Elisabeth von Heyking
Der Tag Anderer

[7] Der Tag Anderer

[7] [9]Graf und Gräfin Mallone waren in Washington sehr beliebt.

Der Graf war alt und kränklich und sah noch älter und kränklicher aus als er es in Wirklichkeit war. Dies bot ihm, so oft er es wünschte, den Vorwand, sich zurückzuziehen, und er gebrauchte diesen Vorwand häufig, denn er gehörte zu einer aussterbenden Schule von Diplomaten, die sich mit dem Nimbus des Geheimnisvollen zu umgeben liebten. Unnahbar zu sein und sich wie ein Regenbogen nur selten zu zeigen, galt dem Grafen als erste Tugend eines Herrschers, und da er es mit der Botschafteraufgabe, seinen Souverän persönlich zu repräsentieren, sehr ernst nahm, so hatte er sich auch stets die Kultivierung der entsprechenden Eigenschaften angelegen sein lassen.

Gräfin Mallone war jung und schön und schien beides noch mehr als sie es wirklich war. Und dies traf sich glücklich in einem Lande, wo es viele junge und schöne Frauen gibt. Als die Gräfin in Washington angelangt war, hatte sie eine unbesetzte [9] Stelle in der dortigen Gesellschaft vorgefunden, die nur darauf wartete, von ihr eingenommen zu werden. In jenen Jahren gab es nämlich in Washington eine solche Fülle von Diplomaten mit amerikanischen Frauen, daß die Washingtonianer anfingen, dieser Marquisen, Duchessas und Ladies etwas überdrüssig zu werden, die sich alle rühmen konnten, Töchter Chicagos, Detroits oder Omahas zu sein. Daß ihnen mal eine authentisch auf der »andern Seite« geborene Frau geschickt wurde, erschien als angenehme Abwechslung. Gräfin Mallone war erst seit ein paar Wochen in Amerika gelandet, als sie bei einem der unzähligen Tees, in denen die Washingtoner Welt sich wohlgefällt, im Hause eines berühmten Senators, wo alles von Marmor und Vergoldung funkelte, Mrs. Homer Dwight Mix, die Frau eines eben gewählten Abgeordneten aus dem fernsten Westen, kennen lernte, die ihr sagte: »Ich freue mich aber wirklich, Sie kennen zu lernen, Frau Botschafterin, und daß Sie nicht eine von uns sind, sondern der unverfälschte Artikel aus Ihrem eigenen Land. Als ich mich nämlich entschloß, Mr. Dwight Mix nach Washington zu begleiten, sagte ich ihm: Homer, lieb, mit all den ausländischen Diplomaten, die da herumwimmeln, wird es so fördernd für meinen Geist sein, wie ein Ausflug nach Europa – minus die Seekrankheit.«

[10] So war denn Gräfin Mallone die Europäerin Washingtons. Sie machte ein sehr großes Haus und empfing die zahlreichen freien Amerikaner, die aus allen Teilen der Union allwinterlich nach Washington strömen, mit jener unwandelbaren Liebenswürdigkeit, die so oft der Ausdruck völligster Gleichgültigkeit ist. Aus der Zeit, da sie vor ihrer Verheiratung Hofdame gewesen und von den vielen Posten an Höfen her, wohin sie ihren Mann begleitet hatte, ehe dieser zum Botschafter bei der großen Republik ernannt wurde, war eine gewisse Hofluft an ihr haften geblieben. Und merkwürdigerweise trug auch dieser Zug zu ihrer Beliebtheit in Washington bei. Sie war eben so »echt«! Gräfin Mallone war sich bewußt, an den höchsten europäischen Modellen studiert zu haben, welche Haltung für jede Lebenslage die korrekte ist, und sie war so felsenfest davon überzeugt, stets das Richtige zu tun, daß sie diesen Glauben auch andern zu suggerieren wußte. Man hatte sie auf einem ihrer früheren Posten »die Unfehlbare« genannt.

Nachdem aber Gräfin Mallone ein paar Jahre in Washington gewesen, begann sie sich unendlich zu langweilen. Sie kannte nun zur Genüge die gedrängten Feste im Weißen Hause und all die Washingtoner Empfangstage, von denen immer ein Dutzend auf einen Kalendertag entfällt; sie hatte [11] auf all den zahllosen Bällen neu emporschießender Milliardäre getanzt, die, um nur ja nicht parvenumäßig zu erscheinen, Kotillongeschenke nicht mehr aus Gold, sondern nur noch aus Silber geben, und deren Frauen Perlenketten tragen, »um sich vor dem Zug zu schützen«. Sogar die gelegentlichen Ausflüge nach New-York, diesem Refugium der washingtonmüden Diplomaten, reizten Gräfin Mallone nicht mehr, und sie verfügte auch nicht, wie ihr Mann, über die Zerstreuung, das Ergebnis ihrer persönlichen Beobachtungen stets von neuen in diplomatischen Berichten niederlegen zu können. Es fehlte natürlich nicht an jungen Leuten, die auch nicht recht wußten, was mit allen Stunden des Daseins beginnen, und die gern bereit gewesen wären, in Gesellschaft der Gräfin das Experiment zu versuchen, ob zwei vereinte Langweilen sich vielleicht gegenseitig aufzuheben vermögen. Aber Gräfin Mallone war keine Frau der Seitenwege. Die Landstraße war zwar öde und staubig, aber an den verstohlenen Pfaden gab es zuviel Dornen, und man wußte auch nie ganz genau, wohin sie führten. So war sie zwar stets umschwärmt von einer Anzahl meist sehr jugendlicher Bewunderer, denen ihre Sicherheit imponierte und ihre Eleganz schmeichelte, aber die leichte Abwehr solcher nicht sehr ernst gemeinten Angriffe war ein längst gewohnter und [12] keine besonderen Sensationen mehr erweckender Bestandteil ihres Lebens geworden. Am meisten Befriedigung gewährte es ihr noch, wenn sie sich einbilden konnte, in das Schicksal des einen oder andern dieser Jünglinge leitend eingegriffen zu haben. Aber solche Gelegenheiten waren selten, und mittlerweile langweilte sie sich.

Da sie aber viel zu korrekt war, um sich einer niedergeschlagenen Stimmung lange hinzugeben, schaute sie sich um, womit des Lebens Leere zu füllen, und kam auf den Gedanken, daß es etwas Schönes ums Familienleben sei. Sie entsann sich, außer der Zeit, daß sie eine Schwester und Nichte besaß, deren sie sich sonst nur zu Weihnachten und Geburtstagen zu erinnern pflegte, und sie kam zur Überzeugung, daß es für die verwitwete Schwester zerstreuend und für die kaum erwachsene Nichte bildend sein würde, einige Zeit bei ihr in Washington zu verbringen. Denn wenn die Gräfin etwas von andren wollte, fand sie gewöhnlich, daß es für die andren besonders wünschenswert sei. Sie beschloß, die geplante Einladung mit ihrem Mann zu besprechen, und als sie sich einen Augenblick vor dem Diner trafen, geschah dies, indem sie ihm sagte: »Frank, ich fühle, daß ich etwas für Isa und Baby tun muß. Ich werde sie für den Rest des Winters einladen.«

[13] So ward denn eine briefliche Aufforderung an die Gräfin Clam Cräven nach Dusterhusen in Hinterpommern gesandt. Es hieß darin: »Ihr müßt mit einem der ganz großen Frachtdampfer fahren; ich kenne sie zwar nicht aus Erfahrung, aber man sagt, daß sie jetzt im Winter bei Sturm viel ruhiger im Wasser liegen als die Schnelldampfer, und da ich einen der Direktoren gut kenne, kann ich euch Plätze zu halben Preisen verschaffen. Die paar Tage länger auf dem Meer wer den euch ja sicher zuträglich sein. Seereisen werden jetzt mehr und mehr als Gesundheitskur verordnet.« Allerhand guter Rat folgte, besonders über die große Frage der mitzunehmenden Toiletten, was nach Gräfin Mallones Bewertung die wichtigste Seite jedes Lebensereignisses war. »Bringt nur eure besten Sachen,« schrieb sie, »und denkt nicht etwa, daß man Kleider hier noch tragen kann, die drüben nicht mehr recht gehen – für Amerika ist das Beste nur eben gut genug.«

Einige Wochen später, als die Strahlen einer blassen Wintersonne mühsam durch Rauch und Nebel drangen, dampfte ein Riesenfrachtschiff in den Hafen von New-York. Trotz seiner modernsten Struktur erschien es wie ein Fahrzeug aus Märchenland, denn es war über und über bereift und mit Eiszapfen ganz besetzt; Masten und Taue glitzerten [14] schneeweiß, als seien sie aus Glas geblasen und aus Zuckerfäden gesponnen.

Nur wenig Passagiere entstiegen dem Schiff. Zwei Damen waren unter ihnen, und am nächsten Tage las man in den Morgenblättern unter der dick gedruckten Überschrift:


»Wichtiger Zuwachs der fremden Gesellschaft in Washington,

Ankunft von Gästen in einer der beliebtesten

Botschaften,

Schöne Mutter einer schönen Tochter« –


daß die Gräfin Clam Cräven mit ihrer Tochter zu Besuch, bei ihrer Schwester, der Gräfin Mallone, eingetroffen sei.

Die Damen, die sich mittlerweile von New-York nach Washington begeben hatten, lasen dort am Frühstückstisch auf der Botschaft die Beschreibung aller Einzelheiten ihres Aussehens und ihrer Reisetoilette.

»Das ist das erstemal, daß ich in die Zeitungen komme,« sagte Komtesse Baby und verweilte mit Behagen bei der Schilderung ihrer goldenen Haare und ihrer, wie der Journalist versicherte, aristokratischen Haltung.

»Da steht, wir sähen wie Schwestern aus, Mama,« fuhr sie fort, »könnte man das denn wirklich glauben?«

[15] »Viel eher, als daß du deiner Mutter Tochter bist,« meinte Graf Mallone, dessen Stimme so klang, als sei er stets müde.

»Glauben die Menschen eigentlich alles, was in den Zeitungen steht?« fragte Baby weiter, und ihr Onkel antwortete: »Manches nehmen die Leser auf Treu und Glauben hin, wenn es sich nämlich um Dinge handelt, bei denen sie sich kein Urteil zutrauen, ob es auch wirklich so ist, wie die Zeitungen behaupten. Davon aber, ob ein Mädchen schön ist, können sich selbst solche überzeugen, denen die Fähigkeit zur Bewertung geistiger Bedeutung abgeht. Daher ist es für einen Journalisten viel schwerer einer Frau den Ruf der Schönheit zu verschaffen als einem Minister oder Diplomaten die Reputation, daß er ein großer Staatsmann sei.«

»Ich sehe aus den Zeitungen, daß ihr einen interessanten Mitreisenden gehabt habt, den berühmten Brückeningenieur Erich Brincken,« sagte Gräfin Mallone.

»O, wie kann man den nun interessant finden!« sagte Baby und verzog ihren hübschen kleinen Mund geringschätzig; »ein schrecklich ernster, alter Mann.«

»Alt?« fragte Gräfin Mallone erstaunt, »so erscheint er wohl nur deinen siebzehn Jahren. Wir kennen ihn von seinem letzten Aufenthalt in Amerika – er muß so Ende der Dreißig sein.«

[16] »Nun ja, Tante Aga,« antwortete Baby, »ich meine ja auch nicht gleich schneeweißes Haar und Brillen, aber so etwas Ernstes, Besonderes. Während der ganzen Überfahrt hatte ich bei Herrn Brincken das Gefühl, das ich als Kind immer den Erwachsenen gegenüber empfand: es kam mir vor, als sei ich wieder klein geworden. Übrigens müßt Ihr Mama nach ihm fragen, denn er hat ja die ganze Zeit nur mit ihr gesprochen.«

Es war, als zöge eine leichte Röte über der Gräfin Clam Cräven Gesicht, und sie sagte etwas eilig: »Herr Brincken hat mir gut gefallen, und wir haben während der Überfahrt sehr angenehme Stunden verbracht. Er erzählte mir, daß er nach den Vereinigten Staaten käme, um eine neue Eisenbahnbrücke zu besichtigen, die kürzlich gebaut worden sein soll.«

»Ja,« sagte Mallone, »ich habe schon davon gehört. Die Brücke ist von Ted Vansittart auf einer seiner neuen Bahnen gebaut worden, und er sagte mir, daß er Brincken hier erwarte. – Aga,« wandte er sich an seine Frau, »wir wollen suchen, Isas berühmten Landsmann möglichst oft zu sehen – interessante Leute sind auch hier so selten.«

»Ach, Onkel Frank,« rief Baby dazwischen, »ich finde hier alles so himmlisch amüsant und [17] neu, daß ich wünschte, wir könnten unser altes Dusterhusen verkaufen und ganz hier bleiben.«


Im Hause der Gräfin Mallone war eine Privatsekretärin angestellt, die die zahllosen Billette und Einladungen für die Damen erledigte und die den aufreibenden Telephondienst versah. Frühmorgens schon klingelte der Apparat und klingelte den ganzen Tag, oft eilige Anfragen und wichtige Bestellungen, öfter noch gleichgültige, kleine Gespräche übermittelnd: »Unmöglich, grüne Nelken zu beschaffen, werde schwarze Iris für Tafeldekoration senden.« »Wollen Sie morgen mit mir nach New York zum ›Parsifal‹, nachher Souper mit Jack bei Sherry« – »Heute wird's im Kongreß stürmisch hergehen über Venezuela, kommen Sie mit?« – »Bin eben mit meinem Automobil 100 Meilen von Washington niedergebrochen – bitte mit Lunch nicht auf mich zu warten,« Oder auch: »Holla, holla! Guten Morgen, wie geht's? Sie sahen gestern reizend aus, alle Welt ist entzückt von Ihrer Toilette, adieu, adieu!« – Waren die Damen aus, so notierte die Sekretärin gewissenhaft alles, was während ihrer Abwesenheit einlief und was alles dazu dienen sollte, das Leben amüsant zu gestalten. Denn sich zu amüsieren, war ein anerkannter Beruf, und die [18] Technik dieses wie eines jeden Berufes zu bewältigen, erforderte viele Mühe. Eine Menge gleichgültiger Dinge füllte die Tage derart, daß man am Abend meinte, eine große Arbeit getan zu haben und sich sogar einbildete, die Befriedigung getaner Arbeit zu empfinden, und Isa sagte sich beim Anblick dieses Treibens, daß alle Menschen wohl für Arbeit bestimmt sein müßten, denn gerade solche, die keine ersichtliche haben, beweisen dies am deutlichsten, indem sie nicht rasten, bis ihre Vergnügungen derart gestaltet sind, daß sie harter Arbeit zum Verwechseln ähnlich sehen.

Isa fühlte sich in dieser fremden Welt zuerst etwas verloren; es war ihr, bei vielem, was sie sah und hörte, als habe sich die Bewegung der Wogen, die sie auf dem Schiffe gefühlt, auf die Erde übertragen, und als schwanke so manches, was sie bisher für feststehend gehalten.

Baby dagegen fand sich zwischen den neuen Menschen, Dingen und Begriffen mit einer Leichtigkeit zurecht, als sei sie von jeher gerade dafür bestimmt und erzogen worden.

»Wie schade, daß sie nicht meine Tochter ist,« dachte Gräfin Mallone, wenn sie bemerkte, wieviel bewundernde Blicke der beinahe noch kindlich schönen Nichte folgten. »In ihrer Anpassungsfähigkeit ist sie geradezu amerikanisch und würde [19] so gut in unsre Welt passen, daß man durch ihre Erfolge selbst wieder anfinge, daran Spaß zu finden, und es wäre eigentlich ein großes Glück für Baby, dauernd in unser Milieu zu kommen; denn wie so viele Mütter versteht die arme Isa ihre Tochter offenbar gar nicht und hat keine Ahnung davon, sie ins rechte Licht zu setzen oder gar sich nach einer wirklichen Lebenschance für sie umzutun.«

In Gräfin Mallones Leben, wo alles so regelrecht verlaufen war wie Ordensverleihungen an inländische Beamte, die bloß ein höheres Lebensalter zu erreichen brauchen, um gewisser Ehren sicher teilhaftig zu werden, gab es doch einen Umstand, der dem Vorschriftsmäßigen nicht entsprach: sie hätte offenbar nach einjähriger Ehe einen Sohn und nach dreijähriger eine Tochter haben sollen – beide aber waren ausgeblieben. Um diese Inkorrektheit wettzumachen, sprach sie gern über Erziehung und deutete an, wie bedauerlich wenig davon diejenigen Frauen verständen, die Kinder hatten – vor allem aber ihre eigene Schwester.

So ward Baby eine willkommene Zerstreuung für die Tante, die sich selbst einredete, daß sie an der Nichte eine Mission zu erfüllen habe. Sie schien sie vorerst darin zu erblicken, Baby für die verschiedenen gesellschaftlichen Veranstaltungen der Washingtoner Saison mit den richtigen Toiletten zu [20] versehen. »Meine arme Schwester,« dachte sie, »war ja immer ein bißchen unpraktisch, und auf ihrer Klitsche ist sie ganz weltfremd und so verträumt geworden, daß sie gar nicht recht vorher übersieht, ob Babys Rosaseidenes für das kleine Diner noch geht und ob der Fliederhut zu den Rennen geeignet ist.«

Denn Gräfin Mallone gehörte zu den Damen, in deren Vorstellung sich alle Begebenheiten sofort in Toilettenfragen umsetzen. Sie war ihrem Manne in nordisch rauhe und in südlich heiße Länder gefolgt, hatte Krönungen und Beisetzungen von Staatsoberhäuptern,Weltausstellungseröffnungen, Friedenskonferenzen und Siegesfeste mitgemacht und bei alledem die sich häufende Erfahrung gesammelt, daß die eine unausbleibliche Folge eines jeden Ereignisses die ist, die Anschaffung bestimmter Hüte und Kleider nötig zu machen. Gräfin Mallone besaß im übrigen wenig Phantasie; aber bei jeder Nachricht, die ihr an Abwechslung reiches Leben brachte, sah sie sich sofort, wie in einem Spiegel, in der dadurch bedingten Toilette – im Yachtingkostüm, in vorschriftsmäßigem Hofdecolleté mit Schleier und Courschleppe, in einem der Hofansage entsprechenden Trauergewand, in Domino und Maske, in Automobilkappe, Mantel und Brille, – unzählige Variationen gab es da, die, durch neue [21] Sports und neue Arten zu reisen, das Dasein einer repräsentativen Dame von Jahr zu Jahr mehr komplizierten. Halb neidisch, halb geringschätzig lächelnd suchte sie sich jene fernen Zeiten vorzustellen, wo die Wände eines einzigen kleinen Salons im Schlosse Favorite genügten, um die Abbildungen der berühmten Modedame, der Markgräfin Sibylla von Baden, in ihren sämtlichen Trachten aufzunehmen! Die Kleider der Gräfin Mallone bedeckten Kilometer von Vergangenheit. Sie lagen hinter ihr wie zahllose abgelegte Schlangenhäute, in verwirrender Verschiedenheit und doch in erdrückender Monotonie.

Und nun leitete sie Babys erste Schritte auf diesem selben Weg beständigen An- und Ausziehens, wo Jours, Bälle, Diners, Automobil- und Schlittenfahrten die Stationen des Daseins bildeten und als dessen Endziel ihr für die Nichte eine möglichst viel Annehmlichkeiten bietende Partie vorschwebte. – Es würde freilich nicht leicht sein! – eine vermögenslose Europäerin? und gerade in Amerika, dem Lande der reichen Mädchen? Aber Baby war so auffallend frisch und hübsch – und außerdem spornten Schwierigkeiten die Gräfin stets an. Ihre Sportinstinkte erwachten. Das war es ja, was ihrem Dasein gefehlt hatte: ein Zweck, der Anstrengungen lohnte. Die Langweile der letzten[22] Zeiten war verschwunden. Überlegend und abwägend schaute sie sich in ihrem Bekanntenkreise um, wo die heiratenden jungen Männer leider so selten waren, und es dafür um so mehr solcher gab, die stets bereit waren, sie selbst oder andre verheiratete Frauen sehr reizend zu finden. Sie glaubte aber doch schon denjenigen entdeckt zu haben, dessen Gefühle sie hoffte ehewärts lenken zu können.

An einem der ersten Nachmittage nach Ankunft ihrer Schwester und Nichte gab Gräfin Mallone ihnen zu Ehren einen großen Tee.

Es kamen ein paar hundert Gäste. Die Mehrzahl waren Damen, die alle eine gewisse gleichmäßige Eleganz zur Schau trugen und für die Eröffnung einer Konversation mit neu eingetroffenen Europäern über drei Phrasen verfügten: »Ich bin entzückt, Sie zu sehen,« oder: »Ich hoffe, Sie haben eine gute Überfahrt gehabt,« am häufigsten jedoch: »Wie gefällt Ihnen Washington?«

So defilierten sie durch den ersten Saal, wo die Botschafterin stand, umgeben von ihren Verwandten und einigen Attachés. Gräfin Mallone erweckte bei solchen Gelegenheiten immer den Eindruck, als stände sie auf den Stufen eines Thrones, und die Prinzessin, bei der sie einst Hofdame gewesen, würde ihre Freude daran gehabt haben, [23] hätte sie sehen können, wie getreulich sie von ihr kopiert wurde.

Vom ersten Saal fluteten die Gäste allmählich weiter in einen zweiten Raum, wo es heiterer zuging und wo an einem großen Tisch allerhand Erfrischungen von einigen jungen amerikanischen Damen verabreicht wurden, deren Assistenz sich Gräfin Mallone, Washingtoner Sitte gemäß, erbeten hatte.

Junge Diplomaten waren in großer Zahl unter den Gästen vertreten, und als die Stunde vorschritt, begannen auch amerikanische Männer zu erscheinen – die bis dahin vielleicht Wichtigeres zu tun gehabt hatten.

Wie bei den meisten derartigen Festen waren auch ein paar gerade durchreisende Berühmtheiten geladen: ein alter deutscher Autor, der ein statistisches Werk über den Kleiderluxus in Amerika zu schreiben beabsichtigte, und ein junger französischer Poet, dekadent modernster Schule, der sich in die Tracht des Jahres 1830 kleidete und zu seinem großen Lehrgedicht »Mulier nefas aeternum,« das die Notwendigkeit der Ausrottung der Frau beweisen sollte, Material in Amerika zu sammeln hoffte.

Gräfin Mallone aber spähte erwartungsvoll nach der Saaltüre, durch die noch immer große Hüte [24] mit langen Federn, weiche Pelzstolen, große Muffen auf sie zuströmten. Und endlich, die höchsten Damenhüte überragend, tauchte jetzt ein junges, glattrasiertes Männergesicht auf. Es war alles fest und bestimmt an diesem Kopf – als sei er von einem Künstler gemeißelt, dessen Hand keinen Augenblick geschwankt hatte, um das Bild, das seinem inneren Auge vorschwebte, wiederzugeben. Der Neuankommende hatte eine klare glatte Stirn, über der sich die dunklen, kurzgeschorenen Haare senkrecht in die Höhe hoben, seine starken Brauen waren in einem geraden Strich gezeichnet und beschatteten Augen, die keines Schattens bedurften; unerschrocken blickten sie und voll siegreicher Zuversicht, die zu sagen schien: »Ich glaub es euch gar nicht, daß die Welt so schwer zu überwinden ist.« Und die feste Linie des Mundes, das stark entwickelte Kinn gaben den Augen ein gewisses Recht, so zu sprechen.

Nun stand er vor den Damen, und Gräfin Mallone sagte zu ihrer Nichte: »Baby, ich will dir einen meiner besondren Freunde vorstellen, Mr. Ted Vansittart.«

»Wer mit solchen Worten empfangen wird, bedauert doppelt, so spät zu kommen«, sagte Ted, »aber Brincken war bei mir, und wir hatten uns festgesprochen. Er selbst muß übrigens auch gleich hier sein.«

[25] Während er noch sprach, kam Brincken auch schon durch die lichter werdenden Reihen der Gäste auf die Damen zugeschritten und wandte sich gleich an Isa. Als sie nun die beiden Männer nebeneinander vor sich stehen sah, fiel es ihr auf, daß eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihnen bestand, die mehr im allgemeinen Typus als in einzelnen Zügen lag. Zu Erich Brincken aufschauend, sagte sie sich, daß die Auswanderer, die vor Jahrhunderten in den neuen, unwirtlichen, aber Freiheit verheißenden Weltteil gezogen waren, so entschlossen und durch herbes Schicksal gestählt wie er ausgesehen haben mußten, und daß ihnen dann in der neuen Heimat Söhne geboren wurden, die, wie Ted Vansittart, all ihre zähe Tüchtigkeit geerbt hatten, über denen aber der Zauber selbstvertrauender Zuversicht eines neuen Menschengeschlechts lag, das die Knechtschaft nie gekannt.

»Sie müssen dafür beide länger bleiben«, sagte Aga: »Mein Mann freut sich schon sehr, Sie zu sehen, Herr Brincken, und sagte mir, ich solle Sie ja festhalten. Und mit Ihnen, Mr. Vansittart, muß ich besprechen, was wir meiner schauenslustigen Nichte in Washington zu zeigen haben.«

Erst nachdem die andren Gäste gegangen und nur die beiden Herren und der jüngste Attaché der Botschaft, Prinz Pogarell, geblieben waren, kam [26] Graf Mallone aus seinem Arbeitszimmer zum Vorschein.

»Ich komme wie immer zum besten Moment der Feste meiner Frau, nämlich wenn sie vorüber sind,« sagte er in seiner müden Art.

»Ja, es war heute ein recht angreifendes Vergnügen«, meinte Aga beistimmend.

»Aber dafür wird sicherlich morgen wieder im ›Spiegel‹ stehen, daß niemand so schön zu empfangen versteht wie die schöne Gräfin Mallone«, warf Ted ein.

»Ach, lieber Mr. Vansittart«, erwiderte Aga in lässigem Tone, »ich werfe ja nie einen Blick in den ›Spiegel‹.«

»Und doch brauchte sich niemand weniger als Sie vor dem zu fürchten, was ihm der Spiegel sagen kann«, antwortete Ted.

»Das war mal wieder eine Ihrer netten kleinen Reden, Mr. Vansittart, bei denen ich immer glaube, es spricht aus Ihnen irgend ein ferner europäischer Vorfahre. Findest du nicht auch«, wandte sie sich an Baby, »daß man an Spitzenjabots und Eskarpins gemahnt wird?«

»O, Tante Aga«, rief Baby und schaute Ted prüfend und mit sichtlichem Gefallen an, »ich finde im Gegenteil, Mr. Vansittart hat etwas von dem, wie ich mir einen rough rider vorstelle – das ist [27] auch viel romantischer als so ein Rokoko-Herr, der nichts Besseres konnte, als sich den gepuderten Kopf abschlagen zu lassen.«

»Will aber doch auch gelernt sein, mit Anstand auf Guillotine gehen«, meinte sinnend der kleine Prinz Pogarell, »bleibt immerhin ganz nette Leistung.«

»Als ich Mr. Ted Vansittart zum erstenmal sah, kam er Ihren Vorstellungen von rough riders recht nahe, Komtesse Baby«, sagte nun Brincken. »Ich war damals, es sind schon etliche Jahre her, mit Mr. Teds Vater zum Endpunkt seiner Bahn gefahren, wo er gerade eine Brücke nach meinen Plänen bauen ließ. Unter den Arbeitern war ein Aufstand ausgebrochen, und die Leute versammelten sich drohend um den Waggon, in dem Mr. Vansittart und ich wohnten. An einem Tage fielen sogar einige Schüsse. Wir waren in einer argen Klemme. Da, als wir eines Tages wieder mit den Haupträdelsführern verhandelten, sahen wir plötzlich einen Reiter von weitem heransprengen, ein Gewehr in der Hand schwingend. Er durchbrach die Menge, und zu unsrem größten Erstaunen erkannten wir den jungen Ted, den sein Vater im Kollege in Harvard sicher aufgehoben wähnte.«

»Na, das war aber ganz natürlich«, meinte Ted. »Auf der Schule hatte ich in der Zeitung gelesen, [28] daß es auf der Bahn meines Vaters toll zuginge und daß nach ihm geschossen worden sei; da sagte ich mir, wenn das nochmal geschieht, soll wenigstens einer da sein, der den Schuß erwidern kann. Daneben sind die alten Griechen und Römer ganz gleichgültig. – So machte ich mich denn aus dem Staube, Geld hatte ich zum Glück, fuhr, so weit die Bahn ging, und ritt dann dorthin, wo ich wußte, daß mein Vater sein mußte. Das beste an der Sache war, daß ich es durchsetzte, nicht mehr nach Harvard zurück zu müssen, sondern von da ab bei praktischen Dingen blieb, die mir besser zusagten als das klassische Altertum.«

»Famos!« rief Baby mit glänzenden Augen.

»Ja, muß riesig nett gewesen sein«, meinte Pogarell, »Schule schwänzen, auf Sozialdemokraten losgehen, hätte mir auch viel Spaß gemacht – in Fürstenschule zu Hause leider gar keine Gelegenheit zu so was, – auch nie genug Taschengeld gehabt.«

»Und seitdem bauen Sie nun selbst Eisenbahnbrücken?« fragte Baby, zu Ted gewandt.

»Und was für welche«, antwortete Brincken statt seiner; »damals holte sich Mr. Teds Vater noch Rat bei mir – heute bin ich gekommen, um das neueste Werk des Sohnes zu bewundern.«

[29] Isa war zu Hause geblieben, während Gräfin Mallone mit Baby zu einer Reihenfolge von Nachmittagsempfängen fuhr. Es gab abends noch ein Diner, eine musikalische Soirée und einen Ball zu absolvieren, und um dafür Kräfte zu sammeln, hatte sich Isa in dem kleinen Salon ihrer Schwester auf das Sofa am Kamin gelegt. Der Teetisch stand neben ihr, und das Licht der glimmenden Holzscheite fing sich in den silbernen Geräten, blitzte auf in den geschliffenen Kristallschalen und schimmerte durch die dünnen Meißner Täßchen. Das Wasser summte leise im Kessel, und Isa empfand mit physischem Wohlbehagen die Ruhe dieser Stunde. Es waren nur wenige elektrische Lichter angedreht. Sie verbreiteten unter ihren rosa Schleiern einen sanften warmen Schein, der doppelt anheimelnd wirkte, wenn gerade ein scharfer Windstoß durch die Straße fegte oder den Schornstein hinabfuhr, daß die Funken im Kamin aufsprühten.

Mit halb geschlossenen Augen lag Isa da und betrachtete die vielen Dinge, mit denen der kleine Raum angefüllt war; ohne alle Prätension auf Stileinheit, aber behaglich standen sie da, von wechselnden Posten erzählend, wie das bei den meisten Diplomateneinrichtungen der Fall ist. Die Wände waren mit altem Damast bespannt, von der verschossenen roten Nuance, wie die Behänge sind, [30] die in italienischen Kirchen an Feiertagen auf Säulen und Wänden angebracht werden. Schmale venezianische Spiegel hingen darauf, und an der einen Wand nahm den Ehrenplatz das Bildnis einer goldblonden Frau ein, von dem Gräfin Mallone überzeugt war, daß es von Palma vecchio sei und daß sie es für ein Spottgeld erstanden habe, da der Antiquar offenbar nicht geahnt habe, welchen Schatz er besessen. Aus Spanien stammten die Wandschränkchen aus Rosenholz mit den vielen geheimen Schubfächern, den Schildpattinkrustationen und den gewundenen Säulchen, die von goldbronzenen kastilianischen Löwen gekrönt wurden. Der Kamin war mit einer breiten Leinenspitze behangen, die einst den Altar einer portugiesischen Kirche geschmückt hatte, und auf einem Wandschirm, waren gestickte Streifen eingelassen, die Aga in Konstantinopel entdeckt hatte und die Heiligenfiguren in byzantinischem Geschmack darstellten, wie sie die Dalmatiken der Bischöfe auf alten Bildern oder Mosaiken zieren.

Und wie Isa die verschiedenartigen hier vereinigten Dinge sinnend betrachtete, zog das Leben der Schwester an ihren Augen vorüber.

Zuerst war Aga Hofdame an einem kleinen Hof gewesen, und dort hatte sie den in einer besonderen Mission hingesandten fremden Diplomaten, [31] Grafen Frank Mallone kennen gelernt; Isa erinnerte sich, wie die Eltern sich gefreut hatten, als Aga sich mit ihm verlobte; sie sah die Hochzeit der Schwester wieder vor sich, bei der sie selbst noch, ein Backfisch gewesen. Später war dann alle paar Jahre die Nachricht von einer neuen Versetzung Franks eingetroffen; ein stetiges Aufwärtssteigen war es gewesen, mit der nötigen Begleitung von Orden und Auszeichnungen und dazu Erwähnungen Agas in den Zeitungen bei Gelegenheit von Festen, Wohltätigkeitsbazaren oder sonstigen weltlichen Anlässen, wo sie immer so ausgesehen und so gesprochen hatte, wie es gerade korrekt und für Franks jeweilige Stellung am förderlichsten gewesen war.

Die wechselvolle Buntheit von Agas Leben, die in der Einrichtung des kleinen Salons versinnbildlicht war, verglich Isa mit der eigenen Vergangenheit.

Sie war um ein paar Jahre jünger als Aga, und doch schien es ihr, als dehne sich hinter ihr ein unabsehbar langer grauer Weg; und sie hatte nicht einmal die Empfindung, als sei sie selbst auf diesem langen grauen Weg geschritten, sondern es war ihr, als habe sie ganz still dagesessen und nur zugeschaut, wie der Weg, einem langen fahlen Bande gleich, an ihr vorüber geglitten war. Es schien ihr auch ganz natürlich, daß man überall [32] von der schönen, jungen Gräfin Mallone sprach: denn der fortwährende Wechsel, das Neuankommen an verschiedenen Orten, für die sie selbst immer wieder neu war, hatten Aga wirklich jung erhalten. Wenn Isa aber hier in Amerika sich selbst zuweilen mit gleichen Worten bezeichnen hörte, mußte sie lächeln. Wußten denn die Leute nicht, wie lange sie schon unbeachtet am Wege saß?

Ja, einmal war freilich auch für sie alles anders gewesen! Sie erinnerte sich, wie sie als schönstes Mädchen der Saison einen kurzen Winter ausgegangen und gefeiert worden war, wie sie dann mit den Eltern auf einer Reise in Deutschland auch nach Baden-Baden gekommen und sie sich dort beinahe zufällig entschlossen hatten, ein paar Tage zu bleiben, um zu den großen Rennen nach Iffezheim hinauszufahren. Der berühmte Reiter, Graf Clam Cräven, trug an dem Tage den ersten Preis davon, und mit ihm hatte er auch Isa gewonnen. In der Sportwelt, von der Isa immer viel gehört, da ihr Vater auf seinem ungarischen Gute große Pferdezucht betrieb, war Graf Clam Cräven eine Berühmtheit, ein Stern erster Größe. Daß das schönste Mädchen des Winters und der Mann, der auf jeder Rennbahn Erster war, sich anzogen und fanden, hatte damals aller Welt natürlich geschienen. – Aber Isa begriff es heute nicht mehr. [33] Sie wußte jetzt längst, daß wir im Lauf des Lebens hintereinander mehrere verschiedene Menschen sind – ihr damaliges Ich mit seinem Lieben und seinen Zielen und seiner vertrauensseligen siebzehnjährigen Jugend war ihr heute ganz fremd.

Vertrauensselig! ja, so war sie ins Leben hineingetreten, als würde es ein köstlicher Ritt sein, den man zusammen auf festem Rasenboden unternimmt; als gäbe es keine Hürden und Gräben, über die man zu Falle kommen kann, als müsse man immer sicher am Ziele anlangen. Die Gräben und Hürden hatten aber nicht lange auf sich warten lassen, und Isa stand allein vor ihnen.

