[14] [242]Zürich am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts

Neujahrsblatt zum 1. Januar 1801.


Wie? darf ich meinen Blick erheben?
Soll ich mit Freuden oder Beben
Beginnen, o Jahrhundert, dich?
Des Hoffens müde, darf ich's wagen,
Von Hoffnung noch ein Wort zu sagen?
Wer lehret ächte Weisheit mich?
Ach, daß ich Hoffnungsquellen fände!
Doch, wohin ich mein Auge wende,
Erblick ich keiner Hoffnung Spur ...
Wer darf mir: »Hier ist Ausweg!« winken?
Ich seh' zur Rechten und zur Linken
Nur Elend, Gram, Zerrütung nur.
Jahrhundert, das wir heut begrüßen,
Soll dir die Freudenzähre fließen?
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Was wirst du meinen Kindern seyn?
Wird bald der Thorheit hier auf Erden,
Des Elends bald ein Ende werden?
Des Lebens werden wir uns freu'n?
Kommst du mit kornerfüllten Halmen?
Kommst du, in deiner Rechten Palmen?
Wie? oder mit entblößtem Schwerdt?
Verwandelst Felder du in Anger?
Kommst du, mit neuen Greueln schwanger?
Ein Mord-Jahrhundert, das verheert?
Wie, oder – kommst du schön geschmücket
Von Gott, mit Allem, was beglücket,
Was edle Seelen hoch erfreut?
Ehrst du, was stets die Weisheit ehrte?
Lehrst du, was kein Jahrhundert lehrte,
Die Menschen endlich – Menschlichkeit?
Kommst du, zur Freude meiner Brüder,
Voll Lieblichkeit vom Himmel nieder,
Mit milder, segensvoller Hand?
Wirst du uns freier athmen lassen?
Wird Lieb' und Eintracht uns umfassen?
Wird endlich frei mein Vaterland?
Erwach' mit neubelebten Sinnen,
Jahrhundert, das wir heut beginnen,
Und lern', was das Verschwundne lehrt!
O baue, kannst du's, weislich wieder,
Was das, was vorgieng, riß hernieder;
Sey kein Jahrhundert, das zerstört!
Und willst du, mußt du je zerstören,
Zerstöre nicht mit Kriegesheeren,
Zerstör' durch Gutes Böses nur!
Zerstör' durch weise Geistesstärke
Der Bosheit hochgepriesne Werke,
Von Tiranney die kleinste Spur!
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Vergött're nicht der Menschheit Schanden,
Die sich zu Raub und Mord verbanden,
Und dann von Recht und Freiheit schrey'n!
Verehre tapfre Rechtsverehrer,
Des Unrechts muthige Zerstörer,
Und deine Freude sey erfreu'n!
Religion und Lust an allen
Bemühungen, die Gott gefallen,
Sey täglich aller Freude mehr!
Kein voriges Jahrhundert gleiche
Dem nun begonnenen! Es weiche
Zum Abgrund aller Laster Heer!
Nur Menschlichkeit und Pflichttreu' rathen,
Und Demuth kröne unsre Thaten!
Bei'm Anfang laßt auf's End uns seh'n!
Die Zeiten schwinden. Laßt uns hören,
Was die verschwundnen Zeiten lehren
Und nur der Weisheit Pfade geh'n!
Schwebt nicht in hohen Idealen,
Die euch nur goldne Zeiten mahlen,
Bei'm Wachsthum von Vernunft und Licht.
Es wird der Adams Söhne keiner
Durch rednersche Dekrete reiner,
Gebieten läßt sich Tugend nicht.
O fordert nicht Unmöglichkeiten
Von Menschen, die von allen Seiten
Begierlichkeit zu Sklaven macht.
Wer will ohn' Adlers Aug' und Schwingen,
Dem Adler gleich, zur Sonne dringen?
Ist der nicht Thor, des Jeder lacht?
O Väter, Mütter, Söhne, Töchter,
Vernehmt mich, künftige Geschlechter!
Nicht wegvernünftelt Ruh' und Glück!
Erfahrung lehr' euch weise werden;
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Vollkommenheit ist nicht auf Erden.
Erträumt sie, und ihr sinkt zurück!
Was helfen Freiheits-Heucheleyen?
Was nützen Franken-Äffereyen?
Was frommt's, wenn man der Armuth lacht?
Wer ehrt Geschwätz von Treu' und Glauben,
Wenn man ein nie erhörtes Rauben
Gesetzlos zum Gesetze macht?
Gerechtigkeit! Erwache wieder!
Komm' Friede, von den Himmeln nieder!
