Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
nebst einigen Vorlesungen in Leipzig
über die Parteien der Zeit

Erste Abteilung

Inhalt der ersten Abteilung

Vorrede zur zweiten Auflage


Vorrede zur ersten Ausgabe


I. Programm. Über die Poesie überhaupt


§ 1 Ihre Definitionen – § 2 Poetische Nihilisten – Versäumung der Naturschule – § 3 Poetische Materialisten, Beispiele unpoetischer Nachäffung der Natur – Nachahmung derselben ist etwas Höheres als deren Wiederholung – § 4 Nähere Bestimmungen der schönen Nachahmung der Natur – Definitionen der Schönheit, von Kant, Delbrück, Hemsterhuis – § 5 Anwendung der beiden Irr-Enden und der Wahrheit am dreifachen Gebrauche des Wunderbaren gezeigt.


II. Programm. Stufenfolge poetischer Kräfte


§ 6 Einbildungkraft – § 7 Bildungkraft oder Phantasie – § 8 Grade der Phantasie; erster: allgemeine Empfänglichkeit – § 9 zweiter: das Talent; dessen Unterschied vom Genie – § 10 dritter: das passive oder weibliche Genie – Grenzgenies.


III. Programm. Über das Genie


§ 11 Vielkräftigkeit desselben – § 12 Besonnenheit, Unterschied der genialen von der unsittlichen – § 13 Instinkt des Menschen bezieht sich auf eine Welt über den Welten – § 14 Instinkt des Genies – gibt den innern Stoff, der ohne Form poetisch ist – neue Weltanschauung Merkzeichen des Genies – § 15 Das geniale Ideal – inwiefern die Anschauung des Ganzen allzeit poetisch und ideal werde.


IV. Programm. Über die griechische oder plastische Dichtkunst


§ 16 Gemälde des ästhetischen Griechenlands – § 17 daraus Ableitung der vier Hauptfarben seiner Poesie; erste oder Objektivität – § 18 zweite oder Schönheit oder Ideal, Einerleiheit des Allgemeinen, Reinmenschlichen und Edeln – § 19 dritte oder heitere Ruhe – § 20 vierte oder sittliche Grazie.


[11] V. Programm. Über die romantische Dichtkunst


§ 21 Das Verhältnis der Griechen und der Neuern; Ursachen der griechischen Überschätzung – § 22 Wesen der romantischen Dichtkunst-Verschiedenheiten der südlichen und der nordischen – § 23 Quelle der romantischen Poesie – § 24 Dichtkunst des Aberglaubens – § 25 Beispiele der Romantik.


VI. Programm. Über das Lächerliche


§ 26 Definitionen des Lächerlichen – Widerlegung der kantischen und einiger neuern – § 27 Theorie des Erhabenen als dessen Widerspiels – das Erhabene ist das angewandte Unendliche – fünffache Einteilung desselben – § 28 Untersuchung des Lächerlichen; es ist der sinnlich angeschauete Unverstand; drei Bestandteile desselben: der objektive, subjektive und der sinnliche Kontrast – § 29 Unterschied der Satire und des Komus – § 30 Quelle des Vergnügens am Lächerlichen.


VII. Programm. Über die humoristische Dichtkunst


§ 31 Begriff des Humors, als eines auf das Unendliche angewandten Endlichen – dessen vier Bestandteile – § 32 erster: Totalität – § 33 zweiter: die vernichtende oder unendliche Idee des Humors – § 34 dritter: Subjektivität – der komische Gebrauch des Ich – wie die Deutschen ihr Ich behandeln und setzen – § 3 5 vierter: Sinnlichkeit – im komischen Individualisieren durch Teile der Teile – durch Eigennamen – durch Umschreibung des Subjekts und Prädikats.


VIII. Programm. Über den epischen, dramatischen und lyrischen Humor


§ 36 Verwechslung aller Gattungen – Beispiele falschen Tadels und falschen Lobes – § 37 Ironie, als der epische Humor oder das Übergewicht des objektiven Kontrastes – § 38 Der ironische Stoff – Persiflage als Mittelding – § 39 Das Komische des Dramas – Unterschied des episch-komischen und episch-dramatischen Talentes – Übergewicht des objektiven und des subjektiven Kontrastes zugleich – § 40 Der Hanswurst als komischer Chor – § 41 Das lyrische Komische oder die Laune und die Burleske, Übergewicht des subjektiven Kontrastes – Notwendigkeit des Metrums bei der Burleske, sowie der Marionetten – komische Wichtigkeit ausländischer Wörter und der gemein-allgemeinen.

[12]
Vorrede zur zweiten Auflage

Um die strenge Form und die Gleichförmigkeit des Ganzen auch in der Vorrede zu behaupten, will ich sie in Paragraphen schreiben.

§ 1

Wer keine Achtung für das Publikum zu haben vorgibt oder wagt, muß unter demselben das ganze lesende verstehen; aber wer für seines, von welchem er ja selber bald einen lesenden, bald einen schreibenden Teil ausmacht, nicht die größte durch die jedesmalige höchste Anstrengung, deren er fähig ist, beweiset, begeht Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst und Wissenschaft, vielleicht aus Trägheit oder Selbstgefälligkeit oder aus sündiger fruchtloser Rache an siegreichen Tadlern. Dem eignen Publikum trotzen, heißt dann einem schlechtern schmeicheln; und der Autor tritt von seiner Geistes-Brüdergemeine über zu einer Stiefbrüdergemeine. Und hat er nicht auch in der Nachwelt ein Publikum zu achten, dessen Beleidigung durch keinen Groll über ein gegenwärtiges zu rechtfertigen ist?

§ 2

Dieses soll mich entschuldigen, daß ich in dieser neuen Ausgabe nach vier bis fünf Kunstrichtern sehr viel gefragt (§ 1) und auf ihre Einwürfe entweder durch Zusetzen oder Weglassen zu antworten gesucht; und der Jenaer, der Leipziger Rezensent, Bouterwek und Köppen werden die Antwortstellen schon finden.

§ 3

Besonders waren in diesem ersten Teil dem Artikel vom Romantischen berichtigende Zusätze unentbehrlich (§ 2), so wie dem [13] vom Lächerlichen erläuternde. Auch gepriesene Programme erhielten eben darum (§ 1) überall Zusätze.

§ 4

Im Programme über das Romantische (§ 2. 3) nahm ich besondere Rücksicht, widerlegende und aufnehmende, auf Bouterweks treffliche Geschichte der Künste und Wissenschaften etc. etc., ein Werk, das durch eine so vielseitige Gelehrsamkeit und durch einen so vielseitigen Geschmack – so wie desselben Apodiktik durch philosophischen Geist und schöne Darstellga be – noch immer auf ein größeres Lob Anspruch machen darf, als es schon erhalten. Wenn man einer Vielseitigkeit des Geschmacks in diesen absprechenden insularischen Zeiten, worin jeder als ein vulkanisches Eiland leuchten will, gedenkt: so werden Erinnerungen an jene schönere erfreulich und labend, wo man noch wie festes grünes Land zusammenhing, wo ein Lessing Augen, wie später Herder, Goethe, Wieland 1 Augen und Ohren für Schönheiten jeder Art offen hatten. Ästhetische Eklektiker sind in dem Grade gut, in welchem philosophische schlecht.

§ 5

Gleichwohl will niemand weniger als ich das neue ästhetische Simplifikations-System verkennen (§ 4) oder kalt ansehen, welches, so wie das Voglersche in der gemeinen Orgel, noch mehr in der poetischen die Pfeifen (nämlich die Dichter) verringert und ausmerzt; und Gleichgültigkeit dagegen wäre um so ungerechter, je höher das Simplifizieren getrieben wird, wie z.B. von Adam Müller, welcher seine Bewunderung großer Dichter (von Novalis und Shakespeare an) schwerlich über einen Postzug von vier Evangelisten hinaus dehnt, wobei ich noch dazu voraussetzen will, daß er sich selber mitzählt. Es ist kaum zu berechnen, wie [14] viel durch Einschränkung auf wenige Heroen der Bewunderung an Leichtigkeit des Urteils über alle Welt und besonders an einer gewissen ästhetischen Unveränderlichkeit oder Verknöcherung gewonnen wird. Letzte geht daher selber – aus Mangel des ästhetischen Minus-Machens – sogar guten Köpfen wie Wieland und Goethe ab, welche mehrmals ihr Bewundern ändern und anders verteilen mußten.

In diesen Fehler fallen neuere ostrazisierende (mit Scherben richtende) Ästhetiker schwerlich; sie sind, da sie im Urteilen wie im Schreiben sogleich kulminierend anfangen, keiner Veränderlichkeit des Steigens unterworfen. Man möchte sie mit den Kapaunen vergleichen, welche sich dadurch über alle Haushähne erheben, daß sie sich niemals mausern, sondern immer die alten Federn führen. Anständiger möchte eine Vergleichung derselben mit dem päpstlichen Stuhle sein, welcher nie einen Ausspruch zurückgenommen und daher noch im römischen Staatskalender von 1782 Friedrich den Einzigen als einen bloßen Marquis aufstellte. 2

§ 6

Sehr mit Unrecht beschuldigten Kunstrichter (§ 2 vergl. § II. 12) die Vorschule: »sie sei keine Ästhetik, sondern nur eine Poetik«; denn ich zeige leicht, daß sie nicht einmal diese ist – sonst müßte viel von Balladen, Idyllen, beschreibenden Gedichten und Versbauten darin stehen –, sondern, wie schon das erste Wort des Buchs auf dem Titelblättchen sagt, eine Vorschule (Proscholium). Es wäre nur zu wünschen gewesen, jeder hätte aus seiner eigenen geringen Belesenheit besser gewußt, was eine Vorschule im Mittelalter eigentlich geheißen; daher will ich, was darüber die folgende erste Vorrede zu kurz andeutet, hier in der zweiten weitläuftiger fassen. Nämlich nach Du Fresne III. 495. und ferner nach Jos. Scal. lect. Auson. l. I. c. 15. war – wenn ich auf den Pancirollus de artib. perd. bauen darf, aus welchem ich beide Citata citiere (Anführungen anführe) – – das Proscholium ein Platz, welchen ein Vorhang von dem eigentlichen Hörsaale abschied, und wo der Vorschulmeister (Proscholus) die Zöglinge [15] in Anstand, Anzug und Antritt für den verhangnen Lehrer zuschnitt und vorbereitete. – Aber wollte ich denn in der Vorschule etwas anders sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber? – Daher glaubt' ich aber auch meiner Konduitenmeister-Pflicht genug getan zu haben, wenn ich als Proscholus die Kunst-Zöglinge durch Anregen, Schönziehen, Geradehalten und andere Kallipädie so weit brächte, daß sie alle mit Augen und Ohren fertig daständen, wenn der Vorhang in die Höhe ginge und sich ihnen nun die vielen eigentlichen verhangnen Lehrer auf einem einzigen Lehrstuhle, nämlich dem ästhetischen, beisammen lehrend zeigten, ein Ast, ein Wagner, ein (A.) Müller, ein Krug, dazu Pölitz, Eberhard, hallische Revisoren und noch dreißig andere dazu. Denn bekanntlich ist der ästhetische Lehrstuhl ein Triklinium dreier Parteien (trium operationum mentis), nämlich der kritischen, der naturphilosophischen und der eklektischen.

§ 7

Aber leider gerade dieser ästhetische Dreimaster (§ 6) lud mehr als eine Rüge und Stinkblume für den armen Vorschulmeister aus. System vermißten fast alle – besonders die kantischen Formschneider – und Vollständigkeit viele. Krug fragte, wo denn die von ihm erfundenen Kalleologien, Hypseologien, Syngeneiologien, Krimatologien, Kalleotechniken und andere griechische Wörter wären, ordentlicher Ordnung nicht einmal zu gedenken. Andere vermißten noch tiefsinnigere Wörter, poetische Indifferenzen des Absoluten und Menschlichen – objektive Erscheinungen des Göttlichen im Irdischen – Durchdringungen des Raums und der Zeit in den unendlichen Ideen des Unendlichen als Religion – schwächerer Wörter wie negative und positive Polaritäten gar nicht zu erwähnen. – Die Eklektischen hingegen führten als Widerspiele der Absoluten und der Kritischen nicht über Mangel, sondern über Überfluß der besten tiefsinnigen Wörter Klagen. – So dreimal von Cerberus gebissen, half diesmal mir also mein alter Grundsatz sehr schlecht, lieber drei Parteien auf einmal zu schmeicheln, als gegen eine das Schwert des Tadels zu [16] ziehen, durch welches man regelmäßig umkommt; so wie – ist den Parteien das Gleichnis nicht zu hergeholt – gerade die drei größten Tragiker, welche so vielen tragischen Tod antaten, sämtlich einen seltsamen erfuhren, Sophokles durch einen Weinbeerkern, Äschylos durch eine herunterfallende Schildkrötenschale, Euripides durch Hunde.

§ 8

In der Tat durfte ein Mann wie der Proscholus wohl eines bessern Empfangs (§ 7) von dem Dreifuße der ästhetischen Dreiuneinigkeit gewärtig sein, wenn er sich lebhaft dachte, mit welchem Fleiße er seine Vorschule gerade nach den verschiedenen Anleitungen, welche ihm teils die Kritischen und die Absoluten, teils die Eklektischen zureichten, auszuarbeiten und auszubauen getrachtet, insofern er nämlich anders – was er freilich nicht selber entscheiden kann – seine Lehrer darin genugsam verstanden, daß er teilweise ihre Anleitungen als die bekannten Vexier-Muster benutzte und befolgte, welche schon längst gute Schulmänner ihren Schülern als absichtliche Verrenkungen zum übenden Graderichten vorlegten. Wie z.B. neulich Pölitz nur »Materialien zum Diktieren, nach einer dreifachen Abstufung vom Leichten zum Schweren geordnet, zur Übung in der deutschen Orthographie, Grammatik und Interpunktion; mit fehlerhaften Schemen für den Gebrauch des Zöglings, zweite verbesserte Ausgabe« herausgab: so sucht' ich in den Geschmacklehren der ästhetischen Dreiuneinigkeit mit reinem Fleiße und ohne Vorliebe alle die Behauptungen auf, welche ich etwa für solche Exerzier- und Vexier-Schemen nehmen durfte, die nur dazu geschrieben wären, damit ein angehender Ästhetiker wie ich an ihnen sich so lange versuchte und übte, bis er durch deren Umsetzen, Zurück-anagrammatisieren und Transsubstantiieren die rechte Ästhetik herausbrächte und gäbe. – Wenigstens werde man in diesen Arbeiten nach einer regula falsi, hofft der Vorschulmeister, die gute Absicht nicht verkennen, seie auch der Erfolg zuweilen so, daß der Unterschied zwischen der Vexier- und der Ernst-Ästhetik hätte größer sein können. Nur ist dergleichen nicht leicht. Erstlich die Geschmacklehren der Eklektischen [17] sagen alles, nämlich alles, was schon dagewesen; nun gibt zwar dieses Wiederholen überhaupt den Gelehrten so viel Wert und Übergewicht von Überredung, daß sie mit diesem Wiederholen von eignen und fremden Wiederholungen dem Echo gleichen, welches man desto höher achtet, je öfter es nachgesprochen; aber wie sind diese Pölitzisch-fehlerhafte Schemen anders zu benutzen, als daß man geradezu statt des Alten etwas Neues sagt? Nur schwer ists. –

Was zweitens die Kritischen und drittens die Absoluten anlangt: so hat man anfangs ebensoviel Not, sie zu verstehen, als nachher sie vorteilhaft für den Künstler umzusetzen und zu verdichten; nämlich so sehr und so weit und breit lösen sie alles feste Bestimmte in ein unabsehliches Unbestimmte und in Luft- und Ätherkreis auf. Z.B. Obstacles schreiben sie in ihrer langen abstrakten Sprache immer so: haut beu seu tua queles. Wer würde dies erraten, wenn er nicht vorher im Korrespondenten für Deutschland 3 gelesen hätte, daß wirklich ein Graf von L. R. auf seiner hohen Kriegsstufe zwar sehr grausende Arbeiten und Hindernisse glücklich besiegte, aber doch keine größern kannte, als einen Brief, ja ein Wort orthographisch zu schreiben, und daß er in der Tat unfigürlich das obige Wort obstacles


o-b s-ta-cles


so geschrieben: haut beu seu tua queles.
§ 9

Kurz die gegenwärtige Vorschule oder Vor-Geschmacklehre sollte nicht sowohl den Philosophen, denen ohnehin wenig zu sagen ist (ausgenommen entweder Gesagtes oder Ihriges), als den Künstlern selber, aus welchen sie mit reinen, aber nicht Danaiden-Gefäßen geschöpft worden, schwache Dienste leisten. Unter die letzten, woraus Proscholus geschöpft, gehört er selber. – Man wendet zwar gut ein, daß die Praxis der Künstler unvermerkt die Theorie derselben leite und verleite; aber man füge auch bei, daß auch rückwärts die Lehre die Tat beherrsche; so daß daher z.B. Lessings [18] Fabeln und Lessings Fabellehre einander wechselseitig zeugten und formten. Ja zuletzt muß sich der bloße Philosoph, der nicht Täter, nur Prediger des Worts ist und also keine ästhetische Taten durch ästhetische Prachtgesetze heimlich zu beschirmen hat, eine ähnliche Lage gestehen; denn sein Geschmack für Schönheiten reifte doch seiner Geschmacklehre voraus, und seine ästhetischen Theodoren griffen in den ästhetischen Justinian ein. Und sogar dies ist noch besser, als wenn taube Taktschläger, welche die ganze poetische Sphären-Musik nur aus den stummen Noten der Partitur mehrer Ästhetiker kennen, daraus ihren Generalbaß abziehen. Daher war von jeher die ausübende Gewalt die beste zur gesetzgebenden 4; Klopstock, Herder, Goethe, Wieland, Schiller, Lessing waren früher Dichter denn Selbstgeschmacklehrer; ja man könnte, wenn man ästhetische Aussprüche teils von beiden Schlegeln, Bouterwek, Franz Horn, Klingemann etc. etc., obwohl einander unähnlicher Schriftsteller, teils von Sulzer, Eberhard, Krug etc. etc. läse und wägte, leicht erraten, welche Partei nie gedichtet. Die Ästhetik des Täters ist ein Oberons-Horn, das zum Tanzen, die des bloßen Wissenschaftlers oft ein Astolfos-Horn, das zum Entlaufen bläset, wenigstens manchen Jünglingen, welche so gern für Schönheiten lebten und stürben.

§ 10

Nach dem vorigen Paragraphen (§ 9) ists fast hart, wenn sanfte Rezensionen einem Manne nicht zutrauen, daß ihm weniger daran gelegen sei, wer als was recht hat, sondern glauben, der Mann heize (als Kalefaktor) seine Vorschulstuben bloß, um sich und einige Leser seiner Scherze warm zu halten. Wär' es nicht ebenso ungerecht, bloß daraus, daß z.B. Pölitz in seiner Ästhetik den Witz gar nicht berührte, auf einen Haß desselben gegen wahren zu raten, als es wirklich ungerecht ist, aus einem langen Programme über Witz auf Vorliebe für falschen zu schließen?

[19] § 11

Auf der einen Seite bleibt Rezensenten, welche für das Publikum Goldfische sauber abzuschuppen oder Juwelenkolibri nett abzurupfen haben, um zu zeigen, was überhaupt an ihnen ist, wohl das alte gute Recht unbestritten, daß sie, so genau sie es im Widerlegen mit Kleinigkeiten zu nehmen haben, dafür das Wichtige oder Schwere bloß im allgemeinen anzuführen und statt einer Prüfung nur beizusetzen brauchen, daß manches, z.B. das Kapitel über den Humor, eine genaue wirklich verdiene.

§ 12

Auf der andern Seite (§ 11) bestehen die Lehrbuchschreiber mit Recht auf einem ebensogut hergebrachten Privilegium fest; welches am deutlichsten so lautet: »Sobald ein Lehrbuchmacher irgend etwas Neues zu sagen weiß, so steht ihm eo ipso uneingeschränkt das Recht zu, so viel Altes dazu abzuschreiben, bis er aus beiden ein ordentliches vollständiges Lehrbuch fertig hat.« Die Benutzung dieses so wichtigen Freiheitbriefs behält sich der Verfasser für die dritte Auflage vor, wo er zu seinen eignen Gedanken so viele fremde über Ton- und Malkunst, Vers- und Hausbau, Bildhauen und Reiten und Tanzen abschreiben will, daß der akademische Lehrer ein Lehrbuch in die Hand bekommt, zumal da ihm ein Lehrbuch lieber ist als zehn Lesebücher, weil er lieber über etwas als etwas lieset.

§ 13

Diese zweite Vorrede will nur die heitere Paraphrase der ersten sein (§ 14), welche ihr nachfolgt und sogleich so viel Ernstes mitbringt, daß nachher der Übergang leicht ist in den wissenschaftlichen Ernst des ganzen Werks.

§ 14

Indessen Scherz billigen in unsern Zeiten viele; denn er hält eben den wenigen noch von Jahrhundert und Unglück nicht aufgeriebenen Ernst fest aufbewahrt; der biegsame geschmeidige [20] Scherz ist der Ring von Gold, den man an den Finger ansteckt, damit der Ring mit Diamanten nicht abgleite.

§ 15

Geschrieben in Baireuth am Petri-Pauli-Tag, als, wie bekannt, gerade der Hesperus am hellsten schimmerte. 1812.

Jean Paul Fr. Richter [21]

Vorrede zur ersten Ausgabe

Wenn die Menge der Schöpfungstage zwar nicht immer den Werken der Darstellung, aber allezeit den Werken der Untersuchung vorteilhaft ist: so darf der Verfasser nachstehendes Buch mit einiger Hoffnung übergeben, da er auf dasselbe so viel solcher Tage verwandte als auf alle seine Werke zusammengenommen, nämlich über zehntausend; indem es ebensowohl das Resultat als die Quelle der vorigen und mit ihnen in aufsteigender und in absteigender Linie zugleich verwandt ist.

Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern. Selten wird ein junger Mensch sein Honorar für ästhetische Vorlesungen richtig erlegen, ohne dasselbe nach wenigen Monaten vom Publikum wieder einzufordern für etwas ähnliches Gedrucktes; ja manche tragen schon mit diesem jenes ab.

Es ist sehr leicht, mit einigen abgerissenen Kunsturteilen ein Kunstwerk zu begleiten, d.h. aus dessen reichem gestirnten Himmel sich Sterne zu beliebigen Bildern der Einteilung zusammenzulesen. Etwas anderes aber als eine Rezension ist eine Ästhetik, obgleich jedes Urteil den Schein einer eignen hinterhaltigen geben will.

Indes versuchen es einige und liefern das, was sie wissenschaftliche Konstruktion nennen. Allein wenn bei den englischen und französischen Ästhetikern, z.B. Home, Beattie, Fontenelle, Voltaire, wenigstens der Künstler etwas, ogleich auf Kosten des Philosophen, gewinnt, nämlich einige technische Kallipädie: so erbeutet bei den neuern transzendenten Ästhetikern der Philosoph nicht mehr als der Künstler, d.h. ein halbes Nichts. Ich berufe mich auf ihre zwei verschiedene Wege, nichts zu sagen. Der erste ist der des Parallelismus, auf welchem Reinhold, Schiller und andere [22] ebensooft auch Systeme darstellen; man hält nämlich den Gegenstand, anstatt ihn absolut zu konstruieren, an irgendeinen zweiten (in unserm Falle Dichtkunst etwa an Philosophie, oder an bildende und zeichnende Künste) und vergleicht willkürliche Merkmale so unnütz hin und her, als es z.B. sein würde, wenn man von der Tanzkunst durch die Vergleichung mit der Fechtkunst einige Begriffe beibringen wollte und deswegen bemerkte, die eine rege mehr die Füße, die andere mehr die Arme, jene sich nur mehr in krummen, diese mehr in geraden Linien, jene für, diese gegen einen Menschen etc. Ins Unendliche reichen diese Vergleichungen, und am Ende ist man nicht einmal beim Anfange. Möge der reiche warmeGörres diese vergleichende Anatomie oder vielmehr anatomische Vergleichung gegen eine würdigere Bahn seiner Kraft vertauschen! 5

Der zweite Weg zum ästhetischen Nichts ist die neueste Leichtigkeit, in die weitesten Kunstwörter – jetzo von solcher Weite, daß darin selber das Sein nur schwimmt – das Gediegenste konstruierend zu zerlassen; z.B. die Poesie als die Indifferenz des objektiven und subjektiven Pols zu setzen. Dies ist nicht nur so falsch, sondern auch so wahr, daß ich frage: was ist nicht zu polarisieren und zu indifferenzieren? –

Aber der alte unheilbare Krebs der Philosophie kriecht hier rückwärts, daß sie nämlich auf dem entgegengesetzten Irrwege der gemeinen Leute, welche etwas zu begreifen glauben, bloß weil sie es anschauen, umgekehrt das anzuschauen meint, was sie nur lenkt. Beide Verwechslungen des Überschlagens mit dem Innestehen gehören bloß der Schnellwaage einer entgegengesetzten Übung an.

Hat nun hier schon der Philosoph nichts – was für ihn doch immer etwas ist –, so lässet sich denken, was der Künstler haben möge, nämlich unendlich weniger. Er ist ein Koch, der die Säuren und Schärfen nach dem Demokritus zubereiten soll, welcher den[23] Geschmack derselben aus den winklichten Anschießungen aller Salze (wiewohl die Zitronensäure so gut wie Öl aus Kugelteilen besteht) zu konstruieren suchte.

Ältere deutsche Ästhetiker, welche Künstlern nützen wollten, ließen sich statt des transzendenten Fehlers, den Demant der Kunst zu verflüchtigen und darauf uns seinen Kohlenstoff vorzuzeigen, den viel leichtern zu Schulden kommen, den Demant zu erklären als ein Aggregat von – Demantpulver. Man lese in Riedels unbedeutender Theorie der schönen Künste z.B. den Artikel des Lächerlichen nach, das immer aus einer »drollichten, unerwarteten, scherzhaften, lustigen Zusammensetzung« zusammengesetzt wird – oder in Platners alter Anthropologie die Definition des Humors, welche bloß in den Wiederholungen des Worts: Sonderbar besteht – oder gar in Adelung. Die heuristischen Formeln, welche der Künstler von undichterischen Geschmacklehrern empfängt, lauten alle wie eine ähnliche in Adelungs Buch über den Stil 6: »Briefe, welche Empfindungen und Leidenschaften erregen sollen, finden in der rührenden und pathetischen Schreibart Hülfsmittel genug, ihre Absicht zu erreichen«, sagt er und meint seine zwei Kapitel über die Sache. In diesen logischen Zirkel ist jede undichterische Schönheit-Lehre eingekerkert.

Noch willkürlicher als die Erklärungen sind die Einteilungen, welche das künftig erscheinende Geisterreich, wovon jeder einzelne vom Himmel steigende Genius ein neues Blatt für die Ästhetik mitbringt, abschneiden und hinaussperren müssen, da sie es nicht antizipieren können. Darum sind die säkularischen Einteilungen der Musenwerke so wahr und scharf als in Leipzig die vierfache Einteilung der Musensöhne in die der fränkischen, polnischen, meißnischen und sächsischen Nation; – welche Vierherrschaft (Tetrarchie) in Paris im Gebäude der vier Nationen wiederkommt. Jede Klassifikation ist so lange wahr, als die neue Klasse fehlt.

Die rechte Ästhetik wird daher nur einst von einem, der Dichter und Philosoph zugleich zu sein vermag, geschrieben werden; er wird eine angewandte für den Philosophen geben, und eine [24] angewandtere für den Künstler. Wenn die transzendente bloß eine mathematische Klanglehre ist, welche die Töne der poetischen Leier in Zahlen-Verhältnisse auflöset: so ist die gemeinere nach Aristoteles eine Harmonistik (Generalbaß), welche wenigstens negativ tonsetzen lehrt. EineMelodistik gibt der Ton- und der Dichtkunst nur der Genius des Augenblicks; was der Ästhetiker dazu liefern kann, ist selber Melodie, nämlich dichterische Darstellung, welcher alsdann die verwandte zutönt. Alles Schöne kann nur wieder durch etwas Schönes sowohl bezeichnet werden als erweckt.

Über die gegenwärtige Ästhetik hab' ich nichts zu sagen, als daß sie wenigstens mehr von mir als von andern gemacht und die meinige ist, insofern ein Mensch im druckpapiernen Weltalter, wo der Schreibtisch so nah' am Bücherschranke steht, das Wort mein von einem Gedanken aussprechen darf. Indes sprech' ich es aus von den Programmen über das Lächerliche, den Humor, die Ironie und den Witz; ihnen wünscht' ich wohl bei forschenden Richtern ein aufmerksames, ruhiges Durchblättern, und folglich der Verknüpfung wegen auch denen, die teils vor, teils hinter ihnen stehen, und andere sind ohnehin nicht da. Übrigens könnte jeder Leser bedenken, daß, wie ein gegebener Autor einen gegebenen Leser voraussetzt, so ein gebender einen gebenden, z.B. derFernschreiber (Telegraph) stets ein Fernrohr. Kein Autor erdreistet sich, allen Lesern zu schreiben; gleichwohl erkeckt sich jeder Leser, alle Autoren zu lesen.

In unsern kritischen Tagen einer kranken Zeit muß Fieber, in der gegenwärtigen Reformation-Geschichte muß Bauernkrieg, kurz, jetzo in unserer Arche, woraus der Rabe wie über die alte Sündflut früher ausgeschickt wurde als die Taube, welche wieder kam mit einem grünen Zweig, muß der Zorn regieren; und vor ihm bedarf jeder einiger Entschuldigung, der in Milde hineingerät und wie Pythagoras und Numa statt lebendiges Fleisch und Blut nur Mehl und Wein zum Opfer bringt. Ich will nicht leugnen, daß ich im letzten Falle bin; ich weiß, wie wenig ich über berühmte Schriftsteller tadelnde Urteile mit jener schneidenden Schärfe gefällt, welche literarische Kopfabschneider und Vertilgung-Krieger [25] fodern können. Spricht man von der Schärfe des Lachens, so gibt es allerdings keine zu große. Hingegen in Rücksicht des Ernstes, behaupte ich, ist an und für sich Melanchthons Milde so sittlich-gleichgültig als Luthers Strenge, sobald nur der eine wie der andere den Tadel ohne persönliche Freude – ungleich jetzigen Reich-Sturm-Fahnen-Junkern –, das Lob hingegen ohne persönliche Freude – ungleich schlaffem langen Gewürm, das Füße und den davon abgeschüttelten Staub leckt – austeilt. Nicht Unparteilichkeit ist dem Erden-Menschen anzusinnen, sondern nur Bewußtsein derselben, und zwar eines, das sich nicht nur eines guten Zieles, auch guter Mittel bewußt ist.

Da der Verfasser dieses lieber für jedes Du parteiisch sein will als für ein Ich: so befiehlt er seinen Lesern, nicht etwa in dieser philosophischen Baute ein heimliches ästhetisches Ehr- und Lehrgebäude, an meine biographischen Bauten angestoßen, eine Zimmermannbaurede oben auf dem Giebel des Gebäudes zu erwarten, sondern lieber das Gegenteil. Schneidet denn der Professor der Moral eine Sittenlehre etwa nach seinen Sünden zu? Und kann er denn nicht Gesetze zugleich anerkennen und übertreten, folglich aus Schwäche, nicht aus Unwissenheit? Das ist aber auch der Fall der ästhetischen Professuren.

Als rechte Unparteilichkeit rechnet er es sich an, daß er fast wenige Autoren mit Tadel belegte als solche, die großes Lob verdienen; nur diese sind es wert, daß man sie so wie Menschen, die selig werden, in das Fegfeuer wirft; in die Hölle gehören die Verdammten. Man sollte auf Mode-Köpfe so wenig als auf Modekleider Satiren machen, da an beiden die Individualität so schnell verfliegt und nichts besteht als die allgemeine Narrheit; sonst schreibt man Ephemeriden der Ephemeren (Tagblätter der Eintagfliegen).

Sollt es' dem Werke zu sehr an erläuternden Beispielen mangeln 7: so entschuldigt man es mit der Eigenheit des Verfassers, [26] daß er selten Bücher besitzt, die er bewundert und auswendig kann. Wie Themistokles eine Vergessenheit-Kunst gegen Beleidigungen, so wünscht er eine gegen deren Gegenteil, die Schönheiten; und wenn Platner wahr bemerkt, daß der Mensch mehr seiner Freuden als seiner Leiden sich erinnere: so ist dies bloß schlimm bei ästhetischen. Oft hat er deswegen – um nur etwas zu haben ein ausländisches Werk, das er unendlich liebte, in einer schlechtern Übersetzung oder im Original oder im Nach- oder im Prachtdruck wiedergelesen. Nie wird er daher – insofern es vom Willen abhängt – etwa wie Skaliger den Homer in 21 Tagen und die übrigen griechischen Dichter in vier Monaten auswendig gelernt hersagen, oder mit Barthius den Terenz im 9ten Jahre vor seinem Vater abbeten – eben aus Furcht, die Grazien zu oft nackt zu sehen, welche die Vergessenheit, wie ein Sokrates, reizend bekleidet.

Noch ist einiges zu sagen, was weniger den Leser des Werks als den Literator interessiert. Der TitelVorschule, Proscholium, wo sonst den Schülern äußerlicher oder eleganter Unterricht im Schulhofe zukam, hatte anfangs Programmen oder Einladungschriften zu dem Proscholium oder der Vorschule einer Ästhetik (noch ist davon im Werk die Einteilung in Programmen) heißen sollen; indes da er – wie die gewöhnlichen Titel: Leitfaden zur, erste Linien einer, Versuch einer Einleitung in – mehr aus Bescheidenheit gewählt worden als aus Überzeugung: so hoff' ich wird auch der bloße abgekürzte einfache Titel »Vorschule der Ästhetik« nicht ganz unbescheiden das ausdrücken, was er sagen will, nämlich: eine Ästhetik.

Angefügt sind noch die drei Leipziger Vorlesungen für sogenannte Stilistiker und für Poetiker, d.h. von mir so genannt. Ich wünsche nämlich, daß die prosaische Partei im neuesten Kriege zwischen Prose und Poesie – der kein neuer, nur ein erneuerter, aber vor-und rückwärts ewiger ist – mir es verstatte, sie Stilistiker zu nennen, unter welchen ich nichts meine als Menschen ohne allen poetischen Sinn. Dichten sie (will ich damit sagen), so wirds symmetrisch ausgeteilte Dinte, nachher in Druckerschwärze abgeschattet; – leben sie, so ists spieß- und pfahlbürgerlich in der [27] fernsten Vorstadt der sogenannten Gottes-Stadt; – machen sie Urteile und Ästhetiken, so scheren sie die Lorbeerbäume, die Erkenntnis- und die Lebensbäume in die beliebigen Kugelformen der gallischen Vexier-Gärtnerei, z.B. in runde, spitze Affenköpfe (»o Gott,« sagen sie, »es ahme doch stets die Kunst dem Menschen nach, freilich unter Einschränkung!«).

Diesen ästhetischen Piccinisten stehen nun gegenüber die ästhetischen Gluckisten, wovon ich diejenigen die Poetiker nenne, die nicht eben Poeten sind. Meine innigste Überzeugung ist, daß die neuere Schule im Ganzen und Großen recht hat und folglich endlich behält – daß die Zeit die Gegner selber so lange verändern wird, bis sie die fremde Veränderung für Bekehrung halten – und daß die neue polarische Morgenröte nach der längsten Nacht, obwohl einen Frühling lang ohne Phöbus oder mit einem halben 8 täglich erscheinend, doch nur einer steigenden Sonne vortrete. Ebenso ist seit der Thomas-Sonnen-Wende von und in Kant endlich die Philosophie so viele winterliche Zeichen vom dialektischen Steinbock an bis durch die kritischen Wassermänner und kalten Fische durchlaufen, daß sie jetzo wirklich unter den Frühlingszeichen den Widder und Stier hinter sich hat, wenn man zwei bekannte Häupter hinter dem Oberhaupt Kant so nennen will, welche sich gegenseitig Lehrer, Nachahmer, Freunde und Widerleger geworden – und in das Zeichen der Zwillinge, der Vermählung der Religion und Philosophie, aufsteigt. Früher stand Jacobi einsam da und voraus; jetzo schlingt der Deutsche immer vielfacher um Philosophie und Religion ein Band, und Clodius, der Verfasser der allgemeinen Religionslehre, ist nicht der letzte; die Poesie feiert diese Vermählung mit ihrem großen Hochzeitgedicht auf das All.

Was übrigens gleichwohl wider die Poetiker zu sagen ist nun, die zweite Vorlesung hats ihnen schon in der Ostermesse gesagt. Denn es ist wohl klar, daß sie jetzo – weil jede Verdauung (sogar die der Zeit) ein Fieber ist – umgekehrt jedes Fieber für [28] eine Verdauung (nämlich keiner bloßen Krankheitmaterie, sondern eines Eßmittels) ansehen. –

Wenn Bayle strenge, aber mit Recht das historische Ideal mit den Worten: »la perfection d'une histoire est d'être desagréable à toutes les sectes« aufstellt: so glaubt' ich, daß dieses Ideal auch der literarischen Geschichte vorzuschweben habe; wenigstens hab' ich darnach gerungen, keiner Partei weniger zu mißfallen als der andern. Möchten doch die Parteien, die ich eben darum angefallen, unparteiisch entscheiden (es ist mein Lohn), ob ich das Ziel der Vollkommenheit errungen, das Bayle begehrt.

Möge diese Vorschule nicht in eine Kampf- oder Trivialschule führen, sondern etwa in eine Spinn-, ja in eine Samenschule, weil in beiden etwas wächst.


Baireuth, den 12. August 1804.

Jean Paul Fr. Richter [29]

1. Programm. Über die Poesie überhaupt
§ 1. Ihre Definitionen
§ 1
Ihre Definitionen

Man kann eigentlich nichts real definieren als eine Definition selber; und eine falsche würde in diesem Falle so viel vom Gegenstande als eine wahre lehren. Das Wesen der dichterischen Darstellung ist wie alles Leben nur durch eine zweite darzustellen; mit Farben kann man nicht das Licht abmalen, das sie selber erst entstehen lässet. Sogar bloße Gleichnisse können oft mehr als Worterklärungen aussagen, z.B.: »die Poesie ist die einzige zweite Welt in der hiesigen; – oder: wie Singen zum Reden, so verhält sich Poesie zur Prose; die Singstimme steht (nach Haller) in ihrer größten Tiefe doch höher als der höchste Sprechton; und wie der Sington schon für sich allein Musik ist, noch ohne Takt, ohne melodische Folge und ohne harmonische Verstärkung, so gibt es Poesie schon ohne Metrum, ohne dramatische oder epische Reihe, ohne lyrische Gewalt.« Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen – nur aber für jeden anders; denn nichts bringt die Eigentümlichkeit der Menschen mehr zur Sprache als die Wirkung, welche die Dichtkunst auf sie macht; und daher werden ihrer Definitionen ebenso viele sein als ihrer Leser und Zuhörer.

Nur der Geist eines ganzen Buchs – der Himmel schenk' ihn diesem – kann die rechte enthalten. Will man aber eine wörtliche kurze: so ist die alte aristotelische, welche das Wesen der Poesie in einer schönen (geistigen) Nachahmung der Natur bestehen lässet, darum verneinend die beste, weil sie zwei Extreme ausschließet, nämlich den poetischen Nihilismus und den Materialismus. Bejahend aber wird sie erst durch nähere Bestimmung, was eine schöne oder geistige Nachahmung eigentlich sei.

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§ 2. Poetische Nihilisten
§ 2
Poetische Nihilisten

Es folgt aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes – der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren, und welcher den Verband seiner Wunden als eine Fessel abreißet –, daß er von der Nachahmung und dem Studium der Natur verächtlich sprechen muß. Denn wenn allmählich die Zeitgeschichte einem Geschichtschreiber gleich wird und ohne Religion und Vaterland ist: so muß die Willkür der Ichsucht sich zuletzt auch an die harten, scharfen Gebote der Wirklichkeit stoßen und daher lieber in die Öde der Phantasterei verfliegen, wo sie keine Gesetze zu befolgen findet als eigne, engere, kleinere, die des Reim- und Assonanzen-Baues. Wo einer Zeit Gott, wie die Sonne, untergehet; da tritt bald darauf auch die Welt in das Dunkel; der Verächter des All achtet nichts weiter als sich und fürchtet sich in der Nacht vor nichts weiter als vor seinen Geschöpfen. Spricht man denn nicht jetzo von der Natur, als wäre diese Schöpfung eines Schöpfers worin ihr Maler selber nur ein Farbenkorn ist – kaum zum Bildnagel, zum Rahmen der schmalen gemalten eines Geschöpfes tauglich; als wäre nicht das Größte gerade wirklich, das Unendliche? Ist nicht die Geschichte das höchste Trauer- und Lustspiel? Wenn uns der Verächter der Wirklichkeit nur zuerst die Sternenhimmel, die Sonnenuntergänge, die Wasserfalle, die Gletscherhöhen, die Charaktere eines Christus, Epaminondas, der Katos vor die Seele bringen wollten, sogar mit den Zufälligkeiten der Kleinheit, welche uns die Wirklichkeit verwirren, wie der große Dichter die seinige durch kecke Nebenzüge; dann hätten sie ja das Gedicht der Gedichte gegeben und Gott wiederholt. Das All ist das höchste, kühnste Wort der Sprache, und der seltenste Gedanke: denn die meisten schauen im Universum nur den Marktplatz ihres engen Lebens an, in der Geschichte der Ewigkeit nur ihre eigene Stadtgeschichte.

Wer hat mehr die Wirklichkeit bis in ihre tiefsten Täler und bis auf das Würmchen darin verfolgt und beleuchtet als das Zwillingsgestirn [31] der Poesie, Homer und Shakespeare? Wie die bildende und zeichnende Kunst ewig in der Schule der Natur arbeitet: so waren die reichsten Dichter von jeher die anhänglichsten, fleißigsten Kinder, um das Bildnis der Mutter Natur andern Kindern mit neuen Ähnlichkeiten zu übergeben. Will man sich einen größten Dichter denken, so vergönne man einem Genius die Seelenwanderung durch alle Völker und alle Zeiten und Zustände und lasse ihn alle Küsten der Welt umschiffen: welche höhere, kühnere Zeichnungen ihrer unendlichen Gestalt würd' er entwerfen und mitbringen! Die Dichter der Alten waren früher Geschäftmänner und Krieger als Sänger; und besonders mußten sich die großen Epopöen-Dichter aller Zeiten mit dem Steuerruder in den Wellen des Lebens erst kräftig üben, ehe sie den Pinsel, der die Fahrt abzeichnet, in die Hände bekamen. 9 So Camoens, Dante, Milton etc.; und nur Klopstock macht eine Ausnahme, aber fast mehr für als wider die Regel. Wie wurden nicht Shakespeare und noch mehr Cervantes vom Leben durchwühlt und gepflügt und gefurcht, bevor in beiden der Blumensame ihrer poetischen Flora durchbrach und aufwuchs! Die erste Dichterschule, worein Goethe geschickt wurde, war nach seiner Lebenbeschreibung aus Handwerkerstuben, Malerzimmern, Krönungsälen, Reicharchiven und aus ganz Meß-Frankfurt zusammengebauet. So bringt Novalis – ein Seiten- und Wahlverwandter der poetischen Nihilisten, wenigstens deren Lehenvetter – uns in seinem Romane gerade dann eine gediegenste Gestalt zu Tage, wenn er uns den Bergmann aus Böhmen schildert, eben weil er selber einer gewesen.

Bei gleichen Anlagen wird sogar der unterwürfige Nachschreiber der Natur uns mehr geben (und wären es Gemälde in Anfangbuchstaben) als der regellose Maler, der den Äther in den Äther mit Äther malt. Das Genie unterscheidet sich eben dadurch daß es die Natur reicher und vollständiger sieht, so wie der[32] Mensch vom halbblinden und halbtauben Tiere; mit jedem Genie wird uns eine neue Natur erschaffen, indem es die alte weiter enthüllet. Alle dichterische Darstellungen, welche eine Zeit nach der andern bewundert, zeichnen sich durch neue sinnliche Individualität und Auffassung aus. Jede Sternen-, Pflanzen-, Landschaft- und andere Kunde der Wirklichkeit ist einem Dichter mit Vorteil anzusehen, und in Goethens gedichteten Landschaften widerscheinen seine gemalten. So ist dem reinen durchsichtigen Glase des Dichters die Unterlage des dunkeln Lebens notwendig, und dann spiegelt er die Welt ab. Es geht hier mit den geistigen Kindern, wie nach der Meinung der alten Römer mit den leiblichen, welche man die Erde berühren ließ, damit sie reden lernten.

Jünglinge finden ihrer Lage gemäß in der Nachahmung der Natur eine mißliche Aufgabe. Sobald das Studium der Natur noch nicht allseitig ist, so wird man von den einzelnen Teilen einseitig beherrscht. Allerdings ahmen sie der Natur nach, aber einem Stücke, nicht der ganzen, nicht deren freiem Geiste mit einem freien Geist. – Die Neuheit ihrer Empfindungen muß ihnen als eine Neuheit der Gegenstände vorkommen; und durch die erstern glauben sie die letzten zu geben. Daher werfen sie sich entweder ins Unbekannte und Unbenannte, in fremde Länder und Zeiten ohne Individualität, nach Griechenland und Morgenland 10, oder vorzüglich auf das Lyrische; denn in diesem ist keine Natur nachzuahmen als die mitgebrachte; worin ein Farbenklecks schon sich selber zeichnet und umreißet. Bei Individuen, wie bei Völkern, ist daher Abfärben früher als Abzeichnen,Bilderschrift eher als Buchstabenschrift. Daher suchen dichtende Jünglinge, diese Nachbarn der Nihilisten, z.B. eben Novalis oder auch Kunst-Romanschreiber, sich gern einen Dichter oder Maler oder anderen Künstler zum darzustellenden Helden aus, [33] weil sie in dessen weisen, alle Darstellungen umfassenden Künstlerbusen und Künstlerraum alles, ihr eignes Herz, jede eigne Ansicht und Empfindung kunstgerecht niederlegen können; sie liefern daher lieber einen Dichter als ein Gedicht.

Kommt nun vollends zur Schwäche der Lage die Schmeichelei des Wahns, und kann der leere Jüngling seine angeborne Lyrik sich selber für eine höhere Romantik ausgeben: so wird er mit Versäumung aller Wirklichkeit – die eingeschränkte in ihm selber ausgenommen – sich immer weicher und dünner ins gesetzlose Wüste verflattern; und wie die Atmosphäre wird er sich gerade in der höchsten Höhe ins kraft-und formlose Leere verlieren.

Um deswillen ist einem jungen Dichter nichts so nachteilig als ein gewaltiger Dichter, den er oft lieset; das beste Epos in diesem zerschmilzt zur Lyra in jenem. Ja, ich glaube, ein Amt ist in der Jugend gesünder als ein Buch – obwohl in spätern Jahren das Umgekehrte gilt. – Das Ideal vermischt sich am leichtesten mit jedem Ideal, d.h. das Allgemeine mit dem Allgemeinen. Dann holet der blühende junge Mensch die Natur aus dem Gedicht, anstatt das Gedicht aus der Natur. Die Folge davon und die Erscheinung ist die, welche aus allen Buchläden heraussieht: nämlich Farben-Schatten statt der Leiber; nicht einmal nachsprechende, sondern nachklingende Bilder von Urbildern – fremde, zerschnittene Gemälde werden zu musaischen Stiften neuer Bilder zusammengereiht – und man geht mit fremden poetischen Bildern um, wie im Mittelalter mit heiligen, von welchen man Farben loskratzte, um solche im Abendmahlwein zu nehmen.

§ 3. Poetische Materialisten
§ 3
Poetische Materialisten

Aber ist es denn einerlei, die oder der Natur nachzuahmen, und ist Wiederholen Nachahmen? – Eigentlich hat der Grundsatz, die Natur treu zu kopieren, kaum einen Sinn. Da es nämlich unmöglich ist, ihre Individualität durch irgendein Nachbild zu erschöpfen; da folglich das letzte allezeit zwischen Zügen, die es wegzulassen, und solchen, die es aufzunehmen hat, auswählen muß: so [34] geht die Frage der Nachahmung in die neue über, nach welchem Gesetze, an welcher Hand die Natur sich in das Gebiet der Poesie erhebe.

Der gemeinste Nachdrucker der Wirklichkeit bekennt doch, daß die Weltgeschichte noch keine Epopöe sei – obgleich in einem höhern Sinne wohl –, daß ein wahrer guter Liebesbrief noch in keinen Roman sich schicke – und daß ein Unterschied sei zwischen den Landschaftgemälden des Dichters und zwischen den Auen- und Höhen-Vermessungen des Reisebeschreibers. – Wir führen alle bei Gelegenheit leicht unser ordentliches Gespräch mit Nebenmenschen; gleichwohl ist nichts seltener als ein Schriftsteller, der einen lebendigen Dialog schreiben kann. Warum ist ein Lager noch kein Wallensteinisches von Schiller, das doch vor einem wirklichen wenigstens nicht den Reiz der Ganzheit voraushat?

Hermes' Romane besitzen beinahe alles, was man zu einem poetischen Körper fordert, Weltkenntnis, Wahrheit, Einbildungkraft, Form, Zartsinn, Sprache; da aber ihnen der poetische Geist fehlt, so sind sie die besten Romane gegen Romane und gegen deren zufälliges Gift; man muß sehr viel Geld in Banken und im Hause haben, um die Dürftigkeit, wenn sie in seinen Werken gedruckt vorkommt, lachend auszuhalten. Allein das ist eben unpoetisch. Ungleich der Wirklichkeit, die ihre prosaische Gerechtigkeit und ihre Blumen in unendlichen Räumen und Zeiten austeilet, muß eben die Poesie in geschlossenen beglücken; sie ist die einzige Friedengöttin der Erde und der Engel, der uns, und wär' es nur auf Stunden, aus Kerkern auf Sterne führt; wie Achilles' Lanze muß sie jede Wunde heilen, die sie sticht. 11 Gäbe es denn sonst etwas Gefährlicheres als einen Poeten, wenn dieser unsere Wirklichkeit noch vollends mit seiner und uns also mit einem eingekerkerten Kerker umschlösse? Sogar der Zweck sittlicher Bildung, den sich der ebengenannte Romanprediger Hermes vorsetzt, [35] wird, da er ihm mit einem widerdichterischen Geiste nachsetzt, nicht nur verfehlt, sondern sogar gefährdet und untergraben (z.B. im Romane für Töchter edler Herkunft und in der Foltergeschichte des widerlichen moralischen Selbst-Kerkermeisters Herr Kerker).

Gleichwohl bereitet auch der falsche Nachstich der Wirklichkeit einige Lust, teils weil er belehrt, teils weil der Mensch so gern seinen Zustand zu Papier gebracht und ihn aus der verworrenen persönlichen Nähe in die deutlichere objektive Ferne geschoben sieht. Man nehme den Lebentag eines Menschen ganz treu, ohne Farbenmuscheln, nur mit dem Dintenfasse zu Protokoll und lasse ihn den Tag wieder lesen: so wird er ihn billigen und sich wie von lauen linden Wellen umkräuselt verspüren. Sogar einen fremden Lebentag heißet er eben darum gut im Gedicht. Keinen wirklichen Charakter kann der Dichter – auch der komische – aus der Natur annehmen, ohne ihn, wie der Jüngste Tag die Lebendigen, zu verwandeln für Hölle oder Himmel. Gesetzt, irgendein wild und weltfremder Charakter existierte, als der einzige, ohne irgendeine symbolische Ähnlichkeit mit andern Menschen: so könnt' ihn kein Dichter gebrauchen und abzeichnen.

Auch die humoristischen Charaktere Shakespeares sind allgemeine, symbolische, nur aber in die Verkröpfungen und Wülste des Humors gesteckt.

Man erlaube mir noch einige Beispiele von unpoetischen Repetierwerken der großen Weltuhr. »Brockes irdisches Vergnügen in Gott« ist eine so treue dunkle Kammer der äußerlichen Natur, daß ein wahrer Dichter sie wie einen Reisebeschreiber der Alpen, ja wie die Natur selber benutzen kann; er kann nämlich unter den umhergeworfenen Farbenkörnern wählen und sie zu einem Gemälde verreiben. – Die dreimal aufgelegte Luciniade von Lacombe, welche die Geburthelferkunst 12 (welch ein Gegen- oder Widerstand für die Poesie!) besingt, so wie die meisten Lehrgedichte, welche uns ihren zerhackten Gegenstand Glied für Glied, obwohl jedes in einige poetische Goldflittern gewickelt, [36] zuzählen, zeigen, wie weit prosaische Nachäffung der Natur abstehe von poetischer Nachahmung. –

Am ekelsten aber tritt diese Geistlosigkeit im Komischen vor. Im Epos, im Trauerspiel versteckt sich wenigstens oft die Kleinheit des Dichters hinter die Höhe seines Stoffs, da große Gegenstände schon sogar in der Wirklichkeit den Zuschauer poetisch anregen – daher Jünglinge gern mit Italien, Griechenland, Ermordungen, Helden, Unsterblichkeit, fürchterlichem Jammer und dergleichen anfangen, wie Schauspieler mit Tyrannen –; aber im Komischen entblößet die Niedrigkeit des Stoffs den ganzen Zwerg von Dichter, wenn er einer ist. 13 An den deutschen Lustspielen – man sehe die widrigen Proben, noch dazu der bessern, von Krüger, Gellert und andern in Eschenburgs Beispielsammlung – zeigt der Grundsatz der bloßen Natur-Nachäffung die ganze Kraft seiner Gemeinheit. Es ist die Frage, ob die Deutschen noch ein ganzes Lustspiel haben, und nicht bloß einige Akte. Die Franzosen erscheinen uns daran reicher; aber hier wirkt Täuschung mit, weil fremde Narren und fremder Pöbel an sich, ohne den Dichter, einige poetische Ungemeinheit vorspiegeln.

– Die Briten hingegen sind reicher – obgleich derselbe ideale Trug der Auslandschaft mitwirkt; und ein einziges Buch könnte uns von der Wahrheit überführen. Nämlich Wallstaffs polite Gespräche von Swift malen bis zur Treue – die nur in Swifts parodierendem Geiste sich genial widerspiegelt – Englands Honoratioren gerade so gemeingeistlos ab, wie in den deutschen Lustspielen unsere auftreten; da nun aber diese Langweiligen nie in den englischen erscheinen: so sind folglich über dem Meere weniger die Narren als vielmehr die Lustspielschreiber geistreicher als bei uns. Das Feld der Wirklichkeit ist eben ein in Felder geschachtes Brett, auf welchem der Autor so gut die gemeine polnische Dame als das königliche Schachspiel, sobald er in einem Falle nur Steine, und im andern Figuren und Kunst, spielen kann. [37] Wie wenig Dichtung ein Kopierbuch des Naturbuchs sei, ersieht man am besten an den Jünglingen, die gerade dann die Sprache der Gefühle am schlechtesten reden, wenn diese in ihnen regieren und schreien, und welchen das zu starke Wasser das poetische Mühlenwerk gerade hemmt und nicht treibt, indes sie nach der falschen Maxime der Natur-Affen ja nichts brauchten, als nachzuschreiben, was ihnen vorgesprochen wird. Keine Hand kann den poetischen, lyrischen Pinsel fest halten und führen, in welcher der Fieberpuls der Leidenschaft schlägt. Der bloße Unwille macht zwar Verse, aber nicht die besten; selber die Satire wird durch Milde schärfer als durch Zorn, so wie Essig durch süße Rosinenstiele stärker säuert, durch bittern Hopfen aber umschlägt.

Weder der Stoff der Natur, noch weniger deren Form ist dem Dichter roh brauchbar. Die Nachahmung des erstern setzt ein höheres Prinzip voraus; denn jedem Menschen erscheint eine andere Natur; und es kommt nun darauf an, welchem die schönste erscheint. Die Natur ist für den Menschen in ewiger Menschwerdung begriffen, bis sogar auf ihre Gestalt; die Sonne hat für ihn ein Vollgesicht, der halbe Mond ein Halbgesicht, die Sterne doch Augen, alles lebt den Lebendigen; und es gibt im Universum nur Schein-Leichen, nicht Schein-Leben. Allein das ist eben der prosaische und poetische Unterschied oder die Frage,welche Seele die Natur beseele, ob ein Sklavenkapitän oder ein Homer.

In Rücksicht der nachzuahmenden Form stehen die poetischen Materialisten im ewigen Widerspruch mit sich und der Kunst und der Natur; und bloß, weil sie halb nicht wissen, was sie haben wollen, wissen sie folglich halb, was sie wollen. Denn sie erlauben wirklich den Versfuß auch in größter und jeder Leidenschaft (was allein schon wieder ein Prinzip für das Nachahm-Prinzip festsetzt) – und im Sturme des Affekts höchsten Wohllaut und einigen starken Bilderglanz der Sprache (wie stark aber, kommt auf Willkür der Rezension an) – ferner die Verkürzungen der Zeiten (doch mit Vorbehalt gewisser, d.h. ungewisser Rücksicht auf nachzuahmende Natur) – dann die Götter und Wunder des Epos und der Oper – die heidnische Götterlehre mitten in der jetzigen [38] Götterdämmerung 14 – im Homer die langen Mordpredigten der Helden vor dem Morde – im Komischen die Parodie, obgleich bis zum Unsinn – in Don Quixote einen romantischen Wahnsinn, der unmöglich ist – in Sterne das kecke Eingreifen der Gegenwart in seine Selbstgespräche – in Thümmel und andern den Eintritt von Oden ins Gespräch und noch das übrige Zahllose. Aber ist es dann nicht ebenso schreiend – als mitten ins Singen zu reden –, gleichwohl in solche poetische Freiheiten die prosaische Leibeigenschaft der bloßen Nachahmung einzuführen und gleichsam im Universum Fruchtsperre und Warenverbote auszuschreiben? Ich meine, widerspricht man denn nicht sich und eignen Erlaubnissen und dem Schönen, wenn man dennoch in dieses sonnentrunkne Wunder-Reich, worin Göttergestalten aufrecht und selig gehen, über welches keine schwere Erden-Sonne scheint, wo leichtere Zeiten fliegen und andere Sprachen herrschen, wo es, wie hinter dem Leben, keinen rechten Schmerz mehr gibt, wenn in diese verklärte Welt die Wilden der Leidenschaft aussteigen sollten, mit dem rohen Schrei des Jubels und der Qual, wenn jede Blume darin so langsam und unter so vielem Grase wachsen müßte als auf der trägen Welt, wenn die Eisen-Räder und Eisen-Achse der schweren Geschicht und Säkular-Uhr, statt der himmlischen Blumen-Uhr 15, die nur auf- und zuquillt und immer duftet, die Zeit länger mäße anstatt kürzer?

Denn wie das organische Reich das mechanische aufgreift, umgestaltet und beherrschet und knüpft, so übt die poetische Welt dieselbe Kraft an der wirklichen und das Geisterreich am Körperreich. Daher wundert uns in der Poesie nicht ein Wunder, sondern es gibt da keines, ausgenommen die Gemeinheit. Daher ist – bei gleichgesetzter Vortrefflichkeit – die poetische Stimmung auf derselben Höhe, ob sie ein echtes Lustspiel oder ein echtes Trauerspiel, sogar dieses mit romantischen Wundern auftut; und Wallensteins Träume geben dichterisch in nichts den Visionen [39] der Jungfrau von Orleans nach. Daher darf nie der höchste Schmerz, nie der höchste Himmel des Affekts sich so auf der Bühne äußern wie etwan in der ersten besten Loge, nämlich nie so einsilbig und arm. Ich meine dies: immer lassen die französischen und häufig die deutschen Tragiker die Windstöße der Affekten kommen und entweder sagen: o ciel, oder mon dieu, oder o dieux, oder hélas, oder gar nichts, oder, was dasselbe ist, eine Ohnmacht fällt ein. Aber ganz unpoetisch! Der Natur und Wahrheit gemäßer ist gewiß nichts als eben diese einsilbige Ohnmacht. Nur wäre auf diese Weise nichts lustiger zu malen als gerade das Schwerste; und der Abgrund und der Gipfel des Innersten ließen sich viel heller und leichter aufdecken als die Stufen dazu.

Allein da die Poesie gerade an die einsame Seele, die wie ein geborstenes Herz sich in dunkles Blut verbirgt, näher dringen und das leise Wort vernehmen kann, womit jede ihr unendliches Weh ausspricht oder ihr Wohl: so sei sie ein Shakespeare und bringe uns das Wort. Die eigne Stimme, welche der Mensch selber im Brausen der Leidenschaft betäubt verhört, entwische der Poesie so wenig als einer höchsten Gottheit der stummste Seufzer. Gibt es denn nicht Nachrichten, welche uns nur auf Dichter-Flügeln kommen können; gibt es nicht eine Natur, welche nur dann ist, wenn der Mensch nicht ist, und die er antizipiert? Wenn z.B. der Sterbende schon in jene finstere Wüste allein hingelegt ist, um welche die Lebendigen ferne, am Horizont, wie tiefe Wölkchen, wie eingesunkne Lichter stehen, und er in der Wüste einsam lebt und stirbt: dann erfahren wir nichts von seinen letzten Gedanken und Erscheinungen – – Aber die Poesie zieht wie ein weißer Strahl in die tiefe Wüste, und wir sehen in die letzte Stunde des Einsamen hinein.

§ 4. Nähere Bestimmung der schönen Nachahmung der Natur
§ 4
Nähere Bestimmung der schönen Nachahmung der Natur

In dieser Ansicht liegt zugleich die Bestimmung, wasschöne (geistige) Nachahmung der Natur sei. Mit einer trockenen Sacherklärung der Schönheit reicht man nicht weit. Die Kantische: »das [40] sei schön, was allgemein ohne Begriff gefalle« legt in das »Gefallen«, das sie vom Angenehmsein absondert, schon das hinein, was eben zu erklären war. Der Beisatz »ohne Begriff« gilt für alle Empfindungen, so wie auf den andern »allgemein«, den noch dazu die Erfahrung oft ausstreicht, ebenfalls alle Empfindungen, ja alle geistige Zustände heimlich Anspruch machen. Kant, welcher eigensinnig genug nur der Zeichnung Schönheit, der Farbe 16 aber bloß Reiz zugestand, nimmt seine Erläuterungen dazu immer aus den zeichnenden und bildenden Künsten hervor. Was ist denn poetische Schönheit, durch welche selber eine gemalte oder gebildete höher aufglänzen kann? Die angenommne Kluft zwischen Natur-Schönheit und zwischen Kunst-Schönheit gilt in ihrer ganzen Breite nur für die dichterische; aber Schönheiten der bildenden Künste könnten allerdings zuweilen schon von der Natur geschaffen werden, wenn auch nur so selten als die genialen Schöpfer derselben selber. Übrigens gehört einer Poetik darum die Erklärung der Schönheit schwerlich voran, weil diese Göttin in der Dichtkunst ja auch andere Götter neben sich hat, das Erhabene, das Rührende, das Komische etc. Ein Revisor der Ästhetik 17 macht eine öde leere Definition des Schönen von Delbrück 18 mit Vergnügen zur seinigen (für Delbrück eine mäßige Schmeichelei, welcher als ein zarter scharfer Kunstliebhaber und Kunstrichter, z.B. Klopstocks und Goethens, zu ehren ist), und diese Definition lautet wörtlich (außerhalb meiner Einklammerungen) so: »Das Schöne besteht in einerzweckmäßigen, zusammenstimmenden Mannigfaltigkeit von Ideen (setzen hier nicht beide Beiwörter gerade das voraus, was zu erklären ist, gleichsam als ob man sagte: eine zur Schönheit zusammenstimmende Mannigfaltigkeit?), welche die Phantasie in sich hervorruft (wie unbestimmt! und womit und woraus?), um zu einem gegebnen Begriff [41] (zu welchem? oder zu jedem?) viel Unnennbares (warum gerade viel? – Unnennbares wäre genug; ferner welches Unnennbare?) hinzuzudenken, mehr als auf der einen Seite darin angeschaut, und auf der andern Seite darin deutlich gedacht werden kann (deutlich? In dem Unnennbaren liegt ja schon das Nichtdeutliche. Aber was ist denn dies für ein Mehr, das weder zu schauen, noch deut lich zu denken ist? Und welche Grenze hat dieses relative Mehr?); – das Wohlgefallen an demselben wird hervorgebracht durch ein freies und doch regelmäßiges Spiel der Phantasie in Einstimmung mit dem Verstande (Letztes lag schon in ›regelmäßig‹; aber wie wenig ist ›Spiel‹ und bloße ›Einstimmung‹ charakteristisch!).«- Der Revisor der Ergänzblätter knüpft dieser Definition seine kürzere an: »Die schöne Kunst entspringt als schöne Kunst aus einer Vorstellungart durch ästhetische Ideen.« Da in »ästhetisch« das ganze Definitium (die Schönheit) schon fertig liegt: so ist der Definition, so wie jedem identischen Satze, eine gewisse Wahrheit nicht zu nehmen.

Nur noch eine werde beschauet; denn wer wollte seine Schreib- und Leszeit an Prüfungen alles Gedruckten verschwenden? Schönheit, sagt Hemsterhuis, ist, was größte Ideenzahl in kleinster Zeit gewährt; eine Erklärung, welche an die ältere: »sinnliche Einheit im Mannigfaltigen« und an die spätere: »freies Spiel der Phantasie« angrenzt. Die Frage falle weg, wie überhaupt Ideen nach der Zeit zu messen sind, da jene diese selber erst messen. Aber überhaupt ist jede Idee nur ein Terzien-Blitz; sie festhalten heißt sie auseinanderlegen, also in ihre Teile, Grenzen, Folgen, und heißt mithin eben nicht mehr sie festhalten, sondern ihre Sippschaft und Nachbarschaft durchlaufen. Außerdem müßte die Ideenfülle im kürzesten Zeitraum, welche z.B. auch der Überblick eingelernter mathematischer oder philosophischer Kettenrechnungen gewährt, durch ein absonderndes Abzeichen erst der Schönheit zubeschieden werden – und endlich, wenn nun jemand definierte: Häßlichkeit ist, was größte Ideenzahl in kleinster Zeit darreicht? Denn ein Oval stillt und füllt mein Auge, aber ein Linien-Zerrstück bereichert es mit betäubender Mannigfaltigkeit von an- und wegfliegenden Ideen, weil der [42] Gegenstand zugleich soll begriffen, bestritten, geflohen und gelöset werden. Man könnte Hemsterhuis' Definition vielleicht so ausdrücken, Schönheit sei, wie es einen Zirkel der Logik gibt, der Zirkel der Phantasie, weil der Kreis die reichste, einfachste, unerschöpflichste, leichtfaßlichste Figur ist; aber der wirkliche Zirkel ist ja selber eine Schönheit, und so würde die Definition (wie leider jede) ein logischer. –

Wir kommen zum Grundsatze der poetischen Nachahmung zurück. Wenn in dieser das Abbild mehr als das Urbild enthält, ja sogar das Widerspiel gewährt – z.B. ein gedichtetes Leiden Lust –: so entsteht dies, weil eine doppelte Natur zugleich nachgeahmt wird, die äußere und die innere, beide ihre Wechselspiegel. Man kann dieses mit einem scharfsinnigen Kunstrichter 19 sehr gut »Darstellung der Ideen durch Naturnachahmung« nennen. Das Bestimmtere gehört in den Artikel vom Genie. Die äußere Natur wird in jeder innern eine andere, und diese Brotverwandlung ins Göttliche ist der geistige poetische Stoff, welcher, wenn er echt poetisch ist, wie eine anima Stahlii seinen Körper (die Form) selber bauet, und ihn nicht erst angemessen und zugeschnitten bekommt. Dem Nihilisten mangelt der Stoff und daher die belebte Form; dem Materialisten mangelt belebter Stoff und daher wieder die Form; kurz, beide durchschneiden sich in Unpoesie. Der Materialist hat die Erdscholle, kann ihr aber keine lebendige Seele einblasen, weil sie nur Scholle, nicht Körper ist; der Nihilist will beseelend blasen, hat aber nicht einmal Scholle. Der rechte Dichter wird in seiner Vermählung der Kunst und Natur sogar dem Parkgärtner, welcher seinem Kunstgarten die Naturumgebungen gleichsam als schrankenlose Fortsetzungen desselben anzuweben weiß, nachahmen, aber mit einem höhern Widerspiele, und er wird begrenzte Natur mit der Unendlichkeit der Idee umgeben und jene wie auf einer Himmelfahrt in diese verschwinden lassen.

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§ 5. Gebrauch des Wunderbaren
§ 5
Gebrauch des Wunderbaren

Alles wahre Wunderbare ist für sich poetisch. Aber an den verschiedenen Mitteln, diesen Mondschein in ein Kunstgebäude fallen zu lassen, zeigen sich die beiden falschen Prinzipien der Poesie und das wahre am deutlichsten. Das erste oder materielle Mittel ist, das Mondlicht einige Bände später in alltägliches Taglicht zu verwandeln, d.h. das Wunder durch Wieglebs Magie zu entzaubern und aufzulösen in Prose. Dann findet freilich eine zweite Lesung an der Stelle der organischen Gestalt nur eine papierne, statt der poetischen Unendlichkeit dürftige Enge; und Ikarus liegt ohne Wachs mit den dürren Federkielen auf dem Boden. Gern hätte man z.B. Goethen das Aufsperren seines Maschinenkabinetts und das Aufgraben der Röhren erlassen, aus welchen das durchsichtige bunte Wasserwerk aufflatterte. Ein Taschenspieler ist kein Dichter, ja sogar jener selber ist nur so lange etwas wert und poetisch, als er seine Wunder noch nicht durch Auflösung getötet hat; kein Mensch wird erklärten Kunststücken zuschauen.

Andere Dichter nehmen den zweiten Irrweg, nämlich den, ihre Wunder nicht zu erklären, sondern nur zu erfinden, was gewiß recht leicht ist und daher an und für sich unrecht; denn allem, was ohne Begeisterung leicht wird, muß der Dichter mißtrauen und entsagen, weil es die Leichtigkeit der Prose ist. Ein fortgehendes Wunder ist aber eben darum keines, sondern eine luftigere, zweite Natur, in welcher aus Regellosigkeit keine schöne Unterbrechung einer Regel machbar ist. Eigentlich ist eine solche Dichtung eine widersprechende Annahme entgegengesetzter Bedingungen, der Verwechslung des materiellen Wunderbaren mit dem idealen, eine Mischung wie auf alten Tassen, halb Wort halb Bild.

Aber es gibt noch ein Drittes, nämlich den hohen Ausweg, daß der Dichter das Wunder weder zerstöre, wie ein exegetischer Theolog, noch in der Körperwelt unnatürlich festhalte, wie ein Taschenspieler, sondern daß er es in die Seele lege, wo allein es [44] neben Gott wohnen kann. Das Wunder fliege weder als Tag- noch als Nachtvogel, sondern als Dämmerungschmetterling. Meisters Wunderwesen liegt nicht im hölzernen Räderwerk – es könnte polierter und stählern sein –, sondern in Mignons und des Harfenspielers etc. herrlichem geistigen Abgrund, der zum Glück so tief ist, daß die nachher hineingelassenen Leitern aus Stammbäumen viel zu kurz ausfallen. Daher ist eine Geisterfurcht besser als eine Geistererscheinung, ein Geisterseher besser als hundert Geistergeschichten 20; nicht das gemeine physische Wunder, sondern das Glauben daran malt das Nachtstück der Geisterwelt. Das Ich ist der fremde Geist, vor dem es schauert, der Abgrund, vor dem es zu stehen glaubt; und bei der Theaterversenkung ins unterirdische Reich sinkt eben der Zuschauer, welcher sinken sieht.

Hat indes einmal ein Dichter die bedeutende Mitternachtstunde in einem Geiste schlagen lassen: dann ist es ihm auch erlaubt, ein mechanisches zerlegbares Räderwerk von Gaukler-Wundern in Bewegung zu setzen; denn durch den Geist erhält der Körper mimischen Sinn, und jede irdische Begebenheit wird in ihm eine überirdische.

Ja es gibt schöne innere Wunder, deren Leben der Dichter nicht mit dem psychologischen Anatomiermesser zerlegen darf, wenn er auch könnte. In Schlegels – zu wenig erkanntem – Florentin sieht eine Schwangere immer ein schönes Wunderkind, das mit ihr nachts die Augen aufschlägt, ihr stumm entgegenläuft u.s.w. und welches unter der Entbindung auf immer verschwindet.

Die Auflösung lag nahe; aber sie wurde mit poetischem Rechte unterlassen. Überhaupt haben die innern Wunder den Vorzug, daß sie ihre Auflösung überleben. Denn das große unzerstörliche Wunder ist der Menschen-Glaube an Wunder, und die größte Geistererscheinung ist die unsrer Geisterfurcht in einem hölzernen [45] Leben voll Mechanik. Daher trüben sich die himmlischen Charakter-Sonnen zu einem Klümpchen Erde ein, wenn der Dichter uns aus ihrem Voll-Lichte vor ihre Wiege hinführt. Zuweilen ist es romantische Pflicht, der Nachgeschichte wie der Vorgeschichte eines wunderbaren Charakters die Decke zu lassen; und der Verfasser des Titans wird schwerlich, wenn er anders Ästhetiker genug ist, Schoppens Vorzeit oder der verschwundnen Lindas Nachzeit malen. So wünsch' ich beinahe, ich wüßte gar nicht, wer Mignon und der Harfenspieler von Geburt an eigentlich gewesen. So wohnt man in Werners Söhnen des Tals der mit Schauern prangenden Aufnahme in den Tempelorden bei; das ungeheuere Welträtsel versprechen Nachtstimmen zu erraten, und in tiefer Ferne werden von vorüberfliegenden Nebeln Bergspitzen aufgedeckt, auf welchen der Mensch in die ersehnte andere oder zweite Welt, die eigentlich unsere erste und letzte bleibt, weit hineinschauen kann. Endlich bringt der Dichter uns und die Sache auf die gedachten Bergspitzen, und ein Logenmeister tut uns kund, was der Orden haben und geben wolle, nämlich gutes moralisches Betragen, und da liegt die alte Sphinx tot vor uns auf ihren steinernen Vieren, von einem Steinmetz ausgehauen. Will man dem tragischen Dichter nicht unrecht tun, so nimmt man alles vielleicht am besten für einen Scherz auf die meisten Tempel- und Sakristei-Ordenherren, welche mehr durch Verziffern als Entziffern glänzen und mehr vor Ausgeschloßnen als vor Auserkornen.

Wir treten nun dem Geiste der Dichtkunst näher, dessen bloßer äußerer Nahrungsstoff in der nachgeahmten Natur noch weit von seinem innern abgeschieden bleibt.

Wenn der Nihilist das Besondere in das Allgemeine durchsichtig zerlässet – und der Materialist das Allgemeine in das Besondere versteinert und verknöchert –: so muß die lebendige Poesie eine solche Vereinigung beider verstehen und erreichen, daß jedes Individuum sich in ihr wiederfindet, und folglich, da Individuen sich einander ausschließen, jedes nur sein Besonderes in einem Allgemeinen, kurz, daß sie dem Monde ähnlich wird, welcher nachts dem einen Wanderer im Walde von Gipfel zu Gipfel nach [46] folgt, zu gleicher Zeit auch einem andern von Welle zu Welle, und so jedem, indes er bloß seinen großen Bogen-Gang am Himmel zieht, aber doch am Ende wirklich um die Erde und um die Wanderer auch.

2. Programm. Stufenfolge poetischer Kräfte
§ 6. Einbildungkraft
§ 6
Einbildungkraft

Einbildungkraft ist die Prose der Bildungkraft oder Phantasie. Sie ist nichts als eine potenzierte hellfarbigere Erinnerung, welche auch die Tiere haben, weil sie träumen und weil sie fürchten. Ihre Bilder sind nur zugeflogne Abblätterungen von der wirklichen Welt; Fieber, Nervenschwäche, Getränke können diese Bilder so verdicken und beleiben, daß sie aus der innern Welt in die äußere treten und darin zu Leibern erstarren.

§ 7. Bildungkraft oder Phantasie
§ 7
Bildungkraft oder Phantasie

Aber etwas Höheres ist die Phantasie oder Bildungkraft, sie ist die Welt-Seele der Seele und der Elementargeist der übrigen Kräfte; darum kann eine große Phantasie zwar in die Richtungen einzelner Kräfte, z.B. des Witzes, des Scharfsinns u.s.w., abgegraben und abgeleitet werden, aber keine dieser Kräfte lässet sich zur Phantasie erweitern. Wenn der Witz das spielende Anagramm der Natur ist: so ist die Phantasie das Hieroglyphen-Alphabet derselben, wovon sie mit wenigen Bildern ausgesprochen wird. Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen – statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen – und alle Weltteile zu Welten, sie totalisieret alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit der Gestalten, die es bewohnen, und [47] die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonnen gehen. Sie führt gleichsam das Absolute und das Unendliche der Vernunft näher und anschaulicher vor den sterblichen Menschen. Daher braucht sie so viel Zukunft und so viel Vergangenheit, ihre beiden Schöpfung-Ewigkeiten, weil keine andere Zeit unendlich oder zu einem Ganzen werden kann; nicht aus einem Zimmer voll Luft, sondern erst aus der ganzen Höhe der Luftsäule kann das Ätherblau eines Himmels geschaffen werden.

Z.B. Auf der Bühne ist nicht der sichtbare Tod tragisch, sondern der Weg zu ihm. Fast kalt sieht man den Mordstoß; und daß diese Kälte nicht von der bloßen Gemeinheit der sichtbaren Wirklichkeit entstehe, beweiset das Lesen, wo sie wiederkommt. Hingegen das verdeckte Töten gibt der Phantasie ihre Unendlichkeit zurück; ja daher ist, weil sie den Todesweg rückwärts macht, eine Leiche wenigstens tragischer als ein Tod. So ist das Wort Schicksal in der Tragödie selber die unendliche des Weltall, der Minengang der Phantasie. Nicht das Schwert des Schicksals, sondern die Nacht, aus der es schlägt, erschreckt; daher ist nicht sein Hereinbrechen (wie in Wallenstein), sondern sein Hereindrohen (wie in der Braut von Messina) echt und tragisch. Hat sich dieser Gorgonenkopf dem Leben aufgedeckt gezeigt, so ist es toter Stein; aber der Schleier über dem Haupte lässet langsam die kalte Versteinerung die warmen Adern durchdringen und füllen. Daher wird in der Braut von Messina der giftige Riesenschatte der schwarzen Zukunft am besten – aber bis zur Parodie – durch den freudigen Tanz der blinden Opfer unter dem Messer gezeigt; unser Voraussehen ist besser, als unser Zurücksehen wäre.

Wer die Entzückung auf die Bühne bringen wollte – was so schwer ist, da der Schmerz mehr Glieder und Übungen zum Ausspruche hat als die Freude –, der gebe sie einem Menschen im Schlafe; wenn er ein einzigesmal entzückt lächelt, so hat er uns ein sprachloses Glück erzählt, und es entfliegt ihm, sobald er das Auge aufschließt.

Schon im Leben übet die Phantasie ihre kosmetische Kraft; sie wirft ihr Licht in die fernstehende nachregnende Vergangenheit [48] und umschließet sie mit dem glänzenden Farben- und Friedenbogen, den wir nie erreichen; sie ist die Göttin der Liebe; sie ist die Göttin der Jugend. 21 Aus demselben Grunde, warum ein lebengroßer Kopf in der Zeichnung größer erscheint als sein Urbild, oder warum eine bloß in Kupfer gestochene Gegend durch ihre Abschließung mehr verspricht, als das Original hält, aus eben diesem Grunde glänzt jedes erinnerte Leben in seiner Ferne wie eine Erde am Himmel, nämlich die Phantasie drängt die Teile zu einem abgeschlossenen heiteren Ganzen zusammen. Sie könnte zwar ebensowohl eintrübes Ganze bauen; aber spanische Luftschlösser voll Marterkammern stellet sie nur in die Zukunft; und nur Belvederes in die Vergangenheit. Ungleich dem Orpheus, gewinnen wir unsere Eurydice durch Rückwärts- und verlieren sie durch Vorwärtsschauen.

§ 8. Grade der Phantasie
§ 8
Grade der Phantasie

Wir wollen sie durch ihre verschiedenen Grade bis zu dem begleiten, wo sie unter dem Namen Genie poetisch erschafft. Der kleinste ist, wo sie nur empfängt. Da es aber kein bloßes Empfangen ohne Erzeugen oder Erschaffen gibt; da jeder die poetische Schönheit nur chemisch und in Teilen bekommt, die er organisch zu einem Ganzen bilden muß, um sie anzuschauen: so hat jeder, der einmal sagte: das ist schön, wenn er auch im Gegenstande irrte, die phantastische Bildungkraft. Und wie könnte denn ein Genie nur einen Monat, geschweige jahrtausendelang von der ungleichartigen Menge erduldet oder gar erhoben werden ohne irgendeine ausgemachte Familienähnlichkeit mit ihr? Bei manchen Werken gehts den Menschen so, wie man von der Clavicula Salomonis erzählt: sie lesen darin zufällig, ohne im geringsten eine Geister-Erscheinung zu bezwecken, und plötzlich tritt der zornige Geist vor sie aus der Luft.

[49]
§ 9. Das Talent
§ 9
Das Talent

Die zweite Stufe ist diese, daß mehre Kräfte vorragen, z.B. der Scharfsinn, Witz, Verstand, mathematische, historische Einbildungkraft u.s.w., indes die Phantasie niedrig steht. Dieses sind die Menschen von Talent, deren Inneres eine Aristokratie oder Monarchie ist, so wie das genialische eine theokratische Republik. Da, scharf genommen, das Talent, nicht das Genie Instinkt hat, d.h. einseitigen Strom aller Kräfte: so entbehrt es aus demselben Grunde die poetische Besonnenheit, aus welchem dem Tiere die menschliche abgeht. Die des Talents ist nur partiell; sie ist nicht jene hohe Sonderung der ganzen innern Welt von sich, sondern nur etwa von der äußern. In dem Doppelchor, welches den ganzen vollstimmigen Menschen fodert, nämlich im poetischen und philosophischen, überschreiet der melodramatische Sprachton des Talents beide Sing-Chöre, geht aber zu den Zuhörern drunten als die einzige deutliche Musik hinunter.

In der Philosophie ist das bloße Talent ausschließend-dogmatisch, sogar mathematisch und daher intolerant (denn die rechte Toleranz wohnt nur im Menschen, der die Menschheit widerspiegelt), und es numeriert die Lehrgebäude und sagt, es wohne No. 1. oder 99. oder so, indes sich der große Philosoph im Wunder der Welt, im Labyrinthe voll unzähliger Zimmer halb über, halb unter der Erde aufhält. Von Natur hasset der talentvolle Philosoph, sobald er seine Philosophie hat, alles Philosophieren; denn nur der Freie liebt Freie. Da er nur quantitativ 22 von der Menge verschieden ist: so kann er ihr ganz auffallen, gefallen, vorleuchten, einleuchten und ihr alles sein, ohne Zeit im Moment; denn so hoch er auch stehe, und so lang er auch messe: so braucht sich ja jeder nur als Elle an ihm, dem Kommensurablen, umzuschlagen,[50] sofort hat er dessen Größe; indes das Feuer und derTon der Qualität nicht an die Ellen und in die Waage der Quantität zu bringen ist. In der Poesie wirkt das Talent mit einzelnen Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reize auf das Volk und ergreift gewaltig mit seinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer Spießbürgerseele ist; denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht Geist, leicht Reize, aber nicht Schönheit. Der ganze Parnaß steht voll von Poesien, die nur helle, auf Verse wie auf Verstärkungflaschen gezogne Prose sind; poetische Blumenblätter, die gleich den botanischen bloß durch das Zusammenziehen der Stengelblätter entstehen. Da es kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen Gedanken des Genies gibt, worauf das Talent im höchsten Feuer nicht auch käme – nur auf das Ganze nicht –: so lässet sich dieses eine Zeitlang mit jenem verwechseln, ja das Talent prangt oft als grüner Hügel neben der kahlen Alpe des Genies, bis es an seiner Nachkommenschaft stirbt, wie jedes Lexikon am bessern. Talente können sich untereinander, als Grade, vernichten und erstatten; Genies, als Gattungen, aber nicht. Bilder, witzige, scharfsinnige, tiefsinnige Gedanken, Sprachkräfte, alle Reize werden bei der Zeit, wie bei dem Polypen, aus der Nahrung zuletzt die Farbe derselben; anfangs bestehlen ein paar Nachahmer, dann das Jahrhundert, und so kommt das talentvolle Gedicht, wie ähnliche Philosophie, die mehr Resultate als Form besitzt, an der Verbreitung um. Hingegen das Ganze oder der Geist kann nie gestohlen werden; und noch im ausgeplünderten Kunstwerk (z.B. im Homer) wohnet er, wie im nachgebeteten Plato, groß und jung und einsam fort. Das Talent hat nichts Vortreffliches, als was nachahmlich ist, z.B. Ramler, Wolff der Philosoph etc. etc.

§ 10. Passive Genies
§ 10
Passive Genies

Die dritte Klasse erlaube man mir weibliche, empfangende oder passive Genies zu nennen, gleichsam die in poetischer Prose geschriebenen Geister.

[51] Wenn ich sie so beschreibe, daß sie, reicher an empfangender als schaffender Phantasie, nur über schwache Dienstkräfte zu gebieten haben, und daß ihnen im Schaffen jene geniale Besonnenheit abgehe, die allein von dem Zusammenklang aller und großer Kräfte erwacht: so fühl' ich, daß unsere Definitionen entweder nur naturhistorische Fachwerke nach Staubfäden und nach Zähnen sind, oder chemische Befundzettel organischer Leichen. Es gibt Menschen, welche – ausgestattet mit höherem Sinn als das kräftige Talent, aber mit schwächerer Kraft – in eine heiliger offne Seele den großen Weltgeist, es sei im äußern Leben oder im innern des Dichtens und Denkens, aufnehmen, welche treu an ihm, wie das zarte Weib am starken Manne, das Gemeine verschmähend, hängen und bleiben, und welche doch, wenn sie ihre Liebe aussprechen wollen, mit gebrochnen, verworrenen Sprachorganen sich quälen und etwas anderes sagen, als sie wollen. Ist der Talent-Mensch der künstlerische Schauspieler und froh nachhandelnde Affe des Genies, so sind diese leidenden Grenz-Genies die stillen, ernsten, aufrechten Wald- oder Nachtmenschen desselben, denen das Verhängnis die Sprache abgeschlagen. Es sind – wenn nach den Indiern die Tiere die Stummen der Erde sind – die Stummen des Himmels. Jeder halte sich heilig, der Tiefere und der Höhere! denn eben diese sind für die Welt die Mittler zwischen Gemeinheit und Genie, welche gleich Monden die geniale Sonne versöhnend der Nacht zuwerfen.

Philosophisch- und poetischfrei fassen sie die Welt und Schönheit an und auf; aber wollen sie selber gestalten, so bindet eine unsichtbare Kette die Hälfte ihrer Glieder, und sie bilden etwas Anderes oder Kleineres? als sie wollten. Im Empfinden herrschen sie mit besonnener Phantasie über alle Kräfte; im Erfinden werden sie von einer Nebenkraft umschlungen und vor den Pflug der Gemeinheit gespannt.

Eins von beiden macht ihre Schöpfungstage zu unglücklichen. Entweder ihre Besonnenheit, welche auf fremde Schöpfungen so hell schien, wird über der eignen zur Nacht – sie verlieren sich in sich, und ihnen geht zum Bewegen ihrer Welt, bei allen Hebeln in den Händen, der Stand auf einer zweiten ab –; oder ihre Besonnenheit [52] ist nicht die geniale Sonne, deren Licht erzeugt, sondern ein Mond davon, dessen Licht erkältet. Sie geben leichter fremden Stoffen Form als eignen und bewegen sich freier in fremder Sphäre als in der eignen, so wie dem Menschen im Traume dasFliegen 23 leichter wird als das Laufen.

Wiewohl unähnlich dem Talentmenschen, der nur Weltteile und Weltkörper, keinen Weltgeist zur Anschauung bringen kann, und wiewohl eben darum ähnlich dem Genie, dessen erstes und letztes Kennzeichen eine Anschauung des Universums: so ist doch bei den passiven Genies die Welt-Anschauung nur eine Fortsetzung und Fortbildung einer fremden genialen.

Ich will einige Beispiele unter den – Toten suchen, wiewohl Beispiele wegen der unerschöpflichen Mischungen und Mitteltinten der Natur immer über die Zeichnung hinausfärben. Wohin gehört Diderot in der Philosophie und Rousseau in der Poesie? So augenscheinlich zu den weiblichen Grenzgenies; indes jener dichtend, dieser denkend mehr zeugte als empfing. 24

In der Philosophie gehört zwar Bayle gewiß zu den passiven Genies; aber Lessing – ihm in Gelehrsamkeit, Freiheit und Scharfsinn ebenso verwandt als überlegen – wohin gehört er mit seinem Denken? – Nach meiner furchtsamen Meinung ist mehr sein Mensch ein aktives Genie als sein Philosoph. Sein allseitiger Scharfsinn zersetzte mehr, als sein Tiefsinn feststellte. Auch seine geistreichsten Darstellungen mußten sich in die Wolffischen Wortformen gleichsam einsargen lassen. Indes war er, ohne zwar wie Plato, Leibniz, Hemsterhuis etc. der Schöpfer einer philosophischen Welt zu sein, doch der verkündigende Sohn eines Schöpfers und eines Wesens mit ihm. Mit einer genialen Freiheit und Besonnenheit war er im negativen Sinne ein frei-dichtender Philosoph, wie Plato im positiven, und glich dem großen Leibniz darin, daß er in sein festes System die Strahlen jedes fremden [53] dringen ließ, wie der schimmernde Diamant ungeachtet seiner harten Dichtigkeit den Durchgang jedes Lichts erlaubt und das Sonnenlicht sogar festbehält. Der gemeine Philosoph gleicht dem Korkholze, biegsam, leicht, voll Öffnungen, doch unfähig, Licht durchzulassen und zu behalten.

Unter den Dichtern stehe den weiblichen GeniesMoritz voran. Das wirkliche Leben nahm er mit poetischem Sinne auf; aber er konnte kein poetisches gestalten. Nur in seinem Anton Reiser und Hartknopf zieht sich, wenn nicht eine heitere Aurore, doch dieMitternachtröte der bedeckten Sonne über der bedeckten Erde hin; aber niemals geht sie bei ihm als heiterer Phöbus auf, zeigend den Himmel und dieErde zugleich in Pracht. Wie erkältet dagegen oft Sturz mit dem Glanze einer herrlichen Prose, die aber keinen neuen Geist zu offenbaren, sondern nur Welt-und Hofwinkel hell zu erleuchten hat! Wo man nichts zu sagen weiß, ist der Reichtag- und Reichanzeiger-Stil viel besser – weil er wenigstens in seinen Selbst-Harlekin umzudenken ist – als der prunkende, gekrönte, geldauswerfende, der vor sich her ausrufen lässet: Er kommt! Auch Novalis und viele seiner Muster und Lobredner gehören unter die genialen Mannweiber, welche unter dem Empfangen zu zeugen glauben.

Indes können solche Grenz-Genies durch Jahre voll Bildung eine gewisse geniale Höhe und Freiheit ersteigen und, wie ein dissoner Griff auf der Lyra, durch Verklingen immer zärter, reiner und geistiger werden; doch wird man ihnen, so wie dem Talent das Nachbilden der Teile, so das Nachbilden des Geistes anmerken.

Aber niemand scheide zu kühn. Jeder Geist ist korinthisches Erz, aus Ruinen und bekannten Metallen unkenntlich geschmolzen. Wenn Völker an der Gegenwart steil und hoch hinaufwachsen können, warum nicht Geister an der Vergangenheit? – Geister abmarken, heißet den Raum in Räume verwandeln und die Luftsäulen messen, wo man oben nicht mehr Knauf und Äther sondern kann.

Gibt es nicht Geister-Mischlinge, erstlich der Zeiten, zweitens der Länder? – Und da zwei Zeiten oder zwei Länder an doppelten Polen verbunden werden können, gibt es nicht ebenso schlimmste [54] als beste? – Die schlimmen will ich übergehen. Die Deutsch-Franzosen, die Juden-Deutschen, die Papenzenden, die Griechenzenden, kurz die Zwischengeister der Geistlosigkeit stehen in zu greller Menge da. Lieber zu den Genien und Halbgenien! In Betreff der Länder kann man Lichtenberg zitieren, der in der Prose ein Bindegeist zwischen England und Deutschland ist – Pope ist ein Quergäßchen zwischen London und Paris – höher verbindet Voltaire umgekehrt beide Städte – Schiller ist, wenn nicht der Akkord, doch der Leitton zwischen britischer und deutscher Poesie und im ganzen ein potenziierter verklärter Young, mit philosophischem und dramatischem Übergewicht. –

In Rücksicht der Zeiten (welche freilich wiederLänder werden) ist Tieck ein schöner barocker Blumen-Mischling der altdeutschen und neudeutschen Zeit, wiewohl mehr den genialen Empfängern als Gebern verwandt. Wieland ist ein Orangenbaum französischer Blüten und deutscher Früchte zugleich – Goethens hoher Baum treibt die Wurzel in Deutschland und senkt den Blütenüberhang hinüber ins griechische Klima – Herder ist ein reicher blumiger Isthmus zwischen Morgenland und Griechenland – –

Wir sind jetzo nach der stetigen Weise der Natur, bei deren Übergängen und Überfahrten niemals Strom und Ufer zu unterscheiden sind, endlich bei den aktiven Genien angelandet.

3. Programm. Über das Genie
§ 11. Vielkräftigkeit desselben
§ 11
Vielkräftigkeit desselben

Der Glaube von instinkmäßiger Einkräftigkeit des Genies konnte nur durch die Verwechslung des philosophischen und poetischen mit dem Kunsttriebe der Virtuosen kommen und bleiben. Den Malern, Tonkünstlern, ja dem Mechaniker muß allerdings ein Organ angeboren sein, das ihnen die Wirklichkeit zugleich zum [55] Gegenstande und zum Werkzeuge der Darstellung zuführt; die Oberherrschaft eines Organs und einer Kraft, z.B. in Mozart, wirkt alsdann mit der Blindheit und Sicherheit des Instinktes.

Wer das Genie, das Beste, was die Erde hat, den Wecker der schlafenden Jahrhunderte, in »merkliche Stärke der untern Seelenkräfte« setzt, wie Adelung, und wer, wie dieser in seinem Buche über den Stil, sich ein Genie auch ohne Verstand denken kann: der denkt sich es eben – ohne Verstand. Unsere Zeit schenkt mir jeden Krieg mit dieser Sünde gegen den heiligen Geist. Wie verteilen nicht Shakespeare, Schiller u.a. alle einzelne Kräfte an einzelne Charaktere, und wie müssen sie nicht oft auf einer Seite witzig, scharfsinnig, verständig, vernunftend, feurig, gelehrt und alles sein, noch dazu bloß, damit der Glanz dieser Kräfte nur wie Juwelen spiele, nicht wie Licht-Endchen der Notdurft erhelle! – Nur das einseitige Talent gibt wie eine Klaviersaite unter dem Hammerschlage einen Ton; aber das Genie gleicht einer Windharfen-Saite; eine und dieselbe spielet sich selber zu mannigfachem Tönen vor dem mannigfachen Anwehen. Im Genius 25 stehen alle Kräfte auf einmal in Blüte; und die Phantasie ist darin nicht die Blume, sondern die Blumengöttin, welche die zusammenstäubenden Blumenkelche für neue Mischungen ordnet, gleichsam die Kraft voll Kräfte. Das Dasein dieser Harmonie und dieser Harmonistin begehren und verbürgen zwei große Erscheinungen des Genius.

§ 12. Besonnenheit
§ 12
Besonnenheit

Die erste ist die Besonnenheit. Sie setzt in jedem Grade ein Gleichgewicht und einen Wechselstreit zwischen Tun und Leiden, [56] zwischen Sub- und Objekt voraus. In ihrem gemeinsten Grade, der den Menschen vom Tier, und den Wachen vom Schläfer absondert, fodert sie das Äquilibrieren zwischen äußerer und innerer Welt; im Tiere verschlingt die äußere die innere, im bewegten Menschen diese oft jene. Nun gibt es eine höhere Besonnenheit, die, welche die innere Welt selber entzweit und entzweiteilt in ein Ich und in dessen Reich, in einen Schöpfer und dessen Welt. Diese göttliche Besonnenheit ist so weit von der gemeinen unterschieden wie Vernunft von Verstand, eben die Eltern von beiden. Die gemeine geschäftige Besonnenheit ist nur nach außen gekehrt und ist im höhern Sinne immer außer sich, nie bei sich, ihre Menschen haben mehr Bewußtsein als Selbstbewußtsein, welches letzte ein ganzes Sichselbersehen des zu- und des abgewandten Menschen in zwei Spiegeln zugleich ist. So sehr sondert die Besonnenheit des Genies sich von der andern ab, daß sie sogar als ihr Gegenteil öfters erscheint, und daß diese ewige fortbrennende Lampe im Innern, gleich Begräbnis-Lampen, auslöscht, wenn sie äußere Luft und Welt berührt. 26 – Aber was vermittelt sie? Gleichheit setzet stärker Freiheit voraus als Freiheit Gleichheit. Die innere Freiheit der Besonnenheit wird für das Ich durch das Wechseln und Bewegen großer Kräfte vermittelt und gelassen, wovon keine sich durch Übermacht zu einem After-Ich konstituiert, und die es gleichwohl so bewegen und beruhigen kann, daß sich nie der Schöpfer ins Geschöpf verliert.

Daher ist der Dichter, wie der Philosoph, ein Auge; alle Pfeiler in ihm sind Spiegelpfeiler; sein Flug ist der freie einer Flamme, nicht der Wurf durch eine leidenschaftlich-springende Mine. Daher kann der wildeste Dichter ein sanfter Mensch sein – man schaue nur in Shakespeares himmelklares Angesicht oder noch lieber in dessen großes Dramen-Epos –; ja der Mensch kann umgekehrt [57] auf dem Sklavenmarkte des Augenblicks jede Minute verkauft werden und doch dichtend sich sanft und frei erheben, wie Guido im Sturme seiner Persönlichkeit seine milden Kinder und Engelsköpfe ründete und auflockte, gleich dem Meere voll Ströme und Wellen, das dennoch ein ruhendes reines Morgen und Abendrot gen Himmel haucht. Nur der unverständigte Jüngling kann glauben, geniales Feuer brenne als leidenschaftliches, so wie etwan für die Büste des nüchtern-dichterischen Platons die Büste des Bacchus ausgegeben wird. Der ewig zum Schwindel bewegte Alfieri fand auf Kosten seiner Schöpfungen weniger Ruhe in als außer sich. Der rechte Genius beruhigt sich von innen; nicht das hochauffahrende Wogen, sondern die glatte Tiefe spiegelt die Welt.

Diese Besonnenheit des Dichters, welche man bei den Philosophen am liebsten voraussetzt, bekräftiget die Verwandtschaft beider. In wenigen Dichtern und Philosophen leuchtete sie aber so hell als in Platon, der eben beides war; von seinen scharfen Charakteren an bis zu seinen Hymnen und Ideen hinauf, diesen Sternbildern eines unterirdischen Himmels. Man begreift die Möglichkeit, wie man zwanzig Anfänge seiner Republik nach seinem Tode finden konnte, wenn man im Phädrus, der alle unsere Rhetoriken verurteilt, die besonnene spielende Kritik erwägt, womit Sokrates den Hymnus auf die Liebe zergliedert. Die geniale Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche in der Uhr bloß für das Mäßigen und dadurch für das Unterhalten der Bewegung arbeitet. Was fehlte unserem großen Herder bei einem solchen Scharf-, Tief- und Viel- und Weitsinne zum höhern Dichter? Nur die letzte Ähnlichkeit mit Platon; daß nämlich seine Lenkfedern (pennae rectrices) im abgemessenen Verhältnis gegen seine gewaltigen Schwungfedern (remiges) gestanden hätten.

Mißverstand und Vorurteil ists, aus dieser Besonnenheit gegen den Enthusiasmus des Dichters etwas zu schließen; denn er muß ja im Kleinsten zugleich Flammen werfen und an die Flammen den Wärmemesser legen; er muß mitten im Kriegfeuer aller Kräfte die zarte Waage einzelner Silben festhalten und muß (in [58] einer andern Metapher) den Strom seiner Empfindungen gegen die Mündung eines Rheins zu leiten. Nur das Ganze wird von der Begeisterung erzeugt, aber die Teile werden von der Ruhe erzogen. Beleidigt übrigens z.B. der Philosoph den Gott in sich, weil er, so gut er kann, einen Standpunkt nach dem andern zu ersteigen sucht, um in dessen Licht zu blicken, und ist Philosophieren über das Gewissen gegen das Gewissen? – Wenn Besonnenheit als solche könnte zu groß werden: so stände ja der besonnene Mensch hinter dem sinnlosen Tiere und dem unbesonnenen Kinde, und der Unendliche, der obwohl uns unfaßbar, nichts sein kann, was er nicht weiß, hinter dem Endlichen!

Gleichwohl muß jenem Mißverstand und Vorurteil ein Verstand und Urteil vor- und unterliegen. Denn der Mensch achtet (nach Jacobi) nur das, was nicht mechanisch nachzumachen ist; die Besonnenheit aber scheint eben immer nachzumachen und mit Willkür und Heucheln göttliche Eingebung und Empfindung nachzuspielen und folglich – aufzuheben. Und hier braucht man die Beispiele ruchloser Geistes-Gegenwart nicht aus dem Denken, Dichten und Tun der ausgeleerten Selbstlinge jetziger Zeit zu holen, sondern die alte gelehrte Welt reicht uns besonders aus der rhetorischen und humanistischen in ihren frechen kalten Anleitungen, wie die schönsten Empfindungen darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie aus Gräbern zu Exempeln. Mit vergnügter ruhmliebender Kälte wählt und bewegt z.B. der alte Schulmann seine nötigen Muskeln und Tränendrüsen (nach Peucer oder Morhof), um mit einem leidenden Gesicht voll Zähren in einer Threnodie auf das Grab eines Vorfahrers öffentlich herabzusehen aus dem Schul-Fenster, und zählt mit dem Regenmesser vergnügt jeden Tropfen.

Wie unterscheidet sich nun die göttliche Besonnenheit von der sündigen? – Durch den Instinkt des Unbewußten und die Liebe dafür.

[59]
§ 13. Der Instinkt des Menschen
§ 13
Der Instinkt des Menschen

Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewußte. Daher wird ein großer wie Shakespeare Schätze öffnen und geben, welche er so wenig wie sein Körperherz selber sehen konnte, da die göttliche Weisheit immer ihr All in der schlafenden Pflanze und im Tierinstinkt ausprägt und in der beweglichen Seele ausspricht. Überhaupt sieht die Besonnenheit nicht das Sehen, sondern nur das abgespiegelte oder zergliederte Auge; und das Spiegeln spiegelt sich nicht. Wären wir uns unserer ganz bewußt, so wären wir unsre Schöpfer und schrankenlos. Ein unauslöschliches Gefühl stellet in uns etwas Dunkles, was nicht unser Geschöpf, sondern unser Schöpfer ist, über alle unsre Geschöpfe. So treten wir, wie es Gott auf Sinai befahl, vor ihn mit einer Decke über den Augen.

Wenn man die Kühnheit hat, über das Unbewußte und Unergründliche zu sprechen: so kann man nur dessen Dasein, nicht dessen Tiefe bestimmen wollen. Zum Glück kann ich im folgenden mit Platons und Jacobis Musenpferden pflügen, obwohl für eignen Samen.

Der Instinkt oder Trieb ist der Sinn der Zukunft; er ist blind, aber nur, wie das Ohr blind ist gegen Licht und das Auge taub gegen Schall. Er bedeutet und enthält seinen Gegenstand ebenso wie die Wirkung der Ursache; und wär' uns das Geheimnis aufgetan, wie die mit der gegebenen Ursache notwendig ganz und zugleich gegebene Wirkung doch in der Zeit erst der Ursache nachfolget: so verständen wir auch, wie der Instinkt zugleich seinen Gegenstand fodert, bestimmt, kennt und doch entbehrt. Jedes Gefühl der Entbehrung setzt die Verwandtschaft mit dem Entbehrten, also schon dessen teilweisen Besitz voraus 27; aber doch nur wahre Entbehrung macht den Trieb, eine Ferne die Richtung möglich. Es gibt, wie körperlich-organische, so geistig [60] organische Zirkel; wie z.B. Freiheit und Notwendigkeit oder Wollen und Denken sich wechselseitig voraussetzen.

Nun gibt es im reinen Ich so gut einen Sinn der Zukunft oder Instinkt wie im unreinen Ich und am Tiere, und sein Gegenstand ist zugleich so entlegen als gewiß; es müßte denn gerade im Menschen-Herzen die allgemeine Wahrhaftigkeit der Natur die erste Lüge sagen. Dieser Instinkt des Geistes – welcher seine Gegenstände ewig ahnet und fodert ohne Rücksicht auf Zeit, weil sie über jede hinauswohnen – macht es möglich, daß der Mensch nur die Worte Irdisch, Weltlich, Zeitlich u.s.w. aussprechen und verstehen kann; denn nur jener Instinkt gibt ihnen durch die Gegensätze davon den Sinn. Wenn sogar der gewöhnlichste Mensch das Leben und alles Irdische nur für ein Stück, für einen Teil ansieht: so kann nur eine Anschauung und Voraussetzung eines Ganzen in ihm diese Zerstückung setzen und messen. Sogar dem gemeinsten Realisten, dessen Ideen und Tage sich auf Raupenfüßen und Raupenringen fortwälzen, macht ein unnennbares Etwas das breite Leben zu enge; er muß dieses Leben entweder für ein verworren-tierisches, oder für ein peinlich-lügendes, oder für ein leeres zeit-vertreibendes Spiel ausrufen, oder, wie die ältern Theologen, für ein gemein-lustiges Vorspiel zu einem Himmel-Ernst, für die kindische Schule eines künftigen Throns, folglich für das Widerspiel der Zukunft. So wohnt schon in irdischen, ja erdigen Herzen etwas ihnen Fremdes, wie auf dem Harze die Korallen-Insel, welche vielleicht die frühsten Schöpfung-Wasser absetzten.

Es ist einerlei, wie man diesen überirdischen Engel des innern Lebens, diesen Todesengel des Weltlichen im Menschen nennt oder seine Zeichen aufzählt: genug, wenn man ihn nur nicht in seinen Verkleidungen verkennt. Bald zeigt er sich den in Schuld und Leib tief eingehüllten Menschen als ein Wesen, vor dessen Gegenwert, nicht vor dessen Wirkung wir uns entsetzen 28; wir nennen das Gefühl Geisterfurcht, und das Volk sagt bloß: »Die Gestalt, das Ding lässet sich hören«, ja oft, um das Unendliche auszudrücken, bloß: es. Bald zeigt sich der Geist als den Unendlichen, [61] und der Mensch betet. Wär' er nicht, wir wären mit den Gärten der Erde zufrieden; aber er zeigt uns in tiefen Himmeln die rechten Paradiese. – Er zieht die Abendröte vom romantischen Reiche weg, und wir blicken in die schimmernden Mond-Länder voll Nachtblumen, Nachtigallen, Funken, Feen und Spiele hinein.

Es gab zuerst Religion – Todesfurcht- griechisches Schicksal – Aberglauben – und Prophezeiung 29 – und den Durst der Liebe den Glauben an einen Teufel – die Romantik, diese verkörperte Geisterwelt, so wie die griechische Mythologie, diese vergötterte Körperwelt.

Was wird nun der göttliche Instinkt in gemeiner Seele vollends werden und tun in der genialen?

§ 14. Instinkt des Genies oder genialer Stoff
§ 14
Instinkt des Genies oder genialer Stoff

Sobald im Genius die übrigen Kräfte höher stehen, so muß auch die himmlische über alle, wie ein durchsichtiger reiner Eisberg über dunkle Erden-Alpen, sich erheben. Ja eben dieser hellere Glanz des überirdischen Triebes wirft jenes Licht durch die ganze Seele, das man Besonnenheit nennt; der augenblickliche Sieg über das Irdische, über dessen Gegenstände und unsere Triebe dahin, ist eben der Charakter des Göttlichen, ein Vernichtungkrieg ohne Möglichkeit des Vertrags, wie ja schon der moralische Geist in uns als ein unendlicher nichts außer sich für groß erkennt. Sobald alles eben und gleich gemacht worden, ist das Übersehen der Besonnenheit leicht.

Hier ist nun der Streit, ob die Poesie Stoff bedürfe oder nur mit Form regiere, leichter zu schließen. Allerdings gibt es einen äußern mechanischen Stoff, womit uns die Wirklichkeit (die äußere und die psychologische) umgibt und oft überbauet, welcher, ohne Veredlung durch Form, der Poesie gleichgültig ist und gar [62] nichts; so daß es einerlei bleibt, ob die leere Seele einen Christus oder dessen Verräter Judas besinge.

Aber es gibt ja etwas Höheres, als was der Tag wiederholt. Es gibt einen innern Stoff- gleichsam angeborne unwillkürliche Poesie, um welche die Form nicht die Folie, sondern nur die Fassung legt. Wie der sogenannte kategorische Imperativ (das Bild der Form, so wie die äußere Handlung das Bild des äußern Stoffs) der Psyche nur den Scheideweg zeigt, ihr aber nicht das weiße Roß 30 vorspannen kann, das ihn geht und das schwarze überzieht; und wie die Psyche das weiße zwar lenken und pflegen, aber nicht erschaffen kann: ebenso ists mit dem Musenpferd, das am Ende jenes weiße ist, nur mir Flügeln. Dieser Stoff macht die geniale Originalität, welche der Nachahmer bloß in der Form und Manier sucht; so wie er zugleich die geniale Gleichheit erzeugt; denn es gibt nur ein Göttliches, obwohl vielerlei Menschliches. Wie Jacobi den philosophischen Tiefsinn aller Zeitenkonzentrisch findet, aber nicht den philosophischen Scharfsinn 31: so stehen die dichterischen Genies zwar wie Sterne bei ihrem Aufgange anfangs scheinbar weiter auseinander, aber in der Höhe, im Scheitelpunkt der Zeit, rücken sie wie die Sterne zusammen. Hundert Lichter in einem Zimmer geben nur ein zusammengeflossenes Licht, obwohl hundert Schatten (Nachahmer). Was gegen den Nachahmer erkältet, ja oft erbittert, ist nicht etwan ein Raub an witzigen, bildlichen, erhabenen Gedanken seines Musters – denn nicht selten sind sie sein eignes Erzeugnis –, sondern es ist das, oft wider Willen der Parodie verwandte, Nachspielen des Heiligsten im Urbilde, das Nachmachen des Angebornen. Eben diese Adoption des fremden Allerheiligsten kann nicht die elterliche Wärme für dasselbe erstatten; daher der Nachahmer seine Wärme gegen die Nebensachen, die ihm verwandter sind, ausdrückt und an diesen die Zieraten vervielfältigt; je kälter, je geschmückter. So ist gerade die kalte Sonne Siberiens den ganzen Tag mit vielen Nebensonnen und Ringen umzogen. [63] Das Herz des Genies, welchem alle andere Glanz- und Hülfkräfte nur dienen, hat und gibt ein echtes Kennzeichen, nämlich neue Welt- oder Lebens-Anschauung. Das Talent stellet nur Teile dar, das Genie das Ganze des Lebens, bis sogar in einzelnen Sentenzen, welche bei Shakespeare häufig von der Zeit und Welt, bei Homer und andern Griechen von den Sterblichen, bei Schiller von dem Leben sprechen. Die höhere Art der Welt-Anschauung bleibt als das Feste und Ewige im Autor und Menschen unverrückt, indes alle einzelnen Kräfte in den Ermattungen des Lebens und der Zeit wechseln und sinken können; ja der Genius muß schon als Kind die neue Welt mit andern Gefühlen als andere aufgenommen und daraus das Gewebe der künftigen Blüten anders gesponnen haben, weil ohne den frühern Unterschied kein gewachsener denkbar wäre. Eine Melodie geht durch alle Absätze des Lebens-Liedes. Nur die äußere Form erschafft der Dichter in augenblicklicher Anspannung; aber den Geist und Stoff trägt er durch ein halbes Leben, und in ihm ist entweder jeder Gedanke Gedicht oder gar keiner.

Dieser Weltgeist des Genius beseelet, wie jeder Geist, alle Glieder eines Werks, ohne ein einzelnes zu bewohnen. Er kann sogar den Reiz der Form durch seinen höhern entbehrlich machen, und der Goethesche z.B. würde uns, wie im nachlässigsten Gedichte, so in der Reichs-Prose doch anreden. Sobald nur eine Sonne dasteht, so zeigt sie mit einem Stiftchen so gut die Zeit als mit einem Obeliskus. Dies ist der Geist, der nie Beweise gibt 32, nur sich und seine Anschauung, und dann vertrauet auf den verwandten, und heruntersieht auf den feindselig geschaffnen.

Manchem göttlichen Gemüte wird vom Schicksal eine unförmliche Form aufgedrungen, wie dem Sokrates der Satyr-Leib; denn über die Form, nicht über den innern Stoff regiert die Zeit. So hing der poetische Spiegel, womit Jakob Böhme Himmel und Erde wiedergibt, in einem dunklen Orte; auch mangelt dem Glase an einigen Stellen die Folie. So ist der große Hamann ein tiefer Himmel voll teleskopischer Sterne, und manche Nebelflecken löset kein Auge auf.

[64] Darum kamen manche reiche Werke dem Stilistiker, der nur nach Leibern gräbt und nicht Geister sucht, so arm vor, als die majestätischen hohen Schweizergebirge dem Bergknappen gegen tiefe Bergwerke erscheinen. Er sagt, er vermöge wenig oder nichts aus Werken dieser Art zu ziehen und zu exzerpieren; was so viel ist, als wenn er klagte, er könne mit und von der Freundschaft nichts weiter gewinnen als die Freundschaft selber. So kann es philosophische Werke geben, welche uns philosophischen Geist einhauchen, ohne in besondern philosophischen Paragraphen Stoff abzusetzen, z.B. einige von Hemsterhuis und Lessing. So kam über eben diesen besonnenen Lessing, welcher früher über poetische Gegenstände mehr dachte als sang, eigentlich nur in seinem Nathan und seinem Falk der dichterische Pfingstgeist, ein paar Gedichte, welche der gemeine Kritiker seinem Alter gern vergibt, an die Emilie Galotti sich haltend. Freilich die poetische Seele läßt sich, wie unsere, nur am ganzen Körper zeigen, aber nicht an einzelnen, obwohl von ihr belebten Fußzehen und Fingern, welche etwan ein Beispielsammler ausrisse und hinhielte mit den Worten: seht, wie regt sich das Spinnenbein!

§ 15. Das geniale Ideal
§ 15
Das geniale Ideal

Wenn es der gewöhnliche Mensch gut meint mit seinen Gefühlen, so knüpfet er – wie sonst jeder Christ es tat – das feiste Leben geradezu einem zweiten ätherischen nach dem Tode glaubend an, welches eben zu jenem wie Geist zu Körper passet, nur aber so wenig durch vorherbestimmte Harmonie, Einfluß, Gelegenheit mit ihm verbunden ist, daß anfangs der Leib allein erscheint und waltet, hinterher der Geist. Je weiter ein Wesen vom Mittelpunkte absteht, desto breiter laufen ihm dessen Radien auseinander; und ein dumpfer hohler Polype müßte, wenn er sich ausspräche, mehr Widersprüche in der Schöpfung finden als alle Seefahrer.

Und so findet man denn bei dem Volke innere und äußere Welt, Zeit und Ewigkeit als sittliche oder christliche Antithese bei dem Philosophen als fortgesetzten Gegensatz, nur mit wechselnder [65] Vernichtung der einen Welt durch die andere – bei dem bessern Menschen als wechselndes Verfinstern, wie zwischen Mond und Erde herrscht; bald ist am Janus-Kopfe des Menschen, welcher nach entgegengesetzten Welten schauet, das eine Augenpaar, bald das andere zugeschlossen oder zugedeckt.

Wenn es aber Menschen gibt, in welchen der Instinkt des Göttlichen deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das Irdische anschauen lehrt (anstatt in andern das Irdische ihn); – wenn er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und die zu einem Ganzen machen, da es vor dem Göttlichen nur eines und keinen Widerspruch der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel, und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend darin schwimmen. Daher kann das bloße Talent, das ewig die Götterwelt zum Nebenplaneten oder höchstens zum Saturn-Ring einer erdigen Welt erniedrigt, niemals ideal runden und mit dem Teil kein All ersetzen und erschaffen. Wenn die Greise der Prose, gleich leiblichen versteinert und voll Erde 33, uns die Armut, den Kampf mit dem bürgerlichen Leben oder dessen Siege sehen lassen: so wird uns so eng und bang beim Gesicht, als müßten wir die Not wirklich erleben; und in der Tat erlebt man ja doch das Gemälde und dessen Wirkung; und so fehlt immer ihrem Schmerze ein Himmel und sogar ihrer Freude ein Himmel. Sogar das Erhabne der Wirklichkeit treten sie platt, z.B. (wie Leichenpredigten zeigen) das Grab, nämlich das Sterben, dieses Verleben zwischen zwei Welten, und so die Liebe, die Freundschaft. Man begegne wenigstens in dem Wundfieber der Wirklichkeit ihnen nicht, die mit dem Wundpinsel ihrer Dicht-Prose ein neues ins [66] alte impfen, und durch deren Poesien echte nötig werden, um die falsche nur zu verschmerzen.

Wenn hingegen der Genius uns über die Schlachtfelder des Lebens führt: so sehen wir so frei hinüber, als wenn der Ruhm oder die Vaterlandsliebe vorausginge mit den zurückflatternden Fahnen; und neben ihm gewinnt die Dürftigkeit wie vor einem Paar Liebenden eine arkadische Gestalt. Überall macht er das Leben frei und den Tod schön; auf seiner Kugel sehen wir, wie auf dem Meer, die tragenden Segel früher als das schwere Schiff. Auf diese Weise versöhnet, ja vermählt er – wie die Liebe und die Jugend – das unbehülfliche Leben mit dem ätherischen Sinn, so wie am Ufer eines stillen Wassers der äußere und der abgespiegelte Baum aus einer Wurzel nach zwei Himmeln zu wachsen scheinen.

4. Programm. Über die griechische oder plastische Dichtkunst
§ 16. Die Griechen
§ 16
Die Griechen

Niemand klassifizieret so gern als der Mensch, besonders der deutsche. Ich werde mich im folgenden in angenommene Abteilungen fügen. Die breiteste ist die zwischen griechischer oder plastischer Poesie und zwischen neuer oder romantischer oder auch musikalischer. Drama, Epos und Lyra blühen mithin in beiden zu verschiedenen Gestalten auf. Nach der formellen Absonderung kommt die reale oder die nach dem Stoffe: entweder das Ideal herrschet im Objekte – dann ist die sogenannte ernste Poesie; – oder im Subjekt – dann wird es die komische; welche wieder in der Laune (wenigstens mir) lyrisch erscheint, in der Ironie oder Parodie episch, im Drama als beides.

Über Gegenstände, worüber unzählige Bücher geschrieben worden, darf man nicht einmal ebenso viele Zeilen sagen, sondern viel wenigere. Zehn fremde Könige erbaten und erhielten in Athen das Bürgerrecht; alle Jahrhunderte nach dessen Verfalle [67] haben nicht zehn Dichter-Könige aufzuführen, welche darin das poetische Bürgerrecht errungen hätten. Ein solcher Unterschied setzet nicht einen Unterschied der einzelnen Menschen – denn sogar die Ausnahmen wiederholt die schaffende Natur nach Regeln –, sondern den Unterschied eines Volks voraus, das selber eine Ausnahme war, wie z.B. Otaheiti, wenn uns anders in der geringen tausendjährigen Bekanntschaft mit Völkern nicht jedes als ein Individuum erscheinen muß. Folglich schildert man mit diesem Volke zugleich dessen Poesie; und jedes nordische steht so weit hinab, daß ein Dichter daraus, der einen Griechen erreichte, ihn eben dadurch überträfe in angeborner Gabe.

Nicht bloß ewige Kinder waren die Griechen, wie sie der ägyptische Priester schalt, sondern auch ewige Jünglinge. Wenn die spätern Dichter Geschöpfe der Zeit – ja die deutschen Geschöpfe der Zeiten – sind: so sind die griechischen zugleich Geschöpfe einer Morgenzeit und eines Morgenlandes. Eine poetische Wirklichkeit warf statt der Schatten nur Licht in ihren poetischen Widerschein. Ich erwäge das begeisternde, nicht berauschende Land mit der rechten Mitte zwischen armer Steppe und erdrückender Fülle so wie zwischen Glut und Frost und zwischen ewigen Wolken und einem leeren Himmel, eine Mitte, ohne welche kein Diogenes von Sinope leben konnte; – ein Land zugleich voll Gebirge, als Scheidemauer mannigfacher Stämme und als Schutz- und Treibmauern der Freiheit und Kraft, und zugleich voll Zaubertäler als weiche Wiegen der Dichter, von welchen ein leichtes Wehen und Wogen an das süße Ionien leitet, in den schaffenden Edengarten des Dichter-Adams Homer – Ferner die klimatisch mitgegebene Mitte der Phantasie zwischen einem Normann und einem Araber, gleichsam ein stilles Sonnenfeuer zwischen Mondschein und schnellem Erdenfeuer – Die Freiheit, wo zwar der Sklave zum Arbeitfleiß und zur Handwerks-Innung und zum Brotstudium verurteilt war (indes bei uns Dichter und Weise Sklaven sind, wie bei den Römern zuerst die Sklaven jenes waren), wodurch aber eben darum der freigelassene Bürger nur für Gymnastik und Musik, d.h. für Körper- und Seelenbildung zu leben hatte – Ferner die olympischen Siege des Körpers und [68] die des Genius waren zugleich ausgestellt und gleichzeitig und Pindar nicht berühmter als sein Gegenstand – Die Philosophie war kein Brot-, sondern ein Lebensstudium, und der Schüler alterte in den Gärten der Lehrer – Ein junger Dichtsinn, welcher, indes der spätere anderer Länder sonst von der Vorherrschaft philosophischen Scharfsinns zerfasert und entseelt wurde, bestand unverletzt und feurig vor dem alles zerschneidenden Heere von Philosophen, welche in wenigen Olympiaden die ganze transzendente Welt umsegelten 34 – Das Schöne war, wie der Krieg für Vaterland, allen Ausbildungen gemein und verknüpfte alle, so wie der delphische Tempel des Musengottes alle Griechennationen – Der Mensch war inniger in den Dichter eingewebt, und dieser in jenen, und ein Äschylus gedachte auf seiner Grabschrift nur seiner kriegerischen Siege; und wiederum ein Sophokles erhielt für seine poetischen (in der Antigone) eine Feldherrnstelle 35 auf Samos, und für die Feier seiner Leiche baten die Athener den belagernden Lysander um einen Waffenstillstand – Die Dichtkunst war nicht gefesselt in die Mauern einer Hauptstadt eingesargt, sondern schwebte fliegend über ganz Griechenland und verband durch das Sprechen aller griechischen Mundarten alle Ohren zueinem Herzen 36 – Alle tätigen Kräfte wurden von inneren und äußeren Freiheit-Kriegen geprüft, gestärkt und von Küsten-Lagen vielfach gewandt, aber nicht, wie bei den Römern, auf Kosten der anschauenden Kräfte ausgebildet, sondern den Krieg als einen Schild, nicht wie die Römer als ein Schwert führend – Nun vollends jenen Schönheitsinn erwogen, welcher sogar die Jünglinge (nach Theophrast) in Elea in männlicher [69] Schönheit wetteifern ließ, und der den Malern Bildsäulen, ja (in Rhodus) Tempel setzte; der Schönheitsinn ferner, welcher einen Jüngling, bloß weil er schön war, nach dem Tode in einem Tempel anbetete oder bei Lebzeiten als Priester darin aufstellte 37; und welchem das Schauspiel wichtiger als ein Feldzug, die öffentlichen Richter über ein Preisgedicht so angelegen waren als die Richter über ein Leben, und welcher den Siegeswagen eines Dichters oder Künstlers durch sein ganzes Volk rollen ließ – Ein Land, wo alles verschönert wurde, von der Kleidung bis zur Furie, so wie in heißen Ländern in Luft und Wäldern jede Gestalt, sogar das Raubtier, mit feurigen prangenden Bildungen und Farben fliegt und läuft, indes das kalte Meer unbeholfne, zahllose und doch einförmige, das Land nachäffende, graue Ungestalten trägt – Ein Land, wo in allen Gassen und Tempeln die Lyra-Saiten der Kunst wie aufgestellte Äolsharfen von selber erklangen – Nun dieses schönheittrunkne Volk noch mit einer heitern Religion in Aug' und Herz, welche Götter nicht durch Buß-, sondern durch Freudentage versöhnte und, als wäre der Tempel schon der Olymp, nur Tänze und Spiele und die Künste der Schönheit verordnete und mit ihren Festen wie mit Weinreben drei Viertel des Jahrs berauschend umschlang – Und dieses Volk, mit seinen Göttern schöner und näher befreundet als irgendeines, von seiner heroischen Vorzeit an, wo sich, wie auf einem hohen Vorgebirge stehend, seine Helden-Ahnen riesenhaft unter die Götter verloren 38, bis zur Gegenwart, worin auf der von lauter Gottheiten bewohnten oder verdoppelten Natur in jedem Haine ein Gott oder sein Tempel war, und wo für alle menschliche Fragen und Wünsche, wie für jede Blume, irgendein Gott ein Mensch wurde, und wo das Irdische überall das Überirdische, aber sanft wie einen blauen Himmel über und um sich hatte – – Ist nun einmal ein Volk schon so im Leben verherrlicht und schon im Mittagschein[70] von einem Zauberrauche umflossen, den andere Völker erst in ihrem Gedicht auftreiben: wie werden erst, müssen wir alle sagen, um solche Jünglinge, die unter Rosen und unter der Aurora wachen, die Morgenträume der Dichtkunst spielen, wenn sie darunter schlummern – wie werden die Nacht-Blumen sich in die Tag-Blumen mischen – wie werden sie das Frühlingsleben der Erde auf Dichter-Sternen wiederholen – wie werden sie sogar die Schmerzen an Freuden schlingen mit Venus-Gürteln! –

Auch die Heftigkeit, womit wir Nordleute ein solches Gemälde entwerfen und beschauen, verrät das Erstaunen der Armut. Nicht, wie die Bewohner der warmen schönen Länder, an die ewige Gleiche der Nacht und des Tages gewöhnt, d.h. des Lebens und der Poesie, ergreift uns sehr natürlich nach der längsten Nacht ein längster Tag desto stärker, und es wird uns schwer, uns für die Dürre des Lebens nicht durch die Üppigkeit des Traums zu entschädigen – sogar in Paragraphen.

§ 17. Das Plastische oder Objektive der Poesie
§ 17
Das Plastische oder Objektive der Poesie

Vier Hauptfarben der griechischen Dichter werden von dem Rückblick auf ihr Volk gefunden und erklärt.

Die erste ist ihre Plastik oder Objektivität. Es ist bekannt, wie in den griechischen Gedichten alle Gestalten wie gehende Dädalus-Statuen voll Körper und Bewegung auf der Erde erscheinen, indes neuere Formen mehr im Himmel wie Wolken fließen, deren große, aber wogende Umrisse sich in jeder zweiten Phantasie willkürlich gestalten. Jene plastischen Formen der Dichter (vielleicht ebensooft Töchter als Mütter der wirklichen Statuen und Gemälde, denen der Dichter überall begegnete) kommen mit der Allmacht der Künstler im Nackten aus einer Quelle. Nämlich nicht die bloße Gelegenheit, das Nackte zu studieren, stellte den griechischen Künstler über den neuern – denn warum erreicht dieser jenen denn nicht in den immer nackten Gesichtern und Händen, zu welchen er, glücklicher als jener, noch dazu die idealen Formen hat, die der Grieche ihm und sich gebären mußte? –, [71] sondern jene sinnliche Empfänglichkeit tat es, womit das Kind, der Wilde, der Landmann jeden Körper in ein viel lebendigeres Auge aufnimmt als der zerfaserte Kultur-Mensch, der hinter dem sinnlichen Auge steht mit einem geistigen Sehrohre.

Ebenso faßte der dichtende Grieche, noch ein Jüngling der Welt, Gegenwart und Vorzeit, Natur und Götter in ein frisches und noch dazu feuriges Auge; – die Götter, die er glaubte, seine heroische Ahnen-Zeit, die ihn stolz machte, alle Wechsel der Menschheit ergriffen wie Eltern und Geliebte sein junges Herz – und er verlor sein Ich in seinen Gegenstand.

Aus dem kräftigen Eindruck wird Liebe und Anteil; die rechte Liebe aber ist stets objektiv und verwechselt und vermischt sich mit ihrem Gegenstande. In allen Volksliedern und überall auf Morgenstufen, wo der Mensch noch rechten Anteil nimmt – z.B. in denErzählungen der Kinder und Wilden und der Volkssänger und noch mehr der anbetenden vier Evangelisten –, will der Maler nur seinen Gegenstand darreichen, nicht sich und seine Gestelle und Malerstöcke. Rührend ist oft dieses griechische Selbst-Vergessen, selber da, wo der Verfasser sich seiner, aber nur als Objekt des Objektes erinnert; so hätte z.B. kein neuer Künstler sich so einfach und bedeutungslos hingestellt als Phidias sich auf das Schild seiner Minerva, nämlich als einen alten Mann, der einen Stein wirft. Daher ist aus den neuern Dichtern viel vom Charakter der Verfasser zu erraten; aber man errate z.B. den individuellen Sophokles aus seinen Werken, wenn man kann!

Dies ist die schöne Objektivität der Unbesonnenheit oder der Liebe. Dann bringt die Zeit die wilde Subjektivität derselben, oder des Rausches und Genusses, der seinen Gegenstand verschlingt und nur sich zeigt. Dann kommt die nicht viel bessere Objektivität einer herzlosen Besonnenheit, welche heimlich nur an sich denkt und stets einen Maler malt; welche das Objektiv-Glas am Auge hält, das Okuler-Glas aber gegen das Objekt und dadurch dieses ins Unendliche zurückstellet. Allerdings ist noch eine Besonnenheit übrig, die höhere und höchste, welche wieder durch einen heiligen Geist der Liebe, aber einer göttlichen allumfassenden getrieben, objektiv wird.

[72] Die Griechen glaubten, was sie sangen, Götter und Heroen. So willkürlich sie auch beide episch und dramatisch verflochten: so unwillkürlich blieb doch der Glaube an ihre Wahrheit; wie ja die neuern Dichter einen Cäsar, Kato, Wallenstein u.s.w. für die Dichtkunst aus der Wirklichkeit, nicht für die Wirklichkeit aus der Dichtkunst beweisen. Der Glaube aber gibt Anteil, dieser gibt Kraft und Opfer des Ich. Aus der matten Wirkung der Mythologie auf die neuere Dichtkunst, und so aller Götter-Lehren, der indischen, nordischen, der christlichen, der Maria und aller Heiligen, ersieht man die Wirkung des Unglaubens daran. Freilich will und muß man jetzo durch eine zusammenfassende philosophische Beschreibung des wahrhaft Göttlichen, welches den Mythen aller Religionen in jeder Brust zum Grunde liegt, d.h. durch einen philosophischen unbestimmten Enthusiasmus den persönlichen bestimmten dichterischen zu ersetzen suchen; indes bleibt doch die neuere Poeten-Zeit, welche den Glauben aller Völker, Götter, Heiligen, Heroen aufhäuft, aus Mangel an einem einzigen Gott, dem breiten Saturn sehr ähnlich, der sieben Trabanten und zwei Ringe zum Leuchten besitzt und dennoch ein mattes kaltes Blei-Licht wirft, bloß weil der Planet von der warmen Sonne etwas zu weit abstehet; ich möchte lieber der kleine, heiße, helle Merkur sein, der keine Monde, aber auch keine Flecken hat, und der sich immer in die nahe Sonne verliert.

Wenig kann daher das stärkste Geschrei nach Objektivität aus den verschiedenen Musen- und andern Sitzen verfangen und in die Höhe helfen, da zu Objektivität durchaus Objekte gehören, diese aber neuerer Zeiten teils fehlen, teils sinken, teils (durch einen scharfen Idealismus) gar wegschmelzen im Ich. Himmel, wie viel anders greift der herzige, trauende Naturglaube nach seinen Gegenständen, gleichsam nach Geschwistern des Lebens, als der laue Nichtglaube, der mühsam sich erst einen zeitigen kurzen Köhlerglauben verordnet, um damit das Nicht-Ich (durchsichtiger und unpoetischer kann kein Name sein) zu einem halben Objekte anzuschwärzen und es in die Dichtung einzuschwärzen! Daher tut der Idealismus in dieser Rücksicht der romantischen Poesie so viele Dienste, als er der plastischen versagt und als die Romane [73] ihm früher erwiesen, wenn es wahr ist, daß Berkeley durch diese auf seinen Idealismus gekommen, wie dessen Biograph behauptet.

Der Grieche sah selber und erlebte selber das Leben; er sah die Kriege, die Länder, die Jahrszeiten, und las sie nicht; daher sein scharfer Umriß der Wirklichkeit; so daß man aus der Odyssee eine Topographie und Küsten-Karten ziehen kann. Die Neuern hingegen bekommen aus dem Buchladen die Dichtkunst samt den wenigen darin enthaltenen und vergrößerten Objekten, und sie bedienen sich dieser zum Genusse jener; ebenso werden mit zusammengesetzten Mikroskopen sogleich einige Objekte, ein Floh, ein Mückenfuß und dergl., dazu verkauft, damit man die Vergrößerungen der Gläser dagegen prüfe. Der neue Dichter trägt sich daher auf seinen Spaziergängen die Natur für den Objektenträger seiner objektiven Poesie zusammen.

Der griechische Jugend-Blick richtete sich als solcher am meisten auf die Körperwelt; in dieser sind aber die Umrisse schärfer als in der Geisterwelt; und dies gibt den Griechen eine neue Leichtigkeit der Plastik. Aber noch mehr! Mit der Mythologie war ihnen eine vergötterte Natur, eine poetische Gottes-Stadt sogleich gegeben, welche sie bloß zu bewohnen und zu bevölkern, nicht aber erst zu erbauen brauchten. Sie konnten da verkörpern, wo wir nur abbildern oder gar abstrahieren; da vergöttern, wo wir kaum beseelen; und konnten mit Göttern die Berge und die Haine und die Ströme füllen und heiligen, denen wir mühsam personifizierende Seelen einblasen. Sie gewannen den großen Vorzug, daß alle ihre Körper lebendig und veredelt, und alle ihre Geister verkörpert waren. Der Mythus hob jede Lyra dem schreitenden Epos und Drama näher.

§ 18. Schönheit oder Ideal
§ 18
Schönheit oder Ideal

Die zweite Hauptfarbe der Griechen, das Ideale oder das Schöne, mischt sich aus ihrer Helden- und ihrer Götter-Lehre und aus deren Mutter, der harmonischen Mitte aller Kräfte und Lagen. In der Mythologie, in diesem Durchgange durch eine Sonne, [74] einen Phöbus, hatten alle Wesen das Gemeine und den Überfluß der Individualität abgestreift; jeder Genuß hatte auf dem Olymp seinen Verklärung-Tabor gefunden. Ferner durch die wilden barbarischen Kräfte der Vorzeit, von der Entfernung ins Große gebildet, von früher Poesie ins Schöne gemalt, wurden Ahnen und Götter in ein glänzendes Gewebe gereihet und der goldene Faden bis in die Gegenwart herübergezogen, so daß nirgends die Vergötterung aufhörte. Mußte diese Nähe des Olymps am Parnasse nicht auch lauter glänzende Gestalten auf diesen herübersenden und ihn mit seinem himmlischen Lichte überziehen? – Eine Hülfe zur innern Himmelfahrt der Dichter war, daß ihre Gesänge nicht bloß auf, sondern meist auch für Götter gemacht waren und sich also schmücken und erheben mußten für ihre künftige Thronstelle in einem Tempel oder unter gottesdienstlichen Spielen. Endlich wenn Schönheit – die Feindin des Übermaßes und der Leere – nur wie das Genie im Ebenmaße aller Kräfte, nur im Frühling des Lebens, fast wie der Jahrszeit, blüht: so mußte sie in der gemäßigten Zone aller Verhältnisse am vollsten ihre Rosen öffnen; die Krampf-Verzerrungen der Knechtschaft, des gefesselten Strebens, des barbarischen Luxus, der religiösen Fieber und dergleichen waren den Griechen erspart. Gehört Einfachheit zum Schönen: so wurde sie ihnen fast von selber zuteil, da sie nicht, wie wir Nachahmer der Jahrhunderte, das Beschriebene wieder zu beschreiben und also das Schöne zu verschönern hatten. Einfachheit der Einkleidung wird nur durch Fülle des Sinns entschuldigt und errungen, so wie ein König und Krösus leicht in ungesticktem Gewande sich zeigt. Einfachheit an sich würde mancher bequem und willig nachahmen, aber was hätt' er davon, wenn er seine innere Armut noch in äußere einkleidete und in einen Bettler Rock den Bettelmusikanten? – Die geistige Plastik konnte so die Farbenzier verschmähen wie die körperliche jede an den Statuen, welche sich bloß mit der einzigen Farbe ihres Stoffs bekleiden.

Doch gibt es noch eine reine frische Nebenquelle des griechischen Ideals. – Alles sogenannte Edle, der höhere Stil begreift stets das Allgemeine, das Rein-Menschliche und schließt die Zufälligkeiten der Individualität aus, sogar die schönen. Daher die [75] Griechen (nach Winckelmann) ihren weiblichen Kunstgebilden das reizende Grübchen nicht liehen, als eine zu individuelle Bestimmung. Die Poesie fodert überall (ausgenommen die komische, aus künftigen Gründen) das Allgemeinste der Menschheit; das Ackergeräte z.B. ist edel, aber nicht das Backgeräte; – die ewigen Teile der Natur sind edler als die des Zufalls und des bürgerlichen Verhältnisses; z.B. Tigerflecke sind edel, Fettflecke nicht; – der Teil, wieder in Unterteile zerlegt, ist weniger edel 39, z.B. Kniescheibe statt Knie; – so sind die ausländischen Wörter, als mehr eingeschränkt, nicht so edel als das inländische Wort, das für uns als solches alle fremde der Menschheit umschließt und darbietet; z.B. das Epos kann sagen die Befehle des Gewissens, aber nicht die Dekrete, Ukasen etc. desselben 40 – so reicht und herrscht diese Allgemeinheit auch durch die Charaktere, welche sich erheben, indem sie sich entkleiden, wie Verklärte, des individuellen Ansatzes.

Warum oder daß vor uns alles in dem Verhältnisse, wie wir das Zufällige zurückwerfen, von Stufe zu Stufe schöner und lichter aufsteigt – so daß das Allgemeinste zugleich unvermutet das Höchste wird, nämlich endliches Dasein, dann unendliches Sein, nämlich Gott –: dies ist ein stiller Beweis oder eine stille Folge einer heimlichen angebornen Theodizée.

Nun sucht der Jüngling, welcher aus Güte, Unkunde und Kraft stets nach dem Höchsten strebt, das Allgemeine früher als das Besondere; daher ihm das Lyrische leicht und das Komische mit seiner Individualisierung so schwer wird. Die Griechen waren aber frische Jünglinge der Welt 41; folglich half ihr schöner Lebensfrühling das Blühen aller idealen Geschöpfe begünstigen.

[76]
§ 19. Ruhe und Heiterkeit der Poesie
§ 19
Ruhe und Heiterkeit der Poesie

Heitere Ruhe ist die dritte Farbe der Griechen. Ihr höchster Gott wurde, ob er gleich den Donner in der Hand hatte, (nach Winckelmann) stets heiter abgebildet. Hier ziehen wieder Ursachen und Wirkungen organisch durcheinander. In der wirklichen Welt sind Ebenmaß, Heiterkeit, Schönheit, Ruhe wechselnd füreinander Mittel und Folgen; in der poetischen ist jene frohe Ruhe sogar ein Teil oder eine Bedingung der Schönheit. Unter den äußern Ursachen jener griechischen Freude gehören außer den hellern Lebensverhältnissen und der steten öffentlichen Ausstellung der Poesie – denn wer wird zu öffentlichen Festspielen und vor einer Menge düstere Schattenwelten vorführen? – noch die Bestimmung für Tempel. Der griechische zärtere Sinn fand vor Gott nicht die enge Klage, welche in keinen Himmel, sondern ins dunkle Land der Täuschung gehört, aber wohl die Freude anständig, welche ja der Unendliche mit den Endlichen teilen kann.

Poesie soll, wie sie auch in Spanien sonst hieß, die fröhliche Wissenschaft sein und wie ein Tod zu Göttern und Seligen machen. Aus poetischen Wunden soll nur Ichor fließen, und wie die Perlenmuschel muß sie jedes ins Leben geworfene scharfe oder rohe Sandkorn mit Perlenmaterie überziehen. Ihre Welt muß eben die beste sein, worin jeder Schmerz sich in eine größere Freude auflöset und wo wir Menschen auf Bergen gleichen, um welche das, was unten im wirklichen Leben mit schweren Tropfen auffällt, oben nur als Staubregen spielet. Daher ist ein jedes Gedicht unpoetisch, wie eine Musik unrichtig, die mit Dissonanzen schließet.

Wie drückt nun der Grieche die Freude in seiner Dichtkunst aus? – Wie an seinen Götter-Bildern: durch Ruhe. Wie diese hohen Gestalten vor der Welt ruhen und schauen: so muß der Dichter und sein Zuhörer vor ihr stehen, selig-unverändert von der Veränderlichkeit. Tretet einmal in einen Abgußsaal ihrer Götter-Bildsäulen. Die hohen Gestalten haben Grabes-Erde und [77] Himmels-Wolke abgeworfen und decken uns eine selig-stille Welt auf in ihrer und in unserer Brust. Schönheit bewegt sonst im Menschen den Wunsch und die Scheu, wenn auch nur leise; aber die ihrige ruht einfach und unverrückt wie ein blauer Äther auf der Welt und Zeit; und nur die Ruhe der Vollendung, nicht der Ermüdung stillt ihr Auge und schließt den Mund. Es muß eine höhere Wonne geben als die Pein der Lust, als das warme weinende Gewitter der Entzückung. Wenn der Unendliche sich ewig freuet und ewig ruhet, so wie es am Ende, es mögen noch so viele ziehende Sonnen um gezogne Sonnen gehen, eine größte geben muß, welche allein still schwebt: so ist die höchste Seligkeit, d.h. das, wornach wir streben, nicht wieder ein Streben nur im Tartarus wird ewig das Rad und der Stein gewälzt –, sondern das Gegenteil, ein genießendes Ruhen, das far niente der Ewigkeit, wie die Griechen die Inseln der Seligen in den westlichen Ozean setzten, wo die Sonne und das Leben zur Ruhe niedergehen. Die alten Theologen kannten das Herz besser, wenn sie die Freude der Seligen, gleich der göttlichen, in ewiger Unveränderlichkeit und im Anschauen Gottes bestehen ließen und uns nach den eilf irdischen beweglichen Himmeln einen letzten festen gaben. 42 Wie viel reiner ahneten sie das Ewige, obwohl Unbegreifliche als die Neuern, welche die Zukunft für eine ewige Jagd durch das Weltall ausgeben und mit Vergnügen von den Sternsehern immer mehre Welten als Kauffahrteischiffe in Empfang nehmen, um sie mit Seelen zu bemannen, welche wieder auf Schiffen anlanden, und mit neuen immer tiefer in die Schöpfung hineinsegeln; so daß, wie in einem Konzert, ihr Adagio des Alters oder Todes zwischen dem jetzigen Allegro und dem künftigen Presto steht. Heißet das nicht, da alles Streben Kampf mit der Gegenwart ist, ewigen Krieg ausschreiben statt ewigen Frieden und, wie die Sparter, auch Götter bewaffnen?

In Satyrs und in Porträts legten die Alten die Unruhe, d.h. die Qual des Strebens. Es gibt keine trübe Ruhe, keine stille Woche des Leidens, sondern nur die des Freuens, weil auch der [78] kleinste Schmerz regsam und kriegerisch bleibt. Eben die glücklichen Indier setzen das höchste Glück in Ruhen, eben die feurigen Italiener reden von dolce far niente. Pascal hält den Menschen-Trieb nach Ruhe für eine Reliquie des verlornen göttlichen Ebenbildes. 43 Mit Wiegenliedern der Seele nun zieht uns der Grieche singend auf sein großes glänzendes Meer, aber es ist ein stilles.

§ 20. Sittliche Grazie der griechischen Poesie
§ 20
Sittliche Grazie der griechischen Poesie

Die vierte Hauptfarbe ihrer ewigen Bildergalerie ist sittliche Grazie. Poesie löset an sich schon den rohen Krieg der Leidenschaften in ein freies Nachspielen derselben auf, so wie die olympischen Spiele die ernsten Kriege der Griechen unterbrachen und aussetzten und die Feinde durch ein sanfteres Nachspielen der Kämpfe vereinigten. Da jede moralische Handlung als solche und als eine Bürgerin im Reiche der Vernunft frei, absolut und unabhängig ist, so ist jede wahre Sittlichkeit unmittelbar poetisch, und die Poesie wird wiederum jene mittelbar. Ein Heiliger ist dem Geiste eine poetische Gestalt, so wie das Erhabne in der Körperwelt. Freilich spricht die Poesie sich nicht sittlich aus durch das Auswerfen klingender Sentenzen (so wenig als die Gothaner unter Ernst I. sich sehr durch die Dreier werden gebessert haben, auf welche er Bibel-Sprüche prägen lassen), sondern durch lebendige Darstellung, in welcher der sittliche Sinn – so wie der Weltgeist und die Freiheit sich hinter das mechanische Räderwerk der Weltmaschine verbergen – als unsichtbarer Gott mitten über eine sündige freie Welt regieren muß, die er erschafft.

