nein nein, Frau Nadja, hindern Sie mich nicht ... und ergeben Sie sich in,die Anordnungen, die der Arzt mit aller Bestimmtheit getroffen hat.
Nur reden Sie nicht immer dasselbe, wie ein [147] Papagei ... und gehen Sie endlich! ... Machen Sie nicht erst Verdriessliches weiter! ... Lassen Sie das Licht herein oder nicht herein ... Lassen Sie die Tür angelweit offen oder machen Sie sie unnütz zu, dass die weiche Luft nicht herein kann ... meinetwegen ... nur lassen Sie mich endlich, ohne dass Sie wie ein Wächter stehen!
Ich schliesse nur die Tür. Die Vorhänge will ich offen lassen. Es ist nicht gut, am Tage bei geschlossenen Vorhängen zu schlafen. Der Schlaf wird zu tief.
Da ... diese schnee-schneeweisse, reine Wolke ... kann so unermesslich frei hingehn in der blauen Luft ... ist ganz losgebunden ... Haben Sie einen Halt gefunden in diesem Leben, Schwester?
Ich ...? ... Fragen Sie mich ...? ... Mein Gott! wenn man so viel zu tun hat, wie [148] in diesem Hause ... Einen Halt? ... Wie meinen Sie das? ...
Ich, ich denke, es ist jetzt besser, dass Sie einen rechten Halt im Schlafe suchen. Denn wenn man richtig ausgeruht ist, dann hat man wieder frische Kräfte. Und das ist der beste Halt.
Nein, du ... es hat doch wohl nicht recht Sinn, wenn ich dir jetzt die so notwendige Ruhe störe ... Ich kommespäter ...
.. Oh, dass du kommst! ... Setze dich dort auf den Schreibstuhl ... ich werde hier liegen ... so können wir reden.
Ach, wenn ich nur reden könnte ... wenn ich nur alles sagen könnte, was ich fühle ... den grossen Schmerz, den ich in mir trage!
Nein nein ... davon will ich durchaus jetzt nichts wissen, wenn du bei mir bist ... Ich will nur jetzt einmal endlich eine Sache ganz deutlich fühlen ...
Ich will es jetzt nur einmal ganz deutlich fühlen, das glückselige Gefühl ... das Einzige, was ich je besass, noch besitze ... Glaubst du es mir nicht? ... Mein Leben war furchtbar ... vielleicht in der Einbildung ... aber auch im Wirklichen. Jedenfalls kannte ich in meiner Jugend keinen hellen Tag, kein Lachen ohne Schmerzen ... Ich lernte an allem zweifeln und an allen ... Wenn ich oft vom Tode spreche, so ist das kein Spass. Liebe in Nadja Lermontoffs Herzen einmal erkannt, einmal erlebt, ist ein A und O ... und nichts mehr ... Wenn [152] ich sie verlöre ... wenn ich sie einmal aufgeben müsste ...
Was aufgeben müsste? ... weil ich es nicht ganz so fühle, wie du es dir ausmalst ... weil ich ja doch ein Leben gelebt habe ... alles tausendmal erfahren habe ... und nicht mehr brenne und mich erhitze, liebes Kind? ... Aber warum aufgeben müsste? ...
Oh ... ich mag es nicht sprechen ... ich mag es nicht laut nennen ... Die lauten Worte verletzen meine Seele ... Und nicht fragen, nicht prüfen! ... Ich fürchte mich doch ... Ja ja ... das ist nun ein Unterschied ... die einstige Revolutionärin liebte den Tod ... und die Liebende will leben ...
Liebe Nadja, wir sollten durchaus nicht immer nur solche Gespräche führen ... ich bin gar nicht hier hereingekommen ...
Nein ... Du hast ganz recht ... man kann [153] es einander doch! nicht zeigen, was in unserm Blute brennt an wirklichem Feuer ...
Nein ... ich muss dir etwas erklären ... Es peinigt mich augenblicklich so sehr, dass du ewig nur von Eitelkeit redest ... Natürlich bin auch ich eitel ... eitel um mich ... eitel für deine Augen ... eitel für dein Herz ... aus Verlangen, zu blühen und zu leben ... eitel aus dem tiefsten Lebensdrange ... Ich war natürlich auch sonst eitel ... auch als Revolutionärin war ich eitel ... wenn du es eitel nennen willst, was mit Schwärmergefühl nach dem Tode buhlt ... denn der Trieb sich auf die eigenste Weise rein zu vollenden, vielleicht im Leben ... oder auch durch den Tod ... das ist Eitelkeit ... das magst du immer Eitelkeit nennen ... du ... Freund ... oder Geliebter ... sage es mir doch einmal, ob du mich allzu eitel findest?
[154]Der Tod quält ja doch die Menschen nur durch seine scheinbare Unlogik und Unkonsequenz. Aber in der Revolution bekommt der Tod den Glanz der grossen Freude, den Glanz des kühnen Opfers, den Glanz der Konsequenz. Er bekommt das Verlockende ... Nie kann der Tod Lebensziel sein ... ganz gewiss nicht ... Aber er wird zum letzten Massstabe unsres Lebensgefühls ... er wird zum erlösenden Ende der Tragödie ... er beleuchtet die grossen Visionen, um die Millionen Seelen sich immer wieder neu freudig opfern ... Eine Leidenschaft danach war immer in mir ... wie ein Durst der tragischen Vollendung brannte mich immer ... lag mir immer im Blute ... Das kann natürlich nur bei aktiven Menschen sein ... und bei solchen Menschen, die ein ganz eigenes Leben in ganz reiner Bestimmung nur einmal leben wollen ...