Die erste kurze Zeit nach ihrer Verheiratung war wie vom Lichte vieler Festeskerzen bestrahlt gewesen – er war verliebt und eitel auf sie. Dann aber war sie krank geworden, und damit hatte er nur wenig Geduld, denn er war noch sehr jung, und seine Frau war ihm nur eine Frau mehr. So kam es sehr bald, daß sie meistens allein war, und ihr Mann war anderswo, bei Rennen oder Pferdeverkäufen, stets einen der tausend Vorwände vorschützend, die das Sportleben bot. Während er nun seinen Vergnügungen nachging und sie zu Hause lag, begann sie zum erstenmal über sich selbst nachzudenken und machte dabei, wie so viele vor ihr, die Entdeckung, daß sie sich bisher gar [34] nicht gekannt hatte. Sie gewahrte, daß ihr Interesse an ihres Mannes Rennleben erloschen war, weil es nie in ihrer eigensten Natur begründet gewesen, sondern nur in der zufälligen Umgebung entstanden war, in der sie sich getroffen hatten. Sie erkannte nun erst, daß sie eigentlich dazu bestimmt gewesen, eine von den träumerisch nachdenklichen Frauen zu werden, die des Lebens Rätsel anziehen, die, Aussprache und Verständnis erhoffend, eine große Sehnsucht nach dem Ideal im Herzen tragen und geborene Schönheitssucherinnen, prädestinierte Liebende sind. Aber sie erkannte auch gleichzeitig, daß sie sich nicht zu dem durfte werden lassen, wozu sie bestimmt war, weil es sie nur untauglich machen würde zu allem, was nun einmal äußerlich ihr Leben hieß. Da begann sie mit der ihr eigenen ruhigen, pflichttreuen Tapferkeit den traurigen Kampf gegen sich selbst. Erwachende Interessen und Talente, vor allem eine große Begabung für die Musik, zu der es sie wie zu einer großen Trösterin zog – das alles würde sie in sich unterdrücken müssen, weil es sie ihrem Manne nur fremd machte. So wie manche Frauen ihr ganzes Geistesleben höherschrauben, um einem Manne zu genügen, so mußte sie sich herabschrauben, um dem ihrigen ein Kamerad zu sein.

Mitten in diesen schweren Zeiten von Isas [35] ersten Seelenkämpfen war ihr Töchterchen zur Welt gekommen, an einem Tage, da der Vater ein großes Rennen geritten und gewonnen hatte. Diesem Siege zu Ehren war das Kind Viktoria getauft worden, aber Eltern und Freunde nannten es stets nur Baby. Es war ein unbändiges kleines Wesen, dies Töchterchen, das Isa mit einem Gefühl betrachtete, das aus Erstaunen und Mitleid bestand; es hatte eine seltsam entschlossene Art, die Dinge zu packen, die es haben wollte, und Isa dachte dann oftmals: verzeih mir, daß ich dich in eine Welt gesetzt, wo die Dinge, nach denen wir greifen, so ganz anders sind als wir wähnen.

Als Isa nach langer Krankheit in die Welt zurückkehrte, schaute sie sich, fremd geworden darin um, fremd vor allem im Dasein ihres Mannes. Sie fühlte, daß er verändert und seltsam rastlos geworden war, aber sie wußte nicht, was eigentlich vorgegangen, wußte nicht, daß das Glück ihn zu verlassen begann, und daß er, was Rennwetten verschlungen hatten, im Spiel wieder zu gewinnen suchte. Sie empfand nur dunkel, daß er von ihr und dem Kinde immer weiter forttrieb und sie ahnte, daß geheimnisvolle Mächte gegen sie am Werke waren. Um ihn zurückzuhalten, suchte sie sich nun ihm zu nähern und sich auf seinen Ton zu stimmen. Mit wiedererlangter Gesundheit zwang [36] sie sich, an seinem Leben teilzunehmen, und begann ihn überall zu begleiten. Wohin immer möglich, nahm sie das Töchterchen mit, und vieles, was sie in den folgenden Zeiten sah und duldete, ertrug sie des Kindes halber, denn ihm wollte sie doch für später eine Art Familienleben erhalten, so kümmerlich es auch war.

Das währte so einige Jahre. Das seltsame Trio war auf allen Rennplätzen bekannt: der Mann, der immer nervöser und rastloser wurde und den es nirgends lange litt in seiner Jagd nach dem Glück, das ihm den Rücken gekehrt, die schöne junge Frau, die so angstvoll traurig in die Welt blickte, und das kleine Kind, das am liebsten in den Ställen herumkroch, das Trainers und Jockeys duzte und das sich als Weihnachtsgeschenk ausgebeten hatte, selbst mal ein Rennen zu reiten auf Papas neuem Pferd, der Goldfuchsstute Fortuna, die sicher Erste werden würde.

Baby Viktoria stand neben der Mutter, die angstvoll an dem Zaune lehnte, als der Vater das große Rennen auf der Fortuna ritt. Und es schien beinahe, als wisse die Goldfuchsstute, was alles auf dem Spiele stand, wieviel Menschengeschick sie trug, wieviel Glück und Unglück von der Ausdauer und Sprungkraft ihrer Sehnen und Muskeln abhing. Nie war sie so gelaufen. Das war kein [37] gewöhnliches Rennen mehr. Das war, als triebe sie ihr Reiter an zur Flucht vor etwas Gräßlichem, das nur er sah; es war, als klammere er sich an sie wie an die einzige Retterin, die ihn nacheilendem Verhängnis entführen könne.

Es währte wenig Sekunden und dünkte ihm länger als das Leben. Und endlich lag das Feld hinter ihnen – die Fortuna führte! Isa am Zaune ahnte nur dunkel, daß dieser Sieg für ihren Mann eine besondere Bedeutung haben müsse; der Trainer, der neben ihr stand und der manches mehr als Isa wußte, vergegenwärtigte es sich viel deutlicher, und Baby klatschte in die Hände, als sie den Vater an allen andern Reitern vorbeikommen sah. Nun galt es noch eine äußerste Anstrengung von Roß und Reiter zu dem letzten hohen Sprung über den Wall kurz vor der Tribüne. – – Nie würde Isa vergessen, wie sich das Pferd zu höchster Leistung zusammenzuraffen schien, wie es sprang und sie es schon in der Luft gesehen und wie es dann gewesen war, als hätten ihm plötzlich die Kräfte versagt – rückwärts war es gestürzt, sich mit dem Reiter überschlagend! Und des Mannes letzten bewußten Blick, der, Jahre umspannend, Hilfe suchend in dem Zehntel Sekunde herumgeirrt und dann auf ihr und dem Kinde haften geblieben war – auch den würde sie nie vergessen.

[38] Was dann gekommen, war mit grauen Schleiern bedeckt. Wie man ihn zurückgetragen hatte, und wie dann die nächsten Wochen hingeschlichen waren in der provisorischen Mietswohnung der kleinen Stadt, die nur aus den Rennen eine gewisse Wichtigkeit zog und gleich nachher in provinzialen Herbstschlaf zurückgesunken war. Während der ersten Tage waren ein paar Sportkameraden geblieben, dann, als die Ärzte sagten, daß es noch lange dauern könne, waren auch sie gegangen. An Rettung war nicht zu denken, er war zu unglücklich gestürzt; aber es währte Wochen, bis die Kräfte sich im Kampf mit dem Übel verzehrt hatten. Wenn Isa an diese Zeit zurückdachte, war es ihr, als hätte sie sicher damals auch immer von dem Morphium mit bekommen, das man ihm gab, um die Schmerzen ertragen zu können.

Sie hätte wahrlich des Morphiums bedurft. Vieles, was sie bis dahin nur undeutlich geahnt und wogegen sie sich durch absichtliche Blindheit gewehrt hatte, jetzt starrte es ihr unbarmherzig ins Gesicht. All die geschäftlichen Angelegenheiten, die Briefe, die für ihn ankamen und die jetzt durch ihre Hände gehen mußten, konnten ihr keinen Zweifel mehr lassen. Betrogen und verraten, wo sie ihm das bessere Ich geopfert hatte, wo jeder Tag ein Ersticken aller eigenen Wünsche gewesen [39] war, wo sie sich selbst immer wieder erniedrigt hatte, um vor des Kindes Augen das Märchen von den zusammengehörenden Eltern unbezweifelt zu bewahren, wo sie immer an der Hoffnung festgehalten hatte, daß er schließlich doch noch einmal umkehren und ihr dann dankbar sein würde, daß sie ihm eine Rückkehr möglich gelassen hatte. Und zu der seelischen Kränkung, zu allen mißachtenden Beleidigungen, die sie jetzt entdeckte, kamen materielle Sorgen und Schwierigkeiten. Immer neue Gläubiger meldeten sich. Ohne daß sie es gewußt, hatten sie in der letzten Zeit ein Scheinleben geführt, und die Fortuna mit den hohen Wetten, die auf ihr standen, war offenbar ein letzter verzweifelter Rettungsversuch gewesen. Jetzt kam der schon lange nur mühsam hingehaltene Zusammenbruch. Isas Eltern waren inzwischen gestorben, und Graf und Gräfin Mallone befanden sich zu jener Zeit in Japan. So stand sie den auf sie einstürmenden Lebenswirklichkeiten allein gegenüber, auf die eigene Tapferkeit angewiesen. Sie biß die Zähne aufeinander, und niemand ahnte, was sie litt. Nachdem ihr Mann gestorben, ohne je wieder völlig zum Bewußtsein gekommen zu sein, verkaufte sie den Rennstall, verkaufte ihren Schmuck und opferte ihr eigenes Vermögen, damit der Name ehrlich bleibe, den das Kind trug. Als alles geordnet [40] und bezahlt war, blieb ihr eine sehr bescheidene Rente, und Baby besaß ein kleines Gut in Pommern, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und das unveräußerlich war. Früher hatte Isa ihren Mann zuweilen mit spöttelnder Geringschätzung von dieser Klitsche reden hören. Jetzt erschien sie ihr als ein wahres Asyl. Sie selbst war früher nie dort gewesen, und das dünkte sie ein besonderer Vorteil; so konnte sie dort unmöglich Erinnerungen an die Vergangenheit finden, denn vor denen fürchtete sie sich mehr noch als vor den Schrecken der unbekannten Zukunft.

So zog sie nach Dusterhusen in die norddeutsche Landeinsamkeit, wo sie eine Fremde war. Seitdem hatte sie dort gelebt, es mochte nun an die zehn Jahre sein. Sie schauerte, wenn sie an die Anfangszeiten zurückdachte, besonders an den ersten Winter. Wie da der Schnee gefallen war! sie glaubte nie solche Mengen Schnee gesehen zu haben. Er fiel so stetig, als sei ihm die Aufgabe gestellt, etwas, was eigentlich noch lebendig war, so tief zu begraben, daß es nie wieder aufstehen könne. Und Isa hatte die Empfindung, daß, was da begraben wurde, sie selbst, ihr Leben, ihre Jugend sei. In der ersten Zeit war sie auch so verbittert und empfand einen solchen Ekel vor dem, was sie vom Leben kennen gelernt, daß es ihr beinahe lieb war, [41] zu denken, daß dies alles für sie vorbei sei und begraben würde. So saß sie denn hinter den gefrorenen Scheiben, ohne sich zu rühren, wie eine Fliege, die in einem Spinnennetz gefangen ist und sich ganz still und verängstigt duckt, weil sie weiß, daß sie nie mehr herauskommt. Die Spinne, die Isa eingesponnen hatte, war die Hoffnungslosigkeit; sie lauerte in einer dunklen Ecke des Hauses, und wenn Isa sich je regte, kam sie rasch herangekrochen und umwand sie mit neuen Fäden, auf daß sie ihr nicht entschlüpfe.

So lebte sie einsam in dem alten Hause und galt bei den wenigen Nachbarn, beim Dorfgeistlichen und Schullehrer für sonderlich, für eine Frau, die gar nicht die rechte Wertschätzung der Vorzüge norddeutschen Landlebens habe, der man dies aber als einer Fremden zu gut halten müsse, um so mehr, als sie eine arme Witwe sei, die sich über den Tod ihres Mannes nicht trösten könne. Das war die Legende, die Isa umgab. – Denn wir wandeln durchs Leben, von unsern Mitmenschen mit irgend einer Etikette behängt, die den ihnen zufällig ins Auge springenden Punkt unsrer kleinen Laufbahn und unsrer vermeintlichen Eigentümlichkeit nennt, – aber die den andern auffallendste Seite eines Menschen, nach der er also beurteilt und klassifiziert wird, ist oftmals nur der Mantel, [42] hinter dem die große Einsamkeit seines wahren Wesens verborgen bleibt.

Man gewöhnte sich daran, Isa wie eine alte Frau zu behandeln, obschon sie an Jahren noch so jung war wie andre, für die das Leben eben erst beginnt. Die wenigen Verwandten, die sie besaß, hüteten sich, sie in ihrer Einsamkeit zu stören; man war froh, daß sie keine Ansprüche erhob, und die Welt ist längst so sehr daran gewöhnt, daß einer die Schuld des andern tragen muß, daß es niemand unerträglich dünkte, diese junge Frau lebendig begraben zu sehen. Gräfin Mallone bezeichnete Isa von da ab nur noch als »meine arme Schwester«, aber in dem Mitleid lag auch stets etwas Verweisendes. Man heiratet eben nicht Männer, die alles auf die Fortuna setzen.

Aber nach der ersten Zeit, in der Isa wie erstarrt gewesen, hatte sie sich dann doch mühsam ins Leben zurückgetastet. Äußerlich verlief ihr Dasein weiter in eintönigem Grau, aber innerlich trat allmählich eine Wandlung in ihr ein. Früheren Interessen und Beschäftigungen wandte sie sich von neuem zu, und sie konnte wieder stundenlang am Flügel sitzen und träumend in andre Welten gleiten, die beim Klang der Töne visionsgleich vor ihr erstanden. Die uneingestandene Sehnsucht erwachte in ihr, noch einmal frei zu sein und wirklich hinaus [43] zu können in jene andre Welt. Aber sie war ja nicht frei. Aus dem kurzen früheren Leben war ihr eine große, langwährende Pflicht geblieben: es war die Sorge um Baby. Heranwachsend, nahm das Kind mehr und mehr das Denken der Mutter in Anspruch und erweckte viel bange Befürchtungen in ihr. Denn wenn Baby auch Trainer und Jockeis längst vergessen hatte, so erkannte die Mutter doch mit Angst manches bedenkliche Erbteil in dem Kinde: eine mehr als kindliche Sorglosigkeit, ein seltsames Vertrauen auf glückliche Zufälle, die alle Versäumnisse ausgleichen sollten, gepaart mit bestechendem äußeren Zauber, – die Natur des Vaters war es, die Isa in der Tochter wiedererstehen sah. Mit geheimem Grauen fühlte sie, daß die Vergangenheit hinter ihnen beiden stand wie eine hohe, düstere Wand und ihre Schatten auf Gegenwart und Zukunft warf. Aber wieder war Isa tapfer und suchte alles sie gefährlich Dünkende in dem ihr so unverwandten Kinde zu bekämpfen.

Und es war nicht leicht; denn in dem Kinde selbst schien ein gleiches, wenn auch ganz unbewußtes Gefühl der Fremdheit gegenüber der Mutter zu bestehen. An den Vater, den sie nur so flüchtig gekannt, bewahrte Baby eine schwärmerische Erinnerung, als an ein glänzend schönes Wesen, und je mehr sie empfand, was sie der Mutter [44] Strenge gegen harmlose Kleinigkeiten nannte, desto mehr verherrlichte ihre kindliche Phantasie das Andenken des Toten, von dem sie sich nicht entsinnen konnte, je einen Verweis erhalten zu haben.

Die Grausamkeit gesunder Jugend hatte Baby von klein auf besessen. Als sie einst von einer Kindergesellschaft auf einem Nachbargut heimkam, war sie Isa auf den Schoß geklettert, hatte mit großen, forschenden Kinderaugen in das ernste, blasse Gesicht geschaut und dann mißmutig gefragt: »Bist du denn eigentlich eine ganz richtige Mama? Du lachst nie und hast keine Falten im Gesicht. Die andern Mamas dort hatten Falten, und die haben sie wohl bekommen, weil sie so viel mit uns lachten.« Das Kind merkte, daß es da irgendwo einen großen Widerspruch im Leben der Mutter gab, die nie lustig zu sein verstand, die lebte, als sei sie alt und doch nicht alt war. Es war bisweilen, als fürchte das Kind, daß ihm etwas entginge, worauf es glaubte ein Anrecht zu haben.

Eines kleinen Erlebnisses aus jener Zeit mußte Isa später oft noch gedenken, denn es hatte ihr damals sehr wehe getan, und wie an Sturmtagen alte vergessene Wunden von neuem zu schmerzen beginnen, so fiel es ihr wieder ein, wenn die Fesseln des Lebens besonders drückend auf ihr [45] lasteten: Jahrelang hatte sie nur schwarze Kleider getragen, und Baby konnte sich wohl gar nicht erinnern, die Mutter früher anders gesehen zu haben. An einem Frühlingstage aber, beim Kramen in alten Sachen, war Isa ein Kleid in die Hände gekommen, das sie getragen, ehe all das Unglück über sie hereingebrochen war. Aus dem weißen Mull mit den rosa Blümchen schien eine leise Lockung zu ihr aufzusteigen, noch einmal in die Jugendzeit zurückzukehren, und sie hatte ihr düsteres Gewand abgestreift und war in das helle Kleid hineingeschlüpft: »um nur schnell mal zu probieren, ob es noch säße«. Und merkwürdig gut paßte ihr das helle Kleid noch, das ein Symbol der Freude zu sein schien. War es wirklich möglich? – sie und Freude? – Sie blickte in den Spiegel, und als das eigene Bild sie aus der Tiefe der Scheibe wie aus ferner Vergangenheit anschaute, war ihr, als besänne sie sich langsam auf etwas, was sie einst geträumt. – – Aber da war die Türe aufgeflogen, und Baby war hereingelaufen, mit glänzenden Augen, zerzaustem Haar und erhitzten Wangen, im Arm einen Strauß der ersten goldgelben Butterblumen. Sie wollte auf die Mutter zueilen und war dann plötzlich stehen geblieben; zuerst hatte sie sie ratlos angestarrt und dann halb unwillig gelacht und gerufen: »Aber Mama! wie komisch siehst du aus! [46] in dem... in dem ... dem jungen Kleid! Das paßt doch gar nicht für dich!«

Seitdem hatte Isa nie wieder an Kleider der Vergangenheit gerührt.

Aber in ihrem Herzen rief es doch manchmal noch sehnsuchtsvoll: »Ich bin ja noch jung! jung!« – Da wünschte sie, daß das Alter rascher kommen möge, weil dann die Sehnsucht sterben und sie die Einsamkeit leichter ertragen würde.

Und nun war sie in Washington, hatte der Schwester Einladung angenommen, aus eigenem Interesse, diese fremde Welt kennen zu lernen, vor allem aber, weil Baby brennend gewünscht hatte, zur Tante in Amerika zu fahren, um sich endlich mal amüsieren zu können, worauf man mit siebzehn Jahren doch ein gutes Recht habe.

Es war aber merkwürdig, wie gut gerade Isa selbst die Reise tat. Gleich auf dem Schiff war ein Ahnen großer Befreiung über sie gekommen, verjüngt und gehoben hatte sie sich gefühlt, und hier nun war ihr alles neu, nicht nur die vielen Dinge, die sie zu sehen bekam, sondern mehr noch die ganz verschiedenen Lebensauffassungen, die ein einzelnes, oft zufällig gesprochenes Wort verriet. Seitdem sie in Amerika weilte, hörte sie oftmals den Ausdruck: »have a good time«, und sie hatte eine Menge Frauen kennen gelernt, deren einziger erkennbarer [47] Zweck war, ihr Leben zu einer »guten Zeit« zu gestalten. Rund um sie her fand man das natürlich. Im Lichte dieser Anschauung betrachtete sie ihr eigenes Leben. Wo war da die »gute Zeit«? Sie konnte sich keiner erinnern. Als ob sie in eine große Leere schaute, war es, und nachträglich schwindelte ihr, wenn sie sich vergegenwärtigte, wie jung und wie völlig allein sie gewesen, wie bettelarm an sonnigen Momenten.

Aber jetzt war ihr oft, als sei das alles anders geworden: in diesem neuen Lande kehrte ihr das Bewußtsein eigener Frische zurück, sie vergaß den grauen Lebensweg, der so lang an ihr vorübergezogen und wähnte den Schatten der Vergangenheit für immer entronnen zu sein.


»Herr Erich Brincken,« meldete da plötzlich ein Diener.

Als er eintrat, sah er sich erstaunt in dem kleinen Salon um. »Was, so allein treff ich Sie?« fragte er, und in dem Ton seiner Stimme lag Freude.

»Ja, die andern sind zu Jours gefahren, und ich dachte eben, wie angenehm es doch ist, mal so still und allein zu sein.«

»Wissen Sie auch, daß Sie da etwas gesagt [48] haben, was recht hart klingt für einen, der eben aus dem Schnee kommt und sich etwas zu Ihnen setzen möchte?«

»Aber so habe ich es ja gar nicht gemeint,« antwortete sie bestürzt, und dabei war sie aufgestanden und hatte unwillkürlich die Hand nach ihm ausgestreckt, als wolle sie ihn zum Bleiben nötigen.

Wie sie so vor ihm stand in dem langen, weißen Hauskleide, vom glimmenden Kaminfeuer und den rosa Lichtern beschienen, hätte sie wohl niemand für untröstlich und hoffnungslos gehalten!

Den Zauber ihrer Erscheinung und den wohnlichen Reiz des kleinen geschlossenen Raumes empfindend, griff er nach ihrer Hand, die sich wie ein flatterndes weißes Vögelchen bewegte, küßte die weißen Fingerspitzen und sagte; »Sie sind eine der Frauen, zu denen es wohltut heimzukehren.«

Und sie dachte: wie seltsam, das hat mir noch niemand gesagt!

Schweigend saßen sie sich dann eine Weile am Kamin gegenüber. Und in dem Schweigen lag ein Zauber und beinah eine Beängstigung. Sie empfanden beide, wie sie sich dabei viel näher kamen als je durch gesprochene Worte. Zusammen schweigen in der Dämmerstunde in fernem Lande! und fühlen, wie das dunkelnde Zimmer sich füllt mit all dem Unausgesprochenen und wie der Raum [49] sich weitet in verschwindende Fernen! und leise hinabgleiten in endlose Tiefen, dorthin, wo die Seelen sich berühren!

Als er sie auf dem Schiff kennen gelernt, hatte er gar nichts von ihr gewußt, hatte nur gehört, daß sie Witwe sei und mit ihrer Tochter zu Verwandten nach Washington reise. Sie hatten bei den Mahlzeiten nebeneinander gesessen, waren auf dem winterlichen einsamen Verdeck zusammen auf und ab gegangen, und wenn sie, in einer vor dem Wind geschützten Ecke, in ihrem langen Sessel ruhte, hatte er eine Pelzdecke über sie gebreitet. Es war eine seltsame Lebenserfahrung gewesen, mit der fremden Frau in dieser Einsamkeit zwischen Himmel und Wasser bekannt zu werden! Sie hatte ihn angezogen, wie das stille, unergründliche Meer manche Menschen anlockt. Und mit demselben unsicheren Gefühl, wie der Seefahrer sich in unerforschten Gewässern weiter lotet, so hatte er mit den Worten weiter getastet. Man kann ja auch in Menschen plötzlich Sandbänke oder Felsenriffe finden! Aber bei Isa gab es keine derartigen Überraschungen; sie war zwar nicht ein von der Sonne durchschienenes Wasser, das schimmert und noch auf dem tiefsten Grunde die kleinen Kiesel erkennen läßt, aber ruhig und klar und dunkel getärbt, als läge es im Schatten eines großen Felsens, [50] der das Licht nicht daran kommen läßt. Es war Erich bald so, als kenne er sie sehr gut, obschon er von den äußern Tatsachen ihres Lebens auch am Ende ihrer Seefahrt noch immer wenig wußte. Seitdem er nun aber in Washington war, hatte er von den Herren der Botschaft über die Gräfin Clam Cräven sprechen hören. Manche wehmütige Worte, die er von ihr während der Reise vernommen, gewannen jetzt einen besonderen Sinn, da er in ihrem Leben selbst die Erläuterung dazu sah. Den Zauber traumhafter, kaum materialisierter Schönheit, der von ihr ausging, hatte er sofort empfunden, und jetzt, wo er erfahren, welch trauriges Los dieses zarte Wesen gehabt, das ihm der Sorgfalt und des Schutzes so sehr zu bedürfen schien, begann sich seiner Bewunderung ein andres, weicheres und ihm neues Gefühl zu gesellen. Denn in seinem arbeitsreichen Dasein war bisher wenig Raum gewesen, um über Frauen und Frauenschicksale nachzudenken, und Isa war die erste, die er, in der erzwungenen Muße der Überfahrt, näher kennen zu lernen Zeit gefunden hatte. Er, der des eigenen Lebens Bürden auf starken Schultern zu tragen gewohnt war, fragte sich nun manchmal beklommen, ob es denn wirklich andre gäbe, die, weit schlechter als er zum Kampfe ausgerüstet, noch schwerere Lasten tragen mußten? – Und ein ahnungsreiches [51] Verstehen, ein tiefes, zärtliches Mitleid stiegen in ihm für sie auf.

Wenn es dann aber geschah, daß er sie jetzt bisweilen lachen hörte und er wahrnahm, wie viel noch ungenutzte Lebensfreudigkeit in ihr schlummerte, die schüchtern zu erwachen schien, so überkam ihn ein Gefühl der Rührung, und er hätte ihr gern gesagt: »Freue dich, freue dich! weil nichts mich mehr freut als deine Freude!« Und eines Tages, als sie zusammen auf der Terrasse vor dem Kapitol standen und hinabschauten auf den in der Wintersonne glänzenden Potamac mit dem Hintergrunde ferner, schneebedeckter Anhöhen, da leuchteten Isas Augen voller Entzücken, so daß sie beinah jünger als Baby aussah, und er sagte ihr: »Sie erinnern mich manchmal an die Kinder, die um die Weihnachtszeit vor den Schaufenstern stehen in andächtiger Bewunderung all der schönen Spielsachen, wie sie sie selbst nie besessen, – da möchte ich auch immer hineingehen und ihnen alles kaufen können.« Sie lächelte ihn erstaunt an. Es war lang, lang her, daß jemand in einen Laden gegangen war, um ihr etwas zu kaufen!

Es war überhaupt so merkwürdig, daß sich ein Mensch so sehr mit ihr beschäftigte! Sie konnte sich gar nicht darauf besinnen, daß ein andrer das je getan und daß ihre Wünsche und Interessen [52] für irgend jemanden von Bedeutung gewesen wären. Aber Erich schien immer mehr von ihr und ihrem inneren Wesen wissen zu wollen, als sei alles für ihn sehr wichtig. Er fragte sie Jetzt oft nach Dingen aus ihrem Leben und konnte ihr andächtig lauschen, wenn sie ihr stilles Dasein in Dusterhusen schilderte, in dessen Öde die wiedererwachte Liebe zur Musik die einzige große Freude gewesen war, von ihrer Reiselust sprach sie zu ihm, von ihrer Sehnsucht, Schönes zu sehen und vor allem zu hören, denn Klänge brachten ihr mehr als Natur oder Bilder. »Musik dringt tiefer in meine Seele als irgend etwas andres,« sagte sie einmal. – Sie hatte ihm gleich das Verständnis für alle Schwingungen ihres Geistes angemerkt; während sie aber auf dem Schiff noch eine gewisse Zaghaftigkeit vor ihm empfunden hatte, weil ihr die Fähigkeit leichten Bekanntwerdens mit Fremden verloren gegangen war, sah sie ihn inmitten der vielen neuen Gesichter Washingtons wie einen alten Freund an. Mit wachsender Freude traf sie ihn in den vielen Gesellschaften oder bei den Partien in die Umgegend, die die erfinderische Aga trotz des Winterwetters zu Babys Zerstreuung organisierte.

Bisweilen sprach dann auch Erich von sich selbst, kaum daran zu glauben wagend, daß eine da sei, der es so leicht war, alles zu sagen. Denn [53] sie beide waren Menschen, lang gewohnt, ihr eigentliches Leben zaghaft zu verbergen. Schüchtern war sie geworden in langen Einsamkeiten, verschlossen er in harten Lebenskämpfen. Und nun erzählte er ihr, wie mühsam die Anfänge für ihn gewesen waren, wie er alles dem Schicksal hatte abringen müssen, zuerst die bloße Möglichkeit, studieren zu können, dann die für seinen Beruf notwendigen Reisen nach Amerika mit Entbehrungen erkaufend; jeder Schritt vorwärts war erkämpft, jeder Erfolg erobert worden, bis daß er heute in seinem Fach auf der obersten Stufe stand. Sie begriff, warum Amerika ihn von Jeher angezogen hatte und daß er die Amerikaner verstand und liebte; denn durch die Zielbewußtheit und Rastlosigkeit, mit der er seinen Weg gegangen, ähnelte er ihnen selbst. Isa verglich dies Leben mit andern Leben, die sie gekannt, und nun wußte sie, warum sie sich in Erichs Nähe so geborgen und sicher fühlte, – da war eben nichts, was einer blinden Fortuna überlassen worden war, da war alles mit ernster Arbeit erworben. Aber weiter fühlte sie dunkel, daß diesem Leben doch etwas fehlte; denn nicht für sich allein und auch nicht einzig um der Arbeit selbst willen streben Menschen wie Erich Brincken; es schlummert in ihnen die Vision derjenigen, die sie einst mit dem eigenen Erfolge schmücken [54] werden; ihr ganzes Leben ist ein Sammeln von Schätzen gewesen, die sie der einen darbringen werden.- Und sie, die vom Leben Beraubte, dachte jetzt oftmals, daß jene eine neidenswert sein würde.

Während Isa und Brincken noch zusammensaßen, kehrten Aga und Baby zurück.

»Das war ein angreifender Nachmittag,« sagte die schöne Gräfin Mallone, sich erschöpft zu den beiden am Teetisch niederlassend.

»O, aber ein herrlicher Nachmittag!« rief Baby; »denk dir, Mama, bei einem der Jours trafen wir Mr. Vansittart, und er brachte uns von dort in seinem Automobil zur Hundeausstellung. Du glaubst nicht, was für süße Geschöpfe da waren! Einige wurden verlost, und Mr. Vansittart nahm ein Los für mich. Und schau nur, diesen hier habe ich gewonnen!« Dabei hielt sie ihrer Mutter einen winzigen Hund hin mit langem, seidenweichem Haar und hervorquellenden Augen, den sie bisher hinter ihrem großen Muff verborgen hatte. »Ist er nicht reizend?« fuhr sie fort, »und denk dir, er ist weder europäisch noch amerikanisch, sondern ein kleiner Chinese. Aber er soll keinen unaussprechlichen chinesischen Namen tragen, sondern wir haben ihn gleich Good luck getauft. Ja, Gutglück soll er heißen. Was Besseres gibt es doch nicht!«

Sie hob nun den kleinen Hund in die Höhe [55] und hielt ihn dicht an einen der venezianischen Spiegel. Als er aber, seine echt asiatische Gleichgültigkeit gegenüber der Welt flüchtiger Erscheinungen bewahrend, sich mit unendlich altem und teilnahmlosem Ausdruck von der eigenen Spiegelung abwandte, als wolle er sagen, daß er sich selbst zur Genüge in den zahllosen Formen ewiger Wiederkehr kenne, da drückte Baby sein glattes, schwarzes Naschen gegen die Scheibe und rief dazu: »Aber so sag doch dem Good luck da drinnen hübsch guten Tag!«

Und Isa, die ihr halb belustigt, halb wehmütig zuschaute, wandte sich zu Erich und sagte: »Sie ist doch noch ein völliges Kind!«


»Achtung, Komtesse, Augen rechts!« sagte der kleine Pogarell, der dicht hinter Baby ging, »wir kommen jetzt gleich dahin, wo das oberste Heiligtum der Republik zur Schau gestellt wird und Würdigen und Unwürdigen die Hand schüttelt.«

Sie standen alle wartend in einer langen Menschenreihe, die sich langsam durch die heißen, hell erleuchteten Säle des Weißen Hauses vorwärts schob, um vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorbei zu defilieren.

Am Eingang des blauen Zimmers wartete ein [56] Adjutant und nannte die Namen der Eintretenden dem Präsidenten, der selbst ein paar Schritte weiter an der Fensterwand stand, umgeben von Verwandten und Gefolge. Durch eine Schnur war vor ihm eine schmale Straße frei gehalten, auf der die Vorbeidefilierenden schritten. Der Präsident reichte jedem die Hand und unterhielt sich mit vielen ein paar Augenblicke, während die neben ihm stehenden Damen hinter ihren großen Blumensträußen, die sie wie abwehrende Schilder vor sich hielten, nickend grüßten.

Die Diplomaten und andre Bevorzugte hatten das Vorrecht, nachdem sie vorübergegangen waren, sich gegenüber vom Präsidenten auf der andren Seite der Schnur im blauen Zimmer aufzustellen, um dem Vorbeimarsch der weiteren Gäste zuzuschauen. Und während sich hier die verschiedenen Uniformen Europas drängten und Ordenskreuze und Sterne blitzten, die alle angelegt worden waren, um dem Manne drüben im einfachen Frack Ehre zu erweisen, schritten nun die Leute vorüber, die den Mann auf den Platz gestellt hatten, wo er stand. – Es gab da alle möglichen Typen, und wenn sie auch sämtlich vor allem »amerikanisch« sein wollten, so sah man es doch noch manchen an, von welchen der europäischen Länder sie ursprünglich stammten, deren goldbetreßte offizielle Vertreter auf der andren [57] Seite der Schnur standen, so wie die alten Heimatstaaten auf der andern Seite des großen Wassers lagen. Und vielleicht mochte manchem der diplomatischen Vertreter bei diesem Vorbeimarsch der Gedanke kommen an die Flotten, die jahraus, jahrein von Europa nach Amerika über das Wasser fahren, um Tausende und Tausende von Menschen zu bringen, die alle Amerikaner werden. Die Hunderte, die hier vorbei gingen, waren nur ein Symbol der Millionen, die gekommen sind und noch immer kommen, lauter Leute, die dem alten Weltteil verloren gegangen sind – und die nicht seine schlechtesten Söhne waren.

Da kamen weltberühmte Millionäre vorbei, die das Geldmachen längst vom bloßen Geschäft zur Offenbarung einer neuen Form des Genius erhoben haben. Stonetower Night, der Meister des Riesentrusts, nahm die erste Stelle unter ihnen ein und zog die Blicke aller kleineren Geldgrößen auf sich; denn er übte dieselbe faszinierende Wirkung auf sie, wie die ferne glänzende Alpenspitze auf die Bergbesteiger; sie alle malten sich aus, daß, was er erreicht, vielleicht auch sie erringen könnten.

Scharen von Politikern sah man. Neugewählte und noch etwas verdutzt dreinschauende Kongreßmänner aus entlegenen Staaten drängten sich vor; sie glaubten stets die Blicke ihrer fernen Wähler [58] auf sich gerichtet zu fühlen und spähten nach Gelegenheiten, sich vor ihnen auf der großen politischen Landesbühne hervorzutun. Alte einflußreiche Senatoren waren da, die den Wechsel vieler Dinge gesehen; mancher von diesen mochte wohl die eigenen Chancen überschlagen, selbst mal dort auf dem präsidentiellen Platz zu stehen. Einer aber war unter ihnen, dem es eine höhere Macht dünkte, Präsidenten zu machen, als sich selbst diese Würde aufbürden zu lassen, und mit bleichen, napoleonischen Zügen stand dieser amerikanische Königsmacher abseits und musterte mit etwas mißtrauischem Blick seine letzte Schöpfung, den neuen Mann, der sich zu so unheimlicher Stärke entwickelte.

Auch die wohlbekannten Namen einiger großen technischen Erfinder nannte der diensttuende Adjutant. Das waren Leute, die vielleicht damit begonnen hatten, eine kleine Vervollkommnung an einer Maschine zu ersinnen, die als erste irgendein scheinbar unbedeutendes Rad, eine kleine Schraube an einem Betriebe besser herzustellen vermocht hatten, als irgendein andrer Mensch auf Erden, und die, von Verbesserung zu Verbesserungen schreitend, selbst zu treibenden Kräften geworden waren im großen Räderwerk der sich von der Unvollkommenheit erlösenden Menschheit.

[59] Und amerikanische Offiziere defilierten vor dem Präsidenten, und mochten auch viele von ihnen arm sein, so war es doch, als ob auch sie, gleich ihren reichen Landsleuten fragten: »Was kostet die Welt?« Die Verkörperung betätigungseifriger, vorwärtsdrängender Kraft schienen sie zu sein, und es folgte ihnen mancher etwas ängstliche Blick; denn sie repräsentierten ein so gewaltiges Machtmittel, daß es die Republikaner alten Schlages eine mögliche Gefahr dünkte. Die Jüngeren aber, die in den Ideenkreisen des Präsidenten lebten, schauten stolz und zuversichtlich auf die Offiziere, notwendige Werkzeuge in ihnen erkennend für die unaufhaltsame Expansion einer neuen starken Rasse.

