Adolph Freiherr von Knigge
Die Reise
nach Braunschweig
Ein comischer Roman

[3] Vorrede

Der kleine Roman, den man hier dem Drucke übergiebt, ist, in Stunden der Erholung von ernsthaften Geschäften, geschrieben, um das Gefühl der heftigen cörperlichen Leiden, wovon der Verfasser seit mehr als Jahres Frist unaufhörlich gepeinigt wird, durch unschuldigen Scherz zu mildern, geschrieben, um, bey Sorgen mancher Art, durch leichten Witz, sich in harmloser Stimmung zu erhalten. Er macht also auch keinen Anspruch auf die Muße solcher Leser, die tiefsinnige philosophische Betrachtungen und überraschend feine Blicke in die Natur des menschlichen Herzens in solchen Romanen zu finden hoffen.

Der Verfasser hat bis jetzt in seine Schriften ähnlicher Art, die Behandlung wichtigrer Gegenstände einzuflechten und die Sitten der sogenannten höhern Menschenclassen zu schildern gesucht; hier versteigt er sich nicht so hoch und widmet daher diese Arbeit auch nur solchen Lesern, denen es darum zu thun ist, ihre Augen einmal von Höfen, Fürsten, Staatshändeln und gelehrten Kampfplätzen ab, auf ländliche Scenen und lachende Bilder gelenkt wissen zu wollen.

Das ist alles, was der Verfasser von diesem Büchlein zu sagen weiß, um den Gesichtspunct anzuzeigen, aus welchem er beurtheilt zu werden wünscht.


Bremen, um Ostern 1792.

[3][5]

Erstes Capitel
Eine ländliche Gesellschaft rüstet sich zu einer Reise, um merkwürdige Dinge zu sehn.

»Das mag possirlich aussehn, Herr Pastor!« sagte der Amtmann Waumann zu dem geistlichen Herrn, der, mit dem andern Zeitungsblatte in der Hand, ihm gegenüber saß. »Das mag possirlich aussehn, wenn so ein Mann in der Luft herumfährt und einen Ball unter dem Hintern hat.« »Nicht unter dem salva venia Hintern, excusiren Sie!« erwiederte der Pastor Schottenius, »der Musjö Blanchard sitzt in einem Schiffchen, welches an dem, mit künstlicher Luft gefüllten großen Ballon befestigt ist.« »Was Teufel!« fiel ihm hier der Förster Dornbusch in die Rede, »wie macht es aber der Hexenkerl, daß er damit herumkutschirt? Das kann nicht mit rechten Dingen zugehn.« Nun ließ sich Ehren Schottenius auf eine weitläufige Beschreibung der Luft-Kutschier-Maschinen ein, und bewies zuerst, daß es auf keine Weise sündlich sey, Versuche von der Art zu machen, wie wohl manche abergläubische Leute meinen mögten. Vielmehr diene die Erforschung der Natur und deren Kräfte zur Verherrlichung des Schöpfers »wie ich dies« fügte er hinzu »in meinen, nun bald im Drucke erscheinenden Predigten, zum öftern bewiesen habe.« Dies war der Refrain, welchen er, in der gewöhnlichen Unterhaltung, jedem Satze, den er vortrug, anzuknüpfen pflegte. Er hatte nämlich eine Sammlung von 57, schreibe sieben und funfzig Stück Predigten fertig liegen, die er herauszugeben längst beschlossen hatte, und es gab wenig Gegenstände unter dem Monde und wenig Wahrheiten und Vermuthungen, über welche er nicht in diesen Kanzel-Reden Gelegenheit genommen hätte, seine unmaßgebliche Meinung zu sagen. Ehren Schottenius war in der That ein aufgeklärter Geistlicher – Es giebt böse Menschen, welche behaupten, das sey einecontradictio in adjecto, oder vielmehr, ein Prediger handle sehr inconsequent, wenn er die Aufklärung befördre; allein unser Herr Pastor wiederlegte durch sein Beyspiel diese Ketzerey. Nur müssen wir uns über den richtigen Begriff des Worts Aufklärung verstehn. Er war kein Mann, der das Gegentheil von dem glaubte und lehrte, als worauf [5] er geschworen hatte und wofür er sich besolden ließ. Er nahm nicht das Lämpchen der Aufklärung in die Hand, um in dem Alterthums-Cabinette speculativer Raritäten und dogmatischer Geheimnisse aufzuräumen; sondern er verwaltete die ihm über diesen Schatz anvertrauete Aufsicht, nach Anweisung seiner Obern und so, wie die mehrsten Bibliothekare in und außer Klöstern die Aufsicht über die Sammlungen seltner Handschriften zu führen pflegen; denn er bewahrte sie vor nagenden Mäusen und vor verbleichenden Sonnenstrahlen, rührte jedoch nicht anders daran, als wenn er an hohen Festtagen einmal den Staub davon abkehren mußte, damit man doch den besuchenden Fremden zeigen könnte, daß sie noch da wären. Seine Aufklärung aber bestand darinn, daß er nicht alle andren menschlichen Kenntnisse auf den einzigen Stamm der Orthodoxie propfen wollte, sondern mit Vergnügen von neuen Entdeckungen in allen Gebiethen der Wissenschaften und Künste reden hörte, ohne sich darum zu bekümmern, ob der Schlüssel dazu schon in den mosaischen Geschichtsbüchern zu finden wäre, oder nicht. Er empfahl in seinen Predigten, neben der reinsten christlichen Moral, eine edle Wißbegierde und Empfänglichkeit für alles nützliche Gute und rief oft mit Paulus aus: »prüfet alles, und das Gute behaltet!« Diese vernünftige Stimmung hatte er dadurch erlangt, daß er einige Jahre in dem Hause eines Edelmannes in Halberstadt als Kinderlehrer zugebracht, und dort Gelegenheit gehabt hatte, mit Männern von großen Einsichten umzugehn. Freylich hatte er sich nachher auf dem Lande wieder, wie man zu sagen pflegt, ein wenig verlegen; aber immer noch unterschied er sich vortheilhaft unter seinen Amtsbrüdern weit umher. Allein die innere Überzeugung dieses Vorzugs gab ihm auch wohl zuweilen eine etwas zu hohe Meinung von sich selber, so daß er niemand lieber reden hörte, als den Pastor Schottenius; und man hätte versucht werden mögen, zu glauben, er habe nur den seinem Stande sonst vorgeworfenen geistlichen Hochmuth gegen eine Art gelehrtem Stolze vertauscht. Diese Meinung könnte uns nun bewegen, einige scharfsinnige Bemerkungen über die Quellen mancher menschlichen Tugenden zu machen. Wir würden dann zum Beyspiel finden, daß, wenn mancher große Mann durch seine Popularität und Herablassung gegen kleine Leute sich beliebt macht, er eigentlich nur deswegen sich so wenig herausnimmt, damit er die überwiegende Stimme des Volks vor sich gewinne; daß also seine Ruhmsucht sich hinter dieser angenommenen Demuth versteckt, oder daß er stolz genug ist, zu glauben, er könne sich nie etwas [6] vergeben durch Herablassung gegen Leute, denen es nicht einfallen dürfte, mit ihm verglichen zu werden; wir würden ferner finden, daß man einen bescheidnen Gelehrten nicht ärger anführen kann, als wenn man ihm nicht lebhaft genug wiederspricht, sobald er von dem geringen Werthe seiner Schriften redet; wir würden endlich finden, daß mancher Edelmann nur deswegen der Abschaffung des Adels, womit man in Frankreich den Anfang gemacht hat, das Wort redet, weil er sich bewußt zu seyn meint, seine unleugbaren innern Verdienste würden ihn noch immer über Andre erheben, wenn auch alle äußere Rücksichten von Stand und Geburth wegfielen. Allein wir, der Autor, haben uns nun einmal vorgenommen, die scharfsinnigen Bemerkungen in unserm Büchlein eben nicht zu häufen, sondern dieselben dem geehrten Leser selber zu überlassen, so sehr wir auch ratione honorarii dabey gewinnen könnten. Also fahren wir in der Erzählung dessen fort, was in des Herrn Amtmanns Waumann Hause in Biesterberg vorgieng.

Hier war es nämlich, wo die drey Herrn, welche wir redend eingeführt haben, den 6ten August 1788, Nachmittags, mit einem geselligen Pfeifchen im Munde, versammelt saßen und die eben angekommnen Zeitungsblätter durchliefen. Folgender Artickel veranlaßte das obige Gespräch:

Braunschweig, den 2ten August, 1788. Den zehnten dieses Monats wird der berühmte Luftschiffer, Herr Blanchard mit einem großen und schönen Ballon aus unsrer Stadt in die Höhe fahren. Der Zusammenfluß der Fremden, welche dieses bewundernswürdige Schauspiel herbeylockt, wird an diesem Tage außerordentlich seyn, indem schon jetzt in denen, mit Meßleuten angefüllten Gasthöfen fast kein Zimmer mehr leer ist.

Nachdem der Pastor Schottenius nun deutlich auseinandergesetzt hatte, was für eine Bewandtniß es mit solchen Luft-Fuhrwerken hätte, erschallte aus einer Ecke des Zimmers eine Stimme, welche rief: »o Papa! lassen Sie uns doch hinreisen, nach Braunschweig und das Ding mit ansehn!« Diese Stimme kam von sonst niemand, als dem jungen Herrn Valentin Waumann, dem eheleiblichen Sohne des Herrn Amtmanns her. Dieser liebenswürdige Jüngling hatte damals sein Alter gebracht auf circa drey und zwanzig Jahre, war ein breitschultriger Junggeselle, in der christlichen Religion auferzogen und nachher der edeln Landwirthschaft zugethan und gewidmet, welcher er sich auch so eifrig ergab, [7] daß sein Herr Vater die Absicht hegte, ihm ein benachbartes Vorwerk, das er mit gepachtet hatte, nebst dem Inventario an Kühen, Schweinen, Pferden, instrumentis rusticis und einer für ihn ausgesuchten Gattinn, nächstens zu übergeben. Musjö Valentin war nie über die Grenzen des Amts Biesterberg hinausgekommen, obgleich der Amtmann oft versprochen hatte, einmal, bevor der junge Herr sich in den Stand der heiligen Ehe begäbe, mit ihm eine Fahrt von einigen Tagereisen zu machen, um in Hildesheim, Braunschweig, Hannover und andern schönen Städten in der Nachbarschaft, die Welt mit ihren Merkwürdigkeiten zu sehn. Als der junge Herr nun, wie gesagt, in der Ecke saß, wo er sich beschäftigte, neue Kerbhölzer für die Dienstleute zu schnitzeln und er dort von den Zeichen und Wundern hörte, welche in Braunschweig in wenigen Tagen geschehn sollten, erinnerte er seinen Papa an das Versprechen der Reise. Die Frau Amtmanninn deren Liebling dies einzige Söhnchen war, unterstützte sein Gesuch; und so wurde dann kurz und gut beschlossen, am nächstkünftigen Sonnabende, als dem Tage vor der großen Luft-Begebenheit, die Reise nach Braunschweig, geliebt' es Gott, zu unternehmen.

»Potz Element«, rief der Förster aus, »Herr Amtmann! da reise ich mit; ja! so thue ich, und von da fahre ich auf dem Rückwege die Paar Meilen weiter über Goßlar, wo ich doch hin muß, um meine Grete aus der Penschon abzuholen. Sie verstehen mir Herr Amtmann! und darüber wird denn Müsche Valentin auch nicht böse werden, denke ich so, ha, ha! Und unser Herr Pastor muß auch mit, und muß uns seine halbe Schäse thun, denn weil ich sonst mant immer reite; so habe ich keine eigne Carrethe, und so aber, so fahren wir in zwey Kutschen; und was der Herr Pastor verzehrt, das bezahle ich, ja! das thue ich.«

Ehren Schottenius war leicht zu bereden, diesen Vorschlag anzunehmen; der Candidat Krebs aus Möllenthal hatte sich ohnehin die Erlaubniß erbeten, am nächsten Sonntage in Biesterberg predigen zu dürfen, und außer dem Vergnügen der Reise gab diese kostenfreye Lustfarth dem Pastor noch Gelegenheit, einen längst gehegten Vorsatz auszuführen, nämlich den, sich in Braunschweig nach einem Verleger für seine sieben und funfzig Predigten umzusehn. Es kam nur noch auf eine Kleinigkeit an, auf die Einwilligung der Frau Pastorinn; da indessen diese selbst gegenwärtig war und, neben der Frau Amtmanninn sitzend, eben die fünfte Tasse Caffee, auf vielfältiges Bitten, sich hatte wohlschmecken lassen; so ließ sich die Sache bald auf's Reine bringen. »Ja! [8] [10]was meinst Du zu dem Vorschlage, mein Schatz;« sprach der Pastor und sah nach den kleinen schwarzen Äuglein seiner Gebietherinn, ob sie zürnten, oder lächelten. »I nun; da Du mit so guter Gelegenheit umsonst hinkömmst; warum nicht?« – So war's denn richtig; alles wurde gehörig verabredet, und bald nachher trennte sich die Gesellschaft.

[10]

Zweytes Capitel
Die Abentheuer des ersten Tages auf der Reise.

Die liebe Sonne hatte am Neunten des Augusts kaum den ersten Blick in das enge Thal geworfen, in welchem, an eine kleine Anhöhe gelehnt, das Dorf Biesterberg mit seinen schönen Amtsgebäuden, lag; die Hähne auf den Bauerhöfen weckten nun krähend ihre Damen aus dem Schlafe; der Schulmeister stand, im Camisol ohne Ermeln, unten im Thurm und zog gähnend die Betglocke; die Knechte schlichen schwerfällig aus den Ställen hervor und klopften die Lünzen an den Erndte-Wagen zurecht; die Hirten bliesen in ihr Horn und gaben durch Klatschen das Zeichen, worauf die Mägde, mit bloßen Beinen und mit aufgeraften Reisern in den Händen, das Vieh von den Höfen hinuntertrieben – Da war schon im Amthause, auf dem Pfarrhofe und in des Försters Wohnung alles auf den Beinen. Des Herrn Amtmanns ehrwürdiger Reisewagen stand geschmiert und bepackt vor der Thür; der Gärtner Caspar bürstete an dem gelben geblümten Plüsche, womit er ausgeschlagen war, und die Haushälterinn steckte Butterbröde und eine gebratne Rehkeule in die Seiten-Tasche. Oben an dem Fenster des Eckzimmers stand der alte Herr, reisefertig angekleidet, in Stiefeln mit Stiefel-Manschetten, und umgürtet mit einem Hirschfänger; Musjö Valentin war unter den Händen seiner Mutter, die ihm die schwarze Halskrause umband, und die blaue mohrne Weste, welche zu enge geworden war, hinten aufschnitt. Er sah stattlich aus, der junge Herr, in seinem perlfarbnen Rocke; die Haare weiß eingepudert, hinten in einen langen dünnen Zopf gebunden. »Spann an, Conrad!« rief dann der Amtmann zum Fenster heraus seinem Kutscher zu, der schon in der grauen Livree mit grünem Kragen, worauf eine silberne Tresse prangte, um die Kutsche herumgieng. »Spann an! aber ich wette, an dem Pastor liegt es wieder; der wird zu lange geschlafen haben.« – Ungerechte Beschuldigung! Ehren Schottenius gieng schon seit länger als einer Stunde, vom Kopfe bis zu den Füßen schwarz und vollständig angekleidet, bis auf die Perücke nach, die er noch nicht gegen die weiße Nachtmütze vertauscht hatte, mit einer Pfeife [11] Tabac vor seinem Hause auf und nieder; Vor seiner, in der That sehr demüthigen grünen halben Chaise, die mit einem Rücksitze versehn war, standen schon die vom Förster geschickten Nachbars-Pferde angespannt. Nun kam auch Dieser, nachdem er seinen Schnapps genommen hatte, herbey; die geistliche Perücke wurde aufgesetzt, der blaue Überrock angezogen; man gieng nach dem Amthause; das wackelnde Fuhrwerk folgte nach und rasselte auf dem Steinpflaster; alles im Dorfe kam an die Fenster. Im Amtshofe waren indessen die vier schwarzbraunen Wallachen angeschirrt worden. – Man nahm Abschied, stieg ein, »Nun fahrt zu, in Gottes Namen!« rief der Pastor; Man ließ ihn mit dem Förster in ihrem Fuhrwerke voraus; und so gieng es denn auf dem Wege nach Hildesheim fort.

Unter den Eigenschaften, durch welche man sich in dieser Welt beliebt und geachtet machen kann, behauptet die, ein angenehmer, muntrer Gesellschafter zu seyn, keinen geringen Platz; Sie wird sogar oft höher geschätzt, als manche ächte Tugend, oder ersetzt wenigstens den Mangel derselben. Nirgends aber ist man mit angenehmer Unterhaltung und muntrer Laune willkommner, als auf Reisen seinen Gefährten. Nun aber besaßen die vier Personen, welche wir so eben des Wegs nach Hildesheim zu spedirt haben, von jener geselligen Eigenschaft herzlich wenig; daher war denn auch die Unterhaltung in den anderthalb Kutschen so eintönig, daß ich mich außer Stand sehe, etwas daraus mitzutheilen, das den Leser interessieren könnte. Der Förster klagte darüber, daß die Taschen seines geistlichen Nachbars zu dick wären, und daß dies ihm den Raum beengte. Unrecht hatte er nicht; denn in der linken Überrocks-Tasche war von der Frau Pastorinn die mitzunehmende reine Wäsche auf einige Tage gesteckt worden, und in der andern wohnte das Manuskript der bewußten Predigten. Der Förster ruhete daher nicht eher, als bis die Taschen ausgeleert und die darinn beherbergten Sachen in den Sitz-Kasten gelegt waren. Hierauf setzte er sich in eine Lage, die wenigstens für ihn bequemer, als für seinen Nachbar war (aber er bezahlte ja auch für Diesen) und fieng dann an, den einschläfernden Würkungen des genossenen Schnapses nachzugeben, wobey er, so oft der Wagen einen Stoß bekam, mit seinem sinkenden Haupte in die Perücke des geduldigen Pastors gerieth, der dies Ungemach, bey dem Genusse eines Pfeifchens und allerley Meditationen, ohne Murren ertrug. In den zweyten Wagen las der Herr Amtmann seinem Sohne Collegia über den Zustand der Felder, durch welche sie fuhren, wußte [12] alle Dörfer mit Namen zu nennen, von welchen man in einiger Entfernung die Thurmspitzen wahrnahm; und Musjö Valentin, der indeß die Witterung von den Butterbröden und dem Braten bekommen hatte, zog sein Taschenmesser hervor, fieng an, sich vorzulegen, und antwortete seinem Vater nur eintönig und mit vollen Backen.

So gieng die Zeit hin, bis gegen Mittag, da die Gesellschaft in ein Dorf, eine Meile von Hildesheim kam, wo man dann Anstalt machte, Pferde und Menschen mit einem ordentlichen Futter zu versehn, weil man da wohlfeiler zu zehren hoffte, als in der bischöflichen Residenz. Man fragte die Wirthinn, was sie auf den Tisch liefern könnte und bekam Anweisung auf eine Bier-Suppe und ein großes Stück frisch gekochtes Pöckel-Fleisch; Der Herr Amtmann aber vergrößerte diesen Küchenzettel durch Bestellung eines dicken Pfannekuchens. Indeß nun zu diesem letztern Anstalt gemacht wurde, worüber wohl eine Stunde verstrich, weil die Pfanne nicht sogleich zu finden war, indem der Knecht dieselbe gebraucht hatte, um darinn einen warmen Umschlag für eines der Pferde zu bereiten, entstand in der Schlafkammer des Wirths ein fürchterlicher Lerm und Zank. Der Herr Pastor glaubte Beruf zu haben, zu versuchen, ob er hier nicht das Amt eines Friedensstifters übernehmen könnte, und gieng in das Zimmer. Er fand den Hausherrn äußerst ergrimmt über sein Eheweib, welches, um das geräucherte Rindfleisch, das den angekommenen Gästen vorgesetzt werden sollte, warm zu halten, ihres Mannes ledernes Beinkleid darüber gedeckt hatte. Er hatte es eben anziehn wollen und nun fand er es ausgespannt und rauchend.

Man kann sich leicht vorstellen, daß alle diese Zubereitungen zu dem bestellten Gastmahle unsern Reisenden nicht viel Apetit erweckten. Sobald daher die Rosse gefüttert waren, ließ man wieder anspannen, und die Gesellschaft fuhr fort nach Hildesheim, wo sie in dem berühmten Gasthofe des Herrn Lauenstein abtrat, den sie im Schlafrocke, eine Pfeife in der Hand und eine graue Mütze auf dem Haupte, im Vorplatze spazierend antrafen. Da man noch zeitig genug zu dem auf folgenden Nachmittag angekündigten großen aerostatischen Schauspiele in Braunschweig seyn konnte, wenn man Sonntags früh aus Hildesheim fuhr, und das Mittags-Essen in Peina einnahm; so beschloß man, bis zum andern Morgen in jener merkwürdigen Stadt zu verziehn; Die Pferde wurden zurückgeschickt, weil sie in der Erndte nöthig waren, und man bestellte sich Postpferde.

[13] Ein teutscher Original-Roman und ein teutsches Original-Schauspiel sind sehr geschmacklos, wenn nicht darinn von Mahlzeiten die Rede ist, und je weniger oft der Autor selbst zu verzehren hat, desto herrlicher läßt er die Personen seiner Schöpfung speisen und tränken. Ich hoffe daher, meine Leser werden mir's nicht ungnädig aufnehmen, daß ich mit unter sehr viel von den Magen-Angelegenheiten meiner Reisenden rede. Wir wollen ihnen nun noch in Hildesheim etwas Gebacknes zum Caffee reichen lassen, um sie für die schlechte Mittags-Tafel zu entschädigen, und dann mögen sie es aushalten, bis zum Abende, und sich unterdessen ein wenig in der Stadt umsehn. Würklich thaten sie das, giengen in den Dom, und von da in andere Kirchen und Klöster, begafften die Häuser, die ihrer Meinung nach schön gebauet waren, deuteten mit den Fingern auf alles, was ihnen merkwürdig vorkam, zogen vor jedem wohl gekleideten Manne die Hüte ab, und blieben voll Verwunderung stehn und sahen hinterdrein, wenn ihnen ein schmutziger Capuziner oder ein andrer Mönch begegnete.

Ermüdet von dem ungewohnten städtischen Steinpflaster, kehrten sie zurück in das Wirthshaus, und traten in das allgemeine Gastzimmer, dessen Fenster nach dem Hofe hinausgehen. Der Herr Amtmann forderte eine Bouteille Bier und Pfeifen; aber kaum hatten sie die Thür geöfnet, als ihnen ein so fürchterlicher Lerm entgegen tobte, daß sie zurückprallten, und gar nicht den Muth gehabt haben würden, einzutreten, wenn ihnen nicht ein Mann mit einer Baßstimme zugerufen hätte: »Nur näher Messiöß! es ist halt eine kleine Probe; Wenn Sie beywohnen wollen, viel Ehre! Sie mögen unser Publicum vorstellen; Setzen Sie Sich da hinter den Tisch!« Der Mann war ein kleiner, dicker Knirps von etwa funfzig Jahren, dunkelbraunen Angesichts, mit rollenden, etwas roth gefütterten Augen und ganz dünnen schwarzen Haaren. Er trug einen hellgrünen Rock, jetzt zum Frack eingerichtet, doch also, daß man noch an den verschiednen Nuancen der Farbe sehn konnte, wie er sich schon oft nach den Launen der Mode hatte hudeln lassen müssen, und wie er zuweilen mit langen, zuweilen mit kurzen Schößen, dann mit großen, und dann wieder mit kleinen Aufschlägen war versehn worden. Jetzt war er mit etwas geziert, das man einst am Hofe des Herzogs von Würtenberg und nachher, so oft es auf andern Kleidern gesessen, eine aufgeheftete Stickerey, tour appliquée genannt hatte. Unsre Gäste waren durch das Geräusch, welches in dem Zimmer herrschte, worinn sich, außer dem kleinen Herrn, noch viel Personen beyderley Geschlechts befanden, [14] und durch einen fremden Anblick so betäubt, daß sie sich nur gleich auf die, ihnen angewiesenen Plätze hinsetzten, da dann der Dialog unter allen gegenwärtigen Menschen folgendermaßen fortgieng.

Ein ziemlich altes Frauenzimmer: »Ein Verbrechen! und mein Gewissen schweigt? und befiehlt mir zu beharren? Was ist ein Staatsverbrechen?«

Der alte Herr: »Wenn Du ›mein Gewissen‹ sagst, mußt Du den Zeigefinger auf die Herzgrube legen, aber nicht zu tief, sonst zeigt es den Magen an. Ich weiß nicht, Ihr Leute habt noch immer keinen Begriff von ächter Gesticulation. Nun wird geläutet; Wer läutet?«

Ein junger Mensch: »Ich!« (Er nimt ein Bierglas vom Tische und schlägt mit der Tobacspfeife daran)

Ein Andrer: »Was läutet man?«

Die Frau: »Es ist Mittag.«

Der Förster: (vor sich) »Es mag den Teufel seyn! Es ist meiner Six! bald sieben Uhr.«

Der Andre: »Diese Glocke läutet Euch kein gutes Zeichen.«

Die Frau: (ängstlich) »Ich ahnde es; ich weiß es; mir wird so bange – Albrecht.«

Der dicke Herr: »Lauter, lauter!«

Die Frau: (brüllt) »Albrecht! und Du verließest mich!«

Der dicke Herr: »Bravo.«

Musjö Valentin: (leise)»Papa! die Menschen sind toll; Lassen Sie uns machen, daß wir fortkommen!«

Der Amtmann: (leise) »Herr Pastor! was bedeutet das?«

Der Pastor: (leise zum Amtmanne) »Ich glaube, es sind Mimi, Histriones, Commödianten-Volk.«

Der Andre: »Entschließet Euch!«.

Die Frau: »Ich bin ja entschlossen; hab's Euch ja oft gesagt, hab nie gewankt.«

Der dicke Herr: »Nun kömmt der neunte Auftritt.«

Ein Dritter: (tritt hervor) »Es ist Zeit!«

Der Andre: »Hört Ihr's?«

Die Frau: »Gott, was soll mir geschehn? – Wo ist Zenger? – o Albrecht!«

[15] Der Dritte: »Soll ich!«

Der Andre: »Ja!«

Ein Vierter: (kömmt hinter dem Ofen hervor) »Herr Canzler! wißt Ihr, wie Schurken und Verräthern mitgefahren wird?«

Valentin: (leise) »Papa! Sie schimpfen.«

Der Andre: »Wozu diese Frage?«

Der Vierte: »Weil Ihr's an Euch selbst bald erfahren sollt. Folgt mir, gnädige Frau!«

Der Amtmann: (leise) »Es ist Eine von der Noblesse.«

Der dicke Herr: (rüttelt den auf dem Schenktische stehenden Messer-Korb und trommelt auf dem Tische) »Das war das Waffengetöse und Trommeln; Nun spricht Tuchsenhauser.«

Der Andre: »Verwegner! Agnes soll da bleiben, auf des Herzogs Befehl.«

Der Amtmann: »Excusiren Sie; hier hat niemand zu befehlen, als der Fürst Bischoff.«

Der Vierte: (zieht ein Messer hervor) »Verräther! das gilt mehr, als Dein Herzog.« (Will die Frau fortreißen)

Der dicke Herr: »Bravo!« (Er giebt ein Zeichen, durch Klopfen an der Thür; Mit einmal stürzen der Hausknecht, ein Taglöhner und noch einige Andre, mit Knütteln bewafnet herein. Es kömmt zum Kampfe)

Der Förster: (der, als ein reitender Förster, nie anders, als mit Stiefeln und Sporen und bewafnet mit einer Peitsche erschien) »Nein! das ist zu arg. Willst loslassen, Du Sackermenter! Ist das erlaubt, über ein Weibsmensch herzufallen.«

Und nun fuhr der Förster hinter dem Tische hervor und – Freylich konnte der gute Mann, der in seinem Leben kein ordentliches Schauspiel gesehn hatte, nicht wohl wissen, daß, was er da hörte, eine Stelle aus dem großen Original-Trauerspiele Agnes Bernauer (oder unteutsch zu reden: Bernauerinn) war. Der reisende Schauspiel-Director, Herr Stenge, war nämlich mit seiner zusammengeraften Gesellschaft Tages zuvor in Hildesheim angekommen, woselbst er die Erlaubniß erhalten hatte, zum Besten der Moralität und zur Beförderung des guten Geschmacks, so lange Vorstellungen von unsern National-Meisterstücken zu geben, bis die ehrlichen Bürger und Handwerksleute nichts mehr zu versetzen haben würden, um vierzehn Vagabonden zu füttern. Bessere Schauspieler-Gesellschaften hatten ihr Auskommen in Hildesheim nicht[16] gefunden; und so war denn doch zu hoffen, daß Mädchen und Jünglinge in romanhafter, schwärmerischer Stimmung und den Künsten der edlen Buhlerey wenigstens nicht ganz hinter der Jugend andrer Städte zurückbleiben würden. Des Herrn Stenge sogenannte Schauspieler-Gesellschaft hatte übrigens noch das eigne Verdienst, daß sie eine wahre Mustercharte von allen teutschen Provinzial-Dialecten war; doch führten die mehrsten Mitglieder die sanfte bayerische Mundart. Da das Brauhaus, worinn der Schauplatz errichtet werden sollte, noch nicht in Ordnung war, und man am Montage das eben genannte Trauerspiel mit allem Pomp geben wollte, hatte der Directeur, welcher mit seiner leider! schon ein wenig bejahrten Frau Liebsten in dem Gasthofe des Herrn Lauenstein sein Quartier genommen hatte, einen Theil seiner Gesellschaft zu sich bestellt, um einige Scenen aus dem vierten Acte zu probiren. Es war nicht möglich, alles so vollkommen und täuschend darzustellen, als es am Montage auf der Bühne erscheinen sollte; denn da waren die edle Schuster- und die Schneider-Zunft und einige Perückenmacher eingeladen worden, die Personen des Magistrats von Straubingen, der Fürsten und Ritter auf dem Thurniere, der Richter, Knechte, Wachen u.d.gl. vorzustellen, welche Rollen sonst in Berlin und andern Städten wohl mit Musketiers besetzt zu werden pflegen. Heute hatte man den Hausknecht und ein Paar andre Lümmel, die grade im Hause waren, abgerichtet, auf ein zu gebendes Zeichen in das Zimmer zu stürzen, wenn Tore mit den Kriegsknechten erscheinen mußte. Dem Förster war das Ding zu bunt; Er verstand es nicht, worüber der Streit herkam; als man aber über die ältliche Dame, welche Agnes vorstellte, herfiel, hielt er's für Pflicht, der schwächern Parthey beyzustehn. – Also fuhr er, wie wir schon gesagt haben, hinter dem Tische hervor und arbeitete mit seiner Peitsche auf die Kriegsknechte los. Der dicke Herr Stenge hielt den Mann im grünen Rocke, für einen Spaßvogel, der den Kampf täuschender darzustellen suchte, und rief einmal über das andre aus: »bravo! bravo!« Aber nicht also der Hausknecht und Consorten. Man hatte ihnen, als man sie zu dieser Vorstellung instruirte, nicht gesagt, daß sie ernstlich Schläge bekommen sollten. Da die Sache nun diese Wendung nahm, gefiel ihnen das sehr übel; und weil doch Jeder sich gern seiner Haut wehrt, wenn er kann; so blieben sie unserm armen Dornbusch nichts schuldig. Wenn es aber nach dem vortreflichen alten Spruche, ein Trost ist, Gefährten im Unglücke zu haben; so wurde dieser Trost auch dem Förster zu Theil; denn als die Kriegsknechte glaubten, der Grünrock gehöre mit zu der Parthey Derer, [17] welche sie anzugreifen befehligt waren, und er die Sache so ernstlich behandelte; meinten sie auch ein Recht zu haben, sich wegen der empfangnen Hiebe an den Übrigen zu rächen. In Kurzem war daher die ganze Gesellschaft in zwey Partheyen getheilt: hier tummelten sich zwey auf der Erde herum; dort hatte sich ein Paar in die Haare gefaßt; Agnes Bernauer vergaß die Ohnmacht, die in ihrer Rolle stand und schrie laut; ihr Gatte, der Principal, versuchte es, die Kämpfer aus einander zu reißen, indeß der Pastor, der Amtmann und sein Sohn kläglich und ängstlich um Hülfe riefen. Endlich hörte Herr Lauenstein, der Wirth, daß der Lerm größer war, als zu einer bloßen Probe unumgänglich nöthig schien. Er kam also mit seinen übrigen Hausgenossen herbey. Es wurde ein Waffen-Stillstand gemacht; dann kam es zu Erläuterungen; der Principal versicherte: er freue sich, bey dieser Gelegenheit die Bekanntschaft des Herrn Försters Dornbusch und seiner Gefährten gemacht zu haben, und Dieser schloß mit der Sentenz: »Der Teufel hole solche Commödien!«

Indessen versäumte Herr Stenge nichts, sobald die übrigen Schauspieler, die nicht in demselben Hause wohnten, fort waren, die gute Meinung der Männer aus Biesterberg vor sich zu gewinnen. Er konnte gar nicht aufhören, seine Betrübniß über das unangenehme Misverständniß zu erkennen zu geben; Er kramte dabey so viel herrliche, aus Dramen und Trauerspielen zusammengeflickte Grundsätze aus, sprach so eifrig von den Anstalten, die er getroffen hätte, um unter den Mitgliedern seiner Gesellschaft die strengste Sittlichkeit zu erhalten, und von seinen Beeiferungen, durch gute Auswahl der aufzuführenden Stücke, Wärme für Tugend und Religion zu verbreiten, daß selbst Ehren Schottenius sich geneigt fühlte, den Herrn Stenge und die Frau Gemahlinn für sehr vortrefliche Personen zu halten. An der Abend-Tafel, bey welcher der Herr Amtmann Waumann unter andern ein Paar mitgenommne Flaschen voll alten Franzweins producirte, der im vorigen Jahre in Bremen war componirt worden, öfneten sich nun vollends die Gemüther; und als unsre Reisenden, nicht gewöhnt, länger als bis zehn Uhr außer Bette zu bleiben, in die ihnen angewiesenen Zimmer giengen, indeß Herr Stenge noch unten blieb, schieden sie Alle mit Händeschütteln und viel verbindlichen Äußerungen aus einander.

[18]

Drittes Capitel
Der zweyte Tag fängt mit einem neuen Sturme an. Fortsetzung der Reise bis Peina.

Es war vier Uhr des Morgens, und noch lag in der bischöflichen Residenz alles, Mann, Weib und Kind, in tiefer Stille versunken; die gnädigen und hochwürdigen Domherrn ruheten aus in den Armen – des Schlafs von erhabnen Meditationen und sammelten neue Stärke zu – ihrem Leben, voll frommer Aufopferung; Mönch und Nonne, versteht sich, jede einzeln, weideten ihren, aus dem ertödteten Fleische zum Himmel emporstrebenden Geist in den seligen Gefilden des Paradieses, und der ehrliche Bürgersmann schlief sanft, um Kräfte zu sammeln, zu seinen, nicht so einträglichen, aber doch nicht minder nützlichen Geschäften. – Da quälte den Amtmann Waumann ein fürchterlicher Traum, wie er noch keinen je geträumt hatte. Wir, der Autor, könnten diesen Traum des Breitern hier erzählen und füglich einen halben Bogen damit anfüllen – sind doch schon manche Bände in allen Formaten geschrieben, die nichts als Träume enthalten! – allein diesmal wollen wir uns begnügen zu sagen, daß dieses Traums Haupt-Gegenstand der einzige Waumannsche Leibes-Erbe, unser liebenswürdiger Valentin war, und zwar in dem Augenblicke der größten Gefahr, darinn eine fromme Christen-Seele nur schweben kann, nämlich in den Klauen des leidigen Satanas und seiner Großmutter. Es dünkte den Amtmann, das Winseln seines Eingebohrnen abwechselnd mit dem Gebrülle des höllischen Schwefelpfuhl-Principals zu vernehmen. Geschworen hätte er darauf, daß es kein bloßer Traum wäre, der vor seiner Phantasie schwebte – und nichts glich seinem Schrecken, als er sich nun wirklich gänzlich erwacht fühlte, den geliebten Sohn nicht mehr neben sich im Bette sah, wo er doch des Abends zuvor seinen Platz genommen hatte, sondern als die valentinschen Klagetöne in einiger Entfernung vernehmlich und unverkennbar zu seinen Ohren drangen: »Papa! Papa! ach! sie knebeln mich; sie thun mir den Tod an.« Der Amtmann sprang sogleich von seinem Lager auf, fuhr schnell in seine Beinkleider, ergriff den zweyschneidigen [19] Hirschfänger und riß die Thür auf, durch welche seines Erben Geschrey gedrungen war.

