Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings
Wanderschaft

Eine wahrhafte Geschichte

[187] So wie Henrich Stilling den Berg hinunter ins Thal ging, und sein Vaterland aus dem Gesicht verlor, so wurde auch sein Herz leichter; er fühlte nun, wie alle Verbindungen und alle Beziehungen, in welchen er bis dahin so ängstlich geseufzet hatte, aufhörten, und deswegen athmete er freye Luft, und war völlig vergnügt.

Das Wetter war unvergleichlich schön; des Mittags trank er in einem Wirthshaus, das einsam am Wege stand, ein Glas Bier, aß ein Butterbrod dazu, und wanderte darauf wieder seine Straße, die ihn durch wüste und öde Oerter, des Abends, nach Sonnen-Untergang, in ein elendes Dörfgen brachte, welches, in einer morastigen Gegend, in einem engen Thal, in den Gesträuchen lag; die Häuser waren elende Hütten, und stunden mehr in der Erden als auf derselben. An diesem Ort war er nicht willens gewesen zu übernachten, sondern zwo Stunden weiter; allein da er sich des Morgens früh irr gegangen hatte, konnte er so weit nicht kommen.

An dem ersten Hause fragte er: ob niemand im Dorfe wohne der Reisende beherberge? Man wies ihm ein Haus, er ging dahinein und fragte: ob er hier übernachten könnte? die Frau sagte: Ja. Er ging in die Stube, setzte sich hin, und legte seinen Reisesack ab. Der Hausvater kam herein, einige kleine Kinder versammelten sich bey den Tisch, und die Frau brachte ein Thranlicht, welches sie, an eine hänfene Schnur, mitten in der Stuben, aufhieng; alles sah so ärmlich, und, die Wahrheit [187] zu sagen, so verdächtig aus, daß Stilling angst und bang wurde, und lieber im wilden Wald geschlafen hätte; doch das war ganz unnöthig, denn er besaß nichts, das Stehlens werth war. Indessen brachte man ihm ein irdenes Schüsselchen mit Sauerkraut, ein Stück Speck dabey, und darauf ein Paar gebackene Eyer. Er ließ sichs gut schmecken, und legte sich aufs Stroh, das man ihm in der Stuben bereitet hatte. Er schlief vor Mitternacht, mehrentheils aus Angst, nicht viel. Der Wirth und seine Frau schliefen auch in der Stuben in einem Alkoven. Gegen zwölf Uhr hörte er die Frau zum Mann sagen: Arnold, schläfst du? Nein Trine, antwortete er, ich schlafe nicht. Stilling horchte, holte aber mit Fleiß stark Odem, damit sie glauben sollten, er schliefe fest.

Was mag das wohl für ein Mensch seyn? sagte die Frau. Arnold erwiederte: »Das mag Gott wissen! ich habe den ganzen Abend nachgedacht, er sprach nicht viel; sollte es auch wohl eine rechte Sache mit dem Menschen seyn?«

Denk doch nicht gleich was arges von den Leuten! versetzte Trine, er sieht so ehrlich aus, wer weiß, was er all vor Unglück erlebt hat! gewiß er dauert mich; so bald als er zur Thür herein trat, kam er mir so traurig vor; unser Herr Gott woll ihm doch als beystehn! ich kann sehen: das er etwas auf dem Herzen hat.

»Du hast recht, Trine!« antwortete Arnold, »Gott verzeih mir meinen Argwohn! ich dachte just an den Schulmeister aus den Salenschen Land, der vor ein paar Jahren hier schlief, der war just so gekleidet, und wir hörten hernach, daß er ein Goldmünzer gewesen.«

Arnold! sagte Trine, du kannst auch die Leute gar nicht aus dem Gesicht kennen, der sah so schwarz und so finster aus den Augen, und durfte einen nicht ansehen, dieser aber sieht so freundlich und so gut aus, er hat warlich ein gut Gewissen.

»Ja, ja!« schloß Arnold, »wir wollen ihn unserm Herr Gott befehlen, der soll ihm wohl helfen, wenn er fromm ist.«

[188] Nun schliefen die guten Leute wieder; Stilling wurde aber so vergnügt auf seinem Stroh, er fühlte den Stillingschen Geist um sich wehen, und schlief so sanft, bis an den Morgen, als wenn er in Eyderdunen gelegen hätte. So bald er erwachte, war schon sein Wirth und Wirthin am Ankleiden; er sah sie beyde lächelnd an, und wünschte ihnen einen guten Morgen. Sie fragten ihn: wie er geschlafen hätte? er antwortete; nach Mitternacht recht wohl. Ihr waret gestern Abend wohl recht müde, sagte Trine, ihr sahet so traurig aus. Stilling erwiederte: Lieben Freunde! ich war nicht so sehr müde, allein ich hab viel in meinem Leben aus gestanden, und sehe deswegen trauriger aus, als ich bin; dazu muß ich bekennen, ich war bang, ob ich auch bey frommen Leuten wäre. Ja, sagte Arnold, ihr seyd bey Leuten, die Gott fürchten und gern seelig werden wollen; wenn ihr große Schätze bey euch hättet, sie wären bey uns verwahrt. Stilling reichte ihm seine rechte Hand, und sagte mit der zärtlichsten Miene: Gott segne euch! so sind wir einer Meynung. Trine! fuhr Arnold fort, mach uns einen guten Thee, hohl etwas vom besten Milchrahm dazu, da wollen wir drey so zusammen trinken, wir mögten nicht wieder zusammen kommen. Die Frau war hurtig und froh, sie that gern was der Mann sagte. Nun trunken die drey den Thee, und waren alle daheim. Stilling floß über von Freundschaft und Empfindung, es that ihm wehe von den Leutgen wegzugehen, die Augen giengen ihnen allen über als er Abschied nahm. Aufs neue gestärkt wanderte er wieder seinen Weg fort.

Nach fünf Stunden da es gerad Mittag war, kam er in einen schönen Flecken, der in einer angenehmen Gegend lag; er fragte nach einem guten Wirthhause; man wies ihm eins an der Straße, er gieng hinein, trat in die Stube, und forderte etwas zu essen. Hier saß ein alter Mann am Ofen; der Schnitt seiner Kleider zeigte etwas Vornehmes, die eigentliche Beschaffenheit derselben aber, daß er weit von seinem ehemaligen[189] Zustand herunter gekommen seyn mußte; sonst waren zween Jünglinge und ein Mädgen daselbst, deren tiefe Trauerkleider den Verlust eines nahen Anverwandten vermuthen ließen. Das Mädgen besorgte die Küche, sie sahe modest und reinlich aus.

Stilling setzte sich gegen den alten Mann über; sein offenes Gesicht und seine Freundlichkeit erweckte den Greis, das er sich mit ihm in ein Gespräch einließ. Beide wurden bald vertraulich, so daß Stilling seine ganze Geschichte erzehlte. Conrad Brauer (so hieß der Alte) verwunderte sich über ihn, und weissagte ihm viel Gutes. Nun rüstete sich der ehrliche Mann auch, um seine Schicksale zu erzählen; das that er einem jeden, der nur Lust hatte ihm zuzuhören; dieses geschah vor, während und nach dem Mittagessen. Die jungen Leute, welche seines Bruders Kinder waren, mochten das alles wohl hundertmal gehört haben; sie merkten nicht sonderlich auf, doch bekräftigten sie zuweilen etwas, das unglaublich war. Stilling hörte indessen fleißiger zu; denn erzählen war doch ohnhin seine Lieblingssache. Conrad Brauer fieng folgendermaßen an:

»Ich bin der ältste unter dreyen Brüdern; der mittlere ist ein reicher Kaufmann an diesem Ort, und der jüngste war der Vater dieser Kinder, deren Mutter vor einigen Jahren, mein Bruder aber vor wenig Wochen gestorben ist. Ich legte mich in meiner Jugend aufs Wollenweberhandwerk; und da wir von unsern Eltern nichts ererbt hatten, so führte ich meine beyden Brüder mit dazu an, doch der jüngste that eine gute Heurath hier in dieses Haus; er verließ also das Handwerk und wurde ein Wirth. Ich und mein mittelster Brudes setzten unterdessen die Fabrique fort. Ich war glücklich, und kam unter Gottes Seegen in eine gute Handlung, so, daß ich Wohlstand und Reichthum erlangte; ich ließ es meinen mittleren Bruder reichlich geniessen. Ja, Gott weiß, daß ichs gethan habe!

Indessen fieng mein Bruder eine sonderbare Freyerey an. [190] Hier in der Nähe wohnte eine alte Frauensperson, die wenigstens sechzig Jahr alt, und dabey aus der maßen häßlich war, so, daß man sie auch wegen ihrer übermäßigen Unreinlichkeit, so zu sagen, mit keiner Zange hätte anfassen sollen. Diese alte Jungfer war sehr reich, dabey aber so geizig, daß sie kaum satt Brod und Wasser genoß. Die gemeine Rede gieng: daß sie ihr vieles Geld in einem Sack habe, den sie an einem ganz unbekannten Ort verborgen hätte. Mein Bruder gieng dahin, und suchte das ausgelöschte Feuer dieser Person wiederum anzuzünden, es gelung ihm auch nach Wunsch, sie wurde verliebt in ihm, und er auch in sie, so, daß Trauung und Hochzeit bald vor sich giengen. Mit der Entdeckung des Hausgötzens wollte es aber lange nicht recht fort, doch gerieth es meinem braven Bruder endlich auch, er fand ihn, und brachte ihn mit Freuden in Sicherheit; das kränkte nun die gute Schwägerin, daß sie die Auszehrung bekam, und zu großer Freude meines Bruders starb.

Er hielt ehrlich die Trauerzeit aus, suchte sich aber unter der Hand eine junge, die ungefehr so schwer seyn mochte, als er ganz unschuldiger Weise geworden war; diese nahm er, und nun fieng er an, mit seinem Geld zu wuchern, und zwar auf meine Unkosten; denn er handelte mit wollen Tuch, und so stach er mir alle meine Handlungsfreunde ab, indem er immer die Waaren wohlfeiler umschlug, als ich. Hierüber fieng ich an zurück zu gehen, und meine Sachen verschlimmerten sich von Tag zu Tag. Dieses sah er wohl, er fieng daher an freundlich gegen mich zu seyn, und versprach mir Geld vorzuschießen, so viel ich nöthig haben würde; ich war so thörigt, ihm zu glauben; endlich, als es ihm Zeit dauchte, nahm er mir alles, was ich auf der Welt hatte; meine Frau kränkte sich zu Tod, und ich leb in Elend, Hunger und Kummer; meinen seligen Bruder hier im Haus, hat er auf eben die Weise aufgefressen.«

Ja, das ist wahr! sagten die drey Kinder, und weinten.

[191] Stilling hörte diese Geschichte mit Entsetzen; er sagte: das ist wohl einer von den abscheulichsten Menschen unter der Sonnen, dem wirds in jener Welt sauer eingetränkt werden.

Ja! sagte der alte Brauer, darauf lassens solche Leute ankommen.

Nach dem Essen gieng Stilling an ein Clavier, das an der Wand stund, spielte und sung dazu: Wer nur den lieben Gott läßt walten. Der Alte faltete die Hände, und sung aus vollem Halse mit, so, daß ihm die Thränen über die Wangen herab rollten, desgleichen thaten auch die drey jungen Leute.

Nun bezahlte Stilling was er verzehrt hatte, gab einem jeden die Hand, und nahm Abschied. Alle waren vertraulich mit ihm, und begleiteten ihn vor die Hausthür, wo sie ihm noch einmal alle vier die Hand gaben, und ihn dem Schutz Gottes empfohlen.

Er wanderte also wiederum die Schönenthaler Landstrasse fort, und freute sich von Herzen über all die guten Leute, die er bis dahin angetroffen hatte. Diesen Flecken will ich Holzheim nennen, denn ich werde doch mit meiner Geschichte wieder dahin müssen.

Von hier bis Schönenthal hatte er nur noch fünf Stunden zu reisen; da er sich aber zu Holzheim ziemlich lange aufgehalten hatte, so konnte er des Abends nicht wohl dahin kommen; er blieb also eine starke Stunde diesseits in dem Städtgen Rasenheim über Nacht liegen. Die Leute wobey er herbergte, waren nicht für ihn, und deswegen blieb er auch still und verschlossen.

Des andern Morgens begab er sich auf den Weg nach Schönenthal. Als er auf die Höhe kam, und die unvergleichliche Stadt, mit dem paradisischen Thal überschaute, so freute er sich, setzte sich hin auf den Rasen, und beschaute das alles eine Weile; hiebey stieg ihm der Wunsch so tief aus dem Innersten seiner Seele empor: Ach Gott! möcht ich doch da mein Leben beschließen!

[192] Nun überlegte er erst, was er wohl eigentlich beginnen wollte. Der Abscheu vor dem Schneiderhandwerk verleitete ihn, an eine Condition, bey einem Kaufmann, zu denken; da er nun zu Schönenthal niemand wußte, an den er sich addressiren könnte, so fiel ihm ein, daß Herr Dahlheim in dem Flecken Dornfeld, der Dreyviertelstund ostwärts Schönenthal das Thal hinauf liegt, Prediger sey; alsofort nahm er sich vor, dahin zu gehen, und sich demselben zu entdecken. Er stund auf, gieng langsam den Berg hinunter, um alles wohl besehen zu können, und vollends in die Stadt hinein.

Hier bemerkte er alsofort, was Manufacturen und Handlung einem Ort vor Seegen und Wohlstand zuwenden können; die prächtige Palläste der Kaufleute, die zierliche Häuser der Bürger und Handwerksleute, nebst der überaus großen Reinlichkeit, die sich sogar in den Kleidern der Mägde und geringen Leute äußerte, entzückte ihn ganz, hier gefiel es ihm überaus wohl. Er gieng durch die ganze Stadt, und das Thal hinauf, bis nach Dornfeld. Er fand Herrn Dahlheim zu Haus, erzählte ihm auch kurz und gut seine Umstände, allein der gute Herr Pastor wußte keine Gelegenheit für ihn. Stilling war noch nicht erfahren genug, sonst hätte er leicht denken können, daß man so keinen Menschen von der Strassen in Handlungsdienste aufnimmt; denn Herr Dahlheim, ob er gleich aus dem Salenschen Lande zu Haus war, kannte doch weder Stilling noch seine Familie.

Er reiste also wieder zurück nach Schönenthal, und war halb willens, sich für einen Schneiderburschen anzugeben; doch, als er im Vorbeygehen langs eine Schneiders-Werkstatt gewahr wurde, daß es hier Mode sey mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Tisch zu sitzen, so schreckte ihn dieses wieder ab, denn er hatte noch nie anders als vor dem Tisch auf einem Stuhl gesessen. Indem er nun so für baß in den Gassen auf und abgieng, sah er ein Pferd mit zween Körben auf dem Rücken, und einen ziemlich wohlgekleideten [193] Mann dabey stehen, und die Körbe fest binden. Da nun dieser Mann so ziemlich aussahe, so fragte ihn Stilling; ob er diesen Abend noch aus der Stadt gienge? Der Mann sagte: Ja! ich bin der Bote von Schauberg, und gehe alsofort dahin ab. Stilling erinnerte sich, daß daselbst der junge Herr Stollbein, des Florenburger Predigers Sohn, Pastor sey, desgleichen, daß sich verschiedene Salensche Schneiderburschen daselbst aufhielten: er beschloß also mit dem Boten dahin zu gehen; dieser ließ es auch gerne geschehen. Schauberg liegt drey Stunden südwestwärts von Schönenthal ab.

Unterwegens suchte Stilling mit dem Boten vertraulich zu werden. Wenn es nun der ehrliche Wandsbecker gewesen wäre, so würden die beyden einen hübschen Discurs gehalten haben; allein das war er nicht. Obgleich der Schauberger unter vielen einer der rechtschaffensten sein mochte, denn er nahm Stillings Reisesack umsonst auf dem Pferd mit, so war er doch kein empfindsamer Bote, sondern nur blos ein guter ehrlicher Mann, welches schon viel ist. So bald als sie zu Schauberg ankamen, begab er sich zum Herrn Pastor Stollbein; dieser hatte nun seinen Großvater wohl gekannt, desgleichen seine seelige Mutter, auch kannte er seinen Vater, denn sie waren Knaben zusammen gewesen.

Stollbein freute sich herzlich über diesen Landsmann; er rieth ihm alsofort, sich ans Handwerk zu geben, damit er an Brod kommen möchte, indessen wollte er Fleiß anwenden, um ihm zu einer anständigen Condition zu verhelfen. Er ließ augenblicklich einen Schneiderburschen zu sich kommen, welchen er fragte: Ob nicht für diesen Fremden eine Gelegenheit in der Stadt sey? O Ja! antwortete jener: er kommt, als wenn er gerufen wär; Meister Nagel ist sehr verlegen um einen Gesellen. Stollbein schickte die Magd mit Stillingen hin, und er wurde mit Freuden auf und angenommen.

Als er nun des Abends zu Bette gieng, so überdachte er seinen Wechsel und die treue Vorsorge des Vaters im Himmel. [194] Ohne Vorsatz wohin? war er aus seinem Vaterlande gegangen, die Vorsehung hatte ihn drey Tage gütig geleitet, und schon des dritten Tages am Abend war er wieder versorgt. Jetzt leuchtete ihm ein, welch eine große Wahrheit es sey, was ihm sein Vater so oft gesagt hatte: Ein Handwerk ist ein theures Geschenk Gottes, und hat einen güldnen Boden. Er wurde ärgerlich über sich selbst, daß er diesem schönen Beruf so feind war; er betete herzlich zu Gott, dankte ihm für seine gnädige Führung, und legte sich schlafen.

Des Morgens früh stund er auf, und setzte sich an die Werckstatt. Meister Nagel hatte keinen andern Gesellen als ihn, aber seine Frau seine beyden Töchter, und zween Knaben halfen alle Kleider machen.

Stillings Behändigkeit, und ungemeine Geschicklichkeit im Schneider-Handwerk gewann ihm alsofort die Gunst seines Meisters; seine freundliche Gesprächigkeit und Gutherzigkeit aber die Liebe und Freundschaft der Frauen und der Kinder. Er war kaum drey Tage da gewesen, so war er schon zu Hause; und weilen er weder Vorwürfe noch Verfolgungen zu befürchten hatte, so war er vor die Zeit so zu sagen vollkommen vergnügt.

Den ersten Sonntag Nachmittag verwendete er aufs Briefschreiben, indem er seinem Vater, seinem Oheim und sonstigen guten Freunden seine gegenwärtige Umstände berichtete, um seine Familie zu beruhigen; denn man kann denken, daß sie so lange um ihn sorgten, bis sie wußten, daß er am Brod war. Er erhielt auch bald freundschaftliche Antworten auf diese Briefe, worin er zur Demuth und Rechtschaffenheit ermahnet, und vor aller Gefahr im Umgang mit unsichern Leuten gewarnt wurde.

Indessen wurde er bald in ganz Schauberg bekannt. Des Sonntags Vormittags, wenn er in die Kirche gieng, so gieng er nirgend anders als auf die Orgel; und weilen der Organist ein steinalter und ungeschickter Mann war, so getraute sich Stilling [195] während dem Singen und beym Ausgang aus der Kirche besser zu spielen; denn ob er gleich das Clavierspielen nie kunstmäßig, sondern bloß aus eigener Uebung und Nachdenken gelernt hatte, so spielte er doch den Choral ganz richtig nach den Noten, und vollkommen vierstimmig; er ersuchte deswegen den Organisten, ihn spielen zu lassen; dieser war von Herzen froh, und ließ ihn immer spielen. Weilen er nun in den Vor- und Zwischenläufen beständig mit Sexten und Terzen um sich warf, und gern die sanftesten und rührendsten Register zog, wodurch das Ohr des gemeinen Mannes, und derer, die keine Musik verstehen, am mehresten gerühret wird, und weilen er beym Ausgang aus der Kirche auch immer ein harmonisches Singestück, das aber allezeit entweder traurig oder zärtlich war, spielte, wobey fast immer die Flöten-Register mit dem Tremulanten gebraucht wurden: so war alles aufmerksam auf den sonderbaren Organisten; der mehreste Haufen stund vor der Kirchen, bis er von der Orgel herunter, und zur Kirchenthür heraus kam; dann steckten die Leute die Köpfe zusammen, und fragten sich untereinander: was das vor ein Mensch seyn möchte? Endlich wards allgemein bekannt, es war des Schneider Nagels sein Geselle.

Wenn jemand zu Meister Nagel kam, besonders Leute von Condition, Kaufleute, Beamten, oder auch wohl Gelehrte, die etwas wegen Kleider-Sachen zu bestellen hatten: so ließen sie sich mit Stillingen, wegen des Orgelsschlagens, in ein Gespräch ein; da brachte dann ein Wort das andere. Er mischte zu der Zeit viele lateinische Brocken mit in seine Reden, sonderlich wenn er mit Leuten umgieng, von denen er vermuthete, daß sie Latein verstünden; das setzte dann alle in Erstaunen, nicht daß er eben ein Wunder von Gelehrsamkeit gewesen wäre, sondern weilen er da saß und nähte, und doch so sprach, welches in einer Person vereinigt, besonders in Schauberg, etwas unerhörtes war. Alle Menschen, Vornehme und Geringe, kamen und liebten ihn, und dieses war eigentlich Stillings Element; [196] wo man ihn nicht kannte, war er still, und wo man ihn nicht liebte, traurig. Meister Nagel und alle seine Leute ehrten ihn dergestalt, daß er mehr Herr als Geselle im Hause war.

Die vergnügtesten Stunden hatten sie alle zusammen des Sonntags Nachmittags; dann giengen sie oben ins Haus auf eine schöne Kammer, deren Aussicht ganz herrlich war; hier las ihnen Stilling aus einem Buch vor, daß die Frau Nagels geerbt hatte; es war ein alter Foliant mit vielen Holzschnitten, das Titelblatt war verloren; es handelte von den Niederländschen Geschichten und Kriegen, unter der Stadthalterschaft der Herzogin von Parma, des Herzogs von Alba, des großen Commeters u.s.w., nebst den wunderbaren Schicksalen des Prinzen Morizens von Nassau; hiebey verhielt sich nun Stilling wie ein Professor, der Lehrstunden hält; er erklärte, er erzählte ein und anderes dazwischen, und seine Zuhörer waren ganz Ohr. Erzählen ist immer so seine Sache gewesen, und Uebung macht endlich den Meister.

Gegen Abend gieng er alsdenn mit seinem Meister, oder vielmehr mit seinem Freund Nagel um die Stadt spazieren; und weilen dieselbe auf einer Höhe, kaum fünf Stunden vom Rhein abliegt, so war dieser Spaziergang wegen der herrlichen Aussicht unvergleichlich. Westwärts sah man eine große Strecke hin, diesen prächtigen Strom im Schimmer der Abendsonne, majestätisch auf die Niederlande zu eilen: rund umher lagen tausend buschigte Hügel, wo überall entweder blühende Bauerhöfe, oder prächtige Kaufmannspalläste zwischen den grünen Bäumen hervorguckten; dann waren Nagels und Stillings Gespräche herzlich und vertraulich, sie ergossen sich in einander, und Stilling gieng eben so vergnügt schlafen, als er auch ehmahlen zu Zellberg gethan hatte.

Herr Pastor Stollbein hatte seine herzliche Freude daran, daß sein Landsmann Stilling so allgemein beliebt war, und er machte ihm Hofnung, daß er ihn mit der Zeit würde anständig versorgen können.

[197] So angenehm verflossen dreyzehn Wochen, und ich kann sagen: daß Stilling während der Zeit sich weder seines Handwerks schämte, noch sonsten großes Verlangen trug, davon abzukommen. Um das Ende dieser Zeit, etwa mitten im Julius, gieng er an einem Sonntag Nachmittag durch eine Gasse der Stadt Schauberg; die Sonne schien angenehm, und der Himmel war hier und da mit einzelnen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch sonst etwas sonderliches in den Gedanken; von ohngefähr blickte er in die Höhe und sah eine lichte Wolke über seinem Haupte hinziehen; mit diesem Anblick durchdrung eine unbekannte Kraft seine Seele, ihm wurde so innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe, und konnte sich kaum enthalten, daß er nicht darnieder sunk; von dem Augenblick an fühlte er eine unüberwindliche Neigung, ganz für die Ehre Gottes, und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben; seine Liebe zum Vater der Menschen, und zum göttlichen Erlöser, desgleichen zu allen Menschen, war in dem Augenblick so groß, daß er willig sein Leben aufgeopfert hätte, wenn's nöthig gewesen wäre. Dabey fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb, über seine Gedanken, Worte und Werke zu wachen, damit sie alle Gottgeziemend, angenehm, und nützlich seyn möchten. Auf der Stelle machte er einen vesten und unwiderruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich Seiner Führung zu überlassen, und keine eitle Wünsche mehr zu hegen, sondern wenn es Gott gefallen würde, daß er Lebenslang ein Handwerksmann bleiben sollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu seyn.

Er kehrte alsofort um, gieng nach Haus, und sagte niemand von diesem Vorfall etwas, sondern er blieb wie er vorhin war, nur daß er weniger und behutsamer redete, welches ihn noch beliebter machte.

Diese Geschichte ist eine gewisse Wahrheit. Ich überlasse Schöngeistern, Philosophen und Psychologen, daraus zu machen, [198] was ihnen beliebt; ich weiß wohl, was es ist, das den Menschen umkehrt, und so ganz verändert.

Diesen Sonntag, als obiges geschah, über drey Wochen gieng Stilling des Nachmittags in die Kirche, nach derselben fiel ihm vor der Kirchthür ein, den Stadtschulmeister einmal zu besuchen; er verwunderte sich selbst, daß er das nicht eher gethan hatte, er gieng also stehendes Fußes zu ihm hin; dieser war ein ansehnlicher braver Mann, er kannte Stillingen schon, und freute, sich denselben bey sich zu sehen; sie tranken Thee zusammen, und rauchten eine Pfeife Taback dazu. Endlich fieng der Schulmeister an, und fragte: Ob er nicht Lust hätte, eine schöne Condition anzutreten? Flugs war seine Lust dazu wieder so groß, als sie jemahlen gewesen. O Ja! antwortete er, das wünscht ich wohl von Herzen. Der Schulmeister fuhr fort: Sie kommen just als wenn Sie gerufen wären; heut hab ich einen Brief von einem vornehmen Kaufmann erhalten, der eine halbe Stunde jenseits Holzheim wohnt; er ersucht mich in demselben, ihm einen guten Haus-Informator zuzuweisen; ich hab an Sie nicht gedacht, bis Sie eben hereinkommen; nun fällt mir ein, daß Sie wohl der Mann dazu wären; wenn Sie nun nur die Stelle annehmen wollen, so ist gar kein Zweifel mehr, Sie werden sie erhalten. Stilling jauchzte innerlich vor Freuden, und glaubte vest, jetzt sey nun endlich einmal die Stunde seiner Erlösung gekommen; er sagte also: daß es von je her sein Zweck gewesen, mit seinen wenigen Talenten Gott und dem Nächsten zu dienen, und er ergreife diese Gelegenheit mit beyden Händen, weilen sie eine Beförderung seines Glücks seyn könne. Davon ist wohl kein Zweifel, versetzte der Schulmeister; es kommt nur auf Ihre Aufführung an, so können Sie mit der Zeit freylich glücklich, und befördert werden; nächsten Posttag will ich dem Herrn Hochberg schreiben, so werden Sie bald abgeholt werden.