Ach, sei nicht böse, Geliebter, dass ich immerfort[155] von politischen Dingen spreche ... denn jetzt ist meine Seele von ganz anderem erfüllt und möchte gerne vergessen.
Eine solche heimlich-fröhlich sich streckende Flamme nach dem letzten seligen Ende ... eine solche Inbrunst zum Opfertode kann natürlich in Leuten wie Bismarck oder Napoleon nicht leben. Napoleon und Bismarck waren gar nicht politische Kämpfer ... politische Götter waren sie ... standen ausserhalb von Gut und Böse ... ausserhalb aller Idee von der Gerechtigkeit, die ihre Bestimmung nur im einzelnen Menschen findet. Sie waren die Schöpfer und Baumeister der grossen, politischen ... dieser grossen, unheimlichen Moloche, die das einzelne Leben in ihre Feuerarme drücken ohne gross zu fragen ... sehr ohne Rücksicht auf die Sehnsuchten der einzelnen Seele.
[156]Famos, Nadja! ... Das ist wirklich ein tiefer Lebensunterschied, den du damit kenntlich machst. Und vielleicht kann man sich das Wesen der Revolution gar nicht besser klar machen, als wenn man eine wahre Epidemie solcher Inbrunst im Durchschnitt eines Volkes annimmt, wie sie in deinem Blute lodert.
Huh ... ja ja ja ... so mag es wohl zu erklären sein. Aber das interessiert mich jetzt im Grunde gar nicht ... Du ... sieh mich an ... ich habe zwei Menschen in mir ...: einen ganz ganz alten ... einen immer trauernden Menschen ... einen, der in jeder Minute zehn Leben verlebte ... und einen lustigen Menschen, das Kind, das immer wieder neu geboren wird.
Ja ja ja ... das ist die liebende, leidende Nadja ... wenn man dein Feuerherz brennen [157] sieht ... Gott ....wirklich ... es könnte mich fast froh machen ... jedenfalls beneide ich dich ... Du hast noch allerhand solche Anbetung ... die dir heiss macht ... Du hast noch Leidenschaft ... du hast noch einen Glauben ...
Ja ... hab ihn nur ... ich hab ihn nicht mehr ... ich habe gar nichts mehr derart ... und muss auch weiter kommen
Nein, nein, nein, nein ... nur jetzt noch nicht davon, wenn du mich nicht auf einmal ganz verwirren willst!
Liebst du mich nicht? Sage die Wahrheit! Sage, so wie du denkst und fühlst! ... Ja! ... Ganz bestimmt ... in diesem Augenblick musst du es ganz bestimmt sagen ... Ich habe nie einen Mann geliebt ... nie einem Manne wahrhaft angehört ... ausser dir ... und in meiner Seele kann es nie eine Enttäuschung geben für dich!
Sonst bin ich nur eben eine ganz haltlose Seele. Ich habe mich auch; damals nur in Seelenangst hingeworfen, um meinem Leben einen reinen Sinn zu geben. Mein Geliebter, du hast über all die politischen Dinge tiefer als ich nachgedacht. Du kennst die Mächte, die ein Volk heissen, das Durcheinander, die Gewalten, die [159] nicht gut und nicht böse sind. Nur unbarmherzig. Nur ehern. Darin die volle Seele zerrinnen muss, wie ein flüchtiger Tropfen in einem Schwalle .... Jetzt bin ich heissen Lebens. Ich möchte nicht ziellos verlöschen. Ich möchte brennen. Ich möchte Ich sein, weil ich ganz nur du bin. Den Glauben an die grossen, potentatischen Worte hast du mir geraubt. Ich will stumm sein und Leben fühlen. Ich brauche keinen Glauben mehr ... weil ich es lebe ... weil es dein Leben ist ...
Ja ... Nicht? ... Ich bin dir fast närrisch mit meinen Gefühlen. Ich weiss es ja ... Und ich sage dir doch ... ich will vergehen auf meinem einsamen Wege, wenn es nicht eine Macht gibt, die absolut ist, warm wie das Licht, klar wie der Himmel, einzig wie die Sonne, ein unverbrüchliches Geborgensein, wie keine Mutter ihr Kind bergen kann, weil sie es hinausgeben [160] muss, keine Blüte ihren Keim bergen kann, weil er ihr entwachsen muss. Nein, nicht entwachsen, nichts davon hinausgeben! Ganz es sein! Ganz es leben! Ein einziges Ich und Du, Du und Ich, das den Frühling weckt, und den Sommer lebt und den Tod ... Ein einiges Leben aus der Fülle und nichts zweites, das Du und Ich ist. Es muss da sein ... auch in dir. Es ist grenzenlos selig ... und es ist der Abgrund des Todes ohne das ...
Aber Nadja, du rennst doch immerfort hinter Träumen her. Zu was nur immer solche grüblerischen, quälenden Erörterungen, die dir bloss die Ruhe rauben ... Nun ... mein Gott ... ich sage dir ja, du kannst doch von einem Menschen, wie mir, nicht einen solchen Enthusiasmus der Liebe verlangen ... Du kannst doch von einem solchen Menschen, wie mir, nicht glauben, dass ihm sozusagen das Leben noch den Tod lohnte .... Aber warum nur immer solchen Phantomen nachjagen, die man [161] nicht greifen kann ... und alles so übertreiben? Man braucht doch nicht die Dinge gleich auf die äusserste Spitze zu stellen! ...