Um die Leser, deren Ungeduld, wie wir, der Autor, das gar nicht anders vermuthen dürfen, auf's höchste gespannt seyn wird, nicht länger aufzuhalten, wollen wir den ganzen traurigen Vorgang erzählen, der diese Scene des Schreckens veranlaßte. In des hochgeehrten Herrn Lauenstein Gasthofe kömmt man, vermittelst einer kleinen Treppe, die, vermuthlich aus Mangel des gehörigen Lichts, ein wenig dunkel ist, zu einem, mit einem Alcoven versehenen Zimmer. Über demselben ist ein Appartement von ähnlicher Art, zu welchem man vermöge der Fortsetzung jener Treppe gelangt. Die übrigen Fremden-Zimmer liegen nach andern Seiten des Hauses hin, und in diese entlegne Wohnungen hatte man den Prediger und den Förster einquartiert. Der Theater-Principal war nebst Gattinn, wie bekannt, früher angekommen und hatte daher Besitz von dem untersten jener Alcoven-Zimmer genommen; dem Amtmanne und seinem Sohne hingegen war das im obersten Stockwerke angewiesen worden. Wir haben erzählt, daß die Gesellschaft aus Biesterberg Abends früher als die Priester der Thalia zu Bette giengen. Herr Stenge liebte, wie das zuweilen der Fall bey solchen Künstlern ist, die starken, begeisternden Getränke, und da sein Schutz-Patron, sanctus Apollo, ihm keinen Nectar lieferte, pflegte er sich bescheiden mit Kümmel-Aquavit oder dergleichen zu behelfen. Des Amtmanns alter Franzwein hatte seinen Durst vermehrt; Er ließ sich also noch Brandtewein vom Wirthe geben, schickte seine Frau zu Bette, nahm seine Rolle als Kaiser Ernst in Agnes Bernauer vor sich, fieng an trinkend zu studieren und studierend zu trinken; Nach und nach wurde sein kaiserliches Haupt schwerer; Ein kleines Geschäft, dem sich Monarchen und Bauern zu gewissen Zeiten nicht entziehn können, rief ihn in den Hof; Er taumelte irrend herum, gerieth endlich in einen leer stehenden Pferdestall, stolperte, fiel auf das Stroh hin – der Genius des Hauses Bayern wachte über ihn; er schlief sanft ein, sanfter, als sonst wohl Kaiser und Könige schlafen. – Moral:Man kann wohl je zuweilen auf Stroh sanfter, wie auf Eider-Daunen ruhn.

Unterdessen hatten die Zauberkräfte der ungewöhnten Stadt-Küche eine sonderbare Umwälzung (Revolution) in den Verdauungs-Werkzeugen des Musjö Valentin Waumann bewürkt; Er konnte nicht einschlafen vor Kneipen und Reißen – Wie, wenn der Professor Aloisius Hoffmann in Wien nach unweisem Genusse der gewürzten Speisen der Aufklärung, [20] seinen, an Wasser-Suppen, Fastenspeisen und Klosterkost gewöhnten Magen in dem unsaubern heimlichen Gemache der Wiener Zeitschrift zu entladen sucht, so sehnte sich unser liebenswürdiger Jüngling nach einer ähnlichen Anstalt für seine Bedürfnisse. Er schlich weg von der Seite seines fest schlafenden Erzeugers, irrte im Hause umher, fand endlich das quasi hoffmannsche Institut, und kehrte, doch nicht verachtet und verspottet wie der Professor, nach seiner Schlafstelle zurück. Allein unglücklicherweise gerieth er in das untre Zimmer, und weil dies vollkommen wie das obre eingerichtet war, wurde ihm sein Irrthum nicht merklich, sondern er gieng dem Alcoven zu, legte sich behende neben – Madam Stenge hin, und schlief ein.

Also schlief er; die Dame schlief; der Herr Amtmann schlief; der Theater-Fürst schlief; folglich wurde bis zu der Morgenstunde niemand der Verwechselung gewahr. Dann aber waren die Dünste des gestrigen Rausches bey dem Herrn Stenge verflogen; Er erhob sich von seinem Lager, erstieg sein Zimmer und fand – was wir wissen.

Als der Amtmann den Schauplatz der Gewaltthätigkeit erreichte, hatte eben der Principal den einzigen waumannschen Erben mit einer Hand an der Gurgel ergriffen, indem er ihm mit der andern ein Taschen-Pistol auf die Brust hielt und dabey fürchterlich declamirte: »Räuber, Ehrenschänder!« rief er aus, »Du sollst mir den Frevel theuer bezahlen. Und Du, unkeusches Weib! die Du mein Ehebette befleckest; hast Du vergessen, daß Dein Leben mein Werk ist, daß ich Dir alles aufopferte, daß ich hasse, wie ich liebe? 1 Was hindert mich, daß ich jeden Eurer Othemzüge in banges Seufzen, Euer verliebtes Girren in Heulen und Zähnklappern verwandle.« »Hat sich was zu klappern«, rief der Förster, der indeß, wie alles, was sonst noch im Hause lebte und webte, herbeygekommen war. »Hat sich was zu klappern! das alte Mensch hat ja keinen Zahn mehr im Rachen. Und nun sage mir gleich, Du vermaledeyter Pritschmeister! was Dir der junge Mensch da gethan hat! Oder ist das wieder einer von Deinen Commödien-Späßen, wobey ehrliche Leute Schläge kriegen? Ich rathe Dir's, bleib uns mit Deinem Hocuspocus vom Leibe, oder Du sollst sehn, daß der Förster Dornbusch auch Commödie spielen kann.«

Weit entfernt, sich durch diese Drohungen schrecken zu lassen, erhob vielmehr Herr Stenge nur noch lauter seine Principal-Stimme. Von der [21] andern Seite trat seine Eheliebste mit den heiligsten Betheurungen ihrer Unschuld hervor. – Ein Gegenstand, den sie in dreißig Jahren nicht Gelegenheit zu vertheidigen gefunden hatte! Sie schwor bey den Lichtern des Firmaments, sie habe fest geschlafen und gar nicht geahndet, daß ein Verführer den Platz ihres Mannes bey ihr eingenommen hätte. »Wodurch, schändlicher Bösewicht«, schrie sie, »habe ich Deine Frechheit ermuntert, daß Du einen so höllischen Anschlag auf meine Tugend wagen durftest?« – »Darum also«, fiel ihr wieder Herr Stenge in die Rede, »habt ihr mich mit Euren betäubenden Getränken in einen Zustand versetzt, in welchem ich meiner Sinne nicht mächtig war?« – Kurz! Beyde spielten ihre Rollen so gut und der dicke Herr war ein zu alter Practicus, als daß er nicht auf den ersten Blick hätte wahrnehmen sollen, was für Vortheil sich aus dieser Verwirrung ziehn ließ. Der Amtmann und seine Gefährten standen in der That wie bezaubert da und wußten nicht, was sie anfangen sollten. Alles sprach gegen Musjö Valentin; das Factum war nicht zu leugnen; das Ehepaar drohete mit gerichtlicher Klage; der Wirth glaubte gleichfalls sein Haus beschimpft. – Welch ein Aufsehn, wenn Herr Stenge die Gesellschaft in Verhaft nehmen ließ! Freylich würde sich die Sache vor Gericht aufgeklärt haben; aber der Schimpf. – Und die Kutschen standen schon bespannt vor der Thür; Es war keine Zeit zu verliehren, wenn man des Herrn Blanchards Himmelfarth sehn wollte. – Was sollte man also thun!

Von der ganzen Gesellschaft war unstreitig der Pastor Schottenius der Vernünftigste. Er merkte bald, daß dem Übel durch einen Aderlaß, den der Herr Amtmann seinem Geldbeutel verordnen würde, abgeholfen werden konnte. Es bedurfte nicht viel Feinheit, um die Gauner-Familie zu bewegen, hierzu die Hände zu biethen. Mit einer Anweisung auf dreißig Reichsthaler, die Herr Lauenstein, welcher den Beamten kannte, bezahlte, wurde die Sache ins Reine gebracht; unsre Freunde reisten ab, verschworen sich, ihr Lebenlang an Hildesheim zu denken, und kamen bald ohne weitern Unfall in Peina an.

[22]

Viertes Capitel
Begebenheiten in Peina; Tisch-Gespräche; Kuchen, in des Pastors Unsterblichkeit gehüllt; Die Gesellschaft trennt sich.

Wir sehen es denen Damen und Herrn an, welche dieses unser, wie wir uns schmeicheln, sehr unterhaltende Werk lesen, daß sie, bey der Überschrift dieses Capitels, über die Tisch-Gespräche die Köpfe schütteln. Sie mögten die Reisenden nun gern sogleich weiter fortgeschafft wissen, in der Hofnung, daß es da wieder allerley lustige Abentheuer absetzen würde; die Gespräche hingegen werden ihnen, wie sie fürchten, Langeweile machen. Allein Sie irren Sich gewaltig, wenn Sie glauben, daß wir, der Autor, uns darum bekümmern werden. Das müßte doch wahrlich mit andern Dingen zugehn, wenn man uns vorschreiben dürfte, auf welche Weise wir unsre Geschichte erzählen sollten, und wenn es uns verwehrt seyn dürfte, auch einmal unsre Personen mit einander über Gegenstände raisonniren zu lassen, über welche wir unsre Meinung zu sagen einen Trieb fühlen. Ist doch das die einzige schickliche Gelegenheit, die wir in diesem Buche finden können, unsre philosophischen und andern wissenschaftlichen Kenntnisse, die, ohne uns zu rühmen, nicht zu verachten sind, auszukramen!

Diesmal aber ist der Autor sehr unschuldig daran, daß seine Reisende sich so lange in Peina aufhalten. Der Zufluß von Fremden, die aus allen Gegenden zu der blanchardschen Hannswursterey nach Braunschweig reisten, war so unbeschreiblich groß, daß nicht jedermann sogleich Postpferde erhalten konnte. Unsre Freunde aus Biesterberg waren unter der Anzahl Derer, die sich mußten vertrösten lassen, bis ein Paar Gespanne zurückgekommen seyn würden – Bey solchen Gelegenheiten pflegen denn auch vornehme Herrschaften schneller bedient zu werden, obgleich sie gewöhnlich nicht besser bezahlen, wie Andre – Sie konnten noch von Glücke sagen; Ein Holländer, der viel Meilen Weges deswegen gereist war, mußte sich gefallen lassen, statt des Herrn Blanchards Bekanntschaft, mit der des Herrn Postmeisters in Peina vorlieb zu nehmen; ihnen hingegen versprach man doch, sie zur rechten Zeit nach Braunschweig zu liefern. Und da sie nun einmal ein Paar Stunden in Peina [23] aushalten müssen und sie da in einer großen Gesellschaft von andern Reisenden an der Mittags-Tafel sitzen, muß ich doch entweder erzählen, was sie gegessen, oder was sie gesprochen haben. Das Erste würde sehr kurz zusammen zu fassen seyn, wie Jeder weiß, der einmal im Posthause in Peina getafelt hat; folglich, es hilft nichts davor, werde ich nicht umhinkönnen, mit den Tisch-Gesprächen aufzuwarten.

Des Herrn Amtmanns respectabler Bauch und sein mit Gold eingefaßter blauer Rock hatten ihm, vermöge einer stillschweigenden Convention, den obersten Platz am Tische verschafft; Musjö Valentin ließ sich gleich neben ihm nieder, band die Serviette um den Hals und grinzte freundlich in die Suppen-Schale. Dem Vater zur andern Seite saß, in sehr zierlicher Reise-Kleidung, ein Mann mit einer Protections-Mine, den unsre Freunde so obenhin für einen Regierungs–, Hof- oder Cammerrath hielten. Hier neben nahm der Förster Platz; dann der Pastor. Mit cavaliersmäßigem, leichten Anstande warf sich dann ein junger Herr auf den nächsten Stuhl, trillerte, mezza voce, das Fragment eines kleinen Liedes, und rümpfte die Nase über die, wie es schien, ihm zu gemeine Kost. Der Rest der Gesellschaft bestand aus unbedeutenden Personen, die kein Wort redeten, als wenn sie Wein forderten und sich durch nichts, als ihren vortreflichen Apetit bemerklich machten.

Der Amtmann: »Nach Ihnen, mein hochgeehrtester Herr!«

Der wichtige Mann: »Ohne Umstände! Ich bin nicht für Complimente. Apropos! wie fällt in ihren Gegenden die Erndte aus? Sie haben wohl selbst Landhaushalt?«

Der Amtmann: »Ich habe die Ehre als Amtmann in Seiner **** Diensten zu stehn und habe eine große Pachtung. Ey nun! mit der diesjährigen Erndte ist es –«

Der wichtige Mann: »Große Pachtung? Das höre ich immer ungern. Freylich werdet Ihr Herren reich dabey – lauter kleine Fürsten! Aber das Land, das Land!«

Der junge Herr: (zu dem Pastor) »Wie heißt der beste, große Gasthof in Braunschweig?«

Pastor: »Excusiren Sie! Ich kann nicht dienen. Es ist das erstemal, daß ich mit den –«

Förster: »Ich logiere mant immer im goldnen Engel; Da ist gute Wartung für Menschen und Vieh.«

[24] Einer von den Andern: »Meine Herrn! ich nehme mir die Ehre, auf gutes Wohlseyn!«

Alle: »Danke ergebenst! Obligirt! Gleichfalls!«

Der wichtige Mann: »Bey unserm Collegio sind wir jetzt darüber aus, die Ämter zu vereinzeln und die Ländereyen an Bauern auszuthun. Wir sehen den Nutzen davon ein; Wir wollen den Profit mehrern Familien gönnen; Wir haben darüber jetzt gewisse Grundsätze angenommen, wobey unser Land besser fahren wird.«

Der junge Herr: »Mich soll wundern, wie man mich in Braunschweig behandeln wird; Ich finde viel Bekannte da – Und ob ich den Herzog verändert finde – Der Kaiser wird es kaum glauben, wenn ich ihm bey meiner Rückkunft sage, wie weit man noch in Hannover zurück ist. (Unsere Freunde machten große Augen) Sind Sie ein Liebhaber von Music, Herr Pastor?«

Pastor: »Ich habe ehemals ein wenig Harfe gespielt und gesungen; aber die Amtsgeschäfte lassen mir jetzt wenig Muße zum bloßen Zeitvertreibe übrig.«

Der junge Herr: »Zeitvertreib? Ich bitte Sie! Kann etwas edler seyn, als die Tonkunst? Was würkt mehr auf Herz und Empfindungen? Kann ein Mensch ein gutes Gemüth haben und kein Freund von Music, und kann ein großer Musiker wohl je ein Bösewicht seyn? An dem Vortrage eines einzigen Adagio will ich hören, ob ein Virtuose edler Gefühle fähig ist oder nicht.«

Pastor: »Erlauben Sie, mein Herr! Ich habe das ehemals auch wohl gedacht, habe mich aber nachher überzeugt, daß das alles nur ein Werk mechanischer Übung ist. Weich macht die Music, das ist gewiß; aber nicht jede sanfte, wollüstige Empfindung ist darum Empfindung edler Art. Die Music hat keine bestimmte Sprache; sie regt luxuriöse Gefühle auf, ohne ihnen eine geordnete Richtung zu geben. Das Herz wird dadurch empfänglich, hier zum Wohlwollen, zur Freundschaft, dort zur Sinnlichkeit und zu grober Wollust. Die Menschen sind sehr geneigt, verschiedne Begriffe zu verwechseln, die man mit denselben Worten ausdrückt. Wir sagen von einem sanguinischen Weichlinge, der über Roman-Helden Thränen vergießt: er habe Gefühl, und dasselbe sagen wir von dem Manne, dessen Herz sich für große Gegenstände warm und thätig interessirt; allein vergessen wir nicht, daß Jener darum doch ein Erz-Schurke seyn könne; der wahrhaftig tugendhafte, zu erhabnen Thaten [25] und großmüthigen Aufopferungen fähige Mann hingegen sich durch die Gewalt seiner Vernunft über die Leidenschaften auszeichnen müsse. Kurz! die Tugend besteht nicht in dunkeln Gefühlen, wie ich dies in einer Predigt, die bald im Drucke erscheinen wird, weitläuftig auseinander gesetzt habe. Was ich eben behauptete, wird ja auch durch die Erfahrung bestättigt. Findet man nicht die verworfensten, schlechtesten Leute und die kaum Menschensinn haben unter den geschicktesten Virtuosen?«

(Hier stand der junge Herr einen Augenblick auf und gieng hinaus)

Der Amtmann: (zu dem wichtigen Manne) »Um Vergebung! kennen Dieselben den Herrn, der da von Music sprach und der, wie es scheint, mit fürstlichen Personen in genauen Verhältnissen stehn muß?«

Der wichtige Mann: »Ob ich den Schuft kenne? Wie wollte ich nicht! Das ist ein reisender Flötenspieler; Ein lüderlicher Hund, der, als ich in herrschaftlichen Angelegenheiten in Wetzlar war, dort ein ehrliches Bürgers-Mädchen verführte und mit ihr durchgieng. Hernach ist er einmal Comödiant gewesen; Jetzt steht er in Wien bey der Capelle eines Fürsten. Sie haben Recht gehabt, daß Sie ihm die Wahrheit gesagt haben, Herr Pastor! aber das muß man gestehn, der Kerl spielt, wie ein Engel. Solche Pfeifer und Geiger glauben, daß sie die wichtigsten Leute im Staate sind, und daß sie uns eine Gnade erzeigen, wenn sie uns die Thaler aus dem Beutel dudeln. Aber auf unser voriges Gespräch zurück zu kommen, Herr Amtmann! Sie schüttelten den Kopf, als ich von Vertheilung der Amts-Ländereyen sprach.-«

Der Amtmann: »Ich bekenne, daß ich nicht davor bin. Sie werden vielleicht glauben, mein hochgeehrtester Herr!, daß ich aus Eigennutz rede; aber das ist gewiß nicht der Fall. Sie belieben zu sagen, die Beamten würden reich bey den großen Pachtungen; allein das hängt davon ab, wie der Contract gemacht ist. Und wäre das auch! Was würde aus unsern Staaten werden, wenn es keine reiche Leute darinn gäbe? Wer sollte in Zeiten der Theurung und des Mangels den Armen Brod und Arbeit geben, ihnen Vorschüsse thun? Der Bauer sammelt nicht; Kommen nun Misjahre, so ist die Noth allgemein. Der wohlhabende Beamte hingegen ist in solchen Calamitäten der allgemeine Cassirer. Sie sagen, wenn die Ländereyen vertheilt würden, lebten mehrere Familien davon. Allein ziehen denn nicht von dem reichen Manne eben so viel Familien ihren Unterhalt? Dem Wucher der Capitalisten und der übermäßigen Bereicherung aber kann ja die Landes-Regierung Einhalt thun.«

[26] Unser Herr Amtmann wollte seine cameralistische Abhandlung eben fortsetzen, als dem wichtigen Manne gemeldet wurde, daß der Wagen, in welchem er mit zwey von den stummen Personen abreisen sollte, fertig vor der Thür stünde. Er gieng also von dannen; und kaum hatte er die Thür hinter sich zugezogen, als der Virtuose in ein lautes Gelächter ausbrach: »Nun bey meiner Seele!« rief er, »das nenn' ich einen Windbeutel! Thut der Kerl nicht so dick, als wenn er ein Minister wäre! Aber wir kennen uns; Ich habe ihn gesehn, als er in Wetzlar, zur Zeit der Visitation, Bedienter bey den ***schen Gesandten war. Er hat mir und dem Cammerrichter manches Glas Wein eingeschenkt, wenn wir bey dem Gesandten speisten. Jetzt ist er Scribent bey der Cammer in ***.«

Den Herrn Amtmann reuete nun seine übergroße Höflichkeit und seine ländlichen Gefährten machten in der Stille ihre Bemerkungen über die Wahrheit des Satzes, daß in der großen Welt, in welcher sie so fremd waren, der Schein gewaltig betröge. Indessen war ein Gespann Pferde zurück gekommen; Man konnte also die Hälfte unsrer Freunde nach Braunschweig spediren. Es war nicht rathsam, länger zu warten, weil jeden Augenblick neue Fremde ankamen, welche die Pferde wegnahmen. »So will ich denn«, sprach Herr Waumann, »mit Valentin vorausfahren. Sobald ein anders Gespann kömmt, folgen Sie nach, und im goldnen Engel finden wir uns wieder.«

»Ich sehe«, sagte der Virtuose, »daß der Herr Amtmann einen Platz leer haben. Wollen Sie so gütig seyn, mich mitzunehmen; so gewinne ich Zeit; meine Equipage kann nachkommen. Ich wollte gern heute noch, ehe der Lerm losgeht, den Prinzen *** sprechen, der mich erwartet.« –

So etwas abzuschlagen, dazu hatte der Herr Amtmann keinen Muth; also nahm er den musicalischen Reisenden mit. »Mein Vetter, der Förster da oben bezahlt für mich«, sagte der Virtuose dem Küfer leise in das Ohr, als er hinunter kam, und damit stieg er schnell ein, und sie fuhren ab.

»Wir wollen«, sprach der Pastor, »dies Stück Kuchen mitnehmen; Es muß doch bezahlt werden. Aufwärter! hat er nicht ein Stück Papier?« Der Aufwärter gieng hinaus, kam bald wieder und brachte einen halben Bogen, klein beschrieben. »Ach! was ist das?«, rief Ehren Schottenius, »das ist ja meine Hand. Wo hat Er das Papier gefunden? Ach, Du meine Güte! das ist meine schönste Predigt. Wie ist Er an dies Blatt gekommen?«

[27] O Ihr unsichtbaren Mächte! Schutzgeister, Engel und Teufel, Heilige und Verdammte, Genien, Dämonen! oder wie Ihr heißen möget, die Ihr Eure Nasen in das Gewebe unsrer Schicksale steckt; sprechet, was haben die armen Reisenden aus Biesterberg verbrochen, daß Ihr ihnen so übel mitspielet? War es Euch nicht genug, daß der dienstfertige Förster Dornbusch für seine gute Absicht, Agnes Bernauer aus den groben Händen des Hausknechts zu erlösen, mancherley Streiche leiden mußte, daß der unschuldige Valentin Waumann, als ein Ehebrecher angeklagt, mit Todes-Gefahr bedroht wurde, und daß sein würdiger Erzeuger sich gezwungen sah, aus seinem Seckel seinen einzigen Leibes-Erben von dem zwiefachen Schimpfe loszukaufen. Muß nun noch die Unsterblichkeit, die sich Ehren Schottenius in der Schulbuchhandlung in Braunschweig schwarz auf weiß wollte geben lassen, ein Spiel loser Buben werden? Denn daß Du es nur wissest, geneigter Leser! folgendermaßen war es mit der unglücklichen Predigt zugegangen: Die schönen Beschreibungen und Kupferstiche, welche des berühmten Herrn Blanchards Wind-Reise vorstellten und wodurch die curiosen Liebhaber brodloser Künste herbeygelockt werden sollten, hatten die muntre Jugend in Peina bewogen, die Nachahmung der Luftbälle seit einiger Zeit zum Haupt-Gegenstande ihrer unschuldigen Spiele zu machen. Drey lustige Knaben, die ihr Wesen in dem Hofe des Herrn Postmeisters trieben, wiegten sich eine Zeitlang in der leer stehenden halben Kutsche des Pastors Ehren Schottenius. Ihre Neugier trieb sie endlich auch, in den Bock- und in den Sitzkasten hinein zu blicken. Da fanden sie dann in letzterm unglücklicherweise das Manuscript unsers armen Pastors; und weil sie keinen Begriff von der Wichtigkeit dieser Papiere hatten, erklärten sie das ganze Bündel für eine res nullius, nahmen einige Hefte davon, holten Scheere, Nadeln und Zwirn herbey, begannen, von den Wahrheiten des Christenthums wegzuschneiden, was nicht zu der Form eines Luftballs paßte, wie der Doctor Bahrdt von den Kirchensystemen wegschneidet, was ihm nicht rund genug ist, und fiengen dann an, die Stücke zusammen zu nähen, um die Nachahmung einer aerostatischen Maschine zu Stande zu bringen. Der Aufwärter, welcher Papier suchte, nahm den Knaben eines von den Blättern weg, brachte es dem Pastor, wie wir gehört haben, und in welche Klagelieder dann der ehrwürdige Herr bey dem Anblicke dieses Fragments ausbrach, das wollen wir aus Schonung gegen den geneigten Leser verschweigen. Unsre Erzählungen werden je zuweilen rührend seyn; aber erschüttern wollen wir nicht. Auch können wir Ihnen zum[28] [30]Troste sagen, daß der geistliche Herr noch früh genug in den Hof kam, um den größten Theil des Manuscripts zu retten. Es war eigentlich nur Eine Predigt ganz, und von einer andern die Nutz-Anwendung verlohren gegangen. – Ein erträglicher Schaden! Geht doch so manche Predigt ganz, und von den mehrsten die Anwendung verlohren! Da das zweyte Gespann Pferde noch immer nicht zurückgekommen war und Ehren Schottenius die beyden Seiten der Schluß-Vermahnung noch im Kopfe hatte; ließ er sich geschwind einen Bogen reines Papier geben, schrieb sie wieder auf, und hatte doch nun sechs und funfzig Predigten vollständig. – Was in der sieben und funfzigsten gestanden hatte, war freylich im eigentlichsten Sinne, in den Wind geredet.

Wir lassen den geistlichen Herrn schreiben und begleiten unsern Amtmann auf seiner Reise nach Braunschweig.

[30]

Fünftes Capitel
Was dem Herrn Amtmanne und seinem Sohne nach der Trennung von ihren Gefährten begegnet.

Der reisende Virtuose, den wir mit unsern beyden Freunden haben nach Braunschweig abfahren lassen, war, wie leider! die mehrsten Menschen, die sich dieser Lebensart widmen, ein Erz-Taugenichts, der von den Schwächen andrer Leute lebte. Wenn er in einer Stadt die müßigen Music-Liebhaber durch sein Talent und die manntollen Weiber durch seine seelenlose Figur bezaubert hatte, nistete er sich auf eine Zeitlang ein und blieb dort, bis irgend ein verübtes Bubenstück ihn nöthigte, bey Nacht und Nebel fortzugehn, da ihm dann gewöhnlich die Flüche betrogner Gläubiger, mit Undank gelohnter Wohlthäter und verführter Mädchen nachfolgten. Dann trat er zwölf Meilen von da unter anderm Namen auf, hieß in St. Petersburg Monsieur Dubois, in Berlin Signor Carino, in Hamburg Herr Zarowsky und in Wien Herr Leuthammer; erschien bald in gestickten Fracks, mit zwey Uhren, bald im zerrißnen Überrocke, als blinder Passagier auf dem Postwagen. Sein Herumtreiben unter Menschen aus allen Ständen hatte ihm eine gewisse Wendung, einen Anstrich von Feinheit und Welt gegeben, obgleich er im Grunde äußerst leer und unwissend war. In dem Augenblicke, da wir ihn hier haben auftreten lassen, war er ohne einen Heller Geld zu Fuße nach Peina gekommen, in der Zuversicht, die ihn, wie wir gesehn haben, auch nicht trog, daß er, bey der Menge von Fremden, die itzt nach Braunschweig ströhmten, leicht einen gutwilligen Mann finden würde, der ihn dahin mitnähme, wo er ein Concert zu geben, oder sonst einen Fang zu thun hoffte. Unsre Landleute aus Biesterberg waren grade die Menschen, deren er bedurfte. Daß er beym Abfahren dem Förster, den er für seinen Vetter ausgab, die Sorgfalt überließ, seine Zeche zu bezahlen, war nur ein kleines Probestück seiner Kunst, im Vorbeygehn; von seinen Reise-Gefährten aber hoffte er größere Vortheile zu ziehn.

Sobald nun die Kutsche das holprichte Steinpflaster in Peina verlassen hatte, fieng Herr Carino an, mit sanfter Stimme und bescheidnem, ehrerbiethigem Wesen, seine Gesellschafter zu unterhalten.

[31] »Der junge Herr«, sprach er, »sind wohl noch nie in Braunschweig gewesen. Das Gewühle von Menschen wird jetzt ungeheuer groß darinn seyn. Man muß sich da im Gedränge gewaltig in Acht nehmen, daß man nicht bestohlen oder sonst gemißhandelt werde. Ich will wohl rathen, Uhr und Geldbeutel im Gasthofe zurückzulassen. Wir wollen uns dann immer nahe zusammenhalten, und wenn mein hochgeehrtester Herr Amtmann mir Dero Herrn Sohn anvertraun wollen, will ich schon auf's Beste für den jungen Herrn sorgen.«

Dies Anerbiethen konnte nicht anders als äußerst dankbar angenommen werden; die übrige Frist bis zur Ankunft in Braunschweig verwendete Herr Carino, sich vollends in dem Zutraun des alten Herrn festzusetzen und ihm mit angenehmen Erzählungen die Zeit zu vertreiben.

Im goldnen Engel fanden unsre Reisenden einen solchen Zusammenfluß von Fremden aus allen Gegenden, daß sie nur mit genauer Noth noch ein kleines Zimmer unter dem Dach eingeräumt bekommen konnten, wo sie ihre wenigen Päckereyen absetzen ließen.

»Daß Dich der Tausend!« rief plötzlich der Herr Amtmann Waumann, als ihm auf der Treppe ein dicker Herr in einem braunen Rocke mit gelben Knöpfen und einer rothen Weste mit Gold besetzt begegnete. »Alter Freund! wie treffen wir uns hier an?« – Es war der Licentiat Bocksleder aus Schöppenstedt, sein Universitäts-Freund, den auch die Neugier hierher getrieben. – Und dann hatten sie sich tausend Dinge zu erzählen. »Und weißt Du denn, Herr Bruder Amtmann! daß meine Frau auch mit hier ist und ihr Vater, der Kaufmann Pfeffer? Du mußt mir gleich mit zu ihnen. Wir logiren nicht hier im Hause, sondern im Prinzen Eugen; ich suchte nur hier jemand auf. Wir haben noch über zwey Stunden Zeit, ehe der Ball aufsteigt. Mit dem Anfüllen geht auch sehr viel Zeit weg. Und Platz finden wir immer. Laß uns das Spectakel außer dem Thore jenseit des Grabens ansehn; in der Schanze ist das Gedränge zu groß, und warum sollte man noch Geld dafür ausgeben?«

Der Amtmann machte einige Einwendung in Rücksicht auf seinen Sohn, und, wenn er Den auch mitnehmen wollte, hauptsächlich wegen der andern beyden Gefährten, die noch von Peina nachkommen würden; allein Herr Carino erboth sich, dem jungen Herrn nicht von der Seite zu gehn, mit ihm und, sobald der Pastor und der Förster da seyn würden, auch mit Diesen nach der Contre-Escarpe zu folgen. »Dort, werthester Herr Amtmann!«, sagte er, »werden wir Sie schon finden; und wenn auch nicht; so treffen wir doch, sobald alles vorbey ist, gegen [32] Abend hier wieder zusammen. Lassen Sie Sich ja nicht von Ihrer angenehmen Gesellschaft abhalten!« Der Vorschlag wurde angenommen, und der Amtmann gieng mit seinem Freunde.

»Sie sind, meiner Six! ein netter Mann, Herr Carino!« sprach Musjö Valentin, als er mit dem Virtuosen allein war. »Ich habe Ihnen recht lieb. Sie sprechen so artig, daß man gern zuhört. Ihr Gespräch ist gleichsam, wie das Wirthshaus-Bier; Man wird immer durstiger darnach, jemehr man davon genießt.« »Und Ihr Witz«, erwiederte Herr Carino, »ist wie das März-Bier; Er ist auch noch in künftigem Sommer gut, ohne schaal zu werden.« –

Hier wurde ihre Unterhaltung durch die Ankunft eines Bothen aus Peina unterbrochen, den der Hausknecht hereinführte und der nach dem Herrn Amtmann Waumann fragte. Er brachte einen Brief an denselben, und da zu vermuthen war, daß der Inhalt vielleicht wichtig und von der Art seyn könnte, daß man eilig etwas darauf antworten oder thun müßte, Papa Waumann aber nicht herbeygeholt werden konnte, übrigens auch der Brief wohl keine Geheimnisse zu enthalten schien, indem er nur mit einer Oblate versiegelt war; rieth Herr Carino, denselben zu erbrechen, welches auch geschahe – Er lautete, wie folgt:


Werthgeschätzter Herr Amtmann!


Ein äußerst unerwarteter Vorfall, dessen Erzählung sich nicht wohl der Feder anvertraun läßt, nöthigt den Herrn Förster, seinen Reiseplan zu verändern und von hier sogleich nach Goslar zu fahren. Erwarten Ew. Wohlgebohren uns also nicht in Braunschweig! Ich gestehe, daß es mir ein wenig nahegeht, das merkwürdige Experiment des Monsieur Blanchard nicht mit ansehn zu können. Auch wegen der Edition meiner Predigten wäre ich gern in Braunschweig gewesen. Allein, was ist zu thun? Mündlich ein Mehreres! Wir hoffen, so Gott will, gegen Ende der Woche wieder in Biesterberg einzutreffen. Ich empfehle mich gehorsamst


Peina, im Posthause,
Sonntags Mittags,
in Eil.

Johann Gottlieb Schottenius


Musjö Valentin pflegte sich eben nicht den Kopf zu zerbrechen über die Grund-Ursachen, würkenden Ursachen und andern Ursachen der Dinge; also steckte er den Brief in die Tasche und begnügte sich, seinem Gefährten zu erzählen! der Förster habe eine Nichte in Goßlar, die Grete hieße und die sie ihm, dem jungen Herrn Waumann, gern zur [33] Frau geben wollten, die er aber nicht leiden mögte, weil sie ihm zu städtisch und zu gelehrt wäre. Er fürchtete sich recht davor, sagte er, daß der Förster sie nun mitbringen, und daß man ihm dann gewaltig zusetzen würde, Hochzeit zu machen.

Indeß dies vorgieng, sahen sie nach und nach Schaaren von Menschen zu dem großen Schauspiele hinziehn, und selbst aus dem goldnen Engel lief alles fort, was Beine hatte.