Nach einigen Gesprächen gieng Stilling wieder nach Haus. Er erzählte alsofort diesen Vorfall Herrn Stollbein, desgleichen [199] auch dem Meister Nagel und seinen Leuten. Der Herr Pastor war froh, Meister Nagel und die Seinigen aber trauerten, sie wendeten alle Beredsamkeit an, um ihn bey sich zu behalten, allein das war vergebens, das Handwerk stunk ihm an, Zeit und Weil wurd ihm lang, bis er an seinen bestimmten Ort kam; doch fühlte er jetzt etwas in seinem Innern, das diesem Beruf beständig widersprach; dies unbekannte Etwas überzeugte ihn in seinem Gemüth, daß diese Neigung wiederum aus dem alten verderbten Grund herrühre; dieses neue Gewissen, wenn ich so reden darf, war erst seit dem gemeldeten Sonntag in ihm aufgewacht, da er eine so gewaltige Veränderung bey sich verspürt hatte. Diese Ueberzeugung kränkte ihn, er fühlte wohl, daß sie wahr war, allein seine Neigung war allzu stark, er konnte ihr nicht widerstehen; dazu fand sich eine Art von Schlange bey ihm ein, welche sich durch die Vernunft zu helfen suchte, indem sie ihm vorstellte: Ja sollte Gott das wohl haben wollen, daß du da ewig an der Nähnadel sitzen bleiben sollst, und deine Talente vergräbst? Keineswegs! du must bey der ersten Gelegenheit damit wuchern, laß dich das nicht weiß machen, es ist bloß eine hypochondrische Grille; alsdenn warf das Gewissen wieder ein: Wie oft hast du aber mit deinen Talenten in der Unterweisung der Jugend wuchern wollen, und wie ists dir dabey gegangen? – Die Schlange wußte dagegen einzuwenden: das seyen lauter Läuterungen gewesen, die ihn zu einem wichtigern Geschäfte hätten tüchtig machen sollen. Nun glaubte Stilling der Schlangen, und das Gewissen schwieg.

Schon den folgenden Sonntag kam ein Bote von Herrn Hochberg, der Stilling abhohlte. Alle weinten bey seinem Abschied, er aber gieng mit Freuden. Als sie nach Holzheim kamen, so giengen sie zu dem alten Brauer, der Stillingen bey seiner Durchreise seine Geschichte erzählt hatte; er erzählte dem ehrlichen Alten sein neues Glück, dieser freute sich, wie es schien, nicht so sonderlich darüber, doch sagte er: das ist schon [200] für Sie ein hübscher Anfang. Stilling aber dachte dabey: der Mann kann seine Ursachen haben, daß er so spricht.

Nun giengen sie noch eine halbe Stunde weiter, und kamen an Hochbergs Haus an. Dieses lag in einem kleinen angenehmen Thal an einem schönen Bach, nicht weit von der Landstraße, die Stilling gekommen war. Als sie ins Haus traten, so kam die Frau Hochberg aus der Stube heraus. Sie war prächtig gekleidet, und eine Dame von ungemeiner Schönheit; sie grüßte Stillingen freundlich, und hieß ihn in die Stube gehen; er gieng hinein, und fand ein herrlich meublirtes und schön tapezirtes Zimmer; zween wackere junge Knaben kamen herein, nebst einem artigen Mädchen; die Knaben waren in rothe scharlachene Kleider auf Husaren-Manier gekleidet, das Mädchen aber völlig im Ton einer jungen Prinzeßin. Die guten Kinder kamen, um dem neuen Lehrmeister ihre Aufwartung zu machen, sie bückten sich nach der Kunst, und traten herzu, um ihm die Hand zu küssen. Das war Stillingen nun in seinem Leben noch nicht wiederfahren, er wußte sich gar nicht darein zu schicken, noch was er sagen sollte; sie ergriffen seine Hand; da er ihnen nun die hohle Hand hinhielt, so mußten sie sich plagen, dieselbe herum zu drehen, um mit dem kleinen Mäulchen oben auf die Hand zu kommen. Nun merkte Stilling, wie man sich bey der Gelegenheit anstellen müsse. Die Kinder aber hüpften wieder fort, und waren froh, daß sie ihre Sache vollendet hatten.

Herr Hochberg und sein alter Schwiegervater waren in die Kirche gegangen. Die Frau aber war in der Küche, um ein und anderes zu veranstalten, also befand sich Stilling allein in der Stube; er merkte sehr wohl, was hier zu thun war, und daß ihm zwey wesentliche Stücke fehlten, um Hochbergs Hauslehrer zu seyn. Er verstund die Complimentir-Kunst gar nicht; ob er gleich nicht in dummer Grobheit erzogen war, so hatte er sich doch noch in seinem Leben nicht gebückt, alles war bis dahin Gruß und Händedruck gewesen. Die Sprache [201] war sein vaterländischer Dialect, worinnen er, aufs höchste genommen, jemand mit dem Wörtchen Sie beehren konnte. Und vors zweyte: seine Kleider waren nicht modisch, und dazu nicht einmahl gut, sondern schlecht und abgetragen; er hatte zwar bey Meister Nagel acht Gulden verdient; allein, was war das in so großem Mangel? – Er hatte vor zween Gulden neue Schuh, vor zween einen Hut, vor zween ein Hemd angeschaft, und zween Gulden hatte er also noch in der Tasche. Alle diese Anlagen aber waren noch kaum an ihm zu sehen; er fühlte alsofort, daß er sich täglich würde schämen müssen, doch hatte er auch durch Aufmerksamkeit täglich mehr und mehr Lebensart zu lernen, und durch seinen treuen Fleiß, Geschicklichkeit, und gute Aufführung seine Herrschaft zu gewinnen, so daß man ihm vor und nach aus seiner Noth helfen würde.

Herr Hochberg kam nun endlich auch herein, denn es war Mittag; dieser vereinigte nun alles, was nur Würde und kaufmännisches Ansehn genennt werden mag, in Einer Person. Er war ein ansehnlicher Mann, lang und etwas corpulent, er hatte ein apfelrundes ganz brunettes Gesicht, mit großen pechschwarzen Augen, und etwas dicken Lippen, und wenn er redete, so sah man allezeit zwo Reihen Zähne wie Alabaster; sein Gehen und Stehen war vollkommen spanisch, doch muß ich auch dabey gestehen, daß nichts affectirtes dabey war, sondern es war ihm alles so ganz natürlich. So wie er herein trat, schaute er Stillingen ebenso an, wie große Fürsten gewohnt sind, jemand anzuschauen. Stillingen drung dieser Blick durch Mark und Bein, vielleicht eben so stark, als derjenige that, den er neun Jahr hernach vor einem der grösten Fürsten Teutschlands empfand. Allein seine Weltkenntniß mogte sich auch wohl zu der Zeit gegen die letztere verhalten, wie Hochberg gegen diesen vortreflichen Fürsten.

Nach diesem Blick nickte Herr Hochberg Stillingen an, und sprach:

[202] Serviteur Monsieur!

Stilling war kurz resolvirt, bückte sich so gut er konnte und sagte:

»Ihr Diener, Herr Principal!«

Doch daß ich die Wahrheit gestehe, auf dieses Compliment hatte er auch eine Stunde her studiret; da er aber nicht voraus wissen konnte, was Hochberg weiter sagen würde, so war es nun auch geschehen, und seine Geschicklichkeit hatte ein Ende. Ein paarmahl gieng Hochberg die Stube auf und ab; nun sah er wieder Stilling an, und sagte:

Sind Sie resolvirt als Präceptor bey mir zu serviren?

»Ja.«

Verstehn Sie auch Sprachen?

»Die lateinische so ziemlich.«

Bon Monsieur! Sie brauchen sie zwar noch nicht, doch ist Ihre Connoissance das Wesentliche in der Orthographie. Verstehen Sie das Rechnen auch?

»Ich habe mich in der Geometrie geübt, und dazu wird das Rechnen erfordert, auch hab ich mich in der Sonnuhrkunst und Mathematik etwas umgesehen.«

Eh bien, das ist artig! das convenirt mir; ich geb Ihnen nebst freyen Tisch fünf und zwanzig Gulden im Jahr.

Stilling ließ sich das gefallen, wiewohl es ihm etwas zu wenig dauchte, deswegen sagte er:

»Ich bin zufrieden mit dem was Sie mir zulegen werden, und ich hoffe: Sie werden mir geben was ich verdiene.«

Oui! Ihre Conduite wird determiniren, wie ich mich da zu verhalten habe.

Nun gieng man an Tafel. Auch hier sah Stilling, wie viel er noch zu lernen hatte, eh er einmahl Speiß und Trank nach der Mode in seinen Leib bringen konnte. Bey aller dieser Beschwerlichkeit spürte er eine heimliche Freude bey sich selbst, daß er doch nun endlich einmal aus dem Staube heraus, und in den Zirkel vornehmer Leute kam, wornach er so lange verlangt [203] hatte. Alles was er sah, das zum Wohlstand und guten Sitten gehörte, das beobachtete er aufs genaueste, sogar übte er sich in geschickten Verbeugungen, wenn er allein auf seiner Kammer war, und ihn niemand sehen konnte. Er sahe diese Condition als eine Schule an, worinnen er Anstand und Lebensart lernen wollte.

Des andern Tags fieng er mit den beyden Knaben und dem Mädchen die Information an; er hatte alle seine Freude an den Kindern, sie waren wohl erzogen, und besonders sehr zärtlich gegen ihren Lehrer, und dieses versüßte alle Mühe. Nach einigen Tagen zog Herr Hochberg in die Messe. Dieser Abschied that Stillingen sehr leid; denn er allein war der Mann, der mit ihm sprechen konnte; die andern redeten immer von solchen Sachen, die ihm ganz gleichgültig waren.


[204] So verflossen einige Wochen ganz vergnügt, ohne daß Stilling etwas zu wünschen hatte, außer daß er doch endlich einmal bessere Kleider bekommen möchte. Er schrieb diese Veränderung an seinen Vater, und er hielt fröliche Antwort.

Herr Hochberg kam um Michaelis wieder. Stilling freuete sich bey seiner Ankunft, allein diese Freude dauerte nicht lange, alles veränderte sich vor und nach in eine betrübte Lage für ihn. Herr und Frau Hochberg hatten geglaubt, daß ihr Informator noch Kleider zu Schauberg habe. Da sie nun endlich sahen, daß er würklich alles mitgebracht hatte, so fingen sie an, schlecht von ihm zu denken, und ihm nicht zu trauen; man verschloß alles vor ihm, war zurückhaltend, und oft merkte er aus ihren Reden, daß man ihn für einen Vagabunden hielte. Nun war alles in der Welt Stillingen eher möglich, als jemand nur eines Hellers werth zu entwenden, und deswegen war ihm dieser Umstand ganz unerträglich. Es ist auch gar nicht zu begreifen, woher doch die guten Leute auf einen so fatalen Einfall geriethen. Es ist indessen am aller wahrscheinlichsten, daß jemand unter dem Gesinde untreu war, der diesen Verdacht hinter seinem Rücken auf ihn zu schieben suchte; und was noch das Schlimmste war, sie ließen ihn nichts deutliches merken, daher man ihm auch alle Gelegenheit abgeschnitten, sich zu vertheidigen.

Vor und nach machte man ihm sein Amt schwerer. So bald er des Morgens aufstund, gieng er herunter in die Stube; man trank sodann Caffee, um sieben Uhr war das geschehen, und sofort mußte er mit den Kindern in die Schule, welche aus einem Kämmerchen bestund, das vier Fuß breit und zehn Fuß lang war; da kam er nun nicht heraus, bis man zwischen zwölf und zwo Uhr zum Mittagessen rief, und alsofort nach dem Essen gieng er wieder hinein bis um vier Uhr, da man Thee trank; gleich nach dem Thee hieß es wieder: Nun Kinder in die Schule! und dann kam er vor neun Uhr nicht wieder [205] heraus, dann speiste man zu Nacht, und gieng darauf schlafen.

Auf diese Weise hatte er keinen Augenblick für sich, als nur bloß den Sonntag, und diesen brachte er auch traurig zu, weil er wegen Kleidermangel nicht mehr vor die Thür, geschweige zur Kirchen gehen konnte. Wär er nun zu Schauberg geblieben, so würde ihn Meister Nagel vor und nach gnugsam versorgt haben, denn er hatte schon wirklich von weitem Anstalten dazu gemacht.

Nun war würklich ein dreyköpfigter Höllenhund auf den armen Stilling losgelassen. Aeusserste Bettelarmuth, eine immerfort dauernde Einkerkerung oder Gefangenschaft, und drittens ein unerträgliches Mistrauen, und daher entstandene äusserste Verachtung seiner Person.

Gegen Martini fieng sein ganzes Gefühl an zu erwachen, seine Augen giengen auf, und er sah die schwärzeste Melancholie wie eine ganze Hölle auf ihn rücken. Er rief zu Gott, daß es von einem Pol zum an dern hätte erschallen mögen, aber da war keine Empfindung noch Trost mehr, er konnte sogar an Gott nicht einmahl denken, so daß das Herz Theil daran hatte; und diese erschreckliche Qual hatte er nie dem Namen nach gekannt, vielweniger jemahlen das mindeste davon empfunden; dazu hatte er rund um sich her keine einzige treue Seele welcher er seinen Zustand entdecken konnte, und einen solchen Freund aufzusuchen, dazu hatte er nicht Kleider genug; sie waren zerrissen, und die Zeit mangelte ihm sogar dieselben auszubessern.

Gleich anfangs glaubte er schon nicht, daß ers in diesem Zustand lange aushalten würde, und doch wurde es von Tag zu Tag schlimmer; seine Herrschaft und alle andre Menschen kehrten sich gar nicht an ihn, so als wenn er nicht in der Welt gewesen wäre, ob sie schon mit seiner Information wohl zufrieden waren.

So wie Weyhnachten heranrückte, so nahm auch sein erschrecklicher [206] Zustand zu. Den ganzen Tag über war er ganz starr und verschlossen, wenn er aber des Abends um zehn Uhr auf seine Schlafkammer kam, so fiengen seine Thränen an los zu werden; er zitterte und zagte, wie ein Uebelthäter der in dem Augenblick geradebrecht werden soll, und wenn er vollends ins Bett kam, so runge er dergestalt mit seiner Höllenqual, daß das ganze Bett und sogar die Fensterscheiben zitterten, bis er einschlief. Es war noch ein großes Glück für ihn daß er schlafen konnte, aber wenn er des Morgens erwachte, und die Sonne auf sein Bett schien, so erschrack er, und war wieder starr und kalt; die schöne Sonne kam ihm nicht anders vor als Gottes Zorn-Auge, das wie eine flammende Welt Blitz und Donner auf ihn herab zu stürzen drohte. Den ganzen Tag über schien ihm der Himmel roth zu seyn, und er fuhr zusammen vor dem Anblick eines jeden lebendigen Menschen, als ob er ein Gespenst wäre; hingegen in einer finstern Gruft zwischen Leichen und Schreckbildern zu wachen, das wär ihm eine Freude und Erquickung gewesen.

Zwischen den Feyertagen fand er endlich einmahl Zeit seine Kleider durch und durch auszubessern, seinen Rock kehrte er um, und machte alles so gut als er konnte zurecht. Die Armuth lehrt erfinden, er bedeckte seine Mängel, so daß er doch wenigstens ein paar mahl, ohne sich zu schämen, nach Holzheim in die Kirche gehen durfte; er war aber so blaß und so hager geworden, daß er die Zähne mit den Lippen nicht mehr bedecken konnte, seine Gesichtslineamente waren vor Gram schrecklich verzerrt, die Augbraunen waren hoch in die Höhe gestiegen, und seine Stirn voller Runzeln, die Augen lagen wild, tief und finster im Haupt, die Oberlippe hatte sich mit den Nasenflügeln empor gezogen, und die Winkel des Munds sunken mit den häutigen Wangen herab; ein jeder der ihn sah, betrachtete ihn starr, und blickte blöd von ihm ab.

Des Sonntags nach Neujahr gieng er in die Kirche. Unter allen war keiner der ihn ansprach, als nur allein der Herr [207] Pastor Brück, dieser hatte ihn von der Canzel beobachtet, und so wie die Kirche aus war, eilte der edle Mann heraus, suchte ihn unter den Leuten, die da vor der Thür stunden, auf, grif ihn am Arm und sagte: Gehen sie mit mir, Herr Präceptor! Sie sollen mit mir speisen, und diesen Nachmittag bey mir bleiben. Es läßt sich nicht aussprechen, welche Wirkung diese leutseelige Worte auf sein Gemüth hatten, er konnte sich kaum enthalten laut zu weinen, und zu heulen; die Thränen floßen ihm stromweise die Wangen herunter, er konnte dem Prediger nichts antworten, und dieser fragte ihn auch weiter nichts, sprach auch nichts mit ihm, sondern führte ihn nur fort in sein Haus; die Frau Pastorin und die Kinder entsetzten sich vor ihm, und bedauerten ihn von Herzen.

So bald sich nun Herr Brück ausgezogen hatte, setzte man sich zu Tisch. Alsofort fieng der Pastor an von seinem Zustand zu reden, und zwar mit solcher Kraft und Nachdruck, daß Stilling nichts that als laut weinen, und alle, die mit zu Tisch sassen weinten mit. Dieser vortrefliche Mann las in seiner Seelen was ihm fehlte; er behauptete mit Nachdruck: daß alle seine Leiden, die er von jeher gehabt habe, lauter Läuterungsfeuer gewesen seyn, wodurch ihn die ewige Liebe von seinen Unarten fegen, und ihn zu etwas sonderbarem geschickt machen wolle; auch gegenwärtiger schwerer Zustand sey um dieser Ursach willen über ihn gekommen, und werde nicht lange mehr dauern, so würde ihn der Herr gnädig erlösen; und was dergleichen Tröstungen mehr waren, die die brennende Seele des guten Stillings wie ein kühler Thau erquickten. Allein dieser Trost war von kurzer Dauer, er mußte am Abend doch wieder in seinen Kerker, und nun war der Schmerz auf diese Erquickung wiederum so viel unleidlicher.

Diese erschreckliche Leiden dauerten von Martini bis den 12ten April 1763, und also neunzehn bis zwanzig Wochen. Dieser Tag war also der frohe Zeitpunkt seiner Erlösung. Des Morgens früh stund er noch mit eben den schweren Leiden [208] auf, mit denen er sich schlafen gelegt hatte; er gieng wie gewöhnlich herunter an den Tisch, trank Caffee, und darauf in die Schule; um neun Uhr als er in seinem Kerker am Tisch saß, und ganz in sich selbst gekehrt das Feuer seiner Leiden aushielt, fühlte er plötzlich eine gänzliche Veränderung seines Zustands, alle seine Schwermuth und Schmerzen waren gänzlich weg, er empfand eine solche Wonne und tiefen Frieden in seiner Seelen, daß er vor Freude und Seeligkeit nicht zu bleiben wußte. Er besann sich und wurde gewahr, daß er willens war weg zu gehen; dazu hatte er sich entschlossen ohne es zu wissen; so in demselbigen Augenblick stund er auf, gieng hinauf auf seine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel Thränen der Freude und der Dankbarkeit daselbst geflossen sind, können nur diejenigen begreifen, die sich mit ihm in ähnlichen Umständen befunden haben.

Hier packte er nun seine paar Lumpen die, er noch hatte zusammen, band seinen Hut mit hinein, den Stab aber ließ er zurück. Diesen Bündel warf er durch ein Fenster hinter dem Hause in den Hof, gieng darauf wieder herunter, und spazirte ganz gleichgültig zur Pforte hinaus, gieng hinter das Haus, nahm den Pack, und wanderte so geschwind als er konnte das Feld hinauf, und eine ziemliche Strecke in den Busch hinein; hier zog er seinen abgeschabten Rock an, setzte den Hut auf, that seinen alten siamoisenen Kittel, den er des Werkeltags getragen hatte, in den Bündel, schnitte einen Stecken ab, worauf er sich stützte, und wanderte nordtwärts durch Berg und Thal fort, ohne einen Weg zu haben. Jetzt war zwar sein Gemüth ganz ruhig, er schmeckte die süße Freyheit in all ihrer Fülle; allein er war doch so betäubt und fast sinnlos, so daß er an seinen Zustand gar nicht dachte, und keine Ueberlegung hatte. Als er eine Stunde durch wüste Oerter fortgewandelt war, so gerieth er auf eine Landstraße, und hier sah er ohngefehr eine Stunde vor sich hin auf der Höhe, ein Städchen liegen, wohin diese Strasse führte; er folgte derselben [209] ohne einen Willen zu haben warum, und gegen eilf Uhr kam er vor dem Thor an. Er fragte daselbst nach dem Namen der Stadt, und er vernahm, daß es Waldstätt war, wovon er zuweilen hatte reden hören. Nun gieng er zu einem Thor hinein, gerad durch die Stadt durch, und zum andern wieder heraus. Daselbst traf er nun zwo Strassen, welche ihm beyde gleich stark gebahnt schienen, er erwählte eine von beyden, und gieng oder lief vielmehr dieselbe fort. Nach einer kleinen halben Stunde gerieth er in einen Wald, die Straße verlohr sich, und nun fand er keinen Weg mehr; er setzte sich nieder, denn er hatte sich müde gelaufen. Jetzt kam seine völlige Kraft zu denken wieder, er besann sich, und hatte keinen einzigen Heller Geld bey sich, denn er hatte noch wenig oder gar keinen Lohn von Hochberg gefordert; doch war er hungrig. Er war in einer Einöde, und wußte weit und breit um sich her keinen Menschen der ihn kannte.

Jetzt fieng er an und sagte bey sich selber: »Nun bin ich denn doch endlich auf den höchsten Gipfel der Verlassung gestiegen, es ist jetzt nichts mehr übrig, als betteln oder sterben; – das ist der erste Mittag in meinem Leben, an welchem ich keinen Tisch für mich weiß! ja, die Stunde ist gekommen, da das große Wort des Erlösers für mich auf der höchsten Probe steht! Auch ein Haar von eurem Haupt soll nicht umkommen. – Ist das wahr, so muß mir schleunige Hülfe geschehen, denn ich habe bis auf diesen Augenblick auf ihn getraut und seinem Worte geglaubt; – ich gehöre mit zu den Augen die auf den Herrn warten, daß er ihnen zur rechten Zeit Speise gebe und sie mit Wohlgefallen sättige; bin ich doch so gut sein Geschöpf, wie jeder Vogel, der da in den Bäumen singt, und jedesmahl seine Nahrung findet, wenns ihm Noth thut.« Stillings Herz war bey diesen Worten so beschaffen, als das Herz eines Kindes, wenn es durch strenge Zucht endlich wie Wachs zerfleußt, der Vater sich wegwendet und seine Thränen verbirgt. Gott! was das Augenblicke sind, wenn man [210] sieht, wie dem Vater der Menschen seine Eingeweide brausen; und er sich vor Mitleiden nicht länger halten kann! –

Indem er so dachte, ward es ihm plötzlich wohl im Gemüthe, und es war als wenn ihm jemand zuspräche: Geh in die Stadt, und such einen Meister! Im Augenblick kehrte er um, und indem er in eine seiner Taschen fühlte, so wurde er gewahr, daß er seine Scheere und Fingerhut bey sich hatte, ohne daß ers wußte. Er kam also wieder zurück, und gieng zum Thor hinein. Er fand einen Bürger vor seiner Hausthür stehen, diesen grüßte er und fragte: wo der beste Schneidermeister in der Stadt wohne? Dieser Mann rief ein Kind, und sagte ihm: da führe diesen Menschen bey den Meister Isaac! Das Kind lief vor Stilling her, und führte ihn in einen abgelegenen Winkel an ein kleines Häuschen, und gieng darauf wieder zurück; er trat da hinein, und kam in die Stube. Hier stund eine blasse, magere, dabey aber artige und reinliche Frau, und deckte den Tisch, um mit ihren Kindern zu Mittag zu essen. Stilling grüßte sie und fragte: Ob er hier Arbeit haben könnte? Die Frau sah ihn an, und betrachtete ihn von Haupt bis zu Fuß. Ja! sagte sie sittsam und freundlich: mein Mann ist verlegen um einen Gesellen; wo seyd Ihr her? Stilling antwortete: aus dem Salenschen Lande! Die Frau heiterte sich ganz auf, und sagte: da ist mein Mann auch her, ich will ihm rufen lassen. Er war mit einem Gesellen und Lehrburschen in einem Haus in der Stadt in Arbeit; sie schickte eines von den Kindern und ließ ihm rufen. In ein paar Minuten kam Meister Isaac zur Thür herein; seine Frau sagte ihm, was sie wußte, und er fragte ferner was er gern wissen wollte; der Meister nahm ihn willig an. Nun nöthigte ihn die Frau an den Tisch; und so war schon seine Speise bereitet gewesen, als er noch im Wald irre gieng, und nachdachte: Ob ihm auch Gott diesen Mittag die nöthige Nahrung bescheren würde.

Meister Isaac blieb da, und speiste mit. Nach dem Essen nahm er ihn mit in die Arbeit, bey einen Schöffen der sich [211] Schauerhof schrieb; dieser war ein Brodbäcker, dabey ein hagerer langer Mann. So wie sich Meister Isaac und sein neuer Geselle gesetzt hatten, und anfiengen zu arbeiten, kam auch der Schöffe mit seiner langen Pfeiffe, setzte sich bey die Schneider, und fieng mit Meister Isaac an zu reden, wo sie vorhin vermuthlich aufgehört hatten.

Ja! sagte der Schöffe: ich stelle mir den Geist Christi als eine allenthalben gegenwärtige Kraft vor, die überall in den Herzen der Menschen wirkt, um eine jede Seele in seine eigene Natur zu verwandeln; je ferner nun jemand von Gott ist, je fremder ist ihm dieser Geist. Was denkst du davon, Bruder Isaac?

Ich stelle mir die Sache ungefehr eben so vor, versetzte der Meister: es ist hauptsächlich um den Willen des Menschen zu thun, der Wille macht ihn fähig –

Nun konnte sich Stilling nicht mehr halten; er fühlte, daß er bey frommen Leuten war, er fieng ganz unvermuthet hinter dem Tisch an, laut zu weinen und zu rufen: O Gott, ich bin zu Haus! ich bin zu Haus! Alle Anwesende erstarrten, und entsetzten sich; sie wußten nicht, was ihm wiederfuhr. Meister Isaac sahe ihn an, und fragte: wie ists Stilling? (er hatte ihm seinen Namen gesagt) Stilling antwortete: ich hab lange diese Sprache nicht gehört; und da ich nun sehe, daß Sie Leute sind, die Gott lieben, so weiß ich mich vor Freude nicht zu lassen. Meister Isaac fuhr fort: seyd Ihr dann auch ein Freund vom Christenthum, und von wahren Gottseeligkeit?