Das Unsittliche ist nie als solches poetisch, sondern wird es nur durch irgendeine Zumischung; z.B. durch Kraft, durch Verstand; daher ist, wie ich später zeigen werde, nur ein rein-unsittlicher Charakter, nämlich grausame und feige Ehrlosigkeit, unpoetisch,[79] nicht aber ihr Gegensatz, der rein-sittliche Charakter höchster Liebe, Ehre und Kraft. Je größer das Dichtergenie, desto höhere Engelbilder kann dasselbe aus seinem Himmel auf unsere Erde herunterlassen; da es sie aber, so wenig als eine neue Anschauung, willkürlich zusammenbauen oder erfinden, sondern nur in sich finden kann: so besiegelt dies wieder den Bund zwischen Sittlichkeit und Poesie. Man wende nicht ein: je größer ein Milton, desto größer seine Teufel. Denn zur Schilderung der Teufelsuperlativen als umgekehrter Götter ist nicht eine bejahende innere Anschauung, sondern nur eine Verneinung alles Guten vonnöten; wer also am reichsten zu bejahen weiß, vermag am reichsten zu verneinen.

Wir wollen uns hier nicht in die sittliche Zartheit der Griechen im Leben selber einlassen – denen andere Völker mehr in sittlicher als in ästhetischer Bedeutung Barbaren hießen, und welche Philipps Privatbriefe so wie den Rat eines ungerechten Siegs-Mittels gar nicht vorgetragen haben wollten, oder welche Euripides' Lobpreisung des Reichtums und Sokrates' Ankläger verabscheuten –, sondern wir schauen ihre sittliche Dichtkunst an. Wie lassen Sonne und Mond Homers, die Ilias und Odyssee, und das Siebengestirn des himmlischen Sophokles ein zartes scharfes Licht auf jeden Auswuchs, auf jeden Frevel, so wie auf jede heilige Scheu und Sitte fallen! Wie rein umschreibt sich im Herodot die sittliche Gestalt des Menschen! Wie jungfräulich spricht Xenophon, die attische honigvolle und stachellose Biene! – Der wie alle große Komiker sittlich verkannte Aristophanes, dieser patriotische Demosthenes im Sokkus, läßt ja wie ein Moses seinen Froschregen auf den Euripides nur zur Strafe seiner schlaffen und erschlaffenden Sittlichkeit fallen – weniger bestochen als Sokrates von dessen Sittensprüchen bei vorwaltender Unsittlichkeit im ganzen – und verschont dagegen mit dem kleinsten rauhen Anhauche nicht etwan seinen gekrönten Liebling Äschylos, sondern den religiösen Sophokles, welcher selber dem Euripides, wie Shakespeare dem Dichter Ben Jonson, zu große Achtung bewiesen. Stünde nun ein solcher von Aristophanes sittlich verurteilter Euripides in den jetzigen Ländern wieder auf: was würden die [80] Länder machen? Ehrenpforten zu einem Ehrentempel für ihn; »denn«, würden sie sagen, »es darf uns wohltun, endlich einmal den Wiederhersteller reiner Sittlichkeit auf unsern besudelten Bühnen zu begrüßen.«

Ferner unterschieden sich die Griechen noch durch eine doppelte Umkehrung von uns. Wir verlegen die sinnliche Seligkeit auf die Erde, und das sittliche Ideal in die Gottheit. Die Griechen geben den Göttern das Glück, den Menschen die Tugend. Die schöne Farbe der Freude, welche in ihren Schöpfungen blüht, liegt mehr auf unsterblichen Wangen als auf sterblichen; denn wie klagen sie nicht alle über das unstete Los der Sterblichen, über die Mühen des Lebens und über den alles erreichenden Schatten des Todes und über das ewige Nachsterben im Orkus! Und nur zur offnen Göttertafel der Unsterblichen auf dem Olympus blickt der Dichter auf, um sein Gedicht zu verklären und zu erheitern. Hingegen die sittliche unsterbliche Gestalt muß der Mensch, wie Gott den Adam, aus seinem Erdenkloß mit einsamen Kräften ausbilden; denn jeder Auswuchs und Wulst an dieser Gestalt, jeder Trotz auf Kraft und Glück, jede Keckheit gegen Sitte und Gottheit wird von denselben Himmels-Göttern – gleich als wären sie Erden-Götter – unerbittlich mit dem Höllenstein einer augenblicklichen Hölle berührt und verzehrt, eben von ihnen, welche sich den Mißbrauch der Allmacht vergönnen, weil sie keine Götter und keine Nemesis zu fürchten haben, ausgenommen den dunkelsten Gott nach einem Meineide beim Styx.

Möge dieses wenige nach so vielem über die Griechen, wenn auch nicht genug, doch nicht zuviel sein! – Gleicht nicht die angegebne Tetralogie ihrer Dichtkunst ihrem Dichtergott selber; und hat wie er den Lichtstrahl – die Lyra – die Heilpflanze – und den Pfeil gegen den Drachen?

[81]
5. Programm. Über die romantische Poesie
§ 21. Das Verhältnis der Griechen und der Neuern
§ 21
Das Verhältnis der Griechen und der Neuern

Keine Zeit ist mit der Zeit zufrieden; das heißet, die Jünglinge halten die künftige für idealer als die gegenwärtige, die Alten die vergangne. In Rücksicht der Literatur denken wir wie Jünglinge und Greise zugleich. Da der Mensch für seine Liebe dieselbe Einheit sucht, die er für seine Vernunft begehrt; so ist er so lange für oder wider Völker parteiisch, als er ihre Unterschiede nicht unter einer höhern Einheit auszugleichen weiß. – Daher mußte in England und noch mehr in Frankreich die Vergleichung der Alten und Neuern allzeit entweder im Wider oder im Für parteiisch werden. Der Deutsche, zumal im 19ten Jahrhundert, ist imstande, gegen alle Nationen – seine eigne verkannte ausgenommen unparteiisch zu sein.

Wir wollen daher das Bild der Griechen noch mit folgenden Zusätzen ergänzen. Erstlich ihr Musenberg stand gerade auf der Morgenseite in Blüte; die schönsten einfachsten Menschen-Verhältnisse und Verwickelungen der Tapferkeit, der Liebe, der Aufopferung, des Glücks und Unglücks nahmen die Glücklichen weg und ließen den spätern Dichtern bloß deren Wiederholung übrig und die mißliche Darstellung der künstlichern.

Ferner erscheinen sie als höhere Tote uns heilig und verklärt. Sie müssen auf uns stärker als auf sich selber wirken, weil uns neben dem Gedicht noch der Dichter entzückt; weil die schöne reiche Einfalt des Kindes nicht das zweite Kind, sondern den bezaubert, der sie verloren 44, und weil eben die welke Auseinanderblätterung durch die Hitze der Kultur uns fähig macht, in den griechischen Knospen mehr die zusammengedrungene Fülle zu sehen, als sie selber konnten. Ja auf so bestimmte Kleinigkeiten erstreckt sich der Zauber, daß uns der Olymp und der Helikon und das Tempe-Tal und jeder Tempel schon außerhalb des Gedichtes [82] poetisch glänzen, weil wir sie nicht zugleich in nackter Gegenwart vor unsern Fenstern haben; so wie ähnlicherweise Honig, Milch und andere arkadische Wörter uns als Bilder mehr anziehen denn als Urbilder. Schon der Stoff der griechischen Gedichte, von der Götter- und Menschen-Geschichte an bis zur kleinsten Münze und Kleidung, liegt vor uns als poetischer Demant da, ohne daß noch die poetische Form ihm Sonne und Fassung gegeben.

Drittens vermengt man, wie es scheint, das griechische Maximum der Plastik mit dem Maximum der Poesie. Die körperliche Gestalt, die körperliche Schönheit hat Grenzen der Vollendung, die keine Zeit weiterrücken kann; und so hat das Auge und die außen gestaltende Phantasie die ihrigen. Hingegen sowohl den äußern als den innern Stoff der Poesie häufen die Jahrhunderte reicher auf; und die geistige Kraft, die ihn in ihre Formen nötigt, kann an der Zeit sich immer stärker üben. Daher kann man richtiger sagen: dieser Apollo ist die schönste Gestalt, als: dieses Gedicht ist das schönste Gedicht. Malerei wie Gedicht ist schon weit mehr der romantischen Endlosigkeit verwandt und verschwimmt sich oft sogar bei Landschaften ganz in dieselbe.

Endlich ists ein alter Fehler der Menschen, daß sie bei dem ewigen Schauspiele der Zeit Wiederholungen des Schönen (ancora) befehlen, als könne in der überreichen Natur etwas, auch nur das Schlimmste, wiederkommen. Eine Volks-Doublette wäre ein größeres Wunder als ein Wolkenhimmel, der mit seinen abenteuerlichen Bildungen ganz irgendeinem dagewesenen gliche; nicht einmal in Griechenland könnte das alte auferstehen. Ja es ist sogar leer, wenn ein Volk über Geister-Reichtum das andere zur Rede setzt und z.B. das französische uns fragt: wo sind euere Voltaires, Rousseaus, Diderots, Buffons? Wir haben sie nicht (sagen wir), aber wo sind bei euch unsere Lessinge, Winckelmanne, Herder, Goethe etc.? Wahrlich nicht einmal elende Autoren finden ihre Neben-Affen im Auslande. In ganz England und Frankreich hat unter allen Schriftstellern, welche Romane schreiben, doch der bekannte ** (in **) keinen Zwillingsbruder; und es ist freilich für die Länder ein Glück.

[83] Wir priesen oben die Kraft der griechischen Götter-und Heroen-Lehre. Nur aber mache man doch nie im vielgliederigen Leben eines Volks irgendein Glied zur Seele und nicht nährende Früchte und Eier sogleich zu aufgehenden und ausgebrüteten! Ging nicht der Zug der Götter-Schar aus Ägyptens traurigen Labyrinthen über Griechenlands helle Berge auf Roms sieben Hügel? Aber wo schlug sie ihren poetischen Himmel auf als nur auf dem Helikon, auf dem Parnaß und an den Quellen beider Berge? – Dasselbe gilt von der Heroen-Zeit, welche auch auf Ägypter, Peruaner und fast alle Völker herüberglänzte, ohne doch in irgendeinem so wie im griechischen einen poetischen Widerschein nachzulassen.

Wenn nicht einmal die zeit- und religionverwandten Römer durch Nachahmen griechisch dichten lernten – welche überhaupt, als handelnde Theaterdichter und Akteurs der Erde, mehr als Volk denn als Individuen, mehr mit Taten als Worten, mehr daher in ihren Geschichtschreibern als in ihren Dichtern poetisch waren –: so ist unser Abstand und unser Mißglück der Nachahmung noch natürlicher. Die griechischen Götter sind uns nur flache Bilder und leere Kleider unserer Empfindungen, nicht lebendige Wesen. Ja anstatt daß es damals kaum falsche Götter auf der Erde gab – und jedes Volk in dem Tempel des andern ein Gast sein konnte –, so kennen wir jetzo fast nur falsche; die kalte Zeit wirft gleichsam den ganzen Welten-Himmel zwischen den Menschen und seinen Gott. – Sonderlich heiter ist das nordische Leben so wenig als der Himmel darüber; mitten in unsern hellesten Winter-Mittagen werden lange Abendschatten geworfen, moralisch und physisch; und daß die Sonne als Phöbus ein Land nicht licht-, holz-, dach,- kost- und pelzfrei hält, das spüren die Phöbus-Söhne am ersten. In den schönen Ländern fliegen die Schiffe singend am Ufer hin, wo ein Hafen am andern ist. – Was unsere Heroen-Zeit anlangt, so steht sie – ungleich der griechischen, mit Götter-Zeichen geschmückten – teils in der Bärenhaut vor uns da, teils durch Religion in die Eichen-Haine zurückgejagt, so daß wir uns mit dem Adam und Noah viel verwandter glauben als mit Hermann und den Jupiter mehr anbeten als den Gott Thor.

[84] Doch seit Klopstock setzen wir uns einander mehr darüber herab, daß wir uns nicht stärker hinaufsetzen, und dringen mit mehr Selbstbewußtsein jetzo auf mehr Selbstbewußtsein. – Und endlich (um den bösen Genius der Kunst zu nennen), sonst war die Poesie Gegenstand des Volks, so wie das Volk Gegenstand der Poesie; jetzo singt man aus einer Studierstube in eine andere hinüber, das Interessanteste in beiden betreffend. Um parteiisch zu werden, müßte man jetzo nichts weiter dazusetzen. Aber wie viel gehet hier der Wahrheit noch zur Ründung ab! – Eigentlich ists schon unnütz, alle Völker – und noch dazu ihre Zeiten – und vollends die ewig wechselnden Farbenspiele ihrer Genien – d.h. ein großes, vielgegliedertes, ewig anders blühendes Leben an ein paar weite Allgemeinheiten (wie plastische und romantische Poesie, oder objektive und subjektive) gleichsam am Kreuze zweier Hölzer festzuheften; denn allerdings ist die Abteilung wahr und so wahr als die ähnliche der ganzen Natur in gerade und in krumme Linien (die krumme als die unendliche ist die romantische Poesie), oder als die in Quantität und Qualität; so richtig als die, welche alle Musik in solche zerfällte, worin Harmonie, und in solche, worin Melodie vorklingt, oder kürzer ins simultane und ins sukzessive Übergewicht; so richtig als die polarisierenden leeren Klassifikationen der Schellingischen Ästhetiker; aber was ist aus dieser atomistischen Dürre für das dynamische Leben zu gewinnen? So kann z.B. durch die Schillersche Abteilung in naive Poesie 45 (wofür objektive klarer wäre) und in die [85] sentimentale (womit nur ein Verhältnis »moderner« Subjektivität ausgesprochen wird) die verschiedene Romantik eines Shakespeares, Petrarchs, Ariosts, Cervantes etc. ebensowenig bezeichnet noch geschieden werden als durch »naiv« die verschiedene Objektivität eines Homers, Sophokles, Hiobs, Cäsars.

Jedes einzelne Volk und seine Zeit ist ein klimatisches Organ der Poesie, und es ist sehr schwer, den verschlungenen Reichtum der Organisation so für ein System auseinanderzuwickeln, daß man für dasselbe nicht ebensoviel Lebensteile fallen lasse als aufnehme.

Indes kann dies die große Absonderung der griechischen und der romantischen Poesie so wenig aufheben als die Wesenleiter der Tiere deren Ordnen in Fächer.

§ 22. Wesen der romantischen Dichtkunst
§ 22
Wesen der romantischen Dichtkunst, Verschiedenheiten der südlichen und der nordischen

»Ursprung und Charakter der ganzen neuern Poesie lässet sich so leicht aus dem Christentum ableiten, daß man die romantische ebensogut die christliche nennen könnte.« Mit dieser Behauptung hob der Verfasser gegenwärtigen Paragraphen vor mehren Jahren an; aber das Widerlegen und Belehren von mehr als einem würdigen Kunstrichter fodert ihn auf, einiges abzuändern und wie eine Vorstadt wegzunehmen, um das Ganze oder die Festung zu schirmen. Die erste Frage ist: worin unterscheidet sich denn [86] der romantische Stil 46 vom griechischen? Die griechischen Bilder, Reize, Motive, Empfindungen, Charaktere, selber technische Schranken sind leicht in ein romantisches Gedicht herüber zu pflanzen, ohne daß dieses darum den weltseitigen Geist einbüßte; aber rückwärts fände die Verpflanzung romantischer Reize keine bequeme Stätte im griechischen Kunstwerk, höchstens das Erhabne, aber nur darum, weil es als Grenzgott Antikes und Romantisches verknüpft. Sogar die sogenannte moderne Unregelmäßigkeit z.B. der italienischen Oper, der spanischen Komödie ließe sich – da bloße Technik nicht die Geisterwelt des Dichtens in eine alte und eine amerikanische neue entzweizuschneiden vermag – mit antikem Geist erfüllen und bewegen; und dies wird durch Bouterweks Bemerkung schön bekräftigt, daß die italienische Poesie, bei allem Mangel an Ideen-Fülle, durch Klarheit, Einfachheit und Grazie mehr als jede neuere dem Muster der griechischen nachfolge und nachkomme. Gleichwohl springen die italienischen Formen mehr als die deutschen und die englischen über die griechischen hinaus. Und mit dieser wahren Ansicht widerlegt Bouterwek seine andere, nach welcher er das Romantische sehr in einer ungriechischen Einkindschaft des Ernsten, ja Tragischen und Komischen findet. Denn diese ist so wenig ein notwendiger Charakter des Romantischen, da er so oft fehlt, als sein Gegenteil ein Charakter des Antiken, wo er häufig da ist, z.B. in Aristophanes, welcher hart und schroff die Erhabenheit der Chöre in die Erniedrigung sogar der Götter einmischt, gleichsam die Anspannung des Gemüts in dessen komische Abspannung.

Fragen wir doch lieber das Gefühl, warum es z.B. sogar eine Gegend romantisch nennt. Eine Statue schließt durch ihre enge und scharfe Umschreibung jedes Romantische aus; die Malerei nähert sich schon durch Menschen-Gruppierungen ihm mehr und erreicht es ohne Menschen in Landschaften, z.B. von Claude. [87] Ein holländischer Garten erscheint nur als der Widerruf jedes Romantischen, aber ein englischer, der sich in die unbestimmte Landschaft ausdehnt, kann uns mit einer romantischen Gegend umspielen, d.h. mit dem Hintergrunde einer ins Schöne frei gelaßnen Phantasie. Was erteilt ferner den folgenden Beispielen aus der Dichtkunst das romantische Gepräge? In Cervantes' Trauerspiel Numantia verschworen alle Einwohner, um nicht von dem Hunger und den Römern unterjocht zu werden, sich zu einem gemeinschaftlichen Sterben. Als es geschehen und in der leeren Stadt nichts als Leichen und Scheiterhaufen lagen: so trat die Fama auf die Mauer, verkündigte den Feinden den Selbstmord der Stadt und Spaniens künftigen Glanz. – Oder: mitten im Homer die romantische Stelle, da Jupiter von seinem Olymp zugleich die kriegerische unruhige Ebene Trojas und die fernen arkadischen Auen voll stiller Menschen unter einerlei Sonnenlichte überschaut. Oder die obwohl schwächer glänzende Stelle in Schillers Tell, wo das Dichterauge von den getürmten Gebirgsketten herunterschweift in die langen lachenden Kornfluren der deutschen Ebene. Es ist in allen diesen Beispielen nicht das Erhabene, das, wie gedacht, so leicht ins Romantische verfließt sondern das Weite, welches bezeichnet. Das Romantische ist das Schöne ohne Begrenzung, oder das schöne Unendliche, so wie es ein erhabenes gibt. So ist Homer im angeführten Beispiel romantisch, indes er da, wo Ajax in der verfinsterten Schlacht um nichts weiter die Götter anfleht als um Licht, bloß erhaben ist. Es ist noch ähnlicher als ein Gleichnis, wenn man das Romantische das wogende Aussummen einer Saite oder Glocke nennt, in welchem die Tonwoge wie in immer ferneren Weiten verschwimmt und endlich sich verliert in uns selber und, obwohl außen schon still, noch immer lautet. Ebenso ist der Mondschein zugleich romantisches Bild und Beispiel. Den scharf umgrenzenden Griechen lag das Zweifellicht des Romantischen so fern und fremd, daß sogar Platon, so sehr Dichter und so nahe der christlichen Erhebung, den wahrhaft romantisch-unendlichen Stoff, das Verhältnis unserer dürftigen Endlichkeit zum Glanzsaale und Sternenhimmel der Unendlichkeit, bloß durch die eng und eckig abgeschnittene [88] Allegorie einer Höhle ausspricht, aus welcher wir Angeketteten die Schattenreihe der wahren Wesen, die hinter uns ziehen, vorübergehen sehen.

Ist Dichten Weissagen: so ist romantisches das Ahnen einer größern Zukunft, als hienieden Raum hat; die romantischen Blüten schwimmen um uns, wie nie gesehene Samenarten durch das allverbindende Meer aus der neuen Welt, noch ehe sie gefunden war, an Norwegens Strand anschwammen.

Wer ist nun die Mutter dieser Romantik? – Allerdings nicht in jedem Lande und Jahrhunderte die christliche Religion; aber jede andere steht mit dieser Gottes-Mutter in Verwandtschaft. Zwei romantische Gattungen ohne Christentum, einander in Ausbildung wie in Klima fremd, sind die indische und die derEdda. Die altnordische, mehr ans Erhabne grenzende fand im Schattenreiche ihrer klimatischen verfinsterten Schauernatur, in ihren Nächten und auf ihren Gebirgen zum Gespensterorkus eine grenzenlose Geisterwelt, worin die enge Sinnenwelt zerfloß und versank; dahin gehört Ossian 47 mit seinen Abend- und Nachtstücken, in welchen die himmlischen Nebelsterne der Vergangenheit über dem dicken Nachtnebel der Gegenwart stehen und blinken; und nur in der Vergangenheit findet er Zukunft und Ewigkeit.

Alles ist in seinem Gedichte Musik, aber entfernte und dadurch verdoppelte und ins Unendliche verschwommene, gleichsam ein Echo, das nicht durch rauh-treues Wiedergeben der Töne, sondern durch abschwächendes Mildern derselben entzückt.

Die indische Romantik bewegt sich in einer allbelebenden Religion, welche von der Sinnenwelt durch Vergeistigung die Schranken wegbrach; diese wurde so groß wie die Geisterwelt, aber nicht voll Polter-, sondern voll Schmeichelgeister, und Erde und Himmel sanken, wie auf einem Meere, einander zu. Dem Indier lebt die Blume mehr als dem Nordmann ein Mensch. Nun rechnet noch sein Klima dazu, diese üppige Brautnacht der Natur, und [89] den Indier, den wie eine Biene, im honigvollen Tulpenkelche ruhend, laue Weste wiegen, und der im süßen Schwanken ausruht. Eben darum mußte die indische Romantik mehr in den Sinnenzauber zergehen; und wenn Mondschein und Ton-Verhall Charaktere und Sinnbilder anderer romantischer Arten sind: so mag der dunkle Wohlduft die indische bezeichnen, zumal da er so oft ihr Leben wie ihre Gedichte durchspielt.

Die orientalische Poesie ist weniger der griechischen als der romantischen durch die Vorliebe für das Erhabne und das Lyrische und durch ihr Unvermögen in Drama und Charakteristik und am meisten durch die orientalische Denk- und Fühlart verwandt. Nämlich ein Gefühl der irdischen Nichtigkeit des Schattengewimmels in unserer Nacht, Schatten, welche nicht unter einer Sonne, sondern wie unter Mond und Sternen geworfen werden, und denen das kärgliche Licht selber ähnlich ist, ein Gefühl, als würde der Lebenstag unter einer ganzen Sonnenfinsternis voll Schauer und Nachtgefühl gelebt – ähnlich jenen Finsternissen, wo der Mond die ganze Sonne verschlingt, und nur er selber mit einem strahlenden Ringe vor ihr steht – diese Denk- und Fühlart, welche Herder, der größte Abzeichner des Orients, dem Norden so nahe vorgemalt, mußte sich der romantischen Dichtkunst auf einem Wege nähern, auf welchem das verschwisterte Christentum sie ganz erreichte und ausformte.

Wir gelangen nun zur christlichen Romantik; aber von ihr ist zuerst zu zeigen, warum sie in Süden (Italien und Spanien vorzüglich) andere Gestalten annahm und erschuf als in Norden, wo, wie oben bewiesen worden, schon der Landes-Boden den heidnischen Vorhof zum christlichen romantischen Allerheiligsten machte. Der Süden zeigt sich schon von Natur und dann in seinen vielfachen historischen Verflechtungen so viel anders, daß man Bemerkungen, welche die Romantik aus ganz andern als christlichen Quellen fließen lassen, erwägen oder berichtigen muß.

Der südlichen und frühesten gibt Bouterwek folgende Mütter: erstlich die höhere, von den alten Deutschen herübergebrachte Achtung der Weiber, und also den geistigern Stil der Liebe.

Aber nicht in den altdeutschen Wäldern, sondern in den christlichen [90] Tempeln wohnte die romantische Liebe; und ein Petrarch, der kein Christ ist, wäre ein unmöglicher. Die einzige Maria adelt alle Weiber romantisch; daher eine Venus nur schön, aber eine Madonna romantisch sein kann. Diese höhere Liebe war oder ist eben Blüte und Blume aus dem Christentum, das mit seinem Feuereifer gegen das Irdische den schönen Körper in eine schöne Seele zerschmelzt, um ihn dann in ihr lieben zu lassen, also das Schöne im Unendlichen. Der Name platonische Liebe ist bekanntlich einer anderen Liebe, jener reinen unbefleckten Freundschaft zwischen Jünglingen abgeborgt, welche an sich so schuldlos war, daß griechische Gesetzgeber sie sogar unter die Pflichten rechneten, und so schwärmerisch, daß für die Fehler des Geliebten der Liebende gezüchtiget wurde; hier wäre also, nur an einem verschiedenen Geschlechte, dieselbe vergötternde und von der Natur am fernsten vor einer Verunreinigung gehaltene Liebe wieder da wie bei den alten Deutschen, aber nicht jene heiligende durch Christentum, welche mit dem romantischen Schimmer bekleidete.

Der Rittergeist – der ohnehin Liebe und Religion, Dame und Notre-dame nebeneinander auf seine Fahnen stickte – und die Kreuzzüge, welche man zweitens zu Vätern der Romantik machte, sind Kinder der christlichen... In das gelobte Land ziehen, das von zwei Religionen auf einmal und vom größten Wesen der Erde in ein dämmerndes Reich der heiligen Ahnung und in einen Isthmus zwischen erster und zweiter Welt für die Phantasie erhoben war, hieß sich romantisch verklären und sich die tiefe irdische prosaisch und poetisch mit zwei Kräften unterwerfen, mit Tapferkeit und Religion. Was konnten aber Ähnliches die Heroenzeiten und Argonautenzüge gebären?

Als Diener und stumme Knechte der Romantik gelten noch die wachsenden Jahrhunderte, welche, von außen alle Völker immer mehr miteinander verschwisternd, deren eckigen Abschnitte zuründen; und welche von innen durch das steigende Sonnenlicht der Abstraktion wie ein Christentum immer mehr die feste Körperwelt zersetzen. Alles dies macht zu der Weissagung kühn, die dichtende Zukunft werde immer romantischer [91] und regelloser oder regelreicher und der Abstand von Griechenland breiter werden, und ihrem Flügelrosse werden so viele Flügel nachwachsen, daß sie gerade mit der Menge eine größere Schwierigkeit der geraden Flugbahn erfahren wird, wenn sie nicht, wie jene Sechsflügelgestalt im Ezechiel, einige Schwingen nur zum Verhüllen anwendet. Indes was gehen die Zeit oder Ewigkeit Ästhetikern und deren Vorschulen an? Soll denn nur die rückende Philosophie weiterkommen, und die fliegende Dichtkunst lahm rosten? Soll nach drei- oder viertausend Jahren und deren Millionen Horen keine andere Abteilung der Dichtkunst vorkommen als die matte Schillersche in den Horen von Sentimental und Naiv? – Man könnte behaupten, jedes Jahrhundert ist anders romantisch, so wie man aus Scherz und Ernst in jedem Planeten eine andere Dichtkunst setzen könnte. Dichtkunst, wie alles Göttliche im Menschen, ist an Zeit und Ort gekettet und muß immer ein Zimmermanns-Sohn und ein Jude werden; aber in anderer Zeit kann der Stand der Erniedrigung schon auf dem Berge Tabor anfangen, und die Verklärung auf einer Sonne vorgehen und blenden.

Übrigens ergibt sich von selber, daß das Christentum, obwohl gemeinschaftlicher Vater der romantischen Kinder, andere in Süden, andere in Norden erzeugen muß. Die südliche Romantik in dem klimatisch Griechenland verwandten Italien muß in einem Ariosto heiterer wehen und weniger von der antiken Form abfliegen und abfliehen als die nordische in einem Shakespeare, so wie dieselbe südliche sich anders und orientalisch-kühner im glühenden Spanien gestaltet. Die nordische Poesie und Romantik ist eine Äolsharfe, durch welche der Sturm der Wirklichkeit in Melodien streicht, ein Geheul in Getön auflösend, aber Wehmut zittert auf den Saiten, ja zuweilen ein hineingerissener Schmerz.

Wir können also in Rücksicht der nordischen Romantik den künftigen 23sten Paragraphen wieder wie den 22sten anfangen.

[92]
§ 23. Quelle der romantischen Poesie
§ 23
Quelle der romantischen Poesie

Ursprung und Charakter der ganzen neueren Poesie läßt sich so leicht aus dem Christentume ableiten, daß man die romantische ebensogut die christliche nennen könnte. Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmelsstaffel zusammen und setzte eine neue Geister-Welt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie 48 der Körperwelt, und Teufel als Verführer zogen in Menschen und Götterstatuen; alle Erden-Gegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturze der äußern Welt noch übrig? – Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. Engel, Teufel, Heilige, Selige und der Unendliche hatten keine Körper-Formen 49 und Götter-Leiber; dafür öffnete das Ungeheuere und Unermeßliche seine Tiefe; statt der griechischen heitern Freude erschien entweder unendliche Sehnsucht oder die unaussprechliche Seligkeit – die zeit- und schrankenlose Verdammnis – die Geisterfurcht, welche vor sich selber schaudert – die schwärmerische beschauliche Liebe – die grenzenlose Mönchs-Entsagung – die platonische und neuplatonische Philosophie.

In der weiten Nacht des Unendlichen war der Mensch öfter [93] fürchtend als hoffend. Schon an und für sich ist Furcht gewaltiger und reicher als Hoffnung (so wie am Himmel eine weiße Wolke die schwarze hebt, nicht diese jene), weil für die Furcht die Phantasie viel mehr Bilder findet als für die Hoffnung; und dies wieder darum, weil der Sinn und die Handhabe des Schmerzes, das körperliche Gefühl, uns in jedem Haut-Punkte die Quelle eines Höllenflusses werden kann, indes die Sinnen für die Freude einen so magern und engen Boden bescheren. Die Hölle wurde mit Flammen gemalt, der Himmel höchstens durch Musik 50 bestimmt, die selber wieder unbestimmtes Sehnen gibt. So war die Astrologie voll gefährlicher Mächte. So war der Aberglaube öfter drohend als verheißend. Als Mitteltinten der dunkeln Farbengebung mögen noch das Durcheinanderwerfen der Völker, die Kriege, die Pesten, die Gewalt-Taufen, die düstere Polar-Mythologie im Bund mit der orientalischen Sprach-Glut dazukommen und gelten.

§ 24. Poesie des Aberglaubens
§ 24
Poesie des Aberglaubens

Der sogenannte Aberglaube verdient als Frucht und Nahrung des romantischen Geistes eine eigne Heraushebung. Wenn man lieset, daß die Auguren zu Ciceros Zeiten die 12 Geier, welche Romulus gesehen, für das Zeichen erklärten, daß sein Werk und Reich 12 Jahrhunderte dauern werde, und wenn man damit den wirklichen Sturz des abendländischen Reichs im 12ten vergleicht: so ist der erste Gedanke dabei etwas Höheres 51 als der spätere, der die Kombinationen des Zufalls ausrechnet. Jeder erinnere sich [94] aus seiner Kindheit – wenn die seinige anders so poetisch war des Geheimnisses, womit man die 12 heiligen Nächte nannte, besonders die Christnacht, wo Erde und Himmel, wie Kinder und Erwachsene, einander ihre Türen zu öffnen schienen zur gemeinschaftlichen Feier der größten Geburt, indes die bösen Geister in der Ferne zogen und schreckten. Oder er denke an den Schauder, womit er von dem Kometen hörte, dessen nacktes glühendes Schwert jede Nacht am Himmel über die untere bange Welt herauf- und hinübergezogen wurde, um, wie von einem Todesengel ausgestreckt, auf den Morgen der blutigen Zukunft zu zeigen und zu zielen. Oder er denke ans Sterbebette eines Menschen, wo man am meisten hinter dem schwarzen langen Vorhang der Geisterwelt geschäftige Gestalten mit Lichtern laufen sah; wo man für den Sünder offne Tatzen und heißhungrige Geisteraugen und das unruhige Umhergehen erblickte, für den Frommen aber blumige Zeichen, eine Lilie oder Rose in seinem Kirchenstand, eine fremde Musik oder seine doppelte Gestalt u.s.w. fand. Sogar die Zeichen des Glücks behielten ihren Schauder; wie eben die letztbenannten, das Vorüberschweben eines seligen weißen Schatten und die Sage, daß Engel mit dem Kinde spielen, wenn es im Schlummer lächelt. O wie lieblich! Verfasser dieses ist für seine Person froh, daß er schon mehre Jahrzehende alt und auf einem Dorfe jung gewesen und also in einigem Aberglauben erzogen worden, mit dessen Erinnerung er sich jetzo, da man ihm statt der gedachten spielenden Engel Säuere im Magen untergeschoben 52, zu behelfen sucht. Wäre er in einer gallischen Erziehungsanstalt und in diesem Säkul sehr gut ausgebildet und verfeinert worden, so müßt' er manche romantische Gefühle, die er dem Dichter gleich zubringt, erst ihm abfühlen. In Frankreich gab es von jeher am wenigsten Aberglauben und Poesie; der Spanier hatte beides mehr; der heitere Italiener glich Römern und Griechen, bei welchen der Aberglaube nichts von unserm Geisterreiche an sich hatte, sondern sich auf ein Erdenglück, meist von bestimmten Wesen verkündigt, bezog; [95] denn z.B. an deutsche Särge hätte man nie die lustigen, grausamen, mutwilligen Gruppen der alten Urnen und Sarkophage gemalt, wie die Griechen und sogar die düstern Hetrurier taten.

Der nordische Aberglaube, welcher im Gefechte der Krähen oder im Kriegspielen der Kinder den blutigen Zeigefinger erblickte, welcher auf das schlachtende Stürmen der Völker wies, dieser war desto romantisch erhabner, je kleiner und unbedeutender die weissagenden Bilder waren. So erscheinen die Hexen in Shakespeares Macbeth desto fürchterlicher, je mehr sie in ihre Häßlichkeit einkriechen und verschrumpfen; aber in Schillers Macbeth sind die Kothurne, die er ihnen zur Erhöhung angeschuht, gerade die sogenannten Hexenpantoffeln des P. Fulgentius, welche ihre Zauberei bezwingen. Das Mißverhältnis zwischen Gestalt und Überkraft öffnet der Phantasie ein unermeßbares Feld des Schreckens; daher unsere unverhältnismäßige Furcht vor kleinen Tieren, und es muß ein kühner General sein, welcher vor dem nahen suchenden Summen einer erbosten Hornisse so ruhig und ungeregt fest sitzen kann als vor dem Summen einer Kanone. – In Träumen schaudert man mehr vor mystischen Zwergen als vor einer steilen offnen Riesengestalt.

Was ist nun am After- oder Aberglauben wahrer Glaube? Nicht der partielle Gegenstand und dessen persönliche Deutung – denn beide wechseln an Zeiten und Völkern –, sondern sein Prinzip, das Gefühl, das früher der Lehrer der Erziehung sein mußte, eh' es ihr Schüler werden konnte, und welches der romantische Dichter nur verklärter aufweckt, nämlich das ungeheure, fast hülflose Gefühl, womit der stille Geist gleichsam in der wilden Riesenmühle des Weltalls betäubt steht und einsam. Unzählige unüberwindliche Welträder sieht er in der seltsamen Mühle hintereinander kreisen – und hört das Brausen eines ewigen treibenden Stroms – um ihn her donnert es, und der Boden zittert – bald hie, bald da fällt ein kurzes Klingeln ein in den Sturm – hier wird zerknirscht, dort vorgetrieben und aufgesammelt – und so steht er verlassen in der allgewaltigen blinden einsamen Maschine, welche um ihn mechanisch rauschet und doch ihn mit keinem geistigen Ton anredet; aber sein Geist sieht sich [96] furchtsam nach den Riesen um, welche die wunderbare Maschine eingerichtet und zu Zwecken bestimmt haben und welche er als die Geister eines solchen zusammengebaueten Körpers noch weit größer setzen muß, als ihr Werk ist. So wird die Furcht nicht sowohl der Schöpfer als das Geschöpf der Götter; aber da in unserm Ich sich eigentlich das anfängt, was sich von der Weltmaschine unterscheidet und was sich um und über diese mächtig herumzieht, so ist die innere Nacht zwar die Mutter der Götter, aber selber eine Göttin. Jedes Körper- oder Welten-Reich wird endlich und enge und nichts, sobald ein Geisterreich gesetzt ist als dessen Träger und Meer. Daß aber ein Wille – folglich etwas Unendliches oder Unbestimmtes – durch die mechanische Bestimmtheit greift, sagen uns außer unserm Willen noch die Inschriften der beiden Pforten, welche uns in das und aus dem Leben führen; denn vor und nach dem irdischen Leben gibt es kein irdisches, aber doch ein Leben. Ferner sagt es der Traum, welchen wir als eine besondere freiere willkürliche Vereinigung der geistigen Welt mit der schweren, als einen Zustand, wo die Tore um den ganzen Horizont der Wirklichkeit die ganze Nacht offen stehen, ohne daß man weiß, welche fremde Gestalten dadurch einfliegen, niemals ohne einen gewissen Schauder bei andern kennen lernen. 53

Ja es wird, kann man sagen, sobald man nur einmal einen Menschengeist mit einem Menschenkörper annimmt, dadurch das ganze Geisterreich, der Hintergrund der Natur mit allen Berührkräften gesetzt; ein fremder Äther weht alsdann, vor welchem die Darmsaiten der Erde zittern und harmonieren. Ist eine Harmonie zwischen Leib und Seele, Erden und Geistern zugelassen: dann muß, ungeachtet oder mittelst der körperlichen Gesetze, der geistige Gesetzgeber ebenso am Weltall sich offenbaren, als der Leib die Seele und sich zugleich ausspricht; und das abergläubige Irren besteht nur darin, daß wir diese geistige Mimik[97] des Universums, wie ein Kind die elterliche, erstlich ganz zu verstehen wähnen und zweitens ganz auf uns allein beziehen wollen. Eigentlich ist jede Begebenheit eine Weissagung und eine Geister-Erscheinung, aber nicht für uns allein, sondern für das All; und wir können sie dann nicht deuten. 54 – –

§ 25. Beispiele der Romantik
§ 25
Beispiele der Romantik

Einzelne romantische Streiflichter fallen schon durch die griechische Poesie hindurch, wohin z.B. Ödips Dahinverschwinden im Sophokles, der fürchterliche Dämogorgon, das Schicksal etc. gehören. Aber der echte Zauberer und Meister des romantischen Geisterreichs bleibt Shakespeare (ob er gleich auch ein König mancher griechischen Inseln ist); und dieser schöne Mensch, der den Glauben der Geisterwelt würde erfunden haben, wenn er ihn nicht gefunden hätte, ist wie die ganze Romantik das Nachbild der Ebenen von Baku: die Nacht ist warm, ein blaues Feuer, das nicht verletzt und nicht zündet, überläuft die ganze Ebene, und alle Blumen brennen, aber die Gebirge stehen dunkel im Himmel.

Jetzo ist Schiller zu nennen. Wenn die Romantik Mondschein ist, so wie Philosophie Sonnenlicht: so wirft dieser Dichter über die beiden Enden des Lebens und Todes, in die beiden Ewigkeiten, in die Welt vor uns und die Welt hinter uns, kurz über die unbeweglichen Pole der beweglichen Welt seinen dichterischen Schein, indes er über der Mitte der Welt mit dem Tageslicht der Reflexion-Poesie steht; wie die Sonne nur an beiden Polen wechselnd nicht untergeht und den ganzen Tag als ein Mond dämmert. Daher der Mondschimmer, z.B. seiner Astrologie, seiner Jungfrau von Orleans 55, seines Glockenlieds. Bei letztem ist schon die [98] Wahl eines romantischen Aberglaubens romantisch, welcher den Guß der Glocken, als der heiligsten Werkzeuge, die nur aus dieser Welt in die andere rufen und uns in der jetzigen immer auf Herkules' Scheidewegen anreden, gewöhnlich von feindseligen Geistern bekämpft annahm.

Herders herrliche »Legenden« haben als christliche Romantik noch kein sprechendes Auge gefunden. – Die Mohrin Zorayda in Don Quixote schauet aus dem romantisch-gestirnten Himmel des Werks als näherer Stern herab. – Tieck (obwohl zu sehr aufgelöset in die romantische und deutsche Vorzeit, um eine Gegenwart anzunehmen und darzustellen) gab in Sternbald 56 fast eine shakespearesche humoristische Phantasie über die Phantasie.

Gozzi schimmert mit einer warmen italienischen Zaubernacht neben Goldoni, welcher Rom kalt und rein überschneiet. – Hebels alemannische Gedichte sind köstlich-romantisch.

Durch den romantischen Meister von Goethe zieht sich, wie durch einen ungehörten Traum, ein besonderes Gefühl, als walte ein gefährlicher Geist über den Zufällen darin, als tret' er jede Minute aus seiner Wetterwolke, als sehe man von einem Gebirge herab in das lustige Treiben der Menschen, kurz vor einer Katastrophe der Natur. Unter den Märchen werden seines in den Horen und unter den Dramen sein Faust als romantische Himmelszwillinge über der Nachwelt schimmern.

Bei den folgenden romantischen Beispielen bemerk' ich voraus, daß ich nur sie selber, aber nicht deren ganze Verfasser für romantisch und dichterisch erkläre. Damit entschuldige man mich, wenn ich inKlingers goldnem Hahn die Liebe des Pagen Fanno und der Prinzessin Rose, oder dessen Bambino für romantisch ausgebe und mit Recht behaupte, daß er dort zuerst auf das Hofleben romantisches Rosen- und Lilienlicht fallen ließ; denn seine Dichterjugend, worin die dichtende und die bürgerliche Welt sich so lange bekämpfte, bis endlich diese siegend vorwog, wie es denn sein neuestes Werk (»Bemerkungen« u.s.w.) durch die Urteile bewies, die es teils fällte, teils gewann. Ich frage jeden Revisor der Romanen oder gar der ästhetischen Literatur in Ergänzungblättern [99] allgemeiner Literaturzeitungen, ob er nicht sobald er nur einmal reifer ist als sein Urteil – zugeben und einsehen muß, daß Klingers Poesien den Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Ideal, anstatt zu versöhnen, nur erweitern, und daß jeder Roman desselben, wie ein Dorfgeigenstück, die Dissonanzen in eine schreiende letzte auflöse. Zuweilen in Giafar und andern schließt den gut motivierten Krieg zwischen Glück und Wert der matte kurze Frieden der Hoffnung oder ein Augenseufzer. Aber ein durch seine Werke wie durch sein Leben gezogenes Urgebirge seltener Mannhaftigkeit entschädigt für den vergeblichen Wunsch eines froheren farbigen Spiels. – Romantisch ist ferner Schlegels Sonett »die Sphinx« im Athenäum. Romantisch wird im Alarkos sowohl Schlegels als des ersten Bearbeiters in dem alten spanischen Romançe del Conde Alarcos der schauerliche Volksglaube gebraucht, daß der Missetäter in drei Tagen sterbe, wenn ihn das Opfer desselben vor Gottes Gericht im Sterben lade; auch verliert sich das Gebäude schön in eine romantische Abenddämmerung. Erhaben und wahr, nur zu kurz angedeutet ist der Zug, daß die Sterbende in der kalten Scheideminute, wo schon die zweite strengere Welt anfängt, die Erdenliebe gegen ihren Mörder verliert und wie ein Totengericht nur Gerechtigkeit befiehlt. – Romantisch ist die Liebgeschichte in der 185sten bis 210ten Nacht der arabischen Märchen; – ferner die Dichtung der Jahrszeiten in Mniochs Analekten (I. S. 67), aber desto unpoetischer die Dichtung über das Innere. Weit mehr romantisch, und sehr selten griechisch ist Klopstock, welcher, so wie Haydn in der Schöpfung mit Musik malt, so umgekehrt oft mit Malerei nur tönt; und man sollte nicht jede (oft nur philosophische) Einfachheit mit griechischem Geiste vermengen. 57

Nichts ist seltener als die romantische Blume. Wenn die Griechen die schönen Künste eine Musik nannten: so ist die Romantik die Sphärenmusik. Sie fodert das Ganze eines Menschen, und [100] zwar in zärtester Bildung, die Blüten der feinsten höchsten Zweige; und ebenso will sie im Gedichte über dem Ganzen schweben, wie ein unsichtbarer, aber mächtiger Blumenduft. Ein uns allen wohl bekannter und naher Verfasser macht zuweilen seinen romantischen Duft zu sichtbar und fest wie durch Frost. – Die Deutschen, deren poetischen Charakter Herder in Biedersinn und Hausverstand setzte, sind für die romantische Poesie zu schwer und fast für die plastische geschickter; und der große Lessing, welcher fast jeden Geist hatte, nur nicht den romantischen, könnte als charakteristischer Sprecher und Abgesandter des deutschen gelten, wiewohl er (ist der kühne Ausdruck erlaubt) zwar nicht in der Dicht-, aber in der Denk-Kunst romantisch war. Vossens plastische Idyllen stehen daher weit über seinen Oden, denen, wie noch mehr seinen Scherzgedichten, zwar nicht poetischer Körper, aber oft der ideale Geist zu mangeln scheint. Ebenso selten als das romantische Talent ist daher der romantische Geschmack. Da der romantische Geist, diese poetische Mystik, niemals im Einzelnen aufzufassen und festzubannen ist: so sind gerade die schönsten romantischen Blüten bei der Volksmenge, welche für die lesende die schreibende richtet, einem tierischen Betasten und Ertreten ausgesetzt; daher das schlimme Schicksal des guten Tiecks und besonders echter Märchen. – Dabei erschwert noch der Wechsel das Nachsprechen einer Regel; denn die plastische Sonne leuchtet einförmig wie das Wachen; der romantische Mond schimmert veränderlich wie das Träumen. – –

Wendet man das Romantische auf die Dichtungarten an: so wird das Lyrische dadurch sentimental – das Epische phantastisch, wie das Märchen, der Traum, der Roman – das Drama beides, weil es eigentlich die Vereinigung beider Dichtungarten ist.

[101]
6. Programm. Über das Lächerliche
§ 26. Definitionen des Lächerlichen
§ 26
Definitionen des Lächerlichen

Das Lächerliche wollte von jeher nicht in die Definitionen der Philosophen gehen – ausgenommen unwillkürlich –, bloß weil die Empfindung desselben so viele Gestalten annimmt, als es Ungestalten gibt; unter allen Empfindungen hat sie allein einen unerschöpflichen Stoff, die Anzahl der krummen Linien. Schon Cicero und Quinctilian finden das Lächerliche widerspenstig gegen jede Beschreibung desselben und diesen Proteus sogar in seinen Verwandlungen gefährlich für einen, der ihn in einer fesseln wollte. Auch die neue kantische, daß das Lächerliche von einer plötzlichen Auflösung einer Erwartung in ein Nichts entstehe, hat vieles wider sich. Erstlich nicht jedes Nichts tut es, nicht das unmoralische, nicht das vernünftige oder unsinnliche, nicht das pathetische des Schmerzes, des Genusses. Zweitens lacht man oft, wenn die Erwartung des Nichts sich in ein Etwas auflöset. Drittens wird ja jede Erwartung in ganzen humoristischen Stimmungen und Darstellungen sogleich auf der Schwelle zurückgelassen Ferner wird dadurch mehr das Epigramm und eine gewisse Art Witz beschrieben, welche Großes mit Kleinem paart. Aber an und für sich wird damit kein Lachen erweckt, so wenig als durch die Nebeneinanderstellung des Seraphs und des Wurms; und es brächte auch der Definition mehr Schaden als Vorteil, da die Wirkung dieselbe bleibt, wenn der Wurm zuerst kommt und dann der Seraph.

Endlich ist die Erklärung so unbestimmt und dadurch so wahr, als wenn ich sagte: das Lächerliche besteht in der plötzlichen Auflösung der Erwartung von etwas Ernsten in ein lächerliches Nichts. Die alte Definition von Aristoteles – welcher Argus von Blick und Geryon von Gelehrsamkeit überhaupt nie vorbeizugehen ist steht wenigstens auf der Bahn des Ziels, wiewohl nicht am Ziele, nämlich diese, daß das Lächerliche aus einer unschädlichen Ungereimtheit [102] entstehe. Aber weder die unschädliche der Tiere, noch die der Wahnsinnigen ist komisch; noch die größten ganzer Völker sinds, z.B. die der Kamtschadalen, welche ihren Gott Kulka seinen eigenen gefrornen Unrat für eine Schönheitgöttin der Liebe vor dessen Auftauen halten lassen. Flögel 58 will Linguets Meinung über die Giftigkeit des Brots, Rousseaus seine über die Vorzüglichkeit des Wilden-Lebens, oder die des dumpfen verächtlichen Schwärmers Postels, daß seine venezianische Hure Johanna die Welterlöserin der Weiber sei, von komischer Wirkung finden; aber wie sollen bloße Irrtümer, von welchen jeder Büchersaal wimmelt, ohne darum ein théatre aux Italiens oder des varietés amusantes zu sein, sich zu komischen Reizen ohne die Aussteuer der Kunst verschönern? – So irrig nun Flögel die bloße geistige Ungereimtheit ohne Verkörperung komisch findet: ebenso irrig nimmt er wieder körperliche Ungereimtheit ohne Vergeistigung für komisch, wenn er bei dem plastischen Höllen-Breughel, dem Prinzen von Pallagonia in Palermo, z.B. das Relief von Christi Leiden neben einem Gauklertanz oder den Neger zu Pferde gegenüber einem römischen Kaiser mit doppelter Nase lächerlich findet; denn diesen Verschiebungen der plastischen Wirklichkeit mangelt, wie dem Menschenzerrbilde, dem Tiere, die geistige Bedeutung.

Der scharfsinnige Rezensent der Vorschule in der Jenaer Literaturzeitung setzt das Komische in Unterbrechung der Totalität des Verstandes. Da es aber mehre solcher Unterbrechungen gibt – vom ernsten Irrtum bis zum Wahnsinn –, so muß die komische eben erst von jeder andern abgeschieden werden durch eine Definition des Komischen selber (später mehr über die geistreichen Einwürfe dieses Rezensenten). – Schiller erklärt die komische Poesie für ein Herunterziehen des Gegenstandes noch unter die Wirklichkeit selber. Aber der Unterschied, der das ernste Ideal so unerreichbar weit über die Wirklichkeit hinaushebt, läßt sich bei dem Komischen nicht durch Umkehrung anwenden, da die Wirklichkeit selber das Komische beherbergt und der Narr der Bühne zuweilen unverstümmelt auch im Leben erscheint, obwohl [103] nie der tragische Held. Und wie sollte uns eine verrenkte vertiefte Wirklichkeit erfreuen, da uns schon die natürliche prosaische betrübt? In jedem Falle geht dem Herabziehen unter die Wirklichkeit, welches ja der ernste Dichter auch am Sünder ausübt, die absondernde Entscheidung des Komischen ab.

Die neuere Schlegel-Schelling-Astische Definition des Komischen, daß dasselbe, z.B. die Komödie, »die Darstellung der idealen unendlichen Freiheit, also des negativen unendlichen Lebens oder der unendlichen Bestimmbarkeit und Willkür sei«, lass' ich hier sich mit der allerneuesten, aber für den Künstler mehr brauchbaren von St. Schütz 59 herumschlagen, welche das Komische für die Anschauung des Zwiespalts und des Siegs zwischen Notwendigkeit und Freiheit erklärt. Auch diesem Siege, welcher oft in Krankheit, Ohnmacht, unverschuldeter Armut, ehrenvollem Erliegen unter Überzahl ohne die Wirkung des Komischen erscheint, muß erst seine komische Kraft durch ausschließende Merkmale zugesichert werden.

Doch wozu langes Ankämpfen gegen fremde Definitionen? Man stelle die eigne hin, und jene sterben an ihr von selber, falls sie taugt, wie Adlerfedern andere Federn in der Nähe zerstören Es kann ohnehin ein Autor, wenn er auch sonst wünschte und vermöchte, nicht allen feindlichen Definitionen begegnen, da deren so viele und vielleicht die meisten erst nach seinem Tode gegen ihn auftreten und ausrücken, so daß er nach seinem Begräbnis zuletzt doch seiner eigenen immer den ganzen Sieg anheimstellen muß.

Übrigens haben wir später außer unserer Definition des Lächerlichen noch etwas zu suchen, das noch schwerer gefunden wird, nämlich die Ursache, warum uns dasselbe, obgleich als die Empfindung einer Unvollkommenheit, doch Vergnügen gewährt und zwar nicht nur in der Dichtkunst – welche auch auf den Schimmel Blüten und an dem Sarge Blumenstücke gibt –, sondern im trockenen Leben selber.

Man holet eine Empfindung am besten aus, wenn man sie um ihre entgegengesetzte befragt. Welche ist nun der Gegenschein [104] des Lächerlichen? Weder das Tragische, noch das Sentimentale ist es, wie schon die Wörter tragi-komisch und weinerliche Komödie beweisen. Shakespeare treibt mitten im Feuer des Pathos seine humoristischen nordischen Gewächse so unverletzt als in der Kälte des Lustspiels in die Höhe. Ja seine bloße Sukzession des Pathetischen und Komischen verwandelt ein Sterne gar in ein Simultaneum beider.

Man stelle aber einmal eine einzige lustige Zeile von beiden in ein heroisches Epos – und sie löset es auf. Verlachen, d.h. moralischer Unwille, verträgt sich in Homer, Milton, Klopstock mit der Dauer der erhabenen Empfindung; aber nie das Lachen. Kurz der Erbfeind des Erhabenen ist das Lächerliche 60; und komisches Heldengedicht ist ein Widerspruch und sollte heißen das komische Epos. Folglich ist das Lächerliche das unendliche Kleine; und worin besteht diese ideale Kleinheit?

§ 27. Theorie des Erhabenen
§ 27
Theorie des Erhabenen

Aber worin besteht denn die ideale Erhabenheit? – Kant und nach ihm Schiller antworten: in einem Unendlichen, das Sinne und Phantasie zu geben und zu fassen verzagen, indes die Vernunft es erschafft und festhält. Aber das Erhabene, z.B. ein Meer, ein hohes Gebirge, kann ja schon darum nicht unfaßbar für die Sinnen sein, weil sie das umspannen, worin jenes Erhabene erst wohnt; dasselbe gilt für die nachfliegende Phantasie, welche in ihrer unendlichen Wüste und Ätherhöhe vorher den unendlichen Raum für die erhabene Pyramide aufbauet. – Das Erhabene ist ferner zwar immer an ein sinnliches Zeichen (in oder außer uns) gebunden, aber dieses nimmt oft gar keine Kräfte der Phantasie [105] und der Sinne in Anspruch. So ist z.B. in jener orientalischen Dichtung, wo der Prophet das Merkmal der vorübergehenden Gottheit erwartet, welche nicht kommt hinter dem Feuer, nicht hinter dem Donner, nicht hinter dem Sturmwinde, sondern die endlich kommt mit einem linden, leisen Wehen, offenbar das sanfte Zeichen erhabener, als ein majestätisches wäre. So steht ästhetische Erhabenheit des Handelns stets im umgekehrten Verhältnis mit dem Gewichte des sinnlichen Zeichens, und nur das kleinste ist das erhabenste; Jupiters Augenbraunen bewegen sich weit erhabener in diesem Falle als sein Arm oder er selber.

Ferner teilt Kant das Erhabene ins mathematische und ins dynamische ein, oder wie Schiller es ausdrückt, in das, was unsere Fassungkraft übersteigt, und in das, welches unserer Lebenskraft droht. Man könnt' es kürzer das quantitative und das qualitative nennen, oder das äußere und das innere. Aber nie kann das Auge ein anderes als ein quantitatives Erhabene 61 anschauen; nur erst ein Schluß aus Erfahrungen, aber keine Anschauung kann einen Abgrund, ein stürmendes Meer, einen fliegenden Felsen zu einem dynamischen Erhabenen machen. Wie wird denn dieses aber angeschauet? Akustisch; das Ohr ist der unmittelbare Gesandte der Kraft und des Schreckens, man denke an den Donner der Wolken, der Meere, der Wasserfälle, der Löwen etc. Ohne alle Erfahrung wird ein Neuling von Mensch vor der hörbaren Größe zittern; aber jede sichtbare würde ihn nur heben und erweitern.

Wenn ich das Erhabene als das angewandte Unendliche definieren darf: so gibt es eine fünffache Einteilung oder auch eine dreifache: das angewandte auf das Auge (das mathematische oder optische Erhabene) – auf das Ohr (das dynamische oder akustische) – von innen muß die Phantasie die Unendlichkeit wiederum auf ihre eigne quantitative und qualitative Sinnlichkeit beziehen, als Unermeßlichkeit 62 und als Gottheit – und dann ist noch die [106] dritte oder fünfte Erhabenheit, welche sich gerade im umgekehrten Verhältnis mit dem äußern oder innern Sinnlichen und Zeichen offenbaret, die sittliche oder handelnde.

Wie wird nun das Unendliche gerade auf einen sinnlichen Gegenstand angewandt, wenn er selber, wie ich bewiesen, kleiner ist als die Flügel der Sinne und der Phantasie? Den ungeheuren Sprung vom Sinnlichen als Zeichen ins Unsinnliche als Bezeichnetes – welchen die Pathognomik und Physiognomik jede Minute tun muß – vermittelt nur die Natur, aber keine Zwischen-Idee; zwischen dem mimischen Ausdruck des Hasses z.B. und zwischen diesem selber, ja zwischen Wort und Idee gibt es keine Gleichung. Allein die Bedingungen müssen zu finden sein, unter welchen ein sinnlicher Gegenstand zum geistigen Zeichen wird vorzugsweise vor einem andern. Bei dem Ohre ist Extension und Intension zugleich vonnöten; der donnernde Ton muß zugleich ein langer sein. Da wir keine Kraft anschauend kennen als unsere; und da Stimme gleichsam die Parole des Lebens ist: so ists begreiflicher, warum gerade das Ohr das Erhabene der Kraft bezeichnet. Eine schnelle Vergleichung unserer Töne mit fremden muß man nicht ganz dabei aus schließen. Sogar die Stille kann erhaben werden, die eines hoch still schwebenden Raubvogels, die vor dem großen Meersturm, die nach dem großen Blitze vor dem Donner.

Die optische Erhabenheit ruhet nicht auf Intension – denn Blendung ist nicht erhaben, auch Nacht und Sonne wären es nicht, allein gesehen, ohne Himmel und Umgebung –, sondern auf Extension, aber nur der einfärbigen. 63 Eine unabsehliche angebauete Land-Ebene weicht dem grauen stillen Meere, obgleich jene optisch-intensiv dem Auge mehr Licht darreicht und obgleich dieses so gut als jene an der Wolke aufhört. So wäre einem Obeliskus durch große Farben-Flecke – nicht aber durch zu nah und zu klein aufgetragene, weil diese sonst vor dem schwindelnden Auge in einen verschmölzen – seine halbe Größe wegzunehmen. Warum dies aber, da eher verschiedene Farben sie heller und also bei alter Ferne größer bauen müßten? Darum: jede neue Farbe beginnt einen neuen Gegenstand, in der Ferne oder Nacht ausgenommen, [107] wo alle Farben ineinandertaumeln. Hingegen übersäe man sie wie eine Peters-Kuppel mit kleinen Lichtern: so wird sie größer, weil diese nachts 64 denselben Gegenstand fortsetzen, nicht sich anfangen. Daher sind die Sterne nur durch den Himmel optisch erhaben, nicht er durch sie. – Noch ist die letzte Frage: warum wird denn nun der von einer Farbe lange fortgesetzte Gegenstand ein Bild der Unendlichkeit?

Ich antworte: durch eine Grenze, also durch zwei Farben; und das Begrenzte ist erhaben, nicht das Begrenzende; das Auge wiederholet bis zum Schwindel dieselbe Farbe, und dieses ewige Wiederkommen des Nämlichen wird das unendliche Bild; weder die Mitte, noch die Spitze der Pyramide ist erhaben, sondern die Bahn des Blicks. Um aber eben zu wissen, daß hier ein Nämliches sei, muß ich hier ein Verschiedenes zugleich haben und ihm entgegensetzen; ohne dieses gäb' es kein Ziel, keine Ferne, also keine Größe; daher die Nacht vor dem zugedrückten Auge nicht erhaben ist, obwohl eine vor dem offnen, weil ich hier von einer erleuchteten Stelle oder von mir an den unendlichen Weg ziehe.

Ich erwehre mich des Einzelnen, da sich die Aufgaben und Auflösungen ins Unendliche vervielfältigen lassen; z.B. einer Untersuchung bedürfte der Fall, wo oft die verschiedenen Gattungen, wie Blitz und Donnerschlagen, vereinigt treffen, wie der Wasserfall, der mathematisch und dynamisch groß ist, so wie das stürmende Meer. Eine andere lange Untersuchung wäre wieder die, wie dieses angewandte Unendliche der Natur sich zu dem der Kunst verhalte, da in beiden die Phantasie auf die Vernunft bezieht u.s.w. Ebenso wäre gegen den kantischen »Schmerz bei jedem Erhabenen« viel einzuwenden, besonders dieses, daß nach ihm das größte den größten geben müßte, nämlich Gott; und so wäre gegen den andern kantischen Satz, daß neben dem Erhabenen alles klein sei, einzuwerfen, daß es sogar Stufen des Erhabenen, nicht als eines Unendlichen, sondern als eines angewandten, gibt; denn eine wache Sternennacht, z.B. über einem schlafenden Meere, sind keine so mächtigen Flügel der Seele als ein Gewitter-Himmel [108] mit seinem Gewitter-Meere; und Gott ist erhabener als ein Berg.

§ 28. Untersuchung des Lächerlichen
§ 28
Untersuchung des Lächerlichen

Wenn ein Programmatist, der das Lächerliche analysieren will, das Erhabene voraussendet, um bei dem Lächerlichen und dessen Analyse anzulangen: so kann sein theoretischer Gang sehr leicht zu einem praktischen ausschlagen.

Dem unendlich Großen, das die Bewunderung erweckt, muß ein ebenso Kleines entgegenstehen, das die entgegengesetzte Empfindung erregt.

Im moralischen Reiche gibt es aber nichts Kleines; denn die nach innen gerichtete Moralität erzeugt eigne und fremde Achtung und ihr Mangel Verachtung, und die nach außen gerichtete weckt Liebe und ihr Mangel Haß; zur Verachtung ist das Lächerliche zu unwichtig und zum Hasse zu gut. Es bleibt also für dasselbe nur das Reich des Verstandes übrig, und zwar aus demselben das Unverständige. Damit aber derselbe eine Empfindung erwecke, muß er sinnlich angeschauet werden in einer Handlung oder in einem Zustande; und das ist nur möglich, wenn die Handlung als falsches Mittel die Absicht des Verstandes, oder die Lage als Widerspiel die Meinung desselben darstellt und Lügen straft.

Noch sind wir nicht am Ziele. Obgleich nichts Sinnliches 65 allein lächerlich sein kann – d.h. nichts Lebloses, ausgenommen durch Personifikation – und wieder nichts Geistiges allein es werden kann – nicht der reine Irrtum, noch die reine Verstandeslosigkeit –, so fragt sich eben: durch welches Sinnliche spiegelt sich das Geistige und welches Geistige ab? –

Ein Irrtum an und für sich ist nicht lächerlich, so wenig als eine Unwissenheit; sonst müßten die verschiedenen Religionsparteien und Stände einander immer lächerlich finden. Sondern der Irrtum muß sich durch ein Bestreben, durch eine Handlung offenbaren[109] können; so wird uns derselbe Götzendienst, bei welchem wir als bloßer Vorstellung ernsthaft bleiben, lächerlich werden, wenn wir ihn üben sehen. Ein gesunder Mensch, der sich für krank hielte, würde uns erst komisch vorkommen durch wichtige Vorkehrungen gegen seine Not. Das Bestreben und die Lage müssen beide gleich anschaulich sein, um ihren Widerspruch zur komischen Höhe zu treiben. Allein noch immer haben wir nur einen anschaulich ausgedrückten endlichen Irrtum, der noch keine unendliche Ungereimtheit ist. Denn kein Mensch kann im gegebnen Falle nach etwas anderem handeln als nach seiner Vorstellung davon. Wenn Sancho eine Nacht hindurch sich über einem seichten Graben in der Schwebe erhielt, weil er voraussetzte, ein Abgrund gaffe unter ihm: so ist bei dieser Voraussetzung seine Anstrengung recht verständig; und er wäre gerade erst toll, wenn er die Zerschmetterung wagte. Warum lachen wir gleichwohl? Hier kommt der Hauptpunkt: wir leihen seinem Bestreben unsere Einsicht und Ansicht und erzeugen durch einen solchen Widerspruch die unendliche Ungereimtheit; zu dieser Übertragung wird unsere Phantasie, die hier, wie bei dem Erhabenen, der Mittler zwischen Innern und Äußern ist, ebenfalls wie bei dem Erhabenen nur durch die sinnliche Anschaulichkeit des Irrtums vermocht. Unser Selbst-Trug, womit wir dem fremden Bestreben eine entgegengesetzte Kenntnis unterlegen, macht es eben zu jenem Minimum des Verstandes, zu jenem angeschaueten Unverstande, worüber wir lachen, so daß also das Komische, wie das Erhabene, nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte.

Daher können wir eine und dieselbe innere und äußere Handlung belachen oder billigen, je nachdem wir unser Unterschieben anbringen können oder nicht. Niemand lacht über den wahnsinnigen Patienten, der sich für einen Kaufmann und seinen Arzt für den Schuldner hält; ebensowenig lacht man über den Arzt, der ihn zu heilen sucht. Wenn hingegen in Footes Indüstrierittern äußerlich ganz dasselbe geschieht, nur, daß innerlich der Patient so vernünftig ist wie der Arzt: so lachen wir dennoch, wenn der wahre Kauf mann die Bezahlung wirklicher Waren von einem Arzte erwartet, bei welchem die Diebin derselben die Schuldforderung [110] für eine fixe Idee ausgegeben. Beiden vernünftigen Männern legen wir zu ihren Handlungen durch die Täuschung des Komischen unsere Kenntnis der Betrügerin bei.

Da man aber fragen muß: warum unterlegen wir nicht jedem anerkannten Irrtum und Unverstand jene Folie, die ihn zum Komischen erhellt? so ist die Antwort: bloß die Allmacht und Schnelle der sinnlichen Anschauung zwingt und reißt uns in dieses Irrspiel hinein. Wenn z.B. in Hogarths reisenden Komödianten das Trocknen der Strümpfe an Wolken lachen macht: so dringt uns die sinnliche Plötzlichkeit des Widerspruchs zwischen Mittel und Zweck den flüchtigen Glauben auf, daß ein Mensch wahre Regenwolken zu Trockenseilen gebrauche. Dem Komödianten selber und später auch uns ist das Trocknen an einer festen Scheinwolke nichts Lächerliches. – Noch stärker zeigt sich die Gewalt sinnlicher Anschaulichkeit in dem Erzeugen des Lachens bei so ganz absichtlosen unfruchtbaren Ehen des Unähnlichsten, wie etwan z.B. in den propos interrompus (zu deutsch im sogenannten Schenken und Logieren), oder auch im zeilenweisen Hinüberlesen von einer Zeitung-Halbseite in die andere, wo auf einen Augenblick durch die Täuschung oder Unterschiebung eines absichtlichen Verbindens und Wahl-Handelns die Wirkung eintreten muß, damit man lacht. Ohne jene voreilige Unterschiebung, gleichsam ein Syllogismus der Empfindung, würde das Paaren alles Ungleichartigsten doch kein Lachen gebären; denn was ist nicht zu gleicher Zeit Unähnlichstes z.B. unter dem Nachthimmel ohne komische Gewalt beisammen – die Nebelflecken Nachtmützen – Milchstraßen – Stallichter – Nachtwächter Spitzbuben u.s.w.? Was sag' ich? Wird denn nicht jede Sekunde des Universums vom Niedrigsten und vom Höchsten nachbarlich gefüllt, und wann könnte das Lachen aufhören, wenn bloße Nachbarschaft gälte? Daher sind an sich die Kontraste der Vergleichung nicht lächerlich, ja sie können oft sehr ernsthaft sein, z.B. wenn ich hier sage: vor Gott ist der Erdball ein Schneeball, oder: das Rad der Zeit ist das Spinnrad für die Ewigkeit.

Zuweilen tritt die Umkehrung ein, und erst durch das Wissen des fremden Innern oder der Absicht wird die äußere Anschaulichkeit [111] komisch. Z.B. ein Holländer stehe in einem schönen Garten an einer Mauer und schaue durch ein Fenster derselben in die Gegend hinaus: so ist an einem Manne, welcher sich auf die Fensterbrüstung zum bequemern Genusse der Natur mit Armen legt, nichts, weswegen er in irgendeiner ästhetischen Vorschule als komisch anzuführen wäre. Sogleich aber wird der unschuldige Holländer ins komische Gebiet gebracht, wenn man noch hinzuerzählt, daß er, da er alle benachbarte Holländer Land- oder Gartenhäuser mit guten Aussichten ins Freie genießen sah, tat, was er vermochte, und weil er kein ganzes Landhaus erschwingen konnte, sich wenigstens eine kurze Mauer mit einem Fenster bauen ließ, aus welchem er, wenn er sich in solches legte, sehr frei und ungehindert die Landschaft vor sich hin beschauen und genießen konnte. Allein um vor seinem Kopfe in der Fensteröffnung anlachend vorbeizugehen, müssen wir ihm vorher etwas andichten, daß er nämlich zu gleicher Zeit sich die Aussicht habe vermauern und habe eröffnen wollen.

Oder: wenn der Dichter Ariosto seinem ihn ausscheltenden Vater ergeben zuhört: so liegt die Äußerlichkeit des Vaters wie des Sohnes von jedem Lächerlichen so lange ab, als man nicht das Innere des Sohnes erfährt, nämlich daß er in einem Lustspiel einen Poltervater ausarbeitet und daher den seinigen als einen gefundenen Vorfechter, goldenen Spiegel und eine anschauliche Poetik des theatralischen Vaters aufmerksam betrachtet, so wie dessen Gesichtszüge als mimischen Bauriß dazu; – jetzo erst macht das Darlehn unserer Ansicht beide komisch, so wenig an sich sonst ein zankender Vater oder ein abzeichnender Hogarth desselben es ist.

Ferner: man lacht weniger über das, was Don Quixote tut – dem Wahnwitze ist nichts zu leihen –, als was er an sich vernünftig sagt; Sancho Pansa aber weiß sich mit Reden und Taten gleich gut lächerlich zu machen. – Oder: da jeune jung und jeûne fastend, und général zugleich allgemein und ein General bedeutet, so ist die bekannte Verwechslung eines Übersetzers von jeune général zwischen einem allgemeinen Fasten und jungen General welche im Kriege oft kaum eine ist – nur durch unsere Unterschiebung[112] eines bewußten Verwechselns komisch. – Endlich: warum wird ein Mensch mit einer an sich nicht lächerlichen Eigentümlichkeit durch eine mimische, sogar nicht einmal travestierende Nachahmung und Adoption derselben doch lächerlich durch Ab- oder Nachdruck und Nachspiel auf einem fremden Gesicht? Und warum hingegen könnten zwei ähnliche Brüder und Menächmen, zugleich beisammen geschauet, leichter Schaudern 66 als Lachen erregen? Meine Antwort darauf ist bisher gegeben worden.

Daher kann niemand sich selber lächerlich im Handeln vorkommen, es müßte denn eine Stunde später sein, wo er schon sein zweites Ich geworden und dem ersten die Einsichten des zweiten andichten kann. Achten und verachten kann der Mensch sich mitten in der Tat, welche der Gegenstand des einen oder des andern ist, nicht aber sich auslachen, so wie nicht selber (s. Quint. Fixlein S. 395) sich lieben und hassen. – Wenn ein Genie von sich ebenso gut und zwar dasselbe Gute denkt (was vielen Stolz voraussetzt) als ein Tropf von sich, und wenn beide diesen Stolz mit gleichen körperlichen Zeichen vor die Anschauung bringen: so lachen wir, obwohl Stolz und Zeichen gleich gesetzt sind, nur den Tropf allein aus, bloß weil wir diesem allein etwas dazuleihen. Daher vollendete Dummheit oder Verstandeslosigkeit schwer lächerlich wird, weil sie uns das Leihen 67 unserer kontrastierenden Einsicht erschwert oder verbeut.

Daher die gemeinen Definitionen des Lächerlichen so falsch sind, welche nur einen einfachen realen Kontrast annehmen, anstatt den scheinbaren zweiten; daher das lächerliche Wesen und dessen Mangel wenigstens den Schein der Freiheit haben muß; daher lachen wir nur über die klügern Tiere, welche uns ein personifizierendes anthropomorphotisches Leihen verstatten. Daher [113] wächst das Lächerliche mit dem Verstande der lächerlichen Person. Daher bereitet sich der Mensch, der sich über das Leben und dessen Motive erhebt, das längste Lustspiel, weil er seine höhern Motive den tiefern Bestrebungen der Menge unterlegen und dadurch diese zu Ungereimtheiten machen kann; doch kann ihm der erbärmlichste das alles wieder zurückgeben, wenn er dem höhern Streben seine tiefern Motive unterschiebt. Daher fliegen eine ganze Menge Programmen, gelehrte Anzeiger und Anzeigen und die schwersten Ballen des deutschen Buchhandels, die an und für sich verdrüßlich und ekelhaft hinkriechen, sogleich als Kunstwerke auf, sobald man sich nur denkt (und ihnen also die höhern Motive leiht), daß sie irgendein Mann aus parodierendem Spaße hingeschrieben.

Auch bei dem Lächerlichen der Lage müssen wir, ebenso wie bei dem Lächerlichen der Handlung, dem komischen Wesen zu dem wahren Widerspruche mit dem Äußern noch einen erdichteten innern mit sich selber geben, ob es gleich oft ebensoschwer sein mag, im Überflusse einer lebendigen Empfindung 68 das dürre Gesetz zu verfolgen, als in jedem gegebnen Tiere das Sparrwerk der tierischen Schöpfung, nämlich das Fisch-Gerippe.

Man erlaube mir der Kürze wegen, daß ich in der künftigen Untersuchung die drei Bestandteile des Lächerlichen als eines sinnlich angeschaueten unendlichen Unverstandes bloß so nenne, wie folgt: den Widerspruch, worin das Bestreben oder Sein des lächerlichen Wesens mit dem sinnlich angeschaueten Verhältnis steht, nenn' ich den objektiven Kontrast; dieses Verhältnis den sinnlichen; und den Widerspruch beider, den wir ihm durch das Leihen unserer Seele und Ansicht als den zweiten aufbürden, nenn' ich densubjektiven Kontrast. [114] Diese drei Bestandteile des Lächerlichen müssen in der Verklärung der Kunst durch den Unterschied des wechselnden Übergewichts die verschiedenen Gattungen des Komischen entstehen lassen. Die plastische oder alte Dichtkunst lässet im Komischen den objektiven Kontrast mit dem sinnlichen Bestreben vorwalten; der subjektive verbirgt sich hinter die mimische Nachahmung. Alle Nachahmung war ursprünglich eine spottende; daher bei allen Völkern das Schauspiel mit der Komödie anfing. Zur spielenden Nachbildung dessen, was Liebe oder Schrecken einflößte, gehörte schon ein höherer Stand der Zeit. Auch war das Komische mit seinen drei Bestandteilen am leichtesten durch die mimische Nachäffung zu geben. Von der mimischen stieg man zur poetischen. Aber im Komischen, wie im Ernste, blieben die Alten ihrer plastischen Objektivität getreu; daher ihr Lorbeerkranz des Komischen nur an ihren Theatern hängt, bei den Neuern aber an andern Orten. Der Unterschied wird sich erst mehr erheben, wenn wir untersuchen, was das romantische Komische ist, und wenn wir Satire, Humor, Ironie, Laune prüfen und scheiden.

§ 29. Unterschied der Satire und des Komischen
§ 29
Unterschied der Satire und des Komischen

Das Reich der Satire stößet an das Reich des Komus – das kleine Epigramm ist der Markstein –; aber jedes trägt andere Einwohner und Früchte. Juvenal, Persius und ihresgleichen stellen lyrisch den ernsten moralischen Unwillen über das Laster dar, mithin machen sie ernst und erheben uns; selber die zufälligen Kontraste ihrer Malereien verschließen dem Lachen durch Bitterkeit den Mund. Hingegen das Komische treibt mit dem Kleinen des Unverstandes sein poetisches Spiel und macht heiter und frei. Die verspottete Unmoralität ist kein Schein, aber die verlachte Ungereimtheit ist ein halber. Torheit ist zu schuldlos und unverständig für den Schlag der Satire, so wie das Laster zu häßlich für den Kitzel des Lachens? obgleich an jener die unmoralische Seite verhöhnet und an diesem die unverständige belacht werden mag. Schon die Sprache setzt Hohn, Spott, Stachelschrift, Hohnlachen [115] scharf dem Scherzen, Lachen, Lustigmachen entgegen. Das satirische Reich ist, als die Hälfte des moralischen, kleiner, weil man nicht willkürlich verhöhnen kann; das lachende ist unendlich groß, nämlich so groß als das des Verstandes oder der Endlichkeit, weil zu jedem Grade sich ein subjektiver Kontrast erfinden lässet, der kleiner macht. Dort findet man sich sittlich angefesselt, hier poetisch freigelassen. Der Scherz kennt kein anderes Ziel als sein eignes Dasein. Die poetische Blüte seiner Nesseln sticht nicht, und von seiner blühenden Rute voll Blätter fühlt man kaum den Schlag. Es ist Zufall, wenn in einem echt komischen Werke etwas satirisch scharf ausschlägt; ja man wird davon in der Stimmung gestört. Wenn in Lustspielen die Spieler zuweilen aufeinander ernste Satiren sagen: so unterbrechen sie das Spiel durch die moralische Wichtigkeit, die sie dadurch einander verleihen.

Werke, worin der satirische Unwille und der lachende Scherz, wie oft in der Philosophie Vernunft und Verstand, ineinander gemengt und verwirret sind, z.B. Youngs Satiren und Popos Dunciade, quälen mit dem gleichzeitigen Genusse entgegengesetzter Tonarten. Lyrische Geister werden daher leicht satirisch, z.B. Tacitus, J. J. Rousseau, Schiller in Don Carlos, Klopstock 69, Herder; aber epische sind leichter komisch, besonders für die Ironie und die Komödie. Die Vermengung beider Gattungen hat eine moralische Seite und Gefahr. Belacht man das Unheilige, so macht man es mehr zu einer Sache des Verstandes; und das Heilige wird dann auch vor diesen unechten Richterstuhl gezogen. Züchtigt die Satire den Unverstand, so muß sie in Ungerechtigkeit übergehen und dem Willen das schuld geben, was der Zufall und Schein verbricht. Hier sündigen englische Satiriker; dort deutsche und gallische Komödienschreiber, welche den Ernst des Lasters in ein Lustspiel verkehren.

Leicht ist indes der Übergang und die Vermischung. Denn da der moralische Zorn der Satire sich gegen die beiden Sakramente des Teufels, gegen den moralischen Dualismus, nämlich gegen die Lieblosigkeit und gegen die Ehrlosigkeit zu kehren hat: so [116] wird sie im Kriege gegen die letzte dem Scherze begegnen, der die Eitelkeit am Unverstande beleidigt im Gefechte mit diesem. Die Persiflage des Welttons, eine rechte Mittlerin zwischen Satire und Scherz, ist das Kind unserer Zeit.

Je unpoetischer eine Nation oder Zeit ist, desto leichter sieht sie Scherz für Satire an, so wie sie nach dem vorigen umgekehrt die Satire mehr in Scherz verwandelt, je unsittlicher sie wird. Die alten Eselsfeste in den Kirchen, der Geckenorden und andere Spiele der poetischern Zeit würden sich jetzo zu lauter Satiren ausspinnen 70; statt des unschuldigen Gewebes der Seidenraupe, welche daraus als Schmetterling fliegt, ist ein Kankergespinste geworden, das eine Mücke fangen soll. Der Scherz fehlt uns bloß aus Mangel an – Ernste, an dessen Stelle der Gleichmacher aller Dinge, der Witz, trat, welcher Tugend und Laster auslacht und aufhebt. Daher kann sich gerade die persiflierende Nation am wenigsten im Humor und poetischen Komischen mit der ernsten britischen messen. Der freie Scherz wird in Paris, wie an Höfen, gefesselte Anspielung; so wie die Pariser sich durch ihre witzige Anspielung-Sucht sowohl die Freiheit als den Genuß der ernsten Dichtungen rauben. Daher haben die gravitätischen Spanier mehr Lustspiele als irgendein Volk und oft zwei Harlekine in einem Stück.

Ja der Ernst beweiset als Bedingung des Scherzes sich sogar an Individuen. Der ernste geistliche Stand hatte die größten Komiker 71, Rabelais, Swift, Sterne, Young in gehöriger Ferne, Abraham a Santa Clara in noch größerer und Regnier, ja es läßt in der größten sich noch ein Pfarrsohn anführen. Man bestätigt [117] sich diese fruchttragende Einimpfung des Scherzes in den Ernst noch mehr durch Nebenblicke. Z.B. ernste Nationen hatten den höhern und innigern Sinn für das Komische; der ernsten Briten nicht zu gedenken, so haben die ebenso ernsten Spanier mehre Komödien (nach Riccobini) geliefert als Italiener und Franzosen zusammengerechnet. So stand (nach Bouterwek) das spanische Lustspiel gerade unter den drei Philippen von 1556 bis 1665 in Blüte und Glanz; und unter Albas Umhermorden an den Niederlanden wurde von Cervantes im Kerker Don Quixote geboren und von Lope de Vega, einem Familiare der Inquisition, die Luststücke gemacht. – Führt man diese historischen Zufälligkeiten ohne Anmaßung eines scharfen Entscheidens an: so kann man vielleicht fortfahren und sogar dazusetzen, daß das trübe Irland meisterhafte Komiker – die mithin eine große Zahl anderer, wenn auch nur geselliger voraussetzt – gezeugt, von welchen nach Swift und Sterne noch der Graf Hamilton zu nennen, welcher, wie der berühmte Pariser Carlin, so still und ernst im Leben gewesen. Endlich steigert sich an den Jahren Humor, Ironie und jede komische Kraft, und mitten in der kalt nebelnden Trübe des Alters spielt wie ein Nachsommer die komische Heiterkeit sich heiter ein.

Mit dem alten Kernernste ging den Deutschen – zuerst im lustigen Leipzig – der Hanswurst verloren. Gleichwohl wären wir vielleicht alle noch ernsthaft genug für einen oder den andern Spaß, wenn wir mehr Staat-Bürger (citoyens) als Spieß-Bürger wären. Da nichts öffentlich bei uns ist, sondern alles häuslich: so wird jeder rot, der nur seinen Namen gedruckt sieht, und ich erinnere mich, daß der Verfasser dieses, als er den Verlust seiner Patentschnalle auf der Redoute ins Wochenblatt setzen ließ, statt seines Namens bloß beifügte: »bei wem? erfährt man im Intelligenzkomptoir.«

[118] Da bei uns nur der Stand die öffentliche Ehre genießet, nicht, wie in England, das Individuum: so will dieses auch nicht den öffentlichen Scherz erdulden. Keine deutsche Frau ließe, wie jene Britin, ihre abgeschnittene Locke zu einem Heldengedichte verspinnen – außer zu einem ernsten –, und noch weniger ließe sie sich Popens scherzende Zuneigung, d.h. dessen bedingtes Lob gefallen. Der Deutsche denkt unsäglich diskret. Wird z.B. etwas Biographisches und Nekrologisches an Schlichtegroll eingesandt: so liefert ihm die Familie vielleicht mehre Familien-Geheimnisse des Menschengeschlechts, nämlich des Toten Tod, Geburt, Hochzeittag und Amtsjahre mit einer gewissen Freimütigkeit aus, desgleichen die Nachrichten, daß der Mann ein guter Vater, treuer Freund und sonst das Beste gewesen. Es soll aber ins Paket eine einzige Anekdote hineingeraten sein, welche den Seligen oder einen aus dem Städtchen in einem saubern Schlafrock aufgestellt und nicht in Silber und Seide: so lässet die Familie das Paket wieder holen von der Post und zieht die Anekdote heraus, um nichts zu kompromittieren. Nicht nur wird keine deutsche Familie den Kopf ihres Vaters abschneiden und an den Doktor Gall abschicken zu Kupferstichen (und niemand wird hier gern einen an dem Kopf abliefern als seinen eignen), sondern sie würd' es auch nicht gerne sehen, wenn sie Voltaires Familie wäre, daß der Redakteur des Citoyen Français, le Maire, einen Zahn des alten bissigen Satirikers in goldner Fassung am Finger trägt; »warum soll« – würde die Familie sagen – »unser guter Großvater sich auf allen Straßen und Gassen umtreiben und seinen Hundszahn, der seiner Familie angehört, vor aller Welt aufdecken, zumal da der Zahn den Fraß hat und andere Makel?« –

§ 30. Quelle des Vergnügens am Lächerlichen
§ 30
Quelle des Vergnügens am Lächerlichen

Dieser tief und schief laufenden Quelle nachzuspüren und nachzudringen, ist so schwierig als unerlaßlich; denn sie bringt erst recht die Natur des Lächerlichen zutage. Aus welcher Definition [119] desselben – bloß eine ausgenommen – man auch dessen Freudengaben abzuleiten suche: so kann doch keine, z.B. die unschädliche Ungereimtheit des Lächerlichen – oder das Verdunsten in nichts – oder die schmerzliche Unterbrechung der Verstandestotalität – kurz alle diese wahren Mängel können nicht für den ohnehin von Mängeln geängstigten Menschengeist Freude und Erheiterung, oder gar eine so erschütternde zubereiten, daß er über das körperliche Nachspiel dieses geistigen Spiels kaum mehr Herr bleibt, wie z.B. der griechische Philemon, noch dazu Lustspieldichter, noch dazu im 100ten Jahre, noch dazu am Lachen bloß über einen Feigen fressenden Esel starb. Sogar das Komische in der Kunst kann den geistigen Kitzel bis an die Nähe des geistigen Schmerzes treiben; z.B. wenn in Wielands Abderiten der ganzen Ratsversammlung bei einem plötzlichen Schrecken alle heimliche Dolche aus den Westen entfahren und sie vor sich selber in Waffen blinkend dastehen – oder wenn in Smolletts Peregrine Pickle dem Maler, der im Finstern in ein fremdes Bette gedenkend, die suchende Hand auf einem darneben kauernden kahlen Mönchkopf wie auf einer glatten Kugel aufzuliegen kommt, welcher sich und die Hand allmählich zu heben anfängt, so daß der Maler über die unbegreifliche Erhebung so lange staunt, bis er mit der Hand ins Gebiß des Kopfes hineingleitet. – Eine ähnliche peinliche Überlust des Komischen empfand der uns allen bekannte Verfasser z.B. beim Malen von Stellen wie die, wo der zerstreute Pfarrer 72 auf das Kanzelpult sich unter dem Kanzelliede zum Beten niederbückt und das Aussingen der Gemeine verhört und fortliegend bleibt, indem er die stumme, auf sein Aufrichten lauernde Gemeine so lange überdenkt, bis er sich endlich aus der zurückgelassenen Perücke in die Sakristei abschleicht und diese allein auf dem Pulte als Predigt-Adjunktus stehen läßt.

Das körperliche Lachen ist entweder nur Folge des geistigen, und dienet dann ebensogut dem Schmerze der Zornwut, des Verzweifelns u.s.f., oder es entstand ohne den erregenden Geist, dann ists nur schmerzlich; z.B. das Lachen bei Wunden des Zwerchfells, bei Hysterie, selber bei Kitzel. Übrigens kann dasselbe[120] Glied ganz verschiedenen geistigen Bewegungen nachfolgen: dieselbe Träne hängt wie Tau an der Freude, wie Gewittertropfe am Schmerze, wie Giftschweißtropfe am Zorn, wie Weihwasser an der Bewunderung. Die Lust am geistigen Lachen aus körperlichem erklären, hieße das süße elegische Weinen aus dem Reize der Augen-Ausleerung quellen lassen.

Am meisten ist unter den Ableitungen der komischen Lust aus dem Geistigen die von Hobbes aus dem Stolze bestandlos. Erstlich ist die Empfindung des Stolzes sehr ernst, und gar nicht verwandt der komischen, obwohl der ebenso ernsten Verachtung. Unter dem Lachen fühlt man weniger sich gehoben (oft vielleicht das Gegenteil) als den andern vertieft. Der Kitzel der Selbstvergleichung müßte ja als komische Lust sich bei jeder Wahrnehmung fremden Irrtums und fremder Tiefe einstellen und desto lachender sein, je höher man stände, indes man doch gerade umgekehrt oft fremde Unterworfenheit mit Schmerz empfindet.

Und welches besondere Gefühl von Erhebung ist wohl möglich, da oft der belachte Gegenstand auf einem so niedrigen, mit uns ganz inkommensurabeln (unanmeßbaren) Vergleichgrade steht, wie z.B. der obige Esel mit Philemon, oder die körperlichen Lächerlichkeiten des Stolperns, des Fehlsehens u.s.w.? Lachende sind gutmütig und stellen sich oft in Reih und Glied der Belachten; Kinder und Weiber lachen am meisten; die stolzen Selbstvergleicher am wenigsten; und der sich für nichts ausgebende Arlekino lacht über alles, und der stolze Muselmann über nichts. – Niemand scheuet sich, gelacht zu haben; aber eine so deutliche Selbsterhebung, als Hobbes voraussetzt, würde jeder heimlicher halten. Endlich nimmt kein Lacher es übel, sondern recht gut auf, wenn noch Hunderttausende mit ihm lachen und sich also hunderttausend Selbsterhebungen um seine stellen; was aber, hätte Hobbes recht, unmöglich wäre, weil unter allen Gesell- und Gespannschaften eine von lauter Stolzen die unausstehlichste sein müßte, ganz unähnlich der liberalen einer von lauter Geizhälsen, ja Gurgeljägern.

Die Lust am Lächerlichen der Natur kann, wie jede Empfindung, nicht aus dem Mangel, sondern nur aus dem Dasein eines [121] Guten entstehen. Wer sie, wie einige getan, als eine Zurückwirkung der Lust am ästhetischen Komischen erklärt, würde bloß die ähnliche Mutter aus der schöneren Tochter ableiten; aber die Lacher waren früher als die Komiker. Die komische Lust läßt sich zwar, wie jede, durch den Verstand auf dem Wege der umgebenden einwirksamen Verhältnisse in mehre Elemente zerlegen, aber im Brennpunkte der Empfindung selber schmelzen alle (wie die Bestandteile des Glases) zu einem dichten durchsichtigen Gusse. – Der Elementargeist der komischen Lust-Elemente ist der Genuß dreier in einer Anschauung vor- und festgehaltenen Gedankenreihen, 1) der eignen wahren Reihe, 2) der fremden wahren und 3) der fremden von uns untergelegten illusorischen. Die Anschaulichkeit zwingt uns zum Hinüber- und Herüber-Wechselspiel mit diesen drei einander gegenstrebenden Reihen, aber dieser Zwang verliert durch die Unvereinbarkeit sich in eine heitere Willkür. Das Komische ist also der Genuß oder die Phantasie und Poesie des ganz für das Freie entbundnen Verstandes, welcher sich an drei Schluß- oder Blumenketten spielend entwickelt und daran hin- und widertanzt. Drei Elemente sondern diesen Genuß des Verstandes von jedem andern desselben an. Erstlich stört keine sich eindrängende starke Empfindung seinen freien Lauf; das Komische gleitet ohne Friktionen (Reibungen) der Vernunft und des Herzens vorüber, und der Verstand bewegt sich in einem weiten luftigen Reiche frei umher, ohne sich an etwas zu stoßen. – Ein dermaßen frei gelaßnes Spiel hat er, daß ers sogar an geliebten und geachteten Personen treiben kann, ohne sie zu versehren; denn das Lächerliche ist ja nur ein von und in uns selber geworfener Schein, und in diesem Vexier-Lichte kann der andere gesehen zu werden schon vertragen.

Das zweite Element ist die Nachbarschaft des Komischen mit dem Witze, nur aber mit dem Vorteile, daß jenes weit über diesen erquickend hinaus herrscht. Da der Witz- was leider erst im zweiten Bändchen der Vorschule weitläuftig zu erweisen ist – eigentlich anschaulicher Verstand oder sinnlicher Scharfsinn ist, so wurde zur Verwechslung desselben mit dem Komischen zu leicht verführt, so sehr auch Beispiele eines ernsten und erhabnen [122] Witzes und eines witz-freien Komischen dagegen sprachen. Denn der wichtigere Unterschied zwischen beiden ist, daß der Verstand am Witze nur einseitige Verhältnisse der Sachen, am Komischen aber die vielseitigen Verhältnisse der Personen durchläuft und genießt, dort einige intellektuelle Glieder, hier handelnde; dort verfliegen die Verhältnisse ohne festen Grund, hier wohnen ungezählte in einem Menschen. Das Persönliche gibt, wie dem Herzen einen Spielraum, ebenso dem Verstande einen noch unbestimmtern und weitern. Allem diesem fügt das Komische noch den Vorzug der sinnlichen Anschaulichkeit bei. Erscheint bloßer Witz zuweilen komisch: so bedenke man, daß er diese Stärke erst aus einer komischen Umgebung oder Stimmung holen muß. Wenn z.B. Pope in seinem Lockenraube von der Heldin sagt: »sie sei in Angst, ob sie ihre Ehre oder ihr Brokatkleid beflecken, ob sie ihr Gebet oder eine Maskerade versäumen, auf dem Ball ihr Herz oder ihr Halsband verlieren werde«, so entspringt die komische Kraft nur aus der Ansicht der Heldin, aber nicht aus der Paarung des Ungleichartigsten; denn in Campens Wörterbuch würde Beflecken der Kleider und darauf als uneigentlich das Beflecken der Ehre ohne komische Wirkung stehen.

Ein drittes Element des komischen Genusses ist der Reiz der Unentschiedenheit, das Kitzeln des Wechsels zwischen scheinbarer Unlust (an dem Minimum des fremden Verstandes) und zwischen der eignen Lust der Einsicht, welches beides, in unserer Willkür stehend, um so süßstechender (pikanter) berührt und neckt. Insofern daher nähert sich das Komische dem körperlichen Kitzel, der als ein närrischer Doppellauter und Doppelsinn zwischen Schmerz und Lust auszittert. Seltsam genug und fast komisch trifft der Umstand – den ich jetzo bei der zweiten Auflage wahrnehme – mit meiner Definition des Lächerlichen in der ersten allegorisch zusammen, nämlich der, daß wir sogar den körperlichen Achsel- und Fersenkitzel halb willkürlich nur fühlen, wenn wir uns in einen fremden Finger versetzen, indes der eigne nichts dergleichen erwirkt, ja daß, wenn man mit dem fremden in der eignen Hand sich berührt, nur die Viertel Wirkung erfolgt sobald man nur nach eignem Willen ihn umherruckt –, aber so [123] gleich die ganze, wenn er sich, obwohl in unserer Hand, selbsttätig bewegt. Ein so närrisches Ding, als das selber ist, woran es klebt, der Mensch!

Das Lächerliche bleibt daher ewig im Gefolge der geistigen Endlichkeit. Wenn der Flötenspieler Quod deus vult (im noch nicht erschienenen 29ten Bändchen der Flegeljahre) klagt – doch wahrscheinlich mehr aus Scherz –, daß er oft verdrüßliche Stunden habe, wo er sichs zu sehr ausmale, daß er selig werde und folglich Ewigkeiten hindurch als Vollendeter unter lauter Vollendeten ohne alles das leben müßte, was man hienieden noch Scherz nenne oder Spaß: so ängstigt sich der Mann zuverlässig unnütz; denn sowohl der anschauenden als der angeschaueten Endlichkeit bleibt eben als einer die Täuschung des komischen Stellen – Wechselns fort und anhängend, nur eine andere auf höherer Stufe; und noch über einen Engel ist zu lachen, wenn man der Erzengel ist.

7. Programm. Über die humoristische Poesie
§ 31. Begriff des Humors
§ 31
Begriff des Humors

Wir haben der romantischen Poesie im Gegensatz der plastischen die Unendlichkeit des Subjekts zum Spielraum gegeben, worin die Objekten – Welt wie in einem Mondlicht ihre Grenzen verliert. Wie soll aber das Komische romantisch werden, da es bloß im Kontrastieren des Endlichen mit dem Endlichen besteht und keine Unendlichkeit zulassen kann? Der Verstand und die Objekten-Welt kennen nur Endlichkeit. Hier finden wir nur jenen unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber. Wie aber, wenn man eben diese Endlichkeit als subjektiven Konstrast 73 jetzo der Idee (Unendlichkeit) [124] als objektivem unterschöbe und liehe und statt des Erhabenen als eines angewandten Unendlichen jetzo ein auf das Unendliche angewandte Endliche, also bloß Unendlichkeit des Kontrastes gebäre, d.h. eine negative?

Dann hätten wir den humour oder das romantische Komische.

Und so ists in der Tat; und der Verstand, obwohl der Gottesleugner einer beschlossenen Unendlichkeit, muß hier einen ins Unendliche gehenden Kontrast antreffen. Um dies zu erweisen, leg' ich die vier Bestandteile des Humors weiter auseinander.

§ 32. Humoristische Totalität
§ 32
Humoristische Totalität

Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt; er hebt – ungleich dem gemeinen Spaßmacher mit seinen Seitenhieben – keine einzelne Narrheit heraus, sondern er erniedrigt das Große, aber – ungleich der Parodie – um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, aber ungleich der Ironie – um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts. Vive la Bagatelle, ruft erhaben der halbwahnsinnige Swift, der zuletzt schlechte Sachen am liebsten las und machte, weil ihm in diesem Hohlspiegel die närrische Endlichkeit als die Feindin der Idee am meisten zerrissen erschien und er im schlechten Buche, das er las, ja schrieb, dasjenige genoß, welches er sich dachte. Der gemeine Satiriker mag auf seinen Reisen oder in seinen Rezensionen ein paar wahre Geschmacklosigkeiten und sonstige Verstöße aufgreifen und an seinen Pranger befestigen, um sie mit einigen gesalzenen Einfällen zu bewerfen statt mit faulen Eiern; aber der Humorist nimmt fast lieber die einzelne Torheit in Schutz, den Schergen des Prangers aber samt allen Zuschauern in Haft, weil nicht die bürgerliche Torheit, sondern die menschliche, d.h. das Allgemeine sein Inneres bewegt. Sein Thyrsus-Stab ist kein Taktstock und keine Geißel, [125] und seine Schläge damit sind Zufälle. In Goethes Jahrmarkt zu Plundersweiler muß man den Zweck entweder in einzelnen Satiren auf Ochsenhändler, Schauspieler u.s.w. suchen, was ungereimt ist, oder im epischen Gruppieren und Verachten des Erdentreibens. Onkel Tobys Feldzüge machen nicht etwa den Onkel lächerlich oder Ludwig XIV. allein, – sondern sie sind die Allegorie aller menschlichen Liebhaberei und des in jedem Menschenkopfe wie in einem Hutfutteral aufbewahrten Kindkopfes, der, so vielgehäusig er auch sei, doch zuweilen sich nackt ins Freie erhebt und im Alter oft allein auf dem Menschen mit dem Haarsilber steht.

Diese Totalität kann sich daher ebensogut symbolisch in Teilen aussprechen – z.B. in Gozzi, Sterne, Voltaire, Rabelais, deren Welt-Humor nicht vermittelst, sondern ungeachtet seiner Zeitanspielungen besteht – als durch die große Antithese des Lebens selber. Shakespeare, der Einzige, tritt hier mit seinen Riesengliedern hervor; ja in Hamlet, so wie in einigen seiner melancholischen Narren, treibt er hinter einer wahnsinnigen Maske diese Welt-Verlachung am höchsten, Cervantes – dessen Genius zu groß war zu einem langen Spaße über eine zufällige Verrückung und eine gemeine Einfalt – führt, vielleicht mit weniger Bewußtsein als Shakespeare, die humoristische Parallele zwischen Realismus und Idealismus, zwischen Leib und Seele vor dem Angesichte der unendlichen Gleichung durch; und sein Zwillings-Gestirn der Torheit steht über dem ganzen Menschengeschlecht. Swifts Gulliver – im Stil weniger, im Geiste mehr humoristisch als sein Märchen – steht hoch auf dem tarpejischen Felsen, von welchem dieser Geist das Menschengeschlecht hinunterwirft. In bloßen lyrischen Ergießungen, worin der Geist sich selber beschauet, malet Leibgeber seinen Welt-Humor, der nie das Einzelne meint und tadelt 74, was sein Freund Siebenkäs viel mehr tut, welchem ich daher mehr Laune als Humor zuschreiben möchte. So steht Tiecks Humor, wenn auch mehr andern nachgebildet und mehr der witzigen Fülle bedürftig, rein und umherschauend da. Rabener [126] hingegen geißelte einen und den andern Toren in Kursachsen, und die Rezensenten geißeln einen und den andern Humoristen in Deutschland.

Wenn Schlegel mit Recht behauptet, daß das Romantische nicht eine Gattung der Poesie, sondern diese selber immer jenes sein müsse: so gilt dasselbe noch mehr vom Komischen; nämlich alles muß romantisch, d.h. humoristisch werden. Die Schüler der neuen ästhetischen Erziehanstalt zeigen in ihren Burlesken, dramatischen Spielen, Parodien u.s.w. einen höhern komischen Weltgeist, der nicht der Denunziant und Galgenpater der einzelnen Toren ist; ob sich gleich dieser Weltgeist oft roh und rauh genug ausspricht, wenn gerade der Schüler noch in den untern Klassen mit seiner Imitation und seinem Dokimastikum sitzt. Aber die komischen Reize eines Bahrdts, Cranz, Wezels, Merkels und der meisten allgemein deutschen Bibliothekare erbittern als (meistens) falsche Tendenzen den rechten Geschmack weit mehr als die komischen Hitzblattern und Fett- und Sommerflecken (oft nur Übertriebe der rechten Tendenz) etwan an einem Tieck, Kerner, Kanne, Arnim, Görres, Brentano, Weisser, Bernhardi, Fr. Horn, St. Schütze, E. Wagner u.s.w. Der falsche Spötter – als eine Selbstparodie seiner Parodie – wird uns mit seinen Ansprüchen auf Überhebung viel widerlicher als der falsche Empfindler mit seinen bescheidenen auf Erweichung. – Als man Sterne in Deutschland zuerst ausschiffte, bildete und zog er hinter sich einen langenwässerigen Kometenschweif damals sogenannter (jetzo ungenannter) Humoristen, welche nichts waren als Ausplauderer lustiger Selbstbehaglichkeit; wiewohl ich ihnen im komischen Sinne so gern den Namen Humoristen lasse als im medizinischen den Galenisten, welche alle Krankheiten in Feuchtigkeiten (humores) setzten. Sogar Wieland hat, obwohl echter Komiker im Gedichte, sich in seinen prosaischen Romanen und besonders in der Noten-Prose zu seinem Danischmend und Amadis weit hinein in die galenische Akademie der Humoristen verlaufen.

An die humoristische Totalität knüpfen sich allerlei Erscheinungen. Z.B. sie äußert sich im sternischen Periodenbau, der [127] durch Gedankenstriche nicht Teile, sondern Ganze verbindet; auch durch das Allgemeinmachen dessen, was nur in einem besondern Falle gilt; z.B. in Sterne: »Große Männer schreiben ihre Abhandlungen über lange Nasen nicht umsonst.« – Eine andere äußere Erscheinung ist ferner diese, daß der gemeine Kritiker den wahren humoristischen Weltgeist durch das Einziehen und Einsperren in partielle Satiren erstickt und verkörpert – ferner diese, daß gedachter unbedeutende Mensch, weil er die Widerlage des Komischen nicht mitbringt, nämlich die weltverachtende Idee, dann dasselbe ohne Haltung, ja kindisch und zwecklos und statt lachend lächerlich finden und im stillen des Itzehoer Müllers etc. After-Laune mit Überzeugung und in mehr als einem Betrachte über den Shandyschen Humor setzen muß. Lichtenberg, obwohl ein Lobredner Müllers, ders indes durch seinen Siegfried von Lindenberg, zumal in der ersten Auflage, verdiente, und zu sehr lobender Leichenredner der damaligen Berliner Spaß- und Leuchtvögel, und ein wenig von britischer und von mathematischer Einseitigkeit festgehalten, stand doch mit seinen humoristischen Kräften höher, als er wohl wußte, und hätte bei seiner astronomischen Ansicht des Welttreibens und bei seiner witzigen Überfülle vielleicht etwas Höheres der Welt zeigen können als zwei Flügel im Äther, welche sich zwar bewegen, aber mit zusammengeklebten Schwungfedern.

Ferner erklärt durch die Totalität sich die humoristische Milde und Duldung gegen einzelne Torheiten, weil diese alsdann in der Masse weniger bedeuten und beschädigen und weil der Humorist seine eigne Verwandtschaft mit der Menschheit sich nicht leugnen kann; indes der gemeine Spötter, der nur einzelne ihm fremde abderitische Streiche des gemeinen und gelehrten Wesens wahrnimmt und aufzählt, im engen selbstsüchtigen Bewußtsein seiner Verschiedenheit – als Hippozentaur durch Onozentauren zu reiten glaubend – desto wilder von seinem Pferde herab die Kapuzinerpredigt gegen die Torheit hält, als Früh- und Vesperprediger in hiesiger Irrenanstalt der Erde. O, wie bescheidet sich dagegen ein Mann, der bloß über alles lacht, ohne weder den Hippozentaur auszunehmen, noch sich! [128] Wie ist aber bei diesem allgemeinen Spotte der Humorist, welcher die Seele erwärmt, von dem Persifleur abgesondert, der sie erkältet, da doch beide alles verlachen? Soll der empfindungsvolle Humorist mit dem persiflierenden Kältling grenzen, der nur den umgekehrten Mangel des Empfindseligen 75 zur Schau trägt? – Unmöglich, sondern beide unterscheiden sich voneinander wie Voltaire sich oft von sich oder von den Franzosen, nämlich durch die vernichtende Idee.

§ 33. Die vernichtende oder unendliche Idee des Humors
§ 33
Die vernichtende oder unendliche Idee des Humors

Diese ist der zweite Bestandteil des Humors, als eines umgekehrten Erhabnen. Wie Luther im schlimmen Sinn unsern Willen eine lex inversa nennt: so ist es der Humor im guten; und seine Höllenfahrt bahnet ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz zukehrt, aber doch in dieser Richtung in den Himmel auffliegt. Dieser Gaukler trinkt, auf dem Kopfe tanzend, den Nektar hinaufwärts.

Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist. Daher so wie die griechische Dichtkunst heiter machte im Gegensatze der modernen: so macht der Humor zum Teil ernst im Gegensatze des alten Scherzes; er geht auf dem niedrigen Sokkus, aber oft mit der tragischen Maske, wenigstens in der Hand. Darum waren nicht nur große Humoristen, wie gesagt, sehr ernst, sondern gerade einem melancholischen Volke haben wir die besten zu danken. Die Alten waren zu lebenslustig zur humoristischen Lebensverachtung. Dieser unterlegte Ernst gibt sich in den altdeutschen Possenspielen dadurch kund, daß gewöhnlich der Teufel der[129] Hanswurst ist; sogar in den französischen erscheint die grande diablerie 76, nämlich eine Hanswursten-Quadrupelalliance von vier Teufeln. Eine bedeutende Idee! den Teufel, als die wahre verkehrte Welt der göttlichen Welt, als den großen Welt-Schatten, der eben dadurch die Figur des Licht-Körpers abzeichnet, kann ich mir leicht als den größten Humoristen und whimsical man gedenken, der aber, als die Moreske einer Moreske, viel zu unästhetisch wäre; denn sein Lachen hätte zu viel Pein; es gliche dem bunten blühenden Gewande der – Guillotinierten.

Nach jeder pathetischen Anspannung gelüstet der Mensch ordentlich nach humoristischer Abspannung; aber da keine Empfindung ihr Widerspiel, sondern nur ihre Abstufung begehren kann: so muß in dem Scherze, den das Pathos aufsucht, noch ein herabführender Ernst vorhanden sein. Und dieser wohnt im Humor. Daher ist ja, wie in Shakespeare, schon in der Sakontala ein Hofnarr Madhawya. Daher findet der Sokrates in Platons Gastmahl in der Anlage zum Tragischen auch die komische. Nach der Tragödie gibt der Engländer daher noch den humoristischen Epilog und ein Lustspiel, wie die griechische Tetralogie sich nach dem dreimaligen Ernste mit dem satyrischen Drama beschloß, womit Schiller anfing 77, oder wie nach den Rhapsodisten die Parodisten zu singen anhoben. Wenn in den alten französischen Mysterien ein Märterer oder Christus gegeißelt werden sollte, so setzte die alte Weich- und Gutherzigkeit den eingeklammerten Rat dazu: »Hier trete Harlekin auf und rede, um wieder ein wenig froh zu machen.« 78 Wird sich aber jemand zu einer lukianischen oder nur parisischen Persiflage jemals von der Höhe des Pathos herabwerfen wollen? Mercier 79 sagt: Damit das Publikum, ohne zu lachen, der Erhabenheit eines Leanders zuschaue, muß es den lustigen Paillasse erwarten dürfen, an dem es den aus dem Erhabenen gewonnenen Lach-Stoff entzündet und loslässet. Die Bemerkung ist fein und wahr; allein welche doppelte [130] Niedrigkeit des Erhabenen und des Humors zugleich, wenn jenes ab- und dieser anspannt! Ein Heldengedicht ist leicht zu parodieren und in ein Widerspiel umzustürzen –; aber wehe der Tragödie, die nicht durch die Parodie selber fortwirkte! Man kann den Homer, aber nicht den Shakespeare travestieren; denn das Kleine steht zwar dem Erhabenen, aber nicht dem Pathetischen vernichtend entgegen. Wenn Kotzebue für seine travestierte Ariadne auf dem Naxos Bendas Musik zur ernsten Gotterschen als eine Begleiterin vorschlägt, welche durch ihren Feierernst seinen Spaß erhebe: so vergißt er, daß hier die Musik, zugleich mit den Kräften des Pathos und des Erhabenen gerüstet, nicht dienen, sondern siegen und als ernste Göttin die lustige Ariadne mehr als einmal von einer größern Höhe als der des Naxos stürzen müßte. Desto mehr Erhabenheit steht aus lauter Niedrigkeit auf, z.B. in Thümmels »allgemeinem Trauerspiel oder verlornen Paradies« 80, und jeder füllt darin Wahrheit und Unwahrheit gleich stark, göttliche und menschliche Natur des Menschen.

Ich nannte in der Überschrift des § die Idee vernichtend. Dies beweiset sich Überall. Wie überhaupt die Vernunft den Verstand (z.B. in der Idee einer unendlichen Gottheit), wie ein Gott einen Endlichen, mit Licht betäubt und niederschlägt und gewalttätig versetzt: so tut es der Humor, der ungleich der Persiflage den Verstand verlässet, um vor der Idee fromm niederzufallen. Daher erfreuet sich der Humor oft geradezu an seinen Widersprüchen und an Unmöglichkeiten, z.B. in Tiecks Zerbino, worin die handelnden Personen sich zuletzt nur für geschriebne und für Nonense halten, und wo sie die Leser auf die Bühne und die Bühne unter den Preßbengel ziehen. 81 Daher kommt dem Humor jene Liebe zum leersten Ausgange, indes der Ernst mit dem Wichtigsten epigrammatisch schließet, z.B. der Schluß der Vorrede zu Mösers verteidigtem Harlekin oder der erbärmliche Schluß von meiner oder Fenks Leichenrede auf einen Fürstenmagen. So spricht z.B. Sterne mehrmals lang und erwägend [131] über gewisse Begebenheiten, bis er endlich entscheidet: es sei ohnehin kein Wort davon wahr.

Etwas der Keckheit des vernichtenden Humors Ähnliches, gleichsam einen Ausdruck der Welt-Verachtung kann man bei mancher Musik, z.B. der Haydnschen, vernehmen, welche ganze Tonreihen durch eine fremde vernichtet und zwischen Pianissimo und Fortissimo, Presto und Andante wechselnd stürmt. Etwas zweites Ähnliches ist der Skeptizismus, welcher, wie ihn Platner auffaßt, entsteht, wenn der Geist sein Auge über die fürchterliche Menge kriegerischer Meinungen um sich her hinbewegt; gleichsam ein Seelen-Schwindel, welcher unsere schnelle Bewegung plötzlich in die fremde der ganzen stehenden Welt umwandelt.

Etwas drittes Ähnliches sind die humoristischen Narrenfeste des Mittelalters, welche mit einem freien Hysteronproteron, mit einer innern geistigen Maskerade ohne alle unreine Absicht Weltliches und Geistliches, Stände und Sitten umkehren, in der großen Gleichheit und Freiheit der Freude. Aber zu solchem Lebenshumor ist jetzo weniger unser Geschmack zu fein als unser Gemüt zu schlecht.

§ 34. Humoristische Subjektivität
§ 34
Humoristische Subjektivität

Wie die ernste Romantik, so ist auch die komische – im Gegensatz der klassischen Objektivität – die Regentin der Subjektivität. Denn wenn das Komische im verwechselnden Kontraste der subjektiven und objektiven Maxime besteht; so kann ich, da nach dem Obigen die objektive eine verlangte Unendlichkeit sein soll, diese nicht außer mir gedenken und setzen, sondern nur in mir, wo ich ihr die subjektive unterlege. Folglich setz' ich mich selber in diesen Zwiespalt – aber nicht etwa an eine fremde Stelle, wie bei der Komödie geschieht- und zerteile mein Ich in den endlichen und unendlichen Faktor und lasse aus jenem diesen kommen. Da lacht der Mensch, denn er sagt: »Unmöglich! Es ist viel zu toll!« Gewiß! Daher spielt bei jedem Humoristen das Ich die erste Rolle; wo er kann, zieht er sogar seine persönlichen Verhältnisse auf sein komisches Theater, wiewohl nur, um sie poetisch zu[132] vernichten. Da er sein eigner Hofnarr und sein eignes komisches italienisches Masken-Quartett ist, aber auch selber der Regent und Regisseur dazu: so muß der Leser einige Liebe, wenigstens keinen Haß gegen das schreibende Ich mitbringen und dessen Scheinen nicht zum Sein machen; es müßte der beste Leser des besten Autors sein, der eine humoristische Scherzschrift auf sich ganz schmecken könnte. Wie für jeden Dichter, so noch mehr für den komischen muß soviel gastfreundliche Offenheit dastehen als umgekehrt für den Philosophen kriegerische Verschlossenheit, und beiden zum Vorteil. Schon in der körperlichen Wirklichkeit verwebt der Haß durch sein Gespinste dem leichtgeflügelten Scherze den Eingang; aber noch mehr ist eine gutmütige offene Aufnahme dem poetischen Komiker vonnöten, welcher mit seiner angenommenen Kunst-Verzerrung seine Persönlichkeit nicht heiter bewegen kann, wenn diese von einer fremden, prosaisch hassenden beschweret und verdoppelt wird. Wenn Swift sich listig und aufgeblasen anstellt und Musäus sich dumm: wie wollen sie komisch auf den Abgeneigten einspielen, welcher mit dem Glauben an ihren Schein ankommt? – Da die zuvorkommende Liebe für den Komiker nur durch eine gewisse Vertraulichkeit mit ihm erworben wird, welche bei ihm, als dem immer neuen Darsteller der immer neuen Abweichungen, zur Versöhnung ganz anders nötig ist als bei dem ernsten Dichter jahrtausendjähriger Empfindungen und Schönheiten: so löset sich die Frage des Rätsels leicht, warum über die höhern komischen Werke, über welche später Jahrhunderte fortlachten, anfangs das erste Jahr ihrer Geburt nicht recht lachen wollte, sondern dumm-ernst entgegensaß, obgleich ein gewöhnliches Scherzblatt der Zeit von Hand zu Hand, von Mund zu Ohr umflattert.

Z.B. ein Cervantes mußte seinen anfangs versäumten Don Quixote selber angreifen und heruntersetzen, damit ihn die Menge hinaufsetzte, und er mußte eine Kritik gegen denselben unter dem Titel:»el buscapiè« oder die Rakete schreiben, damit er nicht als eine im Äther zerflog. Aristophanes wurde für seine zwei besten Stücke, die Frösche und die Wolken, von einem längst verschollenen Amipsias, welcher im figürlichen Sinn Frosch- und [133] Wolken-Chöre für sich hatte, des Preises beraubt. Sternens Tristram wurde anfangs in England so kalt empfangen, als hätt' er ihn in Deutschland für Deutsche geschrieben. – Über Musäus' physiognomische Reisen erster Band fällt im deutschen, sonst alles Kräftige durchlassenden, ja weiter beflügelnden Merkur einer das Urteil 82:»Die Schreibart ist à la Schubart und soll schnurricht sein. Man kann unmöglich durch u.s.w. u.s.w. etc.« Du Erbärmlicher, der du mich nach so vielen Jahren in einer zweiten Auflage noch ärgern kannst, weil ich leider dein dummes Wort zum Vorteile der Ästhetik Wort für Wort exzerpiert aufgehalten! Und grasete neben diesem Erbärmlichen nicht ein Zwillingsbruder in der Allg. deutschen Bibliothek 83 mit ähnlichen Schneidezähnen in Musäus' Blumenbeeten und jätete die Blumen aus; gerade des Mannes mit dem echtdeutschen Humor, nämlich mit der sich selber belächelnden Hausväterlichkeit, durch deren Gutmütigkeit sogar die fremdartige Einmengung der Herzens-Sprache als eines komischen Bestandteils sich absüßt? – Mehre exempla sunt odiosa.

Wir kommen auf die humoristische Subjektivität zurück. Der Ekel am After-Humoristen ist darum eben so groß, weil dieser eine Natur parodierendscheinen will, die er schon wirklich ist. Darum ist, wenn nicht eine edle Natur im Autor gebietet, nichts mißlicher, als dem Toren selber die komische Beichte anzuvertrauen, wo (wie in Le Sages meistens gemeinen Gilblas) eine gemeine Seele, bald Beichtkind, bald Beichtvater, in einem willkürlichen Schwanken zwischen Selbstkenntnis und Verblendung, zwischen Reue und Frechheit, zwischen unentschiedenem Lachen und Ernst, uns gleichfalls in diesen Mittelzustand versetzt; noch widerlicher wird durch Selbstgefallsucht und kahlen abgedroschnen Unglauben Pigault le Brun in seinem Ritter Mendoza, indes selber in Crebillons Lauge sich etwas Höheres spiegelt als seine [134] Toren. Wie groß steht der edle Geist Shakespeare da, wenn er den humoristischen Falstaff zum Korreferenten seines tollen Sündenlebens anstellt! Wie mischt sich hier die Unmoralität nur als Schwachheit und Gewohnheit in die phantastische Torheit! –

Ebenso verwerflich ist Erasmus' Selbstrezensentin, die Narrheit, erstlich als ein leeres abstraktes Ich, d.h. als Nicht-Ich, und dann weil statt lyrischen Humors oder strenger Ironie die Narrheit nur Kollegienhefte der Weisheit aufsagt, die aus dem Souffleurloch noch lauter vorschreiet als jene Kolumbine selber.

Da im Humor das Ich parodisch heraustritt: so ließen mehre Deutsche vor 25 Jahren das grammatische weg, um es durch die Sprach-Ellipse stärker vorzuheben. Ein besserer Autor löschte dasselbe wieder in der Parodie dieser Parodie mit dicken Strichen aus, die das Ausstreichen deutlich machten, nämlich der köstliche Musäus in seinen physiognomischen Reisen, diese wahren pittoresken Lustreisen des Komus und Lesers. Bald nachher standen die erlegten Ich in der Fichteschen Aseität, Icherei und Selbstlauterei in Masse wieder von den Toten auf. – Aber woher kommt überhaupt dieser grammatische Selbstmord des Ich bloß den deutschen Scherzen, indes ihn weder die verwandten neuern Sprachen haben, noch die alten haben können? Wahrscheinlich daher, weil wir wie Perser und Türken 84 viel zu höflich sind, um vor ansehnlichen Leuten ein Ich zu haben. Denn ein Deutscher ist mit Vergnügen alles, nur nicht er selber. Wenn der Brite sein I (Ich) in der Mitte des Perioden groß schreibt: so schreiben noch viele Deutsche in Briefen es an der Spitze klein und wünschen vergeblich ein kleines Kursiv-i, was kaum zu sehen wäre und mehr dem obern mathematischen Punkte gliche als der Linie darunter. Wenn jener zu My etc. stets noch das self setzt, wie der Gallier das même zu moi: so sagt der Deutsche nur selten Ich selber, doch aber gern, »ich meines Orts«, welches letzte ihm, hofft er, niemand als besondere Aufblasung auslegen wird. In frühern Zeiten nannt' er sich von dem Fuße bis zu dem Nabel niemals, ohne um Vergebung der Existenz zu bitten, so daß er stets die [135] höfliche und tafel- und stiftsfähige Hälfte auf einer erbärmlichen, in Bürgerstand erklärten Hälfte wie auf einem organisierten Pranger umhertrug. Bringt er sein Ich kühn an: so tut ers im Falle, da ers mit einem kleinern gatten kann; der Lyzeums-Rektor sagt zum Gymnasiasten bescheiden wir. So besitzt allein der Deutsche das Er und das Sie als Anrede, bloß weil er den Ausschluß eines Ich – denn Du und Ihr setzen eines voraus – überall mitbringt. Es gab Zeiten, wo vielleicht in ganz Deutschland kein Brief mit einem Ich auf die Post kam. Glücklicher als die Franzosen und Briten, denen die Sprache keine reine grammatische Inversion erlaubt, können wir durch deren Verwandlung in eine geistige überall das Wichtigste voraussetzen und das Unbedeutende nach: »Ew. Exzellenz« – können wir schreiben – »melde, oder weihe hiemit« – Doch wird neuerer Zeiten (was vielleicht unter die schönern Früchte der Revolution gehört) erlaubt, geradeheraus zu schreiben: »Ew. Exz. meld' ich, weih' ich.« Und so wird allgemein den Brief- und Sprech-Mitten ein schwaches, aber helles Ich verstattet; am Anfange und Ende indes ungern.

Diese Eigenheit macht es uns nun ungemein leicht, komischer zu sein als irgendein Volk; weil wir in der humoristischen Parodie, wo wir uns poetisch als Toren setzen und es also auf uns beziehen müssen, gerade durch das Auslassen des Ich diesen Ich bezug nicht nur, wie schon gesagt, deutlicher machen, sondern auch lächerlicher, da man ihn nur in ernsten höflichen Fällen kannte.

Bis in kleine Sprachteilchen hinein wirkt diese Humoristik des Ich; z.B. je m'étonne, je me tais ist bedeutender als: ich staune, ich schweige; daher Bode das my self, him self im Deutschen oft mit Ich oder Er selber übersetzt. Da in der lateinischen Sprache das Ich des Verbums sich verbirgt: so ist es nur durch Partizipien vorzuheben, wie z.B. Doktor Arbuthnot in seinem Virgilius restauratus gegen Bentley am Ende tat: z.B. »majora moliturus«.

Diese Rolle und Voraussetzung des parodischen Ich widerlegt den Wahn, daß der Humor unbewußt und unwillkürlich sein müsse. Home setzt Addison und Arbuthnot in Rücksicht des humoristischen Talents über Swift und Lafontaine, weil letzte [136] beide, glaubt er, nur einen angebornen bewußtlosen Humor besessen hätten. Aber wurde dieser nicht von freier Absicht erzeugt: so konnt' er nicht den Vater unter dem Schaffen so gut ästhetisch erfreuen als den Leser; und eine solche geborne Anomalie müßte gerade alle vernüftige Menschen für Humoristen nehmen und wäre der wahnsinnigste Schiff-Patron des Narrenschiffs selber, das er kommandierte. Sieht man nicht an Sternens frühern jugendlichen Aufsätzen und aus seinen spätesten 85, welche größern Werken vorarbeiten – und aus seinen kältern Briefen, in welche sich sonst der Strom der Natur am ersten ergießet, daß seine wunderbaren Gestalten nicht durch den zufälligen Blei-Guß in die Dinte entstanden und darin zerfuhren, sondern daß er in Gießgruben und Formen sie mit Absicht gespitzt und geründet habe? So sieht man dem komischen Ergusse des Aristophanes nicht seinen Quellenfleiß und sein Nachtarbeiten an, das sogar, wie das des Demosthenes, zum Sprichwort wurde. 86 – Allerdings kann viel Willkürliches des Humors zuletzt so ins Unbewußte übergehen, wie bei dem Klavierspieler der Generalbaß zuletzt aus dem Geiste in die Finger zieht und diese richtig phantasieren, indes der Inhaber ein Buch dabei durchläuft 87. Der Genuß des höchsten Lächerlichen verbirgt das kleinere, das sich dann der Mann halb scherzend, halb im Ernste angewöhnt. Es ist im Dichter das Närrische so freier Entschluß als das Zynische. Swift, bekannt durch seine Reinlichkeit, welche so groß war, daß er einmal in eine weibliche Bettelhand nichts legte, weil sie ungewaschen war, und noch bekannter durch seine mehr als platonische Enthaltsamkeit, welche (zufolge den Lebensbeschreibern) bei ihm und bei Newton in das Unvermögen der Sünder zuletzt übergegangen war, schrieb [137] doch Swifts Works und noch dazu auf der einen Seite Ladys dressing-room und auf der andern gar Strephon and Chloe. Aristophanes und Rabelais und Fischart und überhaupt die altdeutschen Komiker fallen uns hier von selber ein, sie, denen die schreibende Unsittlichkeit aus keiner handelnden entsprang, so wie zu keiner hinlockte. In der echt komischen Darstellung gibt es so wenig wie in der Zergliederungkunst (und ist nicht jene auch eine, nur eine geistigere und schärfere?) eine verführende Unanständigkeit; und so wie der Blitzfunke ohne Zünden durch Schießpulver, aber am Eisenleiter, fährt, so läuft am komischen Leiter jene Flamme nur als Witz ohne Schaden durch die brennbare Sinnlichkeit hindurch. Desto schlimmer ists, daß die Versunkenheit der Zeit zugleich sich ebensosehr am gefahrlosen komischen Zynismus stößt, als an giftvollen erotischen Ziergemälden labt. Der Igel (Sinnbild des Stachelschriftstellers) frißt nach Bechstein sehr gern spanische Fliegen, ohne gleich anderen Tieren von ihnen vergiftet zu werden. Der Wollüstling sucht jene oder die Kanthariden, wie wir wissen, zu mehr als einer Vergiftung und bauet spanische Schlösser auf spanische Fliegen. – Wir kehren zurück.

Etwas ganz anderes als ein humoristischer Dichter ist ein humoristischer Charakter. Dieser ist alles unbewußt, er ist lächerlich und ernst, aber er macht nicht lächerlich; er kann leicht das Ziel, aber nicht der Mitwettrenner des Dichters sein. Es ist ganz falsch, den deutschen Mangel an humoristischen Dichtern dem Mangel an humoristischen Toren aufzubürden; dies hieße, die Seltenheit der Weisen aus der Seltenheit der Narren erklären; sondern jene Dürftigkeit und Sklaverei des wahren komisch-poetischen Geistes ists – sowohl des schaffenden als lesenden –, welche das komische Gnadenwildpret, das von den Schweizerbergen bis in die belgische Ebene läuft, weder zu fangen noch zu kosten weiß. Denn da es auf der freien Heide – und nur auf dieser – gedeihet: so findet man es überall, wo entweder innerliche Freiheit ist – z.B. bei der Jugend auf Akademien oder bei alten Menschen u.s.w. – oder äußerliche, also gerade in den größten Städten und in den größten Einöden, auf Rittersitzen und in Dorfpfarrhäusern, und in den Reichsstädten, und bei Reichen [138] und in Holland. Zwischen vier Wänden sind die meisten Menschen Sonderlinge; dies wissen die Eheweiber. Auch wäre ein passiv-humoristischer Charakter noch kein satirischer Gegenstand – denn wer wird eine Satire und Karikatur auf eine einzelne Mißgeburt ausarbeiten? –, sondern die Abweichung einer kleinen Menschen-Nadel muß mit der Abweichung des großen Erdmagneten gleichen Strich halten und sie bezeichnen. So ist z.B. der alte Shandy, so sehr er porträtiert erscheint, nur der bunt angestrichene Gips-Abguß aller gelehrten und philosophischen Pedanterei 88; so auf andere Weise Falstaff, Pistol u.s.w.

§ 35. Humoristische Sinnlichkeit
§ 35
Humoristische Sinnlichkeit

Da es ohne Sinnlichkeit überhaupt kein Komisches gibt: so kann sie bei dem Humor als ein Exponent der angewandten Endlichkeit nie zu farbig werden. Die überfließende Darstellung, sowohl durch die Bilder und Kontraste des Witzes als der Phantasie, d.h. durch Gruppen und durch Farben, soll mit der Sinnlichkeit die Seele füllen und mit jenem Dithyrambus sie entflammen 89, welcher die im Hohlspiegel eckig und lang auseinandergehende Sinnenwelt gegen die Idee aufrichtet und sie ihr entgegenhält. Insofern als ein solcher Jüngster Tag die sinnliche Welt zu einem zweiten Chaos ineinanderwirft – bloß um göttlich Gericht zu halten –, der Verstand aber nur in einem ordentlich eingerichteten Weltgebäude wohnen kann, indes die Vernunft, wie Gott, nicht einmal im größten Tempel eingeschlossen ist –: insofern ließe sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn denken, welcher natürlich, wie der Philosoph künstlich, von Sinnen und [139] von Verstande kommt und doch wie dieser Vernunft behält; der Humor ist, wie die Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates. –

Wir wollen den metamorphotischen sinnlichen Stil des Humors mehr auseinandernehmen. Erstlich individualisiert er bis ins Kleinste, und wieder die Teile des Individualisierten. Shakespeare ist nie individueller, d.h. sinnlicher, als im Komischen. Eben darum ist Aristophanes beides mehr als irgendein Alter.

Wenn, wie oben gezeigt worden, der Ernst überall das Allgemeine vorhebt und er uns z.B. das Herz so vergeistert, daß wir bei einem anatomischen mehr ans poetische denken als bei diesem an jenes: so heftet uns der Komiker gerade eng an das sinnlich Bestimmte, und er fällt z.B. nicht auf die Knie, sondern auf beide Kniescheiben, ja er kann sogar die Kniekehle gebrauchen. – Hat er oder ich z.B. zu sagen: »der Mensch denkt neuerer Zeit nicht dumm, sondern ganz aufgeklärt, liebt aber schlecht«: so muß er zuerst den Menschen ins sinnliche Leben übersetzen – also in einen Europäer – noch enger in einen Neunzehnjahrhunderter – und diesen wieder auf ein Land, auf eine Stadt einschränken. – In Paris oder Berlin muß er wieder eine Straße suchen und den Menschen dareinpflanzen. Den zweiten Satz muß er oder ich ebenso organisch beleben, am schnellsten durch eine Allegorie, bis er etwa so glücklich ist, daß er von einem Friedrichstädter sprechen kann, der in einer Taucherglocke bei Licht schreibt und ohne einen Stuben und Glockenkameraden im kalten Meer und nur durch die verlängerte Luftröhre seiner Luftröhre mit der Welt im Schiffe verbunden ist. »Und so erleuchtet«, schließe der Komiker, »der Friedrichstädter sich allein und sein Papier und verachtet Ungeheuer und Fische um sich her ganz«. Das ist aber der obige Satz.

Bis auf Kleinigkeiten könnte man die komische Individuation verfolgen. Dergleichen sind: die Engländer lieben den Henker und das Gehangenwerden; wir den Teufel, doch aber als den Komparativus des Henkers, z.B. er ist des Henkers, stärker: er ist des Teufels; ebenso verhenkert und verteufelt. Man könnte vielleicht an seinesgleichen schreiben: den hole der T., aber bei [140] Höhern müßte dies schon durch den Henker gemildert werden. Bei den Franzosen steht der Teufel und Hund höher. Le chien d'esprit que j'ai, schreibt die herrliche Sevigné (unter allen Franzosen die Großmutter Sternens, wie Rabelais dessen Großvater) und liebt gleich allen Französinnen sehr den Gebrauch dieses Tieres. Ähnliche sinnliche Kleinigkeiten sind: überall Zeitwörter der Bewegung zu wählen, in unbildlichem und bildlichem Darstellen – wie Sterne und andere jeder Handlung, auch einer innern, eine kurze körperliche vor oder nachzuschicken – von Geld, Zahl und jeder Größe überall bestimmte Größe anzugeben, wo man sonst nur die unbestimmte erwartet; z.B. »ein Kapitel so lang als mein Ellenbogen« oder »keinen gekrümmten Farthing wert« etc. So gewinnt diese komische Sinnlichkeit durch die zusammendrängende Einsilbigkeit in der englischen Sprache; wenn z.B. Sterne sagt (Tristr. Vol. XI. ch. X.): ein französischer Postillion sei kaum aufgestiegen, so hab' er wieder abzusteigen, weil immer am Wagen etwas fehle, a tag, a rag, a jag, a strap, welche Silben, besonders mit ihren Assonanzen, nicht so leicht im Deutschen zu übersetzen sind als das horazische: ridiculusmus. Die Assonanzen kommen überhaupt im komischen Feuer nicht nur bei Sterne (z.B. ch. XXXI.: all the frusts, crusts, and rusts of antiquity), sondern auch bei Rabelais, Fischart und andern vor, gleichsam als Wandnachbars-Reime.

Dahin gehören ferner für den Komiker die Eigen-Namen und Kunstwörter. Kein Deutscher spürt den Abgang einer Volk- und Hauptstadt trauriger als einer, der lacht; denn er hindert ihn am Individualisieren. Bedlam, Grubstreet u.s.w. laufen so bekannt durch ganz Großbritannien und über das Meer; wir Deutsche hingegen müssen dafür Tollhaus, Sudel-Schreibgasse nur im allgemeinen sagen, weil aus Mangel einer Nationalstadt die Eigennamen in den zerstreueten Städten teils zu wenig bekannt sind, teils weniger interessant. – So tut es einem individualisierenden Humoristen ganz wohl, daß Leipzig ein schwarzes Brett, einen Auerbachischen Hof, seine Leipziger Lerchen und Messen hat 90, [141] welche auswärts genug bekannt sind, um mit Glück gebraucht zu werden; dasselbe wäre aber von noch mehren Sachen und Städten zu wünschen.

Ferner gehört zur humoristischen Sinnlichkeit die Paraphrase, oder die Zerfällung des Subjekts und Prädikats, welche oft ins Endlose gehen kann und welche Sternen am leichtesten nachgeäfft wird, der sie wieder am leichtesten Rabelais nachgeahmt. Wenn z.B. Rabelais sagen will, daß Gargantua spielte, so fängt er an (I. 22):

La jouoit
Au flux
à la prime
à la vole
à la pille
à la triumphe
à la Picardie
Au cent – –
Etc. Etc.

Zweihundertundsechzehn Spiele nennt er. Fischart 91 bringt gar fünfhundertundsechsundachtzig Kinder-und Gesellschaftspiele, welche ich mit vieler Eile und Langweile zusammengezählt. Diese humoristische Paraphrase – welche in Fischart am weitesten und häufigsten getrieben wird – setzt Sterne in seinen Allegorien fort, deren Fülle sinnlicher Nebenzüge sich an die üppige Ausmalung [142] der homerischen Gleichnisse und der orientalischen Metaphern anschließet. Ein ähnlicher farbiger Rand und Diffusionraum fremder Bei-Züge fasset sogar seine witzigen Metaphern ein; und die Nachahmung dieser Kühnheit ist der Teil, den Hippel sich an ihm besonders ausgelesen und verbessernd vorbehalten (denn jeder ersah sich an Sterne seine eigne Kopier-Seite, z.B. Wieland die Paraphrase des Subjekts und Prädikats, andere seine unübertreffliche Periodologie, manche seine ewigen »sagt' er«, mehre nichts, niemand die Grazie seiner Leichtigkeit). Z.B. gesetzt ein Mann wollte den vorigen Gedanken hippelisch sagen: so müßte er, wenn er die Nachahmer z.B. bloß transzendente Übersetzer nennen wollte, es so ausdrücken: sie sind die origenische Tetra-, Hexa- und Oktapla Sternens. Oder noch deutlicher ist das Beispiel, wenn man z.B. die Tiere einen Karlsruher und Wienerischen Nachdruck der Menschen auf Fließpapier nennte. Es erquickt den Geist ungemein, wenn man ihn zwingt, im Besondern, ja Individuellen (wie hier Wien, Karlsruh und Fließpapier) nichts als das Allgemeine anzuschauen, in der schwarzen Farbe das Licht.

Darstellung der Bewegung, besonders der schnellen, oder der Ruhe neben jener macht als Hülfmittel der humoristischen Sinnlichkeit komischer. Ein ähnliches ist auch die Darstellung einer Menge, welche durch das Vorragen des Sinnlichen und der Körper[143] noch dazu den lächerlichen Schein der Maschinenhaftigkeit erregt. Daher erscheinen wir Autoren in allen Rezensionen von Meusels gelehrten Deutschlande wegen der Menge der Köpfe ordentlich lächerlich, und jeder Rezensent scherzt ein wenig.

8. Programm. Über den epischen, dramatischen und lyrischen
§ 36. Verwechslung aller Gattungen
§ 36
Verwechslung aller Gattungen

Zu Athen war 92 ein Gerichthof von 60 Menschen niedergesetzt, um über Scherze zu urteilen. Noch hat kein Journalistikum unter so vielen akademischen Gerichten, gelehrten Wetzlarn, Friedens- und Zorngerichten und Judikaturbänken, welche in Kapseln umlaufen, eine Jury des Spaßes: sondern man richtet und scherzet nach Gefallen. Selten wird ein witziges Buch gelobt, ohne zu sagen, es sei voll lauter Witz, Ironie und Laune oder gar Humor; als ob diese drei Grazien einander immer an den Händen hätten. Die Epigrammatiker haben meist nur Witz. Sterne hat weit mehr Humor als Witz und Ironie; Swift mehr Ironie als Humor; Shakespeare Witz und Humor, aber weniger Ironie im engern Sinne. So nannte die gemeine Kritik das goldne Witz-, Sentenzen- und Bilder-Füllhorn, das goldne Kalb, humoristisch, was es nur zuweilen ist; eben dies wird der edle Lichtenberg genannt, dessen vier glänzende Paradieses-Flüsse von Witz, Ironie, Laune und Scharfsinn immer ein schweres Registerschiff prosaischer Ladung tragen, so daß seine herrlichen komischen Kräfte, welche schon allein ihn zu einem kubierten Pope verklären, (so wie seine übrigen) nur von der Wissenschaft und dem Menschen ihren Brennpunkt erhalten, nicht vom poetischen Geist. So galt die lustige Geschwätzigkeit Müllers oder Wezels in den Zeitungen für Humor; [144] und Bode, dessen Übersetzung der schönste Abgußsaal eines Sterne und Montaigne ist, galt mit seiner Selbst-Verrenksucht für einen Humoristen 93, indes Tiecks wahrhaft poetische Laune wenig gesehen wurde, bloß weil ihr Leib etwas beleibter und weniger durchsichtig sein könnte. Doch seit der ersten Auflage dieses Werkchens entstand fast eine verbesserte zweite auch der Zeit; denn jetzo wird wohl nichts so gesucht – besonders von Buchhändlern – als Humor, und zwar echter. Ein Unparteiischer findet fast auf allen Titelblättern, wo sonst nur »lustig«, »komisch«, »lachend«. gestanden hätte, das höhere Beiwort »humoristisch«; so daß man beinahe ohne alle Vorliebe behaupten kann, daß sich jetzo im schreibenden Stande jene gelehrte Gesellschaft in Rom, die Humoristen (bell' humori), wiedergeboren habe, welche ein so schönes Sinn- und Wappenbild hatte, nämlich eine dicke, auf das Meer zurückregnende Wolke mit der Inschrift: redit agmine dulci, d.h. die Wolke (hier die Gesellschaft) fällt süß, ohne Salz in das Meer zurück, gleichsam wie reines Wasser ohne Nebengeschmack. Es erfreuet bei dieser Vergleichung noch die zufällige Nebenähnlichkeit, daß die gedachte römische Humoristen-Akademie erzeugt wurde auf einer adeligen Hochzeit, weil während derselben die nachherigen Humoristen den Damen mit Sonetten aufgewartet hatten. – Indes will der Verfasser diese so weit hergeholte Zusammenstellung mehr für Scherz gehalten wissen als für Paragraphen von Ernst.

Es gibt einen Ernst für alle; aber nur einen Humor für wenige, und darum weil dieser einen poetischen Geist und dann einen frei [145] und philosophisch gebildeten begehrt, der statt des leeren Geschmackes die höhere Weltanschauung mitbringt. Daher glaubt das »goutierende« Volk, es »goutiere« Sternes Tristram, wenn ihm dessen weniger geniale Yoricks-Reisen gefallen. Daher kommen die elenden Definitionen des Humors, als sei er Manier oder Sonderbarkeit; daher eigentlich die geheime Kälte gegen wahrhaft-komische Gebilde. Aristophanes würde – obwohl von Chrysostomus und von Platon studieret und unter und auf beider Kopfkissen gefunden – für die meisten das Kopfkissen selber sein, wenn sie offenherzig wären, oder er ohne griechische Worte und Sitten. Die gelehrte und ungelehrte Menge kennt statt der poetischen humoristischen Gewitterwolke, welche befruchtend, kühlend, leuchtend, donnernd, nur zufällig verletzend in ihrem Himmel leicht vorüberzieht, nur jene kleinliche, unbehülfliche irdische Heuschreckenwolke des auf vergängliche Beziehungen streifenden Rach-Spaßes, welche rauscht, verdunkelt, die Blumen abfrisset und an ihrer Anzahl häßlich vergeht.

Man erinnere sich nur noch einiger lobenden und einiger tadelnden Urteile, welche beide sich umzukehren hätten. Der phantasielose und engherzige satirische Kunstarbeiter und Eben ist Boileau galt wirklich einmal dem kritischen Volke (wenn nicht gar noch jetzo) für einen komischen Dichter; – ja ich bin imstande, es stündlich zu erweisen, daß man ihn mit dem Satiriker Pope verglichen, ob ihm gleich Pope an reicher Gedrungenheit, Menschenkenntnis, Umsicht, witziger Illumination, Schärfe, Laune nicht nur überlegen war, sondern in dem höhern Punkte sogar entgegengesetzt, daß er, wie die meisten britischen Dichter, aus der zugebornen Lebens-Furche und Wolke zu jener Berghöhe aufsteigt, worauf man Furchen und Wolken überblickt und vergißt. Soll dennoch Ähnlichkeit bleiben, so mag Boileau als eine satirische Distel für anflatternde Schmetterlinge blühen, und Pope als eine aufblühende Fackeldistel in der Wüste prangen. – So sind Scarron und Blumauer gemeine Lach-Seelen; und kein Witz kann ihre poetisch-mora lische Blöße zudecken. Dahin gehört auch Peter Pindar; welcher außerhalb des britischen Staatskörpers so gut das komische Leben verliert als der von ihm in[146] der Lousiade (Lausiade) besungene Held, weggehoben vom menschlichen Körper, das physische.

Dem Erheben der Niedrigen geht leider das Erniedrigen der Höheren zur Seite. So werden über die Speckgeschwülste und Leberflecken Rabelais' des größten französischen Humoristen, sogar in Deutschland dessen gelehrte und witzige Fülle und vorsternische Laune vergessen, so wie seine scharfgezeichneten Charaktere vom loyalen edlen Pantagruel voll Vater- und Religionliebe bis zum originellen gelehrten Feiglinge Panurge. 94

So wird der prosaische und sittenwidrige Tartuffe von Molière erhoben, und seine genialen Possen werden einer Herablassung zum Gassenvolke angedichtet, anstatt daß man besser manche regelmäßigen Lustspiele einer Herablassung zum Hofvolke zuschriebe. Sein einziges L'impromptu de Versailles, worin er mit einem Wechselspiegeln anderer und seiner selber kräftig spielt, hätte August Schlegeln ein ebenso ungerechtes Urteil über ihn wie über Gozzi ersparen sollen, wenn er jemals anders loben könnte als entweder zu wenig oder zu viel.

Eine Blume werde auch hier auf das Grab des guten Abraham a Santa Clara gelegt, welches gewiß einen Lorbeerbaum trüge, wär' es in England gemacht worden und seine Wiege vorher; seinem Witz für Gestalten und Wörter, seinem humoristischen Dramatisieren schadete nichts als das Jahrhundert und ein dreifacher Ort, Deutschland, Wien und Kanzel. Ja warum soll der Schreibfinger nicht ein Zeigfinger für einen andern vergeßnen deutschen Satiriker sein, welcher durch seine poetische Selbst-Freilassung, durch muntere wechselnde leichte Handhabung jedes Gegenstandes wohl das Abschreiben des Titels seines Buchs verdient: »Der kurzweilige Satiricus, welcher die Sitten der heutigen Welt auf eine lächerliche Art durch allerhand lustige Gespräche und [147] curieuse Gedanken in einer angenehmen Olla Potrida des durchtriebenen Fuchsmundi etc. etc. vor Augen gestellt.« Anno 1728. Bloß die Praxis ist noch ein wenig schlechter als die Kritik; denn diese kann doch nachsprechen, jene aber nicht nachschaffen. Wir wollen indes lieber von jener und dieser die wahre suchen als die irrige. Wenn die komische Poesie so gut als die heroische aus der großen dichterischen Dreieinigkeit – Epos, Lyra, Drama – die erste Person daraus muß spielen können, die epische; und wenn das Epische eine noch vollere, gleichere Objektivität verlangt als sogar das Drama, so fragt sich: wo zeigt sich die komische Objektivität? – Da – so folgt aus der Bestimmung der drei Bestandteile des Lächerlichen –, wo bloß der objektive Kontrast oder die objektive Maxime vorgehoben und der subjektive Kontrast verborgen wird; das ist aber die Ironie, welche daher, als reiner Repräsentant des lächerlichen Objekts, immer lobend und ernst erscheinen muß, wobei es gleichgültig ist, in welcher Form sie spiele, ob als Roman, wie bei Cervantes, oder als Lobschrift, wie bei Swift.