»Nun ist es Zeit«, sprach Herr Carino, »daß wir uns auch zurüsten. Allein bey solchen Gelegenheiten thut man wohl, durch seine Kleidung ein wenig hervorzuleuchten, damit man vom Pöbel mit Achtung behandelt werde. Vermuthlich haben Sie noch einen bessern Rock im Coffer. Hurtig, den angezogen! Ich habe einen Kamm bey mir; da will ich Ihnen in Eil ein wenig die Haare zurecht kämmen.«

Valentin zog Rock und Weste aus, öffnete den Coffer, holte ein grünes Röckchen mit goldnen Knopflöchern hervor. – »Legen Sie dagegen Uhr und Geldbeutel hinein! Und wenn Sie nun noch einmal an einen gewissen Ort gehen wollen«, fuhr Herr Carino fort, »so machen Sie geschwind! Ich will indeß alles in den Coffer verschließen. – Es giebt böse Menschen; man muß vorsichtig seyn.«

Herr Valentin lief, im Hemde, wie er war, an den Ort, den man nicht gern nennt; Signor Carino schlich nach, verriegelte, als Jener saß, die Thür von außen, kehrte in das Zimmer zurück, packte Geld, Uhr, und was er in der Eil aufraffen konnte, zusammen, flog die Treppe hinunter, verlohr sich in den Haufen und – wird sich wohl in diesem unserm Büchlein gar nicht wiederfinden.

[34]

Sechstes Capitel
Fragment einer Predigt. Unvermuthete Zusammenkunft in Peina. Wie mag das zusammenhängen?

Der Ort, wo wir, als ein gewissenhafter Geschichtschreiber den hoffnungsvollsten Jüngling leider! haben einsperren lassen müssen, ist freilich kein angenehmer Aufenthalt für ihn; allein da wir ihn doch nun vorerst noch nicht von da erlösen können, fühlen wir, so sehr wir uns auch für ihn interessiren, dennoch keinen Beruf, ihm dort Gesellschaft zu leisten, sondern kehren vielmehr nach Peina zurück, um zu sehn, was aus unsern andern beyden Freunden geworden ist.

Wir haben gehört, daß der Herr Pastor sich angelegen seyn ließ, die Lücke wieder auszufüllen, welche böse Buben in eine seiner schönsten Predigten gemacht hatten; der Förster Dornbusch warf sich indeß in einen alten Lehnsessel hin, streckte die Beine vorwärts, schlug die Arme in einander, schloß seine Augen, fieng an zu gähnen und schlief ein. Was können wir nun besseres thun, als daß wir, ohne Einen von Beyden zu stöhren, leise hinter Ehren Schottenii Stuhl treten und, was er zu Papier bringt, heimlich in unsre Schreibtafel eintragen? – – Hoho! meine Damen und Herrn! schweigen Sie ja still! Sie können froh seyn, daß ich Ihnen nicht alle sechs und funfzig Predigten als Beylage zu diesem Romane aufdringe. Sie kommen noch wohlfeil davon; und, die Wahrheit zu gestehn, es wäre für die Mehrsten von Ihnen überhaupt nützlicher, wenn Sie mehr Predigten und weniger Romane läsen. Schlimm genug, daß, wenn man Euch einmal wichtige Wahrheiten an das Herz legen will, man die bunte Jacke anziehn muß! Und dann mag man sich ja wohl in Acht nehmen, daß man bey ernsthaften Gegenständen nicht zu lange verweile, sonst blättert Ihr, statt zu lesen. Die Märchen und Possen sucht Ihr auf, und das, um dessentwillen das Buch geschrieben ist, überschlagt Ihr. »Ja! Ihro Gnaden lesen nur, um amüsirt zu seyn; von Dero Pflichten sind Sie vollkommen informirt.« – tant mieux! aber ich sehe doch noch keine Früchte davon. – Doch wir gerathen in Ärger und das schadet unsrer Gesundheit; also weiter in den Text!

[35]

Fragment einer Predigt über die Bewegungsgründe zur Tugend, welche aus eignem und fremdem Beyfalle hergenommen werden.

Die Tugend also blos um ihrer selbst willen zu lieben und auszuüben, ohne den geringsten Eigennutz, ja! mit schweren Aufopferungen, dazu gehört schon große Stärke der Seele. Aus bloßer Liebe zu Gott edel zu handeln, das setzt schon ein Herz voll Wärme für Religion voraus. Näher liegen dem sinnlichen Menschen die Bewegungsgründe, die aus dem Beyfalle der Menschen und den daraus zu erwartenden Folgen hergeleitet sind. So verstockt, so schamlos ist kein Bösewicht, so frech keine Verirrte, daß sie nicht wünschen sollten, entweder auf andre Menschen vortheilhafte Eindrücke zu machen, oder wenigstens sich selbst innerlich, wegen irgend einer vorzüglichen Eigenschaft, loben zu können. Sie erklären lieber die Tugend für ein Hirngespinst, als daß sie bekennen sollten, sie hätten nichts von dem, was sie an Andern schätzenswerth finden müssen. Dürfen sie keinen Anspruch auf Zuneigung und Liebe machen, so überreden sie sich, andre Leute seyen eben so unfähig, wohlwollende Empfindungen zu hegen, als einzuflößen. Können sie sich nicht geachtet machen, so wollen sie wenigstens gefürchtet seyn. Und mislingt jeder Plan, irgend eine Art von Aufmerksamkeit und Theilnehmung zu erwecken, so mögten sie sich gern so sehr über alle Menschen erhaben glauben, daß niemand als sie, Richter über ihre Handlungen seyn könnte. Dann schaffen sie sich Tugenden von eigner Erfindung; Ihre Schwächen selbst, ja ihre Laster, erheben sie zu diesem Range. Sie schmücken die Gegenstände, zu welchen ihre strafbaren Neigungen und Begierden sie hinziehen, mit den reizendsten Farben aus, um ihre Anhänglichkeit daran zu rechtfertigen, und suchen hingegen Vorzüge herabzuwürdigen, gegen welche sie ihre Augen verblendet haben. Wer aber so tief gefallen ist, daß fremder und eigner Beyfall ihm gar nichts mehr werth sind; der ist der schrecklichsten Verzweiflung nahe, für Den fleht vergebens sein guter Engel um Barmherzigkeit vom liebreichen Vater im Himmel.

Beyde aber, der innere Beyfall des Herzens und die Meinung andrer Menschen von unserm Werthe können die würksamsten Triebfedern zu Erlangung höherer Vollkommenheit werden; beyde können wohlthätig auf unsre Besserung würken, uns in jeder Art Tugend befestigen, zu jeder, auch noch so mühsamen Pflicht-Erfüllung ermuntern; Nur müssen Beyde zu gleichen Schritten gehn, keine dieser Rücksichten der andern [36] aufgeopfert werden. Wer sich sclavisch abhängig von dem Urtheile des Volks macht, wird bald alle Eigenheit des Characters verliehren; »Stellet Euch nicht dieser Welt gleich,« ruft uns die göttliche Stimme zu, das heißt: folget nicht ohne Auswahl jedem guten und bösen Beyspiele. Wer, wenig bekümmert um den Beyfall seines Gewissens, in allem die herrschenden Sitten nachahmt, wird, um sich dem lasterhaften Haufen gefällig zu machen, auch die herrschenden Sünden annehmen; Er wird ein Schmeichler verderbter Größen, ein unsichrer Freund seyn, und nie die süße Wonne schmecken, welche das innere Bewußtseyn gewährt, ohne Menschenfurcht, grade und redlich, nach Pflicht und Gewissen gehandelt zu haben – – eine Wonne, ach! die allein ruhig machen und wahren Seelen-Frieden geben kann.

Eben so gefährlich aber ist es auch, ohne alle Rücksicht auf fremden Beyfall, keinen andern Richter, als sein eignes Ich, anzuerkennen. Das führt zu der gefährlichsten Sicherheit, zum Eigendünkel, zum Selbstbetruge. Da sehen wir dann uns selbst nur in dem Lichte, das die Leidenschaften auf unsre Handlungen werfen, und messen das Verdienst Andrer nach dem Maßstabe der Ähnlichkeit ab, die sie mit uns haben. Wir schaffen uns Grundsätze, die unsren Begierden schmeicheln, finden eine Entschuldigung für jede, auch von jedermann getadelte Handlung, wenn nur unser eingeschläfertes Gewissen ruhig dabey bleibt. Wir verachten alle Regeln des Anstandes und der Übereinkunft, die doch dem Menschen, welcher in der bürgerlichen Gesellschaft lebt, unverletzliche Pflichten auflegen. Wir opfern unserm Eigendünkel und unsrer Sinnlichkeit Ehrgefühl, Schaam, Dankbarkeit auf, und zerreißen alle Bande des Bluts und der Freundschaft. Der treue Rathgeber scheint uns ein beschwerlicher Schwätzer; der strenge Warner ein rauher, ungefälliger Mann. Wir fliehen ihn, verschließen ihm unser Herz und eilen in die Arme des Niederträchtigen, der unsre Leidenschaften schmeichelt. Jede Tugend scheint uns entbehrlich, wenn sie Aufopferung kostet, als wenn es eine Tugend ohne Aufopferung gäbe! Statt den Kampf gegen die Sinnlichkeit zu kämpfen, wo Ruhe und Seligkeit mit Herzens-Wunden erkauft werden müssen, finden wir es bequemer, mit unserm Gewissen in Unterhandlungen zu treten; und der Vergleich ist bald geschlossen, wenn Kläger, Beklagter und Richter nur Eine Person sind.

O! wie manche gute Seele ist durch zu große Sicherheit gefallen. – – Zu späte Reue, allgemeine Verachtung, Elend und Jammer sind dann – –


[37] »Ho ho! was Teufel ist nun wieder los?« rief der Förster und sprang vom Stuhle auf, als ihn der Hausknecht, der ungestüm in die Thür trat, aus seinem Mittags-Schlafe weckte. »Ich wollte nur sagen,« antwortete der Hausknecht, »daß die Pferde nun gleich kommen werden. Die Mamsel und der Officier, die im Zimmer hier neben an logiren, wollen auch fort, sobald er nur wieder zurückkömmt.« – – »Was für eine Mamsell?« sprach der Pastor- – Wir wollen in des Hausknechts Namen antworten.

In der Nacht vom Sonnabende zum Sonntage kam in Peina im Posthause eine kleine Callesche an, in welcher ein österreichscher Officier mit einem schönen jungen Frauenzimmer saß. Auf die Frage: ob sie gleich weiter wollten, antworteten sie: nein! sie müßten vielmehr hier die Ankunft eines Fremden erwarten. Das Frauenzimmer legte sich zu Bette; der Officier wünschte ihr, mehr ehrerbiethig, als vertraulich, eine gute Nacht, und ließ sich eine andre Cammer anweisen. Am folgenden Tage (das heißt an eben dem, an welchem unsre Freunde das Mittagsmahl in Peina hielten) lief der Officier selbst und schickte auch einigemal vor das Thor hinaus, das nach Hannover führt. Daselbst liegt ein Wirthshaus, welches, wenn ich nicht irre, die Eulenburg heißt; Dort ließ er sich nach einem Fremden erkundigen und bitten, daß man es ihm sogleich melden mögte, wenn er angekommen seyn würde. Übrigens hielt sich das Pärchen sehr still in dem Zimmer des Posthauses, und schien dem Anblicke so vieler Fremden, welche an diesem Tage da einkehrten, auszuweichen. Endlich, als der Pastor Schottenius eben mit seiner Predigt beschäftigt war, kam ein Knabe aus der Eulenburg gelaufen und brachte dem Officier ein Briefchen. »O Gottlob!« rief der Officier und umarmte das Frauenzimmer, »Er ist da! Er ist da! Nun geht alles nach Wunsche. Ich will hin; Laß Dir die Zeit nicht lange währen, meine Meta! Wir werden uns so mancherley zu erzählen haben. Sobald ich mich aber losreißen kann, eile ich zurück, bringe ihn mit, oder hole Dich ab. Adieu, mein Engel!« – Und damit griff er nach Hut, Stock und Degen, und fort, die Treppe hinunter, zum Hause hinaus, nach der Eulenburg – Das war's, was der Hausknecht erzählte.

»Es ist angespannt«, sagte ein andrer Aufwärter, der in das Zimmer trat; der Pastor raffte seine Papiere zusammen, und der Förster fragte nach der Zeche. »Der Herr Amtmann«, sprach er, »hat mir aufgetragen, für ihn und seinen Sohn mitzubezahlen« – »Ich weiß es«, erwiederte der Aufwärter, »und auch für Ihren Herrn Vetter«. – »Was für ein [38] [40]Vetter?« – »Der Musicus!« – »Hole der Teufel, den Kerl! Ich kenne den verfluchten Dudelsack gar nicht«. – »Ey! er reist ja mit dem Herrn Amtmanne«. – Doch kurz! von dieser unbedeutenden Sache! der Förster, der nicht geizig war und viel Ehrgefühl besaß, zahlte – freylich nicht ohne Schimpfen und Fluchen; und nun wollten sie fort; allein als sie aus ihrem Zimmer traten, öfnete zufällig das Frauenzimmer eben auch die Thür des ihrigen. – – »Was, zum Teufel!«, schrie der Förster, »Grete! Du bist es? Da soll ja das Wetter hineinschlagen! Wo kömmst Du her?« – Und damit drang er in ihre Stube, schlug die Thür hinter sich zu, und ließ den Pastor verwundert draußen stehn.

Sehr laut und stürmisch gieng es nun in dem Zimmer her; Nur einzelne Worte konnte Ehren Schottenius Anfangs verstehn; Dann sagte der Förster: »Nur keine Speranzien gemacht! das sag' ich Dir; das hilft hier alles nichts; und mit den Ohnmachten wollen wir auch schon fertig werden. Kurz und gut! Du mußt gleich fort mit mir. Nach Goßlar will ich Dich zurückführen; Da magst Du Deine Sache ins Reine bringen, und habe ich Unrecht, so ist die Justitz da. Wollen doch sehn, ob ein unmündiges Mädchen mit einem Kerl davonlaufen darf. – Und ich rathe Dir, nur hier im Hause kein Aufsehn zu machen; Du hast nichts als den Schimpf davon, denn mit mußt Du; davor hilft nichts.« – Herr Dornbusch stürzte dann zum Zimmer hinaus, bat den Pastor, den Brief zu schreiben, den wir gelesen haben; Es wurde ein Bothe fortgeschickt, alles in größter Eil. – Jungfer Grete sehnte sich vergebens nach der Zurückkunft ihres Retters; Er kam nicht und sie mußte sich, gebadet in Thränen, die einen Stein hätten erweichen mögen, von ihrem grausamen Oheime in den Wagen heben lassen. – Fort nach Goßlar gieng die Reise.

[40]

Siebentes Capitel
Der Herr Amtmann geht, den berühmten Luftschiffer auffliegen zu sehn, und trifft bey seiner Zurückkunft den jungen Herrn in einem kläglichen Zustande an.

Ein größeres Gewühl von Menschenkindern, versicherte der Herr Amtmann auf seine Ehre und Reputation, habe er in seinem Leben noch nirgends gesehn, als das hier, durch welches er sich mit seinen Freunden hindurchdrängen mußte, um vor das Thor auf den Platz zu kommen, der einer Schanze gegenüber lag, aus welcher Herr Blanchard in die Höhe stieg. Wir sind bey manchen andern Kenntnissen, die wir besitzen, und die, ohne uns zu rühmen, ein artiges ensemble ausmachen, beym ersten Unterrichte in der Fortification, wie im Hebräischen, sehr vernachlässigt worden, – lieber Gott! man kann ja auch nicht alles wissen – meinen aber, wollen es jedoch nicht gewiß behaupten, daß dieser Platz zu demjenigen Theile der Festungswerke gehörte, den man die Contre-Escarpe nennt. Genug, es war ein großer grüner Platz am Stadtgraben. – Doch, so weit sind wir noch nicht. Beym Gedränge im Thore verlohr die Frau Licentiatinn Bocksleder ihre Haube; ein Pfund Pferdehaare, in einen Wulst gebunden, womit der Boden der Mütze, faute de mieux, ausgefüllt war, fiel auf die Erde; der Herr Amtmann, welcher die Dame führte, wollte das Bündel aufheben, ein Schuhknecht trat ihm auf die Hand. Dem kleinen David Bocksleder, einem Kinde von zehn Jahren, das eben erst die Blattern überstanden und noch viel rothe Flecke im Gesichte hatte, riß ein Chor-Schüler aus Muthwillen den falschen Haarzopf aus. Ein lustiger Student aus Helmstädt, der den alten Licentiaten einmal in Schöppenstädt gesehn hatte und dem dieser würdige Mann nicht sehr gefiel, steckte ihm einen Stock zwischen die Beine, worüber er stürzte. Allein durch alle diese kleinen Ungemächlichkeiten des Lebens arbeitete sich dennoch die Gesellschaft hindurch und kam glücklich auf den Platz in der – nun ja! in der Contre-Escarpe an. Die Sonne brannte heiß auf die Schädel; Die wollnen Perücken sitzen wärmer als die von Haaren (das kann man uns auf unser Wort glauben, obgleich wir keine tragen), also litt der alte Herr Bocksleder sehr viel von der Hitze. »Es ist teufelmäßig heiß«, sprach er, »Wenn wir hier [41] lange stehn müssen, so schmelze ich wie Butter zusammen, oder crepire vor Durst.« »Es dauert wenigstens noch eine Stunde«, sagte ein dicker Mann, der mit aufgeknöpfter Weste und einem glänzenden, braunen Gesichte, als wäre es laquirt gewesen, neben ihm stand. »Es dauert wenigstens noch eine Stunde, ehe der Hof von der Tafel aufsteht und herkömmt. Dann erst wird mit der Füllung der Anfang gemacht.« »Wenn nur ein Wirthshaus in der Nähe wäre!« seufzte der Licentiat. »Deren giebt es hier genug«, antwortete der dicke Mann. Würklich waren rings umher einzelne Garten- und andre Häuser gelegen, in welchen ächter teutscher Pontac, lübeckscher Franzwein und dergleichen verzapft wurde und unsre Gesellschaft trat in eines von diesen.

Für einen Physiognomiker, für einen Menschen-Beobachter und für einen Maler wäre es ein herrliches Fest gewesen, die Gesellschaft zu sehn, welche hier, theils in den kleinen Zimmern, theils im Vorplatze, im Hofe und im Garten, in einzelne Gruppen vertheilt, ihr Wesen trieb, indeß der grüne Platz, an welchen das Haus stieß und von dem wir geredet haben, einem bunten Gemälde von der Speisung der fünftausend Mann glich, wie man es hie und da in Dorf-Kirchen antrifft. Unsre Gäste aber waren weder Gesichter-Leser, noch Seelen-Späher, noch Künstler; also blieb ihr ganzes Augenmerk auf ein Winkelchen gerichtet, wo sie in Ruhe ihren Durst löschen könnten, und das wies man ihnen in einer Hinterstube unter dem Dache an; denn alle andren Zimmer waren gepropft voll. Indessen fehlte es auch hier nicht an Gesellschaft; Zwey Tische fanden sie umringt von Personen beyderley Geschlechts, an einem dritten war noch Raum für sie; der Student aus Helmstädt, dessen wir vorhin erwähnt haben, ein junger Gelehrter, der mit demselben noch auf der Universität gewesen war, jetzt aber in Gandersheim privatisirte und ein Landchyrurgus aus *** in Sachsen, hatten die eine Seite eingenommen; unsre Leute setzten sich ihnen gegenüber.

Wir fühlen einen unwiederstehlichen Trieb, ein Bruchstück aus dem Gespräche dieser interessanten Gesellschaft hier abdrucken zu lassen, und da wir uns nun einmal in Besitz gesetzt haben, solchen Trieben, unter angehoffter hoher Approbation, zu folgen; so wollen wir mit diesem Dialoge andienen, erlauben übrigens den Rezensenten, sobald wir von unserm Herrn Verleger das Honorarium werden eingestrichen haben, über die Weitschweifigkeit unsrer Erzählung Ach und Weh zu schreyen.

Der junge Gelehrte: »Nun, wahrlich! Es bedarf doch herzlich wenig, um der Menschen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn. Da sind mehr als [42] zehntausend Thoren aus allen Ecken zusammengelaufen, um einen andern Narren einen Bockssprung in die Luft machen zu sehn.«

Der Student: »Aber Herr Bruder! Du hast Dich doch auch eingestellt.«

Gelehrter: »Meinst Du, ich würde deswegen auch nur eine Meile reisen? Originale aller Art zu beobachten, darum bin ich hergekommen. Blanchard habe ich in Frankfurth und in Hamburg aufsteigen gesehn. Vermuthlich wird er sich hier wieder ein Document von fürstlichen und adelichen Personen ausfertigen lassen, daß er so viel tausend Toisen hoch über der Erde geschwebt hat – von Menschen, die, indem sie das schreiben, nicht einmal wissen, was eine Toise ist. Wie sich der Kerl nur einbilden kann, daß er mit einem solchen Zeugnisse bey Gelehrten und Männern von Kenntnissen sich Credit verschaffen werde!«

(Die geneigten Leser werden es nicht ungütig aufnehmen, daß der junge Herr auf die Authorität von Fürsten und Edelleuten in wissenschaftlichen Dingen nicht viel hält. Theils hat er wohl nicht ganz Unrecht, theils ist es jetzt unter den jungen Gelehrten so eingeführt, daß sie alles tadeln, was die höhern Stände sagen und thun, außer wenn sie ihre Schriften loben. Doch geht dieser Widerwillen nicht so weit, daß besagte Gelehrte nicht, wo sichs thun läßt, von Fürsten und Edelleuten Schutz und Wohlthaten vorliebnehmen sollten.)

Gelehrter: »Der Augenschein kann jeden verständigen Menschen überzeugen, daß seine Angaben um mehr als zwey Drittel übertrieben sind. Noch nie hat er sich bis zu der Höhe irgend eines beträchtlichen Berges erhoben. Betrachte man nur die römischen Zahlen auf dem Zifferblatte eines mäßig hohen Thurms! Sie sind mehrentheils über sechs Fuß lang und scheinen, wenn man unten steht, keine Spanne zu messen. Wie fast unsichtbar klein müßte nun nicht ein Ball erscheinen, dessen Durchschnitt ungefehr nur sechsmal größer ist als die Länge jener Zahlen, wenn er würklich zu einer so erstaunlichen Höhe emporstiege! – und nun vollends der kleine, geputzte Franzose mit seinem blauen Wämschen und seinem Federbusche! Wie würde der dem Auge verschwinden!«

Student: »Kann seyn! kann seyn! Wir wollen sehn. Nun, Herr Licentiat! Sie gehen doch diesen Abend in die Comödie?«

Licentiat: »Ich denke wohl –«

Landchirurgus: »Ach! was ist an so einer Comödie? Hören Sie! ich habe in Stuttgard die großen Opern gesehn. Da kamen Pferde und Wagen auf das Theater – Das war noch der Mühe werth.«

[43] Gelehrter: »O ja! so eine italienische Oper ist, wenn man die gesunde Menschen-Vernunft nur zu Hause läßt, gar unterhaltend zu sehn. Wenn da die Capaunen auf Triumphwägen von Papp sitzen, in Reifröcken und seidenen Strümpfen aus der Schlacht kommen, mit ihren Stimmen durch die Nase, im schneidensten Discant Reden voll Heldenmuth an die verkleideten Mousquetiers absingen, welche das römische oder griechische Heer vorstellen; Wenn die Opferpriester in Stiefeletten und Kleb-Locken Processionen anstellen, wobey sie Tritt halten wie auf der Parade, Mützen von Silberpapier auf den Köpfen und mit Goldschaum beschmierte hölzerne Opfer-Gefäße in den Händen tragen; Wenn Schlachten geliefert werden, in welchen Jeder nur auf sein eigenes Schild hauet und Mauern niedergerissen, die von Papier gemacht sind; Wenn der Drachen-Wagen, in dem Medea fährt, mit schwarzen Stricken am Himmel festgebunden ist und Apollo, wenn er auf dem bretternen Parnasse sitzt, mit seiner Flachs-Perücke den Staub von den gemalten Wolken abfegt – Ja! es ist wahr; das ist groß, herrlich, rührend. – Pfui! schämen sollten wir uns, daß wir ein ernsthaftes Volk an den Anblick solcher kindischen Vorstellungen gewöhnen!«

Amtmann: »Ey, ey! man kann doch aber nicht auf dem Theater alles so –«

Gelehrter: »Was man nicht mit einiger Täuschung darstellen kann, das muß man lieber gar nicht, als auf so alberne Weise, darstellen. In einem Fingerhute kann man nicht baden und auf unsern armseligen kleinen Theatern kann man keine Schlachten liefern. Sie haben vermuthlich meine neue Abhandlung über die ernsthafte Oper gelesen?«

Amtmann: »Um Vergebung! darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe –«

Gelehrter: »Ich bin der Dichter Klingelzieher; Nun werden Sie schon wissen, wo Sie zu Hause sind. Nicht wahr, das dachten Sie nicht, daß der Mann jetzt an Ihrer Seite säße, der Ihnen vielleicht zuweilen mit seinen Liedern eine genußvolle Stunde gemacht hat? Es weiß auch noch niemand in Braunschweig, daß ich hier bin; ich bin eigentlich gekommen, um einmal mit den hiesigen Gelehrten eine Zusammenkunft zu halten.«

Amtmann: – »Ich bin in der That sehr erfreuet, die Ehre zu haben – obgleich ich gestehn muß, daß ich bis jetzt noch nichts von dem, was aus Dero Feder geflossen –«

Gelehrter: (verächtlich) »Der Herr Amtmann lesen wohl nicht viel?«

[44] Amtmann: »O! zu dienen, ja. Freylich im Fache der Belletters, da ist es nun so etwas. Köhlers Gedichte habe ich indessen noch kürzlich wieder gelesen und neulich fiel mir auch ein kleiner Tractat in die Hände, betitelt: Die Leiden des jungen Herrn Werther.«

Licentiat: »Bruder Amtmann! die Scharteke kenne ich; das ist nichts für uns. Aber apropos! Ich muß Dir doch meines ältesten Sohns dissertationem inauguralem, de feudis oblatis schicken. Sie ist sehr gründlich abgefaßt. Er hat darinn hauptsächlich –«

Student: – »o weh!«

Landchirurgus: »Es ist in der That erstaunlich, was für eine Menge von neuen Entdeckungen jetzt in allen Theilen der Wissenschaften gemacht werden, besonders aber in der Natur-Geschichte, Chemie, Wundarzneykunst und überhaupt im medicinischen Fache. So hat man zum Beyspiel jetzt gefunden, daß zwar die gewöhnliche China-Rinde in periodischen Gesichtsschmerzen, Durchfällen, Fiebern, Brand, Lungensucht und so ferner, herrliche Dienste leistet, daß aber die rothe Rinde der röhrichten weit vorzuziehn ist und noch überdies sichrer und ohne Leibschmerzen würkt. Die Hirnwuth hielt man für unheilbar; Ich selbst habe an einem gewissen unglücklichen Professor Hoffmann in Wien vergebens alle Mittel angewendet; es schlug nichts bey ihm an. Nur kürzlich erst hat man –«

So weit war der Landchirurgus in seiner medicinischen Abhandlung gekommen, als plötzlich von allen Seiten her ein Geschrey erscholl: »Se heft en wedder! – Sie haben ihn wieder! Sie haben ihn wieder!« Die ganze Gesellschaft stürzte nun aus dem Hinterzimmer heraus – »Wen haben sie wieder«, fragte Jeder, »Wen?« – »I! den Musche Blanchard; Se heft en wedder.«

O! daß ich berufen bin, in diesem Büchlein, das nur guten Humor erwecken und die Gemüther der Leser erheitern sollte, hier das Bild getäuschter Hofnungen aufzustellen! Aber das Schicksal, das sich gegen die Helden meiner Geschichte verschworen zu haben scheint, – (Im Vorbeygehen zu sagen! dies Werk hat das ganz Eigne, daß nicht etwa nur eine einzelne Person der Gegenstand ist, auf den sich das Interesse zusammendrängt, sondern daß die Schicksale der ganzen Gesellschaft aus Biesterberg, wie wir sie im ersten Capitel auftreten ließen, das Thema sind, welches wir in demselben durchführen. – Ein Plan, dessen, wie wir hoffen, auch diejenigen Kunstrichter, welchen wir die Rezension [45] nicht selbst einschicken, mit gebührendem Lobe gedenken werden) – das Schicksal will es also und ich muß meinen Beruf erfüllen.

So manche Meile war der Amtmann mit seinen Gefährten gereist, um den berühmten Blanchard aufsteigen zu sehen; So manche Wiederwärtigkeit hatte er von dem Augenblick an, da er auf dem Amtshofe einstieg, bis zu dem Momente, wo er nun die Nachricht erwartete, daß der Luftball gefüllt wäre, überwunden; Seinen hofnungsvollen Erben glaubte er der besten Aufsicht übergeben zu haben, glaubte, er stünde jetzt mit ofnem Munde unter dem Haufen der Gaffenden; und ach! er saß in diesem Augenblick – eingekerkert – und wo? Das ahndete sein treues Vaterherz nicht. Noch ruhiger war er über sein eignes Schicksal. Voll Erwartung stürzte er zum Hause hinaus und hoffte nun den Luftwagen über seinen Scheitel daherfahren zu sehn, und – Herr Blanchard war schon vor einer Stunde aufgestiegen; Sie hatten ihn wieder; er hatte sich fern von der Stadt niedergelassen. Die Nachricht, die unsern Freunden der dicke lackirte Mann gegeben hatte, war falsch gewesen. Schon als sie in das Hinterzimmer traten, war der Franzose mit seiner Füllung fertig gewesen und fuhr ab. – Unbegreiflich, daß der Herr Amtmann den Lerm des Volks und die Canonenschüsse nicht gehört hatte! Aber da machte er bey seinem Eintritte der Gesellschaft so viele Kratzfüße; darüber war der Moment vergangen. Nachher herrschte eine große Stille, denn jedermann verfolgte den Ball mit seinen Augen. Viele liefen der Gegend zu, wo sie glaubten, daß er sich niederlassen würde, bis endlich, als die Nachricht erscholl, daß er nun würklich gelandet sey, ein neuer Lerm und der Ausruf: »Se heft en wedder!« unsern Beamten aus seiner Ruhe weckte – aber da war's zu spät.

Vergebens würde ich es versuchen, die verschiednen Ausbrüche des Mismuths und der Verzweiflung zu schildern, denen einige Personen, welche in dem unglücklichen Hinterzimmer das schönste aller Schauspiele versäumt hatten, sich überließen. Andre zogen sich den Unfall weniger zu Herzen. Der Dichter Klingelzieher lachte aus vollem Halse – er hatte nun Stoff zu einem neuen Epigramme. Die Licentiatinn schimpfte auf ihren Mann los (die einzige Art, wie sie sich über jeden Unfall des Lebens zu trösten pflegte!) »Nun es hat nicht seyn sollen«, sprach der Amtmann mit trauriger Mine, »Mir ist es nur lieb, daß mein Valentin und die andern Beyden, die doch auch indeß von Peina werden angekommen seyn, diese Merkwürdigkeit in Augenschein genommen haben, um davon zu Hause erzählen zu können.«


[46] [48]Da sich indessen keine Hofnung fassen ließ, die treuen Gefährten aus Biesterberg in dem Gewühle von Menschen hier zu finden, so dachte der alte Herr Waumann jetzt nur an seinen Rückzug, um verabredetermaßen im goldnen Engel sie wieder anzutreffen. Um neuen Wiederwärtigkeiten in dem Gedränge bey dem Eintritte in die Stadt auszuweichen, beschloß unsre Gesellschaft, durch die Contre-Escarpe nach einem andern Thore hin zu gehn, wo sie vermuthlich weniger Volk finden würden. Allein zum Unglück waren die mehrsten Zuschauer auf denselben Einfall gerathen, so daß hier der Zusammenfluß noch größer war, als vorhin beym Herausgehn. Sich wieder zurück durch alle diese Erdensöhne hindurch zu arbeiten, das ließ sich nicht wohl thun; Nun mußte man aber, um das nächste Thor zu erreichen, sich über eine Art von Teiche oder Graben setzen lassen; Einige tausend Menschen standen am Ufer und harrten auf den Fährmann; es war aber unglücklicherweise nur ein einziger Nachen zum Überfahren da; also gieng es langsam.

Wie hieß doch der Fluß, von welchem die verdammten Heiden fabulirten, daß ein gewisser Charon die Seelen der Verstorbnen da hinüber in die elisäischen Gefilde transportiren müßte? Ohrfeigen habe ich von meinem Informator bekommen, dessen erinnere ich mich noch, als ich bey dieser Stelle im Ovidius nicht Achtung gab; aber wie der Fluß heißt, dessen besinne ich mich nicht mehr. Genug! grade wie diese Wasser-Reise in jene Welt abgebildet zu werden pflegt, so sah es hier aus. So oft der Charon eine Anzahl Pilger hinüber geschafft hatte und nun wieder diesseits landete, war das Herzudrängen der Ungeduldigen so groß, daß würklich Passagiers, die nicht, wie Charons Gäste nur Seelen, sondern zum Theil dicke, mit braunschweigscher Mumme wohl ausgemästete Cörper waren, Gefahr liefen. Schon war der Licentiat Bocksleder nebst seiner sanften Gemahlinn und dem lieben Kleinen im Nachen; da wollte der Amtmann sich nicht von seinem Freunde trennen; Er drängte sich durch den Haufen, wagte einen Sprung und – hier fällt mir aus Wehmuth die Feder aus der Hand. – Wenden wir unsre Blicke nach einer andern Seite!

Herr Carino war kaum mit seiner Beute zum Hause hinaus, als der wackre Jüngling, den er an dem bewußten Orte eingesperrt hatte, nicht ahnend, welch' ein Unfall ihm begegnet war, die Thür des Cabinets ergriff, sie öfnen wollte, aber verriegelt fand. Vergebens wendete er alle Kraft seiner starken Arme an, Holz und Eisen zu sprengen; die Thür wich nicht. Vergebens rief er, schrie er, brüllte er endlich; niemand hörte [48] seine Stimme. Wie Hercules, als er das Hemd der – nun! wie hieß denn das Nickel? – ha! Dejanira ja! das Hemd der Dejanira auf seinem Leichname kleben hatte, so gebehrdete sich Musjö Valentin, so durchschnitt er mit seiner heulenden Stimme die mephitische Luft, von welcher der Leidende jetzt umgeben war – alles umsonst! Als endlich die Kräfte zu sinken anfiengen und die Muskeln, welche seine Lunge ausdehnten (oder liegen da keine Muskeln? Ich weiß es nicht so eigentlich), herabgespannt waren; da gieng sein Gebrülle in Winseln, Klagen und Seufzen über, und seinen Augen entquollen salzige Thränen. Ich bitte meine hochgeehrtesten Leser dieser Schilderung einige Aufmerksamkeit zu widmen. Sie werden dann finden, daß ich ohne mich zu rühmen, nicht ganz ungeübt in poetischen Malereyen bin, daß ich das Crescendo und Diminuendo gut anzubringen weiß, und daß mein Ausdruck wenigstens eben so edel und kraftvoll ist, als der unsrer mehrsten Romanen- und Comödienschreiber.