O Ja! versetzte Stilling: von Herzen!

Der Schöffe lachte vor Freuden, und sagte: da haben wir also einen Bruder mehr. Meister Isaac und Schöffe Schauerhof reichten und schüttelten ihm die Hand, und waren sehr froh. Des Abends nach dem Essen gieng der Geselle und der Lehrjunge nach Haus, der Schöffe aber, Isaac und Stilling blieben noch lange beysammen, rauchten Toback, tranken Bier dazu, und redeten auf eine erbauliche Weise vom Christenthum. [212] Henrich Stilling lebte nun wieder vergnügt zu Waldstätt; auf so viele Leiden und Gefangenschaft schmeckte nun der Friede und die Freyheit so viel süsser. Er hatte von all seiner Drangsal seinem Vater nicht ein Wort geschrieben, um ihn nicht zu betrüben; jetzt aber, da er von Hochberg ab und wieder bey dem Handwerk war, so schrieb er ihm vieles, aber nicht alles. Die Antwort, welche er darauf erhielt, war wiederum eine Bekräftigung, daß er zur Unterweisung der Jugend nicht geschaffen wäre.

Als Stilling nun einige Tage bey Meister Isaac gewesen war, so fieng letzterer einsmahls, über der Arbeit, mit ihm an, von seinen Kleidern zu sprechen; der andere Geselle und der Lehrbursche waren nicht gegenwärtig; er erkundigte sich genau nach allem, was er hatte. Als Isaac das alles hörte, stund er alsofort auf, und hohlte ihm schönes violettes Tuch zum Rock, einen schönen neuen Hut, schwarzes Tuch zur Weste, Zeug zum Unterwämschen, und zu Hosen, ein paar guter feiner Strümpfe, desgleichen mußte ihm der Schuhmacher Schuhe anmessen, und seine Frau machte ihm sechs neue Hemder; alles dieses war in vierzehn Tagen fertig. Nun gab ihm sein Meister auch einen von seinen Rohrstäben in die Hand; und damit war Stilling schöner gekleidet, als er in seinem Leben gewesen war; dazu war auch alles nach der Mode, und nun durfte er sich sehen lassen.

Dieses war nun noch der letzte Feind, der aufgehoben werden mußte. Stilling konnte seinen innigen Dank gegen Gott und seinen Wohlthäter nicht genug ausschütten; er weinte vor Freuden, und war völlig wohl und vergnügt. Aber gesegnet sey deine Asche – du Stillings-Freund! da du liegst und ruhst! Wenn einmahl die Stimme über den ganzen flammenden Erdkreis erschallen wird: Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet! so wirst du auch dein Haupt empor heben, und dein verklärter Leib wird siebenmahl heller glänzen, als die Sonne am Frühlingsmorgen! –

[213] Stillings Neigung, höher in der Welt zu steigen, war nun vor diese Zeit gleichsam aus dem Grunde und mit der Wurzel ausgerottet; und er war vest und unwiderruflich entschlossen, ein Schneider zu bleiben, bis er gewiß überzeugt seyn würde, daß es der Wille Gottes sey, etwas anders anzufangen; mit Einem Wort, er erneuerte den Bund mit Gott feyerlich, den er verwichenen Sommer, den Sonntag Nachmittag, auf der Gassen zu Schauberg mit Gott geschlossen hatte. Sein Meister war auch so zufrieden mit ihm, daß er ihn nicht anders als seinen Bruder behandelte; die Meisterinn aber liebte ihn über die Maßen, und so auch die Kinder, so daß er nun wieder recht in seinem Element lebte.

Seine Neigung zu den Wissenschaften blieb zwar noch immer, was sie war, doch ruhte sie unter der Aschen, sie war ihm jetzt nicht zur Leidenschaft, und er ließ sie ruhen.

Meister Isaac hatte eine große Bekanntschaft auf fünf Stunden umher mit frommen und erweckten Leuten. Der Sonntag war zu Besuchen bestimmt, daher gieng er mit Stilling des Sonntags Morgens früh nach dem Ort hin, den sie sich vorgenommen hatten, und blieben den Tag über bey den Freunden, des Abends giengen sie wieder nach Haus; oder wenn sie weit gehen wollten, so giengen sie des Sonntags Nachmittags zusammen fort, und kamen des Montags Vormittags wieder. Das war nun Stilling eine Seelenfreude, so viele rechtschaffene Menschen kennen zu lernen; besonders gefiel es ihm, daß alle diese Leute nichts enthusiastisches hatten, sondern bloß Liebe gegen Gott und Menschen auszuüben, im Leben und Wandel aber ihrem Haupte Christo nachzuahmen suchten. Dieses kam mit Stillings Religionssystem völlig überein, und daher verband er sich auch mit allen diesen Leuten zur Brüderschaft und aufrichtiger Liebe. Und wirklich, diese Verbindung hatte eine vortrefliche Wirkung auf ihn. Isaac ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit brüderlich, wo er irgendwo in Worten nicht [214] behutsam genug war. Diese Lebensart war ihm aus der maßen nützlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.

Mitten im May, ich glaube, daß es bey Pfingsten war, beschloß Meister Isaac, im Märkischen, etwa sechs Stunden von Waldstätt, einige sehr fromme Freunde zu besuchen; diese wohnten in einem Städtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das schönste Wetter von der Welt, und der Weg dahin gieng durch bezaubernde Gegenden, bald quer über eine Wiese, dann durch einen grünen Busch voller Nachtigallen, dann ein Feld hinauf voller Blumen, dann über einen buschigten Hügel, dann auf eine Heyde, wo die Aussicht paradiesisch war, dann in einen großen Wald, dann längs einen plätschenden kühlen Bach, und immer so wechselsweise fort. Unsre beyden Pilger waren gesund und wohl, ohne Sorge und Bekümmerniß, hatten Frieden von innen und außen, liebten sich wie Brüder, sahen und empfanden überall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie giengen oder liefen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder sangen eine oder andere erbauliche Strophe, bis daß sie gegen Abend, ohne Müdigkeit und Beschwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bey einem sehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem sie also am wenigsten beschwerlich fielen. Dieser Freund schrieb sich Glöckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waaren. Dieser Mann und seine Frau hatten keine Kinder. Beyde empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; sie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nahmen sie ihn sehr freundlich auf, als sie Isaac versicherte: daß er mit ihnen allen Einer Meynung und Eines Willens sey.

Des Abends über dem Essen erzählte Glöckner eine neue merkwürdige Geschichte von seinem Schwager Freymuth, die [215] sich folgendergestalt verhielte. Die Frau Freymuth war Glöckners Frauen Schwester, und im Christenthum mit derselben Eines Sinnes, daher kamen beyde Schwestern nebst andern Freunden des Sonntags Nachmittags zusammen, sie wiederhohlten alsdann die Vormittags-Predigt, lasen in der Bibel, und sangen geistliche Lieder; dieses konnte nun Freymuth ganz und gar nicht vertragen. Er war ein Erzfeind von solchen Sachen; hingegen gieng er eben wohl fleißig in die Kirche, und zum Nachtmahl, aber das war auch alles; entsetzliches Fluchen, Saufen, Spielen, unzüchtige Reden und Schlägereyen waren seine angenehmste Belustigungen, womit er die Zeit zubrachte, die ihm von seinen Geschäften übrig blieb. Wenn er nun des Abends nach Haus kam, und fand seine Frau in der Bibel, oder sonst einem erbaulichen Buche lesen, so fieng er an abscheulich zu fluchen: Du feiner pietistischer T ... weist ja wohl, daß ich das Lesen nicht haben will; dann grif er sie in den Haaren, schleppte sie auf der Erde herum, und schlug sie, bis das Blut aus Mund und Nasen heraus sprang; sie aber sagte kein Wort, sondern, wenn er aufhörte, so faßte sie ihn um die Knie, und bat ihn mit tausend Thränen: er möchte sich doch bekehren, und sein Leben ändern; dann stieß er sie mit den Füssen von sich und sagte: Canaille! das will ich bleiben lassen, ich will kein Kopfhänger werden wie du. Eben so behandelte er sie auch, wenn er gewahr wurde, daß sie bey andern frommen Leuten in Gesellschaft gewesen war. So hatte ers getrieben so lange, als seine Frau anderes Sinnes gewesen war, als er.

Nun aber vor kurzen Tagen hatte sich Freymuth gänzlich geändert, und zwar auf folgende Weise:

Freymuth reiste nach Frankfurth zur Messe. Während dieser Zeit hatte seine Frau alle Freyheit, nach ihrem Sinn zu leben; sie gieng nicht allein nach andern Freunden, sondern sie nöthigte auch deren zuweilen eine ziemliche Anzahl in ihr Haus; dieses hatte sie auch letztverwichene Ostermesse gethan. [216] Einsmahls, als ihrer viele in Freymuths Hause an einem Sonntag Abend versammlet waren, und zusammen lasen, beteten und sangen, so gefiel es dem Pöbel, dieses nicht leiden zu wollen; sie kamen und schlugen erst alle Fenster ein, die sie nur erreichen konnten; und da die Hausthür verschlossen war, so sprengten sie dieselbe mit einem starken Baum auf. Die Versammlung in der Stube gerieth darüber in Angst und Schrecken, und ein jeder suchte sich so gut zu verbergen, als er konnte; nur allein Frau Freymuth blieb; und als sie hörte, daß die Hausthür aufsprang, so trat sie heraus mit dem Licht in der Hand. Verschiedene Burschen waren schon herein gedrungen, denen sie im Vorhaus begegnete. Sie lächelte die Leute an, und sagte gutherzig: Ihr Nachbarn! was wollt ihr? sofort waren sie, als wenn sie geschlagen wären, sie sahen sich an, schämten sich, und giengen still wieder nach Haus. Den andern Morgen bestellte Frau Freymuth alsbald den Fenstermacher und Schreiner, um alles wieder in gehörigen Stand zu stellen; dieses geschah, und kaum war alles richtig, so kam ihr Mann von der Messe wieder.

Nun bemerkte er alsofort die neue Fenster, er fragte deswegen seine Frau: wie das zugienge? Sie erzählte ihm die klare Wahrheit umständlich, und verhehlte ihm nichts, seufzte aber zugleich in ihrem Gemüth zu Gott um Beystand, denn sie glaubte nicht anders, als sie würde erschreckliche Schläge bekommen. Doch Freymuth dachte daran nicht, sondern er würde rasend über die Frevelthat des Pöbels. Seine Meinung war, sich grausam an diesen Spitzbuben, wie er sie nannte, zu rächen; deswegen befahl er seiner Frauen drohend, ihm die Thäter zu sagen, denn sie hatte sie gesehen und gekannt.

Ja, sagte sie: lieber Mann! die will ich dir sagen, aber ich weiß noch einen größern Sünder, als die alle zusammen; denn es war einer, der hat mich wegen eben der Ursache ganz abscheulich geschlagen.

Freymuth verstund das nicht, wie sie es meinte; er fuhr [217] auf, schlug auf seine Brust, und brüllte: den soll der T ... hohlen, und dich dazu, wenn du mir ihn nicht augenblicklich sagst! Ja! antwortete Frau Freymuth: den will ich dir sagen, räche dich an ihm so viel du willst; der Mann, der das gethan hat, bist du! und also schlimmer als die Leute, die nur bloß die Fenster eingeschlagen haben. Freymuth verstummte, und war wie vom Donner gerührt, er schwieg eine Weile, endlich fieng er an: Gott im Himmel, Du hast Recht! – Ich bin wohl ein rechter Bösewicht gewesen, will mich an Leuten rächen, die besser sind als ich! – Ja, Frau! ich bin der gottloseste Mensch auf Erden! Er sprang auf, lief die Treppen hinauf auf sein Schlafzimmer, lag da drey Tage und drey Nächte platt auf der Erden, aß nichts, bloß daß er sich zuweilen etwas zu trinken geben ließ. Seine Frau leistete ihm so viel Gesellschaft, als sie konnte, und half ihm beten, damit er bey Gott durch den Erlöser Gnade erlangen möchte.

Am vierten Tage des Morgens stund er auf, war vergnügt, lobte Gott, und sagte: Nun bin ich gewiß, daß mir meine schwere Sünden vergeben sind! Von dem Augenblick an war er ganz umgekehrt; so demüthig, als er vorhin stolz, so sanftmüthig, als er vorher trotzig und zornig, und so von Herzen fromm, als er vorhin gottlos gewesen war.

Dieser Mann wär ein Gegenstand für meinen Freund Lavater. Seine Gesichtsbildung ist die roheste und wildeste von der Welt; es dürfte nur eine Leidenschaft, zum Beyspiel der Zorn, rege werden, die Lebensgeister brauchten nur jeden Muskel des Gesichts zu spannen, so würd er rasend aussehen. Jetzt aber ist er einem Löwen ähnlich, der in ein Lamm verwandelt worden ist. Friede und Ruhe ist jedem Gesichtsmuskel eingedrückt, und das giebt ihm ein eben so frommes Aussehen, als es vorhin wild war.

Nach dem Essen schickte Glöckner seine Magd an Freymuths Haus, und ließ da ansagen: daß Freunde bey ihm angekommen wären. Freymuth und seine Frau kamen alsbald, [218] und bewillkommten Isaac und Stilling. Dieser letztere hatte den ganzen Abend seine Betrachtungen über die beyden Leute; bald mußte er des Löwen Sanftmuth, bald des Lammes Heldenmuth bewundern. Alle sechs waren sehr vergnügt zusammen, sie erbauten sich so gut sie konnten, und giengen spät schlafen.

Unsre beyden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck, besuchten und wurden besucht; auch gehörte der Schulmeister daselbst, der sich auch Stilling schrieb, und aus dem Salenschen Land zu Haus war, mit unter die Gesellschaft der Frommen zu Rothenbeck; diesen besuchten sie auch. Er gewann besonders Stillingen lieb, vorab da er hörte, daß er auch lange Schulmeister gewesen war. Die beyden Stillinge machten einen Bund zusammen, daß einer dem andern so lange schreiben sollte als sie lebten, um die Freundschaft zu unterhalten.

Endlich reisten sie wieder von Rothenbeck nach Waldstätt zurück, und gaben sich an ihr Handwerk, wobey sie sich die Zeit mit allerhand angenehmen Gesprächen vertrieben.

Es wohnte aber eine Stunde von Waldstätt ein weidlicher Kaufmann, der sich Spanier schrieb. Dieser Mann hatte sieben Kinder, wovon das älteste eine Tochter von etwa sechszehen Jahren, das jüngste aber ein Mädchen von einem Jahr war. Unter diesen Kindern waren drey Söhne und vier Töchter. Er hatte eine sehr starke Eisen-Fabrik, die aus sieben Eisenhammern bestund, wovon vier bey seinem Hause, drey aber anderthalb Stunden von ihm ab, nicht weit von Herrn Hochbergs Haus lagen, wo Stilling gewesen war. Dabey besaß er ungemein viele liegende Güter, Häuser, Höfe, und was dazu gehörte, nebst vielem Gesinde, Knechte, Mägden und Fuhrknechten; denn er hatte verschiedene Pferde zu seinem eigenen Gebrauch.

Wenn nun Herr Spanier verschiedene Schneiderarbeit für sich und seine Leute zusammen verspart hatte; so ließ er Meister [219] Isaac mit seinen Gesellen kommen, um einige Tage bey ihm zu nähen, und für ihn und seine Leute alle Kleider wieder in Ordnung zu bringen.

Nachdem nun Stilling zwölf Wochen bey Meister Isaac gewesen war, so traf es sich, daß sie auch bey Herrn Spanier arbeiten mußten. Sie giengen also des Morgens früh hin. Als sie zur Stubenthür herein traten, so saß Herr Spanier allein am Tisch, und trank den Coffee aus einem kleinen Kännchen, das für ihn allein gemacht war. Langsam drehte er sich um, sah Stillingen ins Gesicht, und sagte:

»Guten Morgen, Herr Präceptor!«

Stilling ward blutroth, er wußte nicht, was er sagen sollte, doch erhohlte er sich geschwind, und sagte: Ihr Diener, Herr Spanier! Doch dieser schweig nun wieder still, und trank seinen Coffee fort, Stilling aber gab sich auch an seine Arbeit.

Nach einigen Stunden spazierte Spanier auf und ab in der Stuben, und sagte kein Wort; endlich stund er vor Stillingen hin, sah ihm eine Weile zu, und sagte:

»Das geht Euch so gut von statten, Stilling! als wenn Ihr zum Schneider gebohren wäret, aber das seyd Ihr doch nicht.«

Wie so? fragte Stilling.

»Eben darum, versetzte Spanier: weil ich euch zum Informator bey meine Kinder haben will.« –

Meister Isaac sah Stilling an und lächelte.

Nein, Herr Spanier! erwiederte Stilling, davon wird nichts; ich bin unwiderruflich entschlossen, nicht wieder zu informiren. Ich bin jetzt ruhig und wohl bey meinem Handwerk, und davon werd ich nicht wieder abgehen.

Herr Spanier schüttelte den Kopf, lachte, und fuhr fort: »Das will ich Euch doch wohl anders lehren, ich hab so manchen Berg in der Welt eben und gleich gemacht, und sollte Euch nicht auf andere Sinne bringen, dessen würde ich mich vor mir selber schämen.«

Nun schwieg er den Tag davon still. Stilling aber bat seinen [220] Meister: daß er ihn des Abends möchte nach Haus gehen lassen, um Herrn Spaniers Nachstellungen zu entgehen; allein Meister Isaac wollte das nicht geschehen lassen, deswegen waffnete sich Stilling aufs beste, um Herrn Spanier mit den wichtigsten Gründen widerstehen zu können.

Des andern Tages traf sichs wieder, daß Herr Spanier in der Stuben auf und abgieng; er fieng gegen Stilling an:

»Hört Stilling! wenn ich mir ein schönes Kleid machen lasse, und hänge es dann an den Nagel ohne es jemahls anzuziehen, bin ich dann nicht ein Narr?«

Ja! versetzte Stilling: erstens, wenn Sie's nothwendig haben; und zweytens, wenns wohl getroffen ist. Wie wenn sie sich aber einmahl ein hübsches Kleid machen liessen, ohne daß Sie's nothwendig hätten, oder Sie zögens an, und es drückte Sie aller Orten, was wollten sie dann machen?

»Das will ich euch sagen, versetzte Spanier: so gäb ichs einem andern; dems recht wäre.«

Aber, erwiederte Stilling: wenn Sie's nun sieben hinter einander gegeben hätten, und ein jeder gäbs Ihnen wieder, und sagte: es paßt mir nicht, was würden Sie dann anfangen?

Spanier antwortete: »So wär ich doch ein Narr, wenn ichs müßig da hangen und die Motten fressen ließe; hör! ich gäbs dem achten, und sagte: nun ändert dran, bis es euch recht ist. Wenn aber nun der achte sich vollends dazu verstünde, sich in das Kleid zu schicken, und nicht mehr von ihm zu fordern, als wozu es gemacht ist, so würd ich ja sündigen, wenn ichs ihm nicht gäbe!«

Da haben Sie recht, versetzte Stilling: allein dem allem ungeachtet bitte ich Sie um Gottes willen, Herr Spanier! lassen Sie mich am Handwerk!

»Nein! antwortete er: das thu ich nicht, Ihr sollt und müßt mein Haus-Informator werden, und zwar unter folgenden Bedingungen: Ihr könnt nicht französisch, es ist aber bey mir um vieler Ursachen willen nöthig, daß Ihrs versteht, derowegen [221] wählt Euch einen Sprachmeister wo Ihr wollt, zieht zu ihm hin, und lernt diese Sprache, ich bezahle alles gerne was es kosten wird; ferner geb ich Euch dem ungeachtet volle Freyheit, wieder von mir zu Meister Isaac zu ziehen, so bald es Euch bey mir leyd seyn wird. Und endlich sollt Ihr alles haben an Kleidern und Zubehör, was ihr bedürft, und das so lange als Ihr bey mir seyn werdet. Nun hab ich aber auch Recht, dieses dagegen zu fordern: daß ihr in keine andere Condition treten wollt, so lange ich Euch nöthig habe, es sey denn daß Ihr Euch auf Lebenslang versorgen könntet.«

Meister Isaac wurde durch diesen Vorschlag gerührt. Nun! sagte er gegen Stilling: jetzt begeht ihr eine Sünde, wenn Ihr nicht einwilligt. Das kommt von Gott, und alle Eure vorige Bedienungen kamen von Euch selber.

Stilling untersuchte sich genau, er fand gar keine Leidenschaft oder Trieb nach Ehre bey sich, sondern er fühlte im Gegentheil einen Wink in seinem Gewissen, daß diese Condition ihm von Gott angewiesen werde.

Nach einer kurzen Pause fieng er an: »Ja, Herr Spanier! noch einmal will ichs wagen, aber ich thu es mit Furcht und Zittern.«

Spanier stund auf, gab ihm die Hand, und sagte: »Gott sey Dank! nun hab ich auch diesen Hügel wieder eben gemacht; aber nun müßt Ihr auch alsofort zum Sprachmeister, lieber morgen als übermorgen.«

Stillingen war dieses so ganz recht, und selbst Meister Isaac sagte: Uebermorgen ists Sonntag, dann könnt Ihr in Gottes Namen reisen. Dieses wurde also beschlossen.

Ich muß gestehen: daß da nun Stilling wieder ein anderer Mensch war, so vergnügt er sich auch eingebildet hatte zu seyn, so hatte er doch immer eine ungestimmte Saite, die er nie ohne eine Art von Mißvergnügen berühren durfte. So bald ihm einfiel, was er in der Mathematik und andern Wissenschaften gethan und gelesen hatte, so gieng ihm ein Stich [222] durchs Herz, allein er schlug sichs wieder aus dem Sinn; daher wurde ihm jetzt ganz anders als er fühlte, daß er aufs neue recht in sein Element kommen würde.

Isaac gönnte ihm zwar sein Glück, allein es that ihm doch schmerzlich leid, daß er ihn schon missen sollte, und Stillingen schmerzte es in seiner Seelen, daß er von dem rechtschaffensten Mann in der Welt, und seinem besten Freunde den er je gehabt hatte, Abschied nehmen sollte, eh er ihm seine Kleider abverdient hatte; er redete deswegen mit Herrn Spanier in geheim, und erzehlte ihm was Meister Isaac an ihm gethan habe. Spaniern drangen die Thränen in die Augen, und er sagte: »Der vortrefliche Mensch! das soll er mir entgelten, nie soll er Mangel haben. Nun gab er ihm einige Louisd'or mit dem Bedeuten: Isaac davon zu bezahlen, und mit dem übrigen hauszuhalten; wenns all wäre, sollte er mehr haben, nur daß er alles hübsch berechnete, wozu es verwendet worden.«

Stilling freuete sich aus der Massen: so einen Mann hatte er noch nicht angetroffen. Er bezahlte also Meister Isaac mit dem Gelde, und nun gestund ihm dieser: daß er würklich alle Kleider für ihn geborgt hätte. Das gieng Stilling durchs Herz, er konnte sich des Weinens nicht enthalten, und dachte bey sich selbst: Wenn jemals ein Mann ein marmornes Monument verdient hat, so ists dieser; nicht, daß er ganze Völker glücklich gemacht hat, sondern darum, daß ers würde gethan haben, wenn er gekonnt hätte.

Nochmals! – Gesegnet sey Deine Asche, mein Freund! auserkohren unter Tausenden, – da Du liegst und schläfst; diese heilige Thränen auf dein Grab – du wahrer Nachfolger Christi!!! –

Des Sonntags nahm also Stilling Abschied von seinen Freunden zu Waldstätt, und reiste über Rosenheim nach Schönenthal, um einen guten Sprachmeister zu suchen. Als er nah bey letztere Stadt kam, so erinnerte er sich: daß er vor einem Jahr und etlichen Wochen diesen Weg zuerst gereist [223] hatte; er überdachte alle seine Schicksale in dieser kurzen Zeit, und nun wieder seinen Zustand, er fiel nieder auf seine Knie, und dankte Gott herzlich für seine strenge aber heilige und gute Führung, bat aber auch zugleich, nunmehr auch seine Gnadensonne über ihn scheinen zu lassen. Als er auf die Höhe kam, wo er ganz Schönenthal, und das herrliche Thal hinauf übersehen konnte, so wurde er begeistert, setzte sich hin unter das Gesträuche, zog seine Schreibtafel heraus und schrieb:


Ich fühl ein sanftes Liebewallen,
Es säuselt kühlend um mich her.
Ich fühl des Vaters Wohlgefallen,
Der reinen Wonne Wiederkehr.
Die Wolken ziehen sanft herüber,
Tief unten braun, licht oben drüber.
Des kühlen Bachs entferntes Rauschen
Schwimmt wie auf sanften Flügeln her.
Und wie des Frühlings Sänger lauschen,
So horcht mein Ohr; von ungefähr
Ertönt der Vögel süsses Zirbeln
Und mischt sich in der Bäche Wirbeln.
Jetzt heb ich froh die Augenlieder
Zu allen hohen Bergen auf,
Und schlag sie wieder freudig nieder,
Vollführe munter meinen Lauf.
Nun kann ich mit vergnügten Blicken
Den Geist der Qual zur Höllen schicken.
Noch einmahl schau ich kühn zurücke
Ins Schattenthal der Schwermuth hin,
Und sehe mit gewohntem Blicke
Den Ort wo ich gewesen bin,
Ich hör ein wildes Chaos brausen,
Und Unglücks- Winde stürmend sausen.
Gleichwie ein blaß Gespenste wanket,
In öden Zimmern hin und her,
[224]
Ich fühl ein sanftes Liebewallen ...
Wie's da im blöden Nachtschein schwanket,
Streicht langs die Wand und ächzet schwer.
Bemüht sich lang ein Wort zu sagen,
Und jemand seine Noth zu klagen.
So wankt ich auch im Höllen-Schlunde,
Im schwärzsten Kummer auf und ab,
Man grub mir jede Marterstunde,
Ein neues grausenvolles Grab.
Tief unten hört ich Drachen grollen,
Hoch droben schwarze Donner rollen.
Ich gieng und schaute hin und wieder,
Fand Todes-Engel um mich gehn,
Und Blitze zuckten auf mich nieder.
Ich sah ein Pförtchen offen stehn,
Ich eilte durch, und fand mit Freuden,
Das Ende meiner schweren Leiden.
Ich schlupfte hin im stillen Schatten,
Es war noch dämmernd um mich her.
Ich fühlte meinen Fuß ermatten,
Mir wurde jeder Tritt so schwer;
Schon neigt ich mich zum Staub darnieder,
Und schloß die müden Augen-Lieder.
Ich sank – doch wie in Freundes Armen
Ein Todtverwundter niedersinkt,
Wenn ihm das Auge voll Erbarmen
Des Arztes frohe Heilung winkt.
Ich ward erquickt, gestärkt, geheilet,
Und neue Kraft mir mitgetheilet.
Freund Isaac wars, in seiner Halle
Fand ich ein lautres Paradeis;
Da schmeckten wir die Freuden alle,
Da stieg zum Höchsten Dank und Preis,
Wir sungen Ihm geweyhte Lieder,
Er schaute gnädig auf uns nieder.