Dann erhebt sie sich, blickt das Kissen an, und sagt so vor sich hinstarrend. Meine Mutter ist heute gekommen.
Ja ... was ist es denn zunächst nur mit deiner Mutter? Ich begreife gar nicht ... warum [162] soll sie nicht kommen? Du bist doch kein kleines Kind mehr, das sich vor der Mutter fürchtet?
Wenn du die Seele dieses Briefes noch zusammen [163] bringst, vielleicht bringst du auch noch meine Seele zusammen.
Gehe nur im voraus in den Saal hinunter. Ich muss erst meine dumme Aufregung ganz in Ruhe bringen; ... Was soll da gross überlegt werden? ...
Ich brauch dich nichts mehr zu fragen. Ich weiss schon alles ... Adieu ... mein ... einziger ... Geliebter!
Nadja! ... Nimm es harmlos! Das Leben ist eine Harmlosigkeit. Es ist gar nichts dahinter. Man muss es leben, wie es kommt. Und nur ein wenig vernünftig sich halten. Tue mir den Gefallen, Nadja!
Dann erhebt sie sich, sieht sich um, und geht auf die Terrasse, um den Blumenstrauss herein zu tragen. Sie steht einen Augenblick unentschlossen damit an der Tür. Dann sagt sie vor sich hin. Nein ... hier auf der Chaiselongue nicht ... ich will mich lieber aufs Bett legen.
Es ist nichts anderes notwendig. Ich werde wie [166] ein liebendes Mädchen daliegen. Es entstellt gar nicht.
Nein nein ... auch das ist unnütz ... Worte können es nicht mehr tun ... Schmerzen will ich ihm nicht machen ... Adieu ... mein ... einziger Geliebter!
So etwas hatte auch immer Napoleon bei sich ... für den Fall, dass er zu sehr in die Enge käme ... Und ich habe ja Lenoir zum Abschied das Wort deutlich gesagt. Es wird ihm lange im Ohre klingen.
Kommen Sie nur hier herein, gnädige Frau Generalin. Sehen Sie, die Terrassentür ist nicht verschlossen. Und Sie warten gütigst eine Weile, wenn Frau Nadja noch beim Souper ist.
Ja ... ich dachte es mir schon ... dass sie noch beim Souper wäre ... Bitte, nehmen Sie doch Platz auf diesem Stuhl ... und Herr Bielew, wollen Sie nicht hier ...
Hier hat sie eben Notizen ... oder einen Brief zerrissen ... ich weiss nicht ... Gott ... es fällt plötzlich eine Aengstlichkeit über mich her ... obwohl ich durchaus gar keinen Grund wüsste ...
Nein ... sehen Sie nur ... sie schläft! ... Wie sie nur tief schläft ... und aussieht, wie ein liebliches Mädchen ...!
Nein nein ... sie ist aber so wunderbar still ... Das ist ja gar keine Schlummerruhe ... Das ist ja ein ganz rätselhafter Frieden, der aus diesem Mädchengesicht redet.
Gott Gott Gott ... Frau Generalin ... Frau Generalin! ... sie hat ja gar keinen Hauch Atem mehr ... das Herz von Frau Nadja Bielew steht ja ganz still!
Personen.
Er hat einen leinenen Kittel an und eine blaue Arbeitsschürze vorgebunden. Er ist bis ins Atelier gekommen. Macht nur bloss, dass Ihr hier im Atelier, fertig werdet. Der Meister kommt schon die Treppen herauf.
Herr Jesus, da macht doch nur! Meinetwegen [175] könnt Ihr das übrige noch vollends in Ordnung bringen, wenn sich der Herr für den Fasching anzieht ... rasch! ... nur rasch! ... na ja!
Er ist ganz achtlos. Er hat eine, beschäftigte, verhärmte Miene, sein bartloses Gesicht ist bleich. In die Diener ist sofort eine Verwandlung zu stummer Devotion gekommen. Sie versuchen auf Zehen zu gehen. Hunger treibt sie verstohlen an.
Er spricht leise. Schicke die Leute hinaus! Dass wenigstens hier noch Ruhe bleibt ... dass mir wenigstens der Faschingswahnsinn noch diese eine Zuflucht lässt!
Das sanfte, erstaunte Gesicht mit dem kühlen[176] Blick ... und die schlanke Nase ... und der weite Schleierhut ... der Schleier in grosser Schleife gebunden unter dem Kindskopf.
Und dieser Mensch, der gerade um die Ecke verschwand ... diese vornehme Kreatur im dicken Sackmantel ... Wer? ... Wie käme denn nur um Gotteswillen Ranke ...? ... Ist meine Tochter zu Hause? Ist Ranke zu Hause?
[177]Dem alten, gnädigen Fräulein liegt viel zu sehr selber daran, unser junges Fräulein Tochter in seinen Schutz zu nehmen, wenn bei uns dieser grosse Ball ist. Die alte, fromme Dame hat ja doch einen zu grossen Widerwillen wider den ganzen Fasching ... weil es zu Choralmusik und Kirchgange nicht stimmen kann, solches Maskengetümmel ... sagte das alte, gnädige Fräulein ... und auch überhaupt, weil [179] sehr viele Gefahren dabei wären für einen reinen, keuschen Menschen ...
