Hans Kaltneker
Das Bergwerk
Ein Drama in drei Akten

Personen

[159] Personen.

    • Ingenieur.

    • Regierungsvertreter.

    • Oberaufseher.

    • Schachtaufseher.

    • Reporter.

    • Reviergendarmen.

    • Erster Bergmann, später Michael,
    • Zweiter Bergmann,
    • Dritter Bergmann, sein Sohn, später Martin,
    • Vierter Bergmann,
    • Fünfter Bergmann, im 1. Akt verschüttet.

    • Heß,
    • Timm,
    • Ruschnow,
    • Hennig,
    • Tietze, Bergleute, Vertrauensmänner verschiedener Zechen.

    • Ledovsky, Metallarbeiter,
    • Vogler, Maschinist,
    • Holsen, Heizer, Vertrauensmänner aus den Betrieben.

    • Fabius, Sekretär,
    • Kaffka,
    • Lersner,
    • Anna, von den Gewerkschaften.

    • Sinner.

    • Schmidt, Mitglied des Zentralrates.

    • Wanda, Michaels Weib.

    • Männer, Weiber, Kinder.

1. Akt

Erster Akt

Vor der Schachtöffnung. Ein rauchender Krater. Trümmer von Gebälk und Gemäuer. Um den Eingang ein Stacheldrahtzaun. Der Hintergrund eine schwarze Rauchwand. Schwaden fetten, rußigen Bauches schwer über allem. Eiserne Wintersonne sticht gelb durch.
Hinter einem grauen Schleier zu spielen.
Männer, Weiber, Kinder vor dem Drahtzaun. Rücken zum Zuseher. Erstarrte Masse, manchmal zu plötzlicher Bewegung auseinandergerissen. Kauernde, Kniende, Stehende.
Hinter der Absperrung der Ingenieur, ein Regierungsvertreter, Reporter, Aufseher und Reviergendarmen mit aufgepflanzten Bajonetten.
Schweigen. Knattern und Sausen des Ventilationsfächers.

EIN WEIB
in die Knie brechend, Fäuste schlagen den Boden.
Erde!

Stets gedämpfter Ton, wo nicht Anmerkung oder Rufzeichen anderes bedeutet.
MANN.
Brand. Sprünge. Hitze zerreißt den Boden.
INGENIEUR.
Nichts brennt!
STIMMEN
vereinzelt und zusammen.
Brennt!
Ihr wißt es!
Hattet Angst vor dem Fächer.
Angst vor dem Wind. Angst vor dem Atem.
[161]
Brand ersticken mit Menschenseelen!
Kohle sparen! Kohle retten!
Alle erstickt!
INGENIEUR
brüllt.
Der Fächer arbeitet!
STIMMEN.
Seit zwei Stunden. Hundertzwanzig Stunden sind sie unten.
INGENIEUR.

Habt ihr den Fächer gesehen oder nicht? Dreißig Schritte weit hat ihn der Druck geworfen. Keine Schraube ganz. Stahlbrei.

EINER
ganz ruhig.

Man hat sich nicht beeilt mit Ersatz. Der Fächer schafft Atem. Aber der Wind, der ihre Brust speist, kann Kohle fressen. Man wartet.

STIMMEN.
Man hat die Ankunft verzögert.
Die Montierung behindert.
Daß der Brand nicht mehr Kohle frißt, kommt Luftzug dazu.
Und unsre ersticken!
EINE IRRSINNIGE WEIBERSTIMME.
Wieviel Kopf Bergmann darf der Meter Kohle kosten?!
AUFSCHREI.
Wieviel Fleisch?! Wieviel Blut?!
[162]
INGENIEUR
überschreit sie.

Verrückt alle!! Wir haben geschuftet wie Verdämmte. Ihr wißt es. Keine Minute ist verloren. Unmöglich, ihn früher in Betrieb zu setzen. Wer hat mich schlafen gesehen, seit – –

MÄNNERSTIMME.
Nein. Du hast aufgepaßt. Nichts überstürzen. Langsam.
EINE ANDERE.
Was zahlt die A.G. pro Stunde Verspätung?
INGENIEUR
will aus der Verdrahtung stürzen, man hält ihn.
Wer sagt das?!
AUFSCHREI ALLER.
Wir!!
VEREINZELTE.
Vorgestern war der Fächer da.
Was ist bis heute geschehen?
Wo sind unsre?!
Ersticken. Verhungern. Saufen ihren Harn!
Absichtlich habt ihr gewartet Daß keiner kommt, sagen, was unten war.
Wo sind die Notausgänge?
Wie ist's mit der Bestreuung?
Kinder waren im Schacht.
Mörder!!
INGENIEUR
wendet sich ab.
Wahnsinnige. Zum Regierungsvertreter. Sie hören die Anklagen.
[163]
REGIERUNGSVERTRETER.
Hysterie.
INGENIEUR.
Sie werden untersuchen.
REGIERUNGSVERTRETER.
Wir kennen das.
INGENIEUR.
Ich verlange Untersuchung.
REGIERUNGSVERTRETER.
Sie haben alles getan. Wir sind Zeugen.
INGENIEUR.

Die Leute behaupten, ich habe absichtlich die Aufstellung des neuen Fächers verzögert. Ist unten Brand ausgebrochen, kann ihn der Luftzug verbreiten. Aus diesem Motiv soll ich die Schachtventilierung verhindern, die Eingeschlossenen ersticken lassen.

REGIERUNGSVERTRETER.
Wahnsinn. Agitationsstoff. Wieviel sind unten?
INGENIEUR
auf die Reportergruppe deutend.
Offiziell zweiundfünfzig.
REGIERUNGSVERTRETER.
Evident?
INGENIEUR.
Mehr.
SCHACHTAUFSEHER.
Nach dem Zensus zweihundertelf.

Schweigen.
[164]
REGIERUNGSVERTRETER.
Ist Militär zu requirieren?
INGENIEUR.
Ich glaube, noch nicht.
SCHACHTAUFSEHER
bedenklich.
Wenn der erste Korb nicht in zehn Minuten abgehen kann, bürge ich nicht. Sie sehen.
INGENIEUR.
Er wird. Wendet sich zum Schachteingang.
EIN.
Mann Der Rauch wird lichter.
ANDERER.
Ja, dünner. Luft.
WEIB
langgezogen.
Aber – worauf – warten –?!
AUSBRUCH.
Hinunter!
EIN MANN
stark.
Nicht mehr warten! Unsre Brüder!
STIMMEN
zusammen.
Die Lebendigen!
Die Toten!
Unsre Toten!
ALLE.
Hinunter!
[165]
INGENIEUR
in den Schacht geneigt.
Geht noch nicht.
EIN MANN
brüllt.
Freiwillige!

Die Männer brechen in einem Ruck an dem Stacheldraht vor.
MÄNNER.
Alle!!
INGENIEUR.
Unmöglich. Verantwortung auf mir. Noch zehn Minuten.
AUFHEULEN DER MENGE.
Totschlagen!! Sofort! Hinunter!

Steine fliegen.
AUFSEHER.
Es wird besser sein.
INGENIEUR.
Gut. Vor. Zehn Mann.
MÄNNER.
Mich! Ich! Bruder unten! Der Sohn mir! Menschen unten! Wir alle!
INGENIEUR.
Zehn Mann! Ordnung. Einlassen.

Eine Offnung im Zaun wird freigegeben. Zwischen Gewehren treten zehn Mann ein.
INGENIEUR.
Schön. Helme.

Atemloses Schweigen. Die Leute setzen die Helme auf.

Lichter. Der Korb bereit?
[166]
STIMMEN
von hinten.
Alles in Ordnung.
INGENIEUR
nimmt einen Helm.
Ich bin dabei.
OBERAUFSEHER.
Gefahr, Herr Ingenieur.
REGIERUNGSVERTRETER.
Ihr Ernst?
INGENIEUR.
Ich muß. Sehen Sie die Leute an. Er setzt den Helm auf.

Vereinzeltes »Hurra« und »Bravo« in der Menge, dann Atemlosigkeit.
REPORTER
schreibt.
Mit vorbildlichem Heroismus – –

Die Mannschaft hat den Förderkorb bestiegen. Der Ingenieur gibt ein Zeichen. Der Korb wird von einer Winde herabgelassen. Außerste Stille.
WEIB
auf den Knien.
O Jesus – dir leb' ich – sterb' ich – – dein – tot – lebendig – –.
MANN
gedämpft.
Es war auch vor sechs Jahren so. Sie kommen zu spät.
JUNGES WEIB.
Nicht zu spät! Was tu ich denn? In meinem Blut das Kind – –.
[167]
EIN ANDERES
ruhig.
Wozu gebären?
AUFSEHER
an der Öffnung.
Der Korb ist unten.

Ein einziges Erschauern weht durch die Menge.
DAS KNIENDE WEIB.

Einmal, Gott, einmal –! Immer unerhört – macht nichts, Gott, macht nichts! Hast gespart, gesammelt – bis heute. Gib! Segen, einmal Segen!

EIN ALTER
leise.
Es kann doch keiner mehr leben.
ANDERER.
Warum nicht? Vor sechs Jahren waren es noch neun – am elften Tag.
WEIBER.
Sie müssen leben! Wir haben gebetet, gewacht, geschrien. Gott ist gut!
EIN MÄDCHEN
hysterisch.
Engel sind in den Berg gestiegen! Ich habe in der Nacht Engel hinuntersteigen gesehn. Blaugeflammte!
WEIBER
durcheinander.

Hört ihr? Engel! Engel!! Mit Wein. Mit Brot. Wind von ihren Schwingen. Sie leben! Ungeheure Bewegung. Umarmungen.

[168]
REGIERUNGSVERTRETER
besorgt.
Die Leute sind am Irrsinn. Wir müssen Militär haben. Jetzt eine Enttäuschung und sie zerreißen uns.
REPORTER.
Sie meinen wirklich? Ich muß auf's Telegraphenamt.
OBERAUFSEHER.

Bei den ersten zwei Leichen tumultuieren sie. Dann werden sie von selbst ruhig. Stumpfen ab. Das ist immer so.

DIE MENGE
äußerste Ungeduld.
Was ist denn?! Was ist?! Signal?!

Glockenzeichen von unten.
AUFSEHER
am Schacht.
Herauf den Korb. Die Winde arbeitet.

Bewegung. Erstarren.
DIE MENGE.
Herauf!! Zerreißender Aufschrei. Gott!! Vollkommene, furchtbarste Lautlosigkeit.

Der Korb erscheint. Der Ingenieur taumelt heraus, reißt den Helm herab.
INGENIEUR
ringt nach Worten.
Brandender Schrei um ihn. Tote –!
STIMMEN.
Was? Er hat gesprochen?! Was sagt er?!
[169]
EINE GANZ HOHE, SCHRILLE STIMME.
Er sagt, daß alle tot sind!

Einen Augenblick vollkommenes Schweigen. Dann wirft sich die ganze Menge gegen den Stacheldraht.
DIE MENGE.
Nieder!!!
REGIERUNGSVERTRETER
zum Ingenieur.
Fassung! Wir sind verloren! Reden Sie!
INGENIEUR
zwingt sich eisern zusammen.

Leute!!!Man hört auf ihn. Stollen A verschüttet. Ist vielleicht gut. Schützt die Leute drinnen vor dem Gas. Sie leben wahrscheinlich noch. Jetzt ist nichts zu machen. In einer Stunde werden wir einfahren und uns durchhacken. Wir bekommen sie.

Leute, Ihr müßt Ruhe halten, sonst können wir nicht arbeiten. Am Eingang haben wir Tote gefunden.


Zitternde Bewegung in der Menge. Rufe: »Wie viel?«.
INGENIEUR.
Ich habe elf gezählt.
DIE MENGE.
Lüge!! Schuft!!
INGENIEUR
wild zu der anderen Mannschaft, die inzwischen langsam und erschöpft aus dem Korb klettert.
Redet ihr!
EIN ÄLTERER BERGMANN.
Wir haben elf gezählt. Die Stichflamme hat sie im Rücken gepackt.
[170]
RUFE.
Habt ihr erkannt? – Wen habt ihr erkannt? – Wen?!

Namen schwirren durch die Luft.
DER BERGMANN.
Niemand. Einer lag in einer gasfreien Nische. Atmete noch.

Neue ungeheure Bewegung.
RUFE.
Wo ist er?!
DER BERGMANN.
Bringen ihn.

Zwei Bergleute haben den Körper aus dem Korb gehoben und schleppen ihn mühsam nach vorn. Stille. Mies starrt auf den Körper, der in der Mitte
des Drahtverhaues auf einen Mauerrest gelegt wird.
INGENIEUR.
Er ist schon tot. Unbegreiflich, daß er bis jetzt –.
REGIERUNGSVERTRETER.
Schrecklich.
REPORTER
schreibt.
Völlig unkenntliches Aussehen – –.
EIN WEIB
wirft sich mit einem Satz gegen das Verhau, bleibt mit Händen, Haar und Kleidern an den Stacheln hängen.
Mann!!