Der Schmerz kann nur auf einen gewissen Grad steigen, wie wir Philosophen das wissen, und dann bricht die Welle und es erfolgt wenigstens auf einige Zeit ein Stillstand. Nachdem der junge Herr Waumann lange genug getobt und gejammert hatte, fand er in der Vorrathscammer seiner Vernunft den Trost, daß doch sein Ungemach nicht ewig dauren könne. Er setzte sich also so bequem, wie sich's thun ließ, nieder; seine Augenlieder, vom Weinen müde, sanken – er schlief ein. Was konnte er auch bessers thun? Zwar lagen ihm zur Seite wohl ein Paar Blätter von der frankfurthischen gelehrten Zeitung, die ein Reisender da, nebst einigen Maculatur-Bogen von dem RomaneNettchen Rosenfarb hatte liegen lassen; aber Herr Valentin las nicht gern und wer kann denn auch in einem solchen Zustande mit Aufmerksamkeit lesen? Lassen wir ihn nun noch ein Weilchen schlafen! Es ist hohe Zeit, daß wir uns nach seinem theuren Herrn Vater umsehen. – Der Himmel weiß, wir haben jetzt alle Hände voll zu thun; Man kann nicht aller Orten zugleich gegenwärtig seyn; indessen ist es doch leichter zu verantworten, einen Menschen auf dem Abtritte eingesperrt, als jemand, der nicht schwimmen kann, im Wasser liegen zu lassen. Und schwimmen konnte der Herr Amtmann nicht; Er wurde aber sogleich herausgezogen, und als er am jenseitigen Ufer gehörig abgetröpfelt war, brachte der Ärger über diesen Vorfall und über das laute Lachen der zahllosen Zuschauer seine durch die Kälte des Wassers erstarrten Glieder und betäubten Lebensgeister wieder so lebhaft in den Gang, daß wir weiter keine schädlichen [49] Folgen für seine Gesundheit zu befürchten brauchen. Er eilte nun nach dem Gasthofe zurück, um seinen blauen, mit Golde besetzten Rock auszuziehen und trocknen zu lassen.

Welcher neue Kummer ihn aber hier erwartete, das wissen wir. Indessen fand er seinen geliebten Sohn schon aus der Gefangenschaft erlöst. Er war kurz zuvor erwacht, hatte seine Klagetöne auf's Neue angestimmt und dazu ein so vollstimmiges Accompagnement mit den Fäusten an der Thür gemacht, daß endlich von den Hausgenossen, welche indeß heimgekommen waren, Einer ihn gehört und befreyet hatte. Vater und Sohn klagten sich gegenseitig ihr Leid – es war eine herzbrechende Scene. – Zum Glück war der Werth dessen, was Herr Carino mitgenommen hatte, nicht groß; allein lag nicht in der ganzen Verkettung ihrer Unglücksfälle schon Ursache genug zur Traurigkeit? Doch überließen Beyde sich derselben nicht bis zur Verzweiflung; Vielmehr sorgte der Herr Amtmann für seine werthe Gesundheit, zog die nassen Kleidungsstücke aus, legte sich zu Bette, bestellte ein gutes Abend-Essen und unter anderm eine erquickende Wein-Suppe; Valentin ließ sich's vor seines Vaters Bette wohlschmecken, und gieng dann auch schlafen. Wir wünschen ihnen eine angenehme Ruhe.

[50]

Achtes Capitel
Geschichte des Fremden, der in der Eulenburg vor Peina abgetreten war.

»So sehen meine Augen Dich endlich wieder, mein theurer, geliebter Louis!« rief der Fremde in der Eulenburg dem österreichschen Officier entgegen, als Dieser zu ihm in das Zimmer trat und in seine Arme eilte. – »Mein Wohlthäter! mehr als Vater! Wie viel Dank!« – stammelte der Officier. – »O rede nicht von Dank!« »Wie sollte ich nicht?« – »Komm an mein Herz!« Und so gieng es noch ein Weilchen fort, in abgebrochnen Worten. – Ein rührender Auftritt! Der Hausknecht, welcher dem Officier die Thür öfnete, hat ihn uns beschrieben, und wenn wir unsern Verleger hätten bewegen können, Kupferstiche zu diesem unserm Romane verfertigen zu lassen; so hätte die Darstellung dieser Zusammenkunft eines der schönsten Blätter liefern müssen. – Vielleicht läßt er sich noch bewegen, der sechsten oder siebenten Auflage einige Bilderchen beyzufügen; bis dahin mag die jetzige Generation der Leser sich die ganze Geschichte mit dem Pinsel ihrer Phantasie vormalen.

Nachdem diese ersten Entzückungen vorüber waren, reichte der fremde alte Herr dem Officier einen schriftlichen Aufsatz dar: »Hier, mein Lieber!« sprach er, »habe ich die Haupt-Begebenheiten meines Lebens, in welche auch die Geschichte Deiner Jugendjahre mit einverwebt ist, zu Papier gebracht. Längst wollte ich Dir diesen Aufsatz schicken; nur die jetzt erfüllte Hofnung, Dich selbst wieder zu umarmen, hielt mich davon ab. Ich kann ihm ja dann alles mündlich erzählen, sprach' ich zu mir selber. Nun aber, da ich wieder bey Dir bin, denke ich doch, es sey besser, ich lasse Dich das schriftlich lesen, weil es einmal aufgezeichnet ist; vielleicht könnte ich außerdem manches vergessen. Lies es in müßigen Augenblicken durch, und laß uns jetzt die Freude des Wiedersehens recht genießen!«

Der Officier umarmte nochmals den alten Herrn und steckte das Papier in die Tasche. Da aber die Leser vielleicht ungeduldig werden könnten, bis er es wieder hervorholt, wollen wir hier eine Abschrift dieses Aufsatzes mittheilen.

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Geschichte des fremden Herrn in der Eulenburg

Mein Vater war ein redlicher und geschickter Schullehrer in Blankenburg am Harze. Freylich war man damals in der Pädagogic noch weit zurück; Man hatte noch nicht die Entdeckung gemacht, daß man der Jugend die ernsthaftesten, wichtigsten wissenschaftlichen Kenntnisse, selbst von philosophischer Art, durch Kartenspiel und sonst auf tändelnde Weise beybringen könne. Man hielt bey dem Unterrichte sehr viel auf Übung des Gedächtnisses durch Auswendiglernen, besonders in den Jahren, wo man so leicht auffaßt und so viel Stunden übrig hat, die man nicht besser anwenden kann, als damit, daß man in dem Magazine für die ganze übrige Lebenszeit die rohen Materialien aufhäufe, welche die reifere Vernunft in der Folge ordnet, auswählt und zum herrlichen Genusse für das Alter bearbeitet. Indessen gestehe ich gern, daß, wenn irgend etwas, was man lernt, unnütz seyn kann, mein Vater seine Schüler manches unnütze Wort lernen ließ. Übrigens fühlte er schwer die Last seines undankbaren Berufs. – Geringe Besoldung, schwere, vielleicht oft gänzlich verlohrne Arbeit vom frühen Morgen bis in die Nacht, und manche Demüthigung von Seiten andrer, weniger nützlicher, aber darum nicht weniger übermüthiger Stände. Er war daher fest entschlossen, seine beyden Söhne (denn ich hatte, oder vielmehr habe noch einen jüngern Bruder) eine andre Laufbahn antreten zu lassen. Der Eine sollte zu Hause, in Blankenburg selbst, die Jägerey lernen – mein Großvater war Oberförster gewesen – ich aber wurde der Kaufmannschaft gewidmet und desfalls zu einem Verwandten nach Nürnberg geschickt.

Wir hatten kaum beyde ein Paar Jahre in dieser neuen Lebensart zugebracht, als mein Vater starb und gar kein Vermögen hinterließ. Dies war grade zu der Zeit des siebenjährigen Krieges; Es wurde im Braunschweigschen ein Jägercorps errichtet und mein Bruder nahm Dienste in demselben. Was mich betrifft, so wollte mir das ruhige Leben am Comtoir-Pulte auch gar nicht gefallen; von allen Seiten her ertönte nichts als Kriegesgeschrey; das machte mir dann Lust, mein Heil bey den Waffen zu suchen. An einem schönen Morgen packte ich meine kleinen Habseligkeiten zusammen, gieng fort aus Nürnberg und ließ mich bey dem Freycorps des französischen Obersten Fischer anwerben.

Es schien, als wenn das Glück meinen raschen Schritt begünstigen wollte; gleich im ersten Feldzuge wurde ich Unterofficier und in dem [52] darauf folgenden, wo ich Gelegenheit hatte, bey einigen Vorfällen Muth und Gegenwart des Geistes zu zeigen, Officier. Hier zu kam noch, daß ich ein paarmal sehr reiche Beute machte, jedoch unter Umständen, die, ich darf es mit gutem Gewissen behaupten, meinem Herzen nicht zur Schande gereichten, denn ich haßte das Plündern und alle die Grausamkeiten, welche unsre Leute sich zuweilen erlaubten. Einst – es war im Winter, und wir hatten Ruhe von den Feinden – war ich mit dem Major von Hoym und dem Hauptmanne Faber nach einem Nonnenkloster geritten, welches eben keine strenge Clausur hatte, am wenigsten jetzt, im Kriege, wo man es so genau nicht nehmen durfte, sondern muntre Gesellschaft ganz gern sah und sich sogar gefallen ließ, zuweilen ein Tänzchen mit Officiers zu machen. Dort lernte ich ein Fräulein von Weißenbaum kennen, ein liebenswürdiges, edles Geschöpf, das der Eigennutz ihrer Familie, wider ihre Neigung, zu dem Klosterzwange verurtheilet hatte. Bey wiederholten Besuchen fühlten wir uns zu einander hingezogen, gestanden uns gegenseitige Liebe, und ohne uns, die wir Beyde kein Vermögen hatten, um die Zukunft zu bekümmern, verabredeten wir, daß ich sie entführen sollte. Mein Freund, der Hauptmann Faber, eine gute, dienstfertige, lustige Seele (Er lebt jetzt als Schloßhauptmann am Hofe des Fürsten von Nassau-Saarbrück) leistete mir, bey Ausführung dieses Plans, treue Dienste. Ich nahm meine Geliebte hinter mir auf mein Roß und brachte sie glücklich nach Fritzlar, wo uns niemand kannte und wo ein Geistlicher das Petschaft des priesterlichen Segens auf unsre Verbindung drückte. Acht Tage nach unsrer Hochzeit mußten wir marschieren und meine Frau folgte mir bey der Bagage der Armee nach Einbeck, wo wir den Rest des Winters zubrachten. Mein Herz schlug mir voll Verlangen, meine Vaterstadt wiederzusehn, da ich ihr jetzt so viel näher war; aber der Dienst litt es nicht. Das Frühjahr kam heran und wir zogen uns zurück nach Hessen; allein zu meinem Unglücke fiel meine liebe Frau in eine schwere Krankheit, und da sie sich noch obendrein im vierten Monate schwanger befand, war es durchaus unmöglich, sie fortzubringen.

In dieser Verlegenheit bat ich unsern commandirenden General um Erlaubniß, an meinen Bruder, der bey der feindlichen Armee war, schreiben zu dürfen. Die braunschweigischen Jäger standen nicht weit von uns; also hielt es nicht schwer, den Brief sicher in meines Bruders Hände zu liefern, der mir auch sogleich freundschaftlich antwortete. Ich bat ihn nämlich und beschwor ihn bey den Banden des Blutes, sich [53] meines verlassenen Weibes anzunehmen, bis ich Anstalten zu ihrer Wieder-Vereinigung mit mir treffen könnte, und er versprach, alles zu thun, was in seinen Kräften stünde und sich von einem zärtlichen Bruder erwarten ließe. Auch hielt er Wort; Sobald die dortige Gegend wieder in den Händen der alliirten Armee war, eilte er nach Einbeck, besuchte meine kranke Gattinn, gab sich ihr zu erkennen, both ihr seine Hülfe an und empfahl sie, als er mit der Armee fortmußte, einem geschickten und redlichen Arzte, wollte auch Geld für sie dort lassen, dessen sie jedoch nicht bedurfte, weil ich sie damit versehn hatte.

Mein gutes Weib kränkelte noch fort, bis zur Zeit ihrer Entbindung, so daß man es nicht wagen durfte, sie von Einbeck wegzuführen. Endlich brachte sie einen Knaben zur Welt; allein das schwächliche Kind starb gleich nach seiner Geburt; die Mutter hingegen wurde durch die treue Sorgfalt ihres Arztes gerettet, erhielt nach und nach ihre Kräfte und endlich ihre völlige Gesundheit wieder. Sobald sie im Stande war zu reisen, dachte ich ernstlich darauf, sie zu mir kommen zu lassen. Es war im Jahre 1762; die französische Armee hielt sich nur mit Mühe noch in Hessen, und weil ich sie also bey mir nicht sicher glaubte, ließ ich sie nach Straßburg bringen, wohin auch ich, gleich nach dem bald darauf erfolgten Frieden, in ihre Arme eilte.

Allein der Frieden, welcher Trost und Ruhe in so manches Herz senkte, war für mich eine Quelle peinlicher Sorgen. Ich wurde reducirt; Das Wenige, was ich durch Beute gesammelt hatte, konnte nicht lange vorhalten, einen großen Theil davon hatte meine Frau schon in Einbeck zusetzen müssen; Was für traurige Aussichten hatte ich daher nicht für die Zukunft? Da indessen doch ein Entschluß gefaßt werden mußte, folgte ich dem Rath eines Freundes, zog nach Worms und legte dort eine kleine Schule an, in welcher wir, mein Weib und ich, Kindern von beyden Geschlechtern Unterricht im Schreiben, Rechnen und in weiblichen Arbeiten gaben.

Der Erwerb war kümmerlich, den uns dort unser treuer Fleiß verschaffte. Wer nicht die Gabe hat, durch Schleichwege und Unverschämtheit sich hervorzudrängen, der bedarf, um nicht zu verhungern, aller Orten, besonders aber in Reichsstädten, mächtiger Vorsprecher, wenn er fortkommen will, und mich kannte niemand in Worms. Die Häuser der Reichen waren uns verschlossen; nur in den niedern Classen fanden wir Eltern, die uns ihre Kinder anvertraueten, nicht aus Zuversicht zu unsrer Geschicklichkeit, sondern weil wir nicht so viel Geld bezahlt [54] nahmen, wie Andre. Unser Umgang aber schränkte sich auf ein Paar Nachbar-Häuser ein, in welchen nicht weniger Armuth wie bey uns herrschte. Ich erinnere mich unter andern, daß uns zuweilen an Sonntagen eine Frau besuchte, deren Mann aus Verzweiflung sich dem Trunk ergeben hatte. Wenn nun das arme Weib zu uns kam, pflegte sie das Wenige, was sie noch an silbernen Löffeln und dergleichen übrig hatte, in die Tasche zu stecken, aus Furcht, daß ihr Mann es unterdessen versetzen, und das Geld im Wirthshause verzehren mögte.

Drey Jahre hindurch hielten wir es in Worms aus; dann hatte ich das Glück, durch einen sehr rechtschaffnen Kaufmann, einen gewissen Herrn Schuler, Empfehlung an den Grafen *** in *** zu erhalten, der eines Privat-Secretairs bedurfte. Mein Gesuch fand einige Schwierigkeit, weil er lieber einen unverheyratheten Mann angenommen hätte; doch erhielt ich die Stelle und erwarb mir bald das Zutraun meines guten Herrn.

Der Graf *** war in der That ein sehr edler Mann. Wenn es irgend einen Menschen auf der Welt giebt, der fähig ist, ohne allen Egoismus, ohne Eigennutz und ohne Eitelkeit, das Gute, bloß aus reiner Liebe zum Guten selbst, zu thun, so war er es gewiß. Man hielt ihn für hartherzig, rauh und geizig; aber wie wenig kannte man sein Herz! Seine jetzige Gemahlinn selbst (Er war zum zweytenmal verheyrathet) suchte ihn in den Ruf zu bringen, als wenn gar nicht mit ihm auszukommen wäre, als wenn er auch die unschuldigsten Freuden den Personen seiner Familie nicht gönnte, und über die geringsten Kleinigkeiten in Zorn geriethe und tobte. Die Wahrheit war, daß sie durch diese Vorwürfe ihn zwingen wollte, zu Schritten zu schweigen, zu welchen kein ehrliebender Mann schweigen darf; daß Alle, die ihn umgaben, seine beyspiellose Milde auf die unverantwortlichste Art mit Füßen traten; und wenn sie ihm lange genug das Maaß des Verdrusses voll gegeben hatten, ohne daß er murrte, sondern sich nur innerlich grämte, endlich aber, wenn sie noch ein Quentlein in das Gefäß warfen, die Wagschale seiner Geduld in die Höhe schnellte; dann schrie das Weib, dann hieß es: »mein Gott! über eine solche Kleinigkeit fährt der Mann auf; Man kann es ihm nie recht machen.« Und wenn alle seine Hausgenossen seine Nachsicht und die uneingeschränkte Freyheit, die er ihnen ließ, misbrauchten, und er sich dann betrogen, seine Ehre und seinen guten Namen auf dem Spiele stehn sah; dann gab er wohl etwas strengere Policey-Gesetze in seinem Hause, aber dann entstand auch allgemeines Murren über seine Härte; [55] dann hieß es: eine solche Behandlung reize erst recht zu verbothnen Handlungen.

Eben so ungerecht wie die Beschuldigung der Härte war die des Geizes, welche man dem Grafen machte. Er hatte aber die Grille, durchaus nicht gestatten zu wollen, daß die Welt seine wohlthätigen Handlungen erführe und ihn desfalls lobte. Ich aber, der das Glück hatte, sein Vertraun zu gewinnen, bin Zeuge gewesen von so edeln, großmüthigen Thaten, die gewiß damals Keiner ahndete, die erst nach seinem Tode, durch seine hinterlassenen Briefe offenbar wurden; von schweren Aufopferungen die ihn manchen herben Kampf kosteten, den er aber in der Stille kämpfte. Ich habe gesehn, mit welcher Verleugnung er es zuweilen ertrug, wenn er gerade da am bittersten getadelt wurde, wo er am größten gehandelt hatte; wie er heimlich an der Wohlfarth Derer arbeitete, die ihn mehr als einmal bübisch geneckt, verfolgt und mit dem schwärzesten Undanke belohnt hatten; wie er nagenden, unverschuldeten Kummer und Leiden aller Art mit Geduld ertrug und nie auf Andre wälzte, immer in sich selbst Trost und und Hülfe suchte. Wer ihn um Vorsprache oder Hülfe ansprach, den wies er mehrentheils und zuweilen mit Rauhigkeit zurück; mir aber und zwey andern Vertraueten trug er auf, Hülfsbedürftige aufzusuchen; und wenn er dann, durch Geld oder unermüdete Thätigkeit, das Gute gewürkt und den Unglücklichen gerettet hatte, dann wußte er das Verdienst der Handlung auf einen Dritten zu schieben, Diesen Dank und Ehre einerndten zu lassen. Glaubte ein Geholfner auf die Spur seines unbekannten Wohlthäters gekommen zu seyn, kam zu ihm und stammelte Dank; so fuhr ihm der Graf mit solchem Ungestüm an, daß er sich geirrt zu haben glaubte und das gute Wort bereuete, daß er an diesem unfreundlichen Manne verschwendet hatte.

Eine große Eigenschaft fehlte indessen dem Grafen, eine Eigenschaft, die allen seinen Tugenden hätte die Crone aufsetzen können, nämlich männliche Entschlossenheit und Festigkeit gegen Andre – ich sage: gegen Andre, denn wie strenge er gegen sich selber war, habe ich vorhin erwähnt. Er, den sein unwürdiges Weib als einen Starrkopf und Tyrannen abschilderte, war das Spielwerk eben dieses Weibes, ließ sich von ihr auf alle Weise hintergehn und bey der Nase führen. Machte sie mit ihrem Anhange es ihm gar zu bunt, so tobte er wohl nach seiner Art ein wenig; allein wenn dann die Heuchlerinn die unschuldige Gekränkte, von Gram Niedergebeugte spielte, glaubte er, sich übereilt zu haben und that und litt alles, sein vermeintliches Unrecht wieder gut zu [56] machen. Der verstellten Reue wiederstand seine Weichherzigkeit nun vollends gar nicht; Derselbe Schelm konnte ihn zehnmal anführen und eine einzige anscheinend herzliche Bitte konnte ihn in den wichtigsten, überdachtesten Vorsätzen wanken machen.

Ich sah bald mit Wehmuth und Abscheu, welchen schändlichen Misbrauch die Gräfinn von dieser zu sanften Gemüthsart ihres Gemahls machte. Die ganze Stadt wußte, daß sie auf seinen Namen Schulden machte, und daß sie ein Liebes-Verständniß mit einem elenden Comödianten unterhielt – die ganze Stadt wußte das, sah das mit Verachtung; nur der Graf sah nichts, erfuhr nichts. Oft war ich in Versuchung, ihm die Augen zu öfnen; auch erwartete die Gräfinn, die wohl fühlte, welche Empfindungen mir ihre Aufführung einflößte, nichts anders von mir. Indessen, wenn ich bedachte, wie diese Entdeckung meinem armen Herrn das Herz brechen würde, so verschob ich's von einer Zeit zur andern; Die Vorsehung aber, die nie zugiebt, daß Schandthaten unentdeckt bleiben und die Bosheit triumphiere, brachte diese Händel, ohne meine Mitwürkung an's Licht. Der Graf kam einst unerwartet zu Hause, ertappte seine Gemahlinn an der Seite ihres niederträchtigen Buhlen und nun offenbarte sich das ganze Gewebe ihrer Abscheulichkeiten. – Aber ach! dieser Schlag war zu hart für meinen guten, gefühlvollen Herrn. Der Kummer warf ihn auf das Krankenbette; er litt nicht lange und verschied in meinen Armen.

Für mich war der Verlust dieses einzigen Wohlthäters eine erschreckliche Begebenheit. Die Gräfinn haßte mich, und wäre das auch nicht der Fall gewesen, so hätte sie mir doch kein Brod geben können. Sie selbst hatte die öconomischen Umstände ihres Gemahls in die größte Verwirrung gebracht. Ihre Schulden überstiegen das baare Vermögen, welches sie erben konnte; die Güter aber waren Lehn und fielen, da der Graf keine Kinder hinterließ, an den Landesherrn zurück. – Die äußerste Armuth war nun ihr Erbtheil, und in diesem Zustande, den sie sich selbst bereitet hat, schmachtet sie noch, von niemand bedauert und, um so mehr, da sie jetzt häßlich ist, von jeder mann verlassen.

Ich war also ohne Brod, denn bereichert hatte ich mich nicht, obgleich es mir nicht an Gelegenheit gefehlt hätte, etwas zu gewinnen, wenn ich weniger gewissenhaft gewesen wäre. Es war im Winter, am Ende des Jahres 1769 und meine Frau, die in sieben Jahren keine Kinder gehabt hatte, war eben von einem gesunden kleinen Mädchen entbunden worden. – Die Aussichten Waren trübe; aber Gott half. Meines verstorbenen [57] Herrn Freunde, in denen das Zutraun, welches er mir bezeugt hatte, eine gute Meinung von mir erweckte, verschafften mir eine kleine Stelle bey der fürstlichen Canzelley. – Voll Hofnung und Zuversicht und mit heiterm Gemüthe arbeitete ich nun in meinem neuen Berufe, wurde nicht von drückenden Nahrungssorgen gepeinigt, genoß häusliche Freuden und war noch glücklich genug, auch gegen Andre wohlthätig handeln zu können, wie Du jetzt hören wirst.

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Neuntes Capitel
Fortsetzung dieser Geschichte. Sonderbare Entdeckung. Der Fremde und der Officier finden im Posthause nicht, was sie suchen.

Unter den Hülfsbedürftigen, deren sich mein guter Graf so wohlthätig angenommen hatte, befand sich auch eine interessante Familie, welche meiner Sorgfalt anvertrauet war und deren Umgang mir so viel reine Freuden gewährte, daß ich, wenn auch der Beystand, den ich ihr in meines Herrn Namen leisten mußte, mich nicht zu ihnen rief, doch manche Stunde nebst meiner Frau bey diesen guten Menschen zubrachte. Er und sie waren in Frankreich geboren und hatten einst glücklichere Tage erlebt, wovon ich die Geschichte besonders aufgezeichnet habe und Dir mittheilen will. Durch die schwärzeste Cabale und eine Reyhe von Wiederwärtigkeiten aus ihrem Vaterlande vertrieben, hatte Er kein Mittel unversucht gelassen, was einem Manne von Ehre und Erziehung anständig seyn kann, um in Teutschland für sich und die Seinigen Brod zu erwerben. Hätte er dem Beyspiele so Vieler unter seinen leichtfüßigen Landesleuten folgen und mit erborgten Titeln und gestohlnem Gelde an irgend einem teutschen Hofe als Chevalier oder Marquis auftreten wollen, so würde er seine Familie nicht nur mit Brod sondern auch mit Pasteten haben speisen können; Er hätte sich dann etwa mit einem Paar tausend Gulden Besoldung zum directeur des plaisirs Seiner Durchlaucht ernennen lassen und Madam, welche jung und hübsch war, hätte diese Plaisirs vermehrt. Allein, wie gesagt, er war ein Mann von Ehre und Rechtschaffenheit. Seiner Sprache war er mächtig. – Ein seltenes Phänomen bey einem Franzosen! – Er hatte sie studiert; folglich schien ihm eine Stelle als Lehrer derselben, die grade bey den Edelknaben in *** erledigt war, die anständigste Art, seinen Unterhalt zu verdienen. Mein würdiger Graf ***, bey welchem er sich desfalls meldete, prüfte ihn und setzte ihn an. Allein der arme Mann war schwächlich – Sorgen und Kummer hatten so lange an seinem Herzen genagt, bis es endlich brach. Zwey Jahre vor des Grafen Tode verließ er die Welt, in welcher er so wenig frohe Stunden erlebt hatte; Seine trostlose Witwe, die selbst [59] kränkelte, sah sich nun nebst dem kleinen vierjährigen Knaben verlassen und blickte vor sich hin in eine traurige Zukunft.

Die hohen Preise aller Lebens-Bedürfnisse in den Städten stehen in gar keinem Verhältnisse mit dem Lohne, den man für gemeine, nützliche weibliche Hand-Arbeiten hingiebt, indeß Der, welcher für Luxus und Üppigkeit würkt, reichlich bezahlt wird. Ein ehrliches Frauenzimmer, welches sich bloß mit Hemder nähen und Strümpfe stricken beschäftigen will, kann, wenn sie dabey ihren eignen kleinen Haushalt zu bestreiten hat, oder sonst einmal ein Paar Stunden im Tage, oder ein Paar Tage in der Woche ausfallen, wenn es zum Beyspiel an Arbeit fehlt, unmöglich mit diesem Erwerbe auskommen. Putzmacherinnen verdienen freylich schweres Geld; allein diese Lebensart schien der edlen Frau niedrig und zweydeutig; und so litt sie dann, da sie noch obendrein selten ganz gesund war, Mangel. Das wohlthätig ausspähende Auge meines lieben Grafen entdeckte bald ihre Lage und ich bekam Auftrag, zu Hülfe zu eilen. Dies geschah auf eine Weise, die ihr Zartgefühl nicht beleidigen konnte und ich hatte die Freude, zu sehn, wie das gute Weib sich nach und nach aufheiterte; mit ihrer Gesundheit wurde es jedoch immer mislicher. Schon hatte sie seit einem Monate das Bette nicht verlassen können, als der Verlust unsers gemeinschaftlichen Wohlthäters ihr den Rest gab. Einst schickte sie zu mir und ließ mich dringend bitten, sie sogleich zu besuchen. Ich fand sie sehr schwach; alle Anzeigen des nahen Todes waren da. Ihr Sohn – Du mein Louis! Du saßest weinend auf ihrem Bette; Eine Deiner Hände hielt sie zitternd in den ihrigen. Als ich eintrat, bestrebte sie sich, ihre trüben, halb schon gebrochnen Augen freundlich aufzuschlagen; Ein sehnlicher Wunsch, eine dringende Bitte, schien ihr Herz zu pressen; aber die matten Lippen versagten ihr den Dienst, sich durch Worte zu erklären. Sie winkte ihrer Wärterinn und diese brachte mir ein Päckchen mit Briefschaften, begleitet von einem Aufsatze, von ihrer Hand geschrieben, und an mich gerichtet. Sobald sie diese Papiere in meiner Verwahrung sah, schob sie mir Deine Hand, mein lieber Louis! hin, faltete dann die ihrigen – es schien als wenn sie dieselben dankbar zum Himmel emporheben wollte. – Dann schloß sie die Augen, fiel in einen Schlummer und erwachte nicht wieder.

Nachdem ich die nöthigen Bestellungen wegen der Beerdigung Deiner lieben Mutter gemacht hatte, nahm ich Dich an meine rechte Hand, das Päcklein mit Briefschaften unter den andern Arm; und so verließ ich das Haus und führte Dich in meine Wohnung.

[60] »Gott hat uns noch ein Kind beschehrt«, sprach ich zu meiner Frau, als sie mir in der Thür entgegen kam, »Gott hat uns noch ein Kind beschehrt und seinen Segen wird er uns auch dazu beschehren; Dieser kleine Kostgänger soll ihn uns in das Haus bringen.« Und nun erzählte ich dem guten Weibe, was vorgegangen war. Sie bückte sich zu Dir nieder, blickte Dir in's Gesicht, streichelte Dir die Backen, gab Dir einen mütterlichen Kuß, nahm Dir Dein Hütchen ab; und von dem Augenblicke an warst Du unser Kind und theiltest unsre Liebe und Sorgfalt mit der kleinen Margaretha.

Sobald ich Deine Mutter hatte zur Erde bestatten lassen (die Unkosten davon bestritt ich aus dem Verkaufe ihres wenigen Hausraths) fieng ich an, die Briefschaften zu untersuchen, welche sie mir eingehändigt hatte. Es waren Documente, welche Deine gegründeten Ansprüche auf ein beträchtliches Vermögen in Frankreich bewiesen, das man Deinem Vater auf die unrechtmäßigste Weise vorenthalten hatte. In dem Aufsatze von Deiner Mutter Hand, der bey den Acten lag, beschwor sie mich, als ihren einzigen Freund, Dich nicht zu verlassen, sondern Dich an Kindes Statt anzunehmen, demnächst aber, wenn es meine Umstände irgend erlaubten, selbst, oder durch einen sichern Mann, Deine Rechte in Frankreich auszufechten, welches mir unter der jetzigen Regierung gewiß nicht würde fehlen können. – »Ey nun! und wenn auch nicht«, rief ich aus, »denn mit Processen ist es immer eine misliche Sache; so wird die Vorsehung dem Knaben sonst helfen. Wenn er gesund, redlich und fleißig ist; muß sich auch schon in Teutschland ein Stück Brod für ihn finden.«

Ich fieng nun an, Deinem Unterrichte alle Stunden zu widmen, die mir meine Nahrungs-Geschäfte übrigließen. Das Schicksal begünstigte meine Beharrlichkeit; Dein heller Kopf und Deine gute Gemüthsart unterstützten meine Bemühungen und, gleich als hättest Du neuen Segen in meine Hütte gebracht, schien sich alles unter meinen und meines wackern Weibes Händen zu verdoppeln.

Allein der Allweise hatte mich zu einem Werkzeuge ausersehn, um Dich in eine bessere Lage zu versetzen, wie die war, die den Pflegesohn eines armen Zollschreibers erwartet hätte. Ich fieng schon an, Deinen Proceß in Frankreich ganz zu vergessen; die Papiere lagen bestäubt in einem Winkel, als neue Unglücksfälle mich unsanft aus dieser Ruhe aufweckten, um mir die Freude zu bereiten, die ich heute schmecke. Meine würdige Gattinn starb; Du warst damals zehn Jahre alt und [61] meine Tochter hatte noch nicht den vierten Sommer erlebt. Fest entschlossen, nicht wieder zu heyrathen, wenn ich auch ein Mädchen gefunden hätte, daß meine Armuth mit mir hätte theilen wollen, und dabey überzeugt, daß ein Vater, bey aller Sorgfalt, dennoch nicht im Stande ist, der ersten Erziehung eines weiblichen Geschöpfs gehörig vorzustehn, war ich in der That sehr verlegen, was ich mit meiner kleinen Margaretha anfangen sollte.

Indessen hatte ich, seit dem Frieden, welcher dem siebenjährigen Kriege ein Ende machte, nicht aufgehört, mit meinem Bruder in Briefwechsel zu stehn, obgleich unsre Umstände uns keine persönliche Zusammenkunft erlauben wollten. Er war, wie ich, reducirt worden, hatte aber das Glück gehabt, eine einträgliche Försters-Bedienung und dabey eine reiche Frau zu erhalten. Als ich ihm nun den Tod meines lieben Weibes und die Verlegenheit, darinn ich in Ansehung meines Kindes war, meldete, erboth er sich großmüthig, das kleine Mädchen zu sich zu nehmen, da es doch schien, als wenn seine Frau ihn nicht zum Vater machen wollte. Mit dankbarer Freude nahm ich dies an und schickte die Kleine, begleitet von einer treuen alten Magd, auf der Post zu diesem redlichen Bruder. – Nun warst Du, lieber Louis! meine einzige häusliche Gesellschaft, und ich verwendete allen Fleiß auf Deine Bildung, als der Tod des alten Fürsten auf einmal mich um meine kleine Bedienung brachte. Das System des Erbprinzen war, wie es fast immer der Fall ist, das Gegentheil von dem zu thun, was sein Herr Vater gethan hatte. Es wurde also auch mit dem Zollwesen eine Umkehrung vorgenommen, manche Besoldungen wurden eingezogen, und unter diesen war auch die meinige.

Mitten aus dieser trüben Aussicht, die mich beynahe zur Verzweiflung gebracht hätte, ließ die weise Vorsehung einen neuen Strahl von Hofnung für mich hervorleuchten. Ich hatte während des Krieges in ***, wo ich einige Wochen in Quartier lag, einen Mann kennen gelernt, der sich meine ganze Hochachtung und Liebe erworben hatte. Damals war er Schiffs-Ca pitain, und hatte schon mehrmals die Reise nach Ostindien gemacht. Diese Lebensart pflegt sonst zuweilen dem Character Rauhigkeit zu geben; und nicht selten sind solche Männer Prahler und verschrobne Köpfe. Eine merkwürdige Ausnahme davon machte Der, von dem ich rede. Er war ein grader, unbestechlicher redlicher Mann, ein gefühlvoller, dienstfertiger, großmüthiger Menschenfreund und dennoch, [62] wo auf ehrliche Weise etwas zu erwerben war, ein achtsamer, speculativer Kaufmann; dabey ein heller und gebildeter Kopf und im Umgange unterhaltend, gefällig und duldend. Der langen Seereisen müde, hatte er in seiner Vaterstadt einen Handel im Großen angefangen, und war zugleich kaiserlicher Consul.

Grade zu der Zeit, als ich meine Bedienung verlohr, reiste er durch***; er war in einem Bade gewesen, und nun auf dem Rückwege nach Hause begriffen. Mein guter Genius ließ mich ihm auf einem öffentlichen Spatziergange begegnen, wo ich kummervoll auf und nieder gieng; Du, mein Lieber! sprangst munter vor mir her. Vielleicht erinnerst Du Dich noch dieses Tages, denn was uns in dem zarten Alter begegnet, das pflegt sich dem Gedächtnisse, welches dann noch nicht mit so viel Bildern aller Art angefüllt ist, tief einzuprägen.

Es war für ihn und mich eine angenehme Überraschung, uns hier wiederzusehn; Er befragte mich theilnehmend um meine Lage; eine Thräne, die in meinem Auge zitterte, sagte ihm einen Theil dessen, was ich auf dem Herzen hatte, und da bey ihm Unglück ahnden, und retten wollen immer eins war, ergriff er mich stillschweigend bey der Hand, und führte mich in den Gasthof, wo er abgetreten war.