Doch neben allen diesen waren auch Männer aus entlegenen Gebieten des fernen Westens und Nordens erschienen; seltsam nahmen sich ihre Joppen aus zwischen den Fracks und Uniformen der andern; aber sie bewegten sich so sicher und unbeirrt, als seien sie daheim in ihrem eigenen Blockhaus und als vergäßen sie keinen Augenblick, daß sie das Weiße Haus und den Präsidenten ebensogut wie jeder andre mitbezahlten.

Gräfin Mallone aber war von solchen Inkorrektionen der Toilette stets von neuem aufs peinlichste berührt, und wie sie nun, nach den Joppenmännern auch noch zwei Mädchen in Blusen und [60] Strohhüten vorbeidefilieren sah, die sich im Weißen Hause so ungeniert umschauten, als sei es eine Mietswohnung, die sie besichtigten, da dachte sie, wie schon oft, welch weites Feld der Tätigkeit eine tüchtige Obersthofmeisterin hier finden würde. Zu Brincken gewandt, der sich durch das Gedränge bis zu ihnen heran gefunden hatte, sagte sie: »Wie rauh und unfertig wirkt doch Amerika, sobald man von der kleinen Zahl der ganz Reichen absieht und diejenigen kennen lernt, aus denen sich die eigentliche Bevölkerung zusammensetzt. Immer wieder vermißt man da etwas, was wir in den alten Kulturländern gewohnt sind.«

»Aber um gerecht zu sein,« antwortete Brincken, »müssen wir dies ganze Land wie eine der provisorischen Holzgerüstbrücken beurteilen, die hier zuerst bei den Bahnen errichtet werden. Für den Anfang geht es auch damit, nach und nach aber werden sie umgewandelt zu schönen und dauerhaften Bauten aus Stein und Eisen, die jeder Last gewachsen sind. Amerika ist einer der Hauptbogen an der großen Brücke, die zum Fortschritt führt!«

»Der auffallendste Fortschritt Amerikas im Vergleich zu Europa,« sagte nun Graf Mallone, »scheint mir, daß der Durchschnittsmann und die Durchschnittsfrau hierzulande höher stehen, als die gleiche[61] Kategorie bei uns. Es sind verfügungsfähigere Menschen. Nur in der Erzeugung von Elitewesen ist die alte Welt einstweilen noch voraus.«

»Es geht hier mit den Menschen wie mit den Seidenstoffen,« warf Erich ein. »Tüchtige Mittelsorten werden schon längst in den amerikanischen Fabriken hergestellt, aber die schönsten kostbarsten Gewebe lassen sie heute noch aus Lyon kommen. Doch arbeiten sie unablässig daran, sich auch darin ganz frei zu machen.«

»Und es wird ihnen gelingen,« bestätigte Mallone in seiner müden Art. »Die ästhetische Verfeinerung, den raffinierten Geschmack, den letzten Schliff – alles was du, Aga, heute noch vermissest und wonach sie in der jetzigen Epoche ungestümen Handelns noch streben, das werden sie auch erreichen. Dann aber werden sie anfangen, still zu stehen, um über des Weges Sinn und Ziel nachzugrübeln, und dann erst werden Philosophen geboren werden, die das Nachdenken über das Handeln verkörpern – damit aber wird auch die Zeit der Decadenz beginnen.«

Isa hatte bisher staunend in das Gewühl all der vielen Menschen geschaut, das ihr wie das Brodeln einer fremden, sich noch formenden Welt erschien. Jetzt sah sie auf zu Erich und sagte: »Was mir an den Menschen hier auffällt, ist, daß [62] sie so aussehen, als wolle ein jeder etwas und als wolle er es mit ganzer Kraft.«

»Ja,« antwortete Erich, »wenn die Glücksgöttin sich bei irgend einem Amerikaner anmelden ließe, sei er Staatsmann oder Minenarbeiter, und ihm sagte: ich stelle dir einen Wunsch frei – so würde der Mann seine Antwort sofort fertig haben, während drüben bei uns wohl viele erwidern würden: ließe sich diese Frage nicht vielleicht dilatorisch behandeln? – weil sie eben nicht einmal wissen, was sie wollen.«

»Dort der Präsident sieht ganz besonders wie einer aus, der weiß, was er will und es darum auch wohl erreichen wird«, sagte Isa, zu dem Manne hinüberschauend, an dem der Menschenstrom noch immer weiter vorüberzog.

»Und er vereint die Willensstärke mit einem großen Stück Idealismus, was man auch in all seinen Schriften erkennen kann«, erwiderte Brincken.

»Ist ihm das nicht eher hinderlich in diesem Lande, wo der Kampf um materielle Güter so im Vordergrund steht?« fragte Isa.

»O ja«, antwortete Brincken, »er stößt auf großen Widerstand und hat viele Gegner, aber er wird vom Glauben getragen, berufen zu sein, die Welt so zu gestalten, wie er will, daß sie werde, und er schöpft aus seiner Begeisterungsfähigkeit für das, was er [63] für recht hält, eine Kraft, die ihm über alle Schwierigkeiten hinweg hilft. Er hat das Zündende und Unwiderstehliche der Männer, die von großen Ideen geleitet werden, und er ist mir immer ein Beispiel dafür, daß den Idealisten doch schließlich der Sieg gehört.«

Isa nickte zustimmend. Es tat ihr wohl, Erich, der selbst mitten im praktischen Leben stand, eine Anschauung vertreten zu hören, die sie sich selbst in ihrem weltabgewandten Dasein gebildet hatte.

»Ich meine dabei aber nicht etwa, daß der Präsident ein optimistischer Illusionär ist«, fuhr Erich fort, »im Gegenteil, er sieht die Welt ganz so schlecht, wie sie in Wirklichkeit ist; aber er glaubt an ihre Vervollkommnungsfähigkeit, weil er überhaupt an den endlichen Sieg des Guten glaubt. Und das ist der Geisteszustand aller großen Reformatoren. Wenn ich Roosevelt ansehe, muß ich immer an Luther denken: Er hat den kernigen, überzeugten, und nötigenfalls kriegerischen Zug solcher Gestalten.«

»Und dabei ist es so schön, daß er bei jeder Gelegenheit für den Frieden eintritt«, sagte Isa. »Das ist doch sein höchster Ruhmestitel.«

»Und ein Ruhmestitel, den sich nur die ganz Starken gestatten können, bei denen man, wie bei Roosevelt, weiß, daß er nie der Furcht erlauben [64] wird, ein Wort mitzureden«, sagte Erich. »Ich möchte ihn einen handfesten Idealisten nennen, der, trotz aller Friedensliebe, den Kampf schwächlichem Entsagen stets vorziehen wird.«

»Ja, wir haben Grund, auf ihn stolz zu sein«, meinte Ted Vansittart, der mit Baby einen Gang durch die übrigen Säle gemacht hatte und nun mit ihr zu den andern zurückgekehrt war. »Unser Präsident verkörpert wirklich den besten Typus des amerikanischen Mannes; er geht an die schwersten Aufgaben mit der einfachen Unerschrockenheit und der Einsetzung vollster Kraft, wie er es beim Sport gewohnt ist und womit er schon so oft den Sieg erzwungen hat. Aber wissen Sie, wenn er nun auch nicht ein so prächtiger Kerl wäre, wie er es ist, so wäre das schließlich kein so einschneidendes Unglück für uns, wie wenn eines Ihrer Staatsoberhäupter drüben sich als untauglich erweist; denn unsre Präsidenten verschwinden ohnehin nach ein paar Jahren von der Bühne, wir brauchen das nur ruhig abzuwarten, wenn wir unzufrieden sind. Bei uns kommen die Dinge von selbst wieder ins Gleise, ohne daß Katastrophen und tragische Figuren dabei zu entstehen brauchen.«

»O Mama«, sagte nun Baby mit glänzenden, schauensfrohen Augen, »es ist hier doch alles zu merkwürdig! Denk dir, Mr. Vansittart hat mir vorhin [65] Japaner vorgestellt, die in Amerika studieren – Leute, die ich bisher nur auf Vasen gemalt gesehen hatte! Aber die größte Überraschung sind doch die Indianer! schau nur dorthin in die Ecke, da stehen sie leibhaftig und richtig, als kämen sie aus dem Lederstrumpf oder vielleicht von Buffalo Bill!«

Und wirklich standen dort drei echte Indianerhäuptlinge mit Muschelketten, kunstvoll gestickten Mokassins, Köchern und Pfeilen und im kriegerischen Federputz. Große Gestalten waren es, größer noch erscheinend durch die hohen Kopfzierden; einst in fernen Gebirgen dem Aare geraubt, überragten nun diese kühn geschweiften Federn all die funkelnden Diamantdiademe in diesem Festsaal. Düstere Gesichter hatten die drei Gesellen, düster durch die dunkelkupfrige Hautfarbe, die stechenden Augen, das schwarze, struppige Haar, düster auch durch den finster verbissenen Ausdruck von Leuten, die gewahren, daß ihr Tag endgültig vorüber ist, ohne daß sie wüßten, warum es sein mußte. Schweigend starrten sie auf die vielen, vielen Männer, die schon die Säle füllten, während immer noch neue kamen und vorüberzogen an dem »großen Vater«, der waffenlos dastand und doch so mächtig war, daß die ganze Welt sich vor ihm neigte. Zum Staunen war es, zu welcher Zahl sein [66] bleiches Volk herangewachsen war! Die Ältesten ihres Stammes hatten es ihnen ja noch, um die Feuer sitzend, erzählt, wie wenige dieser seltsam weißen Fremdlinge es erst gegeben, wie erbärmlich es ihnen anfänglich ergangen, wie sie dann mühsam immer weiter westwärts vorgedrungen seien. Heute aber gehörte ihnen alles, von Ozean zu Ozean das ganze Land und die Wälder auf dem Lande und die Metalle und brennenden Öle in seinen dunklen Tiefen; die ganze Erde hielten sie mit ihren kettenähnlichen Schienenwegen gefangen, sie befuhren auf ihren fauchenden Schiffen die großen stillen Seen, und die freien Flüsse und jauchzenden Wasserfälle mußten ihre schnaubenden dampfenden Werke treiben. Es war eine unverständliche Zeit, diese neue Zeit! und nichts blieb übrig, als sich vor ihr zu verbergen und die immer seltener werdenden Einöden aufzusuchen, den wilden Tieren gleich, die einst dort in Herden gehaust, wo heute große Städte standen, Tiere, die, nur noch in entlegenen Revieren vorkommend, nun als Merkwürdigkeiten gehegt wurden, nachdem die Epoche längst vorüber war, da man sich ihrer erwehren mußte. Wie solche Geschöpfe aus entschwindender Periode kamen sich auch die Indianer selbst vor. Der Größte, Älteste unter ihnen hatte selbst noch gegen weiße Soldaten gekämpft; aber das war lange her, heute [67] schoß niemand mehr auf Indianer – seltsame Überbleibsel vergangener Tage waren sie geworden, die man als Kuriositäten hegte und im Weißen Hause zu Washington neugierig anstarrte.

Denn die seltenen Gäste erregten nicht nur Babys Erstaunen. Eine Gruppe schöner junger Frauen umdrängte eben die fremdartigen finstern Gestalten. Da stand neben der brünetten Mrs. Benton Pleasure, die, in blau-grün flimmernde Flittergaze gekleidet, den Indianern wie eine schillernde Riesenlibelle erscheinen mochte, ihre soziale Rivalin, die goldblonde Mrs. Rise Daunt, die stets nur leuchtendes Gelb trug, weil ihre strahlende Art der Schönheit ihr die Pflicht auferlege, den Sonnenschein zu verkörpern. Durch Vermittlung eines Dolmetschers versuchten beide Damen, welch reizvolle Überraschungen der Flirt mit gefangenen Wilden vielleicht bieten könne, und Mrs. Rise Daunt, die in ihrem Salon auch auf exotische Elemente zu strahlen beliebte, sagte eben zu dem größten der indianischen Häuptlinge: »Versprechen Sie mir, daß Sie zu meiner musikalischen Matinée kommen werden, um die neue finnländische Sängerin zu hören«.

»Ach! welch ein Anblick!« rief der dekadente Dichter, die von den Damen umringten Indianer erspähend; »da sind sie mal wieder am Werke, die ewig Verderblichen.... O, ihr armen Söhne der [68] Wildnis! wie gerne würden die weißen Teuflinnen euch skalpieren und eure Haarbüschel als Trophäen am Gürtel tragen!.... aber welch eine Seite für mein Buch der ›Mulier nefas aeternum‹ kann dies geben!.... ich muß den Eindruck festhalten!« Und rasch entschlossen zog er ein Bleistift aus der Tasche, schob die linke Manschette vor und kritzelte eifrig Notizen darauf.

Der kleine Prinz Pogarell hatte währenddem die Indianer mit sichtlicher Sympathie gemustert. »Muß den alten Herrschaften alles recht kurios vorkommen,« meinte er, »beinah so kurios wie mir – stehe in zweiter Abteilung des Gotha – und muß hier vor Herrn und Frau Soundso vorbeidefilieren«.

»Wenn's Ihnen ein Trost ist, Prinz,« sagte Erich Brincken, Isa anblickend, »so möchte ich behaupten, daß wir hier doch nicht vor Herrn und Frau Roosevelt defilieren. Die sind nur Symbole von etwas viel, viel Größerem, vor dem seit Urzeiten die dahingehende Menschheit sich sehnsüchtig und entsagungsvoll neigt. Es ist die Zukunft. Und wenn wir Europäer auch nicht so sehr zur Vergangenheit gehören, wie jene armen Indianer, so sind wir doch alt im Vergleich zu diesen neuen aufsteigenden Menschen: sie verkörpern den kommenden Tag – den Tag Anderer. Das ist ihre [69] Stärke, und niemand erkennt das besser als dort Roosevelt selbst. Mit der Kraft schaffender Phantasie, die den ganz großen Staatsmännern eigen ist, sieht er im voraus das Bild einer von amerikanischem Geist vorwärts geleiteten Welt.«

»Ja, Ja,« sagte Mallone, »gelegentlich überkommt wohl jeden von uns mal das unangenehme Gefühl, eigentlich schon längst zum alten Eisen zu gehören und es nur noch nicht selbst klar zu wissen. Aber glauben Sie mir, Brincken, auch der Tag der Amerikaner wird seinen Abend finden – und vielleicht sind es die kleinen gelben Männer, die Baby bisher nur auf Vasen gemalt gesehen hatte, die dann berufen sein werden, auf dem Herrscherthron zu stehen und die Verbeugungen der defilierenden Welt entgegenzunehmen.«


Isa hatte sich sehr pünktlich angekleidet, um nichts von der musikalischen Matineé bei Mrs. Rise Daunt zu versäumen, auf die sie sich besonders freute. Aber sie wartete schon lange, und Aga, die mit Baby ausgefahren war und sie abholen sollte, kam noch immer nicht.

Als die beiden endlich erschienen, mußten sie sich noch umziehen, und dabei erzählte Aga, daß sie mit Ted Vansittart die große Kongreßbibliothek [70] besichtigt hätten, und er sie nachher dort in dem Grillroom zu einem improvisierten Lunch festgehalten habe. »Es war riesig nett, mal von einem unverheirateten Herrn in ein Restaurant eingeladen zu werden!« sagte Baby; »hier passiert doch immer etwas unerwartetes, das gefällt mir«.

So war es spät geworden, als die Damen bei Mrs. Rise Daunt anlangten.

Das Geschwirr vieler Stimmen tönte ihnen entgegen, denn eine Pause im Konzert fand eben statt, und der weißgoldene Musiksaal war dicht mit Menschen gefüllt. Aber ihre wie immer sonnenfarben gekleidete Wirtin geleitete die Botschafterin zu einem Sessel in der vorderen Reihe, der für sie freigehalten worden war, und mit ihrer fürstlichsten Miene ließ sich Gräfin Mallone auf diesem Platze nieder.

Erich Brincken und Ted Vansittart hatten beide am Eingang harrend gestanden und waren sofort auf Gräfin Clam Cräven und ihre Tochter zugekommen.

»Endlich, endlich!« sagte Ted zu Baby, »es ist schon so spät! Aber kommen Sie, ich weiß doch noch einen Platz, wo wir ungestört sitzen können, und ich habe Ihnen auch die Kodakbildchen vom Polospiel in Newport mitgebracht, die Sie sehen wollten.«

[71] Erich und Isa schritten zusammen durch das Gedränge im Saal, bis sie zu einem angrenzenden, erkerartigen Raum gelangten.

Da war es, als seien sie plötzlich in eines der kleinen Wohnzimmer des Palastes von Kyoto versetzt worden. Die Wände waren mit alten japanischen Malereien bespannt; goldig schimmerte der Grund, über den Zweige schneeiger Kirschblüten und violetter Wistarien hinrankten, die einst vor Jahrhunderten ein unbekannter Künstler ersann, die Augen einer blassen Prinzessin des fernsten Ostens zu entzücken. Mattes Licht strahlte aus einer Ampel, die, einer großen Lotosblume nachgebildet, von der Decke herabhing. Aus einer Bronzevase, um die sich ein langer, grünlicher Drache wand, sprossen fremdartige Orchideen; wie ein Schwarm seltsamer Insekten hingen die grüngolden gefleckten Blüten an den langen, schwanken Stengeln. Und Isa hatte die Empfindung, das Heiligtum eines geheimnisvollen Blumenkults zu betreten, wo duftende Mysterien gefeiert werden.

»Welch reizendes Märchenzimmer!« sagte sie, sich umschauend und unwillkürlich die Stimme dämpfend, »hier wollen wir bleiben«.

»Mit Ihnen hier zu sein, ja, das ist reizend,« antwortete Erich und schob ihr einen weichen niederen Sessel hin. Sie fühlte, wie er, neben ihr [72] stehend, zu ihr herabsah. Und mit einemmal ward ihr seltsam beklommen zumute, als harre ihrer hier wirklich ein schicksalschweres Geheimnis. »Ich fürchte, Sie werden die Sängerin von hier aus kaum sehen können,« sagte er. »Hier ist ein Programm,« setzte er hinzu und reichte es ihr.

Sie aber legte es beiseite und antwortete: »Ich möchte heute gar nicht vorher wissen, was gesungen werden wird, sondern nur die Töne trinken wie goldenen Wein, von dem es ja auch eigentlich einerlei ist, wie er heißt und wo er einst gewachsen ist. Und auch die Sängerin brauche ich nicht zu sehen, denn bei Musik ist mir doch immer, als sei ich eigentlich ganz allein, und als wären die Töne nur meine eigenen Empfindungen, die plötzlich zu klingen beginnen. Es gibt Musik, die mir, mehr als alle Worte, wie das Aussprechen meines geheimsten Ichs erscheint, und es ist das ein so befreiendes Glück, daß ich nichts Höheres kenne.«

»Neulich schon sagten Sie, daß Ihnen nichts über Musik ginge,« erwiderte Erich, »und ich habe seitdem immer wieder an diese Worte denken müssen. Sie lassen auf Charakter und Schicksale schließen; denn die Musik ist doch diejenige Kunst, die am meisten über die greifbare Welt hinaushebt und Vergessen der Wirklichkeit schenkt. Wer sie daher vor allen andern Künsten bevorzugt, [73] dem hat das Leben wohl wenig gehalten von dem, was es zu versprechen schien und hat ihm als Rettung nur die Flucht in eine ideale Welt gelassen.«

Sie nickte wehmütig: »Ja, das mag wohl so sein. Aber über jedes Leben ließen sich ja zwei Bücher schreiben: das eine, wie man dachte, daß es sein würde, das andre, wie es in Wirklichkeit ward.«

Der Verkörperung unerfüllter Sehnsucht gleich erschien sie ihm. Wieder ergriff ihn bei ihren Worten das tiefe Mitleid, und als einziger wahrer Zweck des Lebens stand in plötzlicher Klarheit der schon seit Tagen heranreifende Wunsch vor ihm, ihr eine Gegenwart schenken zu können, vor der jede Erinnerung an vergangene böse Tage verschwinden müßte.

»Ich dächte es mir Seligkeit,« antwortete er ihr mit weicher Stimme, »das Leben derer, die man liebt, gestalten zu dürfen.«

In ihr aber wuchs das Gefühl ahnungsvoller Beklommenheit, das sie gleich beim Betreten des kleinen Gemaches empfunden. Näher und näher kam das Mysterium.

Wie um aufzuhalten, was doch unabwendbar, sprach sie weiter: »Musik übt eine doppelte Wirkung auf mich aus. Sie singt herbsten Schmerz zur [74] Ruhe, und gleichzeitig weckt sie eine Fülle andrer, halb traumhafter Empfindungen, die über den dunkeln See des Leides hinwegtragen. Beim Hören sehe ich auch; die Klänge werden mir zu Bildern, und die Musik zaubert mir ein Land der Seligkeit vor, in dem ich nie gewesen und von dem ich doch ahne, daß es irgendwo auf Erden zu finden sein muß.«

Ein Ton müden und doch noch hoffenden Suchens zitterte in ihrer Stimme. Aus den Tiefen seines Wesens stieg eine große Sehnsucht auf zu ihr, und er antwortete: »Vielleicht ist alle Kunst, eben weil sie das Höchste ist, was Menschen zu leisten vermögen, eine Brücke, die aus den Fesseln bedrückender Wirklichkeit hinüberführt zur Vision der Welt, wie sie sein sollte.«

Isa nickte und sagte leise, wie im Traume: »Ja, das vermag die Kunst.«

»Und die Liebe« – setzte er noch leiser hinzu.

In dem großen Saale hatten bisher viele Gespräche durcheinander geklungen, und diese verworrenen Laute waren zu den beiden in dem goldschimmernden Seitengemach gedrungen. Doch da verstummte auf einmal das Sprechen der vielen Menschen. Lautloses, erwartungsvolles Schweigen trat an seine Stelle.

[75] Und in der tiefen Stille hub nun ein einleitendes Vorspiel an.

Dunkel und klagend klangen zuerst die Töne, als stiegen sie auf aus düsteren, leiderfüllten Tiefen, lauter erhoben sie sich dann, zu schmerzlicher Steigerung wachsend, rauschten voller mit mächtiger werdendem Schalle, als schwöllen sie brausend empor zu ragenden Bergesspitzen. Fragend und angstvoll drängend war dies Gewirr der Töne, alle strebten suchend hinan, alle stürmten himmelwärts wie ein einziges jammerndes Flehen um befreiende Antwort – – aber stets, wenn ihre Spannung zu höchster Höhe gewachsen und sie die harmonisch lösenden Akkorde schon zu berühren schienen, sanken sie wieder ohnmächtig herab in die Abgründe, aus denen sie erstanden. Ein Stöhnen war es, ein Weinen unzähliger Töne. Nicht nur ein einzelnes Menschenleid betrauerten diese ineinandergreifenden Laute, sondern uralter Weise, der großen, um ihre eigene Qual klagenden Natur selbst, waren sie nachgebildet.

Und wie Isa in beinah angstvoller Spannung lauschte, glaubte sie zu erkennen, welch Schauspiel dem Tondichter diese Klänge eingegeben haben mochte. Es war ihr beim Hören, als schaue sie auf ein dunkles, unruhiges Meer, wo Wellen auf Wellen brausend angezogen kamen, sich überstürzten [76] und ingrimmig aufbäumend ihre schaumspritzenden Locken schüttelten, um dann immer wieder in sich selbst zu versinken. – Aber sie verstand auch, daß nicht nur der wirkliche Ozean hier in Tönen dargestellt ward, sondern, daß die Musik das Leben selbst malte, wie es, einem großen, fragend rauschenden Meere gleich, dahingleitet, nie zur Ruhe gelangend, weil es an der Oberfläche stets von neuem bewegt wird durch die kleinen Sorgen und Kümmernisse der einzelnen Stunden, während es in seinen Tiefen aufgewühlt ist von den quälenden Fragen der Ewigkeiten, von der Entstehung des Leidens, der Unabänderlichkeit des Todes, von all den dunklen Geheimnissen des Daseins.

Allmählich aber ging das Grollen und Rollen der aufgewühlten Wogen in klagendes Murmeln über, in ein Seufzen lang getragener, banger Hoffnungslosigkeit. Und über der dunkel verworrenen Begleitung erhob sich jetzt plötzlich, ganz leise noch und silbern hell und voller Verheißung, die Stimme der für Isa unsichtbaren Sängerin. Wie eine aus der Ferne kommende Botschaft klang diese Stimme, die über den dunklen Wassern schwebte. Note reihte sich an Note, sie verschlangen sich zu Ketten, wuchsen zusammen und verschmolzen ineinander: ein kunstvolles Gebäude sah Isa entstehen[77] – einer leichten, luftigen Brücke gleich, die sich in weitem Bogen emporschwang, die finsteren Wasser mit opalenem Schimmer überspannend. »Liebe und Kunst, das sind die großen Brückenbauer,« schien ihr die Stimme zu künden, »sie tragen uns hinüber zu ewiger Schönheit Welten!«

Immer schwächer und leiser ward das begleitende Rauschen der Meereswogen, als würden sie von der ansteigenden Melodie der voll schwellenden Stimme in dunklen Tiefen zurückgelassen. Und mit den Wellen versanken die Sorgen und Kümmernisse der Stunden, versanken auch in endlicher Stille die quälenden Fragen der Ewigkeiten. All das blieb tief unten zurück in den Fluten, und immer glänzender trat hervor eine opalen schimmernde Brücke, die die Stimme erbaut hatte und die sich einem Regenbogen gleich wölbte. – Doch weiter erklangen die perlenden Noten. Zu fliegen schienen sie zum jenseitigen Ufer und zeichneten dort eine flimmernde Märchenstadt. Linien phantastischer Architektur beschreibend, sank und stieg die wundersame Melodie; bald waren es aufjauchzende Töne, die emporstrebten wie schlanke Minarete, bald vollgetragene Klänge, die sich weiteten zu Hallen und Domen. Leuchtende Umrisse zauberhafter Gebäude zeichnete die Weise – eine goldene Schrift an nachtblauem Himmel, so standen sie da. Das war [78] die Stadt der Seligkeit, in der Isa nie gewesen! –

Verstummt vor ihrem Anblick war alle Qual, verstummt auch die Frage, woher wir kommen, wohin wir gehen – die Antwort bildete der verheißende Bogen der Brücke, den Liebe und Kunst erbauen. Über sie zu schreiten, war der Menschen Geschlecht aufgestiegen aus unbekannten Fernen, von Jeher bestimmt einst einzuziehen in die Märchenstadt der Schönheit und Freude!

Im Scheine von Myriaden kleiner Lichter funkelte sie vor Isas Augen, bald grüngolden schillernd wie die Flügel tropischer Käfer, bald spielend im blassen Violett und matten Rosa der Medusen südlicher Meere, bald purpurn aufleuchtend, golden erstrahlend und korallenrot glänzend wie Aurora Borealis in nordischer Sage.

Doch höher stieg die Stimme der unsichtbaren Sängerin, gleich wie der Triller eines den Blicken schon entschwundenen Vogels noch aus hohen Lüften herabklingt; spielend schwebte sie weiter, leicht und beflügelt, mit silbernen Tönen alle Schwierigkeiten belachend, wie ein schimmernder Falter sich von Palme zu Palmeskrone schwingt.

Und immer deutlicher erschaute Isa die Vision der opalenen Brücke mit der lichtglänzenden Stadt am jenseitigen Ufer.

[79] Aus den tiefen indigofarbenen Fluten stieg sie jetzt auf gleich einem aquamarin-blauen Juwel; Pfeiler, Kuppeln und Türme der traumhaften Gebäude waren besät mit glitzernden Kristallen, und diese leuchtenden Punkte bildeten Bogen, schlangen Ketten und reihten sich aneinander, Hallen umrahmend, in denen Schatten lagen, grünblau und kalt, vom Smaragd und Saphir bis zum Türkisen gleitend, wie die Farben in eisigem Gletscherspalt.

Doch während Isa schaute und lauschte, schwebte die Stimme von höchsten Höhen in weiter Schwingung herab. Es war, als glitte sie entlang an silbrigen Tauen und Perlenschnüren, und in die kristallklaren Noten mischte sich ein neuer, weicher, schmelzender Klang. Und wie der Ton der Stimme, veränderte sich auch die Färbung der Traumesstadt. Die blaugrünen Schatten, die grellen Lichtpunkte entschwanden; milchigweiß, von rosigem Hauch überzogen, lag sie nun da, in rührender, zartester Schönheit, wie eine einzige große, feuchtschimmernde Perle. – Die leise Stimme, die nur noch zu flüstern schien, die Perlenstadt im Zauber letzten Abendsonnenscheins, sie weckten beide eine unendliche Sehnsucht, bei der sich die Seele spannte zu weitem Bogen.

Da, als Isa fühlte, daß aus den tiefsten Gründen ihres Daseins eine Kraft emporstieg, um sie im [80] Fluge zu höchster Höhe zu tragen, – da mußte sie, von stärkerem Willen gezwungen, die Augen heben, und sie trafen Erichs Blick, der lang schon auf ihr geruht.

Sein Blick aber sagte ihr, daß er wie sie die leuchtende Stadt erschaue, und daß er selbst, der große Brückenbauer, es ja war, der für sie die Brücke erbaut hatte, auf der sie dorthin schreiten solle. Es war ihr, als sei er vorausgeeilt auf dem leuchtenden Bogen und streckte die Hand nach ihr aus, sie über das Meer des Leides hinwegzugeleiten. Und seine Augen sprachen: »Komm, komm! Von mir laß dich führen, denn stark und sicher ist die Brücke, die meine Liebe dir erbaute!«

In dem Blick lag ein so brennendes Verlangen, sie weit, weit fortzutragen und allein, ganz allein für sich zu haben, daß sie davor erbebte, wie vor dem Leuchten einer großen Sonne, – aber es lag auch gleichzeitig in den Augen eine so unbegrenzte Zärtlichkeit, ein so sehnsüchtiges Flehen, daß es sie umschmeichelte wie kühlender Perlenschmelz. Und sie ward inne, daß die hohe Stunde ihres Lebens geschlagen hatte; daß endlich, endlich im Abendsonnenschein und einem Wunder gleich das geschehen war, worauf sie unbewußt all die Jahre gewartet. Da schaute sie ihn groß an, und ihre Augen antworteten ihm: »Ja, ja« – und immer [81] wieder sagten sie ihm: »Ja, du sollst mich führen über die opalene Brücke zu der lichtglänzenden Stadt der Schönheit und Liebe.«

Wenige Sekunden nur hatte das Zwiegespräch ihrer Augen gedauert. Nun verstummte die Stimme der Sängerin, und mit ihr entschwand die Vision vor Isas Blicken.

Aus dem Saale klang leises, wohlerzogenes Händeklatschen, gedämpft durch das weiche Leder parfümierter Handschuhe. Gräfin Mallone war an die Künstlerin herangetreten und sagte ihr einige Worte der Anerkennung, wie sie das so oft an Höfen von Fürstinnen gesehen hatte. Dann trat sie an das kleine erkerartige Gemach, die Schwester zu suchen; denn sie hatte immer das Gefühl, mit wohlwollender Überlegenheit über Isa wachen zu müssen. Baby und Ted, die bis dahin in einem andern Zimmer eifrig flüsternd die kleinen Kodakbilder betrachtet hatten, kamen nun auch der Tante entgegen, und wie diese sie so nebeneinander stehen sah in gleicher, jugendlicher Unbekümmertheit, flog ein zufriedenes Lächeln über ihre Lippen.

»Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu fahren«, sagte sie, »wir sehen uns heute abend ja wieder beim Diner Ihrer Mutter, Mr. Vansittart.«

Isa war aufgestanden, wie aus einem Traume aufgescheucht. Das tägliche Dasein begann von [82] neuem; die Bilder einer andern Welt, die die Musik ihr vorgezaubert, waren versunken. Doch eine große Müdigkeit war ihr davon geblieben, als käme sie von sehr weit zurück – ein Gefühl, wie sie es manchmal morgens beim Erwachen empfunden hatte, als sei sie im Traume in schönen Gegenden gewesen, und als lohne es sich danach nicht recht, den Weg durch den Alltag wieder anzutreten. – Wo war sie denn nur während der letzten Minuten im Traume gewesen? – – In den Knien fühlte sie ein seltsames Zittern, als sie aufstand, und es war, als ströme ihr alles Blut von dem Gehirn zum Herzen, so daß ihr schwindelte. Doch da stand Erich auch schon neben ihr und bot ihr den Arm, auf den sie sich willenlos stützte. Sie fühlte, wie er sich fürsorgend zu ihr beugte, sie ahnte seinen Blick, der jetzt so zärtlich und schützend auf ihr ruhte; aber sie wagte nicht, zu ihm aufzuschauen, sie ließ sich führen in einem ungekannten Gefühl Schonung erflehender Schwäche, das zugleich Seligkeit war. Am Ausgang des kleinen Gemachs blieb sie eine Sekunde stehen und blickte zurück auf die goldschimmernden Wände, an denen sich die Blumenranken hinzogen, als wollte sie sich noch einmal das Bild der Stätte genau einprägen, wo das Wunder geschehen war.

Später erinnerte sie sich dunkel, daß sie sich [83] von ihrer Wirtin verabschiedet hatten und im Gedränge der Menschen die Treppen hinab gegangen waren. Unten hatten sie etwas auf den Wagen warten müssen. Es begann leise zu schneien. Aga, Baby und Ted hatten gesprochen, sie wußte nicht mehr was – aber sie und Erich hatten geschwiegen. Es war ja auch alles gesagt. Worte hätten nur dies Gefühl seliger Willenslosigkeit verscheuchen können. – Mit diesem traumhaften Empfinden war sie in den Wagen gestiegen. Halb hatte Erich sie hineingehoben, denn der Schnee fiel dichter und dichter, und das Trittbrett war schon ganz davon bedeckt. In seiner Bewegung hatte etwas Junges, Starkes und Besitzergreifendes gelegen und dabei eine so weiche Zärtlichkeit, daß sie fühlte, wie sie errötete.

Später erinnerte sie sich dann auch, daß sie mit ihrem Muff über die beschlagene Scheibe des Wagenfensters gefahren und noch einmal durch das Schneegestöber nach ihm geschaut hatte. So hatte sie ihn zuletzt gesehen, wie er groß und kräftig in der Straße stand, die Hände in den Pelz schob und die weißen Flocken dichter und immer dichter um ihn fielen, bis er, einem Schatten gleich, in ihnen verschwamm und sich verlor.

Während der Fahrt, bei der Gräfin Mallone sofort einschlummerte, weil sie gelernt hatte, aus [84] jeder noch so kurzen Zeit den größtmöglichen Nutzen zu ziehen, beugte sich Baby vor und sagte leise: »Ehe wir uns zum Diner anziehen, Mama, mußt du dich etwas hinlegen. Du bist ganz blaß geworden. Du wirst dich doch nicht gar erkältet haben?«

Und Isa lächelte und antwortete: »Nein, mir fehlt gar nichts mehr.«


Aus der Ruhe wurde dann doch nichts. Eine Menge gleichgültiger Dinge harrten der Erledigung.

Wie im Traume ließ Isa alles über sich ergehen.

Wie im Traume zog sie sich auch an für das Diner bei Teds Mutter und begriff nur nicht, warum Aga gerade heute Baby so besonders einschärfte, es sei die eleganteste Gesellschaft der Saison, und sie solle sich sehr schön dafür machen.

Nun, das war dem Kinde ja geglückt! dachte Isa, die die Tochter vor der Abfahrt durch die Schleier all ihrer eigenen Gedanken hindurch einen Augenblick ansah: die Verkörperung siegreicher Jugend schien sie zu sein, mit dem Strauß in der Hand, den ihr Ted Vansittart gesandt hatte, eine wirkliche Viktoria!

Isa selbst empfand es als einen drückenden Zwang, zu diesem Diner zu müssen. Sie wußte, [85] daß Erich nicht dabei sein würde, und wenn es ihr auch lieber war, ihn jetzt nicht mehr inmitten fremder Menschen und in der Unmöglichkeit freier Aussprache sehen zu müssen, so sehnte sie sich um so mehr danach, ganz still und allein sein zu dürfen, um dem nahenden Glück entgegenzuträumen. – Noch im letzten Augenblick wäre sie gern zurückgeblieben, eine so seltsame Angst überkam sie – aber es galt jetzt ja nur noch wenige Stunden zu warten, dann brach der neue Tag für sie an. Morgen früh würde Erich kommen, das wußte sie ganz bestimmt.

Eine lange Reihe Wagen näherte sich im stetig fallenden Schnee dem Vansittartschen Hause. Der Hufschlag der Pferde verlor sich auf dem weißen Boden, und die Laternen warfen nur einen gedämpften, durch den zunehmenden Nebel engbegrenzten, runden Schein. Gleich dunklen Schatten tauchten für Augenblicke in dem Schneegestöber die Gestalten von Schneeschauflern auf, die bei Fackellicht daran arbeiteten, die Wege, auf denen die Reichen fuhren, freizuhalten.