Aus einem verbrannten Antlitz öffnen sich zwei Augen. Ein Stöhnen fliegt durch die unsägliche Stille.
DER STERBENDE.
Schmerz. Zuckt und stirbt.
[171]
DAS WEIB
am Drahtzaun hängend.
Meine Hände! Haar! Stacheln! Sie haben Stacheln zwischen uns gespannt! Du! Oh –!
ENTSETZTE RUFE.
Herunterreißen! Sie zerfetzt sich. Blutet. Man hat die Ohnmächtige vom Zaun gerissen.
EIN MANN
furchtbar.
Herr Ingenieur, – die Frau zu ihrem Mann lassen –!
INGENIEUR
eisern.
Er ist tot. Niemand darf das Verhau betreten. Wir müssen arbeiten. Es sind Menschen unten.
AUFSCHREI DER MENGE.
Leichen! Leichen! Mörder!!
INGENIEUR
winkt.

Plache. Forttragen. Es geschieht.

Nehmt Vernunft an! Die Weiber fort. Formt euch zu Abteilungen. Wir haben Arbeit. Die Leichen werden ausgestellt, ihr wißt es. Hier muß Ruhe sein. Sinne Energie ist so furchtbar, daß die Menge verstummt. In einer halben Stunde können wir vielleicht schon beginnen. Es wird alles getan.Wendet sich wieder zum Schachteingang, erteilt Befehle.

DIE MENGE
wieder in dumpfer Erwartung.
Warten.
Warten.
Sie haben den Fächer zu spät aufgestellt.
[172]
Absichtlich.
Daß der Brand erstickt.
Sie sind Mörder.
Alle Mörder.
Warten.
EIN WEIB
schlägt stumpf den Boden.
Erde!

Verwandlung.
Untertage. Ein halbverschütteter Seitenstollen. Dunkelheit. Verglimmender Docht einer auf den Boden gestellten Lampe wirft schwachen Kreis von Helle. Links der erste und vierte Bergmann in tiefem Dunkel, in der Mitte der zweite und fünfte ganz schwach beleuchtet, am Schuttkegel rechts der dritte wieder im Finstern. Der zweite (Vater des dritten) liegt im Sterben. Langes völliges Schweigen.
DER VIERTE.
Mein Mund ist voll Staub. Als wäre man schon eingebuddelt. Zäher, schwarzer Staubbrei. Pfui!
DER ERSTE.
Ich weiß nicht. Ich schmecke Blühendes auf meiner Zunge.
DER VIERTE
faßt ihn an.
Du! Nicht phantasieren. Du nicht!
DER ERSTE.

Nein. Gar nicht. Kohle. Staub. Stollen A römisch III. Hundertzwanzig Stunden. Ich weiß alles. Sterbenmüssen. Aber auf meiner Zunge ist ein Geschmack von Klee. Rot und klebrig süß. Kennst du Kleeblumen?

[173]
DER VIERTE
nachdenklich.
Die kleinen roten meinst du? Ja. Ich denke.
DER ERSTE.

Meistens rot. Aber es gibt auch weißen. Und andere Farben. Es gibt junge Wiesen – –. Überwältigt. Blühende.

DER VIERTE.

Ja, ja. Das ist auch gleichgültig. Du mußt dich zusammennehmen. Du mußt denken. Du bist unser Kopf. Seit Jahren hast du für uns gedacht.

DER ERSTE.
Haben wir nicht alles gedacht?
DER VIERTE.
Ja. Ich meine wohl.
DER ERSTE.

Wir haben so gedacht: Ist die Ventilierung in Ordnung geblieben, sind sie in vierundzwanzig Stunden da. Kamen aber nicht. Also ist sie hin. Bis ein Fächer da ist, vergehen noch vierundzwanzig Stunden. Dann aufmontieren: zwölf, vierzehn Stunden. Ist der A-Stollen frei, kann es alles in allem noch zwölf Stunden dauern, macht zweiundsiebzig. Kamen aber nicht. Folglich ist er verschüttet. Wie weit ist er verschüttet? Das können wir nicht berechnen. Das kommt darauf an. Jetzt sind es hundertzwanzig Stunden. Wir werden demnach sterben.

DER VIERTE
sachlich.
Ja. Das stimmt.
[174]
DER ERSTE.

Wir haben am zweiten Tag, als wir noch bei Kräften waren, versucht, uns herauszuhauen. Es ging nicht. Heute können wir nicht mehr stehen. Es würde noch weniger gehen.

DER VIERTE.
Ja, das ist so. – Was ist also noch zu tun?
DER ERSTE.
Ich denke, nichts. Sterben. Aber vorher – – Kleefelder. Inbrünstig. Auf Wiesen spielen – –.
DER ZWEITE
schwach den Kopf hebend.
Sohn.
DER FÜNFTE
zum Dritten, der unbeweglich am verschütteten Ausgang kauert.
Er ruft dich.
DER DRITTE.
Was will er?
DER FÜNFTE.
Er macht's nicht lang.
DER DRITTE.
Er ist zäh. Ich muß Kraft sparen. Ich will hinauf.
DER ZWEITE.
Kommt er nicht?
DER DRITTE.
Ich bin müd.
DER ZWEITE.
Hast recht. Wozu. Kann's auch allein.
[175]
DER ERSTE
zum Vierten.
Weißt du, was das ist um uns?
DER VIERTE.
Ich denke. Stein. Ich weiß wenig anderes. Steinkohle.
DER ERSTE.

Nein, nicht Stein. Nicht wie anderer, – keimlose entgötterte Erde. Das ist Wärme. Die Wärme der Erde. Das sind Herde, gute, gnädige, speisespendende, – Friede von Zimmern, beruhigtes Atmen Rastender, – der Atem steiler Schlote und die Kraft von Millionen Rädern, – der Herzschlag der Erde, – da, da hör' ihn!

DER VIERTE.
Kohle.
DER ERSTE.

Daß ich das nie dachte! Wir hämmerten und hämmerten – unsre Hacken bissen in den Berg – Lärm war – und ich sah nur den Tod. Unser Altern, unser Sterben. Und nun, da alles still wird, weiß ich, daß wir am Herzen der Erde sind, höre ihren Puls donnern, tauche Hände in ihr strömendes Blut und schöpfe Leben –!

DER VIERTE.

Ich verstehe nicht. Du hast uns gelehrt, daß die Kohle unser Fluch sei. Die Maschinen sind unsre Herren, sie haben uns entmannt, aus Werkenden zu Knechten gemacht – und wir sind die schlimmsten Sklaven, denn wir müssen unsre Herren füttern [176] mit unreiner Speise, mit Kohle – –. Hast du uns das nicht gelehrt?

DER ERSTE.

Ja. Aber ich hatte so vieles vergessen. Ich habe vergessen, daß alles Lebendige gut ist, weil es lebt.

DER VIERTE
kopfschüttelnd.
Das kann nicht sein. Dann müßten auch die Herren gut sein – oder wir selbst, denn wir leben doch.
DER ERSTE
leise.
Vielleicht sind die Herren gut. Vielleicht – weißt du es? – sind wir selbst gut.
DER VIERTE.

Von den Herren weiß ich nichts. Du hast uns gesagt, daß sie uns die Haut abziehen. Aber es kann ja wirklich sein, daß sie nicht wissen, wie es tut, wenn einem die Haut abgezogen wird. Das kann ja sein. Ich war in der Stadt, habe ihre seidenen Mädchen gesehen. Die wußten es bestimmt nicht. Vielleicht sind sie gut. Aber wir – wir sind doch nicht gut. Wir haben doch keine Zeit dazu.

DER ERSTE.

Ja, das ist schlimm, daß wir keine Zeit haben. Aber ich habe jetzt fünf Tage Zeit gehabt. Ich habe so vieles gedacht. Oder nein, ich denke nicht. Ich liege da und aus der Erde strömt es in mich. In den Ohren saust es. Ich glaube, ich werde versuchen, jeden Tag zehn Minuten gut zu sein, dann eine halbe Stunde, dann mehr – – es muß doch gehen.

[177]
DER VIERTE.

Ja, das ginge vielleicht. Nur daß man müde ist. Den ganzen Tag. – Übrigens du glaubst also, daß wir hinaufkommen werden?

DER ERSTE.
Ich weiß nicht – – Oben – es wäre noch so vieles – –.
DER VIERTE.
Wann soll deine niederkommen?
DER ERSTE
sieht ihn an.
In zwei Wochen wird es wohl sein. Aber – ich dachte nicht daran –.
DER ZWEITE
röchelnd.
Wasser.
DER FÜNFTE.
Der Urin ist alle.
DER ZWEITE
wild auffluchend.

Tot sein! Fünfzig Jahre gelebt – unter der Erde – krummen Rückens – Affenhände – nackt – Kinder gezeugt, wenig geliebt, aber doch zu essen gegeben – gegraben nach Brot – und endlich liegen, nackt, schwarz, geschunden, blutig – und kein Urin ist da – Fluch!

DER FÜNFTE.
Ach, stirb. Sag ein Gebet.
DER ZWEITE
verfallend.
Das tägliche Brot.
[178]
DER ERSTE
grübelnd.

Das hier unten – um uns – du weißt doch, daß das Wälder waren. Stämme, saftdurchbrauste, Wipfel, lichtdurchspielt. Kannten das Kreisen von Sonnen, Tierschrei in der Nacht. Waren Welt. Ihr Atem – wohin?

DER VIERTE.
Erstickt, verkohlt. Wie wir.
DER ERSTE
triumphierend.

Wie wir. Erstickt, verkohlt Aber nicht tot! Lebendig. Wärme. Weltatem, Lichtschauer, tausendjähriges Zeugen und Absterben zusammengepreßt zu wärmendem Stein. Speicher neuen Lebens für Jahrhunderte. – Wären wir auch nichts anderes? Sag', ich bitte dich –! Vor meinen Augen funkt es!

DER VIERTE.
Warte. Warte. – Nein, ich glaube nicht Was sind wir morgen. Staubhaufen. Kaum als Dung verwendbar.
DER ERSTE.

Du hast Hunger. Du denkst nur an das in dir, das Hunger hat. Mir ging es zwanzig Jahre so. Ich lehrte die Allmacht des Brotes. Ihr alle glaubtet mir. Aber es ist noch Anderes da. Sieh, seit der Hunger von mir abfällt, spüre ich es immer wachsender. Unser Körper – ja, Dung, Staubhaufen. Aber unausgewirkt, fast unberührt ist Anderes in uns, das über uns hinaus unendliche Bedeutung hat Ich fühle das. Ich kann es noch nicht sagen. Aus [179] unserer Armut, unsrem Sterben, unserer kleinsten Güte wird vielleicht Wärme gewonnen, vielleicht sind wir der Wald, fühllos, dumpf, versunken, der die Welt speist mit warmem Licht – –.

DER VIERTE.
Ich hungere, dürste, friere.
DER ERSTE
hastig.

Ja, ja, ich weiß. Das ist furchtbar. Das scheint unlösbar. Aber ich glaube, daß hier doch ein Weg führt. Ich kann ihn nur noch nicht sehen. Du mußt Geduld haben.

DER VIERTE.
Wir haben nicht Zeit, Geduld zu haben. Finde mir das oder ich verfluche dich.
DER ERSTE
verzweifelt.

Ich habe so fest geglaubt! Es war alles klar. Wir müssen uns schinden für den Überfluß anderer. Sie nehmen den Überfluß von uns, obgleich sie den Preis wissen – also sind sie schlecht. Weil sie aber schlecht sind, müssen sie auch uns schlecht machen, um vor sich selbst bestehen zu können. So sind wir denn schlecht geworden – nun sind beide Parteien gleich – also Kampf, Haß, Gewalt! Und unsere Gewalt ist Recht, weil es uns schlechter geht. Das war doch klar?

DER VIERTE.
Ja, das war klar.
DER ERSTE.

Und ich habe gekämpft Erst aus Lust, dann aus [180] Haß, zuletzt aus Verzweiflung. Und nun bin ich dort, wo die Qual eines Lebens noch einmal vertausendfacht zusammengepreßt ist in glühende Sterbestunden – habe mein letztes Brot gefressen, mein Wasser gesoffen – mein Sterbelicht niederbrennen gesehn – und siehe, siehe, im Finstren weht es über meine Stirne, Augen tun sich auf, dunkler als das Dunkel – und etwas spricht zu mir – –

DER VIERTE
erschüttert.
Was spricht es? Sag es mir.
DER ERSTE
ganz leise.
Was lebt, ist gut.
DER VIERTE
plötzlich milder.
Ich verstehe dich nicht Du gehst neuen Weg. Geh, geh nur –.
DER ERSTE.
Du sollst mitgehen. Bruder. Lauschen – –.
DER VIERTE.
Müde. Aber es hört sich gut Kannst es mir noch ein paar Mal sagen zum Einschlafen.
DER ERSTE.
Schläfst schon ein?
DER VIERTE.
Weiß nicht – – –
[181]
DER ERSTE
schaudernd in den Knien.

Ich will das Leben ehren, Gott! Ich will wachsen. Wachsen in meine Kindheit zurück. Ich will Wurzeln schlagen. Ich will aufgrünen. Segen soll von mir träufen. Ich ahne Gutes!

DER FÜNFTE
hat sich zum Dritten geschlichen.
Du. Er wird bald tot sein.
DER DRITTE
nickt, ohne sich zu rühren.
DER FÜNFTE.

Ich wollte dich fragen: Wenn er tot ist, nicht wahr – dann ist er doch eben tot. Lebendig ist er ja wohl dein Vater, zugegeben. Aber tot – tot könnte er doch auch ein anderer sein. Man kann es an gar nichts merken. Drehst du ihn um, daß du sein Gesicht nicht siehst, kannst du es überhaupt nicht merken. Er kann es dir nicht zeigen.