Sobald ich ihm meine Geschichte erzählt hatte, war auch sein Plan gemacht. »Den Jungen nehme ich mit mir«, sprach er, »das ist ein feiner Knabe, den wir schon durch die Welt bringen wollen. Mein Freund, der Obrist von *** in **schen Diensten, schlägt mir's nicht ab, wenn ich ihn bitte, daß er ihn als Fahnenjunker bey seinem Regimente ansetze. Das er unter guter Aufsicht sey, dafür soll gesorgt werden, und wenn er einmal Officier wird, wollen wir auch schon zu der Equipage und dem Zuschusse Rath schaffen. Ihnen aber, mein Freund! kann ich grade jetzt zu einer Stelle auf einem Schiffe, daß nach dem Cap und von da nach Indien geht, verhelfen. Die Stelle wird Anfangs klein seyn, aber ich gebe Ihnen gute Addressen mit, und Sie können, wenn Sie, wie ich nicht zweifle, der Instruction folgen, die ich Ihnen aufschreiben werde, es dort bald zu etwas Höherm bringen.«

Mich von Dir zu trennen, mein Lieber! das kam mir freylich hart an; allein, wenn ich dann wieder überlegte, wie wenig ich für Dich thun konnte, der ich arm und verlassen war, wie viel Du bey dem Tausche gewannst, und welchen sichern Händen ich Dich anvertrauete, so tröstete mich das, und was meine Person betraf, so war mir jeder Winkel des Erdbodens, wo ich Brod fände, gleich willkommen.

[63] Ich legte nun die mir von Deiner Mutter anvertraueten Schriften versiegelt in die Hände unsers großmüthigen Wohlthäters nieder, da ich noch kein Mittel vor mir sah, Gebrauch davon zu machen. Der redliche Consul reiste mit Dir ab, und ich, nachdem ich meine geringen Habseligkeiten verkauft hatte, blieb grade nur noch so lange, bis er mir meine Empfehlungsschreiben und einen Vorschuß von Reisegeld geschickt hatte, da ich dann nach Holland abgieng.

Der Gedanke, daß ich meine einzige Tochter nun vielleicht nie wiedersehn sollte, machte mir den Abschied von meinem Vaterlande schwerer, als ich bey dem ersten Vorschlage meines Freundes geglaubt hatte; Wenigstens wollte ich aber dem Kinde in der Folge die Unannehmlichkeit, für das Schicksal seines Vaters besorgt zu seyn, und den Schmerz über eine so weite Entfernung von ihm, ersparen. Desfalls bat ich meinen Bruder, als ich ihm meinen Entschluß, nach Indien zu gehn, meldete, er mögte niemand hiervon etwas entdecken, sondern jedermann und selbst meiner kleinen Margaretha sagen, ich sey gestorben. »Wenn mich«, sprach ich zu mir selber, »die Vorsehung einst glücklich wieder aus jenem Welttheile zurückführt; wird die freudige Überraschung meiner Tochter, Den wieder zu sehn, der ihr das Leben gegeben hat, um desto größer seyn.« Und diesen frohen Augenblick hoffe ich nun bald zu erleben.

Meine Reise nach Holland und von da nach Indien gieng so glücklich als möglich von Statten, und die Empfehlungen meines redlichen Beschützers waren dort von solchem Gewichte, daß ich sogleich, als Aufseher über zwey Waaren-Lager, in Thätigkeit gesetzt und versorgt wurde. Meine Lage war also über Erwartung angenehm; das Clima hatte den wohlthätigsten Einfluß auf meine Gesundheit; die Nachrichten, die ich durch den Consul von Deinem Schicksale erhielt, obgleich nur in allgemeinen Ausdrücken abgefaßt, waren sehr erfreulich; auch mein Bruder meldete mir, daß die kleine Margaretha ein gesundes, hübsches und gutes Mädchen sey – und so war ich dann zufrieden, heiter, und dankte dem gütigen Schöpfer in meinem Herzen.

Auf diese Weise verfloß mir eine lange Reyhe von Jahren, ohne die geringste Wiederwärtigkeit. Unter den Kaufleuten, deren Geschäfte ich zu besorgen hatte, war vorzüglich Einer mir sehr gewogen, und vertrauete mir die wichtigsten Dinge an, nachdem ich mir bald eine Fertigkeit in dem Mechanischen dieser Arbeiten und die nöthigen Sprach-Kenntnisse erworben hatte. Endlich, als dieser gute Mann [64] [66]anfieng schwächlich zu werden, rief er mich einmal zu sich, und sagte mir ungefehr folgendes: »Sie haben mir bis jetzt so redlich und eifrig gedient, daß ich nicht ruhig würde sterben können, wenn ich nicht vorher Ihre Treue auf eine Weise belohnt hätte, die dem großen Vermögen angemessen ist, das mir Gott gegeben und das er unter Ihren Händen hat gedeyen lassen. Nun könnte ich Ihnen hier wohl zu einer reichen Frau verhelfen, oder Sie sonst ansässig machen; allein ich meine bemerkt zu haben, daß Sie nicht geneigt sind, Sich wieder zu verheyrathen, und daß Sie Sich überhaupt nach Ihrem Vaterlande zurücksehnen. Diesen Wunsch zu befriedigen, dazu fordern mich Dankbarkeit und Freundschaft auf. Ungern trenne ich mich von Ihnen – Doch, meine irdische Laufbahn wird nun wohl bald vollendet seyn. Und wäre das auch nicht, so würde ich mir's doch zum Verbrechen machen, wenn mir mein Privat-Vortheil näher am Herzen läge, als Ihre Glückseligkeit. Nehmen Sie daher diese Summe als ein freundschaftliches Geschenk an! Ich kann sie entbehren; sie ist mir eine Kleinigkeit, und Sie können in Teutschland damit viel ausrichten. Reisen Sie sobald dahin ab, als Sie es gut finden, nehmen meine besten Wünsche mit, und gedenken zuweilen eines Mannes, dem Sie, außer den öconomischen Dienstleistungen, auch noch durch ihre Bekanntschaft den Vortheil gewährt haben, daß er nun eine bessere Meinung von dem Menschengeschlechte mit aus dieser Welt nimt, wie die war, welche ihm bis jetzt so manche traurige Erfahrungen eingeflößt hatten.«

Ich erstarrte fast vor Überraschung, als ich die Papiere auseinanderschlug, die er mir eingehändigt hatte, und nun fand, daß es Banco-Noten, zwanzigtausend Ducaten an Werth, waren. Meine Empfindungen der Dankbarkeit konnte ich nur unvollkommen ausdrücken; Der edle Greis verstand aber auch meine stumme Sprache, und fühlte sich vielleicht so glücklich, wie ich mich.

Vor zwey Jahren nun ließ ich mich nach Holland einschiffen. Mit dem Briefe, den ich Dir damals schrieb, und in welchem ich Dir die Freude, Dich wieder zu sehn, zu erkennen gab, ließ ich zugleich einen andern an unsern Consul, den ersten Schöpfer meines Glücks, abgehn. Ich gab ihm von allem Nachricht und bat ihn, mir sogleich das Paquet, welches Deine Forderungen in Frankreich betraf, nach Amsterdam zu schicken. Nur meinem Bruder meldete ich weder die Veränderung meiner Umstände, noch meine Rückkehr nach Europa; Ich wollte ihn auf angenehme Weise überraschen, und das ist auch noch mein Vorsatz.

[66] Sobald ich in Amsterdam in dem Besitze Deiner Documente war, las ich alles sorgfältig durch, was Dein Vater aufgezeichnet hatte, und besann mich dann nicht lange, sondern reiste sogleich nach Paris. Ich will Dich nicht mit dem weitläuftigen Berichte von den Schwierigkeiten aufhalten, die ich dort fand, Deine gegründete Forderung in's Reine zu bringen; aus den Acten selbst wirst Du das sehn. – Genug! daß mich der Himmel das Glück hat erleben lassen, Dir ein Vermögen von wenigstens fünfzehntausend Livres jährlicher Renten in Sicherheit zu bringen. Jetzt habe ich weiter keinen Wunsch mehr in dieser Welt, als den, an meiner Tochter so viel Freude zu erleben, wie mir die vortheilhaften Zeugnisse meines Bruders von ihr zu versprechen scheinen, und sie dann glücklich verheyrathet zu sehn. Ich eile nach Biesterberg, um dort diese mir so theuren Menschen zu umarmen. –

Wie? nach Biesterberg? Herr Autor? Ey! nun ja, mein hochgeehrtester Leser! stellen Sie Sich doch nicht so überrascht, gleich als hätten Sie es nicht längst gemerkt, daß der Bruder, welchen unser Fremder sucht, kein andrer, als der Herr Förster Dornbusch, und daß die jetzt von ihrem Herrn Oncle wieder nach Goßlar geführte Jungfer Margaretha das oft erwähnte Töchterlein ist! Dies Zusammentreffen hat übrigens, so viel ich es einsehe, nichts Unwahrscheinliches, und ich bitte Sie, mir einen teutschen oder andern Roman zu nennen, in welchem nicht viel unglaublichere Begebenheiten vorkämen. Übrigens muß ich zur Erläuterung dieser ganzen Geschichte nur noch einige Worte hinzufügen.

Der österreichsche Officier wußte freylich, daß seine Geliebte Margaretha Dornbusch hieß; daß sein Pflegevater denselben Familien-Namen führte, war ihm auch nicht unbekannt; allein da das Frauenzimmer gar nicht ahnden konnte, daß ihr Vater in Ostindien lebte, sondern vielmehr oft erzählt hatte, es sey derselbe längst in Teutschland gestorben, Monsieur de Previllier aber (denn so hieß der Officier) sich's aus den Zeiten seiner Kindheit nicht mehr erinnerte, daß sein Pflegevater zuweilen eines Bruders Erwähnung gethan hatte, ja! da ihm das Andenken an die jüngere Gefährtinn seiner ersten Jugend beynahe gänzlich aus dem Gedächtnisse gekommen war, konnte er unmöglich wissen, daß seine ehemalige Gespielinn und die jetzige Dame seines Herzens eine und dieselbe Person wäre. Jetzt aber (denn der Ostindier theilte ihm wenigstens den Haupt-Inhalt der Geschichte, welche dieser Aufsatz enthielt, mündlich mit) machte er eine Entdeckung, die ihn mit [67] der lebhaftesten Freude erfüllte. Er nahm sich aber vor, den alten Herrn Dornbusch damit zu überraschen. Sobald sich's daher schicklicherweise thun ließ, bat er ihn, mit ihm nach dem Posthause zu gehn, wo er ihm in der Person seines Reisegefährten zu einer sehr interessanten Bekanntschaft zu verhelfen versprach; Sie giengen hin, sobald der Alte sein Mittags-Essen verzehrt hatte.

»Um Gotteswillen!« rief der Hauptmann Previllier und stürzte in das Zimmer, in welchem er den Ostindier ein Weilchen allein gelassen hatte, um indeß die bewußte Person zu holen. »Was fange ich an? Sie ist fort, Sie ist fort!« – »Wer ist fort?« – »Wie können Sie fragen? Ihre Tochter, meine Geliebte, meine Braut ist fort. Der Förster Dornbusch hat sie mit Gewalt in den Wagen gehoben und ist mit ihr wieder nach Goßlar gefahren.« – »Du bist von Sinnen, Louis! Wie soll meine Tochter, wie soll mein Bruder hierherkommen?« – »O! verliehren wir keine Zeit mit Erzählungen! ich beschwöre Sie. Lassen Sie uns nacheilen! Unterwegens sollen Sie alles erfahren; jetzt nur geschwind angespannt!« – »Aber mein Wagen, meine Päckereyen, mein Bedienter; alles ist draußen im Wirthshause.« – »Ich will hinschicken; Morgen können wir wieder hier seyn; Nur geschwind, daß wir sie noch einholen!«

Der alte Herr sah wohl, das hier nichts zu thun wäre, als dem ungestümen Menschen zu folgen. Sobald daher des Officiers kleine Callesche angespannt war, setzte er sich mit ihm hinein, und fort gieng die Reise nach Goßlar.

[68]

Zehntes Capitel
Etwas von dem jungen Frauenzimmer. Sie entwischt.

Wir haben den Förster, in Gesellschaft des Pastors Ehren Schottenii, mit dem jungen Frauenzimmer eben so eilig aus Peina fortgeschafft, wie jetzt die beyden Herrn, welche ihnen nachreisen, ohne es zu Erläuterungen unter allen diesen Leuten kommen zu lassen. Damit nun unsre Geschichtschreiber-Schulden sich nicht gar zu sehr häufen und wir, wenn endlich alles sich zum Ziele neigt, nicht gar zu viel aus ältern Zeiten nachzuholen haben mögen, was der Leser noch nicht weiß, wollen wir, während diese fünf Personen auf der Reise sind, der Herr Amtmann aber und sein Erbe, im süßen Schlafe, der müden Natur balsamischen Labsale, sich erquicken, eine kleine Skizze von dem kurzen Lebenslaufe der Jungfer Margaretha Dornbusch entwerfen.

Sobald der Förster in Biesterberg das ihm von seinem Bruder anvertrauete kostbare Unterpfand in Besitz genommen hatte, beschloß er, das kleine Mädchen wie seine eigne Tochter zu behandeln. Er selbst hatte mit seiner ehrlichen Hausfrau keine Kinder erzeugt, aber ein ansehnliches Vermögen erheyrathet, so daß er an Margarethens Erziehung, wenn er und sie auch nicht mit den nöthigen pädagogischen Gaben ausgerüstet waren, doch genug verwenden konnten, um das Kind durch Andre zu einem feinen Frauenzimmer bilden zu lassen.

Der Förster war ein biedrer, aber freylich gänzlich uncultivirter Mann. Sein Handwerk verstand er aus dem Grunde, in der politischen, literarischen und galanten Welt hingegen war er ein Fremdling. Außer einigen Andachtsbüchern, in denen er Morgens und Abends seine bestimmte Seitenzahl gewissenhaft las, wie man das an den braunen Flecken unten auf dem Rande, wo der geleckte Finger beym Umwenden seinen Stempel hingedruckt hatte, sehn konnte, sodann außer einer alten Chronic, an welcher die vordersten Blätter fehlten und den Zeitungen, die ihm der Herr Amtmann mittheilte, hatte er sich nie mit Lesen abgegeben, und seit dem Frieden, da er seine jetzige Bedienung antrat, war er des Herumschweifens müde, liebte die Ruhe, kam nur [69] äußerst selten in die benachbarten Städte, und war daher auf alle Weise in einer gewissen Art von Cultur sehr zurückgeblieben. Dagegen hatte er einige andre kleine, unbedeutende Tugenden, die in dieser Welt wenig gelten, und wobey auch in der That nichts herauskommt. So hielt er zum Beyspiel immer strenge und redlich Wort, theilte gern seinen Bissen mit dem Nothleidenden, ohne nur einmal zu ahnden, daß dies etwas anders, als gemeine Christenpflicht wäre und nahm sich jedes Gedrückten und Verlassenen an, wenn er dazu im Stande war, wie wir denn gesehn haben, daß er sich zu seinem großen Schaden, in die bayerischen Händel mischte, als Agnese Bernauer sich im Gedränge befand.

Die kleine Grete wuchs unter der mütterlichen Sorgfalt der Frau Försterinn auf, versprach einst ein hübsches, reizendes Frauenzimmer zu werden, und war der Augapfel ihrer Pflegeeltern; Ehren Schottenius aber machte sich's zum Geschäfte, ihren Geist zu bilden, jedoch ohne die Bestimmung ihres Geschlechts und ihres künftigen Standes – denn zu einer braven Landfrau schien sie ihm einst ausersehn – aus den Augen zu verliehren. Neben dem Unterrichte in den Wahrheiten der christlichen Religion, in der Form des lutherischen Kirchen-Systems, lehrte er sie eine leserliche Hand und einen wohlgesetzten Brief schreiben, erklärte ihr ein wenig die Landcharte und das Firmamentswesen, die vier Species der Rechenkunst und die Bilderchen aus Raffs Naturgeschichte. So erreichte sie das vierzehnte Jahr, da sie dann, in einem neuen schwarzen seidenen Kleide, mit rothen Schleufen und einem großen Blumenstrauße, mit den übrigen Kindern aus dem Dorfe confirmirt wurde, wobey sämtliche Eltern Thränen vergossen.

In dieser Zeit erweckte der Erzvater der neumodischen Aufklärung, Satanas, der die ganze Welt verführt, den Geist eines pädagogischen Ehepaars, das sich kürzlich in Goßlar niedergelassen hatte, und nun durch die Posaune verschiedner Zeitungsschreiber allen Völkern verkündigen ließ:

Es haben Herr und Madam Deckelschall aus der Schweiz gebürthig, sich entschlossen, sowohl zum Besten der Menschheit überhaupt, als insbesondere zur Gemächlichkeit derjenigen Eltern, welche auf dem Lande wohnten und folglich nicht Gelegenheit hatten, ihren Kindern zu Hause denjenigen Grad der Bildung zu geben, welchen man jetzt in der feinern Welt fordert, in der Reichsstadt Goßlar am Harze eine Pensions-Anstalt für junge Frauenzimmer zu errichten. Daselbst geben sie für den sehr mäßigen Preis von *** jährlich, ihren Zöglingen Kost, [70] Wohnung und Unterricht im Französischen und Italienischen, in der Music und allen andern, dem weiblichen Geschlechte nöthigen Wissenschaften, Kenntnissen, Künsten, Hand-Arbeiten, in feiner Lebensart und der Gabe, die besten classischen Schriftsteller mit Geschmack, Gefühl und Nutzen zu lesen.

Dem guten Förster Dornbusch gieng plötzlich ein Licht auf, als er diesen Artikel in der Zeitung las. Es hatte seine Richtigkeit, daß Gretchen von den hier verzeichneten schönen Sachen noch wenig oder gar nichts verstand; Da nun diese Kenntnisse, wie es doch offenbar gedruckt da zu lesen war, einem wohl erzognen Frauenzimmer unentbehrlich waren, Gretchen aber, es koste was es wolle, ein wohl erzognes Frauenzimmer werden sollte, entschloß er sich kurz und gut, seine Nichte nach Goßlar zu bringen; Ehren Schottenius äußerte einige Zweifel, meinete, man müsse sich wohl zuvor genauer nach diesen Leuten erkundigen; allein bey Menschen von des ehrlichen Dornbusch' Cultur hat das, was gedruckt ist, ein großes Gewicht; Sein ganzer Glaube an erhabnere Wahrheiten beruhete auf keinem viel dauerhaftern Grunde; also blieb es bey dem Vorsatze und die Nichte wurde nach Goßlar gefahren.

Jetzt muß ich die Leser ein wenig genauer mit dem Herrn Deckelschall und seiner Frau Gemahlinn bekanntmachen. Er war auf Universitäten gewesen, mithin ein Gelehrter; Nur auf solche langweiligen Dinge, die man Brod-Wissenschaften nennt, hatte er nicht Lust gehabt sich zu legen, und da man ohne diese in der bürgerlichen Gesellschaft nicht fortkömmt; war er auf alle Einrichtungen in der jetzigen Welt und auf alle Staats-Verfassungen nicht wohl zu sprechen. Nach manchen vereitelten Versuchen, dennoch irgend ein Ämtchen zu erwischen (welches ihn denn ohne Zweifel mit den Regierungen versöhnt haben würde), beschloß er endlich, Hofmeister junger Herrn zu werden. Er brachte ein Paar Grafen-Söhne, die man ihm anvertrauete, so weit, daß der Eine, dem er, wie er es für Pflicht hielt, seinen Ekel gegen allen bürgerlichen Zwang und alle wissenschaftliche Pedanterey mitgetheilt hatte, durchaus keinem Fürsten dienen wollte, sondern, zum größten Kummer seines nicht so aufgeklärten Vaters, in seinem zwanzigsten Jahre als Musen-Almanachs-Dichter und Music-Liebhaber privatisirte; Der Andre aber, den er, um ihm den Adelstolz aus dem Kopfe zu bringen, überzeugt hatte, daß aller Unterschied der Stände eine Grille [71] wäre, aus seiner Eltern Hause nebst dem Garderoben-Mädchen davonlief und auf einem großen transportablen National-Theater in den Rollen des Licentiaten Frank und des goldonischen Lügners den Schneidern und Schustern in Speyer, Worms und den benachbarten Städten ungemein gefiel.

In einem von diesen Häusern wurde Herr Deckelschall mit seiner jetzigen Ehefrau bekannt. – – Sie war Gesellschafterinn und Vorleserinn der Frau Gräfinn. Ihre Herzen sympathisirten; Herr Deckelschall spielte ein wenig Clavier; sie sang ein wenig. – Was bedarf es mehr, um vereint mit einander glücklich zu leben? An baarem Vermögen fehlte es freylich Beyden; sie besaß jedoch fünfhundert Reichsthaler an Schaustücken und Harz-Gulden; Es ist himmelschreyend, daß man in dieser Welt durchaus Geld haben oder irgend eine nützliche Arbeit verstehn muß, um auszukommen. Indeß verläßt der Himmel zwey liebende Seelen nicht, die mit einander Duetten singen können, und in dieser Hofnung heyratheten sich unsre guten Leute. Nach der Hochzeit überlegte man dann, wovon man leben wollte und, da man sich sogleich auf nichts besinnen konnte, zog man vorerst zu gastfreyen Verwandten, nach Goßlar.

Hätte Herr Deckelschall nicht eine so sehr unleserliche Hand geschrieben, so würde er gewiß sich am liebsten als Copist fortgeholfen haben, weil er gehört hatte, daß Hans Rousseau mit Notenschreiben seinen Unterhalt erworben hätte; allein seine Buchstaben waren von der Art, daß man sie eben so wohl für arabisch, als für teutsch ansehn konnte. Da es nun mit dem Abschreiben nicht gehn wollte, beschloß er, Autor zu werden. Er schrieb einen Roman, und nachher eine Schmähschrift gegen einen Rezensenten, der diesen Roman ein elendes Product genannt hatte. Beyde Bücher fanden keinen Abgang, und er konnte keinen Verleger mehr finden. Madam besaß würklich einige nützliche Talente; sie verstand die Kunst, allerley seidene Zeuge zu färben und russische Talchlichter zu gießen; Aber das schien ihnen Beyden eine kleinliche, elende Art von Erwerb, und so entschlossen sie sich dann, ein Erziehungs-Institut anzulegen. Ein Menschenfreund, der, wie die mehrsten Menschenfreunde, kein guter Wirth war, lieh ihnen eine Summe Geldes; Dafür wurden Hausrath und Bücher angeschafft, in welchen das stand, was sie zu lehren versprachen; und damit gieng's los – sie hatten in Monats Frist sechs junge Mädchen bey einander.

[72] Die Operation hatte treflichen Fortgang; den Eltern wurden vierteljährlich angenehme Berichte eingeschickt, und die Eltern schickten vierteljährlich angenehme Louisd'ors – was wollte man mehr? Herr Deckelschall errichtete nebenher eine Lese-Gesellschaft und einen gelehrten Clubb, welchen alle Honoratiores in Goßlar besuchten, um dort eine Pfeife Tabac zu rauchen.

Margaretha Dornbusch kam als ein unerfahrnes, aber an Häuslichkeit, Fleiß und Sittsamkeit gewöhntes, hübsches, junges Mädchen in dies Haus. Dabey war ihr natürlich guter Verstand durch den Pastor Schottenius, wie wir gehört haben, ein bischen ausstaffirt worden, wenigstens in so weit, daß sie einigen Geschmack an Büchern und wissenschaftlichen Dingen fand; ja! wir dürfen nicht verschweigen, daß der Herr Pastor ihr Gellerts Schriften zu lesen gegeben, daß er dabey die Unvorsichtigkeit begangen hatte, ihr auch den Theil derselben zu schicken, in welchem die Geschichte der schwedischen Gräfinn stand, und daß dadurch in ihr die erste Lust zur Roman-Lectüre war erregt worden. Diese Lust nahm in Goßlar ansehnlich zu. Unter viel andern pädagogischen Gaben, welche dem Erzieher-Paare in Goßlar – fehlten, war auch die, ihre jungen Frauenzimmer in beständiger nützlicher Thätigkeit und einer heitern, ruhigen Gemüths-Stimmung zu erhalten. – Sie haben Recht Madam! ja, ich weiß es, das ist grade das einzige Haupt-Geheimniß in der weiblichen Erziehung. – Nun denn! dies einzige Haupt-Geheimniß besaßen sie nicht. Wir haben aber gehört, daß Herr Deckelschall sich eine Lese-Bibliothek angeschafft hatte – und was für eine Bibliothek? Romanen und Schauspiele, wie des Sandes am Meere, besonders Ritter-Geschichten und dergleichen. Dieser ganze Schatz von Literatur nun war den jungen Frauenzimmern preißgegeben und eben aus diesem Magazine sollten sie die in der Ankündigung versprochne Gabe, die besten classischen Schriften mit Geschmack, Gefühl und Nutzen zu lesen schöpfen.

Jungfer Margarethe gieng mit Riesenschritten auf dieser Bahn der Cultur fort, und schon begann ihr, die nur in der Ideenwelt sich herumtummelte, die Alltagswelt niedrig und ekelhaft zu werden, als ein Gegenstand in derselben sie wieder mit dem würklich lebenden Menschengeschlechte aussöhnte. Welcher Gegenstand das war, ist leicht zu errathen; es war kein andrer, als unser Freund, der Hauptmann Previllier. Dieser gute Mann stand als österreichschen Officier in Goßlar auf Werbung und war Mitglied des von dem Herrn Deckelschall gestifteten [73] Gelehrten-Clubbs. Dies literarische Institut gab ihm zugleich Gelegenheit, genauere Bekanntschaft mit dem Pädagogen zu machen, welche sich denn bald auch auf die weiblichen Zöglinge ausdehnte. Er brachte manche Abend-Stunde in diesem Cirkel zu.

Der Capitain war kein solcher süßer Geck, der sich selbst und allen hübschen Mädchen weiß macht, er sey verliebt in sie; auch war er kein ausschweifender Jüngling, der, wie ein Wolf um die friedlichen Heerden herum geschlichen wäre, ein Schäfchen zu fangen, das sich sorglos von dem Haufen getrennt hätte; aber er war ein gefühlvoller, junger Mann; Margaretha Dornbusch gefiel ihm und wir verdenken es ihm gar nicht.

Indessen hatte der Herr Förster seit langer Zeit den Plan in seinem Kopfe herumgedreht, seine Nichte an den einzigen Erben des wohlhabenden Herrn Amtmanns Waumann zu verheyrathen. Sein Gretchen glücklich an den Mann gebracht zu sehn, das war Tag und Nacht sein einziger Wunsch. Die Haupt-Erfordernisse des Ehestandes waren bey ihm: eine gute Versorgung und ein gesunder Leib; Beydes hatte Musjö Valentin aufzuweisen. Von der nöthigen Seelen-Sympathie, die, wenigstens in den ersten vier Wochen, so viel Seligkeit in den Ehestand bringt, und von dem Einfluße des Mondenscheins auf dies Wonnegefühl, ließ der arme Mann sich gar nichts träumen. »Dat hab' ich mir so ausgedacht«, sprach er zum Herrn Amtmann. »Meine Grete kriegt auch mal einen hübschen Thaler Geld, wenn ich und meine Frau sterben. Wenn aber der Herr Amtmann was anders mit Musche Valentin vorhaben, so soll mein Vorschlag niks gelten, und wir bleiben doch mans gute Freunde.« Allein der Herr Amtmann fand den Vorschlag sehr annehmlich, und der Handel war unter den Eltern bald geschlossen.

Während dieser Verabredungen kam im Oster-Feste das junge Frauenzimmer zum Besuche nach Biesterberg. Jedermann fand sie verändert; Leib und Seele waren anders aufgestutzt; allein sie blieb noch immer das gute, unschuldige Mädchen; weiter als bis auf die Oberfläche hatte sich die Reform nicht erstreckt. Der Name Margaretha klang ihr zu grob; sie hatte sich Meta getauft – der Förster schüttelte den Kopf. Sie beklagte in Elegien alle Hühner und Tauben, die geschlachtet wurden, obgleich sie tapfer davon mitspeiste, wenn sie auf den Tisch kamen. Doch diese und ähnliche kleine Thorheiten abgerechnet, war sie, wie gesagt, gottlob! noch unverderbt, und Ehren Schottenius, dessen Gutmüthigkeit und christliche Liebe größer wie seine practische Menschenkenntniß waren, fand sogar: sie habe in Goßlar so etwas in ihrem Thun [74] [76]und Lassen angenommen, welches der angenehmen Gesichtsbildung, so der liebe Gott ihr gegeben, neue Annehmlichkeit verleyhe, wofür man dem Schöpfer nicht genug danken könne. An dem Herrn Deckelschall und seiner Gattin lag es indessen nicht, daß es mit Kopf und Herz nicht ärger aussah.

Während ihrer Abwesenheit von Goßlar erhielt der Hauptmann einen Brief von seinem ehemaligen Pflegevater aus Paris und darinn, doch nur mit kurzen Worten, die Nachricht, daß er so glücklich gewesen wäre, ihm zu dem Besitze eines ansehnlichen Vermögens zu verhelfen, und daß er ihn bald persönlich zu umarmen hoffte. Jetzt erst konnte Previllier ernstlich daran denken, sich eine Gehülfinn zu wählen; und er nahm sich vor, gleich nach Margarethens Zurückkunft, seinen förmlichen Antrag zu thun. Dies geschahe; das junge Mädchen fühlte in dem, was die Frauenzimmer ihr Herz zu nennen pflegen, und über dessen eigentlichen Sitz bey diesem Geschlechte die Weltweisen noch nicht ganz einig sind, Empfindungen, die dem wackern Officier das Wort redeten; und so sank sie denn schmachtend und schamhaft in seine Arme. – Auch diese Scene müßte sich, in Kupfer gestochen, vortreflich ausnehmen; Es ist unbegreiflich, daß mein Herr Verleger in der Verstocktheit seines Herzens dafür keinen Sinn hat; aber wir werden ihm kein Manuskript wieder geben, wenn er sich weigert, Bilderchen dazu verfertigen zu lassen. Und doch riskirt der Mann nichts bey unsern Schriften; Sie gehen reißend ab, weil sie lustig zu lesen sind, nicht viel Kopfbrechens kosten und nicht übermäßig lehrreich sind. – Er ist ein ruinirter Mann, wenn wir ihm unsre Protection entziehen.

Der Hauptmann erbat sich nun von seiner Schönen die Erlaubniß, auch bey dem Herrn Förster schriftlich die Bewerbung um ihre Hand anbringen zu dürfen, und sie wiedersetzte sich diesem Vorhaben um so weniger, da der Oheim ihr nie etwas von dem Plane, sie an den jungen Waumann zu verheyrathen, eröfnet hatte. Allein der Erfolg fiel ganz anders aus, als man erwartete; Der alte Dornbusch konnte sich mit dem Gedanken nicht gemein machen, seine schöne Hofnung auf die Verwandschaft mit dem Hause des Herrn Amtmanns aufzugeben, seine Nichte so weit von sich zu lassen und sie noch obendrein einem Kriegsmanne zu geben, der vielleicht heute oder morgen nach Croatien in Garnison, oder gar in's Feld ziehn müßte. Es erfolgten daher auf wiederholte Bittschreiben, wiederholte abschlägige Antworten; bald nachher das Verboth, den Werbe-Officier gar nicht mehr zu sehn, und endlich [76] der Befehl, sich bereit zu halten, in wenigen Tagen nach Biesterberg abgeholt zu werden.

Nun qualificirte sich die Sache zu einer Roman-Scene, und es ließ sich gar nicht mehr ändern, man mußte Anstalt zur Entführung machen. Dennoch würde, wie man sicher behaupten darf, unser redlicher Previllier noch vorher einen gelindern Weg versucht, und mündlich den alten Förster zu überreden getrachtet haben; Allein er bekam grade zu der Zeit abermals einen Brief von seinem ostindischen Wohlthäter, welcher ihm seine Ankunft in Teutschland meldete, und den Hauptmann bat, ihm einen Ort namhaft zu machen, wo sie sich zuerst sprechen könnten. Hierzu schlug Previllier Peina vor, und seine Absicht war, seinem zweyten Vater daselbst seine Geliebte zu zeigen, und ihn dann zu bereden, mit ihnen nach Biesterberg zu reisen, um dort alles anzuwenden, den Förster zu bereden. Die Anstalten zur Entweichung wurden mit nöthiger Vorsicht gemacht; hätte man deren aber auch weniger angewendet; so würde doch das Pädagogen-Pärchen schwerlich der Flucht ein Hinderniß in den Weg gelegt haben, denn übertrieben ängstliche Aufsicht über die jungen Frauenzimmer war ihr Fehler nicht. Übrigens wissen die Leser, was den beyden Liebenden in Peina wiederfuhr, und ich könnte nun getrost in der Erzählung dessen fortfahren, was der Jungfer Margaretha begegnete, nachdem ihr Oheim sie auffieng, und mit Gewalt wieder nach Goßlar zurückbrachte; Allein ich muß mich erst einer Bemerkung über diesen ganzen Vorfall entledigen, und dann einige moralische Sätze aus dieser Geschichte ziehn, zum Beweise, daß doch im Grunde kein Buch so geringe ist, in welchem nicht einiger Stoff zur Erbauung für lehrbegierige Leser zu finden wäre.

Die Bemerkung ist folgende: Hätten wir diese interessante Geschichte gänzlich erfunden, oder, wie man zu sagen pflegt, aus den Fingern gesogen – gegen welchen Verdacht wir jedoch feyerlich protestiren –, so würden wir vielleicht, zur Warnung und zur Lehre für andre, eben so romanhaft gestimmte Frauenzimmer, die Person des Entführers, den Herrn Hauptmann Previllier, als einen Erz-Bösewicht geschildert und das entlaufene Jüngferchen tausendfach Noth und Elend, als die Folge dieser Verirrung, haben erleben lassen. Verdient hätte es das Mädchen und ich hätte da Stellen anbringen können, bey welchen selbst dem Setzer dieser Bogen Thränen über die Backen geträufelt wären; aber Wahrheit bleibt Wahrheit. Diesmal glückte es nun freylich mit der [77] Entführung, denn der Officier war ein Biedermann; aber hätte er nicht eben so wohl ein Schuft seyn können? – Und wie hätte es dann mit ihr ausgesehn? Mademoiselle! Was meinen Sie dazu? –

Und das führt mich nun zu den moralischen Lehren, die sich, sowohl bey des Herrn Deckelschalls und seines Weibes, als bey der holden Meta Geschichte anbringen lassen und worauf ich fleißig Acht zu geben bitte; denn je seltner einen Autor das Moralisiren anwandelt, um desto größern Anspruch darf er ja wohl auf die Aufmerksamkeit der Leser machen; also

Erstlich: Wer in dieser Welt fortkommen will, der thut wohl, wenn er so irgend etwas lernt, womit man im bürgerlichen Leben Brod verdienen kann, es müßte denn seyn, daß sein Magen so geschaffen wäre, daß er vom Schimpfen auf die verkehrten Welt-Einrichtungen satt würde;

Zweytens: Wer heyrathen will, thut nicht übel, wenn er vor der Hochzeit überlegt, wovon er nebst Frau Gemahlinn leben wolle; wobey er nicht gar zu viel auf die Gastfreundschaft seiner Verwandten und die Hülfe der Menschenfreunde rechnen darf.

Drittens: Menschen, die zu sonst nichts in der Welt brauchbar sind, sollen keine Erziehungs-Institute anlegen, noch überhaupt sich mit Bildung Andrer abgeben, was für Beyspiele man auch vom Gegentheile anführen mögte.

Viertens: Für junge Leute sind alle Romane gefährlich, außer, versteht sich, die, welche wir geschrieben haben und, will's Gott, noch schreiben werden, wenn wir immer Verleger finden, die sich von uns ankörnen lassen;

Fünftens: Man vertraue einen Hühner-Hund, der abgerichtet werden soll, unmaßgeblich niemand an, den man nicht selbst geprüft hat, ob er das Ding auch verstehe. Item dieselbe Regel ist zu beobachten, wenn man sein Kind einem Fremden zur Erziehung übergeben will;

Sechstens: Wer seiner Tochter einen Mann anheyrathen will, kann allenfalls gelegentlich, bevor er die Sache gänzlich in Richtigkeit bringt, das Mädel fragen, ob sie den Kerl auch leiden mag; Sonst giebt's zuweilen Unglück;

Siebentes: Mit dem Entführen ist es eine misliche Sache und nimt nicht selten ein lamentables Ende.