Vor dem großen Portal hielten die Wagen, und eine Menge Gäste entstiegen ihnen und beeilten sich, aus der feuchtkalten Luft in die Helle und Wärme drinnen zu gelangen.

Alle Damen legten ihre Pelze in einem kleinen [86] rosaroten Vorzimmer ab, wo ihnen hohe Spiegel gestatteten, sich von allen Seiten zu mustern, ehe sie, schönen Gladiatorinnen gleich, die Salons betraten, die die Arena sind, wo, sei es um den Ruhm der Schönheit, sei es um greifbarere Preise, lächelnd gekämpft wird.

Eine lange Halle führte zu den großen Empfangsräumen. Nach der Kälte draußen schlug die warme, wohlriechende Luft beinah betäubend den Gästen entgegen. Über dem großen Mittelkamin hing ein Porträt Elisabeths von Böhmen, der Tochter des ruhelosesten, verhängnisbeladensten aller Herrschergeschlechter und Königin eines kurzen Winters, die dann, vertrieben und hilfesuchend, durch die Welt gezogen war. Seltsam erschien es, daß ihr Bildnis nun gerade hier in diesem Lande prangte, das zur Zeit, da sie lebte, anfing, das ferne rauhe Asyl derer zu werden, für deren Glauben und Streben es drüben keinen Raum gab; das seitdem, in schwindelnd rascher Entwicklung ungeahnter natürlicher Schätze fortschreitend, heute Paläste modernster Könige des Kapitals birgt, an deren Tischen Fürsten der alten Welt zu Gaste sitzen, stolze Bauten, deren Wände die Bilder einstmaliger vertriebener Herrscher zieren.

Lauter Vertreter ältesten amerikanischen Reichtums befanden sich an dem Abend bei Mrs. Vansittart. [87] Ein ergötzliches Schauspiel gewährten sie dem statistischen Autor und dem dekadenten Poeten, die ihrerseits als geistige Raritäten geladen waren, sowie in materieller Hinsicht für lauter erlesene Gerichte gesorgt worden war, die es der Jahreszeit nach eigentlich nicht geben konnte.

In dem Marmorspeisesaal an der langen Tafel, die mit altem Goldgerät und American Beauty-Rosen bedeckt war, saßen geschmeidebeladen die blassen, früh welkenden und doch einen so eigenen Zauber ausübenden amerikanischen Schönheiten, deren feine, nervöse Züge von allen Typen am meisten an die auf den Deckeln der Mumienkasten in Wachsfarben gemalten Bildnisse der Frauen aus der spät alexandrinischen Epoche mahnen. Wie die letzten Blüten überkultivierter Pflanzen erschienen sie, wie die Quintessenz der Verfeinerung, übertrieben, das Krankhafte beinah schon streifend, Produkte der Hyperzivilisation, die in anderm Volke kommenden Rassenverfall und Untergang künden würden, hier aber nur eine seltene Spielart bilden, in einer Nation, deren feste Wurzeln in den Staaten des hohen Nordens und fernsten Westens ruhen und der die Stärksten, Unternehmungslustigsten aus allen Völkern in ununterbrochenem Zuzug stets neue Kräfte zuführen.

Und zwischen den Frauen saßen die Männer, [88] diese neuesten Herren der Welt, die nicht nur über Menschen, sondern über Urstoffe herrschen, die dem Weizenkorn seinen Preis bestimmen, die dem Kupfer befehlen, ob es in der Erde ruhen oder aus ihr aufstehen soll, die, weit in die Zukunft vorausschauend, schon heute in den entlegensten Ländern die Gebiete des quellenden Öles aufkaufen, auf daß auch in kommenden Zeiten nur sie zu sprechen vermögen: »Es werde Licht«. – Den Fangarmen eines einzigen großen Oktopus glichen diese Männer, jeder nach einer andern Richtung ausgreifend, um neue Gebiete, neue Kräfte und Stoffe dem Rassengenius, diesem Werte schaffenden Ungeheuer, zu unterwerfen. – Und dem, der da wußte, welche Macht, welche Geldmassen hinter jedem einzelnen standen, mußte jeder Kampf von vornherein aussichtslos erscheinen. Verurteilt, zur Rolle bescheidener Gefolgschaften herabzusinken, schienen die alten Welten; ihre Zeit war vorüber, diesen neuen Männern gehörte der kommende Tag. Weiter und weiter würde der Oktopus um sich greifen, Schicksal erfüllend, von der Notwendigkeit der Dinge getrieben.

All die andern aber überragend saß Stonetower Night neben Isa. Er schien in gehobener Stimmung zu sein; hinter der schillernden Nase glitzerten die scharfen Äuglein in grünlichem Licht, und [89] Graf Mallone beobachtete ihn ängstlich, zitternd, ob der Schreckensmann etwa eine neue Trustkombination ersonnen habe, um Europa zu schädigen, ohne daß der Graf davon Kenntnis erhalten; denn wie jeder Botschafter sollte er immer alles voraus wissen, besonders aber alles, was Stonetower Night betraf. Doch derjenige Teil von Stonetower Nights mächtigem Kopfe, der sich mit Geschäften befaßte, schien für diesen Tag abgeschlossen wie ein fester eiserner Geldschrank, und er erzählte der zerstreut zuhörenden Isa nur von einem Zyklus von Wandteppichen, die Liebesverwandlungen des Zeus darstellend, die einst für den Kardinal von Mazarin angefertigt worden waren; derjenige Teppich, der Jupiter als Goldregen auf Danae niedergehend abbildete, sollte damals dem Kardinal abhanden gekommen sein, wie ein altes Geschichtswerk berichtete, und jetzt endlich, nach vielem Suchen, war es Stonetower Nights Agenten gelungen, den vor dreihundert Jahren verschwundenen Gobelin in Spanien zu entdecken und für ihn anzukaufen. »Mein gefährlichster europäischer Konkurrent,« schloß Stonetower Night, »der Direktor des Königlichen Museums in X, war dem Teppich auch auf der Spur, und beinah wäre er meinen Leuten zuvorgekommen – na, Amerika hat aber doch gesiegt«. Graf Mallone aber, der von der andern [90] Seite des Tisches eifrig dem Gespräche gelauscht hatte, atmete erleichtert auf, daß Europa diesmal nur auf dem Gebiet der Antiquitätenerwerbung geschlagen worden war.

Gräfin Mallone, die sonst für alle derartigen Sorgen ihres Mannes voller Verständnis war, hatte heute ihre eigenen, die sie ganz in Anspruch nahmen. Zuerst spähte sie nach Babys Platz und bemerkte wohlgefällig, daß diese neben Ted saß; dann beugte sie sich etwas vor, und nachdem sie all die Frauen an der langen Tafel kritisch gemustert und gegen die Schönheit der Nichte abgewogen hatte, lehnte sie sich befriedigt zurück, im Bewußtsein, daß, wie immer der Interessenkampf zwischen den Männern beider Weltteile augenblicklich stehen mochte, dies ein Abend sei, an dem das weibliche Europa einmal alle Aussicht habe, manche Scharte wettzumachen und den amerikanischen Schwestern einen der großen Lebenspreise abzugewinnen. Einen persönlichen Triumph empfand dabei die fürsorgliche Tante, daß sie alles während der letzten Wochen an unmerklich feinen Fäden mit so viel Umsicht und Takt geleitet, daß sie nunmehr im Begriffe stand, den praktischen Erfolg ihrer Politik su ernten, was, wie sie wußte, nicht allen Diplomaten auf amerikanischem Boden beschieden ist. Wie hatte sie diese beiden jungen Menschen doch so weise zu[91] ihrem Besten geführt! so ganz anders, als die arme verträumte Isa dazu je imstande gewesen wäre!

Sie schaute nach der Schwester, ob diese sich der Bedeutung des Abends bewußt geworden; aber an Stonetower Nights Seite starrte Isa teilnahmslos vor sich hin, wie die Manifestationen eines ihr fremden Götzenkults ließ sie die vielen goldenen Schüsseln des Mahles achtlos an sich vorüberziehen, und es war, als weilten währenddem ihre Gedanken bei eigenen fernen Heiligtümern.

Ihre Gleichgültigkeit ärgerte Aga. Da war Baby doch ein für ihr Mühen belohnenderer Anblick!

Die folgte den verschiedenen Episoden der augenblicklichen sozialen Handlung mit einem gespannteren Interesse noch als sonst und betrachtete alles um sie her mit einer naiven Freude an schönen glänzenden Dingen, die, wie Aga richtig erkannte, aus den Tiefen ihres innersten Wesens hervorbrach. Aga verstand Baby längst, während Baby sich selbst erst allmählich zum Bewußtsein kam und ihr kleines Ich noch wie ein unerforschtes und sicherlich interessantes Gebiet betrachtete. Allerhand Gedanken machte sich Baby bisweilen über das eigene so wichtige Wesen; woher hatte sie nur dies instinktive Behagen an einer Umgebung wie die heutige? warum erschien sie ihr als etwas, was ihr rechtmäßig zukam und worin sie sich wie in längst bekannt [92] Gewesenem zurechtfand? In Dusterhusen konnte sie die Liebe zu den heiter luxuriösen Seiten des Lebens doch kaum erlernt haben? Das mußte ihr wohl angeboren innegewohnt haben; vielleicht stammte es aus der Zeit, da der Papa noch lebte. Sie bewahrte einige verschwommene Erinnerungen an jene Tage, als es viele Pferde und Diener gegeben hatte und Herren in bunten, seidenen Jacken sie manchmal lachend auf ihre Pferde gehoben und dabei gesagt hatten, sie sei die Viktoria und solle ihnen zum Siege verhelfen. Undeutlich, wie Bilder aus fernen Traumesländern, war das alles. Später mußte irgend etwas Schreckliches geschehen sein, über das die Mama aber nie sprach – und dann war sie in Dusterhusen erwacht. – Wie sie das dachte, glaubte sie plötzlich das graue einstöckige Haus und den zugefrorenen Teich mit den alten knorrigen Weiden wieder vor sich zu sehen, und sie entsann sich, daß sie dort oft gewünscht hatte, eine der kleinen Schwalben zu sein, die im Herbst fortfliegen durften. Nun hatte sie endlich auch einmal hinausgedurft, und es galt, die hier in Washington so rasch fliehenden Stunden voll zu genießen.

Mit einem kleinen Seufzer in der Stimme wandte sie sich zu Ted: »Den vielen Menschen, die hier wissen wollen, wie mir Amerika gefällt, möchte ich [93] nur immer antworten, wie kann man das nur überhaupt fragen, es ist ja herrlich!«

Es tat ihm wohl, sie so reden zu hören; denn gleich vielen Amerikanern hatte er überhaupt stets das Bedürfnis, die eigene nationale Selbstzufriedenheit als berechtigt bestätigt zu hören. Aber während der letzten Wochen, da er Baby fortwährend unter den zustimmenden und ermunternden Blicken der Gräfin Mallone getroffen hatte, war ihm die Frage von immermehr wachsender Bedeutung geworden, wie das große Amerika vor den schönen Augen der kleinen Komtesse bestehen würde. Er hätte selbst nicht sagen können, wie er zuerst mit seinen Gedanken auf diese Bahn geraten war; ganz allmählich mußte es geschehen sein. Daß die schöne Gräfin Mallone hier und da ein bißchen nachgeschoben, hatte er gar nicht bemerkt.

»Und das Allernetteste an Ihrem Amerika,« fuhr Baby fort, »ist, daß man hier doch weiß, wozu man jung ist und Kräfte hat; alle Tage ist was Neues los! Unternehmungslustig war ich ja auch zu Hause, aber was nutzt das in einem Ort, wie Dusterhusen, wo doch nichts anzufangen ist. Ich war dort auch immer so schrecklich allein – ich bin ja eine einzige Tochter.«

»Ich bin auch ein einziger Sohn,« sagte Ted, der sich ihr dadurch plötzlich verwandt fühlte.

[94] »Ja, aber das ist ganz was andres,« meinte sie; »denn in Amerika ist man das ja gewohnt. Onkel Frank erzählte neulich, hier in Washington und in Newyork hätte die Sorte Menschen, die man kennt, entweder gar keine Kinder, oder immer nur eines. Bei uns in Deutschland ist das ganz anders, da gab es bei all unsern Nachbarn eine Menge Kinder. Ich finde das viel lustiger; verheiratete Menschen sollten viele Babies haben.«

»Wenn mein großer Namensvetter, Ted Roosevelt. Sie hören könnte,« antwortete Ted Vansittart lächelnd, »so würde er Ihre Ansichten allen Amerikanerinnen zum Muster hinstellen.«

»Vielleicht hätte es übrigens sogar in Dusterhusen ganz nett sein können,« begann Baby von neuem, »wenn die Mama auch mal ein bißchen lustig gewesen wäre. Aber wie ich noch ganz klein war, fiel es mir schon auf, daß sie eigentlich nie richtig lachte wie andre Menschen, es klang immer, als ob sie gleichzeitig ein bißchen weine. Das machte das Leben für mich oft recht trübselig; aber da sagte ich mir immer, na, schließlich kommt doch mal irgend ein Glücksfall, und dann wird alles herrlich. Die Mama freilich meint, auf Glücksfälle dürfe man nicht rechnen.«

»Warum ist denn Ihre Mama so?«

»Ja, sehen Sie, darüber hatte ich als Kind allerhand [95] Theorien. Bei Dusterhusen gibt es nämlich ein Stück Heide, wo Mauerreste zwischen dem Ginster und dem Heidekraut hervorschauen; da soll einmal eine Stadt gestanden haben, die von den Schweden zerstört wurde, und der Dorfschulmeister lehrte mich, daß Deutschland noch heute unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges leide. Wie ich nun die Mama immer so traurig sah, dachte ich mir, sie leidet wahrscheinlich auch unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges. Aber heute weiß ich, daß sie sich darüber nicht trösten kann, daß mein Papa so früh gestorben ist.«

»Sie hatte ihn wohl sehr lieb?«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht,« antwortete Baby betroffen; »aber das ist doch ganz selbstverständlich?«

»Sie haben übrigens sehr recht, daß es doch unerwartete Glücksfälle gibt,« sagte nun Ted rasch einfallend, »für mich ist es ein solcher, daß Sie nach Amerika gekommen, sind.«

Baby fand es plötzlich angebracht, ihren Blumenstrauß aufmerksam zu betrachten, und sie erwiderte dabei: »Ach ja, diese Reise ist auch wirklich prachtvoll! – Sie reisen wohl sehr viel?« setzte sie dann rasch hinzu.

»Ja, soviel meine Geschäfte es erlauben. Diesen Sommer will ich rüber zu den Regatten in England[96] und Deutschland. Ich habe mein Segelboot angemeldet, und nachher geh ich nach Frankreich zu den Autorennen.«

»O, das denk ich mir herrlich, bei so etwas alle Kräfte einzusetzen, um Erster zu sein!« rief Baby mit Überzeugung.

»Das tun wir Amerikaner bei allem, was wir unternehmen,« antwortete er, »ob es nun Sport oder Arbeit heißt, und das ist ja auch erst volles Leben, auf irgend einem Gebiet des großen Weltenrennens sein Bestes zu leisten.«

Sie seufzte ganz leise und sagte dann etwas wehmütig gedehnt: »Ich werde an all die schönen Dinge denken, die Sie unternehmen wollen, wenn ich diesen Sommer wieder in Dusterhusen sitze.«

Da beugte er sich etwas näher zu ihr und sagte leise im Geschwirr der vielen Stimmen: »Könnten Sie sich mit dem Gedanken befreunden, ganz in Amerika zu bleiben, Komtesse Baby?«

Sie schaute zu ihm auf mit dem erstaunt fragenden Ausdruck eines Kindes, das nicht recht weiß, ob das dargebotene Spielzeug ihm auch wirklich bestimmt ist. Ihre Lippen bewegten sich, aber die Antwort verhallte im Geräusch der abgerückten Stühle; denn Teds Mutter hob in diesem Augenblick die Tafel auf, und wie befreit strömten nun die Gäste in die angrenzenden Empfangsräume.

[97] »Zum Bridge! zum Bridge!« riefen mehrere Damen, als naheten sie sich endlich dem Ziel einer großen Sehnsucht.

Die Reihen Tische, die in dem Saale bereitstanden, waren rasch besetzt, und mit fieberhafter Hast begann das Spiel. Lautlose Stille herrschte. Es war, als müsse das Fallen der Karten schwere Schicksalsfragen entscheiden für diese Frauen, die doch alles auf Erden zu besitzen schienen. Da war eine, die ein Diadem trug, das einst der Kaiserin. Eugenie gehört, während sich eine andre mit Rubinen schmückte, die den birmesischen Königsthron geziert hatten und bei der Eroberung Mandalays erbeutet worden waren. Auf einem wohlfrisierten blonden Köpfchen ruhte gar ein fremdartiges Geschmeide, von einem emaillierten Sperberkopf gekrönt: Jahrtausende hatte es im Grabe einer Pharaonentochter geschlummert, um hier im Scheine der elektrischen Kerzen zu neuem Leben zu erwachen.

»Der seltsamste Schmuck aber ist doch dort der arme gekreuzigte Heilige mit auseinandergezerrten Armen und Beinen, umgeben von funkelnden Steinen, die seiner zu spotten scheinen,« sagte der Poet.

»Das ist der Andreasorden in Brillanten,« belehrte ihn der statistische Autor. »Kurz vor Ausbruch [98] der Boxerunruhen schenkte ihn der Zar dem Kaiser von China als Ausdruck unerschütterlicher Freundschaft. Bei der Flucht des chinesischen Hofes aus Peking ward der Orden geraubt und tauchte dann einige Wochen später in Shanghai auf; dort kaufte ihn seine jetzige amerikanische Besitzerin, die damals gerade eine Weltreise machte. Fürwahr, kein banales Schmuckstück!«

»Es ist, als ob alles, was drüben einst groß und mächtig gewesen, schließlich hier sein Ende finden müsse!« sagte seufzend der Poet.

»Warum Ende?« erwiderte der Autor; »sagen Sie lieber Neuerstehung und Umwandlung. Die Zeit der Einen ist eben vorüber, und wir erleben hier das Morgengrauen des Tages Anderer.«

Isa, die sich etwas abseits gesetzt hatte, froh, daß das Diner vorüber und sie nicht mehr zu sprechen brauchte, horchte auf bei diesen letzten Worten: es waren genau dieselben, die Erich neulich im Weißen Hause gebraucht hatte. Solche Ideen mußten wohl in der Luft dieses neuen zukunftssicheren Landes liegen und den verschiedensten Geistern hier anfliegen! Und fröstelnd überkam sie selbst der Gedanke, daß, wie für Völker, so auch für einzelne, alles darauf ankommt, zu denen zu gehören, für die der Tag beginnt. Sie empfand die große Ungewißheit aller Dinge, und wie oft wir [99] noch zu halten wähnen, was doch schon vorüber; dieselbe unerklärliche Furcht, wie vorhin bei der Abfahrt, erfaßte sie von neuem; angstvoll preßte sie die Hände zusammen und wußte nicht, wovor ihr graute. Doch da, inmitten ihrer Beklommenheit, glaubte sie auf einmal, einer Vision gleich, Erich wieder vor sich zu sehen, der ihr von der Brücke, die die Liebe erbaut, zuversichtlich die Hände entgegenstreckte, und es war ihr, als vernähme sie durch die Entfernung den Klang seiner Stimme. Da wußte sie, daß er in diesem Augenblick an sie dachte, wie sie an ihn, und daß er sich sehnte gleich ihr, und plötzlich stand es ganz fest in ihrer Überzeugung, daß sie noch an diesem selben Abend ein Zeichen von ihm erhalten würde. Alle Angst war geschwunden, nur ein großes Vertrauen in die Zukunft erfüllte sie ganz, und sie wäre gern gleich nach Hause geeilt, denn sie wußte nun ganz bestimmt, daß dort etwas Schönes ihrer harren müsse.

Endlich kamen die Herren aus dem Rauchzimmer, und Gräfin Mallone, die bis dahin auf einem Sofa am Ende des Saales hinter ihrem schützenden Fächer leise mit Teds Mutter gesprochen hatte, trat nun mit befriedigtem Ausdruck an Isa heran: »Ich fürchte,« sagte sie, »wir müssen wegen Franks Gesundheit bald nach Hause; wir [100] wollen nur auf Baby warten, die, wie ich sehe, im andern Zimmer auch noch Bridge spielt.«

Isa fuhr erschrocken zusammen. Spiel! Spiel! Das Wort hatte ihr nie Gewinnen, sondern nur immer Verlieren bedeutet, seit sie es einst zuerst vernommen. Und nun spielte das Kind!

»O, Aga!« sagte sie angstvoll.

»Na, beruhige dich,« antwortete die Schwester leise, »Frank hat ihr das Geld gegeben, und ich glaube, das war mal eine ganz gute Anlage.«

Aus dem Nebensaal erscholl nun Lachen im frohen Durcheinander junger Stimmen.

»Ich habe alles an Mr. Ted Vansittart verloren,« rief Baby beim Hereintreten und sah dabei siegreich strahlend aus, als habe sie eben ein Königreich gewonnen; »sogar mehr noch als alles habe ich verloren – meine letzte Schuld konnte ich nicht bezahlen, aber er meint, es schadet gar nichts, und er wolle morgen kommen, sie sich abzuholen.«

»Ja, ja, Ted wird morgen zu Ihnen kommen und ich auch – um mich zu erkundigen, wie Ihnen der Abend bekommen ist,« sagte die alte Mrs. Vansittart, während sich Gräfin Mallone nun verabschiedete.

Es war eine kalte Heimfahrt, trotz Pelzen und Decken. Die vier Insassen des Wagens waren aus verschiedenen Gründen schweigsam: Graf und [101] Gräfin Mallone, weil sie von der lähmenden Müdigkeit befallen waren, die wie ein greifbares Wesen stets ihrer im Wagen harrte; Isa und Baby, weil ein Übermaß der Gedanken sie erfüllte. Der Schnee fiel noch immer ruhig und stetig, als käme er von dort, wo noch große Vorräte vorhanden. Die kleinen Treppen, die zu den Eingangstüren der Häuser führen, waren nicht mehr sichtbar, sondern verschwanden unter weißen Abhängen. Die Straßen waren leer und still, doch im flackernden Fackelschein sah man, wie Abteilungen von Schneeschauflern einander ablösten. Dunkle Gestalten waren es, unheimliche Wesen unbekannter Herkunft und noch unbekannterer Bestimmung, die aus finstern Schlupfwinkeln hervorkriechen und sich immer dort einfinden, wo es gilt, mit der Natur selbst zu ringen. – Die arbeiteten und arbeiteten die ganze Nacht, um die Wege frei zu halten, über die am nächsten Tage Freud und Leid schreiten würden.


Als Isa in ihr Zimmer trat, sah sie gleich mit dem ersten Blick den Brief auf dem Toilettentisch liegen, von dem sie während des ganzen Abends gefühlt hatte, daß sie ihn da finden würde. Sie war dessen ganz sicher gewesen, und doch, als sie das Kuvert mit den großen, festen Schriftzügen jetzt [102] wirklich vor sich erblickte, begann ihr Herz zu hämmern, und sie bemerkte, daß ihre Hände zitterten, während sie den Brief rasch beiseite schob, als sei der Inhalt, den sie deutlich ahnte, für andre durch den Umschlag sicht bar.

»Geh rasch zu Bett, Mama,« sagte Baby, die einen Augenblick in das Zimmer der Mutter getreten war, als wolle sie noch mit ihr sprechen; »du siehst aus, als fiebertest du. Schlaf wohl, und morgen früh komm ich und erzähl dir was.«

Isa hörte die Worte kaum.

Endlich war auch die Jungfer gegangen, endlich war sie allein.

In ein weiches, weißes Gewand gehüllt, setzte sie sich an den Toilettentisch, schob eine kleine elektrische Lampe heran und griff nach dem Brief. Und während sie ihn öffnete und wieder das ungekannte Herzklopfen fühlte, kam es ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß sie zum erstenmal einen an sie gerichteten Liebesbrief in der Hand halte. Sie errötete bei dem Gedanken und empfand die etwas bange Freude, das Gefühl, eine wichtige, außerordentliche Begebenheit zu erleben, die sonst nur ganz junge Mädchen kennen. Aber dem allen mischte sich eine weiche, dankbare Rührung bei, daß dies Glück nun doch noch in ihr Leben trat. – Damals, bei ihrer Verlobung, war alles so selbstverständlich [103] zugegangen; die Eltern hatten bereitwillig zugestimmt, die Partie war sehr passend und richtig gefunden worden, für süße kleine Heimlichkeiten hatte es da keinen Platz gegeben – und sie war plötzlich verheiratet gewesen, sie wußte heute selbst kaum mehr, wie das alles so rasch gekommen war.

Und nun hielt sie ihren ersten Liebesbrief in der Hand...

Also so ist das, wenn uns ein Mensch liebt? so sanft und weich klingen da die Worte? so kraftvoll jung tragen sie uns in die Höh?

Es gab also wirklich jemanden, der nur leben wollte, um sie glücklich zu machen? der es als sein Glück empfand, wenn sie sich ihm anvertraute? der all ihre wehe Enttäuschung verwandeln wollte in Seligkeit? der eine Brücke zu bauen vermochte aus dem dunklen Lande der Herzenseinsamkeit hinüber zu einer neuen lichten Stätte der Freude?

Das gab es alles wirklich auf der Welt? das durfte sie noch erleben? –

Nun hatte sie den Brief zu Ende gelesen, und sie lächelte ihn an – ganz still und verträumt – wie man nicht oft im Leben lächelt.

Ihre Blicke glitten über die Dinge, die sie umgaben und sahen sie nicht, sahen statt ihrer, was [104] künftig sein würde, das neue Leben, die kommenden Tage.

Dann aber blieben ihre Augen doch an etwas Äußerlichem haften; sie gewahrte den Spiegel, der vor ihr auf dem Tische stand und sah, wie aus dessen Tiefe sie sich selbst anlächelte. Da beugte sie sich vor und betrachtete ihr eigenes Bild; ganz gerührt schaute sie sich an, wie man eine liebe Freundin ansehen würde, die man in viel Trübsal gekannt und der es nun plötzlich gut geht. Dabei erinnerte sie sich mit einemmal, daß die amerikanischen Zeitungen sie »die schöne Gräfin Clam Cräven« nannten – und heute freute sie sich dessen. Etwas sein, um etwas geben zu können – das war beseligend!

Ach, daß es doch viel mehr gewesen wäre, was sie zu geben hatte! dachte sie. Eine Trauer um verronnenes Leben, um verlorene Tage stieg in ihr auf. So manche Schätze vergeuden wir an Achtlose in der Jugend, nicht ahnend, daß an der nächsten Biegung des Weges jener schon erwartend steht, der die kleinste Gabe mit zärtlich anbetenden Händen empfangen wird. Ach, daß es ein Zurückkehren, ein Ungeschehenmachen auf Erden gäbe!

Aber heute abend wollte sie allen traurigen Gedanken den Eintritt wehren. Er liebte sie ja, liebte sie, wie sie war, liebte sie gerade, weil sie so [105] war! Und sich im Spiegel anschauend und dabei doch nicht sich, sondern nur immer ihn erblickend, dachte sie, als könnten ihre Gedanken bis zu ihm dringen: »Verzeih mir, daß ich schon ein Leben lebte, ehe ich dich gekannt, verzeih mir um dessenwillen, daß es ein so jammervolles Leben gewesen ist – und sag dir auch, daß, wenn ich heute zu dir kommen könnte mit Augen, die noch nichts gesehen und noch um nichts geweint, es eben nicht dieselben Augen wären, die du lieb gewonnen – das Ich, was ich dir dann schenkte, wäre ein ganz andres, als was ich heute bin.«

Sie wollte ihm gern viel, sehr viel sein! In ihrem Herzen wallte eine große Sehnsucht auf, zu sorgen und pflegen, zu lieben und schenken. Der Worte erinnerte sie sich, die er gebraucht an dem Nachmittag, als er sie allein in Agas kleinem Wohnzimmer getroffen: ja, sie wollte die Frau sein, zu der es wohltut, heimzukehren.

Und sie konnte es nicht erwarten, ihm das alles erst morgen, wenn er kam, zu sagen; nein, jetzt gleich mußte sie ihm schreiben und in Worte fassen, was ihm bisher nur ihre Blicke während des Gesanges eingestanden. In der Frühe des kommenden Tages sollte der Brief zu ihm getragen werden, bei Morgengrauen sollte ihn ihre Liebe grüßen. Sie wollte ihm sagen: »Ich war eine stumme [106] Harfe, die nunmehr tönt, weil der Frühlingswind deiner Liebe ihre Saiten berührt; ich war eine Muschel, deren Perle du gefunden; ich glich einer vergessenen Insel, die du neu entdeckt und deren Blumen dir nun alle, alle gehören sollen!«

Diesen einen Brief zu schreiben, das war des oft so sinnlos scheinenden Daseins Zweck gewesen – sie wußte es nun, und daß alles nur entsteht, um sich in Liebe zu geben. Viel, viel hätte sie sein mögen, denn selig ist, wer viel zu geben hat.

Ein unendliches Glücksgefühl war in ihr, eine Andacht, wie vor einem Wunder, und zugleich das Bedürfnis, dies alles fest, recht fest zu halten. – Vor ihr stand eine kleine Uhr, die sie seit vielen Jahren besaß und die mit ihrem Ticken den Gang so mancher Zeiten der Trübsal begleitet hatte; die hob Isa nun auf, schaute auf die stetig rückenden Zeiger und drückte dann ihre Lippen auf das Zifferblatt: »Ich küsse dich, du meine erste volle Glückesstunde!«

Während sie noch so stand und auf die Uhr schaute, öffnete sich leise die Türe, und zum größten Erstaunen Isas, die rasch den Brief verbarg, trat Aga, die sonst nie früh genug zu Bett gehen konnte, bei ihr ein.

»Es ist zwar schrecklich spät«, sagte gähnend die schöne Gräfin Mallone, »aber ich wollte doch [107] noch gleich zu dir kommen – ich denke, wir können uns sehr gratulieren.«

Isa fuhr zusammen. Hatte die Schwester doch schon bemerkt, was sie selbst für so heimlich versteckt gehalten?

»Nun ja«, fuhr Aga fort, »es läßt sich ja nicht leugnen, daß es etwas andres ist, als wir früher je für möglich gehalten; aber schließlich, man muß die Welt nehmen, wie sie nun einmal ist – und Adel spielt heute nicht die Rolle wie zur Zeit, da wir beide jung waren.«

»O, daran hatte ich überhaupt nie gedacht – das ist ja alles so gleichgültig, wenn man einen Menschen liebt!« rief Isa mit einer Stimme, die geradewegs aus den Tiefen ihres Herzens zu kommen schien.

Aga zog die Brauen überlegen in die Höhe. Wie exaltiert die gute Isa manchmal tat, wo es sich doch nur um kühle Zweckmäßigkeitserwägungen handeln konnte, dachte sie und fuhr in absichtlich geschäftsmäßigem Tone fort: »Es freut mich in diesem Falle, daß du so modern denkst; Frank und ich fürchteten nämlich, daß du vielleicht erst Dusterhusensche Ideen in dir selbst zu überwinden haben würdest.«

Nun war es an Isa, innerlich überlegen zu lächeln. Die arme Aga! Wie sehr merkte man es [108] doch jedem ihrer Worte an, daß sie nichts von der Liebe wußte. Überwinden! welch komisches Wort! Ach, da hatte es nichts zu überwinden gegeben, da war nur die Sehnsucht, mit dem früheren Namen auch alles vorher Gewesene ablegen und vergessen zu können, und nur noch das eine zu wissen, daß sie ihm gehören würde!

Gräfin Mallone, ganz in ihren Gedankengängen befangen, sprach indessen weiter: »Ich gebe ja zu, daß das alles viel fataler gewesen wäre, wenn es sich um einen Europäer gehandelt hätte. Na, man hätte sich dann darum bemühen müssen, ihm den Adel zu verschaffen. Frank ist zwar sehr gegen all solche Nobilitierungen, aber ich sage, je neuer der Adel, desto mehr Befriedigung scheint er seinen Besitzern zu gewähren. Und an einen völlig titellosen europäischen Neffen hätte ich mich doch nur schwer gewöhnt, wir sind eben doch mit andern Ideen aufgewachsen. Bei einem Amerikaner dagegen ist das ganz was andres – die haben einfach keine Titel, und die Astors, Vansittarts, Stuyvesants sind hier zu Lande dasselbe wie wir bei uns. Und erscheint sie drüben in der Ostsee mal auf ihrer eigenen Yacht als Mrs. Ted Vansittart, so wird sie bei euch, wo das Fremde ja hoch im Preise steht, mehr fêtiert werden, als wenn sie Stolberg oder Dohna hieße.«

[109] Wie fremder Sprache hatte Isa mit wachsender Ratlosigkeit den Worten der Schwester gelauscht; doch nun fuhr sie empor, als bedrücke sie ein furchtbares Traumgesicht und rief angstvoll: »Aga, Aga, ich verstehe kein Wort, wovon redest du eigentlich?«

Gräfin Mallone schaute verwundert in das verstörte Gesicht: »Isachen, ja, was ist dir denn? Wir sprechen doch schon die ganze Zeit über Babys Verlobung mit Ted Vansittart.«

»Baby... Ted... Verlobung?«... stieß Isa hervor, als vermöge sie den Sinn der Worte nicht zu fassen. »Aga, ich beschwöre dich, das ist ja unmöglich, davon weiß ich ja gar nichts!«

»Na ja, aber gemerkt, daß es dazu käme, hast du doch wohl auch. Heute nach dem Diner sprach Ted einen Augenblick mit Frank, und die alte Mrs. Vansittart hat mit mir geredet, um zu hören, wie sein Antrag wohl aufgenommen werden würde. Denn feierlich und förmlich sind diese Könige der Republikaner geworden, als handle es sich um die Präliminarien einer richtigen Fürstenehe. Na, und morgen werden sie kommen, bei dir um sie anzuhalten.«

»Aber das ist ja unmöglich, unmöglich!« wiederholte Isa, als sträube sie sich instinktiv gegen ein großes Unglück.

[110] »Warum denn unmöglich?« fragte Aga mit beginnender Gereiztheit. »Ted ist ein scharmanter Junge und eine der besten Partien in Amerika. Der kann seiner Frau alles geben, was sie sich vom 1. Januar bis 31. Dezember nur immer wünschen mag – und das wird bei Baby nicht gerade wenig sein. Und was für Chancen hättest du denn für sie bei euch daheim in Pommern? Ein kleiner Gutsbesitzer, der schlecht gemachte Kleider trägt und über Not der Landwirtschaft nicht zu sprechen braucht, weil man sie ihm schon von weitem ansieht? Ein kläglich besoldeter Beamter, bei dem die eheliche Treue ein Ergebnis ökonomischer Erwägungen ist? Oder ein kleiner Infanterieleutnant an der russischen Grenze, wo die Lebensmittel billig sein sollen, und der sich daher einbildet, auf eure paar tausend Mark müßte flugs eine Familie gegründet werden? – Nein, wirklich, Isa, je mehr man sich's überlegt, du kannst nicht dankbar genug sein, daß sich diese Partie mit Ted Vansittart arrangiert hat! – Und obendrein,« setzte sie hinzu, »ist Baby ja auch in ihn verliebt.«

»Sie hat mit dir darüber gesprochen?« fragte die Mutter schmerzlich betroffen.