DER DRITTE.
Nein, das kann er dann nicht mehr.
DER FÜNFTE.

Siehst du, du bist vernünftig. Er könnte auch ein anderer sein. Wir müßten ihn gar nicht gekannt haben. Tot ist tot. Wir wissen nichts davon. Und Tote sind Fremde. Nicht wahr?

DER DRITTE.
Fremd.
DER FÜNFTE.

Siehst du. Wenn wir aber – ich meine dich und [182] mich – es noch vierundzwanzig Stunden – aushielten – sagen wir, vierundzwanzig – müßten sie doch kommen, das ist doch klar.

DER DRITTE.
Ich will hinauf.
DER FÜNFTE.
Sie kommen bestimmt. Aber diese vierundzwanzig Stunden, das ist es eben. Wirst du sie erleben?
DER DRITTE.
Muß.
DER FÜNFTE.

Mit dem Hunger ginge es noch. Man kann das. Es gibt Beispiele. Aber da ist nun der Durst. Plötzlich stöhnend. Oh – Durst – –!

DER DRITTE
hart.
Was willst du?
DER FÜNFTE
jammernd.

Bitte – – wenn er tot ist – – ganz tot – nicht vorher, nicht vorher eine – – Ader öffnen, schnell, ehe das Blut stockt – trinken – –! Einmal trinken!

DER DRITTE
auf, starrt ihn an.
DER FÜNFTE
heulend auf den Knien vor ihm.
Trinken – – trinken – –!
DER DRITTE
schlägt ihn mit einem Faustschlag auf die Stirne nieder.
Tier! Er auch!!
– – – – – – – – – – – – – – – – – –
[183]

Ich habe daran gedacht. – Vater! Er tastet steh zu dem Sterbenden. Über ihn gebeugt. Vater. Sag etwas.

DER ZWEITE
schlägt die Augen auf.
Sohn.
DER DRITTE.
Gutes. Etwas Gutes. Sag's.
DER ZWEITE.
Mutter – –
DER DRITTE.
Hast du sie – – war sie dir lieb? Sag.
DER ZWEITE.
Keine Zeit. Nächte im Bett. Ach ja, warm. Aber Angst – Angst vor Kindern. Zu furchtbar.
DER DRITTE.
Nicht Liebe? Nie Liebe?!
DER ZWEITE.

Schon. Es war wohl da. Als Mädchen. Sonntage. Einmal Hutsche und Ringelspiel. Wiese. Papierfahnen. Aber dann – keine Zeit, keine Zeit.

DER DRITTE.
Aber dann – ich? Als ich kam? Freude?
DER ZWEITE.
Fünfter. Zu viel. Hunger. Böses Wochenbett. Medizin.
DER DRITTE.
Und später. Nie Freude? Da ich wuchs? Stark ward?
DER ZWEITE.
Bis du vierzehn warst, war's schwer. Dann konntest du einfahren. Da wurde es besser.
[184]
DER DRITTE.

Hölle! Es muß doch noch anderes gewesen sein! Denk nach. Etwas Gutes! Es muß doch Gutes gegeben haben!

DER ZWEITE.
Selten – Bier – –.
DER DRITTE.

Wir haben nie gesprochen. Keine Zeit, ich weiß. Aber du mußt mich doch geliebt haben! Schreiend. Sag' es! Ich bin dein Sohn!

DER ZWEITE
streckt sich.
Sohn. Tot.
DER DRITTE
über ihn gebeugt.

Ganz leise. Ich habe Hunger nach etwas Liebe. Zum erstenmal. Gib mir.

Ich habe es nie gesagt. Nackter, schmutziger Körper –. Vater. Arme Lenden, verfallene Brust. Nur die Arme gewaltig. Gute, starke Riesenhände.

Dein Altern wird nicht durch mein Haus dämmern. Ich hätte deinen Abend gefristet. Vielleicht dir Vorwürfe gemacht Aber es doch gern getan. So gern.Starrt in das Antlitz. Fremd. Könnte es wirklich auch ein anderer sein? – Doch nicht. Vater. Ein tiefes Schluchzen. – – Mit einem Sprung bei dem Ersten. Du. Der ist tot.

DER ERSTE
sieht ihm voll ins Gesicht.
Was willst du von mir?
[185]
DER DRITTE.

Ich – gehöre dir. Du weißt, ich stand abseits. Spottete über dich. Sonntags Schnaps und Mädchen. Lau. A, Ekel! Nimm mich!

DER ERSTE
schwer.
Was willst du?
DER DRITTE.
Kampf. Bis auf's Messer.
DER ERSTE
erschüttert.
Junger. – Weißt du den Weg? Ich irre, tappe im Finstern – –.
DER DRITTE
rauh.
Was soll das? Du warst voran – immer – –.
DER ERSTE.
War ich es? Ich bin der Letzte. Hilf du mir, Junger. Was willst du?
DER DRITTE.

Hinauf. Gewalt setzen gegen Gewalt. Stärkere Gewalt, heißere Gewalt. Morden. Es ist einer gestorben und wußte kein Wort der Güte, hörst Du? Ich will hinauf. Ich will das Blut aus seinen Adern saugen, um Kraft zu behalten. Brüllend. Ich will von ihm fressen, um zu leben!! Hinauf!

DER ERSTE.
Feuer geht von dir aus. Was ist in dir?
DER DRITTE.
Haß!!
[186]
DER ERSTE.
Und mir – Ewigkeit! – wuchs etwas wie Liebe im Herzen – –!
DER DRITTE
rüttelt ihn.
Was schwatztst du? Was kommt dich an?
DER ERSTE
verfallend.

Laß – – Vielleicht ist es besser – – Vielleicht hast du recht. Und doch – einer spricht – aus dem Dunkel geballte Worte – tief in mein Herz – – gut sein.

DER DRITTE.
Allein. Finsternis. Der Lichtstumpf ist endlich erloschen.

Schreiend.

Hinauf!!

Antwortrufe, gedämpft: »Hallo – – Hallo – –«.

Mensch!!

Näher: »Hallo – Glück auf –!«.
Er tastet sich, mehrmals fallend, nach dem verschütteten Ausgang.

Menschen!!

Spitzhackenschläge krachen gegen die Schuttwand.

Hackt! Hackt! Fünf sind wir! Fünf Tote sind Lebendige! Ich lebe! Ich! Hackt! Hackt! Ich will hinauf! Stärker! Hunde! Menschen!


Durch einen Spalt fällt der grelle Lichtkegel einer Blendlaterne in sein Gesicht. Er bäumt sich auf.

Licht! Haß!!

Schlägt hin.
Vorhang.

2. Akt

[187] Zweiter Akt

Zimmer bei Michael.
Niedriger Raum, zugleich als Küche dienend. Häßlich, doch rein. Die Möbel roh gezimmert, nicht angestrichen, nur der bequeme Sessel im Vordergrund und die Kommode, auf der ein paar Bücher und Zeitschriften liegen, machen einen etwas wohnlicheren Eindruck. Stehlampe. Türe rechts führt von draußen herein, Türe links in die Schlafkammer. Das Fenster blickt auf verrußten Schnee. Spätabend.
Michael (der erste Bergmann aus dem vorigen Akt) sitzt in dem Sessel vorn und hört etwas vorgeneigt aufmerksam dem vor ihm stehenden Heß zu. Wanda (Michaels Weib), nicht mehr jung, groß, blond, leicht slawischer Akzent, hochschwanger, schaffend am Herde.

HESS.
Generalstreik.
MICHAEL.
Gewißheit?
HESS.

Um die Zeit schon entschieden, Mittag ist der Zentralrat zusammengetreten. Sinner bringt Nachricht aus der Stadt.

MICHAEL.
Wie ist es möglich –?
HESS.
Am Ziel! Die Katastrophe schlug ein. Zündete. Zweihundertdrei Mann! Sie haben genug.
MICHAEL.
Aber was wollen sie? Was?
[188]
HESS.

Diesmal ums Ganze. Wir sind so weit. Es sind Vertrauensmänner von den Betriebsräten da. Aus Netze, Kardiff, Laurenzhütte. Um neun tritt bei dir das Aktionskomitee zusammen. Erwarten nur noch den Beschluß des Zentralrates. Morgen stehen sämtliche Reviere im Streik. Das ganze Land hinter uns. Zweihundertdrei Menschen.

MICHAEL.
Ich glaube es nicht. Kann nicht.
HESS.

Wirst hören. Wir sind in den zwei Wochen weitergekommen als in Jahren. Die Lauesten entschlossen. Die Explosion entschied. Der Grubendistrikt geht wie ein Mann los. Sämtliche Betriebe folgen, geben wir das Zeichen. Morgen rollt keine Speiche mehr. Aus das Licht. Wasserwerke ruhen. Hochöfen werden ausgeblasen. Eisen steht auf!

MICHAEL.
Und ich? Um nichts zu wissen –!
HESS
beruhigend.

Du warst krank. Drei Tage besinnungslos. Schonung war geboten. Glaub' mir. Wissen doch, daß es ohne dich nicht geht. Bei uns geschah die Katastrophe, bei uns muß es angehen. In ihren Hirnen brennt noch das Entsetzen, die Nerven sind am stärksten gespannt, der Ruck wird elementar. Von hier muß die Bewegung ausgehen, breiter werden, Unbeteiligtere an sich reißen. Das ist logisch. Und [189] ohne dich fängt es nicht an. An dir hängt ihr Glaube, Aufblick zu dir entscheidet. Ohne dich lockt das Aktionskomitee keine Katze auf die Straße, mit dir gehen sie vor Maschinengewehre.

MICHAEL.
Die Vertrauensmänner sind hier, sagst du?
HESS.

Aus den Betriebsräten gewählt. Auch von den Gewerkschaften drei. Müssen diesmal mit. Zu Ende mit Opportunismus, Armenpflegesozialismus. Fahnen heraus!

MICHAEL.
Wo sind sie?
HESS.

Bei Timm. Verlassen das Haus nicht vor Abend. Für alle Fälle. Spitzelwirtschaft blüht wieder. Sie wittern. Gänsehaut. Aber das Letzte wissen sie nicht. Daß es um's Ganze geht. Um neun sind alle hier. Sinner kommt direkt her mit der Resolution des Zentralrates. Wir wissen die Parole im voraus.

MICHAEL.
Sie lautet?
HESS.
Kampf bis zum Äußersten. Entscheidung. Neue Welt.
MICHAEL.
Und die Mittel?
HESS.

Die du uns gelehrt. Wer riet uns, Dynamit zu sparen? Fingerhutweis? Zwanzig Jahre lang? Deine Saat – reift.

[190]
MICHAEL.
Zwanzig Jahre. Wie meine Worte mir widerhallen! Berge werfen sie zurück.
HESS.
Die Berge fallen über sie. Lawinenkraft in den Massen.
MICHAEL.
Massen – Wort. Gebirge, Strom, Sturm. Und jeder – ein Mensch.
HESS.
Mensch? Insekt, Ameise. Zusammen die Macht. Ein Körper, ein Blut.
MICHAEL.
Die Gesellschaft? Die oben?
HESS.

Unklar. Abwartend. Wolff versuchte gestern, mit uns Fühlung zu nehmen. Sprach von neuen Schutzverordnungen, erhöhter Gewinnbeteiligung.

MICHAEL.
Und? Und?
HESS.
Wir kennen sie doch. Die Gänsehaut. Aber es geht um's Ganze. Um die Macht.
MICHAEL.
Die Regierung?
HESS.
Bis jetzt wie gelähmt. Man erwartet Gesamtdemission. Werden heute alles erfahren.
[191]
MICHAEL
schwer atmend.
Um neun, Meine Saat.
HESS.
Winter draußen. Aber in uns – das Blühen!Hingerissen. – – Bruder!
MICHAEL
auf vom Sessel, preßt seine Hand, will reden.
HESS.

Schone, schone dich. Es geschieht heute noch viel. Jede Stunde zum Bersten voll von Geschehnis. – Wanda ihn hüten! Deine Stunde – bald?

WANDA
tief.
Ich warte.
HESS
scherzend.
Wird's ein Junge?
WANDA
leise.
Nach zwanzig Jahren.
HESS
Michael ansehend.

Zwanzig Jahre. Da kamst du her. Ein Mensch unter Tiere. Trugst Feuer. Heiliges Feuer. Schüttelt seine Hand. Wir sind bald da. Guten Abend. Geht.


Schweigen. Michael geht zum Fenster, starrt hinaus.
WANDA
trägt Speise auf.
Komm. Iß. Trink.
[192]
MICHAEL
blickt auf den Blumentopf am Fenster.
Warte. Geht zu dem Bord, nimmt ein Glas und begießt langsam die kümmerliche Blume.
WANDA.
Du hast sie heute schon einmal begossen. Zu viel schadet.
MICHAEL.
Tat ich's? Vergaß. Zärtlich. Blume.
WANDA
etwas hart.
Was hast du damit? – Komm.
MICHAEL
setzt sich an den Tisch.
Sie essen beide nicht. Sehen sich an. Er streicht ihr wortlos leicht über das Haar.
WANDA.
Iß. Du mußt essen.
MICHAEL.
Kann nicht. Etwas Brot. Er bricht ein Stück Brot, zwingt sich zu essen.
WANDA
holt eine Flasche Wein.
Es ist noch ein Rest da.
MICHAEL.
Für dich.
WANDA.
Nein, du brauchst Kraft. Trink.
MICHAEL.
Wir beide. Nötigt sie sanft, einen Schluck zu machen, trinkt den Rest aus.

