1. Die Eltern

Kennt ihr den Kartoffelkeller
Noch am erlengrünen Hügel?
Kennt ihr noch den treuen Gines,
Der in Wasser sich betrank,
Als er hofft' auf das Gestirne
Seines alten Herrenstamms?
Ach, der Hügel ist nicht grün,
Und der Gines ist nicht trunken,
Auf dem Hügel liegt der Reif,
Der Novembersturm umweht ihn,
Auf dem Gines liegt das Leid,
Und das Trauerkleid umhüllt ihn.
Seine Hände graben mühsam
[483]
An dem weißbereiften Hügel
Unter Tränen tief die Grube.
Kennt ihr noch den langen, hagern
Mann im zimmetbraunen Mantel,
Der so froh war im Besitztum
Seiner Ahnen? Tulifanten?
Sitzet nun gebückt am Sarge,
Seine beiden Hände halten
Eine weiße Totenhand.
Ja, ihr kennt die Hand der Toten,
Kennt die Tote, still im Prunkkleid
Von verblichnem, gelbem Atlas.
Seine Lippen öffnet klagend
Tulifant, der alte Degen:
»Nun steh' ich allein auf Erden!
Meine Donna ist gestorben,
Und mein Söhnlein ist verschollen,
Liegt wohl auch im Grab, dem kleinen.
O wann kommst du, Tod? Wann forderst
Du den letzten Tulifanten?«
Sieg und Segen! Fest und Glorie!
Paukenhall, Trompetenschmettern!
Kam ein Page, blau mit Silber,
Trug auf rotem Sammetkissen
Dar die Leiche einer Brummflieg':
»Dieses sendet, Heldenvater,
Tulifäntchen Fliegentöter,
Des Pantoffelordens Ritter!«
Sieg und Segen! Fest und Glorie!
Paukenhall, Trompetenschmettern!
Kam ein Page, weiß mit Lila,
Trug auf rotem Sammetkissen
[484]
Dar den Stift des Maschinisten:
»Dieses sendet, Heldenvater,
Tulifäntchen Mauerstürzer,
Erb- und Lehnsherr von Brambambra!«
Sieg und Segen! Fest und Glorie!
Paukenhall, Trompetenschmettern!
Kam ein Page, grün mit Golde,
Trug auf rotem Sammetkissen
Dar das Stück von einem Strumpfband:
»Dieses sendet, Heldenvater,
Hoheit Tulifäntchen Kronprinz,
Eidam Kön'gin Grandiosens!«
Aufschrie laut der alte Vater
Bei so ungeheurer Botschaft,
Faßte nach dem Herzen schmerzlich,
Weiß ward sein Gesicht, er lächelt'
Durch die letzte Pein so selig:
»Gleich muß ich zu Donna Tulpe,
Ihr von unsrem Sohn berichten!« –
Sprach's, und auf der Gattin Leiche
Fiel er, atmete den süßen
Freuden-Todesseufzer aus.
Die drei Pagen stehn bestürzet,
Trauer blasen die Trompeten,
Leichenklage hallt die Pauke;
Gines grub am Erlenhügel
Unter Reif und Wintersturme
Bei dem ersten Grab das zweite.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Immermann, Karl. Versepos. Tulifäntchen. 3. Balsamine. 1. Die Eltern. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-89C6-7