[83] [85]Klage

[85] Der Stein, den die Bauleute verworfen haben,

Der ist zum Eckstein geworden.

[86]
Meine Seele verdrießet mein Leben.
Ich will meine Klage erschallen lassen
Und reden von der Betrübniß meiner Seele.
Ein Gott hat mir den Mund geöffnet,
Ich kann nicht stumm sein.
Die Vorsehung hat mir ein Schwert gegeben,
Ich will es gebrauchen.
Darum will ich reden, wer es hören wird,
Dem werden seine beiden Ohren gellen.
Siehst du den Ackersknecht dort?
Auf dem Felde stehet er neben dem Pflug,
Neben Pferd und Rind.
Und er spricht mit dem Rind,
Und das Thier dreht sich um
Und brüllt
Und glotzt ihn an.
Und er stiert ins Blaue hinein. –
Die Sonne brennt,
So ist ihm heiß.
Der Wind weht kalt,
So friert ihn.
Das ist die Erkenntniß, die man ihm gegeben.
[87]
Und er peitscht auf das Pferd
Und er schlägt das Rind;
Aber die Peitsche, die ihm im Nacken sitzt, sieht er nicht,
Und wie er selber geschlagen wird, merkt er nicht,
Und welch' ein Menschenleben er dahinlebt,
Das weiß er nimmermehr.
Siehst du die Bergleute dort?
Beim Dämmermorgen aus den Hütten kommen sie,
Und das Grubenlicht blinkt,
Und wenn sie niederfahren, sagen sie glückauf!
Aber auf ihren Gesichtern da wohnt der Gram,
Und in ihren Hütten sieht es jämmerlich aus.
Lebendige Leichen sah ich sie in die Erde steigen,
Lebendige Leichen kamen sie wieder hervor.
Sie können nicht leben
Und wollen doch nicht sterben.
Und ihre Kinder und Enkel müssen sie sehen
Erbarmungslos in dasselbe Elend hineinwandern.
Aber in den Straßen der Stadt,
Darin die Menschen wimmeln,
Wenn du dicht an den Häusern gehest,
Kannst du es hören:
Schlag auf Schlag und spät und früh,
Wie das Herz gehet bei einem Fieberkranken,
So schlägt der Webstuhl
[88]
Und fliegt das Schiffchen durch,
Aber auf der Spule ist der Hunger aufgewickelt,
Und der wird hineingewebt
In die glänzenden Zeuge.
In dem Saal,
Wo die Kerzen hell schimmern
Und die seidnen Gewänder knistern und rauschen,
Da klingt der Reigen,
Und die jungen Gesichter strahlen
Fröhlich vom Tanz.
Und sie setzen sich Paar an Paar
Mit munterem Lachen
Zum schimmernden Mahle nieder,
Und die Pfropfen knallen und die Gläser klingen.
Aber auf das glänzende Gewebe dort fällt mein Blick,
Und daraus hervor grauenhaft
Das Gespenst des Hungers grinst mich an
Ueber den Tisch.
Siehst du das Gebäude dort mit den vielen Fenstern?
Und die hohen Schornsteine ragen
In den blauen Frühlingshimmel hinein?
Drunten,
In dem dunst'gen Raum,
Dort, wo der Dampf athmet,
Da spricht der Kessel
Mit zisch und zisch:
[89]
Du bist ein Mensch!
Du bist ein Mensch!
Laß dich nicht schinden!
Laß dich nicht schinden!
Aber droben,
In dem weiten Saal,
Wo die Spuhlen schwirren
Und die Räder sausen,
Kinder stehen da
Und knüpfen hastig
Mit ihren Händchen,
Und knüpfen immer
Ohne Ende –
Und sind doch Menschen
Und sind Kinder.
Aber unweit daneben, da zittert die Erde
Vom Stoß des Hammers
Und von den eisernen Schlägen,
Und es zischelt und es haspelt und es klopft
Wie tausend Hexengeister. –
Es ist Abend, da tönt ein Pfiff
Gellend laut,
Und da kommen sie heraus, trotz'ge Gestalten.
Ihnen blitzen die Augen kühn,
Und ihre kräftigen Arme
Möchten wohl einmal auf Anderes schlagen
Als das schuldlose Eisen.
[90]
Es geht ein gewaltiger Geisteshauch über die Erde,
Desgleichen auf Erden noch nie ist gespüret worden.
Er wühlet die Wellen auf vom Grund.
Dem Amboß hat es Einer gesagt,
Daß er aus demselben Stoffe gemacht sei
Wie der Hammer,
Und siehe, er will nun nicht länger Amboß sein.