Schweigen.
[193]
WANDA
sieht ihn mit großen Augen an.
Glaubst du? Ist es?
MICHAEL
schwer.
Ich weiß nicht.
WANDA.
Es ist ein Fremdes an dir. Seit Tagen entfernst du dich von mir. Wirst einsamer.
MICHAEL.
Ich bin bei dir.
WANDA
errötend.
Was siehst du mich an?
MICHAEL
leise, innig.
Dein lieber Leib.
WANDA
wendet sieh ab.
Sprich nicht. – In mir schauert Angst. Glaubst du noch? Sag!
MICHAEL.
Qual! Qual!
WANDA
leise.
Du glaubst nicht?
MICHAEL
ausweichend.
Licht.

Sie erhebt sich, zündet schweigend die Stehlampe an.
[194]
MICHAEL.
Licht. Brot. Wein. Und das Leben in deinem Schöße. Weht nicht Friede um uns?
WANDA
ihm hart ins Gesicht.
Die Nachtschicht.
MICHAEL
senkt das Haupt.
Ja. Die. Es gibt Nachtschichten in der Welt. Du hast recht.
WANDA.

Mann! Mann! Es ist etwas geschehen mit dir! Unten. Denk an unser Leben! Kinder waren uns versagt. Wie wir uns gaben in Haß und Verzweiflung. Mein erstarrter Schoß! Um unser Bett Hämmern und Schlotpfiff. Hochofenröte in unsere Nächte. Unser geschändeter Schlaf!

MICHAEL
gebannt.
Ja – – ja – –.
WANDA.

Wie wir Haß sogen aus unsrem Wachen. Haß tranken aus dem Schlaf. Reinen Haß. Du gingst und lehrtest. Du lehrtest die Auferstehung. Brand kam aus deinem Munde.

MICHAEL.
Und du – –.
WANDA.

Kannst du sagen, daß ich nicht bei dir war? Ohne Liebe, unfruchtbar, aber stark wie du! Und jetzt, da das Reich kommt, das du verheißen hast, – wo bist du? Wo läßt du mich?

[195]
MICHAEL.
Liebe, nun trägst du. Sommerlich.
WANDA
wild.
Was soll mir die Frucht, verrätst du mich?
MICHAEL
ruhig.
Wen verrate ich?
WANDA.
Mich. Das Werk. Du lehrtest mich. Du schufst mich nach deinem Bild. Ich bin dein Atem.
MICHAEL.
Was verlangst du von mir?
WANDA.

Sieh mich nicht so an. Dein Blick frißt an mir. Was willst du denn? Willst du bei mir sitzen? Fliegen von meiner Stirne klatschen, wenn ich gebäre?

MICHAEL.
Das will ich.
WANDA
brüsk.
Ich brauche dich nicht.
MICHAEL
inbrünstig.
Das Kind!
WANDA.
Was erhoffst du davon? Was hilft es uns? Es ist verflucht.
[196]
MICHAEL
entsetzt.
Was sagst du?
WANDA.

Zu viel Haß lief durch mein Blut. Als du unten warst – fünf Tage und Nächte – wand sich mein Leib in Angst und Haß. Qual hat es gespeist. Es zuckte – so – unterm Herzen. Ich schlug meinen Leib. Spie Fluch auf alles Lebendige! Ich habe Angst, ich werde Totes gebären.

MICHAEL
mit zuckendem Antlitz.
Oh – das – warum tatest du das?!
WANDA
fällt schwer vor ihm auf die Knie.
Liebe ich dich – –?
MICHAEL
starr.
Vergiftet – auch das Keimende. – Fünf Tage war ich unten, sagst du? Ja, das ist lang.
WANDA
demütig.
Was sind wir? Denk' an die andere Saat, die reift –!
MICHAEL.
Giftig, giftig – –. Haß geht auf.
WANDA.
Du warst nicht dabei, als man die zweihundertdrei begrub – –.
MICHAEL.
Haß – – Haß – –.
[197]
WANDA
aufgerichtet.
Wir werden siegen. Aus den Gräbern die Brüder – – Ostergesang –!
MICHAEL
verzweifelter Aufschrei.
Den Frieden! Den Frieden!
WANDA
milde.
Michael, er kommt. Bist du müde?
MICHAEL
still, gefaßt.
Nein.
WANDA.
Wirst du gehen?
MICHAEL.
Meinen Weg.

Sie sehen sich schweigend an.
WANDA
ruhig, in anderem Tone.
Sie werden gleich da sein. Ich will Tee bereiten.
MICHAEL
abwesend.
Ja. Tu das.
WANDA.
Oder soll ich hinüber? Bier holen?
MICHAEL.
Nein. Ich glaube nicht.
WANDA.
Wie du willst. Sie stellt Wasser auf den Herd und bereitet den Tee.
[198]
MICHAEL
horcht, geht zur Türe, öffnet sie.
Guten Abend.

Von draußen: »'Abend! 'Abend!«.
Es treten ein: Timm, alter, ruhiger Proletarier, Heß, die Vertrauensmänner Hennig, Ruschnow, Tietze, Bergleute aus verschiedenen Distrikten, dann die Vertreter der Metallarbeiter, Maschinisten und Heizer der Zechenanlagen Ledovsky, Vogler, Holsen, endlich Gewerkschaftssekretär Fabius, im ganzen neun Personen.
Begrüßungen.
HENNIG
zu Michael.
Alter! Doch wieder heraus. Wir haben geheult vor Wut.
RUSCHNOW.
Aber zum letztenmal! Wie war das Ganze eigentlich?
HESS.
Eine Dummheit natürlich von einem Jungen, der unten beschäftigt war.
TIETZE.
Können nicht lassen davon. Gegen jedes Gesetz.
VOGLER.
Kinderarbeit kommt billiger.
HESS.

Natürlich. Ein Bremser. Die Sache soll so gegangen sein: Der Junge steckt den Stock zu spät ins Rad. Der Karren schon in Bewegung, stößt ihn an die Wand, rollt – Geschwindigkeit wächst – hinein in einen Balkenhaufen, Kohlenstaub fliegt auf, ein Beleuchtungsdraht berührt den Karren – Funke – zweihundertdrei.

[199]
HENNIG.
Keine Streuung natürlich?
HESS.
Woher?
RUSCHNOW.
Es war gut so. Mußte kommen. Jetzt sind den Letzten die Augen aufgegangen.
FABIUS.
Es ist kein Unorganisierter mehr im Distrikt.
HOLSEN.
Wir sind stark.
VOGLER.
Stark genug. Endlich.
HENNIG
drückt Michaels Hand.
Daß du's erlebt hast! Unten – bös, was?
MICHAEL
nickt stumm.
RUSCHNOW.
Wir hätten uns nichts Besseres wünschen können.
MICHAEL.
Nichts Besseres? Und die zweihundertdrei?
RUSCHNOW
kalt.
Pioniere. Haben uns den Weg gebahnt. Nun marschieren wir.
LEDOVSKY
höhnisch.
In der Regierung sitzen drei Sozialisten. Einen kannte ich. Trägt heute Gehrock, seidegefüttert.
[200]
TIETZE.
Wir werden ihn einen Flor anstecken machen!
FABIUS.
Hat die Regierung eigentlich schon demissioniert?
HESS.
Weiß noch nicht. Sinner bringt Nachricht aus der Stadt.
FABIUS.
Wo bleibt er?
HESS.
Der Zug ist schon eingefahren. Muß jeden Augenblick da sein.
LEDOVSKY.
Kann ihm nichts unterwegs passieren? Ist Vorsorge getroffen?
HESS.
Sie wagen nichts. Sind wie gelähmt. Zehn Mann erwarten ihn an der Station.

Während des folgenden treten ein: Zwei Gewerkschaftler, Kaffka und Lersner, einige weitere Vertrauensmänner der Bergarbeiter und anderer Betriebe, unter ersteren der junge Martin (der dritte Bergmann aus dem vorigen Akt) und eine Frau Anna (unschönes, knochiges Gesicht) die sogleich Wanda begrüßt.
HENNIG
zu Heß, auf Michael deutend.
Was ist mit ihm?
HESS.
Noch krank. Delirierte drei Tage.
HENNIG.
Er wird doch auf Posten sein? Wir brauchen ihn.
[201]
HESS.

Kennst du ihn nicht? Und dann – sein Tag. Zwanzig Jahre Arbeit. Ein Leben. Und jetzt Erfüllung. Das macht schwer.

HENNIG.
In seinem Gesicht etwas. Er hat noch nicht zwei Worte gesprochen.
HESS.
Redet, wenn's Zeit ist. Verlaß dich. Wir kennen ihn.

Die Neuangekommenen werden begrüßt.
LEDOVSKY
spöttisch.
Die ganze Gewerkschaft. Streikkassen retten gekommen?
KAFFKA
ruhig.
Wir sind bereit.
HOLSEN
wortkarg.
Zeit ist's.
FABIUS.

Daß wir bremsten, als ihr vorzeitig losschlagen wolltet – war's gut oder nicht? Heute sind wir anders gerüstet. Wem dankt ihr's?

MARTIN
schroff.
Wir zahlen fortan Blutbeitrag.

Das Wort wirkt. Man flüstert.
[202]
TIETZE
zu Timm.
Wer ist der Junge?
TIMM.

Sohn des alten Martin. Unten umgekommen. Vor seinen Augen. Die Leute haben ihn zum Vertrauensmann gewählt. Sehen die paar Geretteten wie Erzengel an.

TIETZE
beifällig.
Guter Schlag. Wir schaffen es.
TIMM.

Früher hinter Mädels her. Scherte sich den Teufel um die ganze Organisation. Weigerte sich zu zahlen. Heute entbrannt Angefacht in allen Adern.

TIETZE.
Gut so.
LERSNER.
Sind wir alle?
HESS.
Sinner fehlt noch. Wir können ohne ihn beginnen. Michael leitet.
MICHAEL.
Ich nicht. Entschuldigt.
HESS.
Natürlich. Schon dich. Morgen mußt du beisammen sein. Timm also.
MICHAEL.
Setzt euch.

Sie nehmen um den langen Tisch Platz. Einige bleiben stehen. Wanda hat Gläser mit Tee auf den Tisch gestellt.
[203]
TIMM.

Wir konstituieren uns also als Aktionskomitee, oberster Rat des Distriktes, frei gewählt aus Betriebsräten und Gewerkschaften. Wie viele sind wir?

HESS.
Siebzehn.
LEDOVSKY.
Vierzehn Vertrauensleute aus den Betriebsräten, drei Gewerkschafter.
TIMM.
Der ganze Distrikt ist also vertreten. Vierundzwanzig Zechen und fünf Hüttenwerke.
LEDOVSKY.
Ich stehe für die Metallarbeiter der Zechenanlagen.
VOGLER.
Maschinisten.
HOLSEN.
Heizer.
TIMM.
Wir sind also beschlußfähig. Vorsitz?
ALLE
einstimmig.
Du.
TIMM.

Gut. – Genossen. Reden ist unnötig. Wir stehen hier für über vierzigtausend Arbeiter. Keiner unter uns, den nicht das Vertrauen seiner Genossen trägt. Wir sind das oberste Exekutivorgan des ganzen Revieres. Hat der Zentralrat, wie vorauszusehen ist, den Streik beschlossen, ist es an uns, ihn durchzuführen. Die Verantwortung ist erdrückend. Vierzigtausend [204] Proletarier blicken auf uns. Über ihr Blut und Brot entscheiden wir. Letzte Hingabe ist notwendig. Auslöschen alles Eigenen. Vierzigtausend Menschen! Und diese nur ein Teil von Hunderttausenden, Millionen. Entscheidendes kann von uns ausgehen. Sind wir bereit?

EINSTIMMIG
außer Michael.
Ja.
TIMM.

Jedes Bedenken muß geäußert, jeder Einwand erwogen werden. Greift nicht Rad in Rad mit letzter Präzision, sind wir verloren. – Wir gehen in's Detail, sobald der Entschluß des Zentralrates vorliegt. Eines voraus. Es geht um so Ungeheures, daß wir mit Blut rechnen müssen. Sind wir auch darauf gefaßt?

HENNIG.
Es liegt an denen drüben, zu welchen Methoden wir greifen müssen.
TIMM
ernst.
Es könnte sein, daß es diesmal an uns liegt.
MARTIN.
Wir wollen angreifen.
HESS.
Wir sind entschlossen. Wir zahlen jeden Preis. Zweihundertdrei Opfer stehen hinter uns.
RUSCHNOW.
Und hinter denen?
[205]
WANDA
die am Herde stehend allem gespannt gefolgt ist, wankt stöhnend.
HESS.
Wanda!
WANDA
schwankt mit geschlossenen Augen zur Türe.
MICHAEL
ist aufgesprungen, ihr in den Weg.
Wanda! Ist es?
WANDA
nickt, sieht ihn einen Augenblick schweigend an.
Bleib.
MICHAEL
tritt zurück.
Wanda in die Kammer.
HESS
leise.
Ihre Stunde.
TIMM.
Willst du zu ihr, Michael? Geh ruhig. Zur Abstimmung rufen wir dich.
MICHAEL
schüttelt den Kopf.
Ihr hörtet Hier mein Platz.
ANNA
steht auf.
Ich gehe hinein. Meine Stimme wißt ihr im Voraus.
MICHAEL
reicht ihr die Hand.
Danke, Anna.
[206]
ANNA.
Frauen. Werdet schon ohne mich fertig. Bin drinnen nötiger. Folgt in die Kammer.
MICHAEL.
Laßt euch nicht stören.
LERSNER.
Wenn's ein Junge wird, soll's ein gutes Zeichen sein.
VOGLER.
Hast lange genug gewartet, Michael. Na Prost – Kein Bier?
HESS
auf.
Sinner!