Diese sieben Moralien scheinen beym ersten Anblicke ganz gemein und gleichsam trivial; allein nicht nur ist das bey allen moralischen Sätzen [78] der Fall, nämlich, daß sie bekannt genug sind, ohne daß man deswegen darnach handelt, theils gehören diese sieben Stücke würklich zu den auserlesensten und haben viel in recessu, zu Teutsch: im Rückhalte; Endlich auch gewinnen solche alten Moralien durch eine feine, angenehme Einkleidung neuen Reiz, und darinn haben wir, ohne uns zu rühmen, unsre Stärke. – Nun weiter!

Warum grade der Herr Förster sich entschloß, mit seiner Nichte wieder nach Goßlar und nicht vielmehr nach Biesterberg zu reisen, das soll Euch, meine werthesten Zuhörer! in dieser Stunde mit wenig Worten auseinandergesetzt werden. Er war ein Mann, der gern alles in's Klare gebracht sah und der es nicht leiden konnte, daß auf seiner oder der Seinigen Ehre eine Makel haften bliebe. Gretchen war heimlich aus Goßlar entwischt; öffentlich mußte sie sich also wieder da zeigen, ehe die Sache ruchtbar würde; dort mußte zugleich die Untersuchung angestellt werden, ob sie auch durch ihre übrige Aufführung sich und ihre Familie beschimpft und welche Rolle bey dieser ganzen Liebesgeschichte Herr und Madam Deckelschall gespielt hätten. Über das alles sollte ihm dann der Magistrat in Goßlar ein Attestat schwarz auf weiß ausfertigen, zu seiner Rechtfertigung bey dem Herrn Amtmann Waumann.

Man kann sich leicht vorstellen, daß die Gespräche, welche unsre drey Reisenden unterwegens führten, nicht von der lustigsten Art waren; die holde Meta klagte und betheuerte, sie werde keinem andern Manne die Hand geben, als ihrem Hauptmanne; der Förster fluchte und appellirte an die Obrigkeit; der Pastor aber kam je zuweilen mit einem von unsern sieben moralischen Sätzen angezogen, den er dann nach seiner Weise ausführte und hinzusetzte: »Diese wichtige Wahrheit habe ich in einer von meinen Predigten, die ich drucken zu lassen die Absicht hatte, weitläuftiger auseinandergesetzt.«

Auf diese Weise kamen sie in Steinbrüggen an, welches ungefehr in der Mitte zwischen Peina und Goßlar liegt; es wurde hier angehalten und der Förster fühlte Beruf, sich mit einem vollständigen Frühstücke zu laben. Während diese Beschäftigung seine ganze Aufmerksamkeit fesselte, gieng Meta aus dem Zim mer, öfnete eine Thür, welche in den kleinen Garten des Wirthshauses führte und gieng in demselben kummervoll auf und nieder. Plötzlich erwachte in ihr der Gedanke: Wie? wenn Du hier Deinen Hütern entwischtest, in einem benachbarten Dorfe bey gefühlsvollen Leuten Schutz suchtest, Dich dort versteckt hieltest, und indeß an den Geliebten schriebst, daß er dann [79] käme, Dich abzuholen? – Dieser Plan hatte etwas so Romanhaftes; sie konnte unmöglich der Versuchung wiederstehn, ihn auszuführen. Daß ihr Brief gewiß den Hauptmann verfehlen mußte, der doch wohl nicht, nachdem er sie verlohren, ruhig in Peina sitzen geblieben seyn würde, das und sehr viel andre Dinge überlegte sie nicht. Der Garten hatte eine Hinterthür, die hinaus auf das Feld führte; diese Thür stand offen. Das Feld war mit Hecken eingefaßt, hinter welche man sich verstecken, oder vielmehr unbemerkt längs denselben fortlaufen konnte, bis man ein Wäldchen erreichte, oder an eine Straße geriethe, welche nach einer andern Richtung hinführte; auch lagen einige Dörfer in der Nähe – kurz! sie meinte, das Ungefehr werde sie schon einen sichern Weg leiten, ehe man etwas von ihrer Flucht gewahrwürde; also lief sie fort, quer über das Feld hin, den Hecken zu, zwischen welchen sie würklich einen hohlen Weg fand, welchen sie verfolgte und – das Übrige werden wir einst erfahren – kehren wir in das Wirthshaus zurück!

Eine gute halbe Stunde beschäftigte den Förster das Frühstück, und der Pastor rauchte dabey sein Pfeifchen; als endlich Jener seine Nichte vermißte. »Sie ist vorhin in den Garten gegangen, wie ich gesehn habe«, sagte Ehren Schottenius, »aber es wird nun auch wohl Zeit seyn, daß wir uns weiter auf den Weg machen. Ich will die Jungfer rufen«. – Er gieng; aber fort war sie, war nirgends zu finden. Wir lassen die beyden Herrn, die Wirthinn, den Hausknecht und die Magd sie aufsuchen und knüpfen indeß einen Faden unsrer Geschichte wieder an, den wir lange genug haben liegen lassen.

[80]

Eilftes Capitel
Der Herr Amtmann beschließt, noch einen Tag in Braunschweig zu verweilen und besucht nebst seinem Sohne das Schauspiel.
Etwas Dramaturgisches.

Der Herr Amtmann Waumann und sein liebenswürdiger Sohn hatten nun im sanften Schlafe ihre müden Glieder erquickt und ihr erlittenes Ungemach vergessen. »Sey gutes Muths, Valentinchen!« sagte der Amtmann. »Daß wir den Luftschiffer nicht gesehn haben, das ist freylich unangenehm; aber dafür wollen wir heute in die Comödie gehn. Mein kaltes Bad ist mir auch so übel nicht bekommen, und der Diebstahl läßt sich noch verschmerzen. Ich hätte dem Kerl nicht trauen sollen; Alle Musicanten taugen nichts; das lerne Du von mir! Früh oder spät wird man von so einem Vagabonden immer angeführt. Aber wenn mir der Lumpenhund einmal in das Amt Biesterberg kömmt, so soll er seinem Galgen nicht entwischen.«

Aus dieser Erklärung des Herrn Amtmanns erhellt, daß in Biesterberg die peinliche Halsgerichts-Ordnung der Nürnberger eingeführt war, nach welcher man niemand eher hängen lassen darf, als bis man ihn hat. »Aber Papa!« rief der junge Herr, »Ich kann mich nun nicht sehn lassen; mein grüner Sonntags-Rock ist mit fort.« »Thut nichts«, erwiederte der Amtmann, »der graue ist gut genug und so bald wir nach Hause kommen, soll Dir der Meister Bügelbock ein anders Kleid machen.«

Vater und Sohn kleideten sich nun an, giengen nach dem Gasthofe zum Prinzen Eugen und fanden dort ihre Freunde schon völlig gerüstet am Fenster stehn, wo sie sich an dem ungewöhnten Anblicke der Vorübergehenden und Fahrenden seit sechs Uhr Morgens ergötzt hatten. »Das hätte ich Dir voraussagen wollen, Bruder Amtmann!« sprach der Licentiat, »daß der Kerl Dich anführen würde.« »Ich wollte Du hättest mir's vorausgesagt«, erwiederte Herr Waumann, »Doch, laß uns nicht mehr daran denken, sondern uns jetzt ein wenig in der Stadt umsehn!« Und damit begaben sie sich auf den Weg, der Amtmann, sein Sohn, Herr Bocksleder, nebst Gattinn und Kind und der Kaufmann Pfeffer aus Schöppenstädt. Der Zug gieng durch die Hauptstraßen der Stadt, [81] nach dem Meßhause zu; Dann besahen sie die Kunstkammer, spatzierten im Schloßgarten umher, sahen die Parade aufziehn und schleppten sich dann ermüdet in den Prinzen Eugen zurück, wo der Licentiat für sie sämtlich das Essen bestellt hatte.

»Aber diesen Abend gehen wir doch Alle, so wie wir hier sind, in die Comödie?« sprach der Amtmann, als bey dem Braten seine Lebensgeister sich wieder ein wenig gesammelt hatten. »Das versteht sich«, erwiederte der Licentiat. »Seit meinem zwölften Jahre habe ich dergleichen nicht gesehn. Damals spielte ich selbst mit; Es war in Hildesheim, auf der Schule. Wie stellten Jonas im Wallfische vor und die Geschichte von Judith und Holofernes.«

Nun begann Herr Bocksleder die Beschreibung dieser geistlichen Schauspiele, womit ich jedoch dem Leser nicht zur Last fallen will. Eine angenehme Nachricht, die der Aufwärter verkündigte, unterbrach dies Gespräch; Er meldete nämlich, daß heute vor dem Schauspiele noch ein Luftball mit einem lebendigen Hunde aufsteigen und nach der Abend-Tafel Mascarade im Opernhause seyn würde. Das alles nun wollten unsre Freunde genießen und es wurde dazu sogleich Anstalt gemacht. Außer ihnen saßen noch an demselben Tische (denn man speiste in einem allgemeinen Gastzimmer) nebst verschiedenen unbekannten Gästen, der mehrmals erwähnte Student aus Helmstädt und der große Dichter Klingelzieher. Diese beyden jungen Herrn hatten ihre Freude daran, unsre Landleute, ohne daß sie es merkten, zum Gegenstande ihres Witzes zu machen. Als daher von Mascaraden-Kleidern die Rede war, die ein Jude welcher draußen stand, der Gesellschaft zu liefern versprochen hatte, versicherten die Spaßvögel, es sey gar keine Freude dabey, nur im Domino oder Tabareau dort zu erscheinen, sondern je auffallender die Verkleidung sey, um desto weniger werde man merken, daß sie vom Lande und daß ihnen solche Vergnügungen fremd seyen. Nur müßten sie ihre Rollen studieren und sich dem Charakter gemäß betragen, dessen Gewand sie trügen. Der Jude wurde gestimmt, die nöthigen Sachen herbeyzuschaffen und folgendes Costüm verabredet. Die Frau Licentiatinn Bocksleder sollte eine weiße Nonne vorstellen, ihren Sohn, wie Amor gekleidet, an ihre Hand nehmen und von ihrem Gemahle, in Gestalt des leidigen Satanas, mit Hörnern versehn, geführt werden; Der Amtmann Waumann wurde bewogen, Weiber-Kleider anzulegen und zwar als Göttinn der Nacht aufzutreten, in einem schwarzen Gewande, mit Sternen von Gold-Papier benäht, wovon Musjö Valentin, wie Arlekin gekleidet, [82] ihm den Schlepp nachtragen sollte. Herr Klingelzieher begnügte sich mit einem Zauberers-Gewande und der Student wählte eine Matrosen-Maske. Übrigens wurden den leichtgläubigen Leuten ihre Rollen so vorgeschrieben, daß es an den beyden Spaßvögeln nicht lag, wenn die Gesellschaft diesen Abend nicht von Knaben und Pöbel preisgemacht wurde.

Indeß rückte die Zeit heran, wo man den vierfüßigen Luftschiffer auffliegen sehn sollte; Man gieng hin, staunte dies merkwürdige Wunderwerk an und eilte von da in das Schauspiel.

Der junge Herr Waumann, ungewöhnt, anders wie in der Kirche, eine so große Versammlung in einem Hause auf Bänken und Bühnen sitzend zu erblicken, nahm aus Gewohnheit seinen Hut vor's Gesicht, als wollte er sein Gebet verrichten. Sobald aber nun die edle Musica anhob und der Vorhang in die Höhe gezogen wurde; Potz Fickerment! wie riß er da die Augen auf!

»Aber Papa!« rief er aus, als er sich ein wenig von seiner ersten Überraschung erholt hatte, »thun denn die Leute nichts als singen und sprechen gar nicht? Und man versteht ja nicht Ein Wort davon.« »Ja, siehst Du, mein Söhnchen!« erwiederte der Vater, »das nennt man eine italienische Oper. Ich wollte indessen, wir wären gestern darinn gewesen; da haben sie teutsch gespielt; aber da war der verdammte Vorfall, daß ich im Wasser gelegen hatte.«

Das welsche Singewerk fieng endlich an, unsern Leuten Langeweile zu machen; und da es ohnehin mit den Vorbereitungen zur Mummerey nicht so schnell gehn konnte, beschloß die ganze Gesellschaft, welche sich im Parterre nahe bey einander gehalten hatte, nach dem Wirthshause zurückzukehren.

»Ich glaube«, sagte Herr Klingelzieher, »Sie würden gestern eben so wenig, wie heute, von dem verstanden haben, was auf dem Theater gesprochen wurde; denn, obgleich das, was sie redeten, für teutsch gelten sollte; so waren doch ein Paar Personen darunter, deren oberländischer Provinzial-Dialect immer noch zu rathen übrig ließ, ob man seine Muttersprache, oder eine fremde Mundart hörte. Besonders zeichnet sich bey dieser Gesellschaft Ein Pärchen aus; Die Frau arbeitet sich im Tragischen herum und Er macht den Buffo in den Singespielen, die aus dem Italienischen übersetzt sind; allein er verwandelt diesen Buffo in einen plumpen teutschen Hanswurst, singt einen Baß, den er aus dem Unterleibe hervorholt und setzt vor jeden Lautbuchstaben noch ein u, zum[83] Beyspiel: ›uals uich nuoch uein klueiner Knuabe wuar‹, statt: als ich noch ein kleiner Knabe war. Von der Dame habe ich mir eine Rede gemerkt, die ich Ihnen doch mittheilen will: ›U ich Unklickliche! Taß mich toch nie tie Sohne peschinnen hätt! Und tu unkeratner Sonn! Kannst tu ketultig zusenn, taß teine Muhter wie eine pißente Sinterinn ta schtehn muß?‹«

Herr Klingelzieher declamirte noch viel über die Unverschämheit solcher Leute, die, aus dem niedrigsten Pöbel entsprungen, ohne Menschen–, Welt- und Sprach-Kenntnisse, ohne Sitten, ohne Gefühl, ohne Grundsätze, es wagten, auf die Bühne zu treten, in dem Character von Personen aufzutreten, mit deren Gleichen sie nie den entferntesten Umgang hätten haben können, und dennoch darauf Anspruch zu ma chen, auf den Geschmack zu würken, den Ton anzugeben, Moralität zu befördern und für achtungswerthe Männer von Wichtigkeit und Bedeutung im Staate zu gelten. – Solches Lumpengesindel, setzte er hinzu, das sich's nicht einfallen lassen sollte, dem geringsten Tagelöhner den Rang streitig zu machen!

Ein alter Mann, dem Ansehn nach ein gewesener Officier, welcher bey seiner Flasche Wein in der Ecke saß, nahm nun das Wort: »Mein Herr!« sagte er, »was mich betrifft, so muß ich gestehn, daß ich mich wundre, wenn ich höre, daß wir hie und da in Teutschland noch leidliche Schauspiele haben. Im Ganzen ist die Sache zwar überhaupt eben nicht der Mühe werth, daß man viel davon rede; aber wenn man doch einmal ernsthaft über diesen Gegenstand nachdenken will, so mögte ich wohl fragen, wie es unsre Theater-Dichter und Schauspieler anfangen sollten, ihren Geschmack zu veredeln, sich zu bilden, und wer ihnen die Anstrengung lohnen würde? Herrscht wohl auf zehn Meilen Weges in Teutschland einerley Geschmack und bleibt dieser Geschmack sich wohl zehn Jahre hindurch gleich? Weiß unter hundert Menschen Einer, was er eigentlich von einem guten Schauspiele fordern soll? – Nein! er weiß nur, daß er etwas Neues sehn will, so ein Hin- und Her-Reden und Würken durch einander, bey welchem zuweilen ein unerwarteter Zug ihn überraschen, oder ein lustiger Einfall ihm das Zwergfell erschüttern, oder eine einzelne rührende Situation ihn aus seinem Phlegma aufwecken soll. Um die Haltung des Ganzen bekümmert er sich wenig und wäre diese in einem Stücke meisterhaft und es fehlte dagegen an Verwirrung, an Buntschäckigkeit, oder das Stück wäre nicht neu mehr; so würde ich doch keinem Directeur, dem seine Casse am Herzen läge, [84] rathen, dergleichen Stücke oft zu geben. Denn für den Genuß des Erhabnen in der Kunst, ein Genuß, der für einen ächten Kenner, je öfter er ein Meisterwerk sieht, um desto größer wird – dafür hat das Gros des Publicums nirgends in Teutschland mehr Sinn, sondern will nur immer neue Spielwerke sehn. Ich sage, es hat keinen Sinn mehr dafür; aber hat es ihn je gehabt? ja! wenigstens in einigen Gegenden von Teutschland, zu Lessings Zeiten, zur Zeit der großen hamburgischen Entreprise. – Auch findet man noch in Hamburg kleine Haufen von Männern, neben denen unser Einer so gern im Parterre steht, wenn der edle, unnachahmliche, als Mensch und Künstler, als Freund und Gesellschafter gleich verehrungswürdige Schröder, unfähig dem falschen, frivolen Geschmacke zu schmeicheln, die alten ein- und ausländischen Meisterwerke hervorholt, gegen welche unsre neuern Kotzebuiana u.s.w. so erbärmlich abstechen. –«

Klingelzieher: »Wie? des Herrn von Kotzebue Stücke lassen Sie nicht gelten?«

Officier: »Davon nachher; Lassen Sie mich jetzt nur mein Bild im Allgemeinen ausmalen! Lesen Sie die Verzeichnisse der Stücke, die in den größten Städten Teutschlands in den letzten Jahren sind aufgeführt worden, und Sie werden darüber erstaunen, wie weit man noch in manchen Gegenden unsers Vaterlandes zurück ist und wie weit man in andern schon wieder hinabsinkt! – Die mehrsten Directionen müssen sich doch leider! nach den Forderungen ihres Publikums richten; und wo das nicht der Fall ist, wo der Hof die Stimme führt – ja! da sieht es denn freylich noch kläglicher aus. Ich machte im vorigen Winter eine kleine Reise. In einer nicht unbeträchtlichen Stadt, wo damals ein Theater war, wurde das elende Stück: Die Engländer in America zweymal begehrt, da hingegenDie Erbschleicher gar nicht gefielen und GöthensGeschwister – das herzige Stück, so voll Größe und Einfalt! – langweilig gefunden wurde. In einer benachbarten Residenz waren drey Vorstellungen der elenden Farce: Der Teufel ist los gestopft voll; die herrliche Oper Cora fand gar keinen Beyfall. Der Schauspieler, welcher hier ausgepfiffen wird, gilt dort für einen großen Künstler und die Sprache, welche man an der Donau für ächtes, saubres Teutsch verkauft, hält man an der Elbe für unverständliche Beschwörungs-Formeln böser Geister.

Was müssen die Folgen von diesem allen in Rücksicht auf Dichter und Künstler seyn? Sie sind leicht an den Fingern abzuzählen; ich will nur [85] beym Dichter stehn bleiben. Wer etwas besseres in der Welt treiben kann, der widmet seine Talente keiner so undankbaren Arbeit. An fleißiger Ausfeilung theatralischer Producte ist gar nicht zu denken; Wer will sich die Mühe geben, wenn er weiß, daß nach einigen Jahren seine Waare aus der Mode gekommen seyn wird? Alles kömmt nur darauf an, während dieser ephemerischen Existenz, so viel Aufsehn als möglich zu erregen, und das wird am sichersten bewürkt, je abentheuerlicher die Compositionen sind, die man an den Tag fördert. Da flickt man denn Charactere zusammen, von ungeheurer Schöpfung, Situationen, bey deren Anblicke man nicht weiß, ob man lachen, heulen, mit den Zähnen klappern, vomiren oder purgiren soll und Verwicklungen, die nur das Messer einer verzweifelnden Phantasie lösen kann. Das alles wird auf einander gehäuft, durch einander gepoltert – und das bewundern wir; den Fieber-Kranken, der so etwas in die Welt faselt, lobpreisen, posaunen wir aus; der eitle Thor glaubt sich an der Spitze der Unsterblichen aller Zeitalter und rast immer ärger darauf los, vernachlässigt die würklichen Talente, die in ihm wohnen und die eine weise Critic ausgebildet haben würde. Nach einer kurzen Reyhe von Jahren hat das Publicum diesen Rausch ausgeschlafen, kann nicht begreifen, wie es so blind hat seyn können, und rächt seine eigne Thorheit an dem armen Schriftsteller, den es, ungerecht gegen seine guten Anlagen, jetzt um so heftiger schmäht und Seiner spottet, je mehr es ihn vorhin erhoben hatte.«

Klingelzieher: »Nun! und unter diese unbedeutende Mode-Schriftsteller zählen Sie auch den Herrn von Kotzebue?«

Officier: »Ihn mehr, als irgend einen Andern. Einzelne Scenen in den theatralischen Producten dieses Schnellschreibers verrathen seltene Anlagen; aber in keinem seiner Stücke findet man Ordnung, Plan, Einheit, Würde und Consequenz – des sittlichen Zwecks nicht einmal zu erwähnen. 2 Zum Beweise, daß ich das nicht so in den Wind hinein rede, will ich, wenn Sie's erlauben, von den Schauspielen des Herrn von Kotzebue eines zergliedern, und zwar eines, das vielleicht von allen am mehrsten allgemeinen Beyfall gefunden hat, wovon sogar Ein Rezensent [86] und Dramaturg dem andern das Lob nachgeleyert hat, ich meineDie Indianer in England«.

Klingelzieher: »Wahrlich! ein schönes Stück!«

Officier: »Wir wollen sehn. Ich hoffe, Sie werden kein Urtheil fällen, ohne Gründe erwogen zu haben.

Zuerst lassen Sie uns doch von dem Zwecke reden, den der Verfasser vor Augen hatte, als er dies Stück zu schreiben begann! Können Sie Sich einen solchen einfachen Hauptzweck denken? Ich kann es nicht. Und doch darf man von jedem Kunstwerke mit Recht verlangen, daß es ein bestimmtes Ganze ausmache. Das fühlen selbst schlechte Kupferstecher, und um ihre steifen Compositionen von Dörfern und Flüssen und Menschen und Ziegen und Hündlein nicht mit dem leeren Titel Landschaften abfertigen zu lassen, setzen sie irgend etwas darunter, was Inhalt hineinbringen soll, zum Beyspiel: La tranquillité villageoise, oder: Le dimanche à la campagne u.s.f. Daß bey einem Schauspiele eine einfache Handlung zum Grunde liegen müsse, daran hat noch niemand gezweifelt, der die Sache versteht; und ich darf hinzusetzen: nicht selten ist ein Schauspiel um desto vorzüglicher, je einfacher, mit wenig Worten sich dieser Hauptzweck, auf welchen die ganze Handlung und alles Würken der handelnden Personen hinausgeht, ausdrücken läßt. Auf welchen Punct aber concentrirt sich in den Indianern in England das ganze ungetheilte Interesse? Wer ist die Haupt-Person? Welcher moralische Satz, welche Lehre, welche Wahrheit, welche Warnung soll hier anschaulich gemacht werden? kurz! welchen Haupt-Eindruck soll der Zuschauer mit nach Hause nehmen, wenn der Vorhang gefallen ist?

So viel über den Zweck, oder vielmehr über den Mangel an Zweck! Nun zu den einzelnen handelnden Personen und deren Charactern! Eine eben so unbestrittene Regel bey einem guten Schauspiele, als die vorige, ist die: daß alle auftretenden Personen an die Handlung geknüpft seyn sollen, daß sie zum Ganzen nicht nur mitwürken, sondern zu dieser Würkung nothwendig, unentbehrlich seyn müssen. Alles übrige nennt man Flick-Rollen, die von der Armuth des Dichters zeugen. Leider! ist nun freylich in diesem Stücke überhaupt gar keine eigentliche Handlung; aber angenommen, daß man das bischen Thätigkeit, worinn die Personen gesetzt werden, also nennen mögte; so könnte füglich das Ganze seine Endschaft erreichen, ohne den Herrn Musaffery, ohne den Visitator, ohne den Bootsknecht, ohne die beyden Notarien, wenigstens ohne Einen derselben, ohne den kleinen Knaben, allenfalls ohne die alberne [87] Mistriß Smith, ja! ohne den alten Herrn Smith, der auf seinem Stuhle herausgefahren wird, um zu hören und zu sehn und, wenn ihn der Dichter wieder fort haben will, geschimpft oder gestoßen wird, da er dann anfängt zu fluchen oder zu klagen und sich wieder fortrollen läßt.

Verzeichnet sind fast alle Charactere. Gurlis liebenswürdige Naivetät hat ein Kunstrichter so meisterhaft geschildert gefunden und Andre haben es ihm nachgelallt. – Lassen Sie uns doch, ohne uns um diese Authorität zu bekümmern, untersuchen, was für ein Werk der Schöpfung diese Gurli ist! Eine alberne Gans zu malen, die von den Dingen dieser Welt nichts weiß, gern einen Mann haben will, lacht, wenn ihr etwas ungewöhnliches aufstößt, weint, wenn sie an etwas Unangenehmes denkt, sich zu freundlichen Gesichtern hingezogen fühlt und unfreundliche Menschen nicht leiden mag – ist es Kunst, so ein Geschöpf zu malen? Allein dies Bild könnte interessant werden, wenn man das rohe Kind der Schöpfung in Lagen versetzt sähe, wo es, aus innerer Güte der menschlichen Natur, eben so groß und edel handelte, wie die fein cultivirte Liddy; aber nichts von dem! Doch, was noch mehr ist, dieser ganze Character ist ein Hirngespinnst. Denken Sie Sich, wenn Sie können, ein mannbares und noch obendrein manntolles Mädchen, das, unter Wilden erzogen, wo keine falsche Delicatesse den Schleyer über gewisse natürliche Dinge wirft, noch nicht wissen soll, was ein Männchen und was ein Weibchen ist, und daß Mann und Frau zum Heyrathen nöthig sind! Ein Mädchen, das lange genug in England gewesen ist, um Schreiben gelernt zu haben und, indem es zwey Notarien, die beyden Brüder Smith, Miß Liddy und den alten Musaffery, theils nach der Reyhe, theils auf einmal heyrathen will, zeigt, daß es noch nicht weiß, daß, so wenig in Großbrittanien, wie vielleicht in irgend einem Lande des Erdbodens, Vielmännerey erlaubt ist! Eine schöne Naivetät!

Fazir ist ein Wilder aus Bengalen und winselt und empfindelt, wie ein Siegwart. Kaberdars Charakter ist gar nicht ausgemalt; Musaffery eben so wenig.

Von dem alten Smith erfährt man nur so viel, daß er ein gutherziger, schwacher, unbedeutender Sterblicher ist.

Robert, Liddy und Jack sind die einzigen Personen, die Physiognomie haben.

Samuel und der Visitator haben Originalität, aber sie sind so offenbar von teutscher Schöpfung, daß wohl schwerlich in ganz Großbrittanien zwey solcher Charactere werden gefunden werden.

[88] Wenn sich ein teutsches Fräulein mit allen albernen Prätensionen des Adelstolzes an einen englischen Kaufmann verheyrathete, so würde diese Thorheit doch gewiß in dem ersten Jahre ihres Aufenthalts in Großbrittanien schon von ihr weichen; Nichts kann ihr dort Nahrung geben; Man wird sie nicht einmal verstehn. Die ganze Art der Zusammenlebung, die öffentliche persönliche Achtung, deren ein Kaufmann daselbst in viel größerm Maaße, wie ein kleiner teutscher Edelmann, genießt; das alles wird ihr die Grillen von ihren Ahnen bald vertreiben. – Wie unnatürlich also, daß Mistriß Smith nach zwanzig bis dreißig Jahren noch den Versuch wagt, diese Narrheit geltend zu machen! 3

Die Notarien-Scene ist äußerst comisch; aber sie ist ein hors d'oeuvre und gehört nicht dem Herrn von Kotzebue, sondern dem alten Vater Moliere.

Wer Schauspiele schreibt, soll doch auch die Sitten des Landes studieren, in welches er seine Scenen versetzt; auch das vergißt der Herr von Kotzebue in der Eil, mit welcher er schreibt. Herr Smith heißt Sir John, folglich ist er Baronet, denn kein Andrer führt in England vor seinem Taufnamen den Titel Sir. Er selbst aber sagt, er sey von bürgerlicher Abkunft. Aber sey er Baronet; so kann, bey seinen Lebzeiten, es doch sein Sohn nicht auch seyn; allein auch Dieser nennt sich selbst Sir Samuel Smith.

In England wird niemand zehntausend Pfund lieber in baarem Gelde als in Banco-Noten haben wollen, wie Herr Samuel.

In England wird gar kein Knaster verkauft und doch will Herr Smith Knaster rauchen.

Mysore ist nie von einem Nabob regiert worden.

Dies alles soll nur beweisen, wie wenig dieser Schriftsteller an seinen Werken feilt; und hiervon zeugen noch andre Stellen. Der alte Smith klagt, die Frau habe ihm nicht einmal eine Kanne Porter geben wollen und doch verschenkt er nachher ein ganzes Faß voll starken Biers an den Bootsknecht.

Im ersten Auftritte theilt Herr Smith vier Segen aus; Im neunten Auftritte des zweyten Aufzuges abermals zwey; Im dreyzehnten bittet [89] Liddy um ein dito und erhält ihn von der Mutter; Im sechsten Auftritte des dritten Aufzugs segnet Kaberdar; Im vierzehnten segnet wiederum Herr Smith und im funfzehnten nochmals der Nabob Kaberdar. – Das sind viel christliche und heidnische Segen!«

Der alte Officier war in so gutem Zuge, seine dramaturgischen Kenntnisse auszukramen, daß er vermuthlich noch in einer Stunde nicht würde aufgehört haben, wenn nicht Einer aus der Gesellschaft, dem diese Abhandlung vielleicht eben so viel Langeweile verursachte als meinen Lesern, die Bemerkung gemacht hätte, daß es wohl Zeit seyn würde, sich zur Mascarade auszurüsten. Man nahm also Abschied von ihm, gieng hinauf in des Licentiaten Zimmer, wo die bestellten Ball-Kleider in Bereitschaft lagen, steckte sich in dies abgeschmackte Costum, zur großen Freude der beyden jungen Spottvögel, und gieng dann in diesem Aufzuge mit einander zu Fuße den Bohlweg hinauf, dem Opernhause zu.

Der Officier stand in der Thür des Gast-Zimmers, als sie die Treppe herunter kamen. »Aber, wie mögen Sie«, sprach er, »Ihre Zeit mit einer so elenden Unterhaltung verderben? Was für Vergnügen kann ein verständiger Mann daran finden, sich in einem Gewühle von Menschen herumzutreiben, die, ausstaffirt, wie die Narren im Tollhause, sich zwecklos durch einander herumtreiben und drängen; wo eigentlich getanzt werden sollte, und doch niemand, der gern ohne blaue Flecke und Beulen nach Hause gehn will, tanzen mag; wo man verkleidet hingeht, ohne sich seinen Bekannten unkenntlich zu machen, indeß die Unbekannten sich, auch ohne Maske, fremd bleiben würden?«

Vermuthlich würde der alte Critiker eine eben so lange Abhandlung über die Mascaraden, als über die Schauspiele, zu Tage gefördert haben, wenn nicht unsre Freunde die Unterredung kurz abgebrochen und ihren Weg fortgesetzt hätten. Sie schlichen sich daher vor ihm vorbey und giengen.

[90]

Zwölftes Capitel
Was der Herr Hauptmann Previllier dem alten Dornbusch unterwegens erzählt. Zusammenkunft in Steinbrüggen.

Dem Herrn Dornbusch kam die Entdeckung, daß seine Tochter und sein Bruder noch vor zwey Stunden mit ihm zugleich in Peina gewesen wären, wie ein Traum vor. Der Officier fieng an, ihm das ganze Räthsel aufzulösen, sobald sie im Wagen saßen, und die Freude des alten Mannes, so gute Nachrichten von den Seinigen zu erhalten, war jetzt unbeschreiblich. Gern hätte Herr Previllier diese angenehmen Empfindungen in vollem Maße mit ihm getheilt, wenn nicht die Unruhe über den Verlust seiner Geliebten jeden fröhlichen Gedanken von ihm verscheucht hätte.

Doch, da der Förster und der geistliche Herr kaum vor anderthalb Stunden erst mit dem jungen Frauenzimmer abgefahren waren, schien es mehr als wahrscheinlich, daß sie das Fuhrwerk noch disseits Goßlar einholen würden und dann hörte ja die Gewalt des Oheims über die Nichte auf und er konnte die Schöne aus der Hand ihres Vaters empfangen. Diese Hofnung erheiterte ihn wieder, und da sein Pflegevater nur kurze, summarische Nachrichten von seinen erlebten Schicksalen nach Ostindien bekommen hatte, vertrieb er, auf das Bitten des alten Herrn, ihm unterwegens die Zeit durch genauere Erzählung dieser Begebenheiten, die wir denn auch den Lesern in seinen eignen Worten mittheilen wollen.

»Der redliche Consul, dem Sie mich anvertrauet hatten, handelte von dem Augenblicke an, da ich ihm war übergeben worden, wie ein leiblicher Vater an mir und mein Zutraun und meine Liebe zu ihm wuchsen mit jedem Tage. Er schwatzte nicht viel von zärtlichen Empfindungen und hatte überhaupt in seinem Äußern nicht jene unteutsche Geschmeidigkeit, wodurch Menschen von geringerm innern Werthe so gern die gute Meinung Derer, die sie fürchten, zu erschleichen pflegen; aber ächte Feinheit des Gefühls, die, bey reellen Veranlassungen, aus seinem wohlwollenden Herzen hervorblickte, thätige Hülfe, ohne viel Wortprunk, vereinigt mit unbestochner Wahrheitsliebe und Würde des Characters [91] waren die Grundzüge des seinigen. Sobald er mich nun ausgerüstet und meinetwegen Antwort von seinem Freunde, dem Obristen erhalten hatte, schickte er mich, begleitet von einem treuen Mohren, der sein Bedienter war, mit dem Postwagen nach ***. Daselbst trat ich in einem Gasthofe ab, kleidete mich sauber an, steckte das Empfehlungsschreiben des Consuls in die Tasche und wanderte hin zu meinem Obristen.

Ich muß, ehe ich in meiner Erzählung fortfahre, Ihnen hier ein schwaches Bild von diesem würdigen Kriegsmanne entwerfen. Er war in seinem äußeren Betragen rauh, doch von Herzen bieder, sprach sehr wenig, mehrentheils nur in abgebrochenen Sätzen; aber alles, was er sagte, hatte Kraft, Originalität und nicht selten einen Anstrich von eigenthümlichem Witze. Jeden solchen Kernspruch pflegte er dann damit zu beschließen, daß er ein Paar Noten hinterher sang: ›Ich bin‹, sprach er, ›nun einmal so; tüh – – – hü; und wer mich so nicht leiden mag, der kann mich laufen lassen; thü – – – hü.‹ Nächst dem Soldaten schätzte er den redlichen Handwerker am höchsten, höher wie die Menschen aus andern Classen. Gelehrte konnte er gar nicht ausstehn. Sie hätten, behauptete er, fast sämtlich ihre grade, gesunde Vernunft wegstudiert; Alles sey bey ihnen auswendig gelernter Kram; Ihre ganze Weisheit sey an einen langen gekauften Bindfaden (Er zielte damit auf den Systemsgeist) gereyht. Rührte man nun das eine Ende an, sagte er, so polterte einem immer der ganze Plunder über den Leib und immer derselbe Plunder, man mögte das vorderste oder das hinterste Ende ergreifen. Strenge waren seine Begriffe von Gerechtigkeit und deswegen verzieh er nicht leicht vorsetzliche Beleidigungen, wenn er nicht ungeheuchelte Reue wahrnahm; besonders da, wo nicht sowohl seine Person, als die Tugend selbst war gekränkt worden. Nicht ärger konnte er entrüstet werden, als wenn er darauf zu reden kam, daß gewisse Stände andre nützlichere Menschen-Classen geringschätzten. Einem Sattler, der lange für ihn gearbeitet hatte, entzog er seine Kundschaft, so bald er erfuhr, daß er seinen Sohn kein Handwerk lernen lassen, sondern ihn auf Universitäten schicken wollte.

