[144] VI.
Die Zauberinn.

O Fotis! lebe wohl, ich sterbe,
Mein Schatz ist dieses Zauberbuch;
Das ist mein Gut, du bist der Erbe,
Du bist es ohne Widerspruch.
Nimm hin und lies: die Welt wird zittern,
Der Abgrund fliehn, der Himmel wittern,
Sprach Pamphile, die Zauberinn,
Zu ihrer Magd, und fuhr dahin.
Die Fotis nahm die Zauberschriften,
Und ward dadurch bald fürchterlich,
Sie rief die Leichen aus den Grüften,
Sie trieb die Ströme hinter sich,
Durch ihren Spruch versetzt sie Berge,
Macht Stein' aus Volk, aus Riesen Zwerge;
Thessalien sang ohne Scheu,
Daß Fotis eine Göttinn sey.
Der Ruf erhebt sie zur Sibylle,
Man glaubt, vor ihr sey nichts versteckt,
Der Menschen Thun, der Götter Wille
Sey vor ihr klar und aufgedeckt.
Vom Nil und Ganges, von den Meeren
[145]
Kömmt Volk, der Fotis Spruch zu hören,
Der Stuhl, darauf die Weise sprach,
Gab Delphens Dreyfuß wenig nach.
Was ganze Völker göttlich nannten,
Schien einem einz'gen Schäfer nichts;
Olint, den sieben Heerden kannten,
Hielt es für Blendwerk des Gesichts.
Verwegner Schäfer! bleib in Schranken;
Die Fotis straft auch die Gedanken,
Die ihrer Ehre schädlich sind;
Schlägst du der Zaubrer Zorn in Wind?
Umsonst, Olint ist nicht zu zwingen,
Der Fotis Langmuth macht ihn kühn;
Er will sie um die Ehre bringen,
Und es gelingt ihm sein Bemühn.
Es sey nun ein betrübt Geschicke,
Es sey, daß dieses Schäfers Tücke
In Fotis Buch vergessen war,
Die Kunst ward endlich offenbar.
Dort, wo in Tempe Lustgehölzen
Zwölf Bäche sich in gleicher Eil
Von Pelions Gebürgen wälzen,
Entdeckt sich einer Höhle Theil,
Die Felsen stützen sie, wie Mauren,
Sie war des klügsten der Centauren,
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Des weisen Chirons Aufenthalt,
Und viel Olympiaden alt.
Hier lag und schlief in dunkler Stille
Die allzu sichre Schäferinn;
Ihr Buch, das Leibbuch der Sibylle,
Warf sie unachtsam bey sich hin.
Sie schläft, Olint wacht ihr zum Schaden,
Kömmt im Gesicht der Oreaden,
Durchsucht der Fotis ödes Haus,
Und holt das Zauberbuch heraus.
Es sammlen sich der Hirten Töchter
Aus Neugier all' um den Olint,
Und dieser zeigt mit Hohngelächter,
Wie eitel Fotis Künste sind.
Man machte mit dem Zauberbuche
Sofort selbst allerley Versuche,
Und fand, daß es Theils Gaukeley,
Theils Wirkung der Naturkunst sey.
Die Wahrheit besser zu ergründen,
Wird Fotis endlich selbst besucht.
Man siehet sie die Hände winden,
Man hört, daß sie dem Glücke flucht.
Man lacht, und sie beschwört die Götter
Umsonst zu Tilgung ihrer Spötter,
Sie ward der Kinder Zeitvertreib,
Ein Spott des Volks, ein schwaches Weib.

[147] * * *


Dies sag' ich allen kleinen Geistern:
Auch ihr sucht durch gelehrten Dunst
Der Welt die Augen zu verkleistern,
Als wär't ihr Zaubrer in der Kunst.
Professor, Doctor und Magister!
Excerpta, Lexika, Register,
Die sind der Quell des großen Lichts,
Nimmt man auch die, so könnt ihr nichts.

Lichtwer.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Heinse, Wilhelm. Erzählungen. Erzählungen für junge Damen und Dichter. Zweyter Band. 6. Die Zauberinn. 6. Die Zauberinn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4CCC-5