Sinner herein, mit ihm ein Fremder. Er wird umringt, begrüßt.
SINNER
vorstellend.
Schmidt vom Zentralrat.
STIMMEN.
Bravo. Willkommen.
SINNER
zu Schmidt.
Wir kommen recht Das Aktionskomitee. Der Ausschuß des Grubendistriktes. Alle Vertrauensmänner.
SCHMIDT.
Um so besser.
SINNER.
Timm. Heß. Michael.
[207]
SCHMIDT
zu Michael.
Wir kennen uns. Vom Oktoberstreik neun. Wir durften zusammenarbeiten.
MICHAEL
nickt.
Was bringen Sie?
SINNER
am Tisch, ein Abendblatt vorweisend, sehr lebhaft, alle gruppieren sich um ihn.
Die Regierung zurückgetreten.
VEREINZELTE RUFE.
Bravo.
LEDOVSKY.
Die seidengefütterten Sozialisten!
SINNER.
Die Kammer hat sich anläßlich der bevorstehenden Ereignisse vertagt.
RUFE.
Auf Nimmerwiedersehen!
RUSCHNOW.
Räte! Räte!
TIETZE.
Weg mit der Koalition! Sozialbourgeois!
HESS.
Wichtigeres!
SINNER.
Geduld! Korn bildet das neue Kabinett!
STURM DER ENTRÜSTUNG.

Nein! – Ein Sozialdemokrat will gegen den Streik [208] regieren! – Ein Verräter! – Ein Gekaufter! – Sozialpatriot! – Wieviel Proletarierblut klebt schon an ihm?!

SINNER
überschreit sie.
Heute Mitternacht wird der Belagerungszustand über die Stadt und das Kohlenrevier verhängt!
ALLGEMEINER AUFSCHREI.
Verrat!!
SINNER
zu Schmidt.
Ist es so?
SCHMIDT
ruhig.

Der Erlaß ist seit gestern Nacht schon vorbereitet. Wir haben ihn heute früh in die Hände bekommen – noch ehe der Zentralrat zusammentrat. Hier ist eine Kopie.

ALLE
drängen sich um Schmidt.
Lesen. Lesen!
SCHMIDT
reicht Timm einen Zettel.
Ich bitte Sie.
TIMM.

Haltet Ruhe. Man versteht sein eigenes Wort nicht. Er liest öfters unterbrochen vor.

»Angesichts der terroristischen Haltung einer kleinen, aber um so tatkräftigeren Minderheit, deren Programm dem wahren Willen der arbeitenden Klasse völlig fern steht, angesichts bereits einsetzender [209] Gewaltakte in einzelnen Distrikten –« Ruf: Kern Haar ist gekrümmt worden! »über die authentisches Material vorliegt, sieht sich die Regierung genötigt, zum Schutz aller, die gewillt sind, Ruhe und Ordnung zu halten, zum Schutz aller Arbeitenden und Arbeitswilligen den Belagerungszustand über die Hauptstadt und die Distrikte Netze, Kardiff und Bitterndorf, zu verhängen. Gezeichnet Korn.«

RUSCHNOW.
Das ist Provokation.
LERSNER.
Das ist Angriff!
MARTIN.
Das sind Maschinengewehre!!
SCHMIDT.

Ich bitte Sie, sich stets vor Augen zu halten, daß Wehrminister Korn diesen Erlaß schon gestern, als unsrerseits noch gar nichts Definitives beschlossen war, vorbereitet hatte. Da die Regierung die Verantwortung nicht auf sich nehmen wollte – oder vielleicht aus einem letzten Rest von Schamgefühl – trat sie heute vormittags zurück. Darauf hat der ehemalige Proletarier Korn die Kabinettsbildung übernommen.

RUFE.
Schmach!
KAFFKA.
Das ist einfach die Diktatur.
SCHMIDT.
Dies alles – bitte zu merken – immer noch, ehe der Beschluß des Zentralarbeiterrates vorlag.
[210]
HOLSEN.
Ein Sozialist. Pfui Teufel!
STIMMEN.
Der Beschluß? Der Beschluß?!

Höchste Spannung.
SCHMIDT.
Generalstreik.

Einmütige Zustimmung.
MARTIN
mit trennenden Augen.
Was heißt das »Generalstreik«? Die Revolution!
SCHMIDT
ruhig.
Wir können es auch so nennen.

Einen Augenblick ernstes Schweigen.
SINNER.
Das Manifest des Zentralrates.
RUFE.
Verlesen.
TIMM.
Sinner verliest die Resolution des Zentralrates.
SINNER
zieht ein Dokument hervor und liest.

»Der Zentralausschuß aller Arbeiterräte des Landes beschließt: Die gesamte Arbeiterschaft, soweit sie im Ausschuß der Arbeiterräte vertreten ist, tritt am 17. Dezember 12 Uhr nachts in den Ausstand.


Bewegung.

[211]
Wir fordern:
Alle politische und wirtschaftliche Macht den Arbeiterräten.
Sofortige Sozialisierung unsrer gesamten Wirtschaft, durchzuführen durch die Betriebsräte.
Entschädigungslose Enteignung von Grund und Boden sowie aller Produktionsmittel.
Abschaffung des Privatvermögens.

Ungeheure Bewegung.

Wir erkennen als Mittel zur Durchsetzung unserer Forderungen:

1. Den Generalstreik.

2. Angesichts des drohenden Belagerungszustandes, mit dem eine angeblich sozialistische Regierung das Proletariat provoziert hat, – die bewaffnete Massenaktion.


Einen Augenblick Stille, dann rasender Sturm durch die Versammlung.

Proletarier. Arbeiter und Soldaten. Unsere Stunde ist gekommen. Eine blutbefleckte Gesellschaft steht vor den Schranken des Weltgerichtes. Ihr Urteil ist bereits gesprochen, es gilt nur mehr, es zu vollziehen. Es ist zu Ende mit der Kompromißwirtschaft, zu Ende mit der Koalitionspolitik. Als der Absolutismus abgewirtschaftet hatte, haben wir ihm den Gnadenstoß gegeben. An seine Stelle aber trat Verabscheuungswürdigeres: eine Demokratie, zusammengesetzt aus Kapitalisten, die uns erwürgten, und Sozialisten, die uns verrieten. Wir haben nur einen Weg mehr: den der Diktatur. Die Massen haben sich erhoben und werden nicht ruhen, bis das Ziel erreicht ist: die Herrschaft des Proletariates.[212] Nur diese verbürgt uns die wahre Freiheit, den allgemeinen Wohlstand, das Glück der Gesamtheit. Proletarier, es wird Kämpfe kosten, Blut wird fließen. Es muß fließen. Unser Kampf ist der Kampf der Menschheit, unser Haß ist die Liebe zur Menschheit!

Soldaten, schießt nicht auf eure Brüder. Wir wollen das Ende der Kasernen, in denen eure Jugend geknechtet wird. Niemand soll mehr lernen, nach Scheiben zu schießen, um Menschen treffen zu können. Soldaten, kehrt eure Waffen gegen die, die euch heißen, auf eure Brüder, Weiber und Kinder zu schießen. Die solches befehlen können, haben ihr eigenes Urteil gesprochen. Es muß vollzogen werden.

Brüder, die Menschheit reckt sich vom Totenbette auf. Auferstehung, Brüder! Es lebe die Revolution!«


Vollkommene Stille.
MARTIN
gellend.
Es lebe die Revolution!
ALLE
fortgerissen, bis auf Michael.
Die Revolution!
TIMM
nachdem wieder Beruhigung eingetreten ist.
Ihr habt die Resolution gehört, Genossen. Ist eine Abstimmung nötig?
RUFE.
Nein. Wir schließen uns an.
MICHAEL
macht eine Geste, als ob er sprechen wollte.
[213]
TIMM.
Michael?

Aus der Kammer ein unterdrückter Schrei der Kreißenden Michaels Gesicht verzerrt sich. Die Menschen verstummen.

Geh, geh hinein. Du hältst es nicht aus.
MICHAEL.
Ich will weiterhören.
TIMM.

Wir gehen, nachdem der Streikbeschluß zur Kenntnis genommen ist, zur Besprechung unsrer technischen Aufgaben über. Hat der Zentralrat diesbezüglich Weisungen erlassen?

SCHMIDT.

Einstweilen geheim. Auf das Revier sind Truppen im Anmarsch. Morgen früh dürfte ein Teil der Zechen schon besetzt sein.

SINNER
erklärend.

Ingenieur Thiele hat sich heute schon an die Regierung um militärische Hilfe gewandt Wir haben eine Telegrammkopie.

LEDOVSKY.
Schufte!
SCHMIDT.

Der Zentralausschuß betrachtet es als höchst wichtig, daß der Streik mit aller Wucht hier an Ort und Stelle ausbricht. Erstens kommt das psychologische Moment in Betracht. Durch die letzte Katastrophe erscheint es naturgemäß, daß der Funke gerade hier bei euch aufspringt. Der Boden ist für radikalste [214] Aktion am besten bereitet. Dann befindet sich auf der hiesigen Zeche die Kraftzentrale, die siebzehn Nachbarzechen, das Hüttenwerk »Union« und die Straßenbahn Netze-Gelsersdorf mit Strom speist. Bei Stillegung müssen alle diese Werke feiern, ob sie wollen oder nicht.

Korn ist uns mit seinem Erlaß ein paar Stunden zuvorgekommen. Wir müssen eventuell damit rechnen, daß die Kraftzentrale morgen früh bereits von Regierungstruppen besetzt ist und in Betrieb gehalten wird.

HESS.
Das ist wahrscheinlich.
SCHMIDT.

Ihre Besetzung ist für uns von entscheidender Bedeutung. In der »Union« scheint es noch Unentschlossene zu geben. Sperren wir den Strom, müssen sie sich automatisch anschließen.

VOGLER.
Die Zentrale ist wichtig. Sie haben recht.
SCHMIDT.

Es ist also wahrscheinlich, daß es hier zuerst zum Zusammenstoß kommt Wir müssen für den Sturm absolut verläßliche Leute haben.


Stille. Alle sehen sich schweigend an.
HESS.

Für Bewaffnung wäre einigermaßen gesorgt. Wir haben seit Jahren Sprengstoffe gespart Handgranaten sind vorhanden.

[215]
SINNER
hastig.
Wir haben heute zwei Maschinengewehre zerlegt in die Zeche geschmuggelt.
HOLSEN
bedächtig.
Alles in allem dürften achtzig Gewehre mit Munition aufzutreiben sein.
SCHMIDT.

Gut. Die Agitation bei der Mannschaft drüben ist in der letzten Zeit so intensiv betrieben worden, daß ernsterer Widerstand nicht zu erwarten ist. Auf den ersten energischen Ansturm gehen sie über. Es wird keinesfalls viel Blut kosten. In der Stadt haben wir ganze Bataillone, auf deren Abfall wir uns verlassen dürfen. Aber wie immer – wir müssen auf drei-, vierhundert Leute zählen können, die zu allem entschlossen sind. Können Sie mir diese garantieren?


Kurzes Schweigen.
MARTIN.
Ich.
SCHMIDT
sieht ihn an.

Ihre Energie ist lobenswert. Aber Sie sind sehr jung. Ich weiß nicht, wie weit ich Ihren Einfluß auf die Massen kalkulieren darf.

TIMM.
Die Erregung ist ungeheuer.
SCHMIDT.

Mißverstehen Sie mich nicht. Ich zweifle nicht, daß die ganze Zeche wie ein Mann in den Ausstand [216] treten wird. Wir sind diesbezüglich informiert. Man wird Steine werfen, vielleicht Bomben. Aber es handelt sich immerhin darum, nötigenfalls ungedeckt gegen eingebaute Maschinengewehre vorzugehen.


Schweigen.
SCHMIDT
entschlossen.

Genossen, ich will das Versteckenspiel lassen. Die Regierung ist uns zuvorgekommen. Das Zentralkraftwerk und sämtliche wichtigen Anlagen des Reviers sind derzeit schon von Regierungstruppen besetzt. Die Truppen sind unzuverlässig, gewiß. Aber ein erster Erfolg ist nötig. Sonst ist der Streik verloren. So steht die Sache. Ich habe mit Ihnen gerechnet. Drei- bis vierhundert Mann.


Schweigen. Bestürzung.
HESS
klar.
Das kann nur Einer. Michael.

Bewegung. Alle blicken auf ihn.
FABIUS.
Er hat die Leute in der Hand. Mit ihm stürmen sie.
TIMM.
Ja. Das ist kein Zweifel. Er bringt sie vor die Maschinengewehre.
SINNER
zuversichtlich.
Michael macht es.
[217]
SCHMIDT
zu Michael.
Ich bitte Sie, uns Ihre Ansicht – –
STIMMEN.
Sprich, Michael – –.