[225] Stilling eilte nun den Berg hinunter nach Schönenthal hin; er vernahm aber, daß die Sprachmeister daselbsten sich für ihn nicht schicken würden, indem sie wegen vieler Geschäfte hin und her in den Häusern, wenig Zeit auf ihn würden verwenden können. Da er nun eilig war und bald fertig seyn wollte, so mußte er eine Gelegenheit suchen, wo er in kurzer Zeit viel lernen konnte; endlich wurd' er gewahr, daß sich zu Dornfeld, wo Herr Dahlheim Prediger war, ein sehr geschickter Sprachmeister aufhielte. Da nun dieser Ort nur drey viertel Stunden von Schönenthal ablag, so entschloß er sich desto lieber dahin zu gehen.

Des Nachmittags um drey Uhr kam er daselbst an. Er fragte alsbald nach dem Sprachmeister, gieng zu ihm, und fand einen sehr seltsamen originellen Menschen, der sich Heesfeld schrieb. Er saß da in einem dunklen Stübchen, hatte einen schmutzigen Schlafrock von schlechtem Camelot an, mit einer Binde von demselben Zeug umgürtet; auf dem Kopf hatte er eine latzige Mütze; sein Gesicht war blaß, wie eines Menschen, der schon einige Tage im Grabe gelegen, und im Verhältniß gegen die Breite viel zu lang. Die Stirn war schön, aber unter pechschwarzen Augbraunen lagen ein paar schwarze schmale kleine Augen tief im Kopf, die Nase war schmal lang, der Mund ordentlich, aber der Kinn stund platt und scharf vorwärts, den er auch immer sehr weit vorwärts trug; sein rabenschwarzes Haar war rund abgeschnitten, und rund um gekräuselt; so war er schmal, lang und schön gewachsen.

Stilling erschrack einigermaßen vor diesem seltsamen Gesichte, ließ sich aber doch nichts merken, sondern grüßte ihn, und trug ihm sein Vorhaben vor. Herr Heesfeld nahm ihn freundlich auf, und sagte: ich werde an Ihnen thun was ich vermag. Stilling suchte sich nun ein Quartier, und fieng sein Studium der französischen Sprache an, und zwar folgendergestalt. Der Vormittags von acht bis eilf Uhr, wohnte er der[226] ordentlichen Schule bey, des Nachmittags von zwo bis fünf auch, er saß aber mit Heesfeld an einem Tisch, sie sprachen immer, und hatten Zeitvertreib zusammen, wenn aber die Schule aus war, so giengen sie spaziren.

So sonderlich als Heesfeld gebildet war, so sonderlich war er auch in seinem Leben und Wandel. Er gehörte zur Classe der Launer wie ehmahls Glaser auch, denn er sagte niemand was er dachte, kein Mensch wußte wo er her war, und eben so wenig wußte jemand ob er arm oder reich war. Vielleicht hat er niemand in seinem Leben zärtlicher geliebt als Stillingen, und doch ist dieser erst nach seinem Tode inne geworden, wo er her war, und daß er ein reicher Mann gewesen.

Seine sonderliche Denkungsart leuchtete daraus auch hervor, daß er immer seine Geschicklichkeit verbarg, und nur so viel davon blicken ließ, als just nöthig war. Daß er vollkommen französisch verstund, äusserte sich alle Tage; daß er aber auch ein vortreflicher Lateiner war, das zeigte sich erst, als Stilling zu ihm kam, mit welchem er die Information auf den Fuß der lateinischen Grammatik einrichtete, und täglich mit ihm lateinische Verse machte die unvergleichlich schön waren. Zeichnen, Tanzen, Physik und Chymie verstund er in einem hohen Grad; und noch zween Tage vor Stillings Abreise traf es sich, daß letzterer in seiner Gesellschaft auf einem Clavier spielte. Heesfeld hörte zu. Als Stilling aufhörte, setzte er sich hin, und that anfänglich, als wenn er in seinem Leben kein Clavier berührt hätte, aber in weniger als fünf Minuten fieng er so treflich melancholisch-fürchterlich an zu phantasiren, daß einem die Haare zu Berge stunden; allmählich schwung er sich zum melancholisch- zärtlichen, von da ins cholerisch-feurige, darauf ins gelassene ruhige, phantasirte eine phlegmatische Murqui, darauf in ein sanguinisch-zärtliches Adagio, dann ein Allegro, und nun schloß er mit einer lustigen Menuette aus D dur. Stilling hätte zerschmelzen mögen über seine [227] empfindsame Art zu spielen, und bewunderte diesen Mann aus der Maassen.

Heesfeld war in seiner Jugend in Kriegsdienste gegangen; wegen seiner Geschicklichkeit wurde er von einem hohen Officier in seine eigene Dienste genommen, der ihn in allem hatte unterrichten lassen, wozu er nur Lust gehabt hatte; mit diesem Herrn war er durch die Welt gereist, der nach zwanzig Jahren stirbt, und ihm ein schönes Stück Geld vermacht. Heesfeld war nun vierzig Jahr alt, reiste nach Haus, aber nicht zu seinen Eltern und Freunden, sondern er nahm einen fremden Geschlechtsnamen an, gieng nach Dornfeld als französischer Sprachmeister, und obgleich seine Eltern und zween Brüder nur zwo Stunden von ihm ab wohnten, so wußten sie doch gar nichts von ihm, sondern sie glaubten, er sey in der Fremde gestorben; auf seinem Todbette aber hat er sich seinen Brüdern zu erkennen gegeben, ihnen seine Umstände erzählt, und eine reichliche Erbschaft hinterlassen; und nach seinem System war es auch da noch früh genug.

Man nenne dieses nun Fehler oder Tugend, er hatte bey dem allem eine edle Seele; seine Menschenliebe war auf einen hohen Grad gestiegen, aber er handelte in geheim; auch denen er Guts that, die durftens nicht wissen. Nichts konnte ihn mehr ergetzen, als wenn er hörte, daß die Leute nicht wüßten, was sie aus ihm machen sollten.

Wenn er mit Stilling spaziren gieng, so sprachen sie von Künsten und Wissenschaften. Ihr Weg gieng immer in die wildesten Einöden, dann stieg Heesfeld auf einen schwanken Baum der sich gut biegen ließ, setzte sich oben in den Gipfel, hielt sich fest, und wiegte sich mit ihm auf die Erde, legte sich eine Weile in Aeste und ruhete. Stilling machte ihm das dann nach, und lagen sie und plauderten; wenn sie dessen müde waren, so stunden sie auf, und dann richteten sich die Bäume wieder auf; das war Heesfelds Freude, dann sagte er wohl: schön sind unsre Betten, wenn wir aufstehen so fahren sie gen [228] Himmel! – Zuweilen gab er auch wohl jemand ein Räthsel auf, und fragte: was sind das vor Betten, die in die Luft fliegen, wenn man aufsteht?

Stilling lebte aus der Massen vergnügt zu Dornfeld. Herr Spanier schickte ihm Geld genug, und er studierte recht fleißig, denn in neun Wochen war er fertig; es ist unglaublich, aber doch gewiß wahr; er verstund diese Sprache nach zween Monathen hinlänglich, er las die französische Zeitung teutsch weg, als wenn sie in letzterer Sprache gedruckt wäre, auch schrieb er schon damahlen einen französischen Brief ohne Grammaticalfehler, und las richtig, nur fehlte ihm noch die Uebung im Sprechen. Den ganzen Syntax hatte er zur Genüge innen; so daß er nun selbst getrost anfangen konnte in dieser Sprache zu unterrichten.

Stilling beschloß also, nunmehr von Herrn Heesfeld Abschied zu nehmen, und zu seinem neuen Patron zu ziehen. Beyde weinten, als sie von einander giengen. Heesfeld gab ihm eine Stunde weit das Geleit. Als sie sich nun herzten und küßten, schloß ihn Herr Heesfeld in die Arme, und sagte: »Mein Freund! wenn Ihnen je etwas mangelt, so schreiben Sie mir, ich werde Ihnen thun, was ein Bruder dem andern thun soll; mein Wandel ist verborgen, aber ich wünsche zu wirken wie die Mutter Natur, man sieht ihre ersten Quellen nicht, aber man trinkt sich satt an ihren klaren Bächen.« Es fiel Stilling hart, von ihm weg zu kommen; endlich rissen sie sich von einander, giengen ihres Weges, und sahen nicht wieder hinter sich.


[229] Stilling wanderte also zurück zu Herrn Spanier, und kam zween Tage vor Michaelis 1763 des Abends in Herrn Spaniers Haus an. Dieser Mann freute sich über die Maße, als er Stilling so geschwind bey sich sahe. Er behandelte ihn alsofort als einen Freund, und Stilling fühlte wohl, daß er nunmehro bey Leuten wäre, die ihm Freude und Wonne machen würden.

Des andern Tages fieng er seine Information an. Die Einrichtung derselben ward folgendergestalt von Herrn Spanier angeordnet: Die Kinder sowohl, als ihr Lehrer, waren bey ihm in seiner Stube; auf diese Weise konnte er sie selber beobachten, und ziehen, und auch beständig mit Stilling von allerhand Sachen reden. Dabey gab Herr Spanier seinem Haus-Informator auch Zeit genug, selber zu lesen. Die Unterweisung dauerte den ganzen Tag, aber so gemächlich und unterhaltend, daß sie niemand langweilig und beschwerlich werden konnte.

Herr Spanier aber hatte Stillingen nicht bloß zum Lehrer seiner Kinder bestimmt, sondern er hatte noch eine andre schöne Absicht mit ihm, er wollte ihn in seinen Handelsgeschäften brauchen; das entdeckte er ihm aber nicht eh, bis auf den Tag da er ihm einen Theil seiner Fabrik zu verwalten übertrug. Hierdurch glaubte er auch Stillingen Veränderung zu machen, und ihn vor der Melancholie zu bewahren.

Alles dieses gelung auch vollkommen. Nachdem er vierzehn Tage informirt hatte, so übertrug ihm Herr Spanier seine drey Hämmer, und die Güter welche anderthalb Stunden von seinem Hause, nicht weit von Hochbergs Wohnung lagen. Stilling mußte alle drey Tage dahin gehen, um die fertige Waaren wegzuschaffen, und alles zu besorgen.

Auch mußte er rohe Waaren einkaufen, und des Endes drey Stunden weit wöchentlich ein paarmahl auf die Landstraße gehen, wo die Fuhrleute mit dem rohen Eisen herkamen, um das Nöthige von ihnen einzukaufen; wenn er dann wieder [230] kam und recht müde war, so that ihm die Ruhe ein paar Tage wieder gut, er las dann selbsten und informirte dabey.

Der vergnügte Umgang aber, den Stilling mit Herrn Spanier hatte, war über alles. Sie waren recht vertraulich zusammen, redeten von Herzen von allerhand Sachen, besonders war Spanier ein ausbündiger geschickter Landwirth und Kaufmann, so daß Stilling oftmahls zu sagen pflegt, Herrn Spaniers Haus war meine Academie, wo ich Oeconomie, Landwirthschaft und das Commerzienwesen aus dem Grund zu studieren Gelegenheit hatte.

So wie ich hier Stillings Lebensart beschrieben habe, so dauerte sie, ohne eine einzige trübe Stunde dazwischen zu haben, sieben ganzer Jahr in einem fort; ich will davon nun nichts weiter sagen, als daß er in all dieser Zeit, in Absicht der Welterkenntniß, Lebensart, und obigen häuslichen Wissenschaften ziemlich zugenommen habe. Seine Schüler unterrichtete er, diese ganze Zeit über, in der lateinischen und französischen Sprache, wodurch er selber immer mehr Fertigkeit in beyden Stücken erlangte, und dann in der reformirten Religion, im Lesen, Schreiben und Rechnen.

Seine eigene Lectür bestund anfänglich in allerhand poetischen Schriften. Er las erstlich Miltons verlohrnes Paradies, hernach Youngs Nachtgedanken, und darauf die Messiade von Kloppstock; drey Bücher die recht mit seiner Seele harmonirten; denn so wie er vorhin sanguinisch zärtlich gewesen war, so hatte er nach seiner schrecklichen Periode bey Herrn Hochberg eine sanfte zärtliche Melancholie angenommen, die ihm auch vielleicht bis an seinen Tod anhängen wird.

In der Mathematik that er jetzt nicht viel mehr, hingegen legte er sich mit Ernst auf die Philosophie, las Wolfs teutsche Schriften ganz, desgleichen Gottscheds gesammelte Philosophie, Leibnitzens Theodicee, Baumeisters kleine Logik und Metaphysik demonstrirte er ganz nach, und nichts in der Welt war ihm angenehmer als die Uebung in diesen Wissenschaften; [231] allein er spürte doch eine Leere bey sich und ein Mistrauen gegen diese Systeme, denn sie erstickten wahrlich alle kindliche Empfindung des Herzens gegen Gott; sie mögen eine Kette von Wahrheiten seyn, aber die wahre philosophische Kette, an welche sich alles anschließt, haben wir noch nicht. Stilling glaubte diese zu finden, allein er fand sie nicht, und nun gab er sich ferner ans Suchen, theils durch eigenes Nachdenken, theils in andern Schriften, und noch bis dahin wandelt er traurig auf diesem Wege, weil er noch keine Auskunft siehet.

Herr Spanier stammte auch aus dem Salenschen Lande her; denn sein Vater war nicht weit von Kleefeld gebohren, wo Stilling seine letzte Capellenschule bedient hatte, deswegen hatte er auch zuweilen Geschäfte daselbst zu verrichten, hierzu brauchte er nun Stilling auch darum am liebsten, weil er daselbst bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bey seinem Patron, und also beynah drittehalb Jahr in der Fremde gewesen, so trat er seine erste Reise zu Fuß nach seinem Vaterland an. Er hatte zwölf Stunden von Herrn Spanier bis zu seinem Oheim Johann Stilling, und dreyzehn bis zu seinem Vater; diese Reise wollte er in Einem Tage abthun. Er machte sich deswegen des Morgens früh mit Tages Anbruch auf den Weg, und reiste vergnügt fort, aber er nahm eine nähere Strasse vor sich, als er ehmahls gekommen war. Des Nachmittags um vier Uhr kam er auf einer Höhe an die Gränze des Salenschen Landes, er sah in all die bekannte Gebirge hinein, sein Herz zerschmolz, er setzte sich hin, weinte Thränen der Empfindsamkeit, und dankte Gott für seine schwere aber sehr heilsame Führung; er bedachte wie elend und arm er aus seinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß an Geld, schönen Kleidern und an aller Nothdurft habe; dieses machte ihn so weich und so dankbar gegen Gott, daß er sich des Weinens nicht enthalten konnte.

Er wanderte also weiter, und kam nach einer Stunde bey [232] seinem Oheim zu Lichthausen an. Die Freude war nicht auszusprechen, die da entstund, als sie ihn sahen; er war nun lang und schwank ausgewachsen, hatte ein schönes dunkelblaues Kleid, und feine weiße Wäsche an, sein Haar war gepudert, und rund um aufgerollt, dabey sah er nun munter und blühend aus, weil es ihm wohl gieng. Sein Oheim umarmte und küßte ihn, und die Thränen liefen ihm die Wangen herunter, indem kam auch seine Muhme, Mariechen Stillings. Sie war seit der Zeit auch nach Lichthausen verheyrathet, sie fiel ihm um den Hals, und küßte ihn ohne Aufhören.

Diese Nacht blieb er bey seinem Oheim, des andern Morgens gieng er auch nach Leindorf zu seinem Vater. Wie der rechtschaffene Mann aufsprang, als er ihn so unvermuthet kommen sahe! er sank wieder zurück, Stilling aber lief auf ihn zu, umarmte und küßte ihn zärtlich. Wilhelm hielt seine Hände vor die Augen und weinte, sein Sohn vergoß ebenmahls Thränen, indem kam auch die Mutter, sie schüttelte ihm die Hand, und weinte laut vor Freuden, daß sie ihn gesund wieder sahe.

Nun erzählte Stilling seinen Eltern alles, was ihm begegnet war und wie gut es ihm nun gienge. Indessen erschallte das Gerücht von Stillings Ankunft im ganzen Dorf. Das Haus wurde voller Leute; Alte und Junge kamen, um ihren ehemaligen Schulmeister zu sehen, und das ganze Dorf war voll Freude über ihn.

Gegen Abend gieng Wilhelm mit seinem Sohn über die Wiesen spazieren. Er redete viel mit ihm von seinen vergangenen und künftigen Schicksalen, und zwar recht im Ton des alten Stillings, so daß sein Sohn von Ehrfurcht und Liebe durchdrungen war. Endlich fing Wilhelm an: Hör mein Sohn! Du must Deine Großmutter besuchen, sie liegt elend an der Gicht darnieder, und wird nicht lange mehr leben, sie redet immer von Dir, und wünscht noch einmahl, vor ihrem Ende, mit Dir zu sprechen. Des andern Morgens machte sich also [233] Stilling auf, und gieng nach Tiefenbach hin. Wie ihm ward, als er das alte Schloß, den Giller, den hitzigen Stein, und das Dorf selber sahe! Diese Empfindung läßt sich nicht aussprechen; er untersuchte sich, und fand, wenn er noch seinen jetzigen Zustand mit seiner Jugend vertauschen könnte, er würde es gerne thun. Er langte in kurzer Zeit im Dorf an; alles Volk lief aus, so daß er gleichsam im Gedränge an das ehrwürdige Haus seiner Väter kam. Es schauerte ihn wie er hineintrat, just als wenn er in einen alten Tempel gienge. Seine Muhme Elisabeth war in der Küchen, sie lief auf ihn zu, gab ihm die Hand, weinte, und führte ihn in die Stube; da lag nun seine Großmutter Margarethe Stillings in einem saubern Bettchen an der Wand bey dem Ofen; ihre Brust war hoch in die Höhe getrieben. Die Knöchel an ihren Händen waren dick, die Finger steif, und einwärts ausgereckt. Stilling lief bey sie, grif ihre Hand und sagte mit Thränen in den Augen: Wie gehts liebe Großmutter? Es ist mir eine Seelenfreude, daß ich Euch noch einmahl wieder sehe. Sie suchte sich in die Höhe zu arbeiten, fiel aber ohnmächtig zurück. Ach! rief sie: ich kann Dich noch einmal vor meinem Ende hören und fühlen, komm doch bey mich, daß ich dich im Gesicht fühlen kann! Stilling bückte sich bey sie; sie fühlte nach seiner Stirn, seinen Augen, Nasen, Mund, Kinn, und Wangen. Indessen gerieth sie auch mit den steifen Fingern in seine Haare, sie fühlte den Puder; So! sagte sie; Du bist der erste, der aus unsrer Familie seine Haare pudert, sey aber nicht der erste der auch Gottesfurcht und Redlichkeit vergißt! Nun fuhr sie fort: kann ich Dich mir vorstellen, als wenn ich Dich sähe; erzähl mir nun auch, wie es Dir gegangen hat, und wie es Dir nun gehet. Stilling erzählte ihr alles kurz und bündig. Als er ausgeredet hatte, fieng sie an: Hör Henrich! sey demüthig und fromm, so wirds Dir wohl gehen, schäme Dich nie Deines Herkommens und deiner armen Freunde, Du magst so groß werden in der Welt als Du willst. Wer gering ist, kann durch Demuth groß werden, und [234] wer vornehm ist, kann durch Stolz gering werden; wenn ich nun todt bin, so ists einerley, was ich in der Welt gewesen bin, wenn ich nur christlich gelebt habe.

Stilling mußte ihr mit Hand und Mund alles dieses angeloben. Nachdem er nun noch ein und anders mit ihr geredet hatte, nahm er schnell Abschied von ihr, das Herz brach ihm, denn er wußte daß er sie in diesem Leben nicht wieder sehen würde; sie war am Rande des Todes; allein sie grif ihm die Hand, hielt ihn vest, und sagte: Du eilst – Gott sey mit Dir mein Kind! vor dem Thron Gottes seh ich dich wieder! Er drückte ihr die Hand und weinte. Sie merkte das: Nein! fuhr Sie fort, weine nicht über mich! mir gehts wohl, ich empfehl Dich Gott von Herzen in seine väterliche Hände, der wolle Dich seegnen, und vor allem Bösen bewahren! Nun geh in Gottes Namen! Stilling riß sich fort, lief aus dem Hause weg, und ist auch seitdem nicht wieder dahin gekommen. Einige Tage nachher starb Margarethe Stillings; sie liegt zu Florenburg, neben ihrem Manne, begraben.

Nun war's Stilling als wenn ihm sein Vaterland zuwider wäre; er machte sich fort und eilte wieder in die Fremde, kam auch bey Herrn Spanier wieder an, nachdem er fünf Tage ausgeblieben war.


[235] Ich will mich mit Stillings einförmigen Lebensart und Verrichtungen die ersten vier Jahre durch, nicht auf halten, sondern ich gehe zu wichtigern Sachen über. Er war nun schon eine geraume Zeit her mit der Information, und Herrn Spaniers Geschäften umgegangen; er rückte immer mehr und mehr in seinen Jahren fort, und es begann ihm zuweilen einzufallen: was doch wohl am Ende noch aus ihm werden würde? – Mit dem Handwerk wars nun gar aus, er hatte es in einigen Jahren nicht mehr versucht, und die Unterweisung der Jugend war ihm ebenfalls verdrießlich, er war ihrer von Herzen müde, und er fühlte, daß er nicht dazu gemacht war; denn er war geschäftig und wirksam. Die Kaufmannschaft gefiel ihm auch nicht, denn er sah wohl ein, daß er sich gar nicht dazu schicken würde, beständig fort mit dergleichen Sachen umzugehen, dieser Beruf war seinem Grundtrieb zuwider; doch wurde er weder verdrießlich noch melancholisch, sondern er erwartete, was Gott aus ihm machen würde.

Einsmahls an einem Frühlingsmorgen, im Jahr 1768, saß er nach dem Coffeetrinken am Tisch; die Kinder liefen noch eine Weile im Hof herum, er grif hinter sich nach einem Buch, und es fiel ihm just Reizens Historie der Wiedergebornen in die Hand, er blätterte ein wenig darinnen herum ohne Absicht und ohne Nachdenken; indem fiel ihm die Geschichte eines Mannes ins Gesicht, der in Griechenland gereist war, um daselbsten die Ueberbleibsel der ersten christlichen Gemeinden zu untersuchen. Diese Geschichte las er zum Zeitvertreib. Als er dahin kam, wo der Mann auf seinem Todtbette, noch seine Lust an der griechischen Sprache bezeugt, und besonders bey dem Wort Eilikrineia so ein vortrefliches Gefühl hat, so war es Stilling als wenn er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Das Wort Eilikrineia stand vor ihm als wenn es in einem Glanz gelegen hätte, dabey fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb die griechische Sprache zu lernen, und einen verborgenen starken [236] Zug zu etwas, das er noch gar nicht kannte, auch nicht zu sagen wußte, was es war. Er besann sich, und dachte: Was will ich doch mit der griechischen Sprache machen? wozu wird sie mir nutzen? welche ungeheure Arbeit ist das für mich, in meinem 28sten Jahr noch eine so schwere Sprache zu lernen, die ich noch nicht einmahl lesen kann! Allein alle Einwendungen der Vernunft waren ganz fruchtlos, sein Trieb dazu war so groß, und die Lust so heftig, daß er nicht gnug eilen konnte, um zum Anfang zu kommen. Er sagte dieses alles Herrn Spanier; dieser bedachte sich ein wenig, endlich sagte er: Wenn Ihr Griechisch lernen müßt, so lernt es! Stilling machte sich alsofort auf, und gieng nach Waldstätt zu einem gewissen vortreflichen Candidaten der Gottesgelahrtheit, der sein sehr guter Freund war, diesem entdeckte er alles. Der Candidat freute sich, munterte ihn dazu auf, und sogar empfahl er ihm die Theologie zu studieren; allein Stilling spürte keine Neigung dazu, sein Freund war auch damit zufrieden, und rieth ihm, auf den Wink Gottes genau zu merken, und demselben, so bald er ihn spürte, blindlings zu folgen. Nun schenkte er ihm die nöthigen Bücher, die griechische Sprache zu lernen, und wünschte ihm Gottes Seegen. Von da gieng er auch zu den Predigern, und entdeckte ihnen sein Vorhaben, diese waren auch sehr wohl damit zufrieden, besonders Herr Seelburg versprach ihm alle Hülfe und nöthigen Unterricht, denn er kam alle Woche zweymal in Herrn Spaniers Haus.

Nun fieng Stilling an griechisch zu lernen. Er applicirte sich mit aller Kraft darauf, bekümmerte sich aber wenig um die Schulmethode, sondern er suchte nur mit Verstand in den Genius der Sprache einzudringen, um das, was er las, recht zu verstehen. Kurz, in fünf Wochen hatte er auch die fünf ersten Capitel des Evangeliums Matthäi, ohne Fehler gemacht zu haben, ins Lateinische übersetzt, und alle Wörter zugleich analysiret. Herr Pastor Seelburg erstaunte und wußte nicht was er sagen sollte; dieser rechtschaffene Mann unterrichtete [237] ihn nur in der Aussprache, und die faßte er gar bald. Bey dieser Gelegenheit machte er sich auch ans Hebräische, und brachte es auch darinn in kurzem so weit, daß er mit Hülfe eines Lexicons sich helfen konnte; auch hier that Herr Seelburg sein bestes an ihm.

Indessen daß er mit erstaunlichen Fleiß und Arbeit sich mit diesen Sprachen beschäftigte, schwieg Herr Spanier ganz still dazu, und ließ ihn machen; kein Mensch wußte was aus dem Dinge werden wollte, und er selber wußte es nicht; die mehresten aber glaubten von ihm, er würde ein Prediger werden wollen.