§ 37. Die Ironie, der Ernst ihres Scheins
§ 37
Die Ironie, der Ernst ihres Scheins

Der Ernst der Ironie hat zwei Bedingungen. Erstlich in Rücksicht der Sprache studiere man den Schein des Ernstes, um den Ernst des Scheines oder den ironischen zu treffen. Will der Mensch im Ernste eine Meinung behaupten, zumal ein Gelehrter: so tut ers nur verschämt – er zweifelt – er fragt – er hofft – er fürchtet – er verneint die Verneinung oder auch den Superlativ des Gegners 95 – er sagt: er unterfange sich nicht zu behaupten, daß – oder: denk' er unrecht, wenn – oder: andere mögen entscheiden, ob – oder: er möchte nicht gern sagen, daß – und es woll' ihm vorkommen, als ob – – und bedient sich dabei der Anfangs- und Konnexionformeln und Figuren nach Peucer oder einem andern erträglichen Stilistiker. Aber gerade mit diesem gelehrten Scheine der Mäßigung und Bescheidenheit lege auch der [148] ironische Ernst seine Behauptung der Welt vor. Ich will, so gut man außer dem poetischen Zusammenhange vermag, ein Beispiel der bessern und darauf der schlechtern Ironie aufstellen. Zuerst jene, zugleich mit dem entwickelnden Kommentar in den Noten.

»Es ist angenehm zu bemerken 96, wie viel eine gewisse parteilose ruhige Kälte gegen die Poesie, welche man unsern bessern Kunstrichtern nicht absprechen 97 darf, dazu beiträgt, sie aufmerksamer auf die Dichter selber zu machen, so daß sie ihre Freunde und Feinde unbefangner schätzen und ausfinden ohne diegeringste 98 Einmischung poetischer Neben-Rücksicht. Ich finde 99 sie hierin, insofern sie mehr der Mensch und Gärtner als dessen poetische Blume besticht, nicht sehr von den Hunden verschieden 100, welche eine kalte Nase und Neigung gegen Wohlgerüche zeigen, desgleichen gegen Gestank 101, die aber einen desto feinern Sinn (wenn sie ihn nicht durch Blumen abstumpfen, wie Hühnerhunde auf blühenden Wiesen) für Bekannte und für Feinde und überhaupt für Personen (z.B. Hasen) beweisen anstatt für Sachen.«

Denselben ironischen Gedanken müßte man in der falschen und überall gewöhnlichen Manier etwa so zu geben suchen:

»Man muß gestehen, und alle Welt weiß 102, daß die Herren Kunstrichter zwar nicht für poetische Schönheiten (das ist ja eine [149] lächerliche Kleinigkeit), aber doch für jeden, wer so unter der Hand ihr Feinsliebchen oder ihr Feind ist, eine gar herzliche Spürnase haben. Meine Ehrenmänner sind hier baß den Hunden zu vergleichen (doch mit allem Respekt und ohne Vergleichung gesprochen), welche u.s.w.«

Mich ekelt die weitere Nachahmung dieser ironischen Nachäffung. Swift- dieser einzige ironische Alte vom Berge, der ironische Großmeister unter Alten und Neuern, welcher unter den Briten bloß den Doktor Arbuthnot 103 zu seinem Nebenritter und unter uns bloß Liscov 104 zum Ritter der deutschen Zunge schlug – macht jedem, der ihn ehrt, solche Mißgeburten zuwider. Gleichwohl hab' ich aus deutschen Rezensionen, z.B. in der Neuen Allg. Deutschen Bibliothek – nicht die Fehler rügenden, sondern sie begehenden – und aus den deutschen Spaßmachern ein ironisches Idiotikon von wenigen Worten ausgezogen. Die Substantiva sind: Patron, Ehrenmann, häufiges Herr, Freund, Gast, Hochgelahrter, Hochweiser, ferner häufige Diminutiva als Schein-Zeichen der Liebe, z.B. Pröbchen. 105 – Die Adjektiva 106 sind [150] stets die höchst lobenden: geschickte, unvergleichliche, werteste, hochgelahrte, treffliche, artige, weidliche, leckere, behagliche, stattliche, klägliche, herzbrechende, brillante, erkleckliche, saubere, ja gespickte (welches letzte Wort der Mißbrauch nicht einmal mehr im allegorischen Ernste zu gebrauchen erlaubt). – Die Adverbia sind: ganz, gar, baß, höchlich, ungemein, unfehlbar, augenscheinlich. Endlich braucht die After-Ironie noch gern das Pronomenmein, unser: »mein Held« – Theologische Ausdrücke wie: fromm, erbaulich, gesalbt, Salbung, Kernsprüche, und veraltete wie: baß, gar schön, behaglich, männiglich etc., stehen im größten ironischen Ansehen, weil beide einen spaßhaften Ernst zu haben scheinen. Will man die Ironie noch stechender zuschleifen und treffender aufstellen zu einem Rikoschetschusse: so setzt man die zweischneidigen Frage- oder Ausrufungzeichen und Gedankenstriche bei und gibt durch deren Verdoppelung doppelt Schach. Diese Schreiber, welche uns nicht den Ernst des Scheins, sondern den Schein des Scheins bringen, gleichen den Stummen, welche auch dann, wenn sie uns ihre Sache pantomimisch deutlich sagen, noch unangenehme, unnütze Töne einflicken. Durch die ganze Poesie, auch durch den Roman gesetzt auch, der Verfasser dieses fiele dabei in eine und die andere Pfänderstrafe –, sollte wie in Nürnberg, wo der Meistersänger, der auf dem Singstuhle 107 sein Singen mit Reden unterbrach, nach der Zahl der Sprech-Silben abgestraft wurde, ebenso eine Rüge überall darauf stehen, wo der Verfasser dem Dichter ins Wort fällt.

Die Kontraste des Witzes sind daher für den Ernst des Scheins gefährlich, weil sie den Ernst zu schwach aussprechen und das Lächerliche zu stark. – Man sieht aus dem obigen Beispiel der Kunstrichter und Hunde, wie die Bitterkeit einer Ironie von sich selber mit ihrer Kälte und Ernsthaftigkeit zunimmt ohne Willen, Haß und Zutun des Schreibers; die swiftische ist nur darum die bitterste, weil sie die ernsteste ist. – Es folgt ferner, daß eine gewisse feurige Sprachfülle, z.B. von Sturz, Schiller, Herder, sich schwerer mit der ironischen Kälte und Ruhe verträgt; so auch schwer Lessings witziger dialektischer Zickzack und zweischneidige [151] Kürze. Desto mehr Wahlverwandtschaft hat die Ironie mit Goethens epischer Prose. Möchte überhaupt der Verfasser des Fausts, bei so großen Kräften eines eigentümlichen Humors und einer ironisch kalten Erzählung des Törichten, seinem Flügelmann auf dem dramatischen Flügelpferde, Shakespearen, welchem Johnson sogar eine besondere Vorliebe für das Komische zuschrieb, wenigstens so weit nacharbeiten, daß er uns nur so viele scherzhafte Bände bescherte, als ernsthafte berühmte Kanzelredner hätten zurückbehalten sollen.

Aus allem Bisherigen ergibt sich die Kluft zwischen Ironie und Laune, welche letzte so lyrisch und subjektiv ist als jene objektiv. Zum größern Beweise will ich die obige Ironie in Laune übersetzen. Sie möchte etwa so lauten – oder ganz anders; denn die Laune hat tausend krumme Wege, die Ironie nureinen geraden wie der Ernst –:

»Herr, sagt' ich zum Herrn mit einiger Ehrerbietung (er war Mitarbeiter an fünf Zeitungen und Arbeiter an einer), ich wollte, er wäre dem wasserscheuen Kerl vernünftig ausgewichen und nicht ins Bein gefahren – denn ich schoß ihn darauf nieder, ob er gleich vielleicht einer meiner besten Hunde war –: so hätte die Welt noch eine der besten Hundsnasen mehr, die je darin geschnuppert. Ich kann schwören, Herr, die gute Ars (so schrieb er sich gern lateinisch) war für das gemacht, was sie trieb. Konnte der Hund, ich frage, mir nicht hier im Blumen-Garten nachspringen, durch Rosen, durch Nelken, durch Tulpen, durch Levkoien, und seine Nase blieb kalt gegen alles und sein Schwanz sehr ruhig? – Hunde, sagt' er oft, haben ihre beiden Nasenlöcher für ganz andere Sachen. Nun zeige ihm aber ein Mann, der ihn erforschen will, etwas anderes, von weitem einen Maulwurf in der Falle hängend, einen Bettler (seinen Erbfeind) unter der Gartentüre, oder Sie, meinen Freund, hereintretend – was meinen Sie, daß meine sel. Ars tat? – Ich kann mir das leicht denken, sagte der Herr. – Gewiß, sagt' ich, er rezensierte auf der Stelle, Freund! Mir ist, versetzte nachsinnend der Herr, als habe jemand einen ähnlichen Ausdruck schon einmal von Hunden gebraucht. – Das war ich, o Bester, aber in einer Ironie, sagt' ich.«

[152] Ganz verschieden würde derselbe Gedanke in einem andern Humor, z.B. im Shakespeareschen, lauten. Wir wenden uns zur Ironie zurück. Man sieht, daß sie, so wie die Laune, sich nicht gut mit epigrammatischer Kürze verträgt – welche mit zwei Zeilen gesagt hätte: Kunstrichter und Hunde wittern nicht Rosen und Stinkblumen, sondern Freunde und Feinde –; allein die Poesie will ja nicht etwas bloß sagen, sondern es singen, was allzeit länger währt. Wielands Weitläufigkeit in seiner Prose (denn seine Verse sind kurz) entspringt häufig aus einem sanften humoristischen oder auch ironischen Anstrich, den er ihr mitten im Ernste gern lässet. Daher hat die englische Sprache, welche am meisten noch von der lateinischen Periodologie fortbewahrt, und folglich die lateinische den besten ironischen Bau; auch die deutsche, solange sie sich noch jener nachbildete wie zu Liscovs Zeiten. 108 Wir wollen dem Himmel danken, daß sich jetzo kein kraftvoller Deutscher jenes französische atomistische Zersplittern eines lebendigen Perioden in Punkte – jene bunten Beete mit zerbrochnen Scherben zum Muster erlieset, wie es Rabener u.a. getan, dessen Ironie eben wie die französische an diesem geistlosen Zerschneiden kränkelt, ohne doch die Vorteile dieser Sprache, die epigrammatische und persiflierende Geschicklichkeit, zu genießen. Man sollte wie Klotz und (zuweilen) Arbuthnot Ironien in lateinischer Sprache schreiben, weil diese durch die besondern eitel-bescheidenen »Konzessions-, Okkupations-, Dubitations- und Transitionsformeln« der neuern Lateinschreiber den ironischen Behauptungen einen unsäglichen Reiz darbeut. Denn ein Mensch sei noch so eitel, er sei ein Theaterdichter – ein Wort, was schon eine zweifache Eitelkeit aussagt – und in der Loge während seines Stücks – oder er sei das reichste, schönste, belesenste Mädchen in einer Kaufmannsstadt – oder er sei, wer er wolle, in einer Lage, wo er die Sünde der Eitelkeit in einer Stunde 60mal begehen kann: so begeht er sie doch in einer Stunde noch öfter, nämlich sooft er Worte macht, während seines Programms, ein Rektor, ein Konrektor, ein Subrektor u.s.w., der darin weiter nichts zu [153] sagen hat als das Lateinische. Jede Floskel und Redeblume ist ein Lorbeerzweig, welchen vielleicht der böse Feind aufhebt und trocknet zu künftigem Fegfeuer.

Da die Ironie ein fortgehendes Ansichhalten oder Objektivieren auflegt: so sieht man leicht, daß dieses gerade desto schwieriger wird, je komischer der Gegenstand ist, – anstatt daß die subjektivierende und mehr lyrische Laune gerade durch den Überschwung des Stoffs gewinnt; daher jene in der überströmenden Jugend schwerer wird, im Alter aber immer leichter, wo ohnehin das lyrische Leben auf dem Durchgange durch das dramatische ein episches und nach zwei Gegenwarten, nach der innern und nach der äußern, eine feste stille Vergangenheit geworden ist. Auch neigen eben darum Männer von Verstand sich mehr zur Ironie, die von Phantasie mehr zur Laune.

§ 38. Der ironische Stoff
§ 38
Der ironische Stoff

Er soll Objekt sein, d.h. das epische Wesen soll sich selber eine scheinbar vernünftige Maxime machen, es soll sich, und nicht den auslachenden Dichter spielen; folglich muß der Ernst des Scheins nicht bloß auf die Sprache, sondern auch auf die Sache fallen. Da her kann der Ironiker seinem Objekte kaum Gründe und Schein genug verleihen. – Swift ist hier das Leihhaus für das Tollhaus. – Aber die ironische Menge um ihn her findet man auf zwei aus einanderlaufenden Irrwegen; einige leihen gar nichts her als ein Adjektivum und dergleichen; sie halten einen bloßen Tauschhandel des Ja gegen das Nein und umgekehrt für schönen lieben Scherz. Die Franzosen legen dem epischen Objekt gemeiniglich in den Mund: »die abscheuliche Aufklärung, das verdammliche Denken, das Autodafé zu Gottes Ehre und aus Menschenliebe«; ihre Pointe gegen Ärzte ist das Lob des Tötens, gegen Weiber das Lob der Untreue – kurz einen objektiven Wahnsinn, d.h. eine prosaische Verstandeslosigkeit statt poetischer Ungereimtheit, mit andern Worten, die subjektive Ansicht verdeckt die objektive. Aus diesem Grunde sind Pascals lettres provinciales [154] zwar als eine feine, scharfe, kalte, moralische Zergliederung des Jesuitismus vortrefflich, aber als eine ironisch-objektive Darstellung verwerflich. Voltaire ist besser; wiewohl auch oft die Persiflage in die Ironie einbricht. Ebenso schlecht als um das ironische Lob steht es um die lobende Ironie, welche bloß die umgekehrten Wörter braucht: »der gottlose Mensch« statt der gute u.s.w.; nur Swift besaß die Kunst, eine Ehrenpforte zierlich mit Nesseln zu verhängen und zu verkleiden, am besten; auch Voiture ein wenig, der wenigstens den Balzac, den die Franzosen ziemlich lange einen großen Mann genannt, zu übertreffen taugt.

Der zweite ironische Irrweg ist, die Ironie zu einer so kalten prosaischen Nachahmung des Toren zu machen, daß sie nur eine Wiederholung desselben ist. Eine Ironie aber, wozu man den Schlüssel erst im Charakter des Autors und nicht des Werks antrifft, ist unpoetisch, z.B. Machiavells und Klopstocks. Ebenso wird ihr poetischer Himmel, wie in Wolfs Briefen an Heyne, durch hassende Leidenschaft verfinstert. Ja er verträgt nicht einmal die Einmischung eines scheinbaren Enthusiasmus, wie z.B. in Thümmels Rede an den Richterkreis.

Aus diesem Grunde kann, wie ich glaube, das neuere komische Heldengedicht, z.B. Popens Lockenraub, Zachariäs ähnliche Gesänge, Fieldings ähnliche, sich erhaben stellende Prügelschlachten (indes Smollett ein Meister im Prügeln ist, weil er gelassen und ohne Pomp auf das Gliedmaß schlägt), dieses komische Heldengedicht kann durch seine Überladung mit Blumen und Feier Ernst nur einen uneinigen Genuß gewähren, weder den heitern Reiz des Lachens, noch die Erhebung des Humors, noch den moralischen Ernst der Satire. Die Ironie sündigt gleich sehr, wenn sie das bloße törichte Gesicht, oder wenn sie die bloße ernste und Mäusekriegs kann diese Gattung gelten und Goethens Reinike Fuchs wieder gelten.

Persiflage könnte man das ironische Streiflicht nennen; Horaz ist vielleicht der erste Persifleur und Lucian der größte. Die Persiflage ist mehr die Tochter des Verstandes als der komischen Schöpferkraft; sie könnte das ironische Epigramm genannt werden. [155] Galiani ist die geistreichste Übersetzung, die man vom persiflierenden Horaz besitzt; und oft vom Original in nichts verschieden als in der Zeit und Geistesfreiheit. – Dem Cicero sprechen seine Einfälle in Reden und im Valerius Maximus und sein scharfes Profil einigen Ansatz zu einem Swift zu. – Platons Ironie (und zuweilen Galianis) könnte man, wie es einen Welt-Humor gibt, eine Welt-Ironie nennen, welche nicht bloß über den Irrtümern (wie jener nicht bloß über Torheiten), sondern über allem Wissen singend und spielend schwebt; gleich einer Flamme frei, verzehrend und erfreuend, leicht beweglich und doch nur gen Himmel dringend.

§ 39. Das Komische des Dramas
§ 39
Das Komische des Dramas

Auf dem Übergange vom epischen Komus zum dramatischen begegnen wir sogleich dem Unterschiede, daß so viele große und kleine komische Epiker, Cervantes, Swift, Ariost, Voltaire, Steele, Lafontaine, Fielding, keine oder schlechte Komödien machen konnten; und daß umgekehrt große Lustspieldichter als schlechte Ironiker aufzuführen sind, z.B. Holberg in seinen prosaischen Aufsätzen, Foote in seinem Stücke »die Redner«. – Setzt diese Schwierigkeit des Übergangs – oder irgendeine überhaupt – mehr einen Klimax des Werts, oder bloße Verschiedenheit der Kraft und Übung voraus? Wahrscheinlich das letzte; Homer hätte sich ebenso schwer zum Sophokles umgeschaffen als dieser sich zu jenem, und kein großer Epiker war nach der Geschichte ein großer Dramatiker, so wie auch umgekehrt, und epischer Ernst und tragischer Ernst haben einen weiteren Weg zu einander selber als zu dem ihnen entgegengesetzten Scherze, der vielleicht dicht hinter ihrem Rücken steht. Wenigstens folgt überhaupt, daß die epische Kraft und Übung nicht die dramatische ersetze und erspare, und umgekehrt; allein wie hoch ist nun die Scheidemauer?

Erst das ernste Epos und Drama müssen sich vorläufig trennen. Wiewohl beide objektiv darstellen, so stellt doch jenes mehr das Äußere, Gestalten und Zufalle, dar, dieses das Innere, Empfindungen [156] und Entschlüsse; – jenes Vergangenheit, dieses Gegenwart; – jenes eine langsame Aufeinanderfolge bis sogar zu langen Vor-Reden vor Taten, dieses lyrische Blitze der Worte und Taten; – jenes verliert so viel durch karge Einheit der Örter und Zeiten, als dieses durch beide gewinnt. – Nimmt man dies alles zusammen, so ist das Drama lyrischer; und kann man denn nicht alle Charaktere des Trauerspiels zu Lyrikern machen; oder wenn mans nicht könnte, wären dann nicht die Chöre von Sophokles lange Mißtöne in dieser Harmonie? –

Im Komischen aber sind diese Unterschiede zwischen Epos und Drama selber wieder verschieden. Der ernst-epische Dichter erhebe sich, so hoch er will: über Erhabene und Höhen gibt es keine Erhebung, sondern nur eine zu ihnen; etwas also muß er durchaus zu malen antreffen, was den Maler mit dem Gegenstande verschmelzt. Hingegen der komisch-epische Dichter treibt die Entgegensetzung des Malers und des Gegenstandes weiter; mit ihrem umgekehrten Verhältnisse zueinander steigt der Wert der Malerei. Der ernste Dichter ist dem tragischen Schauspielerähnlich, in dessen Innern man nicht die Parodie und das Widerspiel seiner heroischen Rolle voraussetzen und merken will und darf 109; [157] der komische ist dem komischen Spieler gleich, welcher den subjektiven Kontrast durch den objektiven verdoppelt, indem er ihn in sich und im Zuschauer unterhält. Folglich wird sich – ganz ungleich dem epischen Ernste – gerade die Subjektivität im Verhältnisse ihrer Entgegensetzungen über die prosaische Meeres Fläche erheben. Ich rede vom komischen Epiker; aber der komische Dramatiker – ungleich seinem Darsteller auf der Bühne verbirgt sein Ich ganz hinter die komische Welt, die er schafft; diese allein muß mit dem objektiven Kontrast zugleich den subjektiven aussprechen; und wie in der Ironie der Dichter den Toren spielt, so muß im Drama der Tor sich und den Dichter spielen. Insofern ist der komische Dramatiker gerade aus dem Grund objektiver, aus welchem der tragische lyrischer wird. Allein wie hoch und fest und schön muß der Dichter stehen, um sein Ideal durch den rechten Bund mit Affen-Gestalt und Papageien-Sprache auszudrücken und, gleich der großen Natur, den Typus des göttlichen Ebenbildes durch das Tierreich der Toren fortzuführen! – Der Dichter muß selber seine Handschrift verkehrt schreiben können, damit sie sich im Spiegel der Kunst durch die zweite Umkehrung leserlich zeige. Diese hypostatische Union zweier Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen, ist so schwer, daß statt der Vereinigung meistens eine Vermengung und also Vernichtung der Naturen entsteht. Daher da der Tor allein zugleich den objektiven und den subjektiven Kontrast aussprechen und verbinden soll 110: so weiß man das nicht anders logisch zu machen als durch dreierlei Fehler: entweder der objektive wird übertrieben – was Gemeinheit heißet –, oder der subjektive wird es – was Wahnsinn und Widerspruch ist –, oder beides, was ein Krügersches oder gewöhnliches deutsches Lustspiel [158] ist. 111 Noch gibt es den vierten, daß man den komischen Charakter in den lyrischen fallen und Einfälle sagen, anstatt erwecken, und lächerlich machen – sich oder andere –, anstatt ihn lächerlich werden lässet; und Congreve und Kotzebue haben, wie gesagt, oft zu viel Witz, um nicht hierin zu sündigen.

Diese Schwierigkeit des doppelten Kontrasts erzeugt daher oft gerade bei den Schriftstellern, welche in andern Gattungen Nachahmer der französischen Scheue sind, niedrig-komische Lustspiele, z.B. bei Gellert, Wezel, Anton Wall etc. Man hat die Bemerkung gemacht, daß ein Jüngling eher ein gutes Trauer- als Lust-Spiel dichte; – sie ist wahr, und die andere, daß alle Jugendvölker gerade mit dem Lustspiel anhoben, steht ihr darum nicht entgegen, weil das Lustspiel anfangs nur mimisch-körperliche Nachahmung, später mimisch-geistige Wiederholung war, bis es erst spät poetische Nachahmung wurde. Nicht der jugendliche Mangel an Kenntnis der Menschen (denn diese hat das Genie in seiner ersten Blüte) (obwohl der Mangel an Kenntnis der Sitten hier bedeutender ist), sondern ein höherer Mangel schließet dem Jüngling das Lustspielhaus zu, der Mangel an Freiheit. Den unerschöpflichen Beutel bekam Fortunatus zuerst, und erst später jenen Wünsch- oder Freiheit-Hut, der ihn über die Erde durch die Lüfte trug. Aristophanes', Shakespearens und Gozzis Luststücke reift kein Sturm und kein Brennspiegel 112 sondern heiterer langer Sonnenschein; und dieses Zensor-Amt kann, wie das römische, nicht ohne männliche Jahre bekommen werden.

[159]
§ 40. Der Hanswurst
§ 40
Der Hanswurst

Zum Übergang vom dramatischen Komus zum lyrischen find' ich keinen bessern Zwischengeist und Zwischenwind als den Hanswurst. Er ist der Chor der Komödie. Wie in der Tragödie der Chor den Zuschauer antizipierte und vorausspielte und wie er mit lyrischer Erhebung über den Personen schwebte, ohne eine zu sein: so soll der Harlekin, ohne selber einen Charakter zu haben, gleichsam der Repräsentant der komischen Stimmung sein und ohne Leidenschaft und Interesse alles bloß spielen, als der wahre Gott des Lachens, der personifizierte Humor. Daher, wenn wir einmal ein bestes Lustspiel erhalten, wird der Verfasser sein komisches Tierreich mit dem schönsten Schöpfungstage segnen und den Harlekin als den besonnenen Adam dazu erschaffen.

Was diesem guten Choristen den Einlaßzettel für die Bühne nahm, war nicht die Niedrigkeit seines Spaßes – denn dieser wurde bloß in mehre Rollen ausgeschrieben für das restierende Personale, besonders für die Bedientenstube, in welche unsere Schreiber ihre Unkenntnis des Herren-Komus verstecken –, sondern erstlich wirkte die Schwierigkeit eines solchen Humors mit ein 113 (insofern er mit den höhern Forderungen der Zeit aufsteigen mußte), zweitens Harlekins unedle Geburt und Erziehung. Schon ehrlos, in beschorner Sklavengestalt bei den rohen Römern, wie noch bei dem Pöbel, als bloßer Schmarotzer 114, der mehr Spaß ertrug als vortrug, um nur zu essen – und darauf als ähnlicher Tisch-Narr, der mehr die Scheibe war als der Schütze, mehr passiv- als aktiv-komisch, nur daß er an den Höfen, wo der Hofnarr als umgekehrter Hofprediger oder als der Wochen-Koadjutor desselben hinter gleichem Schirme über dieselben Texte, nur in mehren Rockfarben predigen durfte – da war seine zufällige Erscheinung immer so, daß der sittliche Schmerz über einen solchen Menschen-Verbrauch – nur den Römern erfreulich, die zum [160] Spaße auf Bühnen wahre Kriege aufführten und wahre Torturen nachspielten – durch die Ausbildung das Übergewicht über die Freude gewann, welche der komische Geist austeilte, und daß man daher den Gegenstand des Mitleidens mehr als des Mitfreuens lieber hinter die Kulissen trieb. – Aber könnte nicht eben darum Harlekin wieder tafel- und bühnen-fähig werden, wenn er sich ein wenig geadelt hätte moralisch? Ich meine, wenn er bliebe, was er wäre im Lachen, aber würde, was einmal eine ganze Mokier-Sekte von Pasquinen war im Ernste? Nämlich frei, uneigennützig, wild, zynisch – mit einem Worte, Diogenes von Sinope komme als Hanswurst zurück, und wir behalten ihn alle.

Um aber feinere Seelen an der Pleiße, die ihn wegschwemmte, nicht durch die Aufhebung dieses Edikts von Nantes selber wieder zu vertreiben, muß dieser Mensch durchaus den Küchennamen Hanswurst, Pickelhäring, Kasperl, Lipperl fahren lassen. Schon Skapin oder Truffaldino ist vorzuziehen. Doch möcht' er sich uns mehr als ein sedater Mann von Gewicht und Scherz darstellen, wenn er einen oder den andern Namen – weil sie unbekannt sind und spanisch –, entweder Cosme oder Gracioso annähme; wiewohl ein Deutscher noch lieber wünschen wird, daß man den guten Hofnarren oder courtisan bei einem deutschen Namen erhielte, den er wirklich schon führt, und ihn nicht anders nennte als (veredelt) – indem man kurzweilig wegstriche, besonders da alle andere Räte eben Beinamen haben, z.B. Kammer-, Hof-, Legations-u.s.w. –Rat. Sogar in Leipzig müßte ein Hanswurst geduldet werden unter dem Namen Rat.

§ 41. Das lyrische Komische oder die Laune und die Burleske
§ 41
Das lyrische Komische oder die Laune und die Burleske

Wenn im Epos der Dichter den Toren, im Drama der Tor sich und jenen, aber mit dem Übergewichte des objektiven Kontrastes spielte: so muß in der Lyra der Dichter sich und den Toren spielen, d.h. in derselben wahnsinnigen Minute lächerlich und lachend sein, aber mit dem Übergewichte der Sinnlichkeit und des subjektiven Kontrastes zugleich. Der Humor, als der komische [161] Weltgeist, erscheint verkleinert und gefangen als Haus- und Waldgeist, als bestimmte Hamadryade des Dornenstrauchs, ich meine als Laune; und wie Ironie zur Persiflage, so verhält sich Humor zur Laune. Jener hat den höhern, diese einen niedern Vergleichungspunkt. Der Dichter wird bis zu einem gewissen Grade das, was er verlacht; und in dieser Lyra kommt jene Objekt-Subjektivität des Schellingischen Pans unter dem Namen burlesk wieder hervor. Denn der burleske Dichter malt und ist das Niedrige zu gleicher Zeit; er ist eine Sirene mit einer schönern Hälfte, aber eben die tierische erhebt sich über die Meersfläche, ja oft ists ein Hirtengedicht, das ein Hirtenhund bellt.

Dahin rechn' ich auch alles Travestieren – trotz dem Scheine epischer Form, die nirgends ist, wo der Dichter die Empfindung des Lesers oder Objekts selber vorempfindet –, dieses Widerspiel der Ironie, die ihr Lachen so zudeckt als jenes ihres auf. – Wie ist denn nun das Niedrig-Komische darzustellen ohne Gemeinheit? Ich antworte: nur durch Verse. Der Verfasser dieses begriff eine Zeitlang nicht, warum ihm die komische Prose der meisten Schreiber als zu niedrig und subjektiv widerlich war, indes er den noch niedrigern Komus der Knittelverse häufig gut fand. Allein wie der Kothurn des Metrums Mensch und Wort und Zuschauer in eine Welt höherer Freiheiten erhebt: so gibt auch der Sokkus des komischen Versbaues dem Autor die poetische Maskenfreiheit einer lyrischen Erniedrigung, welche in der Prosa gleichsam am Menschen widerstehen würde.

Diese Stimmung will, wie man an den Travestien und am 17. Jahrhundert sieht, wo in Paris die burlesken Verse blühten, mehr sich als den Gegenstand lächerlich machen, indes die Ironie es umkehrt; und ihr froher Ausbruch wird durch die Phrase »sich über etwas lustig machen«. wahr bezeichnet. – In einigen neuern Werken, z.B. in den Burlesken von Bode, noch weit höher aber im Herodes vor Bethlehem, schimmert in diesen niedersteigenden Zeichen der Poesie ein höheres Licht, der Sinn für das Allgemeine, da die frühern von Blumauer und andern tiefe Marschländer sind, voll Schlamm, obwohl voll Salz.

Derselbe Grund, welcher die Burleske in Versen fodert, begehrt [162] auch, wenn sie in dramatischer (obwohl unpassender) Form erscheint, Marionetten statt Menschen zu Spielern. Eine lyrische Verrückung, welche z.B. in Bodens Burlesken vor der Phantasie leicht und nur als Sache vorüberfliegt, martert in der festen Gestalt eines lebendigen Wesens uns mit einer unnatürlichen Erscheinung; hingegen die Schaupuppe ist für das niedrigste Spiel das, was für das erhabenste die Maske der Alten war; und wie hier die individuelle lebendige Gestalt zu klein ist für die göttervolle Phantasie, so ist sie dort zu gut für die vernichtende.

Die komische und niedrig-komische Poesie hat das eigene, daß sie zweierlei Wörter und Phrasen am häufigsten gebraucht, erstlich ausländische, dann die allgemeinsten. – Warum machen wir gerade durch das Ausländische am stärksten lächerlich, so wie wir es dadurch gerade am meisten werden als Ehrenmitglieder und Adoptivkinder aller Völker, besonders des gallischen? Schon durch deutsche Biegung wird das ernste lateinische Wort uns lächerlich. Französische bezeichnen, deutsch umgeendet, immer etwas Verachtendes – z.B. peuple (Pöbel), courtisan (Hasenfuß), maîtresse (Beischläferin), caressieren, canaille, infame, touchieren (als Beleidigung), blamieren, courte sieren – teils aus Volkshaß 115 gegen das vorige fürstliche repräsentative System, nach welchem die deutschen Fürsten Vice-Res und missi regii von Ludwig XIV. waren, teils weil die damalige Sprachmengerei der Höfe und Gelehrten (z.B. flattieren, charmieren, passieren) in das Volk heruntersank und also noch für uns bei ihm als Schöpf-Quelle gemeiner Sprechart bleibt. Lateinische Worte werden geachtet und erhoben; folglich recht gut als Kontraste burlesk geworben. Griechische sind tafelfähig sogar im Epos; ja sogar lateinische ohne deutsche Biegung.

Der reichste und helleste komische Sprach-Born, woraus Wieland glücklich seine komischen Pflanzungen begossen und gewässert, ist unser Schatz von gemein-allgemeinen Sprechweisen. [163] Ich will einen ganzen folgenden Perioden aus ihnen formieren: »Es ist etwas daran, aber ein böser Umstand, wenn ein Mann in seinen Umständen überhaupt viel Umstände macht und (so lass' ich mir sagen), ohne selber zu wissen, woran er ist, zwar mit sich reden, aber doch nicht handeln lässet, sondern, weil er darin nicht zu Hause ist, Stunden hat, wo er die Sachen laufen lässet, wenn er auch Mittel hätte.« – Diese Phrasen, welche das Gemeinste ins Allgemeine hüllen und daher nie das Komische zu sinnlich aussprechen und woran der Deutsche so reich ist, stehen mit hohem Werte weit über allen den komischen sinnlichen plattdeutschen Wörtern, welche Mylius und andere für »humoristische« ausrufen. – Außerdem daß man mit gleichem Rechte auch scharfsinnige Wörter, elegische, tragische aufwiese, hasset gerade der Humor, ja sogar die burleske Laune die vorlaute Aussprecherei des Komischen.

Ich werde niemals ein Buch ansehen, auf dessen Titel bloß steht: zum Totlachen, zur Erschütterung des Zwerchfells u.s.w. Je öfter lachend, lächerlich, humoristisch in einem komischen Werke vorkommt, desto weniger ist es selber dieses; so wie ein ernstes durch die häufigen Wörter: »rührend, wunderbar, Schicksal, ungeheuer« uns die Wirkung nur ansagt, ohne sie zu machen.

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Zweite Abteilung

Inhalt der zweiten Abteilung

IX. Programm. Über den Witz


§ 42 Unbestimmte Definitionen – § 43 Witz, Scharfsinn, Tiefsinn § 44 Der unbildliche oder Reflexion-Witz, nämlich die erste Abteilung des ästhetischen oder der bloße Witz des Verstandes – § 45 Sprachkürze, eine Bedingung und ein Teil des Witzes – Lob der philosophischen Kürze, Tadel der dichterischen – § 46 Der witzige Zirkel als ein Teil des Refexion-Witzes – § 47 ferner die Antithese – § 48 endlich die Feinheit – § 49 Der bildliche Witz, dessen Notwendigkeit in der Menschennatur – Abschweifung über Geruch und Geschmack- § 50 Doppelzweig des bildlichen Witzes; Personifikation oder Beseelen als der eine, Verkörpern als der andere – Vergleichung des französischen Witzes mit dem deutschen und britischen § 51 Die Allegorie – § 52 Das Wortspiel – Herabschätzung desselben dessen Wert als Sprache des Zufalls – dessen Regeln – § 53 Maß des Witzes, Lob des übervollen, Tadel der Deutschen – § 54 Notwendigkeit der witzigen Bildung – Freiheit- Kräfte eines dithyrambischen Witzes – § 55 Entschuldigung und Bedürfnis des gelehrten Witzes – Nachteile desselben.


X. Programm. Über Charaktere


§ 56 Ihre Anschauung außerhalb der Dichtkunst – § 57 Entstehung poetischer Charaktere, ihre Schöpfung ohne Weltkenntnis – § 58 Materie der Charaktere, Verwerfung der ganz unvollkommnen, Verteidigung, Schwierigkeit und Wert der vollkommnen – § 59 Form der Charaktere, Notwendigkeit ihrer Allegorie, Unterschied der griechischen und modernen Form § 60 Technische Darstellung der Charaktere, der beseelende Punkt der Einheit, Wechsel zwischen den Brennpunkten eines Charakters – § 61 dessen Ausdruck durch Rede und Handlung, Vorzug der Rede.


XI. Programm. Geschichtfabel des Drama und des Epos


§ 62 Verhältnis der Fabel zum Charakter, Vorzug des letzten – § 63 Verhältnis des Drama und des Epos – § 64 Wert der Geschichtfabel, Beweis des größern Verdienstes, sie zu erfinden als zu entlehnen – § 65 Fernere Vergleichung des Drama und des Epos – § 66 Epische und dramatische Einheit der Zeit und des Orts; die der Zeit ist dem Drama nötig, [167] nicht die des Orts, dem Epos umgekehrt – § 67 Langsamkeit des Epos und Erbsünden desselben – Homer, Virgil, Milton, Klopstock – § 68 Motivieren; wo es mehr, wo es weniger nötig ist.


XII. Programm. Über den Roman


§ 69 Über dessen poetischen Wert – § 70 Der epische Roman – § 71 Der dramatische Roman – § 72 Der poetische Geist in den drei Schulen der Romanenmaterie, der italienischen, der deutschen und der niederländischen – § 73 Die Idylle als Vollglück in der Beschränkung – § 74 Regeln und Winke für Romanschreiber.


XIII. Programm. Über die Lyra


§ 75 Ihre Definition – die Ode – die Elegie – das Lehrgedicht – das Lied – die Fabel – das Sinngedicht etc.


XIV. Programm. Über den Stil oder die Darstellung


§ 76 Definition des Stils, Charakter unserer großen Prosaiker – § 77 Sinnlichkeit des Stils – § 78 Unbildliche Sinnlichkeit, Sünden dagegen; rechte Beiwörter – § 79 Darstellung der menschlichen Gestalt, vier Mittel, durch Aufhebung, Kontrast, äußere Bewegung, innere – § 80 Poetische Landschaftmalerei – § 81 Bildliche Sinnlichkeit, wo ihre Fülle verboten und wo sie erlaubt ist – § 82 Über Katachresen, inwieweit sie keine sind.


XV. Programm. Fragment über die deutsche Sprache


§ 83 Ihr Reichtum; Lob ihrer Anomalien; Würdigung neuer Wörter, deutsche Fülle an sinnlichen Zeitwörtern – § 84 Campens Sprachreinigkeit, die Gründegegen ihn, die größern für ihn – ihre jetzige Notwendigkeit die Zeit – § 85 Vermischte Bemerkungen über die Sprache – Sprachkürze – Sprachhelle – Wolkens großes Recht und Verdienst – § 86 Wohlklang der Prose – ist nur beziehweise zu steigern – Lob der anomalen Zeitwörter – mehre Hülfmittel des Klangs.

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9. Programm. Über den Witz
§ 42. Definitionen
§ 42
Definitionen

Jeder von uns darf ohne Eitelkeit sagen, er sei verständig, vernünftig, er habe Phantasie, Gefühl, Geschmack; aber keiner darf sagen, er habe Witz; so wie man sich Stärke, Gesundheit, Gelenkigkeit des Körpers zuerkennen kann, aber nicht Schönheit. Beides aus denselben Gründen: nämlich Witz und Schönheit sind an sich Vorzüge, schon ohne den Grad; aber Vernunft, Phantasie, so wie körperliche Stärke etc. zeichnen nur einen Besitzer ungewöhnlicher Grade aus –; zweitens sind Witz und Schönheit gesellige Kräfte und Triumphe (denn was gewänne ein witziger Einsiedler oder eine schöne Einsiedlerin?); und Siege des Gefallens kann man nicht selber als sein eigner Eilbote überbringen, ohne unterwegs geschlagen zu werden.

Was ist nun Witz? Wenigstens keine Kraft, die ihre eigne Beschreibung zustande bringt. Einiges ist gegen die alte zu sagen, daß er nämlich ein Vermögen sei, entfernte Ähnlichkeiten zu finden. Hier ist weder »entfernte« bestimmt, noch »Ähnlichkeit« wahr. Denn ferne Ähnlichkeit ist, aus dem Bildlichen übersetzt, eine unähnliche, d.i. ein Widerspruch; soll es eine schwache oder scheinbare bedeuten, so ist es falsch, da Ähnlichkeit, als solche, ewig wahre Gleichheit, obwohl nur eine von wenigeren Teilen ist, Gleichheit aber, als solche, keinen Grad und Schein zulässet 116. Ebendasselbe gilt, nur umgekehrt angewandt, von der Unähnlichkeit.

Soll aber die schwache oder ferne Ähnlichkeit nichts bedeuten als teilweise Gleichheit: so hat dies der Witz mit allen andern Kräften und deren Resultaten gemein; denn auch jedes andere Vergleichen gibt nur teilweise; – gänzliche wäre Identität. Auch [169] gibt es eine Gattung Witz – noch außer dem Wortspiele –, die ich nachher, nach Analogie des logischen Zirkels, den witzigen Zirkel nennen werde, welcher sich in sich verläuft und worin die Gleichheit sich selber gleich ist. Der logische und der witzige Zirkel werden von neuern Identität-Philosophen – selber der vorige Ausdruck bringt mich unter sie – oft konzentrisch gestellt und gebraucht. 117 Wenn die Anthologie – Ob-Subjekt differenzierend – sagt: die Salbe salben; oder Lessing: das Gewürzwürzen: so steht hier Witz, aber ohne alle ferne Ähnlichkeiten, ja mehr bloß das Gleiche wird unähnlich gemacht. So ist auch z.B. der gewöhnliche französische rückwärtsschlagende Witz: »das Vergnügen, eines zu nehmen oder zu geben – die Freundin der seinigen etc.« Ebenso fehlet den Wortspielen die Ferne, z.B. »ein Brief-Wechsel mit Wechsel-Briefen«.-

Der zweite Teil der Definition will den Witz durch das Finden der Ähnlichkeiten ganz von dem Scharfsinne, als dem Finder der Unähnlichkeiten, wegstellen. Allein nicht nur geben die Vergleichungen des Witzes oft Unähnlichkeiten – z.B. wenn ich sagte: »Agesilaus wohnte in Tempeln, um sein Leben zu offenbaren; der Heuchler aber, um es zu verdecken« – oder wenn ich sagte: »zu den redenden Künsten gehört die schweigende« – oder überhaupt die Antithese; sondern auch die Vergleichungen des Scharfsinnes bringen eben oft Ähnlichkeiten; wohin z.B. ein guter Beweis seiner Ähnlichkeit mit dem Witze gehören würde. Beide sind nur eine vergleichende Kraft, mehr durch die Richtung und die Gegenstände als die Wirkungen verschieden. Der Scharfsinn wie der eines Seneka, Bayle, Lessing, Bako schlägt, weil er kurz dargestellt wird, mit dem ganzen Blitze des Witzes; so ist es z.B. schwer zu sagen, ob die fortgehende Antithese, welche in Reinholds und Schillers philosophischer Prose oft einen Psalmen.- Parallelismus bildet, Witz oder Scharfsinn oder nicht vielmehr beides ist.

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§ 43. Witz, Scharfsinn, Tiefsinn
§ 43
Witz, Scharfsinn, Tiefsinn

Ehe wir den ästhetischen Witz, den in engerem Sinne, näher bestimmen, müssen wir den Witz im weitesten, nämlich das Vergleichen überhaupt betrachten.

Auf der untersten Stufe, wo der Mensch sich anfangt, ist das erste leichteste Vergleichen zweier Vorstellungen – deren Gegenstände seien nun Empfindungen, oder wieder Vorstellungen, oder gemischt aus Empfindung und Vorstellung – schon Witz, wiewohl im weitesten Sinn; denn die dritte Vorstellung, als der Exponent ihres Verhältnisses, ist nicht ein Schluß-Kind aus beiden Vorstellungen (sonst wäre sie deren Teil und Glied, nicht deren Kind), sondern die Wundergeburt unsers Schöpfer-Ich, zugleich sowohl frei erschaffen – denn wir wollten und strebten – als mit Notwendigkeit – denn sonst hätte der Schöpfer das Geschöpf früher gesehen als gemacht oder, was hier dasselbe ist, als gesehen. Vom Feuer zum Brennholze daneben zu gelangen, ist derselbe Sprung vonnöten – wozu die Füße des Affen nicht hinreichen – der von den Funken des Katzenfells zu den Funken der Wetterwolke auffliegt. Der Witz allein daher erfindet, und zwar unvermittelt; daher nennt ihn Schlegel mit Recht fragmentarische Genialität; daher kommt das Wort Witz, als die Kraft zu wissen, daher »witzigen,« daher bedeutete er sonst das ganze Genie; daher kommen in mehren Sprachen dessen Ich-Mitnamen Geist, esprit, spirit, ingeniosus. Allein ebensosehr als der Witz nur mit höherer Anspannung – vergleicht derScharfsinn, um die Unähnlichkeit zu finden, und derTiefsinn, um Gleichheit zu setzen; und hier ist der heilige Geist, die dritte Vorstellung, die als die dritte Person aus dem Verhältnisse zweier Vorstellungen ausgeht, überall auf gleiche Weise ein Wunderkind.

Hingegen in Rücksicht der Objekte tritt ein dreifacher Unterschied ein. Der Witz, aber nur im engern Sinn, findet das Verhältnis der Ähnlichkeit, d.h. teilweise Gleichheit, unter größere Ungleichheit versteckt; der Scharfsinn findet das Verhältnis der Unähnlichkeit, d.h. teilweise Ungleichheit, unter größere Gleichheit [171] verborgen; der Tiefsinn findet trotz allem Scheine gänzliche Gleichheit. (Gänzliche Ungleichheit ist ein Widerspruch und also undenkbar.) Überraschung, welche man sonst noch als Zeichen und Geschenk des Witzes vorrechnet, unterscheidet dessen Schaffen wenig von dem Schaffen anderer Kräfte, des Scharf-, des Tiefsinns, der Phantasie etc. etc.; jede überrascht durch das ihrige, der Witz noch mehr durch seines, weil seine bunten Flügelzwerge leichter und schneller vor das Auge springen. Verliert aber zweimal gelesener Witz zugleich mit der Überraschung seinen Wert? –

Aber hiemit ist noch zu wenig bestimmt. Der Witz im engern Sinne findet mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen, d.h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper- und Geistenwelt (z.B. Sonne und Wahrheit), mit andern Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen. Diese Ähnlichkeit erzwingt ein Instinkt der Natur 118, und darum liegt sie offner und stets auf einmal da. Das witzige Verhältnis wird angeschauet; hingegen der Scharfsinn, welcher zwischen den gefundenen Verhältnissen kommensurabler und ähnlicher Größen wieder Verhältnisse findet und unterscheidet, dieser lässet uns durch eine lange Reihe von Begriffen das Licht tragen, das bei dem Witze aus der Wolke selber fährt; und der Leser muß dort dem Erfinder die ganze Mühe des Erfindens nachmachen, welche der Witz ihm hier erlässet.

Der Scharfsinn, als der Witz der zweiten Potenz, muß daher seinem Namen gemäß (denn Schärfe trennt) die gegebenen Ähnlichkeiten von neuem sondern und sichten.

Jetzo entwickelt sich die dritte Kraft, oder vielmehr eine und dieselbe tritt ganz am Horizont hervor, der Tiefsinn. Dieser ebenso im Bunde mit der Vernunft, wie der Witz mit der Phantasie – trachtet nach Gleichheit und Einheit alles dessen, was der Witz anschaulich verbunden hat und der Scharfsinn verständig geschieden. Doch ist der Tiefsinn mehr der Sinn des ganzen Menschen als einer abgeteilten Kraft, er ist die ganze gegen die Unsichtbarkeit und gegen das Höchste gekehrte Seite. Denn er [172] kann nie aufhören, gleichzumachen, sondern er muß, wenn er eine Verschiedenheit nach der andern aufgehoben, endlich – so wie der Witz Gegenstände foderte und verglich, aber der Scharfsinn nur Vergleichungen – als ein höherer göttlicher Witz bei dem letzten Wesen der Wesen ankommen und, wie ins höchste Wissen der Scharfsinn, sich ins höchste Sein verlieren.

§ 44. Der unbildliche Witz
§ 44
Der unbildliche Witz

Der ästhetische Witz, oder der Witz im engsten Sinne, der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert, tut es mit verschiedenen Trauformeln. Die älteste, reinste ist die des unbildlichen Witzes durch den Verstand. Wenn Butler die Morgenröte nach der Nacht mit einem rotgekochten Krebse vergleicht – oder wenn ich sage: Häuser und Baßnoten beziffern – oder dies: Weiber und Elefanten fürchten Mäuse: so ist die Vergleichwurzel keine bildliche Ähnlichkeit, sondern eine eigentliche, nur daß solche Verhältnisse nicht, wie die des ökonomischen Witzes, sich als Vorder- oder Hintersätze in Reih und Glieder stellen, sondern wie Statuen allein und müßig stehen. Zu dieser Klasse gehört der spartische und attische Witz; z.B. folgender des Kato: »Es ist besser, wenn ein Jüngling rot als blaß wird; Soldaten, die auf dem Marsche die Hände, und in den Schlachten die Füße bewegen und die lauter schnarchen als schreien« 119 – oder der Witz jener spartischen Mutter: »Komme entweder mit oder auf dem Schilde.« Woraus entsteht nun das Vergnügen über diesen Lichtzuwachs? Nicht aus dem Beisammenstande, z.B. im obigen Beispiele der »Weiber und Elefanten« – denn in der Naturgeschichte werden aus anderem Grunde beide oft Nachbarn –; aber auch nicht aus dem bloßen Gesamt-Prädikat der Maus-Scheu für zwei getrennte Wesen; denn im naturhistorischen Artikel von Mäusen könnten beide Fürchtende im breiten Raume aufgestellt werden; und man dächte an nichts. Welche fremdartige Ideen stehen nicht oft unter der Fahneeines Wortes verbunden in einem Lexikon, wie [173] z.B. Weber-Schiffe, Krieg- und andere Schiffe! Wird man darum sagen, der lexikographische Adelung stecke voll Witz? Sondern der ästhetische Schein aus einem gleichwohl unbildlichen Vergleichpunkt entsteht bloß durch die taschen- und wortspielerische Geschwindigkeit der Sprache, welche halbe, Drittel-, Viertel-Ähnlichkeiten zu Gleichheiten macht, weil für beide ein Zeichen des Prädikats gefunden wird. Bald wird durch diese Sprach- Gleichsetzung im Prädikat Gattung für Unterart, Ganzes für Teil, Ursache für Wirkung oder alles dieses umgekehrt verkauft und dadurch der ästhetische Lichtschein eines neuen Verhältnisses geworfen, indes unser Wahrheitgefühl das alte fortbehauptet und durch diesen Zwiespalt zwischen doppeltem Schein jenen süßen Kitzel des erregten Verstandes unterhält, der im Komischen bis zur Empfindung steigt; daher auch die Nachbarschaft des Witzes und des Komus kommt. Z.B. »Ich spitzte Ohr und Feder,« sagt ein Autor; hier wird für ganz verschiedene Arten zu spitzen ein Wort gefunden, denn Ohr und Feder selber sind oft genug ohne Witz beisammen. Wenn ein Franzose sagt: »viele Mädchen, aber wenige Frauen haben Männer«: so bringt er diese Entgegensetzung nur durch das Wort haben zustande, das als Prädikat der Gattung und der Art zugleich in umgekehrtem Verhältnis beiden zugeschrieben wird.

Voltaire kann in seinen Briefen an den König gar nicht davon loskommen, daß dieser der Welt zugleich Verse lieferte und Schlachten.... In dieser Sekunde geb' ich ein Beispiel, indem ich über eines rede: ich bemerk' es aber nur der Stellung wegen; »Verse liefern« steht nämlich voran als das ungewöhnlichere, worauf, wenn einmal der Zuhörer dieses angenommen, das gewöhnliche »Schlachten liefern« leichter eingeht; hätt' ichs umgekehrt, so hätt' er geglaubt (und mit Recht), ich hätte mühsam die eine Lieferung zur zweiten genötigt.... Sagte nun Voltaire bloß, Friedrich II. sei ein Krieger und Dichter: so wollt' es eben nicht viel sagen; nur würde folgendes noch weniger bedeuten: »Du setztest während des siebenjährigen Krieges verschiedene Gedichte in französischer Sprache auf.« Schon mehr ist: »Er kriegt und schreibt,« aber auch unrichtiger; denn schreibt als das [174] Bestimmtere enthält weniger als kriegt. – Noch mehr ist: »er belehrt, was er bekriegt«; denn im bekriegt stecken Städte, Pferde, Kornfelder etc., im belehrt nur Geister; dort ist das Ganze, hier der Teil, und beide werden gleichgesetzt. – Dieses geht ins Unendliche, wenn man gar bis zum Messen der Silben und Soldaten, zum englischen Bereiter-Wechsel zwischen Buzephalus und Pegasus gehen will. Hier wächst die Kürze und der Trug und der Zwist; von zweien weniger verschiedenen Ganzen (Krieg- und Dichtkunst, die im allgemeinen Begriff Kraft, ja Phantasie zusammenlaufen) werden Teilchen der Teile (Silben und Soldaten), also die unähnlichsten Unähnlichkeiten als Exponenten und Stellvertreter jener Ganzen ausgehoben, um diese Unähnlichkeiten und folglich ihre Ganzen einem einzigen, nur den Teilen bestimmten Prädikate (messen) gleichzumachen, das zugleich geometrisch und arithmetisch oder akustisch genommen wird. – Wenn nun der Verstand eine solche Reihe von Verhältnissen auf die leichteste, kürzeste Weise während der dunkeln Perspektive einer andern wahren zugleich zu überschauen bekommt: könnte man dann nicht den Witz, als eine so vielfach und so leicht spielende Tätigkeit, den angeschaueten oder ästhetischen Verstand nennen, wie das Erhabene die angeschauete Vernunft-Idee und das Komische den angeschaueten Unverstand? Auch würd' ich nicht fragen, ob man könnte, wenn man nicht müßte. Oder man könnte auch Witz den sinnlichen Scharfsinn nennen und folglich Scharfsinn den abstrakten Witz.

§ 45. Sprachkürze
§ 45
Sprachkürze

Die Kürze der Sprache verdient, ehe wir den unbildlichen Witz weiter verfolgen bis zum bildlichen, noch ein paar besondere Blicke. Kürze, d.h. die Verminderung der Zeichen, reizt uns angenehm, nicht durchVermehrung der Gedanken – denn da man immer denkt, so ist die Zahl immer gleich, indem auch Wiederholung desselben Gedanken eine Zahl und jedes überflüssige Zeichen einen gibt –, sondern durch dieVerbesserung derselben [175] auf zweierlei Weise; erstlich dadurch, daß sie uns statt der grammatischen leeren Gedanken sofort den wichtigern vorführt 120 und uns mit einem Regenbache trifft statt mit dem Staubregen; und zweitens dadurch, daß sie die Vergleichpunkte und Gegenstände durch das Wegräumen aller unähnlichen Nebenbestimmungen, welche die Vergleichung entkräften und verstecken, einsam in helle Strahlen scharf aneinanderrückt. Jede Unähnlichkeit erweckt die Tätigkeit; aus dem Schlich auf dem platten Gartensteig wird auf dem abgesetzten Klippenweg ein Sprung. Die Menschen hoffen (in ihrem halben Lese-Schlafe) stets, im Vordersatze schon den Untersatz mitgedacht zu haben und mithin die Zeit, welche sie mit dem Durchlesen des letzten verbringen, angenehm zur Erholung verwenden zu dürfen – wie fahren sie auf (das kräftigt sie aber), wenn sie dann sehen, daß sie nichts errieten, sondern von Komma zu Komma wieder denken müssen!

Kürze ist der Körper und die Seele des Witzes, ja er selber, sie allein isoliert genugsam zu Kontrasten; denn Pleonasmen setzen ja keine Unterschiede. Daher hat das Gedicht, das allein zur Scheide des Witzes gemacht ist, die wenigsten Zeilen und Worte zugleich, das Sinngedicht. Tacitus und die Sparter, wie oft die Volksentenzen, wurden nur witzig, weil sie kurz waren nach ihrem lex minimi überall. So Kato, so Hamann, Gibbon, Bako, Lessing, Rousseau, Seneka. Bei dem Witze gibt es so wenig einen Pleonasmus der Zeichen – obwohl leicht der Gedanken, wie z.B. bei Seneka –, daß eben darum die Engländer unterstreichen, um verwandte Wörter durch das äußere Auge abzusondern für das innere; z.B. Genie und Kenntnis sinken, sagt Young, unsere abnehmenden Tage sinddunkel und kalt. In der Phantasie hätten Finsternis und Kälte sich ohne den Druck leicht so durchdrungen wie in jeder Nacht. – Die Franzosen verdanken ihre Sprachbestimmtheit ihrem unbildlichen oder Reflexion-Witze und diesen jener. Welche witzige Vorteile verschafft ihnen nicht ihr bloßes en der Beziehung! Die englische und die deutsche Prose, [176] welche die Kette der klassischen Perioden noch nicht so, wie die französische, in einzelne Ringe zersprengt haben, verbinden daher mehr mit Ketten 121 als mit Ringen. Wenn jener römische Kaiser einen Fremden, über die Familienähnlichkeit spottend, fragte: »War deine Mutter nicht in Rom gewesen?« – und dieser versetzte: »Nie, aber wohl mein Vater«: so springt der Witz-Funke der Antwort aus einem Zusammenschlagen nicht sowohl fernster Ähnlichkeiten als nächster, welche man bloß in ihre deutliche Wahrheit aufzulösen braucht, und dadurch den ganzen Witz in nichts. Aber wo bleibt der Witz? In der Kürze; die erste Gedankenreihe der Frage, die plötzlich sich umwendende der Antwort werden in einigen Zwingwörtern durchlaufen. Gesetzt, ich sagte hier mehr Beispiels als Scherzes wegen: sonst im alten Rom bewahrten Tempel die Bibliotheken auf, jetzo aber Bibliotheken die Tempel 122, so zwäng' ich den Verstand in wenigen Worten und Augenblicken zu schnellem Umwenden und zweimaligem Durchlaufen einer Gedankenreihe.

In der Prose, sobald sie der bloßen Philosophie dienstbar ist, siegt die französische Abkürzung. Für das Begreifen, das nur Verhältnisse, nicht lebendige Gestalten begehrt (wie etwan die Phantasie), ist keine Kürze zu kurz 123; denn diese ist Klarheit. Die meisten deutschen Philosophen – auch die englischen – sollten sich in französische übersetzen (so wie in Fichtens Sprachschärfe das Anüben der Rousseauschen erscheint). So ist z.B. die Antithese zwar nicht der dichterischen Darstellung günstig, aber desto mehr der philosophischen durch ihr Abkürzen; und Lessing und Rousseau erfuhren ihre Gunst. – Kant und noch mehr die Kantianer verfinstern sich durch ihr Verdoppeln – wie der durchsichtige Körper durch seine eigne Wiederholung opak wird. Viele [177] Deutschen sagen kein Wort, welchem sie nicht einigen Nachklang und darauf Wiederklang beifügen, so daß wie in resonierenden Kirchen die Stimme des Predigers ganz verworren umherhallt. Nur bei seltener Kürze schreiben sie so: Un tel reçu à St. Come, Oculiste pour les yeux. – Eine Gegend lernt man zwar durch ein Verkleinerungglas kennen, aber nicht durch ein Vergrößerungglas. Ferner liest ein Mensch nichts so äußerst eilig als einen weitläuftigen; wie sehr der Verfasser dieses in philosophischen Werken alle Blätter zu fliegenden macht, um zur Sache zu gelangen, wie sehr er von abstrakten Werken von neuem abstrahieret oder abzieht, um nur einigermaßen zu reflektieren, das gesteht er ungern, um nicht Schreiber zu beleidigen, bei welchen man früher die Schale abzuschälen hat als den Kern. Warum wollen denn Philosophen nicht so schreiben, wie Klopstock malte? –

– Aber warum malte dieser nicht öfter so, wie jene schreiben? Denn philosophische Kürze ist nur poetische Zwergin. Wenn der Verstand aus allen Gestalten nur unsichtbare Verhältnisse abzieht (destilliert): so breitet die Phantasie jene lebendig aus. Für Poesie gibt es keine absolute Kürze; und ein kürzester Tag bei ihr ist wenig von einer Nacht verschieden. Daher ist Klopstock, zumal in seinen neuern Oden, um so weniger poetisch, als er sich für den Verstand abkürzt. Er gibt uns eine Zelle voll Rosen-Honig statt des Rosenbusches selber, und statt des Veilchenufers einen Medizinlöffel voll Veilchen-Sirup. Ich frage – um dieses zu beweisen –, ob er je viele Oden (besonders neuere) geschrieben, worin nicht der ihm eigne Komparativ – dieser prosaische Reflexion-Schößling – den dürren Ast ausstreckte. – Einen unvergleichbar höhern Rang behaupten die epigrammatische Erhabenheit oder die erhabenen Spitzen, womit er häufig schließet, so wie sein Erinnern an die selbstvergeßne Kürze der Einfalt. Um nicht die Kürze über sie selber zu vergessen, wollen wir sie verlassen und zum – witzigen Zirkel kommen.

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§ 46. Der witzige Zirkel
§ 46
Der witzige Zirkel

Dieser Teil des unbildlichen oder Reflexion-Witzes besteht darin, daß eine Idee sich selber sich entgegensetzt und nachher doch mit ihrem Nicht-Ich den Frieden der Ähnlichkeit stiftet, nicht der Gleichheit. Ich meine hier keine Philosophie, sondern den Witz-Zirkel, diese wahre causa sui. Er ist so leicht, daß man nichts dazu braucht als einigen – Willen dazu: z.B. »die kritische Feile feilen – sich vom Erholen erholen – die Bastille einkerkern – der Dieb an Dieben.« – Außer der Kürze erfreuet daran noch, daß der Geist, der ewig fortschreiten muß, dieselbe Idee, z.B. »das Erholen,« zum zweiten Male, aber als ihre eigne Widersacherin vor sich stehen und sich durch die Gleichheit genötigt sieht, einige Ähnlichkeit zwischen ihr selber auszukundschaften. Der Scheinkrieg erzwingt einen Scheinfrieden. Zusammengesetzter und mehr ein buntes Vieleck ist jener Zirkel der Mad. du Deffant, als sie den Maschinenmeister Vaucanson sehr langweilig und hölzern gefunden: »Ich eine habe große Idee von ihm gefasset; ich wollte wetten, er hat sich selber gemacht,« sagte die Dame.

§ 47. Die Antithese
§ 47
Die Antithese

Zum Reflexion-Witze gehört die Antithese, aber die rein unbildliche; denn bei den Franzosen ist sie meistens halb unbildlich, halb aber – denn die Einbildungkraft reißet sie dahin – in einem oder dem andern Worte bildlich: z.B. que ces arbres réunis soient de nos feux purs et l'asyle et l'image. – Die Antithese setzt Sätze, meistens die Ursache der Wirkung und diese jener, entgegen. Ein Subjekt erhält widersprechende Prädikate, so wie oben ein Prädikat widersprechenden Subjekten zufiel. Auch dieser ästhetische Schein entspringt durch das Volteschlagen der Sprache. Wenn Youngs Witz von einem, der den Zerstreueten spielen will, sagt: »Er macht sich einen Denkzettel, um etwas zu vergessen,« so würde die Wahrheit sagen: er macht sich einen, um sich zu erinnern, daß er den Schein annehmen wolle, etwas zu vergessen. [179] Fein versteckt sich oft die Unwahrheit der Entgegensetzung in die Sprache: z.B. »Die Franzosen müssen entweder Robespierres Richter oder seineUntertanen werden.« Denn den Richtern wird nur die gerichtete Partei, den Untertanen nur der Herrscher entgegengesetzt; aber nicht Richter den Untertanen.

Um einem antithetischen Satz Dasein, Licht und Kraft zu geben, wird oft französischerseits ein ganz gemeiner thetischer vorangetrieben. »Ich weiß nicht 124«, sagte ein Franzose mit uralter Wendung, »was die Griechen von Eleonoren gesagt hätten; aber von Helenen hätten sie geschwiegen.« – Am weitesten, nämlich bis zur Sinn- und Ruchlosigkeit, trieb Voltaire diese matte Wendung, wenn er von Fenelon bei Gelegenheit des Jansenisten-Streites sagte: »Ich weiß nicht, ob Fenelon ein Ketzer durch die Behauptung ist, daß die Gottheit um ihrer selber willen zu lieben sei; aber ich weiß, daß Fenelon verdiente, um seiner selber willen geliebt zu werden.« Dies führt wieder d'Alembert in seiner Lobrede auf Fenelon als eine schöne von Voltaire an. – »Ich will lieber,« sagte der zweite Kato, »daß man mich frage, warum ichkeine Statue bekommen, als warum ich eine.« Kato würde hier, wie ich oben, ohne das Rochieren der Sätze weniger glänzen und siegen; ich meine, er würde mit seinem Einfalle weniger auf die Nachwelt und deren Nachwelt eingeschlagen haben, hätt' er den Blitz nach dem Donner gebracht und die Phrasis so gekehrt: »Es ist mir unangenehmer, wenn jemand fragt: warum ich eine Statue bekommen« – »Natürlich,« (würden die Nachwelten ihn unterbrochen haben) »allein wir sehen nur nicht ein, warum du dergleichen erst sagst.« – Worauf er denn fortführe und mit dem zweiten bessern Satze abgemattet nachkäme. So sehr siegt überall bloße Stellung, es sei der Krieger oder ihrer Sätze.

Am schönsten ist die Antithese und steigt am höchsten, wenn sie beinahe unsichtbar wird. »Es braucht viel Zeit,« sagt Gibbon, »bis eine Welt untergeht – weiter aber auch nichts.« Im ersten thetischen, nicht unfruchtbaren Satze wurde Zeit als bloße Begleiterin[180] einer unbekannten Welten-Parze aufgeführet; – auf einmal steht sie als die Parze selber da. Dieser Sprung der Ansichten beweiset eine Freiheit, welche als die schönste Gabe des Witzes künftig uns nähertreten soll.

§ 48. Die Feinheit
§ 48
Die Feinheit

Zum unbildlichen Witze rechn' ich auch die Feinheit. Man könnte sie zwar das Inkognito der Schmeichelei, die poetische reservatio mentalis des Lobes oder auch das Enthymema des Tadels nennen und mit Recht; der Paragraph aber nennt sie das Zeichen des Zeichens. – »Quand on est assez puissant pour la grace de son ami, il ne faut demander que son jugement.« Unter jugement ist aber ebensowohl damnation als grace begriffen und möglich; hier wird nur die Phantasie gezwungen, jugement und grace für eins zu nehmen, die Art für die Unterart. So wenn de la Motte bei einer großen Wahl zwischen Tugend und Laster sagt: hésiter ce seroit choisir. Daß hier die Wahl überhaupt die schlimme bedeutet, hésiter wieder die Wahl – das Zeichen des Zeichens –, gewährt durch Kürze und durch den Schein einseitiger Notwendigkeit den Genuß. Als ein Gascogner einer ihm unglaublichen Erzählung höflich beigefallen war, fügt' er bloß bei: mais je ne répéterai votre histoire à cause de mon accent. Der Dialekt bedeutet den Gascogner, dieser die Unwahrheit, diese den einzelnen Fall – hier sind fast Zeichen der Zeichen von Zeichen.

Damit nun ein Mensch fein reden könne, gehört außer seinem Talente noch ein Gegenstand dazu, der zum Verstehen zwingt. Daher sind die Feinheiten, welche auf Geschlecht-Zweideutigkeiten beruhen, so leicht; denn jeder weiß, daß er, sobald er aus einem zweideutigen Satze nicht klug werden kann, Eindeutigkeit darunter zu suchen habe, das Bestimmteste unter dem Allgemeinsten. Die europäische Phantasie verdirbt in jedem Jahrhunderte dermaßen mehr, daß es am Ende unmöglich wird, hierin nicht unendlich fein zu sein, sobald man nicht weiß, was man sagt.

Ebenso kann man nur Personen ein feines Lob erteilen, welche [181] schon ein entschiedenes besitzen; das entschiedene ist das Zeichen, das feine das Zeichen des Zeichens; und man kann alsdann statt des lobenden Zeichens nur das nackte Zeichen desselben geben. Daher wird – wo nicht die Voraussetzung voraussetzt, es sei aus Selbstbewußtsein oder Zartheit – die höchste Feinheit am leichtesten ihr Gegenteil. Unter allen europäischen Zueignungen sind (wie die französischen die besten) die deutschen die schlechtesten, d.h. die unfeinsten, d.h. die deutlichsten. Denn der Deutsche setzt alles gern ein wenig ins Licht, auch das Licht; und zur Feinheit – dieser Kürze der Höflichkeit – fehlt ihm der Mut.

Der Verfasser dieses darf ohne Unbescheidenheit hoffen, immer so zugeeignet zu haben, daß er so fein war wie wenige Franzosen, – was allerdings ein wahres Verdienst beweiset, wenn auch nicht seines.

§ 49. Der bildliche Witz, dessen Quelle
§ 49
Der bildliche Witz, dessen Quelle

Wie an dem unbildlichen Witze der Verstand, so hat am bildlichen die Phantasie den überwiegenden Anteil; der Trug der Geschwindigkeit und Sprache stehet jenem bei, eine Zauberei von ganz anderer Art diesem. Dieselbe unbekannte Gewalt, welche mit Flammen zwei so spröde Wesen, wie Leib und Geist, inein Leben verschmelzte, wiederholt in und außer uns dieses Veredeln und Vermischen; indem sie uns nötigt, ohne Schluß und Übergang aus der schweren Materie das leichte Feuer des Geistes zu entbinden, aus dem Laut den Gedanken, aus Teilen und Zügen des Gesichts Kräfte und Bewegungen eines Geistes und so überall aus äußerer Bewegung innere.

Wie das Innere unseres Leibes das Innerste unsers geistigen Innern, Zorn und Liebe, nachbildet, und die Leidenschaften Krankheiten werden, so spiegelt das körperliche Äußere das geistige. Kein Volk schüttelt den Kopf zum Ja. Die Metaphern aller Völker (diese Sprachmenschwerdungen der Natur) gleichen sich, und keines nennt den Irrtum Licht und die Wahrheit Finsternis. So wie es kein absolutes Zeichen gibt – denn jedes ist auch eine Sache –, so gibt es im Endlichen keine absolute Sache, sondern [182] jede bedeutet und bezeichnet; wie im Menschen das göttliche Ebenbild, so in der Natur das menschliche. 125 Der Mensch wohnt hier auf einer Geisterinsel, nichts ist leblos und unbedeutend, Stimmen ohne Gestalten, Gestalten, welche schweigen, gehören vielleicht zusammen, und wir sollen ahnen; denn alles zeigt über die Geisterinsel hinüber, in ein fremdes Meer hinaus.

Diesem Gürtel der Venus und diesem Arme der Liebe, welcher Geist an Natur wie ein ungebornes Kind an die Mutter heftet, verdanken wir nicht allein Gott, sondern auch die kleine poetische Blume, die Metapher. – Dieser Name der Metapher ist selber eine verkleinerte Wiederholung eines Beweises. Sonderbar! (man erlaube mir diesen Nebengang) auch der materielle Geschmack und der geistige Geruch liegen sich – wie verbundene Bilder der Materie und Geistigkeit – einander gleichfalls ebenso nahe und ebenso ferne. Kant nennt den Geruch einen entfernten Geschmack; aber, wie mich dünkt, betrogen vom immerwährenden Wirkung-Simultaneum beider Sinne. Die gekäuete Blume duftet eben noch unter der Auflösung. Man entziehe aber der Zunge vermittelst des Einatmens durch den bloßen Mund die Mitwirkung der Nase: so wird die Zunge (wie z.B. eben im Flußfieber) ganz zu verarmen und abzusterben scheinen in dem einsamen Genusse, indes der Geruch ihrer nicht bedarf. (Wieder ein Vorbild, nämlich von dem Gegenverhältnisse eines reinen Realisten und eines reinen Idealisten!) Der Geruch mit seiner phantastischen Weite gleicht mehr der Musik, wie der Geschmack mit seiner prosaischen Schärfe dem Gesicht; und tritt mit jener oft zu dieser, wie im Tasten die Temperatur der Körper zu ihrer Form. – Wie wenig poetisch und musikalisch wir z.B. gegen Indier sind, beweiset unsere Herabsetzung der Nase selber, welche über ihren Namen sich selber rümpft, als sei sie der Pranger des Gesichts; und besonders unsere Armut an Geruchswörtern bei unserem Reichtum der Zunge. Denn wir haben nur den abstoßenden Pol (Gestank), nicht einmal den anziehenden; denn Duft ist zu optisch, Geruch zu zweideutig, und Wohlgeruch erst eindeutig. Ja ganze deutsche Kreise riechen gar nicht an Blumen, [183] sondern »schmecken an sie« und nennen, z.B. in Nürnberg und Wien, einen Blumenstrauß eine »Schmecke«. – Nun zurück zum schönen – dem Verhältnis zwischen Körper und Geiste ähnlichen – Unterschiede zwischen Geschmack und Geruch, der jenen in Wasser 126, diesen im Äther lebend setzt, für jenen die Frucht, für diesen die Blume. Daher der Sprachwechsel gerade entweder die unsichtbaren Gegenstände dieses Sinnes, oder deren nahes unsichtbares Element, verschieden wie Duft und Luft, zu Wappenbildern des Geistes macht, oder umgekehrt, z.B. Pneuma, Animus, Spiritus, Riechspiritus, sauere Geister, Spiritus rector, Salz-, Salmiak- etc. Geist. Wie schön, daß man nun Metaphern, diese Brotverwandlungen des Geistes, eben den Blumen gleich findet, welche so lieblich den Körper malen und so lieblich den Geist, gleichsam geistige Farben, blühende Geister!

§ 50. Doppelzweig des bildlichen Witzes
§ 50
Doppelzweig des bildlichen Witzes

Der bildliche Witz kann entweder den Körper beseelen oder den Geist verkörpern.

Ursprünglich, wo der Mensch noch mit der Welt auf einem Stamme geimpfet blühte, war dieser Doppel – Tropus noch keiner; jener verglich nicht Unähnlichkeiten, sondern verkündigte Gleichheit; die Metaphern waren, wie bei Kindern, nur abgedrungene Synonymen des Leibes und Geistes. Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. 127 Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern. So wie sich der Mensch absondert von der Welt, die Unsichtbarkeit [184] von der Sichtbarkeit: so muß sein Witz beseelen, obwohl noch nicht verkörpern; sein Ich leihe er dem All, sein Leben der Materie um ihn her; nur aber, daß er – da ihm sein Ich selber nur in Gestalt eines sich regenden Leibes erscheint – folglich auch an die fremde Welt nichts anders oder Geistigeres auszuteilen hat als Glieder, Augen, Arme, Füße, doch aber lebendige, beseelte. Personifikation ist die erste poetische Figur, die der Wilde macht, worauf die Metapher als die verkürzte Personifikation erscheint, indes mit den beiden Tropen will er so wenig den Schein haben, als ob er hier besonders nach Adelung und Batteux stilisiere, so wenig als ein Zorniger seinen Fluch als Ausrufzeichen und ein Liebender seinen Kuß als Gedankenstrich anbringt. Jedes Bild ist hier ein wundertätiges Heiligenbild voll Gottheit; seine Worte sind Bilder-Statuen, seine Statuen sind Menschen, und Menschen sind er. Der Nordamerikaner glaubt, daß der Seele des Verstorbenen die Seele seines Pfeils nachziehe.

Wenn ich das Beseelen des Körperlichen als das Frühere der bildlichen Vergleichung setze: so gründ' ich mich darauf, daß das Geistige als das Allgemeinste leichter in dem Körperlichen (als dem Besondern) zu finden ist als umgekehrt, so wie die Moral aus der Fabel leichter zu ziehen als die Fabel aus der Moral. Ich würde daher (auch aus andern Gründen) die Moral vor die Fabel stellen. So konnte Bako leicht der Mythologie die allegorische Bedeutung anerfinden; aber umgekehrt zum Sinne eine mythologische Ähnlichkeit aufzutreiben, wäre zehnmal schwerer gewesen. Dies führt mich auf die spätere Tätigkeit des bildlichen Witzes, das Verkörpern des Geistigen. Überall sind für die Phantasie Körper schwerer zu schaffen als Geister. Körper begehren schärfere Individuation; Gestalten sind bestimmter als Kräfte, folglich verschiedener. Wir kennen nur ein Ich, aber Millionen Körper. Mithin ist es schwieriger, in dem eigensinnigen und spielenden Wechsel der bestimmten Gestalten doch eine auszufinden, welche mit ihrer Bestimmtheit einen Geist und die seinige ausspräche. Es war viel leichter, das Körperliche zu beseelen und zu sagen: der Sturm zürnet, als das Geistige so zu verkörpern: der Zorn ist ein Sturmwind.

[185] Geht ein Dichter durch ein reifes Kornfeld spazieren: so werden ihn die aufrechten und körner-armen Ähren leicht zu dem Gleichnis heben, daß sich der leere Kopf ebenso aufrichte – welches Montaigne wie mehre Gleichnisse aus dem Plutarch genommen, so wie die Sentenzen aus dem Seneka –; aber er wird einige Mühe haben, für denselben Gedanken eines zugleich unbedeutenden und doch stolzen Menschen in den unabsehlichen Körper-Reihen auf den Schieferabdruck jener Blume zu treffen. Denn da meistens durch eine Metapher der Weg zum Gleichnis gefunden wird – hier z.B. wird statt unbedeutend leer und statt stolz aufgerichtet gewählt –: so ständen, weil ja stattleer ebensogut enge, krank, flach, krüppelhaft, schwarz, krumm, giftig, zwergig, hohl, welk u.s.w. genommen werden könnte, zahllose auseinanderlaufende Wege offen; und ein langer Umherflug ginge doch wohl vor dem Ziele vorbei, an welches man, wie gesagt, im Lustwandeln durchs Kornfeld anstreifte.

Daher muß man im Gleichnis das Geistige vor- und das Körperliche nachstellen, und wär' es auch, um den versteckten Pleonasmus zu vermeiden, daß man schon im Körperlichen das Geistige halb vorausdenkt, was man umgekehrt nicht vermöchte. Daher macht die gute C. Pichler mit ihren Gleichnissen, bloß dieser pleonastischen Stellung wegen, fast einige Langweile. Nur in einem Falle kann das Bild früher als die Sache auftreten, wenn dasselbe nämlich so unbekannt und fremd hergeholt ist, daß der Leser früher in unbildliche Bekanntschaft mit demselben kommen muß, um leichter die bildliche zu machen und nachher spielend zu verwenden. Klopstocks Gleichnisse, von Seelenzuständen hergenommen, sind leichter zu machen als die homerischen körperlichen, weil man den geistigen Zustand leicht so zuschneiden kann, als man ihn braucht. Eine besondere, von Hippel genial gesteigerte Art von Witz ist die, welche mehre allgemeine Sätze zu Gleichnissen oder Allegorien eines Satzes aneinanderlötet. So drückt Hippel 128 z.B. den Gedanken, er wolle nur Winke geben, und nicht weit ausmalen, dadurch aus, daß er fast anderthalb Seiten lang das Fehlerhafte eines langen und das Vorteilhafte eines [186] kurzen Ausmalens in folgenden Gleichnissen ausmalt: »Die Damen erkälten sich lieber, als daß sie dem Putze etwas entziehen. Große Esser entfernen alles Fremdartige, sogar weite Aussicht, Tafelmusik, unterhaltende Gespräche. Alles Kolossale ist schwächlich. Wer Menschen vergöttert, macht sie zu noch weniger, als sie von Gottes und Natur wegen sein können« und so noch lange fort. Die Auslassung des Wie oder des Gleichsam, das Springen nicht zwischen Bildern, sondern zwischen Ideen und der selbstständige Gehalt der einzelnen neuen Bemerkungen machen es schwer, sich nicht in einzelne genießend zu vertiefen, sondern sie nur als bloße zum leidenden Bilderdienste verdammte Farben für das Hauptgemälde zu verbrauchen. – Den Weg des Geschmacks aber auf diesem flüssigen Boden, ja auf diesen Wellen immer zu treffen, ist für den Autor fast zu schwierig. Kann sonach ein von den Alten Gebildeter eine solche Schwelgsünde in Gleichnissen gutheißen? Schwerlich, ausgenommen etwan an Pindaros, welcher als ein Vor-Hippel ebenso eine Reihe allgemeiner Sätze ohne alle Niet-Worte zu einer Vergleichung zusammenschmelzte und dadurch seinen Herausgebern sich wenig verständigte.

Von der bildlichen Phantasie schlägt der Weg des bildlichen Witzes sich weit ab. Jene will malen, dieser nur färben. Jene will episch durch alle Ähnlichkeiten nur die Gestalt beleben und verzieren; dieser, kalt gegen das Verglichene und gegen das Gleichende, löset beide in den geistigen Extrakt ihres Verhältnisses auf. Sogar das Gleichnis macht Homer nicht zum bloßen Mittel, sondern schenkt auch dem dienstbaren Gliede ein eigentümliches Leben. Daher taugt das witzige Gleichnis als selbstständiger und weniger lyrisch mehr für das Epos der Ironie – zumal an Swifts Kunst-Hand eingeführt –; hingegen die Metapher und Allegorie mehr für die Lyra der Laune. Daher hatten die Alten wenig bildlichen Witz, weil sie, mehr objektiv, lieber gestalten wollten als geistreich zersetzen konnten. Daher beseelet lieber die Poesie das Tote, wenn der Witz lieber das Leben entkörpert. Daher ist die bildliche Phantasie strenge an Einheit ihrer Bilder gebunden weil sie leben sollen, ein Wesen aber aus kämpfenden Gliedern es nicht vermag –; der bildliche Witz hingegen kann, da er nur [187] eine leblose Musaik geben will, in jedem Komma den Leser zu springen nötigen, er kann unter dem Vorwande einer Selbstvergleichung ohne Bedenken seine Leuchtkugeln, Glockenspiele, Schönheitwasser, Schnitzwerke, Putztische nach Belieben wechseln in einer Periode. Das bedenken aber Kunstrichter oft wenig, welche über Programmen zur Ästhetik samt den Leipziger Vorlesungen Urteile fällen.

Die Engländer und die Deutschen haben ungleich mehr Bilder-Witz, die Franzosen mehr Reflexion-Witz; denn dieser ist geselliger; zu jenem muß die Phantasie erst breite Segel spannen, was in einer Gaststube teils zu lang wird, teils zu schwer. Welche einander spiegelnde Reihe von Ähnlichkeiten umschließet oft ein Gleichnis von Young oder Musäus! Was sind die französischen bleichen Perlen vom dritten Wasser gegen die englischen Juwelen vom ersten Feuer! – Madame de Necker führt es unter den Beispielen glücklicher Kühnheit auf, daß der feurige Buffon keinen Anstand genommen, zu volonté das metaphorische heftige Beiwort vive zu setzen. Wenn das ganze korrekte Frankreich dieses dichterische Bild, das den Willen verkörpert, mit Beifall aufnahm: so sieht das philosophierende Deutschland darin nur einen eigentlichen Ausdruck, ja einen Pleonasmus; denn der einzige Wille ist recht lebendig.

Da im französischen Bilder-Schatz außer dem mythologischen Hausgeräte nicht viel mehr liegt als das gemeine tragische Heergeräte und Dichter-Service, Thron, Zepter, Dolch, Blume, Tempel, Schlachtopfer und einige Flammen und Gold, kein Silber und ein Blutgerüste und ihre eignen vorzüglichsten Glieder: so bedienen sie der letzten, weil sie dieses Dichter-Besteck immer bei der Hand haben, besonders der Hände, der Füße, der Lippen und des Hauptes, sich so häufig und so kühn wie Morgenländer und Wilde, die (gleich ihren Materialisten jetzo) das Ich aus Gliedern zusammenbauen. Le sommeil caressé des mains de la nature, sagte Voltaire. Ses mains cueillent des fleurs et ses pas les font naitre, sagte ein anderer weniger übel. So geben und schienen sie morgenländisch-keck der Hoffnung, der Zeit, der Liebe Hände an, sobald die Antithese wieder den Händen etwas entgegen- [188] und ansetzen kann, Füße oder Lippen oder Schoß oder das Herz.

Das arme Herz! Bei den tapfern Deutschen ist es doch wenigstens der Mitname des Mutes, aber in der französischen Poesie ist es – wie in der Zergliederkunst – der stärkste Muskel, obwohl auch mit den kleinsten Nerven. Ein komischer Dichter würde vielleicht keine Scheu tragen, das gedruckte Herz den Globe de compression – oder Globulus hystericus der gallischen Muse zu nennen – oder ihre Windkugel am Windrohr – oder das Feuerrad ihrer Werke oder deren Spiel- und Sprachwalze – oder deren Surpluskasse – oder das Schmelzwerk oder alles übrige; man braucht aber wenig oder keinen Geschmack, um so etwas mit dem Tone unverträglich zu finden, welchen ästhetische Programmen fodern.

§ 51. Die Allegorie
§ 51
Die Allegorie

Diese ist seltner eine fortgesetzte Metapher als eine abgeänderte und willkürliche. Sie ist die leichteste Gattung des bildlichen Witzes, so wie die gefährlichste der bildlichen Phantasie. Sie ist darum leicht, erstlich weil sie, was zu einem Gleichnis zu nah und nackt ist, durch ihre Personifikation gebrauchen kann; und zweitens auch das, was zu weit liegt (denn sie zwingt durch die Keckheit der Nahestellung den Geist); und drittens, weil sie sich ihr Gleichendes erst ausarbeitet und umbessert nach dem Verglichenen; und weil sie also viertens immer unter der Hand die Metaphern auswechselt. Die rechte Allegorie knüpft in den unbildlichen Witz den bildlichen; z.B. Möser: die Oper ist ein Pranger, woran man seine Ohren heftet, um den Kopf zur Schau zu stellen. – Hingegen folgende Allegorie Youngs ist übel: »Jeder uns geraubte Freund ist eine dem Flügel menschlicher Eitelkeit ausgerissene Feder, wodurch wir gezwungen werden, aus unserer Wolkenhöhe herabzusteigen und etc. auf den schlaffen Fittichen des sinkenden Ehrgeizes« (– wie tautologisch! –) »nur noch eben an der Oberfläche der Erde hinzustreichen,« (– ohne das »noch eben« hätt' er nicht weiter gekonnt –) »bis wir sie aufreißen, um über [189] den verwesenden Stolz ein wenig Staub zu streuen« (jetzo geht er aus der Metapher des Sinkens in die des Stinkens über) »und die Welt mit einer Pest zu verschonen.«

Der kalte Fontenelle sagte einmal mit einer Allegorie, welche zwei gleichbedeutende Metaphern für zwei ungleiche Ideen hielt, ein Nichts. Nachdem er die Philosophie mit einem Spiele der Kinder verglichen, welche mit verbundenen Augen eines fangen, die aber bei Strafe, von neuem zu laufen, dasjenige müssen nennen können, das sie erhaschten, so fährt er fort: »Es liegt nicht daran, daß wir Philosophen die Wahrheit nicht zuweilen erhaschen sollten, ob uns gleich die Augen gut verbunden sind; aber wir können nicht behaupten, daß diejenige es wirklich sei, die wir ergriffen haben, und den Augenblick entwischt sie uns wieder.« Denn eine Wahrheit kann doch nicht das Denken eines Satzes, sondern das Glauben und Behaupten desselben, also dessen Nennen bezeichnen; folglich geben wir das, was wir für Wahrheit halten, wirklich für Wahrheit aus oder nennen sie; und wie soll sie uns dann entwischen? –

Wegen der Dreiheit aller guten Dinge wollen wir noch ein, und zwar recht fehlerhaftes Beispiel aus dem dritten Volke, aus dem deutschen, und zwar von Lessing 129 selber anführen. Nachdem er gesagt, er schreibe über Maler und Dichter, nicht für sie, fährt er so fort: »Ich wickle das Gespinst der Seidenwürmer ab, nicht um die Seidenwürmer spinnen zu lehren,« (– schon dies klingt so, als wenn man schriebe: ich schere die Schafe, aber nicht, um ihnen das Wolle-Tragen zu lehren –) »sondern um aus der Seide für mich und meinesgleichen Beutel zu machen,« (– warum gerade Beutel, nicht auch Strümpfe etc., und wenn jene, warum eben seidene? –) – »Beutel, um das Gleichnis« (eigentlich die Allegorie) »fortzusetzen, in welchen ich die kleine Münze einzelner Empfindungen« (– wo ist hier ein Natur-Übergang vom Seidenwurm zur Münze, welche vollends alskleine wieder in eine dritte Allegorie überläuft? –) »so lange sammele, bis ich sie in gute wichtige Goldstücke allgemeiner Anmerkungen« (– sehr gequält, will er sich durch die Dieselbigkeiten gut, wichtig, golden [190] womöglich weiterschieben –) »umsetzen und diese zu dem Kapitel selbstgedachter Wehrheiten« (– hier seh' ich die vierte Allegorie, aber wo bleibt der Seidenwurm? –) »schlagen kann.«

Ein neues, zumal witziges Gleichnis ist mehr wert und schwerer als hundert Allegorien; und dem geistreichen Musäus sind seine unübertrefflichen Allegorien doch leichter nachzuspielen als seine Gleichnisse. Die poetische Phantasie aber, deren Allegorie meistens eine Personifikation werden muß, darf sie mit mehr Ruhm wagen.

Verfasser dieses ist erbötig, jede gegebene Sache durch jedes gegebene Bild mit Cowleyscher Allegorie auszumalen; – und darum hat er in seinen Werken das Gleichnis vorgezogen.

Sogar Herder, so ganz Blume und Flamme, trieb selten die Blume der Metapher zum Gezweige der Allegorie auseinander. Klopstock hingegen steht mitten in der harten, knochigen, athletisch magern Prose seiner Gelehrten-Republik und seiner andern grammatischen Abhandlungen oft vor einer gewöhnlichen Metapher-Blume still und zieht ihre Blätter und Staubfäden zu einer Allegorie auseinander und bestreut mit deren Blumenstaube die nächsten Perioden. – Hier hab' ich selber über die Allegorie allegorisch gesprochen; indes (es warne mich und jeden!) nicht sonderlich.

§ 52. Das Wortspiel
§ 52
Das Wortspiel

Der Sprach- oder Kling-Witz – der ältere Bruder des Reims oder dessen Auftakt – verlor, nachdem er über alle Jahrhunderte regiert hatte, fast wie die Religion, im achtzehnten das gebildete Europa. Obgleich Cicero und fast jeder Alte Wortspiele machten – Aristoteles lobend sie abhandelt – und die drei großen tragischen Parzen der griechischen Tragödie dasselbe Spiel mit dem Namen Polynices (einen Zänker bedeutend), des Sohnes Ödips, nach Humens Bemerkung 130 wiederholten: so wurde das Wortspiel doch vom Druckpapier und aus dem Schreibzimmer meistens vertrieben und mit andern schlechtern Spielen in die Besuchzimmer gewiesen.

[191] Nur die neuern Poetiker rufen es wieder auf das Papier zurück. Wie sehr haben sie unrecht und recht?

Man kann allerdings sagen: hätten die Alten so viel Witz besessen als wir Neuern sämtlich, sie hätten sich mit der Spielmarke des Wortspieles schwerlich bezahlt. – Dieses ist zu leicht, als daß man es machen sollte, und wie dem Reim in Prose, hat man ihm oft mehr zu entlaufen als nachzulaufen. Der akustische Witz hat die beiden Sonderbarkeiten, daß man zu ihm nichts braucht als den Vorsatz und daß – was jenes voraussetzt – 10 000 Menschen zu gleicher Zeit über dieselbe Sache denselben Einfall haben müssen, z.B. über den Namen Fichte und Richter. Doch sind die Spiele mit Eigennamen die schlechtere Art. Der große Shakespeare, welchen mehre neue Shakespear'chen darin auf den Modell-Stuhl neben ihrem Schreibpulte steigen heißen, wird hier mit dem Bühnen-Volke verwechselt, das er reden lässet; meistens den Narren und Bedienten (z.B. Launzelot) legt er die Wortspiele, bedeutenden Menschen aber (z.B. Lorenzo) den Tadel darüber in den Mund.

Haben folglich die Alten und die Neuesten ganz unrecht? – Was ist aber das Wortspiel? Wenn der unbildliche Witz meistens auf ein gleichsetzendes Prädikat für zwei unähnliche Subjekte auslief, das nur von der Sprache den Schein der Gleichheit erhielt: so kommt ja der optische und akustische Betrug des Wortspiels gleichfalls auf ein solches Vexierbild hinaus, das zwar nicht sinn-, aber klangmäßig zweien Wesen angehört. Daher oft in der einen Sprache das unbildlicher Witz ist, was in der andern 131 ein Wortspiel ausmacht; z.B. wenn Foote auf des Lords Frage, ob er früher am Galgen oder an der Lustseuche sterbe, versetzt: »Es kommt bloß darauf an, was ich früher annehme (embrace und embrasser), Ihre Grundsätze oder Ihre Geliebte« – so ist dieser [192] Einfall gerade bei uns kein Wortspiel, da wir nicht sagen: Grundsätze umarmen. – Spielt denn nicht die ganze Poesie, erstlich mit Bildern, dann mit den Klängen des Reims und Metrums? Sogar von der Wahrheit, welche allen witzigen Ähnlichkeiten unterzulegen ist, kommt etwas, obwohl wenig, den wortspielenden zu; denn wenn in der Ursprache stets der Klang des Zeichens der Nachhall der Sachen war: so steht einige Ähnlichkeit der Sachen bei der Gleichheit ihres Widerhalles zu erwarten. Daher Sprachforscher – deren Ausbeuten und Einfälle meistens den reizenden Schimmer der Wortspiele gewähren – und Philosophen so gern und so schön die Verhältnisse der Ideen in Verhältnisse der Klänge kleiden. So spielt der geistreiche, nur daß Maß nicht mit Maß lehrende Thorild das Konnexionen- oder Verbindungspiel der Worte mit schönem Gewinn; z.B. er nennt die drei Täuschungen der Metaphysik, Poesie und Politik 132 Kategorie, Allegorie, Agorie – dann Schatten, Schein, Schau – dann Schattenbild, Scheinbild, Schaubild, oder Idea, Idos, Idolon – Similans, simile, simulacrum 133– speciatum, speciosum, spectaculum – fictio (supra naturam), figmentum (praeter naturam), fictum, statt des factum (contra naturam). Denksprüche, gewichtige Ideen gefallen durch die Kürze des Sprachstils, z.B. der Denkspruch St. Pierres: donner et pardonner (Geben und Vergeben); so der griechische Rat des Aushaltens und Enthaltens; oder jener deus caret affectu, non effectu; so die meisten griechischen Gnomen.

Der zweite wahre Reiz des Wortspiels ist das Erstaunen über den Zufall, der durch die Welt zieht, spielend mit Klängen und Weltteilen. Jeder Zufall, als eine wilde Paarung ohne Priester, gefällt uns vielleicht, weil darin der Satz der Ursachlichkeit (Kausalität) selber, wie der Witz, Unähnliches zu gatten scheinend, sich halb versteckt und halb bekennt. Glauben wir einen Zufall als einen reinen anzuschauen – ohne alle Möglichkeit eingemischter Ursachlichkeit –, so vergnügt er uns eben nicht, und wir gebrauchen dann nicht einmal das Wort Zufall. Man denke z.B., [193] daß in dieser Minute ein französischer Akademist etwas über die Ästhetik vorlieset und dabei Zuckerwasser trinkt – ich über die Ästhetik schreibe – zu gleicher Zeit vier Zuchthäusler in Nürnberg einen Selbstmörder (nach Heß) zu Grabe tragen – ein Pole den andern Bruder nennt (nach Schulz), wie sonst einander die Spanier – in Dessau ein Schauspiel angeht (weils Sonntag ist) auf Botany-Bay gleichfalls, wo die Entree eine Hammelskeule ist – auf der Insel Sein ein Bezirk Landes bloß mit der Schürze vermessen wird (nach Fischer) und im Ritterschaftlichen ein junger Prediger Amt und Ehe antritt – –: wird hier jemand bei solchen auf der ganzen Erde zugleich vorfallenden Zufälligkeiten und wie viele wären noch zu nennen! – das Wort Zufall gebrauchen, das er ausspräche für ein Paar im engern Raume? – Indes ist dies auf dem höhern Standpunkte falsch; denn Raum und Zeit können durch ihre Ausdehnung kein Resultat aufstellen, welches, als Widerspiel des Resultats ihrer Enge, sich aus der großen Folgen-Kette Jupiters herausrisse, die, am Mückenfuß und an der Sonne liegend, alles zu einem Ziele zieht.

Ein dritter Grund des Gefallens am Wortspiele ist die daraus vorleuchtende Geistes-Freiheit, welche imstande ist, den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin; denn wenn von zwei Dingen uns eines erobert und verschlingt, so ists nur kleinere Schwäche, vom mächtigsten bezwungen zu werden.

Die Erlaubnis der Wortspiele gilt aber nur unter zwei Bedingungen. Das Wort des Spiels muß ich finden, nicht machen; sonst zeig' ich häßliche Willkür statt Freiheit, z.B. bei Leere und Lehre, Lügen und Liegen. Wenn ein genialer Kritiker unserer Zeit sich erlaubte, aus dem falschschreiberischen »Krietik« eines Gegners Krieg-tic zu machen, also vier Sprachen zu rufen – die heterographische, das deutsche g, die Abteilung, die englische –, um etwas zu sagen, was niemand ärgert als seine Freunde: so ist dies so, als wenn ich diesen Perioden so schlösse, wie ich tue.

Ein Wortspiel ist da erlaubt, wie ich glaube, wo es sich mit dem Sach-Witz gattet und die Schar der Ähnlichkeiten verstärken hilft – oder wo überhaupt der Witz strömt mit seiner Goldauflösung [194] und dieses Rauschgold zufällig darauf schwimmt oder wo aus dem Windei des Wortspiels ganze Sätze kriechen, wie das vortreffliche von Lichtenberg gegen Voß: to bäh (be), or not to bäh, that is the question – oder auch wenn das Wortspiel philologisch wird, z.B. wenn ich hier Schellings Ur-Sprung des Endlichen übersetze in Salto mortale oder auch immortale oder wenn es, wie eine Zweideutigkeit, so natürlich entfließet und sich einwebt, daß gar niemand behaupten kann, es sei da.

Daher gefallen uns Wortspiele in fremden Sprachen zuweilen mehr, weil sich uns darin die Willkür und Ähnlichkeit mehr verbirgt. Z.B. La Fleche hieß das Haus der Jesuiten, in welches Heinrich IV. sein Herz wollte begraben haben. Ein Chorherr fragte daher doppelsinnig einen Jesuiten, ob er das Herz im Pfeile (La Fleche) oder den Pfeil im Herzen des Königs lieber sähe. So die bekannten Wortspiele mit dem britischen Staatmann Fox (Fuchs). – Zuweilen erobert sich der Wortspielerwitz, bei allen Anstößen gegen den Geschmack, durch vielseitiges Farbenspiel Gehalt. 134

Der Witz geht aus dem Wortspiel in die erlaubte Willkür des vielsinnigen Silbenrätsels über (Charade), das, gleich allen Rätseln und Bienen, am Gebrauche des Stachels stirbt – dann verläuft er sich abgemattet ins Buchstaben-Spiel (Anagramma) noch erbärmlicher in die anagrammatische Charade, den Logogryph – bis er endlich ganz im elenden höckerigen Chronogramma versiegt.

Eine Gefahr werde den Wortspielern, die nicht bloß diese sein wollen, nicht verschwiegen; nämlich die, daß man sich zu sehr an diese Versuchungen des engen Ohrs gewöhnt und darüber das weite Auge vergißt. Das Wortspiel dreht das Auge zu leicht von dem Großen und Weiten zu sehr auf die Teilchen der Teilchen hin, zum Beispiel von jenen feurigen Engel-Rädern des Propheten auf die Rädertierchen der Silben. In der Dichtkunst ist (wie in [195] der Natur) nur das Ganze der Vater der Urenkelchen; aber die winzigen Schneidervögelchen der Teilchen werden nie Väter von einem oder dem andern Adler.

§ 53. Maß des Witzes
§ 53
Maß des Witzes

Über keinen Mangel an Vorzügen beklagt sich der Deutsche so häufig als über den an ausländischen – denn zum Verluste inländischer ist er stiller, z.B. alter Freiheit und alter Religion –; werden aber endlich die fremden die seinigen, so macht er nicht viel daraus. Daher erhebt und bestellt er Witz – so wie Laune – so häufig, weil sie noch nicht als Artikel seines innern Handels umlaufen. Hat sich ein Deutscher mit diesen Artikeln reichlich versehen und legt sie aus 135: so wird er von den Rezensenten als ein Staatbürger abgestraft, der auswärtige Akademien bezogen hat oder auswärtige Lottos besetzt. Ein gesetzter helldenkender Mann – sagen die verschiedenen Richter und Leser – schreibt seinen guten reinen netten stillen Stil, seine fließende Prosa, er drückt sich leicht aus; aber ewiges Witzeln wird jedem zum Ekel »und wenn man vollends,« setzen sie dazu, »einem Geschäftsmann solchen Schaum auftischt! O weh!« –

Eine Übersetzung auch des witzigsten Originals, z.B. des Hudibras, Tristrams, macht daher weit mehr Glück – denn sie schlägt ins gelehrte Fach – als ein deutsches, das nur halb, ja viertels so witzig ist. – Allerdings lassen sie einen und den andern schimmernden Einfall zu, aber die gehörige Menge Blätter sei zwischen zwei Einfälle, wie leere und volle zwischen Kupferstiche der Romane, [196] gepackt – zwischen zwei müßigen Sonntagen des Witzes müssen sechs Werkeltage liegen – sie vergleichen den Witz und selber eine solche Vergleichung mit den altdeutschen und tatarischen Völkern, welche durch leere Strecken ihre Reiche auseinanderhielten. Auch hat man bei Werken recht, worin der Witz Diener ist – wie in den meisten poetischen und wissenschaftlichen, z.B. in Einladungschriften –; aber ist er denn in keinen Herr? – Und gibt es ein rein witziges Produkt, z.B. Lichtenbergs Hogarth: so sind Absätze und Pausen seiner Strahlen so wenig zu verlangen oder zu vergeben als in einer Epopöe Pausen des Erhabnen, obgleich beide Dichtarten dadurch dem Leser eine fortgesetzte Spannung zumuten. In einem Blumengarten ist der Überfluß an Blumen so wenig ein Tadel als der Mangel an Gras. Warum soll es nicht schnellste Reizmittel für den Geist so gut geben wie für sein Gehirn um ihn herum? Warum wollt ihr erst von einem Druckbogen und vom ganzen Nachmittage die Wirkung einer Seite und Stunde überkommen, und warum fodert ihr zum gefrornen Feuer-Wein das verdünnende Eis, woraus er abgezogen ist? Haltet lieber ein wenig innen! Die Zeit ist das beste Wasser, womit man sowohl Bücher als Getränke verdünnt. Gleichwohl muß gestanden werden, daß bloßer Witz als solcher – als Abbreviatur des Verstandes – nur abmattend ergötze, sobald er auf seinen bunten Spielkarten nicht etwas Wesentliches, z.B. Empfindung, Bemerkung etc. etc., zu gewinnen gibt. Der Scharfsinn ist das Gewissen des Witzes, und er erlaubt ihm wohl eine Spielstunde, aber desto verdrüßlicher sitzt er selber der nächsten Lehrstunde entgegen.

Etwas anderes und weniger Wohltätiges ist jene unaufhörliche Wiederholung von Anspannungen unter dem Lesen eines Bandes voll Sinngedichte. Hier mattet nicht bloß der immer wieder blitzende Witz, sondern das Vorübertragen immer neuer Gegenstände ab, welche in jedem Zeilen-Paare von vornen anzufangen zwingen; daher spürt man denselben Gedanken-Schwindel auch bei dem Lesen aller abgesetzten Sätze auch ohne Witz. Hingegen im witzigen Produkte springt zwar der Geist nach allen Kompaß-Ecken, aber von einem Standpunkte; indes er dort nach allenvon allen kreuzt.

[197] Die zweite Einwendung – denn die Anstrengung und Ermattung war die erste – gegen die totale Witz-Sündflut, die nur partial sein soll, ist diese, daß ein solcher Mann und Urheber ordentlich nach Witz jage – – wie der Frühling nach Blüten, oder Shakespeare nach Glut. Gibt es denn etwas in der Kunst, wornach man nicht zu jagen habe, sondern was schon gefangen, gerupft, gebraten auf die Zunge fliegt? Fallen einem Pindar seine Adler und Falken und Paradiesvögel von geflügelten Worten so gerade auf die Hand, ohne sein eignes Umherfliegen darnach? – Nur die Mattigkeit gibt uns ihre ewige Nachbarschaft; ja auch sie jagt; im Schweiße ihres Angesichts erwirbt sie etwas Ähnliches, den Schweiß ihres Gehirns.

Wo die Anstrengung sichtbar ist, da war sie vergeblich; und gesuchter Witz kann so wenig für gefundnen gelten als der Jagdhund für das Wildpret.

Die beste Probe und Kontrolle (Widerrechnung) des Witzes ist eben sein Überfluß; ein Einfall, welcher allein geschimmert hätte, erblasset in glänzender Gesellschaft; folglich wird der Vorwurf matter und gesuchter Einfälle gerade den Witz-Verschwender treffen. Wenn ökonomische Schreiber den Leser lange durch nötige Hungerkuren und Fastenzeiten durchgezogen, und sie ihn eben nun, da er fürchtet, in einen Ugolinos-Hungerturm hinabzusteigen, plötzlich vor eine Suppenanstalt bringen: Himmel, wer beschreibt das Entzücken und den Genuß! – Wollte jemand hingegen dieselbe Rumfordsche Suppe an andern Orten mit unter dem Nachtisch und feinen Weinen herumgeben: so fiele der Effekt schwächer aus.

In Werken, welche ganze Bilder-Kabinette sind, wie viele englische, entgeht man selten dem Über-und Verdruß, weil außerdem, daß die Farben nicht mehr der Zeichnung dienen, sondern selber Umrisse werden, d.h. Farbenkleckse, es auch noch unmöglich ist, nicht die neuen Bilder durch verbrauchte zu binden und zu unterbrechen. Hingegen der Witz, der ohnehin nichts darstellen will als sich selber, muß so lange neu sein, als er verschwendet; und er erspart, wenn nicht den Überdruß am Übermaße, doch den Verdruß am Verbrauche.

[198] Auch muß der Witz darum gießen, nicht tröpfeln, weil er so eilig verraucht. Sein erster elektrischer Schlag ist sein stärkster; lieset man denselben Einfall wieder: er ist entladen; indes die dichterische Schönheit gleich der galvanischen Säule sich unter dem Festhalten wieder füllt. Der Witz gewinnt wie 10000 Dinge durch Vergessen, folglich durch Erinnerung; um ihn aber ein wenig zu vergessen, muß so viel da sein, daß man es muß. Daher Hippel und Lichtenberg bei der zehnten Lesung die zehnte Lieferung von Witz und Freude geben; es ist eine zehnte, obwohl innere, geistige Auflage, und wie verbessert und korrekt! Denn neben dem verpufften Witze findet man gerade noch so viel unangezündeten, daß der Mann sich mit korrekten Männern sehr wohl messen kann.

In Gesellschaft ist das witzige Wetterleuchten darum beschwerlich, weil es finsterer darauf wird. Jeder Reiz macht einen zweiten nötig und so fort, damit dieselbe Erregung bleibe. Mithin muß der Witz – wenn man nicht welken soll – fortreizen. Die Schönheit aber gleicht dem Nähren und Schlafen; durch Erquicken und Stärken macht sie empfänglicher, nicht stumpfer. – Der erste rechte Witz in einem Buche erregt gleich gewissen Getränken Durst darnach; – wie, und den Durst soll man stillen, indem man den Mund einem Staubregen aufmacht? Gebt uns Diogenes' volle Hand, oder vollen Becher, oder sein Faß!

§ 54. Notwendigkeit deutscher witzigen Kultur
§ 54
Notwendigkeit deutscher witzigen Kultur

Aber es gibt nicht bloß Entschuldigungen der Kultur eines übervollen Witzes, sondern sogar Aufforderungen dazu, welche sich auf die deutsche Natur begründen. Alle Nationen bemerken an der deutschen, daß unsere Ideen wand-, band-, niet- und nagelfest sind und daß mehr der deutsche Kopf und die deutschen Länder zum Mobiliarvermögen gehören als der Inhalt von beiden. Wie Wedekind den Wasserscheuen beide Ärmel aneinandernäht und beide Strümpfe, um ihnen das Bewegen einigermaßen unmöglich zu machen: so werden von Jugend auf unserem innern [199] Menschen alle Glieder zusammengenäht, damit ruhiger Nexus vorliege und der Mann sich mehr im ganzen bewege. Aber, Himmel, welche Spiele könnten wir gewinnen, wenn wir mit unsern einsiedlerischen Ideen rochieren könnten! Zu neuen Ideen gehören durchaus freie; zu diesen wieder gleiche; und nur der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleichheit vorher gibt, er ist für den Geist, was für die Scheidekunst Feuer und Wasser ist, Chemica non agunt nisi soluta (d.h. nur die Flüssigkeit gibt die Freiheit zu neuer Gestaltung – oder: nur entbundne Körper schaffen neue). – Ist sonst der Mann stark genug, oder gar ein Shakespeare, so kann ihm allerdings, bei allem Umherschielen nach den Schimmerfederchen des Witzes, doch die Richtung des Angesichtes gegen das große Ganze ebensogut fest bleiben als dem Heldendichter der epische Großblick bei allen Nebenblicken auf Silbenmessungen, Assonanzen und Konsonanzen (Reimen). – Besinnt sich ein Autor z.B. bei Sommerflecken des Gesichts auf Herbst-, Lenz-, Winterflecken desselben: so offenbart er dadurch wenigstens ein freies Beschauen, welches sich nicht in den Gegenstand oder dessen Zeichen (Sommerflecken) eingekerkert verliert und vertieft.

Uns fehlt zwar Geschmack für den Witz, aber gar nicht Anlage zu ihm. Wir haben Phantasie; und die Phantasie kann sich leicht zum Witz einbücken, wie ein Riese zum Zwerg, aber nicht dieser sich zu jener aufrichten. In Frankreich ist die Nation witzig, bei uns der Ausschuß; aber eben darum ist es der letzte aus Kunst bei uns mehr, so wie dort weniger; denn jene haben unsere und britische Witz-Geister nicht aufzuweisen. Gerade die lebhaften, feurigen, inkorrekten Völker im Handeln – Franzosen und Italiener – sind es weniger und korrekter im Dichten; gerade die kalten im Leben – Deutsche und Briten – glühen stärker im Schreiben; und wagen kühnere Bilder; auch kann über diese Kluft zwischen Menschen-Feuer und Dichter-Feuer sich keiner verwundern, der nicht behaupten will, daß ein Mensch voll heftiger Leidenschaften eben dadurch einen Beruf zum Dichter erhalte.

Da dem Deutschen folglich zum Witze nichts fehlet als die Freiheit: so geb' er sich doch diese! Etwas glaubt' er vielleicht [200] für diese dadurch zu tun, daß er neuerer Zeiten ein und das andere rheinische Länder-Stück in Freiheit setzte, nämlich in französische, und wie sonst den Adel, so jetzo die besten Länder zur Bildung sozusagen auf Reisen schickte zu einem Volke, das gewiß noch mehr frei ist als groß –; und es ist zu hoffen, daß noch mehre Länder oder Kreise reisen; aber bis sie wieder zurückkommen, müssen wir die Bildung zur Freiheit in den einheimischen betreiben.

Hier ist nun ein alter, aber unschädlicher Welt-Zirkel, der überall 136 wiederkommt. Freiheit gibt Witz (also Gleichheit mit), und Witz gibt Freiheit. Die Schuljugend übe man mehr im Witze, wie schon einmal angeraten worden. 137 Das spätere Alter lasse sich durch den Witz freilassen und werfe einmal das onus probandi (die Beweises-Last) ab, nur nicht aber gegen ein onus ludendi (eine Spiellast). Der Witz – das Anagramm der Natur – ist von Natur ein Geister-und Götter-Leugner, er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird; er stellt zwischen die Poesie, welche sich und etwas darstellen will, Empfindung und Gestalt, und zwischen die Philosophie, die ewig ein Objekt und Reales sucht und nicht ihr bloßes Suchen, sich in die Mitte und will nichts als sich und spielt ums Spiel 138– jede Minute ist er fertig – seine Systeme gehen in Kommata hinein – er ist atomistisch, ohne wahre Verbindung – gleich dem Eise gibt er zufällig Wärme, wenn man ihn zum Brennglase erhebt, und zufällig Licht oder Eisblink 139, wenn man ihn zur Ebene abplattet; aber vor Licht und Wärme stellet er sich ebensooft, ohne minder zu schimmern. Darum wird auch die Welt täglich witziger und gesalzener, wie das Meer sich nach Halley jedes Jahrhundert stärker salzt. [201] Das Gefrieren der Menschen fängt sich mit Epigrammen, wie das Gefrieren des Wassers mit Eis-Spitzen an.

Nun gibt es einen lyrisch-witzigen Zustand, welcher nur aushungert und verödet, wenn er bleibt und herrscht, aber wie das viertägige Fieber die herrlichste Gesundheit nachlässet, wenn er geht. Wenn nämlich der Geist sich ganz frei gemacht hat – wenn der Kopf nicht eine tote Polterkammer, sondern ein Polterabend der Brautnacht geworden – wenn eine Gemeinschaft der Ideen herrscht wie der Weiber in Platons Republik und alle sich zeugend verbinden – wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt, oder zuvor ein infusorisches, welches aber in der Nähe sehr gut gebildet ist und sich selber gut fortbildet und fortzeugt – wenn in dieser allgemeinen Auflösung, wie man sich den Jüngsten Tag außerhalb des Kopfs denkt, Sterne fallen, Menschen auferstehen und alles sich untereinandermischt, um etwas Neues zu gestalten – wenn dieser Dithyrambus des Witzes, welcher freilich nicht in einigen kargen Funken eines geschlagenen toten Kiesels, sondern im schimmernden Fort- und Überströmen einer warmen Gewitterwolke besteht, den Menschen mehr mit Licht als mit Gestalten füllt: dann ist ihm durch die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan, und seine Findkunst (Heuristik) wird jetzo nur durch ein schöneres Ziel bestimmt. Im Geiste ist die nährende Materie zugleich die zeugende (wie nach Buffons System im Körper) und umgekehrt; so wie der Grundsatz: »Sanguis martyrum est semen ecclesiae« sich ebensogut umkehrt, da es ohne semen ecclesiae kein sanguis martyrum gibt. Allein dann sollte man auch einem Menschen, z.B. einem Hamann, eine und die andere Unähnlichkeit mehr zugute halten, die er in der Höhe, von welcher herab er alle Berge und Täler zu nahe aneinanderrückte und alle Gestalten zu sehr einschmelzte, gar nicht mehr bemerken konnte. Ein Mensch kann durch lauter Gleich-Machen so leicht dahin kommen, daß er das Unähnliche vergisset, wie auch die Revolution beweiset. 140

[202]
§ 55. Bedürfnis des gelehrten Witzes
§ 55
Bedürfnis des gelehrten Witzes

So frei der Witz ist und macht, so schränket er sich oft auf Bezirke ein, wo ers nicht ist. Lichtenberg glänzt mit unbildlichem Witz, der sich meistens auf Größen bezieht – Lessing mit Antithesen – Musäus mit Allegorien – manche durch nichts. Rohe oder dürftige Naturen, wie z.B. Cranz, holen ihre Ähnlichkeiten meistens vom Essen und noch mehr vom Kriege und Kriegvolk her (bei uns selten vom Seewesen), weil in beiden sich der Staat so im kleinen wiederholt, daß die Blume in die Hand wächset. Wem nicht das Entfernteste beifällt, der ergreift das Neueste zum Bilde; so wurde sehr lange das Luftschiff gebraucht als witzig verbindendes Weberschiff, dann wurde durch die Revolution et was abgetan. Jetzo kann man sich teils auf die Galvanische Säule, teils auf die Reichsritterschaft stützen 141, um die entferntesten Sachen zu verknüpfen. Ebenso kann man den pas de Calais als Seiten-, Rück- und Vor-Pas (z.B. bei der englischen Achte) so lange brauchen, als noch das Einlaß-Billett in den Kanal abgeschlagen wird. Häufig hat man, um zu Ähnlichkeiten zu gelangen, erst die Arbeit, durch die alten durchzubrechen. Will man z.B. gut vom Ehebruche sprechen: so fliegen jedem die Hörner ordentlich in den Kopf, und man unterscheidet sich durch nichts von der Menge; ein Hirsch oder Aktäon, welche nachkommen, bringen nicht viel weiter; man reitet mehr ein Schaukelpferd als ein Musenroß – es will also mit der Allegorie gar nicht fort. Wie hat sich nicht Shakespeare hierin abgearbeitet! – Ebenso denke an die Freude eine Frau (um etwas Ähnliches zu geben) in einem Briefe, oder ein Dichter in einem Verse; sofort schießet die fatale Blume der Freude auf und an, diese Eisblume, dieses Wintergrün, [203] dieser Phytolith unter den Metaphern – Millionenmal wurde mir diese perennierende Färbepflanze von den Dichtern und Weibern schon geschenkt – ich wäge sie auf der Heuwaage – Kräutermützen für denKopf; Kräutersäckchen für das Herz sind damit schon ausgestopft – Aber fällt denn niemand darauf, diese versteinerte offizinelle Blume, die man bisher nur blühen, welken, pflücken und ertreten ließ, wenigstens mit allegorischer Hand zu behandeln, die Wurzeln und die Staubfäden der Freuden-Blumen genau zu zählen? – Verstand man denn nicht, sie in hesperidische Gärten zu versetzen bloß durch den Blumenheber, oder sie zu pressen, zu trocknen und in die Kräuterbücher der Dichtkunst einzukleben? Warum tat dies noch niemand, sondern ich hier erst?

Nur zwei Dinge gibt es auf der Welt und dem Musenberge, welche ohne Frage und Plage mit allem sich vergleichen lassen –: erstlich das Leben; weil es eben die Verhältnisse aller Dinge gibt und annimmt, z.B. der Teppich des Lebens, der Stern des Lebens, die Saite des Lebens, die Brücke des Lebens kann ich in gutem Zusammenhange ohne allen Anstand sagen mit wahrem Anstand –; zweitens das Verhältnis, wodurch sowohl das Leben entsteht als die Zote, kann ich gleichfalls mit der ganzen Welt 142 vergleichen, und die nämliche ewige Quelle der Menschen und ihrer Einfälle ist unerschöpflich.

Sobald nun aber diese beiden Reichvikarien des Witzes abdanken und abtreten: so höret, wie ich schon bewiesen, der Autor fast zu regieren auf, wenn er nicht zu dem greift – wozu dieser Paragraph einleiten sollte –, zum gelehrten Witze. Unbedeutende Sprecher nennen ihn weit hergeholt, indem sie dabei selber, scherzend, wert hergeholt doppelsinnig gebrauchen: einmal kann es erzwungene, unähnliche Ähnlichkeiten bedeuten; dann auch Anspielungen auf ein in Zeit oder Raum entferntes Ding. Nur in ersterer Bedeutung, die mit der zweiten nichts zu verkehren hat, ist der Witz keiner. Was aber die zweite anlangt: warum soll man bei den zunehmenden Miß- und Fehljahren und Fehljahrhunderten nicht anspielen können, auf was man will, auf alle [204] Sitten, Zeiten, Kenntnisse, sobald man nur den fremden Gegenstand einheimisch macht, was gerade das Gleichnis besser tut als die voraussetzende Allegorie?

Der Maler, der Dichter nimmt überall neuere Gelehrsamkeit in Anspruch: warum darf es der Witzige nicht dürfen? Man lerne durch das Buch für das Buch; bei der zweiten Lesung versteht man, als Schüler der ersten, so viel wie der Autor. – Wo hörte das Recht fremder Unwissenheit – nicht ignorantia juris, sondern jus ignorantiae – auf? Der Gottes- und der Rechts-Gelehrte fassen einander nicht – der Großstädter fasset tausend Kunstanspielungen, die dem Kleinstädter entwischen – der Weltmann, der Kandidat, der Geschäftmann, alle haben verschiedene Kreise des Wissens – der Witz, wenn er sich nicht aus einem Kreise nach dem andern verbannen will, muß den Mittelpunkt aller fodern und bilden; und noch aus bessern Gründen als denen seines Vorteils. Nämlich zuletzt muß die Erde ein Land werden, die Menschheit ein Volk, die Zeiten ein Stück Ewigkeit; das Meer der Kunst muß die Weltteile verbinden; und so kann die Kunst ein gewisses Vielwissen zumuten.

Warum will der gelehrte Deutsche 143 und Herr von Steigentesch in Wien nicht das erlauben, was der gelehrte Brite erhebt, nämlich einen gelehrten Witz, wie Butler, Swift, Sterne etc. hatten, zumal da sogar der ungelehrte Gallier seinem Montesquieu ein fremdes Gleichnis 144 verstattet und dem gelehrten Rabelais jedes? – Und dem Homer, der alles gewußt, erlaubt man diese Allwissenheit ungescheut, und noch dazu in einem Werke der Anschauung, wo alles auf augenblickliche ankommt? – Und herrscht nicht jetzo dazu noch eine besondere Vielwisserei, ja eine größere Allwissenheit [205] und Enzyklopädie in Deutschland, und dies nicht bloß durch Hofmeister, sondern auch durch unsere allgemeinen Literatur-Zeitungen und Bibliotheken, welche jeden, der im Journalistikum mit ist und zahlt, ohne sein Wissen zu einem Vielwisser unter der Hand ausprägen? – Und hab' ich und andere Deutsche – gesetzt, daß ich zu Zeiten auf etwas Fremdes anspielte – nicht das enzyklopädische Wörterbuch bei Webel in Bändchen ohne den künftigen Nachtrag 145, so daß wir, um ein schweres Buch zu lesen, nichts brauchen, als ein leichtes aufzuschlagen? – Wie viel anders, milder, leichter lesen dieserseits Weiber! Stoßen sie etwan auf gelehrten Witz: so schreien sie nicht ungebärdig oder jammern über gestörten Nex, sondern sie lesen still weiter und wollen gar nicht wissen – um leichter zu vergeben und zu vergessen –, wovon eigentlich die Rede gewesen. – Noch zwei Nachschriften sind vielleicht kein Überfluß. Witzige Ähnlichkeiten, von einem bekannten Gegenstande hergenommen, greifen immer stärker und schneller ein als ebenso witzige, aber gelehrte, von einem unbekannten, und die ersten wären aller dings jedem Kopfe anzuraten, falls sie nur zu haben wären. Nur ist dies leider nicht; die Zeit hat diese Kornblumen schon abgeerntet und den Witz nur auf den Nachflor einer kärglichen Nachlese und auf ein reiches Botanisieren im Ausland beschränkt. Ja wohl gewährt ein bekannter Gegenstand der Anspielung zugleich die Vorteile der leichtern Anschaulichkeit, der Kürze und der Notwendigkeit, und die gelehrte Anspielung entbehrt alle diese Vorteile, und nur der Notwendigkeit oder Wahrheit wird auf das ehrliche Wort des Zitators mehr geglaubt als empfunden. Je entfernter von uns ein Volk in Zeiten, Räumen und Sitten, desto matter reizen uns Anspielungen auf dasselbe, gerade solche, welche dem fremden Volke selber langgehoffte Genüsse sind, gleichsam schmackhafte Lehrbraten eines vollendeten Lehrlings. So würde z.B. nur ein Sineser die Anspielungen leichtgenießend auffassen, wenn ich ihm folgende sagte: »Die Abzeichen der vornehmen Macht sind mit Recht von lauter Ursachen und Wirkungen des Beschädigens [206] geborgt, nämlich der Drache, das Gelb, die langen Fingernägel und die Fettsucht,« denn dem Sineser wär' es geläufig, daß der Drache und das magere Welk- und Neid-Gelb nur sein kaiserliches Haus und langeNägel und Dickbäuche nur Personen von Stande bezeichnen; aber deutschen Lesern, welche dergleichen erst seit heute und gestern erfahren, wollen so entfernte Ähnlichkeiten weniger gefallen und einleuchten. – Noch weniger Wirkung tut ein Verfasser (z.B. der uns sehr wohl bekannte), der gar nur auf einmalige Einzelnheiten, medizinische, geschichtliche oder andere Curiosa anspielt; z.B. wenn ich solche Anspielungen selber auf Curiosa wegen ihrer geringen Wirkung mit dem zweiten Paar Augen vergleichen wollte, die ein Ägypter auf dem Rücken hatte, womit er aber nichts sah (Plin. h. n. XI. 52) – oder mit der dritten Brust auf dem Rücken, aber ohne Säugwarze (Barthol. in ann. secund. Ephem. cur. obs. 72).

Die zweite Nachschrift ist: Man kann auch die gelehrte Anspielung verzeihlich machen, wenn man sie vorher einmal erklärt und darauf zehnmal gebraucht, wie Wieland z.B. mit den Bonzen, Derwischen, Hetären und Sykophanten getan, welches böse Volk nun so gut als einheimisch bei uns anzusehen und allen witzigen Köpfen brauchbar ist.

10. Programm. Über Charaktere
§ 56. Ihre Anschauung außerhalb der Poesie
§ 56
Ihre Anschauung außerhalb der Poesie

Nichts ist in der Dichtkunst seltner und schwerer alswahre Charaktere, ausgenommen starke oder gar große. – Goethe ist der reichste an jenen; Homer und Shakespeare an diesen beiden.

Eh' wir untersuchen, wie der Dichter Charaktere bildet, wollen wir fragen, wie wir überhaupt zum Begriffe derselben kommen.

[207] Der Charakter ist bloß die Brechung und Farbe, welche der Strahl des Willens annimmt; alle andere geistige Zusätze, Verstand, Witz etc., können jene Farbe nur erhöhen oder vertiefen, nicht erschaffen. Der Charakter wird nicht von einer Eigenschaft, nicht von vielen Eigenschaften, sondern von deren Grad und ihrem Misch-Verhältnis zueinander bestimmt; aber diesem allen ist der geheime organische Seelen-Punkt vorausgesetzt, um welchen sich alles erzeugt und der seiner gemäß anzieht und abscheidet; freilich geheim genug, aber nicht geheimer im Geistigen, als es im Körperlichen die winzigen Psychen und Elementargeisterchen sind, welche aus der Tierhaut oder aus dem Gartenbeete die verschiedenen Farben für die Pfauenfeder oder das Vergißmeinnicht und die Rose reiben – daher hat ein Autor, der einen Charakter zum witzigen oder poetischen macht, noch nicht im geringsten ihn bestimmt oder zu erschaffen angefangen. So mischt z.B. der humoristische sich ja ebensogut mit Stärke als Schwäche, mit Liebe als Haß. 146 Wie offenbart sich nun uns im Leben der fremde Wille, dieses unsichtbare Licht, so bestimmt, daß wir ihn zu einem Charakter einschränken dürfen? Ja wie entblößet oft die sichtbare Löwentatze einer einzigen Handlung den ganzen Löwen, welcher der König oder das Raubtier eines ganzen Lebens ist? Wie sagt der Stern eines einzigen heiligen Opfers und Blicks uns das ganze aufgehende Sternbild eines himmlischen Charakters an, um so mehr, da alle einzelne Taten nur weit auseinanderstehende Zeichen-Punkte des Sternbilds geben?

Zwar spricht das Gesicht oder das Äußere, dieseCharakter-Maske des verborgnen Ich, eine ganze Vergangenheit aus und damit Zukunft genug; aber dies reicht nicht zu; denn auch ohne körperliche Erscheinung bezeichnen schon die fünf Punkte bloß erzählter Reden oder Taten ein ganzes inneres Angesicht, wie fünf andere das äußere. Sondern zwei Dinge erklären und entscheiden. In jedem Menschen wohnen alle Formen der Menschheit, alle ihre Charaktere, und der eigne ist nur die unbegreifliche Schöpfung-Wahl einer Welt unter der Unendlichkeit von Welten, der Übergang der unendlichen Freiheit in die endliche Erscheinung. [208] Wäre das nicht: so könnten wir keinen andern Charakter verstehen oder gar erraten als unsern von andern wiederholten. Man verwundert sich, daß z.B. in der Kunst der Dichter die Himmel- und Erdenkarten menschlicher Charaktere ausbreitet, welche ihm nie im Leben können begegnet sein, von Kalibanen an bis zu hohen Idealen. Allein hier ist noch ein zweites Wunder vorhanden, nämlich daß der Leser sie getroffen findet, ebenfalls ohne auf ihre Urbilder in der Wirklichkeit gestoßen zu sein. Das Urteil über die Ähnlichkeit setzt die Kenntnis des Urbilds voraus; und dieses ist auch wirklich da, aber im Leser, so wie im Dichter. Nur unterscheidet sich der Genius dadurch, daß in ihm das Universum menschlicher Kräfte und Bildungen als ein mehr erhabenes Bildwerk in einem hellen Tage daliegt, indes dasselbe in andern unbeleuchtet ruht und dem seinigen als ein vertieftes entspricht. Im Dichter kommt die ganze Menschheit zur Besinnung und zur Sprache; darum weckt er sie wieder leicht in andern auf Ebenso werden im wirklichen Leben die plastischen Formen der Charaktere in uns durch einen einzigen Zug erschaffend, den wir sehen; ein ganzer zweiter innerer Mensch richtet sich neben unserem lebendig auf, weil ein Glied sich belebte und folglich nach der Konsequenz im moralischen Reiche, wie im organischen, der Teil sein Ganzes bestimmt, wie umgekehrt. Z.B.ein Mensch sage eine freche Lüge: seine Seelengestalt ist aufgedeckt. Noch niemand hat eine Einteilung und Zählung dieser Rassen des innern Menschen, der Albinos, Mulatten, Terzeronen u.s.w., versucht, so kurz sie auch durch die Geschichte werden müßte. Es ist sonderbar, wie dürftig diese an neuen Charakteren ist, wie oft gewisse, z.B. Alcibiades, Cäsar, Attikus, Cicero, Nero, als Seelen- und Nachtwandler der Geisterwelt wiederkehren. Diese Révenants oder Wiederkömmlinge in der Geschichte stehen nun wieder in der Poesie – dieser Wiederbringung aller Dinge – mit verklärten (parastatischen) Leibern auf. Ja man könnte, wie die Wilden von jedem Dinge auf der Erde eine Doublette im Himmel annehmen, so den meisten historischen Charakteren poetische Dioskuren nachweisen; z.B. so steht die französische Geschichte vor Wielands goldnem Spiegel und [209] entkleidet, putzt und sieht sich; freilich war die Geschichte früher als ihr Spiegel.

§ 57. Entstehung poetischer Charaktere
§ 57
Entstehung poetischer Charaktere

An den poetischen Charakteren sind vier Seiten zu prüfen, ihre Entstehung, ihre Materie, ihre Form und ihre technische Darstellung. –

Die Entstehung ist schon halb angegeben, nämlich so wie ein physischer oder wie ein moralischer neuer Mensch oder ein Wille entsteht: der Blitz empfängt und gebiert ihn. Jedes Leben, wie viel mehr das helleste, das geistige, wird, wie sein Dichter, geboren, nicht gemacht. Alle Welt- und Menschenkenntnis allein erschafft keinen Charakter, der sich lebendig fortführte; so treibt der Welt-Kenner Hermes häufig christliche Gliedermänner, Glieder-Engel und Glieder-Teufel vor sich her. Wer aus einzelnen in der Erfahrung liegenden Gliederknochen sich ein Charakter-Gerippe auf verschiedenen Kirchhöfen auflieset und verkettet und sie weniger verkörpert als verkleidet und bedeckt, quält sich und andere mit einem Schein-Leben, das er mit dem Muskel-Draht zu jedem Schritte regen muß. Große Dichter sind im Leben eben nicht als große Menschenkenner, noch weniger sind diese als jene bekannt. Gleichwohl machte Goethe seinen Götz von Berlichingen als ein Jüngling; und Goethe der Mann könnte jetzo die Wahrheit der Charaktere auf dem anatomischen Theater beweisen, welche der anschauende Jüngling auf das dramatische lebendig treten hieß. Wollte man poetische Charaktere aus Erinnerungen der wirklichen erklären und erschaffen: so setzt ja der bloße Gebrauch und Verstand der letzten schon ein regelndes Urbild voraus, welches vom Bilde die Zufälligkeiten scheiden und die Einheit des Lebens finden lehrt.

Freilich ist Erfahrung und Menschenkenntnis dem Dichter unschätzbar; aber nur zur Farbengebung des schon erschaffenen und gezeichneten Charakters, welcher diese Erfahrungen sich zueignet und einverleibt, durch sie aber so wenig entsteht als ein Mensch durch Essen. Das Götterbild, die Minerva, springt nicht [210] in den Kopf des Dichters, sondern aus dessen Kopfe schon belebt und bewaffnet; aber für diese Lebendige such' er in der Erfahrung nach Lokalfarben, die ihr passen; hat er einmal z.B. eine Liane, wie der uns bekannte Verfasser, aus sich geschöpft, so schaue er, wie dieser, überall in der gemeinen Erfahrung nach Locken, Blicken, Worten umher, welche ihr anstehen. Der Prosaiker holet ein wirkliches Wesen aus seinem Kreise und will es zu einem idealen daraus erheben durch poetische Anhängsel; der Dichter stattet umgekehrt sein ideales Geschöpf mit den individualisierenden Habseligkeiten der Wirklichkeit aus.

Ganz undichterisch hätte ein Dichter den trefflichen Lichtenberg oder dieser sich selber verstanden, wenn sein Orbis pictus oder irgendein Register von Beobachtungen über Charaktere ein Färbkasten zur Darstellung sein sollte, wenn also z.B. alle Dichter mit dem Abschreiben der vorgeschriebenen Bedientenphrasen kommen und glänzen wollten. Indes bleibt einer solchen tot gemalten Welt eine gute Doppelwirkung, daß sie wenigstens wider Sprachfehler, wenn auch nicht für Sprachtugenden der Charaktere arbeitet, und daß sie durch Beobachtungen zum Beobachten wecket und übt. Gleichwohl soll und kann damit nichts getan werden, als nur des Dichters Auge weit aufgemacht für die lebendige Welt umher; nicht damit das Universum dessen Pinsel den ganzen Tag sitze, sondern damit es, unabsichtlich, frei und leise in sein Herz geschlüpft, ungesehen darin ruhe und warte, bis die warmen Strahlen der Dichtstunde dasselbe wie einen Frühling vorrufen.

Der Charakter selber muß lebendig vor euch in der begeisterten Stunde fest thronen, ihr müsset ihn hören, nicht bloß sehen; er muß euch – wie ja im Traume 147 geschieht – eingeben, nicht ihr [211] ihm, und das so sehr, daß ihr in der kalten Stunde vorher zwar ungefähr das Was, aber nicht das Wie voraussagen könntet. Ein Dichter, der überlegen muß, ob er einen Charakter in einem gegebenen Falle Ja oder Nein sagen zu lassen habe, werf' ihn weg, es ist eine dumme Leiche.

Aber was gibt denn den Luft- und Ätherwesen des Dichtens wie des Träumens diese Redekunst? Dasselbe, was sie im Traume mit lebendigen Wangen und Augen und mit freier Anrede vor uns stellet: aus einer plastischen Form der Menschheit hat sich eine plastische Figur aufgerichtet an der Hand der Phantasie und redet an, indem wir sie anschauen, und wie der Wille die Gedanken macht, nicht die Gedanken den Willen 148, so zeichnet diese phantastische Willens-Gestalt unsern Gedanken, d.h. Worten, die Gesetze und Reihen vor.

Die bestimmtesten besten Charaktere eines Dichters sind daher zwei alte, lang gepflegte, mit seinem Ich geborne Ideale, die beiden idealen Pole seiner wollenden Natur, die vertiefte und die erhabne Seite seiner Menschheit. Jeder Dichter gebiert seinen besondern Engel und seinen besondern Teufel; der dazwischenfallende Reichtum von Geschöpfen oder die Armut daran sprechen ihm seine Größe entweder zu oder ab. Jene Pole aber, womit er das Leben wechselnd abstößet und anzieht, bilden sich nicht durch ihre Gegenstände und Anhängsel, sondern diese bilden sich jenen an. Folglich regen erlebte Charaktere die innern des Dichters nur so an wie seine die innern des Lesers; sie werden davon erweckt, nicht erschaffen. Aus diesem Grunde gewinnt [212] ein kleiner Autor nichts, der einem großen einen Charakter stiehlt; denn er müßte sich noch ein anderes Ich dazu stehlen.

Der ideale Prototyp-Charakter in des Dichters Seele, der ungefallne Adam, der nachher der Vater der Sünder wird, ist gleichsam das ideale Ich des dichterischen Ich; und wie nach Aristoteles sich die Menschen aus ihren Göttern erraten lassen, so der Dichter sich aus seinen Helden, die ja eben die ihm selber geschaffnen Götter sind. Die starkgeistigen Alten schilderten selten Schwächlinge; ihre Charaktere glichen den alten Helden, welche an den Schultern und an den Knien (gerade den Gliedern des Tragens) Löwenköpfe als Zierat hatten. Weiber können keinen Herkules zeichnen, sooft er ihnen auch unter dem Spinnen sitze, sondern leichter eine kräftige Frau; so ist in der genialen Delphine nur die Heldin eine, der Held aber keiner; so ebenfalls in der idealen Valerie. – Daher kehrt der Held des Autors – der aber darum nicht immer der Held des Kunstwerks ist, besonders da ein Autor sich gern verbirgt – als der feine Elementar- und Universalgeist seines ganzen Wesens, wenig verändert, außer etwa so wie der Autor selber, in allen seinen Werken wieder. Exempel anzuführen, zumal großer Autoren, ist teils zu verhaßt, teils zu schmeichelhaft.

§ 58. Materie der Charaktere
§ 58
Materie der Charaktere

Hier erhebt sich die alte Frage über die Zulässigkeit der rein vollkommnen und der rein unvollkommnen. Ich behaupte die Notwendigkeit der einen, und die Unzulässigkeit der andern. Der Wille kennt nur zwei Ich, das fremde und das eigne; folglich nur Liebe gegen jenes und Selbstachtung gegen dieses – oder Lieblosigkeit und innere Ehrlosigkeit. Stärke oder Schwäche sind das Dritte, worin das eine oder das andere gesetzt wird, können also, da sie sich aufs eigne Ich beziehen, schwer von Ehre oder ihrem Gegenteil geschieden werden. Folglich wäre ein rein-unvollkommner Charakter feige, schadensüchtige, ehrlose Schwäche. Aber diesen Wurm stößet die Muse von sich. Selber das unmenschliche Untier Kaliban hat noch zufällige kurze Zorn-, Mut- und [213] Liebe-Funken. 149 Warum hasset die Dichtkunst die Schwäche so sehr? Weil diese der auflösende laue ekle Schwaden alles Willens und Lebens selber ist, so daß dann im Maschinenwerk der Fabel die Seele, die darin arbeiten sollte, selber ein weicher Leichnam und eine Maschine wird und mithin die Geschichte aufhebt; denn ohne Willen gibt es so wenig eine Geschichte, als es eine Weltgeschichte des Viehs gibt. Ein schwacher Charakter wird leicht unpoetisch und häßlich, wie z.B. Brakenburg in Goethens Egmont beinahe ekel und Fernando in dessen Stella widerlich wird. Bei den Alten sind schwache Charaktere selten; im Homer gibts gar keine; auch Paris und sogar Thersites haben Stärke, so wie in Sparta alle Gottheiten bewaffnet dastanden, selber die Venus.

Da Willens-Schwäche gleichsam als ein unsittliches Mitgift der Geburt – wie Stärke als ein sittliches –, kurz als die wahre Erbsünde unser Gefühl nicht so rauh antastet als eine wirkliche Sünde: so lässet sie sich sehr gift-süß, aber auch gift-mischend, leicht unter die Reize unserer liebenden Natur verstecken, und insofern wirkt der Charakter der beiden Reisenden in Yoricks und Thümmels Reisewagen viel gefährlicher ein als jede andere Freiheit des Witzes, welcher statt des Feigenblattes oft nur dessen fein gearbeitetes Blatt-Gerippe vorhängt. Ebenso ist Wielands Aristipp viel unsittlicher als dessen Lais. – So wird umgekehrt in Schiller mit der Stärke als einerselbstachtenden Natur die hassende versüßend bedeckt.

Hinter oder unter dem Ideal der liebenden Kraft erheben sich nun die poetisch-erlaubten Charakter-Mischlinge, zuerst große Schwäche mit einiger Liebe 150 – höher die Stärke des trotzenden, hassen den, verwüstenden Bösewichts, in dessen scharfen, feuergebenden, grauschmutzigen Kiesel der reine Kristall einer Ehre sich einschließet, z.B. Lovelace – dann Übermacht der Liebe bei einiger Schwäche, gleichsam eine Wurzel, die wie ein Gebüsch außerhalb des Bodens statt eines dichten Stamms sogleich wieder in lauter Zweige auseinandergeht – endlich steht die Palme der [214] Menschheit auf der Erde und in der Wolke, der gerade gewaffnete Stamm steigt auf, und oben trägt er, in weiche Blüten sich teilend, Honig und Wein, der Charakter von höchster Kraft und höchster Liebe, ein Jesus. 151

Nun wie, dieser vollkommenste Charakter wäre der Dichtkunst verboten? – Und diese Göttin, welche Untergöttinnen gebiert, wäre nicht imstande, nur so viel zu schaffen als die ungelenke, schwer tragende Geschichte? Denn in dieser stehen Epaminondas, Sokrates, Jesus – und werfen auf ihr historisches Gerüste einen Glanz, als sei es ein Triumphwagen. Und doch könnten in Apollons goldenen Wagen selber stets nur halbdunkle, halb glänzende Gestalten einsteigen und fahren? – Nein, mir dünkt vielmehr, die Dichtkunst müßte noch um ein paar Sterne höher wohnen als jede Geschichte; jene auf einer Wandelsonne, wenn diese auf einer Wandelerde bleibt. Und hat sie uns denn nicht auch allein Götter und Heroen geboren – und den Messias und die Töchter Ödips von Sophokles – und Goethens Iphigenie – und dessen Fürstin im Tasso – und Don Carlos' Königin – und Cidli? Nur ist (gegen die gemeine Meinung) ihre Erschaffung und Darstellung die schwerste. Die Gipfel der Sittlichkeit und der Gipfel der Dichtkunst verlieren sich in eine Himmels-Höhe; nur der höhere Dichter-Genius kann das höhere Herzens-Ideal erschaffen. Aus welcher Welt könnte denn das zärtere Gewissen einer schönsten Seele es holen als aus seiner eignen? Denn wie es Ideale der Schönheit in bestimmten Formen, so gibt es Ideale des Gewissens in bestimmten; daher mögen, ungeachtet des nämlichen Herzens-Gesetzes, welches durch alle Geister reicht, doch unsere sittlichen Ideale einem Erzengel so gemein vorkommen als uns die eines rechtschaffenen Barbars.

Der höhere Mensch kann zwar den niedrigen erraten, aber nicht der niedrige den höhern, weil der Sehende, als eine Bejahung, [215] leicht die Blindheit als eine Verneinung setzen kann, der Blinde hingegen nie den Sehenden erraten, sondern dessen Farbe entweder hören oder tasten wird. Daher verrät sich das kranke Innerste eines Dichters nirgends mehr als durch seinen Helden, welchen er immer mit den geheimen Gebrechen seiner Natur wider Willen befleckt.

Wenn freilich Zusammenschieben toter Worte oder ein sittliches Wörterbuch ein göttlicher Charakter wäre: dann wäre diese Schöpfung so leicht, als man das Wort Gott – diesen Himmel aller Sonnen – ausspricht und denkt. So ist Klarisse ein kaltes sittliches Vokabularium ohne scharfe Lebens-Einheit, die wenigen Lügen ausgenommen, welche ihr zu einiger weiblichen Bestimmtheit verhelfen. Grandison hingegen weiset wenigstens ein gebundnes Leben – das freilich die gedungnen Lobreden seiner Bekannten nicht entbinden – auf; er gibt durchaus mehr organische Bestimmtheit als Klarisse (welche auch an dem handelnden Jüngling leichter sich malet als an der duldenden Jungfrau) besonders dadurch zu erkennen – obwohl bei einiger deutschen und britischen Tugend-Pedanterie-, daß ihm leicht der schöne Zorn der Ehre anfliegt. 152 Man will ordentlich darauf schwören, daß der edle Jüngling weder brennendrote, noch krankbleiche oder gar gelbe Wangen getragen, sondern daß sie ein zartes, rötlich-durchschimmertes Weiß übergossen, eine heilige Aurora des innern Gestirns. So zürnte Achilles; und noch höher Christus; das ist jener hohe Unwille über eine schlechte Welt, wodurch rechte Menschen dem Montblanc gleichen, den zuweilen ein Erdbeben erschüttert und welchen doch die Menschen schwer oder nie ersteigen. Wie unverständig hat man diesem großen Charakter-Dichter seinen Halb- oder Zweidrittels-Engel oder pedantischen Engel Grandison, und noch unverständiger seinen Halbteufel Lovelace 153 vorgeworfen, da man doch allen seinen leichtern Bildungen [216] die feinste Ausbildung nicht abzusprechen vermochte. Seine Sternwarte steht hier auf einem Berge gegen Fieldings seine, wiewohl dieser durch seine mehr dramatische Form der epischen des Richardson den Vorteil einer scheinbaren Schärfe abläuft.

Die Darstellung eines sittlichen Ideals wird so schwer als dessen Erschaffung, weil mit der Idealität die Allgemeinheit und folglich die Schwierigkeit zunimmt, dieses Allgemeinere durch individuelle Formen auszusprechen, den Gott Mensch, ja einen Juden werden und ihn doch glänzen zu lassen. Aber geschehen muß es, auch der Engel hat sein bestimmtes Ich. Daher die meisten sittlichen Ideale der Dichter Weiber sind, weil sie, weniger individuell als die Männer, den Gang der Sonne mehr wie eine Sonnenuhr und Sonnenblume still bezeichnen, als wie eine Turmuhr und deren Türmer laut anschlagen. Daher find' ich die tragischen Rollen, welche jedes individuelle Überwiegen verdammen und ausschließen, eben darum besser meistens von den Weibern gespielt, deren Eigentümlichkeit ins Geschlecht zerschmilzt. Daher geben die griechischen Künstler (nach Winckelmann) den weiblichen Formen nur wenig Verschiedenheit; und diese bestand nur in den Abzeichen des Alters. Daher bietet ein Pandämonium dem Dichter mehr Fülle und Wechsel an als ein Pantheon; und ein Kunstwerk, worin nur höhere oder gute Menschen regieren (z.B. in Jacobis Woldemar), kann nur durch jene seltene Angeburt des Herzens entstehen, welche zugleich die Schönheiten und die Schönheit kennt.