»Nun ja, und du mußt ihr das nicht übelnehmen; sie hat, wie so viele Kinder andrer, nun einmal ein besonderes Vertrauen zu mir, und dann ist es ja auch begreiflich, daß sie sich in diesem [111] Falle lieber an Frank und mich gewendet hat, denn von Ausländern wissen wir nun doch mal mehr als du.«

»Baby?... und verliebt sein?« wiederholte Isa ungläubig, als seien es zwei Begriffe, die sich aufhoben. »Aber« – und sie betonte alle Worte – »was kann ein Kind wie sie denn überhaupt von Liebe wissen? Von dem Gefühl für den einen bestimmten Mann, ohne den das ganze Leben zur Wüste würde? Ach, davon ahnt sie ja nichts!« Und hastiger und eindringlicher redend, als plädiere sie mit ganzem Herzen vor einer obersten Instanz, fuhr sie fort: »Das muß ein Irrtum sein! Das ist sicherlich nur ein vorübergehender Einfall – vielleicht um alle Romane lesen zu dürfen und allein ausgehen zu können, oder um zu reisen und als verheiratete Frau, wie es so viele Mädchen glauben, überhaupt unabhängiger zu sein – was für Ideen gibt es nicht in solch siebzehnjährigem Köpfchen! – und dieser Mr. Vansinart erscheint ihr gewiß nur als Mittel zum Zweck.«

»Natürlich denken junge Mädchen beim Heiraten auch an so etwas und an ihre Ausstattung und die Hochzeitsgeschenke,« antwortete Aga; »aber das ist doch kein Unrecht, sondern ganz selbstverständlich. Überspannte Gefühle sind nur lästig im Leben, und wenn Ted wirklich Baby als Mittel [112] zum Zweck erscheinen sollte, nun so ist der Zweck ein berechtigter und das Mittel eines, um das sie von vielen Frauen beneidet werden wird. Ich nähme Ted gleich, wenn ich so alt wie Baby wäre.«

»Aber sie ist doch überhaupt noch zu jung, viel zu jung zum Heiraten,« hub Isa von neuem zaghaft an, »voriges Jahr ist sie erst eingesegnet worden.«

»Ja aber Isa, wer würde sich denn überhaupt noch verheiraten wollen, wenn man mal aufgehört hat, sehr jung zu sein?« erwiderte Aga mit zunehmender Ungeduld. »Das ist wie mit den fremden Sprachen und dem Schwimmen, – im Alter lernt sich's nicht mehr. Du und ich wir haben uns doch auch sehr jung verheiratet, – na, und heute täte es doch sicherlich keine von uns beiden mehr, – es käme uns wie eine lächerliche Geschmacklosigkeit vor.«

Sie lachte hart und freudlos. Und Isa schwieg von da ab. Was sollte sie auch noch sagen? Es war ihr ja, als sähe sie auf einmal alles mit den Augen Anderer, mit Agas Augen. Hatte die Schwester vielleicht recht und wußte doch mehr mit dem Kinde Bescheid? Aber sie selbst hatte doch aufrichtig geglaubt, nur zu Babys Bestem zu sprechen, – hatte sie etwa statt dessen gegen ihr eigenes Kind geredet? Ganz instinktiv war es gewesen, [113] wie man nur plädiert, wo das Liebste gefährdet wird – plädiert, aber wenn nicht für Baby, fürwen denn dann? Etwa für sich? – Konnte es das sein? –

Sie hörte nicht mehr hin, wie Aga nun fortfuhr, Ted Vansittarts Vorzüge aufzuzählen. In ihren Ohren tönten noch immer jene andern Worte:

»Eine lächerliche Geschmacklosigkeit, wenn man nicht mehr jung ist.« Und sie fragte sich, was wäre es dann erst, wenn man sagen müßte, »gleichzeitig mit der eigenen Tochter«?

Hatte sie sich darum so instinktiv gewehrt? –

»Also, Isa,« resümierte Gräfin Mallone in ihrem trockensten Tone, »morgen vormittag werden Ted und seine Mutter herkommen, um bei dir um Baby anzuhalten. Und nachher, denk ich mir, wird Ted wohl nicht mehr lange warten wollen; ein nordamerikanischer Verlobter hat es sicher besonders eilig, denn die Leute hier sind ja so wie so, bei allem was sie tun, in einer beständigen Hetze. Drum denken Frank und ich, daß es am besten sei, wenn sich Baby im April, ehe alles für den Sommer auseinandergeht, in Washington von der Botschaft aus verheiratet. Wir wollten dir das anbieten. Teds Verwandte würden ja natürlich auch dazu nach Europa fahren, wenn ihr es wolltet; aber ich sehe die amerikanische Hochzeitsgesellschaft[114] nicht so recht in Dusterhusen zwischen den pommerschen Gutsnachbarn.«

»O nein,« rief Isa, unwillkürlich die Hände ausstreckend, als müsse sie das arme Dusterhusen schützen vor kaltem, kritischem Blick.

Und Aga fuhr fort: »Ich verstehe dich vollkommen. Es macht sich ja ganz gut vor den Hiesigen, die nichts besitzen, was sie nicht selbst gekauft haben und was sie nicht wieder verschachern dürften, sagen zu können, daß Baby ein unveräußerliches Familiengut von ihrer Großmutter geerbt hat; aber in die tatsächliche Misere dieser ostelbischen Klitsche braucht ihr euch lieber nicht reingucken zu lassen. Eine Hochzeit aber auf unsrer Botschaft, mit all den chers collègues, das imponiert den Leuten hier merkwürdigerweise doch noch immer und gibt Baby von Anfang an einen besseren Start. – – Ja, und nun wegen der Ausstattung!« fuhr Aga fort in ganz verändertem lebhaften Tone, als komme man endlich zur Hauptsache. Man merkte ihr dabei an, welch brennendes Interesse sie sofort für die Toilettenkonsequenzen empfand, die eine Hochzeit, mehr beinahe als alle andern menschlichen Angelegenheiten, mit sich zieht. »Ich denke, wir schreiben schon morgen nach Paris. Gottlob handelt es sich für Baby nicht um jämmerliche Verhältnisse, wie sie bei euch in [115] Deutschland oft vorkommen sollen, wo darüber debattiert wird, wer von den beiden das Wohnzimmer und wer das Schlafzimmer liefern soll und was für nützliche Geschenke man den Freunden zu machen nahelegen kann, – wir brauchen nur an Babys persönliches trousseau zu denken, und das muß natürlich sehr elegant werden.«

Die schöne Gräfin Mallone verlor sich in einer Vision von zartester Wäsche, raschelnden Unterröcken, berückenden Kleidern und Hüten aller Art; wie Regimenter marschierten die vielen Dinge vor ihrem inneren Auge auf, die Pelze, Sonnenschirme, Fächer, die Spitzen, Schleier und Boas, deren Baby bedürfen würde, – denn all das zusammen bedeutete ja »Heiraten«.

Und während dem saß Babys Mutter schweigend daneben und starrte vor sich hin. Sie sah keine solchen Visionen; sie wiederholte innerlich nur stets von neuem denselben Satz, als könne sie noch immer nicht recht daran glauben: »Baby wird sich verheiraten, Baby wird sich verheiraten, denn Baby ist es, für die das Leben beginnt.« – Und dann stand plötzlich als entsetzliche Frage ein andrer Satz daneben: »Und ich? und ich?«

Sie mußte die zwei Worte, ohne es zu wissen, laut gesagt haben, denn Gräfin Mallone drehte sich plötzlich zu ihr und wiederholte: »Und du? nun [116] natürlich müssen wir auch für dich das korrekte Kleid zu der Gelegenheit bestellen – grau oder lila?« – sie schaute die Schwester prüfend an, – »nein, doch lieber ein schönes, sattes Violett, das scheint mir das geeignete für die Brautmutter, – – ernst, solide, gediegen – und mit einem Kapottehütchen.«

Von diesem Resultat befriedigt, stand sie auf: »Nun müssen wir aber wirklich schlafen gehen, denn morgen wird ein anstrengender Tag, und Baby hat recht, du siehst wirklich sehr angegriffen aus, – der plötzliche Schneefall, wo es beinahe schon Frühling war, ist dir wahrscheinlich schlecht bekommen, – na, übrigens tröste dich, für eine angehende Großmutter bist du immerhin noch erstaunlich gut konserviert.«

Gähnend war die schöne Gräfin Mallone hinausgegangen.


Nachdem die Schwester sie verlassen, blieb Isa regungslos, wie jemand, der tief herabgestürzt ist und sich nicht zu bewegen wagt, aus Angst, die erlittenen Verletzungen dann erst recht zu fühlen. Sie war wie betäubt von einer großen Erschütterung und starrte vor sich hin und sah und hörte nichts.

[117] Allmählich aber drang ein leises, regelmäßiges Geräusch bis zu ihr, als klopfe etwas, Einlaß begehrend, an die Tore ihres Bewußtseins. Sie horchte hin: es war das Ticken der Uhr, die vor ihr stand. Jetzt sah sie auch das Zifferblatt und erinnerte sich dunkel, daß sie es einmal geküßt. – Warum hatte sie das damals nur getan? Es mußte wohl sehr lang her sein? Sie schaute nun aufmerksam hin: nein, um ein weniges nur waren die Zeiger vorwärts gerückt; eine Stunde kaum war es her... seit... ja, seit wann eigentlich?

Und es antwortete die tickende Uhr: »Seit ich die erste volle Glücksstunde deines Lebens zeigte.«

Da fiel es ihr alles ein, und sie empfand die Schmerzen des tiefen, tiefen Sturzes.

Weiter sprach die Uhr: »Vorhin erstand dein Glück, jetzt liegt es im Sterben. In allen Stunden wird geboren und in allen gestorben. Und hat beides wenig Bedeutung vor der endlosen Zeit.«

»Aber was ist denn geschehen? was ist geschehen, wodurch alles verwandelt wurde?« stöhnte Isa aus den Abgründen, wo die zerstörten Seligkeiten liegen.

»Es ist nur das geschehen,« sagte die Uhr, »daß auf dein Glück der Reif der Anschauungsart Anderer gefallen ist, und davon kann sich dein Glück nie mehr erholen, daran muß es sterben. [118] Es ist geschehen, daß du dich selbst zum erstenmal so gesehen hast, wie du für die Augen Anderer durch die Stunden geworden bist, in denen ich dir schlug. Es sind deren nicht sehr viele gewesen, und du bist noch gar nicht alt; aber darauf kommt es auch nicht an, sondern nur auf das, was die Stunden enthielten. Dir haben sie eine Kette geschmiedet, die du niemals abschütteln kannst, und so kurz deine Vergangenheit auch gewesen, so wirft sie doch einen Schatten, dem du nimmer entfliehst.«

»Das ist zu grausam! Das ist unmöglich!« schluchzte es in dem Abgrund.

Die Uhr aber tickte gelassen weiter und ließ Isa allein im hoffnungslosen Kampf gegen die Folgen der Dinge.

Sie konnte es noch nicht fassen und glauben, und doch fühlte sie, daß alles seit Agas Worten verwandelt war. Etwas Hartes, Unschönes hatte sie berührt. Von kaltem Winde getroffen, sank die verspätete Blume ihres Glückes entblättert herab.

Aber warum, warum?

Eine große Empörung und Auflehnung erstand in ihr. Warum sollte nicht auch ihr einmal das Glück gehören, wie so vielen Anderen? Welches Unrecht hatte sie denn getan? Hatte sie nicht ihr Lebenlang gekämpft und geduldet und sich geopfert [119] immer und immer wieder, zuerst in den Jahren ihrer fernen, halb vergessenen Ehe, dann in der Öde von Dusterhusen? Grenzenlos einsam war sie stets gewesen, hinter Eisenstäben gefangen hatte sie ins vorbeigleitende Leben hinausgestarrt, – und nun streckte sie sehnsüchtig die Hände durch das Gitter nach dem einen, der draußen stand und sie rief, nach dem Baumeister, der mit seiner Liebe eine Brücke für sie errichtet hatte, hinüber zum Lande der Freiheit und Freude. War es denn gar nicht möglich, daß sie ihm folgte, dorthin, wohin alles Lebende sich, Wege suchend, sehnt? Eben noch war es ihr doch so leicht und natürlich erschienen, keinen Augenblick des Zauderns hatte sie gehabt.

Und auch jetzt antwortete sie sich selbst: »Es ist nicht nur möglich, es ist sogar ganz leicht.« – Sie brauchte nur ja zu sagen, dann würde sie scheinbar den Schatten und Ketten der Vergangenheit entronnen sein. Es gab keine Macht, kein Gesetz, keine Grundsätze, nicht einmal bestimmte gesellschaftliche Vorschriften, die sie daran verhindern konnten. Sie war noch jung, sie war schön, sie würde in ein paar Wochen auch für Baby nicht mehr zu sorgen haben.

Und doch fühlte sie gerade da, daß es nicht ging. Sobald sie an Baby gedacht, hatte sie auch [120] die Unmöglichkeit erkannt. – Wie sollte sie das dem Kinde je sagen? ihm sagen: »Alles, was du von mir geglaubt, war nicht wahr; ich bin eine ganz andre als du dachtest, und mein ganzes bisheriges Dasein ist nichts als eine einzige lange Sehnsucht nach Glück gewesen, und heute, heute endlich beginnt mein wahres Leben!«

Wie sollte sie das dem Kinde sagen? Sie, die kein Recht mehr dazu hatte, weil in den Augen Anderer und vor allem in den Augen der Tochter ihr Leben längst abgeschlossen und vorüber war.

Unmöglich war es. Aller Schönheit zuwider wäre es gewesen.

Wie Angst überkam es sie plötzlich, daß das Kind nur nie etwas von dem kurzen Traum der letzten Wochen erfahren möge; das Kind, das einst, vor Jahren schon, gefunden hatte, daß der Mama junge Kleider nicht mehr ständen. Nur nicht vor diesen klaren, durchdringenden Augen lächerlich erscheinen müssen, – eine alternde Frau, die an eigene Glückshoffnungen dachte, während des Lebens hohe Stunden für die Tochter zu schlagen begannen!

Ja, das war das Hindernis.

Und auch vor dem Gedanken schreckte Isa zurück, daß sie, die so lange in völliger Vergessenheit gelebt, nun noch einmal ein Gegenstand der [121] Beachtung für fremde Menschen werden solle, daß ihre verborgensten Gefühle Gesprächsstoffe liefern würden. Aber am allermeisten scheute sie sich doch vor dem, was sie bei der eigenen Tochter finden würde: vor dem Erstaunen, dem nachsichtigen Lächeln oder der Verurteilung, die Baby gegenüber der Mutter empfinden würde, weil sie sie ja gar nicht kannte und nie in ihrer jugendlichen Selbstbeschäftigtheit etwas geahnt hatte von der inneren Einsamkeit und der namenlosen Sehnsucht dieses älteren Lebens, das sich all die Jahre neben dem ihren abgespielt hatte. Nein, Baby kannte Isa gar nicht, denn Jugend kennt ja nur sich selbst. Aber kannte Isa denn die Tochter? War ihr das wichtigste Ereignis in Babys kleinem Leben nicht ganz überraschend gekommen, während Aga es doch offenbar längst ahnte? Wie war das möglich gewesen?

Selbstquälerische Fragen traten an sie heran, wie sie kommen, wo wir fürchten müssen, daß wir andren gegenüber mehr von dem Stecken der Pflicht geleitet, als vom Fluge der Liebe getragen wurden. Und ein Gefühl überkam sie, gegen das sie sich unbewußt stets gewehrt hatte, ohne auch nur zu wagen, seinen Namen zu flüstern. Aber es war eine jener seltenen Stunden des Lebens, in der Schleier fallen und Namen genannt werden. [122] Sie erkannte plötzlich, daß ihr das Kind eigentlich ganz fremd war, obschon sie es nie verlassen und ihm die besten Jahre ihres Lebens geweiht hatte. So fremd wie die ferne Vergangenheit – zufällig wie diese. Nie hatte sie, wie die neidenswerten Mütter von Liebeskindern, gefühlt, daß der eigentliche Zweck ihres Daseins von Uranfang vorgesehen gewesen sei und darin bestanden habe, geradedieses eine Kind in die Welt zu setzen. Sie fragte sich im Gegenteil in der völligen Aufrichtigkeit dieser nächtigen Stunde, wie es denn überhaupt möglich war, daß sie ein Kind hatte, wo doch eben erst ihr eigenes wahres Leben begann? Rätselhaft – o, schlimmer als rätselhaft!

Aber eben durch dies Kind gehörte sie der Vergangenheit, denn es hielt ja die Kette, an der sie ihr Leben lang getragen. Früher hielt es sie mit rundlich rosigen, unbewußt selbstsüchtigen Fingerchen, jetzt mit jugendlich starkem, Glück verlangendem Griff. Fortwährendes Sorgen und Entsagen hatten diese Hände ein Leben lang von ihr gefordert und forderten es heute wieder. Und ob sie sich auch noch sträubte, sie fühlte es nun doch schon – sie würde sich opfern müssen. Wir wissen ja nie, an welchen verlassenen Felsen uns die Kette schließlich anschmieden wird, die wir ahnungslos aufnahmen; und unsres Lebens Irrtümer [123] fangen oft erst dann an, sich am bittersten zu rächen, wenn wir uns kaum noch erinnern, wie es damals in der fernen Jugendzeit zuging, als wir sie begingen.

Ach wir armen, armen Menschen!

»In der fernen Jugendzeit....« Die gedachten Worte formten sich unwillkürlich zu leisem Klang auf ihren Lippen und tönten traurig in der Stille der Nacht. Es war nicht zu ertragen, was sie alles wachriefen. Ach, wir armen, armen Menschen! Und auch diese Worte wiederholte und wiederholte Isa, als seien sie ein Schlafliedchen, mit dem der Schmerz sich einwiegen läßt. Aber dieser Schmerz ließ sich nicht einwiegen! – Das eigene Geschick war nur eines von so vielen. Millionen von Wesen irren sich ahnungslos in der Frühzeit des Lebens einmal im Wege und müssen nun weiter, weil es kein Zurück auf des Lebens Straßen gibt, weil Wunder nicht geschehen können, die uns von den Folgen unsrer Handlungen befreiten. Ach, wir armen, armen Menschen!

Da weinte sie bitterlich.

Doch noch einmal erstand die Hoffnung in ihr, und noch einmal fragte sie sich: War es nicht dennoch möglich? Was lag an allem, was andre dachten, was Aga oder Baby sagen mochten? Was liegt an vergangenem Leben, wenn es so völlig vergessen ist, daß man sich selbst wie ein ganz [124] neuer Mensch erscheint? Kam es denn nicht einzig und allein auf sie beide an?

Und Erich, das wußte sie, sah sie anders als alle andern Menschen, der sah die in ihr, die er liebte – und die ist immer jung. Doppelt wollte er sie ja lieben, um all das, was sie gelitten, um alles, was sie entbehrt. So viel zärtliches Mitleid sprach aus seinem Briefe. Konnte ihr das nicht genügen? Ließ sich darauf nicht das neue Leben erbauen, das ihr ganzes Wesen ersehnte?

Ja! tausendmal ja! – wenn sie beide allein wären, wenn es keine Ketten der Vergangenheit gäbe, die sie hielten und die die Anderen sahen. Denn mochte er heute auch nur ihre Jugend und Schönheit sehen, so war sie dennoch alt durch äußere Lebensumstände, nicht durch die Zahl der Jahre, nur durch ihren Inhalt. Wenn er das je einsähe? Er, der selbst ein volles, ganzes Leben zu verschenken hatte? Der Gedanke war nicht zu ertragen – und mußte doch ausgedacht werden. Denn morgen, vielleicht schon morgen würde seine Blindheit weichen müssen, wenn er Worte hörte, wie Aga sie eben ahnungslos und ganz selbstverständlich gebraucht: »eine angehende Großmutterl« – o, daß nur er nie solche Worte vernahm, wenn sie selbst, dabeistehend, fühlen würde, wie er sich um ihretwillen lächerlich vorkam und wie er, aus [125] Ritterlichkeit und Mitleid für sie, dagegen anzukämpfen suchte!

Das war das wirkliche Hindernis, über das es keine Brücke gab. Jedes andre hätte sie überwunden aus Liebe zu ihm. Aber gerade ihre Liebe, die schon heute voraussehend war, gebot ihr, ihn davor zu schützen, daß gespöttelt werden konnte über die, die ihm als höchstes galt. Nicht unschön durfte werden, was so selig hätte sein können. Und sie mußte ihm sagen: »Ich bin alt, ich bin alt, und wenn du es auch nicht siehst, so weiß doch ich es. Es zu wissen und dich scheiden heißen, das kann ich ertragen, aber es je in deinen Augen zu lesen – das ertrüge ich nicht; dabei stürbe nicht nur das Glück, nein, das begrübe die Liebe selbst.« – Ja, für ihn und um ihrer Zuneigung selbst willen, die sie sich in Schönheit bewahren wollten, mußte sie zu ihm sprechen: »Geh, geh, denn wenn unsre Liebe auch die eine wahre und große ist, wie sie nur Menschen zu empfinden vermögen, die des Lebens Leid und Einsamkeiten kennen, so müssen wir sie doch dem tändelnden Kinderspiel der Jüngeren opfern, weil sie zu spät gekommen ist. Die Zeit dafür ist für mich vorübergegangen – ohne daß ich es merkte – aber die Zeit ist darum doch nicht minder vorbei, daß sie so ganz leer gewesen.«

[126] Das alles mußte sie ihm morgen sagen. Sagen? nein, das würde sie nicht vermögen. Ihn dabei anschauen? nein, das konnte sie nicht, konnte nicht seinen Blick, der sie seit Wochen so zärtlich bewundernd begleitet hatte, auf sich ruhen fühlen und dabei selbst mit Worten der Wirklichkeit die Traumesstadt zerstören, in die sie einst zusammen einziehen wollten. Nein, jetzt in der stillen Nacht wollte sie es ihm alles schreiben und ihn bitten, zu gehen, ohne sie wiederzusehen. Rasch sollte es geschehen, damit der Brief ihm in der Frühe noch gebracht werden konnte. Nicht mehr denken durfte sie jetzt, sondern tun, was sein mußte – Zeit zum Denken blieb nachher – viel Zeit – sie war ja noch gar nicht alt. Nein, nicht alt – und doch schon zu alt.

Wie sie nun aber zum Schreibtisch schritt und Feder und Papier an sich zog, überkam sie plötzlich eine große Verzweiflung. Die Arme sanken ihr wie gelähmt nieder. Wie sollte sie, wenn sie ihn von sich wies, nachher die Leere wieder ertragen? Jetzt, nachdem sie andres einen kurzen Augenblick als möglich erschaut? Sie erkannte nun erst, wie völlig sie während der letzten Wochen in der uneingestandenen Liebe zu ihm gelebt hatte; ja, mehr noch, daß diese Liebe eigentlich die Erfüllung einer traumhaften Sehnsucht war, die während [127] all der grauen Jahre doch stets in ihr gelebt hatte. Sie hatte es ja nie klar gedacht, aber sie wußte jetzt doch mit einemmal, daß es nur diese eine Hoffnung gewesen war, die sie aufrecht erhalten hatte: es wird doch noch einmal das Morgenlicht eines andern Tages für mich aufgehen!

Und all das mußte sie opfern wegen zweier fröhlicher Kinder, die wahrscheinlich viel weniger als Aga zu sagen vermocht hätten, wie sie zu dem gekommen waren, was diese ihre Verliebtheit genannt hatte – die aber das eine besaßen, was ein Recht zu allem Schönen gibt – die Jugend.

Nun hielt sie die Feder in der Hand.

Wie sollte sie ihn wohl anreden?

Und »Lieber Freund!« begann sie dann schließlich, denn das konnte er ihr doch immer bleiben.

Dann setzte sie wieder ab.

Ach, wie anders hatte sie sich doch vorhin das Schreiben dieses Briefes vorgestellt!

Und wie sie das dachte, formten sich ihr auch schon die Worte unter der Feder: »Es sollte ein ganz andrer Brief werden, ich wollte Ihnen sagen – aber es ist ja nun ganz einerlei, was ich Ihnen sagen wollte, denn es bleibt nur das, was ich Ihnen sagen muß.«

Und dann schrieb sie ihm alles, alles. Und es war ihr dabei, als durchschritte sie mit ihm noch [128] einmal ihr ganzes vergangenes Leben, dessen Schatten sie gefangen hielten; als durchschritte sie auch das mit ihm, was doch nie sein würde, was sich vor ihr ausbreitete wie gelobtes Land, zu dem die Brücke führte, die sie nimmer betreten durfte. Und sie sagte ihm, warum es nicht sein konnte. Die ganze Nacht schrieb sie ihm – diese eine Nacht sollte ihm ganz gehören – und bei dem Schreiben sank es über sie wie müdes Entsagen, während des Schreibens fühlte sie, wie sie in dieser Nacht in Wirklichkeit alt ward.

Sie hielt wohl manchmal inne, als könne sie nicht weiter, weil es gar zu wehe tat, weil sie sich gar zu sehr danach sehnte, daß er doch plötzlich dastehen möchte und sie in die Arme schlösse und sie sich an seiner Schulter ausschluchzen könne. Aber wenn es auch viele Verluste und manchen Schmerz gibt, um die wir in den Armen eines andern weinen können – um ungelebtes Leben, da weint ein jeder ganz allein! Und sie nahm die Feder wieder auf in altgewohnter Tapferkeit. – War es denn nicht schon Glück, es ihm doch einmal alles sagen zu dürfen? Und er würde es ja alles verstehen, würde fühlen, daß sie ihm da in diesem Briefe ihre sterbende Jugend schenkte. Das einzige Lied der stummen Harfe, die scheu gehütete Perle auf Muschelsgrund, die sehnsüchtig duftenden[129] Blüten der vergessenen Insel, alles, was sie ihm in der Dauer des kommenden Lebens hatte schenken wollen – das sollte, zu einziger Gabe vereint, dieser eine Brief ihm bringen.

So ward in Schmerzen wahr, was sie vorhin in Seligkeit gedacht: der eine Zweck ihres armen Daseins war es, diesen einen Brief zu schreiben.

Nachdem sie zu Ende gekommen war, starrte sie lange sinnend auf die beschriebenen Bogen. Es war ihr, als sei sie in dieser Nacht gestorben und als läge sie da in diesen Blättern begraben. Dabei fiel ihr ein, daß viele Menschen gestorben sein mußten, während sie den Brief geschrieben hatte, weil ja in jeder Nacht viele sterben. Die brauchten keiner Sonne Aufgang je mehr zu sehen.

Nun erhob sie sich, trat ans Fenster und schob die Vorhänge zurück.

Leise kam der graue Tag hereingeschlichen, wie einer, der sich schämt ob der geringen Gaben, die er zu bringen hat. Ja, ihr brachte dieser Tag nichts – aber Millionen andrer brachte er unendlich viel! Millionen von Menschen stehen an jedem Morgen hoffnungsfreudig und schaffenseifrig auf, um alle Möglichkeiten des Tages zu ergreifen, und andre Millionen drehen sich alle Morgen noch einmal um zur Wand, weil sie wissen, daß kein Tag ihnen je mehr etwas bringen kann.

[130] Langsam wurde es heller. Isa schaute hinab auf die weiße Straße und gewahrte im fahlen Morgenlicht, daß sich der Schnee über Nacht noch viel höher angehäuft hatte. Nur eine schmale Gasse hatten die Schneeschaufler zwischen den weißen Wällen freizuhalten vermocht. Auf der würden sich nun die vielen Menschen dicht nebeneinander hindurchdrängen müssen, die einen, für die alles schon zu Ende, die andern, für die alles erst begann.

Ein großes wehmütiges Verzichten kam über Isa, und der eigene Schmerz ward weniger herb, weil sie erkannte, daß sie nur das erlebte, was alles Lebende einmal erleben muß. Einzelne Menschen und Nationen sind gleich winzig, aus der Unendlichkeit betrachtet; die einen gehen, die andern kommen, und dann werden auch diese wieder gehen – und hat alles wenig Bedeutung.

Noch einmal setzte sie sich an den Schreibtisch, im doppelten Licht der elektrischen Lampe und des blassen Wintertages, und ehe sie den beendeten Brief in den Umschlag schob und adressierte, fügte sie ihm noch die Worte hinzu: »Während ich Ihnen schrieb, ist es Morgen geworden – ein neuer Tag beginnt – es ist der Tag Anderer.«

[131][133]

Gewesen

[133] [135]Mexiko ist eine Stadt, die noch mancherlei Baudenkmale aus alter Zeit enthält. Aber die Mexikaner sind wie andre Leute auch, die nie zu schätzen wissen, was sie besitzen. Daher zerstören sie alljährlich eine gewisse Anzahl der altertümlichen Bauten und ersetzen sie durch moderne Konstruktionen, bei denen Wellblech, Stuck und Eisen eine hervorragende Rolle spielen.

Liebhaber der Altertümer sind die Diplomaten, die in Mexiko Muße haben, über Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken, und ferner die Touristen, die jedes Jahr in größerer Anzahl von jenseits der Nordgrenze in das Land strömen. Sie staunen die alten, zinnengekrönten Paläste an, die Kirchenkuppeln, auf denen bunte Kacheln durch Sonne, Staub und Regen der Jahrhunderte zu mildem, warmen Schmelz verschwimmen, die grauen Kreuze und die verwitterten Heiligenstatuen in verschnörkelten Nischen, die noch manches Eckhaus zieren. Und die Leute von jenseits der Nordgrenze wundern sich, wie so etwas überhaupt in ihren [135] Weltteil hineingeraten ist, und überlegen mit praktischem Sinn, was der Marktwert eines solchen alten Bauwerkes wohl in New-York sein würde, wenn die nötigen Maschinen nur erfunden wären, um es, wie es dasteht, aufzuheben und die paar Tausend Meilen weiter fort zu transportieren.

Die Touristen sind eilige Leute, was sich aus ihrem Nationalcharakter und der Schlechtigkeit mexikanischer Hotels erklärt. Sie machen die Hauptstadt, das melancholische Cuernavaca und Puebla, die Fromme, in ein paar Tagen ab, werfen dann noch einen Blick auf die Bahn, die von Mexiko, der Stauberfüllten, durch tropische Berggegend hinab zu Veracruz, der Tödlichen, führt, und fassen dann ihre Eindrücke mit den Worten zusammen: »Sehr kurios, sehr interessant und was für infam schlechtes Essen.«

Die Diplomaten sind gar nicht eilig und sehen all diese Dinge und noch manches andre, was die Touristen nie sehen, mit großer Gemächlichkeit. Von Zeit zu Zeit verabreden sie untereinander, irgend eine Sehenswürdigkeit zu besichtigen, und zwar tun sie das nicht zu häufig, denn in Mexiko erlernen sie alle die schwere Kunst, wenig Vergnügungen weise über lange Zeiten zu verteilen, so daß ihre Leben Brötchen ähneln, die sehr dünn mit Kaviar bestrichen worden sind.

[136] Zu Ehren eines vor kurzem angekommenen Kollegen war abgemacht worden, an einem Herbstnachmittag die alte Schule der Valencianos zu besuchen.

Der dicke Kutscher Pedro von der Xschen Gesandtschaft lenkte mit Geschick und Gleichmut die großen, nordamerikanischen Braunen durch die neuen, im Entstehen begriffenen Straßen, sorgfältig die tiefsten Löcher vermeidend. Neben ihm saß der kleine Diener Luis mit korrekt gekreuzten Armen, den Zylinder mit der Nationalkokarde seiner Herrschaft auf dem hübschen, braunen Kopf. Pedro und Luis waren einfache Indianer, denen es als einzig natürlicher, menschenwürdiger Zustand erschien, in zerlumptem Sarape und spitzem, hohen Hut am Schanktisch einer Kneipe zu lehnen und große Gläser voll blauweißen Pulques zu leeren; nur um sich diesen Genuß in möglichst reichlichem Maße verschaffen zu können, ergaben sie sich darein, zu dienen und alltäglich die Verkleidung mit sich vorzunehmen, die sie dem klassischen Vorbilde der Kutscher und Diener von Rotten Row nahe brachte.

Die Viktoria bog in den breiten Paseo ein, und im scharfen Trabe ging es den älteren Stadtteilen zu, durch die Allee hoher, im Herbstwind rauschender Eucalyptusbäume und zwischen der [137] doppelten Reihe von Postamenten, auf denen abwechselnd Vasen und Statuen berühmter Männer stehen, von deren Ansprüchen auf Verewigung durch dreiviertel lebensgroße Abbildung außerhalb ihres Heimatslandes wenig bekannt sein dürfte.

Der kleine, dicke Herr von Tredern saß gerade und selbstgefällig in der linken Wagenecke. Er trug den Ernst zur Schau, der Leuten eigen ist, die von der Wichtigkeit aller Dinge und besonders von der eigenen überzeugt sind, und für die es keine Zweifel, sondern nur unerschütterlich feststehende Wahrheiten gibt. Zu seiner Rechten lehnte müde und lässig die schlanke, blasse Frau von Tredern. Im Gegensatz zu ihrem Manne sah sie meist aus, als fände sie an nichts viel Gefallen, und um ihre Lippen spielte das halb spöttische, halb wehmütige Lächeln derer, denen das ganze Leben als großes Fragezeichen erscheint, auf das eine Antwort zu finden sie längst aufgegeben haben. Vera von Tredern stand in den Jahren, in denen der mildernde Schatten breitkrempiger Hüte und großgetupfte Schleier der Frauen beste Freunde sind, weil sie verhüllen, was ist, und erraten lassen, was gewesen – Jahre, in denen, was bisher erfreut hat, schal erscheint, und der Rückblick auf das verflossene Leben nur ein Warten und Suchen dessen zeigt, was doch nie kam – Jahre, in denen [138] Frauen beginnen, zum Witz oder zur Wohltätigkeit ihre Zuflucht zu nehmen, je nach persönlicher Anlage oder äußeren Lebensumständen.

Zwischen rasch dahinsausenden elektrischen Straßenwagen fuhr die Viktoria über einen kreisförmigen Platz, in dessen Mitte sich das Reiterstandbild des Königs Karl IV. von Alt- und Neuspanien erhebt. Loyalen Vizekönigen, die an die Dauer des Bestehenden glaubten, verdankt die Statue ihre Entstehung. Unter Glockengeläut und Böllerschüssen, mit allem Pomp vereinter geistlicher und weltlicher Macht, ward sie einst auf dem großen Platz vor der Kathedrale aufgestellt und enthüllt. Aber die arme Statue war bestimmt, seltsame Schicksale zu erleben: bald nach ihrer Errichtung mußte sie unter einem blaubemalten Holzgehäuse versteckt werden, um also ihren Anblick jahrelang einem Volk zu verbergen, das inzwischen neue Überzeugungen und Regierungsformen angenommen hatte; hierauf zur Verbannung in einen entlegenen, halbdunkeln Hof verurteilt, ward das Königsstandbild endlich auf seinen jetzigen Ruheplatz gebracht, wo es aber, wie eine Inschrift besagt, nur seines künstlerischen Wertes halber bewahrt wird.

Vera schaute auf zum flimmernden mexikanischen Himmel, von dessen zitterndem Licht der [139] patinabezogene Bronzereiter mit dem wehenden Mantel und Lorbeerkranz sich dunkelgrünblau abhob und, halb Gedanke, halb Empfindung, ging es ihr durch den Sinn, daß von Glauben und Institutionen an bis zu Bildwerken alles auf Erden wechselnder Wertschätzung unterworfen ist, weil sich um uns und in uns selbst eine beständige Veränderung vollzieht. Und sie hörte kaum, wie ihr Mann, dem alles Gegenstand unabänderlicher Überzeugungen war, sagte: »Vera, es kann kein Zweifel bestehen, daß die Mäntel unsrer Leute doch eine viel bessere Farbe haben als die französischen Livreen.« Pedro und Luis, die sich unter den strengen Augen ihres Herrn doch immer schon tadellos hielten, richteten sich nun besonders stramm auf, und unter einer leichten Berührung der Peitsche fielen die Braunen schärfer in die Zügel, denn man näherte sich dem elegantesten Klub der Stadt, unter dessen Torweg an allen Nachmittagen jahraus jahrein die unbeschäftigte Herrenwelt, Zigaretten rauchend, müßig lehnt und durch kritische Beurteilung der Vorbeifahrenden das Heimweh nach der Eleganz von Paris zu vergessen sucht. Herr von Tredern tauschte Grüße und Lächeln mit den blassen, schläfrig blickenden Jünglingen, die zum völligen Erwachen auf den Beginn der abendlichen Bakkaratpartie warteten.

