4. Schmach und Verzweiflung

Durch die Gassen Micromonas
Rennt es, fragt es, lamentiert es.
Weiber stehen an den Ecken,
Nieder hängt der Strickstrumpf, müßig,
Ob dem Eifer des Gespräches,
Polizeisoldaten suchen,
Vetter Hinz schlägt Vetter Kunzen
Auf die Schulter neubegierig,
Kinder lassen ruhn den Kreisel,
Alles rennt, fragt, lamentieret:
»Ach, wo blieb der kleine König,
Wo der Held, Don Tulifäntchen?«
[493]
Durch das Schloß von Micromona
Rennt es, fragt es, lamentiert es:
Trauer tragen die Hofdamen,
Die Frau Premierminist'rin,
Ringt die Hände pflichtbeflissen,
Schon seit vierundzwanzig Stunden
Sitzt der Staatsrat in der Sitzung.
Alles rennt, fragt, lamentieret:
»Ach, wo blieb der kleine König,
Wo der Held, Don Tulifäntchen?«
Vor dem Schloß von Micromona,
An dem Fenster hoch in Lüften,
Draußen mit der Schnur am Kreuze
Hing ein Vogel-Messingkäficht.
Diesen Drahtpalast bewohnte
Der Prinzessin Lieblingsgimpel,
Bis er starb, weh ihm! am Pipse.
Schadenfrohe Winde spielten
Mit dem Vogel-Messingkäficht.
Menschenschicksal! Was ist Größe,
Die der edle Mut sich anträumt?
Vogelkäficht! Messingkäficht,
In dir stak der kleine König,
Stak der Held, Don Tulifäntchen.
Bei der goldnen Sterne Glänzen
Trat zum Fenster die Prinzessin,
Und sprach so mit höhn'schem Worte:
»Tulifäntchen Fliegentöter,
Riesensieger, Mauerstürzer,
Wie behagt dir dieses Luftschloß?«
Nichts versetzte solchem Schimpfe,
Nichts der Held, Don Tulifäntchen.
Starr und stolz, stumm, ohne Seufzer,
Schwieg der großgesinnte Jüngling.
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Und sie rief voll gift'gen Hohnes:
»Ach, der Arme hat kein Futter,
Darum singt er nicht wie sonsten
Sein Trompeterstückchen kecklich
Von den Tätlein, die er übte.
Wart, ich hol' dir blanke Hanfsaat,
Füll' dein Schälchen dir mit Wasser,
Vögelchen soll mir nicht darben,
Auch Gesellschaft will ich senden,
Meise, Zeisiglein, Zaunkönig.«
Sprach's, und schlug das Fenster zu.
Auf von seinem Folterlager
Sprang der Held, Don Tulifäntchen,
Und sprach so zu seiner Seele:
»Klein erschufen mich die Götter,
Aber kleinen Herzens nicht.
Was zu tun nach solchem Tage,
Sei getan! Getan zu Nacht!«
Und er riß aus schwarzer Scheide
Rasch das gute Federklingschwert,
Küßt' es, warf es in die Tiefe.
Schob und hob, gestemmt, mit Mühe,
An der Falltür seines Kerkers,
Schweißgenetzt. Aufflog das Gatter,
Und der Held trat still zum Rande,
Blickte fest hinab, von drunten
Starrt' entgegen ihm der Abgrund,
Nächtig, grauenhaft, erschrecklich.

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TextGrid Repository (2012). Immermann, Karl. Versepos. Tulifäntchen. 3. Balsamine. 4. Schmach und Verzweiflung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-89B6-B