Bouterwek sagt in seiner Ästhetik: »der größte Verbrecher könne zuweilen in ästhetischer Hinsicht erhabener sein als die größte Tugend.« Ohne nähere Bestimmung hieße dies: der Teufel stehe ästhetisch-reizend über Gott. Aber dieser freisinnige Kunstrichter kann für das Interessantere des Verbrechers doch nur das erklären, was dieser von der Tugend selber entlehnt, die Kraft, welche als geistige (nicht als physische) immer an sich moralisch ist, nur aber in unsittlichen und irrenden Verhältnissen [217] und folglich in kämpfender Anwendung desto anschaulicher vortretend. – Das Mißlingen und Erkälten durch vollkommene Charaktere ist bloß den unvollkommenen Dichtern selber aufzubürden, welche keine Unschuld ohne eine Mohren-Folie zum Glänzen bringen können. Wenn im vorigen Beispiel Grandison der Klarissa zuvorstand, so steht er im jetzigen wieder dem Allwerth von Fielding im Interesse weit nach; – Allwerth, dieser Tugendschöne und zugleich Weiseruhige, flößt in der Dichtung so viel Teilnahme an den besten Charakteren ein, als er selber im Leben für sie bewies. Schillers Marquis von Posa, hoch und glänzend und leer wie ein Leuchtturm, warne eben den Dichter vor dem Hinschiffen zu ihm. Er ist uns mehr Wort als Mensch geworden, und obwohl göttliches, doch kein Gottmensch. Diesen Mangel unserer Teilnahme aber seiner Idealität schuld zu geben, wäre Blasphemie gegen die Menschheit; denn nimmt nicht – ist anders der Sprung und Flug erlaubt – der Held oder Heldgott der vier Evangelisten bei einer höhern, ja unendlichen Idealität unser Herz ganz höher und gewaltiger in Anspruch? – Auch Mangel an Handlung ist dem Marquis Posa nicht vorzurücken; handelt er nicht selbstständig, als das einzige Substantiv des Gedichtes, fast allein fort? – Oder spricht er nicht? – Er hört ja kaum auf. Aber er ist eben ein Umkreis ohne Mittelpunkt, ohne den organischen Lebenpunkt, wovon in den nächsten Paragraphen mehr.

Auch vom Zauberrauche der Leidenschaft – dieser poetischen Mittlerin zwischen Gesetz und Sünde, indem sie entweder den Haß in Stärke oder die Schwäche in Liebe verkleidet – darf der Dichter nur wenig als Heiligenschein um seine Heiligen ziehen; daher wieder die Überzahl der weiblichen kommt. Wenn der Bund der höchsten Ehre mit der höchsten Liebe das Ideal vollendet: so stellet es sich am Weibe, dem die Ehre weit näher liegt als dem Mann die Liebe, am besten dar. Freilich spannen die Weiber nicht eben Platons Rappen und Schimmel vor ihren Venuswagen, sondern eine weiße und eine schwarze Taube.

Je weiter vom sittlichen Ideal der Maler heruntersteigt, desto mehr Charakteristik steht ihm zu Gebote; der größte Bösewicht müßte individuell-leidenschaftlich fast bis zur Passivität bestimmt [218] werden; so wie die Häßlichkeit im Verhältnis gegen Schönheit; daher gibt es überall gelungnere Halbmenschen und Halbteufel als Halbgötter.

Große Dichter sollten deswegen öfter den Himmel aufsperren als die Hölle, wenn sie zu beiden den Schlüssel haben. Der Menschheit einen sittlich-idealen Charakter, einen Heiligen zu hinterlassen, verdient Heiligsprechung und ist zuweilen für andere noch nützlicher, als ihn selber gehabt zu haben; denn er lebt und lehrt ewig auf der Erde. Ein Geschlecht nach dem andern erwärmt und erhebt sich an dem göttlichen Heiligenbilde; und die Stadt Gottes, in welche jedes Herz begehrt, hat uns ihr Tor geöffnet. Ja der Dichter schenkt uns die zweite Welt, das Reich Gottes; denn dieses kann ja nie auf Körpern wohnen und in Begebenheiten erscheinen, sondern nur in einem hohen Herzen, das eben der Dichter vor unserem aufgetan.

Es ist nur unter Bedingungen wahr, daß hohe Charaktere und erniedrigte uns gleich gut, nur mit umgekehrten Kräften heben, wie etwa der Mond die Flut des Meeres aufregt, er stehe am Himmel über dem Meere im Scheitelpunkte, oder unter demselben im Fußpunkt. – Sobald gute Beispiele bessern, schlechte verschlimmern, so müssen ja dichterische Charaktere beide weit schärfer und heller geben. Kann das Gedicht, oder gar die Bühne, wo der vom Dichter beseelte und verkörperte Charakter noch zum zweiten Male sich in der Kraft eines lebendigen Menschen verdoppelt, als ein epikurischer Stall und als ein moralisches Insektenkabinett besser ergreifen und erheben, oder als ein geistiges Empyreum hoher Gestalten? – Legt man den Plutarch oder den Tacitus gestärkter, begeisterter weg? Und wie würde erst das Heroum des erstern mächtig und strahlend vor uns stehen, hätte der große Geist eines Tacitus sein Heldenlicht auf die Helden geworfen!

Noch mehr. Wandelte ein Gottmensch durch die Welt, würde aber als solcher erkannt –: sie müßte sich vor ihm beugen und ändern. Allein eben nur im Gedichte geht er unverhüllt, ohne drückende Verhältnisse mit dem Zuschauer, und darum trifft er jeden so sehr; für den Messias der Messiade gibt es auf der Erde [219] keinen Judas. Hingegen der unmoralische Charakter kann sich auf dem Musenberge nur durch ein angenommenes moralisches Surrogat fristen und durchhelfen. Folglich wie im Gedichte die Gottheit den dunkeln Flor abwirft, so nimmt darin der Teufel die schöne Larve vor; und den glänzenden Schein, welchen die Wirklichkeit jener entzog, hängt die Poesie bloß diesem um.

Nicht das Ideal der Göttlichkeit – denn unser Gewissen malt und fodert ja idealer als jeder Dichter –, sondern gerade das Ideal der Schlechtigkeit macht mutlos. Es schadet immer, das Laster lange anzuschauen; die Seele zittert vor dem offnen atmenden Schlangen-Rachen, endlich taumelt sie und – hinein. Suchte je eine schöne Seele ein Zerrbild des Herzens lieber auf als eine heilige Familie oder eine Verklärung? Will sie nicht lieber mehr lieben als mehr hassen lernen? Drängt sich nicht hingegen eine gesunkene Stadt – indes eine unverdorbne das unbefleckte Auge bewacht – gerade vor die schmutzige Bühne voll Untreue, List, Trug, Schlechtigkeit, Selbstsucht, um sich durch Beispiele, die man belacht, teils zu entschuldigen, teils zu verhärten?-

Da die Poesie mehr das Schicksal als die Gesinnung des Sünders entschleiert: so steht – weil im Leben dieselbe Zufälligkeit des Mißglücks die Tugend wie das Laster trifft – unsere moralische Kraft gegen die ungleichartige Ausgleichung der innern und äußern Welt, gegen bestraftes Laster wie gegen unbelohnte Tugend auf. Und was hilft ein Schiffbruch pestkranker Teufel? Sie stecken eben strandend an.

Aber dies lese doch kein Dichter, ohne daraus zu schließen, welche Pflichten und welche Hoffnungen in seinem Gebiete liegen und fodern. Er bedenke doch die jahrhundertlang fortbessernde Gewalt sittlicher Charaktere im Gedichte, welche außer demselben, in engen Zeiten und Räumen und von irdischen Verhältnissen verschattet, das Herz nur mit halbem Feuer treffen und wärmen; er halte seinen Reichtum an reinen und klar strahlenden Gestalten hoch, welche nicht im Gedicht, wie oft wirkliche im Leben, das Verhältnis des befangenen Zuschauers wider sich und ihr Wirken haben und die sogar an den wirklichen die Erdrinde, die unsern Blick aufhält, wegschmelzen können. – Auch bedenke [220] er: predigt der Philosoph seine Irrtümer: so gehen sie in kurzem, sogar durch stumme Widerlegungen, als kalte Schatten sonnenlos unter; in der Zeit entseelt sich die philosophische Scheinleiche unvermerkt. Aber der Dichtung, selber der giftigsten, zieht keine Zeit den Giftstachel aus; und noch nach Jahrtausenden strömt der Dichter ein, der sittliche als Nil, der unsittliche als Eisgang. Bei dem Wechseln der Philosophie erhellt nicht der erste Philosoph den Kopf des letzten; aber wohl erwärmt der erste Dichter das Herz des letzten Lesers.

§ 59. Form der Charaktere
§ 59
Form der Charaktere

Die Form des Charakters ist die Allgemeinheit im Besondern, allegorische oder symbolische Individualität. Die Dichtkunst, welche ins geistige Reich Notwendigkeit und nur ins körperliche Freiheit einführt, muß die geistigen Zufälligkeiten eines Porträts, d.h. jedes Individuums, verschmähen und dieses zu einer Gattung erheben, in welcher sich die Menschheit widerspiegelt. Das gemalte Einzelwesen fället, sobald es aus dem Ringe der Wirklichkeit gehoben wird, in lauter lose Teile auseinander, z.B. die Porträts in Footes trefflichen Lustspielen, wo sich indes das Zufällige der Charaktere schön in den Zufall der Begebenheiten einspielt.

Je höher die Dichtung steht, desto mehr ist die Charakteristik eine Seelen-Mythologie, desto mehr kann sie nur die Seele der Seele gebrauchen, bis sie sich in wenige Wesen, wie Mann, Weib und Kind, und darauf in den Menschen verliert. So wie sie aus dem heroischen Epos heruntersteigt ins komische, aus dem Äther durch die Luft, aus dieser durch die Wolken auf die Erde, so schießet ihr Körper in jedem Medium dichter und bestimmter an, bis er zuletzt entweder zum Natur-Mechanismus oder in eine Eigenschaft übergeht.

Wie verhält sich die Symbolik der griechischen Charakteristik zur Symbolik der neuern? – Die Griechen lebten in der Jugend und Aurora der Welt. Der Jüngling hat noch wenig scharfe Formen und gleicht also desto mehren Jünglingen; die Morgendämmerung [221] scheidet noch wenig die schlafenden Blumen voneinander. Wie Kinder und Wilde, wie knospende Blüten nur wenige Unterschiede der Farben zeigen: so ging im ähnlichen Griechenland die Menschheit in wenige, aber große Zweige auseinander, von welchen der Dichter wenig abzustreifen brauchte, wenn er sie veredelnd versetzen wollte. Hingegen die spätere Zeit der Bildung, der Völkermischungen, der höhern Besonnenheit verästete die Menschheit in immer mehre und dünnere Zweige, wie ein Nebelfleck durch Gläser in Sonnen und Erden zerfällt. Jetzo stehen so viele Völker einander scharf individueller gegenüber als sich sonst Individuen. Mit der fortgesetzten Verästung, welche jeden Zweig einer Kraft wieder einen voll Zweige zu treiben nötigt, muß die Individuation der Menschheit wachsen, so sehr sie auch die äußere Decke der Verschiedenheiten immer dicker weben lernt. – Folglich wird ein moderner Genius, z.B. Shakespeare, welcher Zweige vom Zweige abbricht, gegen die Alten mit ihren großen Massen und Stämmen im Nachteil zu stehen scheinen, indes er dieselbe Wahrheit, dieselbe Allgemeinheit und Menschheit unter dem Laube der Individuation übergibt, nur daß ein Eroberer wie Shakespeare ein ganzes bevölkertes Land der Seelen auf einmal aufmacht. Es gibt wenige Charaktere bei ihm, welche nicht gelebt hätten und leben werden und müssen; sogar seine komischen, wie Falstaff, sind Wappenbilder der zu Fuße gehenden Menschheit. Sein Hamlet ist der Vater aller Werther und der beiden Linien der lauten Kraft-Menschen und der sentimentalen Scherzmacher.

Shakespeare daher bleibt trotz seiner geistigen Individuation so griechisch-allgemein, als Homer es mit seiner körperlichen bleibt, wenn er die verschiedene Länge zweier Helden im Sitzen und Stehen ansingt. Die Franzosen schaffen nur Porträts, ungeachtet ihrer entfärbten Kupferstiche durch abstrakte Worte; die bessern Briten und Deutschen, welche nicht die Zeichnung, nur die Farbe individualisieren, malen den Menschen sogar durch die Lokalfarbe des Humors.

Gegen die gemeine Meinung möcht' ich die Griechen mehr in Darstellung weiblicher Charaktere über die Neuern setzen; denn [222] Homers Penelope, Sophokles' Töchter des Ödips, Euripides' Iphigenie etc. stehen als die frühesten Madonnen da; – und zwar eben aus dem vorigen Grund. Das Weib wird nie so individuell als der Mann, es behält in seinen Unterschieden wenigstens im Schein mehr die großen allgemeinen Formen der Menschheit und Dichtung bei, nämlich von Gut, Böse, Jungfrau, Gattin u.s.w. Indes sieht man aus prosaischen Charakteristiken der Griechen, z.B. aus der des Alcibiades, Agathon, Sokrates in Platons Symposion, daß die Griechen sich unserer Individuation mehr nähern konnten, wenn sie wollten.

§ 60. Technische Darstellung der Charaktere
§ 60
Technische Darstellung der Charaktere

Ein Charakter sei mit Form und Materie rein-ausgeschaffen, so stirbt er doch oft unter der technischen Geburt. Häufig dreht und setzt sich, zumal in langen Werken, der Held unter den Händen und Augen des verdrüßlichen Dichters in einen ganz andern Menschen um; besonders drei Helden tuns: der starke spitzet sich auf der Drehscheibe des Töpfers gern zu einem langen dünnen zu; der humoristische nimmt eine gerührte klagende Gestalt an, der Bösewicht vieles Gute; selten ists umgekehrt. So schmilzt der Held in der Delphine von Band zu Band wie eine abgeschossene Bleikugel durch langes Fliegen; so ist der Held St. Preux in der Neuen Heloise nur eine Herabidealisierung des Helden in J. J. Confessions; so legt Wallenstein mitten unter seinen Predigten des Mutes ein Waffenstück nach dem andern von seiner eisernen Rüstung ab, bis er nackt genug für die letzte Wunde dasteht. Achilles richtet sich daher als der Gott der Charaktere auf. In anfangs ungünstigen Verhältnissen für das Handeln, zürnend, murrend, klagend, dann in weichen Trauer-Verhältnissen wächset er doch wie ein Strom von Gesang zu Gesang, braust unter der Erde, bis er breit und glänzend hervorrauscht! – Aber in welches Jahrtausend wird endlich sein Stromsturz (Katarakte) fallen, nämlich wann wird der Homer seines Todes aufstehen? –

[223] Im Homer ist eine solche Stufenfolge von Helden, daß Paris, aus dieser verdunkelnden Nachbarschaft gehoben, an jedem andern Orte als ein kühner Alcibiades auftreten könnte, so wie Cicero, wenn man ihn vom Kapitole aus der Umgebung von Kato, Brutus, Cäsar wegbringen könnte, sich in jedem Rittersaal als ein republikanischer Heros in die Höhe richten würde. In den neuern Werken glücken immer einige Nebenpersonen mehr als der Held in Stärke oder Schärfe des Charakters; so der Sophist im Agathon; so viele Nebenmänner im Wilhelm Meister und in der Delphine; so im Wallenstein; so in wenigen Werken des uns allen sehr wohlbekannten Verfassers. Bei dem Romane erklärt sich einiges aus dem leidenden Charakter des Helden; Leiden schattet niemals so scharf ab als Tun, daher Weiber schwerer zu zeichnen sind.

Die technische Darstellung eines Charakters beruht auf zwei Punkten, auf seiner Zusammensetzung und auf der Geschicht-Fabel, welche entweder sich an ihm, oder an welcher er sich entwickelt.

Jeder Charakter, er sei so chamäleontisch und buntfarbig zusammengemalt, als man will, muß eine Grundfarbe als die Einheit zeigen, welche alles beseelend verknüpft; ein leibnizisches vinculum substantiale, das die Monaden mit Gewalt zusammenhält. Um diesen hüpfenden Punkt legen sich die übrigen geistigen Kräfte als Glieder und Nahrung an. Konnte der Dichter dieses geistige Lebenszentrum nicht lebendig machen sogleich auf der Schwelle des Eintritts: so helfen der toten Masse alle Taten und Begebenheiten nicht in die Höhe; sie wird nie die Quelle einer Tat, sondern jede Tat schafft sie selber von neuem. Ohne den Hauptton (tonica dominante) erhebt sich dann eine Ausweichung nach der andern zum Hauptton. Ist hingegen einmal ein Charakter lebendig da, gleichsam ein primum mobile, das gegen anstrebende Bewegungen von außen sich in der seinigen festhält: so wird er sogar in ungleichartigen Handlungen (z.B. Achilles in der Trauer über Patroklus, Shakespeares wilder Percy in der Milde) die Kraft seiner Spiralfeder gerade im Gegendruck am stärksten offenbaren. Dem wielandischen Diogenes von Sinope [224] und (obwohl weniger) dem ähnlichen Demokrit in den Abderiten mangelt gerade der beseelende Punkt, welcher die Keckheit des Zynismus mit der untergeordneten Herzens-Liebe organisch gewaltsam verbände: dieser regierende Lebenspunkt fehlt auch den Kindern der Natur im goldenen Spiegel, ferner dem Franz Moor und dem Marquis Posa, aber nicht der Fürstin von Eboli. Nur durch die Allmacht des poetischen Lebens können streitende Elemente – z.B. in Woldemar Kraft und Schwäche – verschmolzen werden; so im ähnlichen Tasso von Goethe u.s.w. –

Oft hält die körperliche Gestalt die innere unter dem Elementenstreite kräftig vor und fest; so ruht z.B. in Wielands Geron der Adelige der köstliche Charakter so hoch und so fest auf dessen Leibesgröße wie auf einem Fußgestelle und Thron. Daher hilft im Homer die Wiederkehr seiner leiblichen Beiwörter die Festigkeit seiner Erscheinungen verstärken. Sogar der Widerspruch der Gestalt mit dem Charakter gibt diesem Lichter, z.B. dem Helden Alexander die kleine Statur; der jungfräulich und froh scherzenden Valerie die bleiche Farbe; dem Teufel in Klingers Doktor Faust das schöne Jünglings-Antlitz mit einer steilrechten Stirn-Runzel, nach der geborgten Ähnlichkeit eines gemalten Teufels von Füeßli. – Auch der Abstich des Standes mit dem Charakter kann diesen durch Lichter steigern: ein blöder Charakter, aber auf einem Throne – ein milder, aber auf einem Kriegs-und Siegs-Wagen – ein kecker, aber auf einem Krankenbette, alle heben sich durch die Gegenfarben der äußeren Verhältnisse lebensfarbiger dem Auge zu. – Sogar der Zwiespalt des inneren Verhältnisses, nämlich der Zwiespalt zwischen den herrschenden und den dienenden Gliedern des Charakters gibt durch diese jenen mehr Licht, z.B. bei Cäsar die Milde dem Heldencharakter, oder bei Henri IV. der Leichtsinn; bei Onkel Toby der Menschenliebe das Ehrgefühl. – Freilich glücken Mischungen kämpfender Farben nur dem Maler, nicht dem Farbenreiber. Zwar geradezu widerstreitende Farben und Züge mag der Reiber einem Charakter wohl anstreichen – als unmischbar sind sie für Anschauung und Erinnerung gar nicht am Charakter hangengeblieben –; aber jene leis'-wandelbaren, hin- und herschillernden, [225] halb auslöschenden, halb auftragenden Farben unserer meisten romantischen Schreiber und Reiber geben statt der ganzen umrißnen Gestalt nur einen bunten Klecks.

Ist dieses Herz und Gemüt eines Charakters geschaffen, ist gleichsam dieser Polarstern an den Himmel gesetzt: dann gewinnt die Wahrheit und das Feuer des Wesens gerade durch dessen Wechsel von Polhöhe und Poltiefe. Ich meine dies: jede lebendige Willens-Kraft wird, wenn sie eine edle ist, bald eine göttliche, bald eine menschliche Natur annehmen; und wenn eine unedle – so bald eine menschliche, bald eine teuflische. Der Charakter sei z.B. Stärke oder Ehre, so muß er bald in der Sonnennähe höchster moralischer Standhaftigkeit gehen, welche sich und eignes Glück aufopfert, bald in die Sonnenferne grausamer Selbstsucht geraten, welche den Göttern das fremde schlachtet. Der Charakter sei Liebe, so kann er zwischen göttlicher Aufopferung und menschlicher Erschlaffung ab- und zuschwanken. Darum wird ein sittlicher durch die Schwierigkeit einer solchen Schwankung so schwer. Nur insofern, als eben die Dichtkunst diese südlichen und nördlichen Abweichungen aller Charaktere, wie der Gestirne, in einer schönen leichten Notwendigkeit und Umwechslung schnell und unparteiisch auf- und untergehen lässet, bildet sie uns zur Berechnung, zum Maße-Nehmen und zum Maße- Halten und zum Blicke durch die Welt. Wie keine köstlichste Organisation durch sich das Körperreich, so kann kein Mensch durch sich die Menschheit erschöpfen und vertreten; jeder ist ihr Teil und ihr Spiegel zugleich, keiner das Urbild des Spiegels; folglich – wie im rechten Kunst-Dialog nicht ein Sprecher, sondern alle zusammengenommen die Wahrheit haben und geben so gibt in der Dichtkunst nicht ein Charakter das Höchste und Ganze, sondern jeder und selber der schlimmste hilft geben. Nur der gemeine Schreiber teilt einem verworfnen Charakter alle irrigen Ansichten zu, anstatt der wenigen wahren, die dieser vielleicht am stärksten haben und malen kann.

[226]
§ 61. Ausdruck des Charakters durch Handlung und Rede
§ 61
Ausdruck des Charakters durch Handlung und Rede

Der Charakter spricht sich durch Handlungen und durch Rede aus; aber durch individuelle. Nicht was er tut, sondern wie ers tut, zeigt ihn; das Wegschenken, das in der Wirklichkeit so sehr den bloßen Zuschauer ergreift, lässet diesen vor der Bühne oder dem Buche ganz kalt und matt; im Leben erklärt die Tat das Herz, im Dichten das Herz die Tat. 154 Es ist leicht, einem moralischen Heros Aufopferungen und festen Stand und andere Taten durch eine einzige Schreibfeder einzuimpfen; aber diese willkürlichen Allgemeinheiten und Anhängsel fallen ohne Früchte von ihm ab. Eine innere Notwendigkeit gerade dieser bestimmten Handlung muß sich vor oder mit ihr entdecken; und diese muß weniger den Charakter als dieser sie bezeichnen und bestimmen. Nicht das leichte leere Hingehen oder vielmehr Hinschicken in einen Tod, sondern irgendeine Miene, eine Bewegung, ein Laut unterwegs, der plötzlich die Wolke von einer Sonnen-Seele weghebt, entscheidet. Daher kann keine einzige Handlung auf dieselbe Weise zweien Charakteren zukommen, oder sie bedeutet nichts.

Rede gilt daher völlig der Handlung gleich, ja oft mehr; freilich nicht eine, wodurch der Charakter sich selber zum Malen oder zur Beichte sitzt oder eine interpretatio authentica von sich oder Noten ohne eignen Text abliefert; sondern jene reinen oder Wurzelworte des Charakters, jene Polar-Enden, welche auf einmal ein Abstoßen durch ein Anziehen offenbaren; es sind jene Worte, welche als Endreime eine ganze innere Vergangenheit beschließen oder als Assonanzen eine ganze innere Zukunft ansagen, wie z.B. das bekannte »moi« der Medea. Welche Handlung könnte dieses Wort aufwiegen? – So antwortet ebensogroß in Goethens Tasso die Fürstin auf die Frage der Freundin, was ihr nach einem [227] so oft getrübten, so selten erleuchteten Leben übrig bleibe: die Geduld. Da den Reden leichter und mehr Bedeutung und Bestimmung zu geben ist als den Handlungen: so ist der Mund als Pforte des Geisterreichs wichtiger als der ganze handelnde Leib, welcher doch am Ende unter allen Gliedern auch die Lippe regen muß. So gibt uns z.B. das Jagen und Reuten und Stürzen der natürlichen Tochter von Goethe nur eine kalte Voraussetzung, keine innere Anschauung ihres Mutes; hingegen in de la Motte Fouqués Nordtrauerspielen stehen oft Knaben ohne Taten durch bloße Schlagworte als junge Löwen da und zeigen die kleine Tatze. Klopstocks Helden im Hermann kokettieren zu sehr mit ihrer Unerschrockenheit und machen zu viele Worte davon, daß sie nicht viel Worte machten, sondern statt der Zunge lieber den Löwenschweif bewegten. – Warum stehen in der Regenten-Geschichte und in der Gelehrten-Nekrologie die Charaktere so nebel- und wasserfarbig und verflossen da? Und warum gehen bloß in der alten Geschichte alle Häupter der Schulen und der Staaten mit allen blühenden Farben des Lebens auf und ab? – Bloß darum, weil die neuere Geschichte keine Einfälle der Helden aufschreibt, wie Plutarch in seinem göttlichen Vademekum. Die Tat ist ja vieldeutig und äußerlich, aber das Wort bestimmt jene und sich und bloß die Seele. Daher wird am Hofe die stumme Tat verziehen, nie das schreiende Wort. Die Rechtschaffenen überall machen sich mehr Feinde durch Sprechen als die Schlimmen durch Handeln.

Jeder Charakter als personifizierter Wille hat nur sein eignes Idiotikon, die Sprache des Willens, der Leidenschaften u.s.w. vonnöten; hingegen der Witz, die Phantasie etc., womit er spricht, gehören als Zufälligkeiten der Fabel und der Form mehr in die Sprachlehre des Dichters als des Charakters. Daher spricht sich derselbe Charakter gleich gut in der Einfalt Sophokles' in den Bildern Shakespeares, in den philosophischen Gegensätzen Schillers aus, ist alles übrige sonst gleich. Der Splitter-Kunstrichter setzt freilich die Frage entgegen, ob man ihn denn je so bilderreich und witzig in seiner wildesten Leidenschaft habe sprechen hören; aber man antworte ihm, daß Beispiele nichts beweisen. –

[228] Wenn nach dem Vorigen Handlungen nicht einmal den Charakter bloß begleiten sollen, sondern ihn voraussetzen und enthalten müssen, wie die Gesichtbildung des Kindes die ähnliche elterliche: so lässet sich begreifen, wie erbärmlich und formlos er umherrinne, wenn er gar seine eignen Handlungen begleiten muß, wenn er neben den Begebenheiten keuchend herlaufen und das Erforderliche dabei teils zu empfinden, teils zu sagen, teils zu beschließen hat.

Aber hier ist eben der Klippen-Fels, wo der Schreiber scheitert und der Dichter landet. Denn Charakter und Fabel setzen sich in ihrer wechselseitigen Entwickelung dermaßen als Freiheit und Notwendigkeit – gleich Herz und Pulsader – gleich Henne und Ei – und so umgekehrt voraus, weil ohne Geschichte sich kein Ich entdecken und ohne Ich keine Geschichte existieren kann, daß die Dichtkunst diese Entgegen- und Voraussetzung in zwei verschiedene Formen organisieren mußte und dadurch, daß sie bald in der einen den Charakter, bald in der andern die Fabel vorherrschen ließ, oder beide im Romane umwechseln, die Rechte und Vorzüge beider darstellte und ausglich.

11. Programm. Geschichtfabel des Drama und des Epos
§ 62. Verhältnis der Fabel zum Charakter
§ 62
Verhältnis der Fabel zum Charakter

Herder setzt in seiner Xten Adrastea die Fabel über die Charakteristik; da ohne Geschichte kein Charakter etwas vermöge, jeder Zufall alles zertrennen könne und so weiter. 155 Allein wie in der [229] Wirklichkeit eben der Geist, obwohl in der Erscheinung später, doch früher war im Wirken als die Materie, so in der Dichtkunst. Ohne innere Notwendigkeit ist die Poesie ein Fieber, ja ein Fiebertraum. Nichts ist aber notwendig als das Freie; durch Geister kommt Bestimmung ins Unbestimmte des Mechanischen. Die tote Materie des Zufalls ist der ganzen Willkür des Dichters unter die bildende Hand gegeben. Wer z.B. im entscheidenden Zweikampf erliegen – welches Geschlecht auf dem aussterbenden Throne geboren werden soll; – das zu bestimmen, bleibt in des Dichters Gewalt. Nur aber Geister darf er nicht ändern, so wie Gott uns die Freiheit bloß geben, nicht stimmen kann. Und warum oder wodurch hat der Dichter die Herrschaft über die knechtische Zufalls-Welt? Nur durch ein Ich, also durch dessen Charakter erhält eine Begebenheit Gehalt; auf einer ausgestorbenen Welt ohne Geister gibts kein Schicksal und keine Geschichte. Nur am Menschen entfaltet sich Freiheit und Welt mit ihrem Doppelreiz. Dieses Ich leihet den Begebenheiten so viel mehr als sie ihm, daß es die kleinsten heben kann, wie die Stadt- und die Gelehrten-Geschichten beweisen. In der besten Reisebeschreibung folgen wir den unbedeutendsten Personalien neugierig nach; und der Verfasser dieses sah unter der Lesung der Charaktere von la Bruyere häufig in den Schlüssel hinten, um die Namen von getroffnen Personen kennenzulernen, die ihn und Europa nicht im geringsten interessieren oder ihm bekannt sind.

Was gibt ferner dem Dichter – im Schwerpunkt aller Richtungen der Zufälle – den Stoß nach einer? Da alles geschehen, jede Ursache die Welt-Mutter von 6 Jahrtausenden oder von einer Minute werden und jede Berg-Quelle als ein Strom nach allen Weltgegenden hinab- oder in sich zurückfallen kann; da jeden Zufall ein neuer, jedes Schicksal ein zweites zurücknehmen kann; so muß doch, wenn nicht ewig fieberhafte kindische Willkür und [230] Unbestimmung hin-und herwehen soll, durchaus irgendein Geist ins Chaos greifen und es ordnend bändigen; nur daß hier die Frage und Wahl der Geister bleibt.

Diese führt eben zum Unterschiede des Epos und des Drama.

§ 63. Verhältnis des Drama und des Epos
§ 63
Verhältnis des Drama und des Epos

Wenn nach Herder der bloße Charakter sich auf nichts stützt: auf was ist denn die bloße Fabel gebauet? Ist denn das dunkle Verhängnis, aus welchem diese springt – so wie jener auch –, etwas anders als wieder ein Charakter, als der ungeheure Gott hinter den Göttern, der aus seiner langen stummen Wolke den Blitz wirft und dann wieder finster ist und wieder ausblitzt? – Ist das Verhängnis nicht im Epos der Weltgeist, im Drama die Nemesis? – Denn der Unterschied zwischen beiden Dichtarten ist hell. Im Drama herrschet ein Mensch und zieht den Blitz aus der Wolke auf sich; im Epos herrschet die Welt und das Menschengeschlecht. Jenes treibt Pfahl-Wurzeln, dieses weite waagrechte. Das Epos breitet das ungeheuere Ganze vor uns aus und macht uns zu Göttern, die eine Welt anschauen; das Drama schneidet den Lebens lauf eines Menschen aus dem Universum der Zeiten und Räume und lässet uns als dürftige Augenblickwesen in dem Sonnenstrahle zwischen zwei Ewigkeiten spielen; es erinnert uns an uns, so wie das Epos uns durch seine Welt bedeckt. Das Drama ist das stürmende Feuer, womit ein Schiff auffliegt, oder das Gewitter, das einen heißen Tag entlädt; das Epos ist ein Feuerwerk, worin Städte, auffliegende Schiffe, Gewitter, Gärten, Kriege und die Namenzüge der Helden spielen; und ins Epos könnte ein Drama zur Poesie der Poesie als Teil eingehen. Daher muß das aufeinen Menschen zusammengedrängte Drama die strengere Bindung in Zeit, Ort und Fabel unterhalten, wie es ja uns allen die Wirklichkeit macht. Für den tragischen Helden geht die Sonne auf und unter; für den epischen ist zu gleicher Zeit hier Abend, dort Morgen; das Epos darf über Welten und Geschlechter schweifen und (nach Schlegel) kann es überall aufhören, folglich überall fortfahren; [231] denn wo könnte die Welt-, d.h. die Allgeschichte, aufhören? Daher Cervantes' epischer Roman nach dem ersten Beschlusse noch zwei Fortsetzungen erhielt, eine von fremder, eine von eigner Hand.

Die alte Geschichte ist mehr episch, wie die neuere mehr dramatisch. Jener, besonders einem Thukydides und Livius, wurde daher schon von Franzosen 156 der Mangel an Monat- und Tagbestimmungen wie an Zitationen vorgeworfen; aber diese dichterische Weite der Zeit, wiewohl ebensogut die Tochter der Not als des Gefühls, sammelt gleichsam über der Geschichte und ihren Häuptern poetische Strahlen entlegner Räume und Jahre.

Wie kommt nun das Schicksal ins Trauerspiel? – Ich frage dagegen: wie kommt das Verhängnis ins Epos und der Zufall ins Lustspiel?

Das Trauerspiel beherrscht ein Charakter und sein Leben. Wäre dieser rein gut oder rein schlecht: so wäre entweder die historische Wirkung, die Fabel, rein durch diese bestimmte Ursache gegeben und jeder Knoten der Verwicklung aufgehoben, der letzte Akt im ersten gespielt, oder, wenn die Fabel das Widerspiel des Charakters spielen sollte, uns der empörende Anblick eines Gottes in der Hölle und eines Teufels im Himmel gegeben. Folglich darf der Held – und sei er mit Neben-Engeln umrungen – kein Erz-Engel, sondern muß ein fallender Mensch sein, dessen verbotener Apfelbiß ihm vielleicht eine Welt kostet. Das tragische Schicksal ist also eine Nemesis, keine Bellona; aber da auch hier der Knoten zu bestimmt und nicht episch sich schürzte, so ist es das mit der Schuld verknüpfte Verhängnis; es ist das umherlaufende lange Gebirgs-Echo eines menschlichen Mißtons.

Aber im Epos wohnt das Verhängnis. Hier darf ein vollkommenster Charakter, ja sein Gott erscheinen und streben und kämpfen. Da er nur dem Ganzen dient und da kein Lebens-, sondern ein Welt-Lauf erscheint: so verliert sich sein Schicksal ins allgemeine. Der Held ist nur ein Strom, der durch ein Meer zieht, und hier teilt die Nemesis ihre Strafen weniger an Individuen als an Geschlechter und Welten aus. Unglück und Schuld begegnen sich nur auf Kreuzwegen. Daher können die Maschinen-Götter [232] und Götter-Maschinen in das Epos mit ihrer Regierung der Willkür eintreten, indes ein helfender oder feindlicher Gott das Drama aufriebe; so wie ein Gott die Welt anfing, aber keinen einzelnen. Eben darum wird dem epischen Helden nicht einmal ein scharfer Charakter zugemutet. Im Epos trägt die Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt – ob er gleich dann unter oder in sie begraben wird. Dem Epos ist das Wunder unentbehrlich; denn das Weltall herrscht, das selber eines ist, und worin alles, mithin auch die Wunder sind; auf seiner Doppelbühne von Himmel und Erde kann alles vorgehen und daher kein einzelner Held der Erde sie beherrschen, ja nicht einmal ein Held des Himmels allein, oder ein Gott, sondern Menschen und Götter zu gleich. Daher ist im Epos die Episode kaum eine, so wie es in der Weltgeschichte keine gibt, und in der Messiade ist der ganze eilfte Gesang (nach Engel) eine Episode und eine beschreibende dazu; daher kann das Epos keinen neuern Helden, sondern bloß einen gealterten gebrauchen, der schon in den fernen Horizont-Nebeln der tiefen Vergangenheit wohnt, welche die Erde mit dem Himmel verflößen. Um so weniger wundere man sich bei so schwierigen Bedingungen des Stoffes, daß die meisten Länder nureinen epischen Dichter aufweisen und manche gar keinen, wie nicht nur Frankreich, sondern sogar Spanien, welches letzte sonst in seinen späteren Romanen epischen Geist genug beweiset, so wie jenes in seinen früheren. Im Lustspiel – als dem umgekehrten oder verkleinerten Epos und also Verhängnis – spielet wieder der Zufall ohne Hinsicht auf Schuld und Unschuld. Der Musen-Gott des epischen Lebens besucht, in einen kleinen Scherz verkleidet, eine kleine Hütte; und mit den unbedeutenden leichten Charakteren der Komödie, welche die Fabel nicht bezwingen, spielen die Windstöße des Zufalls.

§ 64. Wert der Geschichtfabel
§ 64
Wert der Geschichtfabel

Wer die Schöpfung der Geschichtfabel für leicht ausgibt, tut es bloß, um sich dieser Schöpfung-Mühe und Wagschaft unter mehr Vorwand durch das Entlehnen aus der Geschichte zu überheben.

[233] Die epische Fabel war ohnehin von jeher die Blüte der Geschichte (z.B. bei Homer, Camoens, Milton, Klopstock), und das Große, was sie brauchte und borgte, konnt' ihr kein Erdichter verleihen; die epische Muse muß eine breite historische Welt haben, um auf ihr stehend eine dichterische zu bewegen.

Die Trauerspiele finden wir beinahe alle aus der Geschichte entnommen; und bloß viele schlechte, selber von Meistern, sind rein erdichtet. Welche Erfindung-Foltern steht nicht schon der gemeine Romanenschreiber aus, der doch auf der breiten Fläche der epischen Fabel umherrinnt und so viel zu seiner Geschichte aus der wirklichen stiehlt, als er nur weiß, obwohl ein anderer nicht! – Daß er eben über die ganze Unendlichkeit möglicher Welten von Ständen, Zeiten, Völkern, Ländern, Zufällen kombinierend zu gebieten und nichts Festes hat als seinen Zweck und seine ihm angebornen Charaktere, diese Fülle drückt den Mann. Wenn er, der jetzo die ersten Zweige sucht, woran sein Gewebe zum Abspinnen gehängt werden muß, bedenkt, welche Waldungen dazu vor ihm liegen – und wie man nach Stahls Kombinationlehre die Permutationzahl findet, wenn man die n Elemente ineinander multipliziert, wie daher drei Spieler im L'hombre 273438880 verschiedene Spiele bekommen können – und wie es dieser Zitation gar nicht bedarf, da ja aus so wenigen Buchstaben alle Sprachen entstanden sind – und wie Jacobi den absoluten Ubiquitisten im Überfluß und Meere des unendlichen Raums gerade keinen ersten Standpunkt zulässet und ausfindet; – und wenn der Mann weiter erwägt, daß er, um nur ein wenig anzufangen und zu versuchen, mit dem Blicke gegen alle Kompaßpunkte der Möglichkeit versuchend ausfliegen und mit einigen Urteilen zurückkommen muß: so ist wohl kein Wunder, daß er lieber das Beste stiehlt, als das Schwerste selber macht; denn hat er endlich alle Endpunkte, alle Charaktere und alle Lagen entschieden und alle Richtungen gerichtet und gezählt: so muß er in der ersten Szene unbekannte Menschen und Bestrebungen erst verkörpern und beseelen.

Ein Dichter, der sich diese Schöpfung aus nichts durch ein fertiges historisches Welt-Teilchen erspart, hat bloß das Entwicklungsystem [234] (Epigenesis) zu befolgen. Dieses muß aber auch ein Dichter durchmachen, der eine Fabel rein erschafft; denn gleich dieser Erdkugel ist die Gestalt, worin seine Schöpfung blühend erscheint, nur die letzte Revolution derselben, welche ihre Vorgängerinnen noch genug durch unterirdische Reste bezeichnet. Es ist unendlich leichter, gegebene Charaktere und Tatsachen zu mischen, zu ordnen, zu ründen, als alles dieses auch zu tun, aber sich beide erst zu geben. Vollends ein Kunstwerk, d.h. eine Gruppierung zum zweiten Male zu gruppieren – z.B. der dritte Verfasser des Ion zu sein (denn die Geschichte war der erste) –, das ist durchaus etwas anderes und Leichteres, als mit der Gewalt der Wirklichkeit eine neue Geschichte aufzudringen.

Denn es kommt noch dazu, daß sich der borgende Dichter zwei Dinge schenken lässet, Charaktere undWahrscheinlichkeit. Ein bekannt-historischer Charakter, z.B. Sokrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und setzt sein Kognito voraus; ein Name ist hier eine Menge Situationen. Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung, welche im Erdichtungfalle erst ihn selber ausschaffen mußten. Denn kein Dichter darf Charakter-Gepräge und Kopf einschmelzen und einen zweiten auf dem Gold ausprägen. Unser Ich empört sich gegen Willkür, an einem fremden verübt; einen Geist kann nur er selber ändern. Wenn Schiller doch einige alte Geister umbog: so hatt' er entweder die Entschuldigung und Hoffnung fremder historischer Unbekanntschaft oder – unrecht. Wozu denn geschichtliche Namen, wenn die Charaktere so umgegossen werden dürften als die Geschichte und folglich nichts Historisches übrig bliebe als willkürliche Ähnlichkeit? Ich sagte noch, Wahrscheinlichkeit borge sich der Dichter von der – Wahrheit. Die Wirklichkeit ist der Despot und unfehlbare Papst des Glaubens. Wissen wir einmal, dieses Wunder ist geschehen: so wird diese Erinnerung dem Dichter, der die historische Unwahrscheinlichkeit zur poetischen Wahrscheinlichkeit erheben muß, die halbe Mühe des Motivierens ersparen – ja er selber wird im dunkeln Vertrauen auf Wahrheit uns mehr zumuten und kecker in uns greifen. Erwartung ist poetischer und kräftiger als Überraschung; aber jene [235] wohnt in der geschichtlichen, diese in der erdichteten Fabel. – Und warum erwählet denn überhaupt der Dichter eine Geschichte, die ihn, insofern er sie erwählt, doch stets auf eine oder die andere Weise beschränkt und ihn noch dazu der Vergleichung bloßstellet? Kann er einen angeben, der nicht die Kräfte der Wirklichkeit anerkenne? – Sobald es einmal einen Unterschied zwischen Erträumen und Erleben zum Vorteil des letzten gibt: so muß er auch dem Dichter zugute kommen, der beide verknüpft. Daher haben denn auch alle Dichter, vom Homer bis zum lustigen Boccaz, die Gestalten der Geschichte in ihre dunkeln Kammern, in ihre Vergrößerung- und Verkleinerung-Spiegel aufgefangen;- sogar der Schöpfer Shakespeare hat es getan. Doch dieser große, zum Weltspiegel gegossene Geist, dessen lebendige Gestalten uns früher überwältigen, als wir die historischen Urstoffe und Ahnen später im Eschenburg und andern Novellisten kennen lernen, kann nicht verglichen werden; wie der zylindrische Hohlspiegel stellet er seine regen, farbigen Gestalten außer sich in die Luft unter fremdes Leben und hält sie fest, indes uns das historische Urbild verschwindet; hingegen die planen und platten Spiegel zeigen nur in sich ein Bild, und zu gleicher Zeit sieht man außer ihnen die Sache, Novelle, Geschichte sichtbar stehen.

§ 65. Fernere Vergleichung des Drama und des Epos
§ 65
Fernere Vergleichung des Drama und des Epos

Das Epos schreitet durch äußere Handlung fort, das Drama durch innere, zu welchen jenes Taten, dieses Reden hat. Daher die epische Rede eine Empfindung bloß zu schildern 157 braucht, die dramatische aber sie enthalten muß. Wenn also der Heldendichter die ganze Sichtbarkeit – Himmel und Erde – und Kriege und Völker – auf seiner Lippe trägt und bringt: so darf der Schauspieldichter mit dieser Sichtbarkeit die Unsichtbarkeit, das Reich der Empfindungen, nur leicht umkränzen. Wie kurz und unbedeutend [236] wird eine Schlacht, ein großer Prachtzug vor der Einbildung des dramatischen Lesers durch eine Zeitung-Note vorübergeführt, und wie kräftig hingegen schlagen die Worte der Geister! Beides kehrt sich im Epos um; in diesem schafft und hebt die Sichtbarkeit das innere Wort, das Wort des Dichters das des Helden, wie umgekehrt im Drama die Rede die Gestalt. Weit objektiver als das Epos ist – die Person des Dichters ganz hinter die Leinwand seines Gemäldes drängend – daher das Drama, das sich ohne sein Zwischenwort in einer epischen Folge lyrischer Momente ausreden muß. Wäre das Drama so lang als ein epischer Gesang, so würd' es weit mehre Kräfte zu seinen Siegen und Kränzen brauchen als dieser. Daher wurde das Drama bei allen Völkern ohne Ausnahme erst in den Jahren ihrer Bildung geboren, indes das Epos zugleich mit der Sprache entsprang, weil diese anfangs (nach Platner) nur das Vergangne ausdrückte, worin ja das epische Königreich liegt.

Sonderbar, aber organisch ist die Mischung und Durchdringung des Objektiven und Lyrischen im Drama. Denn nicht einmal ein Mitspieler kann mit Wirkung den tragischen Helden schildern; der Dichter erscheint sonst als Seelen-Souffeur; alles Lob, welches dem Wallenstein ein ganzes Lager und darauf eine ganze Familie zuerkennt, verfliegt entkräftet und mehr den Redner als den Gegenstand hebend und als etwas Äußerliches, weil wir alles aus dem Innern wollen steigen sehen; indes in dem Epos, dem Gebiete des Äußerlichen, die Lobsprüche der Neben-Männer gleichsam als eine zweite, aber hörbare Malerei dem Helden glänzen helfen. Das Dasein des Lyrischen zeigen – außer den Charakteren, deren jeder ein objektiver Selbst-Lyriker ist – besonders die alten Chöre, diese Urväter des Drama, welche in Äschylus und Sophokles lyrisch glühen; Schillers und anderer Sentenzen können als kleine Selbst-Chöre gelten, welche nur höhere Sprichwörter des Volks sind; daher Schiller die Chöre, diese Musik der Tragödie, wieder aufführt, um in sie seine lyrischen Ströme abzuleiten. Den Chor selber muß jede Seele, welche der Dichtkunst eine höhere Form als die bretterne der Wirklichkeit vergönnt, mit Freuden auf dem Druckpapier aufbauen; ob auf der rohen Bühne vor [237] rohen Ohren und ohne Musik, das braucht, wenn nicht Untersuchung, doch Zeit.

Man vergebe mir ein Nebenwort. Noch immer impfet man den Schauspieldichter zu sehr auf den Schauspiel-Spieler, anstatt beide zu ablaktieren als Doppelstämme eines Blütengipfels. Alles, was der Dichter uns durch die Phantasie nicht reicht, das gehört nicht seiner Kunst, sondern, sobald man es durch das Auge auf der Bühne bekommt, einer fremden an. Der eitle Dichter unterschiebt gern die Künste einander, um aus dem allgemeinen Effekt sich so viel zuzueignen, als er braucht. Gut angebrachte Musik eine Schar Krieger – eine Kinder-Schar – ein Krönung-Zug irgendeinsichtbares oder hörbares Leiden gehört, wenn es ein Lorbeerblatt abwirft, nicht in den Kranz des Dichters, obwohl in den Kranz des Spielers oder Bühnen-Schmückers, – so wenig als sich ein Shakespeare die Verdienste der Shakespeares-Gallery, oder ein Schikaneder die der mozartischen Zauberflöte zueignen darf. – Die einzige Wasser-Probe des dramatischen Dichters ist daher die Leseprobe. 158

§ 66. Epische und dramatische Einheit der Zeit und des Orts
§ 66
Epische und dramatische Einheit der Zeit und des Orts

Große Unterschiede durch Wegmesser ergeben sich hier für den Gang beider Dichtungarten. Das Epos istlang und lange zu gleich, breit und schleichend; das Drama läuft durch eine kurze Laufbahn noch mit Flügeln. Wenn das Epos nur eine Vergangenheit malt und eine äußere Welt, das Drama aber Gegenwart und innere Zustände: so darf nur jene langsam, diese darf nur kurz sein. Die Vergangenheit ist eine versteinerte Stadt; – die Außen-Welt, die Sonne, die Erde, das Tier- und Lebenreich stehen auf ewigem Boden. Aber die Gegenwart, gleichsam das durchsichtige Eisfeld zwischen zwei Zeiten, zerfließt und gefrieret in gleichem Maße, und nichts dauert an ihr als ihr ewiges Fliehen – Und die innere Welt, welche die Zeiten schafft und vormißt, verdoppelt und beschleunigt sie daher; in ihr ist nur das Werden, wie in der [238] äußern das Sein nur wird; Sterben, Leiden und Fühlen tragen in sich den Pulsschlag der Schnelligkeit und des Ablaufs.

Aber noch mehr! Zur dramatischen lyrischen Wechsel-Schnelle des Innern und des Jetzos tritt noch die zweite äußere der Darstellung. Eine Empfindung – einen Schmerz – eine Entzückung zu versteinern oder ins Wachs des Schauspielers zum Erkalten abzudrücken: gäb' es etwas Widrigeres? Sondern, wie die Worte fliehen und fliegen, so müssens die Zustände. Im Drama ist eine herrschende Leidenschaft; diese muß steigen, fallen, fliehen, kommen, nur nicht halten.

Ins Epos können alle hineinspielen, und diese schlüpfrigen Schlangen können sich alle zu einer festen Gruppe verstricken. Im Drama kann die Zahl der Menschen nicht zu klein 159, wie im Epos nicht zu groß sein. Denn da sich dort nicht, wie hier, jeder Geist entwickeln kann, weil jeder für die innern Bewegungen zu viel Spielraum und Breite bedürfte: so wird entweder durch allseitige Entwicklung die Zeit verloren, oder durch einseitige die Spiel-Menge. Man hat noch zu wenig aus der Erlaubnis der Vielheit epischer Mitspieler auf die Natur des Epos geschlossen.

Das erste rechte Heldengedicht ließ auf einmal zwei Völker spielen; wie das erste rechte Trauerspiel zwei Menschen (die Odyssee, gleichsam der epische Ur-Roman, ersetzt bei der Einschränkung auf einen Helden die Menge der Spieler durch die Menge der Länder). Je mehr nun Mitarbeiter an einem Ereignis, desto weniger abhängig ist dieses von einem Charakter, und desto vielseitigere Wege bleiben dem Einspielen fremder mechanischer Weltkräfte aufgetan. Der Maschinengott selber ist uns auf einmal viele Menschen zugleich geworden.

Mit der notwendigen Minderzahl der Spieler im Drama ist für die Einheit der dramatischen Zeit gerade so viel bewiesen, als gegen die Einheit des dramatischen Orts geleugnet. Denn ist einmal Gegenwart der zeitliche Charakter dieser Dichtart: so steht es nicht in der Macht der Phantasie, über eine gegenwärtige Zeit, welche ja eben durch uns allein erschaffen wird, in eine künftige [239] zu flattern und unsere eigenen Schöpfungen zu entzweien. Hingegen über Örter, Länder, die zu gleicher Zeit existieren, fliegen wir leicht. Da auf einmal mit dem Helden Asia, Amerika, Afrika und Europa existieren: so kann es, weil die Dekoration doch die Orte verändert, uns einerlei sein, in welchen von den gleichzeitigen Räumen der Held verfliege. Hingegen andere Zeiten sind andere Seelen-Zustände – und hier fühlen wir stets den Schmerz des Sprungs und Falls.

Daher dauert bei Sophokles das wichtigste Zeitspiel oft vier Stunden. Aristoteles fodert einen Tag oder eine Nacht als die dramatische Spiel-Grenze. Allerdings fällt er hier in den ab- und wegschneidenden Philosophen. Denn wird nur die innere Zeit der Wechsel der Zustände – rein durchlebt, nicht nachgeholt: so ist jede äußere so sehr unnütz, daß ohne die innere ja sogar der kleine Sprung von einem aristotelischen Morgenstern bis zum Abendstern eine gebrochne Zeit-Einheit geben würde. – Überhaupt bedenke sogar der dramatische Dichter in seinem Ringen nach Ort- und Zeit-Einheit, daß Zeit und Ort bloß vom Geiste, nicht vom Auge – das im äußern Schauspiele nur die Abschattung des innern erblickt – gemessen werden; und er darf, hat er nur einmal Interesse und Erwartung für eine Ferne von Zeit und Ort hoch genug entzündet und diese durch Ursach-Verkettung mit dem Nächsten gewaltsam herangezogen, die weitesten Sprünge über die Gegenwart wagen; – denn geflügelt springt man leicht.

§ 67. Langsamkeit des Epos; und Erbsünden desselben
§ 67
Langsamkeit des Epos; und Erbsünden desselben

Aber wie anders steht alles im Epos! Hier werden die Sünden gegen die Zeit vergeben und die gegen den Ort bestraft. Aber mit Recht beides! In der Vergangenheit verlieren die Zeiten die Länge, aber die Räume behalten sie.

Der Epiker, er fliege von Land in Land, zwischen Himmel und Erde und Hölle auf und ab: er muß wenigstens den Flug und den Weg abmalen (der Dramatiker überträgts dem außer-dichterischen Bühnenschmücker), und in einem Roman (dem Wand-Nachbar [240] des Epos) ist das schnelle Ort-Datum von einer andern entlegnen Stadt so widrig als in Shakespeare das fremde Zeit-Datum. Dem Epos, das die Vergangenheit und die stehende Sichtbarkeit der Welt aufstellt, ist langsame Breite erlaubt. Wie lange zürnt Achilles, wie lange stirbt Christus! Daher die Erlaubnis der ruhigen Ausmalerei eines Achilles-Schildes, daher die Erlaubnis der Episode. Die gefoderte Menge der Mitspieler hält, wie die Menge der Uhrräder, den Gang der Maschine an; denn jede Nebenfigur will Raum zu ihrer Bewegung haben; eigentlich aber wird die Handlung nicht langsamer, nur breiter, nicht verlängert, sondern vervielfacht. Insoferne Romane episch sind, haben sie das Gesetz der Langsamkeit vor und für sich. Der sogenannte rasche Gang, den der unverständige Kunstrichter als ein verkappter Erholung-Leser fodert, gebührt der Bühne, nicht dem Heldengedicht. Wir gleiten über die Begebenheiten-Tabelle der Weltgeschichte unangezogen herab, indes uns die Heirat einer Pfarrtochter in Vossens Luise umstrickt und behält und erhitzt. Das lange Umherleiten der Röhre des Ofens erwärmt, nicht das heftige Feuer. So rauschen im Candide die Wunder oder wir vor ihnen ohne Teilnahme vorüber, wenn in der Klarisse die langsam heraufrückende Sonne uns unendlich warm macht. Wie in jener Fabel siegt die Sonne über den Sturm und nötigt den Mantel ab. Yoricks ganze Reise in Frankreich besteht in drei Tagen; das ganze fünfte Buch des Don Quixote füllet ein Abend in einer Schenke. – Aber die Menschen, besonders lesende, dringen sehr auf Widersprüche. Die interessanteste Geschichte ist stets die weitläuftigste; diese ist aber auch die langsamste; und gerade darum begehrt sie der Leser desto beschleunigter; wie das Leben soll das Buch zugleich kurz und lang sein. Ja, jede schnelle Befriedigung reizt seinen Durst nach einer noch schnellern. Sollt' es nicht auch eine ästhetische Tugend der Mäßigkeit geben? Und geziemet geistiger Heißhunger und Heißdurst einem wohlgeordneten Geiste?

Oft ist der langsame Gang nur ein Schein der Exposition. Wenn in der Exposition des ersten Kapitels im Roman – so wie es immer im Epos geschieht – den Lesern gleichsam die ganze ferne Stadt schon entwölkt und aufgestellt wird, auf welche ein [241] Weg von vier starken Bänden (sie sehen immer die Stadttürme) sicher und gerade hinführt – wie ein uns sehr wohl bekannter Autor im Titan und sonst tat und tut –: so klagt man allgemein unterwegs, weil man hoffen dürfen – sagt man –, schon im zweiten Kapitel anzulangen und mithin das Buch zuzumachen. Glücklicher und kurzweiliger sind die Schreiber, welche in ihren Werken spazieren gehen und nicht eher als die Leser selber erfahren, wo sie eintreffen und bleiben!

Nur dann schleicht die Handlung, wenn sie sich wiederholt; und sie stockt nur dann, wenn eine fremde statt ihrer geht; nicht dann aber, wenn die große in der Ferne in immer kleinere in der Nähe, gleichsam der Tag in Stunden, auseinanderrückt; oder wenn sie mit einem Widerstande ringt und auf einer Stelle bleibt; denn wie in der Moral ist der Wille hier mehr als der Erfolg. Aber gleichwohl verdient Herders lange bitterliche, fast komische Klage über seine und fremde Neigung, bei einem Epos einzuschlafen, hier Erwägung, ja einige Rechtfertigung. Herders bekannten Gründen läßt sich noch dieser beifügen. Es geht nämlich dem epischen Gedichte viele Teilnahme nicht sowohl durch dessen angeborne Wunderwirtschaft verloren – denn Wunder auf Erden sind Natur im Himmel – als durch dessen Kälte, ja Härte gegen die beiden Leibnizischen Sätze des Grundes und des Widerspruchs oder gegen den Verstand, dessen Freundschaft man so sehr zum Motivieren zu suchen hat. – Nur Homer, die erste Ausnahme unter allen Dichtern, bleibt wohl auch hier die letzte; er mag wagen, wie er will, so wagt er kaum. Die Ilias gibt allerdings im Doppelkriege der Götter und Menschen für- und gegeneinander eigentlich die Menschen den Göttern preis, und die Götter wieder dem Göttervater als dem Allmächtigen; und überall könnte Jupiter als Maschinen-, Menschen- und Götter- Gott den Krieg in der ersten Zeile der Anrufung entschieden haben; aber die Götter sind bei Homer nur höhere Menschen, welche wieder nur mit menschlichen Mitteln (Träume, Zureden) die niedern bewegen; – der Olymp ist nur die Fürstenbank, und die Oberwelt ist die Bürgerbank, und die handelnden Wesen sind, wie auf der Erde, nur durch Grad unterschieden; – ferner: [242] die Leidenschaften spalten den Himmel so wie die Erde in zwei Teile, und diese vier Durchkreuzungen verstecken jede Maschinengötterei hinter Handlungen; – ferner: wie die Bürgerbank länger und wirkender als die Fürstenbank ist, so ist in der Ilias das Menschenvolk das immer fortfechtende Heer, und die Götter sind nur Hülftruppen – und man fürchtet und hofft (so schön sind die Wunder gemildert) mehr die Macht der Menschen als die Allmacht der Götter; – ferner waren ja den Sagen der Griechen die Götter nur frühere Bewohner und Mitspieler auf dem Erdenschauplatz, und mithin war deren späteres Eingreifen in eine Heldengeschichte so wenig ein Maschinenwunder als das Eingreifen eines eben gebornen Tatengenies in die jetzo laufende oder zurücklaufende Weltgeschichte; und endlich wurde durch den Held Achilleus, der zugleich Halbgott und Halbmensch war, das Götter- und Menschengedicht schön-mitspielend ebenso zu einer Mensch-Gottheit gehälftet, und es wurde darnach dessen festgegründetem Erdboden der bewegende Himmel zugemessen. Gleichwohl ließen sich doch die ästhetischen Bedenklichkeiten machen, daß Homer sich im Himmel eine willkürliche Hülfe bereithalte für die Erde, eine Pallas, welche den Diomedes mit Siegen über Menschen und Mars beschenkt, einen Apollon, der Gräben füllt und Mauern stürzt, und sogar einen Jupiter, der den Mitkampf der Götter eigenmächtig bald aufhebt, bald freigibt. Aber auf der andern Seite wird Jupiter selber wieder von dem ohne allen Leibnizischen Satz des Grundes entscheidenden und entschiednen Schicksal regiert, welches die Erd- und Himmel-Achse ist, um die sich Menschen und Götter drehen. Und sind nicht jeder, sogar kleinster Erzählung unvermittelte vermittelnde Gewalten unentbehrlich? – Der für Homer entscheidende Preis ist wohl, daß uns mitten in unserem Unglauben an seine Götter, als die frühern Übermenschen, doch deren Machtvollkommenheiten nicht stören.

Ganz anders geht es uns mit dem Land- und Insel-und Seefahrer, dem schönen süßen Halbhelden der Äneide, die so gut wie von einem Paris die Parisiade oder Pariade heißen könnte. Mit der Mattigkeit desselben wächst zugleich die Notwendigkeit und [243] Zahl und Unleidlichkeit der Hülfgötter. Virgil hätte also recht gehabt, daß er dieses Heldengedicht zum Feuer-Tode des Herkules verdammte, wenn dadurch am Gedichte, wie am Herkules, nur der sterbliche Teil eingeäschert worden, nämlich Äneas, der unsterbliche aber (die Episoden und Beschreibungen) zum Vergöttern geblieben wäre.

Aber noch mehr verlorner Verstand regiert in Miltons verlornem Paradies. Der Krieg der geschlagnen Teufel gegen den Allmächtigen ist, sobald dieser nicht selber seine Feinde unterstützt und krönt, ein Krieg der Schatten gegen die Sonne, des Nichts gegen das All; so daß dagegen bloße Ungereimtheiten fast verschwinden, solche wie z.B. eine gefährliche Kanonade zwischen Unsterblichen – die einfältigen Schildwachen und Schweizer von Engeln vor dem Edentore, damit die Teufel nicht waagrecht einschleichen, welche dafür nachher steilrecht anlangen, u.s.w. Aber man braucht diesem großen Dichter nur seine Hülfmaschinen von Hülfengeln wegzunehmen, so ist ihm geholfen, und durch die Menschen wird er göttlicher als durch die Engel.

Das deutsche Epos trieb es am weitesten, und zwar, wie die deutsche Philosophie, nicht zum Erlassen, sondern gar zum Vernichten des Verstandes Das Verhältnis des Gottsohns zum Gottvater – eigentlich zwei Helden in einem Gedicht – die Allmacht und Macht beider über Engel, Teufel und Menschen – die Unmöglichkeit der kleinsten Abweichung des Messias vom ewigen Willen – das ganze Item des Gedichts, der sinnlichen Widersprüche nicht zu gedenken, daß derselbe Zorn über die Menschen abgeteilt nur im Vater-Gott, nicht auch im Sohn-Gott wohne alles dies wurde von den Lesern der Messiade schon zum ersten Male zu oft gesagt und geklagt; jeder wurde von der Hauptgeschichte so lange gestört, bis Episoden sie ablösten. Die alte Orthodoxie ist hier das homerische Schicksal; aber nur schlimmer; denn dieses gibt, wie die Oper, nur sinnliche Unbegreiflichkeiten, jene aber metaphysische; und eine Unbegreiflichkeit kann so wenig motivieren als motiviert werden.

Alles dieses lädt eben der epischen Langsamkeit eine neue Schwere auf, und Herder und wir schlafen watendfahrend auf [244] dem tiefen Sandweg ein. Denn da das Heldengedicht einmal so sehr die Freiheiten der epischen (gallikanischen) Kirche benützt und also, anstatt des Motivierens durch Tatsachen, so oft nur englischen Gruß und unbefleckte Empfängnis ihrer Göttersöhne und Göttertaten darbietet: so zieht sich die unmotivierte Hauptfabel fast zu einem geschmackvollen Rahmen der motivierten Episoden ein und zurück, welche dann als Gemälde breiter ausfallen als selber der beste goldne Rahm. Dies aber kann am Ende Länge geben, diese Nachbarin der Langsamkeit, und zur Unabsehbarkeit der epischen Fabel trifft noch die ebenso weite möglicher Episoden.

Herder rechnet viel von seiner epischen Schläfrigkeit dem fortgehaltenen Eintone des Silbenmaßes an; aber dieser geht doch auch durch viele Dramen ohne Nachteil hindurch, und Eintönigkeit gibt wie im Leben anfangs Genuß, dann Langweile, endlich Angewöhnung. Der rechte Grund, das wahre Kopfkissen, das die Leser oft zu Schlafgesellen schlafender Homere macht, ist das Stehen und Schleichen der Handlung. Episoden verträgt und verlangt lieber der Anfang als später Mitte und Ende bei dem gewachsenen Interesse; aber gleichwohl ist, wie schon gedacht, der ganze eilfte Gesang der Messiade eine beschreibende Episode. Dieses farniente des Lesers nimmt im Messias immer mehr gegen das Ende durch die Schwanengesänge der Engel zu, welche den Leser zu einem wohlgebildeten Endymion umzaubern und einsingen. Nur dadurch fielen die Freunde der ersten Gesänge von den letzten, ungeachtet aller Pracht der Versbauten, erkältet ab, obgleich der Anfang des Gedichtes nur Leser, die erst zu versöhnen und zu bilden waren, antraf, das Ende aber schon zugebildete und versöhnte fand.

§ 68. Motivieren
§ 68
Motivieren

Das Motivieren ist selber zu motivieren, könnte man oft sagen. Was kann es heißen, als die innere Notwendigkeit in der äußern Aufeinanderfolge anschauen lassen! Es ist auf vier Arten möglich – daß erstlich entweder innere Erscheinungen durch äußere entstehen,[245] oder zweitens äußere durch innere, oder drittens äußere durch äußere, oder viertens innere durch innere – Aber es gibt Bedingungen: die physische Welt bedarf, als der Kreis des Zufalls, wenigen Motivierens; ich habe schon gesagt, daß der Autor die Gewalt und das Geheimnis besitzt, z.B. nach Gefallen einen Sohn oder eine Tochter zu zeugen. Ein uns allen sehr wohl bekannter Autor beging oft den Fehler, z.B. ein Gewitter zu motivieren durch Wetteranzeigen vorher; aber er wollte vielleicht dabei mehr den seltenen Wetterpropheten zeigen als den gewöhnlichen Dichter.Unbedeutende geistige Handlungen bedürfen ebensowenig des Bewegmittels; so hatte z.B. der Verfasser der Reisen ins mittägliche Frankreich gar nicht nötig, das Hervorziehen eines auf der Brust liegenden Bildes durch besondern Schmerz des Drucks den Kunstrichtern in etwas wahrscheinlich zu machen. Freilich der Künstler, mehr sich seiner Willkür und deren verschiedenen möglichen Richtungen bewußt und, ungleich dem Leser, weniger den Eindruck des Vergangenen fühlend als die Wirkung der Zukunft, motivieret leicht zu viel. Allein eben die überflüssige Ursächlichkeit erinnert an die Willkür; wir wollen am Ende Motive und Ahnen des Motivs haben; und zuletzt müßte der Dichter mit uns in die ganze Ewigkeit hinter uns (a parte ante) zurück- und hinauslaufen. Nein, wie der Dichter, gleich einem Gotte, vorn am ersten Tage der Schöpfung seine Welt setzt, ohne weitern Grund als den der Allmacht der Schönheit: so darf er auch mitten im Werke da, wo nichts Altes beantwortet oder aufgehoben wird, den freien Schöpfung-Anfang wiederholen.

Je niedriger der Boden und die Menschen eines Kunstwerks und je näher der Prose: desto mehr stehen sie unter dem Satze des Grundes.

Glänzt aber die Dichtung von Gipfeln herab; stehen die Helden derselben wie Berge in großem Licht und haben Glieder und Kräfte des Himmels: um desto weniger gehen sie an der schweren Kette der Ursächlichkeit – wie in Göttern ist ihre Freiheit eine Notwendigkeit, sie reißen uns gewaltig ins Feuer ihrer Entschlüsse hinauf; und ebenso bewegen sich die Begebenheiten der [246] Außenwelt in Eintracht mit ihren Seelen. Die Poesie soll überhaupt uns nicht den Frühling erbärmlich und mühsam aus Schollen und Stämmen vorpressen, indem sie eine Schneekruste nach der andern wegleckt und Gras nach Gras endlich vorzerret; sondern sie soll ein fliegendes Schiff sein, das uns aus einem finstern Winter plötzlich über ein glattes Meer vor eine in voller Blüte stehende Küste führt. Für das luftige ätherische Geisterreich der Poesie ist der Prozeßgang der Reichgerichte der Wirklichkeit viel zu langsam: die Sylphide will auf keiner Musen-Schnecke reiten.

Das Epos bedarf weniger Motivierungen als das Drama, nicht nur, weil dort höhere Gestalten in höherem Elemente gehen, sondern auch, weil sich dort mehr die Welt, hier aber die Menschen entwickeln.

Das Bewegmittel muß aber nicht nur eine fremde Notwendigkeit enthalten, auch eine eigne. Es muß der Vergangenheit so scharf angehören als ihm die Zukunft. Dies ist das Schwerste. Der ganze innere Kettenschluß oder die Schlußkette muß sich in die Blumenkette der Zeit verkleiden, alle Ursachen sich in Stunden und Orte. Daher sind die willkürlichsten und schlechtesten Motivierungen der Begebenheiten – weniger der Entschlüsse die durch das Gespräch; wohin kann sich nicht der Fluß der Rede verirren, zersplittern, versprützen! Wenn man einen Wassertropfen braucht, um glühendes Kupfer aufzusprengen: wo ist er noch leichter zu schöpfen? – Bloß im Weiberauge, vollends von Weiberlippen begleitet. – Das Kunstgespräch muß, wie ein englischer Garten, mit aller Freiheit seiner Windungen die gerade Einheit zum Ziele verfolgen und verknüpfen; Fragen, Antworten sind innere Taten; diese werden Mütter neuer Fragen und Antworten, also neuer Töchter, und so könnte ein kurzes Gespräch eine ganze umgekehrte und alles umstürzende Tatenkette in zehn Zeilen ausschmieden; und es ginge von Willkür zu Willkür fort, wenn nicht der Dichter gerade diesen Schein dialogischer Freilassung als Decke über das scharfe Fortführen der alten, früher angelegten Gesinnungen und Taten zu werfen und zu breiten versuchte. Im Kunstwerk regiert die Vergangenheit, weniger die Gegenwart, mehr die Zukunft.

[247] Viele kleinere Bewegmittel für eine Sache wirken – wie im Leben (schon weil sie nicht sowohl anzuschauen sind als bloß einzusehen) nicht halb so reich als ein gewichtiges, das den Geist treibt und füllt; es ist aber eben, wie wir alle in und außer Kanzeln wissen, leichter, hundert schwache Gründe zu geben als einen starken.

Manche, z.B. Schiller, machen verschloßne versteckte Charaktere zu Segelmitteln ihrer Handlung, weil sie die Verstellung aus entgegengesetzten Kompaßpunkten für entgegengesetzte Ziele können blasen lassen.

Demantharte Stärke eines Charakters versteinert Dichter und Handlung, weil er schon alles auf der Schwelle entscheidet. Wasserweiche Schwäche tut noch mehr Schaden, weil in ihr die Handlung zerschwimmt und ohne Anhalt umhertreibt.

Der Charakter als solcher läßt sich darum nicht motivieren, weil etwas Freies und Festes im Menschen früher sein muß als jeder Eindruck darauf durch mechanische Notwendigkeit, sobald man nicht unendliche Passivität, d.h. die Gegentätigkeit eines Nichts annehmen will. Manche Schreiber machen die Wiege eines Helden zu dessen Ätzwiege und Gießgrube – die Erziehung will die Erzeugung motivieren und erklären – die Nahrung die Verdauungkraft – –; aber in dieser Rücksicht ist das ganze Leben unsere Impfschule; inzwischen setzt diese ja eben die Samenschule voraus.

12. Programm. Über den Roman
§ 69. Über dessen poetischen Wert
§ 69

Über dessen poetischen Wert


Der Roman verliert an reiner Bildung unendlich durch die Weite seiner Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können. Ursprünglich ist er episch; aber zuweilen erzählt statt des Autors der Held, zuweilen alle Mitspieler. Der Roman in [248] Briefen, welche nur entweder längere Monologen oder längere Dialogen sind, grenzet in die dramatische Form hinein, ja wie in Werthers Leiden, in die lyrische. Bald geht die Handlung, wie z.B. im Geisterseher, in den geschlossenen Gliedern des Drama; bald spielet und tanzet sie, wie das Märchen, auf der ganzen Weltfläche umher. – Auch die Freiheit der Prose fließet schädlich ein, weil ihre Leichtigkeit dem Künstler die erste Anspannung erlässet und den Leser vor einem scharfen Studium abneigt. – Sogar seine Ausdehnung – denn der Roman übertrifft alle Kunstwerke an Papier-Größe – hilft ihn verschlimmern; der Kenner studiert und mißt wohl ein Drama von einem halben Alphabet, aber welcher ein Werk von zehn ganzen? Eine Epopöe, befiehlt Aristoteles, muß in einem Tage durchzulesen sein; Richardson und der uns wohl bekannte Autor erfüllen auch in Romanen dieses Gebot und schränken auf einen Lesetag ein, nur aber, da sie nördlicher liegen als Aristoteles, auf einen solchen, wie er am Pole gewöhnlicher ist, der aus 90 1/4 Nächten besteht. – Aber wie schwer durch zehn Bände ein Feuer, ein Geist, eine Haltung des Ganzen und eines Helden reiche und gehe, und wie hier ein gutes Werk mit der umfassenden Glut und Luft eines ganzen Klimas hervorgetrieben sein will, nicht mit den engen Kräften eines Treibscherbens, die wohl eine Ode geben können 160, das ermessen die Kunstrichter zu wenig, weil es die Künstler selber nicht genug ermessen, sondern gut anfangen, dann überhaupt fortfahren, endlich elend endigen. Man will nur studieren, was selber weniger studieret werden mußte, das Kleinste.

Auf der andern Seite kann unter einer rechten Hand der Roman, diese einzige erlaubte poetische Prose, so sehr wuchern als verarmen. Warum soll es nicht eine poetische Enzyklopädie, eine poetische Freiheit aller poetischen Freiheiten geben? Die Poesie komme zu uns, wie und wo sie will, sie kleide sich wie der Teufel der Eremiten oder wie der Jupiter der Heiden in welchen prosaischen engen dürftigen Leib; sobald sie nur wirklich darin [249] wohnt: so sei uns dieser Maskenball willkommen. Sobald ein Geist da ist, soll er auf der Welt, gleich dem Weltgeiste, jede Form annehmen, die er allein gebrauchen und tragen kann. Als Dantens Geist die Erde betreten wollte, waren ihm die epischen, die lyrischen und die dramatischen Eierschalen und Hirnschalen zu enge: da kleidete er sich in weite Nacht und in Flamme und in Himmels-Äther zugleich und schwebte so nur halb verkörpert umher unter den stärksten, stämmigsten Kritikern.

Das Unentbehrlichste am Roman ist das Romantische, in welche Form er auch sonst geschlagen oder gegossen werde. Die Stilistiker forderten aber bisher vom Romane statt des romantischen Geistes vielmehr den Exorzismus desselben; der Roman sollte dem wenigen Romantischen, das etwa noch in der Wirklichkeit glimmt, steuern und wehren. Ihr Roman als ein unversifiziertes Lehrgedicht wurde ein dickeres Taschenbuch für Theologen, für Philosophen, für Hausmütter. Der Geist wurde eine angenehme Einkleidung des Leibes. Wie die Schüler sonst in den Schuldramen der Jesuiten sich in Verba und deren Flexionen, in Vokative, Dative u.s.w. verkappten und sie darstellten: so stellten Menschen-Charaktere Paragraphen und Nutzanwendungen und exegetische Winke, Worte zu ihrer Zeit, heterodoxe Nebenstunden vor; der Poet gab den Lesern wie Basedow den Kindern, gebackene Buchstaben zu essen.

Allerdings lehrt und lehre die Poesie und also der Roman, aber nur wie die Blume durch ihr blühendes Schließen und Öffnen und selber durch ihr Duften das Wetter und die Zeiten des Tags wahrsagt; hingegen nie werde ihr zartes Gewächs zum hölzernen Kanzel-und Lehrstuhl gefället, gezimmert und verschränkt; die Holz-Fassung, und wer darin steht, ersetzen nicht den lebendigen Frühlings-Duft. – Und überhaupt was heißet denn Lehren geben? Bloße Zeichen geben; aber voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen, indes der bloße Lehrer mehr unter die Ziffern als Entzifferungs-Kanzlisten gehört.

Ein Mensch, der ein Urteil über die Welt ausspricht, gibt uns [250] seine Welt, die verkleinerte, abgerissene Welt, statt der lebendigen ausgedehnten, oder auch ein Fazit ohne die Rechnung. Darum ist eben die Poesie so unentbehrlich, weil sie dem Geiste nur die geistig wiedergeborne Welt übergibt und keinen zufälligen Schluß aufdringt. Im Dichter spricht bloß die Menschheit, nur die Menschheit an, aber nicht dieser Mensch jenen Menschen.

§ 70. Der epische Roman
§ 70
Der epische Roman

Ungeachtet aller Stufen-Willkür muß doch der Roman zwischen den beiden Brennpunkten des poetischen Langkreises (Ellipse) entweder dem Epos oder demDrama näher laufen und kommen. Die gemeine unpoetische Klasse liefert bloße Lebensbeschreibungen, welche ohne die Einheit und Notwendigkeit der Natur und ohne die romantische epische Freiheit, gleichwohl von jener die Enge entlehnend, von dieser die Willkür, einen gemeinen Welt- und Lebenslauf mit allem Wechsel von Zeiten und Orten so lange vor sich hertreiben, als Papier daliegt. Der Verfasser dieses, der erst neuerlich Fortunatus' Wünschhütlein gelesen, schämt sich fast zu bekennen, daß er darin mehr gefunden nämlich poetischen Geist – als in den berühmtesten Romanen der Stilistiker. Ja, will einmal die Kopier-Gemeinheit in den Äther greifen und durch das Erden-Gewölke: so zieht sie gerade eine Hand voll Dunst zurück; eben die Feinde des Romantischen stellen jenseits ihres Erden- und Dunstkreises gerade die unförmlichsten Gestalten und viel wildere anorgische Grotesken in die Höhe, als je das treue, nur hinter der Fahne der Natur gehende Genie gebären könnte.

Die romantisch-epische Form, oder jenen Geist, welcher in den altfranzösischen und altfränkischen Romanen gehauset, rief Goethens Meister, wie aus übereinander gefallenen Ruinen, in neue frische Lustgebäude zurück mit seinem Zauberstab. Dem epischen Charakter getreu lässet dieser auferstandne Geist einer romantischern Zeit eine leichte helle hohe Wolke vorübergehen, welche mehr die Welt als einen Helden und mehr die Vergangenheit [251] spiegelt oder trägt. Wahr und zart ist daher die Ähnlichkeit zwischen Traum und Roman 161, in welche Herder das Wesen des letzten setzt; und so die zwischen Märchen und Roman, die man jetzo fodert. Das Märchen ist das freiere Epos, der Traum das freiere Märchen. Goethens Meister hat hier einige bessere Schüler gebildet, wie Novalis', Tiecks, E. Wagners, de la Motte Fouques, Arnims Romane. Freilich geben manche dieser Romane, z.B. Arnims, ungeachtet so vieler Glanzstrahlen, doch in einer Form, welche mehr ein Zerstreu- als Sammelglas derselben ist, nicht genug Wärme-Verdichtung des Interesse.

§ 71. Der dramatische Roman
§ 71
Der dramatische Roman

Aber die Neuern wollen wieder vergessen, daß der Roman ebensowohl eine romantisch-dramatische Form annehmen könne und angenommen habe. Ich halte sogar diese schärfere Form aus demselben Grunde, warum Aristoteles der Epopöe die Annäherung an die dramatische Gedrungenheit empfiehlt, für die bessere, da ohnehin die Losgebundenheit der Prose dem Romane eine gewisse Strengigkeit der Form nötig und heilsam macht. Richardson, Thümmel, Wieland, Schiller, Jacobi, Fielding, Engel u.a. gingen diesen Weg, der sich weniger zum Spielraum der Geschichte ausbreitet, als zur Rennbahn der Charaktere einschränkt, desgleichen der Autor, der uns sonst bekannt ist. Diese Form gibt Szenen des leidenschaftlichen Klimax, Worte der Gegenwart, heftige Erwartung, Schärfe der Charaktere und Motive, Stärke der Knoten u.s.w. Der romantische Geist muß ebensogut diesen fester geschnürten Leib beziehen können, als er ja schon den schweren Kothurn getragen und den tragischen Dolch gehoben.

[252]
§ 72. Der poetische Geist in den drei Schulen
§ 72
Der poetische Geist in den drei Schulen der Romanenmaterie, der italienischen, der deutschen und niederländischen

Jeder Roman muß einen allgemeinen Geist beherbergen, der das historische Ganze ohne Abbruch der freien Bewegung, wie ein Gott die freie Menschheit, heimlich zu einem Ziele verknüpfe und ziehe, so wie nach Boyle jedes rechte Gebäude einen gewissen Ton antworten muß; ein bloß geschichtlicher Roman ist nur eine Erzählung. In Wilhelm Meister ist dieser Lebens- und Blumengeist (spiritus rector) griechische Seelen-Metrik, d.h. Maß und Wohllaut des Lebens durch Vernunft 162 – in Woldemar und Allwill der Riesenkrieg gegen den Himmel der Liebe und des Rechts – in Klingers Romanen ein etwas unpoetischer Plage- und Poltergeist, der Ideal und Wirklichkeit, statt auszusöhnen, noch mehr zusammenhetzt – im Hesperus das Idealisieren der Wirklichkeit im Titan steht der Geist vorn kraus auf dem Titel, dann in vier Bänden der ganze Titanenkrieg, aber dem Volke auf dem Markte will er, wie Geister pflegen, nicht erscheinen. Ist der Geist eines Romans eine Tierseele, oder ein Gnome, oder ein Plagegeist: so sinkt das ganze Gebilde leblos oder tierisch zu Boden.

Derselbe romantische Geist findet nun drei sehr verschiedene Körperschaften zu beseelen vor; daher eine dreifache Einteilung der Romane nach ihrer Materie nötig ist. – Die erste Klasse bilden die Romane der italienischen Schule. (Man verzeihe dem Mangel an eigentlichen Kunstwörtern den Gebrauch von anspielenden.) In ihnen fallen die Gestalten und ihre Verhältnisse mit dem Tone und dem Erheben des Dichters in eins. Was er schildert und sprechen läßt, ist nicht von seinem Innern verschieden; denn kann er sich über sein Erhabnes erheben, über sein Größtes vergrößern? – Einige Beispiele, welche diese Klasse füllen, machen das Spätere deutlicher: Werther, der Geisterseher, Woldemar, Ardinghello, die Neue Heloise, Klingers Romane, Donamar, [253] Agnes von Lilien, Chateaubriands Romane, Valérie, Agathon, Titan etc.; lauter Romane zu einer Klasse, obwohl mit sehr auf- und absteigendem Werte, gehörig; denn keine Klasse macht klassisch. In diesen Romanen fodert und wählt der höhere Ton ein Erhöhen über die gemeinen Lebens-Tiefen – die größere Freiheit und Allgemeinheit der höhern Stände – weniger Individualisierung- unbestimmtere oder italienische oder natur-oder historisch-ideale Gegenden – hohe Frauen – große Leidenschaften etc. etc.

Die zweite Klasse, die Romane der deutschen Schule, erschwert das Ausgießen des romantischen heiligen Geistes noch mehr als sogar die niedrigere dritte. Dahin gehören z.B. – damit ich durch Beispiele meinen Erläuterungen vorbahne – Hippel, Fielding, Musäus, Hermes, Sterne, Goethens Meister zum Teil, Wakefield, Engels Stark, Lafontaines Gewalt der Liebe, Siebenkäs und besonders die Flegeljahre etc. Nichts ist schwerer mit dünnem romantischen Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores – –

Ich will aber lieber sogleich die dritte Klasse, die Romane der niederländischen Schule, dazunehmen, um beide wechselseitig aneinander zu erhellen; dahinein gehören Smolletts Romane teilweise – Siegfried von Lindenberg- Sterne im Korporal Trim – Wutz, Fixlein, Fibel – etc.

Die Tiefe ist als die umgekehrte Höhe (altitudo) beides den Flügeln des Dichters gleich brauchbar und wegsam, nur die Mitte, die Ebene nicht, welche Flug und Lauf zugleich begehrt; so wie Hauptstadt und Dorf, König und Bauer sich leichter der romantischen Darstellung bequemen als der in der Mitte liegende Marktflecken und Honoratior, oder so wie Trauerspiel und Lustspiel sich leichter in den entgegengesetzten Richtungen einträchtig aussprechen als Diderots und Ifflands Mittelspiel. Nämlich der Roman der deutschen Schule oder der der Honoratioren und gerade der, welcher meist von Seines-Gleichen zugleich geschrieben und gelesen wird, legt die große Schwierigkeit zu besiegen vor, daß der Dichter, vielleicht selber auf dem Lebens-Wege des Helden stehend und von allen kleinen Verwickelungen gefaßt, den Helden weder hinauf noch hinunter, noch mit den Folien der Kontraste male, und daß er doch die bürgerliche Alltäglichkeit [254] mit dem Abendrote des romantischen Himmels überziehe und blühend färbe. Der Held im Roman der deutschen Schule, gleichsam in der Mitte und als Mittler zweier Stände, so wie der Lagen, der Sprachen, der Begebenheiten, und als ein Charakter, welcher weder die Erhabenheit der Gestalten der italienischen Form, noch die komische oder auch ernste Vertiefung der entgegengesetzten niederländischen annimmt, ein solcher Held muß dem Dichter nach zwei Richtungen hin die Mittel, romantisch zu sein, verteuern, ja rauben, und wer es nicht einsehen will, setze sich nur hin und setze die Flegeljahre fort. Sogar Werther würde sich aus der italienischen Schule in die deutsche herabbegeben müssen, wenn er nicht allein und lyrisch sich und seine vergrößernde Seele im Nachspiegeln einer kleinen Bürgerwelt ausspräche; denn dies alles ist so wahr, daß, wenn der große Dichter selber alles erzählt und also nur episch anstatt lyrisch gedichtet hätte, die Verhältnisse der Amtmännin und des Amtmanns und Legationsekretärs gar nicht über die deutsche Schule wären hinaus zu färben gewesen. Aber alles Lyrische stößt als das Reingeistige, welches alle gemeinen Verhältnisse in allgemeine verwandelt, wie die Lyra-Schwester, die Musik, jedes Mittlere und Niedrige aus.

Gewöhnlicherweise bauen die drei Schulen oder Schulstuben in einem Romane wie in einer Bildergalerie quer durcheinander hin, wie in den Werken des uns so bekannten Verfassers deutlich genug zu sehen ist; doch würd' ich, um den mir bekannten Verfasser nicht zu beleidigen, manches, z.B. das Kampanertal und besonders die drei letzten Bände des Titan, mehr in die italienische Klasse setzen. Desto weniger wird er mir verargen, daß ich im ersten Bande Titans noch viele niederländische Schleichwaren, Z.B. den Doktor Sphex antreffe, welcher unter dem romantischen Saitenbezug sich wie eine Maus im Sangboden aufhält; daher der Verfasser mit Einsicht dieses Tier aus den folgenden Bänden vertrieben in den Katzenberger. An sich versöhnt sich schon die italienische Gattung so gut mit einem lächerlichen Charakter als sogar das Epos mit einem Thersites und Irus; nur aber spreche nicht der Dichter, sondern der Charakter das Komische aus.

[255] Die deutsche Schule, welcher gemäß Goethens Meister das bürgerliche oder Prose-Leben am reichsten spielen ließ, trug vielleicht dazu bei, daß Novalis, dessen breites poetisches Blätter- und Buschwerk gegen den nackten Palmenwuchs Goethens abstach, den Meisters Lehrjahren Parteilichkeit für prosaisches Leben und wider poetisches zur Last gelegt. Goethen ist das bürgerliche Dicht-Leben auch Prosen-Leben, und beide sind ihm nur kurze und lange Füße – falsche und wahre Quantitäten – Hübners Reimregister, über welchen allen seine höhere Dichtkunst schwebt, sie als bloße Dicht- Mittel gebrauchend. Hier gilt im richtigen Sinne der gemißdeutete Ausdruck Poesie der Poesie. Sogar wenn Goethe sich selber für überzeugt vom Vorzuge der Lebens-Prose angäbe: so würde er doch nur nicht berechnen, daß er bloß durch sein höheres Darüberschweben dieser Lebens-Prose mehr Vergoldung leihe als der ihm näheren Gemeinpoesie.-

Die Romane der Franzosen haben in ihrer Allgemeinheit einen Anflug der italienischen Schule, und in ihrer Gemeinheit einen Anflug der niederländischen; aber von der deutschen haben sie nichts, weil ihrer Dichtkunst, wie dem russischen Staate, der mittlere Bürgerstand fehlt.

– – Ehe wir zu einer kleinen Ährenlese vermischter Bemerkungen über den Roman gelangen: hält uns die zweite Auflage mit einem ganz neuen, in der ersten überhüpften Paragraphen (dem folgenden) auf, welcher eine dem Romane verwandte Dichtart, die Idylle, behandelt. Es wünscht freilich besonders der Verfasser dies als Vorschulmeister (Proscholus) dadurch womöglich von sich den Vorwurf abzutreiben, als sei er keinesweges systematisch genug. Solche Vorwürfe kränken an sich, vorzüglich aber einen Mann, der sich bewußt ist, daß er anfangs für seine Ästhetik sich Pölitz zum Muster nehmen wollte in dem Punkte, worin dieser sich Bouterwek zum Muster insofern nahm, als dieser seiner scharf abgeteilten Ästhetik hinten einen Reserve-Schwanz von »Ergänzungklassen« aller der Dichtarten anband, welche (z.B. wie Idylle, Roman, Epigramm) vornen nicht abzuleiten gewesen.... Der Vorschulmeister unterließ es aber, weil er auffuhr und umfragte: »Wird denn auf diese Weise nicht mit dem Ergänz-Schweife [256] die ganze vordere Geschmacklehre stranguliert? So schreibt doch lieber auf das Titelblatt: kurze, aber vollständige Ableitung aller Dichtarten, ausgenommen die sämtlichen unabgeleiteten, welche in die Ergänzklasse fallen.« So wollt' ich doch lieber meine ganze Ästhetik, und wäre sie die vollständigste, bloß unter dem Titel herausgeben »Ergänzklasse« oder »Vorschule,« wie ich denn früher wirklich getan.

§ 73. Die Idylle
§ 73
Die Idylle

Sie ist nicht ein Nebenzweig, obwohl eine Nebenblüte der drei Zweige des Romans; also keine Beschreibung derselben leerer als die, daß sie das verschwundene goldne Alter der Menschheit darstelle.

Folgendes ist nämlich noch zu wenig erwogen: wenn die Dichtkunst durch ihr ästherisches Echo den Mißton des Leidens in Wohllaut umwandelt: warum soll sie mit demselben ätherischen Nachhalle nicht die Musik des Freuens zärter und höher zuführen? – Auch tut sie es; nur aber zu wenig bemerkt und gepriesen darüber. Es ist eine süße Empfindung ohne Namen, womit man in epischen Darstellungen das versprochene Freuen und das steigende der Helden empfängt und teilt. Ein Leser lasse jetzo flüchtig aus bekannten Dichterwerken vor sich die Auftritte der Wonne vorüberfliegen, mit ihren Frühlingen, Morgenröten, Blumenweiten und mit den Augen und Herzen voll Lieb und Lust, um sich durch die Erinnerung an diese Kunsthimmel noch an seine kindlichen Naturhimmel zu erinnern. Es ist nämlich nicht wahr, daß Kinder am stärksten von Leidens-Geschichten – die ohnehin nur sparsam und nur als Folien der Tapferkeit, der Tugend, der Freude zu gebrauchen sind – ergriffen werden; sondern Himmelfahrten des gedrückten Lebens, langsames, aber reiches Aufblühen aus dem Armut-Grabe, Steigen vom Blutgerüste auf das Throngerüste und dergleichen, solche Darstellungen entrücken und entzücken schon das Kind in das romantische Land hinüber, wo die Wünsche sich erfüllen, ohne das Herz weder zu leeren [257] noch zu sprengen. Darum gefallen auch Märchen den Kindern so sehr, weil sie vor ihnen gewöhnlich nur unmotivierte unbeschränkte Himmel ausbreiten, da ihnen doch ebenso schrankenlose Höllen frei ständen. – Nun zur Dicht-Freude zurück! Freilich ermüdet die Augen leicht die Darstellung des Glücks, aber nur darum, weil es bald zu wachsen nachläßt. Die vorgedichteten Schmerzen hingegen unterhalten lange, weil der Dichter, wie leider das Schicksal, sie lange steigern kann; die Freude hat nicht viele Stufen, nur der Schmerz so viele; eine lange harte Dornenleiter führt am Rosenstocke endlich über weichere Stacheln zu einigen Rosen hinauf, und die Nemesis läßt uns bei großem Glücke weit näher und lebendiger das Unglück in ihren Spiegeln erscheinen als bei großem Unglück künftiges Glück. – Daher wurde dem Dichter, der nie stehen, sondern steigen muß, das Trauerspiel so geläufig, daß er noch nicht einmal den Namen für ein Freudenspiel erfand. Denn das Lust-, eigentlich das Lachspiel, worin die Helden sogar noch öfter gepeinigt, wenigstens nie so hoch entzückt werden als zuweilen im Trauerspiel, kann nicht, so wie dieses ein Mitleiden, ebenso ein Mitfreuen anregen und zuteilen; der Zuschauer steht halb boshaft, halb kalt vor der Bühne da, und das Glück der Spitzbuben und Narren kann nicht seines werden.

Hingegen aber ein Freudenspiel? – Wenigstens eine kleine epische Gattung haben wir, nämlich die Idylle. Diese ist nämlich epische Darstellung desVollglücks in der Beschränkung. Die höhere Entzückung gehört der Lyra und der Romantik an; denn sonst wären Dantens Himmel und Klopstocks eingestreute Himmel auch unter die Idyllen zu rechnen. Die Beschränkung in der Idylle kann sich bald auf die der Güter, bald der Einsichten, bald des Standes, bald aller zugleich beziehen. Da man sie aber durch eine Verwechslung mehr auf Hirten-Leben bezog: so setzte man sie durch eine zweite gar in das goldne Alter der Menschheit, als ob dieses Alter nur in einer nie rückenden Wiege und nicht ebensogut in einem fliegenden Phaetons-Wagen sich bewegen konnte. Wodurch ist denn bewiesen, daß das erste, das goldne Alter der Menschheit nicht das reichste, freieste, hellste gewesen?

[258] Wenigstens nicht durch die Bibel und nicht durch die Behauptung mehrer Philosophen, daß der Blütengipfel aller unserer Bildung die Wiederholung des goldenen Alters werde, und daß die Völker nach recht vollendetem Erkennen und Leben das Paradies mit beiden Bäumen dieses Namens wiedergewinnen. – Das Schäferleben an sich bietet ohnehin außer der Ruhe und Langweile wenig mehr als das Ganshirtenleben dar, und die selige Erde des Saturns ist kein Schafpferch, und das himmlische Bett und der Himmels-Wagen desselben ist kein Schäferkarren. Theokrit und Voß – die Dioskuren der Idylle – ließen in ihre Arkadien alle untere Stände einwandern, jener sogar Cyklopen, dieser sogar Honoratiores, z.B. in seiner Luise und sonst. Goethens Hermann und Dorothea ist kein Epos, aber eine epische Idylle. Der Landprediger von Wakefield ist so lange idyllisch, bis das Stadt-Unglück alle auf einen Ton gestimmte Saiten der häuslichen Windharfe zu miß- und mehrtönigen hinaufspannt und durch das Ende den Anfang zerreißt.

Das Schulmeisterlein Wutz des uns bekannten Verfassers ist eine Idylle, aus welcher ich mehr machen würde als andere Kunstrichter, wenn es sonst die Verhältnisse mit dem Verfasser erlaubten; dahin gehört unstreitig auch desselben Mannes Fixlein und Fibel. – Sogar das Leben des Robinson Crusoe und das des Jean Jaques auf seiner Peters-Insel erquickt uns mit Idyllen-Duft und Schmelz. Ihr könnt die Geh-Fahrt eines Fuhrmanns bei gutem Wetter und gutem Straßenbau und bei seinen kostbaren Mahlzeiten zur Idylle erheben und ihm – es ist aber Überfluß – im Gasthofe gar seine Braut anbieten. So kann z.B. die Ferienzeit eines gedruckten Schulmannes – der blaue Montag eines Handwerkers – die Taufe des ersten Kindes – sogar der erste Tag, an welchem eine von Hoffesten mattgehetzte Fürsten-Braut endlich mit ihrem Fürsten ganz allein (das Gefolge kommt sehr spät nach) in eine volle blühende Einsiedelei hinausfährt- kurz alle diese Tage können Idyllen werden und können singen: auch wir waren in Arkadien.-

Wie könnte nicht der Rhein eine Hippokrene, ein vierarmiger Paradiesesstrom der Idyllen sein, und was noch mehr ist, mit [259] Ufer und Strom zugleich! Auf seinen Wellen trägt er Jugend und Zukunft, auf seinen Ufern hohe Vergangenheit. Werke, an seinen Ufern gewachsen, wie seine Weine, verraten und verbreiten Idyllen-Freude, und ich brauche hier nicht an Maler Müller, aber wohl an die rheinfrohen – und unverdient-vergeßnen Romane eines Frohreichs, z.B. in seinem Seifensieder und andern, zu erinnern.

Aber was ist denn das, fragt ihr, was in Theokrits und Vossens Idyllen bei einem so mäßigen Aufwand von Geist und Herz der Spieler uns so froh bewegt und zwar nicht hinreißt, doch schaukelt? Die Antwort liegt fast in dem letzten Bilde von der körperlichen Schaukel; auf dieser wiegt ihr euch in kleinen Bogen auf und nieder – ohne Mühe fliegend und fallend – ohne Stöße Luft vor euch mit Luft hinter euch tauschend. So euere Freude mit einem Freudigen im Hirtengedicht. Sie ist ohne Eigennutz, ohne Wunsch und ohne Stoß, denn den unschuldigen sinnlichen kleinen Freudenkreis des Schäfers umspannt ihr konzentrisch mit euerem höheren Freudenkreise. Ja ihr leihet dem idyllisch dargestellten Vollglück, das immer ein Widerschein eueres früheren kindlichen oder sonst sinnlich engen ist, jetzo zugleich die Zauber euerer Erinnerung und euerer höheren poetischen Ansicht; und die weiche Apfelblüte und die feste Apfelfrucht, die sonst ein schwarzer welker Blüten-Rest bekrönt, begegnen und schmücken einander wunderbar.

Stellt nun die Idylle das Vollglück in der Beschränkung dar: so folgt zweierlei. Erstlich kann die Leidenschaft, insofern sie heiße Wetterwolken hinter sich hat, sich nicht mit ihren Donnern in diese stillen Himmel mischen; nur einige laue Regenwölkchen sind ihr vergönnt, vor und hinter welchen man schon den breiten hellen Sonnenschein auf den Hügeln und Auen sieht. Daher ist Geßners Tod Abels keine Idylle.

Zweitens – folgt aus dem vorigen – darf die Idylle nicht von Geßner geschrieben sein, noch weniger von Franzosen, sondern von Theokrit, Voß oder etwa von Kleist und von Virgil desfalls.

Die Idylle fodert eben für ihre Beschränkung im Vollglück die hellsten örtlichen Farben nicht nur für Landschaft, auch für Lage, Stand, Charakter und verwirft die unbestimmten duftigen Allgemeinheiten[260] Geßners, in welchen höchstens etwan Schaf und Bock aus den Wasserfarben auftauchen, aber die Menschen verschwimmen. Dieses harte Urteil schreibe man nicht dem guten August Schlegel zu – welcher oft fremde harte Urteile, so wie dieses, postdatiert und lieber den Vorwurf der Härte selber auflädt –, sondern Herdern, der vor funfzig Jahren in seinen »Fragmenten zur Literatur« 163 den damals lorbeergekrönten regierenden Geßner weit unter Theokrit hinabstellte, bei welchem jedes Wort naiv, charakteristisch, farbig, fest und wahrhaft ist. Schon welche köstliche Naturfarben hätte sich nicht Geßner von seinen Alpen – von den Sennenhütten – den Schweizerhörnern – und aus den Tälern holen können! In Goethens Jeri und Bäteli lebt mehr Schweizer-Idylle als im halben Geßner. Daher haben letzten die Franzosen schmackhaft gefunden und übertragen als guten frischen Sennen-Milchzucker zu Fontenelles idyllischen superfin. Es ist überhaupt kein gutes Zeichen, wenn ein Deutscher ins Französische gut zu übersetzen ist; daher an Lessing, Herder, Goethe etc. unter andern auch dies zu schätzen ist, daß einer, der kein Deutsch kann, sie gar nicht versteht.

So wie übrigens für die Idylle der Schauplatz gleichgültig ist, ob Alpe, Trift, Otaheiti, ob Pfarrstube oder Fischerkahn – denn die Idylle ist ein blauer Himmel, und es bauet sich derselbe Himmel über die Felsenspitze und über das Gartenbeet, und über die schwedische Winter- und über die italienische Sommernacht herüber –: ebenso steht die Wahl des Standes der Mitspieler frei, sobald nur dadurch nicht die Bedingung des Vollglücks in »Beschränkung« verliert. Folglich unrichtig oder unnütz ist in den Definitionen der Zusatz, daß sie ihre Blumen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft anbaue. Ist denn eine kleine Gesellschaft, wie die der Hirten, Jäger, Fischer, keine bürgerliche? oder gar die in Vossens Idyllen? Höchstens dies kann man verstehen, daß die Idylle als ein Vollglück der Beschränkung die Menge der Mitspieler und die Gewalt der großen Staatsräder ausschließe; und daß nur ein umzäuntes Gartenleben für die Idyllen-Seligen passe, die sich aus dem Buche der Seligen ein Blatt gerissen; für frohe [261] Lilliputer, denen ein Blumenbeet ein Wald ist, und welche eine Leiter an ein abzuerntendes Zwergbäumchen legen.

§ 74. Regeln und Winke für Romanschreiber
§ 74
Regeln und Winke für Romanschreiber

Wenn schon das Interesse einer Untersuchung auf einem fortwechselnden Knötchen-Knüpfen und – Lösen beruht – wie daher Lessings Untersuchungen durch das Geheimnis dieses Zaubers festhalten –: so darf sich noch weniger im Roman irgendeine Gegenwart ohne Kerne und Knospen der Zukunft zeigen. Jede Entwicklung muß eine höhere Verwicklung sein. – Zum festern Schürzen des Knotens mögen so viele neue Personen und Maschinengötter, als wollen, herbeilaufen und Hand anlegen; aber die Auflösung kann nur alten einheimischen anvertraut werden. Im ersten oder Allmacht-Kapitel muß eigentlich das Schwert geschliffen werden, das den Knoten im letzten durchschneidet. Hingegen im letzten Bande mit einem regierenden Maschinisten nachzukommen, ohne daß ihn Maschinen in den vorhergehenden angemeldet, ist widrige Willkür. Je früher der Berg dasteht, der einmal die Wetterscheide einer Verwicklung werden soll, desto besser. Am schönsten, d.h. am unwillkürlichsten geschieht die Entwicklung durch einen bekannten Charakterzug eines alten Mitspielers; denn hier besiegt die schönste Geister-Notwendigkeit, worüber der Dichter nichts gebieten kann und soll; so wird z.B. in Fieldings Tom Jones der Knoten durch das Entlarven einer frühen eigennützigen Lüge des heuchelnden Blifils überraschend aufgebunden. Im manierierten Trauerspiel Cadutti löset er sich unerwartet beinahe zu witzig durch eine Notwendigkeit physischer Art, dadurch, daß der unbekannte, längst erwartete Sohn dem Vater, der anfangs dessen Opfer war, und später dessen Opferpriester wurde, im Tode ähnlich zu sehen anfing, nach der Lavaterschen Bemerkung. – Kurz, der Knoten gehe bloß durch Vergangenheit, nicht durch Zukunft auf.

Einige bereiten sich diese Vergangenheit als auflösendes Mittel zwar frühe genug und tragen sie ordentlich schon auf in den [262] ersten Kapiteln, aber ohne rechte Notwendigkeit durch Gegenwart; nichts ist widerlicher als eine solche Verwahr-Kur (Präservations-Kur) ohne Krankheit. Was jetzo auftritt, muß nicht bloß erst künftig nötig sein, sondern auch schon jetzo; alle Wichtigkeit eines jetzigen Auftritts in der Zukunft entschuldigt nicht seine Dürftigkeit in der Gegenwart; denn der Leser darf, zuwider der Religion, bloß für die Gegenwart leben und braucht nicht wie der Mensch, nach der Regel respice finem, ans Ende zu denken, welches ja ohnehin z.B. bei einem Roman von 8 Bänden nach einem langen schweren Leben von 160 Bogen nur eine kurze selige Ewigkeit von ein oder zwei Bogen wäre. Inzwischen mag der uns bekannte Autor dagegen ein paarmal öfter angestoßen haben, als er aus leicht zu erratenden Gründen wird eingestehen wollen.

In Werthers Leiden wird in der letzten Ausgabe dem künftigen Mörder seiner Geliebten schon im Frühling vornen ohne ersichtliche Notwendigkeit sehr viel Platz gemacht, bloß damit er weiter hinten im Herbste mit seinem Messer den Knoten Werthers – verdicke; aber da er ihn nicht lösen half, so war er an sich zu keiner Erscheinung im Frühling verbunden – besonders bei Lesern der ersten Ausgabe –, sondern er konnte in jedem Monate kommen.

Zwei Kapitel müssen füreinander und zuerst gemacht werden, erstlich das letzte und dann das erste. Aber erspart uns nur die Vorvergangenheit! – O so sehr lau und schwach drängt sich das arme Publikum in den letzten Bänden eines Werks – z.B. im 109ten – – auf dem grünen Blatte wie eine Minier-Raupe durch alle Fasern-Windungen voriger Bände rückwärts zurück – den Kopf hält es immer vorwärts und steil – und bis in die Vergangenheit hinein, die über das erste Kapitel hinausliegt. Dies ist aber zu große Qual, nach der Einladung und Sättigung von einem Freund, auf einmal einen umlaufenden Zahl-Teller zu sehen! Was hat man viel davon, wenn uns euer erstes Kapitel zwar in die Mitte hinein-, aber euer letztes wieder jenseits des ersten hinausreißet! Im Allmacht- oder Aseität-Kapitel hätten wir alle mit Vergnügen jede Schöpfung angenommen und jedes Wunder und [263] jede Arbeit vor dem Genuß; aber jetzo, nachdem wir uns lange Wunderbarkeiten bis hieher schon haben gefallen lassen, stehen uns die verspäteten Natürlichkeiten nicht an. – Also antizipiere man von der künftigen Vergangenheit, so viel man kann, ohne sie zu verraten, damit man im letzten Kapitel wenig mehr zu sagen brauche als: »Hab' ichs nicht gesagt, Freunde?« – Wollte man die Frage aufwerfen, warum denn in dem Romane, dieser fortschreitenden Vergangenheit selber, einige Rückschritte in die vorige so verdrießlich werden: so wäre die Antwort: weil die ältere die neuere unterbricht; weil der Mensch, er fange an, wo es sei, doch vor-, nicht rückwärts will, und weil die durchgelebte Stunden-Reihe eine durchgelebte Ursachen-Reihe und folglich ein System ist, das den obersten Grundsatz lieber in den Anfang als in die Mitte stellt.

Halb ists schon im Vorigen angedeutet, daß derWille (als die poetische Notwendigkeit) nicht früh genug erscheinen kann, hingegen die Körperwelt auch spät und überall; daß aber jener den Schachtürmen und Bauern gleicht, welche im Anfange des Spiels wenig, aber am Ende desto mehr entscheiden; hingegen diese den Springern und Königinnen, welche nur anfangs durchschneiden und überspringen, aber am Ende wenig mehr durchsetzen.

Habt ihr die bestens motivierte Wirkung, so führt sie erst in der Erzählung auf, wenn ihr vorher deren Ursachen dem guten, aber mißtrauischen Leser vertrauet habt, weil er, sooft auf seinem Lesesessel oder Leseesel betrogen und getäuscht – und es sogar in Ästhetiken deutlich lieset, daß man auf sein Täuschen ordentlich auszugehen habe, nicht ohne Grund besorgt, der Dichter habe zur Wirkung sich erst später die Ursache ausgesonnen.

Je geistiger die Verwicklung, desto schwerer die Entwicklung, desto besser die gelungene; also sucht lieber Knoten des Willens als Knoten des Zufalls.

Habt ihr zwei geistige Zwecke oder Verwickelungen: so müßt ihr den einen zum Mittel des andern machen; sonst zerreiben sich beide aneinander.

Es ist sehr gut, eine wahre Entwicklung ein wenig hinter eine scheinbare zu verstecken. Aber man baue dem falschen Erraten [264] vor, welches Schwierigkeiten zwar irrig, jedoch auf Kosten der Erwartung löset.

Nie vergesse der Dichter über die Zukunft, die ihm eigentlich heller vorschimmert, die Foderungen der Gegenwart und also des nur an diese angeschmiedeten Lesers.

Die Episode ist im epischen Roman kaum Episode, z.B. im Don Quixote, da er das Leben episodisch nimmt. Im dramatischen sind Episoden häßliche Hemmketten – gesetzt auch, daß sie sich mit spätern Bändern verknüpften –; sie müssen durchaus nur als die Abteilungen früherer Fäden erscheinen. Das Drama hasset die Episode. Wäre die Episode an sich erlaubt: so müßte man aus einer in die andere, aus der andern in die dritte und so in die Rechnung des Unendlichen fahren dürfen. – Eine Episode mischt sich reizend als Gegenwart in das Hauptwerk, aber nicht als ein verdrüßliches Stück abzuerzählender Vergangenheit.

Wie die geschichtliche Abschweifung, so die kleinere witzige oder philosophierende; beide nimmt der Leser an dem Anfange und in der Mitte lieber an als gegen das Ende hin, wo alle Strahlen sich immer enger zum Brennpunkte eines Interesse drängen. Indes ist dieser Wink nicht sowohl den Autoren nötig – denn die Sache treibt sie selber dazu – als den Lesern, damit sie wissen, warum ein Autor, gleich einem Menschen, gerade gegen das Ende hin am wenigsten ausschweife, und nur anfangs so stark.

Ein einziger aus tiefer Brust emporgehobner Menschen-Laut wirkt mehr als zehn seelenlehrige Schilderungen und Landschaften; ein Zittern der Luft als Sprach-Ton wirkt mehr als ein allgemeines Umhertoben derselben als Sturm. Freilich nur ein unsichtbarer Gott haucht entfliegend in euch das rechte Wort; hin gegen zu mechanischen farbigen Wirkereien sind euch immer gute Krempel-, Kratz- und Spinnmaschinen bei der Hand.

Der Schriftsteller – den Kopf ganz voll Allwissenheit und Zukunft – und ganz voll Langweile an nächstens ankommenden Begebenheiten, die er durch langes Motivieren so gut kennt wie sich – trägt und bürdet gern das eigne Ausfarben der im großen vorgezeichneten Freudenszenen, auf deren Darstellung der Leser sich bändelang gefreuet, diesem selber auf. Ich wüßte nicht, sagt [265] der Schriftsteller, was hier der Leser nicht wüßte und nicht statt meiner sich selber sagen könnte. Aber der Leser, schon als Kind, weiß z.B. bei Robinson Crusoe nach der Begründung der Verhältnisse fast alle kleinen Verhältnisse voraus, womit sich der Schiffbrüchige behilft und beglückt. Er will sie aber doch ausführlich beschrieben lesen; ebenso will der Leser alle die rauschenden Ernten, welche z.B. der von einem Quaternen-Gewinn eingelaßne Gold-Nil einer verdorrten Familie gibt, vom Darsteller vorgezählt hören, so leicht ihm seine lesende Phantasie, durch die dichtende erweitert, das Erraten machen würde. Er will der frohen Farben recht gesichert sein und erwartet bei seiner bisherigen blinden Glaubigkeit an den Dichter die Gewißheit bloß von diesem, nicht von eigner Dichter-Willkür. Etwas anderes ist das Erhabene, wo Schweigen des Unaussprechlichen ist, oder zu großer Schmerz, wo nur der Leser sich die Wunden süßer selber gibt als geben läßt. – Einige Schriftsteller machen noch aus andern Gründen gern die Leser zu Schriftstellern, die fortsetzen. Wenn z.B. der uns bekannte Verfasser nur reines leichtes Geschichtliches zu reichen hatte, worin weder Flammen, noch Blumen, noch Salze umherzugeben waren: so macht' er sich sehr trübselig an das Blatt und wollt' es kaum machen.

Bleibt entweder in dem allgemeinsten Verhältnisse der Personen und Sachen schwimmen; oder wenn ihr die lokalfarbigsten erleset, z.B. Malta, einen Universitätzahnarzt, einen Hofzuckerbäcker, so streicht ihm alle seine gehörigen Farben an und seht euch vorher in dessen Werkstatt oder im orbis pictus um.

Der Held eines Romans ist häufig der redende Ciceros-Kopf des Autors und dessen stärkster Verräter. Zieht ihm wenigstens nicht mit einem Gefolge von Lobpreisern nach, welche ihm aus allen Fenstern und Logen hinterdreinrufen: vivas! – plaudite! – te deum! Wohin man in Richardson nur tritt, stößet man auf einen Menschen oder ein Paar mit breiten Heiligenscheinen und schweren Lorbeerkränzen in den Händen und unter den Armen, um solche Klarissen oder Grandisonen aufzusetzen. Man denkt dann schlechter von dem Paar; ja oft vom Autor selber, der in dem großen Kopfe des gekrönten Helden seinen eignen stecken hat.

[266] Zeichnet keinen Charakter-Zug, um einen Charakter, sondern bloß um eine Begebenheit darzustellen.

Die epische Natur des Romans untersagt euch lange Gespräche, vollends eure schlechten. Denn gewöhnlich bestehen sie in der Doppelkunst, entweder den andern zu unterbrechen, oder dessen Frage in Antwort zu wiederholen, wie Engel häufig tut, oder nur den Witz fortsetzend zu beantworten.

Umringt nicht die Wiege eures Helden mit gesamter Lesewelt. Wie die Gallier nach Cäsar ihre Kinder nur mannbar vor sich ließen – daher vielleicht noch jetzo die französische Sitte sie auf dem Land erziehen läßt –, so wollen wir den Helden sofort mehre Fuß hoch sehen; erst darauf könnt ihr einige Reliquien aus der Kinderstube nachholen, weil nicht die Reliquie den Mann, sondern er sie bedeutend macht. Die Phantasie zieht leichter den Baum zum Pfälzischen ein, als dieses zu jenem empor.

Wenigstens komischen Romanschreibern ist der Rat einzuschärfen, daß sie fast länger am Entwerfen als am Ausführen ihrer Plane arbeiten sollten (wie schon Christen es auch mit ihren sittlichen tun). Ist der Plan geräumig und zusprechend: so fliegt die Arbeit und trägt alles, was von Einfällen und Scherzen aufzuladen ist. Hingegen ist er verkrümmt und verengt: so sitzt der reichste und beweglichste Autor als lahmer Bettler da und hat nichts einzunehmen, nämlich nichts auszugeben; er dürstet in seiner Wüste nach Wasser, obwohl umgeben von Edelsteinen vom ersten, zweiten, dritten Wasser. – Nur sieht ein Autor einem noch im Gehirnäther zu hoch schwebenden Plane oder spanischem Schlosse nie dessen freie Geräumigkeit oder dessen enge Winklichkeit deutlich an. Ein Schriftsteller soll daher, bevor er etwas anfangt – oft einen mühseligen Gruben- oder Brunnen-Bau –, eine Wünschelrute über das Gold und Wasser, das zu finden ist oder nicht, zu halten und zu fragen wissen. Es gibt für ihn nämlich eine eigne, nicht aber leichte Kunst, den noch unbesetzten Plan eines Werks vorspielend, vordenkend, vorprüfend sich auszufüllen, doch nur von fernen und leicht, mehr in dem Gehirne, wenig auf dem Papiere; vermag nun ein Dichter mit scheinbarer Ausführung über seinem Plan zu schweben: so hat er bei einem richtigen Zuversicht [267] und Aussicht gewonnen, und bei einem unrichtigen nichts verloren als die Mühe der ersten Anlage.

Eine andere, nicht bloß dem epischen Aussprößling, dem Roman, aufgegebene Frage ist die, was früher zu schaffen sei, ob die Charaktere oder die Geschichte. Wenigstens den Charakter des Helden schafft zuerst, welcher den romantischen Geist des Werks ausspricht oder verkörpert; je leerer, einseitiger, niedriger die Nebencharaktere hinab, desto mehr verlieren sie sich in das tote, unselbstständige, dem Dichterzepter unterworfene historische Reich. Die Geschichte ist nur der Leib, der Charakter des Helden die Seele darin, welche jenen gebraucht, obwohl von ihm leidend und empfangend. Nebencharaktere können oft als bloße historische Zufälle, also nach dem vorigen Gleichnis als Körperteile den seelenvollen Helden umgeben, wie nach Leibniz die schlafenden Monaden (als Leib) die wachende, den Geist. Der unendlichen Weite der Zufälligkeiten sind Charaktere unentbehrlich, welche ihnen Einheit durch ihren Geister- oder Zauberkreis verleihen, der aber hier nur Körper, nicht Geister ausbannt. Auch der Reiseroman, wie das Tagbuch, bleibt, wenn nicht die Breite des Raumes und die Länge der Zeit betäubend mit Zufällen überschwemmen sollen, der stillen leitenden Einheit eines Charakters untertänig. Der Dichter versteckt seine durchsichtigen Flügel unter die dicken Flügeldecken des Körperreichs, zumal im ruhigen Gehen; wenn er aber die Flügel über der Erde bewegt, so hält er die Decken wenigstens aufgespannt, wenn auch ungeregt. – Sogar das Märchen heftet seine Glanztautropfen und Perlen an das unsichtbare Nachsommergespinste einer freien Bedeutung an. – Sind noch unbedeutendere Winke erlaubt? Ich meine z.B. etwa folgende:

Um sinnliche Genüsse ohne Abbruch sittlicher Teilnahme zu malen, gebe man sie z.B. nicht nur einem ungebildeten Verarmten, sondern auch einem gebildeten Kranken; – so nehmen wir sittlich-froh und gönnend mit Thümmels siechen Helden jeden Leckerbissen; der matte Mann braucht es, sein Magen ist sein Schild, seine Hypochondrie sein Tischgebet. Setzt er sich aber ausgeheilt, oder sein Überrascher vollblühend an den Schwelgertisch: [268] so verwandelt sich der Leser fast in den Pater, der dem essenden Refektorium gute Predigten vorlieset. – Überall stellt sich sinnlicher Genuß sittlich und poetisch durch die Bedingungen der Entbehrung und der Notwendigkeit dar.

Ferner: es ist an sich ein guter Kunstgriff, Sachen, die man noch halb verschleiert zeigen will, durch Voreiligkeit oder Mißverständnis der Bedienten und Kinder halb zu entschleiern; nur aber wird die Allwissenheit des Dichters uns willkürlich zu geben und zu nehmen scheinen, wenn er nicht durch das Werk selber den strengsten Gehorsam gegen das Gesetz beweist, durchaus nichts zu erzählen als nur Gegenwart.

Ferner: da die Phantasie des Lesers in ihrem kurzen Fluge mehr wächset als die des Dichters im langen, weil jene in dessen Werke alle die neuen Bilder, Flammen und Stürme vielleicht in einem halben Tage empfängt und zu einer Wirkung aufhäuft, welche die dichterische erst durch Schöpfungen einzeln überkommt und nacheinander hinreiht, noch abgerechnet des Dichters Ausglühen durch häufiges Anglühen von der nämlichen Sache: so darf schon derselbe bei seinem Leser mehr Entflammung und Kühnheit voraussetzen, als er selber noch behalten, und darf der von ihm so schnell befiederten und beflügelten Phantasie schon Nachflüge seiner Vorflüge zumuten. Es wäre zu wünschen, jeder wüßte, wie der Leser ist – angezündet vom Autor, unternimmt und überfliegt er alles, unter eignen Flügen vergißt und vergibt er die fremden Sprunge. Daher setze doch ein Autor, der einen steinigen Ziel-Weg zu durchschreiben hat, seine voreilenden erwärmten Leser voraus, um welche schon sein Abendrot schwebt und sein Farben-Ziel.

Ferner: ein kleiner Umstand überrascht durch eine große Wirkung desto mehr, je früher er da war; nur werd' er durch zufälliges Wiederholen gegen Vergessen bewahrt.

Desgleichen: verschonet uns mit einer langen Reiheschank von Liebetränken (philtris), mit einer goldnen Erbskette aufgefädelter verliebter Herzen, mit einer Baumschnur umhalseter Wesen – die Liebe sieht ungern sich vervielfacht aufgeführt, bloß weil sie nur in ihrem höchsten Grade ideal ergreift, der aber wenige [269] Wiederholungen erlaubt. Die Freundschaft hingegen verlangt und achtet Genossenschaft; ein Gärtchen mit zwei Liebenden und deren Kindern in den Blumen und ein Schlachtfeld voll verbunden kämpfender Freunde erheben gleich hoch.

Sogar die Kleinigkeit des Namen-Gebens ist kaum eine. Wieland, Goethe, Musäus wußten echt deutsche und rechte zu geben. Der Mensch sehnt sich in der kleinsten Sache doch nach ein wenig Grund; »nur ein Gründchen gebt mir, so tu' ichs gern,« sagt er. Niemand teilte z.B. Homer und den Theophrast in 17 oder 29 Bücher, sondern – das war das Gründchen – in 24 nach Zahl der Buchstaben. Die Juden, um z Buchstaben anfangs ärmer, ließen sich folglich 22 biblische Bücher gefallen. Man sieht es ungern, wenn die Kapitel eines Werks mit ungerader Zahl beschließen; ich nehme aber 3, 5, 7, 9, 11, 25, 99 aus. Ohne besondern Anlaß wird kein Mensch am Dienstage oder Donnerstage eine große Änderung seiner Lebens-Ordnung anheben: »An andern Tagen,« sagt er, »weiß ich doch, warum, sie sind gewissermaßen merkwürdig.« – So sucht der Mensch im Namen nur etwas, etwas Weniges, aber doch etwas. Torre-Cremada oder La tour brulée, desgleichen Feu-ardent hießen (kann er versichern aus Bayle) schon über der Taufschüssel zwei Mönche, welche die halbe religiöse Oppositionspartei froh verbrannten.

Unausstehlich ist dem deutschen Gefühle die britische Namensvetterschaft mit der Sache; – wozu Hermes früher die häßlichsten Proben an den Herren Verkennt und Grundleger und neuerlich an Herrn Kerker und überall geliefert. Aber ganz und gar nichts soll wieder kein Name bedeuten, besonders da nach Leibniz doch alle Eigennamen ursprünglich allgemeine waren, sondern so recht in der Viertels-Mitte soll er stehen, mehr mit Klängen als mit Silben reden und viel sagen, ohne es zu nennen, wie z.B. die Wielandschen Namen: Flok, Flaunz, Parasol, Dindonette etc. So hat z.B. der uns bekannte Autor nicht ohne wahren Verstand unbedeutende Menschen einsilbig: Wutz, Stuß getauft, andere schlimme oder scheinbar wichtige mit der Iterativ-Silbe er: Lederer, Fraischdörfer – einen kahlen, fahlen: Fahland u.s.w. Was die Weiber anbelangt: so erstreckt sich das indische Gesetz, daß[270] der Brahmine stets eines mit einem schönen Namen heiraten soll, bis in die Romane herüber; jede Heldin hat neuerer Zeiten, wenn auch keine andere Schönheit, doch diese, nämlich eine welsche Benennung statt eines welschen Gesichts.

Der letzte, aber vielleicht bedeutendste Wink, den man Romenenschreibern geben kann und schwerlich zu oft, ist dieser: Freunde, habt nur vorzüglich wahres, herrliches Genie, dann werdet ihr euch wundern, wie weit ihrs treibt!-

13. Programm. Über die Lyra
§ 75. Die Ode - die Elegie - das Lied - das Lehrgedicht
§ 75
Die Ode – die Elegie – das Lied – das Lehrgedicht – die Fabel etc.

Dieses Programm muß zwar nicht zu kurz ausfallen – wie in der ersten Auflage, wo es gar fehlte –, aber doch kurz; es ist wenig darin mit wenigen Worten zu sagen, was nicht schon früher mit vielen wäre gesagt worden. Im frühern Auslassen der ganzen lyrischen Abteilung hatt' ich einen alten, wenn auch nicht guten Vorgänger an Eschenburg 164, welcher gleichfalls nur alles in Drama und in Epos einteilt, und in das letzte die ganze lyrische Herde, die Ode, die Elegie und noch Satiren, Allegorien und Sinngedichte einlagert. Er gewann sich nämlich an der Person des Dichters selber einen Markstein und eine Hermessäule einer leichten Abgrenzung aller Dichtarten, jenseits und diesseits: spricht der Dichter selber, dann wirds, sagt er, Epos et compagnie, z.B. Elegie; läßt er andere sprechen, so ist das Drama da. Man könnte so den Dichter in Rücksicht seiner geschaffnen Welt, wie sonst streitende Weltweise Gott in Rücksicht der seinigen, bald extramundan (außerweltlich), bald intramundan (innerweltlich) betrachten. – – Gibt es dann aber eine flüssigere Abteilung und Abscheidung mitten auf dem poetischen Meere? Denn weder die [271] Einmengung, noch die Versteckung des Dichters entscheidet zwischen zwei Formen des Gedichts; der sich sprechend einführende Dichter ist so gut und nicht schlechter ein Glied des ganzen Gedichts als jeder andere Sprecher; er selber muß sich darin verwandeln und verklären wie jeder andere Mensch und aus der Asche seiner Individualität den poetischen Phönix wecken. Der Maler wird zum Gemälde, der Schöpfer zu seinem Geschöpfe. – – Wie leicht wären, falls nur die Kleinigkeiten des Sprechens und des Sprechenlassens abteilten, Formen in Formen einzuschmelzen, und derselbe Dithyrambus würde z.B. bald episch, wenn der Dichter vorher sagte und sänge, er wolle einen fremden singen, bald lyrisch durch die Worte, er wolle seinen eignen singen, bald dramatisch, wenn er ihn ohne ein Wort von sich in ein tragisches Selbstgespräch einschöbe. Aber bloße Förmlichkeiten sind – in der Poesie wenigstens – keine Formen.

Das Epos stellt die Begebenheit, die sich aus derVergangenheit entwickelt, das Drama die Handlung, welche sich für und gegen die Zukunft ausdehnt, die Lyra die Empfindung dar, welche sich in die Gegen wart einschließt. Die Lyra geht, da Empfindung überhaupt die Mutter und der Zunderfunke aller Dichtung ist, eigentlich allen Dichtformen voraus, als das gestaltlose Prometheus-Feuer, welches Gestalten gliedert und belebt. Wirkt dieses lyrische Feuer allein, außerhalb den beiden Formen oder Körpern, Epos und Drama, so nimmt die freifliegende Flamme, wie jede körperliche, keine umschriebene feste Gestalt an, sondern lodert und flattert als Ode, Dithyrambus, Elegie. Sie dringt ins Drama als Chor, zuweilen als Selbstgespräch, als Dithyrambus in Weh und Lust, obwohl immer nur als abhängiges Mittelglied, nicht sich allein aussprechend, sondern dem Ganzen nachsprechend Es wäre möglich, durch ein Drama eine Bergkette von hohen Oden gehen zu lassen. Die Vergangenheit im Epos mildert jeden Lyrischen Sturm und leidet schwer die erzählende Einwebung eines Chors, Dithyrambus u.s.w.

In der eigentlichen Lyrischen Dichtkunst waltet die Begebenheit nur als Gegenwart, und die Zukunft nur als Empfindung. Die [272] Empfindung wird sich allein und unabhängig darstellen, ohne etwan wie im Epos alle ihre Eltern, oder wie im Drama ihre Kinder zu malen. Der verschlungene Plan der Ode ist daher keine verlarvte Larve einer kleinen epischen Begebenheit; die geschichtlichen Einwebungen sind nur Ausbrüche des Lyrischen Feuergusses, welcher überrinnend nach allen Seiten des Berges abläuft. Die Empfindung fliegt ohne alle historische Weg-Linie zwischen Ende, Anfang und Mitte umher, nur von ihrer Überspannung und Ermattung wechselnd getrieben; daher sie z.B. vielleicht am Ende einer Ode von ihrem geschichtlichen Anfange an noch stärker ergriffen sein kann als anfangs derselben. Ja die Empfindung darf sich kühn hinstellen, im Verlaß auf die Gemeinschaftlichkeit aller Herzen, ohne ein eingewebtes Wort Begebenheit; z.B. eine Ode über Gott, Tod etc.; der Dichter besingt nur eine alte feste Geschichte in der Menschenbrust. Übrigens wird, könnte man noch sagen, das Geschichtliche im Epos erzählt, im Drama vorausgesehen und gewirkt, in der Lyrik empfunden oder erlebt.

Wird die Empfindung, wie eigentlich sein soll, für das Gemeinschaftliche, für den Blutumlauf aller Dichtkunst angesehen: so sind die Lyrischen Arten nur abgerissene, für sich fortlebende Glieder der beiden poetischen Riesenleiber, insofern die Dichtkunst ein Doppeladler oder eine Apollons-Sonne im Zwilling ist. Mithin wäre die Ode, der Dithyrambus, die Elegie, das Sonett nur als ein Unisono aus der harmonischen Tonleiter des Drama ausgehoben und für sich belebt. Ebenso sind die Romanze, das Märchen, die Ballade, die Legende etc. nur ein Tongang aus der Fuge des Epos. Freilich der Kunst selber wird mit solchen immer enger einlaufenden Abteilungen, welche sich bloß nach der poetischen, so unwesentlichen Verschiedenheit der Gegenstände und der Zeilen-Räume regeln, nicht hoch aufgeholfen; indes wollen wir aus den beiden großen Flügeln, dem Epos und dem Drama, noch einige Federn ziehen und nachsehen, ob sie dem linken oder dem rechten gehören, nicht sowohl des Nutzens oder der Lehre und Wahrheit wegen, als weil es zu sehr um Vollständigkeit eines ästhetischen Lehrbuchs zu tun ist.

So müssen wir z.B. sogleich in der Nähe das sogenannte beschreibende [273] Gedicht aus der lyrischen Gattung stoßen in die epische hinein? so seltsam das Urteil erscheine, da wir später das Lehrgedicht in die lyrische bringen. Das Beschreibgedicht, z.B. Thomsons, Kleists etc., stellt ein Teilchen Schauplatz dar, ein bowling green der großen epischen Landschaft, nur ohne die Spieler. Es ist das poetische Stilleben. In ihm handelt die Bühne, und die Personen sind der Schauplatz.

Das Lehrgedicht gehört in die lyrische Abteilung. Diese Absonderung darf wohl befremden, weil man dem sinnlichen Landschaftgedichte weit mehr Wärme zutrauet als dem unsinnlichen Lehrgedicht. Aber das Beschreib-Gedicht hat als solches nur mit der epischen körperlichen Fläche zu tun, welche an und für sich dasteht, ausläuft und weit blüht. Das Lehrgedicht läßt auf innere geistige Gegenstände den Brennpunkt der Empfindung fallen, und in diesem leuchten und brennen sie; und dieses so sehr, daß der flammende Pindar ganze Reihen kalter Lehrsätze zu seinem korinthischen Erz einschmilzt.

Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre, sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereiht und als eine mit Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten, z.B. von Young, Haller, Pope, Lukrez. In der Dichtkunst ist jeder Gedanke der Nachbar eines Gefühls, und jede Gehirnkammer stößt an eine Herzkammer. Ohne dies wäre ja eine Philosophie wie z.B. die platonische ein Lehrgedicht. Zuweilen liegen die Gegenstände des Lehrgedichts, dieses prosaischen Chors, weiter vom Herzen als vom Gehirne ab, z.B. Horazens und Popens Lehrgedicht der Ästhetik. Virgils Georgika und die sogenannten Episteln sind schweifendes Grenzwildpret der beschreibenden und der lehrenden Dichtkunst. Wohin die Lehrdichtereien von de Lille gehören, ist wohl jedem gleichgültig, der sie nicht lieset.

Da in der Fabel nicht die Moral der Geschichte wegen gemacht wird, sondern die Geschichte für jene nur der Boden ist; – so gehört sie, so breit auch der geschichtliche Boden eines kleinen Samenkorns ist, doch nicht dem epischen an, sondern dem lehrenden Gedichte eines – Gedankens.

Das Sinngedicht – oder wie die deutschen Alten, z.B. Gryphius, [274] besser sagten, das Beigedicht – kann, wenn es ein griechisches ist, welches eine Empfindung ausspricht, schon in die ersten Lyrischen Fachwerke geordnet werden; insoferne es aber als ein römisches oder neueres sich zu einem bloßen Stechgedanken zuspitzt, wird es in die fernern Unterabteilungen, nämlich in das Lehrgedicht, als ein verkleinertes Lehrgedichtchen fallen.

Zuletzt sind noch richtig-eingefacht unterzubringen das Rätsel, desgleichen die Scharade, samt ihren Absenkern und Wasserreisern, den Logogryphen, Anagrammen u.s.w. Ich glaubte von jeher am wenigsten willkürlich zu verfahren, wenn ich sie alle als Mittelwesen und Mittelsalze (wie die Epistel, nur aber verkleinerter) auf die Grenze zwischen Beschreib- und Belehr-Gedicht aussetzte.

Noch weiter ins Kleinere abzuteilen und zu zerfasern, möchte wohl mehr angenehmen Zeitvertreib für den scharfsinnigen Kunstrichter als nützliche Kunstlehre für den ausübenden Dichter gewähren; ich wünschte daher nicht, daß mir Mangel an System vorgeworfen würde wenn ich wenigsilbige, mikroskopische Gedichte nur flüchtig berühre, als da sind z.B. ein bloßes Wehe! Ach! – (es würde zur Elegie, diesem Bruchstück des Trauerspiels, gehören) – oder ein bloßes Heisa! Juchheh! – (offenbar der verkürzte Dithyrambus).

Nur eine Nebenbemerkung bei diesen Kurzgedichten! Die Griechen sind weit reicher an Schmerzrufen, diese Miniatur-Elegien, als wir Neuern, gleichsam zum Zeichen ihrer tragischen Meisterschaft. Die Ausrufungen der Franzosen sind meistens kürzer als unsere: ah (wir: ach!) – fi (wir: pfui, die Kurzsatire) aie (au weh!) – parbleu (potztausend!) – hélas (leider!); wieder ein Beispiel, daß sie sogar in diesen kleinsten Kunstwerken nicht so unendlich weit und breit sind wie wir in allen.

Nun noch als die ordentlich kürzesten Gedichtformen gar Frag- und Ausrufzeichen anzuführen und die einfachen, doppelten etc. zu klassifizieren, wäre wohl in jedem Falle nur ein Scherz und wahrhaft überflüssig. Schon durch das Vorige hofft der Verfasser der Vorschule hinlänglich dem Vorwurf systematischer Lücken begegnet zu haben, der ihm allerdings zu machen war.

[275]
14. Programm. Über den Stil oder die Darstellung
§ 76. Beschreibung des Stils
§ 76
Beschreibung des Stils

Der Stil ist der Mensch selber, sagt Buffon mit Recht. Wie jedes Volk sich in seiner Sprache, so malt jeder Autor sich in seinem Stile; die geheimste Eigentümlichkeit mit ihren feinen Erhebungen und Vertiefungen formt sich im Stile, diesem zweiten biegsamen Leibe des Geistes, lebend ab. Einen fremden Stil nachahmen, heißet daher mit einem Siegel siegeln, anstatt mit einem Petschaft. Allerdings gibt es einen weiten wissenschaftlichen, gleichsam den Wachtmantel, den ein Gedanke nach dem andern umschlägt – indes der geniale eine mit den grünen Kernen zugleich reifende und genossene Hülse und Schote ist –; aber selber jener gewinnt durch Individualität; und in der bloßen Gelehrsamkeit tut oft das leise Erscheinen des Menschen so viel höheres Vermögen kund als in der Dichtkunst das Verdecken desselben. Hat jemand etwas zu sagen, so gibt es keine angemessenere Weise als seine eigene; hat er nichts zu sagen, so ist seine noch passender. Wie wird man mit dem Widerspruche des Scheins gequält wenn ein gewöhnlicher Mensch wie z.B. Meißner nach Lessings dialektischer und dialogischer Kettenregel sich mit seinem ineinander geschlungenen Ketten-Demosthenes behängt und damit klingend zieht, ohne etwas zu haben, was zu ziehen oder zu binden ist, als wieder Ketten zum Klingeln!

Wielands langatmige, gehalten sich entwickelnde Prose ist das rechte Sprachorgan der Sokratik, welche ihn eigentümlich auszeichnet bis zum Scheine der Veränderlichkeit. Nicht nur der sokratische Spott fodert die Langsamkeit der Länge, sondern auch die gehaltne Kraft, womit Wieland mehr als irgendein Autor, wie ein Astronom, die größte und die kleinste Entfernung für die mittlere zu berechnen und aus den gezeichneten Enden in die Mitte zurückzuführen weiß. Als ein solches Sternbild der geistigen Waage hebt er sich langsam Stern nach Stern empor, um [276] uns die Gleichheit unsers innern Tags und unserer Nacht vorzuwägen. Da es aber eine Tag- und Nachtgleiche gibt, welche den poetischen Frühling, und eine zweite, welche den prosaischen Herbst mitbringt: so werden wir dem Griechen und dem Deutschen, jedem eine andere geben müssen; ein Unterschied, der sich auch in den beiden Schülern des Sokrates, in Platon und Aristipp ausdrückte. Philosophen haben überhaupt lange Perioden, gleichsam die Augenhalter dessen, dem sie den Star wegheilen; und Wieland ist ein großer Lebens-Philosoph. –

Besucht Herders Schöpfungen, wo griechische Lebens-Frische und indische Lebens-Müde sich sonderbar begegnen: so geht ihr gleichsam in einem Mondschein, in welchen schon Morgenröte fallt, aber eine verborgne Sonne malt ja beide.

Ähnlich, aber periodologischer ist Jacobis straffe, kerndeutsche Prose, musikalisch in jedem Sinne; denn sogar seine Bilder sind oft von Tönen hergenommen. Der seltene Bund zwischen schneidender Denkkraft und der Unendlichkeit des Herzens gibt die gespannte metallene Saite mit dem weichen Vertönen.

In Goethens Prose bildet – wenn in der vorigen die Töne poetische Gestalten legen – umgekehrt die feste Form den Memnons-Ton. Ein plastisches Ründen und zeichnendes Abschneiden, das sogar den körperlichen Künstler verrät, machen seine Werke zum festen stillen Bilder- und Abgußsaal.

Hamanns Stil ist ein Strom, den gegen die Quelle ein Sturm zurückdrängt, so daß die deutschen Marktschiffe darauf gar nicht anzukommen wissen.

Luthers Prose ist eine halbe Schlacht; wenige Taten gleichen seinen Worten.

Klopstocks Prose, dem Schlegel zu viel Grammatik nicht ganz unrichtig vorwarf, zeigt häufig eine fast stoff-arme Sprech-Schärfe, was eben Sprachlehrern wie Logikern eigen ist, welche am meisten gewiß, aber am wenigsten viel wissen; daher fast alle Sprachlehren kurz geschrieben sind, und Danzens hebräische am kürzesten. Überhaupt bei der Einschränkung auf einen engen Stoff will sich der denkende Kopf durch die Anstrengungen zur Sprechkürze Genüsse bereiten. Neue Welt-Ansichten wie die genannten [277] vorigen Dichter gab er wenig. Daher kommen die nackten Winteräste in seiner Prose – die Menge der zirkumskriptiven Sätze – die Wiederkehr der nämlichen, nur scharf umschnittenen Bilder, z.B. der Auferstehung als eines Ährenfeldes. Gleichwohl wird dadurch nicht Klopstocks tonloser Prose, welche der scharfe, aber tonvolle Prosaiker Lessing lobte, der Ruhm der hellsten Bestimmtheit und Darstellung verkleinert.

Die vollendete Prunk- und Glanzprose schreibt Schiller; was die Pracht der Reflexion in Bildern, Fülle und Gegensätzen geben kann, gibt er; ja oft spielet er auf den poetischen Saiten mit einer so reichen, zu Juwelen versteinerten Hand, daß der schwere Glanz, wenn nicht das Spielen, doch das Hören stört.

Ich übergehe viele (denn kein Volk schrieb in einem und demselben Jahrfunfzig eine solche vielgestaltige Proteus-Prose als das deutsche); und nenne nur flüchtig noch den milden Stil des christlichen Xenophon, Spalding (so wie Herder ein christlicher Platon im Darstellen zu nennen wäre, wenn nicht der größte Mensch der Erde zu hoch über jede Vergleichung, selber mit einem Sokrates, hinausstände); ferner die bildliche Anschaulichkeit in Schleiermachers und die unbildliche in Thümmels Stil.

§ 77. Sinnlichkeit des Stils
§ 77
Sinnlichkeit des Stils

Wenn der Stil Werkzeug der Darstellung – nicht des bloßen Ausdrucks – sein soll: so vermag er es nur durch Sinnlichkeit, welche aber – da in Europa bloß der fünfte Sinn, das Auge, am Schreibepult zu gebrauchen ist – nur plastisch, d.h. durch Gestalt und Bewegung, entweder eigentlich oder in Bildern daran erscheinen kann.

Für Gefühl und Geschmack haben wir wenig Einbildungkraft; für Geruch, wie schon oben bewiesen worden, noch weniger Sprache.

Für das Ohr sammelte unsere Sprache einen Schatz fast in allen Tierkehlen; aber unsere poetische Phantasie wird schwer eine hörende, Auge und Ohr stehen in abgekehrten Winkel-Richtungen [278] in die Welt. Daher muß man musikalische Metaphern, um mit ihnen etwas auszurichten, vorher in optische verkörpern, wie denn schon die eigentlichen Ausdrücke hoher, tiefer Ton das Auge ansprechen. Sagt man z.B.: die Erinnerung im Greise ist ein leises Tönen und Verklingen aus den vorigen Jahren: so stellet sich dies bei weitem nicht so freiwillig dem Einbilden dar, als wenn man sagt: diese Erinnerung ist ein entfernter Ton, der aus dunkeln tiefliegenden Tälern heraufzieht. Kurz, wir hören besser einen fernen als einen leisen Ton, einen nahen als einen starken, das Auge ist das Hörrohr der akustischen Phantasie. Noch dazu, da das innere Auge nach einem besondern Gesetze nicht hell erkennt, was plötzlich davortritt, sondern nur was allmählich wie nach einem Zuge von Ahnen erscheint: so können nicht die Töne, diese Götterkinder, die plötzlich ohne Mutter und gerüstet wie Minerva vor uns treten, sondern bloß die Gestalten, welche wachsend sich nähern, folglich erst an und in diesen die Töne sich lebendig vor die Seele stellen.

§ 78. Unbildliche Sinnlichkeit
§ 78
Unbildliche Sinnlichkeit

Sinnlichkeit durch Gestalt und Bewegung ist das Leben des Stils, entweder eigentliche oder uneigentliche.

Den Ruhm der schönsten, oft ganz homerisch verkörperten Prose teilt Thümmel vielleicht mit wenigen, unter welche Goethe und Sterne, aber nicht Wieland gehören, der die seinige durch Verkehr mit den französischen Allgemeinheiten entfärben lassen. Man könnte oft Thümmel ebensogut malen als drucken; z.B.: »Bald fuhr der Amorskopf eines rotwangigen Jungen zu seinem kleinen Fenster heraus, bald begleiteten uns die Rabenaugen eines blühenden Mädchens über die Gasse. Hier kam uns der Reif entgegengerollt, hinter dem ein Dutzend spielende Kinder hersprangen. Dort entblößte ein freundlicher Alter sein graues Haupt, um uns seinen patriarchalischen Segen zu geben.« Bloß an der letzten Zeile vergeht das Gemälde. Ebenso schön sinnlich ists, wenn er von den Empfindungen spricht, die man hat, »wenn

[279] die Deichsel des Reisewagens wieder gegen das Vaterland gekehrt ist«.

Da auch unsere abstrakte Sprache nur ein bloßer Abdruck der sinnlichen ist: so steht die Sinnlichkeit auch in der Gewalt der Philosophen, wie Schiller und Herder beweisen; und sie wäre ihnen noch mehr zu wünschen, damit sie enger und leichter reiheten. Ich hasse daher durchsichtige Luftwörter wie »bewirken, bewerkstelligen, werkstellig machen« – ferner die durch ein Nicht vernichteten Nebel-Wörter, als Nicht-Sohn, Nicht-Achtung; so malt »durchsichtig« mehr als »unsichtbar«. – Ebenso sind personifizierte Zeitwörter, zumal verneinende – z.B. bei Lessing: »DieVersäumung des Studiums des menschlichen Gerippes wird sich am Koloristen schon rächen« – wenigstens in der Poesie das Gift aller Gestalt. Klopstock hat oft wenig feste sinnliche Folie hinter seinem Spiegel. Vier Mittel – denn die Kürze ist bloß das fünfte – ergreift er, um seine Gestalten zu luftigen auf einer Ossians-Wolke zu verglasen: erstlich eben das abstrakte Personifizieren der Zeitwörter mit einigen Pluralen noch dazu, wie ihm denn Gestaltung lieber ist als Gestalt, – zweitens die Komparativen, welche den Sinnen so wenig bieten, z.B.


Die Erhebung der Sprache,
Ihr gewählterer Schall, 165
Bewegterer edlerer Gang,
Darstellung, die innerste Kraft der Dichtkunst-

ferner die verneinende Adverbia, z.B. unanstoßendes Schrittes, weil hier das Sinnliche gerade das ist, was aufgehoben wird und endlich seine zu oft umkehrende gestaltlose Figur, die die Schlacht schlägt, den Tanz tanzt, den Zauber zaubert etc. Daher ist die Messiade dieser großen Seele 166 ein schimmernder durchsichtiger Eispalast.

Ich werde nachher bemerken, wie leicht gerade der Bau der deutschen Sprache alle Gestalten des Dichters aufnimmt. So ziehen [280] z.B. die Präpositionen mit dem doppelten Kasus an, unter, vor, neben, auf; über, hinter so sehr den schönen Bogen der Bewegung, sobald sie den Akkusativ zu regieren haben: vor die Augen heben, hinter Berge stellen; oder auch ans Zeitwort geschmolzen: den Schleier vorsenken, Blumen unterlegen etc. Überhaupt weht der Akkusativ bei sinnlichen Zeitwörtern romantisch durch die Gefühle: z.B. scheint tief ins Leben oder in das Jahr, oder: wirft ihm lange Schatten nach.