Darob ist ein groß Entsetzen gekommen auf die Schläger alle;
Aber die Geschlagenen sind noch nicht besser daran
Denn zuvor.
Wie der Arzt pocht an den Leib des Menschen
Und horcht mit Sorgfalt, daß er ihm sage:
Hier bist du krank,
Und hier bist du schwer krank.
Aber heilen kann ich dich nicht
Und helfen kann ich dir nicht,
So ist die Erkenntniß zu ihnen gekommen
Ihrer Krankheit,
Und ist noch kein Arzt da, der ihnen helfe,
Und ihr Elend ist nicht auszusagen.
Seht doch, wie wunderlich es ihnen gehet.
Sie pflanzen das Land
Und säen die Saaten aus
Und bringen die Ernten ein,
[91]
Und dürfen doch der Frucht nicht genießen.
Sie bauen alle Häuser
Und können nirgend wohnen.
Sie machen Alles,
Sie schaffen Alles,
Und sie haben nichts.
Ein Unrecht geschiehet hier, wer kann es ableugnen?
Ein blutiges Unrecht geschiehet hier,
Wer wird es sühnen?
Der Kaufmann ist mir hochgeachtet,
Der für sich und die Seinen sich quält
In ehrlichem Erwerb.
Ihn schätze ich dem Landmann gleich,
Der den Acker bauet mit schwerer Hand
Und das Gespenst des Hungers abwehrt von dem Menschen.
Aber der Kaufmann ist ja auch elend.
Die Nachbarn lauern auf seinen Untergang;
Einer jagt den andern, daß er ihn verderbe.
Es ist ein Grauen mit anzusehn.
Und dazu müssen meine Augen sehen,
Wie das Blutsaugerthum schamlos waltet im Lande,
Und ist keine Schranke da, die ihnen Einhalt thut,
Und kein Richter auf Erden, der sie strafe.
Und die sich brüsten, die Ersten im Lande zu sein,
Und sich einbilden, anders geboren zu sein,
[92]
Als alle andern Menschen –
Das doch eine Beschimpfung der Menschenwürde ist
Und eine Lüge im Angesicht der Wahrheit
Und ein Kinderspott vor der ganzen Welt –
Die sind mitten darunter.
Und sie thun sich zusammen zu ganzen Banden
Und fallen das Volk bei hellem, lichten Tage an,
Daß sie es ausplündern.
Und dann lachen sie noch in sich hinein
Und rufen: das sind die Dummen!
Da es doch bloß die Unwissenden sind
Und die nicht sehen können.
Als ob es denn ein köstlich Ding sei und ein groß Werk,
Einen Blinden in den Graben zu stoßen,
Oder ein Kind anzulocken und auszurauben.
Und Viele, die ein Amt hatten zum Nutzen ihrer Mitmenschen,
Und das Amt war voll Mühe und Arbeit,
Die lassen ihr Amt und laufen jenen nach,
Damit sie auch mit Gier mögen Gold einscharren
Ohne Mühe und ohne Arbeit.
Und dafür tausend Elende müssen noch elender sein
Und noch mehr gequält und noch mehr geschunden.
Ich will meine Stimme erheben
Und rufen, daß man es weit höre:
[93]
Wer nicht arbeitet, der soll nicht leben!
Der Geist, der heut herrscht, ist eine Schmach den Menschen
Und eine tiefe Schande den Völkern!
Sein Gift frißt um sich wie der Krebs.
Sie haben sich steinerne Paläste gebaut,
Aber aus allen Ecken pfeift der Betrug heraus.
Wenn der Arbeitsmann vorbeigeht,
Er weiß nicht warum, aber er ballt die Hand zur Faust.
Auf seinen Aeckern da geht der Bauer
Und stöhnet hinter dem Pfluge her.
Es ist nicht die Arbeit, die ihn stöhnen macht,
Denn sie war sonst seine Lust gewesen.
Aber die Halme, die er mähen wird,
Sie sind nicht mehr sein,
Und sein Haus, darinnen seine Eltern gewohnt,
Er wird es bald verlassen,
Frage doch die Vögel unter dem Himmel,
Die werden dir's sagen.
Und haben sich öffentliche Blätter gemacht,
Die sprechen von Allem, was nicht ist
Und was nicht gewesen ist.
Aber was gerecht ist, das reden sie nicht,
Und was noth thut, das sagen sie nicht.
Nach Gewicht steht da das Talent zu Kauf,
Und talentvoll und gewissenlos
Ist bei ihnen einunddasselbe geworden,
[94]
Darum sind sie mit Grund gering geachtet.