Es könnte mich völlig in Raserei versetzen, wenn ich es erleben müsste, dass so irgendeine freche Lebensgier nach dem jungen, geheiligten Leben meiner Tochter Ranke ... heimlich ...
Hunger, bepackt mit dem Pelz und Hut des Herrn, geht geräuschlos rückwärts mit dem deutlichen Ausdruck in seiner Haltung, dass er jetzt nicht stören dürfe.
Ja ja ja ... zwischen diesem bunten Farbenkram dich herum getrieben hast! ... Gott, du geliebtes, reines Kindsgemüt! ... Wie glücklich ich bin, dass ich dich leibhaftig vor mir habe, nicht bloss gemalt! ... Findest du es nicht furchtbar lächerlich, dass man als Mann von Geist nichts Besseres tun kann ... immer, [181] nur zwischen solchem Flitterwerk leidenschaftlich hin und her hantiert, das nur Schein und nicht Wesen ist? ... Nicht einmal so wirklich, wie Blumen, die man hier abreisst und dort hinwirft! ... Natürlich gefällt solche Flitterware dem König. Er muss ja auch immer so gleichsam im Fasching leben, wie ich. Es sind überall nur Schatten ohne Leib ... lockende Gebärden ohne Ton und Stimme ... wer es tiefer suchte, der wäre ein Narr ... Ranke ... das Leben, das mehr ist ... das auf Tod und Leben gelebt ist ... das sich lohnt ... das mit dem letzten Herzblut gelebt ist ... das mit der letzten Sehnsucht gelebt ist, davon man noch träumen möchte, wenn man im Grabe endlich ausruht ... ach ... in solche ewige Gaukelbilder kriecht nichts davon hinein ... solche tolle Phantasielust hat eine schwache, zerrissene Seele, wie der Harlekin. Das Letzte, das Heimliche, das Stillende dringt nicht hinein in solchen ewigen, leeren Fasching.
Du willst ja doch ausdrücklich, dass ich immer um dich bin ... und schiltst mich, wenn ich einmal eine Minute länger fortbleibe und mich nicht immer gleich um dich kümmere. Wie du da nur böse sein kannst! ... Na, ich dächte! ... Ich hätte nur jetzt nicht Eier sein sollen ... das hätte doch wieder richtig einen Krach gegeben ... mit Hunger und mit allen Menschen ... Nicht, Vater ...
Ach Gott, Vater! ... Was hast du nur wieder? ... Warum quälst du mich' gleich wieder, sobald du herein bist? ... Oh Gott, Gott! ... natürlich, wenn Mama noch lebte ...
[183]Mama? .... Sprich mir nicht von Mama! ... Dazu bist du noch viel zu unreif ... Du weisst, das dulde ich nicht ... Deine Mutter war ... eine Heilige ... jung wie eine Blüte war sie ... an Mama kannst du still denken ... an Mama will ich und du mit stiller Ehrfurcht denken ... an Mama können wir beide emporblicken
Wenn deine Mutter, gelebt hätte, wie sie nicht gelebt hat, dann wäre weiss Gott manches anders geworden in unser beider Leben ... Oh ja ... unbegreiflich schön war sie ... eine Hüterin wäre sie gewesen ... eine sanfte, sichere Hüterin des Schatzes wäre sie wahrhaftig immer gewesen ...
Nein, das kannst du auch ganz und gar nicht. Es kann sich niemand messen mit Mama. [184] Keusch wie eine Blüte war sie. Sie war damals wie eine stille Schönheit in meine ärmlichen Räume eingezogen ... damals, als ich nichts war ... gar nichts war ... ein junger, flammender Mensch einfach, den es nach dem Höchsten drängte ... oh, eine Hoheit lebte in ihrer Jungfräulichkeit ... eine wunderbare, zitternde Stille ... nach nichts Aeusserem fragte die ... ach, eine Zärtlichkeit der, Liebe ohne Mass ... eine Seele wie ein kristallner Stein, so heimlich funkelnd von ihrer einzigen Hingabe
Liebchen! ... Meine einzige Tochter! ... Mein Kind! ... Meine Jugend! ... Meine Reinheit! ... Meine göttliche Stimme! ... Was würde nur Mütterchen sagen? ... Uns beide in ihre jungen Arme schliessen ... Denn sie würde natürlich fast so jung kommen, wie du bist! ...
Und würde es wohl sehen ... mit ihren stillen, tiefen, unentrinnbaren Augen würde sie es wohl einsaugen, dass du Blut von ihrem Blute und Seele von ihrer Seele bist ... dass du mein Himmel geworden bist ... meine Huld ... [186] mein einziger Frieden ... die einzige, wahre Gabe meines Lebens. Denk bloss, unser Mutterchen, die in voller Jugend käme ... wie eine Heilige ... in unverwelklicher Reinheit und Keuschheit, wie sie immer gewesen ...
Weil du mich drückst, wie ein toller, Liebhaber ... und mir fast wehe tust damit und mit deinen inbrünstigen Geständnissen ...
Elf ... zwölf ... dreizehn ... vierzehn ...! Wieviel Stufen sind es bis zu euch herauf ...? ... die mir immer, sauer genug werden ... auch diese schönen, flachen ....vornehmen Stufen durch euer herrliches Treppenhaus. Guten Abend, Tibaldi, guten Abend, Ranke!