So war der Mann beschaffen, von dem ich mein künftiges Glück erwarten sollte. Als ich bey ihm angemeldet wurde, ließ er mir zuerst meinen Brief abfordern, und nachdem er ihn gelesen hatte, mußte ich zu ihm hinaufkommen. Er nickte wiederholt freundlich mit dem Kopfe, ohne ein Wort zu reden, als ich mich ihm näherte; dann stand er auf, ergriff mich bey den Schultern und drehete mich dreymal herum. Als er [92] nun den kleinen Haarbeutel gewahrwurde, den ich, um mich recht herauszuputzen, eingebunden hatte, fieng er laut an zu lachen und rief aus: ›hah! ein junk französch Marquis! kann niks teutsch parlier; tüh – – – hü.‹ Dieser seltsame Empfang verblüffte mich so, daß mir die Thränen in die Augen traten; Das that dem guten Manne weh; Er streichelte mir daher die Backen und sagte liebevoll: ›Nur getrost, mein Jüngelchen! Ich will Dich bey mir behalten und einen rechtlichen Kerl aus Dir machen, und der Haarbeutel soll verauctionirt werden; tüh – – – hü.‹ Noch an demselben Tage wurde dann der Regiments-Schneider geholt, um mir das Maaß zu nehmen; und sechs und dreyßig Stunden nachher stand ich als wohl bestallter Fahnenjunker da. ›So lasse ich's gelten; tüh – – – hü!‹ sang der Obrist und behandelte mich von nun an wie sein eignes Kind. Ich bekam ein Zimmerchen angewiesen, speiste an seinem Tische, lernte das Exerciren, bekam Unterricht im Rechnen und Schreiben, dann auch in den mathematischen Wissenschaften; im Französischen, im Reiten und Fechten und noch obendrein gab mir der großmüthige Mann Taschengeld, und erst nachher habe ich erfahren, daß er von dem Consul keine Entschädigung dafür annahm. Aller dieser Wohlthaten ungeachtet redete er selten ein einziges Wort mit mir; aber auf seinem Gesichte konnte ich es lesen, ob er von meinem Fleiße und meiner Aufführung mehr oder weniger zufrieden war.

Der Haushalt meines Obristen bestand, außer ihm und seinem Sohne, dem Fähndrich, einem Erz-Taugenichts, der ihm viel heimlichen Kummer machte, aus einem alten tauben Koche, einer einäugichten Soldaten-Witwe, welche die Betten bereiten und das Haus rein halten mußte, einer dicken plumpen Küchen-Magd, zwey Bedienten, die zugleich Soldaten waren, und einem Reitknechte. Der alte Obrist hatte seine Augen aller Orten und eine größere Ordnung und Pünctlichkeit, wie in seinem Hause herrschte, konnte man sich kaum denken. Das Gesinde liebte und fürchtete ihn, war treu, fleißig, häuslich und einig unter einander. Des Sonntags, wenn der Herr im Clubb war, holte der Koch eine schmutzige Violine vom Hacken herunter, wo sie hieng, fiddelte den Dessauer Marsch, oder einige Tänze, die zu Georg des Andern Zeiten in Hannover, wo er seine Kunst gelernt hatte, Mode gewesen waren, und die Bedienten spielten im Dam-Brette, wozu sie die Steine selbst geschnitzelt hatten. So gieng alles, Jahr aus, Jahr ein, seinen ruhigen, friedlichen Gang fort. Der Obrist war gastfrey, doch nur gegen die Officiers seines Regiments, [93] gieng selten aus, und las, wenn er allein war, alte und neuere historische Bücher.

Ich habe eben gesagt, der Obrist hätte überall in seinem Hause die Augen gehabt; Nur über Einen Gegenstand schien er blind, und der war die Aufführung seines Sohns, des Fähndrichs. Das einzige Kind, die Verlassenschaft einer früh verlohrnen, geliebten Gattinn. – Das war es, was sich zu Rechtfertigung dieser Schwäche sagen ließ. Der junge Mensch führte nicht nur ein ausschweifendes Leben, sondern belog und bestahl auch seinen würdigen Vater, der ihm doch keine Bitte versagte; ja! er rühmte sich dessen laut. Sein Character und sein Wandel waren aber auch auf seinen bleichen, schlaffen Wangen, in seinen matten Augen und aus seinen unsichern, irrenden Blicken zu lesen. Männern war dieser Mensch unerträglich, aber – und leider! habe ich nachher in der Welt oft diese Bemerkung zu wiederholen Gelegenheit gehabt, – den mehrsten gewöhnlichen Weibern gefiel der Unverschämte besser, als ein blühender, tugendhafter, bescheidner Jüngling. Ich fühlte mich bey dem ersten Anblicke von ihm zurückgestoßen und seine Abneigung gegen mich war nicht geringer, sobald er sah, daß ich mich nicht nach seinem Muster bilden, mit ihm nicht gemeinschaftliche Sache machen wollte. Allein er war der Einzige im Hause, der mir abgeneigt war; alle Andre liebten mich, und mein Wohlthäter zeigte mir täglich mehr väterliche Zuneigung, obgleich der Fähndrich keine Gelegenheit versäumte, mich bey ihm anzuschwärzen.

Oft war ich in Versuchung, dem Obristen die Betrügereyen seines Sohns zu entdecken; Dankbarkeit schien mich dazu aufzurufen; aber Vorsichtigkeit hielt mich zurück. Indessen begegnete ich dem Bösewichte, selbst in des Vaters Gegenwart, mit der Verachtung, welche er verdiente; und so gerecht war der alte Mann, daß er mir, dieses seines Lieblings wegen, nie sein Wohlwollen entzog.

Ich war beynahe noch ein Knabe, als der Obrist mich dem Herzoge, seinem Herrn, zum Fähndrich vorschlug und, als mein Patent ausgefertigt war, mir eine größere Summe Geldes schenkte, wie ich zu meiner Equipirung bedurfte. Allein die Glückseligkeit, die ich an der Seite eines so guten Cheffs und edeln Wohlthäters genoß, dauerte nicht lange; Der alte Herzog, dessen Jugend-Freund er war, starb und der neue Herr warf, wie es zu geschehn pflegt, alles über den Haufen, was sein Vater eingerichtet hatte. Er war ein harter, gefühlloser, hochmüthiger, unwissender und mißtrauischer Mensch. Mit dem Militair wurde eine große [94] Veränderung vorgenommen; die Officiers wurden aus einem Regimente in das andre versetzt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie Wenige von diesen schlecht bezahlten Leuten im Stande waren, die Unkosten einer solchen Veränderung zu bestreiten; ja! es war ihm Ursache genug, jemand an einen andern Ort hin zu verpflanzen, wenn er merkte, daß Dieser gern da geblieben wäre, wo er war.

Mein redlicher Obrist erhielt ein anders Regiment; sein Sohn aber und ich blieben in der bisherigen Garnison und bekamen einen andern Cheff. Dieser war ganz ein Mann nach des Herzogs Wunsche; strenge, pedantisch, ein Camaschen-Held, der von unten auf gedient hatte und seine Untergebnen wie Sclaven behandelte. Ich hätte nun von meiner geringen Gage leben müssen, wenn mein großmüthiger Beschützer mir nicht von Zeit zu Zeit ansehnliche Zuschüsse geschickt hätte; allein meine Lage war darum nicht weniger unangenehm, denn mein neuer Obrist konnte mich nicht leiden, hatte immer etwas an mir auszusetzen und neckte mich unaufhörlich.

In der Stadt wohnte eine verwitwete Ritmeisterinn von Seebach nebst ihrer Tochter, einem liebenswürdigen, sanften und tugendhaften Mädchen. Ich hatte Umgang in dem Hause, wurde von Mutter und Tochter gern gesehn und würde, wäre ich nicht so arm gewesen, gewiß Plan auf ihren Besitz gemacht haben; so aber lehrten mich Vernunft und Pflicht, mich in den Gränzen der Hochachtung und Freundschaft halten und jede andre Neigung unterdrücken. Der Fähndrich aber, mein geschworner Feind, hatte ein Auge auf das Fräulein, so wenig sie ihn auch leiden konnte; und da alle seine Anträge verworfen wurden, glaubte er, ich stünde seinem Glücke im Wege. Eines Abends, als ich grade bey der Frau von Seebach war, kam er betrunken herein und betrug sich so ungezogen, daß ich endlich die Geduld verlohr und ihm Stillschweigen auflegte. Dem jungen Herrn schwoll der Kamm, er stieß Beleidigungen gegen mich aus; die Hitze überwältigte mich; ich warf ihn zur Thür hinaus, und er gieng drohend weg. Nachdem ich den Damen meine Entschuldigungen gemacht hatte, blieb ich noch eine Stunde lang bey ihnen und wollte dann nach Hause, wo ich eine Ausforderung von meinem Feinde erwartete. Es war in der Dämmerung eines Herbst-Abends; Ich mogte ungefehr zwölf Häuser vorbey gegangen seyn und wollte nun in eine enge Gasse einbeugen, als ich von dem Bösewichte und einem andern eben so schlechten Menschen, die sich an der Ecke versteckt gehalten hatten, meuchelmörderischerweise angegriffen wurde. Sie stürmten mit [95] bloßem Degen auf mich ein und ich hatte kaum Zeit, den meinigen zu ziehn, mich an eine Wand zu stellen, um den Rücken frey zu haben und mich in Vertheydigungsstand zu setzen. Bey dem ersten Anfalle hatte Einer von den Schurken nach mir gestoßen, mich aber nur leicht in den linken Arm verwundet. Jetzt drangen sie Beyde ungestüm auf mich ein. Anfangs vertheydigte ich mich nur; da ich aber voraussah, daß ich auf diese Weise leicht ihr Opfer werden könnte, suchte ich wenigstens mir Einen vom Halse zu schaffen. Ich fiel also unerwartet aus, als mir der Fähndrich grade Blöße gab und wollte ihn etwa durch einen Stich in den Arm wehrlos machen; allein ich traf in den Leib; Er stürzte und der Andre entfloh.

Es fiel gleich nach der That zentnerschwer auf mein Herz, daß mein unglückliches Verhängniß mich gezwungen hatte, an dem Sohne meines Wohlthäters vielleicht zum Mörder zu werden; Ich eilte ihm zu Hülfe; Er war nur ohnmächtig, erholte sich bald wieder und war noch stark genug, sich von mir nach seinem Quartiere führen zu lassen. Dort verschaffte ich ihm einen Wundarzt, welcher gleich nach der ersten Untersuchung versicherte, daß gar kein edler Theil verletzt und durchaus keine Lebensgefahr da sey.

Ich würde also über die Folgen, welche dieser Vorfall für mich, der ich nur Nothwehr geübt hatte, haben konnte, sehr ruhig gewesen seyn, wenn ich weniger die schändliche Denkungsart meines Gegners und seines Beschützers, des Obristen, gekannt hätte. Dieser Letztere war jetzt mehr als jemals mein Feind. Er hatte kürzlich einen Unterofficier, bloß deswegen, weil er ihn in der neuen Mondirung angetroffen hatte, die er eigentlich nur auf der Parade tragen sollte, so gefuchtelt, daß der arme Mann davon gestorben war. 4 Ich hatte mich nicht enthalten können, über diese Greuelthat laut zu reden, und das hatte der Obrist wiedererfahren. Jetzt war die Gelegenheit da, mich seinen Haß fühlen zu lassen, und diese Gelegenheit ließ er nicht entwischen. Die ganze Sache wurde so verdreht und die Art der Untersuchung so unregelmäßig vorgenommen, daß ich, ohne ordentliches Verhör, zu einem Festungs-Arreste auf ein halbes Jahr verurtheilt wurde.

[96] [98]Was war zu thun? ich mußte der Gewalt nachgeben. Da mir's indessen erlaubt war, aus meiner Gefangenschaft Briefe fortzuschicken, so schrieb ich nicht nur an meinen würdigen alten Obristen, um ihn um Verzeyhung zu bitten, sondern meldete auch meinem guten Consul den Vorfall und meinen Entschluß, gleich nach meiner Befreyung den ***schen Dienst zu verlassen und anderswo mein Glück zu suchen.

Der bayrische Successions-Krieg, welcher grade in dieser Zeit ausbrach, gab mir einen ehrenvollen Vorwand, meinen Abschied zu fordern, indem ich den Herzog bat, mich zu entlassen, damit ich bey der österreichschen Armee ein Paar Feldzüge mitmachen und die militairischen Kenntnisse, welche ich in seinem Dienste zu erlangen das Glück gehabt hatte, practisch ausüben lernen könnte. Der Abschied wurde mir nicht versagt; Wieder die Gewohnheit junger Officiers hatte ich mir von den Geschenken meines Wohlthäters eine Casse von einem Paar hundert Thalern gesammelt; Der Consul vermehrte diese Summe auf die großmüthigste Weise und schickte mir zugleich Empfehlungsschreiben an zwey österreichsche Generals; und so war ich denn im Stande, meine Reise zur kaiserlichen Armee anzutreten.

Allein ich hatte vorher noch eine Pflicht zu erfüllen; ich mußte dem würdigen Obristen meine Dankbarkeit darbringen und mich bey ihm rechtfertigen, wenn auch ihm meine Aufführung vielleicht aus einem falschen Gesichtspuncte war vorgestellt worden. Beydes glaubte ich am besten schriftlich thun zu können; doch schonte ich dabey, so viel sichs irgend thun ließ, seines Sohns.

Ich konnte die Antwort nicht abwarten, habe auch seit der Zeit nie wieder eine Zeile von dem edeln Manne gelesen, denn er starb wenig Monate nachher am Schlagflusse.

Da ich vorher an den großen, guten Kaiser Joseph geschrieben und von ihm die Zusicherung erhalten hatte, als Capitain bey einem der neu errichteten Frey-Corps angesetzt zu werden, in so fern ich eine gewisse Anzahl Recruten lieferte; so machte ich dazu Anstalt, brachte bald in den Rheingegenden einen Theil dieser Mannschaft zusammen, bezahlte für die Fehlenden eine bestimmte Summe, und gieng dann zur Armee.

Die kräftigen Empfehlungsbriefe des Consuls und ein Paar glückliche Vorfälle, die mir Gelegenheit gaben, Diensteifer und einigen Muth zu zeigen, erwarben mir die Achtung meiner Cameraden und die Zufriedenheit meiner Vorgesetzten. Der Krieg dauerte zum Glücke der Völker nicht lange; die Freycorps giengen dann auseinander; allein ich erhielt [98] die Versprechung, in ein regulaires Regiment eingesetzt zu werden. Um diese Sache nun thätiger betreiben zu können, gieng ich gleich nach dem Frieden nach Wien. Dort brachte ich beynahe ein halbes Jahr sehr vergnügt zu und machte manche recht interessante Bekanntschaft. Wichtiger wie alles Übrige war mir das Glück, den liebenswürdigen Fürsten in der Nähe bewundern zu können, der ohne Prunk, aus wahrer Wärme für das Gute, so thätig war, Glück und Wahrheit zu verbreiten; der gegen so unendliche Schwierigkeiten, die ihm Dummheit und Bosheit in den Weg legten, muthig ankämpfte, kein Gift, keinen Dolch und keine spitzige Feder fürchtete, weil er wußte, daß die Vorsehung wahre Größe schützt, und daß man nur dann Ursache hat, sich zu fürchten und das Licht zu scheuen, wenn man sich selber nicht trauen, sich selber nicht respectiren darf; und der, wenn er eben so glücklich gewesen wäre, als er gut und eifrig war, von der späten Nachwelt noch mit Bewundrung angestaunt werden würde.

Meine Hofnung, wieder in Thätigkeit zu kommen, wurde bald erfüllt; man setzte mich in meinem vorigen Range im ***schen Regimente an und bald nachher bekam ich den Befehl, nach Goßlar auf Werbung zu gehn.

Sie wissen, bester Vater!, daß ich dort die Bekanntschaft Ihrer liebenswürdigen Tochter machte und was weiter vorgefallen ist; Mögten wir nun nur den Zweck erreichen, sie bald wieder einzuholen! Dann ist es in Ihren Händen, mein Glück, dessen erster Schöpfer Sie gewesen sind, vollkommen zu machen.«

Während der Hauptmann Previllier diese seine Geschichte erzählte, blickten sie Beyde oft zum Wagen hinaus, um zu entdecken, ob sich nicht ein Fuhrwerk vor ihnen sehn ließe. Sie fragten Jeden, der ihnen begegnete und erfuhren endlich, daß die bewußte halbe Kutsche ungefehr eine Stunde früher denselben Weg genommen hatte. Diese Nachricht erhielten sie kurz vor Steinbrüggen und als sie dahin kamen, sahen sie den Wagen in einem Hofe stehn. Ihre Freude war unbeschreiblich; sie sprangen aus der Callesche – aber alles im Wirthshause lief durch einander – diese Verwirrung prophezeyete ihnen nichts Gutes. Der Förster rennte wie unsinnig herum und fluchte wie ein Hesse. Sein Bruder fiel ihm um den Hals – er wußte nicht, wie ihm geschahe – »Bruder! lieber, theurer Bruder! Aber wo ist sie? Wo ist meine Margaretha?« – »Wo sie ist? der Teufel hat sie geholt, das Wettermädchen! Aber finden muß ich sie und sollte ich die halbe Welt durchrennen.«

[99] So standen die Sachen in Steinbrüggen – Allein es ist Zeit, daß wir wieder zu der Demoiselle zurückkehren, die wir auf freyer Heerstraße allein gelassen haben. Wir sind zu galant, um ihr nicht bald zu Hülfe zu eilen.

[100]

Dreyzehntes Capitel
Jungfer Margaretha Dornbusch begiebt sich in den Schutz einer alten christlichen Dame und setzt sich neuen Gefährlichkeiten aus.

Ja! nicht etwa auf ofner, freyer Heerstraße nur, nein! was noch ärger ist, in einem hohlen Wege haben wir unser Frauenzimmer gelassen. Wie mancherley Gefahren konnte nicht das wehrlose, schwache Geschöpf hier ausgesetzt seyn; Uns treten die Thränen in die Augen, wenn wir alles erwägen, was dem armen Mädchen da hätte begegnen können. »O!« würde hier ein Schriftsteller ausrufen, dem es um die moralische Besserung seiner Leserinnen zu thun wäre. – Darauf aber haben wir, im Vorbeygehn zu sagen, es gar nicht angelegt, sondern nur auf Belustigung und Honorarium. – »O!« würde er sagen, »Ihr leichtsinnigen Kinderchen! wohin kann nicht eine einzige Übereilung führen! Da spiegelt euch nun an dem Beyspiele der Jungfer Margaretha Dornbusch, die Ihr jetzt wie eine Landläuferinn an Hecken und Büschen und in hohlen Wegen herumirren sehet, und lasset mir das vermaledeyete Roman-Lesen unterwegens, wodurch Ihr Euch nur Thorheiten in den Kopf setzt!«

Doch wir wollen uns bey den Ausrufungen nicht aufhalten, sondern schlecht weg erzählen, was unsrer Schönen begegnete. Sie mogte ungefehr ein Paar hundert Schritte in besagtem hohlen Wege ängstlich eilig fortgerennt seyn, als sie auf eine andere Straße stieß, welche dies Defilé durchkreuzte, zugleich auf derselben eine Kutsche erblickte, die, von drey Pferden gezogen, langsam daher wackelte, und ihr schon ziemlich nahe war. Der Kasten dieses Fuhrwerks sahe für sein Alter noch ganz reputirlich aus, war ein wenig groß und der Untertheil bauchartig ausgeschweift. Mit gelben Nägeln sahe man an den beyden Thüren die Buchstaben v.B. angebracht; Ein kleiner, mit Seehundfell überzogener Koffer war hinten aufgebunden und ein Bettler, der gern mit Gelegenheit reisen wollte, hatte sich diesen zum Sitze gewählt. Außerdem befanden sich noch zwey Körbe und eine Schachtel an dem Bock mit Stricken befestigt; der Fuhrmann aber, in einem so genannten Futterhemde, mit einer kleinen Tabacs-Pfeife im Munde, gieng neben den drey Gäulen her, die der Autor als ein wenig zu mager schildern müßte, wenn er nicht [101] aus gewissen Ursachen, die Parthey magerer Geschöpfe nähme. Der Zug gieng langsam und bedächtlich und unsre Demoiselle hatte volle Muße, sich auf den Schritt vorzubereiten, den sie zu thun Willens war, ehe die Kutsche den Platz erreichte, wo die Straße den hohlen Weg durchschnitt.

Ein nicht ganz lieblicher und nicht sehr harmonischer, zweystimmiger weiblicher Gesang, von einem grämlichen Alt und einem durchdringenden Nasen-Sopran in Octaven vorgetragen, schallte aus der Kutsche heraus, deren disseitiges Fenster geöfnet war. Der Fuhrmann brummte, so oft er die Pfeife aus dem Munde nahm, um auszuspucken, im Basse die letzte Note nach; Übrigens war es die Melodie des Abendliedes: Nun sich der Tag geendet hat.

»Ich bitte Sie um Gotteswillen, meine werthesten Frauenzimmer!« rief Margaretha und unterbrach dadurch das andächtige Lallen, »Ich bitte Sie, gönnen Sie mir einen Sitz in Ihrer Kutsche! Wo Sie auch hinreisen; Ich verlange nichts als Ihren Schutz bis zur nächsten Stadt. Ich will Ihnen auf keine Weise beschwerlich seyn. Nur einen sichern Platz gönnen Sie mir bis dahin!« – »Halt still, Nicolaus!« sprach bedächtlich, doch laut, eine alte Dame, indem sie ihre Brille von der Nase nahm, ein Probe-Flickchen von braunem Camelot als ein Zeichen in das Gesangbuch legte, welches sie zuschlug, dann das kupfrigte Gesicht zum Schlage hinausstreckte und ziemlich unfreundlich fragte: »Was will Sie, Jungfer?« Meta wiederholte ihre Bitte und erzählte ihre Geschichte. – Allein man merke wohl, ihre Geschichte war es; doch nicht die, welche ihr begegnet war, sondern die sie erfunden hatte; Es war ein Mixtum compositum von Wahrheit und Nothlüge. Von grausamen Verwandten und einer verhaßten Heyrath, wozu man sie arme Wayse zwingen wollte, kam etwas darinn vor; nur der Officier, von welchem sie Rettung erwartete, sobald sie an ihn schreiben würde, wurde aus einem Liebhaber, in einen würdigen Vetter umgeschaffen. Ich hoffe, diese geringe Abweichung von der Wahrheit soll unser junges Frauenzimmer in den Augen der Leser nicht herabsetzen; wenigstens werde ich die Leserinnen, die jüngern nämlich, auf meiner Seite haben.

Die alte Dame schüttelte während dieser Erzählung bedächtlich ihr Köpfchen und sagte dann: »Nun! Sie darf einsteigen. Ich reise, so Gott will, nach Braunschweig. Dahin mag Sie mitfahren. Aber dort muß Sie sehn, wie Sie unterkömmt, denn ich kann mich nicht mit fremden Leuten behängen.« Der Wagen wurde geöfnet und Meta übersah jetzt die ganze [102] Gesellschaft, in welche sie eingeführt werden sollte; denn der untere Theil der Kutsche verbarg noch, gleich dem Bauche des trojanischen Pferdes, mehr lebendige Wesen, als von Außen sichtbar waren. Der alten Dame gegenüber saß ein junges, schwarzäugichtes Cammermädchen, mit einer Hauben-Schachtel auf dem Schoße; An der Seite ihrer Gebietherinn hatte ein garstiger grauer Kater Platz genommen; Ein bejahrter, engebrüstiger Mops lag zu den Füßen und neben ihm ein kleiner weiß und braun gefleckter so genannter Spion-Hund; unter dem Himmel der Kutsche aber war, zwischen einigen in Tüchern aufgehängten Hauben, auch ein kleines Vogelbauer befestigt, in welchem ein Canarien-Männlein sein Wesen trieb. Es fand sich grade neben dem Cammermädchen noch Platz genug für Margaretha Dornbusch, um, wenn sie keinen großen Anspruch auf Raum für ihre Beine machte, ziemlich bequem zu sitzen.

Jetzt halte ich es für meine Pflicht, die Leser genauer mit den Personen bekannt zu machen, unter welche wir die Jungfer Dornbusch geführt haben, und dann soll uns nichts abhalten, sie ihre Reise fortsetzen zu lassen. Das Fräulein von Brumbei 5 war Stiftsdame in ***. Da die Natur, bey Entwerfung des Plans zu ihrer sterblichen Hülle, sich ein wenig verzeichnet und ihre gnädigen Eltern kein baares Vermögen hinterlassen hatten; so ergriff sie die Parthey, die Lüste dieser Welt und die zeitlichen Güter zu verachten und sich nach den himlischen zu sehnen, auf welche sie sich durch fleißiges Beten und Singen ein Recht zu erwerben trachtete. Je älter sie wurde, desto wärmer eiferte sie für Keuschheit und Tugend und Margaretha hatte den Schutz, den sie ihr angedeyen ließ, größtentheils der Versicherung zu danken, daß sie dem Ehestande aus dem Wege gelaufen wäre. Weil aber der Geist des schwachen Menschen nur gar zu oft vom Fleische niedergedrückt wird; hatte sich das Fräulein nach und nach gewöhnt, jenem durch den Genuß eines reinen abgezogenen Kirschwassers einen höhern Schwung zu geben und würklich duftete unsrer Meta, als sie zu ihr in den Wagen stieg, der süße Geruch dieser Panacäe entgegen. Nun aber hatte es sich begeben, daß Beelzebub, welcher den Frommen immerdar auflaurt, einst den Augenblick genützt, als das Fräulein von Brumbei von der besagten Kirsch-Essenz fast viel genossen und dadurch das Fleisch so getödtet [103] hatte, daß alle Achtsamkeit auf den Gebrauch ihrer irdischen Gliedmaßen dahin war. – Es hatte sich begeben, sage ich, daß in einer solchen Stunde Beelzebub sie verleitete, die kleine Treppe in ihren Keller hinabzusteigen; ihr Fuß war ausgeglitten, sie war hinabgestürzt und hatte sich die linke Hüfte verrenkt. Der Stifts-Chirurgus wendete alle Kräfte seiner Kunst an, den Schaden zu heilen, nachdem die warmen Umschläge, welche das schwarzäugichte Cammermädchen ohne Unterlaß auflegen mußte, nicht helfen wollten – alles vergebens! Dann nahm sie ihre Zuflucht zu dem Scharfrichter in Goßlar, aber mit keinem glücklichern Erfolge. Sie hatte auch einen ganzen Sommer hindurch das Bad bey Verden gebraucht, ohne Besserung zu spüren; worauf sie sich endlich entschloß, nach Braunschweig zu reisen und sich einem Wundarzte anzuvertraun, von dessen Geschicklichkeit bey allerley Vorfällen ihr ein junger Cavallerie-Officier viel Gutes gesagt hatte. – Auf dieser Reise war sie jetzt begriffen.

Sobald Margaretha Platz im Wagen genommen hatte und der Fuhrmann die Pferde antrieb, weiter zu schleichen, fieng zuerst das alte Fräulein an, mit ihren Augen das junge Frauenzimmer zu mustern, wobey sie aus einer kleinen silbernen Tabacs-Dose eine Prise nahm. Dann ließ sie ihrer Neugier den Zügel schießen und setzte Meta durch eine Menge Fragen in einige Verlegenheit; doch half sich Diese mit aller weiblichen Kunst heraus. Hierauf kam die Reyhe an die nützliche Moral, welche sich aus solchen Begebenheiten ziehn läßt und da hatte sie nun ein weites Feld, gegen die Falschheit der Männer, gegen den Leichtsinn der heutigen Jugend und zum Lobe der Sittsamkeit und Keuschheit zu eifern. – Der Canarien-Vogel oben im Bauer pfiff zwischendurch sein Liedchen und machte ein wahres Melodrama aus dieser Declamation. – Endlich fieng sie an, über Magenschmerzen zu klagen und holte aus der Kutschen-Tasche ein Fläschgen voll Kirschengeist hervor; und als sie sich damit gelabt hatte, wurden die Gesangbücher wieder aufgeschlagen und Meta mußte sich's gefallen lassen, die noch übrigen Strophen des Abendliedes mitzusingen.

Der Tag neigte sich nun würklich zum Ende – es war, wie wir wissen, der Sonntag, an welchem Blanchard in Braunschweig aufstieg. Diese Stadt zu erreichen war heute nicht möglich; Es hatte aber das Fräulein von Brumbei, in einem seitwärts von der Straße gelegenen Dorfe, einen alten Bekannten, den Pastor Reimers, bey welchem sie sich ein Nachtlager erbeten hatte und der sie nebst ihrem Gefolge gastfreundschaftlich [104] aufnahm. Da Dieser nur zwey Betten liefern konnte, mußte Meta das eine derselben mit der Cammerjungfer theilen. Susanna war ein muntres Mädchen; Sie hatte vormals in Braunschweig gedient und dort allerley kleine Liebes-Abentheuer bestanden. Die böse Welt pflegt solche unschuldige Verirrungen zuweilen lieblos zu beurtheilen; das war auch Susannen begegnet; arge Lästerzungen hatten ihren Ruf zweydeutig zu machen gesucht; sie war von der Dame, bey welcher sie gedient hatte, nicht auf die ehrenvollste Weise verabschiedet worden und hierauf aus Verzweiflung auf's Land gegangen, da sie dann endlich Gelegenheit gefunden hatte, durch den vorhin erwähnten Cavallerie-Officier dem alten Fräulein empfohlen zu werden. Ihr Verlangen, das liebe Braunschweig wiederzusehn, gab ihr kräftige Gründe ein, ihre Herrschaft in dem Vorsatze, nach dieser Stadt zu reisen, zu bestärken, und niemand war froher wie sie, als diese Reise zu Stande kam.

Nichts ist leichter gestiftet und leichter getrennt, als die Freundschaft und Vertraulichkeit unter jungen Mädchen. Kaum war Susanna mit der Jungfer Dornbusch allein in ihrem Cämmerlein (die alte Dame pflegte sich, mit schwerem Haupte, früh zu Bette zu legen) als sie zuerst begann, ihrem Spotte über das fromme Fräulein freyen Lauf zu lassen; dann entlockte sie Margarethen das Geheimnis ihrer Herzens-Angelegenheit und gewann bald, durch die Theilnahme, welche sie ihr bezeugte, ihr ganzes Zutraun. Wir haben einmal in einem hübschen Buche gelesen, daß junge Frauenzimmer vor allen Andern Ursache haben in der Wahl ihrer Vertraueten vorsichtig zu seyn; daß so Manche bloß dadurch fallen, daß sie sich solchen Personen in die Hände liefern und Denen tausend gute Eigenschaften zutrauen, welche ihren Leidenschaften schmeicheln. Der Autor jenes Werks hatte dies gar artig auseinandergesetzt; ich kann aber das Buch jetzt nicht wieder auffinden, sonst schriebe ich die Stelle ganz ab; Doch vielleicht nehmen die Leserinnen Gelegenheit, aus der Geschichte unserer Freundinn selbst, sich die nöthigen Lehren herauszuziehn; wir fahren also in unsrer Erzählung fort.

Am Montage gieng die Reise weiter und unsre Damen erreichten vor Mittag noch die Stadt Braunschweig. Susanna hatte indeß beym Ankleiden ihrer Herrschaft Gelegenheit gefunden, derselben die neue Freundinn so warm zu empfehlen, daß jetzt schon nicht mehr die Rede davon war, sich eher von Margarethen zu trennen, bis diese von ihrem vorgeblichen Vetter würde abgeholt werden.

[105] Das Fräulein von Brumbei hatte sich, auf Empfehlung ihrer Zofe, die ihr ganzes Zutraun besaß, ein Paar kleine Zimmer in dem Hause des Schusters Wöllner, unfern dem Opernhause, für die Zeit ihres Aufenthalts in Braunschweig gemiethet. Dieser Schuster war ein andächtiger Heuchler, der sehr viel von der reinen Lehre und dem innern Lichte redete, seines Amtsbruders Jacob Böhms Schriften las, Betstunden für Personen beyderley Geschlechts in seinem Hause hielt, übrigens aber ein Erz-Schurke war und auf Pfänder liehe. – Ich bitte die geneigten Leserinnen nun nochmals zu überlegen, welche schreckliche Folgen die erste Übereilung der Jungfer Dornbusch für sie hätte haben können, da wir sie jetzt von solchen Menschen umgeben sehn müssen.

Sobald die Gesellschaft Besitz von ihrer Wohnung genommen hatte, setzte sich Meta hin und schrieb dem Freunde ihrer Seele einen zärtlichen Brief. Sie urtheilte nicht ohne Wahrscheinlichkeit, es werde der Hauptmann, sobald er in Peina im Posthause erfahren hätte, wohin der Förster mit ihr gereist sey, auch seinen Weg nach Goßlar genommen haben, wohin er, als Werbe-Officier, ohnehin in wenig Tagen zurückkehren mußte. In jedem Falle also schien es ihr am sichersten, dahin ihren Brief mit der Post zu schicken. Hätte sie das früher überlegt; so hätte sie in der That nicht nöthig gehabt, zu entlaufen, denn sie konnte sich doch leicht einbilden, daß Previllier nicht lange säumen würde, ihr nachzureisen und dann war, an der Seite dieses braven Kriegsmannes, von der Gewalt des Oheims nicht viel zu fürchten. Allein die Idee der Flucht war romanhafter, und folglich wurde sie vorgezogen.

Der Brief war nun fort, und da sie, bis Antwort oder der Liebhaber selbst kommen würde, sicher und unentdeckt in Braunschweig bleiben konnte; fieng sie an sich zu erheitern und an dem ungewöhnten Anblicke der Volks-Menge, die zur Meßzeit die Straßen von Braunschweig anfüllt, ihre Augen zu weiden. Susanne aber nützte diese muntre Stimmung, stand neben ihr am Fenster und machte ihr reizende Schilderungen von den Annehmlichkeiten dieser großen Stadt.

So kam der Abend herbey – ein schöner, heitrer Sommer-Abend. Die alte Dame hatte, aus Freude über ihre glückliche Ankunft, ihrer gewöhnlichen Portion Herzstärkung ein Paar Gläser Ratafia hinzugefügt; Das pflegt denn den Schlaf zu befördern; und so war sie schon um acht Uhr zu Bette gegangen. »Es wäre Sünde«, sagte Susanne zu ihrer neuen Freundinn, »wenn man sich bey dem herrlichen Wetter im Zimmer einsperren wollte. Wenigstens sollten wir doch vor der Hausthür [106] ein wenig auf- und abgehn.« Margaretha Dornbusch ließ sich den Vorschlag gefallen; sie schlenderten Arm in Arm längst dem Opernhause und auf dem benachbarten Kirchhofe hin und her. Nun wurde, wie die Leser wissen, an diesem Montage Mascarade im Opernhause gegeben; Susanne wußte das, denn sie hatte schon, während unsre Freundinn schrieb, allerley Besuche gehabt, Leute verschickt und Verabredungen genommen.