Erwartung auf allen Gesichtern.
MICHAEL
wächst langsam von seinem Sessel auf.
Steht aufrecht, leicht schwankend. Dann ruhig. Ich werde morgen einfahren.

Erstarrung.
MARTIN
zwischen den Zähnen.
Wußte es.
HESS.
Michael, Bruder! Du fieberst.
MICHAEL
blickt ihn mit verzerrtem Lächeln an.
Ich bin gesund.
HOLSEN.
Dann bist du ein Verräter.
STIMMEN.
Was hat er gesagt? – Unmöglich. – Michael! – Er ist krank. – Er soll reden!
MICHAEL.
Wollt ihr mich hören?
MARTIN
heftig.
Er ist ein Verräter. Ich weiß es.
[218]
HESS UND TIMM.
Sprich.
STIMMEN.
Er soll reden.
MICHAEL.

Brüder. Menschen.

Ihr kennt mein Leben. Es war euer. Ich will nicht Worte machen. Was ihr mir heute sagen könnt, sind immer wieder meine Worte. Ich sprach sie zu euch. Wie oft? Tag und Nacht sprach ich zu euren Herzen. Feuer warf ich in eure Herzen. Ich lehrte euch den Haß – großen, reinen Haß. Ein Geschlecht wuchs auf unter Steinen. Ich faltete seine Hände um Eisen. Ich riet euch, Sprengstoffe fingerhutweise zu entwenden und aufzubewahren für die Stunde. Ich weiß.

Ich habe euch leiden gesehen. In zwanzig Jahren – wie viele Sterbende hielt ich und schrie ihnen Trost zu. Brüllte ihnen Botschaft ins versagende Ohr, Botschaft vom Sieg.

Und mein Glaube schlug Wurzeln. Ich sah eine Jugend werden, die Augen licht vor Haß, Rebellion auf der Stirne. Mein Werk. Ich weiß.

Menschen, meine Brüder. Ich werde morgen einfahren in die Grube und meinen Hammer singen lassen im Gestein. Wie durch zwanzig Jahre.

Ich war unten im Finstern. Ich habe alles Letzte gekostet! Brot, Wasser, Öl in der Lampe. Um mich war Sterben. Der laute Berg schwieg.

Aber es waren Augen aufgeschlagen, dunkler als das Dunkel. Es war eine Stimme, stiller als die[219] Stille. Leise. Gott war. Sein Herz schlug im Takt mit meinem Herzen. Zum erstenmal.

Ich habe mit Gott gesprochen. Nun will ich morgen einfahren.


Schweigen. Der Eindruck, der von ihm ausgeht, ist zwingend.
HESS
leise.
Phantasiert.
MARTIN
Michael ins Gesicht.
War das in der gleichen Stunde, Genosse Michael, in der mein Vater – verreckte?
MICHAEL
sieht ihn ernst an.
In der gleichen.
TIMM
ruhig.
Höre, Michael, sag uns doch, was dieser Gott zu dir gesprochen hat?
MICHAEL
überströmend.

Gesegnet, was lebt! Wunder ohne Gleichen. In der Tiefe verschütteter Stollen noch grenzenloser Reichtum. Lauschen in sich hinein.

TIMM.
Was hörst du?
MICHAEL.
Das Gesetz: Liebe.
SCHMIDT
gelassen.
Ideologie. Tolstoi.
[220]
FLÜSTERN.
Wovon spricht er? Was sagt er? – Ausflüchte. – Entscheidung!
MICHAEL.

Ihr müßt mich verstehen. Was ich erlebt, kann ich euch nicht zum Dogma machen. Ihr müßt euren Weg gehen. Ich weiß keinen für euch. Sucht. Wollt ihr den meinen wählen, kommt.

HENNIG.
Wohin führt deiner?
MICHAEL.

Ins Bergwerk. Am Morgen in den Schacht hinunter. Staub, Stein, Schlamm und Tod um mich. Nackt und schmutzig dem Ewigen gegenüber. Am Abend herauf. Sternenlicht um meine Schläfen. Das Ewige über meinem gebeugten Haupte. Ich – ein Mensch. Und etwas zu lieben versuchen. Versuchen.

HESS
langsam.
Das heißt kurz: nachdem du uns bis hierher gebracht hast, verläßt du uns?
MICHAEL.
Ich will nicht drei- bis vierhundert Menschen vor Maschinengewehre führen!
SCHMIDT.

Hören Sie eines: Ich kann mich in Ihren Gedankengang hineinversetzen. Von diesen vierhundert Mann werden vielleicht zwanzig fallen, wahrscheinlich eher weniger. Vor zwei Wochen biß eine Stichflamme [221] zweihundertdrei Menschen tot. In zwei Wochen kann sich das Gleiche wieder holen. Sind Sie bereit, diese Verantwortung zu tragen?

STIMMEN.
Ja. Bist du bereit? Rede!
MICHAEL.
Ich bin bereit, zu leiden. Nicht leiden zu machen.
SCHMIDT.
Sie selber, schön. Und die zweihundertdrei?
MICHAEL
verzweifelt.
Du sollst nicht töten!
HESS
erbittert.
Aber getötet werden dürfen wir?
MICHAEL
nach furchtbarem Kampfe.
Ja. Eher.

Wachsende Empörung.
TIETZE.
Das schmeckt nach Pastorengewäsch am Sonntag.
SCHMIDT.
Merken Sie nicht, daß Sie einfach die Phraseologie des Christentums anwenden?
MICHAEL
einfach aber stark.

Christentum? Mag sein. Aber dann jenes, das in den Katakomben wuchs. Das im Dunkel empfangen [222] wurde, wie ich empfing. Sklaven kamen zusammen und drückten wunde Hände, wuschen einander Striemen aus, teilten ihr Brot. Und lernten Liebe, bauten sich auf, wurden stark.

SCHMIDT.
Sie verlangen also von uns das Martyrium?
MICHAEL.
Ich verlange die innere Revolu tion.
SCHMIDT.
Halten Sie diese möglich ohne die andere?
MICHAEL.

Versteht mich! Einmal noch, Brüder! Ich verlange von euch nur dies: Ehrt den Men schen! Blickt ihn an. Schaut doch in das Lebendige seiner Augen – und ihr werdet wissen wie ich, daß er heilig ist.

SCHMIDT.

Eines noch: Verlangen Sie diese Ehrfurcht auch vor jenen, die den Fächer um zwei Tage zu spät in Gang gesetzt haben, um Ausdehnung des Grubenbrandes profithalber zu hindern? Rufe: »Ja, sprich! Antworte darauf!«. Haben Sie Mitleid mit denen im Bergwerk oder mit denen in der Aktiengesellschaft?! Rufe: »Antworte!«.

MICHAEL
stark.
Mitleid mit der Krea tur, nicht mit der Klasse!
MARTIN.
Was haben sich die Aktionäre dieses Mitleid kosten lassen?
[223] Zugleich.
RUSCHNOW.
Gekauft.
HESS
bei ihm.
Michael, besinn dich!
TIMM.
Nein, krank.
SCHMIDT.
Ein Irrsinniger oder ein Verräter!
KAFFKA
sachlich.

Ich glaube, wir haben keine Zeit mehr, zu debattieren. Ich frage den Genossen Michael, ob er bereit ist, seinen Einfluß im Sinn des Manifestes zu gebrauchen oder nicht?

MARTIN
ihm ins Wort fallend.

Wir fragen den Genossen Michael, ob er morgen unsere Leute zum Sturm, auf die Kraftzentrale führen wird oder nicht?!

LEDOVSKY
ebenso.
Wir fragen den Genossen Michael, ob er den Streik brechen will oder nicht?!
ALLE.
Antwort!!
MICHAEL
leise.
Ich habe geantwortet.
[224]
SCHMIDT
kalt.
Dann dürften wir verloren sein.
RUSCHNOW.
Mit Verrätern wird nach Revolutionsrecht verfahren.

In alle Gesichter ist ein drohender Ausdruck gekommen.
MICHAEL
öffnet ohne jede Pose das Hemd über seiner Brust.
Verfahrt. Ich fürchte nichts.

Aus der Kammer ein langer, furchtbarer Schrei.
MICHAEL
fährt zusammen und sieht irren Blicks nach der Kammertür.
TIMM
ist aufgestanden und zu ihm getreten.
Michael. Drinnen wird ein Mensch geboren. Dein Kind.

Michael wendet ihm schwer sein Gesicht zu.

Michael. Wir wollen morgen hinausgehen, für dein Kind einen Platz in der Welt suchen. Für alle Kin der. Eine Wiese. Über die nicht Kohlenschwaden kriechen. Grünes mit reinem Himmel darüber. Einen Garten, in dem es spielen kann. Dein Kind mit allen Kindern. Hier ist das Gras spärlich und rußig. Michael, wer hat uns von dem Garten für unsere Kinder gesprochen? Wer hat uns gelehrt, uns nach Wiesen für unsere Kinder zu sehnen? Wo soll denn dein Kind schlafen, Michael? Bei euch in der Kammer? Wenn es größer wird – vier, fünf Jahre alt – soll es zusehn, wie ihr euch [225] paart? Du hast es sicher bei deinen Eltern gesehn, wir haben es alle gesehn bei unsren. Oder hier in der Küche? Im Geruch von Speise und Spülwasser? Michael, wir wollen den Kindern reine, gelüftete Schlafsäle bauen. Gut ventilierte mit einfachen, federnden Eisenbetten. Wer hat uns denn von den Schlafsälen erzählt und der reinen Wäsche? Michael, ich verstehe, was du von der Liebe sagst. Ich bin alt genug geworden, nach etwas Liebe zu verlangen. Aber du weißt doch, wie wenig Zeit wir haben. Nun wollen wir uns Zeit verschaffen, um unsere Kinder etwas lieben zu lehren. Was glaubst du, Michael, wird es uns gelingen?

Es hängt von morgen ab. Und es hat sich so gefügt, daß es in deine Hand gegeben ist, was aus deinem Kind, was aus unsren Kindern werden soll. Du, der mit Gott gesprochen hat, glaubst du an Zufall?

Michael, sieh uns an. Ich habe sechs Kinder, Heß drei, der vier, der dort sieben, eins starb ihm gestern, nicht?


Ein neuer, doch gedämpfter Laut aus der Kammer. Er klingt wie Freude.

Und du hast ein Kind.
MICHAEL
bricht qualvoll schluchzend zusammen.
Ich kann – nicht – töten –!
TIMM
über ihn gebeugt, stark.
Nicht töten! Zeu gen! Leben schaffen!
[226]
MICHAEL.
Ein Weg –!
TIMM.
Dort durch die Kammer. Zukunft.
MICHAEL
blickt in inbrünstigem Ringen um sich.
Tiefstes Schweigen. Zeichen! Zeichen, Gott! Meine Schwäche ringt zu dir.

Schweigen.
ANNA
tritt aus der Kammertür.

Auf ihrem häßlichen Antlitz seltsame Verklärung. Ein Kind ist uns geboren, ein Knäblein ist uns geschenkt.


Stille. Die Männer sind aufgestanden. Einer, der die ganze Zeit seine Mütze aufbehalten hat, nimmt sie verlegen ab. Unsichere Blicke auf Anna und Michael.
MICHAEL
das Antlitz emporgehoben, als horchte er.
Hört ihr nichts?
EINER
am Fenster stehend.
Schnee stiebt herab.
FABIUS
verlegen.
Ein Knabe, ein Sohn? Das ist gut.
MICHAEL
macht ein paar Schritte gegen die Kammertüre.
Dann wendet er sich zu den Männern. Mit euch.

Vorhang.

3. Akt

[227] Dritter Akt

Der gleiche Raum. Gegen Morgen. Streifen von Dämmerung. Spuren der Versammlung: ein paar umgestürzte Teegläser, vom Platz gerückte Stühle, Zigarrenasche und Stiefelschmutz auf der Diele.
Michael in dem Sessel vorn wie zu Beginn des zweiten Aktes. Ellbogen auf die Knie gestützt, Gesicht in die Hände gelegt.

ANNA
tritt aus der Kammer, die Türe behutsam hinter sich schließend, geht leise zu Michael und sieht ihn eine Zeitlang an.
Schlafen.
MICHAEL
hebt den Kopf.
Das Kind?
ANNA.

Auch. So still. Ein kleines Wunder. Von einem Stern gefallen. An alle Märchen glaubt man, sieht man solch Wesen.

MICHAEL
unruhig.
Du meinst, es wird leben?
ANNA.
Natürlich. Gute acht Pfund schwer. Das Leben selbst.
MICHAEL.
War's hart? Sie litt?
[228]
ANNA.

Ach was! Das ist Geschenk. Alles Lebendige wächst aus Leiden. Wer denkt daran? Schmerzt es die Erde, wenn sie birst im Drange des Wachsenden? Sind wir anderes? Ewigkeit wurzelt nur in unserem Blute.

MICHAEL.

Wahr. Alles Ewige. – Und du selbst? Vergib die Frage. Daß du nie geboren hast, an der alles Mutter ist?

ANNA.

Michael, meine großen Kinder, du kennst sie. Wer besser als du? Soweit die Schlote den Himmel säumen, wohnen sie. Horch hinaus. Über das finstere Land stöhnt ihr Schlaf. Ich höre ihren Atem fliegen, gehetzt fliegt ihr Atem, nicht ruhig und gelöst, ihr Puls jagt im Takt des Tages, sie werden ihn nicht los in der Nacht. Ewig Tag und Nacht gleicher, besessener Rhythmus. Horch nur, in meinem Herzen hämmert es mit. Arbeit.