Da sagt es mir doch wenigstens gleich grade heraus und spielt nicht ewig solches dummes Verstecken mit mir! Ich soll wieder hinaus gebracht werden! Nicht? Die jungen und alten Künstler werden sich in unserm Hause ein Fest machen, und ich soll mit Tante Christine gehen, die mir von Jesus, dem Heiland, und Maria Magdalena und Maria Jakobi vorlesen und fromme Ostergeschichten erzählen soll.
[189]Herrgott ... Kind ... wenn ich es noch einmal so haben könnte! Gleich ein ganzes Arom sonntäglichen Geistes strömt mit deinen Worten herein! Wenn ich sie mir denke, die beiden, jungen, in sich verklärten Frauen, wie sie zu Jesu Füssen sassen, ... wie sie sich seinem milden! Blick und seinem sanften Gespräch ganz hingaben!
Ich bitte dich, Ranke, mache mich nicht nervös! ... Es ist doch weiss Gott besser, sich in solche traumhaft-schöne Vergangenheit zu vertiefen, als in die verwilderten Launenspiele beim Fasching! ... Ranke ... für deine Jugend!
Ich werde dir sagen, liebes Kind! Es ist ausserordentlich sonderbar von dir, wie du [190] deinen guten Vater und deine alte Tante behandelst. Wenn ich an deine selige, reine Mutter denke ...
Mach dich nur aus dem Staube, lose Hummel! Und sorge du nur hübsch für die Nacht! Denn du wirst ja doch natürlich die Nacht bei mir drüben bleiben müssen.
Jetzt geht sie gern mit dir. Wenn sie erst mit den Augen zwinkt, und ihre feinen Nasenflügel zittern, da ist ihr Herz ganz gewonnen.
Also ... und sie mögen alle da wider reden ... alle es mir verdenken, dass Ich Ranke wie im Kloster halte ... ich weiss, was ich weiss ... ich kenne die Welt genug ... dazu bin ich selber zu verwahrlost ... Wie, liebe Christine? ... Was die Welt fertigbringt mit einem jeden von uns, das hat schon mancher Erfahren ... ha ... ich brauche bloss in meiner Freunde Augen einmal tiefer hineinzublicken ... in jedem brennt noch das alte, sengende Höllenfeuer, vor dem nie«die keusche Seele sicher ist ...
Oh ... pique-fein! ... Nicht, Christine? ... Sie versteht es ... Diesen Hut kenne ich ja noch garnicht.
[193]Armes Phantom ... Mensch der schwankenden Lüste ... Mensch der grauen Alltäglichkeit, der sich seine Leere mit bunten Maskeraden tapeziert ... der nirgend einen Halt [194] hat, als noch in dieses einzigen Weibes Ebenbilde ... in diesem Kinde ... in dieser keuschen Pracht ... in diesem Morgenschein ...
Ja ... famos sind deine Räume ausgeschmückt! Ich bin eben als stummer Betrachter vom hintersten Zimmer her einsam durchgegangen. Wie bist du nur da auf den heiligen Hain verfallen? Diese Birkenstämme [195] hereinzuschaffen, das hat doch ein unsinniges Geld gekostet?
Nein, famos ist der heilige Hain ... du ... da stellen wir eine nackte Göttin hinein ... was meinst du? ... Ruth ... deine polnische Königin ... brillant ... mit ihrer Haltung, wenn die Akt steht ... schlank wie ein Blumenstengel ... und der Kopf wie der geknickte Blütenkelch.
Ja natürlich ... Ruth ... gewiss ... meine polnische Königin! Mag in dem heiligen Hain als nackte Göttin paradieren, wer will, meinetwegen dein Weib ...
Du bist wohl verstimmt?
Meister Tibaldi Jedenfalls doch eine, die für das Nackte à tout prix so begeistert ist, wie dein Weib.
Enthüllte. Warum lachst du? – Der Künstler will es darstellen als höchstes, edelstes Lebensmass ... nicht? ... Das hat wahrhaftig nichts zu tun mit eurer billigen Nacktheit, die sich lüstern vor aller Blicken gebärdet ... und die jeder Beliebige mit losen Sinnen betasten kann, [199] wie die Bürgerfrau die Semmel im Marktkorbe betastet, um sie wegzutun und die daneben zu probieren!
Gegen die Kunst ... gegen dich ... gegen alles, was wir betreiben ... anstatt das Mysterium zu hüten! Ich habe nun einmal die Inbrunst im Blute ... ich will das Leben für mich aus der eigenen Tiefe heraus ... ich will es ... noch einmal ganz rein, wie es in den höchsten Augenblicken verheissen scheint ... wie es aus den Grossen gesprochen hat ... wie es aus deren gewaltigen Visionen gesprochen hat ... aus Michelangelos Urleibern ... aus der Fünften, aus der Neunten Beethovens [200] gesprochen ... wie es aus diesen einsamen, grossen, aus sich berauschten Seelen gesprochen hat ... während es euch alle nur kaum noch als verhallendes Echo narrt ...
Du übst dich wohl schon in der Faschingsmaske des Lebensverächters ... Gott ... du ... das Rennen habe ich wirklich aufgegeben.
Ach, Kropatkin ... ja ja, du bist anders ... du lebst ... du bist immer nur Gegenwart ... du erfüllst die Stunde mit deinem Tun ... bearbeitest den harten Stein, bis du hungrig oder lüstern oder müde bist ... du bist nicht an die Zukunft, noch weniger an die Vergangenheit genagelt wie ich ...