Jetzt fieng sie an, Margarethen, die dergleichen Festen nie beygewohnt hatte, eine reizende Schilderung von dem Vergnügen zu machen, das man auf einem solchen Balle schmeckte. »Ich habe einen guten Einfall, meine Liebe!« setzte sie hinzu, »Wir könnten uns leicht, als Fledermäuse maskirt, auf eine Stunde hinschleichen. Niemand kennt uns; Wir gehn da miteinander durch das Gewühl von verkleideten Menschen umher, Arm in Arm, wie wir hier gehen. Es wird Sie aufheitern, da Sie doch noch nie keine Mascarade gesehn haben; meine Alte erfährt nichts davon; unsre Wirthsleute sind gute Menschen, und ehe es Bettgehn-Zeit ist, sind wir wieder zu Hause.«

Margarethen wollte Anfangs dieser Plan nicht gefallen; er kam ihr zu kühn vor; allein die Sache schien ja so unschuldig; sie war in einer so ruhigen Stimmung, worauf die angenehme Abend-Luft, das Gefühl einer nie genossenen Freyheit, der Anblick der schönen, lebhaften Straßen und die Hofnung, vielleicht morgen schon den Freund ihres Herzens in ihre Arme eilen zu sehn, vortheilhaft würkten; ihre Neugier, ein ihr so fremdes Schauspiel kennen zu lernen, wurde immer auf's Neue gereitzt, so oft sie, in Kutschen, Porte-Chaisen und zu Fuße einen frischen Transport von verkleideten Personen beyderley Geschlechts in das nahgelegene Opernhaus eintreten sah – und kurz! sie gab dem Vorschlage Gehör und entschloß sich, den Spaß in der Nähe anzusehn.

Hier mein Herr! liegen zwei Louisd'or; nehmen Sie dies Geld und lassen mir dafür mit dem Postwagen einen Philosophen kommen, der mir auf bescheidnere Art diesen und ähnliche Wiedersprüche im weiblichen Character erkläre! Ein züchtiges, junges Mädchen, das noch vor vier und zwanzig Stunden voll Verzweiflung war, über die gewaltsame Trennung von dem einzigen geliebten Gegenstande, da sie nun unter fremden Leuten herumirren muß, fern von allem, was ihr theuer und werth ist, rennt jetzt leichtsinnig mit einer zweydeutigen Unbekannten in das Getümmel vermummter Freuden-Kinder; Ein Frauenzimmer, das[107] so viel Bücher über Menschenkenntniß gelesen und aus Romanen gelernt hat, sich entführen zu lassen, ahndet nicht, daß sie einer verdächtigen Rathgeberinn in die Hände gefallen ist, da sie doch gewiß zwanzigmal in ihren Büchern die traurigen Folgen ähnlicher leichtsinniger Schritte geschildert gefunden? Sollen wir hier lauter gegen die schädlichen Würkungen einer übel gewählten Lectüre, oder gegen die Inconsequenzen des schönen Geschlechts declamiren? Es giebt strenge Moralisten, welche behaupten, die Ursache, warum auch die feinste Menschenkunde oft bey Beobachtung des weiblichen Characters scheitre, liege darinn, daß die Frauenzimmer eigentlich gar keinen Character hätten, sondern unaufhörlich von unzusammenhängenden Launen und Grillen regiert würden. Es sey eben so wenig möglich, vorauszusagen, auf welche Weise ein Weib sich in der folgenden Viertelstunde bey diesem oder jenem Vorfalle betragen mögte, wie es, selbst dem geschicktesten Tanzmeister möglich sei, zu bestimmen, was für Schritte ein herumspringender wilder Indianer machen würde. – Wir halten das für baare Verläumdung und glauben vielmehr, es liege die Schuld nur daran, daß theils dies Geschlecht die feinern Übergänge ihrer Leidenschaften, wodurch ihre Handlungen motivirt werden, sorgfältiger verborgen hielte, theils das Spiel dieser Übergänge in ihnen schneller als in uns vorgienge. Aber wo gerathen wir hin? Bleiben wir bey der Klinge!

Die beyden Frauenzimmer vermummten sich also,en Chauve-fouris, schlichen nach dem Opernsaale hin und mischten sich unter den Haufen der Masken. Sie hatten sich kaum einmal von dem Eingange bis zum Ende des Theaters gedrängt, als ein männlicher Domino sogleich die schwarzäugichte Cammerjungfer erkannte, auf sie zueilte, ihr die Hand drückte und ausrief: »Ey, Susannchen! wie kömmst Du hierher?« »Um Gotteswillen!« sagte Margaretha, »wer ist das?« – Es war ein Vetter. Aber bald kamen der Vettern so Viele und unter Diesen Manche, die nicht die bescheidenste Sprache führten. »Wie führt dich der Teufel wieder nach Braunschweig, Du Wettermädchen?« sprach der Eine. »Bey meiner Seele! da ist unsre kleine runde Hexe«, sprach der Andre und lachte laut auf. »Und wen hast Du denn da bey Dir?« erschallte die dritte Stimme. »Das ist gewiß neue Waare vom Lande!«

Nun erst fieng unsre arme Meta an, zu argwöhnen, daß sie einen übereilten Schritt gethan hätte, daß sie nicht in die beste Gesellschaft gerathen wäre und nun wurde ihr Herzchen schwer und traurig. Indeß hatte sich der Cirkel der alten Bekannten um Susannen und ihre Begleiterinn [108] [110]vermehrt; man fieng an, sich allerley freye Reden gegen sie zu erlauben und zwey junge Herrn drangen mit Ungestüm darauf, daß sie mit ihnen in eine von den Logen gehn sollten.

Margaretha gerieth in die äußerste Verlegenheit und war im Begriff laut zu schreyen, als ein Mann in einem schwarzen Tabareau, der schon eine Zeitlang beyde Mädchen beobachtet und hauptsächlich seine Aufmerksamkeit auf Margarethens Schuhschnallen (oder waren es Bandschleufen?) geheftet hatte, die ihm bekannt vorkamen, begleitet von einer andern Person, sich mit Gewalt durch den Haufen drängte – »Bey Gott! sie ist es«, rief er aus und schloß Meta in seine Arme. – Rathen Sie nicht länger, hochgeehrteste Leser! Es war kein Andrer, wie der Hauptmann Previllier; und wie der hierherkam, das sollen Sie bald erfahren. Lassen Sie mich nur erst Othem schöpfen!

[110]

Vierzehntes Capitel
Auf der Mascarade in Braunschweig führt der Himmel die Seinigen wunderlich zusammen.

Wir haben die Gesellschaft in Steinbrüggen in dem Augenblicke verlassen, als der alte Dornbusch seinen Bruder, den Förster, nach einer so langjährigen Entfernung, wieder umarmte, die Freude der beyden Brüder aber sowohl, als die des Pastors Schottenius und des Hauptmanns Previllier durch die Flucht des lieben jungen Frauenzimmers sehr gemindert wurde. Ich habe mich bey Schilderung dieser Zusammenkunft nicht lange verweilt; in allen Romanen und Schauspielen können Sie dergleichen Wiederfindungs-Scenen beschrieben finden. Zudem konnte man sich nicht dabey aufhalten; es war keine Zeit zu verliehren, um, wo möglich, Margarethen wiederaufzufinden. Die offenstehende Hinterthür des Gartens, in welchem sie spatzieren gegangen war, ließ keinen Zweifel übrig, daß sie da hinaus entflohen wäre; unsre vier Reisenden liefen desfalls von dort aus nach verschiedenen Richtungen in das weite Feld hinein, blickten um sich her, so weit sie konnten, und fragten jeden Bauer, der ihnen auf diesen Wegen aufstieß, ob ihm kein Frauenzimmer begegnet wäre! Der Förster, als ein guter Waidmann, nahm noch andre Merkzeichen zu Hülfe; Er bemühete sich nämlich, die Fährte von den hohen weiblichen Absätzen aufzuspüren und dies gelang ihm. Sobald er auf der Spur war, pfiff er auf der Hand und versammelte dadurch seine Gesellschafter wieder um sich. Nun giengen Alle den Fußtritten nach und kamen dann an den vorhin beschriebenen Kreutzweg – aber fort war hier die Spur.

Indessen werden die Leser sich noch eines sichern Bettlers erinnern, der auf dem Reise-Koffer des Fräuleins von Brumbei Platz genommen. Er hatte sich die Erlaubniß dazu von dem Fuhrmanne durch Bitten und einem kleinen Rest Rauchtabac erkauft, zu welchem er, ich weiß nicht wie? gekommen war. Als aber durch Margaretha Dornbusch die Gesellschaft im Wagen und folglich die Last der drey magern Pferde vermehrt wurde, der Tabac auch schon längst verbraucht war, fühlte unser Kutscher nicht länger Beruf, den fremden Gast bey der Bagage zu dulden, [111] sondern zwang ihn, abzusteigen. Der Bettler fand sich christlich in sein Schicksal; bevor er aber seinen Weg zu Fuß fortsetzte, lagerte er sich in das Gras hin, zog ein Stück schwarzes Brod und einen Käse aus seinem Sacke und hielt ofne Tafel, unter Gottes freyem Himmel. Vornehme Leute pflegen schnell zu essen, ohne Zweifel, weil sie mit ihren, dem Besten der Menschheit gewidmeten Stunden sparsam umgehen; – (Wir selbst, der Autor, haben uns gewöhnt, sehr geschwind zu speisen; vermuthlich aus Begierde, vornehm zu thun, welche Begierde uns der berühmte Professor Tölpelius Hoffmann kürzlich abgelauert hat; Man lese das dritte Stück seiner wohl geschriebnen Zeitschrift.) – Gemeine Menschen hingegen nehmen sich gewöhnlich alle Muße zu diesem Geschäfte – das ist ja auch der einzige Genuß, bey welchem es ihnen vergönnt ist, die schweren Mühseligkeiten ihres Lebens zu vergessen. Der Bettler speiste noch, als die vier Fremden an diesen Platz kamen; Sie fragten also auch ihn, ob er kein weibliches Geschöpf hier wahrgenommen hätte und erfuhren, daß Margaretha zu der alten Dame in die Kutsche gestiegen und mit ihr auf dem Wege nach Braunschweig fortgefahren wäre. Jetzt wurde Anstalt zum Nachsetzen gemacht; allein durch die Langsamkeit der Postknechte vergieng noch so viel Zeit, daß das Frauenzimmer-Fuhrwerk nun einen Vorsprung von wenigstens einer Stunde gewonnen hatte. Da es jedoch mit den drey Pferden gar nicht schnell gieng; so würden die vier Herren sie gewiß eingehohlt haben, hätte nicht, wie im vorigen Capitel ist erzählt worden, das alte Fräulein, von der Straße ab, den Weg nach dem Dorfe zu genommen, wo sie bey dem Pastor Reimers das Nachtlager bestellt hatte. Des Sonntags trifft man wenig Leute im Felde an; unsre Freunde konnten daher niemand finden, der ihnen über diesen Punct Aufklärung gegeben hätte; und als sie nun immer weiter fuhren und endlich ein Dorf erreichten, zeigte sich's, daß niemand eine solche Stifts-Damen-Kutsche wollte gesehn haben.

Verschwunden konnte sie indessen nicht seyn; unsre Gesellschaft wußte, daß die Dame nach Braunschweig hatte reisen wollen: folglich schien es ihnen am zweckmäßigsten, diesen Weg zu verfolgen.

Ich erzähle den Lesern nichts von den Gesprächen, welche die Herrn unterwegens führten. Der alte Dornbusch war ein zu verständiger Mann, um, wenn eine Sache nicht mehr zu ändern war, hintennach lange darüber zu moralisiren; er machte also seinem Bruder um so weniger Vorwürfe über sein Betragen gegen Margarethen, da er die gute Absicht [112] desselben, dem Mädchen einen reichen Mann zu geben, nicht miskennen konnte. Der Förster, von seiner Seite, war sehr zufrieden von der persönlichen Bekanntschaft des Hauptmanns, der Pastor aber konnte nicht ganz seine Neugier unterdrücken, etwas von den Familien-Umständen desselben zu erfahren, da denn der alte Dornbusch sich bewogen fand, die Haupt-Umstände aus den Papieren, welche ihm bey Führung des Processes in Paris zum Leitfaden gedient hatten, zu erzählen wie folget. –

Nein, meine hochgeehrtesten Leser! wir wollen es dabey bewenden lassen, die Episoden nehmen sonst kein Ende. Was kann Ihnen damit gedient seyn, genauere Nachricht von dem Geschlechte der Previlliers zu erhalten? Sind doch die Leute sämtlich tod, deren Schicksale wir da erzählen müßten – bleiben wir bey den Lebendigen! Die einbrechende Nacht bewog die Reisenden, in einem einzeln gelegenen Wirthshause zu übernachten; am andern Tage kamen sie in Braunschweig an.

Das erste Geschäft des Hauptmanns wurde nun, zu erforschen, ob die Frauenzimmer gestern oder heute in das Thor einpassirt wären; allein wie konnte, bey der Menge von Equipagen, die jetzt ein- und ausfuhren, der wachthabende Officier davon Rechenschaft geben? Es wurde also in allen Wirthshäusern Nachfrage angestellt; allein auch da war kein Trost zu holen. – Der Abend kam heran, ohne daß man etwas von Margarethen erfuhr.

Jetzt erst fiel es der Gesellschaft ein, daß der Amtmann Waumann nebst seinem Sohne vermuthlich noch in Braunschweig seyn müßte. Man wußte, daß er im goldnen Engel abgetreten war, gieng dahin, erfuhr, daß er im Prinzen Eugen gespeist hatte, suchte ihn auch da auf und erhielt die Nachricht: er sey zur Mascarade gegangen. Sprechen mußte man den Amtmann doch, um ihm von der veränderten Lage der Sache Nachricht zu geben; Es war zu vermuthen, daß er vielleicht erst gegen Morgen zu Hause kommen und dann gleich fortreisen würde; ein guter Genius gab daher dem Hauptmanne den Gedanken ein, einen Tabareau zu miethen, einen Augenblick auf den Ball zu gehn und Waumann, Vater und Sohn, dort aufzusuchen. – Der alte Dornbusch begleitete seinen Pflegesohn.

Hier war es nun, wo auf einmal, sehr unerwartet, Previllier seine Geliebte antraf und mit der Ausrufung: »Bey Gott! sie ist es« in seine Arme schloß.

[113] Eine Mascarade ist nicht der Ort zu zärtlichen Scenen von feinerer Art; Ohne daher sich die Zeit zu weitläuftigen Erläuterungen zu nehmen, ja! ohne einmal Margarethen zu sagen, daß der Mann, welchen sie an der Seite ihres Freundes erblickte, ihr Vater wäre, bat Previllier sie nur, sogleich mit ihm das Getümmel zu verlassen. Jungfer Susanna hatte sich weislich im Gedränge verlohren, sobald der Capitain seine Meta erkannt hatte; und schon war man im Begriff, aus dem Saale zu gehn, als, zur größten Verwundrung, unsrer Freunde, von einer Menge Stimmen laut die Worte erschallten: »Guten Abend, Herr Amtmann Waumann! Guten Abend!« Wie dies zugieng, soll jetzt erzählt werden; ich bilde mir etwas darauf ein, daß keiner meiner hochgeehrtesten Leser es errathen kann.

Die beyden jungen schönen Geister, welche die Gesellschaft aus dem Prinzen Eugen verleitet hatten, die Mascarade zu besuchen, hofften christlich, diese Menschen sollten durch ihre alberne Verkleidung so viel Aufsehn erregen, daß sie preisgemacht würden; allein es fiel anders aus, – niemand bekümmerte sich um die geschmacklosen Masken. Um nun ihres Zwecks nicht zu verfehlen, nahmen sie zu andern losen Streichen ihre Zuflucht. Der Licentiat Bocksleder war so enge in seine Beelzebubs-Haut eingezwängt, daß er, bey dem Gedränge der großen Menge Leute, beynahe ohnmächtig wurde, ehe die Gesellschaft zweymal den Saal auf- und abspatziert war. Der Student schlug ihm daher vor, in ein Nebenzimmer zu gehn, wo Punsch geschenkt wurde; Er that es, seine Familie gieng mit ihm; der Student hatte sich mit einem Manna-Tränklein versehn, welches er ihm auf listige Weise mit dem Punsch eingab; Wir hoffen, es soll ihm nicht übel bekommen, finden aber für gut, ihn zu verlassen, ehe die Arzeney anfängt zu würken. Vermuthlich wird er, nicht mit den angenehmsten Empfindungen, nach Hause geschlichen und am folgenden Tage nach Schöppenstädt zurückgereist seyn. Musjö Valentin war bald des verabredeten Schleppträger-Amts müde; Er fieng also an, auf seine eigne Hand im Saale umherzuwandeln; Nun hatte denn der Dichter Klingelzieher den Herrn Amtmann allein an seiner Seite und um sich für die Langeweile bezahlt zu machen, welche ihm diese Gesellschaft verursachte, führte er ein Schelmenstück aus, worauf er sich vorbereitet hatte. Er heftete nämlich ein Blatt Papier an den Rücken seines Gefährten, worauf mit großen Buchstaben geschrieben stand: »Guten Abend, Herr Amtmann Waumann!« Es war natürlich, daß Die, welche unmittelbar hinter ihnen standen und giengen, [114] [116]diese Worte laut herlasen. Anfangs nun, als der gute Amtmann seinen Namen nennen hörte, wunderte es ihn zwar, woher es käme, daß man ihn hier erkannte; doch glaubte er den guten Abend erwiedern zu müssen. Allein kaum drehte er sich um »einen schönen guten Abend!« zurückzugeben; so erschallte nun von der andern Seite das: »Guten Abend, Herr Amtmann!« Bald war ein großer Cirkel von Kindern und Spaßvögeln um ihn versammelt; Herr Klingelzieher hatte sich unsichtbar gemacht und in dem Augenblicke der größten Verlegenheit, worinn der Amtmann fortgetrieben von einem Haufen guten Abend wünschender Leute sich befand, kam er an den Platz, wo Margaretha, der Hauptmann Previllier und der alte Dornbusch standen. Sobald Diese sahen, worauf es ankam, näherten sie sich ihm, rissen ihm den Zettel ab, gaben sich zu erkennen und baten ihn, mit ihnen nach Hause zu fahren. Der junge Herr wurde aufgesucht; man verließ die Mascarade und begab sich in den hôtel d'Angleterre, wo sie den Pastor und den Förster antrafen.

[116]

Funfzehntes Capitel
Abreise von Braunschweig. Neue Irrung, die bey dieser Gelegenheit vorgeht.

Wir trauen es dem feinen Geschmacke der Leser dieses Werks zu, daß sie gewiß die Kunst werden bewundert haben, mit welcher der Autor alle Haupt-Personen seines Drama, gleichsam zum fünften Act, in Braunschweig zusammenzuführen gewußt hat. Jetzt scheint nichts zu fehlen, als daß der Hauptmann Previllier mit seiner Meta Hochzeit mache; Ehren Schottenius könnte die Trauung verrichten und bey dieser Gelegenheit seine acht und funfzigste Rede halten und der Dichter Klingelzieher allenfalls für die Gebühr ein Carmen darauf verfertigen; die Waumanns-Familie aber ließe man mit langer Nase abziehn. Allein da erhalten wir, zu unserm großen Schrecken, so eben einen Brief von dem Herrn Verleger, worinn derselbe meldet, es komme diejenige Bogenzahl beym Drucke nicht heraus, für welche er das Honorarium vorgeschossen, so daß uns dies in die Nothwendigkeit setzt, entweder einen Theil des Geldes wiederherauszugeben, oder aber noch einmal sorgfältig unsre gesammelten Documente und Nachrichten durchzublättern, um zu sehn, ob sich darinn nicht noch Stof zu einigen Seiten findet. – Und siehe da! uns ist geholfen. Wir dürfen nur ein Paar kleine Anecdoten aus der Geschichte des Amtmanns und seines Sohnes, die grade in diesen Zeitpunct fallen, mit hier anreyhen, wodurch zugleich den sonderbaren Begebenheiten, welche diesen Personen auf ihrer Reise begegnet sind, die Crone aufgesetzt wird.

Von den übrigen Personen haben wir wenig mehr zu sagen; Daß Margarethe sich ganz gewaltig darüber freute, ihren Vater lebendig vor sich zu sehen; daß Dieser in ihre Verbindung mit dem Hauptmanne einwilligte; daß der Förster froh war, die Sache eine so gute Wendung nehmen zu sehn, und daß der Herr Pastor Gottes reichen Segen und alles ersprießliche Wohlergehn dazu wünschte; das versteht sich nun wohl von selber. Der Herr Amtmann Waumann hingegen schien das Ding Anfangs ein wenig krumm nehmen zu wollen, besonders als er etwas von den ostindischen Geldern witterte, die das Jüngferchen einst erben [117] würde; Indessen sah er bald ein, daß in via juris die Sache gegen Vater und Tochter nicht würde durchzusetzen seyn. Gern hätte er sich nun wenigstens ein rundes Sümmchen Schmerzen-Geld bezahlen lassen; aber der Pastor redete ihm liebreich zu, diesen Wunsch nicht einmal laut zu eröfnen. Da übrigens Herr Valentin, aus Ursachen, die sich noch in diesem Buche entwickeln werden, sich gewaltig froh bezeugte, dieser Heyrath aus dem Wege zu kommen; wurde endlich sein Vater ganz beruhigt und stattete dem hochverehrten Brautpaare seine gehorsamste Gratulation ab.

Nun wurden die nöthigen Verabredungen, sowohl wegen der Rückreise, als wegen der künftigen Einrichtungen genommen. Herr Waumann hatte Pferde bestellt, um früh Morgens um vier Uhr nach Biesterberg zurückzukehren; Die übrige Gesellschaft aber hielt es für anständig, erst auf einige Tage nach Goßlar zu fahren, um dort, wo Meta künftig, so lange die Werbung dauerte, mit ihrem Gatten wohnen sollte, den bösen Leuten das Maul über ihre Flucht zu stopfen. Dann aber sollte die Hochzeit in des ehrlichen Försters Heymath gefeyert werden. Der alte Dornbusch ließ sich den Plan gefallen, ein zwey Meilen von Biesterberg gelegenes adeliches Gut zu kaufen und den Rest seines Lebens in der Nähe seines Bruders hinzubringen. Der Amtmann unternahm es, den Handel zu schließen und rechnete dabey auf ein Paar Procentchen. Nach diesen Verabredungen schied die Gesellschaft aus einander und empfahl sich gegenseitig bis auf Wiedersehn.

Es war nahe an drey Uhr nach Mitternacht, als die beyden muthwilligen jungen Gelehrten vom Balle nach Hause kamen; sie waren, wie der Amtmann, im goldnen Engel abgetreten. Nun schien es ihnen nicht mehr der Mühe werth, sich zu Bette zu legen; folglich beschlossen sie, den Morgen bey einer Pfeife Tabac zu erwarten.

Schon fiengen Langeweile und Müdigkeit an, sie diesen Vorsatz bereuen zu lassen, als ein Postknecht mit vier Pferden, bestimmt, die beyden Waumänner in der schönen Amtskutsche bis Peina zu führen, mehr Lebhaftigkeit in das Haus brachte. Er stieß in sein Horn; Hausknecht und Mägde kamen nach und nach auf die Beine; der Amtmann wurde geweckt; das Feuer zum Caffee angelegt; die Kutsche hervorgeholt und geschmiert. Dann stieg der Wagenmeister zu dem Herrn Amtmann hinauf, ließ sich das Geld bezahlen und sagte, als er fortgieng, zum Postillon: »Es ist alles richtig gemacht.«

[118] [120]»Ich habe einen närrischen Einfall, Bruder Klingelzieher!« sprach der Student. »Der Postknecht weiß nicht, wen er fahren soll; Wie wäre es, wenn wir, statt des Amtmanns, einstiegen?«

Gedacht; gethan! Die Kutsche stand angespannt vor der Thür; der Koffer war aufgebunden; Herr Waumann und sein Erbe beschäftigten sich noch in ihrem abgelegenen Zimmer mit dem Frühstücke; da kamen die beyden Genies, in ihre Überröcke eingehüllt, schnell aus der Thür des goldnen Engels getreten und stiegen ein: »Fahr zu, Schwager!« riefen sie. Fort rasselte der alte Reisekasten, ehe jemand im Hause etwas davon gewahr wurde.

Als der Postillon vor das Petri Thor kam, ließ er seine Pferde noch eine kleine Strecke lang einen schnellen Trott laufen; dann hielt er sie zum Schritte an, holte seine Pfeife aus der Tasche hervor, und indem er sie stopfte und sorglos vor sich hinsah, öfneten die jungen Herrn leise eine Kutschen-Thür, stiegen aus, sprangen, ohne von ihm bemerkt zu werden, in einen Garten und ließen das Fuhrwerk leer weiter fahren.

»Jetzt wird es wohl Zeit seyn, mein Söhnchen!« sagte der Amtmann, bezahlte seine Zeche und schritt die Treppe hinab. »Wo ist denn unsre Kutsche?« fragte er den Hausknecht. Der Hausknecht wußte keinen Bescheid zu geben; niemand wußte zu sagen, was mit dem Fuhrwerke vorgegangen wäre. Endlich, nach vielfachen Erkundigungen, erfuhr man, diese Equipage sey mit zwey Herrn besetzt, längst schon aus dem Thore gefahren. – »So ist es doch, als wenn mir auf dieser unglücklichen Reise alles verkehrt gehn soll!« rief der Amtmann aus, nahm einen kleinen ofnen Wagen von der Post und fuhr nach.

[120]

Sechzehntes Capitel
Rückkunft nach Biesterberg. Hochzeiten und Kindtaufe. Schluß dieser Geschichte.

Der Postillon fuhr mit seiner leeren Kutsche unbekümmert auf dem Wege nach Vechelde und weiter fort. Die Stille, welche in derselben herrschte, schrieb er auf Rechnung des Schlafs, wozu vermuthlich die frühe Tagszeit die Herrn würde eingeladen haben. So kam er nach Peina und hielt vor dem Posthause still; Der Aufwärter, welcher den Wagen kannte, öfnete den Schlag: »Wo ist denn der Herr Amtmann?« fragte er. »Is he nich drinn?« erwiederte der Postillon, »so hät en de Düwel hahlt; denn innestegen is he, self Ander; dat heb eck seyen.« 6Was war zu thun? Fort war er!

Nach Peina hatte der Herr Amtmann seine eignen Pferde bestellt, um ihn da abzuholen; der Kutscher stand eben vor der Thür und nichts glich seiner Bestürzung, als man weder Vater noch Sohn im Wagen fand. Wohl eine Stunde vergieng unter Berathschlagungen was anzufangen seyn mögte, um die Verlohrnen wiederzufinden, und endlich war der Kutscher im Begriff, sich zu Pferde zu setzen und sie auf der braunschweigschen Straße zu suchen, als die beyden Herrn in ihrem offnen Wägelchen angefahren kamen.

Nicht in der angenehmsten Laune nahm nun der Amtmann seine weitre Reise nach Hause vor und ziemlich entschlossen, daß es vorerst die letzte seyn sollte, wozu er sich bereden lassen würde. – Doch welchen Verdruß vergißt man nicht in den Armen einer zärtlichen Gattinn? Eine liebevolle Bewillkommung von der Frau Amtmanninn, mehr bedurfte der gute Herr nicht, um wieder froh zu werden. –

»Nur Einen Druck der Hand; nur sanfte Blicke!«

Aber auch dieser Trost sollte ihm diesmal versagt werden. Es giebt Perioden im menschlichen Leben, wo das ganze Heer der bösen, höllischen Geister mit vollen Backen alle Gewitter-Wolken des Schicksals[121] zusammen zu blasen scheint, um dem Lieblinge des Himmels auf der Reise durch diese Welt den Muth zu benehmen. – Diese Allegorie gefällt mir ungemein; ich wollte, ich hätte sie nicht hierher geschrieben, so könnte ich sie einem unsrer neuen Trauerspiel-Fabricanten verkaufen, denen es oft so schwer zu werden scheint, eine Sprache zu führen, die man nicht redet.

Schon das schien dem Amtmanne sehr verdächtig, daß ihm niemand in der Thür seines Hauses entgegen kam; alle Domestiken waren oben um die Frau Gemahlinn versammelt, deren heulende Stimme, wie ein Nordwind bey Hagelwetter, durch die Luft tobte. Voll banger Ahndung schlich er die Treppe hinauf und ließ seinen Eingebohrnen, den Liebling der Mutter, vorausschreiten. Allein wie erschrak er, als dieser sonst so geliebte Jüngling von der zürnenden Dame mit ungezählten Maulschellen empfangen wurde und dann eine ganze Legion von herben Schimpfreden auf Vater und Sohn losbrach! Seine Ohren hörten Dinge, worüber er den vereitelten Zweck seiner Reise, die Geld-Erpressungen des Herrn Stenge, den Diebstahl des Flötenspielers und den Muthwillen der helmstädtschen Gelehrten vergaß. – Fassen wir uns, um die Sache im Zusammenhange vorzutragen!

Wir haben gehört, daß Musjö Valentin stets Abscheu gegen seine Verbindung mit der Jungfer Margaretha Dornbusch bezeugt hatte. Dieser Wiederwillen lag weder in einer Kälte des Temperaments, noch in einer gewissen unerklärbaren Antipathie – nein! das zarte Herz des Jünglings war von andern sanften Banden gefesselt. Auf dem Amtshofe diente als Küchenmagd eine kleine, runde Anna Cathrina, zum Unglück für des edlen Jünglings Freyheit, mit einem Stumpf-Näschen, ächt teutschen rothen Haaren und zärtlichen, in's Grünliche spielenden Äuglein von der Natur beschenkt. Sie sehn und sie lieben war bey Valentin, der damals kaum achtzehn Sommer durchschwitzt hatte, als sie in den Dienst trat – sie sehn und sie lieben war eins. Nun! grausam war sie eben nicht und so fern von Ziererey, daß sie den blöden Schäfer sogar aufmunterte, seine dunkeln Gefühle zu berichtigen. Da sie aber einen Bruder hatte, welcher als Dragoner dem Vaterlande diente und über die Ehre seiner Schwester wachte; hatte sie Diesem die Zusage gethan, dem Sohne des Herrn Amtmanns nicht eher den Minnesold zu geben, bis derselbe ihr ein bündig verfaßtes Ehe-Versprechen ausgefertigt haben würde. Dies wurde nun ohne Schwierigkeit erlangt; Von dieser Zeit an lebten sie in paradisischer Vertraulichkeit mit einander [122] und niemand im Hause ahndete etwas von ihrem Umgange. Ja! Anna Catharina hatte sogar bis zu dem letzten Augenblicke die äußerlich sichtbar werdenden Folgen dieses Bündnisses vor den Augen des neugierigen Publicums zu verbergen gewußt, um nachher mit desto größerm Aufsehn hervorzutreten. Hierzu hatte sie den Zeitpunct der Reise ihres Geliebten nach Braunschweig genützt und Dienstags Abends um fünf Uhr einen gesunden kleinen Waumann zur Welt gebracht. Diese an sich sehr natürliche Begebenheit machte großes Aufsehn im Amthause. Madam Waumann rennte, mit funkelnden Furien-Augen, in die Cammer der von ihrer Bürde entledigten Küchenmagd; allein da fand sie, als Wächter beym Wochenbette, den entschlossenen Kriegesmann stehn, welcher seine theure Schwester gegen alle Gewaltthätigkeiten schützte und mit dem Ehe-Versprechen in der Hand, der Amtmanninn die Rechte der neuen Mutter, in die waumannsche Familie aufgenommen zu werden, demonstrirte. Die alte Dame stürzte wüthend hinaus, berief dann ihr ganzes Haus zusammen, überschüttete Jeden einzeln mit Vorwürfen, und in diesem Augenblicke erschienen Vater und Sohn vor ihrem Angesichte.

Nachdem der erste Ungestüm vorüber war, wurde beschlossen, sich mit dem Dragoner in Tractaten einzulassen; Man both ihm eine ansehnliche Summe Geldes; aber priesterliche Trauung war der einzige Schluß-Reim, der ihm zu entlocken war; und da der gewissenhafte junge Herr, mit Thränen in den Augen, erklärte, er werde nie ablassen von seiner Anna Catharina, sah der Herr Amtmann wohl ein, daß man der eisernen Nothwendigkeit nachgeben müßte.

Im Grunde ließ sich hier nicht viel von Mißheyrath reden; Einer ähnlichen Begebenheit hatte Valentin sein Daseyn zu danken; Madam Waumann diente einst als Garderoben-Mädchen auf dem adlichen Gute, wo der Herr Amtmann Verwalter war. – Also kurz! denn wir eilen nun zum Schlusse: Sobald Ehren Schottenius nach Biesterberg zurückkam, wurden Hochzeit und Kindtaufe gefeyert. Der junge Herr Waumann nahm die ihm von seinem Vater abgetretene Pachtung an und lebt jetzt mit seiner Frau, welche die Haushaltung recht gut versteht, vergnügt und glücklich; die Frau Amtmanninn ist versöhnt und hat noch im vorigen Jahre bey ihren Kindern Gevatterinn Stelle vertreten.

Der alte Dornbusch ist Besitzer eines hübschen Guts, das er gekauft hat und findet Geschmack an Garten-Anlagen, wozu ihm sein Bruder allerley Holz-Arten liefert. Von Zeit zu Zeit kömmt der Hauptmann Previllier mit seiner schönen Gattinn, die ihm frohe Tage macht, von [123] Goßlar nach Biesterberg. Der Pastor Schottenius hat einige Hofnung, daß mein Herr Verleger in der nächsten Messe die Herausgabe seiner sechs und funfzig Predigten besorgen wird. Von den Schicksalen der übrigen Neben-Personen haben wir nichts weiter in Erfahrung bringen können. Die Haupt-Lehre aber, die man aus diesem Werklein ziehn mag, sey die: daß wenn ein Autor nur Leute findet, die ein solches Buch verlegen und lesen wollen, er leicht mit der Beschreibung einer dreytägigen Reise sechzehn gedruckte Bogen anfüllen kann.

Fußnoten

1 Eine Stelle aus dem Duodrama Medea.

2 Hier ist ein Anachronismus; ich weiß es wohl. Damals, im Jahre 1788, waren die wenigsten von den Schauspielen des Herrn von Kotzebue, die nachher einiges Aufsehn gemacht haben, schon erschienen. Ich denke aber, die Leser werden es mir verzeyhn, wenn ich, um im Allgemeinen meine Meinung über diesen Gegenstand zu sagen, Beyspiele anführe, die noch in frischem Andenken sind.

3 Kürzlich hat der Herr von Kotzebue, der mit Recht so oft die Thorheiten des Adels lächerlich zu machen sucht, auf einmal eine Vertheydigung des Erb-Adels in die wienerische Zeitschrift einrücken lassen. Vermuthlich ist der ganze Aufsatz Ironie. Wie sollte auch ein Mann von seinen Talenten sich auf einmal so tief gesunken fühlen, daß er sich im Ernst zum Mitarbeiter eines solchen Schufts, wie Aloisius Hoffmann ist, machen wollte?

4 Diese Anecdote ist wahr – wahr, zur Schande des Bösewichts, eines Obristen von – die Finger jucken mich, den Kerl zu nennen – der vor einigen Jahren diese That begangen und zur Schande des Fürsten;der sie nicht bestraft hat. Wo dergleichen geschehn und niemand murren darf; nicht wahr, da ist kein Despotismus; da ist das Volk durch die Propaganda aufgehetzt, wenn es endlich ein wenig unruhig wird?

5 Wir wissen nicht, ob der für die reine Lehre so eifrige Prediger Brumbei, welcher sich kürzlich bey der Inquisition gegen den Ketzer Schulz in ganz Teutschland so berühmt gemacht hat, ein Sprößling jener adelichen Familie ist.

6 »Ist er nicht darinnen; so hat ihn der Teufel geholt denn eingestiegen ist er, mit noch Einem, das habe ich gesehn.«

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TextGrid Repository (2012). Knigge, Adolph Freiherr von. Romane. Die Reise nach Braunschweig. Die Reise nach Braunschweig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B5D2-A