MICHAEL.
Liebst du sie so?
ANNA
still.
Ja, ich liebe sie wohl.
MICHAEL.

Du bist nicht eine von unseren. Ich weiß, du kommst von den – Herren. Erwuchst bei ihnen. Warum kamst du zu uns ins Bergwerk?

ANNA.

Ach – ich kam! Ich mußte eben kommen. Was kann ich dafür, daß mein Herz schwerer und[229] schwerer wurde mit jedem Tag meiner wachsenden Jugend. Bis es untersank und Grund fand, tiefsten Grund. Meerdruck über mir. Die anderen Herzen spielen weiter auf der Fläche.

MICHAEL.
Und haßt du nun die anderen? Von denen du weggingst? Die oben blieben? Spielend?
ANNA.
Hassen? Nein. Wie könnte ich? Ich kenne sie doch.
MICHAEL.
Willst du mir nicht von ihnen sprechen? Ich bitte dich darum.
ANNA
verwundert.
Du hast es früher nie verlangt.
MICHAEL.
Heute.
ANNA
nachdenklich.

Laß mich denken. Es ist lange her. Schlecht sind sie nicht, – nein, das kannst du mir glauben. Du mußt nicht meinen, daß es sie freut, sehen sie uns leiden. Viele läßt es nicht einmal gleichgültig. Die meisten wissen es übrigens gar nicht und die es wissen, haben oft nicht gute Nächte. Nur daß es ihnen so leicht gemacht ist, es immer wieder zu vergessen. Sie haben so vieles erfunden, nicht daran denken zu müssen. Und schließlich haben sie sich auch daran gewöhnt, von vornherein eine gewisse Gerechtigkeit in allem anzunehmen, – nicht aus [230] Bosheit, nein, weil sie es einfach so brauchen. Natürlich ist das erklärlich: wem es gut geht, der ist immer geneigt, sich vorzustellen, daß es ihm mit Recht gut geht. Was täten wir, denke, wenn wir nicht ebenso vom Gegenteil überzeugt wären? Vom Unrecht, das auf uns Druck übt? – Schlecht sind sie kaum, – man ist nicht schlecht, wenn man satt ist. Seltener zumindest. Nur daß die Opferkraft verbraucht ist in ihnen. Verlange kein Opfer von ihnen, sie werden es nicht leisten können. Denn gut, – gut sind sie wohl auch nicht.

MICHAEL.

Aber sprichst du ihnen damit nicht ihr Urteil? Sie könnten doch gut sein. Nichts wehrt ihnen Güte. Nichts an Liebe ist ihnen versagt.

ANNA.
Wer sagt dir das?
MICHAEL
heftig.

Sie haben Zeit. Sie können empfangen und geben im Überfluß. Sind sie krank, pflegt man ihrer, bringt Blumen an ihr Bett. Ihrer Traurigkeit ist Musik geschenkt, Bücher wissen ihnen Antwort auf alle Fragen. Ihre Körper sind rein vom Bade, wenn sie sich geben. Ihre Kinder, nicht getragen in Angst um verschmachtenden Zeuger, nicht geworfen mitten unter Männern, denen der Haß von vierzigtausend anderen auf der Stirne brennt, – wachsen auf – in Gärten, in gelüfteten Schlafzimmern, reinen Betten. Knospende Blicke ruhen auf dem Frieden geweißter Wände.

[231]
ANNA.
Ach, Michael, – darauf kommt es vielleicht nicht so sehr an.
MICHAEL.
Nicht? Doch nicht? – Worauf denn? Was denkst du davon, Anna?
ANNA
einfach.
Sieh, Michael, – es kommt wohl nur auf die Liebe an.
MICHAEL
erregt.

Anna, was du jetzt sagst, – das habe ich vor vier Stunden, als du da drinnen einer halfst, die in Wehen lag, diesen allen zugeschrien! Sie haben mir erwidert: Gib unsren Kindern Garten und Himmel, Bett und Haus, gib uns Zeit für unsere Kinder – und wir wollen lieben.

ANNA.
Und du?
MICHAEL
senkt das Haupt.

Mir wurde ein Kind geboren. Ein Schrei flog an mein Herz, eine Stimme sprach. Weihnacht war. – Ich will meinem Kinde Bett und Haus, Wiese und Himmel geben.

ANNA.

Tu es, Michael. Die oben haben gegessen und sind satt und müde geworden. Von ihnen ist nichts mehr zu erwarten. Sie waren Früchte, die Südsonne hatten, und sind reif und faul geworden. Erntetag ist da. Beschattete wollen ins Licht, Hungernde [232] wollen gesättigt werden. Sättige sie. Aber vergiß nie mehr, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebt.

MICHAEL
in tiefster Bewegung.
Wovon lebt der Mensch, Anna?
ANNA.

Früher hat einer, an den Versuchung trat wie an dich, gesagt: »Vom Worte Gottes.« Ich glaube, es sollte heißen: »Vom Worte des Menschen.«

MICHAEL.
Aber sprachen es Menschen nicht, das Wort? Zweitausend Jahre lang?
ANNA
bedeutungsvoll.
Vom fleischgeworde nen Worte, Michael. Laß es Fleisch werden in dir, Tat. Sei es.
MICHAEL
ihre Hände fassend.

Oh, Anna, Anna, – warum warst du nicht bei mir, als ich zu ihnen sprach? Du hättest verstanden. Was sage ich, du hättest mir erst Wort geliehen. Was in mir gärt, was ich vom Tode empfing in meiner Sterbenacht unten, – dir sprach es das Leben. Aus reinerer Quelle schöpftest du. Besser weißt du es als ich, in dem alles dumpf und ungeformt treibt. Du hättest mir geholfen.

ANNA.
Ich weiß nicht, ob ich dir geholfen hätte.
MICHAEL.
Du hättest müssen. Denke, um was es geht.
[233]
ANNA.

Ich denke nicht ganz wie du jetzt, Michael. Ich glaube an die Notwendigkeit des Kommenden. Wer gibt uns das Recht, unsre Brust ihm entgegenzustemmen? Mag sein, daß du dem letzten Sinn all dieses näher gekommen bist als ich – in jener Nacht, in der dir Ewigkeit anbrach. Ich bin zu sehr mit der Erde verbunden. Mit der Erde, die Korn trägt für den, der nicht baut, und Steine für den Ackernden. Ja, der Mensch lebt nicht allein vom Brote, ich weiß. Aber verachte darum das Brot nicht, Michael. Ich kann nicht sagen, ob ich dir geholfen hätte. Meine Kinder draußen – jetzt fallt der Schlaf langsam und schwer von ihren Augen, sie strecken frierende Arme, starren in bitteres, graues Licht – sind mir zu nahe. Blutsnahe. Ihre Zeit ist gekommen, Michael. Durch die Welt geht ein Klirren zerbrechender Ketten. Sie steigen hinauf. Gräber bersten. Ich höre Drommeten, Michael. Ich höre den Tritt donnernder Millionen.

MICHAEL.
Über Blut, Anna. Schmerzgeschrei Zertretener.
ANNA.

Ja. Michael. Aber ich glaube, auch hier ist ein Gesetz. Darüber hinaus, ja, wir müssen darüber hinauskommen. Aber erst dies: Erst müssen Hunger und Brot zu einem Ausgleich kommen in der Welt.

MICHAEL.

Es ist ein Schichtwechsel, Anna. Es gibt kein Vorwärts, wo Leichen sich stauen. Blutiger Schichtwechsel! Andere werden hungern. Immer wieder.

[234]
ANNA.

Vielleicht nicht. Gelänge ein Ausgleich – sei er mit Blut besiegelt – viel Haß würde fortan erspart in der Welt, äußerste Abgründe überbrückt.

MICHAEL.

Und was träte an die Stelle des Hasses? Liebe? Nie, wo einmal Blut geflossen ist. Bestenfalls Gleichgültigkeit. Eine Welt, die vor Verdauen die Sehnsucht nach Speisung vergäße. Nein, Anna, wollen wir bauen, nicht über Schädelstätten. Nicht Blut im Mörtel.

ANNA.
Wo fändest du Boden, der nicht todgeschwängert?
MICHAEL.

Anna. Drinnen wächst eine Seele. Dumpf noch vom Schlaf im Blute der Mutter, dem Tode verwandter als dem Leben. Weiß nicht, daß Gott sich in ihr spiegelt Blattgeschützter Knospenschlummer.

Tausend Kinderseelen gebar diese Nacht Keine weiß vom Fluche, keine von Haß und Schmerz.

Sie führen zum Werke! Hier ist Boden. Raum zu innerer Tat. Kein Schutt, mühsam vom Grund zu räumen – kein Feind, erst zur Seite zu stoßen, um Weg zu bekommen. Hier ist alles rein, alles bereit, sich aufzubauen, zu werden, besser zu werden.

ANNA.

Baue, Michael. Aber vergiß nicht an Garten und Himmel, Bett und Haus für das Kind. Und schaff dir Zeit!

[235]
MICHAEL
jubelnd.

Ich brauche sie nicht! Nicht mehr. Das Wort! Fleischgewordenes Menschenwort. Ich kaufe meinem Kind nichts, das fremdes Blut bezahlt. Mein Wort, mein armes Wort soll Fleisch werden, liebende Tat. Zeit? Ich brauche sie nicht. Man liebt oder nicht. Ich liebe. Ist Liebe Spiel für Feierstunden? – – Ich will mein Kind ins Bergwerk führen – in die tiefsten Stollen – und ihm sagen: Horch. Und was ich vernahm nach vierzig Jahren Alterns, im tiefsten Dunkel, in äußerster Stille, wird es hören beim ersten Male, im Donnern des Berges, im Schrei der Äxte: Ewig gut alles Lebendige.

ANNA.

Und dein Kind, wenn es aufwächst im Bergwerk, dem Erdkern näher als dem Himmel, glaubst du, es wird gut werden?

MICHAEL.

Vielleicht nicht. Vielleicht noch nicht. Oh es kommen Rückschläge: Gier, Hunger, Empörung. Ich weiß. Aber es wird besser sein, im Ganzen ein wenig besser als ich. Denn siehst du, manchmal – nicht sehr oft, ich weiß – aber manchmal als Mann wird sein Gedächtnis zurück zu Augen finden, die über seiner Kindheit schienen, mild und ewig in Güte. Und dann wird es doch selbst ein Kind haben – und das, das vielleicht – –. Nein, auch das noch nicht. Aber einmal.


[236] Ganz leise.

Einmal steigt der Erlöser aus dem Bergwerk. Der Heiland aus Schachttiefen, aus wundem Stein – kohlenbestaubt die Füße, schwarz und schmutzig Hände und Antlitz. In den Augen die Liebe. Die vollkommene Liebe. Hörst du, Anna – vollkommene Liebe. Nicht wie ich, nicht wie mein Kind.

ANNA.
Und dann, dann, Michael?
MICHAEL
ruhig und heiter.
Ich weiß nicht. Ich glaube, dann stirbt kein Mensch mehr in der Welt.
ANNA.
Michael, wie seltsam du aussiehst. Was ist in deinen Augen?
MICHAEL
lächelnd.

In meinen Augen? Die sind immer entzündet vom Kohlenstaub. Das ist so bei uns Bergleuten.

Vergiß nicht, Anna. Nicht Brot noch Wein, Fleisch oder Früchte. Nicht Kleider aus Seide, laues Bad. Nicht Garten und Haus, Wiese und Himmel. Nicht Feierstunden, nicht Schlaf am Morgen. Alles haben die oben, von denen du kommst. Und die Liebe haben sie nicht. Seltsam, Anna, wie? – Und wir haben sie auch nicht. Woher sollten wir sie haben? Nun gehen wir, das alles für uns nehmen. Sind wir nicht im Recht? Sie haben lange genug geschwelgt, nun kommen wir, nicht? Die Tafel ist bereitet. Werden wir die Liebe lernen oben an der Tafel? Glaubst du, Anna?

[237]

Nein, die Liebe wird erst geboren. Im Bergwerk wird sie geboren werden. In jedem von uns erzeugt und geboren. Einmal, Anna. Sie wird.

Vergiß das nicht. Ach, zu wem sprech' ich! Du weißt es ja besser als ich. Hast du mir's nicht erst klargemacht?

Wenn ich jetzt gehen muß, vergiß auch nicht, es meinem Kinde zu sagen. Nein, du brauchst nichts zu sagen. Besser nicht. Liebe es nur, Anna. Verstehst du?

ANNA.
Ich will's versuchen, Michael.
MICHAEL
einen Augenblick zögernd.
Ob Wanda es verstehen wird?
ANNA.
Sie wird. Sprich selbst zu ihr.
MICHAEL.

Du kannst es besser, ich weiß. In ihr ist Kraft. Ein starker Kern. Schmilz ihn. Ich muß noch zu vielen Sprechen. Wendet sich zum Gehen.