Ellinor ... allein diese Façon vornehmen Lebens ... ihre Freiheit ... der ganze grosse Zuschnitt ... und diese Grazie bei ihrer königlichen Tollheit ... und hart war sie, wie eine Parze ... und konnte auch so süss melancholisch sein, wie eine Mutter der Tränengärten ...
Ich komme pünktlich. Mein Weib hat sich [202] einen extra Wagen bestellt. Sie will auch von mir ungekannt erscheinen.
Natürlich! ... Der Mensch kann nicht ewig feierlich sein. Er kann auch nicht ewig tief sein. Er kann auch! nicht ewig moralisch sein. Aber das ist eine Sache für sich. Natürlich ist das ganze Leben ein Wahnsinn ... eine blöde Maskerade ... ein zielloses Verwandlungsgeschäft ... jetzt ein Geisselbruder ... dann ein Faun, der Büsserstrick und Büsserkutte abwirft ... oder hier eine Heilige, die dort vor bacchantischem Lachen platzen möchte ... pah ... adieu.
Ja, was ich dich noch fragen wollte ... du wirst es doch Ränke heut erlauben, dass sie wenigstens die ersten Stunden des Spasses mitmacht.
[203]Na ... nochmals adieu! Ich gehe mich jetzt auch maskieren. Den Mantel irgendeines sentimentalen Tiefsinnes mir um die nackten Lenden hüllen. Vielleicht, dass sich unsre edlen Seelen dann wieder ganz erkennen.
Mein Gott ... ich bin wahrhaftig heilsfroh, dass mein geliebtes Mädel in Tante Christines Schütze ist.
[204] Personen.
Ach ... bitte ... bitte ... bitte ... Ich muss unbedingt deine Hand sehen ... Herrgott, sei doch vernünftig ... gib doch die Hand ... gib mir doch deine Hand her, ... mit der kleinen Warze am Gelenk die ... die Linke ...
Ih ... gar nicht dran zu denken ... du kommst nicht los ... nun gar nicht, wenn du mich kratzt ... Gott ... ich zerreisse dir noch den Handschuh womöglich ...
Der Herr mit Ordensband Gib wenigstens einen Laut von dir, Flitterprinzessin! ... Gib wenigstens ... das wollte ich doch sehen ... einen Seufzer sollst du von dir geben, Flitterprinzessin! ... Willst du nicht wenigstens jetzt ein einziges Wort flüstern ...
Du suchst doch eines andern Weib ... Sieh' her ... ich habe am Handgelenke keine Warze, wie deine Buhlerin ... auch an der Hüfte nicht ... ih, Gott bewahre ... ich bin noch nicht vermählt ... ich bin noch keusch ... ich buhle mit dem Winde ... ich buhle mit den Göttern, wie Danae ... ich buhle mit dem Schwane, wie die Leda ... ich bin noch nicht gemein, wie die, nach der du rumirrst!
Er trägt an einem kurzen Stabe, wie an einer Angelrute, eine grosse brennende Laterne. Er leuchtet drollig über Dame und Herrn. Vor sich hinsprechend, indem er nun Schritt um Schritt weiter vorkommt. Nein nein ... hier finde ich es sicher nicht [209] ... obwohl ich sehr bedächtig danach forsche ... und mir das Suchen an sich schon geradezu einen tollen Spass macht.
Ih, Gott ... wie meint Ihr das ... was ich hier suche, verliebte Dame? ... hört einmal ... Wenn ich zum Beispiel die üble Nachrede suchte ... ach Gott, alle Nachrede ist übel ... es gibt überhaupt nur eine Nachrede ... die ist übel und die macht übel ... denn selbst wenn die Nachrede gut ist, ist sie es nur als Vorrede ... und scheint nur nicht übel, um einen andern als desto grösseres Übel hinzustellen ... das fliegt wie dichte Spreu in allen Stuben und in allen Strassen herum ... und sammelt sich wie Haufen welker Blätter im Herbste in allen Winkeln an. Nein, mein Herr, das wäre mir zu wohlfeil ... und ausserdem verscheucht mich der üble Geruch ... Oder wenn ich zum Beispiel die hohen Ideale suchte, die in den Köpfen herumfliegen, [210] wie Nebelschemen, und die dann aus den Köpfen auf die Leinwände gemalt werden ... und in Stein gehauen werden ... oder sonst Gestalt gewinnen ... man nennt so etwas dann poetische Gestalt gewinnen ... bei Zeus und Aphrodite! ... zu Tausenden stecken sie in allen Galerien und Museen ... und Bibliotheken ... man könnte sie zusammenkehren zu Bergen, wie die Küchenreste ... oh ... das sind Schätze ...! ... Mit dem tausendsten Teil könnte man weiss Gott ein ganzes Volk wieder auf Seel und Beine bringen ... Aber das ist nicht meines Amtes ... Zum Schulmeister bin ich nicht gemacht ... Zum Prinzenerzieher auch nicht ... Zum Volksredner erst recht nicht ... Und ausserdem sind die zehn Gebote schon seit mehr als viertausend Jahren bekannt, und werden immer noch nicht gehalten ... Ja, lieber Herr und verliebte Dame, denken Sie bloss die Millionen Richter und Büttel und Henker, die in dieser langen Zeit fortwährend gerichtet und gebüttelt und gehenkt haben, was sich nicht nach den zehn Geboten richten gewollt! ... Man könnte dreist verzweifeln an diesem Geschäft[211] ...Nein nein nein ... da schreit auch viel zu viel durcheinander ... die Konkurrenz ist zu gross ... in dieser Zeit der zehntausend neunhundert und neun und neunzig Propheten ... wer; soll denn da noch wissen, auf welchen Propheten er zu hören hat! ... das scheucht mich ... Ich suche, was doch niemand finden kann ... Kinder im Mutterleibe sollen es besitzen.., am frühen Maitage eine schnee-schneeweisse Kirschblüte, die eben ins Morgenlicht aufbricht, soll es besitzen ... manchmal ist auch schon darein der Wurm gekommen ... Er hat einen heimlichen Schlupf entdeckt ... Sehen Sie ... wer weiss denn das alles? ... Wer kann denn immer die Wege wissen, die ein Wurm findet ...