Endlich entwickelte sich die ganze Sache auf einmahl. An einem Nachmittag im Julius spazierte Herr Spanier in der Stuben auf und ab, wie er zu thun pflegte, wenn er eine wichtige Sache überlegte, Stilling aber arbeitete an seinen Sprachen, und an der Information. »Hört Präceptor! fieng endlich Spanier an: mir fällt da auf einmahl ein, was Ihr thun sollt, Ihr müßt Medicin studiren.«

Ich kanns nicht aussprechen, wie Stilling bey diesem Vorschlag zu Muthe war, er konnte sich fast nicht auf den Füßen halten, so daß Herr Spanier erschrack, ihn angriff und sagte: was fehlt Euch? »O Herr Spanier! was soll ich sagen, was soll ich denken? das ists, wozu ich bestimmt bin. Ja, ich fühl in meiner Seelen, das ist das grosse Ding, das immer vor mir verborgen gewesen, das ich so lange gesucht, und nicht habe finden können! dazu hat mich der himmlische Vater von Jugend auf durch schwere und scharfe Prüfungen vorbereiten wollen. Gelobet sey der barmherzige Gott, daß er mir doch endlich seinen Willen offenbaret hat, nun will ich auch getrost seinem Wink folgen.«

Hierauf lief er nach seiner Schlafkammer, fiel auf seine Knie, dankte Gott, und bat den Vater der Menschen, daß er ihn nun den nächsten Weg zum bestimmten Zweck führen möchte. Er besann sich auf seine ganze Führung, und nun sah [238] er klar ein, warum er eine so ausgesonderte Erziehung genossen, warum er die lateinische Sprache so früh habe lernen müssen, warum sein Trieb zur Mathematik, und zur Erkenntniß der verborgenen Kräfte der Natur ihm eingeschaffen worden, warum er durch viele Leiden beugsam und bequem gemacht worden, allen Menschen zu dienen, warum eine Zeit her seine Lust zur Philosophie so gewachsen, daß er die Logik und Metaphysik habe studiren müssen, und warum er endlich zur griechischen Sprache solche Neigung bekommen? Nun wußte er seine Bestimmung, und von Stund an beschloß er für sich zu studiren, und so lange Materialien zu sammlen, bis es Gott gefallen würde, ihn nach der Universität zu schicken.

Herr Spanier gab ihm nun Erlaubniß, des Abends einige Stunden für sich zu nehmen; er brauchte ihn auch nicht mehr so stark in Handlung-Geschäften, damit er Zeit haben möchte zu studiren. Stilling setzte nun mit Gewalt sein Sprachstudium fort, und fieng an, sich mit der Anatomie aus Büchern bekannt zu machen. Er las Krügers Naturlehre, und machte sich alles, was er lase, ganz zu eigen, er suchte sich auch einen Plan zu formiren, wornach er seine Studien einrichten wollte, und dazu verhalfen ihm einige berühmte Aerzte, mit denen er correspondirte. Mit Einem Wort, alle Disciplinen der Arzeneykunde gieng er für sich so gründlich durch, als es ihm für die Zeit möglich war, damit er sich doch wenigstens allgemeine Begriffe von allen Stücken verschaffen möchte.

Diese wichtige Neuigkeit schrieb er alsofort an seinen Vater und Oheim. Sein Vater antwortete ihm darauf: daß er ihn der Führung Gottes überlasse, nur könne er von seiner Seiten auf keine Unterstützung hoffen, er sollte nur behutsam seyn, damit er sich nicht in ein neues Labyrinth stürzen möchte. Sein Oheim aber war ganz unwillig auf ihn, der glaubte ganz gewiß, daß es nur ein blosser Hang zu neuen Dingen sey, der sicherlich übel ausschlagen würde. Stilling ließ sich das alles gar nicht anfechten, sondern fuhr nur getrost fort zu studiren. [239] Wo die Mittel herkommen sollten, das überließ er der väterlichen Vorsehung Gottes.

Im folgenden Frühjahr, als er schon ein Jahr studirt hatte, mußte er wieder in Geschäften seines Herrn ins Salensche Land reisen. Dieses erfreute ihn ungemein, denn er hoffte jetzt seine Freunde mündlich besser zu überzeugen: daß es würklich der Wille Gottes über ihn sey, die Medicin zu studiren. Er gieng also des Morgens früh fort, und des Nachmittags kam er bey seinem Oheim zu Lichthausen an. Dieser ehrliche Mann fieng alsofort, nach der Bewillkommnung, an, mit ihm zu disputiren, wegen seines neuen Vorhabens. Die ganze Frage war: wo soll so viel Geld herkommen, als zu einem so weitläuftigen und kostbaren Studium erfordert wird? – Stilling beantwortete diese Frage immer mit seinem Symbolum: Jehovah jireh, (der Herr wirds versehen.)

Des andern Morgens gieng er auch zu seinem Vater; dieser war ebenfalls sorgfältig, und fürchtete, er möchte in diesem wichtigen Vorhaben scheitern: doch disputirte er nicht mit ihm, sondern überließ ihn seinem Schicksal.

Nachdem er nun seine Geschäfte verrichtet hatte, gieng er wieder nach seinem Vater, nahm Abschied von ihm, und darauf nach seinem Oheim. Dieser war aber in ein paar Tagen ganz verändert. Stilling erstaunte darüber, noch mehr aber, als er die Ursache vernahm. »Ja, sagte Johann Stilling: Ihr müßt Medicin studiren, jetzt weiß ich daß es Gottes Wille ist!«

Um diese Sache in ihrem Ursprung begreifen zu können, muß ich eine kleine Ausschweifung machen, die Johann Stilling betrift. Er war, noch ehe er Landmesser wurde, mit einem sonderbaren Mann, einem catholischen Pfarrer, bekannt geworden, dieser war ein sehr geschickter Augen-Arzt, und weit und breit wegen seiner Curen berühmt. Nun hatte Johann Stillings Frau sehr wehe Augen, deswegen gieng ihr Mann zu Molitor hin, um etwas für sie zu holen. Der Pfarrer merkte [240] bald, daß Johann einen offenen Kopf hatte, und deswegen munterte er ihn auf, sich wacker in der Geometrie zu üben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bey einem sehr reichen und vornehmen Freyherrn Rentmeister zu werden, und dieser Dienst gefiel ihm besser als seine Pfarre. Nun war dieser Freyherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und willens, alle seine Güter auf Charten bringen zu lassen. Hierzu bestimmte Molitor Johann Stillingen, und dieses gerieth auch vollkommen. So lange der alte Freyherr lebte, hatten Molitor, Johann Stillingen und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod von diesem Herrn; als dieser aber starb, so wurde Molitor abgedankt, und die Landmesserey hatte auch ein Ende.

Nun wurde Molitor in seinem Alter Vicarius in einem Städgen, welches vier Stunden von Lichthausen nordwärts liegt. Seine meiste Beschäftigung bestund in chymischen Arbeiten und Augencuren, worinnen er noch immer der berühmteste Mann, in der ganzen Gegend, war.

Just nun während der Zeit, daß Heinrich Stilling in Geschäften seines Herrn, im Salenschen Lande war, schrieb der alte Herr Molitor an Johann Stilling: »daß er alle seine Geheimnisse für die Augen ganz getreu und umständlich, ihren Gebrauch und Zubereitung so wohl, als auch die Erklärung der vornehmsten Augenkrankheiten, nebst ihrer Heilmethode aufgesetzt habe. Da er nun alt, und nah an seinem Ende sey, so wünschte er, dieses, gewiß herrliche Manuscript, in guten Händen zu sehen. In Betracht nun der vesten und genauen Freundschaft, welche unter ihnen beyden, ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortgewährt habe, wollte er ihn freundlich ersuchen, ihm zu melden: ob nicht jemand rechtschaffenes in seiner Familie sey, der wohl Lust hätte, die Arzeneywissenschaft zu studieren, den sollte er zu ihm schicken, er wäre bereit demselben alsofort das Manuscript, nebst noch andern schönen medicinischen Sachen zu [241] übergeben, und zwar ganz umsonst, doch mit dem Beding, daß er ein Handgelübde thun müßte, jederzeit arme Nothleidende umsonst damit zu bedienen. Nur müßte es jemand seyn, der Medicin studieren wollte, damit die Sachen nicht unter Pfuschers Händen gerathen mögten.«

Dieser Brief hatte Johann Stilling in Absicht auf seinen Vetter ganz umgeschmolzen. Daß er just in diesem Zeitpunct ankam, und daß Herr Molitor just in dieser Zeit, da sein Vetter Medicin studieren wollte, auf den Einfall kam, das schien ihm ein ganz überzeugender Beweis zu seyn, daß Gott die Hand mit im Spiel habe; deswegen sprach er auch zu Stillingen: Les't diesen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr gegen Euer Vorhaben einzuwenden! ich sehe, es ist Gottes Finger.

Alsofort schrieb Johann Stilling einen sehr freundschaftlichen und dankbaren Brief an Herrn Molitor, und empfahl ihm seinen Vetter aufs beste. Mit diesem Brief wanderte des andern Morgens Stilling nach dem Städtgen hin, wo Molitor wohnte. Als er dahin kam, fragte er nach diesem Herrn; man wies ihm ein kleines niedliches Häusgen. Stilling schellte, und eine betagte Frauensperson that ihm die Thür auf, und fragte: wer er wäre? Er antwortete; ich heiße Stilling, und hab etwas mit dem Herrn Pastor zu sprechen. Sie gieng hinauf; nun kam der alte Greis selber, bewillkommte Stilling, und führte ihn hinauf in sein kleines Cabinettgen. Hier überreichte er seinen Brief. Nachdem Molitor denselben gelesen, so umarmte er Stillingen, und erkundigte sich nach seinen Umständen, und nach seinem Vorhaben. Er blieb diesen ganzen Tag bey ihm, besahe das niedliche Laboratorium, seine bequeme Augen-Apotheke, und seine kleine Bibliothek. Dieses alles, sagte Herr Molitor: will ich Ihnen in meinem Testament vermachen, eh ich sterbe. So verbrachten sie diesen Tag recht vergnügt zusammen.

Des andern Morgens früh gab Molitor das Manuscript an Stillingen ab, doch mit dem Beding, daß ers abschreiben, und [242] ihm das Original wieder zustellen sollte; dagegen gelobte Molitor mit einem theuren Eid, daß ers niemand weiter geben, sondern es so verbergen wollte, daß es niemahlen jemand wieder finden könnte. Ueberdas hatte der ehrliche Greis noch verschiedene Bücher apart gestellt, die er Stilling mit nächstem zu schicken versprach; allein, dieser packte sie in seinen Reisesack, nahm sie auf seinen Buckel und trug sie fort. Molitor begleitete ihn bis vor das Thor, da sah er auf gen Himmel, faßte Stilling an der Hand, und sagte: »Der Herr! der Heilige! der Ueberallgegenwärtige! bewirke Sie durch Seinen heiligen Geist: zum besten Menschen, zum besten Christen, und zum besten Arzt!« Hierauf küßten sie sich, und schieden von einander.

Stilling vergoß Thränen bey diesem Abschied, und dankte Gott für diesen vortrefflichen Freund. Er hatte zehn Stunden bis zu Herrn Spanier hin; diese machte er noch heute ab, und kam des Abends, schwer mit Büchern beladen, zu Hause an. Er erzählte seinem Patron den neuen Vorfall; dieser bewunderte mit ihm, die sonderbare Führung und Leitung Gottes.

Nun gab sich Stilling ans Abschreiben. In vier Wochen hatte er dieses, bey seinen Geschäften, vollendet. Er packte also ein Pfund guten Thee, ein Pfund Zucker, und sonst noch ein und anderes in den Reisesack, desgleichen auch die beyden Manuscripte, und gieng an einem frühen Morgen wieder fort, um seinen Freund Molitor zu besuchen, und ihm sein Manuscript wieder zu bringen. Am Nachmittag kam er vor seiner Hausthür an, und schellte; er wartete ein wenig, schellte wieder, aber es that ihm niemand auf. Indessen stund eine Frau in einem Hause gegenüber an der Thür, die fragte: bey wen er wollte? Stilling antwortete: bey den Herrn Pastor Molitor! Die Frau sagte: der ist seit acht Tagen in der Ewigkeit! – Stilling erschrack daß er blaß wurde, er gieng in ein Wirthshaus, wo er sich nach Molitors Todesumständen erkundigte, und wer sein Testament auszuführen hätte. Hier hörte er: [243] daß er plötzlich am Schlag gestorben, und daß kein Testament vorhanden wäre. Stilling kehrte also mit seinem Reisesack wieder um, und gieng noch vier Stunden zurück, wo er in einem Städtgen bey einem guten Freund übernachtete, so daß er frühzeitig des andern Tages wieder zu Haus war. Den ganzen Weg durch konnte er sich des Weinens nicht enthalten, ja er hätte gern auf Molitors Grab geweint, wenn der Zugang zu seiner Gruft nicht verschlossen gewesen wäre.

So bald er zu Hause war, fieng er an die molitorische Medicamente zu bereiten. Nun hatte Herr Spanier einen Knecht, dessen Knabe von zwölf Jahren seit langer Zeit sehr wehe Augen gehabt hatte; an diesem machte Stilling seinen ersten Versuch, und der gerieth vortrefflich, so daß der Knabe in kurzer Zeit heil wurde; daher kam er bald in eine ordentliche Praxis, so daß er viel zu thun hatte, und gegen den Herbst schon, hatte sich das Gerücht von seinen Curen vier Stunden umher, bis nach Schönenthal, verbreitet.

Meister Isaac zu Waldstätt sah seines Freundes Gang und Schicksale mit an, und freute sich von Herzen über ihn, ja er schwamm im Vergnügen, wenn er sich vorstellte, wie er dermahleins den Doctor Stilling besuchen, und sich mit ihm ergetzen wollte. Allein, Gott machte einen Strich durch diese Rechnung, denn Meister Isaac wurde krank, Stilling besuchte ihn fleißig, und sah mit Schmerzen seinen nahen Tod. Den letzten Tag vor seinem Abschied saß Stilling am Bette seines Freundes; Isaac richtete sich auf, faßte ihn an der Hand, und sprach: Freund Stilling! ich werde sterben, und eine Frau mit vier Kindern hinterlassen, für ihren Unterhalt sorge ich nicht, denn der Herr wird sie versorgen; aber ob sie in des Herrn Wegen wandeln werden, das weiß ich nicht, und darum trage ich Ihnen die Aufsicht über sie auf, stehen Sie ihnen mit Rath und That bey, der Herr wirds Ihnen vergelten. Stilling versprach das von Herzen gerne, so lange als seine Aufsicht möglich seyn würde. Isaac fuhr fort: wenn sie von Herrn Spanier[244] wegziehen werden, so entlasse ich Sie Ihres Versprechens, – jetzt aber bitte ich Sie: denken Sie immer in Liebe an mich, und leben Sie so, daß wir im Himmel ewig vereinigt seyn können. Stilling vergoß Thränen, und sagte: Bitten Sie für mich um Gnade und Kraft! Ja! sagte Isaac: das werd ich erst thun, wenn ich werde vollendet seyn, jetzt hab ich mit mir selber genug zu schaffen. Stilling vermuthete sein Ende noch so gar nahe nicht, daher gieng er von ihm weg, und versprach morgen wieder zu kommen; allein diese Nacht starb er. Stilling gieng bey seinem Leichen-Conduct der vorderste, weil er keine Anverwandten hatte; er weinte über seinem Grabe, und betrauerte ihn als einen Bruder. Seine Frau starb nicht lange nach ihm, seine Kinder aber sind alle recht wohl versorgt.

Nachdem nun Stilling beynah sechs Jahr bey Herrn Spanier in Condition gewesen war, und dabey die Augencuren fortsetzte, so trug es sich bisweilen zu, daß sein Herr mit ihm von einem bequemen Plan redete, nach welchem er sich mit seinem Studiren zu richten hätte. Herr Spanier schlug ihm vor: er sollte noch einige Jahre bey ihm bleiben, und so vor sich studieren, alsdann wolle er ihm ein paar hundert Reichsthaler geben, damit könne er nach einer Universität reisen, sich examiniren und promoviren lassen, und nach einem viertel Jahr wieder kommen, und so bey Herrn Spanier ferner wohnen bleiben. Was er dann weiter mit ihm vor hatte, ist mir nicht bekannt worden.

Dieser Plan gefiel Stilling ganz und zumahlen nicht. Sein Zweck war, die Medicin auf einer Universität aus dem Grunde zu studieren; er zweifelte auch nicht, der Gott der ihn dazu berufen habe, der würde ihm auch Mittel und Wege an die Hand geben, daß ers ausführen könne. Hiermit war aber Spanier nicht zufrieden, und deswegen schwiegen sie beyde endlich ganz still von der Sache.

Im Herbst des 1769sten Jahrs, als Stilling eben sein dreyßigstes Jahr angetreten hatte, und sechs Jahr bey Herrn Spanier [245] gewesen war, bekam er von einem Kaufmann zu Rasenheim eine Stunde diesseits Schönenthal, der sich Friedenberg schrieb, einen Brief, worinnen ihn dieser Mann ersuchte, so bald als möglich nach Rasenheim zu kommen, weil einer seiner Nachbarn einen Sohn habe, der seit einigen Jahren mit bösen Augen behaftet gewesen, und Gefahr laufe blind zu werden. Herr Spanier trieb ihn an, alsofort zu gehen. Stilling that das, und nach dreyen Stunden eben Vormittag kam er bey Herrn Friedenberg zu Rasenheim an. Dieser Mann bewohnte ein schönes niedliches Haus, welches er vor ganz kurzer Zeit hatte bauen lassen. Die Gegend wo er wohnte, war überaus angenehm. So bald Stilling in das Haus trat, und überall Ordnung, Reinigkeit und Zierde ohne Pracht bemerkte, so freute er sich, und fühlte, daß er da würde wohnen können. Als er aber in die Stube trat, und Herrn Friedenberg selber nebst seiner Gattin und neun schönen wohlgewachsenen Kindern so der Reihe nach sahe, wie sie alle zusammen nett und zierlich, aber ohne Pracht gekleidet, da giengen und stunden, wie alle Gesichter Wahrheit, Rechtschaffenheit und Heiterkeit um sich strahlten, so war er ganz entzückt, und nun wünschte er wirklich, ewig bey diesen Leuten zu wohnen. Da war kein Treiben, kein Ungestüm, sondern eitel wirksame Thätigkeit aus Harmonie und guten Willen.

Herr Friedenberg bot ihm freundlich die Hand, und nöthigte ihn zum Mittagessen. Stilling nahm das Anerbieten mit Freuden an. So wie er mit diesen Leuten redete, so entdeckte sich alsofort eine unaussprechliche Uebereinstimmung der Geister; alle liebten Stilling in dem Augenblick, und er liebte sie auch alle über die Maßen. Sein ganzes Gespräch mit Herrn und Frau Friedenberg war bloß vom Christenthum und der wahren Gottseeligkeit, wovon diese Leute ganz und allein Werk machten.

Nach dem Essen gieng Herr Friedenberg mit ihm zum Patienten, welchen er besorgte, und darauf wieder mit seinem [246] Freund zurück gieng um Caffee zu trinken. Mit Einem Wort, diese drey Gemüther, Herr und Frau Friedenberg und Stilling, schlossen sich vest zusammen, wurden ewige Freunde, ohne sich es sagen zu dürfen. Des Abends gieng Letzterer wieder zurück an seinen Ort, allein er fühlte etwas leeres nach diesem Tage, er hatte seit der Zeit seiner Jugend nie wieder eine solche Haushaltung angetroffen, er hätte gern näher bey Herrn Friedenberg gewohnt, um mehr mit ihm und seinen Leuten umgehen zu können.

Indessen fieng der Patient zu Rasenheim an, sich zu bessern, und es fanden sich mehrere in dasigen Gegenden, sogar in Schönenthal selbsten, die seiner Hülfe begehrten; daher beschloß er, mit Genehmhaltung des Herrn Spaniers, alle vierzehn Tage des Samstags Nachmittags wegzugehen, um seine Patienten zu besuchen, und des Montags morgens wieder zu kommen. Er richtete es deswegen so ein, daß er des Samstags Abends bey Herrn Friedenberg ankam, des Sonntags Morgens gieng er dann umher, und bis nach Schönenthal, besuchte seine Kranken, und des Sonntags Abends kam er wieder nach Rasenheim, von wannen er des Montags Morgens wieder nach Hause gieng. Bey diesen vielfältigen Besuchen wurde seine genaue Verbindung mit Herrn Friedenberg und seinem Hause immer stärker; er erlangte auch eine schöne Bekanntschaft in Schönenthal mit vielen frommen Gottesfürchtigen Leuten, die ihn Sonntags Mittags wechselsweise zum Essen einluden, und sich mit ihm vom Christenthum und andern guten Sachen unterredeten.

Dieses dauerte so fort bis in den Februar des folgenden 1770sten Jahrs, als Frau Friedenberg mit einem jungen Töchterlein entbunden wurde; diese frohe Neuigkeit machte Herr Friedenberg nicht nur seinem Freunde Stilling bekannt, sondern er ersuchte ihn sogar des folgenden Freytags als Gevatter bey seinem Kinde an der Taufe zu stehen. Dieses machte Stillingen ungemeine Freude. Herr Spanier indessen konnte [247] nicht begreifen, wie ein Kaufmann dazu komme, den Bedienten eines andern Kaufmanns zu Gevattern zu bitten; allein Stillingen wunderte das nicht, denn Herr Friedenberg und er, wußten von keinem Unterschied des Standes mehr, sie waren Brüder.

Zur bestimmten Zeit gieng also Stilling hin, um der Taufe beyzuwohnen. Nun hatte aber Herr Friedenberg eine Tochter, welche die ältste unter seinen Kindern, und damahls im ein und zwanzigsten Jahr war. Dieses Mädchen hatte von ihrer Jugend an die Stille und Eingezogenheit geliebt, und deswegen war sie blöde gegen alle fremde Leute, besonders wenn sie etwas vornehmer gekleidet waren als sie gewohnt war. Ob dieser Umstand zwar in Ansehung Stillings nicht im Wege stund, so vermied sie ihn doch so viel sie konnte, so daß er sie wenig zu sehen bekam. Ihre ganze Beschäftigung hatte von Jugend auf in anständigen Hausgeschäften, und dem nöthigen Unterricht in der christlichen Religion nach dem evangelisch-lutheri schen Bekenntniß, nebst Schreiben und Lesen bestanden; mit Einem Worte, sie war ein niedliches artiges junges Mädgen, die eben nirgends in der Welt gewesen war, um nach der Mode leben zu können, deren gutes Herz aber, alle diese einem rechtschaffenen Mann unbedeutende Kleinigkeiten reichlich ersetzten.

Stilling hatte diese Jungfer vor den andern Kindern seines Freundes nicht vorzüglich bemerkt, er fand in sich keinen Trieb dazu, und er durfte auch an so etwas nicht denken, weil er noch ehe weit aussehende Dinge aus dem Wege zu räumen hatte.

Dieses liebenswürdige Mädgen hieß Christine. Sie war seit einiger Zeit schwerlich krank gewesen, und die Aerzte verzweifelten alle an ihrem Aufkommen. Wenn nun Stilling nach Rasenheim kam, so fragte er nach ihr, als nach der Tochter seines Freundes; da ihm aber niemand Anlaß gab, sie auf ihrem Zimmer zu besuchen, so dachte er auch nicht daran.

[248] Diesen Abend aber, nachdem die Kindtaufe geendigt war, stopfte Herr Friedenberg seine lange Pfeife, und fragte seinen neuen Gevattern: Gefällt es Ihnen einmahl mit mir meine kranke Tochter zu besuchen? mich verlangt, was Sie von ihr sagen werden, Sie haben doch schon mehr Erkenntniß von Krankheiten, als ein anderer. Stilling war dazu willig; sie giengen zusammen hinauf ins Zimmer der Kranken. Sie lag matt und elend im Bett, doch hatte sie noch viele Munterkeit des Geistes. Sie richtete sich auf, gab Stilling die Hand und hieß ihn sitzen. Beyde setzten sich also ans Bett ans Nachttischgen. Christine schämte sich jetzt vor Stillingen nicht, sondern sie redete mit ihm von allerhand das Christenthum betreffenden Sachen. Sie wurde ganz aufgeräumt, und vertraulich. Nun hatte sie oft bedenkliche Zufälle, deswegen mußte jemand des Nachts bey ihr wachen; dieses geschah aber auch zum Theil deswegen, weil sie nicht viel schlafen konnte. Als nun beyde eine Weile bey ihr gesessen hatten, und eben weggehen wollten, so ersuchte die kranke Jungfer ihren Vater: ob er wohl erlauben wollte, das Stilling mit ihrem ältern Bruder diese Nacht bey ihr wachen mögte? Herr Friedenberg gab das sehr gerne zu, mit dem Beding aber, wenn es Stillingen nicht zuwider sey. Dieser leistete sowohl der Kranken als auch den Ihrigen diesen Freundschaftsdienst gerne. Er begab sich also mit dem ältesten Sohn des Abends um neun Uhr auf ihr Zimmer; beyde setzten sich vor das Bett, ans Nachttischgen, und sprachen mit ihr von allerhand Sachen, um sich die Zeit zu vertreiben, zuweilen lasen sie auch etwas darzwischen.

Des Nachts um ein Uhr sagte die Kranke zu ihren beyden Wächtern: sie mögten ein wenig still seyn, sie glaubte etwas schlafen zu können. Dieses geschah. Der junge Herr Friedenberg schlich indessen herab um etwas Caffee zu besorgen; er blieb aber ziemlich lang aus, und Stilling begunnte auf seinem Stuhl zu nicken. Nach etwa einer Stunde regte sich die Kranke wieder. Stilling schob die Gardine ein wenig von einander, [249] und fragte sie: ob sie geschlafen habe? Sie antwortete: Ich hab so wie im Taumel gelegen. »Hören Sie, Herr Stilling! ich hab einen sehr lebhaften Eindruck in mein Gemüth bekommen, von einer Sache, die ich aber nicht sagen darf, bis zu einer andern Zeit.« Bey diesen Worten wurde Stilling ganz starr, er fühlte von Scheitel bis unter die Fußsohle eine noch nie empfundene Erschütterung, und auf einmahl fuhr ihm ein Strahl durch die Seele wie ein Blitz. Es wurde ihm klar in seinem Gemüth, was jetzt der Wille Gottes sey, und was die Worte der kranken Jungfer bedeuteten. Mit Thränen in den Augen stund er auf, bückte sich ins Bett, und sagte: »Ich weiß es, liebe Jungfer! was sie für einen Eindruck bekommen hat, und was der Wille Gottes ist.« Sie fuhr auf, reckte ihre rechte Hand heraus, und versetzte: »wissen Sie's?« – Damit schlug Stilling seine rechte Hand in die ihrige, und sprach: »Gott im Himmel segne uns! Wir sind auf ewig verbunden!« – Sie antwortete: »Ja! wir sinds auf ewig!« –

Alsbald kam der Bruder, und brachte den Caffee, setzte ihn hin, und alle drey trunken zusammen. Die Kranke war ganz ruhig wie vorher; sie war weder freudiger noch trauriger, so als wenn nichts sonderliches vorgefallen wäre. Stilling aber war wie ein Trunkener, er wuste nicht ob er gewacht oder geträumt hatte, er konnte sich über diesen unerhörten Vorfall weder besinnen noch nachdenken. Indessen fühlte er doch eine unbeschreiblich zärtliche Neigung in seiner Seelen gegen die theure Kranke, so daß er mit Freuden sein Leben für sie würde aufopfern können, wenns nöthig wäre, und diese reine Flamme war so, ohne angezündet zu werden, wie ein Feuer vom Himmel auf sein Herz gefallen; denn gewiß, seine Verlobte hatte jetzt weder Reize, noch Willen zu reizen, und er war in einer solchen Lage, wo ihm vor dem Gedanken zu heurathen schauderte. Doch wie gesagt: er war betäubt, und konnte über seinen Zustand nicht eher nachdenken, bis des andern Morgens, da er wieder zurück nach Hause reiste. Er [250] nahm vorher zärtlich Abschied von seiner Geliebten, bey welcher Gelegenheit er seine Furcht äußerte, allein sie war ganz getrost bey der Sache, und versetzte: »Gott hat gewiß diese Sache angefangen, Er wird sie auch gewiß vollenden!«

Unterweges fieng nun Stilling an vernünftig über seinen Zustand nachzudenken, die ganze Sache kam ihm entsetzlich vor. Er war überzeugt, daß Herr Spanier, so bald er diesen Schritt erfahren würde, alsofort seinen Beystand von ihm abziehen, und ihn abdanken würde, folglich wär er dann ohne Brod, und wieder in seine vorige Umstände versetzt. Ueberdas konnte er sich unmöglich vorstellen, daß Herr Friedenberg mit ihm zufrieden seyn würde; denn in solchen Umständen sich mit seiner Tochter zu verloben, wo er für sich selber kein Brod verdienen, geschweige Frau und Kinder ernähren konnte, ja sogar ein großes Capital nöthig hatte, das war eigentlich ein schlechtes Freundschaftsstück, es konnte vielmehr als ein erschrecklicher Mißbrauch derselben angesehen werden. Diese Vorstellungen machten Stillingen herzlich angst, und er fürchtete in noch beschwerlichere Umstände zu gerathen, als er jemahlen erlebt hatte. Es war ihm als einem der auf einen hohen Felsen am Meer geklettert ist, und, ohne Gefahr zerschmettert zu werden, nicht herab kommen kann, er wagts und springt ins Meer, ob er sich mit schwimmen noch retten mögte.