Es gibt viele Hülfmittel der phantastischen Sinnlichkeit. Z.B. man verwandelt alle Eigenschaften in Glieder, das leidende Wesen in ein handelndes, das Passivum ins Aktivum. Wird z.B. statt: »durch bloße Ideen werden die Verhältnisse der ganzen Erde geändert« lieber gesagt: »das innere Auge oder dessen Blick bevölkert Weltteile, hebt Länder aus dem Sumpf etc.«: so ist es zum wenigsten sinnlicher. Je größer der sinnliche leidende oder tätige Kasus: desto besser; z.B. »einem Lande dringt sich die Krone als Sonne auf.«

Die sinnlichen intransitiven Zeitwörter zerfallen vorteilhaft in sinnliche Umschreibungen; z.B. statt: »das Leben blüht« ist es sinnlicher: »das Leben treibt Blüten, wirft sie ab, lässet sie fallen.« – Ja jedes Zeitwort ist weniger sinnlich als ein Geschlechtwort. Hingegen ein Partizipium ist handelnder, mithin sinnlicher als ein Adjektivum: z.B. das dürstende Herz ist sinnlicher als das durstige. – Ein ruhender Körper wird nicht so lebhaft durch ein intransitives Zeitwort dargestellt als durch ein tätiges; z.B. »die Straßeläuft, steigt etc. über Berge, Sümpfe« ist nicht so lebendig als: »die Straße schwingt sich, windet sich über Berge.« – Das Zeitwort verwandelt sich kräftig in ein Hauptwort, z.B. statt: »der, den ihre Arme erziehen« bei Herder: Zögling ihrer Arme. – Das Partizipium, zumal das tätige, ist besser als das trockne Adverbium: z.B. sie haben sein Leben zögernd zerstört, anstatt langsam. Ganze kleine Sätze mischt und kleidet oft Herder in diese Wendung reizend ein. Die Neuern stehen in ihrer erbärmlichen Partizipien-Dürftigkeit gegen die Römer als Hausarme da, gegen die Griechen gar als Straßenbettler. Ein Beiwort wird vorteilhaft in ein Hauptwort durch Zusammensetzung verwandelt: z.B. goldene [281] Wolke in Goldwolke, giftiger Tropfe in Gifttropfen, beschränktes Auge in Schranken des Auges. – Ferner: stelle den Gegenstand lieber entstehend als entstanden vor; z.B. anstatt: »die Nerven stammen aus dem Gehirn« lieber: »das Gehirn wird zu Nerven ausgesponnen.«- Schon die gemeine Sprache bemalt noch das Bezeichnen der Sinnen-Wörter; z.B. blutrot, feuerrot, käse- oder kreideweiß, kohl- oder rabenschwarz, oder gar kohlrabenschwarz, essigsauer, honig- oder zuckersüß, wozu noch die deutschen Einwort-Assonanzen kommen: Klingklang, Ripsraps, Holterpolter etc. So darf denn auch die höhere Sprache in ihre Schattenrisse Farben tropfen lassen; z.B. anstatt Flügel der Zeit habt ihr noch (insofern nur Schnelle zu zeigen ist) Falken-, Schwalbenflügel der Zeit; bei Tatze und Klaue bietet sich euch die ganze Wappenkunde dar mit Tiger-, Löwen-, Leoparden- etc. Tatzen, dann mit Adler-, Falken-, Greifgeier-Klauen. – Und wirken denn nicht kleine Nebenfarbengebungen so weit hinein, daß der Dichter mehr gewinnt z.B. mit nirgend und nie als mit nicht, weil jene schon Raum und Zeit andeuten, nicht aber alles oder nichts? Ja geht nicht alles so ins Kleinste, daß z.B. wegstoßen, fortstoßen sinnlicher anklingt als verstoßen, oder sinnlicher entzweireißen als zerreißen, bloß weil ver und zer nicht an und für sich stehen und zeigen können, wohl aber weg und entzwei? – Indes werden hier nur kleine Mittel sinnlichster Darstellung, aber nicht deren Stellen angegeben, welche jede Dichtart anders wählt.

Sind einmal einige Gestalten mit großen Kosten auf der metaphorischen Fähre angekommen: so geselle man ihnen ja nur wieder Gestalten bei; nichts ist matter, als wenn Sinne auf Worten wachsen oder umgekehrt; man sollte nicht einmal mit Wieland sagen: »dem Zahn der Zeit trotzen,« das T-Z-Terzett nicht einmal gerechnet. – Hingegen im Komischen ist gerade das Widerspiel recht, z.B. Wielands: der Duns trägt seine Entschuldigung unter dem Hut.

Die Beiwörter, die rechten und sinnlichen, sind Gaben des Genius; nur in dessen Geisterstunde und Geistertage fället ihre Säe- und Blütenzeit. Wer ein solches Wort erst sucht, findet es schwerlich. Hier stehen Goethe und Herder voran, auch den Deutschen, [282] nicht nur den Engländern, welche jede Sonne mit einem Umhange von beiwörtlichen Nebensonnen und Sonnenhöfen verstärken. Herder sagt: das dicke Theben – der gebückte Sklave das dunkle Getümmel ziehender Barbaren etc. Goethe sagt: die Liebes-Augen der Blumen – der silberprangende Fluß – der Liebe stockende Schmerzen zu Tränen lösen – vom Morgenwind umflügelt etc. Besonders winden die Goethischen (auch seine unbildlichen) gleichsam die tiefste Welt der Gefühle aus dem Herzen empor; z.B. »wie greifts auf einmal durch diese Freuden, durch diese offne Wonne mit entsetzlichen Schmerzen, mit eisernen Händen der Hölle durch.« Wie wird man dadurch dem gemeinen Gepränge britischer Dicht-Vornlinge noch mehr gram! – So ergrauen auch Geßners verwässerte Farben gegen die festern hellern im Frühling von Kleist. – Manchem Kosegartischen Gemälde geht oft zu einem dichterischen nichts ab als ein langer – Strich durch alle Beiwörter. 167

§ 79. Darstellung der menschlichen Gestalt
§ 79
Darstellung der menschlichen Gestalt

Wenn die Gestalt malet, wer malet denn sie selber? besonders die schwierigste, nämlich die schönste? Die Handlung, antwortet Lessing. Aber da ohnehin im Gedicht alles eine sein soll: so muß diese näher für die Wirkung betrachtet werden.

Vor der Phantasie stehen nie bleibende, nur werdende Gestalten; sie schauet ein ewiges Entstehen, folglich ein ewiges Vergehen an. Jeder Blick erleuchtet und verzehrt mit demselben Blitze seinen Gegenstand, und wo wir lange den nämlichen anzuschauen glauben, ist es nur das irre Umherlaufen des Leuchtpunktes auf einer ausgedehnten Gestalt. Die gerade Linie, den Bogen und die Wellen-Linie halten wir leichter und fester vor das Auge, weil ihr Fortwachsen ihrer ähnlichen Teile sie nicht [283] ändert 168; hingegen jede Winkel-Figur muß vor dem ersten Blicke entspringen, und sie wird schon vom zweiten zerstückt. Es ist schade, daß wir noch nicht geistige Licht- und Zeitmesser für unsere Ideen und Gefühle haben; ein Buch voll Beobachtung zög' ich einem neuen metaphysischen Systeme vor.

Am schwersten wird der Phantasie die Vor- und Nachbildung einer menschlichen Schönheit aus Worten, welche wie die Kugel den größten Reichtum in die kleinste Form einschließt. Sie findet an ihr lauter Verschiedenheiten, aber ineinander schmelzende; folglich weder die Hülfe der Linie, worin das Ganze den Teil wiederholt, noch die Hülfe der Häßlichkeit, deren Bestandteile als ledige Kontraste sich schärfer und schneller vordrängen. Ohne Überblick festgehaltner Teile aber gilt es keine Schönheit, diese Tochter des Ganzen oder des Verhältnisses.

Nun ist die Phantasie überall mehr Wort-Schatten als Lebenfarben nach- und vorzubilden angewöhnt; die cogitationes coecae, wie Leibniz sie nennt, bewohnen uns den ganzen Tag, ich meine Schatten zur Hälfte aus der Sinnensprache, ein Viertel Ton- und ein Viertel Schriftsprache. »Wie leicht und leer,« sagt Jacobi, »gehen uns die unendlichen Wörter: Himmel, Hölle, durch den Geist und über die Lippe!« Wie kahl wird nicht Gott ausgesprochen und gelesen!

Farben bereitet die Phantasie am leichtesten, da sie ja durch das ganze Leben am unendlichen Raume färben und sogar den Schatten in ihren Färbekessel tauchen muß. Daher wachsen Blumen, da sie nur aus wenigen Farben und Bogenlinien bestehen und immer dieselben bleiben, so schnell in der Phantasie auf. Umrisse als die Einschränkung der Farbe werden ihr schon schwerer, außer solche, welche Bewegung – diesen Widerschein des Geistes – fodern und zeigen, z.B. eine lange Gestalt, weite Ferne, Landstraßen, hohe Gipfel.

Wie wird nun die fremde Phantasie zur plastischen Schöpfung gezwungen? Nie durch den bloßen Anstoß und Zuwink: »ein reizendes Gesicht, eine Venus,« oder durch folgende, in anderer Hinsicht vortreffliche Verse in Wielands Oberon:


[284]
Es war in jedem Teil, was je die Phantasie
Der Alkamenen und Lysippen
Sich als das Schönste dacht' und ihren Bildern lieh
Es war Helenens Brust und Atalantens Knie
Und Ledas Arm und Erigonens Lippen u.s.w.

Eben jedes schöne Glied, welches hier als erschaffen vorausgesetzt wird, soll mir der Dichter erstlich vorschaffen (denn das bloße Wort gibt mir so wenig eine Anschauung als das Wort Himmel Himmelfreude); dann aber soll er eben alle Glieder, welche die Phantasie nicht festhalten kann, durch ein organisches Feuer zu einer warmen Gestalt verschmelzen. Nur der lyrische Dichter mag etwan sagen: er wolle dies singen – oder: er wolle es nicht, es sei zu groß, oder: hat je ein Dichter etwas Schöneres u.s.w.; denn durch die Empfindung gibt er den Gegenstand; aber der epische kann nur durch den Gegenstand die Empfindung geben und darf also mit dieser nicht beginnen, nur beschließen. Sogar in der Lyrik wirkt es entkräftend, wenn z.B. Klopstock zum Besingen Gottes durch die Erklärung Anstalten macht, daß er das Besingen nicht vermöge; denn zwar das Unvermögen des Beschreibens wird bedeutend durch die Wichtigkeit des Beschreibers gehoben, aber nicht sonderlich der Gegenstand Gott; auch findet man ungern in der Nähe des Allerhöchsten so viel Reflexion und Blick auf sich und auf Beschreiben.

Damit nun aus dem reißenden Flusse der Ideen eine Gestalt vor der Phantasie einen Augenblick lange aufspringe, müssen in den nächst vorhergehenden die Springfedern dazu gespannt werden. Man kann diese einteilen in die Aufhebung, in den Kontrast und in die Bewegung, die sich wieder in äußere und in innere zerteilt.

Die Aufhebung ist dies: zeigt im ersten Momente bloß den Vorhang der Gestalt, nehmt im zweiten ihn ganz weg, dann zwingt ihr die Phantasie, welche durchaus keinen leeren Raum vertragen und beschauen kann, ihn mit der Gestalt zu füllen, die ihr nur mit einem einzigen Worte vorher zu nennen braucht, z.B. Venus. Umstände, welche den Helden die geliebte Schönheit zu erblicken hindern, heben sie gerade dem Leser vor das Auge; so wirken z.B. die Springwasser gestaltend, hinter welchen Albano gern [285] seine erblindete Liane ersehen möchte. – Sonst fragt' ich mich, warum gerade in 1001 Nacht alle Schönheiten so schön und so lebendig dastehen; jetzo antwort' ich: durch Aufhebung. Da nämlich jede vorher nach Landes-Sitte unter dem breiten Blatte des Schleiers glüht und da immer plötzlich das Laubwerk weggezogen wird: so sieht man natürlich darhinter die durchsichtig-zarte, weiß-rote Frucht beschämt niederhängen.

Auf dieselbe Weise wirkt der Kontrast entweder der Farbe oder der Verhältnisse. Nirgends zeigten mir Gedichte mehr blendende Zähne oder mehr blitzende Augen als an Mohrengesichtern, nirgends hellere Rosen-Lippen als im siechblassen Angesicht, das allmählich von der roten Rose zur weißen verwelkt. Dies ist optisch. – Ebenso der Kontrast der Verhältnisse. Wenn Wieland ein unangenehmes Gesicht durch die Lichter und Seelen schöner Augen verklärt, wie eine Nacht durch Sterne; – ja wenn die Alten eine Venus zornig oder die jungfräuliche Pallas ernst darstellen: so heben diese Kontraste schärfer hervor, als die Verwandtschaft-Farben »lächelnde Venus, liebende Pallas« jemals vermöchten. Ich entlehne vom trefflichen Gestalten-Schöpfer Heinse nur die nächste Schönheit in seiner Anastasia: »er führte heran, indem wir unsumdrehten, ein Frauenzimmer in weißem Gewand mit zurückgeschlagenem Schleier, groß und hehr, obgleich noch fast kindlich an Jugend, mit blitzenden Augen aus einer schwarzen Wetterwolke von Locken, das reizende Modell zu einer Pallas und doch schon Brüste und Hüften gewölbt, fast wie die mediceische Venus. Eine wunderbar fremdschöne Gestalt.«

Gibt man der Phantasie die Ursache, so nötigt man sie, die Wirkung dazu zu schaffen; gibt man ihr Teile eines unteilbaren Ganzen, so muß sie den Rest ergänzen. Daher hält drittens eine Handlung, d.h. eine Reihe von Bewegungen, am leichtesten die Reihe der an sie geknüpften Reize, d.h. der Gestalten, fest, das Bewegliche malet das Feste stärker als dieses jenes. Ihr malet den Hals, wenn ihr ihm ein Halsband anlegt oder abnehmt. Kleidet in der Poesie eine Schönheit vor den Lesern, z.B. wie Goethe Dorothea, an: so habt ihr sie gezeigt; dasselbe gilt noch mehr, wenn ihr sie entkleidet. Siebenkäs legt und drückt den Kopf seiner [286] Lenette an das Silhouetten-Brett; dadurch schattet sie sich am Brette und in unserer Seele ab. Hätte Wieland in der vorigen Strophe aus einem römischen Ergänzmagazin einen Ledas-Arm oder dergleichen in die Hand genommen und als Möbleur der Person gesagt, so sei ihrer: so wäre uns allen, nur nicht ernst genug, ihre Gestalt ins Auge und in die Sinne gefallen.

Wie Handlung oder Bewegung gestalte in der fließenden Phantasie, das zeigt euch jede Fackel. Sagt: »Ich sah den Apollo in Dresden, ich sah die Eisberge in der Schweiz,« ihr habt noch schwach uns die hohen Gestalten aufgerichtet und enthüllt. Aber setzt dazu: »Wir hatten Fackeln, z.B. in der Schweiz, und so wie der Schimmer hinunter in die schwarzen Gründe stürzte, an den Klüften auflief und wie lebendige Geisterspiele um grüne Gipfel und über Schneeflächen schweifte und Schatten gebar etc.,« so sieht man etwas.

Außer der äußern Bewegung gibt es noch eine höhere Malerin der Gestalt, die innere Bewegung. Unsere Phantasie malt nichts leichter nach als eine zweite. In einer Folio-Ausgabe von Youngs Nachtgedanken mit phantastischen Randzeichnungen von Blake ist z.B. auf dem Blatte, wo Träume gezeichnet werden, die Gestalt für mich fürchterlich, welche gekrümmt und schaudernd in ein Gebüsch starrt; denn ihr Sehen wird mir Gesicht. Um also unserm Geiste eine schöne Gestalt zu zeigen; – – zeigt ihm nur einen, der sie sieht; aber um wieder sein Sehen zu zeigen, müßt ihr irgendeiner Körperteil, und wär' es ein blaues Auge, ja ein weißes großes Augenlid, mitbringen; dann ist alles getan. Ihr wollt z.B. eine erhabene weibliche Gestalt abzeichnen, so mag ihr Gemüt sie mit opfernder Liebe verklärend durchstrahlen, daß Schimmer und Umriß ineinander verrinnen; aber irgendeine Verkörperung gründe den Geist: die Gestalt senke die reine lichte gerade Stirn, wenn sie gibt und liebt; dann wer det ihr sie sehen. Herder malt in den Horen einen Liebenden, der seine Geliebte vor dem Kalifen malt – man führt nur eine kranke blasse Gestalt daher – aber er fodert nur, mit seinen Augen schaue man sie – und so gibt er uns seine Augen. – Wie gedacht, irgendein sichtbares gefärbtes Blumenblatt – im vorigen Beispiel war es welk und [287] weiß – muß dem unsichtbaren Dufte die Unterlage leihen, und wär' es einer von Homers festen Teilen der Rede: blau- und großäugig, weißarmig etc. – Werthers durchsichtige Lotte ist daher nur ein schöner Ton, eine Echo, aber die Nymphe bleibt verborgen.

Einige wollen uns die Gestalt erschließen lassen, indem sie ihr Maler, Dichter, Lobredner und alle schönen Künstler voraus- und nachschicken, welche sie ausposaunen. So machte es Richardson, der uns bekannte Verfasser und viele; aber ein Schluß ist kein Gesicht, ausgenommen in der Weltgeschichte. Lessing legt die freudigen Ausbrüche einiger Greise in der Ilias über Helenens Schönheit als volle Farbenkörner zu einem kräftigen Bilde der Griechin vor – und das sind sie gewiß; – aber nicht durch die bloßen Ausrufungen greiser hustender Stimmen (denn bei uns und bei Griechen wär' es ekel abstoßend; dann zweckwidrig, da eben des Dichters Zweck, zu preisen, so roh vorstäche; dann zwecklos, da ja Helenens Bild schon auf allen Schwertern widerglänzte, die ihrent wegen gezogen waren), sondern durch zwei andere Verhältnisse wird die Schilderung richtig und feurig: erstlich, daß die Greise Helenen verschleiert gehen sahen, folglich im doppelten Gestalt-Vorteil für die Phantasie, in der Hülle und in der Handlung und zweitens dadurch, daß Helene in die allgemeine Weltgeschichte hineingehört. Der Historiker schreibe nämlich, daß Maria von Schottland eine große Schönheit gewesen, man glaubt eine, man sieht eine- und zwar so lebendig und leicht, als man auf der Gasse eine menschenliebende Seele auf einem Arme findet und sieht, der sich ausstreckt, um zu tragen oder zu reichen, – allein in der Dichtkunst wird Maria nicht eher schön, als bis ihr Schiller durch Mortimer die Augen, den Hals und alles schickt, obwohl widrig genug auf dem Enthauptung-Blocke aufgetischt.

§ 80. Poetische Landschaftmalerei
§ 80
Poetische Landschaftmalerei

Schöne Landschaften sind vom Dichter und Maler leichter als Menschen zu zeichnen; weil bei jenen die Weite des Spielraums in [288] Farbe und Zeichnung und die Unbekanntschaft mit dem Gegenstand die Strenge der Ansprüche mildert. Aus den Landschaften der Reisebeschreiber kann der Dichter lernen, was er in den seinigen – auszulassen habe; wie wenig das chaotische Ausschütten von Bergen, Flüssen, Dörfern und die Vermessungen der einzelnen Beete und Gewächse, kurz, der dunkle Schutthaufe übereinander liegender Farben sich von selber in ein leichtes Gemälde ausbreite. Hier allein gilt Simonides' Gleichsetzen der Poesie und Malerei; eine dichterische Landschaft muß ein malerisches Ganzes machen; die fremde Phantasie muß nicht erst mühsam, wie auf einer Bühne, Felsen und Baumwände aneinander zu schieben brauchen, um dann einige Schritte davon die Stellung anzuschauen: sondern ihr muß unwillkürlich die Landschaft, wie von einem Berge bei aufgehendem Morgenlicht, sich mit Höhen und Tiefen entwickeln.

Auch dies reicht nicht zu, sondern jede muß ihren eignen einzigen Ton der Empfindung haben, welchen der Held oder die Heldin angibt, nicht der Autor. Wir sehen die ganze Natur nur mit den Augen der epischen Spieler. Dieselbe Sonne geht mit einem andern Rote vor der Mutter unter, welche der Dichter auf den Grab-Hügel eines Kindes stellt, und mit einem andern vor der Braut, welche auf einem schönern Hügel dem Geliebten entgegensieht oder zur Seite steht. Für beide Abende hat der Dichter ganz verschiedene Sterne, Blumen, Wolken und Schmetterlinge auszulesen. Wird uns die Natur roh und reich ohne ein fremdes milderndes Auge nahe vor unseres geschoben, folglich mit der ganzen Zerstreuung durch ihre unabsehliche Fülle: so bekommen wir einen Brockes, Hirschield und zum Teil einen Thomson und Kleist; jedes Laub-Blatt wird eine Welt, aber doch will der Fehl-Dichter uns durch eine Laubholzwaldung durchzerren. – Dazu kommt: in der äußern Natur erhöht die Fortwirkung des ausgebreiteten lebendigen Ganzen jeden Lichtstreif, jeden Berg und jeden Vogelton, und jede Stimme wird von einem Chore begleitet; aber der poetischen Landschaft, welche nur Einzelnes nach Einzelnem aufbreitet, würde das steigende Ganze völlig mangeln und jede Einzelnheit unbegleitet und nackt dastehen, wenn nicht [289] ein inneres poetisches Ganzes der Empfindung das äußere erstattete und so jedem kleinen Zuge seine Mitgewalt anwiese und gäbe.

Die Landschaften der Alten sind mehr plastisch; der Neuern mehr musikalisch, oder, was am besten ist, beides. Goethens beide Landschaften im Werther werden als ein Doppelstern und Doppelchor durch alle Zeiten glänzen und klingen. Es gibt Gefühle der Menschenbrust, welche unaussprechlich bleiben, bis man die ganze körperliche Nachbarschaft der Natur, worin sie wie Düfte entstanden, als Wörter zu ihrer Beschreibung gebraucht; und so findet man es in Goethe, Jacobi und Herder. Auch Heinse und Tieck 169, jener mehr plastisch, dieser mehr musikalisch, griffen so in die unzähligen Saiten der Welt hinein und rührten gerade diejenigen an, welche ihr Herz austönen.

Gleichwohl sind nicht nur Brockes, Hirschfeld und die Reisebeschreiber zu studieren – um Farbenkörner aufzusammeln für Gemälde und also um nicht den Abendstern, wie Klopstock 170 und der Romanschreiber Cramer, abends aufgehen zu lassen –, sondern die große Landschaft-Natur selber ist fast abzuschreiben. Sie hat in der Tat das Große, daß sie nirgend klein ist. Das Studium der bloßen menschlichen Natur liefert oft Farben, welche der Dichter wegwirft; aber am Sternen- und Wolken-Himmel und auf Bergen und unter den Blumen geht nichts Unedles vor, und ihr könnt jede Farbe davon einmal, nur nicht in jedem Gemälde, gebrauchen.

Der phantasie- und humor-reiche Baggesen ver langt, ein Dichter solle nur einmal einen Sonnen-Untergang oder – Aufgang und so alles Große malen. Der Dichter, für seine Rechnung, sollt' es gewiß – denn die kindliche Lenz-Heiligkeit eines ersten Ausdrucks der lange vollen und übervollen Seele hat kein zweiter mehr –; aber für jeden Helden braucht er neue und andere Morgen, für jede Heldin dergleichen Abende; folglich wie unter den unzähligen [290] Dichtern bei jedem die Sonne in einer andern Himmelgegend aufging und wir so viel Aufgänge als Geister haben: so muß dasselbe für die Geister gelten, welche derselbe Dichter bringt.

Sobald eine Landschaft nicht musikalisch (durch Gemütstimmung), sondern nur plastisch (besser optisch) zu malen ist: so wird zur letzten Darstellung, welche weniger auf Schönheit als auf Lebendigkeit der Körperreihe achtet, das geschilderte Auge des Zuschauers am meisten dienen, wenn man dasselbe so meisterhaft schauen lässet, wie Goethe immer tut, z.B. vortrefflich in der Stelle Wilhelm Meisters, wo die Frachtwagen voll Schauspieler in der Nacht dem gräflichen Schlosse mit deren gewaltigen Erwartungen zufahren, die die funkelnden Augen als Leuchtkugeln auf das verdunkelte Schloß hinwerfen. Durch welche Künste entwickelt er uns ein so lebendig blühendes Aussichtstück? Durch die oben genannten Künste im Darstellen der Menschengestalt: wir sehen durch das Auge der spähenden Genossenschaft und halten es vor das unsrige als Augenglas – Regen und Nacht heben als Folien die fernen Lichter auf den Treppen und an den Schloßfenstern, und diese das ferne Schloß heraus – und jeder Rad-Umlauf rollt am Bilde weiter auseinander. Ein Dichter kann durch solchen rechten Gebrauch abnehmender Ferne, also herantretender Nähe, sein Gestalten-Gemälde mit mehr Wirksamkeit, da jede erschienene Linie die kommende festhält, wenigstens anfangs ausbreiten als selber der Maler, bei welchem das Auge auf seinem Gemälde im Anfange unter den Richtungen zum Verbinden irren und suchen muß.

So unentbehrlich benannten Landschaften, z.B. einer italienischen, Lokal- oder Ortfarben sind, so werden sie doch häufig von Dichtern nur mit dem allgemeinen Farbenbrei des Himmels und der Erde angestrichen – aus einer beinah verzeihlichen Täuschung. Jede Empfindung hält und fühlt sich individuell und bestimmt; diese bestimmte für eine bestimmte Landschaft schiebt sich dem Dichter auch für eine bestimmte Darstellung der letzten unter. Noch öfter begegnet dies Reiseliebhabern, die sich ins Dichten hineindichten, z.B. dem Reisenden Fischer, der den Genfer See [291] fast in alle landschaftliche Reize einfäßt, die Genfer etwan ausgenommen.

§ 81. Bildliche Sinnlichkeit
§ 81
Bildliche Sinnlichkeit

Wie Malerei Seelen durch Gestalten abbildet, so die Poesie; nur daß bei dieser Verkörpern und Beseelen beides Beleben sind, obgleich jedes mit anderem Anfange.

Auf die Frage über das Maß der Bilder lässet sich nichts im Allgemeinen bestimmen. Oft tadelt man den Überfluß derselben, wenn uns bloß ihre Alltäglichkeit quält und abmattet. Wie oft wurden schon z.B. Wunden auf dem Papiere geschlagen und wieder aufgerissen, mußten sich öffnen, sich schließen, verbluten und, was das Widrigste ist, verharschen, nach der ästhetischen Wundentherapie. Durch die Menge alter Bilder dem Werte derselben nachhelfen wollen, verrät die höchste Kälte. – In den lateinischen und französischen Versen der Neuern und in der abscheulichen Programmen-Prose der lateinischen Phraseologen waltet dieses kalte handwerkmäßige Austapezieren mit buntem verblichenem Tapetenpapier. Selber in Moses Mendelssohns Briefen über die Empfindungen werden solche Fußtapeten als Wandtapeten angeschlagen. Morhof hat in seiner Polyhistorie die Metapher »gleichsam in Scheuern einsammeln« und Monboddo in seinem kalten, wie die See einfärbigen Stil »die geretteten Trümmer des Schiffbruchs« ein paar Millionen mal. Adelung wiederholt in seinem Buche über den deutschen Stil die kahle Vergleichung des Schreibens mit dem Malen, also des Kunstwerks als solchen mit einem als solchem; so wie ungefähr eine feurige Phantasie einige Ähnlichkeiten aus der Instrumentalmusik herholen würde für die Vokalmusik. – Gebt lieber die nackten schwarzen Holz-Äste als einen welken Umhang rauschenden Laubes vom vorigen Jahr!

Zwar hat auch jeder reichere Autor seine Lieblings-Sternbilder, die er anbetet und ansieht – der eine Sterne, der andere Berge, der dritte Töne, der vierte Blumen; aber wenn auch eine indische Phantasie wie eben die Herdersche, gleich dem Kolibri, gern auf [292] die Blume und die Blüte fliegt, nämlich auf die Metapher davon: so zieht sie doch aus jeder einen andern Honig. Und dies ist die Probe, das jedesmalige Umbilden eines alten Bildes; jedes Leben – es wohne in der wirklichen oder in der dichterischen Welt gestaltet sich individuell.

Klopstock und Lessing geben den alten Bildern wenigstens den Reiz neuer Schärfe; z.B. Lessing: »meine Beispiele schmecken nach der Quelle«; aber die Jagd nach Germanismen führt ihn eben darum weniger zu schönen alten Bildern als zu deutschen alten, z.B. »der Macht auf den Zahn fühlen«; und gar: »den Übersetzungen das Wasser besehen.« – Wenigstens helfe man einem abgelebten Bilde durch einen Zusatz auf, der nicht dessen müde Fortsetzung, sondern mehr eine reizende Entgegensetzung ist. Wenn ich anstatt: »der Schmerz zerriß sein blutendes Herz« dafür sage: sein hartes, oder schweres, warmes, festes u.s.w. Herz, nach Erlaubnis der Rede: so wird wenigstens die im »blutenden« liegende Wiederholung des »zerriß« zum Vorteil der Anschaulichkeit vermieden; ebenso wenn man anstatt z.B. »das schwere Haupt sank in den Staub« dafür sagte: das bekränzte, weißlockige, nackte, wunde, erhobene, feurige etc.

Die Vollkommenheit jedes bildlichen Ausdrucks ist seine sinnliche Schönheit und Neuheit schon ohne die geistige, wenn z.B. Herder sagt: »dem jungen Schiffer sind oft schon unterm Angesichte der Morgenröte Stürme beschieden« – oder die bloße Anschaulichkeit, z.B. Herder: »dem Neide den Lorbeer aus den Klauen ziehen.« So unzählige bei Schiller und Goethe. Diese Anschauung einer doppelten Poesie oder Neuheit, einer innern und einer äußern, kann, da nur die innere Lebendigkeit sich eine äußerliche anbilden kann, keiner dürftigen Prachtgesetze bedürfen. Nur wo die Bildlichkeit bloßer Anputz ist, sei sie sparsam; aber wenn der Schmuck Angesicht wird, die Rosen Wangen, die Juwelen Augen: dann ist es einem Gesichte erlaubt, so schön zu sein, als es kann. Daß übrigens das bildliche Denken sich mit dem tiefsten so gut verträgt als eine schöne Nase und Stirne mit dem weisesten Gehirn darhinter, beweisen nicht nur Denker wie Platon, Bakon, Leibniz, Jacobi, sondern auch die unzähligen Schreiber, [293] welche das Gesetz der Sparsamkeit und das Gelübde der Armut nur in der Zahl der Wörter und Bücher verletzen, es aber desto strenger in Ideen und Bildern halten.

Die Begeisterung gibt wie die Liebe oft eine süße Überfülle ein, über welche der unfruchtbare Frost nicht richten sollte; so gerät Homer im zweiten Buche der Ilias auf einmal unter Gleichnisse, bei welchen überhaupt schwerer das erste als das zehnte geschaffen wird. So umkränzt der großsinnige Winckelmann das Portal seines Kunstwerks über die Kunstwerke mit Blumen und Blumenkränzen und dann wieder den Ausgang. So geben Swift und Butler 171 die Gleichnisse nur in Herden.

§ 82. Über Katachresen
§ 82

Über Katachresen


Ich wünschte, man könnte die laue Metapher von der Waagschale hergenommen, z.B. »meine Schale stieg,« zur Katachrese verurteilen und den Satz behaupten: daß man dabei aus der Metapher der Schwere in die fremde des Steigens gerate. Indes gibt es Waren, z.B. die indischen Musseline, welche man eben nach der Leichtigkeit und dem Steigen schätzt. Durch dieses Doppel-Gewicht von einer Schnellwaage wird aber die Metapher so verdorben, daß man bei dem Worte »meine Schale stieg« gerade unter entgegengesetzten Sinnen die Wahl hat und nichts erfährt, wenn nicht alle Autoren sich zusammenschlagen und sich bereden, wie noch angesehenere Leute nichts auf der Waage steigen zu lassen als das – Schlechte. – Auch bei der seiltänzerischen Metapher »auf des andern Schultern stehen und mehr wissen« hebt die Phantasie die langen Menschenreihen mühsam eine nach der andern auf eine höhere Schulter und muß geplagt die aufgerichtete Wesenleiter halten, um sie anzuschauen.

Mit jedem Jahrhundert verliert eine Flur von Dichter-Blumen [294] ihre lebendige blühende Gestalt und vermodert zu toter Materie, z.B. die Bilder Geschmack, Verdauen, Aussicht, Ton, Berg, Gipfel. Besonders verflüchtigen sich gerade die Metaphern der gröbern Sinne, z.B. hart, rauh, scharf, kalt, zuerst und werden abstrakte Geister, eben weil der gröbere Sinn der dunklere ist, indes das helle Auge seine hellen Gestalten in größerer Ferne verfolgt und bewacht. Aber auch hier verfliegt, was oft erscheint; so selber das Licht, tiefe Finsternis. Der Gipfel schlägt bloß durch ein W (Wipfel) wieder körperlich und grünend aus.

Diese öftere Wiederkehr macht ein Körper-Wort oft so durchsichtig, daß ein Schriftsteller, der immer ein und dasselbe uneigentliche Wort in einer Abhandlung gebrauchen muß, leicht dessen eigentliche Bedeutung vergißt. Ich war oft nahe daran, in dem vorhergehenden Paragraphen die Bilder sprechen, fliegen, atmen, duften zu lassen. Ja der sonst kalte Fontenelle, der mehr über sich wachte in solchen Fällen als ich, gebraucht in seinen Réflexions sur la Poëtique die Katachrese: les semences de dénouement sont renfermées dans le premier acte; – desgleichen faire éclorre le dénouement nicht zu gedenken.

Auch Adelung herrschte über das Feuer, womit er schreibt, nicht immer so strenge, daß ihm nicht in den beiden Bänden über den Stil Stellen wie folgende im 2. S. 153 entfahren wären: »daher erscheint in einem heftigen Affekte so vieles abgebrochen; daher fehlen hier die gewöhnlichen Verbindungwörter, und dort werden sie wieder gehäuft, wo nämlich ein Schimmer des Verstandes den raschen Gang der Ideen aufhalten und ein besonderes Gewicht auf diesen oder jenen legen will« – oder S. 181: »das Kriechende findet nur dann statt, wenn der Ton unter den Horizont der jedesmaligen Absicht hinabsinkt.« Da nun grünes Holz schon brennt, so entschuldige er das Flammen des dürren.

Wenn Herder sagt: der Geschmack blüht, so hat er mehr recht als ein anderer, der das stehende Wasser einer verlebten Metapher noch mit der grünen Materie einer neuen Allegorie überziehen wollte. Ebenso, wenn Engel kühn genug sagt: der süße Wohllaut, so ist die Kühnheit hier sogar zu empfehlen, ja zu wünschen, daß [295] man das Beiwort süß statt des langen unangenehmen angenehm bei unserer Armut an Genuß-Beiwörtern überall ohne Katachresen-Strafe gebrauchen dürfte, z.B. eine süße Stadt, ein süßer Knecht eines süßen Herrn.

Der Verfasser brachte in seinem Wörterbuch, wenn er die Partizipien wie jauchzend, lebend etc. ausließ, nicht so viele Freuden-Beiwörter (wie etwan froh, wonnig) zusammen, als wir gewöhnlich Ahnen, Winde und Zähne zählen.

Aber eben dieses tägliche Aussterben der Sprech-Blumen muß uns größern Spielraum zur Nachsaat an weisen. Die Zeit mildert alles und vertreibt grelle Farben. »Organisation eines Landes« wäre uns sonst so widrig vorgekommen als jetzo eine generatio aequivoca desselben; aber durch die korrekten Franzosen sind wir so sehr daran gewöhnt, daß sogar kalte Staatsmänner die Metapher auf ihren Titelblättern gebrauchen, z.B. Herr Minister von Kretschmann. Jetzo durch die Übung der geistigen Springfüße, durch das leichtere Verbinden aller Ideen, durch den Tauschhandel in allen Teilen des Gehirns und durch ein größeres fortgesetztes Gleich- und Ebenmachen in uns wie außer uns muß die Welt zuletzt mit kühnen Bildern aufhören, so wie sie damit anfing. Rede-Blumen müssen gleich den Tulipanen – wovon man vor Jahren nur die gelbe kannte, jetzo aber 3000 Abarten sich durch ihr gegenseitiges Bestäuben immer vielfarbiger austeilen. Herr von Schönaich verdammte vor 50 Jahren fast lauter Klopstockische Kühnheiten, die wir jetzo – und Lessing früher zu schätzen wissen; und wie man sonst in der Musik Fortschreitungen kaum durch Terzen erlaubte, aber jetzo oft durch Quinten und Oktaven: so werden in der Dichtkunst größere Fortschreitungen durch entferntere Verhältnisse verstattet. Denn es kommt bloß auf zwei Bedingungen an. Erstlich daß das sinnliche Bild sinnliche Anschaulichkeit, nicht aber eben Wirklichkeit habe; z.B. ich kann einen Regen von Funken sinnlich denken; folglich kann Schiller sagen: ein Regen von Wollust-Funken. – Diese Kühnheit gebraucht oft (mißbraucht selten) Schiller; z.B. bei der Ebbe des Herzens betteln; ja noch mehr: 1) Wunden in ein 2) Rosen- 3) Bild 4)bohren; in welcher Redart sich das [296] Gemälde fast aus vier Bildern ohne Tadel bildet. Görres, ein Millionär an Bildern, obwohl als Prosaist, drückt freilich, wenn er jedes Bild zum Hecktaler eines neuen hinwirft, zuweilen auf die Kehrseite seiner Bildmünze ein mit der Vorseite unverträgliches Bild; und ich brauche in dieser Allegorie nur länger fortfahren, so ahm' ich ihn nach. – Adelung (dieser soll uns von Görres heilen) tadelt »das Licht verwelkt« (von Bodmer); warum soll das Entfarben des Verwelkens nicht dem Erblassen des Strahlens gleichen? Tieck sagt: das Licht blüht. Da um so viele Blüten noch weiße sind: so ist diese Kühnheit nur stärkere Richtigkeit. Man müßte folglich auch sagen können – so gut als: der Geschmack blüht –: das Licht einer reinern Kritik blüht, obwohl ein Jahrzehend später. Schwerer fällt aber der Phantasie das Zusammenstellen der zwei unähnlichsten Sinne, des Auges und Ohrs, des sichtbarsten und unsichtbarsten. Tieck lässet nicht nur die Farben klingen – was noch kühn angeht, da vom Sichtbaren ja überall der unsichtbare Geist der Wirkung ausgeht –, sondern auch die Töne glänzen, was noch einen kühnern Sprung ansinnt. Nun aber in die Vermischung zweier Sinnlichkeiten noch gar einen metaphorischen Geist zu legen, folglich zu sagen: »Die Melodien der Sphärenmusik der Dichtkunst glänzen und brennen durch die Welt,« das werd' ich nie wagen, außer hier, wo ich ein geschmackloses Beispiel zu erfinden gehabt.

Das zweite Mittel, ohne Katachresen die Bilder zu wechseln, ist dies, wenn ihre Kürze, die sie mehr zu Farben als Bildern macht, sie in einen Ausdruck vereinigt, wie ein Brennglas die sieben bunten Strahlen des Prisma zu einem Weiß. So sagt z.B. Sturz ganz richtig: »gesellschaftliche Kampfspiele des Witzes, wo man sich flache, klingende, honigsüße Dinge sagt.« Diese von drei Sinnen entlehnten Metaphern legen ihre Widerwärtigkeit in einer Wirkung ab; die Kürze, nicht aber etwan ihre heimliche Verwandlung in eigentliche Bedeutungen söhnt sie untereinander aus. Denn könnt' ich sonst sagen: »Das Leben ist ein Regenbogen des Scheins, eine Komödienprobe, ein fliegender Sommer voll mouches volantes, anfangs ein feuriges Meteor, dann ein wässeriges«? – Ich kann es, denn ich tu' es; der Grund aber liegt im [297] vorigen. Überhaupt ist viel Willkür in den anbefohlnen Fernen, in welchen man verschiedene Metaphern auseinanderhalten soll. Darf man schon im Nachsatze eine neue bringen oder erst in der nächsten Periode? Oder muß in dieser ein uneigentlicher Satz als Schranke da stehen, um die Schlagweite für die neue Metapher leer zu halten? – Oder mehr als einer? – Ja soll man die Metapher in eine immer dünnere leisere Allegorie verklingen oder zu einer stärkern schwellen lassen? Wird aber nicht im ersten Falle die Aufmerksamkeit gegen ein mattes Geräusche von Bildern und Ideen gekehrt; und springt nicht im zweiten der Ton zu straff bei der nächsten Stille ab? – Hier gibt es keine Bestimmung, sondern alles kommt auf den Geist des Werkes an. Kann dieser eine Seele fassen und wie eine Welt durch einen weiten Himmel treiben: dann werdet ihr bei der gewaltsamen Bewegung so wenig einen Schwindel spüren, als das ewige Umrollen der Erde uns einen macht. Schiffet euch aber der Autor in ein enges Marktschiff ein, so daß ihr auf alles um euch her merken und achten müsset, bis zuletzt auf die gedruckten, »Hasenöhrchen«: so schwindelt ihr ekel vor allem, was schnell vorübergeht.

Dasselbe gilt für den Autor. Ist und schwebt er in jener wahren Begeisterung, welche anschauet: so werden seine Blumen von selber zu einem Kranze wachsen, weil das Unmögliche nicht anzuschauen ist. – Ist er aber kalt und tot: so verträgt das Tote alles Ungleichartige, was das Leben ausstieße. Wie Adelung 172 schön »die abweichende Schrift einen wohltätigen Zügel für die ihrer Übrigen Stützen beraubte Aussprache« nennt: so nenne ich die Begeisterung jenen Zügel des Geistes ohne Stützen.

Bloß einen Mangel oder Überfluß wendet die anschauende Begeisterung allein nicht ab; nämlich die Polyglotta eines einzigen Gedankens, oder die Vielwortung. So brachten z.B. die verschiedenen Porträts einer und derselben Gestalt aus Wieland folgenden Satz im Agathon heraus: »Wer kennt, eh' ihn seine eigne Erfahrung belehrt hat, alle die geheimen Winkel des Herzens, in deren sicherm Hinterhalte die versteckte Leidenschaft, indessen daß wir von Triumphen träumen, auf Gelegenheiten lauert, uns [298] ungewarnt und unbewaffnet mit verdoppelter Wut zu überfallen?« Denn hätt' er gesagt: »wer kennt eine Leidenschaft, bevor er sie kennt und erfähret,« so wär' es, wenn nicht ebenso kurz, doch ebenso klar gewesen.

15. Programm. Fragment über die deutsche Sprache
§ 83. Ihr Reichtum
§ 83
Ihr Reichtum

Ein Deutscher, der eine deutsche Sprachlehre lieset, dankt dem Himmel, daß er sie zum Teil mitbringt und daß man ihm gerade die schwerste erspart. Da aber wir Deutschen gern Bücklinge nach allen 32 Kompaßecken und den Zwischenwinden hinmachen, um sowohl alle Völker zu gewinnen als etwas von ihnen: so haben wir oft recht sehr gewünscht, unsere Sprache möchte englischer, französischer, regelmäßiger, besonders in den unregelmäßigen Zeitwörtern, überhaupt mehr zu jener von den Philosophen gesuchten allgemeinen Sprache zu machen sein, damit man uns auswärts leichter erlernte. Gäb' es nur eine ausländische neben unserer, z.B. die gallische: so hätten wir längst uns jener so vielen deutschen Wörter und Wendungen entschlagen, welche noch als wahre Scheidewände zwischen unserer und der französischen Sprache bestehen, und hätten nur folgende behalten: »bei Gott ach lieber Gott – Krieg – Abenteuer – Zickzack – Landsknecht – Bier und Brot – Habersack – Halt – was ist das«; – weil sie von selber gutes reines, nur deutsch geschriebenes Französisch sind: bigot – St. Alivergot – cri – aventure – zigzag – landsquenet – birambrot – havresac – halt – un vas-ist-das. 173 Allerdings erreichten [299] wir sonst diesen Vorteil noch leichter, da wir dem ganzen Frankreich selber als einer maîtresse de langue, das sonst nur einzelne Maîtres herausschickte, ganze Städte, z.B. Straßburg, zur Sprachbildung und Übersetzung ins Französische anvertraueten.

Auch unter den Gründen für die Vertauschung deutscher Buchstaben gegen lateinische wird – was im Munde eines jeden andern Volkes knechtisch klänge – der Vorteil mit angeführet, welchen der Ausländer haben würde, wenn er an der Stelle unserer Schrift auf einmal seine eigne anträfe. Nur muß man uns das Verdienst eines Opfers nicht durch die Anmerkung nehmen, daß wir ja gar keine eigne haben, sondern verdorbne lateinische; denn diese ist selber wieder verdorbene oder vergröberte griechische, und diese kehrt am Ende in die morgenländische zurück; daher die Römer sich den Griechen durch Annahme griechischer Buchstaben hätten nähern können, und diese durch eine orientalische Druckerei sich der ganzen aus dem Orient abstammenden Welt.

Indes sind wir im Grunde nicht so ausländisch, als wirs scheinen; wir wünschten nur gern alle Vorzüge und Kränze vereinend zu besitzen und sehen mehr nach den Zielen vor uns als nach den Zielen hinter uns. Ungemein erheben wir eine fremde Literatur in corpore und singen ein Vivat vor einer ganzen Stadt oder Landschaft draußen vor den Mauern und Grenzen. Tritt aber ein einzelner Autor hervor und will einiges vom Vivat auf sich beziehen: so unterscheiden wir ihn ganz von der Menge und Stadt und setzen tausend Dinge an ihm aus. Wie anders, wenn wir von unserer Literatur sprechen! Ihr Corpus wird hart angelassen; nicht eine Mauer zu ihrem Ruhm-Tempel bauen wir aus; hingegen jeden einzelnen Autor setzen wir auf den Triumphwagen und spannen uns vor.

Wir drucken die etwas einfältigen Urteile der Franzosen über uns ab, um uns recht abzuärgern; wie aber, wenn ein Pariser unsere über die Pariser nachdruckte? – Indes eben jenes Tun und dieses Unterlassen offenbaren freilich, daß wir weder die gallische Eitelkeit, welche Europa für ihr Echo und Odeum hält, noch den englischen Stolz besitzen, welcher kein Echo begehrt. Nur vielleicht das Schicksal unserer Philosophie, deren Kamele nicht [300] durch das Nadelöhr eines Pariser oder Londner Tors und Ohrs durchgehen, stellet uns von dem kleinstädtischen Hausieren nach ausländischem Lobe her.

Wir kehren zu bloßem Deutsch zurück. Desto besser, sag' ich, desto bereicherter ist es, je mehr Sprach-Freiheiten, Wechselfälle, Abweichungen eben da sind; für uns, die wir aus der Regel der Regeln, aus dem Sprachgebrauche schöpfen, gibt es keine Unregelmäßigkeit, nur für den Ausländer, der erst unsern Sprachgebrauch, d.h. unsern Gesetzgeber dem seinigen unterwerfen und unsere Gesetze durch seine abteilen und erlernen muß. Denn gäb' es eine allgemeine Regel, so hätten alle Sprachen eine Grammatik.

Ich bin daher gerade für alle Unterschiede von fremden Sprachen; und ebenso für alle Doppelwörter der Grammatik. Kann man glimmte und glomm sagen, nur gerächt (nach Heynatz), nur gerochen (nach Adelung): desto besser, so behaltet beide für den Wechsel und die Not. Daß man statt des langweiligen welcher auch der und im ältern Stile so 174 setzen kann – ferner statt als auch wie, ja denn – ferner statt des gemeinen anfangen und des spröden anheben das alte beginnen, welches seine Vorstecksilbe nicht ans Ende werfen kann, nicht zu gedenken seines Jambus im Imperfektum 175 – – recht erwünscht und brauchbar sind ja alle diese Fälle, nicht dazu, um einige zu vertilgen, sondern um alle zu benutzen nach Verhältnis. Sogar die abgekommenen Adjektiv-Umbildungen der Adverbien sollten als Zeugen eines besondern Bildung-Triebes und als Erben eines reichen Sinnes noch bescheiden fortgrünen; man umschreibe z.B. einmalige, etwanige, sonstige etc. etc. und zähle darauf die Zeilen. – So dankt dem Himmel für den vierfachen Genitiv: Liebe-Mahl, das Mahl der Liebe, der Liebe Mahl, das Mahl von der Liebe; und bittet den [301] Franzosen, es zu übersetzen; auch ärgert euch dabei zu spät über Klopstock, welcher die Genitivs-Voranstellung in einer grammatischen Übermut-Stunde schwer allen Prosaisten untersagte. 176 Desgleichen dankt für den doppelten Genitiv des Zeitworts: einer Sache genesen und von einer Sache genesen. – Hat man einmal ähnlich-lautende, aber unähnlich bedeutende Wörter: so töte man doch keines zum erbenden Vorteil des andern. Z.B. Ahnen bedeutet vorausfühlen, Ahnden strafen; warum will man beides miteinem Worte ausdrücken, zu welchem einige Ahnen, andere Ahnden wählen? Wie, wenn ich nun sagen wollte: ich ahne das Ahnden, ja man wird wieder das Ahnen ahnden; d.h. ich ahne (errate) das kritische Ahnden (Strafen) dieser Stelle, denn man wird sogar dieses Erraten strafen wollen. Wenn Voß dagegen einwirft, das lateinische animadvertere habe dieselbe Doppeldeutung: so sag' ich: desto schlimmer! Wenn andere sagen: an und and wurde erst später aus eins zur zwei: so sag' ich: desto besser! Auch hat Ahnen für sich noch das Schwanen (mir schwant es), das einige vom weissagenden Schwanengesang ableiten.

Unsere Sprache schwimmt in einer so schönen Fülle, daß sie bloß sich selber auszuschöpfen und ihre Schöpfwerke nur in drei reiche Adern zu senken braucht, nämlich der verschiedenen Provinzen, 177 der alten Zeit und der sinnlichen Handwerkssprache. 178 Aber erstlich, warum dürfen wir uns gegen Provinzialismen, welche nur eine Viertelzeile einnehmen, zumal in Prose, mehr sträuben als ein Homer sich gegen Dialekte, welche vielleicht eine Seite färben, oder als überhaupt die Griechen, bei welchen der [302] attische Dialekt nicht eher zur Oberherrschaft gelangte als unter der Oberherrschaft der – Römer, dieser Sklaven-Säemänner und Pflanzer der Sklaven? – Die einzige und rechte Antwort ist: die Sache ist nicht wahr; denn man geb' uns nur Kraft-Leute, welche aus Schwaben – aus der Lausitz – aus Niedersachsen – aus den Rheingegenden landschaftliche Wörter zu uns herübersteuern, z.B. einen Schiller, Lessing, Bode, Goethe, so empfangen wir die vaterländischen Verwandten nach Ehrgebühr.

Wollte man die bedeckten Goldschachten altdeutscher Sprachschätze wieder öffnen: so könnte man z.B. aus Fischarts Werken allein ein Wörterbuch erheben. Ein frommer Wunsch wär' es und doch zu erfüllen, von Heinrich Voß und einigen andern –, ein bloßes Wörterbuch aller seit einigen Jahrhunderten ergraueten Wörter zu bekommen, von welchen wir keine ähnlichen stammhaltigen Enkel haben. Ja, jedes Jahrhundert könnte sein besonderes Scheintoten-Register oder Wörterbuch dieser Art erhalten. Wollen wir Deutschen uns doch recht der Freiheit erfreuen, veraltete Wörter zu verjüngen, indes Briten und Franzosen nur die Aufnahme neugemachter wagen, welche sie noch aus ausländischem Tone formen, wenn wir unsere aus inländischem. Der immer komplette Deutsche kann leichter jedes Buch vollständig schreiben als ein Wörterbuch seiner Sprache, welchem jede Messe einen Ergänzband voll neuester Wörter nachschickt; und das Campesche ist daher, obwohl schwer zu machen, doch leicht zu übertreffen. So reich springen aus dem Boden unserer Sprache überall neue Quellstrahlen auf, wohin der Schriftsteller nur tritt, daß er fast mehr zu meiden als zu suchen hat, und daß er oft im feurigen Gange der Arbeit kaum weiß, daß er ein neues Wort geschaffen. Diese Verwechslung eines neuen mit einem alten, dieses ungesuchte Entgegenschlüpfen führt auch zugleich den besten Beweis für den Wert eines neuen Worts; sogar Kindern entfliegen unbewußt neue sprachrechte Wörter; und der Verfasser setzt zu solchen Beispielen, welche er schon in der Levana angeführt, noch dieses, daß gerade dasselbe kleine Mädchen, welches für Fledermaus Luftmaus erfand, heute, da von Fernglas und Vergrößerglas die Rede war, bemerkte, man sollte [303] statt des letzten sagen: Naheglas. Das Kind hat recht; denn das Vergrößern hat das Sternrohr mit dem Mikroskop gemein.

In Schlegels Shakespeare und in Vossens Übersetzungen läßt die Sprache ihre Wasserkünste spielen, und beider Meisterstück geben dem Wunsche des Verfassers Gewicht: daß überhaupt die Übersetzer wissen möchten, wie viel sie für Klang, Fülle, Reinheit der Sprache, oft sogar mehr als selber der Urschriftsteller, zu leisten vermögen, da ihnen, wenn dieser über die Sache zuweilen die Sprache vergißt, die Sprache eben die Sache ist.

Dichter übrigens führen, sobald man ihnen eine gelehrte Wahl zutraut, neue Wörter am leichtesten ein, weil die Dichtkunst sie durch ihre goldenen Einfassungen heraushebt und dem Auge länger vorhält. Man erstaunt über den Zuwachs neuer Eroberungen, wenn man in Lessings Logau oder in den alten Straf-Rezensionen Klopstocks und Wielands das Verzeichnis erweckter oder erschaffner oder eroberter Wörter lieset, welche sich jetzo mit der ganzen Völkerschaft vermischt und verschwägert haben. Sogar das indeklinable »wund,« das es nicht weniger war als »unpaß, feind,« hat Wieland durch einen Aufsatz für Rousseaus Band-Lüge für uns alle deklinabel gemacht. Jetzige Jünglinge, welche das Wort bieder in der Schule schon hörten, müssen sich wundern, daß Adelung in der deutschen Sprachlehre für Schulen und in der vollständigen Anweisung zur deutschen Orthographie und in den beiden Bänden Über den deutschen Stil – im Wörterbuch ohnehin – gegen das gute, von der Vorzeit geborne und von Lessing wiedergeborne Wort soviel Kriegs-Geschrei erhebt. Adelung selber hingegen, so wie den Meißner Klassen – als den Kreisausschreibenden Sprach-Mächten und Reichsvikarien und Reichs-Oberhäuptern des Deutschen – will das Einführen und Vorstellen von Neulingen weniger gelingen; fast leichter bringt ein Wort sie als sie dieses in Gang. Adelung hatte z.B. einiges Verlangen geäußert, das neue Wort Gemütsstellung statt Stimmung – das er folglich höhern Orts her hatte, weil seines Wissens nur die höhern Meißner Klassen die Sprache bilden – etwan gemein in den tiefern Klassen, nämlich unter den Autoren, und dadurch allgemein zu machen; noch liegt das Wort bei ihm und wird nicht gangbar.

[304] Ich schlage es den Komikern zur Nutzung und Verbreitung vor; ihnen sind ja dergleichen Erfindungen ein schöner Fund. 179 – Eines der besten Mittel, ein neues Wort einzuführen, ist, es auf ein Titelblatt zu stellen. Noch gedeihlicher und weiter pflanzen Zeitungsblätter neue Wörter (unblutige Neuigkeiten) fort, z.B. Heerschau statt Révue.

Neue Wendungen und Wortknüpfungen drängen sich am schwersten oder langsamsten durch die enge Pforte in die lebendige Sprachwelt, z.B. viele französische von Wieland, eigentümliche von Lessing, von Klopstock; erstlich, weil die Annahme einer ganzen fremden neuen Wendung einem halben Raube und Nachhalle ähnlich sieht, und zweitens, weil sich ihre Feierlichkeit nicht so leicht wie ein kurzes Wort mit der Anspruchlosigkeit der Gesellschaft und des gemeinen Stils verflicht. Indes hatten Klopstock (als Dichter) und Herder und Lessing (als Prosaisten) schon von 1760 bis 1770 in einem Jahrzehend durch die Keckheit und [305] Kraft ihrer Wortfügungen (so wie ihrer Wortbauten) die Sprache mit einer Freiheit, Vielgliederung und Gelenkigkeit ausgesteuert, welche später von Goethe und der ganzen arbeitenden deutschen Schule wachsende Fülle bekamen. Aber ein Jahrhundert voll hundert schreibender Adelunge, Biester, Nicolais und ähnlicher hätten die Sprache nicht um eine Spanne freier gelüftet, ja kaum um eine enger gekettet. Überhaupt bildet und nährt die Prose ihre Sprachkraft an der Poesie; denn diese muß immer mit neuen Federn steigen, wenn die alten, die ihren Flügeln ausfallen, die Prose zum Schreiben nimmt. Wie diese aus Dichtkunst entstand, so wächst sie auch an ihr.

Wenn man den Reichtum unserer Sprache, gleichsam eines Spiegelzimmers, das nach allen Seiten wiedergibt und malt, am vollständigsten ausgelegt sehen will: so überzähle man den deutschen Schatz an sinnlichen Wurzel-Zeitwörtern. 180 Überhaupt nur durch die Gewalt über die Zeitwörter erhält der Autor die Herrschaft über die Sprache, weil sie als Prädikate dem Subjekte am willigsten zulaufen und sich in jede grammatische Einkleidung am leichtesten zerteilen; z.B. aus: die jetzige Zeit blüht, wird leicht: [306] sie treibt Blüten, steht in Blüte, steht blühend da, die blühende Zeit, die Blüten der Zeit etc. Wer die Sprache mit erschaffnen Wörtern zu bereichern sucht, lebt meistens an alten verarmet; solche Blumen sind nur aus kranker Schwäche gefüllte und treiben neue Blätter. Lavater hat eben darum mehr Wörter geschaffen als Lessing und Herder und Goethe zusammen; sooft er sich nicht auszudrücken wußte, schuf er. 181 Wer die meisten neuen im sprachlahmen Drange der Unkunde erfindet, sind Kinder. Sonst suchte ein Schriftsteller das Wagen eines neuen Wortes, z.B. Anno 1770 der Übersetzer Hemsterhuis das Wort Wesenheit statt Essence, oder Bode das Wort Empfindsamkeit, mit einem gelehrten Ansehen, beide mit Lessings seinem, zu entschuldigen; jetzo läßt jeder sich hinlaufen und fortspulen und bittet so wenig um Verzeihung neuer Wörter, als wären es neue Gedanken. Aber jenen Neulingen hängen zwei Nachteile an; – daß sie in der scharf objektiven Dichtkunst, in der rein epischen, in der rein komischen, mit ihren vordringenden Ansprüchen mehr stören als wirken; und dann, daß sie da, wo die Malerei ein Blitz ist und kein Regenbogen, viel zu lange sind. Je länger aber ein Wort, desto unanschaulicher; daher geht schon durch die Wurzel-Einsilbigkeit der »Lenz« dem »Frühling« mit seinen Ableitern vor, ebenso »glomm« dem »glimmte«. Da man nicht neue Wurzeln erschafft, sondern nur die alten zu Zweigen und Ausschößlingen nötigt und verlängert: so können sie selten ohne vor- und nachsilbiges Schlepp-Werk, oder doch nicht ohne Spuren von dessen Abschnitte erscheinen.

§ 84. Campens Sprachreinigkeit
§ 84
Campens Sprachreinigkeit

Da ich selber oft dagegen gesündigt und also ebensogut hierüber beichte als predige: so kann ich beides desto getroster tun. Gegen Campens Lichten und Ansäen unserer Sprache spricht folgendes.

An und für sich ist uns der Geburtort jeder Sprache, dieses zweiten Seelenorgans, gleichgültig, sobald wir sie verstehen. Am [307] Ende haben doch alle diese Ströme eine morgenländische Quelle hinter sich – so wie vielleicht ein Meer vor sich, da die höhere Kultur ja nach Jahr-Billionen alle Sprachen in eine schmelzen könnte –; und warum soll uns an einheimischen Klängen mehr liegen als an höherer Bildung durch ausländische? Wir gaben die alten deutschen auf o und a schon weg und ließen so viele e's herein; warum wollen wir uns nicht die Wiederkehr ähnlicher gefallen lassen? – Soll Volk-Bildung sich an der Verständlichkeit einer rein-deutschen Sprache erheben, wie Campe will: so wird dieses Glück durch unverständliche Übersetzungen verstandener Ausländer – z.B. Apostel, Prinz, Apotheke, Appetit, Kalender, Balbier – gerade verschoben; ferner durch Übersetzungen unverstandener noch wenig erreicht – denn das Wort ist ja nicht anfangs (obwohl später) der Vater, sondern der Pate des Begriffs –; und endlich ist es bei Wissenschaften ganz entbehrlich, welche nicht ihre Sprache, sondern ihr Stoff dem tiefern Volke versperret, z.B. höhere Meß-Kunst, Philosophie etc.

Die neu-deutschen Wörter haben zwei große Fehler, erstlich daß sich selten Zeit-, Bei- und Zu-Wörter aus ihnen oder umgekehrt machen lassen – z.B. den Enden als Polen fehlt polar und polarisieren; dem Bewegmittel als Motiv fehlt motivieren; dem Reib-Feuer als Elektrizität fehlt elektrisch und elektrisieren; Bürjas Wasserstandlehre als Hydrostatik fehlt hydrostatisch –; der zweite Fehler ist, daß das neue Wort nur den Gattung-Sinn, selten den abgeschnittenen individuellen lebendigen des alten zuträgt und daß es folglich dem Witze, dem Feuer und der Kürze den halben Wort-Schatz ausplündert. Z.B. etwas »Altertümliches« für »Antike« ist das Geschlecht statt der Unterart, ja statt des heiligen Individuums; und womit soll uns diese kostbare Anschauung erstattet werden? Schwach statt piano und vollends für pianissimo erinnert nicht mehr an Musik allein, sondern an alles. Konnt' ich vorher sagen: »Unglaube ist der Gallizismus der Zeit,« so kann ich es nicht mehr, wenn man Gallizismus durch »französische Spracheigenheit« verdeutscht; und so geht es mit allen scharfen, farbigen Kunstwörtern, welche der Witz zu seiner Mosaik einsetzt. Nur einige neue möchten vielleicht dem Witze noch [308] lieber sein als die alten; z.B. Pferch statt Park. »Wir beide«- könnte der Witz erzählen – »erhoben uns in der Sternennacht; Täler an Tälern; Blüten um Blüten hingen; endlich um den seligen Zauber zu vollenden, empfängt uns mitten in der schimmernden Wildnis der Natur ein köstlicher – Pferch.«

Ein ausländisches Wort einer Wissenschaft ist nur mit dieser selber in ein einheimisches zu übertragen; hat einmal z.B. ein Philosoph irgendeine neue durchgerechnete Gedankenkette mit einem ausländischen Namen, z.B. Indifferenz, Klinamen der Atome etc. etc., bezeichnet, so muß dieser dem Gebrauche verbleiben, wenn man nicht einen dafür gesetzten inländischen wieder mit der ganzen Rechnung begleiten will. – Unverständlich auf Kosten der Bildung ist anfangs jedes Kunstwort, sei es auch inländisch, und unter einem Baumschlage wird sich ein Forstmeister etwas viel Schlimmeres denken als ein Maler, denn jener fällt, dieser stellt. – Sogar einen Gebildeten beladen Übersetzungen grammatischer Wörter mit neuer Gedächtnis-Last, und er und der Ungebildete werden z.B. durch Zeitwort anstatt Verbum um nichts klüger, da eigentlich Adverbia wie gestern, heute, jährlich etc. wahre Zeitwörter sind. Daher sollte man die lateinischen Kunstwörter des Donatus beibehalten, weil sie noch bei den meisten europäischen gebildeten Völkern fortbleiben, ferner weil eine Sprachlehre eine neue Sprache (und wär' es die eigne) und zwar Schritt nach Schritt und Rückschritt so langsam lehrt, daß sich das grammatische Kunstwort schon ins Gehirn einpreßt, und endlich weil die deutschen Sprachlehrer, Adelung, Heynatz, Campe, Klopstock, Wolke, Radlof etc., gleichsam eine Contra-Septuaginta bilden, wovon jeder das fremde Kunstwort anders übersetzt. – Wenn wir unsere Sprache aus allen Sprachen brauen: so bedenke man, daß es darum ist, weil wir eben aus allen lernen und wir ein Allerweltvolk sind, ein kosmopolitisches. Nur für Sachen, welche wir schon wußten und also schon benannten, ist jede zweite Taufe und vollends eine ausländische verwerflich und um desto sündlicher, wenn gar der Refugié einen Wort-Inländer zum Flüchtling macht. Die Römer, auch ein Allerweltvolk – aber ein positives –, auch voll Kosmopolitismus, aber negativen –, nahmen von allen Völkern [309] leicht Sachen, Künste, Waffen, Götter etc. an, doch aber selten Wörter ohne große Umbildung, ausgenommen nur eben, als sie, wie wir, sich Wissenschaften (Gesetze nur früher) holten, nämlich von den Griechen. Überhaupt wird unsere Gastfreundlichkeit für ausländische Wörter sehr entschuldigt und erklärt durch die ebenso große, welche wir auch für älteste und neueste deutsche zeigen. Mithin wird die Ausländerei, die unsern Kronmantel mit einigen Flitterpünktchen stickt, doch die inländische Webe aus ältestem und neuestem Reichtum nicht erdrücken und bedecken.

Sogar das Volk verliert im ganzen durch den ausländischen Kunstlaut nicht immer. Denn das Auslandwort bezeichnet entweder einen sinnlichen Gegenstand – z.B. Toilette –, so übersetzt der hölzerne Putztisch, mit seinen Putzmacherinnen und Putzjungfern, sich jedem Auge von selber; und ohne diese übersetzende Anschaulichkeit gäbe ein inländisches Neu-Wort (wie z.B. Nachttisch statt Morgentisch etc.) sogar irrige Nebenbestimmungen mit; oder das fremde Wort bezeichnet eine innere wissenschaftliche Anschauung; dann erhält der abgeschnittene Klang dasselbe abgesondert und vorgehoben für den bestimmten Sinn empor, der sich allmählich an denselben anlegt. Denn allmählich bildet der Laut in den verschiedenen grammatischen Lagen, durch welche er geht, sich seine Bedeutung zu, wie man an Weltfrauen sieht, welche so viele griechische Wörter verstehen, ohne je einen Gast oder Liebhaber um die Erklärung befragt zu haben; und lernen nicht ebenso die Kinder überhaupt die Sprache? – Sie lernen durch Analogie der Wörter, also aber doch die Wörter früher als die Analogie, welche erst eine bilden. Wenn dem Kinde endlich philosophische bildlose Wörter wie doch, aber, freilich sich zum Sinn aufklären, warum nicht noch leichter dem erwachsenen Volke ausländische, deren Sinn irgendein Gegenstand oder eine bekannte Reihe ausspricht? 182 Oder wie lernt denn der Londner Pöbel ein neues lateinisches Wort verstehen, [310] welches durch nichts Inländisches als eine Schwanzsilbe anglisiert wird, desgleichen der Pariser Pöbel? Treffen denn alle neue Ausländer einen britischen oder französischen Verwandten an, der sie verdolmetscht, z.B. die griechischen während der Revolution? Was die inländischen Schlepp-Silben anbetrifft, an welche Campe das französische und britische Vorrecht, lateinische Wörter einzubürgern, anknüpft, so ist ihm ja unsere Sitte bekannt, gleichfalls solche Schleppen an-oder auch abzustecken. Wollen indes einmal die Sprachreiniger uns helfen: so wäre wohl zu wünschen, sie täten es ganz und fragten nach nichts, und kostete es uns auch, wie zuweilen in siberischer Kälte, Kopf (caput), Augen (oculos), Nasen und Ohren (nasos et aures) und Lippen (labia); lauter geschenkte Glieder von Römern. Ebenso haben die Reiniger auszureuten Lilien, Rosen, Kirschen (cerasus), Kohl (caulis) und überhaupt alles Unkraut von Früchten, welches uns die Römer schon betitelt zuschickten; damit wir bloß die ursprünglichen scharfen Hausgewächse Deutschlands mit ihren gewachsenen Namen behalten, Rettige und Holzäpfel. – Die Religion hat vielleicht am traurigsten unsere Sprache mit ausländischen Namen verfälscht, zu welchen ihr eigener gehört, den wir jetzo gerade am ersten missen können; und es würde in der Tat für Reiniger, wenn nicht ein nachher bemerkter höchst glücklicher Umstand einträte, eine unglaubliche Arbeit werden, uns zu reinigen von Bibeln (biblia) – Tempeln – Kommunikanten – Kirchen und Kirchenpfeilern (gar aus zwei Sprachen, κυριακης-pilae) – Pastoren, Pfaffen, Priestern, Pfarrern (aus paroecia), Predigern (praedicator) – Engeln – Aposteln – Festen (festum), feiern (feriari) – Ostern und Pfingsten (wovon erst den dritten Feiertag einige Staaten weggetan) – Altären – Kelchen (calix) – Pilgrimmen (peregrinus) – Orgeln (organum) – Türmen – opfern (offerre) – segnen (signare). Ich sagte, diese Tempelreinigung der Sprache würde unglaublich mühselig ausfallen, wenn nicht die Zeit zum Glücke den Spracheiferern durch das Absterben der Sachen so vorgearbeitet hätte, daß sie nur gelassen abzuwarten brauchen, bis den Sachen gar die Worte nachfahren. Jede Zunge ist dann rein und Reinsprecherin. Daher verlohnt es sich kaum, [311] daß man solche mit den Sachen von selber absegelnde Aus-Wörter erst mühsam in In-Wörter zurück verdeutschte, wie doch Reß, 183 gleich andern, getan, welcher Feiertage in Ruhe- oder Halttage verdeutschte, als ob diese öfter vorkommen könnten als in den ohnehin lateinischen Edikten, die sie abschaffen. Warum läßt man denn das so undeutsche Wort Wollen (von velle oder voluntas), das wir von den so viel-wollenden und viel-wagenden Römern abgeborgt, bestehen? Warum duldet man das uns fremde Wort Anmut, welches nach Adelung die Franken in Gallien unter dem Titel Amoenitas abholten? – So wird auch das abscheuliche Sprach-Legieren der Münzen, nämlich z.B. Friedrichs d'or, Georgs d'or, Adolphs d'or (und doch wieder Max d'or anstatt Maxens d'or), nachlassen, sobald das Gold weg ist und dafür das goldne Zeitalter der Sprache eintritt. Auch sieht man nicht, warumReß (l. c. S. 41) Festtage, obwohl von festum herkommend, erst in Freuden- oder Gedächtnistage übersetzt, da er selber von Festtag Fasttag ableitet, und wir mit der letzten schon eingebürgerten Übersetzung oder Ableitung vollkommen ausreichen.

Übrigens zurück! Es habe sogar der Wortreiniger alle diese ausländischen Lotterien und ausländischen Universitäten und Häfen der Sprache verboten und versperrt: so kann man ihm dennoch eine Kommission und Komitee ansinnen, welche untersucht, was wir vollends von der griechischen Sprache – und dann von der persischen noch haben und fortsprechen, und welche in der geschichtlichen Ungewißheit, ob wir früher dergleichen verborgt oder abgeborgt, alles ausstößt und nur Wörter behält, deren [312] Ursprung und Ahnentafel nicht nachzuweisen ist. Und warum wird denn nicht überhaupt die ganze deutsche Sprache, da sie doch (wie jede) nur eine verrenkte hebräische ist (z.B. keusch, castus haben wir nach M. Kadisch bloß vom hebräischen שדק und Sack, was noch weniger zu dulden, gar aus allen Sprachen auf einmal, nicht bloß aus der hebräischen), nicht echt deutsch gemacht und sozusagen aus sich übersetzt in sich?

Wenn Campe die Reich-Acht der Sprachausländer durch die Unart der letzten begründet, daß sie als deutsche Sprachgegenfüßler die Ableitsilbe betonen und die Wurzelsilbe enttonen, z.B. Spion, Papier, vexieren etc. etc.: so hängt vielleicht dieser Nachton, welchen Campe zum verwerfenden Korrekturzeichen der Ausländerei macht, durch seine Fremde dem Komischen gerade das Schein-Gewicht an, womit es sich hebt. Übrigens könnte man Campen fragen, wenn also das Ton-Schibboleth fremde Wörter so sehr absondert und ausmustert: was denn von solchen Fremdlingen wohl für Verwechslung mit Inländern zu besorgen sei? Wieland steckte in die betonten Ableitsilbeniren, da wir keine haben, das e – gleichsam unser ewiges ee oder ehe, was Bund bedeutet – hinein und schrieb vexieren, korrigieren, und Verfasser dies schrieb es ihm längst nach. Wir beide wollten, gleich Politikern, durch einen unausgesprochenen Selbstlauter (e) den Infinitivus etwas deutscher machen.

Wer vollends Scherz versteht und folglich liebt, dem nähme Campe alles mit dem Ausland – und in den Programmen über das Lächerliche ists weitläuftig dargetan, wie wenig deutscher Spaß floriere ohne passiven Handel mit Franzosen. Engel las dem Berliner Gelehrten-Verein die brauchbare Bemerkung vor, daß die Endsilbe isch häufig an fremden Wörtern stehe (balsamisch, optisch) und dann an verachtenden (kindisch, weibisch).

Dieses Bedürfnis des Komischen führt mich auf das, was für Campens Zurückberufung unserer Hausgötter zu sagen ist. Er hat auf einmal eine Schar ausländischer Geburten oder Blendlinge durch seine deutsche Wiedergeburt für die höhere Dichtkunst »geechtigt« (legitimiert). In ihrem hohen Reiche hat keine Noblesse Zutritt, aber wohl »Adelschaft.« – kein Infusions-, aber [313] ein »Vergrößerungs-« oder besser (nach Anton) »Aufgußtierchen« – keine Karikaturen, aber jedes »Zerrbild« – durch kein Portal, aber durch ein »Prachttor« – zu keinem Menuett, sondern zu einem »Führtanz« u.s.w. Eben dieser Glanz-Adel, womit der vaterländische Neuling den fremden Gast überstrahlt, machte der gemeinen Parodie den Spaß über Campe so leicht; und einem platten Kopfe, der ein Hohn-Gespräch bei Göschen darüber drucken ließ, wurde dadurch sogar das leichteste erspart, Wörter. 184

Indes gerade das Schandglöcklein des Spottes hat uns vielleicht durch seine Begleitung manches neue Campische Wort tiefer eingeläutet und es durch Lachen dem Ernste näher zugeführt. So könnten besonders Zeitungen als fliegende Blätter, wie es schon einige mit Heerschau, Eilbote etc. getan, diese neuen Samenkörner wie Muskattauben weit und breit auf ihrem Fluge aussäen; besonders da sie selbst so zwei-und vielzüngig und selten deutsch schreiben.

Weniger für das Jätemesser als für das Impfmesser, oder weniger für das Schlagholz als das Stammholz hat man unserm Sprach-Erziehrate zu danken. Wenn er wenige Wörter, wie z.B. Kreisschreiber statt Zirkel, nicht sonderlich glücklich, sondern selber für den index expurgandorum erschuf, worin die Fehlgeburten stehen: so verlieren sie sich leicht unter das kräftige Heer echt-deutscher Söhne, das er entweder erzeugte oder aus deutscher Vor- und Nebenzeit unbefleckt empfing. In dieser Schöpfung kann sich kein Autor mit ihm messen; denn es ist zwar leicht und zu leicht, wie zuweilen Klopstock, Kosegarten und Lavater, durch Vor- und Nach-Silben neue Wörter aus alten zu machen, z.B. entstürzen, Entströmung etc.; aber es ist schwervollends [314] bei eiskaltem grammatischem Blute, ohne Drang und Nachhülfe des Zusammenhangs –, nicht sowohl Gedanken zu übersetzen als kalte Wörter in Wörter. Man versuch' es nur, ob Nachschöpfungen zu solchen Wörtern leicht gelingen wie zu folgenden: Spangenhake statt Agraffe – Zierling statt Elegant Schneesturz statt Lauwine – Abtrab statt Detachement – folgerecht statt konsequent – Lehrbote statt Apostel – Schautanz statt Ballett – Süßbriefchen statt Billetdoux – Lustgebüsch statt Boscage – Zerrbild statt Karikatur 185 etc.

Seine meisten Nachdeutschungen sind so gut, daß man sie ohne Beisatz versteht; z.B. außer den meisten vorigen solche wie Armhut, Fehlgeburt, Bannware, Schaupuppe.

Ja wir brauchen nicht einmal immer neue Wörter zu machen, sondern nur alte zu borgen und können unsere Gedanken in verwandtes inländisches Tuch kleiden, nämlich in holländisches. Bei den Holländern – die größten Puristen (Reinsprecher) Europens, welche nach Holberg 186 gegen alle fremde Religion so duldsam als gegen fremde Wörter unduldsam sind – könnten wir nach dem Vorgange Hermes' und Campens und Affsprungs 187 manche schon fertig stehende Verdeutschungen unseres Undeutsch abholen.

Nie war überhaupt ein Austreiber wie Campe gegen den deutschstummen Teufel nötiger als in unseren Tagen; denn selber der noch feurigere Kreuzprediger gegen die Sprachmengerei, Kolbe, und der größte jetzige Sprachforscher, Wolke, erleben noch jeden Tag neue Verschlimmerungen, wogegen das Wort Blumisterei und Winterls Basicität nur Blume und Grund sind. Denn nicht nur die Hochschüler und Nachschreiber der kantischen und schellingschen Schule gießen (sprach-verarmt, aber eben darum) alle Sprachen ineinander – weil sie nicht merken, daß oft zu großen [315] Sprach-Umwälzungen und – Freiheiten weit mehr gehöre als bloße Unfähigkeit sich auszusprechen –, sondern vorzüglich die Ärzte, die Naturforscher und Scheidekünstler treiben das fremde Einschwärzen am weitesten. Sollte unter ihnen, in Rücksicht ihrer griechisch-, lateinisch- und französisch-benannten geistigen Kinder, der Aberglaube eingerissen sein, welchen die Landleute in Rücksicht der leiblichen hegen, daß eines hundert Jahre lebe, zu welchem man die Gevattern oder Namenherleiher aus drei verschiedenen Kirchspielen bittet: so wundere ich mich in der Tat.

Besonders aus Griechenland werden von den deutschen Ärzten und Philosophen, wie von den Franzosen, die meisten Sprach-Miettruppen angeworben und einberufen; jeder will wenigstens eine halbe Minute lang griechisch schreiben und sagt: graeca sunt, leguntur; denn er wirft das non weg. Ja für jede neue Ansicht wird nicht etwan ein neues deutsches Wort gewählt, oder ein altes griechisches, sondern eine neue griechische Zusammensetzung wird geleimt.

Einen ebenso großen Vorwurf des Ehebrechens mit fremden Kebs-Sprachen verdienen die Lehrer auf hohen und höchsten Schulen, welche unter ihren Zuhörern ungern deutsch Atem holen und nicht besser als in Halblatein Ganzlatein zu lehren glauben. Wie müssen diese Zungensünden sich nicht in den weichen und festhaltenden Jugendseelen fortpflanzen und die jungen Leute, obwohl geborne Puristen – denn welche Sprache redet man wohl früher als die eigne? –, zu Makulisten 188 machen! Unwiderlegbar besteht allerdings der Einwurf der Leere gegen Umdeutschungen von ausländischen Kunstausdrücken, mit welchen irgendein Erfinder seine vorgelegte Ausbeute bezeichnet hatte, und die man durch ein mehr deutsches Wort schwerlich ohne Abschreiben des neuen Systems zu ersetzen versuchen würde. Aber desto stärker ergeht an die Finder und Erfinder neuer Sachen und Sätze die Foderung, daß sie selber ihre Neuigkeiten mit einem bestimmten, sogar erst neugemachten deutschen Worte anzeichnen und [316] unterscheiden sollten; nur so wird die Welt mit Sache und Wort zugleich bereichert. Anfangs lehrt die Sache ein Wort so leicht; später ein Wort die Sache so schwer; und in jedem Falle ist ein neu-inländisches Wort um vieles verständlicher als ein neu-ausländisches, wenn Swifts Regel richtig ist, daß ein Mensch, der eine Sache nur halb versteht, sehr einem andern vorzuziehen sei, welcher von ihr ganz und gar nichts versteht. So mancher Schöpfer eines Lehrgebäudes und der ausländischen Wörter dazu hätte uns wahrhaft bereichern können, wenn er inländische dazu geschaffen hätte, denn es wären zuletzt doch wenigstens die neuen Wörter geblieben.

Will man dennoch das Ausland ins Inland einlassen: so wähle man ein solches, das, wie Latium und Griechenland, uns keine undeutlichen Aussprech-Laute zumutet, wie etwan Frankreich mit seinen Nasenlauten tut, oder das Hebräervolk mit seinen Gaumenlauten. Ein erstlich ausländisches Wort, zweitens mit halbdeutscher Bieg-Anneigung und drittens mit einem der ganzen Sprache fremden Aussprechlaute ist eine dreifache Mißgeburt, ein dreiköpfiger Cerberus, der uns in die Hölle hinein-, nicht aus ihr herausbellt.

So groß, ja unbändig und ordentlich sprachsündenlüstern das Sprachen-Babel in wissenschaftlichen Werken jetzo tobt: so halte der Freund der Reinigkeit sich doch mit dem Troste aufrecht, daß aus den sogenannten Werken des Geschmacks und überhaupt in den Werken für das Allgemein-Menschliche seit funfzig Jahren weit mehr Wortfremdlinge verschwunden sind, als man bei dem Einziehen von Sprachfremdlingen erwarten konnte. Sogar der kerndeutsche Klopstock schrieb noch Skribent anstatt Schriftsteller; und wahrscheinlich wird der Verfasser dies in einer letzten Auflage der Vorschule nicht einmal das Wort Autor, das er Wohl klangs-halber in dieser zuweilen gewählt, mehrgebrauchen dürfen.

Sobald Campe oder andere nicht scharf-abgeschnittene Wörter wie z.B. Pole in unbestimmte, in Enden übersetzen, sondern selber in bestimmte, z.B. Bandagist in Brucharzt: so gewinnt mit der Zeit das neu eingesetzte Wort alle absondernde Bestimmtheit des abgesetzten, und was der Anspielwitz an »Bandage« oder Band verliert, kommt ihm wieder an »Bruch« und »Arzt« zugute.

[317] Man verstärke sich also – dies scheint das Beste – freudig (und danke Gott und Campen) mit den zugeschickten Haustruppen der Sprache, ohne darum gute fremde abzudanken. Der Wohlklang, das Silbenmaß, die geistige Farbengebung, der Witz, die Kürze, der Klangwechsel u.s.w. brauchen und begehren beide Welten zur Wahl. Z.B. Larventanz statt Maskerade gibt dem Witze die Larven im Gegensatz der Gesichter, der Schönheit etc. und den Tanz in Rücksicht der Bewegungen u.s.w., z.B. der Larven-Vortänzer und – Toten-Tanz, Tod als Larven-Tanz-Meister u.s.w. Übrigens darf der Verfasser dies den Paragraphen mit dem Bewußtsein und der Versichrung beschließen, daß er wenigstens aus dieser zweiten Auflage so viel fremde Wort-Eingewanderte (als Ausgewanderte) fortgeschickt, als nur die Reinheit der Sprache bei noch viel höhern Ansprüchen derselben – denn bloße jungfräuliche Reinheit gebiert und ernährt doch kein Kind – begehren konnte. Den Beweis läßt er die Vergleichung der ersten und der zweiten Auflage führen.

§ 85. Vermischte Bemerkungen über die Sprache
§ 85
Vermischte Bemerkungen über die Sprache

Sprachkürze muß dem Leser nicht längere Zeit kosten, sondern ersparen. Wenn man nach zwei schweren langen Sätzen hinschreibt: »und so umgekehrt,« so hat sich der arme Leser wieder zurückzulesen und muß dann selber die Mühe des Umkehrens übernehmen. Nur unbedeutende kurze Umkehrungen drücke man so flüchtig aus. – Einen ähnlichen Zeitverlust erlitt ich im Lesen der trefflichen Biologie von Treviranus, welcher durch sein jener und dieser immer zurückzugehen zwang, indes zuweilen die Wiederholung des einsilbigen Wortes noch kürzer, wenigstens deutlicher gewesen wäre. Johnson sagte daher nie: der vorige, der letzte, und mied alle Parenthesen, deren kaum sechs in allen seinen Werken 189 vorkommen. In der Tat kann der Leser nicht weich genug gehalten werden, und wir müssen ihn, sobald die [318] Sache nicht einbüßt, auf den Händen tragen mit unsern Schreibfingern. Adelung verwirft alle Parenthesen; Klopstock (in seiner Gelehrtenrepublik) klammert einem Perioden zuweilen einen zweiten, sogar gleichartig gebauten und für sich durch da und so bestehenden mit einer Freiheit ein, nach welcher er wieder ebensogut einen zweiten Einschaltperioden in den ersten hätte stecken können. Sterne achtet hier weit mehr Maß. Kurze Parenthesen können, bandlos abgebrochen, als neue Perioden mitreden; ein langer Schmarotzer-Periode muß sich durchaus mit dem Stammperioden grammatisch verwurzeln; und die Probe der Güte ist, daß der Leser nicht dabei zurückzulesen hat. Jedes Dacapo und Ancora des Lesers, nämlich des Wiederlesers, ist das Gegenteil des Dacapo und Ancora des Hörers, nämlich des Wiederhörers; denn nur hier lobt die Foderung der Wiederholung, und dort tadelt sie nur.

Zur Achtung gegen den Leser gehört ferner weit mehr ein langer Periode als zwanzig kurze. Die letzten muß er zuletzt doch selber zu einem umschaffen, durch Wiederlesen und Wiederholen. Der Schreiber ist kein Sprecher, und der Leser kein Zuhörer; und deshalb darf der langsame Schreiber schon dem langsamen Leser so ausgedehnte Perioden vorgeben als Cicero, der Feuer-Redner, einem Feuervolke; und ich führe von ihm nur den seitenlangen und doch lichtvollen Perioden aus der Rede für den Archias von sed ne cui vestrum bis genere dicendi an, dessen auch im Ramlerschen Batteux gedacht wird. Die Alten, die Engländer, die früheren Deutschen ließen großgebaute Perioden wachsen, nur die Zeiten fallenden Geschmacks (z.B. unter den Römern) und die des kleinlichen unter den Franzosen und den Gellerte-Rabenern verästelten den erhabnen Stamm in Weidenrütchen. Was ist ein Rabenersches Perioden-haché gegen einen Liscovschen roast beef!

Zum weichen Schonen unsers guten Lesers gehören noch Kleinigkeiten wie die: z.B. lieber An– undVerstellung als Ver– und Anstellung zu schreiben, weil ver niemals wie an ein Wort für sich ausmacht; – ferner: das langweilige und so oft überflüssige zu können, zu dürfen (z.B. er ist imstande, damit aushelfen zu [319] können) wegzuwerfen; – ferner: so viel als möglich, nur Mögliches in Superlativen zu sagen, also nicht möglichst, auch nicht (wie Engel in seinem Fürstenspiegel) vollendetste, fühlendste Herzen undwohlwollendster Charakter; – ferner dem trefflichen Verfasser der Vergleichung des deutschen und französischen Wortreichtums in Rücksicht der trennbaren Zusammensetzungen der Zeitwörter nur im Ernste zu folgen, aber nicht im Scherze. Von letzten nämlich dieses Wort! Allerdings soll man Zeitwörter, zumal von Vorsetzungen mit ab, ein, an, bei, zu, selten trennen; denn der Periode schnappt, z.B. bei ab, zu, oft mit einem knappen ab ab, oder zu zu; auch bleibt zuweilen der Sinn eines ganzen Satzes auf die Endsilbe verschoben, z.B.: er sprach ihm alle Belohnungen, die er u.s.w. (jetzo nach vielen Zwischensätzen weiß man immer nicht, ob er schließt) zu , oder ab. Doch los, dar, unter, nieder, über tönen zuweilen wenigstens melodisch nach. Hingegen im Scherze kann es eine – zwar nicht kolossale, aber doch – zwerghafte Schönheit geben, wenn man stark sinnliche Zeitwörter, zumal bei großer Erwartung, getrennt voranstellt, z.B.: schnappt er endlich nach vielen Jahren etc. darnach: so etc. – oder solche Zeitwörter, welche ohne die Beisilbe nicht gebräuchlich sind, z.B.: fache, frische, schirre deine Tapferkeit wieder an etc. Schrumpfen dem ans Große gewöhnten Leser solche Farbenpunkte zu sehr ein: so denkt der Mann nicht an seine Schuljahre, wo er im Quintilian, Longin, Dionys von Halikarnaß und Klopstock noch kleinere Pünktchen behandelt fand.

In einem Fragment über die deutsche Sprache ist es erlaubt, an den großen Sprachforscher Wolke zu erinnern, um einige Neuerungen, die ich von ihm mit furchtsamer, unentschiedener Hand in dieses Werk aufgenommen, wenigstens zu bezeichnen. Es betrifft nämlich bei Wortzusammensetzungen die Beugung des Bestimmwortes. Wir sagen im männlichen Geschlechte richtig Ratgeber, Rathaus, und doch Ratsherr – richtig Leibspeise, Leibschneider, und doch Leibesfrucht – richtig Bergmann etc. etc., und doch Hundsstern – Himmelbett, und doch Himmelstür Verfallzeit, und doch Verzugszinsen – Sommersaat, und doch Frühlingszeit. – Wir sagen im Nicht-Geschlecht richtig Amtmann, [320] -haus etc., und doch Amtskleid, -bruder 190 – richtig Kindtaufe, -bette, und doch Kindskopf, -vater – Schiffleute, -segel, -herr, und doch Schiffswerft – Buchladen, und doch Volksbuch etc. – Wasserscheue, Feuerlärm, aber Wassers-, Feuersgefahr. Aber mit dem weiblichen Geschlecht springt man, wie auch außerhalb der Sprachlehre, sündlich-unregelmäßig um, zumal da man den Wörtern auf schaft, heit, keit, ung, ion ein männliches Genitiv-s anheftet, das dadurch seine Unstatthaftigkeit nicht durch den Namen Biegung-S oder Biegung-s verliert. Viele auf e werfen dieses weg, z.B. Rachsucht, Ehrliebe, Lehrbuch, Liebhaber, Kirchturm, und doch wieder Ehrensache, Kirchendienst, Liebesbrief, Hülfsquelle – Vernunftlehre, und doch Zukunfts-, Auskunftsmittel. Wohllaut allein war hier nicht der Ab- und Zusprecher; dagegen spricht Vernunftlehrer und Auskunftsmittel (mit seinem artigen Mitlauter-Quintett nftsm) oder die langen: Gerechtigkeitspflege, Beschimpfungswort etc. Nur die weiblichen einsilbigen Bestimmwörter werden unverfälscht angepaart, z.B. Brautkleid, Luft-, Lustschloß, Zuchtmeister, Nachtwächter etc. etc.; so im Nicht-Geschlecht Werkmeister, aber Geschäftsträger, so im männlichen Herbstzeit, aber Sommerszeit. – Je länger das Bestimmwort ist, desto gewisser verzerren wir es noch durch eine neue Verlängerung mit S.

Der Verfasser hat besonders die weiblichen Bestimmwörter von dem unehelichen Genitiv-s zu befreien gesucht und also z.B. Wahrheitliebe gewählt. Indes war der böse Nachmißklang in den sperrigen Leser-Ohren zu schonen. Mit Schwierigkeit wirft er in einigen Gegenden das S an Legations-Rat ab; indes in andern, z.B. in Dresden, sogar der gemeine Sprachgebrauch sagt Kommission-, Legation-Rat.

Die Bestimmwörter auf ung, z.B. Bestimmungswörter, reichen eine kleine Hülfe. Wozu nämlich denn die Substantiv-Endigung ung, da wir ja dem Zeitwort bloß den Infinitiv abzuschneiden brauchen; also nicht Denkungs-, Heilungskraft sagen sollen, sondern Denk-, Heilkraft; so wie wir Seh-(nicht Sehungs-)kraft, Schreibart, Dicht-, Reit-, Fechtkunst, Hörrohr, Brennpunkt, [321] Leuchtkugeln, Steckgarn schon haben. Ja sogar mit zwei Silben desgleichen: Vorsteckblume, Vorstellkraft, Gedenkvers. – Auch sieht man nicht, warum man nicht nach Leitfaden auch Ableitsilbe, nach Bindwerk Entbindkunst etc. bilden dürfe. Der Verfasser wagte hierin weniges, aber nur um zu versuchen, nicht um zuzumuten. Der ganze Versuch kränkelt überhaupt an Halb- und Viertelseitigkeit, da dem allherrschenden Ohre des Publikums nicht unbedingt zu befehlen ist, und man also wie ein Minister auf Kosten der Hälfte den Gewinn der Hälfte retten muß. Gibt doch selber der sonst rüstig alte Hecken durchtretende Klopstock in seiner Gelehrtenrepublik, welche kein Deutschenfreund ungelesen lasse, den Rat, nur allmählich auszustoßen und einzuführen. 191

§ 86. Wohlklang der Prose
§ 86
Wohlklang der Prose

Sogar der Prosaist verlangt und ringt in Begeisterung-Stellen nach dem höchsten Wohlklang, nach Silbenmaß, und er will, wie in dem Frühling, in der Jugend, in der Liebe, in dem warmen Lande, gleich allen diesen ordentlich singen; nicht reden. In der Kälte hustet der Stil sehr und knarrt.

Wie oft war es dem Verfasser in der hebenden Stunde so, als müßt' er sich durchaus ins Metrum stürzen, um nur fliegend fortzuschwimmen. Allein das Silbenmaß ist die Melodie des Wohlklangs; [322] und diese entzieht sich der Prose; aber einige Harmonie desselben gehört ihr zu.

Freilich gibt es einen prosaischen Rhythmus; aber für jedes Buch und jeden Autor einen andern und ungesuchten; denn wie die Begeisterung des Dichters von selber melodisch wird, so wird die Begeisterung großer Menschen, von einem Luther an bis zu Lessing und Herder herüber, unwillkürlich rhythmisch. Ist nur einmal ein lebendiger und kein gefrorner Gedankenstrom da, so wird er schon rauschen; ist nur einmal Fülle und Sturm zugleich in einer Seele: so wird er schon brausen, wenn er durch den Wald zieht, oder säuseln, wenn er sich durch Blumen spielt. Vögel, welche hoch fliegen, haben nach Bechstein sogar befiederte oder beifügelte Füße.

Bemerkungwert ist es, daß vortönender Wohlklang nicht in der Poesie und doch in der Prose das Fassen stören kann, und zwar mehr als alle Bilder; weil nämlich diese die Ideen darstellen, jener aber sie nur begleitet. Doch kann dies nur geschehen, wenn die Ideen nicht mächtig und groß genug sind, um uns über dem Betasten und Prüfen ihrer Zeichen, d.h. der Töne, emporzuheben und zu halten. Je mehr Kraft ein Werk hat, desto mehr Klang verträgts; der Widerhall gehört in große weite Gebäude, nicht in Stuben. In Johannes von Müllers Geschichte verträgt, ja verlangt die Gewalt der Idee den halb starren, halb widerstoßenden Klang, das dumpfe Rauschen des lebendigen Stroms unter starrem Eis. In Meißners Epaminondas bedeckt mir die Instrumentalmusik des Klanges ganz die schwache Vokalmusik des Sinns. 192 In Engels ästhetischer Psychologie oder psychologischer Ästhetik, so wie in seinen Erzählungen klingt der schöne Rhythmus nicht seinen witzigen, hellen Ideen vor; aber wohl in seiner chrienmäßigen, gedankenarmen Lobrede auf den König, welche [323] nicht einmal eine auf den Lobredner ist. Der Stilist lobe den Stilisten, Engel einen bedeutenden Seelenlehrer – Müller den Tacitus – Goethe Herder – Reichard Gluck – Fontenelle die Akademisten und Klopstock sich – Allein wenn nur und kaum der Geistverwandte tadeln darf und kann: wie soll die Lobrede das Recht der Unwissenheit und Unähnlichkeit vor dem Tadel voraushaben? Nur in einer verwandten, ja höhern Seele widerscheine die fremde gekrönt und bekränzt. Daher ist es anmaßend, einen großen Mann zu loben. Daher ist es wegen der größern schönern Verwandt- und Bekanntschaft des Gegenstandes mit dem Lobredner weit leichter und erlaubter, wenigstens bescheidner, sich selber zu loben.

Um zurückzukommen: der Vogel singt nur, wenn er Frühlingkraft und Liebtriebe fühlt; Memnons Gestalt ertönt erst, wenn Sonnenstrahlen sie berühren und wecken; ebenso erschaffe das beseelte Wort den Klang, nicht der Klang das Wort; und man setze nie wie der leere La Harpe und tausend Franzosen und hundert Deutsche die Leiter mühsam an, um auf eine – Tonleiter zu steigen. Allerdings übe und prüfe man – aber außer der Begeisterung-Stunde – das Ohr, sogar an Klangwerken, an Engels Lobrede, zuweilen an Sturz, Zimmermann, Hirschfeld, Meißner etc.; aber mitten im rüstigen Treffen aller Kräfte muß man nicht Musik machen und darüber das Fechten und Siegen versäumen. Lessings Prose tönt uns mit eigentümlichen Reizen an, zumal in den Schluß-Fällen. Wieland befriedigt meistens durch schönen Schluß-Aushalt. Der große Haller entzückt in seinen Romanen (so viel ich mich aus meiner Jugend erinnere) durch den häufigen Gebrauch der Daktylen, welche Longin 193 für erhabene Tongänge der Prose z.B. an einem Beispiele Demosthenes' erklärt. – Klinger in seinen Trauerspielen in Prose, welche (zumal die republikanischen), obwohl poetischer als seine Romane, kaum mit halber Dankbarkeit für ihre Erhabenheit jetzo gelesen oder vergessen werden, läßt schön, aber kühn wie Goethe im Egmont oder der Verfasser der Dya-na-sore immer mit langer und kurzer Silbe tönen. – Görres' Fortklingen wird durch sein Fortmalen und [324] beides durch sein Fortdenken und Fortlehren gleich gewogen und meistens gerechtfertigt. – Nur Klopstock, dieser Tonsetzer und Klangwähler in der Poesie, untersagt absichtlich seiner Mann – Prose jede Schmeichelei des Ohrs.

Immer bleibt die Gesetzgebung des Wohlklangs für die ungebunden umherirrende Prose schwierig, und leichter eine bloß verbietende des Übelklangs läßt sich geben und befolgen. Höchstens vom Ende des Perioden mag das Ohr, wie überhaupt von Musik-Enden, einiges Trillern begehren. Bei den Alten wurde mehr gefodert, geleistet und gefühlt, und wie auch unsere Ohren sonst mit und an der Zeit gewachsen sind, so wuchsen sie doch nicht in Qualitet undIntension, wenn man die einzige Anekdote bedenkt, daß die ganze römische Zuhörerschaft (nach Cic. in orat.) bei des Redners Carbo Stelle: »parris dictum sapiens temeritas filii comprobavit« in Jauchzen über den Klangsatz ausbrach, oder daß das nämliche ungebildete Volk über eine zu kurz oder zu lang gemeßne Silbe wild auftobte. Unserm Deutschvolk macht kein Qualwort mehr Gesichtschmerz oder Ohrszwang; jedes Wortgepolter säuselt und gleitet weich bewehend an Läppchen von Ohren vorüber, welche schon gewichtigere Sachen zu tragen und zu fassen gewohnt sind, z.B. Ohrringe von tonlosem Gold. So hören die Franzosen, an denen wir weniger ihre Sprache als ihre Liebe für ihre Sprache zu lieben haben, ihre Schriftsteller so sehr mit zarten strengen Richter-Ohren, daß Mad. Necker 194 sogar behauptet, Rousseau habe den römischen Senat unrichtig bloß »cette assemblée dedeux cents rois« genannt, anstatt des richtigen trois, um den Reimklang zu meiden; und so habe auch Buffon in seiner Lobrede auf Condamine, den Akademiker, diesen einen confrère de trente ans, anstatt vingt-sept ans, was weniger geklungen hätte, genannt. Daß aber Rousseau hundert wegnimmt und Buffon drei herschenkt, nur um wohlzulauten, will mir und der Wahrheit nicht gefallen; aussprechen wäre besser als ausklingeln. Nur durch Zufall fällt der Franzose zuweilen in einen bösen Ineinanderklang, z.B. in la vie de Voltaire par Condorcet: un fonds dont on est surpris; aber der Brite, an seine starre, wie [325] Klippen einsilbig geschärfte Sprache gewohnt, fragt nach keiner Miß- und Eintönigkeit, sondern er schreibt geradezu sein had had, sein but in dreifacher Bedeutung hintereinander; oder bei Sterne: continued I. I know not.

Wie alle Tonkunst so sehr das junge Ohr ergreift, das noch keine Nebensinne und Beigedanken verschließen oder verwirren, so ist es auch mit dem Redeklang; daher das daktylische Springen so sehr junge Leute bezaubert, daß sie nichts öfter in Stammbücher einschreiben als: Tugend und Freude sind ewig verwandt. Auch der Verfasser erinnert sich noch aus seiner Jünglingzeit der melodischen Gewalt folgender Endworte in Schillers Kabale und Liebe: »Willst du – so brich auf, wenn die Glocke den zwölften Streich tut auf dem Karmeliterturm.« Man versetzte etwas, zumal das Endwort, so verklingt alles.

Wie in der Tonkunst oft ein dünner Augenblick zwischen der Melodie und der Harmonie absondernd steht und folglich vermählend: so verfließet auch der prosaische Rhythmus in den Klang des Einzelnen. – Indes die russische und die polnische Sprache schöner und freier anklingen, als ihre Schrift-Noten versprechen, hingegen die englische und gallische schöner notiert und geschrieben sind, als sie sich hören lassen: so steht die deutsche mit alter Treue so in der Mitte, daß sie weder diesseits noch jenseits lügt. Wenn nicht die wahren Selbstlauter des poetischen Klangs, Klopstock und Voß, zu sehr sich und uns mit Mitlautern belüden und schleppten und nicht so oft den schönsten Takt zu Mißtönen schlügen: so könnt' es dahin kommen, daß der Ausländer unsern Sprach-Gesang endlich über den Vogel-Gesang setzte, der bisher schön anzuhören, aber schwer nachzusprechen war. Wirklich opfern die gedachten Ton-Meister oft die Zunge dem Ohr, und ihre Trompeten-, Heerpauken-, Strohbaß- und Schnarrkorpus-Musik ist oft zu schwer nachzusingen und nachzusprechen für eine Kehle. Allein unsere literarische Umwälzung ahmet, wenn auch andere Dinge, z.B. Wildheit, doch nicht dies der gallischen nach, daß die letzte etwas darin suchte, das r im Sprechen auszulassen. 195

[326] Ein Ausländer könnte sagen: nichts ist in eurer Sprache so wohlklingend als die Ausnahmen, nämlich die der unregelmäßigen Zeitwörter. Allein wir haben eben deren mehr als ein jetziges Volk und noch dazu nur wohllautende; auch ist die Verwandtschaft eines einzigen solchen Zeitworts beträchtlich, z.B. von gießen: gegossen, goß, gösse, Guß etc. Adelung und halb die Zeit wollen uns zum Vorteil der Grammatiker, der Ausländer und der Gemeinheit diese enharmonischen Ausweichungen untersagen; aber das leide kein Schriftsteller, er schreibe »unverdorben,« niemals »unverderbt«. Adelung äußerte sogar Hoffnung, da Obersachsen sich zum regelmäßigen Beugen von mehren Zeitwörtern wie kneipen, greifen etc. neige, daß man überhaupt bei der Einerleiheit von Obersachsen und Hochdeutsch künftig bald kneipete, greifete etc. sagen werde, wie die – Kinder.

Aber diese Zeitwörter bewahren und bringen uns alte tiefe, kurze, einsilbige Töne, noch dazu mit der Wegschneidung der grammatischen Erinnerung, z.B. statt des langweiligen, harten, doppelten schaffte undschaffte, backte und backte: schuf und schüfe; buk und büke. Freilich flieht der Gesellschaft-Ton – auch der der Meißner höhern Klassen – den Feier-Ton eines tiefen reichen Selbstlauters; aber in den Fest-und Feiertagen der Dichtkunst ist er desto willkommner. Wie viele e werden unserer Eeeee-Sprache damit erspart und italienische Laute dafür zugewandt! Man wird dadurch doch ein wenig an ihre alte Verwandtschaft mit den Griechen erinnert, welche früher zu Otfrieds Zeiten viel lauter vorklang, wo Pein Pina hieß, Sterne Sterrono, meinen minon, bebte bibinota. Darum gebrauchte Klopstock so häufig und zu häufig – auf Kosten schärferer Bestimmungen – das großlautende Wort sank (so wie oft scholl.) – Sind grammatische oder dichtende Autoritäten gleich: so lasse man dem Wohllaute das Übergewicht. Z.B. man ziehe mit Heynatz Schwane Schwänen vor (zumal da man nicht Schwänenhals und Schwänenfedern sagt) und wie Wieland das wiewohl dem obschon: ferner ungeachtet der liberale Heynatz gerächt und kommt spricht: so gebe man doch dem lautern gerochen undkommt von Adelung den Preis; man wähle mit Heynatz den schönen Cretikus Diamant anstatt des [327] zweifelhaften Spondeus Demant; und doch wähle mangegen Heynatz Fohlen statt seiner Füllen.

Hingegen falle man Adelung da an, wo ihm die mathematische, akustische Länge der Saite werter ist als der Klang derselben. Z.B. das e des schon durch den Artikel bestimmten Dativs will er als zweite Bestimmung nicht weggeben, sondern vergleicht es mit lateinischen und griechischen Fall-Endungen; aber lässet er denn nicht selber der Dichtkunst die Verbeißung des e's zu, welche nie zu erlauben wäre, wenn das e dem deutschen Dativ so angehörte als dem lateinischen in mensa? Und erstatten denn sich nicht dieses e und der Artikel gegenseitig, z.B. in: ich opfre Gotte Götzen statt dem Gott? So werd' auch bloß dem Wohlklange die Wahl gelassen, ob z.B. Staates oder Staats, ob lieset oder liest, kurz ob das e kommen oder weichen soll, woran ja das e schon durch den Vers gewohnt geworden.

Ferner sträuben sich manche seit Jahren gegen die Lessingsche, aber vor Lessing längst herkömmliche Ausstreichung der Hülfwörter haben und sein da, wo sie nur zu verlängern, nicht zu bestimmen dienen. Ich wähle aus Lessing das meinem Gedächtnisse nächste Beispiel: »Man stößt sich nicht an einige unförmliche Posten, welche der Bildhauer an einem unvollendeten Werke, von dem ihn der Tod abgerufen, müssen stehen lassen.« – Man setze nach abgerufen ein hat, oder man unterbreche durch ein hat die schönen, Lessing gewöhnlichen Trochäen, so geht der Wohlklang unter. »Hat, ist, sei, bist, hast, seist, seiet, seien« sind abscheuliche Rattenschwänze der Sprache; und man hat jedem zu danken, der in eine Schere greift und damit wegschneidet. Erlauben ja die strengsten Sprachlehrer, daß man ein in einem Perioden zu oft wiederkehrendes Hülfwort auf den Schluß verschiebt.

Wenige haben so wie Lessing die Tonfälle der Perioden-Schlüsse berechnet und gesucht. So will das Ohr gern auf einer langen End-Silbe ruhen und wie in einem Hafen ankommen. Ferner hat das Ohr nicht sowohl einen Schluß-Trochäus als mehre einander versprechende Trochäen lieb. Erfreulich 196 sind die Trochäen, [328] durch welche die fünf Sinne das »zu« verwerfen in »kommen sehen, kommen hören, kommen fühlen«. Kommen schmecken und kommen riechen sagte man wenigstens richtiger als zu kommen schmecken etc. »Dürfen, sollen, lassen, mögen, können, lernen, lehren, heißen, bleiben« beschließen den zu kurzen Zug. Noch könnte man »gehen, führen, laufen, legen, finden, haben, spüren« gelten lassen, z.B. betteln gehen oder laufen, spazieren führen, schlafen legen, einen essen finden, auf Zinsen stehen haben, es kommen spüren.

Gruber findet den ersten und zweiten Päon (– ñ ñ ñ, ñ – ñ ñ), den Cretikus (– ñ –), den Anapäst ( ñ ñ –) und den Jambus für die Prose am schönsten. Longin 197 verwirft häufige Pyrrhichien ( ñ ñ), aber mit weniger Recht auch viele Daktylen und Dichoreen (– ñ – ñ). Die letzten gebrauchte Lessing am Schlusse mit Reiz, z.B.: die Goldkörner bleiben dir unverloren; so das Tonwort auserkoren.

Am Schlusse hört man, ist sonst alles gleich, gern die lange Silbe, also den Anapäst, Spondeus, Jambus, Dijambus ( ñ – ñ –), den Choriambus (– ñ ñ –). Dem bösen »zu sein scheint« – gerade kein Nach-, sondern ein Miß-Hall des esse videatur – sollte man wenigstens das »sein« grammatisch oder sonst beschneiden.

Mehre Spondeen, welche in der Prose reiner auftreten als in der Poesie, ferner mehre Molossen im Wechsel hintereinander sind dem Ohr ein schwerer Steig bergauf. 198 Um so schöner wird es gehoben und wie ein Auge gefüllt, wenn es nach einem dunkeln Ahnung-Schluß aus einer schweren hartsilbigen Konstruktion auf ein mühsames Fort- und Durchwinden – und das Ohr ahnet immer fort- sich auf einmal wie von Lüften leicht hinuntergewehet empfindet, wenn z.B. nach einsilbigen Längen der Jambe des Zeitworts, oder der Bacchius, oder auch der Amphibrachys beschließen.

Eine besondere melodische Scheu vor einsilbigen Anfängen [329] und Vorliebe zur jambischen Ansprung-Silbe find' ich in den alten Auftaktsilben: jedoch (statt doch), dennoch, benebst, annoch, allda, dieweil, bevor, auf daß; bekanntlich die von den Sprachlehrern Prosthesis genannte Figur. Dahin gehören belassen, besagen, auch viele mit be, welche damit nichts viel Stärkeres sagen, z.B. bedecken, bezahlen; den Anfang macht schöner oft die kurze Silbe: z.B. statt Liebende lieber Geliebte, statt zahle lieber bezahle. Doch gesellet sich hier noch eine menschliche Eigenheit dazu: der Mensch platzt ungern heraus – er will überall ein wenig Morgenrot vor jeder Sonne – denn so ohne alle Vorsabbate, Vigilien, Rüsttage, Sonnabende, Vorfeste plötzlich ein Fest fertig und geputzt dastehen zu sehen, das widersteht ihm ganz – kein Mensch springt in einer Gesellschaft gern mitten in seine erlebte Geschichte hinein, sondern er gibt kurz an, wie er zu der Sache kam, auf welcher Gasse, in welchem Wagen, Rocke u.s.w. Daher schicken die meisten Boten einer Hiobs-Post der Nachricht derselben den Eingang voraus, man solle doch nicht erschrecken, denn sie hätten etwas sehr Trübes zu berichten worauf natürlich der Zuhörer den weitgeräumten Raum lieber zum Bau einer Hölle als einer Vorhölle vernützt –; und es wird in der Tat jedem schwer, eine Geschichte ohne allen Voranfang anzufangen. Etwas Ähnliches ist die Vorbeschreibung, z.B. ein kleines Männchen, ein Paar Zwillinge, ein großer Riese (so wie dieser im Leben sich gewöhnlich noch an Kopf und Fersen Erhöhung zusetzt), ein winziger Zwerg. – Bewegt nun einmal ein Trieb unser ganzes Wesen, so regt er gewiß auch die Zunge zur kleinen Silbe, und in der unteilbaren Republik jeder Organisation geht ein Geist durch die Ilias und durch die Silbe.

Folglich, scheints mir, ist jene Vorsteck-Silbe nur die Vorrede zur zweiten längern; so wie eine ähnliche Anfurt sogar durch die Tautologie folgenden Gewichtwörtern vorsteht: Tod-Fall – Eid-Schwur – Rück-Erinnerung – Dieb-Stahl – wild-fremd – lobpreisend – niederknien – Oberhaupt.

Ja noch zwei ähmliche tautologische Zwillinge schließen diese Programmen gleichsam als Schließer ab und zu: nämlich der Still-Stand und das Still-Schweigen.

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Dritte Abteilung

Inhalt der dritten Abteilung

Drei Vorlesungen in Leipzig


I. Miserikordias-Vorlesung für Stilistiker


(Personalien.) 1. Kap. Definition eines Stilistikers – 2. Kap. Geist der französischen Literatur in Frankreich – 3. Kap. über die Deutsch-Franzen oder Franz-Deutschen – 4. Kap. über Einfachheit und Klassischsein – 5.Kap. über Buchanzeiger und gelehrte Zeitungen – 6. Kap. über die mittelmärkische oder wirtschaftliche Geschmackzunge – 7. Kap. über die allgemeine deutsche Bibliothek und deren Surrogate – 8. Kap. Rechtfertigung der neuern poetischen Partei – 9. Kap. Lettern-Krieg. – Kurze Nachschrift oder Nachlese der Vorlesung, über Schiller.


II. Jubilate-Vorlesung für Poetiker


(Personalien.) 1. Kautel, die Tollheit betreffend – 2. Kaut. die Unwissenheit – 3. Kaut. die Parteiliebe – 4. Kaut. das Indifferenziieren der Köpfe – 5. Kaut. die Grobianismen – 6. Kaut. den Stolz – 7. Kaut. den Menschenhaß – 8. Kaut. die sinnliche Liebe. – Diesjährige Nachvorlesung an die Dichtinnen.


III. Kantate-Vorlesung über die poetische Poesie


Höchstes Ziel der Dichtkunst – Herder – Ende.
[333]
1. oder Miserikordias-Vorlesung
Erstes Kapitel
erste Kapitel
was und wer ist ein Stilistiker

ohne Bedenken so: Ein jeder ists, weil die wenigen Ausnahmen, die von Jahrhundert zu Jahrhunderte geboren werden, um die Jahrhunderte selber wieder zu gebären, aus Mangel an Zahl nicht in Rechnung kommen, wenn auch in Betrachtung. Der Stilistiker ist das Publikum, er allein stellet das gemeine Wesen vor, das er ebensowohl in sich hat als außer sich; was sich anderswohin rechnet, ist ein wahres privatisierendes Publikum im Publikum. Lasset uns aber nie vergessen, daß in der Juristenfakultät nur der älteste und vornehmste Professor den Ehren-Namen Ordinarius führt, und wie sehr auf allen hohen Schulen vor und hinter Malta jeder außerordentliche Professor eben dahin arbeitet, ein ordentlicher zu werden! Auf ähnliche Weise fanden in den neuern Zeiten die vier Fakultäten als vier einander gerade entgegenstehende Radien endlich die fünfte, die wirtschaftliche, als den gemeinschaftlichen Schwer- und Mittelpunkt, um welchen vier Strahlen-Radien schöne vier rechte Winkel (sowohl der Schule als der Lust und des Schmollens) bilden. Auf gleiche Weise wird, ungleich sonst, wo man den Kalender hinten dem Mönchs-Psalterium anhing, jetzo das Psalterium der Musen dem jährlichen Kalender angehangen.

Ich komme auf den Stilistiker zurück. Man nenn' ihn den Malteser Hund – und sind wir nicht auf Malta? –, welcher bekanntlich die Schönheit der Kleinheit (statt der Größe der Schönheit) hat und dem man noch die Nase durch einen Druck einstumpft: [338] so hat man etwas gesagt, aber noch so wenig Bestimmtes. Und die ganze Vorlesung würde überhaupt geordneter und stiller, wäre der Gartensaal nur um etwas größer als das Eiland, so daß ich nicht so viele Men schen im übrigen Reichels-Garten lustwandeln sehen müßte, welche die Insel stören und hören; ob ihnen gleich heute das sogenannte Gewandhaus mit seinem Sonntags-Konzert dazu noch offner stände.

Ich tue denn noch strenger die erste Frage: was ist der Stilistiker überhaupt? Und die zweite: was ist er in der Poesie? – Ich antworte: durch die zweite wird die erste beantwortet. Denn da bloß die Dichtkunst alle Kräfte aller Menschen zu spielen reizt, so bereitet sie eben jeder regierenden eines Einzelwesens den freiesten Spielraum, und sie spricht den Menschen nicht stärker aus, als sich jeder selber durch seinen Geschmack an ihr.

Jeder will von ihr nicht die Menschheit, sondernseine, aber glänzend widergespiegelt erhalten, und das Kunstwerk soll nach Kunz ein verklärter Kunz sein, nach Hans ein verklärter Hans; dasselbe gilt von Peter. Der Geschmack ist also nicht bloß der Hahn oder der Judas, der dort einen Petrus verrät, hier einen Christus, sondern er ist auch selber der Petrus dort, der Gekreuzigte hier; er reißt den Vorhang des Allerheiligsten und des Allerunheiligsten an jeder Menschenbrust entzwei. Folglich sobald man nicht Geschmack als philologisches Urteil über willkürliche Teile der Kunst, sondern als eines über die ganze Kunst betrachet: so muß er sich in acht Geschmäcke absondern, welche ich lieber mit den Gliedern, woran sie wohnen, benenne, mit Zungen, deren bekanntlich Malta gleichfalls achte ausschickt; aber welsches schöne Zusammentreffen der Erdkunde und Weltweisheit! Der Geschmack sucht entweder vorzüglich 1) Witz und Feinheit wie der französische, oder 2) Einbildkraft in Bildern wie der englische, oder 3) etwas für das empfindende weniger als empfundne Herz wie der weibliche, oder 4) dargestellte Sittlichkeit wie der altdeutsche, oder 5) Reflexion und Ideen wie der jetzige, oder 6) Sprache und Klang wie der philologische, oder 7) die rechte Form ohne Inhalt wie die Neuesten, oder wie der achte letzte und beste rechte Form mit rechtem Gehalt.

[339] Indes lassen sich diese sieben Arten, die entweder der Form oder dem Stoffe überwiegend dienen, in zwei große Geschmack-Zungen einziehen, 1) in die formelle regelrechte, französische, weltmenschenhafte, vornehme, verfeinerte (aut delectare poetae), 2) in die reale, britische, reflektierende, derbe, räsonierende, kaufmännische, wirtschaftliche (aut prodesse volunt) – die achte Art bleibt übrig, um die dritte Klasse zu bilden, die geniale mit neuer Form und neuem Stoff. Ist es Zufall oder Absicht, daß unsere Abteilungen immer in äußere Erscheinungen einhaken, so daß z.B. diese dreifache teils die drei Komparationgrade der Kapitel, welche zu lesen, zu machen und zu halten sind, teils die der drei Malteser Grade, 1) der Kapellane, 2) der Serventi d'Arme, 3) der rechten Ritter, sehr gut in sich begreift und drittens teils wieder die dreifache Zahl der Komparationen dazu, des Positivus, Komparativus und Superlativus? – Himmel! wie ist doch das Universum voll Einfälle, man sage darin, was man nur will, und Blitze laden noch Blitze! –

Will man nun diese drei Ordenzungen topographisch verteilen: so dürfte die französische Zunge, hoff' ich, in Sachsen ihre Kommenden und Balleien haben – die Bibliothek der schönen Wissenschaften ist ihr Ordenbuch –; die britische oder wirtschaftliche Zunge hat ihre größern Besitzungen in der Mittelmark; die allgemeine deutsche Bibliothek ist ihr Flurbuch. Die poetische besaß anfangs zwar nur das kleine Weimar, setzte aber ihre südlichen und nördlichen Eroberungen so auffallend fort, daß ich hier die beiden Nebenzungen aufmerksam zu machen wünsche.

Ich mache das

Zweites Kapitel
zweite Kapitel
über die französische Literatur in Frankreich.

Wir müssen diese Bonne der französischen in Deutschland zuerst verhören: die französische Literatur ist nicht bloß die Gespielin und Gesellschafterin der großen Welt, sondern – wie gewöhnlich – wirklich deren natürliche Tochter; daher sie einander gegenseitig treu und schuldig bleiben. Große Welt ist Gesellschaftgeist [340] in höchster Potenz. Ihre hohe Schule ist der Hof, der das gesellige Leben, das ihm nicht Erholung, sondern Zweck und fortgehendes Leben ist, um so mehr entfalten und verfeinern muß, da er gleichsam die höchsten Gegensätze von Macht und Unterordnung, von eigner Achtung und von fremder ins freundliche Gleichgewicht eines schönen geselligen Scheins aufzulösen hat. Alle Gaben der französischen Dichtkunst lassen sich als befriedigte Forderungen der höhern, gleichsam poetischen Geselligkeit des Weltmanns vorrechnen. Diese letzte verbannt, wie jene, alles, was nicht ausgleicht, den langen scharfen Ernst, den höhern Scherz (Humor), jeden tragischen oder andern Vor-Ton – sie verlangt den Witz als den schnellsten Mittler des Verstandes und die Persiflage als die Mitte zwischen Satire und Humor – ferner nur augenblickliche Reize, philosophische Systeme nur als wichtige Sentenzen, welche keine Stimmung begehren, und daher am liebsten die empirischen, z.B. Lockes, weil diese keine unendliche Kette zugleich an die Höhe und in die Tiefe hängen – zarte Racinische Gefühle, nicht starke, mehr sympathetische (mitleidende) als autopathetische (selbleidende) – ferner überall Leichtfüßigkeit, welche fremde und eigne Dornen überhüpft – und endlich die höfliche Weite der Allgemeinheit. Denn die höhere Geselligkeit vergisset sich oder das Ich, sie sagt wie Pascal man stattich; das französische Spiel Corbillon, das immer auf on zu reimen nötigt, ist das echte, das sich durch alle Zirkel spielt und durch die ganze gallische Prose, an deren Spitze und Spitzen ewig das hohle on befiehlt. Denn je mehr Höflichkeit und Bildung, desto mehr Allgemeinheit, die teils gern zu erraten schenkt, teils poetischer und angenehmer wird, weil sie nur das feine Rosenöl ohne die Blätter und Dornen absondert, wie eben die höheren Stände selber. Denn bis an den Thron und Thronhof steigt nur das Geistigste oder Allgemeinste; die Öfen, die ihn heizen, sind verkleidet und verkleiden wieder das Holz und die Kohlen; nur die Summe der Summen unweit der fürstlichen Unterschrift, nur die Generaltabellen verflüchtigen sich hinauf; unten liegt und kriecht die schwerfällige verkörperte Individuation der Hofküche, Handwerker und Schreiber.

[341] Und ist nicht von diesem allen die französische oder Pariser Dichtkunst der feinste ideale Abdruck durch ihre regelrechte und abgezogene Sprache – durch ihren Mangel an sinnlicher Anschaulichkeit, an Liebe und Kunde der tiefern Stände, an Freiheit, an Glut? – Ferner: Weiber sind wie Franzosen geborne Weltleute; ihrem Geschmack gefällt und huldigt die Pariser Dichtkunst. – Sobald Geselligkeit Zweck, nicht der Sinne, noch des Lernens und Lehrens, sondern eines Menschen selber ist: so müssen Männer und Weiber sich nicht wie Öl und Wasser fliehen; Weiber als geborne Weltleute machen den Mann gesellig, sobald er sie sucht Daher stieg wohl durch nichts der gesellige Pariser Weltton so sehr als durch den allgemeinen Ehebruch, welcher jedem Pariser »Ehevogt« (ein ungelenker altdeutscher Term!) auf der Schwelle jedes Gesellschaftzimmers seine ideale Liebzeit zurückgab, worin er um ein weibliches Herz sich müde flatterte. Bei uns flattert nur unverheiratete Jugend; bei ihnen aber Ehemänner, Eheweiber, Mitweiber, Witwen durcheinander – welches schöne allgemeine Gesellen! – Und dies gibt ihrer Dichtkunst die Weiber-Seite, nämlich den Witz, diesen weiblichen Vernunftschluß.

Ich begreife daher nicht, wie Bossu in seinem traité über das epische Gedicht behaupten konnte, der Winter sei keine Jahrzeit für das epische Gedicht und die Nacht keine Tagzeit für das tragische; da er doch als ein Pariser wissen mußte, daß gerade im Winter die Stadt am vollsten ist und in der Nacht am lebendigsten.

Noch zwei Wirkungen und Abspieglungen des höchsten Weltlebens bezeichnen die Pariser Poesie so wie die Versailler, St. Clouder, Fontainebleauer. Die erste ist die materialistische Pneumatophobie oder Geisterscheu. Sie ist weniger die Propaganda (Pflanzerin) als die Propagata (Pflanze) des versteinerten Weltlebens. Der Glaube wohnt in seinem Geister-Kreise nur in der Kartause, aber nicht auf dem Markte; unter den Menschen gehen die Götter verloren. Der Unglaube, weniger ein Sohn der Zeit als des Orts, bewohnte von jeher die Höfe, von den griechischen, römischen, byzantinischen Höfen an bis zu den päpstlichen und gallischen, so wie die großen Städte. Niemand hat weniger Welt als ein Gedanke, der die Welt vernichtet, nicht bloß die große, [342] sondern die ganze. Ein Riese oder ein Unsterblicher ist nicht tafelfähig; nichts störte vielleicht die gesellige Hof-Gleichheit und Freiheit mehr als z.B. ein Gott oder gar Gott; denn dessen Ebenbild litte, der Fürst. Aus gleichen Gründen, welche aus Gastzimmern gebürgige, riesenhafte Gegenstände verweisen – weil daraus zwar nicht Religionunruhen, aber doch Irreligionunruhen entständen –, zieht durch die französische Dichtkunst eine schöne Endlichkeit und Sichtbarkeit, und ihr Himmel steht wie der celtische und höfische nur auf den Wolken, nicht über den Sternen. Diese Seelen-Keuchsucht befiel sogar deutsche Nacharbeiter der Franzosen, z.B. Wezel, Anton Wall; zwar hat der ihnen auch nacharbeitende Dyk die Theophilanthropen gut an der Pleiße verdeutscht; aber, o Gott, lieber will ich dich leugnen, als mit deinen Pariser Theophilanthropen in die tote Kirche gehen – und darein das warme Herz begraben!

Oft hab' ich mir die Wirkung, welche z.B. ein Shakespeare erstlich durch die Niedrigkeit seiner komischen Stände, zweitens durch die Erhebung seiner tragischen, drittens durch seine geniale Flamme, etwan an einer Hoftafel vorgelesen, machen würde, dadurch sehr ins Licht und Lächerliche gesetzt, daß ich sie mir mit den ähnlichen drei Graden der Folter erläuterte, wovon gleich falls der erste in Einschränken – in Schnüren und Daumenschrauben – besteht, der zweite in Ausdehnen – durch die Leiter – und der dritte in Feuer. – Sonderbar, daß hier die alte obige Dreiheit wiederkehrt, diese dem tertium comparationis so sehr nachschlagenden tertia comparationum, ganz wie in der Schellingschen Philosophie.

Die zweite Tochter des Weltlebens, welche ich vorzuführen versprach, löset starke Rätsel des gallischen Trauerspiels.

Schon im vierten Bande des Titans bemerkte Vorleser, daß die Franzosen und Weiber einander als geborne Weltleute glichen – daß folglich beide, wie aus der Revolution zu ersehen, entweder ungemein zart und mild oder ungemein grausam wären – ferner daß die Tragödie der Franzosen gleicherweise nicht nur grimmig-kalt, sondern auch kalt-grimmig, oder ungeheuer grausam wäre – – Und wovon kommt dies? Vom Geiste des feinern Weltlebens, [343] der seinen Melpomenens-Dolch aus dem härtesten Eise im härtesten Froste so scharf schmiedet und schleift, daß dieser Wunden stechen kann, alsdann darin zerfließt und sie tödlich erkältet. Der religiösen Prozession wird das Kreuz mit dem Gekreuzigten vorgetragen, aber wahrlich der weltmännischen wird es nachgetragen; und fürchterlicher gibt es nichts für die einfache biedere Natur als jenes seltsame vornehme, gar nicht heuchlerische Gemische von höchster Sitten- und Liebe-Zärte, wunder Ehren-Pünktlichkeit auf der einen Seite und von französischer langsam-zerstückender Grausamkeit und vornehmen Interims der Ehre auf der andern Seite. Derselbe Minister, der Länder durch die Kriegs-Minen aufschleudert, kann seiner Geliebten oder einem Racine einen Nadelstich nachempfinden; so wie man zur Zeit des Schreckensystems die weichsten Empfindungen auf die Bühne herausrief Denn dem Minister ist das Volk, wie einem Bankier eine große Summe, bloße Abstraktion, algebraische Größe, die er in seinen Rechnungen versetzt; nur mit dem nahen Einzelnen kann er, wie der Bankier mit der kleinen Münze, geizen. In Rücksicht der Ehre, diesem zweiten moralischen Wendezirkel, so ist ein Großer ein wahrer Mann von Ehre in den kleinsten Punkten und bereit, sein Leben dafür zu wagen; was aber höhere Punkte anlangt, Bruch der Traktaten und Ehen, Erbrechen fremder Briefe, große Bankbrüche, verachtender Gebrauch feiler Spionen und feiler Mädchen, so sagt er bloß, er könne nicht gut anders.

Jetzo zum ähnlichen gallischen Trauerspiel. Es glänzt weniger durch das Große als durch die Großen. In Corneille, Crebillon, Voltaire (z.B. in dessen Mohamed) finden wir, wie im tragischen Seneka, weit mehr Zartheit, Feinheit, Dezenz, Vergiftung, Vatermord, Blutschande als bei irgendeinem Griechen oder bei Shakespeare. Wie in der großen Welt wird darin nie etwas Kleineres gestohlen als eine Krone, oft mit dem Haupte darin – und wie in ihr haben weibliche Seelen nichts von den allerfremdesten Menschen für ihre Tugenden oder nur für ihre Ohren zu fürchten, sondern bloß von zu nahen Anverwandten einige Blutschande. Denn wenn in der höhern Welt die Lust so erschöpft ist, daß kein neuer Grad sie mehr würzen kann: so würzt man sie mit [344] neuer Sünde, weil wohl nichts so aufreizend auf die Phantasie diese letzte Regentin fürstlicher Sinnen – wirkt als eine recht starke Abscheulichkeit; so ist z.B. der horror naturalis (Naturscheu) der rechte Teufelsdreck für manche Schüsseln.

Eine witzig-schreckliche Anekdote, welche die heiligen Bande zwischen Vater und Sohn zerfasert und zerrissen zeigt, stehe als ein Beispiel da, welche man unter den Altdeutschen der Zeit oder unter den Altdeutschen des Raums (den Schweden und Schweizern) schwerlich wiederholt antrifft. Als man an den Vater Crebillon, den Trauerspiel-Dichter, mit Namen der Schreckliche, in Gegenwart seines Sohnes, des bekannten frivolen Romanschreibers, die Frage tat, welches Werk er wohl für sein bestes halte: so gab er die Antwort, er wisse nur, welches sein schlimmstes sei, und zeigte auf seinen Sohn. Eine so kalte feine Grausamkeit konnte nur erwidert und übertroffen werden durch einen Sohn, welcher antwortete: »Darum glaubten auch viele, daß Sie dieses Werk nicht selber gemacht.«

Da nun alle Poesie, sogar die schlechte, sogar wider Willen idealisiert und folglich die französische auch: so kann, da ihre tragische nicht Individuation, sondern Abstraktion zu idealisieren hat, die Steigerung nichts gebären als Ungeheuer. Nur auf dem derben Stamme der Individuation flattert die Blüte des Ideals; ohne Erde gibt es keine Höhe und keine Tiefe, keinen Himmel und auch keine Hölle; darum ist die Idylle der Franzosen wie der Jünglinge ebensowohl bloß ein gesteigerter Begriff als ihr Trauerspiel.

Diese Hof-Muse wurde nun von dem goldnen Zeitalter der Deutschen – welches Adelung von 1740 bis 1760 ausdehnt – in die deutschen Schreib- und Lesezimmer eingelagert; Deutsche und Gallier sollten nach ihm, wie es sonst bei den Griechen war und jetzo am Rheine ist, Gleichnamen sein. Ehe ich weitergehe, nämlich zum

Drittes Kapitel
dritten Kapitel
über die Franz-Deutschen oder Deutsch-Franzen,

ist es meine Pflicht, sehr zu bemerken, daß Adelung, als Liebhaber der französischen Poesie, den rechten Punkt getroffen, [345] wenn er mit so vielem Rechte behauptet, daß bloß höhere Meißner Klassen (nicht die höhern Schriftsteller) die Sprache, nämlich die deutsche, bilden und ausbilden können. Allein er behauptet (vielleicht aus Scheu) noch nicht die Hälfte dessen, was er sollte. Ist die höhere Welt wirklich, so wie ich bewiesen, die Mutter, nicht aber die Tochter der französischen Poesie, deren Schüler wir sein sollen: so müssen die höhern Meißner Klassen nicht bloß die Bonne oder Bonnes der deutschen Sprache sein, sondern sie müssen wirklich auch, da Sprache einen Inhalt, einen Gegenstand voraussetzt, ebensogut die Lehrmeisterinnen oder Lehrmütter oder Matrizen oder Matres lectionis der Bilder, Schwünge, Flammen und alles dessen werden, was Adelung zur »edlern und zur pathetischen Schreibart« rechnet. Insofern er freilich bemerkt, daß alle orthographische Neuerer außer Kursachsen gewesen: gibt er – da von Buchstaben zu Worten, von diesen zu Gedanken, davon zu Adelungschen Gedichten nicht weit ist – leise zu verstehen, daß man überhaupt in Dresden und Leipzig keine starken Veränderungen in der Literatur gemacht und daß niemand aus den höhern Klassen, welche sich auszuzeichnen vermeiden, je daran gedacht, so zu schreiben wie Klopstock, weder was dessen ungewöhnliche Rechtschreibung anlangt, noch dessen ebenso ungewöhnliche Schönschreibung oder Poesie....

Wir lesen nun das

Gedachtes drittes Kapitel
gedachte dritte Kapitel
den Deutsch-Franzen,

und ich trage kein Bedenken, die Sache himmelschreiend zu nennen, daß man nämlich eine Poesie, welche alles Große, die Vulkane der Leidenschaften, die hohen Formen des Herzens und des Geistes, höchstens zu Schaugerichten ausgebacken, auf Spiegel platten aufträgt, und welche nur den Gesellschafter, nicht den Menschen ausspricht, nicht einmal dem Engländer, sondern dem Deutschen aufzudringen die Kühnheit hat, als welcher fast nichts ist als ein Mensch, kaum ein deutscher, geschweige ein gallischer.

Nämlich diesem selber, z.B. einem Diderot, Rousseau, Voltaire, [346] wurde zuletzt auf der engen Besuchkarte ihrer Dichtkunst eng und heiß, und einer nach dem andern pickte in diese Eierschale ein Luftloch, ja manche krochen ganz heraus, und noch einige Schale klebte ihnen an. Konnte Lessing etwas Stärkeres gegen die französische Tragödie sagen, als D'Alembert zu Voltaire im 92. Briefe 200 mit der Bitte, es zu verschweigen, schreibt: Je ne vois rien (dans Corneille en particulier) de cette terreur et de cette pitié qui fait l'âme de la tragédie – und wieder im 94.: Il n'y a dans la plupart de nos tragédies ni vérité, ni chaleur, ni action, ni dialogue. – Oder kann man der gallischen Dichtkunst etwas Schlimmeres nachsagen als die treffliche Necker in ihren mémoires, welche, es gut mit ihr meinend, sagt, die Prose sei schwerer als Verse zu schreiben? Oder konnte Klopstock etwas Gründlicheres behaupten als Voltaire 201, wenn dieser die französische Unfähigkeit zum epischen Gedichte in den Worten ausspricht: Oserai-je le dire? C'est que de toutes les nations polies la nôtre est la moins poëtique, und beweiset es Voltaire nicht selber im Lobe auf die Musik, das er ganz besonders für Rameau aufgesetzt 202:


Fille du ciel, ô charmante Harmonie,
Descendés et venés 203 briller dans nos concerts 204,
La nature imitee est par vous embellie. 205
Fille du ciel 206, reine de l'Italie 207,
Vous commandés à l'univers. 208
Brillés 209, divine Harmonie,
[347]
C'est vous 210 qui nous captivés,
Par vos chants vous vous élévés
Dans le sein du dieu du tonnerre 211,
Vos trompettes et vos tambours 212
Sont la voix du dieu de la guerre.
Vous soupirés 213 dans les bras des amours.
Le sommeil caressé des mains de la nature 214
S'éveille à votre voix 215,
Le badinage avec tendresse
Respire dans vos chants, folâtre sous vos doigts 216 – –

»Und so weiter«, sag' ich, wünsche dasselbe aber der Zukunft nicht. Will der Leser einmal Unsinn genießen: so sei es doch lieber ein warmer als ein kalter, lieber der finstere Sturm einer leidenschaftlichen Kraft als das sterbende Einschlafen im Schnee. Indes ein bekanntes Chorlob auf die Freundschaft aus Bernards Oper »Kastor und Pollux« soll so gut sein, daß es einen Johannes von Müller, den Freund Bonstettens, begeisterte, und daß Matthison, wie er selber sagt 217, nie aufhören kann, es als das beste französische Lyra-Stück zu Papier zu bringen. Auch auf mich macht das Stück Eindruck, besonders in meiner deutschen Umschreib-Übersetzung:


[348]

Présent des dieux, doux charme des humains,


(Geschenk der Götter, du bist den Sterblichen zugleich ein süßer Reiz)

O divine amitié, viens pénétrer nos âmes!


(O Freundschaft, die du als ein Göttergeschenk von Natur göttlich bist, durchdringe doch unsere Seelen)


Les coeurs, éclairés de tes flammes,
Avec des plaisirs purs n'ont que des jours sereins.

(Die Herzen, welche von deinen Flammen beleuchtet werden, haben bei allen ihren reinen Freuden nichts als heitre Tage)


C'est dans tes nœuds charmans que tout est jouissance,


(Eben in deinen reizenden Knoten oder Banden ist alles Genuß)

Et ajoute encore un lustre à ta beauté.

(Und fügt zu deiner Schönheit noch neuen Glanz)

L'amour te laisse la constance,

(Die Liebe läßt dir die Beständigkeit)

Et tu serois la volupté,
Si l'homme avoit son innocence.

(Und hätte der Mensch noch die Unschuld, so wärest du die Wollust.)


Es überläßt hier mit Recht dem Leser selber die leichte Ergänzung: »Da wir aber leider durch den Apfelbiß unsern Geschmack verderbt haben: so bist du freilich, liebe Freundschaft, kein besonderes Essen mehr für uns.« – – Was ich statt der Freundschaft etwa so lau gelobt wünschte, wäre der Haß. Nicht kaltes Wasser, nicht heißes, aber laues erregt Erbrechen.

Diese egoistische Kälte des Weltmannes ist der herrlichen Kälte der alten philosophischen Zeit gerade so entgegengesetzt als im Physischen die schwächende der stärkenden 218, und ebenso steht [349] die leidenschaftliche äußere Flug-Hitze der innern Wärme des Herzens entgegen wie wieder die entkräftende der belebenden. Ebensoweit ist diese Hofkälte, welche die poetischen Floßfedern an das Eis gefrieren lässet, von jener griechischen Einfachheit und Kälte verschieden, welche in der Höhe des Äthers sich die Flügel kühlt. Für die Ähnlichkeit mit den Griechen, womit die Gallier den Griechen und sich schmeicheln, ist die Tatsache wenigstens kein Beweis, daß sie die Säule des Pompejus in Ägypten krönten mit einer roten Mütze. Übersetzen Sie, meine Herren, ein altes Werk aus der gesunkenen epigrammatischen Zeit – wie z.B. mit Diderot den Seneka – in das Französische: so wird es dadurch klassisch; übersetzen Sie rückwärts z.B. den Rousseau ins Lateinische: so büßet er seine halbe Einfachheit ein; so wie er zu unserm Ruhme auch in einer deutschen Übersetzung verliert, obwohl weniger. Nicht so sehr die Schwierigkeit einer Übertragung als die Neuheit der Gestalt, welche darin das Urbild annimmt, prägt den Unterschied zwischen zwei Völkern am stärksten aus: Übrigens wird hier nicht sowohl die französische Dichtkunst verworfen als der deutsche Geschmack, der sich ihr und sie sich aufdringen will. Soll einmal eine große Welt und für diese wieder, welche die ersten Thronstufen durch ganz Europa besetzen, eine Dichtkunst als Hoflustbarkeit vorhanden sein: so ist die französische die einzige; denn sie wurde seit Richelieu von ihr für sie [350] geboren und erzogen. Sogar uns Deutschen selber fallen an französischen Schriftstellern – wie z.B. an Baptist Rousseau, Mercier, an mehren Revolution-Schreibern – deutsche oder englische Keckheiten widrig als Mißtöne auf. Ja Vorleser dies konnte viele Stellen seiner Werke sich unleidlich machen, wenn er sie in französischer Sprache sich geschrieben dachte. Und wiederum geben uns in Werken früherer Franzosen, z.B. des Rabelais, Marot, welche noch keine Dichter und Dichtkunst von Welt vorstellten und in Sprach-und in Sachwendungen fast noch deutsche Freiheit besaßen, die Kühnheiten wenig Anstoß.

Aber warum laufen wir ihnen mit unsern unähnlichen Werken wie Zueigner nach und halten sie ihnen hin und passen bittend? Zur Strafe loben sie unsere besten und unsere elendesten Werke zugleich, ja oft gleich sehr und »ignorieren« höflich deren Unterschied. Denkt doch an den alten humoristischen Voltaire! Als ihm Herr von Schönaich sein geist- und sprachloses Heldengedicht »Hermann, oder das befreiete Deutschland« zusandte (natürlich hatt' er das befreiete Deutschland vorher französisch übersetzt), so schrieb Voltaire ihm unter vielen Lobreden auch die zurück: es wäre unverzeihlich, d'ignorer une langue que les Gottscheds et vous rendés nécessaire à tous les amateurs de la littérature. Um noch schmeichelhafter zu zeigen, daß er nur eine Sprache lobe, die er selber kenne, beschloß er in deutscher so den Brief: »Ich bin ohne Umstand sein gehorsam Diener Voltaire.« 219

Wie Leipzig von 1740 bis 60 das Pleißathen oder eigentlich das Pleißparis gewesen und durch Augenschein bewiesen, daß Deutschland schon Werke erschaffen könne, welche nicht deutsche, sondern französische sind: so kann (scheint es) Wien, nur in höherem Grade, sich zu einem Donauathen oder Donauparis oder Wienparis 220 allmählich ausbilden, da nicht nur eine gewisse Nüchternheit, Kühle, Zierlichkeit und Selbherrschaft, ja schöne Kraft-Abtötung (Mortifikation) vieler Schreiber uns manche Hoffnung dazu machen, sondern da die große Stadt voll großer Welt[351] und voll schöner, dem französischen Geschmacke zugebildeter Welt für die Sache selber bürgt.

Klinger in seinen » Betrachtungen etc..« ebenso tief in Staat-, Welt- und Menschenkenntnis als seicht in Philosophie und Ästhetik, macht in seinem schon von der großen Welt verworrenen oder verengten Geschmacke uns glücklicherweise zwei Vorwürfe, die einander selber verwerfen, worauf man beide leicht durch einen dritten aufreibt. Er wirft nämlich vor, wir wären erstlich zu deutsch und mißfielen auswärts deshalb, dann zweitens, wir wären zu wenig deutsch oder originell und zu nachahmend und mißfielen auswärts deshalb. Denn er fragt und mit ihm hundert Deutsch-Franzen, warum unsere Dicht-Literatur so wenig andern Völkern gefalle, besonders den Welt- und Hofleuten darin, ohne einzurechnen, daß den letzten auch die britischen, nordischen, griechischen, indischen Dichtgeister durch ihre Eigentümlichkeit, welche mehr den allgemein-menschlichen als den Hof-Ton anstimmt, beschwerlich werden. Völker selber mißfallen einander wechselseitig, wenn man entweder das deutsche ausnimmt, dem jedes genug, oder das gallische, das jedem ein wenig gefällt. Gleichwohl wähnet wieder Klinger, daß in allen Werken Volk-Eigentümlichkeit erscheine, nur in den deutschen keine; was aber eben als unsere deutsche sperret fremde Leser heraus? Warum sind wir Allübersetzer denn so schwer selber zu übersetzen, von Lessing, Herder, Klopstock, Schiller, Goethe an, bis zu Hippel, Musäus u.s.w.? Wir freilich können uns unsere Eigentümlichkeit nicht selber ansehen und anfühlen und können für eine Verschiedenheit von uns nicht unsere Eigenheit anerkennen, sondern nur eine fremde; so wenig als ein geborner Eiländer sich originell erscheinen kann. Warum wurden im Durchschnitt nur unsere flachgeschliffenen Schriftsteller, z.B. die Adelungschen von 1740 bis 1760, Geßner, gewisse Romanschreiber, recht gut und häufig übersetzt, und unsere mit erhabener Arbeit entweder gar nicht, oder in vertiefte übertragen? Es ist ein böses Zeichen, wenn ein Autor ganz zu übersetzen ist, und ein Franzose könnt' es so ausdrücken: ein Kunstwerk, das einer Übersetzung fähig ist, ist keiner wert. Gewisse kalte Allerweltschreiber geben uns musivische [352] oder hölzerne Gemälde, welche man leicht kopiert, indem man sie bloß der Länge nach verdoppelt und durchschneidet; hingegen vaterländische Schriftsteller geben uns Alfreskobilder, welche nur mit der Mauer selber in andere Länder überzutragen sind.