Verrückt ist der ... betrübt ... anmasslich ... toll ... frech quält er jede ... die sich ihm ergeben ... mit Brand ... mit Eifersucht ... mit kaltem Hohn ... Verachtung ... Dünkel ... Kleinmut ... was ihr wollt.
Das war er ... das war der Meister ... grossartig ... das war doch echt ... ein solcher Ton alleine ... dieser Gesang vom Meister ... der zieht einem gleich die ganze Seele raus ... ich könnte weiss Gott heulen ... [213] nein verflucht ... das ist wahrhaftig eine Träne ... und warum?
Dann breitet sie plötzlich, indem sie auch ihre Gesichtsmaske hastig einen Augenblick vom Gesicht nimmt, das graue Tuch wie Flügel auseinander. Man sieht, dass sie ein orientalisches loses, freies Gewand trägt, Kopf, Hals, Arme und Fussgelenke mit mancherlei Schmuck und goldenen Ketten behangen. Sie hat ebenso lautlos das graue Tuch rasch wieder umgelegt.
Nein nein nein ... unser Fräuleinchen ... Jesus ... wo kommen Sie denn her, Fräuleinchen? ... was soll man denn dazu sagen? ... des Meisters Lebensmedizin! ... des Meisters [214] Allheilmittel ... wenn er Sie hier bloss sieht, er stirbt vor Schrecken ... er stirbt vor Gewissensbissen. Das könnte ihn umbringen, Fräuleinchen!
Jesus, Jesus, wie sind Sie denn nur vom alten Tantchen weggekommen? ... Da hat Sie Meta doch heimlich fortgelassen, während Tantchen schläft ... die Mädchen stecken aber wirklich alle unter einer Decke ... Sie können doch gar nicht hierbleiben ... noch gar, wo Sie dieses Kostüm anhaben, worin der Meister voriges Jahr das schöne Frauenzimmer ... diese Miss ... diese sehr vornehme, tolle Miss, die ihn immer mit ihren langen Handschuhen klappste, ...
Bin ich nicht entzückend? ... Ja ja ...[215] worin Vater voriges Jahr die tolle Miss Ellinor viele Male gemalt hat ... immer so als orientalische Königin ...
Hahahaha ... diese vornehme tolle Miss, die immer mit den Füchsen gefahren kam ... mit dem kleinen Kerl hinten, den sie Krum nannte ... und die den Meister gar nicht aus dem Garne liess ... Himmlischer Vater ... wenn der Meister die hier wittert ...!
Wo ist Kropatkin? ... ich muss es sehen, wenn die Männer toll werden ... da ... der mit dem purpurnen Ordensband ... wie sie alle dumm einherstolzieren, diese Herren Ritter ... und Narren ... und die losen Damen erst ... ha ha ha ha ... und denken nur alles immer in die Luft, was sie sind ... das ist Meister Rauch ... oh, ich erkenne sie alle ... das ist Frau Kropatkin, die ein bissel watschelt, wie ein Enterich, und die Brust so rausreckt ... und Papa näselt immerfort wie ein Schwermütiger ... [216] das Lied geht mir schon im Blute um und macht mich bald ganz traurig.
Ach ... Quatsch ... ich kenne doch Tibaldi ... er ist wieder in seiner verrückten Laune ... jedesmal, wenn ich ihm in den Weg komme, biegt er ab ...
Tibaldi hat uns noch nicht gesehen ... er hat uns sicher noch nicht erkannt ... wir wollen ihm einmal gerade in den Weg treten.
Ach, du hast Ahnung ... was der für Augen hat, wenn er sehen will ... da ... kannst du dir so etwas Freches denken? ...
[217]Das verfluchte Lied ... wenn er doch endlich aufhörte dieses Lied zu winseln ... mir ist schon rein, als wenn es mir aufstiesse, wie eine süsse Speise ... dieser ewige Klang in Moll ... die Glieder zittern einem heimlich davon ...
Oh ... es zieht mich wahnsinnig ... es zieht mich wahnsinnig ... da ... und wird so körperlich alles ... dieser Lärm ... dieses Geflirr ... dieses Schluchzen ... dieses Durcheinander ... [219] diese Grimassen in allen Gesichtern ... ich habe Duft in meine Kleider gegossen ... ich werde auf einmal ganz taumelig ...