Stilling wußte auch keinen andern Rath mehr; er warf sich mit seinem Mädgen in die Arme der väterlichen Fürsorge Gottes, und nun war er ruhig, er beschloß aber dennoch weder Herrn Spanier noch sonst jemand in der Welt etwas von diesem Vorfall zu sagen.

Herr Friedenberg hatte Stillingen die Erlaubniß gegeben, alle Medicamenten in dasige Gegenden nun an ihn zu fernerer Besorgung zu übermachen; deswegen schickte er des folgenden Samstags, welches neun Tage nach seiner Verlobung war, ein Päckgen Medicin, an ihn ab, wobey er einen Brief [251] fügte, der ganz aus seinem Herzen geflossen war, und welcher ziemlich entdeckte, was darinnen vorgieng; ja was noch mehr war, er schlug sogar ein versiegeltes Schreiben an seine Verlobte darinn ein, und alles dieses that er ohne Ueberlegung und Nachdenken, was vor Folgen daraus entstehen könnten; als aber das Paquet fort war, da überdachte er erst, was daraus werden könnte, ihm schlug das Herz, und er wußte sich fast nicht zu lassen.

Niemahls ist ein Weg für ihn sauerer gewesen, als wie er acht Tage hernach des Samstags Abends seinen gewöhnlichen Gang nach Rasenheim gieng. Je näher er dem Hause kam, je mehr klopfte sein Herz. Nun trat er zur Stubenthür hinein. Christine hatte sich in etwas erhohlet; sie war daselbst mit ihren Eltern und einigen Kindern. Er gieng, wie gewöhnlich, mit freudigem Blick auf Friedenberg an, gab ihm die Hand, und dieser empfieng ihn mit gewöhnlicher Freundschaft, so auch die Frau Friedenberg, und endlich auch Christine. Stilling gieng nun wieder heraus, und hinauf nach seinem Schlafzimmer, um ein und anders das er bey sich hatte abzulegen. Ihm war schon ein Band vom Herzen, denn sein Freund hatte entweder nichts gemerkt, oder er war mit der ganzen Sache zufrieden. Er gieng nun wieder herunter, und erwartete was ferner vorgieng. Als er unten auf die Treppe kam, so winkte ihm Christine, die gegen der Wohnstube über, in einer Kammerthür stund; er gieng zu ihr, sie schloß die Kammerthür hinter ihm zu, und beyde setzten sich neben einander. Christine fieng nun an:

»Ach! welchen Schrecken hast Du mir mit Deinen Briefen abgejagt! meine Eltern wissen alles. Hör, ich will Dir alles sagen, wie es ergangen ist. Als die Briefe kamen, war ich in der Stube, mein Vater auch, meine Mutter aber war in der Kammer auf dem Bett. Mein Vater brach den Brief auf, er fand noch einen drinnen an mich, er reichte mir denselben mit den Worten: da ist auch ein Brief an Dich. Ich wurde roth, [252] nahm ihn an, und las ihn. Mein Vater las den seinigen auch, schüttelte zuweilen den Kopf, stund und bedachte sich, dann las er wieder. Endlich gieng er in die Kammer zu meiner Mutter; ich konnte alles verstehn was gesprochen wurde. Mein Vater las ihr den Brief vor. Als er ausgelesen hatte, so lachte meine Mutter, und sagte: Begreifst Du auch wohl, was der Brief bedeutet? er hat Absichten auf unsre Tochter. Mein Vater antwortete: Das ist nicht möglich, er ist ja nur eine Nacht mit meinem Sohn bey ihr gewesen, dazu ist sie krank, und doch kommt mir auch der Brief bedenklich vor. Ja, Ja! sagte die Mutter: denke nicht anders, es ist so. Nun gieng mein Vater hinaus, und sagte nichts mehr. Alsbald rief mir meine Mutter: Komm Christine! lege Dich ein wenig bey mich, Du bist gewiß des Sitzens müde. Ich gieng zu ihr, und legte mich neben sie. Hör! fieng sie an: hat Gevatter Stilling Neigung zu Dir? Ich sagte rund aus: Ja! das hat er. Sie fuhr fort: Ihr seyd doch noch nicht versprochen? Ja, Mutter! antwortete ich: Wir sind auch versprochen; und nun mußte ich weinen. Gott im Himmel! sagte meine Mutter: Wie ist das zugegangen? ihr seyd ja nicht zusammen gewesen! Nun erzählte ich ihr umständlich alles wie es ergangen ist, und sagte ihr die klare Wahrheit. Sie erstaunte darüber, und sagte: Du thust einen harten Angang. Stilling muß noch erst studieren, eh ihr beysammen leben könnt, wie willst Du das aushalten? Du bist ohnehin schwächlichen Gemüths und Leibes. Ich antwortete: ich will mich schicken so gut ich kann, der Herr wird mir beystehen! ich muß diesen heurathen; und wenn ihr Eltern mir es verbietet, so will ich euch darinnen gehorchen, aber einen andern werd ich nie nehmen. Das wird keine Noth haben, versetzte meine Mutter. Sobald nun meine beyde Eltern wieder allein in der Kammer, und ich in der Stube war, so erzählte sie meinem Vater alles, eben so wie ichs ihr erzählt hatte. Er schwieg lange, endlich fieng er an: Das ist mir eine unbeschreibliche Sache, ich kann nichts dazu sagen. So steht [253] die Sache noch, mein Vater hat mir kein Wort gesagt, weder gutes noch böses. Nun ist es aber unsre Pflicht, daß wir noch diesen Abend unsre Eltern fragen, und ihre völlige Einwilligung erhalten. So eben wie Du die Treppe herauf giengst, sagte mein Vater zu mir: Geh mit Stilling in die andre Stube allein, du sollst wohl mit ihm zu reden haben.«

Stillingen hüpfte das Herz vor Freuden. Er fühlte nun gar wohl, daß seine Sachen einen erwünschten Ausschlag nehmen würden. Er unterredete sich noch ein Stündchen mit seiner Geliebten; sie verbunden sich noch einmahl, mit in einander geschlossenen Armen, zu einer ewigen Treue, und zu einem rechtschaffenen Wandel vor Gott und Menschen.

Des Abends nach dem Essen, als alles im Hause schlafen war, sassen nur noch Herr und Frau Friedenberg nebst Christinen und Stillingen in der Stuben. Letzterer fieng nun an, und erzählte getreu den ganzen Vorfall mit den kleinsten Umständen, und schloß mit diesen Worten: Nun frag ich Sie aufrichtig: »Ob Sie mich von Herzen gern unter die Zahl Ihrer Kinder aufnehmen wollen? ich werde alle kindliche Pflichten durch Gottes Gnade treulich erfüllen, und ich protestire feyerlich gegen alle Hülfe und Beystand zu meinem Studiren. Ich begehre nur bloß Ihre Jungfer Tochter: ja ich nehme Gott zum Zeugen, daß mir der Gedanke der fürchterlichste ist, den ich haben kann, wenn ich mir vorstelle, daß Sie wohl denken könnten: ich hätte bey dieser Verbindung eine unedle Absicht gehabt.«

Herr Friedenberg seufzte tief, und ein paar Thränen liefen seine Wangen herunter. Ja, sagte er: Herr Gevatter! ich bin damit zufrieden, und nehme Sie willig zu meinem Sohn an; denn ich sehe, daß Gottes Finger in dieser Sache wirkt. Ich kann nichts dawider einwenden; überdem kenne ich Sie, und weiß wohl, daß Sie zu ehrlich sind, um solche unchristliche Absichten zu haben; das muß ich aber noch hinzufügen, daß ich auch gar nicht im Stande dazu bin, Sie studieren zu lassen. [254] Nun wendete er sich zu Christinen, und sagte: Getraust Du dich aber auch, die lange Abwesenheit Deines Geliebten zu ertragen? Sie antwortete: Ja, Gott wird mir Kraft dazu geben!

Nun stund Herr Friedenberg auf, umarmte Stillingen, küßte ihn und weinte an seinem Halse: nach ihm that Frau Friedenberg desgleichen. Die Empfindung läßt sich nicht aussprechen, die Stilling dabey fühlte; es war ihm als wenn er in ein Paradies versetzt würde. Wo das Geld zu seinem Studieren herkommen sollte, darum bekümmerte er sich gar nicht. Die Worte: der Herr wirds versehen! waren so tief in seine Seele gegraben, daß er nicht sorgen konnte.

Nun ermahnte ihn Herr Friedenberg, daß er noch dieses Jahr bey Herrn Spanier aushalten, alsdann sich aber folgenden Herbst nach Universitäten begeben mögte. Stillingen war das recht nach seinem Sinn, und ohnehin sein Wille. Endlich beschlossen sie alle zusammen, diese ganze Sache geheim zu halten, um den schiefen Urtheilen der Menschen vorzubeugen, und dann durch eifriges Gebet von allen Seiten den Seegen von Gott zu diesem wichtigen Vorhaben zu erbitten.


[255] Stilling setzte nun bey Herrn Spanier seine Bedienung noch immer fort, desgleichen seine gewöhnliche Gänge nach Rasenheim und Schönenthal. Ein viertel Jahr vor Michaelis kündigte er Herrn Spanier sein Vorhaben höflich und freundschaftlich an, und bat ihn, ihm doch diesen Schritt nicht zu verübeln, indem es endlich im dreyssigsten Jahr seines Alters einmahl Zeit sey, für sich selber zu sorgen. Herr Spanier antwortete zu dem allem nicht ein Wort, sondern schwieg ganz still; aber von dem an war sein Herz von Stilling ganz abgekehrt, so daß ihm das letzte viertel Jahr noch ziemlich sauer wurde, nicht daß ihm jemand etwas in den Weg legte, sondern weil die Freundschaft und das Zutrauen ganz hin war.

Vier Wochen vor der Frankfurther Herbst-Messe nahm also Stilling von seinem bisherigen lieben Patron und dem ganzen Hause Abschied. Herr Spanier weinte blutige Thränen, aber er sagte kein Wort weder gutes noch böses. Stilling weinte auch; und so verließ er seine letzte Schule oder Informations-Bedienung, und zog nach Rasenheim zu seinen Freun den, nachdem er sieben ganzer schöner Jahre an einem Ort ruhig verlebt hatte.

Herr Spanier hatte seine wahre Absicht mit Stilling nie entdeckt. So wie sein Plan war, nur dem Titel nach Doctor zu werden, ohne hinlängliche Erkenntnisse zu haben, das war Stillingen unmöglich einzugehen; und entdeckte Spanier den Rest seiner Gedanken nicht ganz, so konnte es ja Stilling auch nicht wissen, und noch vielweniger sich darauf verlassen Ueber das alles führte ihn die Vorsehung gleichsam mit Macht und Kraft, ohne sein Mitwirken, so daß er folgen mußte, wenn er auch etwas anders vor sich beschlossen gehabt hätte. Was aber noch das Schlimmste für Stillingen war: er hatte nie einen bestimmten Jahrlohn mit Herrn Spanier gemacht; dieser rechtschaffene Mann gab ihm reichlich was er bedurfte. Nun hatte er sich aber schon Bücher und andre Nothwendigkeiten angeschaft, so daß er, wenn er alles rechnete, ein ziemliches [256] jährlich empfangen hatte, deswegen gab ihm nun Spanier beym Abschied nichts, so daß er ohne Geld bey Friedenberg zu Rasenheim ankam. Dieser zahlte ihm aber alsofort hundert Reichsthaler aus, um sich das Nöthigste zu seiner Reise dafür anzuschaffen, und das übrige mitzunehmen. Seine christlichen Freunde zu Schönenthal aber beschenkten ihn mit einem schönen Kleid, und erboten sich zu fernerm Beystand.

Stilling hielt sich nun noch vier Wochen bey seiner Verlobten und den Ihrigen auf; während dieser Zeit rüstete er sich aus, nach der hohen Schule zu ziehen. Er hatte sich noch keinen Ort erwählt, wohin, sondern er erwartete einen Wink vom himmlischen Vater; denn weil er aus purem Glauben studieren wollte, so durfte er auch in nichts seinem eigenen Willen folgen.

Nach drey Wochen gieng er noch einmahl nach Schönenthal, um seine Freunde daselbst zu besuchen. Als er daselbst ankam, fragte ihn eine sehr theure und liebe Freundin: »Wohin er zu ziehen willens wäre?« Er antwortete: »Er wüßte es nicht.« »Ey! sagte sie: unser Herr Nachbar Troost reist nach Strasburg um daselbst einen Winter zu bleiben, reisen Sie mit demselben!« Dieses fiel Stilling aufs Herz; er fühlte, daß dieses der Wink sey, den er erwartet hatte. Indem trat gemeldter Herr Troost in die Stube herein. Alsofort fieng die Freundinn gegen ihn an, von Stillingen zu reden. Der liebe Mann freuete sich von Herzen über seine Gesellschaft, denn er hatte schon ein und anderes von ihm gehört.

Herr Troost war zu der Zeit ein Mann von vierzig Jahren, und noch unverheurathet. Schon zwanzig Jahr war er mit vielem Ruhm Chirurgus in Schönenthal gewesen; allein er war jetzt mit seinen Kenntnissen nicht mehr zufrieden, sondern er wollte noch einmal zu Strasburg die Anatomie durchstudieren, und andre chirurgische Collegia hören, um mit neuer Kraft ausgerüstet wieder zu kommen, und seinem Nächsten[257] desto nützlicher dienen zu können. In seiner Jugend hatte er schon einige Jahre auf dieser berühmten hohen Schule zugebracht, und den Grund zu seiner Wissenschaft gelegt.

Dieser war nun der rechte Mann für Stillingen. Er hatte das edelste und beste Herz von der Welt, das aus lauter Menschenliebe und Freundschaft zusammen gesetzt war; dazu hatte er einen vortreflichen Character, viel Religion und daraus fliessende Tugenden. Er kannte die Welt und Strasburg; und gewiß, es war ein recht väterlicher Zug der Vorsehung, daß Stilling just jetzt mit ihm bekannt wurde. Er machte deswegen alsbald Freundschaft mit Herrn Troost. Sie beschlossen, mit den Meß-Kaufleuten nach Frankfurth, und von da mit einer Retourkutsche nach Strasburg zu fahren; sie bestimmten nun auch den Tag ihrer Abreise, der nach acht Tagen vestgesetzt wurde.

Stilling hatte schon vorlängst seinem Vater und Oheim im Salenschen Lande seine fernere wunderbare Führung bekannt gemacht; diese entsetzten sich, erstaunten, fürchteten, hofften, und gestunden: daß sie ihn ganz an Gott überlassen müßten, und daß sie bloß von ferne stehen, und seinen Flug über alle Berge hin, mit Furcht und Zittern ansehen könnten, indessen wünschten sie ihm allen erdenklichen Seegen.

Stillings Lage war jetzt in aller Absicht erschrecklich. Ein jeder Vernünftiger setze sich in Gedanken einmahl an seine Stelle und empfinde! – Er hatte sich mit einem zärtlichen frommen empfindsamen, aber dabey kränklichen Mädchen verlobt, die er mehr als seine eigene Seele liebte, und diese wurde von allen Aerzten verzehrend erklärt, so daß er sehr fürchten mußte, sie bey seinem Abschied zum letztenmahl zu sehen. Dazu fühlte er alle die schweren Leiden, die ihr zärtlich liebendes Herz während einer so langen Zeit würde ertragen müssen. Sein ganzes künftiges Glück beruhte nun blos darauf, ein rechtschaffener Arzt zu werden; und dazu gehörten zum wenigsten tausend Reichsthaler, wozu keine hundert für ihn [258] in der ganzen Welt zu finden waren; folglich sah es auch in diesem Fall mißlich mit ihm aus, fehlte es ihm hie, so fehlte ihm alles.

Und dennoch, ob sich Stilling gleich alles sehr lebhaft vorstellte, so setzte er doch sein Vertrauen vest auf Gott, und machte diesen Schluß:

»Gott fängt nichts an, oder er führt es auch herrlich aus. Nun ist es aber ewig wahr, daß er meine gegenwärtige Lage ganz und allein, ohne mein Zuthun so geordnet hat.«

»Folglich: ist es auch ewig wahr, daß er alles mit mir herrlich ausführen werde.«

Dieser Schluß machte ihn öfters so muthig, daß er lächelnd gegen seine Freunde zu Rasenheim sagte: »Mich soll doch verlangen, wo mein Vater im Himmel Geld für mich zusammen treiben wird!« Indessen entdeckte er keinem einigen Menschen weiter seine eigentlichen Umstände, besonders Herrn Troost nicht, denn dieser zärtliche Freund würde groß Bedenken getragen haben, ihn mitzunehmen; oder er würde wenigstens doch herzliche Sorge für ihn ausgestanden haben.

Endlich rückte der Tag der Abreise heran, und Christine schwamm in Thränen und wurde zuweilen ohnmächtig, und das ganze Haus trauerte.

Am letzten Abend sassen Herr Friedenberg und Stilling allein zusammen. Ersterer konnte sich des Weinens nicht enthalten; mit Thränen sagte er zu Stillingen: Lieber Sohn! das Herz ist mir sehr schwer um Euch, wie gern wollt ich Euch mit Geld versehen, wenn ich nur könnte, ich hab meine Handlung und Fabrique mit nichts angefangen, nunmehr bin ich eben so weit, daß ich mir helfen kann; wenn ich Euch aber wollte studiren lassen, so würde ich mich ganz zurück setzen. Und dazu hab ich zehn Kinder, was ich dem ersten thue, das bin ich hernach allen schuldig.

Hören Sie, Herr Schwiegervater! antwortete Stilling mit frohem Muth, und fröhlichem Gesicht: ich begehre keinen [259] Heller von Ihnen, glauben Sie nur gewiß: derjenige, der in der Wüsten so viel tausend Menschen mit wenig Brod sättigen konnte, der lebt noch, dem übergebe ich mich. Er wird gewiß Rath schaffen. Sorgen sie nur nicht, »der Herr wirds versehen«.

Nun hatte er seine Bücher, Kleider und Geräthe voraus auf Frankfurth geschickt; und des andern Morgens, nachdem er mit seinen Freunden gefrühstückt hatte, lief er hinauf nach der Kammer seiner Christinen; sie saß und weinte. Er ergrif sie in seine Arme, küßte sie und sagte: »Lebe wohl, mein Engel! Der Herr stärke und erhalte Dich im Seegen und Wohlergehn, bis wir uns wieder sehen!« – und so lief er zur Thür hinaus. Nun letzte er sich mit einem jeden, lief fort, und weinte sich unterweges satt. Der ältere Bruder seiner Geliebten begleitete ihn bis Schönenthal. Nun kehrte auch dieser traurig um, und Stilling begab sich zu seinen Reisegefährten.

Ich will mich mit der Reisegeschichte nach Frankfurth weiter nicht aufhalten. Sie kamen alle glücklich daselbst an, außer daß sie in der Gegend von Ellefeld auf dem Rhein einen heftigen Schreck ausgestanden hatten.

Vierzig Reichsthaler war Stillings ganze Haabseeligkeit gewesen, wie er von Rasenheim weggereist war. Nun mußten sie sich eilf Tage in Frankfurth aufhalten, und auf Gelegenheit warten, besonders auch weil Herr Troost nicht eher fortkommen konnte; daher schmolz sein Geld so zusammen, daß er zween Tage vor seiner Abreise nach Strasburg noch einen einzelnen Reichsthaler hatte, und dieses war sein Vorrath, den er in der Welt wußte. Er entdeckte niemand etwas, sondern wartete auf den Wink des himmlischen Vaters. Doch fand er bey allem seinem Muth nirgends recht Ruhe, er spazierte umher, und betete innerlich zu Gott; indessen gerieth er auf den Römerberg, daselbst begegnete ihm ein Schönenthaler Kaufmann, der ihn wohl kannte, und auch sein Freund war; diesen will ich Liebmann nennen.

[260] Herr Liebmann also grüßte ihn freundlich, und fragte wie's ihm gienge? Er antwortete: Recht gut! Das freut mich, versetzte jener: Kommen Sie diesen Abend auf mein Zimmer, und speisen Sie mit mir was ich habe! Stilling versprach das. Nun zeigte ihm Herr Liebmann wo er logirte.

Des Abends gieng er an den bestimmten Ort. Nach dem Essen fieng Herr Liebmann an: Sagen Sie mir doch mein Freund! wo bekommen sie Geld her zum Studiren? Stilling lächelte, und antwortete: »Ich hab einen reichen Vater im Himmel, der wird mich versorgen.« Herr Liebmann sah ihn an, und erwiederte: Wie viel haben sie noch? Stilling versetzte: »Einen Reichsthaler, – und das ist alles!« So! – fuhr Liebmann fort: ich bin einer von Ihres Vaters Rentmeistern, ich werde also jetzt einmahl den Beutel ziehen. Damit zählte er Stillingen drey und dreyßig Reichsthaler hin, und sagte: mehr kann ich anjetzo nicht missen. Sie werden überall Hülfe finden. Können sie mir das Geld dermaleinst wieder geben, gut! wo nicht, auch gut! – Stilling fühlte heiße Thränen in seinen Augen. Er dankte herzlich für diese Liebe, und versetzte: »Das ist reichlich genug, ich wünsche nicht mehr zu haben.« Diese erste Probe machte ihn so muthig, daß er gar nicht mehr zweifelte, Gott würde ihm gewiß durch alles durchhelfen. Er erhielt auch Briefe von Rasenheim von Herrn Friedenberg und von Christinen. Diese hatte Muth gefaßt, und standhaft beschlossen, geduldig auszuharren. Friedenberg aber schrieb ihm in den allerzärtlichsten Ausdrücken, und empfahl ihn der väterlichen Fürsorge Gottes. Er beantwortete gleichfalls beyde Briefe mit aller möglichen Zärtlichkeit und Liebe. Von seiner ersten Glaubens-Probe aber meldete er nichts, sondern schrieb nur, daß er Ueberfluß habe.

Nach zween Tagen fand Herr Troost eine Retourkutsche nach Mannheim, welche er für sich und Stilling, nebst noch einen redlichen Kaufmann von Luzern aus der Schweiz, miethete. Nun nahmen sie wiederum von allen Bekannten und [261] Freunden Abschied, setzten sich ein und reisten im Namen Gottes weiter.

Um sich nun unter einander die Zeit zu kürzen, erzählte ein jeder was er wußte. Der Schweizer wurde so vertraulich, daß er unsern beyden Reisenden sein ganzes Herz entdeckte. Stilling wurde dadurch gerührt, und er erzählte seine ganze Lebensgeschichte mit allen Umständen, so daß der Schweizer oft die milden Thränen fallen ließ. Herr Troost selber hatte sie auch noch nie gehört, er wurde auch sehr gerührt, und seine Liebe zu Stillingen wurde desto grösser.

Zu Mannheim nahmen sie wieder eine Retourkutsche bis auf Strasburg. Als sie zwischen Speyer und Lauterburg in den grossen Wald kamen stieg Stilling aus. Er war des Fahrens nicht gewohnt, und konnte das Wiegen der Kutsche, besonders in Sandwegen, nicht wohl ausstehen. Der Schweizer stieg auch aus, Herr Troost aber blieb im Wagen. Als nun die beyden Reisegefährten so zusammen zu Fuß giengen, sprach ihn der Schweizer an: ob er ihm nicht das Manuscript von Molitor, weil er es doch doppelt habe, gegen fünf französische neue Louisd'or überlassen wollte? Stilling sah dieses wiederum als einen Wink von Gott an, und daher versprach ers ihm.

Sie stiegen endlich wiederum in die Kutsche. Unter allerhand Gesprächen kam Herr Troost recht zur Unzeit an gemeldetes Manuscript. Er glaubte, wenn Stilling einmahl studiert haben würde, so würde er wenig mehr aus dergleichen Sächelchen, Geheimnissen und Salbereyen machen, weil doch niemahlen etwas rechts daran sey. Hiemit waren nun dem Schweizer seine fünf Louisd'or wieder lieber, als das Papier. Hätte Herr Troost gewußt, was zwischen beyden vorgefallen war, so möchte er wohl geschwiegen haben.

Indessen kamen nun unsre Reisende gesund und wohl zu Strasburg an, und Logierten sich bey Herrn Rathmann Blesig in der Aext ein, Stilling so wohl als sein Freund schrieben alsofort [262] nach Haus, und meldeten ihre glückliche Ankunft, ein jeder am gehörigen Ort.

Stilling hatte nun keine Ruhe mehr, bis er das herrliche Münster rund um von innen und außen gesehen hatte. Er ergötzte sich dergestalt, daß er öffentlich sagte: »Das allein ist der Reise werth, gut! daß es ein Teutscher gebaut hat.« Des andern Tages ließen sie sich immatriculiren, und Herr Troost, der daselbst bekannt war, suchte ein bequemes Zimmer für sie beyde. Dieses fand er auch nach Wunsch, denn am bequemsten Ort für sie wohnte ein vornehmer reicher Kaufmann Nahmens R ... der einen Bruder in Schönenthal gehabt hatte, und daher Liebe für Herrn Troost und seinen Gefehrten bezeigte. Dieser verpachtete ihnen ein herrliches tapezirtes Zimmer, unten im ersten Stock, für einem mäßigen Preiß; sie zogen daselbst ein.