[140] Frau von Tredern grüßte mit flüchtigem Nicken. Immer, wenn sie an dieser Ecke vorbeikam, erfaßte sie von neuem der Zauber des alten, zum Klub eingerichteten Palastes, zwischen dessen grauen, feingemeißelten Steinfriesen Felder weißblauer Kacheln sich wie festlich ausgehängte Teppiche abheben. Frau von Tredern gehörte zu den Menschen, deren eigene schönste Lebenskapitel in der Vergangenheit liegen und die sich daher unwillkürlich auch viel mehr für die Vergangenheit von Ländern und Völkern, als für deren Gegenwart und Zukunft interessieren. Das Seiende und das Künftige erschien ihr gering im Vergleich zum Gewesenen – sie zählte zu denen, die gern an eine gute, alte Zeit glauben. Und immer, wenn sie wie heute ausfuhr, übersah sie die modernen, grellgestrichenen Läden, die Schaufenster, deren Inhalt für einen noch unreifen, am Bunten und Blitzenden Freude findenden Geschmack berechnet schien. Ihre Blicke suchten immer nach den oft nur durch Zufall erhaltenen Resten aus früherer Zeit. Sie kannte die vielen malerischen Höfe und Winkel der Stadt, das verfallende Gemäuer einstmaliger Klöster. Und sie liebte es, an den halbversteckten Fassaden alter Kirchen hinaufzuschauen, zu verfolgen, wie die Linien des überreichen churrigueresken Stiles sich winden und verschlingen, die Ornamente sich [141] häufen und drängen und zwischen den zahllosen Schnörkeln der Türme bläuliche Schatten spielen. All diese alten Dinge redeten eine Sprache, die sie verstand, und sie las in ihnen so manche halbvergessene Geschichte. Es gab für sie ein altes Mexiko, von dem in Wirklichkeit nur noch wenige, rasch verschwindende Spuren vorhanden sind, das ihr aber durch die Macht ihrer Vorstellungsgabe zu einer lebenden Realität geworden war; ein altes Mexiko, in dem ihr dem Gewesenen zugewandter Geist viel heimischer war als in dem modernen Staatengebilde, mit dessen Regierung die Traditionen freundschaftlicher Beziehungen aufrechtzuerhalten, Herr von Tredern von seiner Regierung betraut wor den war.

Der Wagen hatte das elegantere Geschäftsviertel hinter sich gelassen, war durch allerhand Gassen zwischen hohen, düsteren Häusern mit vergitterten Fenstern gefahren und hielt nun in einem ziemlich entlegenen Stadtteil vor der Schule der Valencianos. Einen ganzen Straßenblock nahm das mächtige Bauwerk ein, dessen Architekten einem Volke angehört haben, das damals die Welt besaß, und das daher den Begriff der Raumersparnis nicht kannte. Etwas Finsteres und Dräuendes hatte das Gebäude, obschon die dunkelrote Fassade durch flache Säulen und Friesen aus hellem Sandstein gegliedert [142] war; man merkte ihm an, daß es aus Zeiten stammte, da Klöster und Schulen immer gleichzeitig kleine Festungen waren. Wie alle alten kolonialen Bauten, die kirchlichen Zwecken gedient oder adligen Herren gehört haben, war auch die Schule der Valencianos mit spitzen, turmähnlichen Zinnen gekrönt. Geschnitzte Steinungeheuer sprangen an den Dachrinnen hervor und waren dazu bestimmt, aus weitaufgerissenem Rachen das Regenwasser auf die Straße herabzuspeien. Reiche, weitausladende Ornamente bauten sich um das große Mittelfenster auf und verliefen in allmählicher Verjüngung nahe am Dach als Stützen eines Schildes, auf dem einst das gemeißelte Wappen der spanischen Krone geprangt hatte. Aber das Schild war leer. Gleich so vielen andern war auch dieses Wappen laut Dekret der Republik abgehauen worden.

In der Mitte der vorderen Front der Schule befand sich ein hohes Portal, das nachts durch wuchtige, mit großen Nägeln und schwerem Bronzeklopfer besetzte Türen geschlossen wurde. Durch dieses Tor trat man in einen ersten weiten Hof, um dessen vier Seiten sich schlanke Säulen erhoben, die in der Höhe des ersten Stockwerkes einen breiten Bogengang trugen.

Die Gesellschaft hatte sich bereits in diesem Hof versammelt. In gedämpften Tönen schwirrten [143] französische, englische und spanische Phrasen durcheinander.

»Ich versichere Sie,« sagte Monsieur de Brionne, der in mehr als gewöhnlichem Maße die allgemeine Diplomatenmanie für Antiquitäten besaß und sie mit weiser Sparsamkeit zu paaren wußte, »der Padre hatte keine Ahnung, daß das Meßgewand mindestens fünfhundert Pesos wert ist; er war so glücklich, als ich ihm sechzig gab, daß es mir nachher leid tat, ihm nicht nur fünfzig geboten zu haben – all diese hiesigen Priester stehen doch auf schrecklich niedrigem Bildungsniveau.«

»Ich komme eben von Donna Manuela,« erzählte die kleine, runde Madame de la Linotte der mageren Baronin Fastenheim, die immer aussah, als müßten die Kleider von ihrer aller Vorsprünge baren Gestalt herabrutschen, »und denken Sie nur, die arme Donna Manuela erwartet schon wieder ein Baby – das fünfte in vier Jahren!«

»Gottlob, daß Babies nicht ansteckend sind wie Typhus, gelbes Fieber und all die andern mexikanischen Krankheiten,« antwortete die Baronin, an ihrer langen, überschlanken Figur hinab schauend.

»Als wir hierher versetzt wurden,« fuhr die kleine de la Linotte fort, »sagte mir meine Cousine Melanie: ›Fifi, Mexiko ist eine Stadt mit flachen [144] Dächern, wo man sich sehr langweilt und viele Kinder kriegt.‹«

»Was mögen wohl die flachen Dächer damit zu tun haben?« sagte die Baronin Fastenheim sinnend, und ihr Verehrer, der feiste, kahlköpfige Vicomte de la Ruade, rief: »Babies, fi, quelle horreur! Sie verderben unwiederbringlich die weibliche Schönheit.«

»O, da sind ja Trederns!« rief Graf Willestad, der Vera zuerst erblickt hatte, wie sie aus dem dunkeln Torweg in die Helle des Hofes trat. Und während der momentan eintretenden Stille hörte man die schöne Mrs. Stevens zu Jack Mc. Dougall sagen, der den Spitznamen »The Irrepressible« trug und zum diplomatischen Korps nur in seiner Eigenschaft als persönlicher Attaché Mrs. Stevens gehörte: »Ja, Jack dear, Tugend mag freilich sehr langweilig sein, aber darum ist das Gegenteil noch lange nicht anziehend.«

Graf Willestad war Vera und Herrn von Tredern entgegengegangen und, auf einen großen, wettergebräunten Mann weisend, der ihm folgte, sagte er: »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Freund, Herrn Ralph Herbert vorzustellen, der mir die große Freude gemacht hat, mich hier für ein paar Tage zu besuchen. Er war nämlich in New York, im Begriff über San Francisko nach Ostasien zu fahren, [145] aber ich schrieb ihm: Was ist für einen Forschungsreisenden wie du ein kleiner Umweg nach Mexiko? – Und – da ist er.«

Herr von Tredern blickte den neuen Bekannten halb bewundernd, halb gönnerhaft an: »Freue mich außerordentlich, Sie kennen zu lernen, habe noch auf meinem vorjährigen Urlaub gehört, daß Majestät sich sehr lobend über ihr letztes Buch ausgesprochen hat, war – glaube ich – über... Durchquerung?... von... Afrika?«

»Neuguinea,« korrigierte der Reisende, während Vera, die sehr blaß aussah, ihm die Hand reichte, und mit leise zitternder Stimme, der sie sich bemühte, einen scherzenden Ton zu geben, sagte: »Wir sind doch wohl alte Bekannte... Herr Herbert?«

»Gewiß... gnädigste Frau – falls Sie sich zu erinnern geruhen.«

Der spanische Gesandte, der sich als Hausherr in der mexikanischen Vergangenheit zu fühlen pflegte, übernahm nun die Führung. Aber während man die breite Doppeltreppe hinaufschritt, trat Herr von Tredern rasch an seine Frau heran und flüsterte ihr leise zu: »Mach den Weltenbummler auf meine Schrift über die Nephrytgötzen der Azteken aufmerksam und lad ihn zu Tisch ein – kann von großem Nutzen für Karriere sein, wenn er mich in [146] seinem nächsten Buch erwähnt.« Darauf gesellte er sich seinem spanischen Kollegen und der voranschreitenden Oberin zu, und man hörte ihn sagen: »Ja, ein vorsichtig bemessener Grad von Unterricht für die weibliche Jugend muß ein Ziel jeder weisen Regierung sein.«

Unterricht und Aufklärung wurden in dieser Schule offenbar nicht in unvorsichtigem Übermaß verabreicht. Handarbeiten schienen den Hauptlehrgegenstand zu bilden, und Herr von Tredern bemerkte, daß sie, seiner Überzeugung nach, auch stets das natürliche Tätigkeitsfeld unbemittelter Weiblichkeit bleiben müssen. Die Besucher wurden zwischen Reihen junger Mädchen entlang geführt, die über Stickrahmen gebeugt saßen; unter ihren Händen entstanden auf weißem Atlasgrund buntseidene Vögel und Blumen, mit sinnigen Sprüchen vermischt. Man fragte sich unwillkürlich, wer die Unglücklichen seien, die diese Resultate großer Mühe und noch größerer Geschmacklosigkeit einst kaufen würden.

Vor den Stößen gehäkelter Bettdecken, gestickter Kissen, durchbrochener Tischdeckchen konnte Mrs. Stevens das Gähnen nicht unterdrücken. »Jack,« sagte sie, »heute haben wir wirklich eine sterbenstraurige Zerstreuung gewählt. Ob Nelly in Newport es wohl glauben wird, wenn ich [147] ihr schreibe, daß wir hier keine andren Vergnügen haben als Wohltätigkeitsschulen zu besuchen?«

»Keine andren? Sie sind heute sehr hart gegen mich,« antwortete der Irrepressible; »aber Sie haben wohl recht, dieser Platz bedarf es offenbar, etwas aufgeschüttelt zu werden. I guess, es wird schon ein bißchen lebhafter werden, wenn wir mal hier einmarschieren.« Und indem er eine neue Flucht von Sälen entlang schaute, setzte er hinzu: »Bei all diesen alten Scheunen denke ich immer, was wir mal draus machen werden; diese hier müßte man sich für eine Kaserne merken – Raum für ein paar Regimenter – feine Ventilation.«

»Oder ein Depot für Petroleumkisten,« schlug Mrs. Stevens vor.

»Ach, wer weiß, ob Petroleum zu der Zeit überhaupt noch viel Wert haben wird,« meinte Jack geringschätzig.

»O, Jack, wie häßlich von Ihnen, solche Möglichkeiten überhaupt zu erwähnen, Sie wissen doch, daß Stevens an der Standard Oil Company beteiligt ist.«

Aus dem ersten Hof war man in einen zweiten gekommen, der älter und verwahrloster aussah. In den Bogengängen hatte sich der Fußboden stellenweise gesenkt, ein paar Risse zeigten sich an den Wänden. Die großartige Anlage, die ursprüngliche [148] Schönheit waren noch wohl zu erkennen, und doch lag schon in allem der Beginn kommenden Verfalls.

Die Oberin erklärte, daß in den Jahren, da eine liberale Regierung die geistlichen Güter einzog, und so der Grund zu manch weltlichem Reichtum gelegt ward, auch das Vermögen dieser Schule konfisziert worden sei und nun die Mittel zu den nötigen Reparaturen fehlten. »Scheinbar hält noch alles,« sagte sie, »weil der Bau von Anfang an so wunderbar schön und solide ausgeführt worden ist, aber ich sehe doch die allmählichen kleinen Veränderungen, die jedes neue Jahr unsrer armen, alten Schule bringt.«

Monsieur de Brionne, der für die nähenden und häkelnden jungen Schülerinnen gänzliche Gleichgültigkeit gezeigt hatte, war ganz verändert und voller Interesse, seitdem der geheimnisvolle Zauber hohen Alters mehr und mehr an dem Gebäude zu Tage trat. Er gewahrte an den Mauern die Spuren früherer Türen, die seitdem zugemauert worden waren, klopfte mit seinem Stöckchen gegen die Wände, um hohle Verließe zu entdecken, und sagte: »Was gäbe ich nicht darum, hier mal alles gründlich durchsuchen zu können – ich bin sicher, es müssen hier wahre Schätze an alten bibelots verborgen sein.«

[149] »Dieu, qu'il est assommant avec sa manie d'anti quités, vot'chef,« murmelte ein vorwitziger Attaché zu Brionnes Sekretär; »wer mag sich nur mit altem Gerümpel abgeben, inmitten all dieser hübschen Mädels?« Dabei drehte er seinen kleinen Schnurrbart keck in die Höhe und warf durch sein Monokel eroberungslustige Blicke auf die dunkelhaarigen, schwarzäugigen Mädchen, die beim Erscheinen der Gäste von den Bänken aufstanden und sich mit der angeborenen Höflichkeit ihrer Rasse verneigten.

»Décidément, cela devient grisant,« fuhr der Attaché fort, indem er mit der Stumpfnase in der Luft schnüffelte, wie ein Hühnerhund, der Wild wittert, als er nun hinter den andern durch die Schlafsäle schritt. Reihen weißer Betten standen da. Aber es herrschte nicht die nüchterne Einförmigkeit, die in ähnlichen Instituten nordischer Länder einen so betrübend lieblosen Eindruck hervorruft, sondern dem Ausdruck der persönlichen Eigenart war etwas Spielraum gelassen. Durch leichte Lattenverschläge, die bis zu halber Höhe des Saales reichten, war um jedes Bett ein Zimmerchen gebildet, und ein jedes war verschieden dekoriert, je nach Geschmack und bescheidenen Mitteln der Inhaberin. Blumen, die in Mexiko den billigen Luxus der Armen bilden, standen in kleinen Vasen[150] vor den bunten Bildern der heiligen Schutzpatroninnen; verzückte heilige Cäcilien sah man, steife Madonnen del Rosario in breitabstehenden Krinolinröcken, schmerzliche Madonnen della Soledad in schwarzen Schleiern. Jeder der kleinen Räume war zugleich Stätte eines intimen Kultes, und die Heiligen mochten den armen Mädchen wie ferne, sehr mächtige Freundinnen erscheinen, denen man mit bescheidenen Gaben naht, in der Hoffnung, daß sie sie tausendfach vergelten werden. Die großen Türen, die auf die Veranden mündeten, standen weit offen, und durch alle Räume fluteten Luft und Licht.

»Scharmant, ganz scharmant,« sagte die kleine de la Linotte zur Oberin, indem sie alles durch ihre langstielige Lorgnette musterte, »wenn ich doch nur gleich hier bei Ihnen bleiben und mein ganzes mühseliges Leben hinter mir lassen könnte!« Und dabei seufzte sie wie unter einer schweren Last, raffte ihr langes, mit Spitzenvolants besetztes Kleid auf, weil es in den engen Abteilungen kaum Platz fand, und man gewahrte die winzigen Füßchen in hellgrauen Schuhen, auf denen Madame de la Linotte durch die großen Mühseligkeiten ihres Lebens trippelte.

»Wie oft ich wohl schon diesen Wunsch von Fifi habe äußern hören,« dachte dabei Monsieur [151] de la Linotte, »und das Komische ist, daß sie es immer ganz aufrichtig meint, einmal vor einer Sennerinhütte, das andre Mal vor einem norwegischen Holzhaus, heute in einer mexikanischen Wohltätigkeitsschule«.

»Ja, es würde Ihnen vielleicht wirklich bei uns gut gefallen,« antwortete die Oberin, die die Menschen ernst zu nehmen pflegte und nichts vom plötzlichen Entzücken und raschen Vergessen vornehmer Damen wußte; »manche unsrer Schülerinnen besuchen mich, nachdem sie sich verheiratet haben, und pflegen dann oftmals zu sagen, daß ihre glücklichste Zeit doch hier war«.

»Die Ehe ist ja überhaupt eine so überschätzte Institution,« seufzte die Baronin Fastenheim, und der Vicomte de la Ruade setzte hinzu: »Ja, Baronin, wie alle menschlichen Erfindungen, und sie hat schon so viel Mißverständnisse und Kollisionen verursacht – mehr noch als drahtlose Telegraphie und Automobils«.

»Verheiraten sich die Menschen auch immer noch in all den kuriosen Ländern, in denen Sie herum gereist sind, Herr Herbert?« fragte die kleine de la Linotte.

»Auch dort, gnädige Frau, haben die Menschen noch nichts Besseres gefunden und auch nichts Schlimmeres, je nachdem,« antwortete der Reisende.

[152] Vera ging neben ihm. Sie schritt wie im Traume. – Ja, nichts Schöneres als was man einst geträumt, nichts Schlimmeres, als was man dann gefunden – je nachdem. Er hatte recht.

Nach all den Jahren sich endlich wiedersehen! hier in dem fernen Lande, inmitten der Gesellschaft, die nun schon so lange ihre Welt bildete und die ihr heute so unverständlich fremd vorkam. Was hatte der heutige Tag ihr doch so plötzlich gebracht! und er hatte begonnen wie alle andern auch, war ihr nur wie ein Schritt weiter erschienen auf einem Wege ohne besonderes Ziel. Keine leise Stimme hatte ihr zugeflüstert, daß dieser Tag bestimmt sei, sich für immer aus der Leere ihres Daseins ahzuheben.

Die Leere des Daseins – die große Zwecklosigkeit. – Sie empfand sie ja immer. Aber heute erst fühlte sie ganz, wie sehr sie darunter gelitten – all die Jahre hindurch. Die Jahre, die ihre Spuren zurückgelassen, die die große Müdigkeit gebracht und in vielen einsamen Stunden ganz feine, beinah noch unsichtbare Linien auf ihre Züge geschrieben hatten. Würde er diese Schrift lesen und ihre tiefe Wehmut verstehen können? Würde ihm der Zauber der Vergangenheit die Gegenwart zu verklären vermögen? Beinah zaghaft blickte sie zu ihm auf. Zuerst erschien er ihr kaum verändert. [153] Ganz dieselben lieben Züge von einstmals waren es – und doch – auch da Fremdes, Verändertes, auch da Spuren der Jahre. Scharfe Striche und die Härte derer, die sich nicht vom Leben bezwingen lassen, die nicht nur mit andern, sondern auch mit sich selbst fertig zu werden wissen, die geborene Kämpfer sind und manchmal Überwinder werden.

»Sie haben ganz recht,« sagte die Oberin zu Monsieur de Brionne, »unsre Anstalt besitzt wirklich einen verborgenen Schatz und ganz ausnahmsweise will ich ihn Ihnen zeigen«. Dabei öffnete sie eine verschlossene Türe, und die Gesellschaft trat in einen Raum, der einstmals Küche gewesen sein mußte, denn an der einen Wand standen noch die Reste eines bunten Kachelherdes, über dem sich ein weit vorspringender, von längst erloschenen Feuern rußig gewordener Rauchfang wölbte. Stühle mit eingetriebenen Sitzen, dreibeinige Tische, eine wacklige Modellpuppe standen herum; allerhand altes Gerümpel, Vogelbauer, Laternen, zerschlagene Schüsseln lagen am Boden, und gegen die Wände waren verstaubte, durchlöcherte Bilder gelehnt. Die Oberin schob eines der alten Gemälde beiseite, und man gewahrte an der Mauer dahinter eine niedere Türe. Erst nach langen Versuchen gelang es, sie aufzuschließen; sie führte in eine kleine einstmalige Speisekammer, die durch ein blindes, vergittertes [154] Fenster nur spärlich Licht empfing. Eine verhüllte Figur stand auf einem Tisch in der Mitte, und als die Oberin das verstaubte Tuch von ihr lüftete, glitzerte und gleißte es plötzlich in dem halbdunkeln Raume von Gold und Silberglanz, von weichem Perlenschimmer, von dem Feuer funkelnder Smaragde. Auf hohem feinziselierten Silberpostament, dessen Ecken musizierende Amoretten zierten, erhob sich eine Madonna, die, auf goldener Mondessichel stehend, in die Lüfte zu schweben schien. Es war, als berührten ihre Fußspitzen kaum noch den Sockel, als finge sich der Wind in ihrem goldenen Mantel und trüge sie aufwärts; die Hände waren über der Brust gekreuzt, der gekrönte Kopf leicht zurückgebogen, und die ganze Gestalt schien zitternde Erwartung der Mysterien auszudrücken, die es jenseits von Mond und Sternen geben mag.

Zuerst herrschte staunendes Schweigen, dann aber drängten sich bewundernde Ausrufungen und Fragen: »Wie schön!« »Wie entzückend!« – »Woher stammt die herrliche Madonna?« – »Wie kam sie hierher?« – »Welcher Künstler hat sie angefertigt?« Und die Oberin erklärte: »Sie soll nach einem Entwurf des Salcillo angefertigt worden sein, und das Gold und Silber, das dabei verwendet worden, und die vielen Geschmeide, die unsre Madonna trägt, stammen alle aus frommen Stiftungen.«

[155] »Aber warum wird sie nur gerade hier in diesem elenden Winkel bewahrt, wo niemand all den begeisternden Schmuck sieht?« fragte die kleine de la Linotte.

»Früher stand sie auf dem Altar in der Kapelle,« antwortete die Oberin, »aber als dann die lange Revolutionsära anbrach, in der nichts mehr sicher war und auch unsrer Anstalt so manches abhanden kam, da beschlossen die damaligen Schuldirektoren, unsre Madonna wohl zu verbergen, und dieser Platz hier erschien als einfachstes und gerade deshalb als unwahrscheinlichstes Versteck.«

»Diese Perlenketten könnten allerdings manchen locken,« meinte Brionne.

»Es ist einfach empörend!« rief Mrs. Stevens, »wie würden wir in Newyork auf solch eine Statue stolz sein.«

Jack sah seine schöne Landsmännin schmachtend an und sagte: »Als Gegenstand für unsre Bewunderung bedürfen wir Amerikaner keiner importierten Artikel.«

Ralph Herbert hatte die Madonna schweigend betrachtet und sagte nun leise vor sich hin, als beende er ein Selbstgespräch: »So vielem Schönen geht es nicht anders: zuerst stellt der eine es auf einen Altar, dann läßt es der andre im Winkel verkommen. Und dies ist wenigstens nur eine leblose [156] Puppe, die Selbstbedauern und innere Revolte gegen das Schicksal nicht zu empfinden vermag.«

»Kommen Sie, Jack, lassen Sie uns aus all dieser Gespensterluft etwas herunter ins Freie gehen,« sagte Mrs. Stevens, die, aus dem Fenster der Küche schauend, einen kleinen verwilderten Garten erblickt hatte, in dem Schlingpflanzen an hohen Bäumen emporrankten und leere, verwitterte Steinpostamente an Unkraut überwucherten Wegen standen.

Jack eilte diensteifrig nach, und während er neben Mrs. Stevens schritt, sagte er: »Endlich habe ich die rechte Verwendung für diesen alten Kasten gefunden! Wir machen Schuppen daraus für die Waggons der künftigen elektrischen Popocatepetlbahn«.

Ralph Herbert und Vera folgten den beiden in den Garten hinab, während oben in der kleinen Speisekammer der spanische Gesandte und Herr von Tredern mit der Oberin eine gelehrte Diskussion über spanische Skulptur fortführten und Brionne mit Kennerblick die Perlen und Smaragden der Madonna abschätzte.

Als Ralph und Vera unten im Gärtchen erschienen, schauten ihnen oben vom Küchenfenster aus der Attaché und der Sekretär nach. »Zu manchen Frauen gehört immer eine bestimmte Landschaft,« [157] sagte der letztere; »sehen Sie nur, wie all diese herbstlichen Färbungen, der blasse Himmel und das graue Gemäuer mit den alten gemeißelten Steinwappen eine Ergänzung zur ganzen Erscheinung von Frau von Tredern bilden. Gott, was muß die Frau schön gewesen sein!«

»Und Tredern, dieser pomphafte Esel, hat's wahrscheinlich nie gesehen,« meinte der kleine Attaché, »und wird ihr wohl immer Nephrytgötzen vorgezogen haben.«

»Herr von Tredern«, sagte der Sekretär, »ist wie eine wandelnde Absolution für alles das – was seine Frau leider Gottes stets zu tun unterlassen hat.«

»Stets unterlassen? Sie scherzen wohl, mein Bester?« fragte der kleine Attaché, der noch sehr jung war und Skepsis, wo es sich um Frauen handelte, für einen Beweis weltmännischer Erfahrung hielt.

»Genau wie ich es Ihnen sage«, antwortete der andre. »Natürlich haben sich viele in sie verliebt, aber da könnte Don Juan in Person kommen, ich glaube, sie merkt's nicht mal.«

»Aber warum? Sie werden mir doch nicht einreden wollen aus Passion für den dicken Tredern, oder gar aus Grundsätzen?«

»Soll ja auch manchmal vorkommen. Aber in [158] diesem Fall hat es, glaube ich, einen andern Grund. Meine Tante Tegenberg, die mit Frau von Trederns Mutter befreundet war, hat mir erzählt, daß die schöne Vera mal eine grande passion gehabt hat. Ich glaube, es war für irgend einen ganz obskuren Menschen – kein Vermögen, kein Namen – kurzum eine Unmöglichkeit. Sobald die Mama es bemerkte, hat sie der Sache schleunig ein Ende gemacht. Frau von Tredern ist ja eine geborene Dettlingen, aber von der ganz verarmten Linie, und als dann nach Jahren der dicke Parvenü Tredern sich und sein Geld anbot, hat Mama Dettlingen zugeredet, bis ihn die Tochter genommen.«

»Ganz schön, aber tout ça erklärt mir nicht die Treue?«

»Ja, sehen Sie, es gibt Männer, denen um ihrer selbst willen kaum ein Weib auf Erden treu wäre, die aber den unerhörten Dusel haben, eine Frau zu finden, die an ihrer Seite einer früheren Erinnerung treu bleibt. – Da haben Sie meine Theorie über das Ehepaar Tredern.«

»Sie sind wirklich ultramodern und dekadent«, sagte der kleine Attaché bewundernd.

Unten im herbstlichen Garten war es Vera, als wandle sie im Traume. Ihr langes, graues Kleid schleifte über das welke Laub, dessen Rascheln von ferne her zu klingen schien, Jahre überbrückend. [159] In den hohen Bäumen flüsterte der Wind; um die alten verwischten Steinwappen, die die Gräber der einstmaligen Stifter kennzeichneten, wanden sich bräunlichrote Schlingpflanzen; verwittert schauten die Mauern zwischen den letzten Blättern hervor. Alles redete von Vergangenheit. Dachte auch er gewesener Zeiten? Sie schaute zu ihm auf, und ihre Blicke trafen sich.

Nun standen sie an einem breiten, achteckigen Wasserbecken, das von hoher Steinbrüstung umgeben war. Früher hatte ein Springbrunnen darin geplätschert. Aber er war längst verstummt. Ein paar gelbe Blätter trieben auf der Wasserfläche, durch deren grünliche Tiefe weißblaue Kacheln auf dem Grunde des Brunnens schimmerten.

»Wollen Sie sich nicht etwas ausruhen?« fragte er leise, und sie setzte sich auf die Steinbrüstung am Brunnen. Schatten sank auf die beiden. Nur auf den höchsten Zweigen der Bäume ruhte noch goldenes Sonnenlicht. Leise fiel von dort oben ein welkes Blatt herab, streifte Veras Schulter und sank ihr zu Füßen.

Und da war es ihr, als verschwände die ganze Gegenwart, und vor ihren inneren Augen erstanden durch den Zauber der Erinnerung Bilder von einstmals Erlebtem. – Die kleine süddeutsche Stadt sah sie wieder, den Wald draußen vor dem Tore. Es [160] war Frühling. Über das weiche Moos, unter dem sonnendurchflimmerten, hellgrünen Laubdach schritten zwei ganz junge Menschen, beinahe noch Kinder. Der herbe Geruch des blühenden Faulbaumes füllte die Luft. Und der Knabe schüttelte eines der schlanken Bäumchen, daß Hunderte der kleinen weißen Blüten herabfielen und sich in des Mädchens langen Haaren fingen. »Siehst du, Vera«, hatte der Knabe gerufen, »so wirst du aussehen, wenn du mal eine ganz alte Dame mit weißem Haar bist.« – Wie hatten sie doch beide gelacht! Alt werden? Das schien damals so fern.

Vera schaute auf, denn sie fühlte, daß Ralphs Blick auf ihr ruhte, und als sie ihn ansah, nickte er leise, und sie wußte, daß auch er sich des Gewesenen entsann.

Und ein andres Bild schien aus blassen Fernen aufzusteigen, bis es in greifbarer Deutlichkeit vor ihr stand. Ein paar Jahre später war es gewesen. Am Strande eines fernen nordischen Meeres hatten sie gesessen. Gedankenlos zeichnete sie mit der Spitze ihres Schirmes Linien in den feinen Sand: Initialen waren es zuerst gewesen, und dann hatte sie träumend die Buchstaben zu einem Worte aneinandergereiht. »Glück« lasen sie beide und schauten sich so strahlend an, als seien sie die ersten jungen Menschen, die dies Wort gefunden. – Aber eine [161] kleine Welle des großen, grauen Meeres war leise herangespült und hatte das Wort verwischt – denn es war ja nur in den Sand geschrieben. Und der Jüngling war aufgesprungen, hatte sich kräftestolz gereckt und so siegessicher gerufen: »Das Wort, Vera, wollen wir lieber in Felsen meißeln.«

Wo war das Wort doch geblieben? Nicht in Stein gehauen, nicht in Sand geschrieben. Verloren. Und Vera fröstelte es. Fester zog sie den grauen Boa um sich, der sie wie eine helle Wolke umhüllte.

Schatten und Schweigen umgaben die beiden. Oben auf den höchsten Zweigen erlosch das Licht und schien in den blassen, hellen Himmel zu flüchten.

Der Mann, der neben ihr an der Steinbrüstung stand, murmelte vor sich hin: »Überall nur Ruinen gewesener Dinge.« Sie nickte und antwortete tonlos: »Und die traurigsten sind die des nie Gewesenen.«

Er hatte sich neben sie gesetzt und griff nach ihrer herabhängenden Hand. Durchsichtig zart ruhte sie in der seinen. Weiß und schön war sie geblieben – die Jahre hatten ihr nichts anhaben können. Alte Härte und Kälte schmolzen von seinem Herzen, nur noch ein großes Mitleid erfüllte ihn ganz. Wie hilflos und schwach war doch diese Hand – so gar nicht zum Festhalten, zum Eingreifen, zum selbständigen Formen geschaffen! Der [162] eigenen Kraft, die Jugend überdauert und sich in herbster Enttäuschung gefestigt hatte, ward er sich plötzlich dankbar bewußt, und er erkannte, daß, wo zwei von hartem Schicksal getroffen werden, die Frau doch am schwersten trägt.

Kalter Abendwind strich durch die Bäume und wehte die willenlos treibenden Blättchen auf dem Wasserspiegel. Dunkler ward es. Die Umrisse der Dinge verloren sich, vom Zwielicht aufgelöst.

Auf der Steinbrüstung saß sie ihm gegenüber, grau und verschwommen, als flute sie, einer Nebelgestalt gleich, aus dem dunklen Wasser zu ihm empor. Wie das Sinnbild alten Leids erschien sie ihm, das in der Dämmerung aus den tiefen Brunnen des Herzens steigt und mit trostlosen, leeren Augen in der Nacht umgeht. Durch die Dunkelheit fühlte er diese Augen, fragend und doch nichts mehr hoffend, auf sich ruhen. Und eine große Sehnsucht erfaßte ihn, zu helfen, zu trösten. Doch was konnte er für sie tun? Der einzig wirkliche Trost, mit ihr weinend zusammen die verlorenen Jahre zu vergessen, der war unmöglich. In all seiner gestählten Kraft war doch auch er völlig machtlos – konnte ihr das Leid nicht abnehmen, noch es für sie bekämpfen und überwunden zu Boden werfen – konnte nichts, als sie lassen und weiterziehen, hinaus in die weite Welt.

[163] Doch ehe er ging, beugte er sich nieder und küßte noch einmal die lieben Hände.

Vieles hatte Vera im Leben geschmerzt, aber nichts hatte ihr je so weh getan, wie dieser Kuß – und er war doch so zart und sanft gewesen.

Wie in einen Augenblick zusammengedrängt, übersah sie ihr Leben – es war Herbst in ihm geworden, ohne daß je voller Sommer gewesen. Aus weiter Vergangenheit winkten ihr nur einige blasse Erinnerungsbilder, verschwommen und ungreifbar – gleich verwehten weißen Blüten einstmaligen Frühlings.

[164]

Über einen Hund und die Monroe-Doktrin

[165] [167]Shorty war ein weißer, braungefleckter Hund unbestimmter Gattung, aber die besten Rassen der Alten Welt hatten offenbar bei seinem Pedigree mitgewirkt und hatten auf einem der Entwicklung neuer Typen so überaus günstigen Boden dazu beigetragen, ihn zu dem zu machen, was er war – zu einem Hunde unbegrenzter Möglichkeiten, wie solche nur jenseits des Ozeans im Lande der Zukunft vorkommen.

Unternehmungslust und trotzigen Kampfesmut hatte Shorty von jenen fernen Ahnen ererbt, die als Begleiter der ersten Auswanderer von Europa nach Amerika gekommen waren, und die im Laufe der Evolution entstandene Potenzierung dieser Eigenschaften hatte sich bei Shorty zu dem Bewußtsein verdichtet, jedem Gegner gewachsen zu sein.

Shorty war kein Luxushund, und die alten Kavaliere, die einst nach Virginia gekommen waren und ihr Hundeideal in jenen King Charles gesehen hatten, deren hochmütig wehfremde Augen uns aus [167] manchen Gemälden Van Dycks anblicken, würden vielleicht wenig Gefallen an dieser neusten Incarnation der caninen Idee gefunden haben, aber dem heutigen Kenner würden die gedrungene Gestalt, das muskulöse Genick und die festen, glänzenden Zähne keinerlei Zweifel gelassen haben, daß Shorty ein zeitgemäßer Hund sei, der überall seinen Platz behaupten würde und mit dem gerechnet werden müsse.

Patriotische Gesinnung war Shorty eigen. Er empfand eine bedingungslose Bewunderung für das Land, dem er entsprossen war, hielt es ohneweiters für das erste der Welt, und war fest davon überzeugt, daß es nichts Schöneres auf Erden wie die Straßen Washingtons gäbe. Alles Fremde erfüllte ihn mit tiefem Mißtrauen, für ihn stand fest, daß es auf amerikanischem Boden nur schädlich wirken könne und daß es daher gelte, es sich möglichst vom Leibe zu halten. So war denn Shorty ein energischer Vertreter amerikanischer Abwehrpolitik und ein Bekenner jener Doktrin, die, in seine Sprache übersetzt, bedeutet, daß kein europäischer Hund sich auf amerikanischem Boden einen Knochen holen dürfe. Und wenn es je einen Hund gegeben, dem solche Gesinnung im Blute liegen mußte, so war es sicherlich Shorty, denn eine Urahnin von ihm war es ja gewesen, die an jenem denkwürdigen [168] 2. Dezember 1823 den Boten begleitet hatte, der vom Weißen Hause in Washington des Präsidenten Monroe Botschaft nach dem Kapitol getragen hatte, durch die dem versammelten Kongreß die Doktrin verkündet worden war, daß der Zutritt zu den amerikanischen Jagdgründen den europäischen Mächten für immer untersagt sein solle. Nachdem der Bote damals das Schriftstück auf dem Kapitol übergeben hatte, war er auf dem Rückwege in ein Speisehaus eingekehrt und hatte von seiner Mahlzeit einen saftigen Knochen der ihn begleitenden Stammmutter Shortys zugeworfen; hieraus hatte sich in dieser die Vorstellung gebildet, daß die Monroe-Doktrin mit dem Begriffe eines guten Mahles unzertrennlich verbunden sei; durch Vererbung war diese Vorstellung auf Shorty übergegangen.

Dieser mit so bemerkenswerten Instinkten ausgestattete Hund gehörte Mr. Short, Leutnant in Fort Miles bei Washington, und die Regimentskameraden seines Herrn hatten ihn mit dessen Spitznamen »Shorty« benannt, als er noch ein hilfloses Hundebaby war, das, mit schwerem Kopfe und allzu großen Pfoten, einem kleinen, weichen, weißbraunen Knäuel gleich, im Stroh des Regimentsstalles die Tage verschlummerte.

Seitdem Shorty herangewachsen war, begleitete [169] er seinen Herrn auf allen Ritten. Manchmal lief er ernst und zielbewußt neben dem Pferde her, oft auch jagte er fröhlich bellend vom Wege ab, scheuchte einen Vogel auf, verfolgte ihn weithin durch die Felder und kam dann keuchend und selbstzufrieden, wie so mancher nach unnötiger selbstgeschaffener Arbeit, zu seinem Herrn zurückgesprungen.

Während der letzten Woche aber waren sie beide nicht wie sonst allein durch die Wälder gestreift. Zu Shortys größter Verwunderung hatte Leutnant Short eines Tages zuerst den Weg zum »Arlington-Hotel« eingeschlagen, wo alsbald eine schöne junge Dame erschien, die sich von ihm auf ein bereitstehendes Pferd heben ließ und mit ihm ein paar Stunden spazieren ritt. Da sich dies von da ab alle Tage wiederholte, so mußte die junge Dame wohl reichlich Gelegenheit haben, sowohl die Umgegend Washingtons wie Leutnant Short und seinen Hund kennen zu lernen.