Ich zittere an Händen und Füssen, ich kann sie gar nicht mehr stillehalten ... es ist so himmlisch kühl in diesen losen Gewanden ... huh ... ich muss hineinlaufen unter alle die Tollen ... halte mich doch nicht so fest an dem kostbaren Kleide ... du zerdrückst womöglich etwas, du Tollpatsch ... gerade werde ich laufen ... und wie eine Tigerin auf den Altar springen womöglich, während die andern es noch nicht wagen ... werde oben stehen ... und alle die Augen rings um mich werden im Glänze schwimmen ... berauscht sein ... mich demütig flehen ... mich demütig versuchen ... [220] bis ich ganz langsam Schleier um Schleier fallen lasse ... einen um den andern ... ganz ganz langsam ... ganz feierlich ... ohne alle Hüllen emporsteige, nackt wie die Venus ... Meister Tibaldis schöne Tochter ... ah ...
Um Gotteswillen, sie kommen wieder alle im Schwärme ... Der Meister mit der Laute vorneweg. Nur gehen Sie, Fräuleinchen, nur verstecken Sie sich, Fräuleinchen!
In seinem rechten Arme, lose eingehakt hängt jetzt die Dame mit Diadem, während links noch die trauernde Balletmaske eingehakt geht. Er singt melancholisch und sehnsüchtig, indem er wieder das Atelier um schreitet.
»Tout en chantant sur le mode mineur
L'amour vainqueur et la vie opportune,
Ils n'ont pas l'air de croire à leur bonheur
Et leur chanson se mèle au clair de lune.«
Vom Feuer meines Herzens welken alle Blumen ... da ... nimm die eine, die noch frisch ist ... schöne Frau ... weil du dich noch verhüllst!
Sie sprang auf den Marmorsockel ... sicher wie eine Gemse ... wo selbst noch Kropatkins Weib in nagendem Ehrgeiz zögerte. So muss es sein!
Man ruft durcheinander. Habt ihr's gesehen? ... Kropatkins Weib reisst sich die Maske vom Gesicht ... auch andere Weiber schäumen vor Wut.
Habt ihr Meister Tibaldi gesehen? Er steht erstarrt und berauscht unter dem verhüllten Götzenbilde und rührt keine Saite mehr.
[229]Oh diese Anbeter! ... die noch Wahn haben! ... die noch von dem Geheimnis sich narren lassen! ... die noch Genuss suchen! ... Ich suche die Dämmerung ... ich trage den schwelenden Brand ... ich liebe die Verachtung ... ich liebe den Hass ...
Weib ... du machst mich rasend in diesem Kostüm ... ich verzehre mich nach dir ... Oh, wenn ich jetzt ein Gott wäre ... wenn ich jetzt das ganze, übrige Gesindel von dieser Erde wegfegen könnte ... Einen Donnerschlag in diesen Taumel, der die Musik verstummen machte ... ich möchte noch einmal wieder ...
Was? ... Phantast ... du möchtest immer, was du nicht besitzt ... Komm mir nicht nahe ... bleibe fern ... Auch ich möchte zwischen grünen, schaukelnden Ähren liegen ... wenn die Sommerstille aus den Hummeln summt ... Dämon du ... und Narr ... begnüg dich ... es ist Winter draussen ... der Märzwind rüttelt an der Balkontür ... hörst du ... du musst dir schon die Zeit vertreiben, wie du bist ... in deine Narrenhülle eingenäht.
Ach, was heisst kennen ... Ich kenn dich [231] nicht ... will dich nicht kennen ... und du ... du kennst mich nicht ... nun gut ...
Und ist doch klein, wie alles ... heb dich fort ... Ich bin nicht dein Modell ... dem du befiehlst ...
Dein bisschen Musik machen vor der Menge Ohren ... dein bisschen Virtuosentum mit den Lilienfingern ... das ist alles doch nur Sand in die Augen der Menge ... raffiniertes Versteckenspielen ... eine Glanzkomödie der Seele, wie der Pfau[232] sein Rad schlägt alle sind .... Du bist doch, wie sie
Weib bist du ... von feiner Haut umschalt ... ein schöner Käfig, worin der grosse Lockvogel ... der süsse Weltbetrug gefangen [233] sitzt ... verliebt bist du ... sonst nichts ... und bist rein gar nichts, wenn dich der Mann nicht zur Geliebten macht ... in diesem Fasching ...
Jetzt könnte man weiss Gott viele abgelegte Herrlichkeiten zusammenkehren, wie die Mandelschalen von einem Festtische. Jetzt knackt man die Mandeln ... und sieht den Kern ... huh, huh, das ist ja die Tollheit in der Welt, dass alles nur halb ist ... den Armen hungert nach Gelde ... den Keuschen nach Verführung ... aber jetzt kann man überhaupt gar nicht mehr unterscheiden, was oben oder unten ist ...
Wer ist denn nur dieses orientalische Weib? ... Schockschwerenot ... wer ist denn nur dieses orientalische Weib?
Himmel ... habe ich denn eine Vision? ... Haltet mich an den Händen! ... Packt mich fest an! ... Erschüttert mich denn der Wahnsinn? Ist das Ellinor? Wo kommt Ellinor her? Bin ich in paradiesischem Taumel? Bin ich! irre vor Seligkeit? ... Macht es mir Grimassen vor? ... Was denn nur ... bei allen Göttern? ... Wer denn? ... Ellinor ... Ellinor ...
Schweigen gilt heut als geistreich ... und auch als vornehm ... es erweckt den süssen Schein des grossen Sehers und steckt doch meist ein behaglicher Wiederkäuer dahinter, der sich nur im Augenblicke nicht recht Rat weiss.