Nun suchte Herr Troost ein gutes Speisequartier, und dieses fand er gleichfalls ganz nahe, wo eine vortrefliche Tischgesellschaft war. Hier veraccordirte er sich nebst Stilling auf den Monath. Dieser aber erkundigte sich indessen nach den Lehrstunden, und nahm deren so viel an, als nur gehalten wurden. Die Naturlehre, die Scheidekunst und die Zergliederung waren seine Hauptstücke, die er alsofort vornahm.

Des andern Mittags giengen sie zum erstenmahl ins Kosthaus zu Tische. Sie waren zuerst da, man wies ihnen ihren Ort an. Es speiseten ungefähr zwanzig Personen an diesem Tisch, und sie sahen einen nach dem andern hereintreten. Besonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn, und schönem Wuchs, muthig ins Zimmer. Dieser zog Herrn Troosts und Stillings Augen auf sich; ersterer sagte gegen letztern: das muß ein vortreflicher Mann seyn. Stilling bejahte das, doch glaubte er, daß sie beyde viel Verdruß von ihm haben würden, weil er ihn für einen wilden Cammeraden ansah. Dieses schloß er aus dem freyen Wesen, das sich der Student ausnahm; allein Stilling irrte sehr. Sie wurden indessen gewahr, [263] daß man diesen ausgezeichneten Menschen Herr Göthe nannte.

Nun fanden sich noch zween Mediciner, einer aus Wien, der andre ein Elsasser. Der erstere hieß Waldberg. Er zeigte in seinem ganzen Wesen ein Genie, aber zugleich ein Herz voller Spott gegen die Religion, und voller Ausgelassenheit in seinen Sitten. Der Elsasser hieß Melzer, und war ein feines Männchen, er hatte eine gute Seele, nur Schade! daß er etwas reizbar und mißtrauisch war. Dieser hatte seinen Sitz neben Stilling, und war bald Herzensfreund mit ihm. Nun kam auch ein Theologe, der hieß Leose, einer von den vortreflichsten Menschen, Göthens Liebling, und das verdiente er auch mit recht, denn er war nicht nur ein edles Genie, und ein guter Theologe, sondern er hatte auch die seltene Gabe, mit trockener Miene die treffendste Satire in Gegenwart des Lasters hinzuwerfen. Seine Laune war überaus edel. Noch einer fand sich ein, der sich neben Göthe hinsetzte, von diesem will ich nichts mehr sagen als daß er – ein guter Rabe mit Pfauenfedern war.

Noch ein vortreflicher Strasburger saß da zu Tische. Sein Ort war der oberste, und wär es auch hinter der Thür gewesen. Seine Bescheidenheit erlaubt nicht, ihm eine Lobrede zu halten: es war der Herr Actuarius Salzmann. Meine Leser mögen sich den gründlichsten und empfindsamsten Philosophen, mit dem ächtesten Christenthum verpaart, denken, so denken sie sich einen Salzmann. Göthe und er waren Herzensfreunde.

Herr Troost sagte leise zu Stilling: Hier ists am besten, daß man vierzehn Tage schweigt. Letzterer erkannte diese Wahrheit, sie schwiegen also, und es kehrte sich auch niemand sonderlich an sie, außer daß Göthe zuweilen seine Augen herüberwälzte; er saß gegen Stilling über, und er hatte die Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte.

Herr Troost war Stillingen sehr nützlich, er kannte die [264] Welt besser, und daher konnte er ihn sicher durchführen: Ohne ihn würde Stilling hundertmahl angestoßen haben. So gütig war der himmlische Vater gegen ihn. Er versorgte ihn sogar mit einem Hofmeister, der ihm nicht allein mit Rath und That beystehen, sondern auch von dem er Anleitung und Fingerzeig in seinen Studien haben konnte. Denn gewiß Herr Troost war ein geschickter und erfahrner Wundarzt.

Nun hatte sich Stilling völlig eingerichtet; er lief seinen Lauf heldenmüthig fort; er war jetzt in seinem Element; er verschlang alles was er hörte, schrieb aber weder Collegia noch sonst etwas ab, sondern trug alles zusammen in allgemeine Begriffe über. Selig ist der Mann, der diese Methode wohl zu üben weis! aber es ist nicht einem jeden gegeben. Seine beyden Professoren, die berühmten Herren Spielmann und Lobstein bemerkten ihn bald, und gewannen ihn lieb, besonders auch darum, weil er sich ernst, männlich, und eingezogen aufführte.

Allein seine 33 Reichsthaler waren nun wieder auf einen einzigen herunter geschmolzen, deswegen begann er wiederum herzlich zu beten. Gott erhörte ihn, und just in dieser Zeit der Noth fieng Herr Troost einmahl des Morgens gegen ihn an, und sagte: »Sie haben, glaub ich, kein Geld mitgebracht; ich will Ihnen sechs Carlinen leihen, bis Sie Wechsel bekommen werden.« Obgleich Stilling so wenig von Wechsel als von Geld wußte, so nahm er doch dieses freundschaftliche Erbieten an, und Herr Troost zahlte ihm sechs neue Louisd'or aus. Wer war es nun, der das Herz dieses Freundes just weckte, als es noth war!!!

Herr Troost war nett und nach der Mode gekleidet; Stilling auch so ziemlich. Er hatte einen schwarzbraunen Rock mit manschesternen Unterkleidern, nur war ihm noch eine runde Perücke übrig, die er zwischen seinen Beutel-Perücken doch auch gern verbrauchen wollte. Diese hatte er einsmahlen aufgesetzt, und kam damit an den Tisch. Niemand störte sich daran, als nur Herr Waldberg von Wien. Dieser sah ihn an; [265] und da er schon vernommen hatte, daß Stilling sehr für die Religion eingenommen war, so fieng er an und fragte ihn: Ob wohl Adam im Paradies eine runde Perücke mögte getragen haben? Alle lachten herzlich bis auf Salzmann, Göthe und Troost; diese lachten nicht. Stillingen fuhr der Zorn durch alle Glieder, und antwortete darauf: »Schämen Sie sich dieses Spotts. Ein solcher alltäglicher Einfall ist nicht werth, daß er belacht werde!« – Göthe aber fiel ein, und versetzte: Probier erst einen Menschen, ob er des Spotts werth sey? Es ist teufelmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der keinen beleidiget hat, zum besten zu haben! Von dieser Zeit nahm sich Herr Göthe Stillings an, besuchte ihn, gewann ihn lieb, machte Brüderschaft und Freundschaft mit ihm, und bemühte sich bey allen Gelegenheiten, Stillingen Liebe zu erzeigen. Schade, daß so wenige diesen vortreflichen Menschen seinem Herzen nach kennen!

Nach Martini wurde das Collegium der Geburtshülfe angeschlagen, und die Lernbegierigen dazu eingeladen. Stillingen war dieses ein Hauptstück, deswegen fand er sich des Montags Abends mit andern ein, um zu unterschreiben. Er dachte nicht anders, als daß dieses Collegium eben so wie die andern erst nach Endigung desselben bezahlt würde; allein wie erschrack er, als der Doctor ankündigte: daß sich die Herren möchten gefallen lassen, künftigen Donnerstag Abend sechs neue Louisd'or fürs Collegium zu bezahlen! Hier war also eine Ausnahme, und die hatte auch ihre gegründete Ursachen. Wenn nun Stilling den Donnerstag nicht bezahlte, so wurde sein Name ausgestrichen. Dieses war schimpflich, und schwächte den Credit, der doch Stillingen absolut nöthig war. Jetzt war also guter Rath theuer. Herr Troost hatte schon sechs Carlinen vorgeschossen, und noch war kein Anschein da, sie wieder geben zu können.

So bald als Stilling in sein Zimmer kam und dasselbe leer fand, (denn Herr Troost war in ein Collegium gegangen,) so [266] schloß er die Thür hinter sich zu, warf sich in einen Winkel nieder, und rang recht mit Gott um Hülfe und Erbarmen; indessen äußerte sich nichts tröstliches für ihn, bis den Donnerstag Abend. Es war schon fünf Uhr, und um sechs war die Zeit, daß er das Geld haben mußte. Stilling begonnte fast im Glauben zu wanken; der Angstschweiß brach ihm aus, und sein ganzes Angesicht war naß von Thränen. Er fühlte weder Muth noch Glauben mehr, und deswegen sah er von ferne in eine Zukunft, die der Hölle mit allen ihren Qualen ähnlich war. Indem er mit solchen traurigen Gedanken in dem Zimmer auf und abgieng, klopfte jemand an die Thür. Er rief: herein! Es war der Patron des Hauses, der Herr R ... Dieser trat ins Zimmer, und nach den gewöhnlichen Complimenten fieng er an: ich komme, um zu sehen, wie Sie sich befinden, und ob Sie mit meinem Zimmer zufrieden sind. (Herr Troost war wiederum nicht da, und der wußte auch von Stillings jetzigen Kampf gar nichts.) Stilling antwortete: Es macht mir viel Ehre, daß Sie sich nach meinem Befinden zu erkundigen belieben. Ich bin Gott lob! gesund, und Dero Zimmer ist nach unser beyder höchstem Wunsch.

Herr R ... versetzte: das macht mir Freude, besonders da ich sehe, daß Sie so sittsame wackere Leute sind. Aber ich wollte doch vornehmlich nach eins fragen: »Haben Sie Geld mitgebracht, oder bekommen Sie Wechsel? –« Nun wards Stillingen als dem Habacuc, wie ihn der Engel des Herrn beym Schopf nahm, um ihn nach Babel zu führen. Er antwortete: Nein, ich habe kein Geld mitgebracht.

Herr R ... stand, sah ihn starr an und versetzte: »Wie kommen Sie denn doch um Gottes willen zurecht?«

Stilling antwortete: Herr Troost hat mir schon geliehen. »Hören Sie, fuhr Herr R ... fort: der hat sein Geld selber nöthig. Ich will Ihnen Geld vorschießen, so viel Sie brauchen; wenn Sie dann Wechsel bekommen, so geben Sie mir nur selbigen, auf daß Sie keine Unruhe mit dem Verkauf haben mögen. [267] Brauchen Sie auch wohl jetzt etwas Geld?« Stilling konnte sich kaum enthalten, daß er nicht laut rief, doch hielt er an sich und ließ sich nichts merken. Ja! sagte er, ich habe diesen Abend sechs Louisd'or nöthig, und ich war verlegen.

Herr R ... entsetzte sich, und erwiederte: »Ja das glaub ich! Nun seh ich: Gott hat mich zu Ihrer Hülfe hergesandt.« Nun gieng er zur Thür hinaus.

Stilling wars nun wie dem Daniel im Löwengraben, da ihm Habacuc die Speise brachte; er versank ganz von Empfindung, und wurde kaum gewahr, daß Herr R ... wieder hereintrat. Dieser vortrefliche Mann brachte acht Louisd'or, zählte sie ihm dar, und sagte: »Da haben Sie noch etwas übrig, und wenn das all ist, so fordern Sie mehr.«

Stilling durfte seinen herzlichen Dank nicht ganz auslassen, um sich nicht allzusehr bloß zu geben. Nun empfahl sich der edle Mann, und gieng fort.

In dem Kreis, worinnen sich Stilling jetzt befand, hatte er täglich Versuchungen genug, ein Religionszweifler zu werden. Er hörte alle Tage neue Gründe gegen die Bibel, gegen Christenthum, und gegen die Grundsätze der christlichen Religion. Alle seine Beweise die er jemahls gesammlet, und die ihn immer beruhiget hatten, waren nicht hinlänglich mehr, seine strenge Vernunft zu beruhigen; bloß diese Glaubensproben, deren er in seiner Führung so viel erfahren, machten ihn ganz unüberwindlich. Er schloß also:

»Derjenige, der augenscheinlich das Gebet der Menschen erhört, und ihre Schicksale wunderbarer Weise und sichtbarlich lenkt, muß unstreitig wahrer Gott, und seine Lehre Gottes Wort seyn.

Nun hab ich aber von je her Jesum Christum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn gebeten. Er hat mich in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beygestanden, und mir geholfen.

Folglich ist Jesus Christus unstreitig wahrer Gott, seine [268] Lehre ist Gottes Wort, und seine Religion, so wie er sie gestiftet hat, die wahre.«

Dieser Schluß galt ihm zwar bey andern nichts, aber für ihn selbst war er vollkommen hinreichend, ihn vor allem Zweifel zu schützen.

So bald Herr R ... fort war, fiel Stilling zur Erde nieder, dankte Gott mit Thränen, und warf sich aufs neue in seine väterliche Arme; darauf gieng er ins Collegium, und bezahlte so gut als der Reichste.

Indem daß dieses zu Strasburg vorgieng, besuchte einsmahls Herr Liebmann von Schönenthal, Herrn Friedenberg zu Rasenheim, denn sie waren sehr gute Freunde. Liebmann wußte von Stillings Verbindung mit Christinen nichts, doch wußte er wohl, daß Friedenberg sein Herzensfreund war.

Als sie so zusammen sassen, so fiel auch das Gespräch auf ihren Freund zu Strasburg. Liebmann wußte nicht genug zu erzählen: wie Herr Troost in seinen Briefen Stillings Fleiß, Genie, und guten Fortgang im Studiren rühmte. Friedenberg und seine Leute, besonders Christine, fühlten Wonne dabey in ihren Herzen. Liebmann konnte nicht begreifen, woher er Geld bekäme? Friedenberg auch nicht. Ey, fuhr Liebmann fort: ich wollte, daß ein Freund mit mir anstünde, wir wollten ihm einmal einen tüchtigen Wechsel schicken.

Herr Friedenberg merkte diesen Zug der Vorsehung; er konnte sich kaum des Weinens enthalten. Christine aber lief hinauf auf ihr Zimmer, legte sich vor Gott nieder, und betete. Friedenberg versetzte: Ey, so will ich mit anstehen! Liebmann freute sich, und sagte: »Wohlan! so zahlen Sie hundert und fünfzig Reichsthaler, ich will auch so viel herbey schaffen, und den Wechsel an ihn abschicken.« Friedenberg that das gerne.

Vierzehn Tage nach der schweren Glaubensprobe, die Stilling ausgestanden hatte, bekam er ganz unvermuthet einen Brief von Herrn Liebmann, nebst einem Wechsel von dreyhundert [269] Reichsthalern. Er lachte hart, stellte sich gegen das Fenster, sah mit freudigem Blick gen Himmel, und sagte:

»Das war Dir nur möglich, du allmächtiger Vater!«


»Mein ganzes Leben sey Gesang!
Mein Wandel wandelnd Lied der Harfe!«

Nun bezahlte er Herrn Troost, Herrn R ... und was er sonst schuldig war, und behielt noch genug übrig, den ganzen Winter auszukommen. Seine Lebensart zu Strasburg war auffallend, so daß die ganze Universität von ihm zu sagen wußte. Die Philosophie war eigentlich von jeher diejenige Wissenschaft gewesen, wozu sein Geist die mehreste Neigung hatte. Um sich nun noch mehr darinnen zu üben, beschloß er, des Abend von 5 bis 6 Uhr, welche Stunde ihm übrig war, ein öffentliches Collegium in seinem Zimmer darüber zu lesen. Denn weil er eine gute natürliche Gabe der Beredsamkeit hatte, so entschloß er sich um desto lieber dazu, theils um die Philosophie zu wiederhohlen, und sich ferner darinnen zu üben, theils aber auch, um eine Geschicklichkeit zu erlangen, öffentlich zu reden. Da er sich nun nichts dafür bezahlen ließ, und dieses Collegium als eine Repetition angesehen wurde, so giengs ihm durch, ohne daß jemand etwas dagegen zu sagen hatte. Er bekam Zuhörer die Menge, und durch diese Gelegenheit viele Bekannte und Freunde.

Seine eigene Collegia versäumte er nie. Er präparirte auf der Anatomie selbsten mit Lust und Freude, und was er präparirt hatte, das demonstrirte er auch öffentlich, so daß Professoren und Studenten sich sehr über ihn verwunderten. Herr Professor Lobstein, der dieses Fach mit bekanntem größten Ruhm verwaltet, gewann ihn sehr lieb, und wendete allen Fleiß an, um ihm diese Wissenschaft gründlich beyzubringen. Auch besuchte er schon diesen Winter mit Herrn Professor Ehrmann die Kranken im Hospital. Er bemerkte da die Krankheiten, und auf der Anatomie ihre Ursachen. Mit Einem Wort: er wendete in allen Disciplinen der Arzeney-Wissenschaft [270] alles mögliche an, um Gründlichkeit zu erlangen.

Herr Göthe gab ihm in Ansehung der schönen Wissenschaften einen andern Schwung. Er machte ihn mit Ossian, Shakespeare, Fielding und Sterne bekannt; und so gerieth Stilling aus der Natur ohne Umwege wieder in die Natur. Es war auch eine Gesellschaft junger Leute zu Strasburg, die sich die Gesellschaft der schönen Wissenschaften nannte, dazu wurde er eingeladen, und zum Mitglied angenommen; auch hier lernte er die schönsten Bücher, und den jetzigen Zustand der schönen Litteratur in der Welt kennen.

Diesen Winter kam Herr Herder nach Strasburg. Stilling wurde durch Göthe und Troost mit ihm bekannt. Niemahlen hat er in seinem Leben mehr einen Menschen bewundert, als diesen Mann. »Herder hat nur einen Gedanken, und dieser ist eine ganze Welt.« Dieser machte Stilling einen Umriß von allem in einem, ich kanns nicht anders nennen; und wenn jemahls ein Geist einen Stoß bekommen hat zu einer ewigen Bewegung, so bekam ihn Stilling von Herdern, und das darum, weil er mit diesem herrlichen Genie, in Ansehung des Naturells mehr harmonirte als mit Göthe.

Das Frühjahr rückte heran, und Herr Troost rüstete sich wiederum zur Abreise. Stilling fühlte zwar diese Trennung von einem so theuren Manne recht tief, allein er hatte doch nunmehr die schönste Bekanntschaft in Strasburg, und dazu hoffte er über ein Jahr wieder bey ihm zu seyn. Er gab ihm Briefe mit; und da er ihm seine Verlobung entdeckt hatte, so empfahl er ihm mit erster Gelegenheit nach Rasenheim zu gehen, und den Seinigen alle seine Umstände mündlich zu erzählen.

So verreiste dieser ehrliche Mann im April wieder in die Niederlande, nachdem er noch einmahl seine nöthigsten Wissenschaften mit größtem Fleiß wiederhohlt hatte. Stilling aber setzte seine Studien wacker fort.

[271] Zehn Tage vor Pfingsten gieng Stilling in die Comödie, um ein gewisses Stück zu sehen, das man ihm sehr gerühmt hatte. Es war Romeo und Julie, so wie es Weisse dem teutschen Theater bequem gemacht hat. Er kannte das Shakespearische Original, daher wollte er gern sehen, wie dieses Stück von der im Tragischen so berühmten Madam Abt, welche die Hauptrolle spielte, ausgeführt würde.

Auf dem Parterre überfiel ihn ein sehr trauriges Gefühl, ohne zu wissen wo es herkam. Er hatte die schönsten Briefe von den Seinigen, sowohl aus dem Salenschen Lande, als auch von Rasenheim. Er gieng nach Hause, und besann sich wo das wohl herrühren mögte. Doch es verschwand wieder, Stilling bekümmerte sich also nicht weiter darum.

Des Dienstags vor Pfingsten hatte der Sohn eines Professors Hochzeit, deswegen waren keine Collegia. Stilling beschloß also, diesen Tag in seinem Zimmer zu bleiben, und für sich zu arbeiten. Um neun Uhr überfiel ihn ein plötzlicher Schrecken, das Herz klopfte wie ein Hammer, und er wußte nicht wie ihm geschah. Er stund auf, gieng im Zimmer auf und ab, und nun fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb nach Hause zu reisen. Er erschrack über diesen Zufall, und überdachte den Schaden, der ihm sowohl in Ansehung seines Geldes, als auch seines Studierens, dadurch zuwachsen könnte. Er glaubte endlich, daß es eine hypochondrische Grille sey, suchte sich's deswegen mit Gewalt aus dem Sinn zu schlagen, und setzte sich also wieder hin an seine Geschäfte. Allein die Unruhe ward so groß, daß er wieder aufstehen mußte. Nun wurde er recht betrübt; es war etwas in ihm, das ihn mit Gewalt andrunge nach Hause zu reisen.

Stilling wußte hier weder Rath noch Trost. Er stellte sich vor, was man von ihm denken könnte, wenn er so auf Geradewohl funfzig Meilen weit reisen, und vielleicht zu Hause alles im besten Wohlstand antreffen würde. Da aber die Verängstigung und der Trieb gar nicht nachlassen wollte, so gab er sich [272] ans beten, und flehte zu Gott, wenn es ja sein Wille sey, daß er nach Hause reisen müßte, so möchte er ihm doch sichere Gewisheit geben: warum? Indem er so bey sich seufzte, trat der Comtoirbediente des Herrn R ... herein ins Zimmer, und brachte ihm folgenden Brief:


Rasenheim, den 9. May 1771.


Herzlichgeliebter Schwiegersohn!

»Ich zweifle nicht, Sie werden die Briefe von meiner Frauen, Sohn und Herrn Troost wohl erhalten haben. Sie werden nicht erschrecken, wenn ich Ihnen melde: daß Ihre liebe Braut ziemlich krank ist. Diese Krankheit hat seit zwey Tagen wieder so heftig zugesetzt, daß sie jetzt recht – ja recht schwach ist. Mein Herz ist darüber so zerschmolzen, daß mir tausend Thränen die Wangen herunter geflossen sind. Doch ich mag hievon nicht viel schreiben, ich möchte zu viel thun, ich bete und seufze für das liebe Kind recht herzlich, und auch für uns, damit wir uns kindlich seinem heiligen Willen überlassen mögen. O der ewige Erbarmer wolle sich unser aller aus Gnaden annehmen! So hat nun Ihre liebe Braut gerne, daß ich Ihnen dieses schreibe, denn sie ist so schwach, daß sie gar nicht viel sprechen kann – ich muß mit dem Schreiben ein wenig einhalten, der allmächtige Gott wolle mir doch ins Herz legen, was ich schreiben soll! – ich fahre in Gottes Namen fort, und muß Ihnen melden, daß Ihre Braut menschlichem Ansehen nach – halten Sie sich fest, theuerster Sohn! – nicht manchen Tag mehr hier zubringen wird, so wird sie in die ewige Ruhe übergehen; doch ich schreibe, wie wir Menschen es ansehen. Nun mein allerliebster Sohn! ich meyne mein Herz zerschmölze, ich kann Ihnen nicht viel mehr schreiben. Ihre Braut sähe Sie in dieser Welt noch einmahl gern; allein, was soll ich sagen und rathen? ich kann nicht mehr, weil mir die Thränen häufig aufs Papier fallen. Gott! du kennest mich, daß ich gern die Reisekosten bezahlen will! aber rathen darf ich nicht, fragen Sie den rechten Rathgeber, dem ich Sie auch [273] von Herzen empfehle. Ich, Ihre Mutter, Braut, und die Kinder grüssen Sie alle tausendmahl, ich bin in Ewigkeit

Ihr getreuer Vater

Peter Friedenberg.«


Stilling stürzte wie ein Rasender von einer Wand an die andre, er weinte nicht, seufzte nicht, sondern sah aus wie einer der an seiner Seeligkeit zweifelt; er besann sich endlich so viel daß er seinen Schlafrock auswarf, seine Kleider anzog, und mit dem Brief zu Herrn Göthe hintaumelte. So bald er in sein Zimmer hinein trat, rief er mit Seelenzagen: Ich bin verlohren! da lies den Brief! Göthe las, fuhr auf, sah ihn mit nassen Augen an, und sagte: Du armer Stilling! Nun gieng er mit ihm zurück nach seinem Zimmer. Es fand sich noch ein wahrer Freund, dem Stilling sein Unglück klagte, dieser gieng auch mit. Göthe und dieser Freund packten ihm das Nöthige in sein Felleisen; ein anderer suchte Gelegenheit für ihn, wodurch er wegreisen könnte, und diese fand sich, denn es lag ein Schiffer auf der Preusch parat, der den Mittag nach Maynz abfuhr, und Stillingen gern mitnahm. Dieser schrieb indessen ein paar Zeilen nach Hause, und kündigte seine baldige Ankunft an. Nachdem nun Göthe das Felleisen bereit hatte, so lief er und besorgte Proviant für seinen Freund, trug ihm den ins Schiff; Stilling gieng reisefertig mit. Hier letzten sich beyde mit Thränen. Nun fuhr Stilling im Namen Gottes ab, und so bald er nur auf der Reise war, so fühlte er sein Gemüth beruhigt, und es ahndete ihm, daß er seine Christine noch lebendig finden, und daß sie besser werden würde; doch hatte er auch verschiedene Bücher mitgenommen, um zu Hause sein Studieren fortsetzen zu können. Es war vorjetzo die bequemste Zeit für ihn zu reisen; denn die mehresten Collegia hatten aufgehört, und die wichtigsten hatten noch nicht wieder angefangen.

Auf der Reise bis Maynz fiel eben nichts merkwürdiges vor. Er kam des Freytags Abends um sechs Uhr daselbst an, bezahlte [274] seinen Schiffer, nahm sein Felleisen unter den Arm, und lief nach der Rheinbrücke, um Gelegenheit auf Cölln zu finden. Hier hörte er nun, daß vor zwo Stunden ein großer bedeckter Nachen mit vier Personen abgefahren sey, der noch wohl für viere Raum habe, und daß dieser Nachen über Nacht zu Bingen bleiben würde. Alsbald trat ein Schiffer herzu, welcher Stillingen versprach, ihn für vier Gulden in drey Stunden dahin zu schaffen, ungeachtet es sechs Stunden von Maynz nach Bingen sind. Stilling gieng diesen Accord ein. Indem sich nun der Schiffer zur Fahrt bereitete, fand sich ein excellentes knappes Bürschgen mit einem kleinen Felleisen, ungefähr 15 Jahr alt, bey Stilling ein, und fragte: ob es nicht erlaubt wäre, in seiner Gesellschaft mit nach Cölln zu reisen? Stilling wars zufrieden, und da er dem Schiffer noch zween Gulden versprach, so wars der auch zufrieden.

Die beyden Reisende traten also in einen kleinen dreybortigen Nachen. Stillingen gefiel das schon gleich anfangs nicht, er äusserte seine Besorgniß, die beyden Schiffer aber lachten ihn aus. Nun fuhren sie fort. Das Wasser gieng bis auf ein paar Finger breit an Bord, und wenn Stilling der etwas lang war, nur ein wenig wankte, so glaubte er umzuschlagen, und alsdann gieng das Wasser gänzlich an Bord.