Sie vernichten das Denken,
Das höchste Gut des Menschen,
Und sie machen stumpfsinnig anstatt zu belehren.
Und rühmen sich dessen mit Heuchellügen
Und nennen ihr Geldgeschäft
Eine Geisteswohlthat für das Volk.
Sie haben einen feinen Teppich über den Sumpf gebreitet
Und sehen wohl zu, daß nichts durchdringe.
Kinder schreiben darin
Und Närrische müssen die Welt regieren.
Das Schlagwort ist ihre Angriffswaffe,
Und die Phrasen sind ihr tägliches Brot.
Die Phrase aber ist der Betrug mit Worten,
Und das Schlagwörterthum
Der Mißbrauch gerechter Worte.
Wer gewohnt ist, mit klaren Blicken um sich zu schau'n,
Wer sich den schlichten Verstand nicht mag verrücken lassen
Und wer seine Sprache liebt, das edelste Geschenk,
Das dem Menschen ein Gott gegeben,
Der steht vor der Phrase
Wie vor den Schnalzlauten,
Die die Wilden in Afrika sprechen.
Ein Gemisch von Schallwellen schlägt an sein Ohr,
Er hört Laute und weiß keinen Sinn,
Wie Seifenblasen
[95]
Blähen sich die bunten Worte auf,
Und wenn sie geplatzt sind,
So ist darinnen das pure Nichts.
Aber dichtgedrängt stehen die Hörer umher
Und klatschen rasenden Beifall.
Und sein Gemüth wird von Trauer erfüllt,
Und ein unendlicher Ekel ergreift ihn.
Aber die Dichter, die heut leben,
Haben sie denn Augen, um nicht zu sehn?
Haben sie denn einen Mund, um nicht zu sprechen?
Ach! die besten von ihnen sind gar alt geworden.
Sie haben sich zurückgezogen in gerechtem Groll
Und schreiben nicht mehr,
Und die noch schreiben, sind nicht die besten.
Da ist keiner,
Der mit Ernst die Wahrheit möchte verkünden,
Ob schon die Spatzen auf den Dächern davon reden.
Da ist keiner, der das Schwert ergreift,
Das blitzende, scharfe Schwert,
Ein Lied zu singen zur rechten Zeit
Mit klingender Form,
Aber im Inhalt schonungslos, rücksichtslos.
Die Poesie ist zum Gewerbe geworden.
Wer am meisten bezahlt bekommt,
Ist unter ihnen der größte Dichter.
Was todt und begraben ist,
Dagegen kämpfen sie,
[96]
Und was keinem am Herzen liegt,
Das bringen sie vor.
Mit Stroh gehen sie schwanger
Und Stoppeln gebären sie.
Einen Stecknadelknopf Gold
Walzen sie zu einem bändigen Romane aus,
Und sie schläfern lieber die Gedanken der Menschen ein,
Statt neue zu wecken. –
Wüst und öde sieht es auf der Bühne aus,
Und ich habe Beifall klatschen sehn solchem Schund,
Daß ich nicht wußte, ob ich unter Irren war,
Oder in Gemeinschaft vernunftbegabter Menschen.
Und sie nennen sich selber Epigonen.
Wohl hat es Heroen in unserer Dichtkunst gegeben;
Aber im Staub vor ihnen zu liegen
Und im Gefühl der eig'nen Ohnmacht anzubeten,
Das ist Sklaven-Art.
Nicht also gebietet der Genius,
Sondern mit ernstem Munde spricht er:
Liebend sollst du dein Haupt vor ihnen beugen
Und dich freuen in deinem Herzen,
Daß du solche Vorbilder hast.
Aber mit stolzem Aufblick als ein freier Mann
Sollst du dir selber sagen:
Das Höchste in der Poesie aller Zeiten ist nicht so hoch,
Daß mir von Anfang verboten wär',
[97]
Es zu erreichen.
Gelingt es nicht,
So wird das Ziel adeln den Versuch
Und ihn bewundernswerth erscheinen lassen
Dort, wo er stehn blieb.
Damals,
Als ich umherging einsam
Und in mir selbst verlassen,
Verstanden von keinem,
Geliebt von keinem,
Und keinen Menschen auf Erden liebend,
Die du mir damals ein neues Leben gegeben
Und eine solche Blüthenfülle von Poesien,
Daß ich aufjauchzen mußte
Im tiefsten Elend:

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Jacoby, Leopold. Gedichte. Es werde Licht. Klage. [Meine Seele verdrießet mein Leben]. [Meine Seele verdrießet mein Leben]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8BC6-6