Die schöne junge Dame hieß Miß Beatrix Sharemill und war die Tochter des großen Eisenbahnunternehmers, der wochenlang in Washington mit dem Syndikat unterhandelt hatte, für das er den durch Mexiko führenden Teil der neugeplanten »Panamerikanischen Behring-Magelhaen Elektroschnellbahn« bauen sollte. Seine Frau und Tochter [170] hatten ihn nach Washington begleitet, und Miß Beatrix, die kurz vorher den letzten Schliff in einer höheren Schule erhalten, hatte sich in der Hauptstadt amüsiert, wie es eines jeden amerikanischen Mädchens gutes Recht ist. Sie war bei einem Empfang im Weißen Hause gewesen und hatte ihrem Staatsoberhaupt die Hand geschüttelt, sie hatte zahllose Jours, Diners und Bälle mitgemacht – und sie war oft und lang mit Leutnant Short spazieren geritten.

All dies sollte nun ein Ende finden. Mr. Sharemills Verhandlungen waren abgeschlossen. In wenigen Stunden wollte er mit seiner Familie nach Mexiko abreisen.

Beatrix, die es verstand, die fliehenden Augenblicke stets möglichst angenehm auszufüllen, hatte diesen letzten Morgen zu einem Ritt mit Mr. Short benützt. Daß diese Ritte unendlich viel für ihn bedeuten, wußte Beatrix längst, und es hatte zuweilen des ganzen Geschicks bedurft, das jeder Amerikanerin eigen ist, um eine von ihm versuchte Aussprache durch einen Scherz abzulenken. Aber er war ja ein mittelloser Leutnant, der selbst auch binnen wenigen Tagen Washington verlassen sollte, um sich mit seinem Regiment nach den Philippinen einzuschiffen – da galt es, keine Dummheiten machen und nicht etwa sich beiden das Leben [171] durch eine aussichtslose Verlobung erschweren. Daß nichts Ernstes zwischen ihnen bestehen konnte, hatte sie von Anfang an gewußt, aber das war ihr nicht als hinreichender Grund erschienen, warum sie nicht die Freuden eines kameradschaftlichen Flirts mitnehmen sollte.

Shorty hatte die beiden wie immer so auch auf diesem letzten Ritte begleitet.

Nun waren sie zurückgekehrt. Mr. Short hatte Beatrix vom Pferde gehoben, und sie standen noch einen Augenblick in der Straße vor dem »Arlington-Hotel.« Der Leutnant strich nervös mit der Hand über sein glattrasiertes Kinn und hätte gern vieles gesagt, fand aber keine Worte. Beatrix dagegen beherrschte die Situation: »Ja, nun leben Sie wohl, Mr. Short! Unsre Ritte waren so nett, und wir sind immer so gute Freunde gewesen! Ach, aber Ihrem Hund, unsrem treuen Begleiter, dem muß ich doch auch noch Adieu sagen.«

Mr. Short pfiff, und Shorty kam fröhlich angesprungen. Sein Herr hob ihn an den Falten des lose hängenden weißen Genickfelles in die Höhe und hielt ihn dem jungen Mädchen hin.

»Was ich sagen wollte, Miß Trixy«, stammelte er, »wollen Sie mir die Freude machen, Shorty zum Andenken anzunehmen?« Und als sie eine erstaunte Gebärde machte, setzte er rasch hinzu: »Ich [172] bitte Sie drum. Es ist ja auch ein gutes Werk – in Manila wäre mir der Shorty nur im Wege.«

Sie lächelte. »Nun gut, Mr. Short, ich werde ihn nehmen. In Manila würde Ihnen wohl manches nur im Wege sein. Sie und ich – wir sind ja gute Kameraden – und wir müssen uns nun jeder seinen Weg bahnen – Sie in den Philippinen, ich in Mexiko.«

Sie nahm den Hund auf den Arm und reichte Mr. Short noch einmal die Hand, und dann trat sie rasch ins Hotel. – Solch letzte Augenblicke waren doch recht peinlich!


Die lange Fahrt dauerte nun schon drei Tage. Der Zug, an den Mr. Sharemills Privatwaggon als letzter angehängt war, hatte Neu-Orleans sowie San Antonio Texas längst passiert und den Rio Grande del Norte und mit ihm die mexikanische Grenze überschritten. Durch eine unabsehbare Sandwüste führte nun der Weg, blendend weiß lag sie da unter dem blauen Himmel; hie und da erhoben sich einige seltsam geformte Kakteen, die verkrüppelten Gestalten glichen, deren Glieder sich im Schmerze winden; blaßviolette Schatten warfen sie auf die weiße Fläche. Manchmal fuhr ein scharfer Windstoß über die Wüste, dann erhoben sich hie [173] und dort kleine Staubwolken, die vom Wirbel erfaßt, zu Sandsäulen wuchsen und gespenstisch über die Ebene jagten, um ebenso plötzlich, wie sie erstanden, auch wieder in sich zusammenzusinken. Um die Mittagsstunden wehte der Wind am stärksten; dann war es, als käme er von allen Seiten zugleich gepfiffen und als höbe er die ganze Wüste in die Höhe, so daß sie die Luft erfüllte und verdunkelte. Der Zug keuchte durch den feinen Sand, der durch Doppelfenster und Türen drang und sich beklemmend, einer ungreifbaren Last gleich, auf die Menschen legte.

Mr. Sharemill schenkte den Naturerscheinungen als solchen nie viel Beachtung, sie waren für ihn nur Faktoren, die es in seinem Beruf zu bekämpfen oder auszunützen galt. Mit seinen zwei Sekretären saß er während der ganzen Fahrt in dem als Studierzimmer eingerichteten Teil des Waggons, diktierte ihnen Briefe und besprach technische Einzelheiten des Baues der künftigen panamerikanischen Bahn, dieses Riesenwerkes, das von der Behringstraße bis zur Magelhaens-Meerenge den ganzen Weltteil durchziehen sollte, um, einer gewaltigen eisernen Kette gleich, die entferntesten Länder des Kontinents an die große Schwesterrepublik des Nordens anzuschmieden.

Mrs. Sharemill lag während der Fahrt abwechselnd [174] zu Bett oder in einem Schaukelstuhl. Sie war eine schmächtige, blasse Frau, die neben den kraftvollen Persönlichkeiten ihres Mannes und ihrer Tochter wenig Beachtung fand. Wäre sie befragt worden, so hätte sie sicher gesagt, daß ihr das Schicksal der hispano- amerikanischen Schwesterrepubliken völlig gleichgültig sei und daß sie nichts von der Ausbreitungspolitik der Vereinigten Staaten halte, die für sie persönlich die unbequeme Folge dieser Übersiedlung nach Mexiko aus dem heimatlichen Dakota mit sich brachte.

Beatrix saß meist in einem niederen Strohsessel an einem Fenster des Waggons und blickte melancholisch auf die trostlose Öde draußen. Sie kam sich wie eine Märtyrerin töchterlichen und patriotischen Pflichtgefühls vor, daß sie sich von den sozialen und Herzensfreuden Washingtons getrennt hatte, um ihrem Vater in diese Gegend zu folgen. Es war das erstemal, daß Beatrix in ihrem kurzen, frohen Leben der Niedergeschlagenheit und Wehmut begegnete – und, wie alle jungen Menschen in solcher Lage, dachte sie, daß sie diese Gefährtinnen nie wieder los werden würde.

Shorty hatte sich sogleich in dem Waggon zu seinem Lieblingsplatz ein Sofa erkoren, auf dem eine weiche Reisedecke lag. Zusammengerollt ruhte er dort und knurrte jeden an, der Miene machte, [175] sich in seine Ecke zu setzen, denn er wollte offenbar die Decke als sein anerkanntes Reich und das Sofa als seine stillschweigend zugestandene Interessensphäre betrachtet wissen. Nur wenn er Beatrix sehr melancholisch sah, verließ er seinen Sitz, sprang auf ihren Schoß, drückte seine schwarze Trüffelnase neben ihrem zierlichen, weißen Stumpfnäschen gegen die Scheiben und starrte so mit ihr hinaus.

Das, was Shorty vom weiteren amerikanischen Weltteil durch das Waggonfenster an sich vorbeiziehen sah, gefiel ihm gar nicht; die Gegend und die Stationen, die Hunde und die Menschen in den Stationen erschienen ihm recht minderwertig. Da sah es in Washington denn doch ganz anders aus!

Shorty war ein viel zu kluger Hund, um nicht längst gemerkt zu haben, daß Mr. Sharemills Reise keine gewöhnliche Reise sei, sondern daß es sich bei ihr um höhere Zwecke handle, die Shorty kurz und bündig als das Ergattern eines neuen Knochens bezeichnet haben würde, die aber Mr. Sharemill als die erhabene Mission pries, den Betrieb dieser verschlafenen Gegenden mit amerikanischem Schneid in die Hand zu nehmen. Es gab da ja auch wahrlich ein weites Feld für Verbesserungen! Shorty brauchte nur die elenden, halbverhungerten Hunde zu betrachten, die sich an den Stationen um Abfälle [176] stritten, die er selbst verachtet hätte, um sicher zu sein, daß hier nicht alles war, wie es sein sollte. Nur darüber empfand Shorty bei dieser Reise zuweilen Bedenken, ob jene, die da auszogen nach dem Knochen, sich auch vorher genau seines Wertes vergewissert hatten – was ihm in seiner Hundesphäre stets als Grundsatz praktischer Politik erschienen war. Seitdem er weiter und weiter in der Wüste vordrang, überschlich ihn zuweilen, einer Beklemmung gleich, die Angst, ob er hier nicht vielleicht ahnungslos in einen jener phantastischen Züge hineingeraten sei, wie die Weltgeschichte deren etliche kennt, wo die Teilnehmer voller Zuversicht und Glauben an die Bedeutung ihres Zieles auszogen, die Nachwelt aber mitleidig die Achseln zuckt und meint, daß das Objekt denn doch kaum den aufgewandten Mitteln entsprochen hätte. Aber wie so mancher, der sich in die Abenteuer der Weltpolitik gestürzt, empfand Shorty dunkel, daß, wenn gewisse Würfel einmal gefallen sind, es kein »Zurück« mehr geben kann, daß es bei all solchen Zügen einen Rio Grande del Norte gibt, nach dessen Überschreitung die Losung nur noch »Vorwärts« heißen kann, weil die Frage des Hungers zur Frage der Ehre geworden ist, weil man einen Knochen, auf den man einmal die Pfote gelegt, nie fahren lassen darf – – als noch so [177] minderwertig er sich mittlerweile auch erwiesen haben mag.

Manchmal hielt der Zug mitten in der Wüste, als sei er des Weiterkeuchens durch diese unendlich traurige Gegend überdrüssig geworden und wolle nun nicht mehr weiter – wenigstens war kein andrer Grund zum Halten zu finden, am allerwenigsten in den kleinen, armseligen Lehmhütten, die wie zufällige Bodenerscheinungen sich aus der weiten Sandfläche erhoben und die entweder in wohlklingendem Spanisch nach einem Heiligen genannt waren oder irgend einen unaussprechlichen indianischen Namen trugen.

An solch einer Station waren Beatrix und Shorty ausgestiegen und im Sande auf und ab gegangen, denn sie gehörten beide zu den Geschöpfen, denen Bewegung auch unter erschwerenden Begleitumständen Bedürfnis ist, und sie sahen die Welt stets freundlicher an, sobald sie ein paar hundert Schritte auf ihr gegangen waren.

Wie eine arme kleine Insel, die bald von den Sandwogen verschlungen sein wird, lag die Station mitten in der Wüste. Hinter ihr führte eine Straße landeinwärts; eigentlich bestand sie nur aus ein paar Räderspuren, und der Ort war so unendlich verlassen und trostlos, daß man gar nicht begriff, wie es von hier aus überhaupt noch irgend wohin [178] weitergehen könne. Wie Beatrix und Shorty so dastanden und hinaus in die Leere starrten, bemerkten sie in der Ferne auf dem Wege zwei dunkle Punkte, die sich rasch in der Richtung nach der Station bewegten; bald erkannten sie, daß es zwei Reiter waren, die ihre Pferde zu äußerster Schnelligkeit antrieben. Offenbar wollten sie noch den Zug erreichen. Aber auch in diesem Lande der vielen Zeit müssen Züge schließlich einmal abfahren. Die Lokomotive pfiff, Beatrix und Shorty stiegen ein, blieben aber auf der kleinen Plattform des Privatwagens am Ende des Zuges stehen. Da, als die Räder sich eben zu drehen begannen, kamen die zwei Reiter in wildem Galopp an die Station gesprengt. Der eine sprang vom Pferde, warf dem andern die Zügel zu und stürzte nach dem Zug. Der rollte aber eben vorbei. Doch der Reisende, rasch entschlossen, griff nach dem Geländer der Plattform am letzten Wagen und schwang sich auf das Trittbrett. Beatrix prallte zurück, Shorty aber fuhr dem Eindringling laut kläffend entgegen, und sein Gebell klang so wütend, daß Mr. Sharemill von seiner Korrespondenz und Mrs. Sharemill von ihrem Roman aufsprangen und herzueilten, gefolgt von ihrem schwarzen Diener.

»Dies ist ein Privatwaggon, Sir,« sagte der Neger verweisend.

[179] Der Fremde aber zog den hohen, spitzen Sonnenhut, ein blondes blauäugiges und unverkennbar nordisches Haupt entblößend: »Verzeihen Sie diesen Überfall,« stammelte er, nach Atem ringend, »aber ich mußte durchaus mit diesem Zuge zurück. Eine dringende Pflicht ruft mich nach Mexiko. Ein Räuber, der Züge anhält, bin ich übrigens nicht, obschon mein Benehmen diesen Glauben bei Ihnen und Ihrem Hunde hervorgerufen zu haben scheint. Gestatten Sie mir, mich vorzustellen: Graf Wardenskyold, schwedischer Gesandter in Mexiko.«

Mr. Sharemill zog aus den Tiefen seiner Hosentasche seine breite Hand und streckte sie dem Grafen entgegen: »Herr schwedischer Gesandter, entzückt, Sie kennen zu lernen.« Dann, dem plötzlichen Gedanken folgend, daß er hier vielleicht etwas von den geheimnisvollen Ränken der europäischen Diplomatie auf dem amerikanischen Kontinent erkunden könnte, fragte er: »Und darf man wissen, was Sie so dringend nach Mexiko ruft?«

»Gewiß,« antwortete der Graf, »die wichtigste Begebenheit des Jahres, das Diner des Präsidenten. Und beinah hätte ich es versäumt! Ich war hier in der Umgegend auf Jagd – habe übrigens rein gar nichts geschossen – auf dem Wege zur Station ward ich lang aufgehalten, da das Gepäcksmaultier [180] stürzte – und so habe ich mich zum Zuge verspätet.«

So hatte ihre Bekanntschaft begonnen.


Beatrix fand den zweiten Teil der Reise entschieden amüsanter als den ersten. Graf Wardenskyold war der erste Ausländer, den sie näher kennen lernte. Daß dieser Ausländer dazu ein Graf und Diplomat war, schadete ihm nichts in ihren an den Anblick schlichter Republikaner gewöhnten Augen; sie lernte in ihm einen neuen Typus kennen; seine Konversation, die von vieler Herren Länder und von Persönlichkeiten, denen auf der Weltbühne Hauptrollen zugefallen waren, zu erzählen wußte, eröffnete dem regen Geiste der schönen Amerikanerin Ausblicke in bisher unbekannte Gebiete, und die weichen Verkehrsformen, die diesem Sprossen einer alten Kultur so ungezwungen zu Gesichte standen, gaben seiner verhüllten, aber unverkennbaren Bewunderung für ihre eigene graziöse und elegante Erscheinung einen besonderen Reiz.

Mrs. Sharemill fand den neuen Reisegefährten von Anfang an reizend, denn er erwies ihr Aufmerksamkeiten, an die diese amerikanische Mutter längst nicht mehr gewöhnt war.

[181]

Den Ausführungen Mr. Sharemills über die Behring-Magelhaens-Bahn konnte Graf Wardenskyold stundenlang lauschen, denn er besaß die wichtige Diplomatengabe, ein liebenswürdiger Zuhörer zu sein, und er erkannte in diesen Vorträgen auch sofort eine Fundgrube für Stoffe künftiger Berichte, an denen es ihm sonst zuweilen in Mexiko gebrach.

Der einzige, der sich gar nicht mit dem Schweden befreunden konnte, war Shorty. Die amerikanischen Menschen waren von der Liebenswürdigkeit des Fremden rasch gewonnen worden, ihr Hund aber sah stets in ihm nur den frechen Eindringling, der ohne Umstände in den amerikanischen Privatwaggon gesprungen war. Dieser Anfang der Bekanntschaft hatte bei Shorty einen so tiefen Argwohn hinterlassen, daß er das Gefühl hatte, jeden Sessel im Waggon und vor allem seinen eigenen Platz auf der Reisedecke gegen den Ausländer verteidigen zu müssen; er knurrte, sobald der Graf in seine Nähe kam und begriff nicht, wie seine Herrin so freundlich gegen ihn sein konnte. Wäre doch nur Leutnant Short dagewesen! Der hätte sicher seine Gefühle geteilt.

Aber Leutnant Short war weit weg, auf dem Wege nach Manila, und ahnte nicht, wie sehr die Monroe-Doktrin durch einen schwedischen Gesandten [182] gefährdet wurde an einem Punkte der Welt, wo ihr einziger Verteidiger ein wackerer, weißer, braungefleckter Hund war!

Auch nach der Ankunft in der Stadt Mexiko verbesserte sich das Verhältnis zwischen Shorty und dem Grafen nicht, und es schien überhaupt, als ob sich des Hundes Charakter jetzt von Tag zu Tag verbittere. Er besaß offenbar keine Diplomatennatur, denn er zeigte sich im Auslande keineswegs von der liebenswürdigsten Seite. Es war eben in Mexiko doch gar zu ausländisch für seinen Geschmack! Er stellte beständig Vergleiche zwischen Washington und dieser fremden Stadt an. Dort war er zwischen amerikanischen Soldaten und Offizieren aufgewachsen, hatte das Stern- und Streifenbanner über sich rauschen gehört, und wenn er in den Straßen Washingtons unter schattigen Bäumen wandelte, waren ihm zwar viel fremde Hunde der verschiedensten Rassen begegnet, zottige russische Windhunde, mißgünstige englische Doggen, gelehrige deutsche Pudel und so manches kleine kläffende Hundegesindel – aber sie alle hatten in ihm den Amerikaner, den Hund des Landes verehrt und hatten mit ihm schön getan. – Hier war das alles nun ganz anders! Er fühlte sich vereinsamt, und niemand kümmerte sich viel um ihn. Er gelangte zur bedrückenden Erkenntnis, daß [183] vieler Nationen Flaggen auf Erden wehen, und daß die seinige in Mexiko vielleicht gefürchtet, sicherlich aber nicht geliebt ward. Er mußte sich sogar gestehen, daß er sich den Mitfremden, die aus Europa gekommen waren, innerlich verwandter fühlte, als den Einheimischen dieses Landes, denen er doch als Angehöriger einer nachbarlichen Schwesterrepublik zu nahen geglaubt hatte. Die Eingebornen hatten so gar nichts von dem an sich, was er bis dahin als Merkmale amerikanischen Wesens angesehen hatte, und Shorty sagte sich, daß über die dereinstigen Schienen der Behring-Magelhaens-Bahn viele Züge laufen müßten, bis eine Verschmelzung dieser so ungleichartigen Elemente zu stande käme.

Litt Shorty seelisch am Heimweh, in das sich ja immer ein Tropfen Überschätzung des eigenen Wertes mischt, so litt er körperlich unter der Höhenlage des Ortes, hatte Atembeschwerden und fühlte bei jeder raschen Bewegung das stürmische Hämmern seines Herzens, von dessen Existenz er früher gar nichts gewußt. Mehr und mehr zog er sich mißfällig von allem zurück und lebte ganz auf der Reisedecke, die er schon im Waggon okkupiert hatte und die nun wieder auf dem Sofa im Salon seinen Lieblingsplatz bildete.

Graf Wardenskyold war auch in Mexiko in [184] regem Verkehr mit der Familie Sharemill geblieben und hatte Beatrix fast ebensoviel wie auf der Reise gesehen. Mit seiner Hilfe war ein Haus gemietet worden – es geschah überhaupt alles mit seiner Hilfe. Seine dienstlichen Geschäfte mußten nicht eben bedrückend sein, denn er stand den Damen immer zur Verfügung, dolmetschte für Mrs. Sharemill, suchte für Beatrix Reitpferde aus und führte Tochter und Mutter in das Diplomatenfach par excellence, das Sammeln altertümlicher Raritäten, ein. Er gab auch ihnen zu Ehren eine Reihe Diners, bei denen er sie mit der fremden und einheimischen Gesellschaft bekannt machte. Die schöne Beatrix erregte überall das größte Gefallen, wenn auch die mexikanischen Mütter über ihr unabhängiges Wesen die Köpfe schüttelten und die mexikanischen Jünglinge aus diesem Typus des modernen Mädchens nicht klug wurden, von der bald erzählt ward, daß sie, bei schon dämmernder Stunde allein spazieren gehend, von einem kleinen, schmächtigen Herrn angeredet worden sei: »Darf ich Sie begleiten?« Worauf sie ihn von der dreifachen Höhe ihrer sieghaften Schönheit, ihrer 5 Fuß 9 Zoll und ihres jungamerikanischen Bürgertums herab angeschaut und geantwortet habe: »O gewiß, wenn Sie sich fürchten, allein zu gehen!«

Sobald das neue Haus eingerichtet war, begann[185] Mrs. Sharemill oder vielmehr Beatrix zu empfangen und Feste zu geben mit einer Unternehmungslust und Freigebigkeit, wie sie sonst in dem in tropischem Mittagsschlaf brütenden Mexiko nicht üblich waren. Shorty mißbilligte dies alles im höchsten Grade, aber es entsprach Beatrix' persönlicher Geschmacksrichtung ebensosehr, wie väterlicher Weisung, denn Mr. Sharemill wollte die panamerikanische Elektroschnellbahn auf diese Art sozial populär machen. Er selbst hatte sofort ein Bureau der neuen Bahnunternehmung eröffnet, dessen Tür mit einem großen Plakat geschmückt war, auf dem die Kontinente von Nord- und Südamerika als zwei Frauengestalten dargestellt waren, die sich in der Gegend des Isthmus von Panama einträchtiglich die Hände reichten. Darauf reiste er in das Innere des Landes, um die Trace der künftigen Bahn zu besichtigen.

Nachdem Beatrix alle Antiquitätenladen durchsucht, alle Ausflüge in die Umgegend gemacht und alle irgend einladbaren Menschen eingeladen hatte, begann sie inne zu werden, daß Mexiko eine Stadt ist, deren Möglichkeiten rasch erschöpft sind. Sie setzte sich jetzt oftmals neben Shorty auf das Sofa, lehnte ihr musterhaft frisiertes Köpfchen gegen sein glattes weißes Fell und flüsterte ihm leise zu: »Shorty, hier ist es doch wirklich gar nicht amüsant!« [186] Shorty seufzte überlegen, als wollte er sagen: »Das hab ich viel früher als du erkannt.«

In solchen Stimmungen waren die Besuche des Grafen Wardenskyold besonders wirkungsvoll. Neigung zwischen zwei jungen Menschen ist eine Pflanze, die auf Boden verschiedenster Art gedeiht – viel häufiger, als man glaubt, auf dem der Langweile. Es war zudem schmeichelhaft für Beatrix, von einem Manne, der die ganze Welt kannte, zu hören, daß sie seiner Überzeugung nach geeignet wäre, auf einer glänzenderen gesellschaftlichen Bühne, als Mexiko sie bot, eine leitende Rolle zu spielen. Die Gespräche zwischen den beiden drehten sich immer mehr um das diplomatische Leben in großen Residenzen. Beatrix ließ sich von Hoffesten und Botschafterempfängen erzählen und lauschte gespannt des Gesandten Andeutungen, daß Diplomatenfrauen durch geheimnisvollen persönlichen Einfluß bisweilen die Geschicke von Völkern gelenkt hätten. Die junge Amerikanerin, die bis dahin hauptsächlich in einem Eisenbahnmilieu gelebt, dachte sich das ungefähr so wie eine Fahrt, die sie einst mit ihrem Vater, auf der Lokomotive neben dem Zugführer stehend, gemacht, der auf ihr Geheiß die Maschine zu schnellstem Laufe angetrieben hatte. Sie glaubte noch das prickelnde Gefühl von Macht und Aufregung zu empfinden, mit dem sie damals [187] in rasendem Tempo durch den Raum gesaust war!

Sich selbst noch unbewußt, hegte Beatrix aber doch auch schon weichere Gefühle für den Grafen, als man sie für einen Kollegen in der Lokomotivlenkung verspürt. Sie offenbarten sich ihr ganz plötzlich an einem Nachmittag. Shorty lag wie gewöhnlich mißmutig auf seiner Decke, Beatrix saß hinter ihrem Teetisch und schenkte gerade Tee ein für verschiedene jüngere Diplomaten, die sich zu dieser Stunde um sie zu versammeln pflegten, und, wie das nun einmal ihre Gewohnheit ist, von Versetzungsaussichten sprachen. Ein russischer Sekretär, der auch zu Beatrix' Courmachern gehörte, sagte zu Graf Wardenskyold: »Bei Ihnen soll ja ein großes Revirement bevorstehen, da werden Sie wohl dran kommen; Sie sind doch schon drei Jahre hier?«

»Ja«, antwortete der Schwede, »es ist schon möglich, daß man diesmal an mich denkt.«

Die Teekanne in Beatrix' Hand zitterte leise, was ihr eine ganz neue, rätselhafte Erscheinung war. Sie sann ihr nach, und während die Konversation weiter ging und die jungen Herren die Vorzüge der verschiedensten Posten erörterten, sah sie sich in dem kleinen Kreise um, und da stand plötzlich die Tatsache ganz klar vor ihr, daß, wenn Wardenskyold daraus geschieden wäre, keiner der [188] andren für sie Wert behalten hätte. Es waren ja lauter »nice boys«, wie sie zu sagen pflegte, aber was lag ihr im Grunde an dem kleinen Franzosen, der stets mit einem wohlpräparierten Witz ins Zimmer trat, an dem langen, schweigsamen Engländer, dessen Gedanken wie Polokugeln in weiter Ferne zu schweifen schienen, an dem Abkömmling der Konquistadoren, der sich so sehr vor dem gelben Fieber fürchtete? Was lag ihr gar an den Söhnen des Landes?

Ganz abgesondert von ihnen allen erschien ihr aber der Schwede. Unbeteiligte, so zum Beispiel Shorty von seiner Sofaecke aus, sahen in dem Grafen nur einen von vielen jungen Leuten, die um einen Teetisch saßen und einer jungen Dame den Hof machten. Für die junge Dame selbst war er aber da plötzlich der eine und einzige geworden. Denn jeder Mann findet einmal eine Frau, für die er etwas ganz besonderes ist, so alltäglich er den übrigen Menschen auch erscheinen mag.

Nachdem die Herren alle gegangen waren, dachte Beatrix lang über die plötzliche Entdeckung nach, denn sie gehörte zu einer Rasse, die immer klar sehen und dann handeln will. Sie erkannte, daß Wardenskyold die erste Rolle im Stücke ihres Lebens schon seit Monaten spiele, und sie beschloß, ihm diese Rolle dauernd anzuvertrauen, falls er sie nämlich[189] darum bäte. Aber hierin gerade entstand eine unerwartete Schwierigkeit, denn es vergingen mehrere Tage, ohne daß er sich blicken ließ, und Beatrix, die die ganze Angelegenheit mit der einer jungen Amerikanerin würdigen Ruhe und Überlegenheit hatte führen wollen, geriet in einen unvorhergesehenen Zustand des Hangens und Bangens und ward mehr und mehr von den eigenen Gefühlen überwältigt, als sei sie eine simple Europäerin. Für ihre Umgebung war dies unbequem, denn sie wurde nervös und reizbar, aber wie alles Anormale in Mexiko wurde auch dies auf die Höhenlage und dünne Luft geschoben. Shorty aber hatte völliges Verständnis für seiner Herrin schlechte Laune, denn er selbst befand sich überhaupt nie mehr in einer andren. Er war besonders froh, daß sie sich vor Besuchern verleugnen ließ, da ihm die ausländischen Teetischjünglinge in der Seele zuwider waren. Nun würde man doch endlich Ruhe haben.

Da an einem Nachmittag, als Beatrix mit verschränkten Armen neben Shorty auf dem Sofa saß und mißmutig mit den spitzen Pantöffelchen auf den Boden schlug, ließ sich Graf Wardenskyold melden. Sie wollte in die Höhe schnellen, zwang sich aber zu ruhigem Sitzenbleiben und empfing ihren Gast mit einer, wie sie glaubte, täuschend gespielten eisigen Gleichgültigkeit.

[190] »Guten Tag, Graf, bitte, setzen Sie sich«, sagte sie herablassend, wies aber doch auf den Sofaplatz neben sich. Der Schwede, der nicht recht wußte, was er von dem Empfang denken sollte, schien die Anwesenheit Shortys auf dem Sofa gänzlich zu übersehen und wollte sich eben niederlassen, als von der Decke ein böses Knurren erklang, der Hund sich aufrichtete und die Zähne nach ihm fletschte. Es ging aber doch auch wirklich über alle Hundegeduld, daß solch ein Fremder gar nicht behalten konnte, daß diese Sofaecke sein unantastbares Reich sei! Beatrix und der Graf konnten nun beide nicht ernst bleiben bei dem wütenden Ausdruck, mit dem Shorty dastand und den Eindringling anglotzte.

»Ihr Hund,« sagte Wardenskyold lachend, »verteidigt diese Decke, als würde mit ihr die Monroe-Doktrin selbst gefährdet. Aber wir wollen ihn nicht stören. Wie wäre es, Miß Beatrix, wenn wir ein bißchen in den Garten gingen? Es ist draußen so schön.«

Und sie gingen hinaus in den Garten, wo der Abendwind leise in den Eukalyptusbäumen säuselte und aus den großen weißen Glockenblüten der Florifundio süßer, betäubender Duft aufstieg. Shorty aber dehnte sich selbstzufrieden auf der Decke aus im stolzen Gefühl, das Feld behauptet zu haben.

[191] Als aber nach einem Weilchen der Graf und Beatrix aus dem Garten zurückkehrten, strahlend, als beschiene sie Frühlingssonne, und Mr. und Mrs. Sharemill herzukamen und ein allgemeines Händeschütteln und Beglückwünschen begann, da wandelte sich Shortys Selbstzufriedenheit in ratloses Erstaunen, und als er dann ganz begriff, was eigentlich vorgegangen, da verließ er sogar seinen Platz auf dem Sofa und schlich sich hinaus in patriotischer Empörung. Daß man ein amerikanisches Mädchen einfach wegnehmen könne, war dem armen Shorty nie in den Sinn gekommen. Er hatte mit aller Energie und wachsender Erbitterung sein Reich, die Decke, verteidigt – und darüber hatte er nicht bemerkt, daß sich der fremde Räuber an Kostbareres herangeschlichen und ihm Beatrix selbst entwendet hatte! Es war zum Heulen! Und Shorty heulte auch wirklich die ganze Nacht nach der Verlobung im Hofe und war nicht zu bewegen, in das Haus zu kommen. »Er heult nach dem Mond,« sagten die Menschen, aber seine Klage galt nicht dem Mond, sondern der schönen amerikanischen Maid, die an das Ausland verloren gegangen war.

Als der russische Sekretär Beatrix' Verlobung erfuhr, sagte er giftig: »Na, nun hat Wardenskyold die Versetzung nach Washington ja in der Tasche.« Und seine Prophezeiung erfüllte sich. Sehr bald [192] traf richtig das Telegramm ein, welches dem Grafen mitteilte, daß er bei dem großen Revirement zum Gesandten in den Vereinigten Staaten ernannt worden sei.

Die Hochzeit wurde beschleunigt, damit Beatrix ihren Mann gleich auf seinen neuen Posten begleiten könne. Sie hatte sich ausbedungen, daß Shorty ihr in das diplomatische Leben folgen solle, denn der arme Hund vertrage wirklich die Höhenlage Mexikos nicht und werde mit jedem Tage leidender. Graf Wardenskyold liebte Shorty zwar wenig, aber er war in der Stimmung, wo Männer nichts verweigern können, und so reiste denn der freie amerikanische Shorty als Hund einer fremden Gesandtschaft und obendrein einer eines monarchisch regierten Landes in seine Vaterstadt Washington zurück. Er litt unsäglich in all seinen politischen Überzeugungen, kam sich degradiert und annektiert vor und konnte sich absolut nicht daran gewöhnen, aus einem Napf zu fressen, auf dem Wappen und Krone prangten. Beatrix war ihm eine Enttäuschung und ein Rätsel. Wäre sie wenigstens traurig gewesen, hätte sie ihren schrecklichen Irrtum eingesehen! Aber sie war scheinbar strahlend – und hatte doch aufgehört, eine Amerikanerin zu sein!

Als nun das junge Paar sich mit Shorty in Washington etabliert hatte, gab Beatrix ein großes [193] Lunch für die Damen des diplomatischen Korps, um die neu eingerichtete Gesandtschaft einzuweihen. Shorty hatte sich zusammengerollt am Kamin hingelegt und suchte zu schlafen, um möglichst wenig von all dem fremden Treiben zu hören. Aber da drangen plötzlich bekannte Töne an sein Ohr. All die Damen sprachen ja Englisch, und zwar sein eigenes Yankee-Englisch! Er horchte gespannt auf – es war wirklich so!

Die Vertreterin eines großen nordischen Reiches erzählte eben von ihrer Vaterstadt Chicago, und die Gesandtin eines uralten Kulturvolkes, dessen Bildwerke wie Boten aus einer fernen Welt der Schönheit in unsren Museen stehen, antwortete, sie stamme aus Milwaukee.

»Wie nett, daß auch Sie eine von uns sind,« sagte eine der Damen zu Beatrix.

»O ja,« antwortete diese, »ich bin eine echte Amerikanerin aus Dakota«.

Und eine Dame, deren Mann eine alte Monarchie vertrat, sagte mit reinster Hobokener Aussprache: »Gottlob, daß wir uns also Ihrethalben, liebe Gräfin, nicht mit einer der dummen fremden Sprachen abzuquälen brauchen. Ist doch eine zu törichte Erfindung! Da fährt man drüben in der Alten Welt einen Tag lang Eisenbahn und muß mehrmals an sogenannten Grenzen umsteigen und soll an jeder [194] eine neue Sprache kennen! Schrecklich kompliziert und unpraktisch! Wir sind doch weit größer wie das ganze Europa, und mit einem Waggon und einer Sprache kommt man von einem Ende der Union zum andern. Als ich mich verheiratete, habe ich auch gleich dem Marquis Guido die Bedingung gestellt: in meiner Gesandtschaft wird nur Englisch gesprochen.«

»Ja, heute sind wir wirklich mal ganz unter uns,« sagte eine Dame, indem sie sich im Kreise all dieser hübschen, jungen und eleganten amerikanischen Frauen umsah.

Da öffneten sich die Flügeltüren, und ein gepuderter Lakai meldete: »Die türkische Botschafterin«.

Shorty spitzte die Ohren und öffnete die Augen weit, denn er war gespannt, die Vertreterin eines Landes kennen zu lernen, von dem ihm erzählt worden war, daß dort die Männer so weise seien, den ihm selbst so sympathischen polygamischen Institutionen zu huldigen.

Die Botschafterin trat ein, aber siehe da, es war keine orientalische Haremschönheit, wie Shorty sie erwartet hatte, sondern eine magere, blasse Frau mit überfeinem nervösen Gesicht, in Kleidung, Gang und Sprache eine echte Newyorkerin.

Denn auch der Halbmond hatte geglaubt, in Washington heller zu glänzen, wenn er einen mit [195] einer Amerikanerin verheirateten Vertreter dorthin sandte.

Doch schon wieder öffneten sich die Flügeltüren, und der Lakai meldete: »Die japanische Gesandtin.«

»O, das ist die Neuangekommene,« sagte die Türkin, »ich habe sie noch nicht kennen gelernt.«

Und herein rauschte eine jener schönen großen blonden Frauen, wie Gibson sie zeichnet und wie sie unter Madame Chrysanthemes Schwestern nicht vorzukommen pflegen.

»Was, bist du das, Grace Dodd?« rief die Türkin verwundert.