Dieses Fuhrwerk war ihm fürchterlich, und er wünschte herzlich auf dem Trockenen zu seyn, indessen ließ er sich doch, um sich die Zeit zu kürzen, mit seinem kleinen Reisegefährten in ein Gespräch ein. Da hörte er nun mit Erstaunen, daß dieser Knabe, der ein Sohn einer reichen Wittwe in H ... war, so wie er da bey ihm saß, ganz allein nach dem Vorgebürge der guten Hofnung reisen wollte, um daselbst seinen Bruder zu besuchen. Stilling verwunderte sich aus der Maaßen, und fragte ihn: ob seine Frau Mutter in seine Reise eingewilliget habe? Keinesweges! antwortete der Knabe: ich bin heimlich fortgegangen, sie ließ mich in Maynz arretiren, aber ich hielt so lange an, bis sie mir erlaubte zu reisen, und mir einen Wechsel[275] von eilf hundert Gulden schickte. Ich hab einen Oheim in Rotterdam, an den bin ich addressirt, der soll mir ferner forthelfen. Stilling beruhigte sich nun wegen des jungen Menschen, denn er zweifelte nicht, daß dieser Oheim geheime Ordre haben würde, ihn mit Gewalt bey sich zu halten.

Während diesen Gesprächen fühlte Stilling Kälte an seinen Füßen; er sahe zu und fand, daß das Wasser in den Nachen drang, und daß der Schiffer der hinter ihm saß, wacker schöpfte. Nun wurd' ihm aber im Ernst bang, und er begehrte ausdrücklich, man sollte ihn an der Binger Seite ans Land setzen, er wollte gern den accordirten Lohn völlig geben, und bis Bingen zu Fuße gehen, allein die Schiffer wollten gar nicht, sondern ruderten nur fort. Stilling gab sich also selbst ans schöpfen, und er hatte nebst seinen Gefährten genug zu thun, den Nachen leer zu halten. Indessen ward's dunkel, sie näherten sich den Gebürgen, es erhub sich ein Wind, und es stieg ein schwarzes Gewitter auf. Der Knabe fieng im Nachen an zu zagen, und Stilling gerieth in eine tiefe Schwermuth, welche noch vergrössert wurde, als er merkte, wie die Schiffer durch eine Zeichensprache zusammen redeten, so daß sie gewiß etwas böses im Sinn hatten.

Nun ward es völlig Nacht, das Gewitter rückte heran, es stürmte und blitzte, so daß der Nachen auf – und abschwankte, und der Untergang alle Augenblick gewisser wurde. Stilling kehrte sich innerlich zu Gott, und bate herzlich, daß er ihn doch erhalten möchte, besonders wenn seine Christine noch länger leben sollte, damit sie nicht durch eine Schreckens-Post von seinem unglücklichen Tod, ihre Seele in Kummer aushauchen möchte. Sollte sie aber zu ihrer Ruhe schon übergegangen seyn, so gab er sich mit Freuden an Gottes Willen über. Indem er so dachte, sah er auf, und nah vor sich einen Mastbaum von einer Jagd, er rief mit starker Stimme um Hülfe, in dem Augenblick war ein Schiffmann mit einer Leuchte, und langen Haken auf dem Verdeck. Seine Schiffleute [276] ruderten mit aller Macht abwärts, allein es gelung ihnen nicht, denn weil sie nahe am Ufer hinfuhren, so trieb sie Wind und Strom auf die Jagd an, und eh sie's vermutheten, war der Haken im Nachen, und der Nachen am Schiff. Stilling und sein Gefährte waren mit ihren Felleisen auf dem Verdeck, ehe sichs die Bösewichter von Schiffern versahen. Der Schiffmann leuchtete mit der Leuchte hin, und fieng an: Ha, ha! seyd ihr die T ... Kerls, die vor einigen Wochen die zween Reisenden da unten vertränkt habt? wart, laßt mich wieder nach Maynz kommen! – Stilling warf ihnen ihren vollen Lohn herab ins Nächelgen, und ließ sie laufen. Wie froh war er aber und wie dankte er Gott! als er dieser Gefahr entronnen war. Nun giengen sie unten in die Cajüte. Die Schiffer waren von Coblenz, und brave Leute. Sie assen alle zusammen, und nun legten sich beyde Reisende ins Gepäcke das daselbst war, und schliefen ruhig, bis wieder der Tag anbrach. Nun befanden sie sich vor Bingen, sie gaben den Schiffern ein gutes Trinkgeld, stiegen aus, und sahen ihren Nachen, mit dem sie nach Cölln fahren wollten, daselbst an einen Pfahl gebunden.


[277] Nicht weit vom Ufer war ein Wirthshaus, Stilling mit seinem Cameraden gieng da hinein, und in die Stube, welche voller Stroh gespreitet war. Dort in der Ecke lag ein vortreflicher ansehnlicher Mann. Eine Strecke von demselben ein Soldat. Wieder einen Schritt weiter ein junger Mensch, der einem versoffenen Kautz von Studenten so ähnlich sahe als ein Ey dem andern. Der erste hatte eine baumwollene Mütze über die Ohren gezogen, und einen Mantelrock auf der Schulter hangen, sein russischer Frack war um die Füße gewickelt. Der andre hatte sein Schnupftuch um den Kopf gebunden und den Soldatenrock über sich her, und schnarchte. Der dritte lag da mit blossem Haupt im Stroh, und ein englischer Frack lag quer über ihn her; er richtete sich auf, sah über queer in die Welt, wie einer, der den vorigen Abend zu viel ins Brandteweinglas geguckt hatte. Hinten im Eck lag etwas, man wußte nicht was es war, bis es sich regte und zwischen Tüchern und Küssen hervorgukte: nun entdeckte Stilling daß es eine Gattung von Weibs-Menschen war.

Stilling betrachtete diese herrliche Gruppe eine Weile mit Freuden, endlich fieng er an: »Meine Herren, ich wünsche Ihnen allerseits einen glückseeligen Morgen, und gute Reise!« – Alle drey richteten sich auf, gähneten, räusperten sich, und was dergleichen erste Morgens-Verrichtungen mehr sind; sie guckten auf, sahen da einen langen lächelnden Mann mit einem muntern Knaben bey sich stehen; sie sprungen alle auf, machten ein Compliment, ein jeder auf seine Weise, und dankten freundlich.

Der vornehmste Herr war ein Mensch von einer hohen und edlen Gesichtsbildung, dieser trat vor Stilling und sagte: »Wie kommen sie so früh her?« Stilling erzählte kurz und gut wie es ihm ergangen war. Mit einer edlen Miene fieng dieser Herr an: »Sie sind doch wohl kein Kaufmann, Sie kommen mir so nicht vor! –« Stilling verwunderte sich über diese Rede, er lächelte und sagte: Sie müssen sich gut auf die Physiognomie [278] verstehn, ich bin auch kein Kaufmann, ich studiere Medicin! Der fremde Herr sah ihn ernst an, und versetzte: »Sie studieren also in der Mitte Ihres Lebens, da müssen wohl ehe Berge zu übersteigen gewesen seyn, oder Sie haben spät gewählt! –« Stilling erwiederte: Beydes hat bey mir Platz. Ich bin ein Sohn der Vorsehung, ohne ihre sonderbare Leitung wär ich entweder ein Schneider oder ein Kohlenbrenner! Stilling sagte dieses mit Nachdruck und Herzensbewegung, wie er immer thut, wenn er auf diese Materie kommt. Der Unbekannte fuhr fort: »Sie erzählen uns wohl unterwegens Ihre Geschichte!« Ja, sagte Stilling von Herzen gern! Nun klopfte ihn jener auf die Schulter, und sagte: »Seyn Sie wer Sie wollen, Sie sind ein Mann nach meinem Herzen.«

Ihr die ihr meinen Bruder Lavater so peitscht, woher kams daß dieser vornehme Fremde Stillingen im ersten Anblick lieb gewann? und welches ist die Sprache, welches sind die Buchstaben, die er so geschickt zu lesen und zu studieren wußte? –

Nun wurde auch der Student munter, er war auch ein wackerer Mann, er grüßte Stillingen, desgleichen auch der Soldat. Stilling fragte: ob die Herren frühstückten? Ja, sagten sie alle: Wir trinken Caffee: Ich auch, setzte Stilling hinzu; er lief hinaus und bestellte. Als er wieder herein kam, fragte er: Kann ich wohl die Ehre haben, mit meinem Gefährten von Dero angenehmen Gesellschaft bis Cölln zu profitiren? Alle sagten einmüthig, ja! es würde ihnen Ehre und Freude machen. Stilling bückte sich. Nun kleideten sie sich alle an, und das Frauenzimmer dahinten legte auch sehr schamhaft ein Stück nach dem andern an. Sie war Haushälterinn bey einem geistlichen Herrn in Cölln, und folglich sehr behutsam in Gesellschaft fremder Mannsleute, wiewohl sie das gar nicht nöthig hatte, denn sie war über alle maaßen häßlich.

Der Caffee kam, Stilling setzte sich vor den Tisch, zog den Krahnnen der Caffeekanne vor sich und fieng an zu zapfen; er war aufgeräumt, und in seiner Seelen vergnügt, warum? weiß [279] ich nicht. Der fremde Herr setzte sich neben ihn, und klopfte ihn wieder auf die Schulter, der Soldat setzte sich auf seine andere Seite und klopfte ihn da auf die Schulter, die beyden jungen Leute aber setzten sich hinter den Tisch, und das Frauenzimmer saß dahinten, und trank aus einem Kännchen allein.

Nach dem Frühstück setzte man sich in den Nachen, und Stilling merkte, daß niemand den fremden Herren kannte. Dieser drunge Stilling, daß er seine Lebensgeschichte erzählen möchte. Sobald sie durch das Bingerloch gefahren waren, fieng er damit an, und erzählte alles ohne das mindeste zu verschweigen, sogar seine Verlöbniß, und das Schicksal seiner jetzigen Reise sagte er aufrichtig. Der Unbekannte ließ zuweilen helle Thränen fallen, der Soldat desgleichen, und beyde wünschten von Herzen zu vernehmen, ob und wie er seine Verlobte angetroffen habe. Alle beyde waren nun vertraut mit ihm, und nun fieng auch der Soldat an:

»Ich bin aus dem Zweybrückschen, und von geringen Eltern gebohren, doch wurde ich fleißig zur Schu le gehalten, um durch Wissenschaft zu ersetzen, was mir an Erbschaft mangelte. Nachdem ich von der Schulen kam, nahm mich ein gewisser Beamter zum Schreiber bey sich. Ich war da einige Jahre: seine Tochter ward mir geneigt, und wir wurden gute Freunde, sogar daß wir uns vest verlobten, und uns verbunden nie zu heurathen, wenn man uns etwas in den Weg legen würde. Meine Herrschaft entdeckte dieses bald, und nun wurde ich fortgejagt. Doch fand ich noch ein Stündchen mit meiner Verlobten allein zu reden, bey welcher Gelegenheit wir unser Band noch fester knüpften. Darauf gieng ich nach Holland und ließ mich zum Soldaten annehmen; ich schrieb sehr oft an meine Geliebte, bekam aber nie Antwort, denn man hatte alle Briefe aufgefangen. Ich wurde darüber so verzweifelt, daß ich oft den Tod suchte, doch hatt' ich noch immer Abscheu vor dem Selbstmord.«

[280] »Bald darauf wurde unser Regiment nach Amerika abgeschickt; die Cannibalen hatten Krieg gegen die Holländer angefangen, ich muste also mit. Wir kamen in Surinam an, und meine Compagnie lag in einem sehr abgelegenen Fort. Ich war noch immer bis auf den Tod betrübt, und wünschte nichts mehr, als daß mich doch endlich einmahl eine Kugel treffen möchte, nur schauderte ich vor der Gefangenschaft, denn wer will wohl gerne aufgefressen werden! Ich hielte des wegen beständig bey unserm Commendanten an: er möchte mir doch einige Mannschaft mitgeben, um gegen die Cannibalen zu streifen; dieses geschah, und da wir immer glücklich waren, so machte er mich zum Sergeanten.«

»Einsmahls commandirte ich funfzig Mann; wir durchstrichen einen Wald, und kamen weit von unserer Vestung ab; wir hatten alle unsre Musqueten mit gespannten Hahnen unter dem Arm. Indem fiel ein Schuß auf mich; die Kugel pfiff mein Ohr vorbey. Nach einer kleinen Pause geschah das wieder. Ich schaute hin, und sah einen Wilden wieder laden. Ich rief ihm zu halten, und richtete das Gewehr auf ihn. Er war nah bey uns: Er stand, und wir fiengen ihn. Dieser Wilde verstund holländisch. Wir zwungen ihn, daß er uns ihr Oberhaupt verrathen, und zu demselben hinführen muste. Es war nicht weit bis dahin. Wir fanden einen Trupp Wilden, die in guter Ruhe lagen. Ich hatte das Glück, ihr Oberhaupt selber zu fangen. Wir trieben ihrer so viel vor uns her, als wir ihrer erhalten konnten, viele aber entwischten.«

»Hierdurch hatte nun der Katzenkrieg ein Ende. Ich wurde Lieutenant zur See, und kam mit meinem Regiment wieder nach Holland. Nun reiste ich mit Urlaub nach Hause, und fand meine Braut noch so wie ich sie verlassen hatte. Da ich nun mit Geld und Ehre versehen war, so fand ich keinen Wiederstand mehr, wir wurden getraut, und nun haben wir schon fünf Kinder zusammen.«

Diese Geschichte ergötzte die Reisegesellschaft. Nun hätten [281] sowohl der Lieutenant als auch Stilling gern des Unbekannten nähere Umstände gewußt, allein er lächelte und sagte: Verschonen Sie mich damit, meine Herren! ich darf nicht.

So verfloß dieser Tag unter den angenehmsten Gesprächen. Gegen Abend bekamen sie Sturm, und fuhren deswegen zu Leitersdorff unterhalb Neuwied ans Land, wo sie über Nacht blieben. Der liederliche Bursche, den sie bey sich hatten, war ein Strasburger, und seinen Eltern entlaufen. Dieser machte mit dem kleinen Passagier bald Freundschaft. Stilling warnte letztern höchlich, besonders seinen Wechsel nicht sehen zu lassen, allein das alles half nicht. Er hörte hernach, daß der Knabe um all sein Geld gekommen, und der Strasburger sich aus dem Staube gemacht hatte.

Des Abends als man schlafen gehen wollte, fanden sich nur drey Betten für fünf Personen. Sie loosten, welche zwey und zwey beysammen schlafen sollten, und da fielen die zween Burschen zusammen, der Lieutenant auf eins allein, und der fremde Herr mit Stillingen bekamen das beste. Hier bemerkte nun Stilling die geheimen Kostbarkeiten seines Schlafgesellen, die etwas sehr hohes anzeigten. Er konnte diese Art zu reisen, mit einem so hohen Stand nicht zusammen reimen, er begonn bald Verdacht zu schöpfen; doch, als er merkte, daß der Fremde vertraut mit Gott war, so schämte er sich seines Verdachts und war ruhig. Sie schliefen unter allerhand vertraulichen Gesprächen ein, und des andern Morgens reisten sie wieder ab, und kamen des Abends gesund und wohl zu Cölln an. Hier wurde der Fremde thätig. Es giengen in aller Geheim vornehme Leute bey ihm ab und zu. Er besorgte sich ein paar Bediente, kaufte Kostbarkeiten ein, und was dergleichen Umstände mehr waren. Sie logierten alle zusammen im Geist. Ungeachtet nun Betten genug daselbst vorräthig waren, so wollte doch der Fremde wieder bey Stilling schlafen. Dieses geschah auch.

Des Morgens eilte Stilling fort. Er und der Fremde umarmten [282] und küßten sich. Letzterer sagte zu ihm: »Ihre Gesellschaft, mein Herr! hat mir außerordentliches Vergnügen gemacht. Fahren Sie nur fort in Ihrem Lauf, so werden Sie's in der Welt weit bringen, ich werde ihrer nie vergessen.« Stilling äußerte noch einmal sein Verlangen, zu wissen, mit wem er gereist habe. Der Fremde lächelte, und sagte: »Lesen Sie die Zeitung fleißig wenn Sie nach Hause kommen, und wenn Sie den Namen *** finden werden, so denken Sie an mich.«

Stilling reiste nun zu Fuß fort, er hatte noch acht Stunden bis Rasenheim. Unterwegens besann er sich auf den Namen des Fremden, er war ihm bekannt, und doch wußte er nicht wo er mit ihm hin sollte. Nach acht Tagen las er in der Lippstädtischen Zeitung folgenden Artikel:


Cölln, den 19ten May.


»Der Herr von *** Ambassadeur des **** Hofes zu **** ist in größter Geheim heute hierdurch nach Holland gereist, um wichtige Angelegenheiten zu besorgen.«

Des zweyten Pfingsttags also am Nachmittag kam Stilling zu Rasenheim an. Er wurde mit tausend Freudenthränen empfangen. Christine aber war sich ihrer selbst nicht bewußt, denn sie redete irre, daher als Stilling bey sie kam, stieß sie ihn weg, denn sie kannte ihn nicht. Er gieng ein wenig auf ein ander Zimmer, indessen erhohlte sie sich, und man brachte ihr bey, daß ihr Bräutigam angekommen sey. Nun konnte sie sich nicht mehr halten. Man rief ihn; er kam. Hier gieng nun die zärtlichste Bewillkommnung vor, die man sich nur denken kann, aber sie kam Christinen theuer zu stehen; sie gerieth in die heftigsten Convulsionen, so daß Stilling in äußerster Traurigkeit drey Tage und drey Nächte an ihrem Bette, ihren letzten Stoß abwartete. Doch gegen alles Vermuthen erhohlte sie sich wieder, und binnen vierzehn Tagen war sie ziemlich besser, so daß sie zuweilen am Tage etwas aufstund.

Nun wurde diese Verlöbniß überall bekannt. Die besten Freunde riethen Herrn Friedenberg, beyde copuliren zu lassen. [283] Dieses wurde bewilliget, und Stilling nach vorhergegangenen gewöhnlichen Formalitäten 1771 den 17ten Junius am Bette mit seiner Christinen zum Ehestande eingeseegnet.

In Schönenthal wohnte ein vortreflicher Arzt, ein Mann von grosser Gelehrsamkeit und Wirksamkeit noch immer mehr und mehr die Natur zu studieren, dabey war er ohne Neid und hatte das beste Herz von der Welt. Dieser theure Mann hatte Stillings Geschichte zum Theil von seinem Freunde dem Herrn Troost gehört. Stilling hatte ihn auch bey dieser Gelegenheit verschiedenemahl besucht, und sich seine Freundschaft und Unterricht ausgebeten. Dieser hieß Dinkler, und bediente eine weitläuftige Praxis.

Herr Doctor Dinkler also und Herr Troost wohnten Stillings Copulation bey; und bey dieser Gelegenheit schlugen sie ihm beyde vor, daß er sich in Schönenthal niederlassen möchte, besonders weil eben just ein Arzt daselbst gestorben war. Stilling wartete abermahl auf einen nähern Wink von Gott, daher sagte er; er wolle sich darauf bedenken. Allein die beyden Freunde, Herr Doctor Dinkler und Herr Troost, gaben sich alle Mühe, eine Wohnung in Schönenthal für ihn auszuspähen, und diese fanden sie auch, noch ehe Stilling wieder verreiste; auch versprache der Herr Doctor, seine Christine während seiner Abwesenheit öfters zu besuchen, und für ihre Gesundheit zu sorgen.

Herr Friedenberg fand nun auch eine Quelle für ihn an Geld zu kommen, und nachdem nun alles angeordnet war, so rüstete sich Stilling wieder zur Abreise nach Strasburg. Des Abends vor diesem traurigen Tage gieng er auf die Kammer seiner Gattinn. Er fand sie da mit gefaltenen Händen auf den Knien liegen. Er trat bey sie, und sahe sie an: Sie war aber starr wie ein Stück Holz. Er fühlte an ihren Puls, der gieng ganz ordentlich. Er hub sie auf, redete ihr zu, und brachte sie endlich wieder zurechte. Die ganze Nacht vergieng unter beständigen Trauren und Kämpfen.

[284] Des andern Morgens blieb Christine auf ihrem Angesicht im Bette liegen. Sie faßte ihren Mann um den Hals, weinte und schluchzte beständig. Er riß sich endlich mit Gewalt von ihr. Seine beyden Schwäger begleiteten ihn bis Cöln. Noch des andern Tages ehe er sich in den Postwagen setzte, kam ein Bote von Rasenheim und brachte die Nachricht, daß sich Christine nun beruhigt habe.

Dieses machte Stillingen Muth, er fühlte nun eine große Erleichterung, und er zweifelte nicht, er würde seine getreue liebe Christine gesund wieder finden. Er empfahl sie und sich in die Vaterhände Gottes, nahm Abschied von seinen Brüdern, und fuhr fort.

Binnen sieben Tagen kam er, ohne Gefahr, oder sonst etwas merkwürdiges erfahren zu haben, wieder gesund und wohlbehalten in Strasburg an. Sein erster Gang war zu Göthe. Der Edle sprang hoch in die Höhe als er ihn sahe, fiel ihm um den Hals und küßte ihn: »Bist Du wieder da, guter Stilling! rief er, und was macht Dein Mädchen?« Stilling antwortete: Sie ist mein Mädchen nicht mehr, sie ist nun meine Frau. »Das hast Du gut gemacht«, erwiederte jener; »Du bist ein excellenter Junge.« Diesen halben Tag verbrachten sie vollends in herzlichen Gesprächen und Erzählungen.

Der bekannte sanfte Lenz war auch nun daselbst angekommen. Seine artige Schriften haben ihn berühmt gemacht. Göthe, Lenz, Leose und Stilling machten jetzt so einen Zirkel aus, in dem es jedem wohl ward, der nur empfinden kann was schön und gut ist. Stillings Enthusiasmus für die Religion hinderte ihn nicht, auch solche Männer herzlich zu lieben, die freyer dachten als er, wenn sie nur keine Spötter waren.

Nun setzte er seine medicinische Studien mit allem Eifer fort, und ließ nichts aus, was nur zum Wesen dieser Wissenschaft gehört. Den folgenden Herbst disputirte Herr Göthe öffentlich, und reiste nach Hause. Er und Stilling machten [285] einen ewigen Bund der Freundschaft zusammen. Leose reiste auch ab nach Versailles, Lenz aber blieb da.

Den folgenden Winter las Stilling, mit Erlaubniß des Herrn Professor Spielmanns, ein Collegium über die Chymie, präparirte auf der Anatomie vollends durch, was ihm noch fehlte, repetirte noch ein und anders, und darauf schrieb er seine lateinische Probeschrift selbsten, ohne jemandes Beystand. Diese dedicirte er auf specielle höchste Erlaubniß, Ihro Churfürstl Durchl. zu Pfalz, seinem gnädigsten Landesfürsten, ließ sich examiniren, und rüstete sich zur Abreise.

Hier war nun abermahl viel Geld nöthig, er schrieb das nach Hause. Herr Friedenberg erschrack darüber. Des Mittags über Tisch wollte er seine Kinder einmahl probieren. Sie sassen da alle groß und klein. Der Vater fieng an: Kinder: euer Schwager hat noch so viel Geld nöthig, was dünkt euch, wolltet ihr ihm das wohl schicken, wenn ihrs hättet? Sie antworteten alle einhellig: »Ja! und wenn wir auch unsre Kleider ausziehen und versetzen sollten!« Das rührte die Eltern bis zu den Thränen, und Stilling schwur ihnen ewige Liebe und Treue, sobald ers hörte. Mit Einem Wort, es kam ein Wechsel nach Strasburg der hinlänglich war.

Nun disputirte Stilling mit Ruhm und Ehre. Herr Spielmann war Decanus. Als ihm der nach geendigter Disputation die Licenz gab, so brach er in Lobsprüche aus und sagte: daß er lange niemand die Licenz freudiger gegeben habe, als gegenwärtigem Candidaten, denn er habe mehr in so kurzer Zeit gethan, als viele andere in fünf bis sechs Jahren u.s.w.

Stilling stund da auf dem Catheder; die Thränen flossen ihm häufig die Wangen herunter. Nun war seine Seele lauter Dank gegen den, der ihn aus dem Staube hervorgezogen, und zu einem Beruf geholfen hatte, worinnen er, seinem Trieb gemäß, Gott zu Ehren und dem Nächsten zum Nutzen leben und sterben konnte.

[286] Den 24sten März 1772 nahm er von allen Freunden zu Strasburg Abschied, und reiste fort. Zu Mannheim überreichte er seinem Durchlauchtigsten Chur- und Landesfürsten seine Probeschrift, desgleichen auch allen denen Herren Ministern. Er wurde bey dieser Gelegenheit Correspondent der Churpfälzischen Gesellschaft der Wissenschaften, und darauf reiste er bis nach Cölln, wo ihn Herr Friedenberg mit tausend Freuden empfieng; unterwegens begegneten ihn auch seine Schwäger zu Pferde und hohlten ihn ab. Den 5ten April kam er, in Gesellschaft gemeldeter Freunde, zu Rasenheim an. Seine Christine war oben auf ihrem Zimmer. Sie lag mit dem Angesicht auf dem Tisch und weinte mit lauter Stimme. Stilling drückte sie an seine Brust, herzte und küßte sie. Er fragte, warum sie jetzt weine? »Ach!« antwortete sie: »ich weine, daß ich nicht Kraft genug habe, Gott für alle seine Güte zu danken.« Du hast recht, mein Engel! versetzte Stilling; aber unser ganzes Leben in Zeit und Ewigkeit soll lauter Dank seyn. Freue Dich nun, daß uns der Herr bis dahin geholfen hat!

Den ersten May zog er mit seiner Gattin nach Schönenthal in sein bestimmtes Haus, und fieng seinen Beruf an. Herr Doctor Dinkler und Herr Troost sind daselbst die treuen Gefährten seines Gangs und Wandels.

Bey der ersten Doctorpromotion zu Strasburg empfieng er durch einen Notarium den Doctorgrad, und dieses war nun auch der Schluß seines akademischen Laufs. Seine Familie im Salenschen Land hörte das alles mit entzückender Freude. Wilhelm Stilling aber schrieb im ersten Brief an ihm nach Schönenthal:

Ich hab gnug daß mein Sohn Joseph noch lebt, ich muß hin, und ihn sehen ehe ich sterbe.


Dir nah ich mich – nah' mich dem Throne;
Dem Thron der höchsten Majestät!
Und mische zu dem Jubeltone
Des Seraphs, auch mein Dankgebet.
[287]
Bin ich schon Staub – ja Staub der Erden,
Fühl ich gleich Sünd und Tod in mir,
So soll ich doch ein Seraph werden.
Mein Jesus Christus starb dafür.
Wort ist nicht Dank. – Nein! edle Thaten,
Wie Christus mir das Beyspiel giebt,
Vermischt mit Kreuz, mit Thränensaaten,
Sind Weyrauch den die Gottheit liebt.
Dies sey mein Dank, wozu mein Wille
Sey jede Stunde Dir geweiht!
Gib, daß ich diesen Wunsch erfülle
Bis an das Thor der Ewigkeit!
[288]

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TextGrid Repository (2012). Jung-Stilling, Johann Heinrich. Autobiographische Schriften. Henrich Stillings Wanderschaft. Henrich Stillings Wanderschaft. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8D84-A