Viertes Kapitel
über Einfachheit und Klassischsein

Keine Begriffe werden willkürlicher verbraucht als die von Einfachheit und von Klassizität. Da klassisch überall jedes Höchste in seiner Art bedeutet, jeden noch so tiefen Stern, der hinter und vor uns durch die Mittaglinie geht, folglich das Höchste jedes Stofs – wie es denn klassische Forst-, Bienen- und Wörter-Bücher gibt –: so muß das Höchste dieser Höhen, gleichsam der Stern, der durch Mittaglinie und Scheitelpunkt zugleich durch geht, jenes sein, das Stoff und Form zugleich zu einem Höchsten verschmelzt; und dies ist nur der Fall der poetischen Genialität.

Keine Philosophie heißet klassisch, weil der Weg zur Wahrheit – der Stoff – unendlich ist. Ein sonst vielseitiger Kunstrichter ließ darwider drucken: »Nicht der Grad des ästhetischen Werts macht ein Werk klassisch, sondern der höchste Grad der ästhetischen Kultur, nämlich Vollendung der poetischen Sprache, reinste Natürlichkeit der Bilder, Ebenmaß der Gedanken, ohne Nachteil der Kraft und Wärme.« Als bezeugende Beispiele ruft er Homer, Pindar, Sophokles, Petrarch, Ariosto, Cervantes, Klopstock, Goethe auf. Ich frage aber: was heißt denn überhaupt ein ästhetischer Wert, entblößt von allen den vorgezählten Merkmalen ästhetischer Bildung, von poetischer Sprache, von natürlichen Bildern, von Kraft und Wärme und Maß? Kann sich denn der ästhetische Wert, d.h. der geniale, gleichsam als Seele anders darstellen als in den ebengedachten ästhetischen Merkmalen, die er als die Körperteile sich anbildet? Ich wende nicht einmal die Erschleichungen durch die unbestimmte höchstgrade- reinste Natürlichkeit, Vollendung der Sprache ein, indem sie alles voraus setzen, was eben erst zu setzen ist. Darauf fährt der Kunstrichter fort: »Der Begriff des Klassischen gehört unter die stetigen Begriffe. [353] Ein Kunstwerk ist entweder schlechthin klassisch oder gar nicht, aber nicht mehr oder weniger« – dasselbe gilt auch für genial ganz und gar, und klassisch und genial verlieren sich ineinander, weil beide als solche kein Mehr und Minder kennen. Aber in diesem Sinne, worin Klassischsein einem Allstichspiele gleicht, worin nur der gewinnt, der gar keinen Stich verliert, ist kein einziger unter den vom Kunstrichter genannten Klassikern klassisch; kaum Sophokles ausgenommen: denn auch an ihm haben Longin (them. 33) und Aristophanes (obwohl nur von weitem in den Fröschen) auszusetzen. Über die kleinen Verfinsterungen aller dieser Himmelkörper haben wir ja die alten und neuen Tabellen in Händen. Wenn nun alle Klassiker nur durch die Mehrheit glänzender Teile sich über die Gemeinen und doch Tadelfreien erheben: so fragt sich, ob diese Mehrheit in sogenannten sprach-klassischen oder ob in genialen Teilen bestehe. In den letzten durchdringt sich, wie gesagt, von selber Stoff und Form, Seel' und Leib erschaffen sich gegenseitig, aber die ersten würden nur eine negative, ja bloße grammatische Musterhaftigkeit geben, und so wäre denn, mit Longin zu reden, ein Ion aus Chios klassischer als Sophokles, und Adelungs Geschichte der Menschheit klassischer als die Herdersche, und Goethe hätte vor Merkels Köpfchen den Hut abzunehmen. Kurz das Klassische kann nicht in der Minderzahl der Flecken, sondern in der Mehrzahl der Strahlen bestehen. Auch nach dem vorigen Kunstrichter kann nichts klassisch sein, was höher zu treiben ist – daher keine Philosophie klassisch zu nennen, weil der Weg zur Wahrheit, der Stoff, unendlich ist –; aber daher ist dann jede noch lebende Sprache nur für die Gegenwart klassisch, weil sie Blüten abwirft und nachtreibt. Jede alte tote war auch so lange keine klassische, als sie fort- und nachwuchs; nur ihr Tod gab ihr feste Verklärung.

Und warum wollen wir es überhaupt vergessen, daß der Titel klassisch zuerst im Zeitalter der Barbarei durch den Gegensatz von kenntnisloser Roheit eine viel stärkere Bedeutung angenommen, als wir jetzo im Zeitalter der Bildung, das nur Hohes mit Höherem vergleicht, fortgebrauchen können? Vielleicht wären – so kühn der Gedanke ist – ein Klopstock, ein Herder, ein [354] Schiller rück- oder nachwärts selber den Griechen klassisch; und der Ort wäre leider für alle dazu schon da, nämlich die zweite Welt, auf welcher das Kleeblatt schon blüht. – Die Alten kannten wohl begeisterte Dichter, aber keine Muster-Dichter; daher war nicht einmal das Wort »Geschmack« – welches sonst in dem Klassischsein König ist – in ihrer Sprache vorhanden; und nur in den bildenden Künsten, in den für alle Augen unveränderlichen, erkannten sie einen Polyklets-Kanon an. 221

Das Höchste der Form oder Darstellung als einer klassischen kann noch auf zweierlei Weise falsch genommen werden: man verwechselt die Darstellung entweder mit grammatischer Regelmäßigkeit oder mit rhetorischer. Das gemeine (Schreib- und Lese-) Volk, unempfänglich für die poetische Vollkommenheit und Darstellung, will gern die grammatische – durch den Sprung von Werken in toten Sprachen, wo jedes Wort entscheidet und befiehlt, auf Werke in lebendigen – zum Ordensterne des Klassischen machen. Dann wäre aber niemand klassisch als einige Sprach- und Schulmeister, kein einziger Genius; die meisten Franzosen sind dann klassisch, wenige Männer wie Rousseau und Montaigne ausgenommen, und jeder könnte klassisch werden lernen.

Ein Genie an und für sich, kann man sagen, ist nicht grammatisches Musterbild, wenn es nicht zugleich wie Klopstock und Lessing auch Sprachforscher ist; ja sogar hier entscheidet es nicht durch seine Schaffkraft, sondern durch Sprachkunde. Gleichwohl verewigt ein Genius Wörter und Wortfügungen, durch sich und durch Nachahmer; und im ganzen seh' ich nicht ein, warum ich eine Sprach-Abweichung lieber aus der Waldung des wilden Ur-Deutschlands holen will als aus dem englischen Garten eines Genius. Am Ende dankt man doch Gott für die perennierende Monstrose (fortjährige Pflanzenregellose), wie z.B. Denker (wogegen Adelung mit Recht viel hat); hätten wir nur nach Ähnlichkeit von Seher, Hörer, Schmecker noch mehr, z.B. Sinner, [355] Fühler, Taster, Rührer etc. So ist Vossens griechisch-lateinische Trennung des Genitivs vom regierenden Worte ein wahres Geschenk an die Dichtkunst bei schüchterner Anwendung.

Die zweite Verwechslung, nämlich mit rhetorischer Regelmäßigkeit, lässet im literarischen Weltgebäude nur die Monde stehen und tilgt die Sonnen. Shakespeare wäre dann nicht klassisch, aber Addison; Platon nicht, aber Xenophon; Herder stände unter Engel, Goethe unter Manso. Sobald etwas anders klassisch ist als Genialität: so wird – da das Gewöhnliche stets leichter regelrecht auszudrücken ist, schon darum, weil es schon mehrmals ausgedrückt wurde 222 – die Schwäche zur Trägerin der Stärke gemacht, der Ring um den Saturn zu dessen fesselndem Zauberkreise und der Mondhof zum Leitstern der Sonne. Wollen wir lieber dem ebenso scharfen als hohen Longin – dessen Erhabenes leider, wie andere Tempel, nur zerbröckelt auf uns gekommen – verständig antworten, wenn er fragt (Thema 33. 34. 35. 36), ob man wohl lieber der fehlerlose Dichter Apollonius, Theokrit, Bakchylides gewesen sein wolle, oder lieber ein Homer und Pindar mit Fehlern? Oder ob wohl lieber ein Redner Hyperides voll lauter untadelhafter Geschicklichkeiten als ein Demosthenes voll Gewitter?

Ebenso irrt man über die sogenannte Einfachheit (Simplizität). Denn die wahre wohnt nicht in den Teilen, sondern organisch im Ganzen als Seele, welche die widerstrebenden Teile 223 zu einem Leben zusammenhält. In diesem Sinne sind der große, seine große Materie geistig bändigende Shakespeare und der bilderreiche Wilde und Morgenländer so einfach als Sophokles. Die scheinbare Einfachheit besteht in der Ähnlichkeit toter Teile, die kein Geist organisiert; in der zerstückten Harmonie und Melodie eines Farbenklaviers, [356] das niemals ein Gemälde wird; in der Abwesenheit kecker Bilder und in »bremischen Belustigungen des Verstandes und Witzes«. In der Kälte ist es leicht, nicht zu warm zu sein; so wie die Sonne gerade in den härtesten Wintern fleckenlos erschien. Ja die scheinbare Einheit solcher geschmackvollen und geistlosen Werke mögen die Holzbücher im kasselschen Naturalienkabinette erreichen: das Buch ist vom Holze, z.B. des Lorbeerbaumes, darin sind dessen Blüten, die Rinde, der Same und die Blätter, kurz dem Gewächse fehlt nichts als das – Leben; so aber ists ein Buch. Die Geschmack-Leute glauben viel bedacht zu haben, sobald sie die Pferde, die sie vor Apollos Wagen oft zugleich an die Vorder- und an die Hinterräder spannen, nur von einer Farbe ausgewählt. Himmel, schirret, was ihr wollt, an, Pferde, Drachen, Tauben; nur aber an die Deichsel, und nur lenke der Musengott! Man organisiere aber einmal einen Band Sinngedichte! Denn die gallische Poesie ist bloß ein längeres Epigramm; ja sogar ihre vorige Revolution-Beredsamkeit war eine Spitzen-Manschette von Droh-, Prahl- und Lob-Pointes. Dennoch wirkt es, ein Bonmot ist dem Gallier ein Stichwort zur Rolle, der wahre Logos, die wahre Logik; witzige Einfälle unterstützen kriegerische und umgekehrt, und das Bonmot als Parisien oder Galanteriedegen wird leicht ein längeres Gewehr....

Hier fiel plötzlich einer meiner Zuhörer (er wollte ein Persifleur oder Auspfeifer sein) mit den Worten ein, er falle dergleichen Einfälle weder an, noch weniger ihnen zu mit Beifall – es seien der Vorfälle, Unfälle und Fälle so viele, daß er keinen Fall mathematisch zu setzen wage; nur aber zu bedenken bitte, wo man denn sei, nämlich in Reichels Garten in Leipzig in Sachsen, und daß am linken Pleiße-Ufer ein französischer fester Platz liege, nämlich der la place de répos, um von der harmonie, der ressource und den Präadamiten der émigrés, den Kolonisten, gar nicht zu sprechen. Auch einige sächsische Buchhändler stimmten ihm bei. – Vorleser erwiderte aber sehr gesetzt, er hoffe, jetzo sei in Deutschland eine bessere Zeit, als unter der Revolution gewesen, angebrochen, und es sei wohl nun in keinem deutschen Staate mehr verboten (wie etwa sonst), von Frankreich das Beste zu [357] sagen; die Sturmzeit, wo wir Deutsche vergeblich an der gallischen Freiheit Teil zu nehmen wünschten, sei vorüber.

– Indes, meine Herren, fuhr ich fort, ist es hier der Ort und Tag, sämtliche Zeitungen und Journale wacker anzugreifen in dem

Fünftes Kapitel
fünften Kapitel
über Buchanzeiger und gelehrte Zeitungen überhaupt,

das ihnen manchen Text zu lesen hat. Mut, Hörsaal, ist der Flammen-Flügel des Lebens; Vorleser fürchtet kein Journal; kühn wie ein Carnot sagt er auf jeder Insel, auf jedem festen Lande seine Meinung und steht der Folgen gewärtig. Sterben – es sei vor Hunger oder sonst – ist das Höchste, was erfolgen kann; und wer von uns verschmäht es nicht! Ich werfe den Würfel; ich kündige hiermit ohne alles Bedenken an: ich werde mir in diesem Kapitel mehre vermischte, ungeordnete Winke über das Bücheranzeig-Wesen im allgemeinen erlauben. Wasser allein, möcht' ich fast wagen anzufangen, tuts bei ihnen; Wasser teils als kritisches Reinigmittel, weil die Kritik sonderbar ähnlich dem Wasser ist, ohne welches kein Schmutz-Fleck zu machen, aber auch keiner herauszumachen ist!.... Eben nehm' ich, meine Herren, befremdet wahr, daß der Kunstknecht und der Naumburger Schweinborstenhändler still stehen und halb giftig auf mich herüberblicken, als hätt' ich beider Handwerk spöttisch zu Vorbildern der kritischen Wasserkunstknechte und jener kritischen Borsten, welche, auf dem unreinsten Tiere seßhaft, nachher selber zum Reinigen dienen, absichtlich angewandt; ich frage aber als Vorleser meine Leser und Nachleser, ob es nicht von jeher meine Art gewesen, gerade auf die fernsten Sachen anzuspielen, nicht aber auf so nahe, die bloß ein Meer von mir abtrennt. – –

Doch eben sind die allegorischen Herren still weitergegangen; ich tue es auch und merke ohne Absicht an: es gibt, wie das Zahl-Verhältnis der jetzigen Kunstrichter zu den jetzigen Künstlern zeigt, mehr Glaserdiamanten als Ringdiamanten, mehr schneidende als glänzende.

Man hat mehr Vertrauen auf seinen Geschmack als auf sein [358] Genie; nicht jener, sondern dieses fodert Bürgen und Rückbürgen; der Geschmack, dieses ästhetische Gewissen, fragt nach niemand, aber wohl die ästhetische Tat will gebilligt werden. Jener tut Machtsprüche, dieses Machttaten.

Ein Kunsturteil überwältigt so leicht den Leser, bloß weil es so wenig Beweise gibt und so sehr den ganzen Menschen des Lesers voraussetzend in Anspruch nimmt.

Keine Rezensionen find' ich so leer, so halb wahr, halb parteiisch und unnütz als die von Büchern, die ich vor ihnen gelesen; aber wie trefflich sind mir die von solchen Büchern, die ich nie gekannt, von jeher vorgekommen, ich meine, so tief, rein und recht! Ich bejammere deshalb ordentlich ganz erbärmliche und ungelesene Autoren; denn die schreiendsten Ungerechtigkeiten soll man an ihnen so wie an Bettlern und Gefangnen verüben: sie können sich in ihrem Winkel nicht wehren und sich nicht aus dem Kerker winden, um der Welt ihre Wunden vorzuweisen.

Rezensionen haben selten – und das spornt ihre Väter – an wieder Korrezensionen auszuhalten. Auch würde das Beurteilen des Beurteilens ins Unendliche hin und her zurückprellen. Nur was die Sprache anbelangt, welche das Privilegium de non apellando hat, wäre vorzuschlagen, daß das gelehrte Reich sich einen Rezensur-Grammatiker hielte, der in einem eignen Werke aufpaßte und die Barbarismen, ohne welche das kritische Volk so wenig ein Zetergeschrei erheben kann als das römische ein Freudengeschrei, jedem Journale mit rechter Sprach-Polizei boshaft eintränkte. Ich glaube, sie würden rot. Es tut mir oft weh, daß die Einkleidung der gelehrten Zeitungen, nämlich die umlaufenden Kapseln derselben, durch Schmutz und Abgreifen ein Nachbild ihrer ästhetischen Einkleidung werden, so wie leider einen Freund der allgemeinen deutschen Bibliothek das elende Druck- und Papier-Werk nicht bloß als ein Widerschein der geistigen Einkleidung, sondern auch als eine ebenso typographische als allegorische Wiederholung der Wespennester sehr verdrießt, deren graues Papier nach Schäfer und andern wahres Papier ist.

Schlechte Werke sollte man wie Liscov bloß ironisch anzeigen, damit der Leser doch etwas hätte, da sonst den Tadel die gemeinen [359] Verdammungformeln erst an sich, und dann durch die Notwendigkeit ihrer unzähligen Wiederkehr sehr ins Langweilige spielen. Gelehrte Anzeigen bloß ungelehrter Werke, eine allgemeine deutsche Bibliothek voll lauter ihr ähnlicher Dichter und Philosophen, kurz, eine Zeitung des Schlechten, aber eine ironische und launige, welch ein Zuwachs der Ironie und Laune würde hier aufblühen!

Ferner wünscht' ich manche Werke mit wahrer Gewissenhaftigkeit und Liebe und so schnell als möglich angezeigt – nämlich die namenlosen und die von jungen Autoren mit namenlosen Namen; beiden wird es so schwer, sich ohne Hülfe auf den Rednerstuhl vor das Publikum hinaufzuarbeiten. Manches Leben, mancher Geist ist an einem ersten Werke gestorben; das harte Lager eines Jünglings auf Rosen – knospen sollte man bald weich aufblättern.

Sogar kräftige Geister macht oft ein elendes Urteil so kraftlos als sonst das eingebildete Nestelknüpfen die Starken des Mittelalters. Die größten Schriftsteller haben weit mehr achtende Scheu vor dem öffentlichen Urteil, als sie eingestehen. So blitzte in die ausbrechenden Blüten des herrlichen Leisewitz ein solcher kritischer Tropf zu unser aller Schaden. So erfolgte, trotz der trotzigen Drohung, keine Nachfuhre neuer Xenien, welche, wie es scheint, abstanden wie ein Wagen voll Krebse, wenn ein Schwein unter ihm wegläuft. So kennt der Verfasser dieses noch zwei Löwen der Literatur, welche gleich tierischen sich in manchen Werken durch kritisches Hahnengeschrei bestürzt machen ließen; und Herder würde sich noch größere Palmen errungen haben, hätte man ihm nicht erst nach seinem Tode die jetzigen gereicht. Ein Lieblingschmierer des Publikums hat hier größeren Mut als der tapferste Kopf; jener bezieht mit Waren seine beiden Messen und läßt sich jährlich zweimal kritisch abprügeln für Ehrensold (wie Sineser sich körperlich um Geld für Missetäter), um wieder an neue Werke und Prügel zu gehen; der Genius, welcher nur sein heiligstes Innere in einem zweiten niederlegen und wiederfinden will, schrickt vor jeder Abweisung und Aussperrung zurück und wählt glaubig oder unglaubig nur Einkehr in sich. [360] Schwerlich verzärtelt oder verwöhnt ihn, der den schärfsten Kunstrichter in seinem Ideale herumträgt, irgendein schmeichelnder; und alles Preisen des Werthers verzog Goethen zu nichts als zum Meister. Daher hätte jeder, auch der gerechteste Tadel gegen den Priester Melpomenens, Schiller, welcher Kraft, Leben, eigne und fremde Vorurteile unermüdet der Kunstschönheit opferte, nur mild und scheu und mehr mit Gefühlen eigner als mit dem Wunsche fremder Schmerzen ausgesprochen werden sollen; aber davon weiß die bellende Undankbarkeit nichts.

Ferner mittelmäßige Vielschreiber wünscht' ich gar nicht angezeigt; ihr häufiger Name ist ihr Stummenglöckchen und sagt, da sie sich ja nie ändern, laut genug die Wiederholung ihres Daseins an.

Endlich wünscht' ich über geniale Werke zwei ganz verschiedene Journale. Das eine müßte an einem Meister-Werke nichts als die Mängel rügen, jede falsche Mitteltinte, Falte, Linie bezeichnen und es ohne Scheu vorrücken, wenn ein Winkel des Rahmens um das Bild kein rechter wäre, oder die Vergoldung verschlissen. Denn alle Foderungen des Geschmacks und der Sprachlehre, kurz, der äußern Form will ich doch lieber an großen als an kleinen Autoren lernen; und Sprachnachlässigkeiten werden wir z.B. an Goethens neuester Prose im Anhange zu Cellini mit mehr Reiz finden und fliehen lernen als an einem matten Lang-und Breitschreiber. Solche fliegende Finsternisse des Genies würden, wie die der Sonne und des Saturns durch Trabanten, am schönsten dienen, die Landkarten der Erde zu machen und zu bessern. Auch wäre ein solches Journal für das Genie (besonders für dessen Nachahmer) der Nacht- und Richterstuhl, der einem Alexander sagte, er sei noch kein ganzer Gott.

Diesem gelehrten schwarzen Buch müßte sich ein zweites (es mag das goldne Buch heißen) beigesellen, das mit heiliger Seele nichts im Kunstwerke und göttlichen Ebenbilde anschauete (wie ein Liebender an der Geliebten) als die Schönheit oder den Gott, dem es ähnlich ist. Auf der hohen himmlischen Stelle, wo der Mensch vor der Größe steht, verschwinden ihm an ihr die Ecken der Nähe und Tiefe, wie einem Sternbewohner die Berge an der [361] Erde versinken und nur die strahlende Kugel erscheint. Schon der edle Winckelmann ermahnt, Schönheiten früher und brünstiger zu suchen als Flecken. Nur ists das Schwierigere; im Finden der Schönheit gehen die Menschen weit mehr und uneiniger auseinander als im Finden des Häßlichen; gegen dieses rüstet die allgemeine Natur; für jene wird erst eine besondere ähnliche Seele erschaffen; so ahnet ja im Moralischen der Sinkende nur immer tiefere Versunkenheit und allein der Emporgehende nur immer höhere Himmel voraus. Das goldne Buch, das ich wünsche, stellet nun, so gut es ohne Darstellung möglich ist, erstlich den Geist des Kunstwerks dar, zweitens den Geist des Meisters. Der letzte Geist kann nur in allen Werken zusammengenommen, gleichsam wie ein Gott in der ganzen Weltgeschichte, recht gefunden werden, – indes ein Buch den Gelehrten ausspricht und ausschreibt. – Fragt man: wozu kann gleichsam eine Darstellung einer Darstellung – denn alle echte positive Kritik ist doch nur eine neue Dichtkunst, wovon ein Kunstwerk der Gegenstand ist – helfen und führen? – so antwort' ich: eine fremde Anschauung gibt der eignen mehr Sprache, also mehr feste Klarheit; und reifet uns, nicht nur wie wiederholtes Lesen oder steigende Jahre, sondern zieht uns nach wie ja das Werk selber. Oder wie könnte denn je ein Volk – das, organisch betrachtet, immer sich mit wenigen Erhöhungen der Einzelwesen wiedergebiert – höher und eines über das andere steigen?

Diese doppelte Journal- oder italienische Buchhaltung über geniale Werke ist unbeschreiblich unentbehrlich, eben das grammatische Soll und das genialeHaben. Wirklich haben wir Deutsche – wenn ich stolz genug sein darf, es zu behaupten – schon dasSoll, oder eine schöne seltne Vereinigung von Köpfen, welche grammatische und rhetorische Fehler des Genies mit größtem Eifer suchen und zeigen, gleichsam ein Prisen-Rat eroberter Genien; ich weiß aber nicht, ob wir mit ähnlichem Rechte uns des zweiten Journal-Buchs, des Habens, rühmen dürfen. Herder, Lessing, zum Teil Schlegel und einige hoben den Anfang an. 224 [362] Der Geist eines Buchs ist so sehr derGlaube, wodurch es selig wird oder nicht, ohne Rücksicht auf dessen gute oder böse Werke, daß ein gemeiner katholischer Kunstrichter, der den Geist nicht achtet und fasset, mit derselben Unparteilichkeit und Wahrheit über jedes Werk zwei ganz entgegengesetzte Urteile fällen und bewahren kann durch willkürliche Wechsel-Zählung entweder der Schönheiten oder der Fehler. Wenigstens urteilen oder vielmehr urteln die jetzo lebenden Stilistiker nie anders.

Ich fahre fort: je eingeschränkter der Mensch, desto mehr glaubt er Rezensionen.

Doch setz' ich dazu: je entfernter von Hauptstädten und Musensitzen. Ein Provinzial-Landpfarrer z.B. glaubt fast zu sehr darum Sätze, weil sie der Setzer gesetzt; der Drucker-Herr ist sein Glaubens-Herr.

Ein Rezensent fälle ein mündliches Urteil, aber stark: jeder stellet ihm doch eignes entgegen. Aber einem gedruckten widerstrebt der Mensch schwer; so sehr und so zauberisch bannt uns Doktor Fausts schwarze Kunst auf seinen Mantel oder in seinen Magus-Kreis. Diese Allmacht des Drucks liegt aber nicht in der Abwesenheit des aussprechenden Geistes – denn sonst hätte sie der Brief und das Manuskript –, sondern teils in der dankbaren verehrenden Erinnerung, das Höchste und Schönste von jeher nur auf dem Druckpapier gefunden zu haben, teils in der närrischen Schlußkette, daß der Druck-Redner, der zu allen spricht, desto unparteiischer zu jedem Einzelnen spreche und daß ihm also etwas zu trauen sei; »vorzüglich,« fügt man bei, »da der Mann ja nichts davon hat und davon weiß, wenn er jemand umarbeitet, [363] der sich deshalb auch ohne Erröten bekehrt.« So stehen die Sachen. Selber diese kritische Vorlesung, Verehrte, hat zu viele Mängel, um früher zu beweisen, als sie gedruckt ist; die offenen Lücken machen es, welche dem Lichte nicht eher zu Fenstern dienen können, bis Druckpapier darin eingesetzt ist.

Eine der besten Literaturzeitungen wäre die, welche stets 25 Jahre nach den Büchern erschiene. Eine solche ließe dann schlechte Gestalten, welche in der Lethe schon zerschmolzen wären, ungeformt verrinnen; – die gediegnen, festen Schein-Leichen, welche darin schwämmen, führte sie belebend ans Land; – die am Ufer Lebenden wären durch bloße 25 Jahre so alt geworden, daß sie weder die parteiliche Muttermilde, noch die Vaterstrenge der ersten Zeit gegen sie üben könnte.

Hingegen, so wie Journale nach 25 Jahren am besten prüfen könnten, ebenso könnte man sie selber darnach am besten messen. Vorleser dieses blättert sich zuweilen in gelehrten Zeitungen sehr zurück; wie wurden sie ganz zu politischen und zu nichts, und dieZeit fodert von der Zeitung den Namen zurück. Nicht nur als Geschichte des fortschreitenden, wenigstens fortgrabenden Geistes, sondern auch als Lehre und Vorbeschämung kühner Urteile über kühne Geister wünscht' ich oft auch eine Sammlung der frühern kritischen Urteile über unsere jetzo berühmten Schriftsteller gemacht, welche man aussprach, ehe, ja als sie berühmt wurden; wie wurden nicht im 6ten und 7ten Jahrzehend des vorigen Jahrhunderts Herders zu breit ausgespannten Flügel mit schwerem Kot beworfen, damit er belastet tiefer am Boden hinstriche! So sollte es mir auch wohltun, in der vorgeschlagenen Chresto-Mathie z.B. das Urteil der neuen Bibliothekt 225 der schönen Wissenschaften wieder gedruckt zu lesen, daß Goethe kein Dichter sei und den hohen Namen nicht verdiene; – oder das Urteil in der allgemeinen deutschen Bibliothek (ich bürge für dessen wirklichen Stand auf der Blattseite mit der graden Seitenzahl), daß Wieland endlich doch als Schwabe im 40ten Jahre werde klug werden. – Überhaupt wäre eine Sammlung von den nur in einem Jahrzehend öffentlich gefällten Splitterrichtersprüchen und unrechtlichen [364] Erkenntnissen samt den höheren Sprüchen Rechtens, insofern sie große Schriftsteller betreffen, die beste Geschichte der Zeit, nämlich der literarischen.

Nur zweierlei Schriftstellern, denen des Auslands und denen der Vorzeit, wird eine neue freie, ja unregelmäßige Bahn von Kritikern verziehen, ja gedankt; denn diese fragen: ob denn das Feld der Schönheit in einige willkürliche Raine einzudämmen sei. Begibt sich hingegen ein Autor ihrer Zeit und Nähe aus den alten, ihm gezognen Furchen hinaus: so leiden sie es nicht, sondern ihm werden von ihnen seine Heiden-Tugenden als glänzende Sünden angerechnet und er damit in die Hölle geworfen.

Indes ist wirklich einer angebornen Kühnheit und Neuheit einiger Tadel gesund, damit sie nicht durch Lob sich verdoppele und über die Schranken der Schönheit springe. Glücklicherweise findet jeder, auch kleine, dichterische Schöpfer schon kritische Kreaturen, welche nichts machen und wagen und daher jenem scharf auf die Hand sehen können; und selten fehlt es einer schreibenden Zeit ganz an einem allgemeinen deutschen Bibliothekar, oder an einem schönen wissenschaftlichen, oder an einem Merkel, welcher gerade das verdorrte Gewächs ist, das man sucht, um es zum Vorteil des grünenden in die Erde zu stecken und mit ihm als einer Regel den Leuten den Gang über Wiesen zu verwehren. Wie oft wurde sogar mir, einem der Geringsten unter den Kühnen, nicht Merkel mein Waschschwamm, womit ich mich sauber genug abrieb! Ich ehre den Mann gern und absichtlich durch die Vergleichung mit einem Badeschwamm, da dieser ja ein lebendes Pflanzentier, in der Größe eines Hut-Kopfes, mit willkürlichen Bewegungen ist und sich selber fortpflanzt durch Auswüchse. Jetzo sitzt leider mein Pflanzentier in Rußland; und es bürdet mir bei der sauern Arbeit, meine Fehler abzulegen, noch gar die andere auf, sie einzusehen.

Der einzige Mensch, der nach einem Rezensenten nichts fragt, ist ein Rezensent. Lieset er allgemeine Satiren auf seine Amtbrüder: so lächelt er schelmisch genug und sagt nachher, wenn er in den Klub kommt: »es sei ihm aus der Seele geschrieben; denn [365] er kenne, hoff' er, das Wesen besser als einer,« und nennt darauf zwanzig oder dreißig Spitzbuben, mit denen er briefwechselt.

Rezensier-Anstalten sollten so richten, als sie gerichtet werden; man verurteilt sie nämlich nicht nach der Mehrheit der schlechten Artikel – denn so wie ein großer Kopf nicht lauter große Stunden, so kann noch weniger ein »Redakteur« lauter große Köpfe gewinnen –, sondern man beurteilt sie nach dem Dasein des Geistes in der Minderzahl. Ist eine Anstalt so glücklich, nur für jedes gelehrte Glied einen lebendigenGeist zu haben und zu salarieren, für die Theologieeinen, für die Wappenkunde einen u.s.w., so bildet die Anstalt wirklich einen lebendigen Menschen; die übrigen Mitarbeiter, z.B. am geistlichen Arm, sind dann, sobald er nur beseelt ist, ohne Schaden dessen bloße Hemd-Ärmel, des letzten Rock-Ärmel, des letzten Überrock-Ärmel und Ärmel-Manschetten u.s.w., und wer ist dann so zufrieden als die ganze gelehrte Welt!

Daher wirft sich der Heiligenschein einiger glänzenden Rezensionen bloß durch Namenlosigkeit, welche hier Richtern und Parteien Namen verschafft, so vorteilhaft einer ganzen Anstalt an, daß sogar ein von berühmten Namen unterschriebenes Urteil, wie z.B. in den Erfurter Anzeigen, oder auch ein Urteil, das ein Hoher namentlich in seinen Schriften ausspricht, nicht so viel wirkt und täuscht als ein ununterschriebenes Urteil, weil dieses sich uns für den Ausspruch einer ganzen gelehrten Kirchenversammlung ausgibt, die man über einen heiligen Vater hinaufsetzt. Die niedrigste und vorläufigste Rezensier-Anstalt, die ich kenne, sind freilich Lesebibliotheken. Doch verbinden sie Lesen und Urteilen zugleich – haben Unparteilichkeit – die Mitglieder sprechen einander nicht nach, sondern vor – werden nicht bezahlt, sondern bezahlen – und treffen vergleichweise doch etwas.

Wenn man sich fragt, warum die meisten Literaturzeitungen zwar wie Sonnen auf-, aber wie Monde untergehen – denn sogar die Literaturbriefe wurden zuletzt Prose der Zeit, und sogar die allgemeine deutsche Bibliothek war anfangs Poesie der Zeit –: so muß man diese Verschlimmerung sich nicht bloß aus dem ähnlichen Absterben aller lang fortgesetzten Sammelwerke beantworten, [366] sondern besonders aus der Erwägung, daß eine gute neue Richt-Anstalt dieser Art nur als ein Frucht- und Stachelzweig einer neuen, heiß vortreibenden Zeit entstanden und daß sie diese Zeit selber in ein schnelles und durch die Menge gewaltiges Wachsen und Treiben setzt, welchem sie in ihrer Einzelheit nicht nachwachsen kann. Anfangs folgt der Zeitung rüstig die Zeit, dann der Zeit hinkend die Zeitung, und endlich legt diese sich nieder. Darauf wird eine kritische Gegenfüßlerin geboren, und später wieder eine Gegen-Gegenfüßlerin, fast gleich der alten Füßlerin, je heftiger sich die gärende Zeit entwickelt. Allerdings verlieren unsere Rezensier-Anstalten durch ihre Menge so viel als unsere Bühnen durch ihre, indem die auftreibliche Zahl guter Kunstrichter oder Künstler, welche eine Zeitung odereine Bühne zur Allmacht erhoben hätte, nun in auseinandergerückten Räumen mit gesellenlosen Gliedern erscheint, ohne die Beihülfe der Mitwirkung, ja mit der Voraussicht der parteiischen Entgegensetzung der Bühnen und Blätter. Die Alleinherrschaft einer Zeitung wie einer Hauptstadt würde uns mit blindem Glauben oder Nachsprechen anstecken. Die Menge der Sprecher und Widersprecher nötigt den Vielkopf (das Publikum) in seine Würde hinein, der Allrezensent zu sein. – In einer literarischen Hauptstadt wie London oder Paris sind Preis und Los eines guten und eines schlechten Autors bald und stark vom Vielkopf entschieden, aber um so stärker, da der Schriftsteller überall die mündliche und sichtbare Vollstreckung der Urteile über sich in der Gesellschaft empfangt. Diese Wirkung einer Hauptstadt wird uns weniger durch eine Hauptzeitung als durch eine Kompagnie von Zeitungen ersetzt, welche durch ihre ganzen Gassen lang den laufenden Sünder mit Ruten begleitet.

Das vollendete Journal aller Journale, die Kritik aller Kritiker, die uns noch in die Hände gefallen, wird wohl das jenaische Repertorium der Literatur bleiben; hier überschaut und überhöret ein Deutscher den ganzen deutschen Richter-Kreis bis unter jede richterliche Querbank hinab; und die Richter werden durch ihre eigne Zahl gerichtet. Es ist das Dionysius-Ohr der deutschen Fama und Zunge; es ist der gelehrte deutsche Reichs-Anzeiger [367] der ungelehrten deutschen Reichs-Anzeiger. Obgleich Journale nur die in Paris aufgeschlagenen Bücher sind, worin das vorbeigehende Volk eine Krönung unterzeichnet, und wo ein Name tausend Namen schreiben kann, um einen fremden zu machen: so ist doch – nämlich eben darum – das Repertorium die einzige rechte Kritik, besonders aller Kritiker. Sehr ist zu wünschen, daß ein so kurzes, unparteiisches Journal – denn es führt nichts an als einfache Zeichen fremder Urteile – am Ende alle Zeitungen durch den Auszug daraus unnötig und ganz ungelesen mache; und ich wüßte nicht, was die Literatur dabei verlöre, wenn alle gedachte Zeitungen niemand läse und kaufte als eben die Repertoren des Repertoriums, welche doch am Ende das Beste und Herrlichste aus ihnen ziehen; denn Zeichen der Urteile sind selber die Urteile ganz, da diese, wie bekannt, keine Beweise dulden. –

Vorleser dies setzte sich selber einigemal auf den ästhetischen Richterstuhl und beurteilte herab, aber ihm war immer in seinem Sitzen, als sei die aufrechtstehende Partei mehre Zolle länger. Jenes grobe Gefühl von Überlegenheit versprach er sich vergeblich, welches sonst auch die niedrigsten Kunstrichter gegen den höchsten Schriftsteller in so bedeutendem Grade aufrecht erhält das sie allein gegen einen Mann, vor welchem alle Leser scheu und achtend stehen, in eine so behagliche Lage setzt, daß er sich allein vor ihm wie ein Grobian heiter hinflegelt und ausspricht, wie etwan nach Pouqueville vor dem mächtigen Pascha in Morea sich niemand setzen darf als nur der Scharfrichter. Soll eine Rezension etwas Besseres als eine Antwort sein, die man einer Tee Wirtin auf die Frage gibt, wie uns das Buch gefallen: so gehört so viel zu einer, daß sie selber zu einem Kunstwerk ausschlägt: erstlich ein schnelles Durchlesen, um die ungestörte Kraft des Ganzen aufzunehmen – zweitens ein langsames, um die flüchtig einwirkenden Teilchen dem Auge zu nähern – drittens ein genießendklares, das beide vergleicht – viertens eine rein unparteiische Absonderung des Urteils über den Geist des Werks von dem Urteile über den Geist des Verfassers – fünftens eine Zurückführung des Urteils auf bekannte oder auf neue Grundsätze, daher eine Rezension leicht eine Ästhetik im kleinen wird – sechstens, siebentens, [368] achtens etc. versteht sich von selber, nämlich Liebe für Wissenschaft und für Autor zugleich, für deutsche Sprache etc. – Darf man allerdings nicht schonen, sondern recht strafen jedes Talent und jedes Genie, welches als Verbrecher an seiner eigenen geistigen Majestät vor dem Gewinne, vor dem Vielkopfe und vor dem Lobe sich als den Schöpfer und seine höheren Geschöpfe wegwirft und lieber mit niedrigen besticht: so ist hingegen mild und menschlich jede Mittelmäßigkeit zu empfangen, welche nicht, wie ein nicht-wucherndes Talent, ein Pfund hergibt, sondern nur ihr Scherflein. Übrigens würde ich, liebe Amtbrüder, in jedem Zweifel-Falle die Milde der Härte vorziehen und auch hier im literarischen Gerichte, wie die Griechen im gerichtlichen, jedesmal, wenn die Zahl der weißen und die der schwarzen Kugeln sich glichen, im Namen der Minerva die weißen überwiegen lassen. Einige Kunstrichter aber geben bei solchem Kugel-Gleichgewicht durch Hineinwerfen einer schwarzen aus der Brust das Übergewicht. Ich würde, gute Richtamtbrüder, jeden herzreinen, aber irrigen Autor über meinen pflichtmäßigen Tadel womöglich durch Hinweisen auf seine anderen Kräfte oder auf die Wege, die genützten besser zu nützen, hinweisen. Denn der Rezensent sollte überhaupt mehr den Schriftsteller als den Leser aufzuklären suchen, weil niemand eine Rezension so oft lieset als jener, und niemand eine so wenig als dieser. Überhaupt, meine lieben Richtamtbrüder, was hätte nicht ein Richtamtbruder zu bedenken! So viel in der Tat, daß man fast lieber nur als der Rezensent seiner selber auftreten möchte, weil man da doch loben und tadeln kann, ohne bei dem Gegenstand anzustoßen. Denn, lieben Brüder, es gibt noch mehr fortzubedenken: z.B. treffender wird ein Preis-Autor gezeichnet durch Ausheben der meisterhaften Stellen – die ja nur er machen konnte – als durch Ausheben der schülerhaften, die ihn von der Masse nicht unterscheiden. Mit anderer Absicht würd' ich auch aus dem Unter-Autor nur sein Bestes auftragen und sagen: nun schließt daraus auf sein Schlimmstes! Überall übrigens sollte uns Richtamtbrüdern (da Erfahrung nur bejahen, und nicht verneinen kann) bloß das Schönste zum Maßstab eines Dichters dienen; denn das Schlechteste kann der beste haben, aber nicht [369] das Beste der schlechte. Wie nach Jacobi die Philosophie überall das Positive, so hat die Kritik das Schöne zu suchen und zu zeigen; nur wird dadurch das Richten sauer; Fehler lassen sich beweisen, aber Schönheiten nur weisen; denn diese sind gleichsam die ersten Grundsätze, welche als ihr Selberbeweis nicht unterstützt werden, sondern unterstützen; jene aber lassen dem Kritiker ihr Zergliedern und ihr Zurückführen an den niedrigen Gerichtstuhl des Verstandes zu. Was uns widerspricht, hebt sich als Glied-Ecke heraus; was uns gefällt, verliert sich ins runde Ganze. Allerdings geben kühle Gefühle einem Manne ein Recht, warmen vorzuschreiben; er kann (gelehrt genug) sagen, er sei bei Kunstwerken, nach Gebrauch der Alten bei Gastmahlen, als der sogenannte Trinkkönig, welcher allein unter allen berauschten Gästen nüchtern und trocken dazusitzen habe. Ja er kann sagen – will er auf mehre Zeiten anspielen –, er halte sich die Leser als Champions, welche an seiner Statt das Berauschen und Genießen übernehmen, wie jeder sonst in Frankreich sich einen Trink-Champion halten konnte, der für ihn den Becher annahm und bestand. 226

Wirf, sagt ein arabisches Sprichwort, keinen Stein in den Brunnen, woraus du getrunken. Himmel! in welche Brunnen werden mehr Steine aller Art, Höllensteine, Ecksteine, Stinksteine etc., geworfen als in den Brunnen der Wahrheit und des kastalischen Quells! Ein dumpfer dunkler Rezensent hat vielleicht in seinem Leben nicht eine einzige frohe Minute dem Dichter gereicht, der ihn mit Himmelsstunden trotz aller Fehler überhäuft und überladen: gleichwohl tunkt das Tier die Tatze ein und wirft ohne allen Dank dem Manne giftig und bissig die wenigen Zeilen vor, in welchen es nicht so leicht baden konnte als in den andern.... Gott! gibt es denn in der gelehrten Welt keine Dankbarkeit mehr? Oder kann ein Verdienst um alle anders belohnt werden als von allen einzelnen? Flammt euch euer Schönheitsinn so sehr an: warum spricht denn der verletzte seinen Zorn stärker aus als der befriedigte seinen Dank? Und warum wollt ihr euere Achtung für die Kunst mehr durch Bestrafen als durch Belohnen erklären?

[370] Den seltenen Fall des Willens ausgenommen, könnt ihr ja nur die Natur anklagen, daß sie dem Genius nicht alles gegeben, sondern nur viel; – dann brauchtet ihr aber einen stärkern Grund zu einer Klage nicht so weit außer euch zu suchen. Über Fehler des Genies sollte nur getrauert werden wieder von Genies, wie nur Große um Fürsten trauern dürfen. Ihr aber erlöset wie die Orthodoxie nur fallende Menschen und verdammt fallende Engel. Jede Verarmung vergebt ihr leichter als Verschwendung; der Mann wird literarisch pro prodigo (für einen Verschwender) erklärt und dadurch aller Bürger-Rechte eines akademischen Pfahl-Bürgersentsetzt: er kann keinen letzten Willen, keine Schulden, keine Verträge machen. Ich beschwör' euch, spielet doch der form- und stofflosen Mattigkeit und » Weitschweifigkeit« (ein gutes deutsches Wort) nur halb so übel mit! Aber ihr rügt zu große Kürze weit erzürnter als zu große Länge, als ob letzte nur eine angeborne wäre, was unwahr ist; denn es gibt zwei Kürzen und dazwischen eine Länge im Sprachleben, ordentlich als sei dieses ein Amphibrachys ( ñ – –). In der ersten Kürze spricht der Wilde und das Kind, ja der Landmann und Bürger; alle ordnen die Darstellung dem Gegenstande unter und machen ungern Worte. Dann kommt die Länge des Gebildeten, welcher, weniger vom Gegenstande getroffen und überwältigt, sich freier und länger den Worten überläßt. Die zweite Kürze, z.B. die eines Tacitus, Seneka, J. J. Rousseau, wird künstlich gewonnen; und jeder kann sie sich zugewöhnen, da sie kein Geschenk des Genius ist, wie Plinius II., die Humanisten Lipsius und Danz, und Longolius u.a. beweisen. Große künstliche Kürze verrät sogar, als Widerspiel der Naturkürze, Liebe der Darstellung auf Kosten der Sache und der Liebe dafür. – Ich komme auf einemlangen Wege zu euch und euren bureaux des longitudes zurück. Ihr wollt und lobt nämlich Länge – die der Prediger, die der Wissenschaften aller Art, die der Dichter –, weil ihr selber keinen guten schreibtafelfähigen Gedanken einführen könnt, ohne ihm seine ganze Ahnenreihe vorauszuschicken. Der Deutsche näht gern jeden Gedanken in ein zierliches Schleppkleid ein, und ihr zieht gern als Schleppenträger hinterdrein. Die deutsche Meile ist, als Vorbild deutscher Schreiberei, [371] beinahe die längste in Europa; und mich wundert, daß der Spondeus uns schwer kommt. Wenn man den einzigen Vorteil ausnimmt, den euer rezensierender Amtbruder und andere Deutsche davon ziehen, daß wir nämlich einen guten, schnell weglesenden Aktenblick und größte Flüchtigkeit gewinnen und, gerade von schwerfälligen Schreibern zu schnellfüßigen Lesern gebildet, gleich Fußgängern ins Laufen geraten, weil der ferne Stadtturm ewig herschauet und wir doch nicht ankommen: so bleibt außer dem Gewinne der Eiligkeit nichts übrig als Langweile und Makulatur. Vorleser dies hebt eine Probe deutscher (Schreib-) Art und (Schreib-) Kunst nicht aus Kanzelrednern – bei welchen diese geistige Zungenwassersucht ohnehin sonntäglich zu finden ist, sogar bei den besseren, wie Zollikofer, Marezoll, ja Reinhard –, sondern für eine Ästhetik selber aus einer Ästhetik heraus und wählt aus »Eschenburgs Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, neue umgearbeitete Ausgabe bei Fr. Nikolai 1789« Seite 294 folgende gute Stelle:

»In der Bemerkung, daß nicht bloß Ähnlichkeit, sondern auch Widerspiel und Kontrast der Begriffe ihre gemeinschaftliche Erweckung und Verknüpfung in unserer Seele veranlaßt, hat die Ironie ihren Grund, eine Figur des Spottes, welche die Wörter ihres Widerspiels wegen miteinander vertauscht und das Gegenteil von dem andeutet, was sie, dem gewöhnlichen Wortverstande nach, ausdrückt. Man pflegt sie jedoch nicht in einzelnen Wörtern, sondern in einer Folge von Redensarten zu brauchen, deren Mißdeutung durch Inhalt, Zusammenhang und Kenntnis ihres Gegenstandes verhütet werden muß, noch mehr aber beim mündlichen Vortrage durch Ton der Stimme und Gebärdensprache deutlich wird.«

Himmel, welche Unsprache, welche Fläche, Leere, Schwere! Und dieses alles bei einem Geschmacklehrer, welcher selber eine ganze Beispielsammlung guter Schriftsteller gegeben und der uns hier mit dem ersten Beispiel einer ganz andern Sammlung beschenkt! – So aber schreiben nun ganze Bibliotheken und die Lobredner und Tadler derselben – jeder Deutsche hält auf das Vorrecht eines römischen Senators, der, wenn er seine Meinung [372] über das Vorliegende gesagt hatte, ein besonderes Recht besaß, noch eine über etwas Fremdes beizubringen – die gemeinsten Gedanken treten, besonders in Lehrwerken, wie schon gesagt, mit allen ihren Ahnen auf und lassen sich deren wie Bürgerliche vorausgeben, um sich zu adeln – und nichts wird gegen diese Schreiberei geschrieben. Bloß getan wird etwas dagegen, was mich desto herzlicher freuet. Ich meine die tägliche Steigerung der Einrückgebühren. Durch diese Geldstrafe des wortreichen Stils werden sämtliche Weitschreiber – sogar die wohllöblichen Gerichte – zu Tacitis eingepreßt. Mit Vergnügen – mit satirischem – stell' ich mir oft einen ergrimmten, auf eine Rezension einiges versetzenden Gelehrten und Antikritiker vor, welcher, von Worten und Galle ganz geschwollen, gar nie auf hören möchte, sich zu ergießen, – wie der erboste Mann sich daran durch das Einrückgeld, wie durch ein Kompressorium, gehindert spürt, weil er für die feindliche Anstalt, der er keinen Heller gönnt, jedem zugefertigten Schmerz sogleich das Schmerzengeld beilegen, und wie er in den elektrischen Verdichter (Kondensator) einer Antikritik sein Zornfeuer eng einfangen muß. – Und dann sieht er noch vollends voraus, daß der glückselige Rezensent ihn auf demselben Druckbogen so lange gratis wieder stäupen und streichen kann, als er will – – Aber kurz, die Kürze gewinnt dabei unsäglich; und mögen nur die verschiedenen Reich- und Musen Anzeiger in Zukunft Liebe genug für den Stil haben, um die Einrückkosten weit mehr zu erhöhen als zu erniedrigen!

Ich komme zu den vermischten Winken für gelehrte Zeitungen zurück. Könnten die Redakteurs nicht künftig das römische Gesetz aufstellen, das in den Komitien jedem zu stimmen verbot, der erstlich über 59 Jahre alt war und zweitens unter 17 Jahre? Denn jetzo, da der Stilistiker seinen Göttern und Zwecken die Jünglinge schlachtet, der Poetiker aber seinen dieGreise, steht leider eine andere Römer-Sitte fest, welche junge Tiere opferte, sobald etwas langsam, alte 227 aber, wenn es schnell gehen sollte.

Haltet euch, meine Amtbrüder, nicht für untrüglich, da es nicht einmal der Genius ist; sondern bedenkt, daß, so wenig ein Einzelwesen [373] im Besitze aller Wahrheiten, ebensowenig eines im Besitze des Geschmacks für alle Schönheiten sein kann. Bedenkt, wie ganze Völker und Zeiten einen Aristophanes, einen Shakespeare und Calderon verwarfen und verwerfen, und ein Corneille einen Racine – wie in der von Jahrtausenden bewunderten Ilias der große Sprachkenner Schneider das 18, 19, 20, 21te Buch für die Geburt eines recht dummen Nachahmers hält, das 14te jedoch einem erträglichen Kopfe zuschreibt – wie ein Wolf die lange geachtete Rede Ciceros pro Marcello für unecht erklärt, Weiske dagegen sie für echt – wie in vorigen Jahrhunderten die größten Humanisten durch Falschmünzen von Klassikern einander glücklich betrogen und halb tot geärgert – wie sogar ein Winckelmann (nach Fernow) mitten in Italien ein Gemälde von Mengs für ein antikes, oder Boysen nach J. von Müller mitten im Sprach-Orient Gleims Halladat für eine Übersetzung aus dem Arabischen genommen........ Richtamtbrüder! bedenkt dies alles und bleibt noch unbescheiden, wenn ihr könnt!

Mein letzter Wink ist: beurteilt, aber vierteilt nicht ein Kunst-Werk; zieht aus demselben weder den Plan – denn das heißet das Knochengerippe einer Venus geben, das ebensogut in einer widrigen Bauerdirne stecken könnte –, noch einzelne Schönheiten – denn das heißt einen Fensterstein als Prüfstein des Hauses vorzeigen-, noch einzelne Fehler – denn es gibt keine schlechte Zeile, die nicht ein guter Autor durch die rechte Stelle zu einer schönen machen könnte-, und überhaupt nichts einzelnes. Schlagt ein Schauspiel, das ihr noch nicht gelesen, in der Mitte auf und leset irgendeine Stelle: sie muß euch sehr matt vorkommen; behaltet sie (z.B. bloß das kleine Wort moi der Medea) in euerm Kopfe so lange, bis ihr von vornen wieder daraufkommt: Himmel, wie ist und glüht da alles anders! – Noch mehr gilt dies für das Komische, dessen Einzelheiten, aus der mildernden Ähnlichkeit des Ganzen herausgestürzt in die schreiende Unähnlichkeit einer ernsten Rezension, so erscheinen müssen wie ein Falstaff mitten in einer Messiade.

Lasset mich einmal eine Rezension von einem bekannten Buche nach eurer Weise machen: »Wessen Geistes Kind dies saubere [374] Produkt ist, dessen Verfasser für die elegante Welt (risum teneat.) zu schreiben hofft, das wollen wir mit einigen Pröbchen bloß auseiner Erzählung belegen und dem Leser das Urteil selber überlassen. S. I 28 sagt der Held von den Damen, sie lägen wie Kälber da – S. 183 sagt ein Fürst zu seinen Hofleuten, sie hätten nicht mehr Verstand als die Kälber – der Held heißet bald S. 125 der Lümmel, bald S. 126 mein Flegel, bald S. 165 der Haubenstock, bald S. 147 das Ideal von einem Besenbinder (wie witzig!); er weiß S. 150 weder Gicks noch Gacks, gibt S. 152 einen derben. Schmatz, gähnt S. 129 aus vollem Rachen so laut als eine Eselin (der Versbau, denn das Ding ist in Versen, ließ keinen Esel zu) – S. 13 5 wird von der Jungfern-Angst vor einer gewissen Wassersucht (Pfui! Herr Autor!) gesprochen. Ohe, jam satis est! Diese Pöbelhaftigkeiten sind aber der beliebte Ton der neuesten Literatur. So schrieb sonst Wieland für die elegante Welt nicht.« –

Inzwischen, meine Herren, ist diese Erzählung, die ich so rezensiert habe wie mich das Volk, eben von Wieland selber, steht unter dem Titel Pervonte im 18. Band seiner Werke, und diese Schein-Flecke werden vom Ganzen in leichte Halbschatten aufgelöset. Der Hörsaal erlaube mir ohne weiteres

Sechstes Kapitel
das sechste Kapitel
über die mittelmärkische oder wirtschaftliche Geschmack-Zunge

zu machen, aber nur kurz; denn ihre eigenen Rezensionen sind ihre Sachbeschreibungen. Auch alterniert und kommuniziert sie mit der französischen sehr; nur daß sie, wenn diese den Gesellschafter abdruckt, gar nur den Pfahlbürger nachdruckt. Was begehrt nun der reichdeutsche Stilistiker von der Dichtkunst?

Gombauld im 68. Epigramm seines 1. Buchs antwortet darauf so:

Si l'on en croit un certain Duc,
Qui philosophe à la commune,
La Substance n'est rien qu'un suc,
Et l'Accident qu'une infortune.

[375] Das Musenpferd soll ihm nämlich ein Kunstpferd sein, es soll wissen, sich tot zu stellen, auch anzugeben, wie viele Personen in der Gesellschaft sind und wie wenige noch jungfräuliche, und sonst viele Fragen zu beantworten. Die Poesie soll den gesunden Menschenverstand, viele gelehrte Kenntnisse, ganze Wissenschaften (z.B. den Ackerbau oder die Georgica), besonders feine Seelenlehre und Menschenkenntnis, überhaupt das Licht samt eindringenden Moralien in Verse und dadurch in Umlauf bringen, nebenbei ihren Mann ernähren (Setzer und Packer ohnehin) und gerade dadurch desto stärker für das Gedächtnis arbeiten, daß sie ihm durch ihre Anmut alles tiefer einprägt. »Ich kann mir« (schrieb mir neulich ein märkischer Stilistiker, der weder ein Alt- noch Neu-, sondern Mittel-Märker ist, um überall die Mittelstraße zu gehen) »für eine Dichtkunst, die etwas Höheres sein will als ein bloßes mit dem Braten ausgeteiltes Gelegenheit-Gedicht bei einer Brautsuppe oder einem Geburttagkuchen, keinen edlern Zweck gedenken als den, ein längerer versus memorialis zu sein und so durch die untern Kräfte mehr, als man denkt, den obern der Prose vorzuarbeiten. So trägt sie wenigstens unter ihren Flügeln etwas und hält, wenn das Gleichnis edel genug ist, wie ein gebratener Kapaun unter dem rechten den Magen, unter dem linken die Leber, diese beiden größten Glieder des Lebens. Daher bin ich für meinen Ort dafür (und ich denke, preußische Staatwirte gewiß auch), daß durchaus Poesie auf allen preußischen Gymnasien und Lyzeen fortgetrieben werde, etwa z.B. nach der ›kurzen Anleitung zur deutschen Dichtkunst für die ersten Anfänger, bei Grau in Hof‹, wenigstens so lange, bis nützliche Kenntnisse allgemein verbreitet sind; dann (aber wann ist dies zu hoffen?) mag sie entbehrlicher sein, nicht sowohl für den Philologen von Handwerk als für den Geschäftmann. Doch der Philologe bringt und schickt die Dichtkunst nur, gleichsam wie ein Postamt die gelehrten Zeitungen, weiter, ohne vom Inhalte besondere Notiz zu nehmen, so wie die gereiften Holländer alle französischen Ketzereien und Badinagen gut verlegten, setzten und absetzten, ohne sich im geringsten in ihren stillen Schlafröcken in ein lächerliches Badinieren oder Philosophieren hinreißen [376] zu lassen. Der rechte benützende Leser wird ohnehin mit den sogenannten blumigen Auen der Dichtkunst so umzugehen wissen wie das vom ähnlichen Instinkte geleitete Weidevieh mit den Herbstwiesen, welches das nährende Gras rein abbeißet, allein ohne nur die giftigen Zeitlosen (welche auch wie poetische Blumen erst in einem künftigen Frühling Früchte ansetzen sollen) anzurühren. Der feine Mittelmärker kennt, lieber Poet, den zauberischen Venus-Gürtel der Dichtkunst so gut als irgendein Gürtler, der ihn gemacht; aber er weiß auch, Guter, daß der schöne Gürtel etwas enthalten, wie jede Geldkatze, und dazu, wenn auch nicht von Pfund-, doch von Lotleder sein muß. Wollen wir denn hier in Berlin etwas anders? Die Poesie, wollen wir bloß, soll nur nicht wie Tieck und andere Romantiker den Vögeln gleichen, welche nur singen und immer ohne Zweck dasselbe wiedersingen aus bloßem Mai-Kitzel; verständlich reden soll sie, wie schon der Star, welcher spricht wie jeder von uns. Urteilen Sie aber selber, Sie Unbefangener!«

Ich tat es und bedauerte im Antwortschreiben niemand als Gott, welcher, falls er die Welt nicht poetischer nehme als ein Märker, die höchste Langweile schon an unserem Beten, Reden und Singen ausstände, weil wir für Ihn ja doch in allem Vögel wären, z.B. Kuckucke, welche ihm ewig dasselbe vor- und wiedersingen.

– So viel ich sehe, meine Herren, ist der allgemeine deutsche bibliothekarische Ausschuß fortgegangen und der Ordinarius hintennach. Vielleicht büßet dadurch eine gewisse Freimütigkeit, womit man den Abwesenden das nächste Kapitel zu lesen hat, nichts ein. Vorleser säumt daher nicht mit dem Lesen des

Siebentes Kapitel
siebenten Kapitels
über die allgemeine deutsche Bibliothek.

Er freuet sich um so mehr, hier mündlich auf dem Lehrstuhle (wie Professoren pflegen) gegen sie auszufallen, da er aus guten Gründen gesonnen ist, nie eine Zeile (er hälts) mehr gegen sie in Druck zu geben. Nicht als ob er sich schämte, gegen sie zu fechten[377] – was sich für ihn nicht schickte, da drei große Dichter an ihr um den Namen eines Apollo-Sauroctonon 228 gerungen, desgleichen zwei große Philosophen und Hamann –, sondern weil er sich vor ihr fürchtet. Denn nichts war ihm von jeher verdrüßlicher, als sich, wenn er sie mit voller Hoffnung öffnete, darin ein schwaches Lob der Unmündigen einzusammeln, plötzlich von letzten mit dem größten Nachschreien: du Kahlkopf! durch zehn Gassen verfolgt zu sehen; und endlich in den entlegensten Gassen zu hören, wie ihm durch jeden neuen Nachahmer die Kuppel von neuem nachgehetzt werde als dem Souffre-douleur. – Nun ha das gedachte Journal das Eigne oder die Idiosynkrasie, daß es will geachtet sein, gelobt, gelesen, nicht aber angeschnauzt.

Diese fixe Idee ist der Bibliothek so wenig zu nehmen, daß das herrlichste, beste Werk auftreten kann – beispielshalber sei es ein ästhetisches mit Programmen und Vorlesungen – und mit einem einzigen halben Bogen die Bibliothek anschwärzen (eigentlich ihn mit ihr) und etwa sagen soll, sie sei dumm, oder ihre Einkleidung sei wie die größerer Bibliotheken entweder von Pergament oder Schweinleder und der Inhalt desfalls – man hat noch kein Exempel, daß sie mit einem Werke, das sie so herabgesetzt, zufrieden gewesen und es erhoben hätte. Sie erwidert augenblicklich, der Mann tadle sie bloß, weil sie ihn früher getadelt – als ob nicht die ursprüngliche Antipathie auf ihrer Seite eine ebenso ursprüngliche auf seiner voraussetzte.... Meine Herren, ich hoffe, daß Sie mir die Vorlesung nicht nachschreiben, damit sie nicht gedruckt wird, weil so leicht zu erraten ist, was die Bibliothek dazu sagte.... Gott, ists denn niemand bekannt, Zuhörer, mit welcher dumpfen platten Ungerechtigkeit sie sich an Tieck und tausend andern versündigte, bloß weil diese sie vor die Hunde geworfen hatten? – Doch der Mensch sei Sokrates, und Milde sei, [378] wie beim Athener, das Zeichen der Erbosung! Möcht' ich mich dieses sokratischen Zeichens bemächtigt haben, wenn ich sage: die Sache ist vielleicht so: nämlich die Bibliothek schreibt gewiß in denen Fächern, die ich nicht beurteilen kann, ganz gut, nur schieß' ich hievon das philosophische und poetische aus. Hier steht sie fast auf zwei Achilles- Fersen.

Man fühle zuerst die philosophische an. Reste von Wolff- von Leibniz keine –, flache Kanzel- und Kandidaten-Philosophie, welche wie die gemeinen Leute gerade da alles klar findet, wo die Frage und Dunkelheit erst recht angeht, und hingegen im Voll- und Tiefsinn, z.B. Jacobis, Flachsinn oder Nacht antrifft, diese Kräfte setzt die gute Bibliothek, sich wie alle Alte mehr der Jugend als der Gegenwart entsinnend, einem scharfen dreischneidigen philosophischen Geiste der jetzigen Zeit entgegen, welcher außer Griechenland bei keinem Volke noch mit solchen Waffen erschienen ist. Daher kein Mensch auf das wenige merkt, was die gute Alte als philosophische Opponentin etwan der Zeit entgegenhustet und entgegenräuspert; ausgenommen alte Berliner, oder Landprediger, oder Geschäftmänner, welche nur im Tode mit der Zeit fortgehen. Schon Hamann, welcher – gleichsam mit einer Ewigkeit geboren – jede Zeit antizipierte, zeigte ihr in mehren von 1/23 Alphabet starken 229 Werken ihre zu Theologie, Poesie, Philosophie, Orthographie verschieden gebrochnen Farben nach seiner großen Manier durch sein erhabnes Glas als einen einzigen Strahl. Nur ihre unangesteckte Reinheit von neuern Philosophien würd' er jetzo vorheben und sie sogar aus der Arzneikunde belegen, welche die Fälle häufig zählt, daß sich Personen – von Sokrates spricht er nicht – von der Pest und andern Seuchen rein erhalten, welche vorher an Schwindsucht, gallischem Übel oder sonstigem gearbeitet hatten.

Was ihre poetische Seite anlangt, nämlich ihre prosaische: so wollen wir, zumal da sie von niemand weiter zitiert wird als von [379] Verlegern, nicht viel daraus machen. Ihr Geist hat nie einen poetischen gesehen; kann er mehr oder weniger romantische Werke, z.B. Schlegels Florentin, Träume von Sophie B. und Titan, nicht recht tadeln, so sagt er, es werde ihm nicht recht wohl dabei, wie etwa Pferde an Stellen, wo Geister hausen sollen, es durch Unruhe und Scharren verraten.

Das einzige jetzo vielleicht würdig besetzte Rezensier-Fach ist das der Romane; durch irgendeinen Glückfall hat sie Köpfe erbeutet, die vielleicht für schlechte mehr tun als der beste, weil sie ihre Mängel mehr suchen und rügen. In Portugal – erzählt Twiß – werden gleicherweise Paviane zu Stunden vermietet, um – was von Menschen schwer zu erhalten wäre – eben auf letzten sorgsam Läuse zu suchen und zu tilgen.

Nur der Rezensent meiner meisten Werke ist noch besser; er ist der Pavian und die Laus zugleich.

Damit gut! das Werk ist und geht im ganzen gut genug: keines wird wohl so oft als dieses verkauft von – Käufern; denn da es nicht stückweise wie andere Zeitungen erscheint – was sie nicht aushielte –: so findet jeder in einem großen Bande etwas; dies lässet ein schönes Auf- und Fortschwellen der Bände hoffen, das aus einem guten Grunde wünschenwert ist. Denn ich finde, daß man das ganze Werk, gleich den sibyllinischen Blättern, von Jahr zu Jahr immer wohlfeiler ausbietet, je mehr es Bände bekommt; folglich wäre, wenn dieses schöne umgekehrte Verhältnis zwischen Preis und Dicke so fortwüchse, Hoffnung da, daß man es am Ende gar umsonst bekäme, falls nämlich die Zahl der Bände stark genug dazu wäre, ich meine ungeheuer.

Verehrtester Hörsaal! Absichtlich stellt' ich mich heute in dieser Vorlesung, wie früher vor acht Jahren, als sei die Bibliothek noch lebendig. Leider hat sie nun in mehr als figürlichem Sinn den Geist aufgegeben. Wer dabei am meisten verliert, ist wohl Vorleser selber, welcher immer, wenn er satirische örtliche (Lokal-) Farben für Rezensenten zu reiben hatte, sich zuerst nach Nicolaischer Bibliothek umsah und niemals leer ausging: jetzo sitzt er da und hat nichts; denn jeder Scherz auf Rezensenten ist, weil deren ja in allen Ländern und Zeiten hausen und sie als namenlose [380] ungetaufte Wespen fliegen, etwas gar zu Farbloses, wenn man ihn wenigstens nicht durch Angriff des getauften Wespennestes einigermaßen individualisieren kann. Noch verblieb dem Vorleser die oberdeutsche Literaturzeitung zum Gebrauch, obwohl als schwacher Ersatz wegen ihrer Erbärmlichkeit. Aber auch diese ist neulich zu den Schatten gegangen, ohne einen mehr zu werfen. Ein betrübtes Leben! Das wenige, was etwan in den Göttingschen gelehrten Anzeigen und in andern aufhelfen möchte, will nicht nachhalten und abwerfen. Nur der gute Merkel soll, hört man, noch rezensieren in Reval. Wär' er uns allen nur näher und hör- oder lesbarer! Immer wurde Merkel und seines Gelichters für den Vorleser, wenn ihn der Ernst erschöpft und ermattet hatte, durch wenige zur Satire reizende Blätter ein wahres Reizmittel, ein Senfpflaster, ein tonicum, eine Ekel- und Vipernkur; und insofern erklärt sich, warum mehre zu gefällige Freunde den Vorleser mit einer Nachtigall verglichen, welche bei besonderer Kraft- und Stimmlosigkeit gleich wieder munter schlägt, sobald man ihr eine große lebendige Spinne zu fressen reicht. In der Tat gebe man der soi-disante Nachtigall von Vorleser von Zeit zu Zeit eine kritische Spinne zu verschlucken: man soll sich wundern über den Schlag.

Lasset uns jetzo aus Hendels Kuchengarten ins Rosental gehen; d.h. aus dem 7ten Kapitel über die wirtschaftliche Zunge zu

Achtes Kapitel
dem achten
über die poetische

kommen. Ich werde kurz sein, teils weil ich am Jubilate-Sonntag lang darüber sein werde, teils weil die Torsperre 230 näher kommt. Die jetzigen Stilistiker sind nämlich umgekehrte Don-Quixote, sie halten die Riesen für Windmühlen; denn noch nie wurde in [381] der Geschichte ein junger Geist der Zeit durch einen sterbenden überwunden, kein Sohn durch den Vater. Zwar moralisch, aber nie intellektuell gibt es – das Ersäufen durch Völkerwanderung ausgenommen – etwas anders als steten Fortzug zum Licht; in der Geschichte des Kopfs gibt es keine Abenddämmerung, welche einer Nacht, sondern nur eine Morgendämmerung, die dem Tage vorzieht; nur fodert jeder gern die optische Unmöglichkeit, daß eine Kugel auf einmal (sie sei aus Erde oder Gehirn) ganz umleuchtet werde. Stehende oder rückläufige Welten in der Wissenschaft sind scheinbare Erscheinungen bloß auf einer Welt, die aber eben selber läuft. Jede teilweise Ausbildung scheint die Zeit, wie eine Leidenschaft die Seele, zu verdunkeln durch das Mißverhältnis zwischen In- und Extension.

Das Streben der jetzigen Zeit dringt und schifft nach der poetischen neuen Welt, deren Himmel romantisch ist durch Wolken und Farben und Sterne und deren Erdboden plastisch durch grüne Fülle und Gestalten aller Art. Die Dichtkunst soll, will man, nicht etwa eine Hof-Dichtkunst oder eine Volk-, eine Kirchen-, Katheder-, Weiber- oder sonstige Dichtkunst sein, sondern eine Menschen- und womöglich eine Geister-Poesie; sie soll ohne zufällige, einengende, Geister-trennende Zwecke, wie ein Gesetz der Natur und die moralische Freiheit, alle beherrschen, befreien, beschirmen, binden und höher leiten. – Nur erscheint dieses rechte Streben an den Jünglingen mit einem häßlichen Janus-Gesicht. Sie halten erstlich Streben schon für Zweck und Palmenpreis, statt für Mittel und Weg; zweitens werden negative Bedingungen der Poesie (z.B. Weltkenntnis, Geschmack, Sprach-Schonung, Gefälligkeit für Ohr und Phantasie, kurz die falsch- positiven der französischen Poesie) von einer Schwäche, die gern für Willen gölte, versäumt, ja positiv verletzt. Insofern hat die Dichtkunst jetzo ihre Tölpeljahre. Aber so gut aus dem wilden britischen Jüngling ein milder fester Mann erwächst, und so gut der deutsche Musensohn den närrischen polnischen Rock der hohen Schule auszieht, ebenso werfen die schreibenden Jünglinge einmal ihre jetzigen Flügel-Kleider ab, die sie noch für Flügel halten. Noch sind die poetischen Freiheiten des Jetzo mit zu vielen [382] akademischen befleckt – aber der oszillierende Jüngling schwanke einmal in der Ruhe des Mannes aus: so wird er nach dem rechten Pole zeigen. 231

Ließ man sich bisher den Schmerz der falschen Bestrebung am wahren Talente gefallen: so sollte man der wahren den Mangel von einem oder mehren Beinen mehr nachsehen, womit sie zum Ziele fliegen will. Novalis' Werke – Schroffenstein – die Söhne des Tals – Meyers dramatische Spiele – Arndts Storch – Sophie B. 's Träume – Marias Satiren – Ludwig Wielands Romane 232 – u.s.w. – sind teils Sternchen, teils rote Wolken, teils Tautropfen eines schönen poetischen Morgens.

Freilich lebt man jetzo mehr im Vernichten als im Erschaffen; doch bloß in der Dichtkunst. Denn was die Philosophie anlangt, so hat sie ihren zweiten Tag; ihr erster stand am Himmel, als Griechenland in wenigen Olympiaden alle Lehrgebäude des Geistes wie Zauberschlösser vorrief zu einer großen Gottes-Stadt. Der zweite Tag strahlt mit verzehrender Schärfe; und große Lichter voriger Zeit fangen zu fließen an und brennen sehr liniendünn. Man gebe den Stoffpreis: so wird man bekennen, daß wenigstens der Aufwand von Scharf- und Tiefsinn, den sogar der philosophische Schüler jetzo dem Leser zumutet, uns in einer geistigen Gymnastik übt und stärkt, wogegen das Lesen eines Sulzer und Garve nur Ruhen scheint.

Gleicherweise zieht die heiße Sonne des Phöbus manchen vergoldeten Einband berühmter Gedichte auf immer krumm. Leider ist der Deutsche nur zu sehr geneigt, Lieblinge zu vergessen und folglich gern Verurteilungen zu unterschreiben, die sein Gedächtnis lossprechen. Gleichwohl hat die unerbittlich richtende Nachwelt recht, welche von den hohen festen Dichter-Sonnen im Himmel der Ewigkeit die kurzen Nebensonnen im nahen Dunstkreise der Zeit so scharf abtrennt. Der Stilistiker, selber unwissend angesteckt,[383] erhebt daher seine vermoosten Schoßschreiber nur im ganzen, um nicht den Vorteil, daß diese niemand lieset, durch Mitteilen einzelner Aktenstücke zu schwächen; er selber lieset und schmeckt sie wenig mehr und spricht ihr Lob zwar nicht andern, aber sich selber nach, weil er einmal eine Jugendzeit der Bewunderung gehabt. Welcher gebildete Mensch ertrüge jetzo Rabeners platte Briefe, Gellerts Schlüsse und Flüge u.s.w.!

Bedeutend ist die Erscheinung des jetzigen wissenschaftlichen Geistes, der hartnäckiger fortkämpfen muß als irgendein moralischer; denn diesen verändert die Stunde, jenen kein Jahrhundert Ein Streben nach Einheit, d.h. nach Geist (denn er allein ist eine) ist jetziger Geist. Freilich gebiert diese Einheit, welche nur durch philosophisches Trennen und Versenken auf der einen Seite und durch poetisches Zusammenfassen auf der andern zu ergreifen ist, neben einer Duldung gegen alle vergangenen Zeiten eine Unduldsamkeit gegen die lebende. Zum Unglück trifft diese Wiedergeburt des schärfsten Bewußtseins gerade in eine sinnliche Außenzeit voll selbstsüchtigen Realismus und Unglauben; ja oft ist in derselben Person die idealistische Einkehr in sich und die realistische Außenzeit vereinigt. Daraus kommen nun die uneinigen Zeichen der Zeit. Da fast alle Formen des Heiligsten zerbrochen, und da durch die Säkular-Verderbnis sogar die schönste und ewige ziemlich durchlöchert geworden, das Handeln; und da doch ohne Form kein Geist sich lebendig bezeugen kann: so machte man sich aus allen Formen eine Form und aus allen Religionen und Zeiten eine und suchte (aber freilich untätig, außer zur Streitkunst) das formlose Heilige des Innern in den scharfen Formen fremder Zeiten anzuschauen. Allein braucht es etwas anderes als eine Insel oder als einen Friedenschluß mit der Polemik, um dieses fromme Schauen in ein frommes Handeln umzuformen? Ist denn nicht schon die bloße Anerkennung von etwas Göttlichen, jedoch mit scharfem Gegensatze des Menschlichen selber, etwas Göttliches, welche dem Geist, wenn nicht Flügel, doch Äther dafür verleiht; indes das durch den geistigen Erdfall der Enzyklopädisten eingesunkene Frankreich, nachdem es den Blick in den Äther verloren, sich immer dunkler in die schwarze [384] Erde graben mußte, deren Dasein allein es glaubte und tastete?

Jede Revolution äußert sich früher, leichter, stärker polemisch als thetisch. Folglich muß es auch der neue philosophische und poetische Idealismus tun, aber dies um so mehr, als die selbstsüchtige verdorbene Zeit, welche ihn färbt, das Heilige viel leichter wörtlich verficht als tätlich erzeugt. Denn da dem schlaffen Zeitalter gerade Kraft am meisten abgeht: so will man sie am meisten zeigen, und zwar, weil es leichter ist, mehr umwerfend als aufbauend (mehr polemisch als thetisch). Wenn die rechte Kraft, wie man an den großen Römern und an unsern kräftigen Vorfahren und an Luther sieht, ihrer Überfülle sich zu gewaltig bewußt, gerade statt des Brausens und Liebe-Hasses mehr Bezähmen und Gott-Ergebenheit predigte (denn ein Maximum sucht seine Begrenzung, aber ein Minus sucht erst jenes): so fallen hingegen die Neuern, als Renegaten der Zeit-Schwäche, Liebe und Empfindung an, als springe die laue Quelle der Entkräftung nicht eben in der Selbstliebe; und sie vergeben und verlangen die alltägliche tierische Gewalt der Leidenschaften, durch deren Beherrschung eben die großen Alten sich über Barbaren zu erheben strebten. Offenbar muß diese von der Zeit selber befleckte Streitkunst der Kraft gegen das vorige häßliche Gehen-Lassen, gegen den Sklavenhandel, den jeder mit sich trieb, gegen das breite weite Loben aller, das oben auf dem Lorbeerbaum selber thronen wollte, und gegen die heimliche Kopf-, Brust- und Achselträgerei der Gelehrten, gegen die empfindsame Wollust in fremder Unlust, gegen das Feilbieten der Ehre um 3 Tränen noch viel bessere Früchte tragen, als die ersten sind, aus deren Kernen sie erwachsen ist. Ging man denn vorher nicht mit der Literatur um, als sei sie nur da, damit ein paar Leute sich hin und her lobten, als sei sie Familiengut einiger Schreiber, nicht Freigut der Menschheit? – Hatte man nicht ordentliche philosophische Autoritäten wie in der Sprach und Recht-Lehre? – Hingegen jetzo wendet sich dieselbe Freiheit, welche die alten umstürzte, langsam auch gegen neue; und obgleich die Philosophie seit ihrer Umwälzung Bergmänner, rote Mützen, Direktorium und drei Konsule fortgebar: [385] so beweiset doch eben die Schnelle des Wechsels für die Freiheit desselben. Sonderbar, daß das gelehrte Deutschland sich immer reichmäßiger und freier zergliedert, immer mehre verhaßte privilegia de non appellando abdankt und mehr aus einem Staate zu einer Welt wird, zu einer Zeit und Stunde, da gerade das politische mehr zusammen-und ineinanderwächset, z.B. der Herzbeutel mit dem Brustknochen, Reichdörfer zu Reichmarktflecken, dann zu Reichstädten, endlich zu ordentlichen Landstädten in irgendeinem Herrschafttum.

Man muß die Verblendung des Alters haben – wel che noch schlimmer ist als die der Jugend, weil jenes selten seine Heilung erlebt und weil ihm die Jahre mehr Krankheitmaterie als Arzeneien zuführen –, um zu glauben, die höchste Freiheit und Besonnenheit der jetzigen Zeit werde sich je eigenhändig selber ermorden oder sich anketten an ihre Besiegte. Überhaupt, soll ein junger Mensch großen Männern nicht schon darum widersprechen dürfen, weil sie ihm erlauben, ja raten, ihnen beizufallen? Denn setzt nicht die Annahme eines großen Gedankens dieselbe Kühnheit des Urteils und der Prüfung voraus als dessen Abweisung? – Was aber doch diese Alten – vom Berge weniger als vom Tale notdürftig entschuldigt, ist der gestorbene Beweis, den Campe im alten Deutschen Museum von der Unsterblichkeit der Seele versuchte. Wie dieser nämlich zeigte, daß die Seelen unsterblich sein müßten, weil sonst ihr Untergang in die Gottheit, welche unveränderlich ist, eine andere Idee, folglich Veränderlichkeit hineinbrächte: so können strenge Stilistiker sagen, daß sie, wenn gewisse Autoren ihre Unsterblichkeit einbüßten, ja ganz die Unveränderlichkeit ihres Vorstellens verlören, woran die Jahre sie gewöhnet hätten, was doch zu absurd sei. Ich würde das letzte Kapitel, nämlich

Neuntes Kapitel
Das Neunte,
den Stilistikern

nie im Wachen so derb lesen, als ich es diese Nacht im Traume mit der Reichunmittelbarkeit der Schlafkammer wirklich gelesen, [386] vielleicht weil ich mich zu lange auf die heutige Vorlesung vorbereitete. Das Schwächste kann ich geben.

»Sie erliegen, sorg' ich,« (begann ich) »Bäotarchen, es seien nun Ihrer 7 oder II. – Wir brauchen nur miteinander ins Paulinum in die Universitätbibliothek zu gehen, welche zum Glücke in der Messe täglich offensteht. – Lesen Sie hier in des Herrn v. Schönaichs ganzer Ästhetik in einer Nuß oder neologischem Wörterbuch 1754, das dieser Epopöen-Schmierer gegen Klopstock und Haller weniger geschrieben als gebellt. Ihm ist geschmacklos an Klopstock: fallender Flug S. 149; die Augen saugen 233 – der Abend der Welt statt Jüngster Tag; mit segnenden Blicken belohnen S. 44; das Leben herabbluten S. 67; einweihender Blick; weinende Wolken; wandelndes Jauchzen; Fähigkeiten entfalten S. 117; – an Haller: grüne Nacht; furchtbares Meer der ernsten Ewigkeit, nebst den 5 nächsten Versen S. 255; Kleid der Dinge; den Ernst dem Spiele vermählen S. 47; – und endlich die neuen Worte: himmelab, felsenan, entstürzen, entthronen, anstarren, Endpunkt, betauet, ausschaffen, ausbilden, Ausguß, Ferne – –

Gott, wie arm und eng war der Deutsche anno 1754! sagen Sie 1804. Aber werden nicht sogar Bäotarchen dasselbe anno 1854 von unserer Jahrzahl sagen? Gibt es einen bessern Beweis als dieser rohe Schönaich, der jetzo nur noch stiller Geister-Redakteur einiger Institute ist, wie sehr der kühne Genius am Ende einen kühnen Geschmack erschafft? – Können Herders sämtliche Werke, an welchen man jetzo die Darstellung nicht verwirft wie zuerst, oder bloß duldet wie später, sondern hochhält, euch nicht bekehren und auf Voraussetzungen einer kühnern Zukunft, eines befreiten Jerusalems bringen? – Schon im Jahr 1768 klagte dieser fruchttreibende Geist 234 die damaligen Deutschen der matten Eigenschaften und noch matterer an, als die ihr habt und vererben wollt; der Ankläger behielt das Schlachtfeld und Recht; aber die jetzigen Ankläger werden es ebenso gegen euch gewinnen, ob ihr gleich euer welkes Laub aus dem Herbste noch forttragt und festhaltet [387] im Frühling der Zeit. – Rinnt nicht die Zeit dahin, wie die Spree durch unsern Garten? 235 Freilich ist die Lebzeit der Kraftgenies vorüber, und ihr schließt mit Recht auf einen gleichen Untergang der jetzigen; aber blieb nicht davon die Wirkung eines freiern Geschmackes zurück? Wißt ihr denn, daß zwar jede poetische Natur in eure schauen kann, aber nicht ihr in ihre? Aber da ihr es nicht wißt, so hofft ihr, das bloße Anführen poetischer Meinungen, z.B. eines Novalis, sei auch deren Widerlegen, selber für den Verfasser, als wäre nicht der Schein der Ungereimtheit dem Verfasser ebensogut begegnet wie euch. Wenn ein großer Kopf von euerem sich unterscheidet, so setzt ihr lieber voraus, daß er sich, als daß ihr ihn nicht verstanden; und wie bei Türken, muß gerade der Kopf Kopfsteuer erlegen, welcher zu groß gewachsen, um durch das Steuermaß zu gehen. 236

Hat euch denn je die Nachricht, ein Werk sei dunkel und sei nur für Auserlesene, z.B. Platon, davon abgeschreckt oder nicht vielmehr dazu angezogen? Und habt ihr dann die Finsternis darin jemand anderem vorgeworfen als dem Autor und eure Blindheit für etwas anderes gehalten als für seine Nacht?- Im ganzen ist es daher recht, wenn alles Große (von vielem Sinne für einen seltenen Sinn) nur kurz und dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle Geist es lieber für Unsinn erkläre als in seinen Leersinn übersetze. Denn die gemeinen Geister haben eine häßliche Geschicklichkeit, im tiefsten, reichsten Spruch nichts zu sehen als ihre eigne alltägliche Meinung, und sie tun dem Autor den Schabernack an, daß sie ihm beifallen; den göttlichen Heiligen-Geistes-Sohn einer Maria lassen diese Zimmermänner als ihre eigne Baute taufen. – Übrigens wirkt für die Fähigen Unverständlichkeit wie für Kinder, sie lernen daran verstehen; fast alles Lernen fangt – sonst ist es Erfinden – mit Nachbeten an; die öftere Erinnerung einer Meinung gebiert schon endlich ihre lebendige Anschauung. Es gilt auch geistig Herschels Satz, was nur [388] ein vierzigfüßiges Teleskop entdecke, wiederfinde doch ein zwanzigfüßiges.

Ihr bedient euch, Bäotarchen, entweder der einfältigsten oder der unsittlichsten Waffen in euerem Bauern-Kriege gegen die Poetiker, wenn ihr es so macht, daß ihr ewig schreiet: sie liegen schon tot auf dem Schlachtfelde, es ist schon vorbei und das Publikum unserer Meinung. Ihr hofft, durch das Erklären pro mortuo (für gestorben) von weiten zu töten; bei den Griechen aber bedeutete das falsche Gerücht eines Todes nichts als ein langes Leben. Die junge Partei überdauert schon physisch die alte, wird selber physisch alt, behält die Strebungen und ändert nur die Hoffnungen, Einsichten und Wege dazu, – und so erstieg von jeher eine Zeit die andere.

In allen Kriegen glauben die Menschen dadurch Unparteilichkeit zu zeigen, daß sie solche fodern vom Feinde; hingegen wider den Feind, denken sie, erlaube ja das Kriegrecht ein paar Streiche zu viel; – der Feind machts von seiner Seite wieder so. Demnach, meine Stilistiker, ists nicht völlige Unparteilichkeit, wenn Sie an den Poetikern Grobheit, Heftigkeit etc. zwar tadeln – dies lob' ich –, aber den nämlichen Enthusiasmus des Zürnens an vergangenen Männern erheben. Das Wenigste wäre meines Bedünkens, daß Sie die Skaliger, Salmasius, Scioppius, Meursius, Gronov und alle Humanisten anfielen, oder auch den Hutten mit seinen Helferhelfern in den epistolis obscurorum, welche in der Tat dem armen M. Ortouin scherzend Diebstahl und Ehebrechen vorrückten. Ja ich hätte von euch erwartet, daß Sie 237 z.B. an Luther gedacht hätten, der, wie man liest, so hart gegen den Papst und Heinrich schrieb, daß man die Feder draußen vor der Stubentüre auf dem Papiere kratzen und knarren hörte, wiewohl das Geschriebne nachher noch stärker lärmte. Dasselbe gilt von Lessing. Führt überhaupt nicht mehr diesen, noch weniger einen Herder unter eure Bunds-Genossen hinein. Werdet ihr denn von Herders [389] Geiste durch ein ganzes Leben, das ein ewiger Kampf gegen die Prose der Zeit, gleichsam hinter der Fahne des großen Zeit-Feindes Hamann, seines Freundes, gewesen, so wenig innen oder selber von euren ihn mißdeutenden Feinden so sehr geblendet, daß ihr über seinen Kampf gegen unmoralische Zufälligkeiten und andere Mängel eurer Feinde je die angeborne Feindschaft mit eurer Welt vergessen konntet? – Freilich gibt es Minuten, wo der beste Mensch – folglich er auch – den Zufall, den er nie anwerben würde, gern als Freiwilligen für sich kämpfen sieht, z.B. im Seekrieg einen fremden Wind von Merkel; im spanischen Landkrieg gegen Mexikaner Hunde; aber die Hunde«.....

Die wenigen, meine Herren, die noch von Ihnen dastehen, – denn ich sehe wohl, wie jetzo die holde Abendsonne von Goldzweig zu Goldzweig niederhüpft und den Torschluß und Torgroschen den Einnehmern des letzten ansagt; und doch schmerzt es, wenn ein Hörsaal davongeht – sollten wenigstens das wenige anhören, was ich verspreche. Als ich nämlich bis dahin in meinem keifenden Traume gekommen war, Treffliche, erfuhr ich recht an mir die Gesetze des Traums, indem er auf einmal die Hitze in mir in ein hitziges Volk außer mir verwandelte und dieses auf mich Sturm laufen ließ; mich hingegen oben auf die wahre Festung Malta (der jetzige Landung-Krieg trug vielleicht bei) aufpflanzte wie eine Haubitze. Unter mir, in einem schwarzen Meer wie aus Dinte sah ich alles schiffen und heranfeuern, um mich und Malta, wo möglich, zu erobern. Sie griffen mich – wie spielt aber der Traum und bedient sich der Metonymie, nämlich der causa pro effectu! – mit lauter Druckersachen an – mehre Pfund Schwabacher, desgleichen Klein-Cicero wurden aus Matrizen verschossen – zugespitzte Ausrufung-Zeichen und lange Gedankenstriche fuhren vor mir vorbei und statt des zerhackten Bleies sogenannte Gänsefüße – das Feuer aus Schriftkästen war fast fürchterlich, und die Stück- und Schriftgießereien arbeiteten unaufhörlich. Sie schrien, ob ich jener Paul wäre, welcher Großmeister der Insel werden wollte, und ob ich nicht wüßte, wozu ich mich in dem loten Artikel von Amiens anheischig gemacht. Welche Verwechslung! Hier verkehrte (und es ist so leicht zu erklären) [390] der Traum mich in einen Engeländer und die Bäotarchen in Franzosen. – Ja dies hat sogar einen schwachen Sinn. Ich aber, so unendlich gesichert durch meinen Felsen, suchte bloß sie drunten recht zu ärgern und zu erbittern und rief durch ein Sprachrohr (ich rollte es aus Kartaunenpapier zusammen) folgende unangenehme verdrüßliche Sachen hinab: »O ihr Bäotarchen oder Hoch- und Deutsch-Meister deutscher Meister, ich verteidige die unsichtbare Kirche als Ritter 238 und fechte gegen die Ungläubigen. Diese seid ihr. Ich will es euch hinabschreien, was ihr ewig wollt – etwas zu essen. Dürftet ihr es nur heraussagen, was ihr eigentlich meint und preiset: so würdet ihr gerade an einem Homer, Aristophanes, Platon und so an der rechten Poesie und Philosophie nichts reell-gut finden als die – Gelehrsamkeit, welche daraus als ein Erwerb-Mittel zum höchsten Gute eines behaglichen Lebens im Staate zu holen ist. Schießt immer mit Drucker Ahlen und Vignetten herauf, ihr achtet doch unsere großen deutschen Dichter nur, weil sie meistens gelehrt sind; auch in ihren Staatsämtern leben. Ein bloßer reiner Dichter steht bei euch sogar unter einem Philosophen, weil dieser doch, er sei noch so leer, zu etwas taugt, nämlich zu einer philosophischen Professur. Einer, der über Gedichte lieset, ist euch lieber als einer, der sie lieset oder macht; malo unam glossam quam centum textus, sagt ihr, und für Hermanns Metrik gebt ihr gern die 123 verlornen Tragödien Sophokles' hin, falls nur noch 7 die Metrik zu erläutern bleiben. Freilich zeigen die Göttinger gelehrten Anzeigen gern einen Dichter an, aber sie sehen doch auf Geburtadel durch klassischen Boden, durch Rom, Venedig, Padua, London, Paris, Madrid; denn sie schätzen ein Gedicht, das in der Sprache geschrieben ist, welche den Gelehrten als Gelehrten interessiert und welches fast jede ist, die angeborne, wie natürlich, ausgenommen.

Wir wünschen doch zu wissen, sagt ihr unten in eurem mittelländischen Meere, ob man am neuen romantischen Mondschein nur eine Pfeife Tabak anzünden oder einen einzigen Tannenzapfen zum Ausfliegen des Samens abdürren könne; und der erste beste Kanonenofen tu' es eher. Eben hat mich einer von euch mit [391] einigen Ungerschen Schriften durchs Ohrläppchen geschossen und es für einen gebohrten Demanten gebohrt; aber ich fahre fort: So ist wahrlich die Sache; der einzige Philosoph, den ihr statt aller Platons und Jacobis verdient, ist euer Bahrdt gewesen, der Repräsentant eurer Philosophie, welche den alten physischen Satz, ›daß die Natur das Leere zwar fliehe, aber nur bis zu einem gewissen Grade‹ zu gleicher Zeit erfand, befolgte und bewies. Poeten genießet ihr freilich, aber erst als Zugemüse zur feisten Lebenprose; gleich jenen belgischen Matrosen schmauset ihr zu euerem Hering eine unschätzbare Tulpenzwiebel auf; denn jene soll euch das gemeine Leben würzen und kränzen, aber nicht vertilgen, sonst, sagt ihr, wäre man ja so schlimm daran, als wenn die platonische Liebe zu gar keiner Sache führte, die ihr Gegenteil ist. Himmel, wie wollt ihrs einmal im Himmel aushalten, falls ihr nicht das Glück habt, verdammt zu werden? – Euer mir ganz verhaßter Fehler ist der, daß ihr oft einerlei Liebe gegen einerlei Werk mit eueren Feinden zu teilen glaubt. – Da ein geniales Werk die Menschheit ausspricht, so kann jeder in ihm ein Ich finden und herzen; und daher gibt es nun über geniale Schöpfungen gerade so viele Meinungen als Menschen; und der Schöpfer wird so oft durch das Lob der Ähnlichkeit geärgert als durch den Tadel der Unähnlichkeit erquickt; denn es gibt zwei Parteien. Die erste seid ihr, ihr Schützen und Teufel drunten; (von der zweiten red' ich nicht, welche mit Sokrates im Phädrus eine Lysias-Rede für ungemein verständig, kunstreich und doch nichtig erklärt) – nämlich das rechte Werk für euch, das so publik wird als ein Publikum und das ein Publikum einem Publikum lieset, ist nicht ein plattes, witz-, kraft-, blumen-, bilder- und herzloses Werk, sondern gerade eines, das alle gefoderten Blumen, Bilder, Rührungen und so weiter allerdings wirklich vorzeigt, aber dabei doch die Gemeinheit des Alltagsinnes widerspiegelt in der Glorie gedruckter Talente. Also wie gesagt, man schreibe nicht nur das höchste Werk, auch sogar das schlechteste, man wird gleichwohl wenig bemerkt; aber eintalentvolles gebe man... Sogar einen Schiller preiset ihr unaufhörlich, weil er, obgleich ein Genius, euch doch vermittelst desselben durch eben das so leicht aussöhnte, [392] wodurch er die Poetiker erbitterte, durch seine Lehrdichterei; und ihr könntet vergnügt die Häher sein, welche die duftende Nelke zerpflücken, um deren Samen zu verschlucken. 239... Am besten immer ein Werk gebe man euch, worin nicht das Herz, aber doch der Magen verklärt erscheint, voll Leipziger Lerchen und Borsdorfer Äpfel, die zu poetischen Venus-Tauben und Paris-Äpfeln verdauet sind – – ein Werk, worin wie auf der Leipziger Messe, auf welcher 300 Buchhändler und 600 Kaufleute 240 sind, sich gerade so halb und unparteiisch Lesen und Essen, – – (schießt, schießt, mit Antiqua, Kapitallettern und Winkelhaken! ich ründe dennoch den Satz) Herz und Magen, Geist und Leib einteilt« – – Hier wurd' ich von einem als Ladstock abgeschossenen Buchdruckerstock so auf die Herzgrube getroffen, daß ich erwachte. Aber unter dem Aufwachen warf ich den unten im Mittelmeer haltenden Schützen noch eilig einen stachlichten Einfall hinab, um sie zu ärgern, weil sie durch mein Erwachen verschwinden mußten, ohne Zeit zur Replik zu gewinnen; sie hießen, sagt' ich schon mit halboffnen Augen, wie die Deutschen eben das Herzgrube, wo eigentlich der Magenmund anfinge...

Meine Herren, es ist ja fast keiner mehr von uns sichtbar und noch da, wenn ich mich abrechne; so sehr läutet die fatale Sperrgeld- oder Fersengeld-Glocke uns fort? Ich wollte den Faden der Untersuchung anders spinnen und an ihn die Sterne, die Nachtigallen, die Blüten um uns her anreihen; aber alles rennt. Ist denn das Herz nichts? Welche herrliche Nachtgedanken und Spat-Gefühle mag das Leipziger Tor schon ausgesperret oder erquetscht haben! Warum wohnt nicht lieber die ganze Stadt außerhalb der Tore? – Wie klagt die Nachtigall herüber! Die Poesie, von einer gewissen Seite genommen.... Ich rede vergeblich sehr schnell; niemand steht. – Nun wenn alle Welt galoppiert, so tu' ichs auch und werde ein Proselyt des Tors; ich sehe nicht ab, warum ich meinen Groschen vergeude. Ich billige jeden, der läuft. – –

[393]
Kurze Nachschrift oder Nachlese der Vorlesung über Schiller

Schiller ist der poetische Gott und der Gottleugner zweier Parteien, also zugleich vergöttert und verleugnet. Für die Mittelmärker oder Deutschbriten sind Schillersche Gedichte wie die Frauenwürde, dieFreude, die Ideale hohe lyrische, denn sie stellen nicht die bloße Empfindung, sondern die Betrachtungen über dieselbe in guten Bildern dar. Z.B. die Ideale. In der ersten Strophe geht die goldne Zeit des Lebens ins Meer der Ewigkeit, d.h. die Zeit der Ideale – dann heißen sie » heitere Sonnen, die erhellten.« – Sogleich heißen die Ideale wieder Ideale, die zerronnen, und sonst das trunkne Herz geschwellt. – Sogleich heißen sie eine schöne, aber erstarrte Frucht. – Sogleich Träume, aus denen der rauhe Arm der Gegenwart weckt. – Sogleich wird die Gegenwart zu umlagernden Schranken. – Sogleich heißt das Ideale eine Schöpfung der Gedanken und ein schöner Flor der Dichtkunst. Am fehlerhaftesten ist die dritte und vierte Strophe, worin die vorigen Ideale darin bestanden, daß er, wie Pygmalion seine Bildsäule, so die tote Säule der Natur durch sein Umarmen zum Leben brachte, welches sie aber jetzo entweder wieder verloren oder nur vorgespiegelt. Das Folgende beschreibt bestimmter. Doch wider spricht das schöne Gleichnis vom Strom aus stillen Quellen, der sich mit stolzen Masten in den Ozean stürzt, dem Untergange der Jugend-Ideale. Auch der Schluß tröstet mit seiner Anweisung an Freundschaft und Tätigkeit nur karg und unpoetisch. Die erste, bildliche Hälfte seines Gedichtes konnte er so weit fortbauen und dehnen, als die Wirklichkeit Glanz-Gegenstände reicht, durch deren Erbleichung er den Untergang der Ideale ausdrückt; er hätte z.B. noch sagen sollen: die festen Gebirge der Ferne schwimmen nun in der Nähe nur als Gewölke in meinem Himmel – ferner: die durchsichtigen Glanzperlen hat der Essig, die Feuer Diamanten die Glut des Lebens aufgelöset – – ferner: gesenkt stehen die Sonnenblumen meines Jugendtages jetzo in der kalten Mitternacht und können sich nach der vertieften Sonne nicht wenden – ferner: in der irdischen Nacht stand meine Zauberlaterne, [394] aber ihr Licht und ihre Gestalten sind nun ausgelöscht oder: einst schimmerte mir oben ein Wunderstern, welcher auf den neugebornen Heiland mit seinen Strahlen zeigte, aber er ist untergegangen, und nur die gemeinen Sterne der Zeit blieben am Himmel – – doch genug! Warum soll ich mich hier um so manche erträgliche Allegorie bringen und ärmer machen und Juwelenblitze verschleudern, womit ich künftig Schreibfinger bei wichtigsten Darstellungen ausstatten könnte? – – Ebenso lückenhaft ist das berühmte Gedicht » an die Freude« gebauet, in welchem sich an den Trinktisch nicht bloß, wie bei Ägyptern an den Eßtisch »Tote« setzen, sondern auch »Kannibalen«, »Verzweiflung« das »Leichentuch«, der »Bösewicht«, das »Hochgericht«, und worin aller mögliche Jammer zum Wegsingen und Wegtrinken eingeladen ist. Übrigens würd' ich aus einer Gesellschaft, die den herzwidrigen Spruch bei Gläsern absänge: »Wers nie gekonnt, der stehle weinend sich aus unserm Bund« 241, mit dem Ungeliebten ohne Singen abgehen und einem solchen harten elenden Bunde den Rücken zeigen, zumal da derselbe kurz vor diesen Versen Umarmung und Kuß der ganzen Welt zusingt und kurz nach ihnen Verzeihung dem Todfeind, Großmut dem Bösewichte nachsingt. Hier fehlt nur Zeit, nicht Anlaß, zu zeigen, daß diese Betrachtungen und Entschlüsse bei Gelegenheit der Freude gerade so zusammenhingen wie die eine Zeile, worin die gehuldigte Sympathie zu den Sternen leitet, wo der Unbekannte thront, mit der andern, worin erüber den Sternen wohnt. Dieses Lehrgedicht wurde, so wenig es ein Sanggedicht ist, gleichwohl auf Singnoten gebracht, weil die Tonkünstler so wenig ein Text abschreckt, daß sie nicht nur Gedankenleere desselben, was verzeihlich ist, sondern sogar philosophische Fülle tönen und statt des Luft-Elementes das Äther- und Lichtelement sich schwingen lassen.

Sogar an die »Frauenwürde« hat man die Tonleiter angesetzt und mithin Gedanken wie folgende gespielt und geblasen: »aus der Wahrheit Schranken schweift des Mannes wilde Kraft – gierig [395] greift er in die Ferne – rastlos durch entlegne Sterne jagt er seines Traumes Bild – Aber mit zauberisch fesselndem Blicke winken die Frauen den Flüchtling warnend zurück in der Gegenwart Spur – (die Frauen) reicher als er in des Denkens Bezirken und in der Dichtung unendlichem Kreis – in der Welt verfälschtem Spiegel sieht er (der Mann) seinen Schatten nur – nur das Bild auf seinem Netze 242, nur das Nahe kennt er nie.«... Doch hier werde lieber ausgelassen als ausgewählt; denn womit hat der Dichter eine Übersetzung in die Tonsprache verschuldet? Die holländische Zeitung, welche einst Rameau in Musik zu setzen sich anbot läßt sich doch leichter mit Tönen begleiten und umschweben, da in einer Zeitung wenigstens Geschichten, Mord- und Wohl-Taten und dergleichen vorfallen; aber welche Tonkraft setzt einen Paragraphen in Musik und macht Gedanken-Bons zur klingenden Münze? – Je poetischer und plastischer ein Gedicht, desto leichter nimmt die Memnons-Bildsäule vom Lyra-Phöbus Töne an; daher Goethens Lieder, gleichsam wie in Italien die Opern, schon von Tonsetzern für deren Bedürfnisse bestellt zu sein scheinen. Immer wird sich die ältere Sonnennähe der Dicht- und der Tonkunst an der größern neuern Entfernung beider rächen.

Indes soll hier kein Tadel auf Gedichte wie die Ideale, die Frauenwürde fallen, welche keine Lieder, sondern, wie die Götter Griechenlands, die Künstler, nur Lehrgedichte sind. In Lehrgedichten aber – wozu beinahe Schillers ästhetische Abhandlungen gehören – müssen ihn alle neuern Völker auf einem Sieg-Wagen lassen, dem sogar die alten nicht weit vorfahren.

Noch mehr, als dem großen Dichter die Mittelmärker zu viel beilegen, entwenden ihm die Poetiker zu viel. In den einzelnen lyrischen Gemälden seiner spätern Trauerspiele – z.B. in denen des Kriegs, des Friedensfestes in Piccolomini, der katholischen Kunst und Religion in der Stuart und den Brüdern von Messina, des Traums über Oktavio 243 – verklärt er sich rein poetisch und romantisch, ohne Rhetorik und Lehrdichterei. Was ist aber dies gegen den großen tragischen Geist, als welcher er hoch und geisterhaft [396] über alle neuern Bühnen schreitet in Wallenstein und Tell! Selber Goethe fliegt in seinen poetischen Blütengipfeln herab vor ihn hin und richtet sich auf, um dem Hohen den tragischen Kranz auf das Haupt zu legen. Niemand hat nach Shakespeare so sehr als Schiller – welcher zwar unter, aber auch fern von jenem Genius steht und daher den Poetikern die Gelegenheit zur Verwechslung der Erniedrigung mit der Entfernung gab – die historische Auseinandersetzung der Menschen und Taten so kräftig zu einem tragischen Phalanx zusammengezogen, welcher gedrängt und keilförmig in die Herzen einbricht. In der Mitte von Dom Karlos fängt seine reine Höhe zu steigen an, und sie bildet vielleicht schon im Wallenstein ihren Gebirggipfel. Seine eigentliche romantische Tragödie ist weniger die von so vielen Gemeinheiten der Menschen und des Lebens umschattete Jungfrau von Orleans als Wallenstein, worin Erde und Sterne, das Überirdische (nämlich der Glaube daran) und alles große Irdische gleichsam zwischen Himmel und Erde die Blitze ziehen und laden, welche tragisch auf die Seelen niederfahren und das Leben erschüttern. Im romantischen All ist er überall mehr in der schauerlichen Tiefe der Unendlichkeit als in der heitern Höhe derselben geflogen. Dies ist an und für sich kein Vorwurf; nur einer, aber kein großer, daß er Melpomenens Dolch häufig zu glänzend und damasziert geschmiedet und geschliffen. Aber wahrlich jeder Kunstrichter oder Kunstschreiber und besonders die jetzige, weder sich noch andere bessernde Schreibzeit, welche wie Shakespeare keine Zeile ausstreicht, und sei sie noch so unshakespearisch, sollte, wie schon gesagt, nur in achtenden Schmerz jeden Tadel eines Mannes kleiden, der bei allen Fehlern immer kunst- und himmelwärts strebte und stieg, obgleich ein siecher Körper sich schwer an seine Flügel hing. Gern nehm' ich Gelächter über diese milde Gerechtigkeit an, schlagen es die Poetiker auf; es gibt einen ungezwungenen Übergang zur folgenden Vorlesung, wovon sie eben die Zuhörer sind, zur Tollhäuslerei.

[397]
2. oder Jubilate-Vorlesung
[Einleitung]

Kein einziger Stilistiker kam wieder, vielleicht weil die Meßgeschäfte ernster anfingen, vielleicht weil es einen und den andern verdroß, daß ich ihn verachtet hatte und angepackt. Indes wurde ich und mein Famulus vielleicht schadlos gehalten durch die Zahl von fremden, fast groben Musensöhnen (denn die einheimischen benützen auch die Messe und reisen) – von jungen, doch höflichen Juden – einigen stillen Buchhändlern – von vielen auf die Messe letzten nachreisenden Musenvätern, wozu sie aus Musensöhnen geworden durch gute Systeme und Romane, in welchen sie, wenn nicht Sachen, doch sich selber dargestellt haben – und von einigen von Adel – – samt und sonders geschwornen Feinden der Stilistiker, durch den schönen Jüngling hergelockt und eingeschifft für Malta, weil er ihnen vorgetragen, was ich vorigen Sonntag vorgetragen. Doch auch die königlichen Pferde, welche bekanntlich im ersten Meßsonntage durch Leipzig ziehen, mögen mir einige akademische, jüdische und adelige Zuhörer zugezogen haben.

Ich kann nicht behaupten, daß der größere Teil der Genossenschaft mich so stolz gemacht hätte, als ers selber war. Ein Mann, der mehr in der Ehe und am Hofe lebt als auf Akademien, wird schon von der phantastisch-eiteln Einkleidung der Musensöhne in eigne Nebenbetrachtungen versenkt über die Eitelkeit der Jünglinge, welche, obwohl kürzer, doch schreiender ist als die verschämte der Jungfrauen. Eine Reihe in Kupfer gestochener Studenten gäbe vielleicht ein nützlicheres Mode-Journal für Schlüsse aus Zeiten und Ortern als das jetzige, dieser spätere Nachdruck der Zeit.

Mehren Titus- und Kaligulas-Köpfen war das philosophische Rezensier- und Feimer-Wesen anzusehen; denn bekanntlich hießen sich die Fem-RichterWissende. Drei oder vier Dichter schrieben sich – nach den Mienen zu schließen – ganz kurz Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus Bombastus von Hohenheim, [398] um sich von ihrem Zu- und Vornamen zu unterscheiden, der bettelhaft Höchener 244 hieß. Aus der Tonne Diogenes' hatten einige sich als Thespis-Gesellen so viel zynische Hefe für ihr Gesicht geholt, als nötig war, um grob zu scheinen, wenn auchnicht zu sein.

Inzwischen fing der Verfasser seine Vorlesung an, und zwar so:


Treffliche Spieß- und sonstige Gesellen! Niemand kann wohl meine Freude über unser Zusammenkommen schwächer ausdrücken als ich selber; möcht' es Ihnen besser glücken! – Ich schmeichele mir, ein wenig, wenn nicht zu Ihrer Handwerkslade, doch zu Ihrer Bundeslade zu gehören; und selber Feinde von mir sagen, ich hälfe mit Ihnen den Geschmack verderben. Wenn ein Mensch mitten in den Achtziger Jahren die Teufels-Papiere und anfangs der Neunziger die unsichtbare Loge gibt, folglich noch früher ausdenkt: so kann er leicht manche Sachen und Richtungen früher gehabt haben als seine Nachsprecher und Widersprecher. Wer übrigens der Stifter von uns Poetikern ist, das ist schwer zu sagen; denn jeder Stifter wird selber gestiftet. – Nicht einmal Goethe kann man nennen; denn teils bildete Klopstock seine Werthers Empfindsamkeit, teils Herder seine Jugend, teils Winckelmann seine Propyläen, teils Shakespeare seine Bühne und die Vorzeit seine Nachzeit. Diese alle wurden wieder gebildet. Und so geht es zurück; man muß nie schließen, weil man von keinem Sohne gezeugt worden, so habe man keinen Vater gehabt. Eine silberne Ahnenkette adeliger Geister reicht um die Länder und durch die Zeiten; und für jeden Jesus führen zwei Evangelisten zwei verschiedene Geschlechtsregister. Gleichwohl muß man, wenn man nicht aller Philosophie zuwider schon zu Gott zurück- und aufflüchtet, einen Ur-Ahnherrn und Stifter der neuern Sekte anerkennen, der meiner festen Überzeugung nach niemand ist als – Adam, es sei, daß man seine Allwissenheit und Unsterblichkeit und Tierherrschaft, oder daß man seinen Apfelbiß betrachte oder das Naturell seines bekannten Sohnes.

Wir wollen jetzo, da wir unter uns sind, miteinander nichts betrachten als unsere Flecken, sowohl unsere Schand- als Sonnen-, [399] Monds- und Tigerflecken. Denn diese müssen abgewaschen oder abgekratzt werden, wenn aus der neuen Zeit etwas werden und die Morgenröte dazu nicht ohne Sonne in einen verdrüßlichen grauen Regentag zerfließen soll, oder wie an einem Wintermittage am Pole allein auftreten statt des Phöbus.

Ich will die Kapitel heute Kautelen nennen. Nun find' ich nach Anzahl der Kardinaltugenden gerade so viele Kardinalsünden an unserem Herzen, nämlich 4; und gleichfalls am Kopfe nach der Zahl der 4 Fakultäten ebenso vielfachen Mangel an Fakultäten. Dies zusammen gibt für unsere Kautelarjurisprudenz 8 Kautelen, wahre 8 partes orationis. Die Mutter dieser 8 Seelen unserer Arche erscheint am Ende.

Erste Kautel des Kopfes
Erste Kautel
für den Kopf

Von jeher hab' ich dies als die erste Kautel, welche wir zu beachten haben, angesehen, daß wir jetzo noch eifriger als je darauf aus sein müssen, daß wir nicht – toll werden, oder, was man nennt, vom sogenannten Verstande kommen, sondern lieber, wenns sein soll,zu ihm. Es ist nicht zu sagen, was vollständiger Wahnsinn teils den Werken selber schadet – besonders bei den jetzigen Spaltungen –, teils dem Autor als Menschen. Jeder Tropf setzt sich heimlich über einen Wahnwitzigen; und selber unter seinesgleichen im Tollhause hat der größte Narr nicht mehr Ehre als der kleinste. Denn wie nach einem Alten jeder Wache in einer gemeinschaftlichen Welt, der Träumer aber in seiner eignen wohnt, so macht eben nichts so sehr als die Tollheit (dieser Jahr-Traum) einen Menschen einseitig, kalt, abgesondert, unabhängig und unduldsam; jeder wohnt im Tollhaus in seiner Kammer, gleichsam wie in einem Lehrgebäude, um welches ihm die fremden Kammern nur als seine Wirtschaftgebäude und als eine Fuggerei von petites maisons liegen; und nirgends ist weniger ein Publikum zu einer Wahrheitanstalt zusammenzubringen als in einer Irrenanstalt.

[400]

Ich warne aber nicht ohne Grund. Hat man es schon vergessen, daß erst neuerlich in der Ostermesse 1803 ein herrlicher deutscher Kopf voll Kraft und Witz völlig rasend geworden – ich meine den Bibliothekar Schoppe im 4ten Titan? – Wer von uns ist sicherer? Jeder ist unsicherer. Denn viele Quellen auf einmal dringen ersäufend auf jetzige Köpfe ein, daher man ganz natürlich seit einigen Jahrzehenden mehr Irrhäusler unter den Honoratioren aufzählt als sonst. Der vernichtende Idealismus der Philosophie, der das unwillkürliche Wachen und das unwillkürliche Träumen in einen höhern wechsellosen willkürlichen Traum auflöset, erinnert an Moritz' Bemerkung, daß Träume, die sich nicht verdunkeln, sondern sich hell ins Wachen mengen, leicht allmählich aus der Schlafkammer in eine dunklere geleiten.

Viel dürfte zur Tollheit auch der poetische Idealismus in seinem Bunde mit dem Zeitgeist hinwirken. Einst, wo der Dichter noch Gott und Welt glaubte und hatte, wo er malte, weil er schauete – indes er jetzo malt, um zu schauen –, da gab es noch Zeiten, wo ein Mensch Geld und Gut verlieren konnte und mehr dazu, ohne daß er etwas anderes sagte als: Gott hat es getan, wobei er gen Himmel sah, weinte und darauf sich ergab und still wurde. Was bleibt aber den jetzigen Menschen nach dem allgemeinen Verluste des Himmels bei einer hinzutretenden Einbuße der Erde? – Was dem auf dem Glanz-Schwanz eines poetischen Kometen nachschwimmenden Schreiber, wenn ihm der Kometen-Kern der Wirklichkeit plötzlich zermalmt wird? Er ist dann ohne Halt des Lebens, oder wie das Volk sich richtig ausdrückt, nicht mehr beiTroste.

Dieser Trost-Defekt offenbart sich schon im allgemeinen Streben, lieber etwas Lustiges als etwas Rührendes zu lesen – welches letzte allemal verdrüßlich fällt bei den entweder durch Schicksal oder durch Unglauben verlornen Realitäten. – Die letzte Fluchthöhle des aus einer festen Brusthöhle vertriebnen Herzens ist das Zwerchfell; es gibt ein Lachen des Zweifelns wie des Verzweifelns. Allein wo wird im ganzen mehr gelacht als in einer Irrenanstalt?

Ich komme auf die Tollbeeren des Parnasses zurück. Wenn Sophokles auf die Klagschrift seiner Kinder, daß er toll sei, keine [401] andere Schrift bei den dasigen Wetzlaer Lesern einreichte als seinen Ödip: so gewann er durch Schreiben den Prozeß, den die meisten jetzigen Dichter dadurch eben verlören; so daß immer zwischen ihm und ihnen ein gewisser Unterschied bleibt. So vieles im Dichten neigt uns der Tollheit zu, – der Wunsch, neu zu zaubern, wozu man nach dem Volkglauben stets Worte ohne allen Sinn nehmen muß, z.B. Abrakadabra – das Sinn und Sache verlassende Arbeiten an bloßen Reimen, Assonanzen, Wortspielen und Füßen der guten Sonette – das willkürliche Nachträumen aller Völker-Träume und Zeiten-Träume – die Doppel-Dürre an Erfahrung und Gelehrsamkeit, eine Leere (sie kommt nachher unter den 4 Kautelen der Köpfe vor), welche, wie schon Bako an den Scholastikern bemerkte, desto mehr schadet und aufreizt zu phantastischen Schaumgeburten, je mehr Kräfte da sind, daher jetzo so viele poetische Werke nur zerschlagne kalte Eier sind, deren Inhalt ohne Bildung und Küchlein umherrinnt in Ei-Weiß und Dotter, den Sinnbildern der Philosophie und Poesie. Glücklicherweise sind wir seit fünf Jahren mehr im Tollsein vorgerückt, so daß man beinahe lieber mit demselben erscheint, als ohne solches auffällt und Ausnahme macht. In Klopstocks und Goethens Jugend-Zeiten, worin beider jung aufschießendes Kraftfeuer eine gerade Flamme, ihr Feuerwerk eine angeordnete Richtung nahm oder worin – unbildlich zu reden – so jung-starke Kräfte sich ohne Übermaß, Wahnsinn und Bombast aussprachen, hätte man vielleicht über manche jetzige Bedlamismen gestutzt. Jetzo ist Tollheit bis zu einem gewissen Grade gern erlaubt. So schäumen z.B. in Attila von Werner (sonst ein Bildner fester Gestalten) alle Spieler mitten im Kochen des Leidens zu einem freudigen Halleluja auf; so wird später dessen fester gediegne Luther von seinem Famulus verflüchtigt. Der Boden der Menschheit schmilzt durch einen gedichteten Mystizismus, welcher die höhere Potenz der Romantik sein will, in ein bestand-, erd- und charakterloses Luft- und Äther-Wehen ohne Form, in ein unbestimmtes Klingen des All – mit dem irdischen Boden sind die romantischen Höhen versunken, und alles wird, wie vom Schwindel schnell vorüberschießender Gestalten, zu einem Farbenbrei gerührt. Nichts steht, [402] ja nichts fliegt – denn sonst müßte man doch etwas haben, worüber man fliegt –, sondern Träume träumen von einander – – Und mehr gehört nicht zu solider Tollheit von einigem Bestand und Gehalt! Dieser mystische Karfunkel, welcher sogar die geregelte innere oder geistige Wirklichkeit verflüchtigt, kommt auch in komischen Darstellungen als der Zeisigstein wieder, der das ganze Nest unsichtbar macht. Z.B. in den »Schattenspielen von Kerner« wird dem sonst trefflichen Witze und Komus und Darstellvermögen der feste Wohnplatz unter den Füßen weggezogen und alles in Luftschlösser eingelagert, welche bisher nicht einmal für Märchen bewohn- und haltbar waren.

Unzählig viel ist noch zu sagen, Zuhörer, und nicht ohne Ursache stell' ich die Tollheitkautel voran. Schon der ungemessene Stolz vieler Jetzo-Menschen (er kommt nachher unter den 4 Kautelen des Herzens vor) ist gefährlich genug; daher eben Kinder und Greise niemals rasend werden. Niemand ist aber mehr stolz und will sich mehr unterscheiden als die ersten Anhänger einer Sekte; die zweiten sind nur Anhänger, um sich nicht zu unterscheiden, die dritten werden gleich als solche geboren. Daher gibt der erste Wurf einer Sekte wie – wahrlich ich habe kein edleres Gleichnis zur Hand- der erste einer Hündin toll werdende Geburten. 245

Freilich ein besseres Gleichnis ist es, aber nur auf den vorvorigen Satz passend, daß nämlich die Dichtkunst der mit Gift-Feuer gefüllte Blumenkranz, welchen Medea der Kreusa gab, geworden, der das verzehrte, was er schmückte. – Durch lauter Empfindungen und wiedergebärendes Darstellen derselben und Anschauen fremder Darstellungen von ihnen, aber ohne Taten und durch die zugleich sinnlich-schwelgende und poetische Verwüstung des Lebens sind viele Leute und Nihilisten in Residenzstädten dahin gekommen, daß sie keine Hunde sind, sondern diese beneiden, weil solche ohne Traum-Zerfließung noch mit einer gewissen Schärfe die Welt anfassen und anschauen, wie denn ein Hund sich von der Insel Malta wenig unterscheidet, die [403] ein bloßer Niederschlag vonZähnen und von Knochen ist. – Doch wollen wir diesen Hohlbohrern der Wirklichkeit, besonders wenn es prosaisch und poetisch zugleich geschieht, nicht ableugnen, daß es wenigstens in höhern Ständen durch rechtes Entkräften, durch galenische Aderlaß des adeligen Blutes zu einem guten moralischen Durchbruche stärkt, wie sonst die Jesuiten den Leuten sogar physisch zur Ader ließen, um sie leichter zu bekehren.

Sonderbar genug ists in dem Welt-, Hof- und Schreibleben, daß den Menschen, denen schon alles untergesunken, Götter, Welten, Sinne, sogar Sünden, doch noch die Ehr- und Gefallsucht gesund stehen bleibt. Wird ihnen auch diese unheilbar verletzt: dann geht der Kopf verloren. Indes muß ich, wenn ich nicht den Anschein haben will, als hätt' ich gegen Tollsein an sich etwas, ausdrücklich anmerken, daß ich in unseren Zeiten Tollheit von gehöriger Stärke recht gut zu würdigen wisse, aus zwei Gründen: erstlich darum, weil Wahnsinnige Not, Kälte, Hunger und mehre Leiden fast ohne Empfindung aushalten, welche letzte uns Verständigen in Krieg- und Friedenszeiten so heftig zusetzt; und zweitens darum, weil nach den Bemerkungen der Ärzte Tollheit, so wie Fallsucht, das Zeugvermögen ganz ungewöhnlich reizt und stärkt; ein Umstand, welcher bei dem jetzigen Unvermögen wohl in manchen höheren Familien wenigstens einen Stammhalter wünschen läßt, bei welchem es (gemein zu reden) übergeschnappt hätte.

Wir kommen zur

Zweite Kautel des Kopfes
[...] zweiten Kautel des Kopfes,
ein gewisses Wissen

betreffend. Ich kann darüber, hoff' ich, mit Zuhörern sprechen, welche ungleich denen der ersten Kautel, welche fortgegangen, dageblieben sind. Wirklich gibt es jetzo mehr Gelehrsamkeit als Gelehrte, so wie mehr Tugend als Tugendhafte. Die ganze jetzige Zeit – als eine Schwangere vieler Zeiten, mit Kindern und von Vätern – schwärmt; jede Schwärmerei (religiöse, politische, poetische, philosophische) flieht oder entbehrt als Einseitigkeit die [404] Vielseitigkeit, das heißet die Kenntnisse. Einseitigkeit hält sich viel leichter für Allseitigkeit als die Vielseitigkeit; denn jene hat die Einheit, deren die letzte sich nicht fähig weiß.

Meine Herren, daß man jetzo wenig lieset und erfährt – daß man zwar ein paar wild aus dem Mittel-und anderem Alter herausgegriffene Köpfe studiert, aber ohne die Reihe weder rück- noch vorwärts 246 – daß man nur Ebenbilder philosophischer und poetischer Götzen und Götter anschauet – daß daher viele Spinozisten an geistiger Schwindsucht versterben wie Spinoza an leiblicher – – alles dies führt mich auf hundert Betrachtungen, bloß um die Leute zu rechtfertigen, erstlich die Weltweisen, dann die Dichter. Jene wüßten sich eben ganz glücklich, wenn sie nur gar nichts wüßten (empirisch); sie wollen die geistigen Luftpumpen der Welt sein, fühlen aber, wie wenig sie es, gleich den gläsernen, über eine 300fache Verdünnung hinaus treiben können, so daß nachher bei allen Versuchen im sogenannten Abstrakten und Absoluten doch noch ein verfluchtes Stück Luft und Wind mitwirkt. Dieser Mangel an Nichts schlägt viele nieder; durch Nichts wäre das Sein oder Haben so leicht zu haben.

Wenn Blumenbach bemerkte, daß die Vögel durch leere Höhlen im Kopfe und in den Flügelknochen eben zu ihrer Flughöhe steigen; und wenn Sömmering fand, daß große leere Höhlen in den Gehirnkammern außerordentliche Fähigkeiten verkündigen: so ist dies eben nur physisch, was sich geistig bei den größten Poetikern wiederholet, welche recht gut wissen, daß das, was man mit einem krassen Worte Ignoranz nennt, ihren dichterischen Kräften an und für sich gar nicht schade. Ja mehre gehen so weit, daß, wie die Mönche dreierlei Armut 247 haben, wovon die stärkste sogar das Notwendige entbehren will, sie gleicherweise sich des Nötigsten für Autoren, nämlich des Deutschen zu entschlagen suchen und, so wie Pomponius Lätus kein Griechisch erlernte, um sein Latein nicht zu verderben, kein Deutsch lernen, um ihre[405] eigne Sprache nicht zu verfälschen. Es gibt jetzo kein Deutsch und keine Prose aus irgendeinem Jahrhundert (desgleichen keinen Reim und Versbau), die nicht könnte geschrieben werden; und wie bisher jeder seine eigne Wörterschreibung behauptete und zu nichts gehalten war als bloß zum Halten derselben, so verficht jeder seine eigne reichfreie deutsche Sprachlehre. Allerdings haben wir Schreiber uns jetzo so köstliche poetische Freiheiten – die nötigen prosaischen schalten sich von selber ein – errungen durch unseren Schreib-Aufwand von Ladenhütern, in welchen wir uns gegen viele Kenntnisse von Sachen und Worten und Wörtern höchst gleichgültig und stolz zeigten und solche gänzlich »ignorierten«, daß man diese Kenntnisse zum Glücke gar nicht von uns fodert und erwartet. Wenn wir nicht, wie französische Schriftsteller, die Wörterschreibung gar den Setzern und Druckern selber anheimstellen: so tun wir es nur, weil wir nicht, wie die Franzosen, eine bestimmte Schreibung haben, sondern weil uns jede eine richtige ist, wie Spaziergängern jeder Weg, und wir daher die Hülfe eines Setzers weniger vermissen. Mit desto mehr Recht sinnen wir die Sachenschreibung unserem Leser an, und er soll das Gehirn unseres Kopfes sein, ist unser erstes Postulat. Manches Wissen wird uns auch dadurch erspart, daß wir den ungelehrten Shakespeare darin erreichen, daß keiner von uns ausstreicht, wobei wir ihn noch dazu im Unterstreichen überbieten. Wir schreiben denn unsere Sachen nur so hin, und lernen wir später über sie hinaus, kommts uns sonst zupass' als Überschuß. – Sonst mögen übrigens manche dem Sokrates an Vorsicht nachahmen, welcher darum sich nicht in die eleusinischen Geheimnisse einweihen ließ, weil er darin seine eignen Gedanken zu hören besorgte, welche man dann später für ausgeplauderte eleusinische ausgeschrien hätte; aus gleicher richtigen Vorsicht lesen und erlernen viele Poetiker wenig, weil sie fürchten, die besten Sachen, die sie selber erfinden können, in fremden Büchern anzutreffen und dann gerade durch ihr Neuestes für Abschreiber zu gelten.

Da überhaupt die Bücher nur größere Briefe an das Publikum sind: so ringen wir nach jener angenehmen Nachlässigkeit, die [406] man in kleineren Briefen so achtet und genießt; auch sahen mehre ihr Ringen dadurch belohnt, daß sie jene Kunstlosigkeit der Wörterstellung, der Holperigkeit, des Übelklangs und der Sprache überhaupt wirklich erreichten, welche Cicero dem Briefschreiber so beredt anpreiset. 248 Auch dieser höhere Briefbücherstil ist keines von den schwächsten Sparmitteln des Wissens. Wie viele Sprach- und Periodenbau-Kenntnisse ersparen sich nicht wieder andere Poetiker schon dadurch, daß sie wie das einfache Kind bloß das Und zum Anfange und Bande ihrer Gliedersätze machen – denn ich setze bei ihnen vor aus, daß sie es nicht aus verheimlichter Kenntnis und Nachahmung des ebenso mit Und anfangenden Hebräers und Demosthenes tun – und wie viel Kopf und Zeit-Aufwand vermeiden sie bloß durch die Wahl eines älteren Stils, welcher zwar im 16. und 17ten Jahrhunderte selber noch schwierige Kunst war 249, aber jetzo im 19ten uns bei dem höheren Stande der Sprachbildung nur leicht wie Wasser entgeht und fließt! – Diese Leicht-Flüssigkeit schätzt man erst gerecht und ganz, wenn man dagegen den fast verdrüßlichen und strengflüssigen metallschweren Redefluß eines Lessings, Goethens, Herders, Schillers und noch vieler andern hält oder gar ihn sich zuleiten und fahrbar machen will.

Noch eine dahinschlagende Anmerkung sei über die guten Poetiker gegeben. Ich kann sie aber auf zwei Arten ausdrücken, in einer düstern harten Manier und in einer heitern gefälligen. In jener, die aber nicht die meinige ist, müßt' ich sie etwan so aussprechen: »Die meisten jetzigen Jünglinge geben zuerst das beste Buch, das ganz andere Bücher verspricht, als die nachherigen [407] immer mehr abblühenden und verfalbenden sind; nicht nur unsere jungen Dichter im Ernsten und Komischen (und darunter gehört ein großer Teil der in meiner Vorschule mit Namen gelobten), sondern auch die jungen Philosophen zu Reinholds und Fichtens Zeit gaben uns anfangs ein Karneval mit Mardi-gras und Butterwoche und darauf die Fastenzeit. Erscheint neuerer Zeiten ein ausgezeichneter Kopf, so weiß ich voraus, daß er nichts wird – als schlechter. Hingegen unsere früheren großen Schriftsteller wurden erst aus Wandelsternen Sonnen. Wie verschieden sind Wielands ersten Gedichte von dessen letzten Gedichten und die ersten Lessings von dessen Nathan und Freimäuergesprächen! Wie bildete sich Goethe an sich selber, und Schiller sich an Goethen, und Herder an den Zeitgenossen hinauf! Nur der einzige Klopstock stand, sogar in der Jugend, wie der Polstern, schon in seiner Nordhöhe. Ebenso gaben uns Kant, Fichte, Schelling ihre Karwochen in der Philosophie früher als die Ostertage der Erstehung. Nur der einzige Jacobi machte eine Klopstocksche Ausnahme – vielleicht nur eine halbe, denn wir kennen nur seine philosophischen Früchte, nicht seine philosophischen Blüten – aber Leibniz macht eine ganze, denn in der Blütenzeit trug er schon Früchte. – Woher aber dieser Unterschied der Neuern? Daher: viele sind nur Überschwängerung einer fruchtbaren Zeit, welche die Köpfe durch deren Zahl zu größerer Wirkung steigert, wie denn plane flache Spiegel, recht zusammengestellt, gleich dem Brennspiegel beleuchten und zünden; Köpfe, die die Zeit unterdrücken kann, kann sie auch erheben; – ferner: der jetzige Zeit und Jugenddünkel erhebt jeden Anfänger über jeden großen Mann, also zum größeren; und was ist hier weiter fort zu studieren als fremde Schwächen statt eigner – dazu kommen noch Mangel an Liebe, daher Mangel an Achtung der Leser und an Selbstbesserung – Verschwelgung der sinnlichen und geistigen Kräfte in der Blütenzeit beider – die unserm Jahrhundert eingeimpfte Gesetzlosigkeit aller Art u.s.w. Doch, um gerecht zu sein, tragen manche dieser vorreifen Gewächse zuletzt, wenn sie aus dem Selber-Treibhaus in den stärkenden Winter des Lebens kommen, doch Winterfrüchte und werden als Lagerobst[408] weniger herb oder, ohne Allegorie, gute vielseitige, ja milde Kritiker.«

Nun genug dieser grellen Kunstmanier im Darstellen einer Bemerkung, welche der gefällige Kunststil ganz anders ausdrückt. Unsere neueren Autoren fangen freilich nicht mittelmäßig an, sondern sogleich auf der Stelle vortrefflich; dann aber ist es kein Wunder, wenn Sonnen, welche im Zeichen des Krebses zuerst erscheinen, also mit dem längsten, hellesten, wärmsten Tage, nicht darüber hinauskönnen, sondern sogleich und täglich niederwärts rücken, bis sie endlich ganz kalt-bleich abgehen. Ich erwarte daher von unsern jungen Schriftstellern, da sie sogleich mit ihrer ganzen Größe auftreten, so wenig ein Wachsen als von jungen Fliegen, von welchen der Unwissende der Naturgeschichte wegen der verschiedenen Fliegen- Größen meint, daß die kleinen zu großen wüchsen, indes doch jede, auch die kleinste, im ersten Wuchse verbleibt, und die größere nur eine andere Gattung ist.

Das, was man Unwissenheit nennt, führt so leicht auf die

Dritte Kautel des Kopfes
[...] dritte Kautel des Kopfs,
die Parteiliebe

betreffend. »Cela est délicieux; qu'a-t-il dit?« riefen nach La Bruyere die entzückten Weiber aus, wenn sie Boursault hörten. So wird jetzo umgekehrt geurteilt: »Gibt es etwas Abscheulicheres? Ich konnte noch keine Zeile davon ansehen.« – Vor einiger Zeit schwuren wir sämtlich, es gebe – wie nur ein Fieber nach Doktor Reich in Berlin – so nur einen deutschen Dichter, Goethe. Wie jeden Sonnabend in Loretto eine Rede über ein besonderes Wunder der heiligen Maria gehalten wird: so hielten wir eine über jedes besondere in jedem Werke von ihm. Jetzo wird sich besonnen; und in der Tat verdient er, nachdem er dreimal in den olympischen Spielen gesiegt, endlich die Ehre eines ikonischen Bilds. Aber schwerlich kann es jemand anders machen als die Nachwelt, ausgenommen er selber; und ich weiß, da sein größter bester Kritikus tot ist, keinen erträglich-unparteiischen an dessen Stelle zu setzen als ihn selber.

[409] In der Philosophie – – haben je die Juden so viele Pseudo-Messiasse gekannt, oder die Portugiesen so viele Pseudo-Sebastiane, oder, insofern die Philosophen-Schulen ebenso tadeln als loben, die Römer so viele Pseudo- Nerone? –

Welche junge Dichter und Weltweise sind seit 15 Jahren nicht schon von den Ehrenpforten verschüttet worden, durch welche sie ziehen sollten! Überhaupt würd' ich raten, dem Kapitel der Abtei von Citeau zu folgen, welches beschloß, niemand aus dem Orden mehr heilig zu sprechen 250, weil der Heiligen zu viel wurde; man sollte meines Einsehens einen oder den andern Adam und Messias festsetzen, aber nicht wieder darauf einen Präadamiten und einen Prä-Präadamiten hinterher. Man verliert seinen Kredit, meine Herren, wenn man ihn zu oft gibt –

Wir hielten, wie bekannt, bei Goethen um einige Sonette an, damit die Gattung legitimiert würde und weiter griffe – denn wir brauchten es nur den Perückenmachern in London nachzutun, welche den König ersuchten, eine Perücke zu tragen, damit sie die Engländer nachtrügen –; allein es ist teils zu wünschen, daß er unsere Bitte nicht zu spät erhöret habe, teils nicht zu ironisch, indem einige von seinen Sonetten weniger nach der Hippokrene als dem Karlsbade schmecken und wirken und nur in der Temperatur mehr von jenem als von diesem Wasser haben, teils daß hier der Geschmack mit jener schönen Täuschung beglücke und wirke, ohne welche die Dichtkunst nichts ist. Denn der Geschmack kanns, er gehört unter die größten Spitzbuben der Erde, die ich kenne. Wenn es ein irriges Gewissen ohne Gewissenlosigkeit geben kann, wie viel leichter einen irrigen Geschmack ohne Geschmacklosigkeit! Beide fehlen nur in der Anwendung ihrer eigenen Reinheit. Und warum? z.B. warum konnte ein Skaliger mit lateinischen Gedichten eines Muretus, ein Römer durch Michel-Angelo, so viele Maler durch unterschobene Stücke betrogen werden, und so viele Kunstrichter (denn ich nenne keinen) durch namenlose Werke? Darum, weil der Geschmack, sobald er das Allgemeine, d.h. den Geist eines Künstlers voraussetzt, dann leicht und geräumig das Besondere (widersteh' es ihm [410] noch so stark) darein bringt und darin sieht. Der beste Beweis ist jeder Autor selber: durch sein ewiges nahes Sichsehen nimmt in ihm seine Individualität die Gestalt der Menschheit an; daher ein Autor mit vielem Geschmacke fremde Werke richten kann, ohne einen in den seinigen zu verraten. Beispiele sind zu – beliebt.

Auch heute, nachdem ich diese Vorlesung mehre Jahre gehalten, gesteh' ich mit Vergnügen, daß ich nicht nur damals recht hatte, sondern auch jetzo. Vergnügt hab' ich die Erfahrung gemacht, daß, so sehr auch einige Poetiker Mehrheit der Schönen und Schönheiten sonst suchen und achten, doch alle, insofern es poetische anbelangt, gleichsam nur eine heiraten und ehelich treu eine andere gar nicht ansehen. So erkannt' ich an dem Letzten Adam Müller doch als einen Poetiker, ob er gleich eine Vermittlung aller ästhetischen Schönheiten versprochen, und klebte ihn in mein Poetiker-Herbarium vivum ein, bloß weil er glücklicherweise erklärte, Novalis sei einer der größten Menschen des vorigen Jahrhunderts, und Fichtens tonfalsche, von Witz, Ironie und Laune als den Hülftruppen verlassene Streit- und Stachelschriftgegen Nicolai sei ein polemisches Meisterstück, und die humoristischen Romane der Engländer seien ihm unpoetische Schülerstücke – Einem andern Poetiker ist Maler Müller im »ersten Erwachen Adams« bei seiner Sprach-Frische und seinem Bilder-Morgentau und seinem orientalischen Feuerpinsel kein Dichter – Einem halben Dutzend ist Fr. Jacobi so wenig ein Philosoph als einem paar Dutzenden ein Dichter – Einem andern und letzten ist der Philologe Wolf ein Mann von zu schwachen Kenntnissen und kraftlosen Kräften, auch Homer ist ihm kein sonderlicher Mann, sondern nur Shakespeare, da es zufolge dieses Poetikersüberhaupt nur einen Dichter geben könne – Dieser letzte Poetiker spricht am schönsten fast alle aus. Denn der vollendete Poetiker erkennt eigentlich nureiner Dichter an, welches genau genommen er selber ist; denn vor einem andern Dichter, dem er gern das Lob des größten läßt, hat er den Vorsprung des Nachsprunges voraus und kann als der spätere sich auf Schultern jenes desto höher stellen, je riesenhafter diese waren; und das Verschweigen einer [411] so klaren Einsicht ist wohl der größte Beweis ihrer (wenn nicht vielleicht zu weit getriebenen) Bescheidenheit. – Aber einem stolzen Poetiker wird auch (muß man zufügen, damit man sich nicht selber für zu wenig bescheiden halte gegen ihn) dadurch Bescheidensein erleichtert, daß er immer an eine geschlossene Gesellschaft denkt, die er allein vorstellt und durch deren Beifall er freilich leicht den Beifall jeder andern größern entbehrt. Wodurch, durch welches Anschauen ist denn überhaupt eine Gottheit selig als durch das ihrer selber? Wer freilich keine ist, muß nicht in-, sondern aus-wärts schauen.

Die bekannte Redefigur pars pro toto (den Teil statt des Ganzen) zu setzen, hilft Poetikern viel zu einer Tatfigur; sie haben ein oder ein paar Mängel festgesetzt, aus welchen sie den ganzen Autor ohne weiteres als den Schuldigen erschließen, da ihnen auch im Ästhetischen, wie den Stoikern im Sittlichen,eine Sünde alle Sünden einbegreift. – Nicht nachteilig, sondern sogar vorteilhaft dabei ist es, wenn sie einen Verurteilten gar nie gelesen; so könnten sie z.B. den guten armen Sünder Batteux ganz verdammen, sobald sie nur nicht, wie ich, ihn gelesen und an ihm den bessern kritischen Geist erkannt, womit er Virgil gegen Homer, Seneka gegen Sophokles, Terenz gegen Plautus, Racine gegen Corneille, und so die Senten zen-Dichtkunst herabsetzt. 251 Sind sie fähig, in Ramler zuweilen den Dichter zu finden, und in Klopstock ihn zuweilen (freilich seltner) zu vermissen? Z.B. in Ramlers Mailied die dritte und vierte Strophe:


Daphnis.

Ich sah den jungen Mai;
Seiner Blumen Silberglocken
Hingen um den Schlaf.
Als er vom Himmel fuhr
Blüh'ten alle Wipfel;
Als er den Boden trat
Ließ er Violen und Hyazinthen im Fußtritt zurück.
[412] Rosalinde.

Ich sah den jungen Mai;
Blüte trug der Myrtenzepter
In des Gottes Hand.
Als er vom Himmel fuhr,
Sangen ihm die Lerchen;
Als er zur Erde sank,
Seufzten vor Liebe die Nachtigallen aus allen Gebüschen.

Und so durch das Ganze hindurch. Gegen dieses aus allen Zweigen blühende Lustleben halte man nun die abstrakten durchsichtigen Wogen in Klopstocks unnütz-berühmten Zürchersee:


Komm und lehre mein Lied jugendlich heiter sein,
Süße Freude, wie du! gleich dem beseelteren
Schnellen Jauchzen des Jünglings,
Sanft, der fühlenden Fanny gleich.
Ferner:

Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender.

Ferner:
Da, da kamest du, Freude!
Vollen Maßes auf uns herab!
Göttin Freude, du selbst! Dich, wir empfanden dich,
Ja, du warest es selbst, Schwester der Menschlichkeit,
Deiner Unschuld Gespielin,
Die sich über uns ganz ergoß.
Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch,
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem
In der Jünglinge Herzen
Und die Herzen der Mädchen gießt.
Du machst das Gefühl siegend.
[413]
Die letzte oder vierte Kautel der Köpfe
Die letzte oder vierte Kautel der Köpfe,
das Indifferenzieren von deren Gehirnen

betreffend, frag' ich bloß: haben viele unter Ihnen es schon untersucht, warum die meisten Poetiker einander so ähnlich sehen als sich (nach Archenholz) die Gesichter der Kalmücken? Ich habe halb im Scherz die Züge gezählt: ungemeines Lob der sinnlichen Liebe – der frechen Kraft- der Poesie – Goethens – Shakespeares – Calderons – der Griechen im allgemeinen – der Weiber – und entweder Fichtens oder Schellings (denn es kommt auf das Alter des Schreibers an) – dann ungemeiner Tadel der Menschenliebe – der Empfindsamkeit – des Geschäftlebens – Kotzebuens – des von Sokrates und Longin gelobten Euripides – Bouterweks – selber der Moral. Dies ist ein schwacher gedrängter Auszug aus ein paar tausend teils gedruckten, teils zu hoffenden Werken. So daß man jetzo fast in vielen Büchern die süß-seltsame Empfindung hat, immer Gegenden zu begegnen, die man schon einmal gesehen zu haben schwören wollte, was Psychologen aus Vorträumen herleiten, ich hier aber mehr aus Nachträumen. Der alte wahre Grundsatz, den Sulzer von Künstlern anführt, daß man erst nach dem siebenten Kopieren ein Kunstwerk mit allen Schönheiten innenhabe, wurde auf die schönste Weise auf Dichter angewandt, besonders auf Goethe; da die Schönheiten dieses Ur-Dichters, so wie Raffaels seine, so schwer das rechte Auge finden: so ist es ein Glück für die Literatur, daß man sie unaufhörlich kopiert, um sie einigermaßen zu entschleiern. Ist dies geschehen, dann braucht man ein oder ein paar hundert Nachahmer weniger; daher auch die Zeit ein wahrer Pombal ist, welcher die 22 000 Kopisten im Finanzdepartement auf 32 herabsetzte.

Was die Philosophie anlangt: so wird aus Selbstständigkeit keinen Philosophen nachgesprochen als solchen, die eben nicht nachsprechen, woraus wieder Indifferenzieren der Köpfe entsteht; so wie auf hohen Bergen selber der Schall dünn und kurz ausfällt, indes eben die niedern Berge umher das stärkste Echo geben. Wenn Platon in seiner Republik ein gutes Gedächtnis unter die Erfordernisse eines Weltweisen zählt: so hat, dünkt mich, unsere [414] Zeit mehr Philosophen als eine gegeben, da wohl die meisten, die schreiben, durch die treueste Wiederholung dessen, was sie von einem einzigen teils gelesen, teils gehört, am besten zeigen, wie viel sie zu behalten vermögen.

Eine ebenso erlaubte als nützliche Weise, einen fremden Gedanken vom Lehrstuhle oder auch vom Musenberg zu holen, um ihn zu einem eignen aufzufüttern, ist schon vorbildlich in der Schweiz bei den Wildsennen gewöhnlich, welche das Weide-Vieh jung wegstehlen und erst groß gewachsen, bis zur Unkenntlichkeit, zu Markte treiben. 252

Aber eben durch dieses Nachahmen, Absehen und Abstehlen wurde dem gelehrten Gemeinwesen jene unteilbare Einheit, Festigkeit und Unveränderlichkeit verschafft, welche sonst nur ein Vorzug der Ewigkeit schien; denn immerhin sukzediere Messe der Messe: die Werke, die darin erscheinen, bleiben sich gleich und behaupten und malen sämtlich dasselbe, so daß nur Verleger und Jahrzahl einen unwesentlichen Unterschied machen. Jede Messe ist eine neue, aber verbesserte Auflage der vorigen, desgleichen ein solcher Nachdruck.