»Aber Bella Sharp! Ist's möglich?« antwortete die Japanerin erstaunt.

»Grace Dodd heiße ich allerdings nicht mehr, sondern Grace Isawara Hokowisi.«

»Und ich nicht mehr Bella Sharp, sondern Bella Ali Zulfikar Pascha.«

»O Bella! Wer uns das in der Schule gesagt hätte, daß wir uns hier wiederfinden würden, du als Türkin, ich als Japanerin!«

»Nun, was mein Türkentum betrifft, so nehme ich das leicht,« antwortete die Botschafterin. »Die Sache wirkt nämlich umgekehrt, und Ali Zulfikar ist bereits ganz leidlich amerikanisiert. Aber sag mir, wie bist du nach Asien geraten?«

[196] »Nach Asien?« fragte Grace, »ach, da war ich ja nie. Ich lernte Isawara Hokowisi im Hotel in San Francisco kennen. Es war nachts. Ich schlief in meinem Zimmer im sechzehnten Stock. Plötzlich weckt mich Feuerlärm. Mit einem Satz bin ich an meiner Tür, da schlagen mir schon Flammen aus dem Korridor entgegen. Ich laufe zurück an mein Fenster. Unten in der Straße haben sich Leute angesammelt, sie schreien mir zu, ich solle mich an den äußeren eisernen Balkonleitern hinablassen. Ich aber stand da wie gelähmt – da plötzlich sehe ich, wie jemand an diesen schmalen, geraden Leitern zu mir hinauf klettert – es war Isawara Hokowisi. Alle Welt weiß ja, wie gewandt und mutig die Japaner sind. Oben angelangt, ergreift er mich, ich schließe die Augen – vor Schwindel und auch weil ich doch nicht viel anhatte – und fühle nun wie er mich den grausigen Weg hinabträgt und zieht. Aber plötzlich bleibt er stehen, als wir ungefähr auf der Höhe des zehnten Stockes angelangt sein mußten, und fragt mich ganz ruhig, ob ich ihn heiraten wolle. Unten schreien die Leute: Rasch, rasch 'runter, sonst stürzt das Haus ein! Isawara Hokowisi aber hielt mich fest: Ja oder nein? Na, ich sagte ja – wir konnten doch auch nicht immer da oben zwischen Himmel und Erde auf der Höhe des zehnten Stockwerkes schweben [197] bleiben. Nachher entdeckte ich, daß er nur Attaché beim japanischen Generalkonsulat in San Francisco war – nicht gerade eine glänzende Stellung – aber kaum war unsre Verlobung in Tokio bekannt, da traf von dort ein Telegramm ein, das ihn zum Gesandten in Washington ernannte.«

»Ach, genau wie bei meinem Mann auch,« rief Beatrix.

»Ja,« fuhr Grace Isawara Hokowisi mit wichtiger Miene fort, »in Japan will man jetzt doch in nichts hinter den Europäern zurückstehen, sondern in allem auf der Höhe der Situation sein – sobald man daher in Tokio erfahren, daß die europäischen Regierungen nach Washington nur noch Vertreter senden, die amerikanische Frauen haben, suchte man nach einem japanischen Beamten, der dieses Haupterfordernis für den Posten besäße, und da war mein Mann der einzige.«

»Das Dejeuner ist serviert,« meldete einer der gepuderten Lakaien.

All die reizenden, eleganten amerikanischen Ausländerinnen schritten nun paarweise, je nach Rang und Anciennetät ihrer europäischen Gatten, in das große Speisezimmer, aus dem ihnen der Duft ihrer Blumenschwestern, der langstieligen, purpurroten American Beauty-Rosen, die den Tisch schmückten, entgegenflutete. Wie die Damen so [198] an Shorty vorbeidefilierten, musterte er sie kritischen und doch zärtlichen Blicks, wie Heimatprodukte, die auf ferner Weltausstellung mit vielen Rivalen in Wettbewerb treten sollen. Aber er sagte sich auch sofort voll nationalen Selbstgefühls, daß sie wahrlich keine Vergleiche zu scheuen brauchten, daß sie die eigene Rasse mit Anmut und Schönheit repräsentierten und daß daher auch die Länder, die zufällig ihre offiziellen Vaterländer geworden waren, auf diese Vertreterinnen nur stolz sein könnten. Shorty stimmte auch völlig bei, als er Grace Isawara Hokowisi, ehe sich die Türen des Speisesaales hinter ihr schlossen, in gedehntem, durch ihr niedliches Naschen gezogenem Englisch sagen hörte: »O ja, unsre fremden Männer sollten sein sehr dankbar gegen uns Amerikanerinnen.«

Zum erstenmal seit langer Zeit füllte sich des armen Shortys bekümmertes Herz wieder mit froher Zukunftszuversicht. Amerika, das ihm seit Beatrix' Heirat um sein Bestes beraubt gedünkt hatte, war offenbar gerade jetzt im Begriff, auf seltsamem Umweg seinen Einfluß über die ganze Welt auszudehnen. Was Shorty von seinen schönen Landsmänninnen gesehen und vernommen, hatte des Patrioten Sorgen verscheucht. Er fühlte, daß er ums liebe Vaterland wahrlich ruhig sein könne. In der wohltuenden Wärme des Kamins schlossen [199] sich seine Augen... die Monroe-Doktrin?... (er blinzelte und gähnte)... ach, das war ja eine alte, abgetane Geschichte, die brauchte man gar nicht mehr... (Shorty dehnte sich noch einmal, um die Behaglichkeit des Einschlafens voll auszugenießen)... mochten sich doch die dort drüben lieber eine neue Lehre zum Schütze ihres armen, alten Erdteiles ausdenken.

Shorty schlummerte nun wirklich und schnarchte gemütlich. Er träumte... träumte von einer sich stetig ausbreitenden Flagge... Sterne glänzten an ihr... und die Sterne waren lauter reizende Frauenköpfe – ja, ja... die Amerikanisierung der Welt würde fortschreiten... durch die amerikanischen Frauen... vor allem... durch... die amerikanischen Diplomatenfrauen....

[200]

Das Geheimnis des Amerikaners
Eine überholte Geschichte.

[201] [203]Diese Geschichte trug sich einst in Peking zu in einer jener Perioden politischer Windstille, wenn der Schritt der Zeit innezuhalten scheint und die wie Zwischenakte in der großen ostasiatischen Tragikomödie sind.

Alle Regierungen waren der chinesischen Frage gründlich überdrüssig. Monatelang waren die Staatskanzleien durch mühsame Verhandlungen in Atem erhalten worden, die endlich mit einem in Peking unterzeichneten Vertrag ihren Abschluß gefunden hatten. Die ganze offizielle Welt seufzte erleichtert auf.

Die in Peking beglaubigten fremden Gesandten, die des Ernstes der Lage halber schon lange ihren Posten nicht mehr hatten verlassen können, erbaten sich nun einige Monate Urlaub, um sich in ihren Heimaten zu erholen, wobei sie alle ihre ersten Sekretäre aufs wärmste als Geschäftsträger empfahlen. Wenn ein Gesandter auf Urlaub gehen will, entdeckt er allemal ganz hervorragende Eigenschaften in seinem ersten Sekretär.

[203] Dem billigen Verlangen der Gesandten ward entsprochen, und nacheinander verließen sie das Vater land des Prinzen Tuan und seiner Boxer, ihre sorgenvollen, sphynxartigen Mienen hinter den hohen Mauern Pekings zurücklassend. Als sie sich erst an Bord der Schiffe befanden, die sie entführen sollten, und sie die braunen Takuforts im Nebel verschwinden sahen, waren diese gewichtigen Persönlichkeiten zu ausgelassenen Schulknaben geworden, die auf Ferien gehen.

Der Sommer ließ sich ruhig und friedlich an. Ein allgemeiner guter Wille, der aus sehr viel Ermüdung entstanden war, herrschte auf unsrer kleinen Erde.

Die leitenden Sterne auf den großen europäischen Staatsbühnen gingen nun ebenfalls auf Sommerurlaub und bei ihrer Abreise nach dem Meeresstrande, dem Gebirge oder den Kurorten, war die letzte Weisung, die sie ihren offiziellen Ersatzmännern erteilten: »Und um Himmelswillen hütet euch vor Verwicklungen in China!«

Demgemäß erhielten die in Peking als Geschäftsträger zurückgebliebenen ersten Sekretäre sämtlich dieselben Instruktionen, die sich alle über die Bewahrung der traditionellen Freundschaft für China, die Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit, die Entwicklung der natürlichen Reichtümer [204] des Landes und die Wiederbelebung des so unselig gestörten Handels ausließen, aber hinter diesen schönen Redensarten nur den einen Wunsch klar erkennen ließen, für lange hinaus nichts mehr von diesem fernen Lande zu hören, das man so tief und gründlich satt bekommen hatte.

Doch die Geschäftsträger teilten keineswegs diese Auffassung. Sie waren sämtlich von dem Wunsche verzehrt, sich auszuzeichnen und sich aus der Haut des alten China ein persönliches Ruhmesmäntelchen zu schneidern. Sie taten noch unendlich viel wichtiger, als jemals die Gesandten selbst getan hatten; jedes ihrer Worte, ihre ganze Haltung trug den Stempel zurückhaltender Würde und der etwas blasierten Schwermut jener, die die eigene Größe vereinsamt. Unausgesetzt posierten sie »Staatsmann,« als wären fortwährend die Objektive eines Photographen auf sie gerichtet – ja, mehr noch, als hafteten die Augen der ganzen Welt auf ihnen. Und das Schicksal, meinten sie, würde ihnen, sicherlich zu Hilfe kommen; sechs Monate waren eine lange Zeit, und während dieser Zeit müßte ja irgend ein bedeutungsvoller Zwischenfall eintreten, der ihnen die erwünschte Gelegenheit, ihre bis jetzt im Dunkel gebliebenen Talente ans Licht zu bringen, bieten würde. Sie überwachten sorglich jede Aktion [205] der chinesischen Regierung, sie beschützten ihre Staatsangehörigen, so wie diese noch nie beschützt worden waren, sie hätten zur Hebung des Handels jeden Untertan des himmlischen Reiches gern persönlich zum Ankauf fremder Erzeugnisse gezwungen, sie vertieften sich in die Finanz- und Bergwerksfragen, sie überwachten sich gegenseitig mit Eifersucht, sie häuften Bericht auf Bericht, Depesche auf Depesche.

Und hinter dieser staunenswerten Tätigkeit barg sich die Erwartung des so heiß ersehnten Zwischenfalles: ein Missionarsmord, ein Staatsstreich der Kaiserin, ein Putschversuch der Reformpartei, ein Volksaufstand, eine noch so kleine fremdenfeindliche Kundgebung – alles wäre ihnen willkommen gewesen! Und allabendlich beim Schlafengehen seufzten sie: »Na, morgen aber sicher!«

Doch Tag für Tag verging und brachte nur zunehmende Hitze und Staub. Dann begannen die großen Sommerregen auf die weiten Ebenen von Petschili nieder zu gehen.

Die Gesandten verbrachten gewöhnlich den schrecklichen chinesischen Sommer am Strand von Pei ta ho oder in irgend einem buddhistischen Tempel der benachbarten Berge, die Geschäftsträger jedoch harrten alle mutig in der Stadt der vielen Gerüche aus. Nicht an Ort und Stelle zu sein, [206] wenn endlich der gewisse Zwischenfall käme, hätten sie sich niemals verziehen.

In jenen Tagen wohnte im »Hôtel Tallieu« zu Peking ein Unternehmer aus Amerika. Man wußte, daß er große Viehherden und Weideplätze in Arizona besaß, und es hieß, er habe dem Prinzen Tsching den Vorschlag gemacht, die chinesische Kavallerie zu reorganisieren, indem er an ihre Spitze Cowboys aus Arizona stellte, da diese, wie er behauptete, in Cuba bei einem Roughrider-Korps glänzende Dienste geleistet hätten. Prinz Tsching, der damals gerade mit dringenderen Fragen beschäftigt war, hatte jedoch dem Projekt keine Folge gegeben. Seitdem wußte man nicht recht, was den amerikanischen Unternehmer noch in Peking zurück hielt.

An einem drückend heißen Morgen ließ sich Mr. Sharp – so hieß der Amerikaner – bei Herrn Jagomirsky melden, dem Geschäftsträger einer großen Nachbarmacht Chinas – (eigentlich eine ungenaue Angabe, da während der letzten Jahre fast alle Mächte Nachbarn Chinas geworden sind). Herr Jagomirsky befand sich in der denkbar übelsten Laune; abends vorher war er bis zu später Stunde im Pekinger Klub geblieben, wo man immerfort Durst hat, und während des Restes der glühend heißen Nacht hatte ihn ein blutgieriger, unter das [207] Bettnetz geratener Moskito um den Schlaf gebracht. Gleichwohl empfing er Mr. Sharp.

Beide Herren blieben etwa eine Viertelstunde im Arbeitskabinett des Geschäftsträgers eingeschlossen, worauf die schläfrigen chinesischen Boys, die im Vorzimmer etwas eingenickt waren, zu ihrem höchsten Erstaunen sahen, wie der große, der wichtige, der würdige Jagomirsky selbst, lächelnd und leuchtenden Auges, den kleinen amerikanischen Unternehmer bis zur Türe geleitete. Gleich darauf kehrte Jagomirsky in sein Kabinett zurück und rief den Boys den Befehl zu: »Ich wünsche unter keinen Umständen gestört zu werden, ich bin für niemanden zu sprechen«.

Mr. Sharp ging nicht ins Hôtel zurück. Er setzte seinen Weg durch die Gesandtschaftsstraße fort, sich an die Mauern drückend, die auf das blendende Weiß der staubigen Straße noch einen schmalen Schattenstreifen, gleich einem violetten Bande, warfen. Mr. Sharp blieb vor dem hohen roten Tor eines andern Gesandtschaftsgebäudes stehen und klopfte einigemale mit seinem Stock an die hölzerne Türe; ein chinesicher Portier in notdürftigster Toilette lugte verstohlen durch das kleine Guckloch in der Tür, um zu sehen, wer ihn wohl zu dieser Stunde stören mochte, und Mr. Sharp fragte ihn, ob sein Herr zu Hause sei.

[208] Der Geschäftsträger Waterstoppel war stets bei Tagesanbruch auf. Seit Stunden schon saß er an seinem Schreibtisch, bedeckte Seite auf Seite mit seiner kleinen, gedrängten Schrift und addierte lange Zahlenreihen aneinander. Er war nämlich mit der Abfassung eines seiner, wie er sie nannte, »Fundamentalberichte« beschäftigt, der in diesem Falle die annähernde Zahl der alljährlich im chinesischen Reiche verbrauchten Schuhe berechnete. Er war der schreibseligste Mann in Peking. Und das will etwas heißen.

Dicke Schweißtropfen standen auf Herrn Waterstoppels Stirn, als der Portier Mr. Sharp anmeldete. Sichtlich ungern trennte er sich von seinen Schreibereien und verschloß sie eifersüchtig in eine Schublade, auf daß ja kein indiskreter Blick seines Besuchers ihre statistischen Geheimnisse erhaschen könne. Dann schob er seine Brille bis über die Stirn hinauf, wodurch man seine kurzsichtigen Augen mit den zitternden Lidern gewahrte und erhob sich, um den amerikanischen Unternehmer zu empfangen.

Eine Viertelstunde später begleitete der korpulente, pomphafte Herr Waterstoppel, dessen Grundsatz es doch war, daß die persönliche Würde eines Vertreters immer groß genug sein müsse, um die Kleinheit des von ihm vertretenen Landes auszugleichen, [209] Mr. Sharp bis zum äußeren roten Tor des Gesandtschaftsgebäudes hinaus. Er bot ihm sogar zur Rückkehr ins Hotel seinen Maultierkarren an, Mr. Sharp lehnte jedoch dankend ab; hatte er doch, wie er sagte, viel schlimmere Hitze gekannt, wenn er in den Ebenen von Arizona einem verlaufenen Stück Vieh nachgaloppiert war.

In sein Haus zurückkehrend sagte Herr Waterstoppel dem Portier, daß er dringend zu schreiben habe, und der Chinese blickte ihm mit der scheuen Ehrfurcht nach, die seine Rasse noch für die hegt, die mit Schreibwerkzeugen arbeiten.

Es war glühend heiß geworden. Die Luft zitterte. Allenthalben stiegen schwüle Dünste auf. Mr. Sharp überschritt die Kanalbrücke und schlug die Richtung nach dem entgegengesetzten Ende der Gesandtschaftsstraße ein. Hier pochte er wieder an ein rotes Tor und verlangte Herrn Villamore zu sprechen.

Ein chinesischer Diener führte ihn in ein dunkles Gemach. Die Fensterläden waren geschlossen, aber durch ihre Spalten sickerten einige Lichtstrahlen herein. Allmählich unterschied Mr. Sharp einen umgeworfenen Stuhl und einen Tisch, dessen Decke heruntergerutscht war und im Herabgleiten mehrere Bücher, eine Flasche und einen Aschenbecher mit sich auf den Fußboden gezogen hatte. [210] Kleidungsstücke lagen in wirrer Unordnung umher. An der äußersten Wand des Zimmers stand ein Bett, das durch die Weiße seines Moskitonetzes dämmerte.

Mr. Sharp vernahm ein aus dieser Richtung kommendes, lang anhaltendes Gähnen, und nun wurden die weißen Vorhänge zurückgeschlagen und er erblickte einen Mann, der, im Bette sitzend, sich dehnte und seine Augen rieb. Er trug einen dünnen Schlafanzug, der seine langen abgezehrten Glieder erkennen ließ; breite, dunkle Ringe umgaben seine Augen, an seinem fleischlosen Halse traten die Muskeln wie Schnüre hervor, und seine Haare klebten von nächtlichem Schweiß an den eingefallenen Schläfen.

»Was, Sie sind's, Herr Sharp?« gähnte der Geschäftsträger Villamore. Dann bemerkte er plötzlich den Zustand seines Zimmers, rief auf Chinesisch seinen Boy, stellte ihn wegen der Unordnung zur Rede, und indes der Diener die Läden öffnete und schweigend aufräumte, überschüttete ihn sein Herr mit einer wahren Sturzwelle von chinesischen Flüchen. Alsdann wandte sich Herr Villamore an seinen Besucher:

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, Sie so zu empfangen, Sie sehen mich ganz bestürzt, aber auch, welche Nacht! welche Nacht! Oh, diese verteufelten kleinen Chinesinnen und all das Zeug, [211] was sie erzählen! Die lieben Kollegen, die nicht Dolmetscher gewesen sind, werden niemals wissen, was ihnen da entgeht. Was für Geheimnisse sind mir nicht schon auf einem Schlafpolster zugeflüstert worden.«

Mr. Sharp bekam noch einige Zeit die, in ein ganzes Netz von politischen und finanziellen Geheimnissen verstrickten, verliebten Erinnerungen Villamores zu hören. Denn Villamore verstand es, seine Neigungen mit Berücksichtigung der dienstlichen Interessen zu plazieren. Er bevorzugte stets »verteufelte kleine Chinesinnen«, die Beziehungen zu der offiziellen chinesischen Welt hatten, und so war er denn auch einer der wenigst schlecht unterrichteten unter den fremden Vertretern.

Nachdem sich seine Beredsamkeit erschöpft hatte, bat Mr. Sharp um die Erlaubnis, ihm nun seinerseits die Angelegenheit, die ihn herführte, vorzutragen.

»Sprechen Sie, sprechen Sie, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung,« versetzte der Geschäftsträger, nur mit Mühe eine neue Anwandlung zum Gähnen unterdrückend.

Eine Viertelstunde darauf verließ Mr. Sharp das Gesandtschaftsgebäude. Der Geschäftsträger hatte den Amerikaner bis zum Straßentor geleitet, obwohl er seine nackten Füße in aller Eile bloß in [212] Pantoffeln gesteckt hatte und sein Schlafanzug nur halb durch einen langen Bademantel verdeckt wurde, dessen Faltenwurf an eine antike Toga erinnerte.

»Und vor allen Dingen, mein lieber Sharp, vergessen Sie nicht, daß Sie morgen bei mir speisen,« sagte er und klopfte dem Amerikaner freundschaftlich auf die Schulter.

Dann ging er geradewegs in sein Arbeitszimmer und benachrichtigte seinen Boy unter einer Flut chinesischer Verwünschungen, es würde ihm übel ergehen, falls er ihn, durch wen es auch sei, stören ließe.


Am Abend dieses Tages gingen von Peking drei Depeschen nach verschiedenen Richtungen ab. Ein Spezial-Kourier, der wahrhaftig ganz wie ein Kosack aussah, brachte eine der Depeschen zu der nächsten Station einer der Bahnlinien, die in der Zukunft große Welthandelsstraßen werden sollen. Ein Kaufmann, der die finanziellen Hilfsmittel Chinas studiert hatte und nunmehr, aller Illusionen bar, nach Niederländisch-Indien zurückkehrte, übernahm die Beförderung der zweiten Depesche bis Singapore und von dort weiter. Die dritte wurde ganz einfach dem von Sir Robert Hart so umsichtig geleiteten Postdienste anvertraut.

[213] Darauf vergingen Tage auf Tage in trostloser Einförmigkeit. Man konnte jedoch bemerken, daß drei Geschäftsträger glücklicher und befriedigter als die andren aussahen. Diese drei schienen immerfort die Gesellschaft des Mr. Sharp aufzusuchen, dessen Existenz man bis dahin so ziemlich ignoriert hatte. Jetzt erhielt der Amerikaner häufig Einladungen in die drei Gesandtschaften und in den Pekinger Klub, einen gesellschaftlichen Vereinigungsort, der wie ein Gefängnishof aussieht, und wo seine neuen Freunde einander das Vergnügen streitig machten, ihn zu einem Cock-tail aufzufordern. Diese Sachlage konnte nicht lange den wachsamen Augen eines andren Geschäftsträgers, Herrn Fürette, entgehen, der überhaupt stets Herrn Jagomirsky mit eifersüchtiger politischer Liebe zu beobachten pflegte; er trachtete nun mit allem Geschick, von seinen drei Kollegen herauszubekommen, welches Motiv sie für diese in Peking so seltene Miene freudiger Stimmung haben könnten. Er bekam jedoch nur ausweichende Antworten.

Villamore erwiderte, er habe die Bekanntschaft einer kleinen Chinesin gemacht, entzückender als alle andren; sie sei die Adoptivtochter eines Eunuchen der Kaiserin, und er rechne darauf, durch dieses junge Mädchen wertvolle Auskünfte über die Intrigen am kaiserlichen Hofe zu erhalten. »Ein [214] Land durch seine Frauen studieren, das ist das Wahre!« rief Villamore.

Waterstoppel versicherte Herrn Fürette, die Statistik biete einem starken Geist zahllose Hilfsquellen der Befriedigung und vertraute ihm zugleich unter dem Siegel größter Verschwiegenheit an, daß er im Begriff stehe, einen Fundamentalbericht zu beenden, über die Anzahl der Stahlfedern, welche die fremden Fabrikanten alljährlich in China absetzen könnten, wenn man die Chinesen durch einen Vertrag zwänge, sich dieser kleinen, so bequemen Utensilien zu bedienen und den Gebrauch der Pinsel aufzugeben, womit sie seit Urzeiten ihre seltsamen Schriftzeichen malen.

Herr Jagomirsky gab Herrn Fürette zu verstehen, daß er als Vertreter der einzigen Macht, die in China große Politik treibe und eine Aktionslinie besitze, von der sie niemals abweiche, leichter als die andren Vertreter Anlaß zu Befriedigung finden könne, weil alle Zeitläufe, ob ruhige oder bewegte, ihm die Ernte der seit langen Jahren regelmäßig bestellten Saat zu bescheren vermöchten.

Doch Herr Fürette gab sich mit diesen Antworten nicht zufrieden. Er forschte weiter. Mit der jedem Diplomaten so unentbehrlichen Fähigkeit des Beobachtens und Kombinierens begabt, erkannte [215] er, dass Mr. Sharp auf unerklärliche Weise mit der geheimen Ursache der Zufriedenheit seiner drei Kollegen im Zusammenhange stand. Er beschloß dies Geheimnis zu ergründen, machte sich an Mr. Sharp heran und überhäufte ihn mit Aufmerksamkeiten.

Das Ergebnis aller seiner Schritte, der Liebenswürdigkeit, die er entwickelte, der Zuvorkommenheiten, womit er den amerikanischen Unternehmer zu gewinnen wußte, ließ nicht lange auf sich warten: eines Abends, nach einem ausgezeichneten Diner unter vier Augen, das mit den besten Weinen aus Herrn Fürettes Heimat befeuchtet worden war, rückte Mr. Sharp mit der Sprache heraus.

In derselben Nacht noch, sofort nach Weggang seines Gastes, setzte sich Herr Fürette an den Schreibtisch und verfaßte folgende Depesche:

»Streng vertraulich.
No...... Peking,

den.. August 19..


Herr Minister!


Ich beehre mich Euerer Exzellenz gehorsamst zu melden, daß ein gewisser p. Sharp, gebürtig aus dem Staate Arizona in den Vereinigten Staaten, wo er ausgedehnte Ländereien und zahlreiche Herden besitzt, sich zur Zeit in Peking befindet. Er sagt mir, daß er ein unfehlbares Mittel gefunden habe, [216] um das Geschlecht noch ungeborener Wesen nach Belieben zu bestimmen. Er gibt an, Tausende von erfolgreichen Versuchen bei Rindern und Pferden angestellt zu haben und behauptet zuversichtlich, daß sein Mittel sich mit der gleichen untrüglichen Wirkung auch auf die menschliche Rasse anwenden ließe. Mr. Sharp erzählt mir, er sei nach Peking gekommen, um sein Geheimnis dem Kaiser von China zu verkaufen, und er hätte auch sicherlich große Chancen gehabt, einen hohen Preis zu erzielen; denn, wie Euerer Exzellenz ohne Zweifel bekannt ist, entbehren die uns in allen Stücken so ungleichen Chinesen jeden chevaleresken Sinn für das schöne Geschlecht und betrachten die Geburt eines Mädchens als eine Schande und eine von den Göttern verhängte Strafe. Da sich jedoch der Zeitpunkt der Rückkehr des Kaisers, von seiner großen Reise an die entlegensten Ahnengräber, in seine gute Stadt Peking, angeblich noch nicht vorher sagen läßt, hat Mr. Sharp, der, wie all seine Landsleute Eile hat, darauf verzichtet, Seine himmlische Majestät zu erwarten. Wie ich anzunehmen Grund habe, hat Mr. Sharp meinem Kollegen von der X.schen Gesandtschaft, Herrn Jagomirsky, gewisse Anerbietungen gemacht und letzterer dürfte, über diesen für alle Völker, deren Schicksal mit der Fortdauer einer Dynastie verbunden ist, so hoch interessanten [217] Gegenstand, seiner Regierung Bericht erstattet haben.

Ich glaubte auf diese Tatsache die Aufmerksamkeit Euerer Exzellenz lenken zu sollen, deren hoher Einsicht es nicht entgehen dürfte, von welch weittragender politischer Bedeutung es sein würde, wenn wir Herrn Jagomirsky beim Ankauf des Mittels zuvorkämen, und es alsdann seinem Souverän zum Geschenk anböten, wodurch der befreundeten und verbündeten Nation wieder einmal dargetan würde, wie sehr uns ihre teuersten Interessen am Herzen liegen und wie völlig wir uns ihren intimsten Hoffnungen anschließen.

Ich darf den Verhaltungsbefehlen entgegen sehen, die Euere Exzellenz mir zu erteilen hochgeneigtest belieben werden.«


Nachdem er dies niedergeschrieben, legte sich Herr Fürette zu Bett und schlief wie einer, der weiß, daß sein Vaterland ihn binnen weniger Tage als großen Mann anerkennen wird.

Am nächsten Morgen ward die Depesche abgesandt.

Wieder verstrichen einige Tage. Das einzige interessante Vorkommnis in Peking war die Ankunft des berühmten Milliardärs, X. Y. Z. Wanderbald mit seiner jungen Frau. Sie waren auf ihrer Yacht gekommen, um Japan zu besuchen und wollten [218] nun nicht nach San Francisko zurückkehren, ohne die chinesische Hauptstadt, die Große Mauer und die Ming-Gräber gesehen zu haben. Anfangs gab dieser Besuch zu wilden Gerüchten Veranlassung, und man sprach von nichts geringerem als von der geplanten Pachtung der chinesischen »offenen Tür« durch einen amerikanischen Riesentrust. Bald jedoch mußte man sich davon überzeugen lassen, daß Mr. und Mrs. Wanderbald mit ihrem zahlreichen Gefolge einfach nur als Globetrotters reisten.

Während sie auf dem Wege nach der Großen Mauer waren, liefen drei chiffrierte Depeschen in Peking ein. Die eine war an Herrn Jagomirsky persönlich adressiert. Der Geschäftsträger entzifferte sie daher selbst, statt diese Arbeit wie sonst den jungen Dolmetscher-Eleven zu überlassen. Er las folgendes:

»Der Gegenstand Ihrer Geheimdepesche No..... hat mein Befremden erregt, und ich kann es mir nur aus einem Übereifer erklären, daß Sie sich dazu haben hinreißen lassen, mir einen so seltsamen Vorschlag zu unterbreiten. Ich will die Frage unerörtert lassen, ob unter gewissen rein physischen Gesichtspunkten selbst Allerhöchste Persönlichkeiten denselben Naturgesetzen unterworfen sein mögen wie andre Wesen. Keinenfalls würde ich mich jedoch je dazu bereit finden lassen, an der betreffenden [219] hohen Stelle in Anregung zu bringen, den von Ihnen erwähnten Abenteurer zu konsultieren. Sie werden ersucht, sich in Zukunft in Ihren Berichten auf die laufenden Geschäfte zu beschränken.«

Herr Jagomirsky, der seit Wochen davon träumte, daß beim dereinstigen Erscheinen des ersehnten Thronerben, der Dank des Vaterlandes auch ihm in der Ferne gebühren würde, war niedergeschmettert und machte seiner Enttäuschung in einem langen, unverständlichen Fluche Luft.

Herr Waterstoppel erhielt gleichfalls eine Depesche, und er entzifferte sie persönlich; denn nimmermehr hätte er diese Arbeit dem jungen Kanzlisten anvertraut, der von morgens bis abends seine endlosen Berichte mundierte. Die Geheimschrift war in den Augen des Herrn Waterstoppel wie das heiligste Mysterium des diplomatischen Kultes, und wenn er sich derselben bediente, fühlte er sich als Hohepriester, der eine heilige Handlung vollzieht. Nachdem er seine kleine Arbeit beendigt, las er folgende klare Übertragung der dunklen Zahlen, die man ihm telegraphiert hatte:

»Die Erfindung, von der Sie schreiben, ist wahrscheinlich die reine Charlatanerie. Indessen, wäre dem auch nicht so, so berührt sie doch eine Frage, in welcher der Hof sicherlich vorziehen wird, sich dem zu unterwerfen, was der Wille des Himmels [220] bestimmt. Mit Interesse werde ich Ihre Berichte über den Wiederaufschwung des Handels in China entgegen nehmen.«

Herr Waterstoppel las, putzte seine Brille und las noch einmal. Dann ließ er seinen großen Kopf zwischen die Schultern sinken, mit der kläglichen Miene eines armen Wichtes, dessen gute Absichten verkannt worden sind. Er verschloß eigenhändig den Chiffre in die Feuerfeste der Gesandtschaft und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, wo er sofort einen neuen handelsstatistischen Bericht begann. Denn Herr Waterstoppel war ein Mann von hervorragender Ordnungsliebe und von strengstem Pflichtgefühl.

Die dritte Depesche war an Herrn Villamore adressiert. Ein Zweifel darüber, wer dieses Telegramm entziffern würde, war ausgeschlossen, denn Herr Villamore kumulierte zur Zeit in seiner mageren Person die Funktionen eines Geschäftsträgers, Sekretärs, Dolmetschers und Kanzlisten. Er stellte den Chiffrierkasten auf die Tischecke zwischen einer Tasse Tee, einem Tintenfläschchen und einem zerknitterten Kragen und währenddem er im Chiffrierschlüssel nachschlug und die entzifferten Worte mit Bleistift auf seine Manschette notierte, summte er diese nach einer Melodie der »Bohême« vor sich hin:

[221] »Depesche No.... vom... erhalten. Bedaure unendlich, das Ihnen gemachte Anerbieten nicht annehmen zu können. Für derartigen Kauf keine Fonds disponibel. Da jedoch der Erfinder sein Geheimnis sicher einem andern Hof verkaufen wird, hoffen wir dasselbe von letzterem durch eine freundschaftliche Kombination zu erhalten. Sehr gerührt von Ihrem Eifer.«

Herr Villamore zündete eine Zigarette an, warf Chiffre und Papiere in einen halboffenen Koffer und machte sich, leise vor sich hinpfeifend, auf den Weg nach dem Klub.

Herr Fürette hatte noch keine Antwort auf seine Depesche erhalten. Von Stunde zu Stunde erwartete er sie. Er traute sich nicht mehr aus dem Hause zu gehen, wollte niemanden empfangen und blieb wie fest genagelt hinter einem Fenster seines Arbeitskabinettes stehen, von wo aus er die Eingangstüre überwachen konnte; ingrimmig trommelte er auf die Scheiben. »Seit einigen Tagen ist unser großer Mann unausstehlich,« sagte einer der jüngeren Herren der Gesandtschaft. »Sapristi ja! seine Nerven halten 's nicht mehr aus,« meinte ein zweiter, und mit einem Seufzer fügte der Dritte hinzu: »Das kommt von diesem schauderhaften Nest, wo man ja nie ein nettes Mädel zu sehen kriegt.«

Endlich eines Nachmittags, als seine Ungeduld [222] sich zu einer Art von physischem Leiden gesteigert hatte, überbrachte man Herrn Fürette die so brennend ersehnte Depesche. Er riß das Kuvert auf und entzifferte atemlos:

»Antwort auf Depesche No.... Wärmsten Dank für Ihr Anerbieten. Herzliche Glückwünsche zu dem Eifer, der Initiative, dem hohen Patriotismus, die Sie in diesem Falle bewiesen haben. Erstehen Sie das Geheimnis um jeden Preis. Wir geben Ihnen unbeschränkte Vollmacht, das Geschäft abzuschließen. Strengste Geheimhaltung und diskreteste Behandlung der Angelegenheit sind unerläßlich, um unsre Intervention aczeptabel zu machen. Senden Sie uns den Erfinder mit nächstem Postdampfer. Zählen Sie auf die Dankbarkeit der Regierung.«

Herr Fürette stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus. Er konnte sich an dem Telegramm nicht satt sehen und las es immer wieder, während seine durch langes Warten und Schlaflosigkeit angegriffenen Züge sich glätteten und allmählich einen Ausdruck triumphierenden Glückes annahmen. Endlich griff er nach Hut, Stock und Handschuhen und schritt mit der Miene eines Welteneroberers nach dem Hotel Tallieu, wo Mr. Sharp wohnte.

Wie er wieder heimkam, hat Herr Fürette niemals genau gewußt. Als er sein Zimmer betrat, schwankte er wie ein Trunkener. Sein Blick [223] glitt über den Spiegel, und er glaubte einen Fremden zu sehen, so bleich und verzerrt war sein Gesicht. Kraftlos ließ er sich vor seinem Schreibtisch auf den Sessel fallen und stieß dumpfe Laute aus, gleich den Klagen eines Tieres, dem man seine Jungen geraubt. Nach einiger Zeit zog er ein Blatt Papier an sich heran und schrieb mit zitternder Hand: »Ich habe die schmerzliche Pflicht, Euerer Exzellenz gehorsamst anzuzeigen, daß Mr. Sharp, Besitzer des in meiner Depesche No.... erwähnten Geheimnisses, seine Erfindung an Herrn X. Y. Z. Wanderbald verkauft und sich auf dessen Yacht nach San Francisko eingeschifft hat.«

Herr Fürette raffte noch die Kraft zusammen, die Depesche selbst zu chiffrieren, dann ließ er sie expedieren.


Neun Monate später las man in den Newyorker Blättern: »Mrs. X. Y. Z. Wanderbald, die reizende junge Frau des bekannten Multimillionärs, hat einem prächtigen Jungen das Leben gegeben. Wir freuen uns zu erfahren, daß Mutter und Sohn sich wohl befinden und bringen unsre aufrichtigen Gratulationen den beglückten Eltern des Baby Wanderbald dar.«

[224]

Notes
Erstdruck (anonym) der Buchausgabe: Berlin (Gebrüder Paetel) 1905.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Heyking, Elisabeth von. Der Tag Anderer. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6213-2