ANNA.
Es ist nicht deine Zeit, Michael. Noch nicht.
MICHAEL.
Ihr Verkünder.
ANNA.
Sie reißen dich nieder. Du fällst.
MICHAEL.
Auferstehungstag bricht an. Röte von Himmeln in meinen Augen. Er ist an der Tür.
[238]
ANNA.
Willst du sie nicht mehr sehen – Wanda und das Kind?
MICHAEL
zurückgewandt.
Schlafen. Nicht stören. Guter Schlaf.
ANNA
in den Knien.
Michael! – – – Dein Reich – komme.
MICHAEL
leuchtend.
Kommt. Das Reich. Die Kraft. Die Herrlichkeit!

Verwandlung.
Feld, nach allen Seiten offen. Unendlicher Ausblick auf das ganze Revier. Am Horizont Konturen von Schloten (rauchlos, erstarrt) Vordergrund rechts ein umgestürzter Förderwagen. Schmutziggrauer Schnee. Kaltes Frühlicht. Nebelrauch.
Im Hintergrund eine schwarze unübersehbare Menschenmasse, einzelne Gesichter nicht zu unterscheiden, in dumpfer, drohender Ruhe. Im Vordergrund um den Karren Schmidt, Sinner, Heß, Martin und ein paar andere Streikleiter.
Äußerstes Tempo.
MARTIN
eben angekommen, atemlos.

Auf starken Widerstand gefaßt machen! Eben gekundschaftet. In der Nacht fünfhundert Mann herein. Dreihundert allein in der Kraftzentrale. Verbarrikadiert. Maschinengewehre, Minenwerfer.

SCHMIDT.
Wie angenommen. Stimmung bei unsren Leuten?
[239]
HESS.
Kein Mann eingefahren. Alle Betriebe stehen. Zusammenrottungen.
SINNER
Geste.
Sie sehen.
SCHMIDT.
Weiß man, wieviel Militär aufgeboten?
SINNER.
Wir haben zweihundert mitgeteilt. Genügt. Erbitterung reißend.
SCHMIDT.
Für Verbreitung des Manifests gesorgt?
HESS.
In der Nacht über zweitausend Exemplare hergestellt. Gehen von Hand zu Hand.
SCHMIDT.
Zustimmung?
SINNER.
Rausch. Irrsinn.
SCHMIDT.
Werden sie losgehen?
HESS.
Michael.
SCHMIDT.
Läßt warten.
MARTIN.
Nicht mehr nötig.
HESS.
Noch sechs Minuten laut Verabredung.
[240]
SCHMIDT.
Überzeugt von seiner Zuverlässigkeit?
HESS.
Fieber gestern. Nachwirkung der Krankheit.
SCHMIDT.
Wenn sie anhielte?
HESS.

Lassen Sie ihn die Massen spüren. Ruck ihrer Leiber, Aufblitz ihrer Stirnen. Sein Blut schleudert ihn vorwärts.

MARTIN.
Wie immer! Er verdirbt nichts mehr. Überschätzung seiner Macht Ihrerseits.
SCHMIDT.
Sie glauben, auch ohne ihn?
MARTIN.
Über ihn, wenn es sein muß. Ich bürge. Sehen Sie. Hier sind Schranken gefallen. Das Element selbst.
SCHMIDT.
Wäre es so! Ich bin unruhig. Der Mann schien entwurzelt.
HESS.
Ohne Michael – nie! Er hat Prophetisches in Geste und Blick.
MARTIN.
Zukunft ist da. Wir brauchen keine Propheten mehr. Sehen Sie!
[241]
SINNER
bedenklich.

Mag sein. Der Ansprung scheint gesichert. Aber dreihundert Mann hinter Barrikaden – mit Maschinengewehren –!

MARTIN.
Eine Welle fetzt Barrikaden in Splitter. Glaubt!
SCHMIDT.
Handgranaten verteilt?
HESS.
Den Verläßlichsten.
EIN STREIKLEITER
tritt hastig auf.
SINNER.
Nachrichten.
STREIKLEITER.
Meldung vom Bahnhof. Eisenbahn, Post, Telegraphen ruhen.
RUFE.
Bravo. Gut so.
STREIKLEITER.
Soldaten versuchen, einen Kohlenzug ablaufen zu lassen.
SCHMIDT.
Und?
STREIKLEITER.
Drohende Haltung der Leute, Zusammenstoß unmittelbar bevorstehend.
[242]
SCHMIDT.
Kein Zug geht ab. Wenn nötig, Schienen aufreißen.
STREIKLEITER.
Gut. Ab.
SINNER.
Es geht vorwärts.
SCHMIDT
ungeduldig.

Die Kraftzentrale! Dort liegt Entscheidung. Alles andere nebensächlich. Noch läuft Strom durch die Drähte.

MARTIN.
Vertrauen Sie mir den Sturm.
SCHMIDT.
Noch Geduld. Wir müssen sicher gehn.
MARTIN.
Mein Kopf bürgt Sieg.
SCHMIDT.
Er wiegt nicht genug.
MARTIN.

Verdammnis! – Sie werden sehen, was kommt. Ich war unten mit ihm in entscheidender Stunde. Gleiches Erlebnis hat mich entflammt, ihn überwunden. Er ist fertig. Über ihn!

SINNER
unruhig.
Zeit. Höchste Zeit! Unruhe in der Menge.

Man hört »Hoch«- und »Vivat« rufe näherkommen, anwachsen, zum Sturm werden.
[243]
HESS.
Michael.
SCHMIDT.
Endlich.
MARTIN.
Entscheidung.
SINNER.
Sie tragen ihn.

Ekstase, Sturm.
Die Menge, Michael auf den Schultern tragend, flutet aus dem Hintergrund vor. Ungeheurer tobender Jubel.
DIE MENGE.
Michael!! Revolution!! Hoch die Revolution!!

Die Masse hält vor dem Karren. Es gelingt Michael, sich von den Schultern der ihn Tragenden auf den Karren zu schwingen, den die Menge jubelnd umringt. Er steht oben, drei Köpfe über allen, blickt um sich.
DIE MENGE.
Michael! Führ uns! Hoch Michael!!

Er macht ein Zeichen, daß er zu reden wünscht.
RUFE.
Stille. Michael redet. Hört Michael.
HESS
frohlockend.
Er hat sie. Zwei Worte – dann Sturm.
RUFE.
Hört Michael. Hört.

Es tritt einigermaßen Ruhe ein.
[244]
MICHAEL
Stimme aus Erz.

Genossen! Brüder!

Es ist Revolution!

Man hat mich erwählt, in dieser Stunde zu euch zu sprechen. Man hat mir gesagt: »Die alle hier im Bergwerk kennen dich. Die alle glauben dir. Die alle werden dir folgen. Sag ihnen also, sie sollen Gewehre auf den Rücken laden, sie sollen Handgranaten packen, sie sollen Messer zwischen die Zähne nehmen, sie sollen Steine aufheben zum Wurfe. Sag ihnen, dort, hinter Balken und Gemäuer verschanzt, stehen Soldaten. Diese Soldaten sind Satelliten einer verräterischen Regierung. Daß der eine oder andere vielleicht ihr leibhaftiger Bruder oder Sohn ist, tut nichts zur Sache. Sie sollen auf diese Soldaten schießen wie diese auf sie schießen werden. Sie sollen ihre Leiber mit Ekrasit zerfetzen und sich selbst von Ekrasit zerfetzen lassen. Das ist der einzige Weg zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das sollst du ihnen sagen, Michael!«


Die Menge ist zuerst der Rede begeistert gefolgt und nach jedem Satz in phrenetische Hochrufe ausgebrochen. Allmählich merken einzelne, daß in Michaels Worten ein noch unverstandener Unterton mitschwingt. Die Rufe ebben ab, betroffenes Schweigen greift um sich.

Soll ich es tun, Genossen? Nein. Ich will ein Anderes. Ich will euch ein Anderes sagen.

Brüder, ihr kennt mich wirklich. Ein Leben haben wir gelebt. Wer von euch trüge Schwielen, die ich nicht trage? Wer von euch litt, was ich nicht gelitten habe? Vor vierzehn Tagen wurde ich im [245] Bergwerk verschüttet. Eurer Hilfe danke ich, daß ich bin. Haltet euch dies alles vor Augen, wie es vor meinen steht. – So will ich zu euch sprechen: Ruhig wie ich's in ruhigeren Tagen tat. Wer von euch kam nicht zu mir, hing Not über ihm, an Seele oder Leib? Heute muß ich zu euch kommen. Meine Seele ist in Not. Anderes werdet ihr hören, als ihr verlangt Aber wenn ihr mir glaubt, heute – wie ihr mir immer geglaubt habt, werdet ihr meine Botschaft anhören.

RUFE.
Sprich, Michael. Wir wollen hören. Was hast du uns zu sagen?
VEREINZELTE RUFE.
Wozu Worte? Zum Schluß!
HESS.
Was ist das?
MARTIN.
Verrat.
SINNER.
Was tun?
MICHAEL
noch um einen Ton stärker, mit aufgehobenen Armen.

Genossen! Brüder! Menschen!

Was ich euch zu sagen habe, ist kurz. Die Revolution ist da. Am Ende dieser Viertelstunde sollen die ersten Schüsse fallen. Wißt ihr, was das heißt? Die Soldaten, auf die ich euch feuern heißen soll, sind unsere Brüder.


Betroffenes Schweigen. Einzelne Zurufe: »Was sind sie? Weißgardisten!« Von da an langsam steigernde Opposition.

[246]
Die vom Weibe Geborenen haben einen Namen: »Mensch«. Wir sind Menschen.

»Tiere sind wir! Geschundene Tiere!«.

Ihr seid keine Tiere! Dies, was ich in euch wecken will. Menschen seid ihr, unglückliche, hungernde, verdammte Menschen, aber Men schen! Was wollt ihr nun werden? Wozu rüstet ihr euch mit Haß? Das Reich, in das ihr eingehen wollt, worauf wollt ihr es gründen? Auf anderer Menschen Blut und Gebein? Ich sehe Waffen in euren Händen. Ist das der Anfang der Erlösung.


»Freiheit! Freiheit!«.

Könnt ihr frei sein, gebunden an Schuld? Mord auf der Stirne? Blut an den Händen?

»Über uns! Über uns und unsere Kinder!«.

Nein!! Nicht über unsere Kinder! Über die nicht! Was wollt ihr tun an den Kindern? – Haben wir nicht miteinander gesprochen, hundertmal, tausendmal? Was wollten wir denn? Nur das Kapital aufteilen? Essen, trinken, huren? War es nicht anderes?


»Habt ihr gehört? Er spricht für das Kapital!« Vereinzelte Rufe: »Nieder!«.
MARTIN.
Gut so. Er ist ein toter Mann.
MICHAEL
mit äußerster Kraft.

Gut werden wollten wir! Gute Menschen! Nicht Herren – Brüder! Ist dies der Anfang? Brudermord am Beginn? Wollt ihr morden, um erben zu können?!


»Wer riet uns den Anfang? Wer war es?!«.

[247]
Ich! Ich weiß es. Straft mich! Rächt euch an mir! Aber hört auf mich! Noch einmal!

»Nicht weiter! Verrat! Er ist gekauft!« Pfiffe.

Was ich euch lehrte, war falsch! Steht ab von Gewalt! Verflucht der Mord! Heilig das Leben.

Gellender Aufschrei: »Wessen Leben?!« Pfeifen und Johlen.

Alles Leben! Ein Weg nur: Abtun den Haß. Ausbrennen das Böse in uns selbst! Erneuerung in Liebe! Brüderlichkeit!


Wildester Ausbruch: »Gegen Aktionäre und Weißgardisten!!«.

Gegen Menschen!! Alle Menschen!! Liebe!! Eure Kinder lehren! Geht zu den Kindern – –!

Martin hat einen Schuß gegen ihn abgegeben. Er bricht nieder. Plötzliche Erstarrung.
MARTIN
den Revolver hochhebend.

Genossen! Unten im Bergwerk ist mein Vater verreckt. Ich habe von ihm essen wollen vor Hunger. Folgt mir!!


Ein einziger rasender Aufschrei aus allen Kehlen. Er stürzt ihnen voran. Hintergrund rechts. Die Masse drängt ihm nach, erst tumultuarisch ungeordnet, dann langsam von selbst sich formierend, endlich in Achterreihen und Gleichschritt. Aus dem tobenden Geheul ballt sich langsam die Marseillaise und schlägt flammend zum Himmel auf.
Michael hat sich auf dem Karren noch einmal aufgerichtet und umfaßt mit seinem Blick den ungeheuren Zug.
Tief im Hintergrund marschiert in geschlossenen Reihen, taktmäßig donnernden Schrittes das Heer der Proletarier zum Sturm. Die »Marseillaise« und das »Lied der Arbeit« branden immer von neuem aus ihren Mündern empor. Rote Fahnen bauschen sich riesig über ihren Häuptern.
[248] Michael steht aufrecht. In seinem Antlitz ist ungeheures Licht, sein Mund schreit ein Wort, das im Dröhnen des Marsches untergeht. Sein ausgestreckter erhobener Arm beschreibt eine große Geste, deren Sinn ist: »Weiter. Darüber hinaus.« Dann bricht er zusammen.
Entferntes Knattern von Maschinengewehren. Der Gesang bricht ab, der stampfende Rhythmus der Menge bleibt unverändert. Durch zerreißende Nebelfetzen bricht rote Wintersonne. Der endlose Zug marschiert schweigend weiter über die Szene.
Vorhang.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Kaltneker, Hans. Dramen. Das Bergwerk. Das Bergwerk. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8E71-C