Wenn nach 4 Kautelen des Kopfes 4 Kautelen des Herzens kommen: so mach' ich am liebsten mit der kürzesten, d.h. mit

Erste Kautel des Herzens
[...] der ersten (oder 5ten),
Grobianismen

betreffend, den Anfang. In einer Note zu Götzens von Berlichingen Leben von ihm selber fand ich die Notiz, daß es 1391 in Hessen eine adelige Gesellschaft gegeben, welche sich die von dem Pengel hießen, auch Pengler oder Fustiarii. Pengel oder Bengel hieß nämlich damals eine eiserne Streitkolbe, wovon uns aber bloß die Metapher geblieben. Nicht unschicklich können wir uns die von dem Pengel nennen, wenn wir an dem von uns herbeigeführten Wolfmonate der Literatur weniger die Kälte als die heulenden Angriffe erwägen. Kraft will man haben – nämlich [415] herkulische; – aber Herkules' Fest 253 wurde durch lauter Verwünschungen gefeiert. Begeistert und dithyrambisch will man sein; aber eben in der berauschenden Weinlese ist in Italien und mehren Ländern Schimpfen auf jeden verstattete Lustsitte. An sich übrigens verachten die von dem Pengel gar nicht die Höflichkeit, sondern sie wollen sie vielmehr von ihren Gegnern ausdrücklich haben und beklagen sich bitter und grob genug über den Mangel an gegnerischer Artigkeit; so wie es auch kein Quäker an einem Un-Quäker duldet, daß er ihn mit Du oder mit dem Hut auf dem Kopf anredet. Bei einer solchen Vorliebe für fremde Höflichkeit kann vielleicht keinem Pengler der Vorschlag eigner schwer eingehen, sobald er nur bedenken will, daß er unnütz die Leidenschaften seines Feindes, anstatt für sich, gerade wider sich bewaffne durch Grobianismen, daß ein Gegner verächtlich wäre, der dem Trotz wiche anstatt der freien Milde, und daß durch ein Matrosen-Stilistikum bei zwei Parteien nichts gewonnen werde als Rächen, eignes und fremdes, und daß die dritte, das Publikum, der Mensch, wie jeder selber empfindet, der aus dem Fenster auf den zankenden Markt herabsieht, gerade unter allen Empfindungen die zankende so wenig sympathetisch teilt, obwohl so leicht eine liebende, frohe, bewundernde. Wozu spielt ihr denn überhaupt die heilige Sache der philosophischen oder poetischen Geisterwelt ins gemeine schmutzige Privatgebiet? – Wenn ihr den individuellen Verfasser, sogar den unverdorbnen, so ungern im Gedicht antrefft als eine tote Biene in ihrem Honigfladen, warum wollt ihr gar eine fremde Individualität und vollends eine angeschwärzte in die reine Untersuchung zwingen und schieben? – Und wen kann dergleichen erfreuen und bereden als den von der Pengler-Partei selber? Ruhe ist die höchste philosophische Beredsamkeit. Wie frei, weit, den dicken Wolken der Grobianismen enthoben, schauet man in Schellings Bruno wie auf einem ätherreinen Ätnagipfel in die blauen Räume hinaus, und wie schwül, dick, drückend, finster und überpolternd ist unten der Ätna-Kessel des Anti-Jacobis! Mit welchem schönen Muster geht in den Propyläen und im Meister Goethe vor und gibt das sanfte[416] Beispiel von unparteiischer Schätzung jeder Kraft, jedes Strebens, jeder Glanz-Facette der Welt, ohne darum den Blick aufs Höchste preiszugeben! – Dasselbige gilt von den wenigen Werken des scharfen, ironischen, großsinnigen Urur etc.-Enkels Platons, nämlich von Schleiermacher. 254 Aber stets poltert der Schüler und Flügelmann lauter als der Lehrer und Feldherr, so wie im Winde vor uns sich der Zweig nur auf- und niederwiegt, seine Blätter aber schnell und unaufhörlich flattern.

Nichts wohl ist verwandter – in aufsteigender Linie – mit der 1. groben Kautel als die

Zweite Kautel des Herzens
[...] zweite Kautel,
den Stolz

betreffend. Keiner vom Pengel kann sich denken, wie gut irgendeiner vom Pengel denke von sich; denn jeder achtet sich unendlich, folglich den andern nurendlich, höchstens außerordentlich. Ist wirklich – wenn ich und Sie nicht gänzlich irren – der poetische Zeit-Morgen angebrochen: so kann ja jeder, wie an jedem Frühlings-Morgen, im Glanz der Wiesen keinen andern vorübergehenden Schattenkopf im Heiligenschein des Taues umfaßt erblicken (nach der Optik) als seinen eignen, aber keiner den fremden. Allein was entsteht daraus, ich meine aus unendlicher Selbstachtung? – Unendliche Höllenstrafe für den ersten besten Spitzbuben, der an ihr sündigt, weil der Beleidigte, wie nach den Theologen Gott, die Größe der Schuld nach der eignen Größe mißt. Doch hier sieht man zuweilen, was Philosophie vermag, wenn sie den Erzürnten mildernd nur auf Schmähwörter einschränkt, welche bloße Stoßseufzer und Stoßgebete sind gegen rechte Boreaswinde des Zorns.

Sollten wir aber wirklich so gut von uns denken, ich meine[417] jeder von sich? – Ich sollt' es denken. Wir können nichts sein als erstlich entweder Philosophen oder Dichter, insofern wir schaffen, zweitens beides zusammen. Wer von uns allen hier hat nicht schon zugleich geschlossen und gedichtet, auf dem Musenberg geschlafen und eingefahren? Ist einer ein Poet: so wird er natürlicherweise auch ein Philosoph; ist einer dieser: so ist er jener, desgleichen der Rest; – wie ein Seiltänzer spannt man jetzo stets das poetische Schlappseil und das philosophische Straffseil zusammen auf. Ich glaube, eben dieses Glück, so leicht den Doppel-Adler der Menschheit (zugleich den poetischen im Fluge, den philosophischen im Auge) in sich zu verbinden, ist es, was manche an sich schwache Köpfe, die sich vor dem Übertritt zur neuen Schule nichts zutrauen durften, nicht ohne Grund so stolz macht. Warum wir aber als Philosophen allein stolz sind, ist darum: jeder oberste Grundsatz gibt Herabsehen auf die Menschen, die er mehr in sich begreift als sie ihn. Der absolute Philosoph eignet sich das Karthago, das er mit seiner unendlich dünn-geschnittenen Haut umschnürt, so zu, als bedeck' ers damit. Da im Brennpunkte der Philosophie alle Strahlen des großen Hohlspiegels aller Wissenschaften sich durchschneiden: so hält er den Punkt für den Spiegel und für den Gegenstand, und so den Besitzer aller wissenschaftlichen Form für den Besitzer aller wissenschaftlichen Materie. 255 Eine einzige lebenumfassende Idee macht schon in andern Zeiten und Sachen bis zum Wahnsinn stolz – z.B. die Wiedertäufer, Alchymisten, Revolutionisten und alle Sekten! – Noch mehr stolz macht, was unterscheidet, so wie bescheiden, was vereinigt; Sprache aber unterscheidet uns Fichtisten und Schellinger zu stark für unsere ohnehin nicht riesenhafte Bescheidenheit. Wird die Zahl der Unterschiedenen gar zu groß: so kommts zu einer verdrüßlichen Vernichtung, worin jetzo die armen Kanntianer [418] leben. Man denke sich z.B., Napoleon adelte plötzlich die ganze Erde: welche Ehre genösse man noch hienieden? Ich bäte mir aus, der einzige Bürgerliche zu bleiben, falls er nicht selber sich diesen Vorzug vorbehielte.

Noch mehr: wie Luftspringer steht jetzo einer auf dem andern, und wir bauen den babylonischen Turm aus Bau-Meistern mehr denn aus Bau-Steinen. Himmel! wie wird jetzo allgemein und überall besiegt, jeder Sieger, er sei, wer er will! Die Hauptsache ist aber, daß man um eine Buchhändler-Messe oder auch akademisches Halbjahr später anlange; gleichsam als sei es wirklich ein heiteres Nachspiel des so lustigen Eselrennen in Devonshire, wo bloß der Esel gewinnt, der zuletzt ankommt. Dabei nimmt alles zu, nur nicht die Demut, und jeder füllt sich mit dem Winde, wovon er den andern heilt durch den Trokarstich; so daß nur die Aufgeblasenen wechseln, nicht die Aufblasung.

Sollten wir uns in der Poesie weniger dünken? Mich dünkt, eher mehr. Wer verachtet jetzo nicht alle Welt? – Ich wüßte niemand. – Der Grund davon ist, daß ein jetziger Poet – der nämlich zugleich ein Poetiker ist – durchaus einen Gegenstand hat, den er unbeschreiblich bewundert. Z.B. Shakespeare. Bewunderung aber macht nach Home und Platner dem bewunderten Gegenstande ähnlich; das merkt nun jeder junge Mensch und findet sich daher auf die angenehmste und zufälligste Weise von der Welt in den Stand gesetzt, herabzusehen auf jeden, der zu Shakespearen hinaufsieht. Daher wird ein Mensch über das allerhöchste Lob nicht neidisch oder aufgebracht, das seinem Schoß-Dichter zufällt, sondern es letzt ihn leise; der Grund ist: er merkt nur gar zu gut, daß er Voltairen gleiche, welcher in Paris (wo er an Lorbeerblättern im Magen verschied) aus seiner Loge ohne allen Neid dem Aufsetzen des Lorbeerkranzes zusah, welches auf der Bühne seiner – Büste widerfuhr, so wie aus demselben Grunde kein einziges Mädchen, sei es die Schönheit und der Neid in Person, einer gedruckten Romanheldin die größten Lobsprüche mißgönnt; denn der hübschen Närrin entgeht es gar nicht, auf welche Person sie alles zu beziehen habe; sondern sie bezieht.

Mehr Scherz als Ernst ist es, wenn ich sage, daß den Dichter [419] sogar der Romanenheld, den er gebiert, aufblähe, weil er den Lessingschen Schluß, daß Gott den Sohn schafft, indem er sich selber denkt, an sich wiederhole.

Der Gegenstand der zweiten Kautel, der Stolz, gebieret so leicht den der

Dritte Kautel des Herzens
[...] dritten (oder 7ten),
den Menschen-Haß.

Dem Hasse wird jetzo alles verziehen, der Liebe nichts, da doch jener selber kaum zu verzeihen ist. Aber wie es jetzo überall mehr Polemik als Thetik gibt – mehr köpfende Köpfe als krönende und gekrönte –, so ist auch die negative Seite des Herzens, das Abstoßen des Schlechten, leichter zu laden als die positive, das Anziehen des Guten oder die Liebe. Das auf einer Seite, auf der linken, vom Schlage gelähmte Jahrhundert will sich auf der rechten oder herzlosen desto mehr zeigen. Ich möchte sagen, die Liebe ist das Sehen und der Haß das (immer schmerzliche)Fühlen des innern Auges, womit sich auch Blindheit verträgt, obwohl nicht umgekehrt. Das Edlere ist überall so leicht zu töten, indes das Gemeinere fast wider Willen aufsteht; und ach wie leicht wird Liebe getötet! Unser Jahrhundert hat die Tugend des Teufels, welcher diejenigen peinigt, die so wenige haben als er selber. So erkältet die französische Philosophie, wenn verdoppelte es hindert, wie nur einfache, aber nicht doppelte Fenster gefrieren. Das Schlimmste ist, daß aus der Einbildung zu hassen viel leichter Wahrheit wird als aus der zu lieben, so wie leichter ein Mensch schlecht wird, der sich für schlecht, als einer gut, der sich für gut hält. Unsere jetzigen Kriegsjünglinge gleichen den Lykanthropen der alten Zeit: sie glauben sich aus Menschen in Wölfe verkehrt und rauben und beißen dann wirklich als Wölfe.

Ist es nicht eine zweite Verderbnis, daß man von der Zeit welche den von den französischen Enzyklopädisten gewählten unheiligen Vater aller Tugenden, den Egoismus, gekrönt und mehre Kardinal-Laster zu dessen Bedienung geadelt hat, das beste Mittel, das sie gegen diese erste anbeut, wie das heiße Wetter [420] gegen Raupen die Nässe, nicht annehmen will, nämlich dieEmpfindsamkeit?

Arme, aber heilige Empfindsamkeit! 256 Womit wird nicht dein Name verwechselt, indes du allein, wenn nach Schiller die Dichtkunst die schöne Mittlerin zwischen Form und Stoff, noch gewisser die schöne Mittlerin zwischen Menschenliebe und Eigenliebe bist! Freilich darf dich jeder tadeln, der dich mit dem heuchlerischen künstlerischen Nachsprechen jener Leute vermengt, die dich einmal hatten, dann auf immer verloren und die nun als geistige Weichlinge dich gebrauchen, weil sie den ganzen innern Menschen nur zu einem größern Gaumen machen. Jeder verfolge die nachgebetete Empfindsamkeit, die des Gedächtnisses, die von andern oder von sich geborgte; – aber die rein und leise wie eine Quelle aufspringende, unaufhaltbare, ist diese durch Schwäche verächtlich? –

Dann ists befremdend, daß sie – nämlich die ursprüngliche, nicht die abgeleitete – nur bei Kraftmenschen ist und war. Denn erstlich gerade das elastische Herz der unschuldigen Jünglinge zerspringt wie Staubfäden vor der kleinsten Berührung der Welt. Zweitens die sogenannte Empfindsamkeit entwickelte sich gerade an drei Dichtern von rechter Kraft in jeder Beziehung. Petrarca, zart an Sinn, stark und heilig im Leben, ist der erste, wenn man den alten Krieger Ossian auslässet. Der dritte ist Goethe im Werther nach seinem Götz v. B. Der zweite ist der feste stolze Klopstock in seinen frühern Liebe- und Freundschaft-Oden, welche wahrscheinlich in keinem Herzen sterben als im letzten der Erde. Kurz, auf einem Berge kann sehr wohl ein See sein, z.B. auf dem Pilatusberg ist einer.

Allerdings wendet man gegen neuere Empfindungen ein, daß die alten Griechen solche gar nicht empfunden hätten, ja uns ganz hierin (in diesem Empfinden) ohne Muster gelassen. Der Einwand wird durch das stärker, was er noch in sich schließt, daß nämlich die Griechen (was eben alles zur Empfindsamkeit gehört) auch eine ganz andere, kürzere Liebe gegen die Weiber besessen, [421] desgleichen gegen die Menschen überhaupt, die sie bloß in Griechen und Barbaren einteilten; – daß sie (bevor das Neue Testament und die Kirchengeschichte sie umgoß) von Christentum, Gottheit, zweiter Welt und Romantik (dieser sentimentalen Mutter) so wenig gewußt und geahnet – und daß sie überhaupt Kindern und Wilden schön geglichen, welche beide wenig mit Sentimentalität verkehren...

Ich lasse dabei noch wichtige Einwands-Punkte aus, z.B. daß sie Kants Kritik und Spinozas Ethik nicht erfunden, desgleichen nicht die Druckerei und Setzerei und den Reim und – – das 18te Jahrhundert.... Freilich da liegt viel; denn jedes Jahrhundert erfindet sich selber allmählich, wie wir schon am 19ten ersehen. Folglich kann es an und für sich uns gar nicht schaden, daß wir im Punkte des Herzens um fast 2 000 Jahre älter und reicher sind als die damaligen Griechen. Ist die Menschheit nicht ein Baum, an welchem das dünne weiche poetische Blütenblatt zuerst aus schwarzen Ästen bricht, dann das einfarbige dicke feste Laubwerk und doch dann die vielfarbige, weiche, zarte Liebefrucht der Blüte? – Oder soll die Dichtkunst sich mehr als die Philosophie an die Vorzeit kehren? Warum soll, wenn letzte jetzo gerade alle frühern Geister der Philosophie als Lebens-Geister ineinen lebendigen Leib sammelt, die Poesie nicht ebensogut mit frühern poetischen Geistern ihren eignen organischen beseelen dürfen, ohne daß sie sich dazu ein Brustgerippe in Athen ausgrabe oder eine Bildsäule in Rom? Darum, weil der Mensch lieber der Vor- und Nach-Zeit angehören will als der Zeit.

Denen fortgegangenen Herren, welche – wenn die Japaner große Augen als Schimpfwort gebrauchen – es ebenso mit nassen machen, hätt' es nicht geschadet, wenn ich ihnen folgendes hätte vorhalten können: daß nämlich Liebe-Mangel nicht etwa bloß dem Herzen schade, sondern – was man so wenig bedenkt – sogar der Poesie. Unbeschreiblich ist der Abbruch, den jeder Dichter seinen Geisteswerken tut, wenn er nicht stark empfindet. Er sei zum Beispiel gefühlloser Vater eines wirklichen Kindes: wie will er im Poetischen wahre Vaterliebe malen, wenn er sie vorher nicht gehegt gegen den kleinen Windel-Wicht? Bedenkt wohl [422] der Autor, der wirkliches Empfinden hintansetzt und versäumt, genugsam, daß ers dann desto schlechter schildern werde?- Denn bloße poetische Richtung und Form ohne Herzensstoff ist Anzünden einer Fackel ohne Docht. Diese Armut an Liebe zeigt und hilft sich daher bei vielen dadurch, daß sie Gedichte und Kunstwerke nur auf Menschen machen, die selber schon wieder in einem Kunstwerk stehen, z.B. auf eine Mutter, aber auf eine gemalte von Raffael; auf eine Schauspielerin, aber in ihrer Rolle.

Dieses Entbehren und Verachten des Stoffs macht die jetzige Dichtkunst immer mehr der Musik ähnlich, ohne Sinn umherrinnend; der poetische Flügel macht bloß Wind, anstatt auf diesem zu steigen; so daß sie aus den Bildern, ja aus der Sprache endlich in den Klang zieht, und zwar als Assonanz und Reim nur hinten und vornen, wie Musikstücke nur mit dem Dreiklang beginnen und schließen. Wer jetzo gar nichts zu sagen hat, lässet in einem Sonett tanzen und klingen, so wie kluge Wirte, die saueres Bier zu verzapfen haben, tanzen und spielen lassen. Der NameStanze passet dann trefflich; denn so heißet das eiserne Instrument, womit man italienische Blumen macht und zuschneidet. Ich das Jahr als mein frohestes preisen, das 12 Monate hat, wo ich kein Sonett höre und sehe; so erbärmlich jagen uns auf allen Gassen Musenpferde mit diesem Schellengeläute nach, von Reitern besetzt, deren Mantelsäume und Kappen gleichfalls läuten. Die Reim-Quellen, welche Klopstock auf einige Jahre zutrat, springen um desto gewaltsamer und lustiger an allen Enden in die Höhe. Ich bin keine Minute auf diesem Eilande sicher, daß – so wie es in Italien polyphemische oder liebklagende Sonette (sonetti polifemici), burleske, Schiffer-, Schäfer-, geistliche (s. spirituali) gab-nicht während der Vorlesung zu allen diesen noch Helden- und Lehrgedichte und Trauerspiele aus lauter Sonetten erfunden werden. Wäre Bouterweks angenehme Vermutung richtig, daß der Reim durch den Widerklang aus den deutschen Wäldern entstanden: so ließe der jetzige Holzmangel manches hoffen; aber ich glaube, gerade jede Leerheit kommt den Echos zupasse. Leute, welche weder Begeisterung noch Kräfte, nicht einmal Sprache besitzen, ringen der letzten ein ausländisches Qualgedicht ab und [423] legen uns diese Form, als sei sie poetisch gefüllt, auf den Tisch; so suchen die armen Kartäuser, denen Fleisch verboten ist, folglich auch Würste, sich damit etwas weiszumachen, daß sie Fische in Schweindärme füllen und dann laut von Würsten reden und speisen. Wunderlich stechen gegen die älteren Sonetten, z.B. eines Gryphius, welche, obwohl in der Stammelzeit der deutschen Sprache, mit Leichtigkeit und Reinheit und Bildung fließen, unsere neuern ab, die mit der mehr geübten Zunge nur stottern, plärren und poltern und die als Antitrinitarier der drei Grazien sich alle möglichen Sprech- und Denkfreiheiten nehmen müssen, um nur zu sagen: ich singe. – Freilich in bessern ruhigern Stunden will es mir sogar vorkommen, als sei eben für eine besondere Unbeholfenheit in Sprach und Versbau und für gewisse Armut an Feuer und Farbe gerade das Sonett als das einzige Vehikel und Darstellmittel brauchbar und für diese Dichtart unentbehrlich, und zu meiner Freude wurd' ich, obwohl figürlich, darin bestätigt, als ich im Rabelais 257 las, daß gewisse Nonnenklöster schamhaft ein pet nicht anders nannten als ein sonnet; daher können wir immerhin für gedachte Gedichte den Namen sonnet aus griechischer Nennmilde (Euphemismus) fortgebrauchen, sobald wir nur immer den Reim darauf (im Sinn) behalten.

Seit Vorleser seine Vorlesungen zum ersten Male gehalten, hat der Stoffmangel die Poetiker durch so viele Dicht- und Lieb-Surrogate durchgehetzt, daß sie endlich das beste fanden, den Mystizismus, und dieser, selber ein Wunder, wirkt wirklich Wunder und tut viel. Man muß nur den neuen dichtenden Mystizismus scharf von dem alten handelnden eines Spener, Fenelon, Tauler, Lopes, Markgrafen Renti, einer Guyon u.a. absondern, um jenen nicht zu wenig zu schätzen. Denn das mystische Schreiben hat mit dem mystischen Leben und Denken so wenig Verwandtschaft, daß im Poeten-Mystizismus eben, anstatt daß sonst Dichtkunst in Prose und Geschichte über- und niederging, umgekehrt [424] die bloße vergangne Geschichte und Prose des handelnden sich zum dichtenden erhebt. Die alten religiösen Mystikerwaren heilige brennende Seelen und löseten sich im Sterben 258 fliegend wie Flammen von der schweren irdischen Unterlage ab, aber sie waren nur einfache halbstumme Dichter; denn auf der Dichtkunst oder dem Musengipfel ruhten sie eben nur aus vom höheren Himmelfluge, und ihr demütiges Herz hatte außen keinen Heiligenschein, nur innen Heiligenglut.

Aber wozu ist denn eben der neue Kunst-Mystizis mus vorhanden und gemacht als dazu, daß er über die jetzige Unersetzlichkeit des Herz-Mystizismus in der liebenden Brust entschädigt und beruhigt durch den schönen Schein von Dichten und Erdichten? Um so mehr wär' es Verdrehung des neu erfundenen Mystizismus, wenn man ihm das enge Herz anstatt des weiten Kopfes zur Wohnung geben wollte; der mystische Poet ist nur im edleren Sinne jener Spatz einer Fayence-Krämerin in Paris, welcher das ganze lateinische Vaterunser abzubeten verstand 259, nur daß er zwischen die sieben Bitten zur Unzeit seine Schimpfwörter und oft vor und nach der vierten Bitte seine Futter-Foderung einschaltete, anderer Punkte nicht zu gedenken, in welchen der Sperling durch sein Paternoster-Beten um nichts christlicher geworden. Ja es läßt sich ohne den geringsten Nachteil des poetischen Mystizismus gedenken, daß, so wie vormals Teufel in die Gergesener Schweine gefahren, so auch mystische heilige Geister in diese zu treiben sind; wiewohl kein Schwein sich sittlich kompromittiert, es habe nun den Teufel im Leib, oder den heiligen Geist. [425] Das Mystische ist das Allerheiligste des Romantischen, der unsichtbare Nadir von dessen sichtbaren Zenit. Ist nun aber die heutige Herz- und Stofflosigkeit da, welche das Romantische nicht schaffen kann, so kommt ihr das Mystische erwünscht, und sie läßt statt der romantischen Dämmerungschmetterlinge besser die mystischen Nachtschmetterlinge ausflattern, oder mit andern Worten, sie taucht sich jetzo nicht zur romantischen Perlenbank unter, sondern glücklicher in die mystische Nebelbank ein. Noch ein ganz besonderes Glück wollte, daß die Philosophie des Absoluten gerade ihren Urgrund, Ungrund, Abgrund auftat, als die mystischen Flügel dergleichen zum Flugraum nötig hatten. Der Kopf fodert, wenn kein Herz das All oder Sein ausfüllt oder entleibt und beseelt, von diesem All so viel, daß er auch Gott eine Folie unterlegt – Nun aber, durch Absolutismus und Mystizismus haben wir viel und genug, einen Abgrund nach oben und einen nach unten, ein umgekehrtes oder unteres Himmelgewölbe zum obern, in welche beide wir hangend schauen – den Erd- und Weltball stießen wir längst mit dem Fußhall weit über alle Himmel hinaus – und so möchte anjetzo mystisch zu wirbeln sein und zu gleicher Zeit zu steigen (auf und ab) und zu festschweben und zu fortflattern (weil im ausgeleerten entkörperten Ätherblau kein dicker Erdkörper Regen und Ruhen entscheidet) und kurz alles zu sein, sogar das Nichts.

Ungezwungener gehen wir jetzo vom Mystizismus auf die letzte oder

Vierte Kautel des Herzens
[...] vierte (8te) Kautel des Herzens,
die sinnliche Liebe,

über als in frühern Vorlesungen, wo wir von der dritten des Hasses zur Liebe übersprangen. Wie kann ein Menschenfeind eine Frau lieben, ohne zu erröten? – Ein Mann, der unmittelbar von Plato und den alten Tragikern herkommt und den paphischen Hain der neuern Poetiker so ohne Blätter und so nackt und durchsichtig findet, glaubt nicht aus Griechenland nach Griechenland, sondern nach Kamtschatka zu kommen, wo man Amors Pfeile in Kot taucht.

[426] Der stärkste Einwand gegen die Ausmalerei der sinnlichen Liebe ist kein sittlicher, sondern ein poetischer. Es gibt nämlich zwei Empfindungen, welche keinen reinen freien Kunstgenuß zulassen, weil sie aus dem Gemälde in den Zuschauer hinabsteigen und das Anschauen in Leiden verkehren, nämlich die des Ekels und die der sinnlichen Liebe. Freilich postuliert man für letzte das Gegenteil vom Zuschauer – man geb' ihm aber auch vorher eine Hand voll dünnes Silberhaar dazu und ein sedates Alter von Jahren. Wenn schon Scioppius (nach Bayle), ob er gleich aus den Klassikern weniger Vergnügen als Phrases schöpfen wollte, sich genötigt sah, Fisch und Fleisch zu fliehen, schlecht zu essen (z.B. Käse) und hart zu schlafen, um nur zu bleiben, wie er war: so steht ja das Allerschlimmste von Kunstliebhabern zu erwarten, welche zugleich lesen und essen; sogar in La Trappe, wo nicht der beste Tisch ist, hatte ein De Rancé 260 nötig, ein Bibelbuch zu verbieten, die Geschichte der Susanne, so wie die alten Rabbinen die Lesung des Hohen Liedes vor dem 30. Jahre. Wozu eine Malerei, welche poetische Seelen unterbricht, zarte verletzt und bloß schlechte erquickt? Welcher Künstler möchte sich zum gemeinen Kuppler der letzten erniedrigen und Augenzeuge ihres beschimpfenden Anteils werden? – Ich fürchte aber, es hat mehr die eine Leichtigkeit, manche immer hinter Schleiern gezeichnete und eben darum seltene Verhältnisse zu geben, und die andere, damit auf Kosten der Kunst zu bestechen, also nicht die Rücksicht der Kunst, sondern der Mangel daran, uns bisher so viele freche Ausstellungen gegeben, so wie freche Gönner derselben dazu, welche lieber der Kunst durch sittlichen Stoff zu bestechen verbieten als durch unsittlichen. Die größten Dichter waren die keuschesten, unter unsern nenn' ich nur Klopstock und Herder, Schiller und Goethe; des letzten drei sittliche Grazien in Tasso, Iphigenie, Eugenie können sogar ihre wie von einem Sokrates angelegte Kleider unbeschämt entbehren und diese dem nicht lüsternen, nur poetischen Zynismus einiger seiner männlichen Darstellungen als Draperie umwerfen. Welches Volk gab denn von jeher die frechsten Gedichte? Gerade das, welchem beinahe [427] gar keine andern glücken, das gallische, so wie sogar Voltaire mehr Dichter in der Pucelle als in der Henriade war; Rom, weniger dichterisch und frecher als Athen, gebar das Schlimmste erst unten im finstern Abgrund des eingesunkenen Dichter-, Sitten- und Römer-Reichs. Unsittliche Frechheit könnte man mit dem Arseniksublimat vergleichen, das die Farbenstoffe glänzender macht, am Ende aber den Zeug zerfrisset und dessen Träger gelinde vergiftet.

Etwas ganz anderes und Erlaubteres ist der Zynismus des Witzes und Humors. Denn wenn dort der Zynismus der ernsten Poesie durch die geneigte Ebene einer langen Gestalten-Folge einen Fall des Wassers hervorbringt, der endlich ein reißender Strom wird – welche üppige Gestalten-Folge aber bei den Griechen nie vorkommt –: so zersetzt der Witz und der Humor eben die Gestalt zum bloßen Mittel und entzieht sie durch die Auflösung in bloße Verhältnisse gerade der Phantasie; daher ist bei den keuschern Alten und Briten der komische Zynismus stärker, aber die üppige Gestalten-Melodie schwächer; bei den verdorbenen Nationen hingegen beides umgekehrt. Ein Aristophanes, Rabelais, Swift sind so keusch als ein anatomisches Lehrbuch. Etwas anderes, aber Schlimmeres ist jenes persiflierende Gedicht, z.B. der Franzosen, der Weltleute und manches von Wieland, das, zwischen den Grenzen des Ernstes und Lachens schwebend, nur Geister vernichtend belacht und Körper ernst schaffend malt; denn wenn in Homer, selber in Goethe (in der hyper-dithyrambischen Braut von Korinth) der Ernst einer höhern Schönheit und Empfindung die üppige Gestalt gleichsam in ihren eignen Glanz einschleiert – und die Gewalt der Schönheit die Schwere des Stoffs verklärt: so ist in jener französischen Gattung ein umgekehrter Zentaur: der Mensch wird besiegt und das Tier befreiet; alles Edle wird lachend, d.h. vernichtend behandelt, alles Sinnliche ernst und warm ins Feld geführt und der Mensch zum Affen des Urangutangs gemacht; so daß die ganze Gattung gerade so sittlich- als poetisch-zweideutig verbleibt.

Fast schamhaft, nämlich mich schämend des Schämens, bring' ich meinen halb sittlichen, halb poetischen Zweifel gegen Bordell-Ausstellungen [428] vor und wage an den jetzigen poetischen Musentempel – der aus den schönen Säulen-Sturzen und andern Ruinen des alten Tempels aufgeführt worden, den die Griechen der Unverschämtheit errichtet hatten –, mit beiden jüdischen Gesetztafeln auf den Schultern, hinzutreten, weniger um sie aufzustellen, als um sie abzulesen.

Ich dringe gar nicht darauf, daß wir gen Himmel fahren anstatt zum Teufel, der früher in uns gefahren und dem wir also den Gegenbesuch, meines Erachtens, schuldig sind; sondern die Hauptfrage ist hauptsächlich die: da man behauptet, daß dem Dichter, als Dichter, die ganze Erde und Welt und alles zum Nach- und Vormalen frei vorstehe und vorliege und ihn keine beschränkende Zeit und Sitte bekümmere, wo ist denn, fragt man, der glücklich freie Mann zu finden? In der Wirklichkeit schwer; noch ist uns kein griechischer oder sonstiger Poet aufgestoßen, der ohne Magen, ohne Vaterland und dessen Sitten und ohne Zeit gewesen wäre, desgleichen seine Verehrer, sondern er hatte seine Verwandten, Gedärme, Wochen und Winkel zu jener Individuation, welche Philosophen von ihm fodern. Nur Gott allein könnte der Dichter sein, welcher ohne alle Rücksichten als eigne schaffen könnte; er hat es auch getan, wie denn jeder Dichter eine kleine Metonymie von ihm ist, und andere Leute End- und Leberreime, und ein Jahrhundert ein säkularischer Vers.

Noch hat also kein Dichter Zeit und Raum verschmäht – nämlich Jahrhundert und Vaterland –, sondern er war darin. Er tat das auch vorzüglich mit, weil er bald merkte, daß seine Zuhörer und Leser ebensogut als er sowohl geboren als begraben würden. Daraus erklärt sichs nun sehr, daß die griechischen Dichter – ungeachtet aller dichterischen Gottes-Freiheit – doch die vaterländischen Sitten dichtend achteten und schon darum nie gegen sie arbeiteten, weil sie bloßdurch sie arbeiteten. Himmel, wie barbarisch wär' es ihnen vorgekommen, mit barbarischen ausländischen Sitten zu bestechen, statt damit abzustoßen – über die heilige Scheu und Liebe gegen ein Vaterland roh wie ein Tier wegzutreten! Und hätt' es ein Grieche getan – und vollends auf der Bühne, wie es doch der jetzige Deutsche versucht, z.B. Schiller [429] und Schlegel –: das zartfühlende Volk hätte ohne Kunstrichter gerichtet als Sittenrichter. Denn jedes Volk ehrte seine Sitte als das Blut des moralischen Herzens; – und nur wir Deutsche wollen unsern Kosmopolitismus des Geschmacks auch zu einem der Sitten ausdehnen, so sehr sich letztes selber aufhebt, da Sitte als solche eben sich beschränkt. Freilich kann die Dichtung da frei sein, wo es Sitte vorher war, und vor nackten Logen mag die tragische Muse unbekleidet tanzen; aber geziemt denn die Entschleierung der Ehefrau einer Jungfrau? Da es keine absolute Schamhaftigkeit oder Schäme gibt, aber doch relative gegen die Phantasie, nicht gegen die Wirklichkeit; und da die Enthüllung eines Fußes in Spanien oder eines Gesichts im Orient so groß ist als eine gänzliche bei uns: in welchem Lande oder an welchem Feigenblatte könnte denn das Ver- und Entschleiern Grenzen anerkennen? Wer keine absolute Nacktheit annimmt, muß jeden längsten Schleier der Sitte ehren und nicht verkürzen. Ist Schamhaftigkeit einmal etwas Heiliges, was nur den Menschen angehört: so muß sie verehrt und geschont werden, in welche Zeiten-Hülle sie auch sich werfen wolle.

Nirgend aber, in keinem Gedichte, Gemälde, Gebilde kann sie mehr verwundet werden als auf der Bühne – vor dem lebendigen Volk, wovon ein Fünftel aus Jungfrauen und Knaben besteht – mit lebendigem Wort und Spiel – und endlich durch den lebendigen Menschen, der vor einer Menge erotische Geheimnisse an seiner Person entwickelt...

Lasset uns wenigstens die Schauspielerin (wenn auch nicht den Mann oder Vater) schonen. Ist es nicht Grausamkeit eines Dichters, welcher ihr eine Öffentlichkeit aufdringt, deren sich eine Öffentliche schämt? – Auch begeht der Dichter mit dem Plagium an den Römern, welche Sklaven auf dem Theater wirklich foltern und ehebrechen ließen, ein Menschen-Plagium; denn er soll die Grenze respektieren, wo der schauspielende Körper aus dem Scheinen heraustritt ins Sein; und wie er dem männlichen kein zerstörendes oder berauschendes wahres Trinken, so darf er dem weiblichen kein Opfer befehlen, das nicht der reinsten Jungfrau in der Loge anzusinnen wäre. Begehrt er mehr, so ist er ein Tyrann, [430] kein Künstler, den ich hasse, weil er Menschen-Haß in Kunst-Liebe versteckt.

Die Dichter lassen gern ihre dichtende Nacktheit – um sie zu retten – mit der griechischen, mit der steinernen, ja auch mit der malerischen vermengen. Aber welcher Unterschied zwischen allen dreien! Denn erstlich die steinerne ist keine; eine Statue muß nackt sein; ein Stein-Mantel würde eben nur einen Mantel zeigen, keinen Leib darhinter. Die plastische Bestimmtheit der Wirklichkeit ist das eiserne Kerker-Gitter, ja Mauerwerk der Phantasie; diese wird dabei ein Geschöpf, kein Schöpfer; und da alles Wirkliche als solches, nämlich ohne Phantasie, heilig ist und kein Scham-Rot aufzulegen braucht, wie die unschuldigen Kinder zeigen: so habe die Bildsäule, wie eine spartische Jungfrau, nichts um als den allgemeinen Schleier der Gesinnung. In der Tat haben daher Wollüstlinge in ihren Kabinetten alle andere nackte Kunstwerke eher als steinerne.

Kurz, in der Bildhauerei schafft die Wirklichkeit die Phantasie – anstatt daß im Gedicht diese jene schafft –; auch kennt sie als vereinzelnde Darstellung (denn wer sah noch ein in Stein gehauenes historisches Stück?) nur die allgemeinsten Verhältnisse der Menschheit, welche jede hinfällige Sitte so gut ausschließen, als ein Kind es tut. –

Die Malerei aber, die Mitteltinte und Mittlerin zwischen Poesie und Plastik, hat schon keine Kleidung mehr an, die einen Leib verdrängte oder ersetzte, statt zu verheißen. Sondern sie öffnet der Phantasie die Schranken, unbekleidet ebensogut als angekleidet. – Und jede Pariser Bestie sucht ja eben ein Bilderkabinett mit Schürzen und hat eine Handbibliothek ohne diese – –

Mein letzter Grund für einiges Maßehalten in der erotischen Entschleierung ist bloß – und man wird mir leicht zutrauen, daß ich ihn nicht für den stärksten geben will – vom Glück der Menschheit hergenommen, oder doch des Jahrhunderts. Gehörig eingeschränkt, ist Rücksicht auf Menschenwohl an keinem Dichter verwerflich. Wenn es nun wahr ist, daß die Schmarotzerpflanzen der sechs Sinne ganz Europa aussaugend umschlungen halten, und daß besonders der Geschlecht-Efeu bald an die Stelle [431] des vertrockneten Baumes den Gipfel heben werde: so sollte der knechtischen Zeit durch die freie Poesie eine sinnliche Richtung mehr genommen als gegeben werden. Sonst, wo es noch Religion und große Zwecke gab und Stärke des Körpers und der Seele, folglich Schwäche der Geschlecht-Phantasie, wo ein Boccacio noch mit Petrarca Briefe wechselte und über Dante eine Professur hatte, sonst mochte wohl eine poetische Flamme von Amor nicht schaden, weil man dem Pulver glich, das sich nicht an der Flamme, sondern an der berührten entzündet. – Jetzo ists schlimmer. Nehm' ich Hauptstädte aus, wo die Bühne den Sitten wenig schaden kann, weil da die Kunst mehre Gebildete als Sittliche findet und also nur erfreuen, nicht entstellen kann: so könnt ihr ebensogut ein Feuerwerk in einer Pulvermühle abbrennen als eines und das andere schreiben; und die Wut einiger neuern Poetiker gegen die bisherige Ehrbarkeit-Sprache, als werde sie gerade jetzo über die Grenze getrieben, ist fast sündig-dumm.

Indes eben aus dem Menschenglücke wird ein Grund für erotische Ausstellung hergeholt, von dem angenehmsten Reisenden, der je aus Frankreich wiederkam. Freie Gemälde möchten nämlich – hofft der Verfasser der Reisen im mittäglichen Frankreich, da er mit der fürstlichen Brautkapelle sich rechtfertigt – der matten Schattenwelt der großen Welt etwan einigen Geschmack an der Sinnlichkeit beibringen oder auffrischen, woraus denn vieles Gute, hofft er, entsprießen könnte, z.B. Erbprinzen. Sollte der gute eifernde Weltmann wohl gegen die Phantasie der Weltleute gerecht genug sein? Denn an erotischer Phantasie sind sie, ungleich den alten Kraftvätern und gleich allen Schwächlingen, statt arm, gerade krank und reich; gerade weniger davon wäre fast Austernkur. – So aber gibt ihnen der witzige Reisende die materia peccans (den Sünden- oder Giftstoff) als materia medica (als Heilstoff) ein und martert die arme reiche und große Welt nur noch mehr mit idealen Lavaterschen Aussichten in einen Himmel, zu welchem ihr so oft ein Flügel gebricht. Einen mitleidigen Mann bewegt es – sogar zum Lachen –, wenn er sich den Jammer gerade der Leute von Geburt bloß denkt, welchen solche Werke nur bitterer machen. Nur dem alten Kraftdeutschen an Seel' und [432] Leib sind daher die freiesten Malereien bloß Malereien; und es ist für diese Rücksicht kein böses Zeichen, daß die Zensur in Dresden und Leipzig gerade Althings Werke und einige Artikel von Gräff – welche gleichsam die in beiden Städten verbotnen Dirnenhäuser geistig repräsentieren – mit den Namen der Städte und Verleger zu drucken erlauben konnte. – – Und nun sapienti sat! – Auf diese wenigen 8 Kautelen schränkt sich mein ganzer Tadel der Poetiker ein. Die Stammutter und Eva dieser Sünden-Familie ist bloß – Jugend, teils der Individuen, teils der Zeit. Man schaffe die Mutter fort, so bleiben die Geburten aus. Da nun schon so viele wahrgenommen, daß jede Jugend, sei sie noch so groß, täglich abnehme (in unsern Tagen vorzüglich) und endlich ganz eingehe, so schauen wir ja dem herrlichsten Vertrocknen der Ströme entgegen, wenn das Versiegen der Quelle so entschieden ist.

Doch, meine Herren, da Sie, wie ich merke, sämtlich – wahrscheinlich aus Verdruß – nach Hause gegangen sind, so daß keiner von uns mehr da ist als ich allein: so breche ich ohne weiteres ab und auf und geh' auch fort; denn mich brauch' ich wahrlich nicht zu überreden.

Diesjährige Nachlesung an die Dichtinnen

Denn mehre Zuhörer sah ich gewaltsam von Damen an den Armen gefänglich eingezogen und zurückgebracht, damit sie einer Nachlesung der Vorlesung beiwohnten. Sie sagten sämtlich denn jede sprach mit –, keine wäre eine Dichterin, insofern nach Wolkens Regel dies eines Dichters Frau bedeute, sondern jede wäre eine Dichtin oder unverheiratet; denn es lohne die Mühe nicht, einen Mann zu haben. Ich faßte diesen Redefaden auf und zog ihn länger aus: »Sehr wohl! denn die Ehe ist gegen die lyrische Blumenlese der Liebe, ja gegen deren bloßes Schlemperlied eine so langweilige Kanzleiprose, als ich nur kenne; und ein paar weibliche Reime wollen im ehelichen Kanzleistil wenig verfangen gegen den Ehemann, den ewigen Reimer auf sich. – Aber was beliebt Ihnen?«

[433] – »Ein Widerruf!« sagte eine Berliner Jüdin so keck, als hätte sie mich zum Mann und Narren zugleich. Es standen nämlich fünf Jungfrauen oder so etwas dergleichen da, entweder der rechte oder der linke Flügel der bekannten zehn Jungfrauen in der Parabel der Bibel. – Ich versetzte; – »Und warum nicht? Warum soll ich denn wie jeder das ganze Leben durch mein eigner Jaherr bleiben (denn ich sage zu allem Ja, was ich sage) und nicht auch mein Neinherr wer den?« – »So ist er immer«, sagte eine zweite Jungfrau zu den übrigen; »eben Ihr Spaß« (fuhr sie gegen mich fort) »hat uns bisher in der Tat für Ihren Ernst meistens schadlos gehalten, und wir alle, wie Sie uns da sehen, sind nicht von Ihnen abgefallen, so sehr wir auch rechte Freiheit, ungebundne Lebart in Ihrer ungebundenen Schreibart vermißten.« – »Wenigstens mit Ihren prüden Britinnen und Überkeuschen sehen wir uns gern verschont; ach! in mancher Zügellosigkeit ist vielleicht mehr Religion, als Sie nur glauben«, sagte die dritte, der die jungfräuliche Lampe wahrscheinlich von den vielen Winden der Reisen ausgeblasen worden. – »Nur Kraftweiber wollen wir«, sagte die vierte, »statt euerer elenden früheren Kraftmänner, mehr nicht; nach nichts sollen sie fragen, nicht einmal nach Männern, sondern sich selber setzen wie Fichte« – die vierte Jungfrau war ganz von der Sache abgekommen, wie vielleicht von noch wichtigern Sachen: ihr Lampenlicht war nicht erloschen, denn sie hatte gar keine Lampe. Jetzo schien es, als wenn ich zum Schlagworte käme, als die fünfte, gleichsam die Domina und Pröbstin des Nonnen-Chors, mit den Worten losschlug: »die Sache sei kurz so: sie alle hätten die Jubilate-Vorlesung der Vorschule längst vor Jahren gelesen und begehrten die Langweile nicht zum zweiten Male, sondern sie wären hergekommen, um von mir, wenn ich wollte, die Ansichten und Anreden an weibliche Poetiker oder Dichtinnen, besonders aber die vier Herzens-Kautelen angewandt zu hören, die sie etwan zu beobachten hätten, damit sie nur nicht zu tief unter den Klotilden und anderen Romanengeln zu stehen und zu fallen kämen.«

Es war viel, mithin zu viel; in solcher Not drückte der Vorleser anfangs seine Entzückung und Verlegenheit durch ein Sonett [434] aus, wovon ihm in der Eile nur die Reime der ersten Strophe entfuhren: Sonetten – nett – öd' – Nöten – Nähten – sonn' – Sohn. Darauf begann ich leicht in ungebundner Rede so:


Schönes Fünf!


Wäre Ideen-Ordnung so sehr von Damen gesucht als Körperordnung, so müßt' ich aufhören und Gute Nacht sagen. Aber so schnei' es denn untereinander! Die vier Herzens-Kautelenmännlicher Poetiker- Stolz, Grobheit, Haß, Liebe betreffend – lassen sich für weibliche in eine fünfte einfassen,


die, nicht zu heiraten.


Niemand horche zu erstaunt auf: Ich nehme ja ausdrücklich den Fall aus und gebe ihm die Ehe zu, wenn eine geniale Braut den Ehepakten den geheimen Artikel beifügen läßt, worin die Zeit von beiden Parteien festgesetzt wird, worin sie sich scheiden lassen. Schon mehre haben vor mir bemerkt, wie eng und warm eine Ehescheidung ein Ehepaar in höherer Potenz wieder verknüpfe; wie ein Ehe-Mann, und wär' er ein Poetiker, mit seiner abgeschiedenen Dichtin, ja Dichterin liebend ein pikantes Verhältnis durchgenießt – er kein Witwer, sie keine Witwe – keines befehlend, keines gehorchend, ausgenommen mit Umtauschen – beide zart und warm – beide nicht aus Pflicht liebend, vielmehr darüber hinaus – beide scheu und doch vertraut – furchtsam vor der Welt, halbkühn in der Einsamkeit – und beide mit einer Freiheit, in welcher jede Minute Nein sagen kann Jungfrauen, schon das bloße Gemälde des Scheidens ermuntert zur Ehe. Insofern gleicht ordentlich eine eheliche Person einem peinigenden Zahne, den man ausheben und von den Nerven sondern läßt und darauf wieder in die Zahnlade einsetzt zum Glänzen und Beißen, ohne die geringsten Schmerzen mehr.

Aber gemach! denn so empfehl' ich die Kautel der Ehelosigkeit schlecht, als ob nicht die meisten Vorteile derselben auch ohne Scheidebriefe zu haben und zu verbriefen wären.

Die vier Herzens-Kautelen raten sanft vom Heiraten ab. Erstlich die des Grobianismus. Die Grobheit der männlichen Poetiker süßet sich in den zarten weiblichen zu bloßem kecken trotzenden [435] Absprechen über Weiber, Männer und Bücher ab; und für eine Dichtin gibt es kein Ansehen (Autorität) als das im Spiegel, oder höchstens Goethe oder Shakespeare oder irgendein Leibschriftsteller. Insofern wäre nichts zu tadeln. Aber leider der Ehemann, gutes Fünf, sitzt nicht still dazu, wenn ihr dasselbe fast kriegerische Absprechen auch an ihm versucht. Und bei wem könntet ihr mehr Gelegenheit und Gründe zu diesem kühnen Aburteln vorfinden als bei ihm? Denn je näher dem Rom, sagt das Sprichwort, desto weniger gilt der heilige Vater; und mancher Ehemann ist oft gar weder ein Vater noch ein Heiliger. Ihr werdet es vollends so arg treiben, daß die Stadt erschrickt; denn wenn schon überhaupt die weiche duftende Honigblüte der Jungfrau im Treibkasten des Ehebettes zu einem Winter- oder Lagerobste zeitigt, das erst später so weich wird: so läßt sich in einer andern Allegorie denken, was eine Amazone von Jungfrau, welche schon eine Brusthälfte dem Bogenanlegen aufgeopfert, noch viel Sanftes von der andern unter den Opfern einer Frau zurückbehalten möge. In neuer Zeit wird überhaupt, ungeachtet der Alten, der Bibel und Rousseaus, den Weibern statt der Milde mehr die Wilde angeraten und angelehrt; aber mir dünkt, aus Verkennung der weiblichen Anlagen. Glauben Sie mir, verehrtes Fünf, Sie alle haben die nötigsten zum Toben und Brausen, und wenn ich es wünschte, würden Sie solche mir auf der Stelle zeigen und den Satz lebhaft dartun. Die Weiber haben gesellige Milde, die Männer gesellige Wildheit, weil das männliche Feld ein öffentliches, also oft ein Schlachtfeld ist. Vorleser dies hat Madonnen in Blick und Ton nach dem Übertritte aus der Gaststube in die Wohnstube als gute Sturmläuferinnen angetroffen; und so hoch er Lavaters physiognomische Fragmente achtet, so machte er doch in den weiblichen Gesichtern noch kein Fragment ausfündig, das ihm für Milde und Ruhe zum Bürgen stand; aber in männlichen fand er zuweilen das Fragment. – Dabei hat die neuere Stärkkunst der Weiber (sthenische Methode) noch etwas Alltägliches übersehen. Der Mann ist nämlich als Jüngling am wildesten, und an den Jahren kühlt er sich ab; das Weib aber ist als Jungfrau so schüchtern, so mild und weich, und jeder Dorn der Rose grünt und [436] beugt sich; bis später in der einsamen Selberherrschaft der Ehe alles schön erstarkt. Ein Drittes führ' ich gar nicht an, sondern setz' es erwiesen voraus – weil Sie es leicht auf der Stelle zu beweisen übernähmen –, daß, wenn ein leidenschaftlicher und auf: gestürmter Mann doch zuweilen Gründe annimmt, die Frau alle nicht nur im Sturme abweiset, sondern auch in der Windstille sie ablehnt; wie denn überhaupt wohl ein Sokrates gegen eine Xanthippe denklicher ist als eine Sokratissin gegen einen Xanthippus... Und doch schüttet ihr Büchermacher noch in des Frauenfeuer euer fettes glattes Dinten-Öl! – Nun aber will vollends der Ehemann von Ihnen, angebetetes Fünf, noch mehr angebetet sein als selber Goethe; denn er vergibt der Gattin leichter jede andere Sünde als die gegen den heiligen Geist seiner Persönlichkeit. Ein leichtes Wort zieht hier oft schwerer als eine Tatenlast. Erhalten Sie sich aber außerhalb der Bretter, Stollen und Fransen-Vorhänge des Ehebettes und bleiben Sie bloß bei Anbetern: so können Sie diese ohne den geringsten Abbruch der Liebe auspfeifen auf dem Schlüssel – – denn er öffnet Ihnen nur deren Herzen – und ausstellen mit dem Halseisen – denn es wird nur ein eheliches Halsband daraus –; ja die allgemeine Weltgeschichte teilt uns mehre Ohrfeigen mit, welche Liebhabern zu erhalten geglückt, und die sie bloß zu desto heißern Rittern geschlagen, indes hingegen bei Ehemännern sogar die stärksten schwerlich als Kußhände einwirken, ja die Liebe mehr zu schwächen als zu heben dienen würden.

Als folgenverwandt ist die zweite Kautel der Poetiker, der Stolz beinah' abgetan, geniales Quintett! Sind Sie für den einen Verehrer eine Perlenauster mit Perlen oder Glanzgedanken, für den andern, den Sie mit mir tadeln, eine Perlenauster bloß zum Verschlingen mit Augen und Lippen: so sind Sie doch für den Ehemann nichts weiter, als was er selber ist, die Auster eines verschiedenen Geschlechtes. Ich setze Sie stolzer voraus. – Aber hier liegt doch der Hauptpunkt nicht, und nur die Eile des Ausmachens vor dem Torschlusse verwirrt das Beste. Sie haben nämlich von Ihren Anbetern irgendeinen Preisdichter sich auf immer geistig antrauen lassen, für welchen man als Seelenbraut Vater [437] und Mutter verlassen muß. Wie nun, wenn Ihr körperlicher Ehemann z.B. als ein Stilistiker der Gegenfüßler oder Nebenbuhler dieses Preisdichters wäre? Bei den häuslichen Unterhandlungen darüber wünsch' ich nicht dabei zu sein. Man kann wohl Altes und Neues Testament der Dichtkunst ineinen Band bringen, aber nicht eine Dichtin und einen Stilistiker in ein Eheband.

Aber außer den Ehe-Neins sind hier noch mehr die Ehe-Jas zu befürchten. Wenn nämlich die Dichtin mit ihrem Anbeter oder Freunde die Ideen teilt oder tauscht, so pflanzt sie sein ästhetisches Absprechen ohne Bedenken durch Nachsprechen fort, weil' wie im Körperlichen, so hier im Geistigen das Hörrohr (nach Beckmann) früher erfunden worden als das Sprachrohr und niemand setzt etwas daran aus. Hält sie aber an den Mann das Hörrohr, anstatt an die vielen Wanderanbeter, so weiß es dort die Welt, hier wissen es nicht einmal diese selber gewiß.

Auch die bekannte dritte Kautel der Poetiker, der Haß, rät die Ehe vielleicht mehr ab als an. Sie und die wenigen, die Ihnen nachzueifern eifern, wissen sehr wohl ohne mich, wie Sie sich vor jedem Beisitzer an Ihren Putz- und Teetischen durch einen artigen Haß der Menschenliebe, des Mondlichtes, der Empfindsamkeit, der Weinenden vielleicht größere Reize geben, als Ihre Bescheidenheit nur ahnen will. Wie der Feuer-Ätna Sizilien mit Schnee aus seinen Höhlen versorgt: so holten Sie und Ihr Verehrer sich aus Goethes neuern Werken so viel Eis wenigstens ab, als zum Abkühlen seiner früheren nötig war; und in der Tat, manche von Ihnen sagten mit Goethens Sinngedicht: der Mensch ist ein Hund, denn dieser ist ein Schuft. Wärme der Sprache, also des Mundes wurde mehren Dichtern als ein bedenkliches Zeichen von Gebrechlichkeit verübelt, so wie an Hunden einewarme Schnauze Unpäßlichkeit bedeutet. So viel ist wenigstens gewiß – wobei ich mich auf Sie selber stütze –, daß ein Dichter, der sich noch nicht kalt genug gemacht, um andere warm zu machen, noch zu weit zur Dichter-Größe hin hat, indes dagegen einer, der Herzens- und Papier-Schreckmann (Terrorist) und überhaupt nicht ohne Grausamkeit ist, doch etwas scheint, so wie in [438] Rom jetzo viele den Apollo von Belvedere (nach Seume) für Nero den Sieger halten.

Aber eben diese ästhetische Härte, ja Herzlosigkeit gewährt Ihnen – wollten Sie dergleichen nur recht nützen – Zauber und Halt gegen Verehrer, weil diese gewöhnlich die Frauen an der Herzseite, wie das Fußvolk die Reiter an der linken Seite, die keine Waffen und auf dem Pferde schweres Wenden hat, anzufallen pflegen. Die Aufsprünge sind kaum zählbar, in die ein armer Liebhaber zu setzen ist, wenn er an derHerzseite nichts erreichen kann und bis zum Kopfe hinaufmuß. Eine solche Kunsthärte des Herzens gleicht dem physischen Bau, wo zwischen dem weichen Herzen und Busen das schirmende Knochengitter gut angebracht steht.

Was würden Ihnen aber diese Vorteile helfen in der Ehe? Nichts, aber wohl schaden. Die Ehe erschöpft bald den weiblichen Kopf, aber kein Herz ist zu erschöpfen; jeder Gedanke des Witzes, des Verstandes etc. veraltet wiederkommend, jede Empfindung des Herzens kehrt jung und verjüngt zurück. In der Ehe kann wohl weiblicher Glanz dunkler werden, aber weibliche Wärme nicht kälter; so wie das brennende Nachtlicht am Tage zwar seinen Schein verliert, aber seine Wärme fortsetzt und kaum gesehen glüht. Man könnte dieses Gleichnis allgemeiner so gebrauchen: unsere Kenntnis wird zwar wie das Wachslicht durch die Zeiten kleiner oder größer erscheinen, aber die Wärme bleibt auch an jedem Tage ungeschwächt.

Noch bleibt die vierte Kautel, die sinnliche Liebe betreffend, in Rücksicht der fünften, nicht zu heiraten, zu würdigen übrig. Ich hoffe zu Damen zu sprechen, welche gemeine Vorurteile nicht mehr hegen, und mit denen also ein freieres Wort zu reden ist als mit dem Alltagschlag. Gebildete Damen haben jetzo so geistigungewöhnliche Schoßbücher, als die indischen Damen auffallende Schoßtiere haben, nämlich Schweinchen, Schlangen und Eidechsen, beide letzte am Busen zum Kühlen. Wir sind wohl alle darin einig, daß, wenn man weibliche und jungfräuliche Wesen für etwas Heiliges (und dies mit Recht) erklären und doch jeden, der sie berührt, für unheilig halten will, dies nichts als eine Wiederholung [439] des elenden Aberglauben 261 der Ägypter ist, welche ebensoTauben für heilig und des Anbetens wert ansahen und daher recht viele hielten, gleichwohl aber durch die Berührung derselben unrein zu werden besorgten. Lächerlich genug! Und doch nichts weiter als eine Folge der erbärmlichen Schranken der Geschlecht Prüderie und Sittlichkeit, in welchen man von jeher uns, besonders aber die Weiber, zu halten getrachtet. Wenn einmal ein Reich-Abschied von 1577 den guten Frauen das körperliche Springen verbot, so hat man freilich nur wenige Schritte zum Verbote auch jedes geistigen Springens, es sei mit Gedanken oder mit Neigungen. Sollen aber doch gewisse eingewurzelte Vorurteile gegen die Sinnlichkeit herzhaft ausgereutet werden, so weiß ich nicht, schönes Sinnenfünf, wie irgend jemand dergleichen in der Ehe durchzusetzen hoffen kann. Schon an sich sind Ehemänner dünn gesäet, noch dünner aber ein Ehemann, mit welchem eine Gattin für ihre Morgengabe sich eine unentgeltliche Zugabe von fünf Gratis-Exemplaren erkaufen könnte, wie man umgekehrt für fünf bezahlte Buch-Exemplare das sechste frei bekommt; und sogar am Vorleser dies würde sich jede von Ihnen, schönes Fünf, vergriffen haben, welche hierin über ihn einer vorteilhafteren Meinung gewesen wäre. So bleibt denn wohl für jede, die mit Ernst an die Sache gehen will, nichts übrig als mein Rat, zwar Lieben zu lieben, aber nicht das Ehlichen; dann geht so vieles besser. Ein Dichtin sucht und findet stets junge Männer, die etwas aus Kunst und Wissenschaft machen und zu machen wissen – nur ein Eheherr bekümmert sich, wie wir schon gehört, um dergleichen bei seiner Frau so wenig –; Wissenschaft und Kunst sind aber der Liebe so verschwistert und benachbart, daß, wenn in Athen der weisen und kriegerischen Pallas ein Opfer gebracht wurde, man auch dem Amor eines bringen mußte, weil beide Gottheiten. 262 im selben Tempel standen; eine antike Sitte, welche mit Weglassung der veralteten Festlichkeiten in neuern Zeiten noch von vielen Sing-, Klavier- und Hofmeistern beibehalten wird. Man denkt sich auch in die höhern Absichten dieser [440] Lehrmeister leicht bei einiger Gutmütigkeit hinein; es ist ihnen nämlich wirklich nicht sowohl darum zu tun, nur sterblich vergängliche Geburten zu erzeugen – dergleichen erlernte Gesänge, Spielstücke, Aufsätze und andere Geistesgeburten immer bleiben werden – als vielmehr unsterbliche im strengsten Sinn, welche gleich ihren Eltern auch in einer zweiten Welt noch fortdauern.

Somit glaub' ich einem reizenden Fünf von gewaltigern Direktricen, als die fünf französischen Direktoren waren, das alte Sprichwort von Östreich: tu felix Austria nube 263 (du glückliches Östreich heirate) in der schönen Umkehrung und Anwendung auf Sie: Du glückliches Direktorat heirate nicht! (nämlich tu felix direktorium ne nubas)warm vorgehalten und gepriesen zu haben.

Übrigens will die ganze Nachvorlesung nichts sein als ein geringer Dank für die Treue, womit Sie mir, ungeachtet so vieler ernsten und sentimentalen Stellen oder Flecken meiner Werke, aus Dank für den Spaß getreu geblieben. Doch belohnt sich ein solches Festbleiben schon ohne mich; es ist dasselbe Festhängen wie an einer Lustpartie; denn es wurde noch nie erhört, daß Damen, welche an einem himmlischen Sonnabend sich zu einer Lustfahrt für den noch himmlischern Sonntag verabredet hatten, solche etwa darum aufgegeben hätten, weil der Sonntag vormittags Gewitterregen kochte und nachmittags ausgoß; sie wechselten nichts, nicht ihre Entschlüsse, nur Sonnen- gegen Regenschirm – Gute Nacht! Und gebenSie mir den Nachtfrost, welchen jetzo Ihre Reize empfinden, nicht als geistigen zurück!


Das Jungfrauen-Fünf schied sich lampenleer von mir, aber ohne irgendeinen Danklaut, auf welchen ich gerechnet hatte. Am Morgen mußt' ich sogar erfahren, daß die meisten der Rat, nicht zu heiraten, sogar verdrossen hatte; besonders die älteren – weniger die häßlichen – am wenigsten die jüngsten. Da man nun dies jetzo weiß, so rate künftig jeder den Dichtinnen das Gegenteil an und opfere lieber ihre künftige Gatten auf.

[441]
3. Kantate-Vorlesung
III. Kantate-Vorlesung

Über die poetische Poesie

(Personalien der Vorlesung.)

Ich wartete eine Stunde, eh' ich sie anfing, um so mehr, da kein Zuhörer da war. Endlich, als ich darauf nicht länger warten wollte, erschien doch einer, nämlich der unbekannte Jüngling; und ich hob natürlich froher an, wie folgt:

»Verehrter Hörsaal! Keine einzige Zeit hatte je ganz recht, aber auch keine ganz unrecht; beides macht eben, daß ihre Moussons, die ein halbes Jahr nach Süden geweht, wieder ein halbes bloß nach Norden wehen«......

Sogleich da unterbrach mich der ebenso verstimmende als verstimmte Jüngling im schwachen Scherze einer akademischen Vorlesers-Fiktion und versetzte fast ungehalten: »inzwischen ziehe an den Wendezirkeln (den Sinnbildern der Dicht- und Denkkunst) ja täglich das Wehen mit der Sonne um den Himmel – Auch gebrech' es meiner Antithese zwischen Stilistikern und Poetikern ganz an tapferer Synthese, nämlich an der organischen. Denn theoretische sei so dumm und hohl; wechselseitige Würfelseiten würden ja so bloß willkürlich hin- und hergemessen; und irgend eine Gleichung der feindlichen Körper käme so wenig dabei heraus als an einer Bildsäule und einem Rekruten durch beider Anlegen ans Rekruten-Maß – Hingegen eine organische Synthese sei eine hübsche Heirat, woraus stets ein lebendiges Kind entspringe«....

Zum Schaden des Jünglings traf es sich, daß ich mich umsah und auf der Fensterbrüstung ein Blatt an mich, gegen Herder gerichtet, erblickte. »Ich antworte«, antwortete ich dem Jüngling, um erst das Blatt zu lesen. Was enthielt es aber anderes, als was ich von dem ersten besten ergrimmt davongelaufenen Poetiker vermuten konnte, da ichs so oft schon gehört, bekriegt und verflucht hatte, – nämlich das alte doppelseitige Verkennen der entflognen großen Seele, von welcher niemand stolz genug sein darf, zu sagen: »Ich habe sie ganz gekannt.«

Ich sagte die Sache dem Jüngling mit drei Worten und fügte [442] bei, ich möcht' es in Rücksicht der Irrtümer fast für ein Blatt aus dem gedruckten »Briefe eine Nürnbergers an mich« ansehen, wär' es nicht so gut und nicht mit ästhetischem Sinn geschrieben; »der edle Geist«, fuhr ich fort, »wurde von entgegengesetzten Zeiten und Parteien verkannt; doch nicht ganz ohne seine Schuld; denn er hatte Fehler, daß er kein Stern erster oder sonstiger Größe war, sondern ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert, der eine das der Waage oder des Herbstes, der andere das des Krebses oder Sommers und so fort. Menschen mit vielartigen Kräften werden immer, die mit einartigen selten verkannt; jene berühren alle ihres Gleichen und ihres Ungleichen, diese nur ihres Gleichen.« 264

Der Jüngling lächelte und bemerkte, »ich hätte hoffen lassen, zwischen beiden Parteien oder mit andern Worten zwischen dem alten Realismus und dem neuen Idealismus eine organische Synthese aufzustellen«.

»Diese wäre denn, wie Sie selber sagten, ein Kind oder Leben aus zwei Leben; aber aus jeder Synthese entspinnt sich wieder eine Antithese der Geschlechter, und so hörte es ja nie auf..... Indes auf diese Weise, mein Herr, werd' ich wenig fischen, daß man mich so auf einmal teils in die neue Metaphysik hineinschlägt, teils in den Dialog... Geh' Er mutig heim, treuer Famulus, jetzo regieren Diskurse; – oder schwelg' Er draußen an den Nachtigallen um Ihn her; sie wollen ordentlich den Namenstag des heutigen Cantate-Sonntags feiern, wie die herrliche Abendsonne dessen Geburtstag; Er kann ja manches denken...

Ihre metaphysischen breiten Schul-Worte, mein Herr, kann [443] ich, insofern jetzo auch meine Zahlwoche beginnen soll, unmöglich gebrauchen, weil dieser metaphysische Schnee nicht wie der poetische Spiegel Gestalten, sondern nur ein unbestimmtes Schimmern zurückwirft. Lassen Sie mich das Höchste der Poesie, den Parnassus-Gipfel, wo sich alle Parteien begegnen sollen, wenn sie auch auf Mittag und auf Mitternachtseiten den Berg hinaufgezogen, auf andere Weise nennen. Wir haben etwas in uns, was unaufhaltbar einen ewigen Ernst, den Genuß einer unbegreiflichen Vereinigung mit einer unbekannten Realität als das letzte setzt. Das Spielen der Poesie kann ihr und uns nur Werkzeug, niemals Endzweck sein.«

»Ist Freiheit kein würdigster Zweck?«- »Freiheitwovon ist keiner und leer ohne die Freiheit waren und wozu; sonst wäre Nichtsein die größte negative Freiheit. Jedes Spiel ist eine Nachahmung des Ernstes, jedes Träumen setzt nicht nur ein vergangenes Wachen, auch ein künftiges voraus. Der Grund wie der Zweck eines Spiels ist keines; um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt. Jedes Spiel ist bloß die sanfte Dämmerung, die von einem überwundenen Ernst zu seinem höhern führt.«

»Aber den höhern vernichtet wieder ein höheres Spiel« –

»Es wechsle lange fort und ab, aber endlich erscheint der höchste, der ewige Ernst. Über das Erheben kann man sich nicht erheben. Obgleich z.B. der Dichter die ganze Endlichkeit belachen kann: so wär' es doch Unsinn, die Unendlichkeit und das ganze Sein zu verspotten und folglich auch das Maß zu klein finden, womit er alles zu klein findet. Ein Gelächter von Ewigkeit her wäre aber um nichts ungereimter als ein ewiges Spielen des Spielens. 265 Götter können spielen; aber Gott ist ernst.«

– »Ich fasse nichts von einem Ernste bei unendlicher Freiheit.«

– »Aber auch bei unendlicher Notwendigkeit! Ich fasse freilich auch nichts davon und von einer Vereinigung beider, so wenig als ich das Sein oder Gott begreife; indes sind ewige Notwendigkeit und Freiheit zugleich unvertilgbar gegeben. Ewig dringen wir – als auf das Ur-Letzte und Ur-Erste – auf etwas Reales, das [444] wir nicht schaffen, sondern finden und genießen und das zu uns, nicht aus uns kommt. Uns schaudert vor der Einsamkeit des Ich (wenn wir uns nur z.B. den unendlichen Geist des All vormalen); wir sind nicht gemacht, alles gemacht zu haben und auf dem ätherischen Throngipfel des Universums zu sitzen, sondern auf den steigenden Stufen unter dem Gott und neben Göttern.« – »Ist das Reale außer uns: so sind wir ewig geschieden davon; ist es in uns: so sind wirs selber.« – »Dasselbe gilt ganz vom Wahren; dennsein muß es sogar nach dem Skeptiker, weil irgend etwas, wenigstens das Existieren existiert; folglich hat das Erkennen noch ein höheres Ziel, aber außer sich, als das Erkennen des Erkennens. Dasselbe gilt von der sittlichen Schönheit. Das Gesetz ist nur der sittliche Idealismus; aber wo ist der sittliche Realismus? Wo ist denn die unendliche Materie zu dieser unendlichen Form? – Dasselbe gilt, sag' ich zuletzt, von dem höchsten Gegenstande der Liebe; in uns ist er uns ein Nichts; außer uns sehnen wir uns ewig umsonst; denn alle Liebe will weder Zweiheit, noch Einheit, sondern Vereinigung.«

– »Endlich« – sagte der Jüngling mit frohem Lächeln – »haben wir ja etwas gefunden, was den Fuß-und Scheitelpunkt aufhebt, nämlich den Schwer- und Mittelpunkt. Die Synthese aller Antithesen, des In-und Außer-uns, des Stoffs und der Form, des Realen und Idealen, aller Differenzen ist die Indifferenz.«

»Das ist die einzige Weise, den Knoten nicht zu zerschneiden, sondern zu verbrennen; diese Trotz-Forderung, das Verstummen der Philosophie für das leiseste Lehren derselben anzunehmen, die Stille für ein Pianissimo, kurz, die potenzierte Aufgabe für die Auflösung.«

»Zum Glück ist das Indifferenzieren schon ohne den Philosophen geschehen. Denn das Ewige ist; die Einwürfe des Verstandes gegen Schelling treffen die Gottheit, nicht das System, ihre, nicht seine Unbegreiflichkeit«

»Ich gebe das eben auf Kosten nicht des Philosophen 266, sondern [445] des Philosophierens zu. Ich glaube nicht bloß das Ewige, sondern den Ewigen. Was wir aber ewig fodern, ist weniger die Gleichung der Realität und unsers Denkens als die Ausgleichung, weniger die Erklärung als die Ergänzung unsers Wesens.«

»Wodurch kennen wir dieses Etwas als wieder durch und in uns?«

»Allerdings schließet sich wieder der alte platonische Zirkel zwischen Trieb und Gegenstand zu. Allein hier kann man nicht kühn erklären, sondern nur kühn vorzeigen. Aus demselben Grunde, warum der Realismus nicht vom Denken zu beweisen ist, kann er auch nicht durch dasselbe oder in dasselbe aufgelöset werden.

Man frage lieber den Realismus unserer Gefühle. Wem ist nicht in der körperlichen Gegenwart eines großen Mannes, einer göttlichen Seele, eines geliebtesten Herzens der Idealismus nichts? Worin ist denn vor dem bloßen Begriff Gegenwart eines Menschen als eines Geistes von dessen Abwesenheit verschieden? In nichts. Eine Wachsstatue könnte mir die Gestalt eines Menschen – ein Automat die Bewegung und Stimme – diese oder ein Brief die Worte zubringen – wäre mir dies dessen Gegenwart?«

»Gar nicht! Auch die Erklärung etwa, daß Gegenwärtigkeit bloß im Bewußtsein meiner eigenen vor dem andern bestehe, schöbe die Antwort nur hinaus; denn ich könnte ja auch mich dem Repräsentanten repräsentieren lassen.«

»Und doch kennt das Herz den Himmel der Gegenwart und den Schmerz am Grabe. Überall bleibt ein Übergewicht des Realen. Es gibt einige Blitze in der ersten Liebe, zuweilen bei der Musik, bei großen Entschlüssen, bei großen Schmerzen, bei Entzückungen – da gibt es Blitze, welche den ganzen Himmel fliehend aufreißen, den wir suchen. Aber wer tut dies noch milder, fester, reiner, länger? Wer kann, wenn das Bild nicht zu kühn ist, gerade wie ein schönes Angesicht von einer schönen Seele, so das schöne Angesicht des urschönen Allgeistes werden? Ich denke, die Dichtkunst.«

(Hier gab mir der errötende Jüngling schnell die Hand und [446] sagte sanft: »Die Dichtkunst!« Wie reizend schien er mir jetzo das schöne Morgenkleid des Lebens zu tragen, die Jugend!)

»Gerade das Höchste, was aller unserer Wirklichkeit, auch der schönsten des Herzens ewig abgeht, das gibt sie und malt auf den Vorhang der Ewigkeit das zukünftige Schauspiel; sie ist kein platter Spiegel der Gegenwart, sondern der Zauberspiegel der Zeit, welche nicht ist. Jenes Etwas, dessen Lücken unser Denken und unser Anschauen entzweiet und trennt, dieses Heiligste zieht sie durch ihre Zauberei vom Himmel näher herab; und wie die Moral der gebende und zeigende Arm aus der Wolke ist, so ist sie das helle süße Auge aus der Wolke.

Sie kann spielen, aber nur mit dem Irdischen, nicht mit dem Himmlischen. Sie soll die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder vernichten, noch wiederholen, sondern entziffern. Alles Himmlische wird erst durch Versetzung mit dem Wirklichen, wie der Regen des Himmels erst auf der Erde, für uns hell und labend. Doch beide muß uns nicht das Tal, sondern der Berg zubringen. Indes muß dem Dichter wie den Engeln 267 die Erkenntnis des Göttlichen die erste am Morgen sein, und die des Geschaffnen die spätere abends; denn aus einem Gott kommt wohl eine Welt, aber nicht aus einer Welt ein Gott.«

»Bei Gott!« sagte der Unbekannte. »Niemals«, fuhr ich fort, »ist daher vielleicht der Dichter wichtiger als in solchen Tagen, denen er unwichtiger erscheint, d.h. in unsern. Wer in die historische Zukunft hinaussieht, der findet unter den wachsenden Städten und Thronen, welche den Himmel immer mehr zu einem blauen Streif verbauen – in dem immer tiefern Einsinken der Völker in die weiche Erde der Sinnlichkeit – im tiefern Eingraben der goldhungrigen Selbsucht – ach in tausend Zeichen einer Zeit, worin Religion, Staat und Sitten abblühen, da findet man keine Hoffnung ihrer Emporhebung mehr – außer bloß durch zwei Arme, welche nicht der weltliche und der geistliche sind, aber zwei ähnliche, die Wissenschaft und die Dichtkunst.

[447] Letzte ist der stärkere. Sie darf singen, was niemand zu sagen wagt in schlechter Zeit. Große oder verschämte Gefühle, die sich vor der Welt verhüllen, krönt sie auf dem höchsten Throne; wenn jene sich wie Sterne am Tage verbergen, so gleicht sie dem Sterne der Weisen, der nach den Alten am Tage leuchtete. Wenn die Welt- und Geschäft-Menschen täglich stärker den Erdgeschmack der Zeit annehmen müssen, in der sie leben: so bricht der Genius, wie der Nachtschmetterling, der sich unter der Erde entpuppet, mit unversehrten Flügeln aus den Schollen in die Lüfte auf. Ist einst keine Religion – mehr und jeder Tempel der Gottheit verfallen oder ausgeleert – möge nie das Kind eines guten Vaters diese Zeit erleben! –: dann wird noch im Musentempel der Gottdienst gehalten werden.

Denn dies ist eben das Große, daß, wenn Philosophie und Gelehrsamkeit sich im Zeitenlaufe zerreiben und verlieren, gleichwohl das älteste Dichterwerk noch wie sein Apollo ein Jüngling bleibt, bloß weil das letzte Herz dem ersten gleicht, nicht aber so die Köpfe. Deswegen gibt es für die unabsehliche Wirkung des Dichters nur ein Gebot: beflecke die Ewigkeit nicht mit irgendeiner Zeit, gib nicht die Ewigkeit der Hölle statt des Himmels Darf sich die Dichtkunst, weder zu mißfallen, noch zu gefallen suchend, absondern von der Gegenwart und uns, obwohl in Ahnungen, Resten, Seufzern, Lichtblicken, eine andere Welt zeigen in der hiesigen – wie einst das nordische Meer fremde Samen, Kokosnüsse etc. an die Küste der alten Welt antrieb und das Dasein der neuen ansagte –, so trete sie auch der verdorbnen, zugleich ebenso selbmörderischen als selbsüchtigen Zeit desto freier in den Weg, welche, den Tod aus Mangel an Himmel hassend, gern die hohe Muse nur zur Tänzerin und Flötenspielerin am flüchtigen Lebens-Gastmahl bestellte und herabzöge. Kommt die Muse groß, auf den Grabhügel statt auf den Kothurn steigend, und ist sie, obwohl ein Engel des Himmels, doch ein Todesengel der Erde: so wird, sagen sie, die Mahlzeit und die griechische Heiterkeit der Dichtkunst ganz gestört. Aber da die rechte Poesie keine Welt nimmt, ohne die bessere dafür zu geben: so leidet nur die gemeine Seele, die von einem Almosen des [448] Augenblicks zum andern lebt, ohne den Schatz eines Innern zu haben, und welche zwar, wie sonst die alten Städte im Frühling, den Tod, nämlich dessen Bildnis hinausschafft, aber ohne das Leben hereinzubringen. Ist denn das Sterben in der Dichtkunst nicht ein Sterben vor Freude? Und wenn sie das Leben in einen Traum verkehrt – sogar das gelehrte literarische lässet sich so ansehen –: hat sie nicht die gestirnte Nacht im Hinterhalt, in welche der Traum hinein erwacht?« –


*


So weit meine letzte Vorlesung! Der Unbekannte sagte, er wolle meinen Erntekranz nicht ausdreschen: im ganzen sei er meiner Meinung, welche überhaupt an die Sätze des Idealismus grenze, dessen Begeisterung man so unverständig für bloßes Klangwesen ausgebe; was den Menschen begeistere, sei unmöglich eine leeres Wort, sondern stets irgendein Sinn, den er unterlege. – Als wir beide schieden, wünscht' ich seinen Namen zu hören, da er meinen wisse. – »Sind Namen Geister?« fuhr er auf »Das Unendliche ist ein Anonymum.«

Es lag etwas darin, etwas Außerweltliches, ungenannt wie im Geisterreiche, nur Geisterzwecke gesucht zu haben; indem ichs aber loben wollte, kam ich fast ins Widerspiel hinein: »Anonymität, vorzüglichwechselseitige,« sagt' ich, »ist allerdings etwas Geistermäßiges bei Untersuchungen. Auf Reisen sucht' ich oft mit einem zweiten Forscher zu gehen ohne Zu-und Vornamen, gleich den unbenannten Schmetterlingen, Fischen um uns oder den ungetauften Sonnen eines Nebelflecks. Noch anonymer wäre man ohne Gesicht; denn die Gesichtszüge sind halbe Namenzüge – aber auch unsichtbar, verriete wieder die Stimme – aber auch ohne diese, verriete wieder die Handschrift oder der Stil – Kurz, vollständige Anonymität bleibt, solange man existiert, wegen der Individuation fast unmöglich.«

Er harrte auf seinem Worte aus, nahm Abschied und sagte bloß, das Blatt wider Herder sei von ihm – – Wie widerlich wurde er mir, sogar durch seine schöne Gestalt! Ich hatte unter der ganzen Vorlesung an Herder gedacht und geglaubt, er tu' es auch. – [449] »Addio Amico!« sagt' ich und ging davon, ohne ein Wort der Widerlegung; denn ich kenne diese Partei: eine Meinung, die man ihr heute vor ihren Augen ruinierte und köpfte, bringt sie den andern Tag auferstanden zurück und lässet sie wieder auf dem Kopfe tanzen, den man abgeschlagen.

Ich ging so weit im schönen Garten, bis ich eine freie Aussicht in die sanfte, rosenrot darniederziehende Sonne hatte. – Die Nachtigallen schlugen in den Blüten, hoch über ihnen die Lerchen in den Abendwolken – durch alle runde Laubwäldchen war der Frühling gezogen und hatte seine Spuren an ihnen hängen lassen als Blüten und Düfte – ich dachte an jenen Geist, den ich (so selten auch der verschwendete Beinamen gegeben werden darf) noch nicht anders nennen kann als einen großen Menschen. Wie war Er immer unter Bäumen und Blumen, auf dem Lande so genesen-glücklich! Der Name Land ist recht; denn ans Land setzen die Schiffer ihre Verwundeten der Wellen zum Genesen. Gleichsam mit einem Liebetrank der Inbrunst gegen die ganze Natur geboren, hielt Er wie ein Brahmine mit dem hohen Spinozismus des Herzens jedes Tierchen und jede Blüte wert und am Herzen fest; und ein Reisewagen, durch grünendes Leben gehend, war Sein Sonnenwagen, und nur dem freien Himmel schloß sich, wie unter der Musik, Sein Herz wie eine Blume recht weit-erheitert auf.

Als ich so an Ihn dachte, da die Sonne schön im vollen Glanze niederging, und der Gedanke mich nicht trösten konnte, daß dieser Geist nun neu-verbunden lebe mit seiner geliebten Natur: so stand der schöne Jüngling wieder vor mir, den ich vielleicht im untergehenden Glanze nicht bemerken können. – Er sagte bloß ernst, ohne Zorn und ohne Scherz: er nenne sich überall gerne, wo man etwas gegen ihn habe; – Namenlosigkeit gezieme keinem Gegner – wiewohl er dies kaum sei, da er Herder in seinen frühern Werken, eh' Ihn die Erde aus einem freien Kometen zu ihrem sanften Monde gemacht, genug verehre.

»Mein Name«, sagt er, »ist *****.« – »Der *** in meinem Romane?« fragt' ich erstaunt – Er war es; aber man vergeb' es, wenn ich aus wichtigen Gründen den wahren Namen dem leichten Erraten überlasse.

[450] Nun war so vieles geändert. – Dieser etwas stolze Jüngling hatte nie andere Irrtümer als verzeihliche; ich liebte ihn so stark, daß ich ihrer ungeachtet mit ihm über den teuren Toten zu reden wünschte.

»Höre mich, lieber Jüngling, jetzo willig über Ihn. Die Sterne kommen meinen Worten zu Hülfe. Sein himmlisch-gestimmtes Lied an die Nacht 268


Kommst du wieder, heilige stille Mutter
Der Gestirn' und himmlischer Gedanken, etc.

hör' ich diesen Abend in einem fort in meinem Innern singen. Ich kann nur einiges über Ihn sagen; unzulänglich ists ohnehin; ein Mensch, der in Worte aufzulösen wäre, würde ein alltäglicher sein; den Sternen-Himmel malt keine Sternkarte, obgleich ein Gemälde etwa eine Landschaft. Du sprachst von Seiner neuern Veränderung als einer Hinabänderung. Gewiß mutest du nicht, wie das Vorurteil, dem Schriftsteller im ewig nur reifenden Leben die gemeine schwere Unveränderlichkeit zu, die man doch den Zeiten erlässet oder, wenn sie erschiene, verdächte – wenn nur das Göttliche im Menschen sich nicht verändert, oder (weil dies eins ist) nicht vernichtet; ebenso lässet die göttliche Ewigkeit den Zeiten-Strom unverändert über sich fließen. Der Mensch scheint oft veränderlich, weil die Zeit es ist. Der Pfeiler, der in den Wellen steht, scheint sich hin- und herzubrechen, bloß weil sich diese brechen, oft an ihm selber. Warum findet man Ihn nicht darin Lessing gleich? Ein Vater und Schöpfer der Zeit wird sehr bald deren Zuchtmeister und Feind; indes ihr bloßer Sohn nur ihr Schüler und Schmeichler wird. – Bloß für Jugend oder Schwäche ründet sich die Gegenwart zu, ohne Bedarf einer Zukunft; aber ein Sieger und Gegenfüßler irgendeiner Gegenwart ist auch einer für jede. So glich der geliebte Geist den Schwanen, welche in der harten Jahreszeit die Wasser offen erhalten durch ihr Bewegen.

Noch hab' ich nicht das volleste Wort von Ihm gesagt, Jüngling. War Er kein Dichter – was Er zwar oft von sich selber glaubte, eben am homerischen und shakespeareschen Maßstab stehend, oder auch von sehr berühmten andern Leuten –, so war [451] Er bloß etwas Besseres, nämlich ein Gedicht, ein indisch-griechisches Epos, von irgendeinem reinsten Gott gemacht. Du verstehst die starke Rede. Sie ist wahr; und ich meinte Ihn vorhin sehr im Hin- und Hermalen der höchsten Poesie.

Aber wie soll ichs auseinandersetzen, da in der schönen Seele, eben wie in einem Gedichte, alles zusammenfloß und das Gute, das Wahre, das Schöne eine unteilbare Dreieinigkeit war? – Griechenland war Ihm das Höchste, und wie allgemein auch Sein episch-kosmopolitischer Geschmack lobte und anerkannte – sogar Seines Hamanns Stil –, so hing Er doch, zumal im Alter, wie ein vielgereister Odysseus nach der Rückkehr aus allen Blüten-Ländern, an der griechischen Heimat am innigsten. Er und Goethe allein (jeder nach seiner Weise) sind für uns die Wiederhersteller oder Winckelmanne des singenden Griechentums, dem alle Schwätzer voriger Jahrhunderte nicht die Philomelen-Zunge hatten lösen können.

Herder war gleichsam nach dem Leben griechisch gedichtet. Die Poesie war nicht etwa ein Horizont-Anhang ans Leben, wie man oft bei schlechtem Wetter am Gesichtkreise einen regenbogenfarbigen Wolken-Klumpen erblickt, sondern sie flog wie ein freier leichter Regenbogen glänzend über das dicke Leben als Himmelpforte. Daher kam Seine griechische Achtung für alle Leben-Stufen, Seine zurechtlegende epische Weise in allen Seinen Werken, welche als ein philosophisches Epos alle Zeiten, Formen, Völker, Geister mit der großen Hand eines Gottes unparteiisch vor das säkularische Auge (das Jahre nur am Jahrhundert ausmißt) und also auf die weiteste Bühne führt. Daher kam Sein griechischer Widerwille gegen jedes Überschlagen der Waage auf die eine oder die andere Seite; manche Sturm- und Folter-Gedichte 269 konnten Seine geistige Marter bis zur körperlichen treiben; Er wollte die Opfer der Dichtkunst nur so schön und unverletzt erblicken, als der Donner des Himmels die getroffnen Menschen läßt. Darum zog Er, wie ein griechisches Gedicht, um jede, auch schönste Empfindung, z.B. um die Rührung, oft [452] durch die Gewalt des Scherzes, früh die Grenze der Schönheit. Nur Menschen von flachen Empfindungen schwelgen in ihnen; die von tiefer fliehen ihre Allmacht und haben darum den Schein der Kälte. Eine große dichterische Seele wird leichter alles auf der Erde als glücklich; denn der Mensch hat etwas von der Lavatere, welche jahrelang jedem Winter trotz, aber zart wird und vergeht, sobald sie Blumen trägt. Freilich ist der Dichter ein ewiger Jüngling, und der Morgentau liegt durch seinen Lebentag hindurch; aber ohne Sonne sind die Tropfen trübe und kalt.

Wenige Geister waren auf die große Weise gelehrt wie Er. Die meisten verfolgen nur das Seltenste, Unbekannteste einer Wissenschaft; Er hingegen nahm nur die großen Ströme, aber aller Wissenschaften in sein himmelspiegelndes Meer auf, das ihnen aufgelöst seine Bewegung von Abend gegen Osten aufdrang. Viele werden von der Gelehrsamkeit umschlungen wie von einem austrocknenden Efeu, Er aber wie von einer Trauben-Rebe. – Überall das Entgegengesetzte organisch-dichtend sich anzueignen, war Sein Charakter; und um das trockne Kernhaus eines Lamberts zog Er eine süße Frucht-Hülle. So verknüpfte Er die kühnste Freiheit des Systems über Natur und Gott mit dem frömmsten Glauben, bis sogar an Ahnungen. So zeigt' Er die griechische Humanität, der Er den Namen wiedergab, in der zärtlichsten Achtung aller rein-menschlichen Verhältnisse und in einem Lutherischen Zorn gegen alle von Religionen oder Staat geheiligten Gifte derselben. So war Er ein Festungwerk voll Blumen, eine nordische Eiche, deren Äste Sinnpflanzen waren. Wie herrlich, unversöhnlich entbrannte Er gegen jede kriechende Brust, gegen Schlaffheit, Selbzwist, Unredlichkeit und poetische Schlamm-Weiche, so wie gegen deutsche kritische Roheit und gegen jeden Zepter in einer Tatze; und wie beschwor Er die Schlangen der Zeit! Aber wolltest du, Jüngling, die süßeste Stimme hören, so war es Seine in der Liebe, es sei gegen ein Kind oder ein Gedicht oder die Musik, oder in der Schonung gegen Schwache. Er glich Seinem Freunde Hamann, diesem Heros und Kinde zugleich, der wie ein elektrisierter Mensch im Dunkeln mit dem Heiligenschein um das Haupt sanft dasteht, bis eine Berührung den Blitz aus ihm zieht.

[453] Wenn Er Seinen Hamann als einen zürnenden Propheten, als einen dämonischen Geist schilderte, den Er sogar über sich stellte (wiewohl Hamann weniger griechisch und beweglich und leicht blühend und organisch-zergliedert war), und wenn man mit Schmerzen hörte, wie Ihm in dessen Grab Seine rechte Welt und Freundschaftinsel nachgesunken: so wurde man aus Seiner Sehnsucht innen, daß Er innerlich (nach einem höchsten Ideale) viel schärfer über die Zeit richte, als es äußerlich Seine Duldung und Allseitigkeit verriet; daher geht durch Seine Werke eine geheime, bald sokratische, bald horazische Ironie, die nur Seine Bekannten verstehen. Er wurde überhaupt wenig, nur im einzelnen anstatt im ganzen gewogen und erwogen; und erst auf der Demantwaage der Nachwelt wird es geschehen, auf welche die Kiesel nicht kommen werden, womit die rohen Stilistiker, die noch rohern Kantianer und rohe Poetiker Ihn halb steinigen, halb erleuchten 270 wollten.

Der gute Geist gab viel und litt viel. Zwei Reden von Ihm bleiben, obwohl andern unbedeutend, mir immer zur Betrachtung; die eine, daß Er einst an einem Sonntage mit wehmütigem Schmerz über die kahle kalte Zeit unter dem wie aus den alten Jahrhunderten herüberfließenden Tönen des nahen Kirchengeläutes sagte: Er wünsche, Er wäre im Mittelalter geboren worden – du mißverstehst gewiß dieses Wort am wenigsten –; die zweite, ganz andere Rede war, daß Er sich eine Geistererscheinung wünschte, und daß Er gar nichts von dem gewöhnlichen Geister-Schauder dabei empfände und ahnete. O die reine geister-verwandte Seele! Ihr war dies möglich – so dichterisch sie auch war und so sehr gerade eine solche am meisten erschaudert vor den langen stillen Schleiern, die hinter dem Tode wohnen und gehen –; denn sie war selber der Erde eine Geister-Erscheinung und vergaß nie ihr Reich; ihr Leben war die glänzende Ausnahme vom zuweilen befleckten genialen; sie opferte, wie die alten Priester, auch am Musenaltare nur weiß gekleidet.

Ich sage dir, Jüngling, Er kommt mir jetzo – so sehr auch sonst der Tod die Menschen in eine heilige Verklärung hineinhebt – [454] in Seiner Ferne und Höhe nicht glänzender vor als sonst hier unten neben mir; ich denke mir Ihn drüben hinter den Sternen gerade an Seinem rechten Orte und nur wenig verändert, die Schmerzen ausgenommen. Nun so feiere nur recht drüben dein Erntefest, du Reiner, du Geister-Freund; dein schwerer Ährenkranz erblühe dir auf deinem Haupte zur leichten Blumenkrone, du Sonnen-Blume, endlich auf deine Sonne versetzt!

In Seinem Nacht-Liede sagt Er zu Seinem schlafenden Körper:


Schlummre wohl indes, du träge Bürde
Meines Erdengangs. Ihren Erdenmantel
Deckt auf dich die Nacht, und ihre Lampen
Brennen über dir im heil'gen Zelte.

Sieh hinauf, Jüngling, zu dieser Sternennacht, jetzo steht sie anders, kälter über Seiner Hülle, die Todesnacht hat die große Blume geschlossen. Vergib, mein Mensch! Ach wer Ihn nur gelesen, hat Ihn kaum verloren; aber wer Ihn gekannt und geliebt, den kann nicht Seine Unsterblichkeit mehr trösten, sondern nur die menschliche. Gäb' es keine; ist alles hiesige Leben nur eine Abenddämmerung vor der Nacht, keine Morgendämmerung; wird der hohe Geist auch dem Körper nachgesenkt an Sargstricken in die Gruft: o so weiß ich nicht, warum wir es nicht am Grabe großer Menschen so wie die wilden und alten Völker machen, bloß aus Verzweiflung wie diese aus Hoffnung, daß wir uns ihnen, wie sie sich ihren Fürsten, geradezu in die Gruft nachwerfen, damit man nur auf einmal das unsinnige gewaltsame Herz erstickt, das durchaus für etwas Göttliches, Ewiges schlagen will.

Warum ists denn aber so tyrannisch-still um das große runde Erden-Grab? – Schweige, guter Jüngling! O ich weiß wohl, Er selber litte einen solchen Schmerz am wenigsten. Auf die glänzenden Frühling-Sterne würd' Er jetzo zeigen, über denen Er nun ist; auf die Nachtigallen würde er zu hören winken, die jetzo uns schlagen und nicht Ihm – Und Er wäre doch bewegter, als Erschiene – Jüngling, lebendiger Geist, warum ist es um den Tod so weit und breit herum so still?«

[455] »Ist nicht um den glühend-belebenden Gleicher Windstille?« (sagt' er) – »Wir wollen jetzo die große Seele miteinander lieben; und bewegt dich zuweilen Ihre Erinnerung zu schmerzlich, so wollen wir alles wieder lesen, wodurch Sie das Unsterbliche und das Göttliche und sich verkündigt hat!«

»Das geschehe, Geliebter, es möge nun die Trauer stillen oder auch vermehren.«

Ende
[456]

Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule

1. Programm. Über die Poesie überhaupt
§ 1. Poetische Nihilisten
§ 1
Poetische Nihilisten

Es kann sein – denn ich wills nicht ableugnen, da doch nach meiner letzten Abfahrt meine Briefe in Druck erscheinen –, daß ich darin Jünglingen und Dichterlingen den Rat gegeben, etwas zu lernen; nämlich so gut nach den Gesetzen der Großsultan außer dem Regieren noch ein Handwerk (nach Rousseau auch der Gelehrte eines): treiben soll, so möge ein junger Schreib- und Dichtkünstler neben dem Dichten noch Wissenschaften treiben, z.B. Sternkunde, Pflanzenkunde, Erdkunde u.s.w. Außer den klassischen Alten, welchen die Jahre und die Lebens-Erfahrungen so viel als uns die Bücher leisteten, und die auf einer reichen Unterlage des Wissens ihre dichterischen Gemälde auftrugen, hab' ich in den Briefen wahrscheinlich noch Goethen angeführt, der sich wirklich auf so viele Wissenschaften gelegt, als hab' er nie einen Vers gemacht. Sogar auf Satire und Humor dehnt' ich meine Sätze aus; denn ich habe die Abschrift eines Briefs mit der klaren Behauptung vor mir, daß beide ohne Gelehrsamkeit nicht ausreifen, wie denn Rabelais, Butler, Swift, Sterne viel gelehrter gewesen als Rabener und andere deutsche Scherztreiber.

Gern nehm' ich aber in der kleinen Vorschule diese auch in die große eingedrungne Meinung zurück, seitdem ich durch mehr als eine Erfahrung mich selber überzeugt, daß viele neuere Dichter wenig oder nichts gelernt, ausgenommen das Schaffen. In der Tat ist das Leere unerschöpflich, nicht das Volle, aus dem Luftmeer ist länger zu schöpfen als aus dem Wassermeer; und dies ist eben die rechte schriftstellerische Schöpfung aus nichts, nämlich aus sich, welche uns messenweise das Bücher-All von Romanen und Gedichten zur Verehrung der Schöpfer auftut. Dabei brauchen sie nicht einmal sechs Tagewerke der Schöpfung, sondern [459] nur einen Ruhetag, wodurch sie selber, wie nachher die Leser, von den geistigen Anstrengungen der Woche hinlänglich ausruhen.

Ich hoffe, wir haben mehr als einen Romanschreiber aufzuweisen, der, ohne andere Schätze in seinem Kopfe zu haben als seinen einfachen Wasserschatz, die mannigfaltigsten Formen von Geschichten und Gedichten für Ostern und für Michaelis zu geben weiß, so wie ein geschickter Wasserwerker sein Springwasser bald als Glocke, als Feuergarbe, ja alsTrinkgefäß aus den Röhren steigen läßt.

So nehme man doch ein Beispiel an Schriftstellerinnen, welche, viel unwissender als Schriftsteller, sich so auszeichnen und wie die Bienen, ohne einen Grund gelegt zu haben, ihr Gebäude sogleich oben anfangen und herabbauen. So ließ Lykurg nach Plutarch der Jugend nur wenig Nahrung zu, erstlich damit sie eifriger aufs Stehlen ausginge, und zweitens damit sie mehr ins Lange wüchse. Dies läßt sich geistig bedenken und verwenden; ein Dichter, der wenig liest, wird schon ein paar Bände mehr schreiben als ein anderer; und dann wird er, da er außer den Dichtern nichts anders studiert, diese am reinsten wiedergeben und am besten behalten, zum Mitteilen und Verarbeiten.

§ 2. Romanen-Musaik
§ 2
Romanen-Musaik

Ich sollt' es eigentlich gar nicht tun, daß ich mich über etwas so Mechanisches und Mattes ärgere, wenn ein Kotzebue oder gar noch mittelmäßigere Dichter einen Roman nach gegebenen, willkürlich-ausgestreuten Hauptwörtern hinmauern, die man ihnen wie Endreime zum Daranbauen vorgelegt. Wenigstens nicht vorher sagen sollten es uns die Schreiber, daß solche fremde Körper nicht sowohl wie Wachsperlen – die man in Perlenmuscheln einlegt zum Überzuge mit echter Perlenmaterie – als wie tote Tiere im Bienenstock zum Überzuge mit Wachs bei Schwierigkeit des Herausschaffens, – daß, sag' ich, fremde Wurzelworte das Geschichtliche, wie sonst dieses die Worte, erzeugt haben. Dem Gemüt [460] des Lesers wird durch die enthüllte Willkür jeder Anteil von Täuschung, womit man sogar das Märchen genießen will, entzogen. Aber die romantischen Musaiker glaubten ein oder ein paar Wunderwerke der Allmacht und Willkür verrichtet zu haben – und darum sagten sie die Sachen voraus –, wenn sie um einige abgesteckte Wort-Pfähle efeuartig hinkrochen und hinausliefen. Wahrlich der echte Dichter trifft überall nur Erdklöße und Rippen an, aber er behaucht sie, und Adams und Even werden daraus, indes der unechte das Lebendige wieder zu Erde macht und die Rippe zum Gerippe. – Wollt ihr aber lieber den Ruhm eines Seiltänzers als eines Opertänzers, so hebt aus jedem Kapitel irgendein Hauptwort als den hölzernen Zwirnstern heraus, um welchen ihr den historischen Faden nett gewickelt, und sagt bloß die einfache Lüge: hier stehen die Sterne, welche wir nicht ohne Kunst und Schweiß in unsern Geschichtknäul eingefaßt haben; aber uns belohnt schon der Genuß, den die Leser aus überwundnen Schwierigkeiten schöpfen.

Himmel! schreibt mit dem Fuße oder mit einem angesetzten Kunstarme: so gebt ihr auch eine überwundne Schwierigkeit. Ist denn nicht die ganze Kunst eine lange fort besiegte? Wozu noch neue zum Besiegen hinstellen? Wie kurz und seicht ist am Ende das Vergnügen des Lesers an dem Siege, wenn er ihn anders bemerkt; aber oft wird er weder Sieg noch Feind gewahr; und sollt' es auch nicht, weil der Triumph sich als eine Grazie verkleiden und sich verbergen soll. – Nur einer hat von der Sache einigen Genuß, der die Plage hat, der jedesmalige Überwinder.

Noch erbärmlicher fährt der Leser, und noch behaglicher fährt der Schreiber, wenn die poetische Musaik wie ein Setzer lieber zu Buchstaben greift anstatt zu Worten. Ein solcher Abcschütze – der nach Buchstaben zielt- findet seine Buchstabenrechnung dabei, entweder wenn er sie aufjagt, oder wenn er sie erlegt. Letztes geschieht, wenn man wie Brockes ein Gedicht ohne R schreibt als wäre man ein Sineser, der auch in der Prose keines hat, oder jener alte Epiker, der in jedem Gesange einen andern Buchstaben ausließ. Gibt es aber in der Welt ein bettelhafteres Gefühl und Vergnügen als das an einer Verneinung, an einem Buchstaben, [461] dessen Abwesenheit man nicht mehr bemerkt als an einer hebräischen Bibel die der Selblauter?

Die zweite Art, die positiven Abcdarier, suchen einen besondern Genuß zu gewähren – nämlich sich selber – durch die Anfangbuchstaben jeder Verszeile, welche, herabwärts gelesen, ein Wort vorstellen, z.B. den hohen Namen irgendeines Gönners. Möge dieser einen solchen abcdarischen Psalmisten belohnen! Ich geb' ihm keinen Pfennig für sein Abc der Anschauung unerquicklicher Mühen.

2. Programm. Stufenfolge poetischer Kräfte
§ 3. Allgemeine Ausgießung des heiligen Geistes der Poesie
§ 3
Allgemeine Ausgießung des heiligen Geistes der Poesie

Irgendeine Zeit lang hat jeder Mensch Poesie. Eigentlich ist ein Affekt schon eine kurze; und besonders ist die Liebe, wenigstens die erste, gleich der Malerei eine stumme Dichtkunst. So fängt denn das Leben, wie eine Schule und Kirche, mit Singen an; und später kommen die Schulübungen und Bußpredigten. Der Musensohn betritt später seine Amtstelle und sein Ehebett; dann singt er wie ein Nachtigallenmännchen, das sich nach der Begattung aus seinem Busche weniger als Flöte denn als Kröte hören läßt. Eine schöne, aber entgegengesetzte Erscheinung ist, daß große, aber vielseitige Kräfte, welche in der Jugend noch das Ägypten der Wirklichkeit bearbeiteten und bekämpften, im Alter auf den Höhen ihrer Gesetzgebung den Glanz der Dichtkunst warfen; so glänzte Lessings bejahrtes Angesicht in seinem Nathan und in seinem Faustkampfe gegen Theologen poetisch; in seinen jugendlichen Versuchen dichtete mehr die Prose. – Es gibt überhaupt Menschen, die ihre Jugend erst im Alter erleben.

Sobald der Jüngling nur nicht sein dichterisches Empfangen für Erzeugen hält und die geistigen Geschlechter verwechselt und mit einem eingebildeten in der Büchermesse erscheint: so ist nichts [462] zu tadeln, ja sogar wenn ers tut; sondern man erfreue sich, daß eben dem Jugendalter der Dichter, wie der hohe Tugendlehrer, die heiligsten Dienste tut, und daß beide viel heißer und mehr senkrecht in dasselbe eingreifen als in das Spätalter, auf welches ihre Strahlen schon seitwärts und schief auffallen mit geschwächter Wärme. Die selberschaffende Poesie verwelkt im Manne, aber genug, wenn sie früher den Boden für die Wurzeln jeder fremden aufgelockert hat.

3. Programm. Über das Genie
§ 4. Charakteristischer Unterschied zwischen ihm und seinen Nachahmern
§ 4
Charakteristischer Unterschied zwischen ihm und seinen Nachahmern

Nicht an dem höhern und reichern Wuchs von Gipfel und Zweigen ist der Genius am kennbarsten, sondern am Fremdartigen des ganzen Gewächses. Einzelne Kräfte, z.B. Phantasie, Witz und dergleichen, hat oft das Talent in ähnlicher Größe; aber andere sind schon mit ähnlicher dagewesen und erschienen; hingegen steht der Genius als Einsiedler auf seiner Säule. Da nun der Nachahmer – und dies ist sein Abzeichen – wohl einzelnen Kräften des Genius nach-, ja zuvorkommen kann, aber nicht der Originalität und Neuheit desselben – eine wiederholte Neuheit bliebe auch keine –, so glaubt der Nachahmer durch das Verstärken des Fremdartigen und Originellen selber als neu zu erscheinen und steigert die Superlative des Genies zu Super-Superlativen. Sein Echo will sich verbergen, indem es gegen die Echo-Natur noch stärker ist als der Urklang, den es wiederholt.

§ 5. Elegante Schriftsteller
§ 5
Elegante Schriftsteller

Schriftsteller wie Engel, Moses Mendelssohn, Weiße, Gellert glänzen und erfassen am meisten an ihrem Geburttage, Genies [463] mehr an ihrem Sterbetage, und die letzte Ölung wird ihre Taufe. Der Ruhm jener Schreiber mußte an dem Wuchse der Zeit einschrumpfen und verblühen, weil sie eben die Blüte der frühern und der gebildeten Welt waren, der sie sich nicht vor-, sondern nachgebildet hatten. Aber diese Welt wächset mit frischen Blüten bald über die alten hinaus. Der Genius hingegen, mehr Wurzel als Blüte der Zeit, stößt mehr die Gegenwart zurück und zieht die Zukunft an, da er nur sich selber, nicht die jetzo Gebildeten darstellt. Selber über die künftigen, die er sich nacherzieht, lebt er mit einer Eigentümlichkeit hinaus, welche, nicht in die allgemeine Bildung übergehend, ihn neu allen Zeiten aufbewahrt. Genies wie Hamann, Herder u.s.f. sind dem Zibet und Moschus ähnlich, deren zu starker Geruch sich erst durch die Zeit zum Wohlduft mildert. – Die eleganten Schriftsteller geben nach ihrem Tode die Ordenzeichen wieder der Zeit zurück, die sie damit ausgestattet hatte.

In neuerer Zeit hat man den guten Mittelweg eingeschlagen, die Schriftsteller, die man nicht Genies zu taufen wagt, wenigstens genial zu nennen; so hat man den genialen Clauren, Müllner u.s.w., wie man die Findelkinder in Spanien adelige heißt während man sie im Mittelalter Pfaffenkinder betitelte.

4. Programm. Über die griechische Kunst
§ 6. Die Nachahmer der Griechenkunst
§ 6
Die Nachahmer der Griechenkunst

Gegen die Ruhe der alten Künstler – auch im Leben – welche unmoralische Unruhe und Leidenschaftlichkeit der neuern, wie im Leben, so im Schreiben! Die alten Dichter, als Lehrer und Schüler der Weisheit, sind Paradiesvögel mit langem schimmern den Gefieder, in das kein aufblasender Sturm unter dem Fliegen zum Forttreiben wehen darf; die jungen neuern sind Täucher und Sumpfvögel, in zwei Elementen unruhig auf-und niederfahrend [464] und so leicht zum Schlamm hinab als in das Blau hinauf. – Schöne Geister sind selten schöne Seelen.

Man hat nun zweierlei Nachahmungen der Griechen. Die erste glänzt in den Gedichten, welche die griechische Einfachheit und Schmucklosigkeit, ihre poetischen Blumen, ähnlich den grünen Blumen als den seltensten, dadurch zu uns herüberzupflanzen suchen, daß sie uns grünes Gras – immer die nämlich Farbe schenken. So stempelt man denn einheimische Armut zu ausländischem Reichtum.

Eine zweite Nachahmung läßt sich in Versen und in Prose zustande bringen, wenn man ganze Stücke und Phrasen aus dem Altertum holt und damit Stil und Vers behängt und ausschmückt, so wie etwan die Indier auf den Marquesas-Inseln (nach Marchand) sich ganze europäische Werkzeuge als Putzwerk anziehen und z.B. Balbierbecken als Ringkragen und Ladstöcke als Ohrgehenke tragen.

Dann hat man noch die dritte und vierte Nachahmung, die ich aber die umgekehrte nennen kann, welche teils in der Form, teils im Stoffe, gleichsam Worten und Werken, besteht. Die umgekehrte in Form oder Worten wird dadurch vollendet, daß ein Rektor, ein Konrektor, ein Professor der alten Sprachen, kurz ein Humanist, in Hinsicht auf Sprachreinheit, Rundung und Zierde gerade von der alten, die er täglich liest und lesen läßt, das Widerspiel nachahmt in seiner deutschen Prose und sozusagen schlecht deutsch schreibt, so daß ein solcher Fisch, der jahrelang in attischem Salz schwelgte, sich gleichwohl damit so wenig sättigt als ein Hering, der, sein Leben im Meerwasser zubringend, doch ungesalzen ans Land gezogen wird. – Wider Erwarten schreiben die Sprachgelehrten Voß und Jacobs ein Musterdeutsch; aber ihr eigner Dichtergeist gibt ihnen die Prose ein.

Die vierte, aber umgekehrte Nachahmung betrifft den Stoff oder Geist der Alten, insofern er sich in Werken ausspricht. Der umkehrende Nachahmer und Humanist handelt nun im gemeinen Leben, wenn von Amtbewerbungen und Amtertragen und Patronen und gehaltvoller Selbererniedrigung die Rede ist, mehr wie es einem heutigen Deutschen zusteht als wie einem alten [465] Griechen oder Römer, dessen Lebenbeschreibung – obwohl nicht dessen Leben – er im Plutarch gern nachahmt.

Ich weiß nicht, was nach den zwei ersten Nachahmungen der Alten wichtiger ist, besonders für den Staat, als die beiden umkehrenden, durch welche erst jene den wahren, rechten Wert gewinnen. Denn es ist mit dem Geiste der Alten, mit ihrem Freiheitgeiste und sonstigen Geiste, wie mit dem Quecksilber, bei welchem der Arzt die erste große Mühe hat, es in den lustsiechen Körper zum Reinigen hineinzubringen, und dann die zweite, noch größere, dasselbe zur Nachkur wieder aus ihm hinauszutreiben. Ebenso ist es nicht genug, den Gelehrten und der Jugend die Alten gegen die Unwissenheit beigebracht zu haben, sondern nun muß noch die Nachkur des Staats dazukommen, die das mit unserer Konstitution unverträgliche Glanzgift wieder herausnötigt. Und auf eine gewisse Weise mag wohl die Ähnlichkeit mit dem Quecksilber fortdauern, daß man, wie Ärzte tun, durch Auflegung von Goldblättchen und Eingebung von Goldpillen den Körper am glücklichsten vom Merkurius befreiet.

5. Programm. Über die romantische Dichtkunst
§ 7. Das Romantische außerhalb der Poesie
§ 7
Das Romantische außerhalb der Poesie

Jede Dichtart hat unter den Körpern ihre Ebenbilder, die uns anregen. So ist z.B. die Musik romantische Poesie durch das Ohr. Diese als das Schöne ohne Begrenzung wird weniger von dem Auge vorgespiegelt, dessen Grenzen sich nicht so unbestimmbar wie die eines sterbenden Tons verlieren. Keine Farbe ist so romantisch als ein Ton, schon weil man nur bei dem Sterben des letztern, nicht der erstern gegenwärtig ist, und weil ein Ton nie allein, sondern immer dreifaltig tönt, gleichsam die Romantik der Zukunft und der Vergangenheit mit der Gegenwart verschmelzend. Daher ruft unter den geschlagnen Instrumenten die Glocke [466] am meisten die romantischen Geister herbei, weil ihr Ton am längsten lebt und stirbt; dann kommt die Harmonika unter den gestrichnen, und darauf unter den geblasenen das Waldhorn und die Orgel; und bei dieser wieder ziehen uns die Töne des Pedals tiefer ins romantische Abendreich hinein als die Töne des Diskants.

Dem Auge erscheint das Schöne ohne Begrenzung am meisten als Mondschein, dieses wunderbare, weder dem Erhabnen, noch dem Schönen verwandte Geisterlicht, das uns mit schmerzlicher Sehnsucht durchdringt, gleichsam die Morgendämmerung einer Ewigkeit, die auf der Erde niemals aufgehen kann. So ist ferner die Abendröte romantisch, das Morgenrot aber erhaben oder schön, und beide sind Fahnen der Zukunft; aber jene verkündigt eine fernste, dieses eine nächste. So ist eine grenzenlose grüne Ebene romantisch wie ein fernes Gebirg; ein nahes aber und die Wüste sind erhaben.

Das Reich des Romantischen teilt sich eigentlich in das Morgenreich des Auges und in das Abendreich des Ohrs und gleicht darin seinem Verwandten, dem Traum. Unsere verschiedenen Sinne greifen ganz verschieden in unsere Beglückung ein. Die beiden obersten, Auge und Ohr, können uns nur kleine Schmerzen geben, aber große Freuden zuführen; denn was ist alles Leiden durch eine Mißfarbe und Zerrmalerei gegen das Freudenreich in einer Bildergalerie, oder was sind Mißtonstiche gegen die Himmelleiter der Tonleiter, auf der wir einen neuen Himmel und eine neue Erde ersteigen! – Indes das Überwiegen beider Sinne in Zahl und Stärke der Gaben über Zahl und Stärke ihrer Qualen haben wir zum Teil der Phantasie zu danken, welche in die Schöpfungen des körperlichen Sinnes sogleich die ihrigen einmischt und sie damit fortsetzt. – Der Geruch, als Mittelstand zwischen den höhern und tiefern Sinnen, kann ebenso stark und oft verletzen als ergötzen. Der Geschmack, der bloß dem Körper hingegeben ist, und dem statt des Geistes noch der Magen mithilft und den Ekel zumischt, kann allein schon vermittelst des Ekels noch außer seinen Teufelsdrecken dem Genusse mehr nehmen als aus allen seinen Konditoreien reichen. – Unter allen aber ist [467] der niedrigste und doch breiteste Sinn, das Gefühl, der wahre Marterkittel und das Härenkleid des Leibes und Lebens, und dünn und schwach legt er das bißchen Freudenhonig auf die von ihm gegrabne Wundenreihe auf Bei diesem Tiersinne läßt der Körper am wenigsten die Phantasie oder Seele als Mitarbeiterin zu; daher denn in den Traum – diese Kinderstube oder dieser infantum limbus der Phantasie – nur die höhern Sinne, Auge und Ohr, ihre verklärten Zöglinge schicken, aber nur unkenntlich und selten die tiefern Sinne ihre rohern Geburten.

Die romantische Poesie wird folglich von Auge und Ohr bevölkert. Indes wird ihr Himmel mit seinem Blau doch eine schwächere Farbe tragen als ihre Hölle mit ihrem Gelb; denn jener ist voll Sehnsucht, weil er die Seligkeit an tiefe Fernen malt, und diese enthält die kalten Geisterschauer, welche hinter den hellen Freuden unten am Horizonte von etwas Wolkigen heraufwehen, das unter ihm sich ungemessen versenkt.

6. Programm. Über das Lächerliche
§ 8. Gefahren des Stoff-Überflusses
§ 8
Gefahren des Stoff-Überflusses

Eigentlich laufen die Dichter diese Gefahren bei dem Überfließen auch jedes andern Stoffs, des tragischen, des lyrischen u.s.w. Um in dem Stoffe selber zu schwelgen, fassen und ziehen sie ihn in recht viele und weite Formen und bereichern ihn noch, wie ein Nachahmer den seines Originals; drehen ihn zum Vorweisen auf alle Seiten vor, indes ein Stern sich nur von einer Seite zu zeigen braucht, um zu glänzen. Allein je lächerlicher eine Geschichte, eine Handlung ist, desto ernster, kälter und mit desto weniger Folie von Anspielungen werde sie gegeben. Eine stoffärmere verträgt dagegen eine desto breitere Einfassung von Witz-Arabesken. So werde im Tragischen, wie vom Maler jener Trauervater, eine blutige Welt voll Jammer bloß mit einem Trauerschleier [468] bedeckt, und – sie ist gezeigt; der Jammer darunter schreit ungesehen. – Besonders wird die ruhige Haltung der Ironie, welche wie der Zitteraal die stärksten Schläge bloß still ohne sichtbare Bewegung geben soll, durch den Zudrang komischer Fülle verrückt, und das Gefühl der letzten wird leicht vorlaut, daher ein Übermaß komischer Ungereimtheiten, wie z.B. einiger Mönchordenregeln von grenzenloser Obedienz und Ignoranz, welche schon selber ihre eigne parodische und ironische Übertreibung sind, besser mit der Begeisterung des Humors als mit der kalten Logik der Ironie behandelt. – Vielleicht erklärt sich aus diesem 8ten Paragraphen, warum Hogarth gerade zu dem komustrunknen Hudibras und Tristram Shandy nicht die gelungensten Zeichnungen, sondern fast Karikaturen seiner Karikaturen lieferte.

7. Programm. Über die humoristische Dichtkunst
§ 9. Wert des Humors
§ 9
Wert des Humors

Er ist die eigentliche Poesie des Komus; Laune, Satire, zum Teil Komödie sind mehr die Prose desselben. Der Humor ist ein Geist, der das Ganze durchzieht und unsichtbar beseelt, der also nicht einzelne Glieder vordrängt, mithin nicht stellenweise mit den Fingern zu zeigen ist. Er gewährt als echte Dichtkunst dem Menschen Freilassung und läßt, wie die tragische die Wunden, so die Sommersprossen und Lenz-, Herbst-und Wintersprossen unserer geistigen Jahrzeiten leicht vor uns erscheinen und entfliehen. Nach dem Weglegen eines humoristischen Buchs haßt man weder die Welt, noch sogar sich. Die Kinder fassen das Lächerliche auf, ohne zu hassen oder zu verachten, ja ohne weniger liebzuhaben. Der Humor läßt uns werden wie die Kinder. Daher kann man keine Sammlung von Epigrammen und Satiren, aber wohl gleich Wieland einen Tristram Shandy – wie ich in [469] seiner Bibliothek selber gesehen – bis zum Abgreifen eines Buchstabierbuchs wiederlesen. Den Witz und den komischen Einfall erschöpft und entladet, wie den zickzackigen Blitz, der erste Schlag; aber der Humor ist ein still spielendes unschuldiges Wetterleuchten, nicht über unserm Haupte, sondern am fernen Horizonte, das schöne Tage verkündigt.

Nach Shaekespeare hat unter allen Briten keiner die Nebel und Kohlendämpfe seines Landes so leicht durchflogen und von sich weggeblasen als Sterne, welcher eben darum durch sein echt poetisches und freies Gemüt, durch seine Heiterkeit, Leichtigkeit bis zu Nachlässigkeiten und durch seine Gabe der Rührung und Naturkunst wieder unter allen Briten sich unserem Goethe, obwohl in einer andern poetischen Luftschicht, am gleichförmigsten bewegt. Am unähnlichsten aber war er eben seinen Landsleuten selber, so lebensfroh lachte und spielte er nicht bloß auf dem Druckpapier – z.B. in seinen Reisen durch Frankreich –, sondern auch auf dem englischen Boden als Mensch, der gar als lebendiger Gegen-Anglizismus immer Gesellschaft haben und immer Gespräche führen wollte.

§ 10. Humor des Selbstgesprächs
§ 10
Humor des Selbstgesprächs

Ich finde den neuern Humor bei den Alten am meisten in ihren komischen Selbgesprächen, z.B. besonders bei Plautus in der Sklaven ihren, so bei Aristophanes z.B. in denen des Strepsiades in den Wolken. Das nämliche gilt ohnehin von den komischen Monologen der Neuern. z.B. im Don Quixote, in Shakespeare, sogar im Figaro. Der Grund davon ist der lyrische Geist, der aus den Humoristen spricht; dieser wirft sie immer auf das eigne Ich als den Hohlspiegel der Welt zurück.

[470]
8. Programm. Über den epischen, dramatischen und lyrischen Humor
§ 11. Ein Hülfmittel zur reinern Ironie
§ 11
Ein Hülfmittel zur reinern Ironie

Man gebe mir ironische Stellen von Lessing, von Wieland, sogar von Lichtenbergs Timorus: ich will allen hie und da ein Vordringen und Durchschimmern des Lachgesichtes durch die dünne Maske der Ironie nachweisen; so wie man etwa im 15ten Jahrhundert die Schuhe über den Zehen durchschnitt, um an diesen die Ringe zu zeigen. Selten verdient Liscov eine solche Rüge 271; aber niemals der ironische Alleinherr Swift, ja nicht einmal die Gesellen dieses Altmeisters, ein Arbuthnot, Addison, Steele.

So sehr verlangt die Ironie schon von der Seite ihrer rhetorischen Darstellung bei aller humoristischen warmen Begeisterung einen solchen Gegenfrost der Sprache, daß das Ansichhalten, das nur den Gegenstand allein erscheinen läßt, sogar lieber abgenützte als kühne Wendungen der Sprache und lieber Weite als Kürze, mit welcher Klopstock in der Ge lehrten-Republik sündigte, und fast für jede Zeile eine wiederholte Anstrengung gebietet.

Gleichwohl gibt es einen Fall, wo eben dem Schriftsteller eine reine Ironie mit weniger Mühe gelingt, nämlich wenn er sie nicht in seinem Namen, sondern durch einen fremden Charakter ausspricht. So hat z.B. Wieland die Geschichte der Abderiten ohne echt-ironische Darstellung überall da gegeben, wo er selber loben will; aber desto richtiger spricht er, wenn er die beiden Sykophanten über den Eselschatten reden läßt. Sogar der Meister Cervantes ironisiert in seiner Vorrede zum Don Quixote nicht so [471] unverfälscht als dieser in seinen Selbgesprächen. Die Ursache ist überall diese: preiset der ironische Dichter in seinem eignen Namen: so schwebt ihm der Kontrast zwischen seiner objektiven Darstellung und zwischen subjektiver Ansicht erschwerend vor; leiht er hingegen die ganze Ironie nur der Zunge eines fremden Charakters: so hat sein eigner so wenig eine Subjektivität bei dem ironischen Lobe zu überwinden als bei der Darstellung irgendeiner unsittlichen, ihm ganz entgegengesetzten. – Hingegen in entgegengesetzten Verhältnissen, wo der Dichter den Charakteren lyrische Aussprüche zu geben hat, die seinen eignen aussprechen, wird er sie am besten reden, weinen, zürnen lassen, wenn er sich nicht in ihre Lage versetzt, sondern in seine eigne, wofern er in ähnlicher gewesen, und wenn er sich vorspiegelt, er habe hier in seinem Namen sein Glück oder Unglück vorzumalen.

9. Programm. Über den Witz
§ 12. Das deutsche Gesetz der Sparsamkeit mit Witz
§ 12
Das deutsche Gesetz der Sparsamkeit mit Witz

Der Witz hat doch den Wert eines Funken, wenn auch keines Lichts; er verschönert doch eine Minute, wenn er auch kein Leben erleuchtet oder erwärmt, und er braucht eben nicht wie Bilder und Systeme erst von der Wahrheit oder auch von Zusammenhang und Nachbarschaft den Gehalt zu holen. Oder sollen keine Feuerwerke, nur Werkfeuer und Wärmfeuer zum Dienste der Hand und der Haut zu haben sein? Ja, sagt der Deutsche; denn an den Feuerwerken des Witzes kann ich nichts schmieden, nichts braten, nichts härten, noch schmelzen. Aber er bedenke drei Minuten lang, daß der Witz zu allen Dingen nütze ist als Abbreviator und Epitomator des Verstandes, besonders da, wo dieser eben allein zu reden hat. Daher sucht und zeigt den Witz der Franzose, der Brite in Rezensionen, in öffentlichen Reden, Zeitungen. Da vor schaudern Deutsche; ja nicht einmal ihren an sich zu langweiligen [472] Selberrettungen und Antikritiken, wo man sich und den andern ärgern will, nehmen sie durch Witz das Kalte und durch Essigräucherung den Leichengeruch solcher Geburten. Sie häufen lieber Phantasie am unrechten Orte als Witz am rechten, lieber Bilder als Salz, obgleich Bilder durch ihren leichtern und häufigern Fund weniger reizen als Salz. – Doch einigen zeigen sie im heutigen Trauerspiel, wo er an seinem rechten Platze – daher sie ihn im Lustspiele nicht anbringen – steht, wenn die Tragödie jene in den Schlegelschen Zeiten gefoderte Höhe eines Kunstwerks erreichen will, den Menschen keine Tränen auszupressen, sondern sie aufs Trockne zu bringen, diese Kunstvollkommenheit des Branntweins, welcher angezündet verbrennen muß, ohne einen Tropfen Wasser zu geben.

In den öffentlichen Reden und Verhandlungen der Briten und Franzosen wohnt allerdings mehr Witz als in den deutschen, wo gar keiner vorkommt, von Frankfurt an bis nach Wien; aber wie leicht ist dies zu erklären schon durch die Kürze beider Sprachen, der englischen, die als Miterbin der kurzen lateinischen sogar noch durch Aussprache abkürzt, und der französischen, welche ihrer Stiefmutter, der lateinischen, mit Feder und Zunge zugleich ins Kurze schneidet. Hingegen die deutsche macht alles lang und des Ebenmaßes wegen breit, lang in Wörtern und breit in Worten. Daher ist es denn ebenso erklärlich, als erfreulich, daß die deutschen Staatmänner von Frankfurt bis Wien statt des Witzes eine Länge und Breite der Mitteilung auf ihren Lippen haben, daß sie mit diesen wohl sich den nordwestlichen Amerikanern 272 vergleichen können, die in der Unterlippe einen großen Holzlöffel oder auch Holzteller hangen haben. Mit diesem Löffel und auf diesem Teller tischen sie uns Deutschen auf.

§ 13. Die Rezensenten des IX. Programms
§ 13
Die Rezensenten des IX. Programms

Der Verfasser desselben glaubte in diesem Programm ordentlich etwas Erstes und Erschöpfendes über die Witzarten vorgebracht [473] zu haben; aber kein Rezensent dachte daran, es zu glauben oder zu leugnen, sondern ließ die Sache vorübergehen. Nur einer merkte an, dergleichen schicke sich bloß in eine Rhetorik. Können die Leser nicht, denken sie, ihre Fische, wie die armen Ufer-Schotten die ihrigen, ganz ohne Salz genießen, besonders faule, die man selber macht?

10. Programm. Der Charaktere
§ 14. Ihre Seltenheit
§ 14
Ihre Seltenheit

Es gibt allerdings noch einen und den andern Roman-und Lustspieldichter, der an seinem Genie den hungrigen Hund des Porträtmalers Huber besitzt, welcher hinter seinem Rücken dem Tiere eine Scheibe Brot so vorzuhalten wußte, daß es aus ihr so viel herausfraß, bis ein Menschenprofil davon übrig blieb – das Brot war der Marmorblock, und die Zähne der Meißel und Hammer – und dabei sah sich Huber gar nicht einmal um. Solcher Hunde laufen jetzo nicht viele über die Bühne. Wen der Schreiber eigentlich charakterisiert und trifft, ist bloß er selber. Die Tor und Polizeifrage: »Ihr werter Charakter?« beantworten seine Theaterleute schon auf dem Komödienzettel; denn auf dem Theater selber machen bloß die Kleider die Leute und – was noch mehr ist – die Späße derselben, weil Kleiderwechsel ohne Mühe dem Lustspiele den anmutigsten Wortwechsel und Ringwechsel zuspielt. – In Romanen hat man zur Charakterisierung nicht einmal die Kosten der Kleidung aufzuwenden nötig, sondern die gedruckten Namen sind mehr als hinlänglich zu einem unaustilgbaren Charakter (character indelebilis) jeder Person. Nur wenige Meister treiben es bis zur Vollkommenheit, daß sie den Charakter nicht durch einen bloßen Titel oder Namen, vielmehr durch eine abstrakte Eigenschaft, die sie ihm statt seiner gaben, zu malen suchten, so daß z.B. der eine nur ein lebendiger Geiz ist ohne [474] weitere menschliche Zutat, der andere nur eine lebendige Rangsucht u.s.w., was alles bloß im Leben, aber nicht auf dem Druckpapier und Theater unmöglich ist. Im Trauerspiele würd' ichs so machen – und ich wüßte nicht, wer es anders machte –, daß ich entweder den teuflischen oder den englischen Charakter – mehre als diese beiden Charaktere sind in der Tragödie nicht wohl gedenklich – mit einzelnen glänzenden Sentenzen, die ich ihm anheftete, so bestimmt andeutete, als nur immer die Sternbilder der Jungfrau, des Löwen, des Skorpions und Wassermanus durch die Sterne sein können, welche eine solche überirdische Person von weiten zusammensetzen.

11. Programm. Geschichtfabel des Drama und Epos
§ 15. Unser Segen an Trauerspielen
§ 15
Unser Segen an Trauerspielen

Das Ende des vorigen Programms und Paragraphen ist ein guter Anfang des gegenwärtigen. Selten erbricht der Verfasser dies ein dickes Post-Paket, ohne die Furcht und das Mitleid mit sich selber zu haben, daß wieder eine Tragödie herausfahren werde, die ihm beide nach Aristoteles reinigen will; und hat er endlich die papiernen Wickelkissen sämtlich aufgemacht, so steht wirklich Melpomene mit dem Dolche da und will ihn damit reinigen. Gewöhnlich schickt ein Jüngling die Muse. Warum macht nun ein deutscher am leichtesten, was nach Aristoteles gerade am schwersten ist? Erstlich eben deshalb und läßt weit den Äschylus hinter sich, der erst im 40ten Jahre, und den Euripides, der im 43ten etwas gab; und zweitens, weil seine Fiebernatur zwischen Sied- und Gefrierpunkt als zwei Punkten seiner Lebensellipse zu springen nötigt. Er will gern sein gärendes Leben und seine hinaus arbeitenden Kräfte in einem Nu, durch eine Tat, also durch ein Höchstes lüften; daher seine Neigung zu Krieg, Zweikampf, Renommisterei und – Poesie. Das Trauerspiel sieht nun der Jüngling [475] für eine Sammlung von Oden und Elegien an, welche alle die lyrischen Empfindungen, womit ihn die Jugendzeit überfüllt, geräumig aufnimmt. Er glaubt aber, was er recht lebendig in sich fühlt, das trete schon von selber mit Sprache in die Welt hinaus und rede draußen so laut wie innen. Nur ists nicht völlig wahr. Der Empfindung ist nicht die Form angeboren, so wie nicht der Form die Empfindung. Ein paar hundert Dichterjünglinge gleichen daher mit ihren poetischen Empfindungen den Drohnen, welche so gut wie die Bienen Honig saugen und in der Honigblase bewahren; da sie aber keine Wachszellen bauen können, verdauen sie den Honig selber.

Noch etwas zieht den Dolch der Melpomene aus der Scheide die politische wolkenvolle Zeit, durch deren Himmel Morgenrot, Hagel-, Heuschreckenwolken, Donnerwolken, Wolkenbrüche und Regenbogen gingen, bis auf ein Abendrot der Hoffnung, das noch daran steht, obwohl etwas ergrauend. Der Krieg, dieses Trauerspiel mit Chören aus Völkern, spiegelte sich im Jünglings-Geiste als ein Trauerspiel, wurde ein blutrotes Glas, durch welches er die Welt ansah und abmalte für die Bühne; und er schuf sich ein dichterisches Walhalla, wo die Helden Wunden schlugen und bekamen, die sich jeden Abend schlossen mit dem – Theater.

Der Verfasser dies gab weiter oben zu verstehen, er fürchte sich, ein Trauerspiel zu entsiegeln, gleichsam einen Brief zu erbrechen, der auf ihn schießt, geöffnet. Denn freilich wär' ihm ein frankiertes Lustspiel von der Post lieber in seinen alten Tagen, da das Alter lieber im Sokkus als auf dem Kothurnus geht. Man wünschte gern nach den Lebens-Aschermittwochen voll tragischer Grab-Asche und Buße so etwas Fastnachtzeit; aber anders als im Leben fällt in der Jünglings-Poesie der tragische Aschermittwoch früher als die Fastnacht. Indes fängt immer – dieses bringe man auch in die Rechnung – ein Jüngling besser mit einem Dichtwerke an, das strenge Form verlangt, als mit einem, das die weiteste verträgt, besser mit dem Trauerspiel, das wie Saturns Bildsäule zwar nicht gebundne Flügel, aber gebundne Füße hat, als mit dem Roman, der gewöhnlich wie Käfer nur winzige Florflügel und breite Flügeldecken zeigt.

[476]
§ 16. Über die Rührung
§ 16

Über die Rührung


Rührung ist nur Mitleiden bei einem fremden Schmerze. »Aber«, sagt der scharfsinnige Herbart, »an sich ist ja das Mitleiden nichts als eine Verdoppelung der Leiden, indem die fremden auch zu meinen werden.« Allein es gibt nur ein Mitleiden, hingegen vielartige Leiden; und in jenem kommt nicht der fremde Schmerz in Gestalt eines eignen vor. Vergißt man denn immer, daß jede moralische Vollkommenheit und Unvollkommenheit des andern von uns mit einer ganz ändern Empfindung wahrgenommen wird als von ihm selber – folglich auch sein Schmerz, so wie seine Lust –, so daß man z.B. nur den andern, nicht sich lieben oder hassen, aber nie das trunkne, erquickende Gefühl der Liebe für einen andern als fremden Wert empfinden kann, so wie das abstoßende des Hasses? – So erregt denn auch der fremde Seelenschmerz (jeder leibliche wird ja geistiger) die ganz eigne, der Liebe verwandte Empfindung des Mitleidens, die sich aus der Liebe für den Gegenstand und aus der Vorstellung von dessen Unglück zusammenmischt. Diese allein hingegen ohne Liebe würde nur die Empfindung der fremden Strafe oder auch der Rachsucht geben. Gegen sich selber aber kann der Mensch aus Mangel einer Liebe gegen sich kein Mitleiden empfinden, und folglich keine Rührung durch eigne Schmerzen – ausgenommen wenn er, in der Täuschung und Überwältigung des Gefühls sich selber entrückt, sich für eine fremde Person ansieht und als solche beweint. Nur über andere, nicht über sich kann das heiligende Taufwasser der Träne fließen; und sogar mit der Trauerträne weinen wir nicht über uns, sondern um den toten Geliebten, welchem die Phantasie und die sinnliche Gegenwart trotz allem Glauben an sein besseres Leben ein zerstörtes, entbehrendes leihen, das vollends durch die von seiner Abwesenheit gesteigerte Liebe uns noch heftiger verwundet.

Die Träne selber übrigens ist nur der körperliche Nilmesser des Austretens irgendeines Gefühls, der Tautropfe des Danks, das Haderwasser des Grimms, die Libation der Freude, – kurz [477] ihre Tropfen bilden den Regenbogen aus allen Farben der Empfindungen.

Wie bringt nun der Dichter die Rührung, dieses Mitleiden mit einem fremden Schmerze, im Leser hervor? Es ist viel schwieriger, als man annimmt; der Mann wird leichter lachen als weinen, ja sogar leichter sich erheben, da die Größen des All ihm das Gefühl des Erhabenen gewaltsam aufdringen. Horazens Regel: »Weine, wenn ich weinen soll«, widerspricht, falsch verstanden, der andern Regel: »Der Dichter lache nicht vor, wenn der Leser nachlachen soll.« Wir haben aus jenen weinerlichen Zeiten, wo jedes Herz eine Herzwassersucht haben sollte, ganze nasse Bände, worin wie vor schlechtem Wetter Phöbus in einem fort Wasser zieht, uns aber damit nur desto mehr austrocknet. Woran nun liegts? Daran, daß der Schriftsteller sein Mitleiden und nicht das fremde Leiden darstellt und durch jenes dieses malen wollte, anstatt umgekehrt. Daher erstreckt sich das Reich der Rührung am meisten über die tragische Bühne, welche bloß das Unglück und den Schmerz langsam entwickelt, das Mitleiden aber, das sonst der Schriftsteller auszusprechen sucht, dem Zuschauer anheimstellt. Ein Meister in andern Darstellungen gebe mir hier das Muster einer mißlungensten, nämlich Thümmel. Eine Wahnsinnige im Irrenhause 273, körperlich und geistig von hoher Bildung, verflucht den treulosen Geliebten, dessen Pfand der unglücklichsten Liebe sie unter ihrem jammervoll pochenden Herzen trägt, das aber nach den Versicherungen des Arztes sich in der Stunde der Entbindung beruhigen und herstellen wird – – für diese Unglückliche will er uns Rührung mitteilen durch folgendes Mitleiden, das der Weltmann mit ihr hat: sein Herz war zusammengedrückt wie ein blutiger Schwamm (S. 61) – ihr Auge begegnete dem Tränenstrom des seinigen (S. 62) – der Tenor ihrer Klagstimme ergriff sein totbanges Herz (S. 63) – die Szene faßte sein sträubendes Haar mit unwiderstehlicher Gewalt und lähmte seine Glieder (S. 72) – drohte sein armes Herz zu zerreiben, die Gewalt des Jammers hatte ihn unwissend zu Boden geworfen, kniend flehte er Gott um Linderung (S. 73) – seine zerbeizten Augen [478] starrten vor sich (S. 76) – und die Stille, die nach einem solchen Aufruhr sein Gehör überfiel, erleichterte sein blutendes Herz, um es desto heftigern Nachwehen preiszugeben (S. 77) – suchte er ein zweites Schnupftuch, denn das gebrauchte war ganz durchnäßt von Tränen (S. 88). –

Ein solches, ohnehin für einen Mann und Weltmann übertreibendes Mitleiden erkältet durch seine Künstelei auch die wenigen Seiten, wo der Schmerz die Seele erwärmt hatte. Himmel! wie weiß der Großmeister der Rührung wie der Laune, Sterne, die Träne zu rufen, ohne seine Stimme einzumischen, indem er bloß das wundenvolle blutende Wesen entschleiert! Er läßt z.B. die Geschichte der wahnsinnigen Maria, die ihren Jammer bloß auf der Flöte vor der heiligen Jungfrau aussprach, von dem Postillon mit halben Winken geben; dann ging er zu ihr und ihrer Ziege, und endlich erzählte sie ihm – wieder auf der Flöte – »eine solche Geschichte des Jammers, daß er aufstand und mit schwankenden Schritten langsam nach seinem Wagen ging« (Tristram Shandy, Vol. 9. ch. 24). – Und so wenig oberflächlich, sondern so bis in die feste Tiefe hinein bewegt er das Herz, daß, wie in Mariens Geschichte, sogar neben den scherzhaften Wendungen die Rührung besteht, ja wächst, und neben der Träne des Lachens die des Mitleidens fortfließt.

Nicht das ausgesprochne Mitleiden des Malers kann rühren, denn dieses ist eines und dasselbe für den vielgestaltigen Schmerz, der wie der indische Chrishna auf der Erde in tausend Menschwerdungen erscheint, und gibt der Anschauung nur abstrakte Zeichen der Empfindung, nur Worte; sondern die Ursache des Mitleidens vermag es, die den fremden Schmerz, zergliedert in seine auseinander- und aufeinanderfolgenden Gestalten, dem Auge vorüberführt. Dieses sich selber motivierende Zeit- und Raum Aufeinander der Wunden überwältigt unser Herz siegreich, ohne einen einzigen vorlauten Seufzer des Malers, ja des Gegenstandes, am meisten auf der tragischen Bühne; und Schillers Muse stand auf ihr als ein Taufengel mit Tränenweihwasser, als Thekla mit ruhig gehaltener Gebärde das Sterben ihres Geliebten unter Pferdefüßen anhörte. Aber freilich ist nicht das bloße Verstummen [479] des Künstlers an sich ein Wehklagen seines Gebildes, sondern wenn jener alte Maler den unaussprechlichen und sprachlosen Schmerz des Trauervaters durch eine Hülle über dessen Haupte bedeckte und aufdeckte: so mußten ihm vorher die andern Mitklagenden mit enthüllten Schmerzen weinend vorausgegangen sein, und das nächste Jammerauge hinter dem Vater konnte schon nicht mehr weinen.

§ 17. Über die Sentenzen im Lustspiel
§ 17

Über die Sentenzen im Lustspiel


In den Elias-Mantel, den Schiller bei seiner Himmelfahrt fallen ließ, haben sich Trauerspiel- und Lustspieldichter als redliche Finder geteilt, um für ihre Bühnenleute den reich mit goldnen Sentenzentressen besetzten Mantel auszubrennen. Denn Sentenzen sagen viel und sind wahre alte, aus dem Munde der gotischen Figuren hangende Zettel. Kein Schriftsteller ist an Sentenzen und allgemeinen Bemerkungen über die Menschennatur reicher (Schiller am wenigsten) als Goethe in seiner – Prose; und doch behängt er mit diesen schweren Edelsteinen seine fliegenden Musen und seine unbekleideten Grazien nicht; – indes sei dieses nur eingeschaltet. – Im Lustspiel nun haben den Sentenzenprägern weder Plautus, noch Aristophanes nachgeahmt, noch Shakespeare, noch Molière, aber desto mehr lieben Kotzebue, Müllner, auch sogar Steigentesch die Sentenzen-Stickerei. Und doch versöhnt sich das Trauerspiel leichter mit allgemeinen Betrachtungen – weil große Ereignisse von selber Blick und Herz auf das Große und Allgemeine des Lebens richten – als das Lustspiel, wo die Reflexion nur als eine Satire auftreten kann. Da nun darin mit den allgemeinen Sätzen z.B. Männer die Weiber und diese jene verurteilen, kurz immer streitende Parteien einander: so hat man die Pein, über dieselben Menschen von einem satirischen Ja und Nein hin und her geworfen zu werden.

[480]
§ 18. Mißwachs an Lustspielen
§ 18
Mißwachs an Lustspielen

Ach! gäb' es in Deutschland nur so viele gute Komödien als gute Komödienspieler, und gäb' es wieder so viele gute Tragödienspieler als Tragödien! – So aber muß man im komischen Falle bei dem Schauspielhause vorbeigehen der Stücke wegen, und im tragischen der Spieler wegen. Doch bleibt immer noch das Opertheater übrig, wo die Musik den Spieler, und das Marionettentheater offen, wo der Souffleur des Holzes den Dichter ersetzt. – Wie kommt es? Zwei sehr ernste Völker haben viele und gute Lustspiele, die Spanier und Briten, und zwei lebhafte und lustige haben wieder viele und gute, die Franzosen und Italiener; – aber der Deutsche nichts Rechtes in seinem mittlern Zustande der Seelen nach dem Tode. Eben darum; sein Gefühl für Torheit ist so kalt und matt, daß er sogar ausländische leicht für Schönheiten ansieht; wie sollen aber einem Volke seine alltäglichen anerzognen blutverwandten Torheiten auffallen, wenn ihm nicht einmal blutfremde ungewohnte töricht erscheinen, sondern öfter gar nachahmwert? So geht denn der Geist des Deutschen in anständiger Zivilkleidung einher und hält als geborner Bürger, ja Kleinstädter Europens sich in seiner Mitte fest, ohne stark zu lachen.

Neuerer Zeit borgen wir zu den ausländischen Torheiten noch auch die Toren vom Auslande für unser Lustspiel, damit wir wie Mönche gar nichts Eignes haben; und sogar in eine uns so unpassende, bald zu weite, bald zu enge Form, wie z.B. die eines Calderon oder der französischen oder der römischen Lustspieldichter, werden wir geschlagen. – »Ist kein Lessing da?« sollte man bei jedem Vorhangaufziehen vor einem Lustspiel ausrufen; denn Lessing ist der wahre deutsche Plautus, und sogar seine jugendlichen Lustspiele sind deutscher als unsere neuesten gereimten, und seine spätern Bruchstücke gar Meisterstücke. Aber wir werden endlich so weit kommen, daß wir vor Anfang des Stückes sogar rufen: »Ist kein Kotzebue da?«

[481]
12. Programm. Über den Roman
§ 19. Jetziger Segen an Romanen
§ 19
Jetziger Segen an Romanen

Eigentlich begehrt und braucht jeder Mensch seinen besondern Roman. Wie für Griechenland Homers Epos alles war und gab: so ist der Roman besonders für Leserinnen und Jünglinge das prosaische Epos ihres Lebens, ihrer Vergangenheit und Zukunft. Da aber jeder etwas anderes erlebt und etwas anderes begehrt und träumt: so könnte jeder für sein besonderes Leben seinen individuellen Roman gebrauchen.

– Und den liefert wirklich jeder junge Romanschreiber, aber nur für seine eigne Hauswirtschaft; seine Taten und Wünsche und Ziele und alles steht in seinem Privatroman ausführlich und poetisch-verklärt. Was freilich den Leser anlangt: so suche sich der einen andern Roman, der mehr für ihn paßt.

Wenn ein Tragödiendichter mühsam in den Feldern der Geschichte oder in seiner Phantasie seinen Baustoff aufsucht, sein Bienenwachs für die Zellen seines Honigs und seiner Brut: so hat es der Romanschreiber zehnmal besser, der in einer Mittelstadt wohnt, und am allerbesten der in einer Residenzstadt, weil ihm darin ein Schutthaufen von Begebenheiten und Personen zum Verarbeiten in seine Schreibbauten aufstoßen und er statt einer Biene eine Kleidermottenraupe spielen kann, welche schon auf den Kleidern sitzt und frißt, woraus sie ihr eignes Kleid und Gehäuse zu machen und zu flicken hat. Daher kann ein solcher Mann in jeder Messe mit Drillingen, ja Sechslingen von Romanen nieder- und wiederkommen; ja mit einer solchen Blattlausfruchtbarkeit kann er, wenn er dazwischen noch auf die Blätter der verschiedenen Taschenkalender fliegt und legt, schon auf Erden das halbe Paradies einer Jüdin haben, die im künftigen jeden Tag, nach den Rabbinen, gebären kann. Alles, was der Autor dabei zu tun strebt, ist – da in seinen verschiedenen Romanen die nämlichen Charaktere, Liebschaften, ersten Küsse, Begeisterungen [482] und Nöten wiederkehren –, alles in mannigfachen Titeln und frischen Namen zu geben, aber lockenden, so wie die Baumeister der englischen Gärten die Einsiedeleien gewisser Bedürfnisse in allerlei Zierliches verbergend einkleiden, in ein Monument – in eine Nische – in einen Holzstoß – in einen Obelisk – oder anders.

– – Und doch kann man sich hier nicht jedes Ernstes enthalten! – Verurteilt und bekehrt euch denn gar kein Gewissen, weder ein ästhetisches, noch sittliches, ihr literarischen Goldschläger, die ihr aus euerem empfangnen schönen Pfund ein Buch geschlagnen Goldes nach dem andern hämmert, anstatt Brustbilder der Kunst zu prägen? Könnt ihr den ersten Beifall der Leser undankbarer belohnen, als daß ihr euch von ihm verschlimmern laßt, anstatt von ihm verbessern, und daß ihr ihren Geschmack noch mehr herabstimmt, anstatt den eurigen hinauf? Ihr beraubt die ganze Gemeinde euerer Leserinnen durch eure Leerheit und Alltäglichkeit um eine Zeit, eine Bildung und einen Umgang mit höhern Werken, wie ihr schwerlich bei einer einzigen Leserin tun würdet. Höchstens ist zu loben, daß ihr ihnen mehr Geld abnehmet, und ihnen weniger Zeit entwendet, indem ihr das in engen Zeiträumen Geschriebne in weite Papierräume versäet und die Kapitel in Kapitelchen zersprengt und unter der Vorspiegelung eines großen Zeitaufwandes nur den kleinsten abfodert. – Könnt ihr eure sämtlichen Werke geben oder wir lesen, da in jedem Buche alle sämtliche stecken und in allen diesen keines? – Eure Vielschreiberei wirft euch eure Kräfte vor, deren Strahlen statt des Zerstreuglases nur das auf einzelne Werke gerichtete Sammelglas gebricht. Wahrlich, ihr nötigt wenigstens Männern die Sehnsucht nach den alten, mehr derben Lehrromanen eines Itzehoer Müller, Breslauer Hermes, besonders des trefflichen Friedrich Schulze und anderer ab, damit man statt nach dem dünn und weiß geschlagnen Schaum von bodenloser, phantastischer, mystischer, frömmelnder Romantik, von einer mehr faulen als geistigen aufgetriebenen Gärung wenigstens nach Pumpernickel, Serviettenklößen und Schiffbrot greifen könnte.

[483]
13. Programm. Über die Lyra
§ 20. Dichten mit Empfindungen und ohne sie
§ 20
Dichten mit Empfindungen und ohne sie

Die bloße Empfindung schafft nicht den Dichter, aber der bloße Dichter auch nicht jene. Im ersten Irrtum ist der Jüngling, im zweiten der Kritiker.

Nichts hält die Empfindung für leichter, als aus dem ersten Herzen herauszugehen in ein zweites, ja sie vermutet schon in diesem ihre Zwillingschwester. Aber ein volles Herz gleicht einem vollen Gefäße, das, solange es noch im Ziehbrunnen geht, leicht aufwärts steigt, hingegen schwer emporzuheben wird, wenn es die äußere Oberfläche durchbrechen soll. Der Jüngling hält jede Empfindung für eine Ode oder einen tragischen Monolog und Dithyrambus, denen nichts fehlt, um zu fliegen, als Füße oder metrisches Fußwerk, und sieht überhaupt das Doppelwasser der Trauer- und Freudentränen für Hippokrene an. Allein zum Dichten gehört ein Zwillingmensch, ein dargestellter und ein darstellender zugleich, wie sonst bei der Kaiserwahl der Kurfürst, er mochte immer selber in Frankfurt sein, doch seinen Gesandten und Repräsentanten stellen mußte, der den Kaiser wählte. – –

Auf der andern Seite lehrte eine nun halb eingefallne Schule deren poetische Schüler und Schulschriften, z.B. Friedrich Schlegelschen, ihre kurze Unsterblichkeit aber überlebt haben –: man könne seinen Vers und seinen Sonettenreim auf alles machen, möge man nebenher empfinden, was man wolle, z.B. einen Bußpsalm im Palais royal hecken und ein Bajaderenloblied in der Kathedralkirche; denn die Form sei alles und auch der wahre Inhalt, und eine chinesische Teetasse sei zugleich der chinesische Karawanentee; und der schönste Beweis davon sei ihr Meister Goethe.

Aber dieser ist eben der schönste Gegenbeweis davon. Denn ihm ist jedes rechte Gedicht ein Gelegenheit-Gedicht, und seine Lebens-Beschreibung beweiset uns, daß seine Wahrheit nicht [484] Dichtung war, sondern seine Dichtung Wahrheit, und daß seine poetischen Werke so gut Kinder des Herzens sind als seine moralischen. Daher wird ein Dichter nie eine Empfindung so gut malen als zum ersten Mal; später verliert das Gemälde immer mehr vom göttlichen Range einer Erstgeburt. Nur gebe der Künstler dieses Farbenerblassen nicht seiner Entkräftung, sondern seinem Herzen schuld, das unmöglich eine zweite, dritte Liebeerklärung mit dem Feuer einer ersten geben kann. Derselbe Dichter wähle aber einen ganz neuen Gegenstand zum Malen: er wird die alten Kräfte wiederfinden. Ja sogar derselbe von seinen Gefühlen erschöpfte Gegenstand wird für seinen Pinsel mit neuen Morgenfarben aufgehen, wenn er ihn vor neue Augen bringt und so aus fremden Herzen neue Gefühle und neue Farben schöpft für denselben Sonnenaufgang, denselben Frühling, denselben Liebehimmel.

14. Programm. Über die Darstellung
§ 21. Schwierigkeit der Prose
§ 21
Schwierigkeit der Prose

Die Kunstprose fodert so viele Anstrengungen, nur anderer Art, als die Verskunst. Der prosaische Rhythmus wechselt unaufhörlich, das poetische Metrum dauert das Gedicht hindurch, und die Perioden bilden einander nicht, wie die Verse den vorhergehenden, nach. Den unaufhörlichen Wechsel ihrer Länge und ihrer Wortstellungen bestimmen die zahllosen Gesetze des Augenblicks, d.h. des Stoffs. Die Prose wiederholet nichts, das Gedicht so viel. Jene prosaische Vielgestaltigkeit nimmt daher leichter die verschiedenen Eigentümlichkeiten der Schriftsteller auf als die Poesie; und die großen Prosaisten sind einander unähnlicher als die großen Lyriker, z.B. die Prosaisten Herodot, Xenophon, Thukydides, Platon, Cicero, Cäsar, Tacitus, oder gar die deutschen, Lessing, Winckelmann, Hamann, Goethe, Jacobi, Wieland etc. Besonders die Franzosen fliegen nur gefesselt, gehen aber ungebunden [485] zu Fuß; und nur ihren Dichtern ist die Eigentümlichkeit genommen, aber ihren Prosaikern geblieben, z.B. einem Montaigne, Voltaire, Pascal, Diderot, Jean Jaques, Montesquieu, Buffon etc. Aber freilich fällt überhaupt in der Höhe des Dichtens die Mannigfaltigkeit weg, so wie der Himmel wenige Farben, und die Erde Millionen hat; so läßt die höhere Dichtkunst keine Eigentümlichkeiten zu, und die komische jede, so wie jeder einen andern Sprachton hat, aber die Singstimmen sich ähnlichen. – Buffons Wort: der Stil ist der Mensch selber, wird noch durch die Erscheinung fester, daß große Schriftsteller ihren eigentümlichen Stil, wie sehr sie auch in spätern Jahren und Büchern an Kräften und Einsichten wachsen und wechseln, schon in ihren ersten Werken entscheiden. So springt aus Lessings Kopf schon in seine ersten Vorreden die Minerva seines Stils ganz bewaffnet; so hält sie schon in Hamanns ersten Werken der Welt ihr Medusenschild entgegen, um sie von sich zu scheuchen. Übrigens gibt es im Stile zwei Arten, gleichsam wie Lagerobst und Lagerbier. Das anfangs strenge Lagerobst eines Herders erweicht und versüßt das Alter. Das anfangs schwächere Getränk wird auf dem Lager der Zeit stärker, ja strenger; so Wieland in seiner spätern Zeit, so Rousseau, und selber Cicero in seinen Reden, z.B. für den Attikus. Indes bleibt ein Alter des Altertums sich im Stile gleichförmiger, weil er später anfing und nicht erst unter dem Schreiben reifte, sondern ein paar Jahrzehende vorher. Bei den Neuern freilich hat der Stil den Weg vom Jüngling zum Greise zu machen.

Allen Schriftstellern wurde der Stil häufiger nachgeahmt als dem originellen Lessing, aber nicht wegen eben seiner Eigentümlichkeit selber – denn die größere ist gerade die bequemere zum Nachahmen –, noch weil Glanz und Abglättung seiner Sprachkunstwerke schwierig nachzuprägen war – denn seine Goldstücke fühlten sich gerändert genug an –, sondern darum: die Eigentümlichkeit war nicht Bildermalerei, nicht Gefühlausdruck, nicht nicht Wortebbe, noch Wortflut, nicht Kraft- und Prachtglanz der Phantasie – alles gewöhnliches Grenzwildpret für die Jägerschaft der Nachahmer –, aber sein Stil war, wie der demosthenische, die lange Schlußkette einer logischen Begeisterung, in vielfache [486] Windungen, aber nicht wie eine Blumenkette, sondern wie eine Fangkette gelegt und ausgebreitet, gleichsam eine Gebirgkette, womit er die Wahrheit einschloß. Daher kam die dialogische Form mit den ein- und ausspringenden Winkeln ihres Stroms, daher seine Vorliebe für die Antithesen, die Widerprallichter und Reverberen für das schnelle Erkennen. Allein eben dieser mit der Sache durchwirkte Stil, der nicht das tote Kleid, sondern der organische Leib des Gedanken ist, wird schwer kopiert, weil man nicht eine Wachsgestalt, sondern einen lebendigen Menschen wiederzugeben hat, noch abgerechnet, daß man überhaupt Kälte und Ruhe nicht so leicht und gern nachmacht als Wärme und Sturm. Meißner versuchte es mit einigen stilistischen Äußerlichkeiten Lessings, aber aus Armut an dessen Geist ohne Erfolg. Doch zur Fortpflanzung einer den alten Sprachen abgeborgten Lessingschen Eigentümlichkeit, dem Hauptsatze die unwichtigen Einleitsätze lieber nach- als voranzustellen, hätte schon die Leichtigkeit, womit ich sie hier selber nachspiele, die Nachahmer mehr verführen und der Gewinn der Zusammendrängung mehr ermuntern sollen, als geschehen.

15. Programm. Fragment über die deutsche Sprache
§ 22. Sprachautorität
§ 22
Sprachautorität

Weder der Sprachforscher, noch der Genius, noch das Volk allein besitzen das Sprachregale und können aus eigner Machtvollkommenheit ein neues Wort oder gar eine Wortfügung einsetzen zur Regierung. Der erste nicht, weil dieser Sprachgesetzgeber beinahe nur andern Gesetzgebern befiehlt, die wieder ihm befehlen, und weil überhaupt ihre grammatischen Pandekten der Menge so verborgen und unzugänglich sind als die florentinischen; – der zweite, der Genius, nicht, weil es nur eine päpstliche und keine geniale Unfehlbarkeit und Wahrheit-Statthalterei gibt; – und das[487] dritte nicht, das Volk, das ebensooft den beiden vorigen gehorcht als befiehlt und mehr pflanzt als säet. Aber worauf ruht denn endlich die Sprachherrschaft der neuen Wörter und Wortfolgen? Auf allen dreien auf einmal, wie jede Regier- und Staatgewalt, d.h. auf dem Dreifuße von Gesetz, Macht und leidendem oder tätigem Gehorsam. Auf diesem legitimen Dreifuße – woran freilich oft ein Bein länger ist als das andere – stehen die Reiche erträglich, wenn nur nicht der Fuß gerade einen gekrönten Zerberus-Dreikopf trägt; ein Teil Macht oder Eroberung, ein Teil Gesetz oder Herkommen, ein Teil Einwilligen oder Mitstimmen der Menge. So kommt denn wie ein Napoleon ein Wort auf den Thron durch die Macht eines erobernden Dichters und die Einstimmung der von ihm regierten Menge und durch den Beitritt der Sprachanalogie. Man muß aber nicht zu genau und in zu ähnliche Teile absondern wollen, weder bei regierenden Wörtern, noch regierenden Häuptern.


Zuweilen vereinigt ein Schriftsteller zwei Gewalten in sich, zugleich den Genius und den Sprachforscher, und nur in diesem Falle ist seine Autorität klassisch. Daher können Lessing, Klopstock, Voß gültiger und rechtkräftiger ein neues Wort mit der Herrschaft belehnen als ein Goethe oder Schiller.

§ 23. Ausrottung des Mißton-S in Doppelwörtern
§ 23
Ausrottung des Mißton-S in Doppelwörtern

Nichts gewährt so entgegengesetzte Gefühle und Ansichten als die beiden Reiche der Mathematiker und der Sprachforscher. Die stille, nach außen zugeschloßne Herrnhuter-Gemeinde der Mathematiker für Erde und Himmel geht als ein Friedenreich um die ganze Erde, und alle Bürger beschirmen, beerben und bereichern einander wechselseitig. Hingegen das Reich der Sprachforscher ist ein Archipel von Feindschaftinseln; jeder auf seinem Throne allein lebend und andern ungehorsamen als Untertanen befehlend, die nur zum Bekriegen landen, und vom Festlande nur in der Ferne gehört und notdürftig befolgt. Bloß Adelung errang eine kurze Reichsverweserschaft, und zwar durch den Beistand eines [488] Wörterbuchs; welcher wieder Campen nichts half. Grimms altdeutsche Grammatik, deren Reichtum ihr einziger Herold ist, fand keinen einzigen Rezensenten; Wolkens »Anleit zur deutschen Gesamtsprache« nur einen aber leider keinen Sprachforscher, sondern in der Jenaer Literaturzeitung einen andern Forscher, der die Gallenblase als Schwimmblase zum Fortkommen im fremden Elemente benutzte. Bloß der Verfasser dieses Paragraphen hatte, eben weil er so wenig ein Sprachforscher war als der Jenaer Rezensent, wenn nicht das Glück, doch das Schicksal, von andern Rezensenten, die gleichfalls keine Sprachforscher waren, sein Buch über die deutschen Doppelwörter betreffend, auf eine angenehme und zarte Weise behandelt und gefaßt zu werden, nämlich ganz auf der Oberfläche. Das Innere des Büchleins und der Sache rührte und tastete man nicht im geringsten an. So ließ man denn unangefochten die tausend Beispiele der Wörter ohne regelwidriges und Mißton-S – die daraus abgeleitete Sprachanalogie – und die neuen Zusätze, besonders die Postskripte mit ihren Widerlegungen fremder Einwürfe und mit der Analogie der englischen Sprache – die Erforschung der eigentlichen Natur der Doppelwörter – die Regel und die Regellosigkeit halb ausländischer Doppelwörter wie Doktorhut und ediktswidrig u.s.w. Der zweite sprachunkundige Splitterrichter – denn der Jenaer war der erste –, nämlich Müllner, prägte für mich mit mehr Schonung als Witz den an sich albernen Titel Anti-Essist und setzte sich dadurch selber zu einem Essisten herab, was man so wenig sein darf als ein Errist, Ennist, ließ sonst aber meine grammatischen Gründe und besonders die neuen Postskripte unangetastet, vielleicht weil er sie nicht gelesen. Der dritte, aber etwas verächtliche Sprachunkundige rezensierte mich in der Halleschen Literaturzeitung 274 und glaubte wie alles kritische Geflügel [489] seine Flügel zu bewegen, wenn er stark seine Nasenflügel bewegte. Endlich aber rezensierte ein Sprachforscher, Herr Docen, ohne das, was man einen guten Stil nennt, in den Wiener Jahrbüchern das Büchelchen, und nachdem er mehr diesem, aber weniger dessen Gründen lange widersprochen, fällt er wieder ihm von weiten bei, indem er lieber sich selber widerspricht und aus ältern deutschen Werken folgende Beispiele der S-Weglassung als Sprachgebrauch mit Billigung anführt: Unglückstifter – Bundgenoß – Ratherr- Blutfreundschaft – Gottfurcht – Himmelschlüssel – Befehlhaber, Befehlschreiben – Gesichtdeuter – Freiheitbrief- Hülfvölker, Hülfmittel – Keuschheitspiegel, Keuschheitblume, Keuschheittempel – Andachtliebe – Wahrheitbote. 275 Was soll nun da ein Freund der Regel und des Wohllauts, zumal wenn Professor Köppen, als ähnlicher Freund und ausübender Schreiber, in seiner Rezension hoffend sagt: »wir wollen einmal in funfzig Jahren sehen, ob das S noch vorhanden ist« – was soll man, frag' ich selber, da machen? Wenigstens nicht von neuem schreiben nach dem Schreiben, sondern lachen und warten – dann hoffen und warten – und endlich warten.

[490]
1. Miserikordas-Vorlesung in der Böttigerwoche
Erste Viertelstunde
Wert des literarischen Schnitthandels oder Feilstaubs oder Blumenstaubs oder der Gedankenspäne oder Papierspäne u.s.w.

Wer kein großes Ganze, kein System, kein Fertiges hat, der muß diese haben und geben. So gab Novalis Blumenstaub, Friedr. Schlegel Feilstaub oder Fragmente oder Sentenzen, andere taten Aussprüche von Gehalt, tiefe Blicke und so fort. Man nahm sich hier mit Recht die Käsemade zum Muster, welche, da sie nicht gehen kann, dafür außerordentlich springt, und zwar dreißigmal höher, als sie lang ist. Platner kehrte es um und gab unter dem Namen Aphorismen ein wirkliches System; aber wenn philosophische weniger als schöne Geister gern mit Sentenzen, Genieblicken,[491] Genieblitzen und Feilstaub auftreten: so hält die Welt sie mit Vergnügen für Philosophen. Auch jede andere Wissenschaft vertreten gute Madensprünge leicht.

Zweiter Viertelstunde erstes Minutenfünf
Zweiter Viertelstunde erstes Minutenfünf 276
Rechte und Vorzüge der literarischen Erstgebornen

Diese Rechte und Vorzüge lasse man den ersten Werken der jetzigen Schreiber, weil sie wissen: Anfang gut, alles gut; so daß sie gleich den Oliven durch den ersten Druck das feine Jungfernöl hergeben, und bei der zweiten, stärkern Presse nur Baumöl, bis sie endlich bei der dritten nur gemeines Brennöl liefern. Ich könnte die meisten Roman- und Vers-, Lust- und Trauerschreiber der neuern Zeit anführen, die wie Handwerker anfangs ein Meisterstück lieferten, und dann natürlich wie diese nichts als gemeine Arbeiten machten. Lessing gab seinen Nathan erst zum Beschlusse, indes die Neuern sogleich mit ihrem Besten beginnen und auf dieses nicht erst warten lassen, sondern nur auf ihr Schlechtes und Schlechtestes, das sie allmählich erst, mit der Zeit aber desto gewisser geben, indem sie, wenn jene Ältern sich aus der Tiefe hinaufschrieben, sich von ihrer Höhe hinunterschreiben. Wir Leih- und Lesebibliothekleser verdanken diesen Genuß des besten Weins am Anfange der Mahlzeit – wenn man geringfügige Einflüsse bei den schlechtern Weinen, wie vereinigte Geld- oder Handelliebe von Buchschreiber und Buchhändler zu gleich, nicht anschlagen will besonders dem Umstand, daß der Dichter jetzo nicht sowohl macht als gemacht wird von der Zeit, deren Blüte und Blumenlese und Destillation sein erstes Werk ist; dann hat er freilich nichts weiter einzuschenken, keinen neuen Wein-Ausbruch [492] nach dem alten, aber sie drücken fort und liefern zuletzt nach dem Strohwein das Stroh. – Die Frauen lesen sich am Ende eine schöne Prose in die Feder und machen nichts daraus als höchstens Briefe, aber die Jünglinge sich eine schöne Poesie und machen eben Bücher daraus.

Zweiter Viertelstunde zweites Minutenfünf
Wert der Eilschreiberei

Ich preise keinen Leser glücklicher als einen, der etwa nach hundert oder gar tausend Jahren geboren wird: dieser findet doch etwas zu lesen und Auswahl. Wir Zeit- oder Jahrtausendarme sind bald fertig, und ungeachtet unserer drei Meßernten (denn die Weihnacht- oder Neujahrmesse mit Almanachen verachte man nicht) haben wir, wie die Hindostaner bei ihren drei Reisernten jährlich eine Hungernot, so nichts Rechts zu lesen. Was große Schriftsteller jährlich liefern, will ich in drei Abenden durchhaben. Wir müssen uns daher an die mittlern, ja schlechten halten und klammern und an ihnen saugen, solange etwas da ist. Aber um so willkommener sei uns doch jeder Umstand, der uns diese Schriftsteller und ihre Werke vervielfältigt. Und dies leistet gewiß am sichersten die endlich eingeführte Schreibregel, nicht zu feilen, sondern den ganzen Aufwand von Feilstaub und Zeit zu ersparen. Ein solcher schreibt und steht schon mit einem dritten Band auf der Messe aus, indes ein anderer noch zu Hause an seinem ersten raspelt und feilt. So gebären Weiber, die ihre Geburten nicht erst säugen, dem Staate jährlich etwas mehr. Noch mehr Zeit und Menschenkraft als durch Dampfpressen werden durch solche Dampfdintenfässer geschont von ordentlichen Schreibimprovisatoren. Nur könnten deutsche Stegreifschreiber alles noch viel weiter treiben. Gibbon sandte jeden Bogen nach dem Schreiben eiligst in die Presse, damit sie ihn gegen die Feile deckte. Ja der genialste Romanschreiber der Franzosen, Retif de la Bretonne, schrieb seine Romane nicht einmal vorher, sondern als Buchdrucker setzte er sie sogleich – wodurch von selber alles [493] Ausstreichen wegfiel –; und wie jener, den man den französischen Richardson nannte, machte es auch der britische, ebenfalls ein Buchdrucker. So halte sich denn ein heutiger Schreiber wenigstens für einen transzendenten Setzer, der nicht Satz und Korrektur zugleich besorgt. – Wenn überhaupt deutsche Dichter des neunzehnten Jahrhunderts es, wie die Methodisten in England, für Sünde gegen ihre Eingebungen halten, sich auf das, was sie sagen wollen, vorzubereiten, so hat man doch die Gewißheit, daß man keine Nachtreter hinter Gesetzgebern, sondern vielmehr Monde vor sich hat, welche um ihren Phöbus ganz allein und ohne eine herumführende Erde laufen.

Zweiter Viertelstunde drittes Minutenfünf

Über Tagblätter und Taschenbücher


Unser Lebenbuch wird immer mehr Flugschrift, die nicht still liegt, welche dünn und wenig trägt und fliegt und verfliegt – Von den Luftschiffen an bis zu den Dampfschiffen und Schnellposten beweiset es sich, daß Europa jetzo unterwegs ist und eine Völkerwanderung der andern begegnet. Zu Hause sitzen nur wenige, und zwar auch nur, um sich ihre Läuferschuhe zu besohlen und den Pilgerhut als Pilger nach dem eignen unheiligen Grabe zu befiedern. So werden nun in der Literatur die Flügel zugleich vermehrt und verkleinert, statt zwei schwerer Adlerschwingen in Folio vier dünne Schmetterlingflügel in Sedez. In allen Wissenschaften stehen jetzo dicke Enzyklopädien, denn diese sind eben ins Enge geschraubte Bibliotheken, mobil gemachte Feldbibliotheken – wie es denn jetzo wenig unbewegliche Güter außer den Aktenstößen mehr gibt, sondern nur bewegliche, wie im Mittel alter die Häuser 277, oder in dem jetzigen die Grundstücke als Hypothekenscheine und das zu schwere Gold als Papiergeld. – In alle Klubs fliegen Groß-Quartbände, aber in Quartblätter die Blöcke zersägt; und wie im Mittelalter die Pariser Buchhändler ein Buch – da jedes ein seltenes war – in 200 Hefte zerlegten und vier Hefte [494] für zwei Pfennige verliehen 278: so wird uns in den Wochenblättern ein einziger Roman in halb so vielen Stücken zugetröpfelt, weil nach Tagen, nicht nach Bänden gelesen wird. So gibt es in Paris Weinkneipen, wo man nicht nach dem Trinkmaße trinkt und bezahlt, sondern nach der Zeit oder der Stunde, daher man in dieser aus dem Fasse aus einem Strohhalm eingeschenkt bekommt. Auf diese Weise bringt denn doch eine Dame ihren Quartanten durch und liest gründlich genug.

Aber am besten zeichnen die deutsche Zeit die Herbstbücher aus, die Taschenbücher. Hab' ich früher manches, was ich gegen sie hatte, in denen selber gesagt, die ich eben verdicken half: so mag eine Anerkennung derselben hinter ihrem Rücken um so unparteiischer lauten. Kein Volk liefert so viele Almanache als das deutsche; es ist, als ob diese Herbstflora gerade den Herbst, der sonst in den Jahrzeiten des noch wilden Deutschlands gar nicht vorkam, recht bezeichnen und überblümen sollte. Diese Flora fällt für die weibliche Welt, welche im Frühling und Sommer auf dem Lande und im Winter in den Zirkeln zu tun hat, gerade am schicklichsten in den Herbst, die Mittelzeit zwischen Spazieren und Tanzen und Spielen, und ist dieses poetische Gewebe, womit die jungen Autoren herbstlich den Parnaß überspinnen, der wahre junge Weibersommer, dichterisch fliegend und mit und von bunten Tautropfen schimmernd. Himmel! wenn man sich erinnert der alten vielpfündigen Folianten, in Bretter, Leder, Messingbeschläge und Klammern gefaßt, gleichsam lederne, mit Messingnägeln besetzte Großvaterstühle des gelehrten Sitzlebens, und wenn man dagegen ein Taschenbüchlein hält: so kann man wahrscheinlich nicht klagen. Aus dem Schweinleder wurde Saffianleder, aus Messingspitzen Goldränder, aus Klammern und Schlössern ein Seidenfutteral, und die Kette, an die man jene Riesen sonst in Bibliotheken legte, wurde ein seidnes Ordenbändchen zum Freimachen. Aber wichtiger ist für Deutschland, daß diese Paradiesvögelchen die oben angepriesenen Enzyklopädien, die schon fliegende Mikrokosmen der gelehrten Makrokosmen sind, wieder von neuem verkleinert enthalten und wie [495] eine Oper fast alles geben. Sie machen hinten Musik auf den kleinen Musikblättern und sogar Tanzfiguren zu jeder andern Musik – sie geben als Gemälde-Ausstellung auf dem Futterale Deckenstücke, vor dem Titelblatte ein Türstück, innen an den Wänden überall Raffaelische Logen – und nach den schönen Künsten wird besonders in Buchstaben reichlich geliefert für die schönen Wissenschaften, hauptsächlich aber für eine Romanenbibliothek im kleinen. Auch das Abendmahl-Brot der Mystik wird zu dünnen Oblaten der Kalenderblättchen verbacken. Sogar Gedichte stehen in mehren Taschenbüchern, und sie mögen nicht unschicklich daran erinnern, daß die frühern in Deutschland mit ihnen unter dem Namen Musenalmanache angefangen, so wie auch die Geschichte bei den Griechen und andern Völkern ihren Anfang in Versen genommen. Inzwischen könnte man sie endlich ganz eingehen lassen, da doch nur wenige Frauen sich durch das Buchbindergold zu diesen Pillen hindurcharbeiten, und die poetischen Flügel an diesen Gerichten nur Schauessen sind, wie die Pfauen und Fasanenflügel, die man in ältern Zeiten ungerupft an dem gebratnen Flügelwerk zur Pracht mit auftrug, ohne daß einer eine Gabel darnach ausstreckte. Daher haben Einige Lieder und Romanzen, z.B. die Goetheschen, lieber in Kupferstiche umgeprägt; und mit gleichem Glücke könnte man auch Metaphern und Sinngedichte in Kupfer stechen, damit das Taschenbuch kein Taschenkrebs würde.

Dritte Viertelstunde
Höhere Würdigung des deutschen Vielschreibens

Ich weiß eigentlich kein Volk, das so viel schreiben sollte als das deutsche, und wär' es auch nur aus zwei Gründen, wiewohl das Honorar wenigstens ein kleiner bleibt. Erstlich wird ein deutscher Schreiber nicht so oft abgedruckt, geschweige verkauft, wie z.B. ein Londoner, der viertausend Exemplare in wenigen Tagen ab setzt, denn ein deutscher muß Gott für vierhundert danken. Er kann aber vielerlei Bücher schreiben, deren kärglicher Gesamtverkauf [496] so viel ausmacht als der starke eines einzigen. Er könnte sogar – will man nebenher ins Kleine gehen – im Buche selber für dessen Vervielfältigung arbeiten durch Dickmachen, und wär' es oft durch die scheinbar erbärmlichsten Künste; er könnte z.B. durch häufige Absätze den Absatz ersetzen, oder könnt' es durch die zum Glücke uns Deutschen schon geläufige Weitschweifigkeit tun, für die ich fast einen elenden Kunstgriff empfehlen möchte. Man sage nämlich häufig »wie gedacht« oder »wie gesagt« oder »die Wahrheit zu sagen«: so kann man es sogleich wieder sagen; es ist doch etwas.

Zweitens – erstlich sagt' ich schon oben – sind wir Deutsche ein Volk, das, die Wahrheit zu sagen, für seine Ehre zu sorgen hat und, da es die ganzen Arme nicht mehr politisch bewegen kann, wenigstens die Finger daran regen soll zum Schreiben. Wir gleichen nämlich der herrlichen Bildsäule Laokoons, die ihre Arme sich an der Zeit zerbrochen hat, aber so trefflich ergänzte vom Meister Michael Angelo erhalten, daß man sie ihr immer zu Füßen legt; denn die Stummeln davon, womit die Feder statt der Waffen zu führen ist, sitzen ja noch an den Achseln fest. Jener große Redner gab dreimal die actio (die Handlung und Bewegung) als die eigentliche Beredsamkeit an; wir kehren es ebensoleicht um und sagen dreimal: Reden oder Schreiben ist das höchste Handeln. – Und wenn wundärztlich nichts so gut verbrannte Finger heilt als Dinte: so haben wir, dünkt mich, ja beides. Und wenn es in Norwegen ganze christliche Tempel 279 von Papier mache gibt: so haben wir zu unsern Ehrentempeln und Janustempeln ja Papier genug, wenigstens die Lumpen dazu.

Vierte Viertelstunde
Höhere Würdigung des philosphischen Tollseins auf dem Katheder und des dichterischen auf dem Theater

Ich wüßte unter den Schriftstellern niemand als Poeten und Philosophen, welche sich auf dem Papiere dem Tollsein überlassen [497] dürften, das im gemeinen Leben allen vernünftigen Menschen verstattet ist. Im Handel und Wandel sieht man mit Recht das gewöhnliche Tollsein und Leben der Menschen bloß für eine sanftere Wasserscheu an, worin der Patient gesunde Vernunft genug hat und umhergeht in seinen Geschäften, bis der Anfall erscheint und der Patient beißt. Wir sollten überhaupt weniger hart beurteilen und uns alle mehr für höhere edlere Wasserscheue ansehen, zumal da wir die Anfälle unserer Leidenschaftlichkeit wohl tausendmal überstehen, und noch öfter als gemeine Wasserscheue, eh' diese schäumen und anpacken, unsern Nächsten warnen und uns aus dem Wege zu gehen raten.

Doch zu Poeten und Philosophen zurück! Da die Philosophen in eine Schule der Ästhetik nicht als Gegenstände und Schüler gehören, sondern als Lehrer, so berühr' ich ihr Tollsein nur im Vorbeigehen und bemerke, daß die Wasserscheu sich in ihren Schriften mehr als Wassersucht offenbart und folglich, da sie nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopfe arbeiten, an diesem als Wasserkopf, der nach Gall schon als physischer oft ein Zeichen eines geistreichen Gehirns an Kindern gewesen. Natürlich wird hier unter dem Wasser nichts anders sinnbildlich verstanden als jene philosophische Auflösung alles Stoffs durch fortgesetztes Abstrahieren in durchsichtige Form, wiewohl für den tiefen Philosophen schon der Form als Grenze der Unterschiede zu viel Stoff anklebt; weshalb er sogar das Sein als zu enge und dem Verstande zu unfaßbar zuletzt in das Weiteste, Reinste und Begreiflichste, in das Nichts auflösen muß. Und was meint denn der alte Cicero anders als dieses Wasser oder Wasserstoffgas, wenn er versichert, es gebe nichts so Ungereimtes, was nicht irgendein Philosoph einmal behauptet hätte!

Wenn jeder Philosoph Herr ist in seinem Irrenhause und die Weltweisen als die Irren uns für Irrige ansehen können: so sind es noch mehr die feurigen Dichter in ihrem Schauspielhause, und sie können da machen, was sie wollen, nicht nur einen und den andern Hofnarren, sondern auch jeden Narren und Tollen überhaupt. Man lass' es mich hier nur im Fluge anerkennen, daß der Schauspieldichter der eigentliche regierende König unter den andern [498] Dichtern ist. Diese beherrschen mehr eine unsichtbare Kirche und nur Stille im Lande, jener aber eine sichtbare und die Lautesten im Lande. Das Schauspielhaus ist sein St. James und Louvre und Audienzsaal. Was ist das einsame Lese- und Vorlesezimmer der andern Poeten gegen das Oberhaus der Schauspieler und das Unterhaus sämtlicher Zuschauer und Zuhörer und gegen den Souffleurkasten, der den dirigierenden Minister des Innern enthält! Wenn ein anderer Dichter etwan einen einzelnen Deklamator als seinen Proklamator anwirbt, so stellt der Theaterdichter, der als Generalissimus sein stehendes Heer von stehenden Truppen befehligt, mehr als ein Dutzend oder eine ganze Sprechmannschaft von Deklamatoren auf einmal hin, die noch dazu nicht bloß Sprecher, sondern auch Täter des Wortes sind. Kurz der Theaterdichter versammelt und vereinigt, wenn man Logen, Parterre und Galerie recht abwägt, um seinen Thron gerade die drei Stände, wovon der letzte und breiteste, der dritte oder die Groschengalerie, den andern Poeten abgeht.

Um desto wichtiger wird durch den hohen Stand des Bühnendichters jedes Reden, Lispeln, Stammeln, Schnauben, ja Husten desselben; – und hier gelangen wir endlich zur Tollheit. Poeten suchen und pflegen sie sehr, und die tragischen würden gern, wenn sie dürften, ganze Stücke hindurch im Wahnsinn sprechen, anstatt daß man ihnen dafür bloße Leidenschaft als Surrogat vergönnt. Zum Glücke hat der neuere Dichter den Ausweg erfunden, im Stücke eine oder ein paar Personen anzustellen, welche toll sind. In diesen kann der Tragiker bequem leben und weben; ihm als König werden, wie in England, die Reden nicht zugerechnet, die er durch seinen Bühnen-Minister halten läßt. Wie ein Mann im Mittelalter Campionen oder Champions oder Geschäftträger haben konnte, die statt seiner fochten und schwuren, ja die statt seiner tranken: so ist ein Wahnsinniger ein guter Champion des Poeten, und er kann sich durch ihn aussprechen, so daß ihm ein oder ein paar Tolle im Stücke wohl so gut als dem Mittelalter die Narren-und Eselfeste und die Fastnachttollheiten zuschlagen, diese bekannten Ableiter und Abführmittel angehäuften Tollheitstoffs. Wenn Schiller, Goethe keine Wahnsinnige, [499] und Shakespeare nach Verhältnis seiner Stücke-Zahl nur wenige aufzeigt: so braucht der neuere Tragiker davon keine Anwendung auf sich zu machen, er kann ihrer nicht genug auf- und unterstellen, und könnt' er sich in jedem Akte eine närrisch gewordne Rolle, wie sonst in Frankreich jedes Schweizerregiment einen Regiment-Hanswurst, halten: desto wohltätiger wirkte es auf ihn, ja auf den Spieler selber, er müßte denn gar noch etwas Besseres, nämlich das Beste erringen. Und dies wäre ein Trauerspiel, worin lauter Verrückte aufträten und kein einziger vernünftiger Mensch; aber dahin hat die Kunst noch weit. Begnügen wir uns mit den Tollen, die wir wirklich besitzen. Auch diese wenigen erleichtern dem Dichter und dem Spieler das Darstellen sichtbar, da der Wahnsinn eine Unzahl Linien, der Sinn hingegen nur eine bestimmte zu wählen und zu treffen gibt, und da wieder diese eine jedem zum Beurteilen bekannt ist, jene aber nicht allen, so wie einer ähnlichen Unbekanntschaft wegen ein Baumschlag leichter zu zeichnen ist als ein Menschen-Angesicht.

2. Jubilate-Vorlesung
Erste Viertelstunde
Die Ur-Rezensenten

Der erste Rezensent, der das Werk eines Schriftstellers und bloß dieses ohne Hinsicht auf die Person beurteilt, ist der Verleger, obgleich der Verfasser selber der allererste sein mag, nur daß er bei weiten milder und nicht so unparteilich rezensiert, als ob ers verlegen sollte, gesetzt sogar, er nähme es in Selberverlag. Der Buchhändler beurteilt nun das ihm als Handschrift zugeschickte Buch, rezensiert entweder in einem Briefe oder mündlich in seinem Komtoir mit drei Worten vor seinem Publikum, nämlich vor dem Autor selber, und erhebt, ungleich seinen spätern Nachfolgern, das Werk mit völliger Überzeugung und sagt eher des Guten zu wenig als zu viel; vielmehr wenn andere Rezensenten [500] für Bezahlung anpreisen, gibt er selber desto mehr Geld dazu, je mehr er Lob vorher gegeben. Ja der Primärrezensent verdoppelt, wenn er öffentlich in seiner Buchhändleranzeige auftritt, noch das stille, ins Gesicht erteilte Privatlob, und den Tadel unter vier Augen verschweigt er lieber. Wie schonend deckt er, der allen kritischen Zergliederern des Buchs mit seinem Messer als Prosektor vorausging, in der Anzeige alle Blößen des Verlagartikels zu, und wie liebend hebt er alle Vorzüge desselben heraus, ordentlich über Verdienst! Wollte doch der Himmel die Nach- und Sekundarezensenten nähmen sich die Primarezensenten zum Muster und schlügen ihnen in dem Loben und Beräuchern besonders der Werke von schlechtem Geruch nach, da dabei nicht das abstrakte Ding, die gelehrte Republik, sondern die Gelehrten, die sie bilden, so augenscheinlich gewinnen würden! –

Die Primärrezensenten, welche in vielen Literaturzeitungen ihren ansehnlichen Stall rezensierender Musterreiterei unterhalten, liefern noch Rezensionen in einem zweiten, aber höhern Verstande, wie man die neuen Herausgaben alter Klassiker durch gelehrte Humanisten nennt. Nur übertrifft ein Primrezensent einen Heyne, der seinen Virgil, einen Wolf, der seinen Homer, einen Ernesti, der seinen Cicero herausgab (recensuit et edidit), dadurch, daß er nicht wie diese eine hundertste Ausgabe nach mehren gedruckten veranstaltet, sondern eine erste, ganz neue besorgt und von seinem ungedruckten Klassiker und Schreiber durch sein Verlegen Handschriften der gelehrten Welt zuführt, die meistens nur einmal abgeschrieben in der Hand des Verfassers existierten, indes von einem Platon, Aristoteles in mehren Klöstern Abschriften vorhanden waren. Ehrwürdig reiht sich der Primrezensent noch durch sein Studium der neuesten Handschriften jenen großen Wiederherstellern der Wissenschaften, die einen Tacitus, Aristophanes und andere aus Kellern, Kramläden, Dachböden holen und retten mußten, auch dadurch an, daß er manchen Roman, manches Predigtbuch, manche Reisebeschreibung aus Dachstuben, elenden Schlupfwinkeln, ja aus Gläubigers Händen hervorzieht. –

[501]
Zweite Viertelstunde
Wunsch und Notwendigkeit der Rezensenten-Vermehrung

Wer sich beklagt, daß es zu viele Literaturzeitungen gebe, der bedenkt vieles nicht, ob er gleich mit Recht anführt, daß auf diese Weise ein Autor, wenn er auch durch eine Gasse von Kritikern und Prügeln hindurch sei, wieder in eine neue frische einlaufe, wo das Stäupen von vornen anhebe. Ich versetze hierauf: am Ende kommen doch nur so viele Literaturzeitungen auf einen Autor, als nach Linnäus jede Pflanze Landinsekten 280 trägt, nämlich fünf. Ich will gar nichts davon sagen – zumal wenn ich es irgendwo schon gesagt hätte –, daß die Menge der Zeitungen einander die Universalmonarchie und die Kabinettordres beschneiden und sie aus der Unfehlbarkeit zu Beweisführungen treiben und das Publikum aus dem blinden Glauben zur Vergleichung der Beweise heraus und endlich auf die eignen Füße hinauf nötigen. Ja funfzig allgemeine deutsche Bibliotheken auf einmal könnten wohl machen, daß man sich nach der 51ten umsähe und so lange seine Augen aufmachte, während die Zeit den hundert Augen des Argus den Star stäche. Da kein Kritiker durch eine Antikritik umzuändern steht – unter allen Instrumenten ist eine Pauke am schwersten zu stimmen und ein Rezensent –, so ists für einen Schriftsteller, dessen Sache bei mehren Zeitungen verloren ging, eine halbe Rettung, wenn noch eine Instanz übrig bleibt, bei der er gewinnen kann. Ja wiederum einem berühmten Schriftsteller, der elf Rezensenten zu Aposteln hat, ist ein kleiner Judas, der ihn verrät, ein gesunder Blutigel oder eine spanische Fliege, und beide ziehen etwas weg.

Schon an sich bleibt der Untergang einer Kritik und noch mehr eines Kritikers reiner Verlust, z.B. der von Müllners Hekate. Ich wollte, sie bellte und bisse noch. Man sieht, ich verwechsle die Göttin gern mit ihrem Hunde, weil sie wie Zerberus einen dreifachen Kopf hatte, den mathematischen, den juristisch-politischen und den ästhetischen; wovon ich den beiden ersten mehr die Kränze gönne als die Tonsur. Denn da die Köpfe die drei Gelübde [502] unter sich zum Halten ausgeteilt: so hat der ästhetische das der Armut übernommen und zu beobachten gesucht. Doch lieber red' ich, wie der Kopf selber, ohne Figur. Es ist nämlich im schönwissenschaftlichen Deutschland eine Gesetzlosigkeit eingedrungen, wie noch in keinem andern Lande und Zeitalter; Sprachregeln und Sprachsitten – Wohlklang – Perioden- und Wörterbau Reime – Bilder – Wahrscheinlichkeit, ja Möglichkeit der Charaktere wie der Fabel – ja Sinn und Verstand, alles wird mit stolzer Willkür behandelt; und für eine solche literarische Zeit des Schreibfaustrechts ist es eine Wohltat, wenn der dritte Kopf des Zerberus losgelassen oder losgehetzt wird zum Bellen und Fangen. Das treue Tier tut unter seiner Tonsur für die Technik der Dichtkunst Gutes. Ja die literarische Hekate tat wohl, der mythologischen, welche unter den vor dem bösen Gott Typhon sich verlarvenden Göttern die Gestalt einer Katze annahm, es nachzutun und sich als Katze zu zeigen mit Krallen und Funken – eine geringe, aber schöne Veränderung, da nach dem Naturphilosophen Ritter der Mensch die edelste Katze ist. Nur für denGeist der Dichter war die Katze oder der Hund kein Mann, so wie die allgemeine deutsche Bibliothek es nicht gewesen. Es gibt eine höhere kritische Physiognomik, welche hinter dem sokratischen Gesichte den Weisen und hinter dem äsopischen Buckel den Dichter findet und anerkennt.

Bekanntlich war in allen Zeitaltern Blüte der Kritik Anzeichen des erstiegnen Gipfels der Kunst, von welchem sie ihr Herabsinken anfing, so wie das Blühen der Distelköpfe, da es bloß in den längsten Tag eintritt, die Abnahme der Tage ankündigt. Aber noch stehen wenige Distelköpfe in Blüte und hangen voll Tagfalter und versprechen die Fallhöhe der Kunst. Möchte doch irgendein wohlhabender Buchhändler ein kritisches Konklave oder eine kritische Jury ins Haus nehmen und, wie wohl öfter geschehen, durch Festsetzen und Sparküche aus dem einen das Heiligsprechen 281 und aus der andern das Schuldigsprechen herausnötigen!

[503]
Dritte Viertelstunde
Eine Literaturzeitung der Restanten

Eine solche Literaturzeitung ist wohl die allernötigste. Der Zufall wählte, der Zufall vergaß bisher. Die Werkchen werden gewisser beurteilt als Werke, und weitläuftiger dazu. Die kritischen Gewebe hangen voll Taschenbücher oder bunter Mückchen und lassen kein einziges ohne Zergliederung aller seiner mikroskopischen Eingeweide durch, aber die Bienen, die (geistig und leiblich) schwersten Werke, fangen sie selten auf. Bloß aber Predigtbücher predigen Rezensenten aus ihren Kanzeln und über philologische Schriften dozieren sie aus ihren Kathedern hinreichend, folglich beides stromweise. Über manche – zumal allgemein gelesene Werke, sobald sie einmal von ein paar Zeitungen Urteile erbeutet, fällen dann alle übrigen die ihrigen dazu, weil sie untereinander dadurch ihrer Urteilkraft nur das Fortziehen, nicht den ersten Zug der Last aufbürden, ja sie geben zwei Urteile über das nämliche Buch, indem sie ein anderes mit gar keinem bezeichnen. Wird aber nicht durch diese Unvollständigkeit dem Publikum die Kenntnis und den Autoren der Doppellohn der Zurechtweisung und der Förderung geraubt? Und soll der verdienstreiche wie der fehlerreiche Schriftsteller in demselben limbus patrum der Vergessenheit aufbehalten bleiben? Rezensionen greifen mehr ein und an, als selber die wissen, welche sich über sie erheben. Mancher stolze Autor vollendete sein Werk oder gar (wie Leisewitz) seine Bahn nicht, weil er getadelt wurde. Manche andere Dichter lassen ihre Elefantenkraft von einem kleinen kritischen Kornak freiwillig lenken, wenn sie ihn nicht eben vom Halse schütteln und treten. Der gehoffte oder der empfangne Lorbeerkranz ist der leichte Strohkranz, mit welchem Wasserträgerinnen am vollen Eimer das Überschweppen hindern. So kann wieder ein unbedeutender, aber anonymer Rezensent, der in seinem Leben kein Buch herausbrächte, ein fremdes anbrüten und aus der Schale lösen, so wie der Hühnerkot Eier so gut ausbrütet als die legende Henne.

Was gibt es nun für so viele übergangne, aller Rezensionen beraubte Werke für ein Hülf- und Heilmittel? – Ein ganz nahes, [504] nämlich einen Redakteur oder Buchhändler, der eine Literaturzeitung der Restanten herausgäbe, welche etwan alle fünf Jahre den vergeßnen oder übersehenen Werken aus allen Journalen ein kleines postjustinianisches Recht widerfahren ließe. – Und wäre das Journal denn etwas anderes als ein kleines Jüngstes Gericht, das, gleich dem theologischen, die Bücherseelen für den Himmel oder die Hölle bestimmte mehre Jahre nach ihrem Ableben und sogar nach ihrem vorläufigen Aufenthalte in dem nun dekretierten Himmelsaal oder Höllenpfuhl? – Wäre nicht eine solche Restantenzeitung das Ergänzblatt aller Ergänzblätter und schöbe nicht zu lange auf? – Und könnt' es ihr je an Bogen und an Lesern fehlen? – Und ließe sich mein Vorschlag in der dritten Viertelstunde der Jubilatevorlesung nicht so erweitern, umarbeiten und veredeln, daß am Ende gar nichts mehr von ihm übrig bliebe als der Redakteur?

Vierte Viertelstunde
Eine Literaturzeitung ohne Gründe

Die Literaturzeitung ohne Gründe hätte sonst am besten in Weimar geschrieben werden können – so wie die deutsche Geschichte überhaupt und die übrige dazu –, und zwar von drei Männern im Feuer oder voll Feuer. Herder, Wieland und Goethe verbrüderten sich in hoher Eigentümlichkeit der Weltanschauung, daß sie an allen Völkern und Zeiten und menschlichen Großverwandlungen die Rechte, die Vorzüge, die Strahlen und die Flecken mit einer parteilosen Allseitigkeit erkannten und anerkannten, gleichsam als Nachahmer der drei unterirdischen Totenrichter. Diesen Kosmopolitismus des Blicks 282 hatte Schiller weder für Völker, noch weniger für die Musen der Völker mit ihnen gemein, so wie Klopstock nicht einmal den engern mit Schiller.

Die weltbürgerliche Vielseitigkeit wurde nun eine ästhetische, [505] und die drei Könige brachten gern jeder genialen wundertätigen Geburt in der Krippe zwischen den Tieren seiner Zeit Myrrhen und Weihrauch. Von Herder stieg es zu Wieland (wenigstens in dessen Spätjahren), bis zu Goethe empor. Mitten unter diesen drei Männern im genialen Feuer stand als der vierte, wie jener Engel, Lessing, der sie alle übertraf, und der zugleich Sternes Werke, Jacobis Allwill, Hippels Lebensläufe, Calderon, Hans Sachs und Klopstock, wie die Römer alle Götter fremder Völker, verehrte.

Von solchen parteilosen Männern – wie er und Goethe vorzüglich –, welche wie die Peterskirche zu Rom einen besondern Beichtstuhl für alle fremde Völker hatten, könnte nun die Literaturzeitung ohne Gründe, die ich vorschlage, am besten geschrieben werden. Mein vollständiger Plan des neuen Journals ist dieser: Der Rezensent setzt den Titel des Werks, das er zu beurteilen hat, hin und fährt dann so fort: es gefällt mir – oder: es ist elend – oder: ein treffliches Buch – oder: ein langweiliges, oder wie er sonst sein Urteil motivieren und aussprechen will. Die Gründe, womit er sein Urteil belegt, sind seine Werke oder sein Name. Unähnlich andern Rezensenten, von welchen der Name wie von mehren Negerfürsten nicht genannt werden darf, solange sie regieren, ist ein solcher Rezensent dem Proteus ähnlich, der eben bloß in seiner eignen Gestalt, aber in keiner angenommenen die Wahrheit aussprach.

Ja könnten nicht auch andere Schriftsteller, obwohl von tieferem Wert, doch von einer genugsamen Vielbändigkeit, die ihrem bloßen Urteile statt der Gründe diente, könnten nicht auch solche ein Journal ohne Gründe schreiben, z.B. ich selber? – Könnt' ich nicht mehren vor Jahren herausgekommenen Werken, die mir nicht Lob genug erhalten zu haben geschienen, noch einiges nachschicken und ohne alles kritische Auseinandersetzen und Motivieren beurteilen? Und könnt' ich also z.B. nicht lobend anführen:

1) Lydiens Kinderjahre. Ein Beitrag zur Erziehungskunde – eine mit den feinsten und lehrreichsten Beobachtungen durchwebte Erziehgeschichte mit allen Reizen eines Romans, von einer leider schon hinübergegangenen Ch. Schütze – Oder ferner das [506] 2)kritisch-etymologische medizinische Lexikon von Ludwig August Kraus – ein in einer sonst schätzbaren Literaturzeitung mehr von Tatzen als von Händen über der Taufschüssel gehaltenes Werk, das durch Kürze, Fülle, Heiterkeit und fertige Hülfleistung wenigstens den Dilettanten der Kunst und der Sprache unentbehrlich ist – Oder ferner

3) Schützes Reise nach Karlsbad – ein Meisterstückchen der liebenswürdigsten Laune, zwar gelobt, aber noch nicht genug – Oder ferner die

4) Hammelsburger Reisen von Lange – ein gaukelnder Springbrunnen von komischen Erfindungen, der sie oft aus dem Wasserschatze der Sprache wunderbar emportreibt – noch abgerechnet, daß das spitze Satyrhorn sich zuweilen umstürzt und ausleert als ein Füllhorn historischer Gelehrsamkeit – Oder ferner den

5) Torso, einen satirischen Roman in vier Bändchen – ein Rumpfparlament, das mit seinen ironischen Akten nicht sowohl die allgemeinen Torheiten als die dem urdeutschen Reichs-Körper und dessen Reichs-Geiste immatrikulierten Narrheiten der Titelsucht, des Landadelstolzes, der Kleinlichkeit verfolgt – Oder auch (denn ich führte absichtlich gerade drei komische Werke an, weil der Deutsche unter allen Schriftstellern keine so leicht vergißt, wenn er ihnen auch nachlacht, als vorlachende, wie z.B. den sel. Musäus, so wie er keine länger besucht als predigende) – oder auch

6) des enzyklopädischen Wörterbuchs zweite, in drei Bänden vollendete Auflage, deren ungeheueren Kunstwörter-Umfang sogar der Gelehrte neben dem ebenfalls ungeheuern Wörterumfange seiner Wissenschaft nicht ganz in seinem Gedächtnisse beherbergen, sondern nur gastweise aufnehmen kann, zu welchem allen in der neuen Auflage noch die Überschwängerung mit einem geographischen Lexikon gekommen – Oder endlich

7) Schopenhauers Welt als Vorstellung und Wille, – ein genialphilosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn, aber mit einer oft trost- und bodenlosen Tiefe – vergleichbar dem melancholischen See in Norwegen, auf dem man in seiner finstern Ringmauer von steilen Felsen nie die Sonne, [507] sondern in der Tiefe nur den gestirnten Taghimmel erblickt, und über welchen kein Vogel und keine Woge zieht 283 Zum Glück kann ich das Buch nur loben, nicht unterschreiben.

– Hier sei indessen das Loben zu Ende; denn es gehört weit mehr Mut, nämlich gelehrter Gehalt dazu, als ich je im längsten Leben noch erringen kann, um das Lob zu verdoppeln, das z.B. einem Werke wieBarths »Urgeschichte Teutschlands« für seine historisch-gelehrte Schatzkammer, für seine Gewichtsprache und für den hohen, des Gegenstandes würdigen, freien Sinn gebührt.

3. Kantate- oder Zahl- und Buchhändlerwoche
Erste bis vierte Viertelstunde

Über dessen praktische Lesarten


Ich beschneide die Stunde, lieber Leser, denn wozu eine besondere Vorlesung für dich, da ja eigentlich jedes Buch und jede Bibliothek für niemand anders auf der ganzen Erde geschrieben wird als für deine Person. Doch in der Zahlwoche und Buchhändlerwoche gedenkt man noch auf eine eigne Weise an dich, was dir deine Ausgaben wohl leicht beweisen. Denn da kein Mensch in der Welt – nicht einmal die Orientfürsten, zu denen man noch weniger ohne Geschenke kommen darf als zu Landrichtern – von so vielen jedes Standes und Geschlechts, sogar von Fürsten und Damen und Dachstubenschreibern, beschenkt wird als du oder das sogenannte Publikum; und dies zwar sooft – jedes Jahr in den beiden Leipziger Messen – und zwar so reichlich wie ich denn allein dir ein Geschenk von 60 bis 64 Bänden gemacht –: so hast du, guter Leser, wahrlich das Deinige zu bezahlen und in deinen Beutel zu greifen, weil wir Autoren dem römischen Rechte zufolge jedem Geschenke den Schein eines Verkaufs geben [508] und folglich von dir etwas nehmen müssen, was der Buchhändler einkassiert unter dem herkömmlichen Titel: Buchpreis.

Aber, mein Leser, diese kostbaren Geschenke ordentlich zu verwenden, fehlt es dir ganz und gar an einer Anweisung und Schule; und wenn du durch Vor- und Nachschulen, durch Philosophen- und Fürstenschulen hindurchgezogen und durch Sing-, Tanz-und Fechtschulen: immer wurde dir keine Leseschule aufgemacht. – Noch schlimmer stehts mit deiner teuern Leserin, und käme sie eben aus Töchter- und Näh-und Spinnschulen her; – es ist aber wahrlich ein starkes Elend, und ein Schreiber sollte weinen. Stehe doch nie ein Dichter dabei und könn' es sehen, wie, wo, wann er gelesen wird, bester Leser – mitten im Warten auf einen Besuch oder auf frische Pferde – unter dem Ankleiden – unter dem Essen oder später da, wo Dr. Semler die Goldmacherei trieb – oder eilfertigst, um keinen neuen Lese-Torgroschen zu zahlen – oder des herausgefallenen Lesezeichens wegen irgendwo, wie es der Teufel will – oder mitten in höchstem Verdruß, oder auch im höchsten Jubel, ohne auf das Buch besonders zu merken – oder mitten in einem ergreifenden Auftritt oder Kapitel, aus dessen Anfange der Leser vor acht Tagen sprang, und zu dessen Ende er nach acht Tagen wiederkommen will, so daß während dieses Zwischenraums die ganze Springflut des Dichters in ihm verlaufen ist – oder endlich kurz vor dem Einschlafen.- –

Letztes jedoch tadl' ich an sich selber gar nicht; die Buchbenutzung, zu lesen, um zu schlafen, wäre an sich gerade die zweckmäßigste und sehr wünschenswert; – und es hat mehr Schein als Grund, wenn man fragt, ob also ein Schriftsteller seine besten Kräfte und feurigsten Augenblicke zusammendränge, um an dem Leser nichts in Feuer zu setzen als dessen Nachtmütze und Bettvorhang und ihn durch alle Glut, statt zu begeistern, bloß einzuschläfern, wie in Südamerika gerade die höchste Sonnenwärme (nach Humboldt) das Krokodil und die großen Schlangen in Winterschlaf und Schlamm einsenkt – denn die beste Antwort auf alles ist die Foderung, daß man den Schlaf nicht verachte, den ja Dichter- und andere Werke als den Wiederhersteller aller Kräfte, als den Eroberer des so poetischen Traumreichs, als den täglichen [509] Magnetiseur für das geistige Hellsehen nicht oft genug vermählen können mit ihren Schönheiten, so wie die Juno mit der schönsten Charitin, mit Pasithea, den Gott des Schlummers verband.

Aber, worauf ich zurückzukommen habe, der große Fehler und Jammer ist, daß der Leser und der Dichter, z.B. Homer, selten zur nämlichen, meistens in verschiedener Zeit einschlafen. Heute rückst du deinen Lesetisch mit der Nachtlampe und dem Sonnenkörper des Phöbus, d.h. mit dem poetischen Buche, ans Bett; doch das Buch wirft immer hellere Strahlen, je länger du hineinsiehst, und der Schlaf wird immer weiter zurückgejagt, je näher er kommen sollte – zu was hilft da Nachtmütze und Kopfkissen? Morgen hingegen schlägst du das Buch gerade bei dem Eintritte der poetischen Sonnenfinsternis auf, und du bist vor Langweile nicht imstande, die Augen so lange offen zu behalten, bis du deine gewöhnliche Lese-Portion vor dem Einschlafen eingenommen. Ebenso schlecht fährst und schläfst du, wenn der Schreiber blitzt im Werke und Wetterleuchten und Nachtwolken gegeneinander springen läßt; wie soll da Schlaf einwurzeln? Aber warum wird nicht Rat geschafft? Warum teilt der Schreiber nicht sein Werk nach Ähnlichkeit der Leiden-Stationen in Schlaf-Stationen ab und bezeichnet genauer die Stellen, wo er als abnehmender Mond aufgeht und durch ein geschickt fortgesetztes Vierteilen und diminuendo sich zu einem Grassichelrücken abstumpft, bis er ganz neu und unsichtbar wird zugleich mit dem Geist des Lesers? Guten Poeten fehlen dergleichen Stellen nie; nur sind sie für den schlaflustigen Leser im Bette nicht genug abgeteilt oder besonders angezeigt.

Was vollends deine Teuerste anlangt, lieber Leser, nämlich die Leserin: so sind ihre Lesarten noch zehn mal ärger, aber noch hundertmal unheilbarer; wir wollen sie also lieber machen lassen, was sie will – das Seidenläppchen oder der Seidenfaden kann aus dem Buche fallen – oder dieses, von ihr aufgeschlagen auf den Bauch hingelegt, werde von andern umgekehrt und zugeklappt, so daß sie in beiden Fällen nicht weiß, wo sie blieb – oder sie mag der Geschichte wegen hinten anfangen von der Offenbarung Johannis an und dann überall fortfahren bis zur Genesis und Schöpfung [510] zurück; – sie bringt doch ihr Buch zu Ende, und dies genüge jedem. Ja sie vollendet es noch eher als selber der Leser, da sie sich durch keine Sätze, geschweige Wörter, die sie nicht versteht, aufhalten läßt, sondern, sich mehr ans Ganze haltend, immer weiter dringt; eine treffliche Gewohnheit, welche sie zum Teil den Sprachzimmern der Männer verdankt, wo vor ihr täglich hundert juristische, medizinische und andere Kunstwörter, die ihr kein Mensch erklärt, vorüberrauschen.

Wahrscheinlich, geneigter Leser, wirst du auch meinem Buche die nächste Stelle an deiner Bettstelle geben und diese Bücherschau zugleich mit deinen Augen zumachen wollen, um im Schlafe statt meiner zu reden. Ich wünsche herzlich, dich so spät in der Nacht nicht zu wecken, sondern zu wiegen. – Und es haben allerdings manche Schreiber Vorzüge – und Philosophen mit ihren Windmühlen, von den Luftarten der Systeme getrieben, bewegen ebensogut Wiegen statt der Herzen als die Dichter mit ihren donnernden Wasserfällen von Redensarten, und keiner von beiden ist zu vergessen und auszulassen, so wie nicht nur die Leinweber in Schmiedeberg in Schlesien 284 die Wiegen ihrer Kinder durch kleine Wasserfälle schütteln lassen, sondern auch Bergleute an manchen Orten die ihrigen durch Windmühlen – – Und der Zuckerstoff welchen der Chemiker Braconnot in Nancy, wie nach ihm Dr. Vogel in München, durch konzentrierte Holzsäure aus Druckpapier auszuziehen versteht, bleibt immer nur ein körperlicher gegen den ähnlichen geistigen, den ein Minister aus dem Druckpapier der elendesten politischen Lobredner und Ministerialzeitungschreiber zu extrahieren weiß, ja aus Lumpen selber, aber aus tragenden, wie der Chemiker aus getragenen für Papier – Und die Interpunktionzeichen der deutschen Reich-Geschichte sind die Kaiser und die Könige, und die vielen Kommata sind die kleinen Fürsten, und dabei laufen die herrlichen Päpste als lange Gedanken-Striche und Durchstriche hindurch – Und in den Büchern der Griechen und Römer hingen die Sätze ohne Unterscheidzeichen 285: aneinander, bloß durch Geist gesondert – – Und [511] jeder Schluß, wenn denn nun dies alles so und nicht anders ist und sein kann, ergibt und macht sich auf die erhabene und erhebende Stellung unserer Zeit samt ihren Zeiten und Zeitläuften leicht – Und Südamerika samt Nordamerika und Griechenland samt England vergewissern, vervollkommnen, vervollständigen, verwirklichen, berücksichtigen, bewahrheiten, bewerkhaben, bewerkstelligen.....

– Jetzt schnarcht er, der Leser.

4. Himmelfahrt-Woche
Über die Dichtkunst

Über die Dichtkunst


– Jetzo wachst du wieder, Leser! Ich bekenn' es dir nun, daß ich dich schon in der vorigen Vorlesung mit allen meinen schwachen Kräften einzuschläfern getrachtet, weil ich zu gewiß voraussah, du würdest erst in dieser vierten Buch und Augen zugleich schließen wollen. Um nun dies um eine Vorlesung früher zu bewerkstelligen – letztes Zeitwort war eines von den vorhin gebrauchten Zeitwörtern aus dem Lexikon für Bettfedern, d.h. der für das Bett schreibenden Federn – drehete ich aus meiner bekannten Kunst, selber einzuschlafen 286, mit einem leichten Griffe zur Kunst, andere einzuschläfern, um durch langweiliges Luf-Springen ohne Ziel, wie du bei dem Wiederlesen alles selber bemerken kannst.

Jetzo aber hab' ich dich wach vor mir, mein teurer Leser, und ich kann mit mir wohl vor dir an dem schönen Himmelfahrttage von der Dichtkunst reden, dieser menschlichern Himmelfahrt, wo der Himmel selber zu uns herunterfahrt, nicht wir später in ihn hinauf. Es wohnt eine Kraft in uns, deren Allmacht uns ebensowohl Himmel als Höllen bauen kann, es ist die Phantasie. Im Leben kann uns diese Phantasie die heitersten Tage durch zurückgeworfene Schatten der Vergangenheit und nahgerückte [512] Schatten der Zukunft verdunkeln, sie kann die Freuden dünn und durchsichtig machen, und die Schmerzen dick und undurchsichtig – o! so gebt doch dieser gewaltigen Göttin das Reich der Dichtkunst zu verwalten, wo sie gerade die Gegenfüßlerin des Lebens werden kann und soll und nicht nur die Freuden vergrößern und die Schmerzen verkleinern, sondern auch beide verklären. Aber desto verwerflicher ist es, wenn sie auch in diesen Höhen ihre Entzauberkräfte in den Tiefen wiederholen wollte, und wenn sie, da unten der Erdboden knochige, scharfgezähnte Ungeheuer und lange Geiferschlangen genug trägt und entgegenführt, oben die zarten beweglichen Wolken des poetischen Himmels noch zu breiten und hohen Ungestalten und riesenhaften Furienmasken verdreht und formt anstatt zu weißen friedlichen Lämmerwolken und leichten hellen Gebirgketten, über die schweren finstern Bergrücken der Erde hinfliegend. – Warum hast du armer großer Dichter Byron, wie dein Leben, so dein Dichten zugleich im Hohlspiegel deiner Phantasie in- und auseinander gezerrt und das Heer der Sterne, wie auf einem Himmelglobus, durch Linien in Ungeheuer abgeteilt und verwandelt! – Und leider muß ich zu mir selber sagen: auch du hast früher gesündigt und zu oft die Gräber offen gezeigt, nicht bloß den Himmel offen. Aber gerade diesen Fehler nimmt das Alter am leichtesten, und der Mensch ist in seinem Spätleben der ihm überall verwandten Eintagfliege gern auch darin ähnlich, daß er wie sie, jahrelang im Dunkel des Tons und des Wassers verbringend, die letzten paar Abendstunden in dem warmen Glanze der untergehenden Sonne tanzt. Daher der alte Mann, wie sehr ernste Völker, lieber das Lustspiel als das Trauerspiel besucht.

Nur führe diese geöffnete Schulpforte nicht auf einen naheliegenden Irrweg der Goetheschen Nachspieler und Schulleute. Der Dichter erheitere nicht bloß wie Goethe, sondern erhebe auch wie Klopstock; er male nicht bloß das nahe Grün der Erde wie jener, sondern auch das tiefe Blau des Himmels wie dieser, das am Ende doch länger Farbe hält als das erbleichende Grün.

Und so tue denn, sag' ich zu mir selber, alles, was du noch vermagst in deinen abnehmenden Tagen – als wären es zunehmende –, [513] für die herrliche Dichtkunst, welche die armen und verarmenden Menschen tröstet und begeistert; und scheue keinen Aufwand von noch übrig gebliebnen Jahren und Kräften und absterbenden Augen für eine Aussaat, deren Mühe kleiner ist als die Ernte für die Freunde deines Herzens. – Und möge der hohe Geist, mit dessen Andenken ich mein früheres Werk über die Dichtkunst schloß und schmückte, meine letzten Anstrengungen und Entschlüsse billigen, – Herder!

Fußnoten

1 Eine Sammlung von Wielands Rezensionen im teutschen Merkur schlüge dem Künstler besser zu als eine neueste Ästhetik; oder überhaupt eine ehrliche Auslese von den besten ästhetischen Rezensionen aus den Literaturzeitungen und andern Jahrbüchern. In jeder guten Rezension verbirgt oder entdeckt sich eine gute Ästhetik und noch dazu eine angewandte und freie und kürzeste und durch die Beispiele – helleste.

2 Berlin. Monatsschrift 5. B. 1785. S.

3 N. 93.1812.

4 Nur zwei undichterische und doch große Ästhetiker sind hier auszunehmen, Aristoteles und Kant, zwei philosophische Menächmen in Tiefsinn Formstrenge, Redlichkeit, Vielblick und Gelehrsamkeit.

5 Er hat es getan, z.B. in den Büchern über die indische Mythologie und über die altdeutschen Volkbücher, aber diesem Geiste sind durch die Fülle so verschiedener Kräfte und Kenntnisse fast überall und an entgegengesetzten Enden Flügel gewachsen, die ihm das Lenken erschweren.

6 B.II.S, 336.

7 Die Anmerkung ist bloß für die Gelehrten, welche in jedem Werke nichts lieber haben und nützen als ein anderes, nämlich die sogenannten Hasen-Öhrchen oder Gänseaugen und Gänsefüße, womit die Buchdrucker typisch genug die Anführ-Typen benennen.

8 Bekanntlich geht die halbjährige Winter-Nacht am Pole durch immer längere Morgenröten endlich in den Gleicher-Tag über, wo sich die Sonne als halbe Scheibe um den ganzen Horizont bewegt.

9 Und seltsam genug mußten zu oft die Heldendichter in Lebens-Stürmen ohne Land und Hafen sterben; und in das Leben eines Camoens, Tassos, Miltons, Dantens, Homers fiel so wenig Sonnenlicht, indes vieleTrauerspiel-Dichter oft das Beispiel glücklichster Menschen gaben, z.B. zuerst Sophokles, dann Lope de Vega, Shakespeare, Voltaire etc.

10 Nach Kant ist die Bildung der Weltkörper leichter zu deduzieren als die Bildung einer Raupe. Dasselbe gilt für das Besingen, und ein bestimmter Kleinstädter ist schwerer poetisch darzustellen als ein Nebel-Held aus Morgenland; so wie nach Skaliger (de Subtil. ad Card. Exerc. 359. Sect. 13) ein Engel leichter einen Körper annimmt (weil er weniger braucht) als eine Maus.

11 Aus diesem Grunde gibt Klopstocks Rach-Ode gegen Carrier »die Vergeltung« dem Geiste keinen poetischen Frieden; das Ungeheuer erneuert sich ewig; und die kannibalische Rache an ihm martert das fremde Auge ohne Erfolg, und die Strafe ahmet dem Verbrecher die prosaische Grausamkeit in poetischer nach.

12 Vor einiger Zeit wurde auch ein Preis auf die Besinnung von Sodoms Untergang gesetzt.

13 Bloß die Forderung der poetischen Übermacht und nicht der Menschenkenntnis machen das Lustspiel so selten und es dem Jünglinge so schwer. Aristophanes hätte sehr gut eines im 15 1/2. Jahre und Shakespeare eines im 20ten schreiben können.

14 Mit diesem schön-fürchterlichen Ausdruck bezeichnet die nordische Mythologie den Jüngsten Tag, wo der oberste Gott die übrigen Götter zerstört.

15 Bekanntlich lässet sich die Folge des Auf- und Zuschließens der Blumen nach Linné zu einer Stundenmessung gebrauchen.

16 Die Beschreibung des Schönen als eines allgemein Gefallenden ohne Begriff legt sich noch fester den Farben als den Umrissen an, wie alle Kinder und Wilde beweisen, welche das tote Schwarz dem lebendigen Rot und Grün nachsetzen, indes der Genuß der schönen Zeichnung ja an den Völkern nach deren Begriffen wechselt.

17 Im Ergänzungsblatte der Allg. Literatur-Zeitung. 1806. S. 67.

18 Delbrück über das Schöne.

19 Der Rezensent der Vorschule in der Jenaer Literaturzeitung.

20 So viele Wunder im Titan auch durch den Maschinisten, den Kahlkopf zu bloßen Kunststücken herabsinken: so ist der Betrüger doch selber ein Wunder, und unter dem Täuschen anderer treten neue Erscheinungen dazu, welche ihn täuschen und erschüttern.

21 S. das weitere davon Q. Fixlein, 2te Auflage, S. 343: über die Magie der Einbildungkraft.

22 Nur die Majorität und Minorität, ja nur die Minimität und Maximität verstatten diesen Ausdruck; denn eigentlich ist kein Mensch von einem Menschen qualitativ verschieden; der Übergang aus der knechtischen Kindheit in das moralische freie Alter, so wie das Erwachsen und Verwelken der Völker könnte den Stolz, der sich lieber zu den Gattungen als den Stufen zählt, durch diese offenbare Allmacht der Stufen-Entwicklung bekehren.

23 Eben weil er auf dem Traum-Boden die gewöhnlichen Geh-Muskeln gebrauchen will und nicht kann, in der Himmelluft aber keine Flieg-Muskeln nötig hat.

24 Da auch in der Moralität die beiden Klassen dessittlichen Sinns und der sittlichen Kraft zu beweisen sind: so würde Rousseau gleichfalls in die passive zu bringen sein.

25 Dies gilt vom philosophischen ebenfalls, den ich (gegen Kant) vom poetischen nicht spezifisch unterscheiden kann, man sehe die noch nicht widerlegten Gründe davon im Kampaner Tal S. 51 etc. Die erfindenden Philosophen waren alle dichterisch, d.h. die echt-systematischen. Etwas anderes sind die sichtenden, welche aber nie ein organisches System erschaffen, sondern höchstens bekleiden, ernähren, amputieren u.s.w. Der Unterschied der Anwendung verwandter Genialität aber bedarf einer eignen schweren Erforschung.

26 Denn Unbesonnenheit im Handeln, d.i. das Vergessen der persönlichen Verhältnisse verträgt sich so gut mit dichtender und denkender Besonnenheit, daß ja im Traume und Wahnsinne, wo jenes Vergessen am stärksten waltet, Reflektieren und Dichten häufig eintreten. Das Genie ist in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler: in seinem hellen Traume vermag es mehr als der Wache und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit im Dunkeln; aber raubt ihm die träumerische Welt, so stürzt es in der wirklichen.

27 Denn reine Negation oder Leerheit schlösse jedes entgegengesetzte Bestreben aus, und die negative Größe wirkte wie eine positive.

28 Unsichtbare Loge, I. 278.

29 Prophezeiung, oder deren Ganzes, Allwissenheit, ist nach unserm Gefühl etwas Höheres als bloßes vollständiges Erkennen der Ursache, mit welchem ja der Schluß oder vielmehr die Ansicht der Wirkung sofort gegeben wäre; denn alsdann wäre sie nicht ein Antizipieren oder Vernichten der Zeit, sondern ein bloßes Anschauen, d.h. Erleben derselben.

30 Platon bildet bekanntlich mit dem weißen das moralische Genie in uns ab, und mit dem schwarzen Kants Radikal-Böses.

31 Jacobi über Spinoza. Neue Auflage S. 17.

32 Über das Ganze des Lebens oder Seins gibt es nur Anschauungen; über Teile Beweise, welche sich auf jene gründen.

33 Bekanntlich werden im Alter die Gefäße Knorpel und die Knorpel Knochen, und es kommt so lange Erde in den Körper, bis der Körper in die Erde kommt.

34 Man hat das Verhältnis zwischen griechischen Dichtern und Philosophen, welche mit erobernder Kraft und in so kurzer Zeit fast auf allen neu entdeckten Eilanden der neuern Philosophie gewesen waren, noch nicht genug nachgemessen.

35 Wie heiliger war dies damals, als wenn in neuern Zeiten eine Pompadour Witz-Dichterlingen, welche mit der schillernden Pfauenfeder schreiben, zum Lohne das schwere lange Feldherrnschwert in die Hände gibt.

36 Unter der Regierung der Freiheit schrieb – wie später in Italien – jede Provinz in ihrem Dialekte; erst als die Römer das Land in Ketten legten kam auch die leichtere Kette hinzu, daß nur im attischen Dialekte geschrieben wurde. Siehe Nachträge zu Sulzers Wörterbuch I. 2.

37 Z.B. der jugendliche Jupiter zu Ägae, der Ismenische Apollo mußten den schönsten Jüngling zum Priester haben. Winckelmanns Geschichte der Kunst.

38 Götter ließen sich vom Areopag richten (Demosthenes in Aristocrat. und Lactant. Inst. de fals. relig. 1. 10.); dazu gehört Jupiters Menschenleben auf der Erde, sein Erbauen seiner eignen Tempel. Id. I. II. 12.

39 Daher die Franzosen in ihren gebildeten Zirkeln das allgemeine Wort vorziehen, z.B. la glace statt miroir, oder spectacle statt théatre.

40 Im Lateinischen und Russischen gälte wieder das Umgekehrte aus demselben Grunde. Wenn man in dem zwar talent-verworrenen, doch talentreichen Trauerspiele Cadutti aus der höhern Region des Allgemeinen plötzlich durch die Worte: »Und was sich mildern lässet, Soll in der Appellations-Instanz gemildert werden« in die juristische Region herabstürzt: so ist eine ganze Szene getötet, denn man lacht bis zur nächsten.

41 Jugend eines Volks ist keine Metapher, sondern eine Wahrheit, ein Volk wiederholt, nur in größeren Verhältnissen der Zeit und der Umgebung die Geschichte des Individuums.

42 Nach den alten Astronomen kreiseten II Himmel übereinander, der 12te oder kristallene stand.

43 Es ist dasselbe, wenn Fr. Schlegel »göttliche Faulheit und Glück des Pflanzen- und Blumenlebens« preiset; nur daß er sich dabei an seinem wörtlichen Übermute und an dessen entgegengesetzten Wirkungen zu sehr erfreuet.

44 Unsichtbare Loge I. S. 194.

45 S. dessen Schriften 11. S. 60: »Im griechischen Zustand macht, weil die höchste Übereinstimmung zwischen Denken und Empfinden war, die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen den naiven Dichter, der sentimentale erhebt die Wirklichkeit erst zum Ideal, daher reflektiert er erst über den Eindruck der Gegenstände auf sich und hat die Wirklichkeit (S. 69) als Grenze, die Idee als das Unendliche.« – Inzwischen muß doch (S. 137) »jede Poesie einen unendlichen Gehalt haben; entweder unendlich in der Form, indem sie den Gegenstand mit allen seinen Grenzen darstellt(?), also absolute Darstellung des naiven Dichters; oder der Materie nach, wenn sie alle Grenzen entfernt, Darstellung eines Absoluten, oder sentimentale«. Allein S. 153 ist »nicht die wirkliche, sondern die wahre Natur das Subjekt der naiven Dichtung, welche selten existiert.« Und damit ist der ganze Unterschied wieder aufgehoben. Denn die wahre Natur wird nur durch Idee und Ideal von der wirklichern getrennt und vorher gesetzt, jene und diese ist folglich als solche nie das Urbild des poetischen Nach-Bildes, sondern die Idee ists; mithin kann keine vollständigste Nachahmung des Wirklichen allein entscheiden, oder keine absolute Darstellung desselben. Entweder wird durch die »wahre« Natur die ganze Auflösung der Frage vorausgesetzt und erschlichen, oder es gehört überhaupt kein äußerer Vorwurf und Stoff als solcher in den Unterschied beider Dichtungarten. Und letztes ist auch. Wenn die wahre Natur »selten« existiert: so ist daraus die griechische Dichtung wenig erklärt; und da jede Natur erst durch den Dichter dichterisch wird (denn sonst würde der Dichter gemacht, nicht das Gedicht, und jeder zu jenem), und da auch die plastischen Künstler die »wahre« Natur der Griechen doch idealisieren mußten, so kann in den Unterschied der naiven und sentimentalen Dichtung durchaus nicht ein Unterschied der Objekte (als ob die neuere Zeit alle würdigen verloren hätte) aufgenommen werden.

46 Schiller nennt ihn den modernen, als ob alles hinter den Griechen Geschriebene modern und neu wäre, gleichgültig ob ein Jahrtausend alt oder zwei Jahrtausend; ferner den sentimentalen, ein Beiname, welchen die Romantiker Artost und Cervantes ohne sonderlichen Ernst annehmen würden.

47 So sehr Ahlwardts Übersetzung durch den Fund des reinern Textes vorwiegen kann: so scheint es mir doch, daß der Leichtigkeit und Treue und den Wohllauten der Jungschen viel zu wenig lobende Gerechtigkeit widerfahren sei.

48 Man weiß, wie nach den Manichäern die ganze Körperwelt den bösen Engeln zugehörte, wie die Orthodoxen den Fluch des Sündenfalls auf alle Kreaturen ausdehnten u.s.w.

49 Oder das Überirdische knüpfte sich an unkünstlerische Verkörperungen, an Reliquien, Kreuze, Kruzifixe, Hostien, Mönche, Glocken, Heiligenbilder, die alle mehr als Buchstaben und Zeichen denn als Körper sprachen. Sogar die Taten suchten das Körperliche zu entbehren, d.h. die Gegenwart: die Kreuzzüge suchten eine heilige Vergangenheit mit einer heiligen Zukunft zu verbinden. So die Legenden der Wunderwerke. So die Erwartung des Jüngsten Tags.

50 Half nicht vielleicht der unbestimmte romantische Charakter der Musik es miterzeugen, daß gerade die nebligen Niederlande viel früher große Komponisten bekamen als das heitere helle Italien, das lieber die Schärfe der Malerei erwählte, so wie aus demselben Grunde jene mehr in der unbestimmten Landschaftmalerei idealisierten und die Welschen mehr in der bestimmten Menschengestalt?

51 Sogar ein Leibniz findet es findenswert, daß z.B. Christus im Zeichen der Jungfrau geboren worden. Otium Hanover. p. 187. Daher kann eine vorüberfliegende Anfahrung verziehen werden, daß, als im Kaiserbildersaale zu Frankfurt leerer Raum nur noch für ein einziges Bild eines deutschen Kaisers jahrelang leer stand, das Schicksal ihn wirklich mit dem Bilde des letzten füllte und schloß.

52 Bekanntlich entsteht das Lächeln schlafender Kinder aus Säuere im Magen, welche aber bei Erwachsenen sich nicht sonderlich durch Lächeln oder Engel verrät.

53 Fremde Träume hören wir nicht ohne ein romantisches Gefühl, aber unsere erleben wir ohne dasselbe. Dieser Unterschied des Du und des Ich reicht durch alle moralische Verhältnisse des Menschen und verdient und bekommt an einem andern Orte eine Erwägung.

54 Höchst wahrscheinlich hat eben darum Moritz, mehr ein Geisterseher als Geisterschöpfer, in seine Erfahrung-Seelenkunde so viele Träume, Erscheinungen, Ahnungen etc. öfter aufgenommen als darin erklärt und so hinter dem Schirme eines Sammlers und Exegeten seine Geisterseherei in etwas vor der berlinischen und gelehrten Körperseherei gedeckt.

55 Nur daß auf letzten, wie oft bei theatralischen Vorstellungen vorfällt, zuweilen eine aufgehende Bühnen-Türe das äußere Weltlicht hereinlässet und so die poetische Beleuchtung unterbricht durch eine weltliche.

56 II. S. 306.

57 Die Alten drückten sich unbewußt mit Kürze und Einfachheit aus und wollten einfältig nur die sie erfüllende Wirkung des Gegenstandes weiter geben. Die Neuen schneiden sich erst aus der selber bewußten Vielversteherei eine kokette Kürze zu, welche die Preise der Einfachheit und des Reichtums zugleich gewinnen will.

58 Dessen Geschichte der komischen Literatur I. B.

59 In der Zeitung für die elegante Welt. Febr. 1812.

60 Im 3ten Band des neu aufgelegten Hesperus S. 3 sagt' ich es unentwickelt. Ich merk' es an, damit man nicht glaube, daß ich meine eignen Diebe bestehle, wie es zuweilen scheinen kann. Der sonst treffliche Ästhetiker Platner setzt »die Schönheit in eine gemäßigte Mischung des Erhabnen und des Lustigen«. Durch die Addition einer positiven und einer negativen Größe bekommt ein definierender Philosoph allerdings den leeren Raum, in welchen die Anschauung des Lesers recht gut den verlangten Gegenstand unbefleckt hineinsetzen kann.

61 Man steigere die optische Intension, man überfülle das Auge mit Licht: es wird nie Kräfte, nur Größen finden.

62 Die Ewigkeit ist für die Phantasie ein mathematisches oder optisches Erhabene; oder so die Zeit ist die unendliche Linie, die Ewigkeit die unendliche Fläche, die Gottheit die dynamische Fülle.

63 Quintus Fixlein, 2te Auflage, S. 357.

64 Am Tage würden sie vor dem größern Lichte selber nur kleine Gegenstände.

65 Sogar dann nicht, wenn der sonst lächerliche Kontrast zwischen Äußern und Innern auf das Unbelebte trifft. Eine geputzte Pariser Puppe kann jeder mögliche Kontrast mit ihrem Putze nicht lächerlich machen.

66 Mich wundert daher, daß man diese fürchterliche Verdopplung der Gestalt nur komisch, nicht auch tragisch verwendet hat.

67 Daher können höhere Wesen zwar über uns, obwohl selten, lachen und unsere Handlungen mit ihren Einsichten kontrastieren, aber dazu sind nicht unsere törichten tauglich, sondern unsere weisen. – Daher ist Philosophie z.B. die Schellingische, welche den Verstand aus dem Gebiete der Vernunft verweiset, schwer lächerlich zu machen; denn unser subjektiver Kontrast, den wir ihr leihen wollen, ist eben schon ihr eigner.

68 Z.B. lächerlich ist die Darstellung des Schnellen – ferner der Menge ferner der Buchstabe s (versessen, besessen etc.) – ferner maschinenmäßige Abhängigkeit des Geistigen von der Maschine (z.B. so lange zu predigen, bis man ausdünstet), daher sogar das Passivum komischer ist als das Aktivum – ja der ist lächerlicher als die – ferner die Verwandlung eines lebendigen Wesens in ein abstraktes (z.B. etwas Blaues saß auf dem Pferde) u.s.w. Gleichwohl müssen hier so gut, aber auch so schwer die drei Bestandteile des Lächerlichen aufzuzeigen sein als im Lächerlichen, das einem Kinde als solches erscheint.

69 In seiner Gelehrten-Republik.

70 Man erlaube mir, aus dem Neujahrs-Taschenbuch 1801 folgende Stelle aus meinem eignen Aufsatze abzuschreiben: »Gerade in die andächtigsten Zeiten fielen die Narren- und Eselsfeste, die Mysterienspiele und die Spaßpredigten am ersten Ostertage, bloß weil da das Ehrwürdige noch seinen weitesten Abstand von diesen Travestierungen behauptete, wie der xenophontische Sokrates vom aristophanischen. Späterhin verträgt die Zweideutigkeit des Ernstes nicht mehr die Annäherung des Scherzes, so wie nur Verwandte und Freunde, aber nicht Feinde einander vor den komischen Hohlspiegel führen dürfen.« –

71 Die meisten und besten Bonmots fallen auf Geistliche und auf Schauspieler; – auf diese noch besonders darum, weil ihre Bühne die dunkle Kammer und kleine Welt der ganzen ist und folglich alle komischen Kombinationen dieser, zumal durch den Schein- und Vexier-Apparat der großen, so sehr zusammendrängt, daß in Hogarths Komödianten nicht sowohl der Reichtum als die Enthaltsamkeit in witzigen Vermählungen herauszuheben ist; – beide aber bieten gemeinschaftlich durch die Höhe ihrer wahren und ihrer scheinbaren Verhältnisse dem Zufall die größeren Kontraste dar. So war im christlichen Mittelalter in allen Ländern gerade die dunkelfarbige Geistlichkeit das ausersehene Schwarz der satirischen Zielscheiben.

72 Quintus Fixlein, zweite Auflage. S. 371.

73 Man erinnere sich, daß ich oben den objektiven Kontrast den Widerspruch des lächerlichen Bestrebens mit dem sinnlich-angeschaueten Verhältnis nannte, den subjektiven aber den zweiten Widerspruch, den wir dem lächerlichen Wesen leihen, indem wir unsere Kenntnis zu seiner Handlung leihen.

74 Z.B. sein Brief über Adam als die Mutterloge des Menschengeschlechts; sein anderer über den Ruhm u.s.w.

75 Empfindselig (ein Hamannsches Wort) ist besser als empfindelnd, noch außer dem Wohlklang; jenes bedeutet bloß das übermäßige schwelgende Frequentativum des Empfindens (nach den Analogien redselig, saumselig, friedselig), dieses aber bezeichnet indes ohne Wahrheit, zugleich ein kleinliches und ein erlognes Empfinden.

76 Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen.

77 Aber mit Unrecht, denn das Komische arbeitet so wenig dem Pathetischen vor als die Abspannung jemals der Anspannung, sondern umgekehrt.

78 Flögels Geschichte des Grotesk-Komischen.

79 Tableau de Paris, ch. 648.

80 S. 5. B. seiner Reisen.

81 Dieses tat er nach Holberg, Foote, Swift etc.

82 D. Merkur 1779. 1. B. S. 275.

83 Musäus war später demütig genug, in die bleihaltigen Stollen der Allg. deutschen Bibl. seine goldhaltigen zu treiben und ihr Rezensionen der Romane zu schenken, es ist aber schade, daß man jetzo diese launigen Rezensionen ihren Büchern und ihrer Bibliothek nachsterben läßt, ohne diese untergesunkenen Perlen aus dem Wuste auszuheben und einzufädeln.

84 Die Perser sagen: nur Gott kann ein Ich haben; die Türken: nur der Teufel sagt Ich. Bibliothèque des Philosophes; par. Gautier.

85 Z.B. in the koran or the life etc.

86 Ad Aristophanis lucernam lucubrare. Siehe in Welckers Übersetzung der Frösche, Vorrede p. IV. Diese und die frühere der Wolken darf ich vielleicht wegen ihrer komischen Kraft ihrer leichtern Herüberleitung des großen Komus zu uns, wegen ihrer reichen sachlehrenden Anmerkungen und endlich wegen des hohen Standpunktes der ästhetischen Übersicht schon anzupreisen wagen, ohne darum den Vorwurf von Anmaßung eines Urteils über ein von so gewaltigen philologischen Königen beherrschtes Sprachgebiet auf mich zu laden.

87 Cicero sagt: adeo illum risi, ut pene sim factus ille.

88 Alle Lächerlichkeiten im Tristram, obwohl meist mikrologische, sind Lächerlichkeiten der Menschen-Natur, nicht zufälliger Individualität. Fehlt aber das Allgemeine, z.B. wie bei Peter Pindar, so rettet kein Witz ein Buch vom Tode. Daß Walter Shandy mehre Jahre, jedesmal so oft die Türe knarrte, sich entschließet, sie einölen zu lassen u.s.w., ist unsere Natur, nicht seine allein.

89 Sterne wird, je tiefer hinein im Tristram, immer humoristisch-lyrischer. So seine herrliche Reise im 7. Bande; der humoristische Dithyrambus im 8. B. c. II. 12. u.s.w.

90 Daher sollte man von jeder deutschen Stadt so viele benannte Einzelheiten (wie bei den Vieren schon geschehen ist) gäng und gäbe machen, als nur angehen will, bloß um dem Komiker mit der Zeit ein Wörter- und Flurbuch komischer Individuation in die Hand zu spielen. Ein solcher schwäbische Städte-Bund würde die getrennten Städte ordentlich zu Gassen, ja zu Brettern eines komischen Nationaltheaters zusammenrücken lassen – der Komikus hätte leichter malen und der Leser leichter fassen. Die Linden der Tiergarten – die Charite – die Wilhelmshöhe – der Prater- die Brühlische Terrasse sind zum Glücke für jeden komisch-individualisierenden Dichter zu seinem Spielraum urbar; aber wollte z.B. der Verfasser von den wenigen Städten, wo er gehauset, von Hof, Leipzig, Weimar, Meinungen, Koburg, Baireuth, die Eigennamen der besten, da sehr wohl bekannten und benannten Plätze und Verhältnisse zu komischer Individuation gebrauchen: so würde er wenig verstanden werden und folglich schlecht goutiert, nämlich auswärts.

91 An Sprach- und Bilder- und sinnlicher Fülle übertrifft Fischart weit den Rabelais und erreicht ihn an Gelehrsamkeit und aristophanischer Wortschöpfung; er ist mehr dessen Wiedergebärer als Obersetzer; sein goldhaltiger Strom verdiente die Goldwäsche der Sprach- und der Sittenforscher. Hier einzelne Züge aus seinem Bilde eines schönen Mädchens aus seiner Geschichtklitterung (1590) S. 142: »(Sie hatte) rosenblüsame Wänglein, die auch den umwebenden Luft mit ihrem Gegenschein als ein Regenbogen klärer erläuterten, wie die alten Weiber, wan sie aus dem Bad kommen: Schwanenweiß Schlauchkälchen dardurch man wie durch ein Mauranisch Glaß den roten Wein sahe schleichen: ein recht Alabastergürgelein: ein Porphyrenhaut, dardurch alle Adern schienen, wie die weißen und schwarzen Steinlein in eim klaren Brunwässerlein: Apfelrunde und lindharte Marmol-Brüstlein, rechte Paradießäpflin und Alabasterküglein, – auch fein nahe ans Hertz geschmückt und in rechter Höhe emporgeruckt, nicht zu hoch auff Schweitzerisch und Kölnisch, nicht zu nider auf Niderländisch – – sondern auf Frantzösisch etc.« Jenes Reimen der Prosa kommt bei ihm häufig und zuweilen, z.B. c. 26, S. 351, mit schöner Wirkung vor. So ist das 5te Kapitel über Eheleute ein Meisterstück sinnlicher Beschreibung und Beobachtung; aber keusch und frei wie die Bibel und unsere Voreltern.

92 Nach Pauw über die Griechen, I. B., der es aus dem Athenäus anführt. Nicolai bewies indes in der Rezension dieser Stelle, daß mich Pauw, belogen und daß das ganze Gericht nur eine Sammlung von schmarotzenden Possenreißern war.

93 Ich zitiere zum Beweise seine Dedikationen und Noten. Wer z.B. zur Welt – die überhaupt mit der Schwerfälligkeit übertragen ist, welche nur Montaigne gut ansteht, als antiker Rost der Zeit – S. 114. B. I. diese Note machen konnte: »Was ein Engländer doch wohl von Höflichkeitsbezeugungen sprechen mag! Er, der Jedermann, auch den Allervornehmsten, Ihrzet!! Hem!« – oder wer den erbärmlichen, von Mylius, Müller und andern nachgesprochnen Spaß-Laut de- und wehmütig wiederholen kann: dessen schaffende Kräfte stehen tief unter seinen nachschaffenden. Wie wenig die großen Muster – auch innigst verstanden und geliebt – die Zeugungkräfte veredlen, sieht man aus den matten siechen Geburten herrlicher Übersetzer und Anbeter der Neuern und Alten. Zur unbefleckten Empfängnis gehört stets auch eine unbefleckte Zeugung durch einen oder den andern heiligen Geist.

94 Eine Übersetzung mit angedruckter Urschrift wäre für den Forscher der französischen Sprache eine ungeheure Sprach-Schatzkammer (für das große Publikum wäre und sei sie nichts). Die schwierigen Zeit- und Ort-Anspielungen brauchte der Übersetzer nicht zu erklären, sondern nur zu übersetzen aus der trefflichen Ausgabe in Quart: Oeuvres de Maître François Rabelais avec des remarques historiques et critiques de Mr. le Duchat. A Amsterdam etc. 1741.

95 Ich meine jene Wendung des Ernstes, z.B. von einem Dummen zu sagen: er sei kein Mann von glänzenden Gaben.

96 Die Ironie muß stets die zwei großen Unterschiede, nämlich die Beweise eines Daseins und die Beweise eines Werts, (wie der Ernst) gegeneinander vertauschen; wo sie Wert zu erweisen hätte (wie hier), muß sie Dasein erweisen und umgekehrt.

97 »nicht absprechen.« statt »zuschreiben muß.«

98 Hier »geringste«. Da hier gerade der Superlativ den Ernst verstärkt, so darf er auch den Schein verstärken.

99 In der ruhigen, langsamen, ehrerbietigen Einführung niedriger Gleichnisse ist Swift der Meister.

100 »nicht sehr verschieden«. Man bemerke die Verneinung der Verneinung.

101 »Gestank«. Verträgt der Ernst ein niedriges oder ein sinnlich malendes Wort (wie weiter unten »abstumpfen«, oben »besticht«, wofür »bestechen« weniger anklänge), desto besser und swiftischer.

102 Dies sind die beiden einzigen ironischen Anfangsformeln, welche ich in der französischen ironischen Literatur und der deutschen Nachäfferei antreffe. Il faut avouer ist sogar schon so oft ironisch dagewesen, daß es kaum mehr rein ernsthaft zu gebrauchen ist.

103 Beider Zusammenarbeiten ist bekannt. Literarisch bemerk' ich hier, daß Lichtenbergs Satire gegen den Taschenspieler Philadelphia mit den Hauptideen und mehren Nebenideen aus der Satire Arbuthnots gegen einen Taschenspieler: The wonder of all the wonders that ever the world wondered at, genommen ist.

104 Er schrieb alle seine Satiren im Zwischenraume vom J. 1732 bis 1736; so unbegreiflich in diesen bloßen vier satirischen Jahrzeiten auf der einen Seite ein so großer Unterschied zwischen seiner ersten und lezten Satire, nämlich ein so schnelles Fortschreiten ist: so unbegreiflich ist auf der andern das nachherige Verstummen und Verschließen eines so reichen Geistes; eine literarische Seltenheit einziger Art! – Und doch gab uns das Schicksal noch eine zweite neuere, wofür es ebensosehr unsere Klage als unseren Dank verdient, die nämlich, daß der Jüngling, welcher durch die »Inokulation der Liebe« unsere besten komischen Dichter erreichte, seinen ganzen blühenden Jahrraum, worin er sie alle hätte übertreffen können, in stummen Sabbatjahren und Ernteferien zubrachte, bloß um im Alter mit seinen »Reisen« die komischen Prosaiker zu übertreffen.

105 Ich sagte schon an e. a. O., daß die Liebe ihr Geliebtes gern verkleinernd anrede, daher in den Jahrhunderten der größern Liebe mehre Verkleinerung-Wörter waren.

106 Die falsche Ironie hat nur ein lobendes, superlatives Beiwort, indes die wahre immer abwechselt und statt des höchsten das bestimmteste aussucht. Schade, daß sogar nicht nur Voltaire (die Franzosen ohnehin) bloß das ironische Beiwort: beau ewig gebraucht, sondern auch Rabelais.

107 Bragur B. III

108 Daher ziehe ich Swifts lahme Übersetzung durch Waser den neuern gelenken vor.

109 Denn tragische Leidenschaft widerspricht als Anlage auch nicht der edelsten Natur. Unmoralische Folge daraus als Maxime sondert auf eine eigne epische Weise den Spieler vom Menschen und ist eine bessere Maske der Individualität als die antike körperliche, der Schauspieler – nämlich der geniale und der moralische, sogar der unmoralische – wird zur bloßen Natur der Kunst, höchstens der juvenalischen Satire tritt er näher. Hingegen der komische Schauspieler muß jede Minute den Kontrast zwischen seinem Bewußtsein und seinem Spiele (fielen beide auch in fremden Augen in eins zusammen) erneuern und festhalten. Ein tragisches Stümperwerk könnte keinFleck, aber ein komisches wohl ein Iffland gut ma chen durch das Spiel. – Der Unterschied des Zuschauers vom Leser der Schauspiele gibt sowohl den tragischen als den komischen eigne Regeln, wenigstens Winke. Dem Leser des Lustspiels kann Witz und noch mehr Humor viel körperliche Handlung ersetzen, dem Zuschauer desselben dauert auf der Bühne der glänzendste Humor – und wär' es der eines Falstaffs – leicht zu lang und kühlt zu sehr, indes ihn körperliche Fehler, Stammeln, Fehlhören, Sprecheinflicksel, welche dem Leser wegen der Leichtigkeit ihrer Erfindung durch Wiederkommen unbedeutend werden, mit dem Reize der körperlichen Darstellung bereichern und bei Wiederholung sich durch den Reiz neuer Nachbarschaft und des vieleckigen Individualisierens verjüngen. So klingt z.B. in Kotzebues Pagenstreichen das Repetierwerk: »als ich von Stolpe nach Danzig reisete« immer komisch an. (Auch das Lesen erwartet und begehrt die Wiederkehr desselben Spaßes nur in ungleich größeren Zwischenräumen.) – Hingegen das Trauerspiel darf auf der Bühne das verhüllte leidende Herz in Seufzern von Worten auseinanderlegen, aber es muß die rohen Wunden-Dolche der äußern Handlung so viel wie möglich verhüllen; wir wollen die Schmerzen denken, nicht sehen, weil wir uns leichter die innere als die äußere vortäuschen.

110 Daher ist in der Wirklichkeit, wo der subjektive Kontrast außerhalb des Objekts liegt, kein Tor so toll als im Lustspiel.

111 Es ist für Kotzebue schade, daß er zu viel Witz und zu viel unpoetische Nebenrichtungen hat, um uns noch viel bessere Lustspiele zu geben, als einige seiner guten sind. Im dramatischen Almanach erhält ihn öfters die Kürze des Wegs auf dem rechten Wege.

112 Daher Schriftsteller, welche im lyrischen Ernste edel bis zum Erhabenen sind, im Scherze roh und widrig werden, weil sie ihr Feuer fortschüren. So z.B. wenn Schiller über Nicolai und über die satirischen Peitschen aussagt daß diese von Händen gehandhabt würden, welche besser die gemeinen darin hielten. Sogar der höhere Herder vergaß hierin zuweilen den hohen Herder.

113 In Shakespeare haben die Narren oder Rüpel in den eigentlichen Komödien mehr Witz als Laune aber in den ernsten Stücken tritt aus komischen Mitspielern die Laune bis zum Humor hervor.

114 Der Parasit der Alten ist der Harlekin, nach Lessings Vermutung.

115 Franzosen und Engländern fehlt es zu dieser Quelle des Komischen nicht am gegenseitigen Hasse, sondern ihren Sprachen an gegenseitiger Unähnlichkeit und Beugungsfreiheit. Nur ihre heroischen und burlesken Metra tauschen sie wechselnd gegeneinander aus.

116 Palingenesien II. p. 297.

117 Siehe Flegeljahre 1. S. 141.

118 Die nähern Bestimmungen folgen in den nächsten §.

119 Er meint das Schlachtgeschrei.

120 Die Unterschrift unter die Bildsäule eines untätigen französischen Königs: Statua Statuae, oder der Einfall über ein leeres Parterre, es sei le double de l'autre.

121 d.h. mehr mit einer Reihe bildlicher Ähnlichkeiten als mit einer Antithese, wie weiter unten bei dem bildlichen Witze gezeigt wird.

122 Denn unser Gottesdienst wird jetzo meist in Büchern gehalten.

123 Nur die Hamannsche ausgenommen, deren Kommata zuweilen aus Planetensystemen und deren Perioden aus Sonnensystemen bestehen, und deren Worte (gleich den ursprünglichen, nach Herder) ganze Sätze sind. Oft ist die Kürze leichter zu haben als zu lesen, der Verfasser kömmt zum ausgedrückten Gedanken durch lauter weggeschnittene Nebengedanken; der Leser muß diese erst ergänzen aus jenem.

124 Wenn uns Franzosen diese antithetische Wendung bis zum Ekel vorgemacht haben: so kommen noch die deutschen Affen und machen uns dieses Vormachen wieder nach.

125 Fixlein, 2te Auflage, S. 363.

126 Ohne Auflösung durch Wasser gibt es keinen Geschmack.

127 Es ist ordentlich bildlich, daß der Handel – dieser Gegner der Dichtkunst – die Bilderschrift in Zeichenschrift zu verwandeln veranlaßte (s. Buhle, Geschichte der Philosophie, I. Bd.), weil der Handelsmann gern kurz schreibt.

128 Dessen bürgerliche Verbesserung der Weiber, S. 342

129 Desselben Werke. 12. Bd. S. 123.

130 Dessen englische Geschichte Jakobs I.

131 Die Regel, welche Übersetzung zur Probe des echten Witzes macht, ist ganz willkürlich; z.B. der Papst gibt den Segen urbi et orbi. Kürze und Zuklang (Assonanz) vergehen in der Übersetzung, wenn man auch folgende für einen Fürsten macht: Dem Familien- (urbi) und dem Weltkreise (orbi). Alle Sprachen sind voll unübersetzlichen Witzes, und in der griechischen ists der attische. Der Witz, als Jäger der Kürze, greift eben darum zum Wortspiel; z.B. Τα κοινα καινως, τα καινα κοινως.

132 Dessen Gelehrtenwelt 1, S. 7.

133 Dessen Archimetr. p. 94., 95.

134 Z.B. in der witzigen kleinen Schrift über die Philister sind die Nachbeter der spekulativen Philosophie als eine Kette von Enten in Kupfer gestochen, welche sich am Faden eines Stückchen Speckes, den unverdauet jede wieder von der andern übernimmt, aneinanderfädeln. Diese Spekulanten schreibt der Verf. darauf so: Speck-cûl-anten.

135 Lichtenberg, Musäus, Hippel, Hamann sind zwar Helden des Witzes; aber man sieht ihnen solchen wegen reeller wahrer Verdienste nach und entschuldigt gern. Bloß witzige Schriftsteller (wovon ich nur einen gewissen Bergius, Verfasser der Blätter von Aleph bis Kuf und der Handreise, zweier strömend-witzigen Werke, oder einen Paulus Ämilius im t. Merkur nenne) werden mit jener Kälte aufgenommen, welche der Wiu, der selber sogar den Charakter erkaltet, sich gefallen lassen sollte. – Überhaupt verzeiht der Deutsche den Witz als Nebensache lieber denn als Sache – er will ihn als Putzkleid, nicht als Amtkleid erblicken, und er entschuldigt ihn zwar an einem gelehrten Professionisten als ein kurzes hors d'oeuvre, aber nicht an einem, dessen sämtliche Werke und opera solche hors d'oeuvre und opera supererogationis sind.

136 Z.B. die Menschheit kann nie zur Freiheit gelangen ohne geistige hohe Ausbildung und nie zu dieser ohne jene.

137 Unsichtbare Loge 1, S.201.

138 Daher ist nicht die Poesie (wie neue Ästhetiker nach dem Mißverstande Kants annehmen, welcher sie aus zu kleiner Achtung für ein Spiel der Einbildungkraft erklärte), sondern der Witz ein bloßes Spiel mit Ideen.

139 So wird der weiße Widerschein der langen Eisfelder am Horizonte genannt. S. Forster.

140 Es wäre daher die Frage, ob nicht eine Sammlung von Aufsätzen nützete und gefiele, worin Ideen aus allen Wissenschaften ohne bestimmtes gerades Ziel – weder künstlerisches noch wissenschaftliches – sich nicht wie Gifte sondern wie Karten mischten und folglich, ähnlich dem Lessingschen geistigen Würfeln, dem etwas eintrügen, der durch Spiele zu gewinnen wüßte; was aber die Sammlung anlangt, so hab' ich sie und vermehre sie täglich, schon bloß deshalb, um den Kopf so frei zu machen, als das Herz sein soll.

141 Bei diesem und dem folgenden, überhaupt bei allen Zeit-Anspielungen des Buchs muß man nicht vergessen, daß es schon 1803 geschrieben worden.

142 S. Kampaner Tal; die Holzschnitte, S. 100

143 Z.B. ein pedantischer Zierling tadelte in der Dykischen Bibliothek der schönen Wissenschaften in der Rezension von Lichtenbergs Hogarth die Statua pensilis als pedantisch.

144 Nämlich das bekannte von dem Despotismus und dem baumabhauenden Wilden. Nur unter den dürftigen Franzosen, nicht unter den Briten und Deutschen, konnte ein solches Gleichnis aufglänzen, welches am Ende nur die Gattung durch die Unterart darstellet; ich erbiete mich, das ähnliche, aber noch bestimmtere zu machen, dieses nämlich, daß der Despot dem Kinde gleicht, welches immer die Bienen tatet, um die Honigblase auszusaugen.

145 Sogar jedem Allwisser empfehl' ich dieses Sachwörterbuch, welcher nicht eben ein Vielwisser ist.

146 Z.B. der starke Leibgeber und der sanfte Viktor.

147 Aus Jean Pauls Briefen gehört folgende Stelle Seite 146 hieher: »Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst, und zeigt, daß der Dichter mit dem körperlichen Gehirne mehr arbeite als ein anderer Mensch. Warum hat sich noch niemand darüber verwundert, daß er in den Scènes detachées des Traums den spielenden Personen wie ein Shakespeare die eigentümlichste Sprache, die schärfsten Merkworte ihrer Natur eingibt, oder vielmehr daß sie es ihm soufflieren, nicht er ihnen? Der echte Dichter ist ebenso im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der Sprachlehrer seiner Charaktere, d.h. er flickt nicht ihr Gespräch nach einem mühsam gehörten Stilistikum der Menschenkenntnis zusammen, sondern er schauet sie, wie im Traume, lebendig an, und dann hört er sie. Viktors Bemerkung, daß ihm ein geträumter Gegner oft schwerere Einwürfe vorlege als ein leibhafter, wird auch vom Schauspieldichter gemacht, der vor der Begeisterung auf keine Art der Wortführer der Truppe sein könnte, deren Rollenschreiber er in derselben so leicht ist. Daß die Traumstatisten uns mit Antworten überraschen, die wir ihnen doch selber eingegeben haben, ist natürlich: auch im Wachen springt jede Idee wie ein geschlagner Funke plötzlich hervor, die wir unserer Anstrengung zurechnen; im Traume aber fehlt uns das Bewußtsein der letzten, wir müssen die Idee also der Gestalt vor uns zuschreiben, der wir die Anstrengung leihen.«

148 Im Wachen tun wir das, was wir wollen; im Traume wollen wir das, was wir tun.

149 Das ohnehin schon wegen seiner Unform mehr zu den Maschinen als zu den Charakteren gehört.

150 Großer Verstand gilt für Stärke.

151 Und eben darin sind auch jene ätherischen platonischen Charaktere, welche, wie Götter die Tugend als Schönheit, so die rauhe erste Welt als eine zweite, den Tag als Mondlicht anschauen, schon begriffen, obwohl in prosaischer untergeordneter Darstellung welche sich nicht anmaßet, das Göttliche und das Teuflische der Individualität durch die breiten Worte Ehr- und Lieblosigkeit und ihre Gegenteile auszusprechen.

152 Er gewinnt viel Leben dadurch, daß er einen italienischen Edelmann der ihm eine Ohrfeige gegeben, dermaßen ausprügelte, daß derselbe erst 14 Tage darauf weiterreisen konnte.

153 Lovelace, dieser Polyklets-Kanon apokryphischer Charaktere, dieser alte Adam unzähliger Sünder auf dem Papier und in der Welt, welchen Franzosen und Deutsche bettelnd bestahlen, steht als ein Giftbaum noch über manchen niedrigen kalten Giftschwämmen der Wirklichkeit, denn er hat noch Ehre, Mut, Liberalität, sogar Schonung gegen sein »Rosenknöspchen«. Wie könnt' er sonst auf eine Klarisse und so viele Leserinnen wirken?

154 Z.B. Sterne schildert seine Menschenliebe – und so die Tobys, Trims Shandys – nicht durch Ausgießung von Geschenken vor, welche ihm nichts kosten als einen Tropfen Dinte, sondern durch Ergießung von Empfindungen, welche auch die kleinste Gabe verdoppeln und – was mehr ist – veredeln.

155 Er sagt: »Die also in der Epopöe wie im Trauerspiel den Charakter obenan setzen und aus ihm, wie in der Poesie überhaupt, alles herleiten wollen, knüpfen Fäden, die an nichts hangen, und die zuletzt ein Windstoß fortnimmt. Lasset beiden untrennbar ihren Wert, der Fabel und dem Charakter; oft dienen beide einander und vertauschen ihre Geschäfte, das Göttliche dem Menschlichen, die Fabel dem Charakter, zuletzt aber erscheinets doch, daß es nur Herablassung, Mitteilung der Eigenschaften war, und ohne geordneten Zusammenhang der Fabel kein Charakter etwas vermachte. Als die Welt begann, waren vor Konstruktion Himmels und der Erde charakteristische Geschöpfe möglich? In welcher Arche hauseten sie? ja waren auch in einem Limbus, ehe die Welt gedacht war, zu der sie gehören sollten, ihre Gestalten und Wesen nur denkbar? Wer also in Kunst und Dichtkunst das Charakteristische zu ihrer Haupteigenschaft macht, aus der er alles herleitet, darf gewiß sein, daß er alles aus nichts herleite.«

156 Z.B. in Mélanges d' hisroire etc. par M. de Vigneul-Marville II. p. 321.

157 Daher durfte Schillers Jungfrau von Orleans nicht die ruhigen langen Beschreibung-Reden der homerischen Helden halten oder hören; so wenig als umgekehrt Odysseus' Reden im Philoktet passen würden in die Odyssee.

158 Mehr über den zu wenig ermessenen Unterschied zwischen dichterischer und theatralischer Darstellung sehe man im Jubelsenior S.111–117 nach.

159 Daher geht durch die Menge bei Shakespeare oft das epische Drama in ein dramatisches Epos über.

160 Sie kann in einem Tage, aber die Klarisse kann – trotz ihren Fehlern nicht einmal in einem Jahre entstehen. Die Ode spiegelt eine Welt- und Geist Seite, der rechte Roman jede.

161 Adrastea III. 171. etc.

162 Nach jedem Göttermahle und mitten unter den feinen Feuer-Weinen wird in jenem Romane seltenes Eis herumgegeben. Überhaupt versorgen die Höhlen dieses Vesuvs unser jetziges brennendes Welschland mit allem dem Schnee, dessen es bedarf.

163 Herders Werke zur schönen Literatur etc. Zweiter Teil. S. 127–142.

164 Dessen Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaft. Neue, umgearbeitete Ausgabe 1789.

165 Dessen Werke II. 50. Welcher Schall dazu! Aber er, Voß und Schlegel streicheln oft vorn das Ohr mit Selbstlautern, indes sie es hinten mit Mitlautern kratzen; auch wird die Melodie des Rhythmus oft mit Verlust der prosaischen Harmonie erkauft.

166 Nicht des großen Geistes. Jene empfindet neu, dieser schafft neu.

167 Man vergleiche sein Gedicht »Ich und das Schicksal,« welches Nataliens Neujahrwunsch an sich selber im Siebenkäs III. S. 255 in Verse setzt, mit dem Original; die ganze edle Einfachheit des letzten ging in der Nachbildung verloren.

168 Dazu kommt ihre häufigere Erscheinung in der Außenwelt.

169 Auch werde nie das schönste Werk Gleim des Dichters, Halladat, vergessen, denn was das schönste Werk Gleim des Menschen anlangt, so weiß er, der Deutsche, vielleicht es selber erst, seitdem er keiner mehr, sondern hinüber ist.

170 Mess. 1. Gesang S. 25.

171 Ich ziehe der geistreichen und schwierigen Soltauischen Übersetzung, welche ebensoviel Geist leiht als raubt, die alte Wasersche vor, die uns gerade die Gleichnisse Butlers und dessen Laune ungeschwächt über das Meer herübersetzt.

172 Dessen Orthographie 2te Auflage S. 32.

173 Nach du Chesne nahmen die Franzosen aus Haß gegen die Deutschen das Wort Bigot (bei Gott) an – St. Alivergot, ein Heiliger, ist unser: ach lieber Gott (beides in Kästners Schriften B. 2. Seite 129) – Krieggeschrei hieß selber Krieg, von Cri kommt Krieg (Geschichte der deutschen Nation von Anton S. 152) – Aventure, Zigzag, Landsquenet, Birambrot, Havresac Halt und Un vas-ist-das (das Rückfenster am agen) übersetzen sich selber.

174 Ja gegen das was, z.B. in: »das Gute, was stattwelches du tust,« sollte man Wohiklangs und der Kürze wegen sanfter sein.

175 Lessing führte beginnen aus dem Alter zu uns, und seine Muse verjüngte es; Adelung schickte aus Dresden die stärksten Beweise heraus und auf Messen umher, er habe das Wort als einen halbtoten Greis gekannt gleichwohl bleibt es als Jüngling unter uns wohnen und kann wohl so lange leben als sein Feind.

176 Siehe dessen grammatische Gespräche S. 309: »Mir kommt es vor, daß nur die Dichtkunst ›des Stromes Geräusch‹ sagen darf« – Und dies durfte er sagen, aber nicht folgendes: »Wenn ich in prosaischen Schriften blättere und diese poetische Umsetzung darin antreffe, so fange ich gewiß nicht an zu lesen. Denn ich weiß nun schon, woran ich mit dem Verfasser bin..« Woran? also vorzüglich mit Johannes von Müller, Herder, Goethe, Schiller, und mit wem sonst nicht? Wahrlich man hat großen Schriftstellern ganz andere Stellungen zu vergeben, als die des Zeugefalls ist.

177 Manche Provinzialismen sind der Kürze unentbehrlich, wie das oberdeutsche heuer, heurig (in diesem Jahre,) oder das Goethesche hüben als Gegensatz des drüben

178 Ich fange alphabetisch an: abbeizen, abbauen, Abbrand, abfalzen, abfleischen, abholzen, abjochen, abknabsen, abpfählen, abplätzen etc. etc.

179 Wenn Adelung wie Nicolai gerade an allen unsern genialen Dichtern, ja sogar an den liberalen Sprachforschern Heynatz und Voß Feinde hat: so schreib'er es teils seinem Schweigen über die Erbschaft fremder Sprachschätze (z.B. von Heynatz, Ramler) zu, teils seinem Mangel an allem philosophischen und poetischen Sinne. Wer wie A. die Gellerte von unsern wahren Dichtern und Genien nur in der Lebhaftigkeit verschieden findet wer das Genie für ein Mehr der niedern Seelenkräfte ausgibt und bei einer »fruchtbaren Einbildungskraft« fragt (Über den Stil II. S. 308): »wer hat die nicht?« und darauf antwortet: »der immer am meisten, der die höhern Kräfte am wenigsten bearbeitet und geübt hat«, – kurz, wem die Besten mißfallen muß sich nicht wundern, daß er ihnen noch mehr mißfällt, besonders da unter allen geistesarmen Mustern des Stils, die er wählt und lobt, keines so dürftig ist als das, welches er selber gibt. Ich führe zum Beweise die Zueignung seiner Sprachlehre für Schulen an Herzberg an: »Ew. – haben unter so vielen andern erhabenen Vorzügen auch die deutsche Sprache Ihrer Aufmerksamkeit gewürdigt und ihre Bearbeitung der unter Dero weisen Leitung von neuen aufblühenden königl. Akademie der Wissenschaften empfohlen; ein Verdienst, welches Dero Namen auch in den Jahrbüchern dieser von den Großen der Erde nur zu sehr verachteten Sprache unvergeßlich machen wird. Leibnizens Entwurf bei Errichtung dieser Akademie, nach welchem die Ausbildung der deutschen Sprache mit in den Wirkungskreis derselben eingeschlossen ward, war eines so großen Mannes würdig; aber es blieb einem so großen Minister, welcher in den Gefilden der Wissenschaften ebensosehr glänzt als in dem Gebiete der Staatskunst, vorbehalten, ihn nach mehr als einem Jahrhundertwerkstellig zu machen und dadurch der Schöpfer aller der bisher verspäteten Vorteile zu werden, welche der Sprache daraus zufließen müssen.«

180 Der Verfasser hat schon vor vielen Jahren ein kleines Wurzel-Register der sinnlichen und ein größeres aller Zeitwörter verfasset zum allgemeinen Besten seiner selber; die Haupteinteilung ist in die intransitiven und in die handelnden Verba. Der intransitiven der Bewegung nach einem Orte z.B. sind über 80 (gehen, schreiten, rennen, stürzen etc.), der handelnden über 70 (legen, stellen, werfen etc.), jetzo diese unendlich fortgepflanzt durch: be, an, ein, auf, ver etc. etc. Für den Schall haben wir 100; vom allgemeinen an: rauschen hallen etc. zum bestimmtern: knallen, schmettern etc.; dann zum musikalischen: klingen, tönen etc.; dann zum menschlichen: flüstern, lallen, plärren etc.; dann zum reichen tierischen: schnattern, piepen, zirpen etc. – Als kürzeste Probe setz' ich die Verba einer gewissen Bewegung im Orte, nämlich der zitternden, her: zittern, wirbeln, wanken, schwanken nicken, zappeln, flattern, zucken, tanzen, taumeln, gaukeln, schaukeln, beben, wogen, wallen, schwindeln, wedeln, wackeln, schweppern, schlottern, bammeln; jetzo noch enger: runzeln, kräuseln, fluten, gären, kochen, wirbeln, sprudeln, brudeln, strudeln, sieden, ringeln, perlen, flackern; – dann handelnd: regen, rühren, schwenken, wiegen, rütteln, gurgeln, schütteln, schüttern, schaukeln, schwanken, kräuseln, fächern, quirlen, wirbeln, ringeln, fälbeln lockern. – Ungeheuer ist der Reichtum an den Wörtern a) des Sterbens b) und des Tötens; aber am meisten des Hassens und Trennens. Nicht halb so reich ist die Sprache für paaren, gatten etc.; ganz arm für Wörter der Freude.

181 Doch bleibe seinen neuen Formen der physiognomischen Form, seinen gestaltenden Schöpfung-Wörtern der Ruhm.

182 Der Rezensent von Fichtens Reden an die deutsche Nation (in den Heidelberger Jahrbüchern) stimmt ganz mit dem Obigen ein und führt es bloß noch länger aus.

183 Beiträge zur weitern Ausbildung der deutschen Sprache von einer Gesellschaft von Sprachfreunden 1796. 2. B. 5. St. S. 41 – dieses leider schon von zwei Bänden geschloßne oder unterbrochne Werk wäre gerade jetzo als ein Leuchtturm fortgebauet zu wünschen, damit er der Babel-Turmbaute der Sprache jetzo in der Zeit der Wörter- und Völker-Wanderungen einige Grenzen setzte. – Allerdings läßt Campe selber die meisten obigen, schon rief in die Zeit eingewurzelten Fremd-Wörter unversehrt; nur sündigt er dann gegen den aufgestellten Grundsatz der Reinigung, daß die Sprache bloß aus sich allein treiben solle; oder er nimmt Rose (rosa) auf und verwirft doch den Reim Prose (prosa) gegen eine langweilige Deutsch-Umschreibung. Campens Nachreiniger hingegen suchen in dem eben angezeigten und von ihm herausgegebenen Werke wirklich die meisten oben angeführten Wörter durch neu-deutsche fortzujagen.

184 Auch der Verfasser des Obigen wirft sich hier etwas vor, nicht das, was er gegen Campe sagte, s. Fixlein Seite 209, 2. Auflage (denn er wiederholt es hier), sondern die Verspätung dessen, was er jetzo für ihn dazuzusetzen hatte. Ein wenig brachte Campe freilich sämtliche poetische Schreiber dadurch auf, daß er das beste Gedicht nicht so hoch anschlagen wollen als das Verdienst, »einen Stein Flachs gesponnen oder die Braunschweiger Mumme erfunden zu haben«. Aber wer eben erwägt, daß er gerade zwei Erfindungen wie Lumpen und Bier, ohne welche kein Gedicht erscheinen kann, so sehr auszeichnet, sollte sehen, daß der, dem es so sehr um das Mittel zu tun ist, natürlich den Zweck ehre und suche, nämlich Dichtkunst.

185 Sonderbar, daß er gerade dem letzten Kinde, Zerrbild, kein Glück versprach, das überall an jeder Göttertafel der Dichtkunst jetzo tafelfähig ist.

186 Dessen moral. Abhandlungen 2. B. III. 85.

187 Z.B. Affsprung (in den Beiträgen zur weitern Ausbildung 2. B. 5.St.): Belvedere heißt holländisch Schoonzigt (Schönsicht) – Chirurg Heelmeester – Charpie Plukzel (Pflücksel) – Idee Denkbeeld – Immaterialität Unstoffelykheid – Makulatur Vlakpapier – Miszellaneen Mengelstoffe – neutral onzydig (unseitig) – Repräsentant Vertegenwoordiger (Vergegenwärtiger).

188 So nannten die Franziskaner die Dominikaner, weil diese die unbefleckte Empfängnis der Maria leugneten.

189 Boswells Leben desselben.

190 Warum nicht auch gar Hauseshofesmeistersamt?

191 Späterer Zusatz. Nach der Vollendung dieses Bruchstückchens kamen dem Verfasser einundzwanzig Bogen von Wolkens längst gewünschtem Anleit etc. in die Hände. Wolke – vielleicht unser reichster und tiefster Sprachforscher – öffnet im Werke nicht einen Schatzkasten des Sprachschatzes, sondern ganze Goldschachte, verfallne und unbenutzte, und liefert noch gute Präg- und Rändelmaschinen zum Ausmünzen dazu. Indes läßt der Verfasser dies doch lieber seine Dürftigkeit oben im Texte stehen, als daß er einen Reichtum aufstellte durch Borgen. Da Wolke so oft und schreiend recht hat, so wären seine oft bloß erneuerte Altertümer der Sprache in die jetzige einzuverleiben, wenn die Schriftsteller genug Selbst-Entsagung und Muttersprachliebe hätten, um nur allmählich ohne Pochen auf Neuerungen und mit Schonen ungelehrter Ohren die Leser an Verbesserungen zu gewöhnen. Wenigstens die Meisterworte Wolkens über die oben berührte Materie müssen Schüler finden und über verdorbene Ohren siegen.

192 Z.B. »Einen Mann, durch edle Taten unsterblich, kann ja doch für die Nachwelt die niedrigste Geburtnicht um ein Haar breit tiefer senken, die vornehmste nicht um ein Sonnenstäubchen höher heben.« Unterstreichen ist wohl hier ausstreichen, und doch was bleibt? Kaum etwas Besseres als Engels Klingsatz: »Große Anstalten können scheitern, können fehlschlagen.« (dessen Schriften II. B. S. 426), worin die Wiederholung des können und die der Metapher, wovon die letzte die mattere ist, gut die Wiederholung eines alten Gedanken ausspricht.

193 Them. 39.

194 Mélanges de Mad. Necker T. II. p. 259.

195 Nach Pigault le Brun. S. dess. Faschings-Kind B. II.

196 Sogar die Übergänge der Perioden begehren Wohl- oder Leichtklang. Z.B. anfangs hatte der Verfasser oben nach dem langen lieb wieder mit einem langen Schön beginnen wollen; wer ihn aber studiert oder weiterlieset, wird sehr leicht finden, warum er das Erfreulich mit der kurzen Vorschlag-Silbe vorgezogen. Ja wieder über die Längen- und Kürzen-Auswahl in dieser Note, sogar in der Erinnerung an diese wären neue Studien anzustellen, wenn dies nicht den Leser sozusagen ins Unendliche spazieren führen könnte heißen wollen.

197 Them. 40.

198 Weit mehr als Tribrachyen und Daktylen, weil kurze Silben sich untereinander leichter auseinanderziehen als lange zu kurzen aufspringen.

199 Offenbar erwarteten die Leute aus Vorlesungen über die Kunst etwas für ihre eigene. Ein Kunstknecht heißet in Leipzig nicht ein Rezensent sondern ein angestellter Diener, der auf die Wasser-Kunst zu sehen hat.

200 Oeuvr. de Volt. T. 67, de l'imprimerie de la société littéraire typogr. 1785

201 Dessen Essai sur la poésie épique.

202 Oeuvres T. 15.

203 Prosaisch matt, anstatt brillés.

204 Die Konzerte sind also schon da und warten bloß noch auf Harmonie.

205 Es wird ihr eröffnet, was sie tut, aber nicht, wer die nature imitée, im Gegensatz der embellie, sei.

206 Matte Wiederholung.

207 Noch mehr abgemattet; denn eine Tochter des Himmels ist mehr als eine Königin von Welschland.

208 Der Königin von Italien wird eröffnet, daß sie noch mehr Land habe, nämlich das Universum.

209 Der Liebenwürdigen befiehlt man von Ferney aus, es zu sein. Kann sie denn divine sein, ohne zu briller?

210 Matt nach dem Kommando des Universums.

211 Ihr wird nichts verhalten, was sie tut, aber es wird ihr nicht deutlich gemacht, wie sie sich als göttliche Himmelstochter in den Schoß des Donnergotts hebt.

212 Hat sie nichts Besseres? Und sind denn Trommeten die Stimme des Krieggottes, der mit ihnen bloß seine eigne begleitet?

213 »was heißt das? Wie seufzt die Harmonie in den Armen der Liebesgötter? Zwei Arme an einem Amor wären genug. Oder soll amours das Allgemeinste bedeuten und doch Arme haben?« könnte ein Rezensent sagen.

214 Der Schlaf wird der Natur entgegen- und dieser werden orientalisch Hände angesetzt. Ferner ists Nicht-Sinn.

215 Aufwecken kann die Mißharmonie noch leichter als die Harmonie; und was soll die Himmeltochter, die sich selber beschrieben wird, viel daran finden, ein Wecker zu sein, nämlich eine Weckerin, zumal da sie ebensooft und so schön einschläfert?

216 Mr. Badinage wird auf einmal ein Mann, bekommt Atem durch die fremde Stimme und Flügel durch Finger einer abstrakten Person, die selber schwach existiert.

217 Morgenblatt. N. 121. 1812.

218 Browaianer sollten, glaub' ich, das Prinzip der Kälte mehr von der mechanischen abtrennen; das Prinzip nenn' ich jene Kälte, welche auf das Steigen des Barometers und die Wetterschmerzen von Menschen und Tieren wirkt, ohne noch mechanisch auf der Haut oder im Wärmemesser gefühlt zu werden, und welche entkräftend auch den trifft, der im Winter nie das warme Zimmer verlässet. Der Brownische Satz, daß die Kälte Starke stärke, Schwache schwäche, gilt in Bezug auf diese Kälte nur mit seiner letzten Hälfte. Hingegen die mechanische, welche für die Haut ein Erregmittel ist, stärkt, mäßig und schnell gebraucht, wie jeder Reiz; ja die kurze mechanische durch Wasser und Luft wirkt dem Prinzipe der Kälte entgegen. Das Umgekehrte gilt folglich für die Wärme. Das Prinzip derselben gibt warmen Ländern und Jahrzeiten die Vollkraft, sogar den Zimmer-Gefangenen. Hingegen die mechanische auf der Haut erschlafft. Will man diese Erschlaffung für Überstärkung erklären: so müßte man doch vorher durch das Gefühl der Stärkung gehen. Überhaupt muß es zwischen dem erregenden und dem schwächenden Prinzip noch ein drittes, das nährende, geben, wodurch die basis constituens fortbesteht, weil das, was zu erregen ist, nicht durch Erregung geschaffen und erhalten werden kann, die sonst ein Komparativus ohne Positivus wäre. So sind z.B. Bier, Wein und Denken Reize, aber nur vom erstern ließe sich leben. Mit Vergnügen fand der Verf. diese der Arzneikunde gehörige Vermutung, welche, wie Ähnliches, Nicolai, hierin ebenso anmaßend als unwissend, getadelt, später bestätigt von Chiarugi über Wahnsinn 1. B. § 1 48 (Absolute Kälte schwäche, relative stärke); ferner von Becker: Kälte und Wärme wirken reizend (Allg. Lit. Zeitung N. 30. 1806); und davon Skjelderup: Kälte reize (Leipz. Lit. Zeitung 1805. S. 1029).

219 Zusätze zu Sulzers Wörterbuch 8.1.

220 Vom Flüßchen Wien.

221 Eben les' ich, was meine Behauptungen über die Schönheit der bildenden Künste (im 1ten und 5ten Programm) bestätigt, daß nämlich Blumenbach die Verhältnisse eines Mannes aus der Schönheit-Insel Nukahiwa ganz den Verhältnissen des Apollo von Belvedere gleich gefunden. Langsdorfs Reisen um die Welt. I. B.

222 Vielleicht darum auch, weil man Mäßigkeit nirgends so aufmerksam beobachtet als in Armenhäusern, Wüsten und Schiffen. Für den französischen Geschmack gilt, was Rackenitz von den französischen Gärten sagt daß sie in dürftigen magern Gegenden gar nicht zu verwerfen sind. Ein mäßiges Mittagessen, sagte Alexander, ist das beste Zugemüse des Abendessens, d.h. frühere Armut ist die würze der spätern.

223 Oft entstehen doch in organischen Werken Mißgeburten, aber durch übrig gebliebene Glieder nach Bonnets Meinung; man wende dies auf viele Verfasser an, z.B. auf den uns allen wohl bekannten.

224 In der Kritik der kongenialen Philosophie geschieht, wenn man Leibniz, Lessing, Jacobi und wenige ausnimmt, noch weniger. Ein philosophisches Werk glauben sie zu kosten, wenn sie einige Meinungen daraus als Proben vorzeigen, was nichts anders heißet, als Nägel und Haare eines Menschen abschneiden und sie als so viele Beweise produzieren, daß er keine Nerven und Empfindungen habe. Teilweiser Irrtum könnte ja in der System-Ganzheit eines Organismus relative Wahrheit sein. Wie in der Dichtkunst, so gibts in der Philosophie einen äußern Stoff (Meinungen überhaupt) und einen innern (den neuen Geist, der die Welt neu anschauet und seiner unbeschadet Meinungen wechseln kann); und dann eine äußere Form (Vernunftlehre) und eine innere (Dichtkunst), daher geschah noch keinem Heidenreich, Mendelssohn, sogar Kant so viel Unrecht als einem Jacobi oder wer ihm ähnlich wäre.

225 B. 23. S. 54 etc.

226 Histoire générale de la vie privée des Français dans tous les temps et dans toutes les provinces de la monarchie.

227 Alex. ab Alex. L. III.

228 Dieses Beiwort darf, um gerecht zu bleiben, nur den Geist des Werks bezeichnen; denn der Herausgeber des letzten hat es wenigstens durch seine Gelehrsamkeit und durch seine frühern Verdienste um theologische Geistes-Freiheit wohl verdient, daß man seinem Namen das Recht des Homerischen lasse, als Türhüter des Titelblattes unschuldig und unbefangen vornen stehen zu bleiben, ohne die geringste Einwirkung auf die Vorfälle im Bücherzimmer oder Bücherhause selber.

229 Z.B. in der Beilage zu den Denkwürdigkeiten des sel. Sokrates – Betrachtung über den Buchstaben H – An die Hexe zu Kadmonbor – Selbstgespräch eines Autors – Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht in der A. D. B.

230 Welche in Leipzig ein zweimaliges Läuten verkündigt, damit jeder laufen kann, der seinen Groschen ersparen will. Die Nachricht einer zweiten Vorlesung schien besonders oder fast allein einen schön und edel gebaueten Unbekannten dessen Leben noch üppig blühte, zu erfreuen, und er hatte einige Male leise den nach Hause gehenden Stilistikern nachgerufen: hear him! –

231 Beispiele dieser erfüllten Hoffnungen werden eben darum, aus Achtung hier nicht genannt, um nicht an abgelegte und abgebüßte Fehler der Kraft zu erinnern.

232 Unter den schon im ersten Bändchen gelobten launigen Schriftstellern hätt' ich am wenigsten den trefflichen Hebel mit seinem Schatzkästlein naiver Laune vergessen sollen.

233 Was auch die damalige Göttinger Zeitung tadelte und was Wieland nachher fast zu oft miteinander reimte.

234 Dessen sämtliche Werke I. B. der schönen Literatur S. 76 etc.

235 Hier setzte der Traum mich und die andern auf einmal in den berlinischen Tiergarten, aber ganz natürlich.

236 Nach Büsching tragen die Kopfgeld-Einnehmer in Konstantinopel stets ein Maß in der Tasche, das die steuerfreien Köpfe – wenn sie noch durch dasselbe gehen – leicht bezeichnet.

237 Es wäre eine psychologische Aufgabe, die Sprünge in diesem Traume z.B. von Ihr zu Sie, von der Leipziger Universität-Bibliothek in den Berliner Tiergarten philosophisch zu motivieren oder überhaupt in allen Träumen. An einem andern Orte davon mehr!

238 Diese Verteidigung ist das 4te Gelübde der Malteser Ritter.

239 Eine spätere Nachschrift oder Nachlese soll am Ende der Vorlesung das obige Urteil wenigstens mit der Achtung ausgleichen, welche man dem großen Dichter schuldig ist.

240 S. I.eipz. Adreß-, Post- und Reisekalender auf 1003.

241 Wie poetischer und menschlicher würde der Vers durch drei Buchstaben: »der stehle weinend sich in unsern Bund!« Denn die liebewarme Brust will im Freudenfeuer eine arme erkältete sich andrücken.

242 Was ist denn Sehen sonst?

243 Schill. Theat. I. B. S. 270.

244 Dies ist der wahre Name des Paracelsus.

245 Nach Cettis Naturgeschichte von Sardinien, wo man den ersten Wurf wegwirft und daher nie Gefahren hat.

246 Z.B. Spinoza, nicht Leibniz; – Shakespeare, nicht Swift, geschweige seine Nebenmänner; – Chamfort, nicht Voltaire.

247 Die Armut des Besitzes, die des Gebrauchs und die des Affekts, der sogar das Notwendige hasset.

248 Cic. in orat. num. 23: Primum igitur eum (stilum epistolarem) e vinculis numerorum eximamus – Verba enim verbis coagmentare negligat – Habet enim ille tanquam hiatus concursu vocalium molle quiddam et quod indicet non ingratam negligentiam de re hominis magis quam de v erbis laborantis.

249 Dennoch dringen die altdeutschen Volkmärchen und Geschichten auf den Sprachton ihrer Zeit, daherBüsching, Tieck u.a. das Alte mit Recht nur alt erzählen. Für Musäus war, auch mit Recht, die alte Sage nur Fahrzeug neuester Anspielungen. Weisser warf in das Orientalisch-Romantische der 1001 Nacht die Brand- und Leuchtkugeln des Verstandes; aber dafür bestreute er die Stätte mit desto mehr Salz.

250 Journal de lecture No. II. 1782.

251 Man hat die Unparteilichkeit des Vorschulmeisters mit welcher er aus vergänglichen Werken ebensowohl Beispiele des Schönen als aus unvergänglichen holte, gerade für Parteilichkeit genommen, als hab' er bei jenen mehr gesucht als ein Beispiel in der Nähe.

252 Bronners Leben. 2. B.

253 Lact. inst. de falsa relig. I. 21.

254 Seine Kritik der Moralsysteme wird eine neue Epoche der Ethikbegründen: ein Werk voll lichter und heißer Brennpunkte, voll antiken Geistes, Gelehrsamkeit und großer Ansicht. Kein Glückrad zufälliger Kenntnisse wird da von einem Blinden gedreht, sondern ein Schwung- und Feuerrad eines Systems bewegt sich darin, sogar in einem Stile dieses Geistes würdig.

255 Denn was ist das vorgebliche Konstruieren in der Physik und Philosophie anders als eine häßliche Verwechslung der Form mit der Materie, des Denkens mit dem Sein, welche sich nie in der Wirklichkeit zu jener Identität umgestaltet, die im schwarzen Abgrunde des Absoluten so leicht zu gewinnen ist, denn in der Nacht sind alle Differenzen – schwarz; aber in der rechten, nicht in der der Sehenden, sondern in der Nacht der Blindgebornen, welche den Gegensatz zwischen Finsternis und Licht in der höhern Gleichung des Nicht-Sehens tilgt.

256 Hier liefen die letzten Poetiker davon, und nur drei verblieben, worunter der schöne Jüngling war, obwohl verstimmt.

257 Pantagr. L. 4. ch. 43: un pet virginal c'est ce que les sainctimoniales appellent sonnet. Dazu gehört die Note in der von mir angeführten Ausgabe des Rabelais. Wahrscheinlich sollte bei den Nonnen sonnet nach der Ableitung von son oder sonner nichts bedeuten als das deutsche, »Klängchen«.

258 Vor der Kraft und Weltüberwindung der echten Mystiker schwinden selber die Stoiker in Zwerge ein; denn diese verpanzerten sich bloß in das Eis der Vernunft und genossen bloß das Glück, niemals unglücklich zu werden; jene aber, gleichsam wie vierte Personen in der Fülle der Gottheit wohnend, empfangen so wenig als diese von der Welt einen Schmerz, sondern die Liebe wandelt ihnen jeden in Genuß, und jedes Opfern in Bekommen, und ihnen fehlt fast nur die Freude, zu leiden. Wer die Gewalt der Idee und das schönste Sterben kennen lernen will, der trete nur an das Sterbebette der Mystiker, und er wird wenigstens wünschen, wenn nicht zu leben, doch zu sterben wie sie.

259 Journal London und Paris.

260 Schlichtegrolls Nekrolog.

261 Allgem. Welthistorie, 2ter

262 Band. Nat. Com. p. 1172.

263 Bekanntlich vergrößerte sich Östreich häufig durch Vermählungen.

264 Was später in der Vorlesung über Herder vorkommt, konnte weniger seine Seelengestalt als meine Empfindungen malen wollen. Der noch neue schwarze Grabhügel ist für die zitternde Hand nicht das Schreibpult oder Malergestell, um den abzuzeichnen, der unter dem Hügel liegt. Aber in der Beschreibung meines Lebens – wenn anders dieses flüchtige und sich vor dem ewigen Ich verflüchtigende Leben noch die Mühe einer Darstellung verdient – will ich, so gut ich kann, Herders Fürstenbild aufhängen und aus den schönen wenigen Jahren, die als Seelen- und Edenjahre ich mit ihm verlebte, die Strahlen zu seinen Seelenlinien holen und bringen. Freilich liegt in diesen letzten Jahren ein schwerer Schmerz für alle seine Liebenden; denn er erlebte seine jetzige Feier nicht, und dieses Gestirn ging, wie Lessing hinter dem Gewölke der Zeit bleich-verschleiert hinab.

265 Schillers Spieltrieb (von Kant geborgt) zerfällt wieder in einen höhern Stoff- und Formtrieb, und immer wird die letzte Synthese fehlen.

266 Möge Schelling sich immer mehr der Naturphilosophie geloben und ihr durch die seltene Vereinigung von Phantasie, Tiefsinn und Witz den zweiten Bako geben, der der ungeheueren atomistischen Welt von Erfahrungen noch als ordnende Weltseele gebricht.

267 Nach Augustin und den Scholastikern haben die Engel eine zweifache Erkenntnis, matutina cognitio oder die von der Gottheit, vespertina oder die von geschaffnen Dingen. Gerhard. loc. theolog. T. II. p. 24.

268 Adrastea XII. S. 277.

269 Seine Seelen-Worte lenkten zuerst den Verfasser von der jugendlichen Verwechslung der Kraft mit der Schönheit zurück.

270 Aus durchsichtigen Kieseln werden in London Brillen geschliffen.

271 Liscov erfuhr in Goethens Lebens-Beschreibung ein zu hartes Urteil, so wie Rabener ein zu günstiges; wahrscheinlich aber nur, weil Goethe beide in den Glühjahren seiner Jugend gelesen, denen freilich der hartgefrorne, nur auf literarische Toren hackende Spottvogel weniger zusagen konnte als der freundliche, über alles hinlaufende Leipziger Steuerverweser. Berühmte Schriftsteller wie Goethe sollten daher ihren Urteilen über Bücher immer die Jahrzahl anhängen, worin sie diese gelesen; damit man wisse, ob sie nicht aus Erinnerung loben oder tadeln und uns Empfindungen junger Jahre für Urteile gereifter geben.

272 Langsdorfs Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. B. 2.

273 Im neunten Bande seiner Reise etc.

274 Ich will von dieser Rezension, die ungleich dem horazischen Ungeheuer nicht mit Mißgestalt endigt, sondern sogleich damit anfängt, soviel Anfang hier kopieren, als mein Ekel verträgt: »Der berühmte Verfasser hat bekanntlich viele wohlgedachte Bücher, aber alle in einem ziemlich übellautenden Stile geschrieben. Zu diesem Übellaute, der hauptsächlich im Mangel des (auch in der Prosa nicht wohl zu entbehrenden) Rhythmus besteht, hat nebenher auch der unmäßige Gebrauch willkürlich gebildeter Stammwörter beigetragen, wozu diesen Schriftsteller sein Überfluß an zuströmenden Vergleichungen der heterogensten Dinge und sein Hang zu bizarren Anspielungen auf entfernt liegende Ähnlichkeiten von jeher zu verleiten pflegte. Das mag er denn wohl endlich, wo nicht erkannt, doch gefühlt haben, und so ist er auf den Gedanken geraten den Organismus unserer Stammwörter von zwei angeblichen Krankheiten zu heilen. Die eine nennt er in seiner wunderlichen, bisweilen in das Ekelhafte sich verirrende Manier ›S-Krätze‹, worunter er den unnötigen und unrichtigen Gebrauch des bindenden S bei der Zusammensetzung (z.B. in Liebesbrief) versteht. Die zweite ist der ihm fehlerhaft scheinende Gebrauch der Mehrzahl statt der Einzahl (z.B. Mäusefell, Gänsefuß, Schneckenhaus) und wieder umgekehrt (z.B. Nußbäume) u.s.w.« Allg. Lit. Zeitung, Oktober 1820. – Diese wenigen Zeilen bauen einen der seltensten Augias-Ställe, wo von Zeile zu Zeile sich Verdrehung Lüge, Unwissenheit, Plattheit, Schiefheit des Ausdrucks und des Gedankens und Sprachfehler aufhäufen.

275 In den Wiener Jahrbüchern der Literatur, July 1821. B. 15

276 Wer diese Abschnittchen anführte, müßte, wenn er nicht obenhin wie ein Franzose zitieren wollte, in jedem Falle schreiben: Miserikordias-Vorlesung. Zweite Viertelstunde. Erstes Minutenfünf. So muß ich ja selber fremde Werke, obgleich mit unendlichem Überdrusse an der Weitläuftigkeit oft so anfuhren: Des ersten Bandes zweiter Teil. Dritte Abteilung, wo eine einfach fortlaufende Abteilung in lauter Bände viel vernünftiger wäre, aber nicht gelehrter.

277 Dreyers Miszellen.

278 Meiners Vergleichung des Mittelalters. B. z. Seite 540.

279 In Hoop, unweit Bergen; sogar das Dach ist papiern. Allg. Anzeiger Nro. 115. 1807.

280 Linn. amoenit. acad. V. II. disp. 19. § 21.

281 Denn die Papstwahl zeugt den heiligen Vater künftiger Heiligen, die sich aber nicht wieder fortpflanzen.

282 Vielleicht aber mit dem Unterschiede, daß Wieland am besten den Charakter historischer Personen (z.B. des Kaiser Augustus) aufgriff, Herder den Charakter der Massen, als Völker und Zeiten, und Goethe beides.

283 Die letzte Zeile werden Leser des originellen Buchs bildlich-treffend finden, da dessen Resultate sich oft in unbeweglichen Fohismus und Quietismus verlieren.

284 Ausswahl kleiner Reisebeschreibungen. B. I. S. 8.

285 Bekanntlich hatten die Alten keine Interpunktionzeichen.

286 Katzenbergers Badreise. B. 2.

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TextGrid Repository (2012). Jean Paul. Schriften. Vorschule der Ästhetik. Vorschule der Ästhetik. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8D52-9