O! Sitten-Einfalt, kehr zurück!
Was Menschen-Namen trägt, das lebe
Für Wahrheit, Tugend nur, und strebe
Durch Edelsinn nach ächtem Glück.
Ihr schon geübten Tugendehrer,
Seyd durch das Beispiel Tugendlehrer!
Erregt zum Rechtthun Herzenslust;
Zertretet, wie vorworfne Schlangen,
Der Herrschsucht leisestes Verlangen,
Der Härte Funken in der Brust!
Uns müssen keine Namen blenden,
Kein drohend Wort uns Schrecken senden!
Vor uns erschrecke Tiranney!
Matron' und Greis und Mann und Jugend,
Erfahre täglich, daß nur Tugend
Der Quell von Daseyns Freude sey!
Nach Selbstveredlung stetes Streben,
Religion ist wahres Leben;
Sagt, was gedieh je ohne sie?
Macht sie nicht alles Dunkle helle?
Ist sie nicht jeder Tugend Quelle?
Ist, wo sie rein ist, Unrecht je?
Voll dieses Lustgefühls betrete,
Jahrhundert, ich dich nun, und bete
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Den Gott, der keine Zeit kennt, an!
Und flehe muthvoll: Deinen Willen,
O lehre, Vater, mich erfüllen;
O führe mich der Wahrheit Bahn!
Ich flehe Tag und Nacht, ich flehe,
Bis deine Vaterhand ich sehe,
Für mein gebundnes Vaterland.
In welche Tiefen, welche Nächte
Versenkten Höhner aller Rechte,
Versenkt' uns Stolz und Unverstand!
Schau huldreich, segnend auf uns nieder,
Vereine mit den Brüdern Brüder!
Es herrsche Fried' und Biederkeit!
O send' uns leuchtende Gedanken!
Laß' Keinen je im Treusinn wanken!
Bei'm Recht sey Unerschrockenheit!
Sey nicht ein strenger Unschuld-Rächer;
Doch, schweigen mach' die frechen Sprecher
Voll Rachsucht, Stolz und Bitterkeit.
Erröthen müssen und erblassen
Sie Alle, die die Wahrheit hassen,
Und bied're Herzens-Offenheit.
Laß' reife Weisheit wiederkehren,
Laß' lernen uns, was du willst lehren,
Erst Treue, dann Bescheidenheit,
Und Lust an nützlicher Belehrung,
An Wahrheit, Lieb' und Pflichtverehrung,
Und heiliger Gerechtigkeit!
O Menschenvater in dem Himmel,
Bei'm leidenschaftlichen Getümmel
Der Freiheitsrufer, taumeln wir
In Unrecht, Jammer und Verbrechen.
Laß' nur Vernunft und Tugend sprechen,
Und Ehrfurcht vor dem Recht und Dir!
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Gott, ich erhebe Herz und Hände:
Mach' unserm Elend bald ein Ende!
Erwecke demuthvolles Fleh'n!
Erwecke viel Nathanaele,
Hiskias, Davids, Samuele,
Die vor den Riß als Helden steh'n.
Erwecke selbst aus unserm Schooße
Bewährte, weise, edle, große,
Erhabne Helden, die nichts scheu'n!
Die unser Glück im Herzen tragen,
Für sich nichts suchen, alles wagen,
Um Stifter unsers Heils zu seyn.
Erquicke Witwen, Waisen, Kranke!
Erweck' den Glücklichen zum Danke,
Gieb Tugendfreunden Heldenmuth!
Entlarve Heuchler! Straf die Frechen,
Verhind're Laster und Verbrechen,
Und zeige dich den Guten gut!
Den Tausenden, die nach Dir weinen,
Laß' Hoffnung auf dein Reich erscheinen,
Das Liebe, Freude, Wahrheit ist!
O möchte nie das Laster siegen,
Nie Recht und Unschuld unterliegen,
Und fern seyn Herrschsucht, Trug und List.
So will ich flehen. Fleht vereinigt,
Wen Vaterlandes Elend peinigt!
Laßt muthvoll uns zum Vater seh'n;
Erfleht, ihr Reichen und ihr Armen,
Des Himmels segnendes Erbarmen.
Gott hört mit Lust vereintes Fleh'n.
Nur fromme Demuth kann uns retten
Von allen Lasten, allen Ketten;
Nur treuer Sinn macht froh und frei.
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Zum Himmel von der Erde wallen.
Erwirbt uns Gottes Wohlgefallen,
Und ruft das Reich des Herrn herbei.
Reich Gottes! Sehnsucht aller Frommen!
Wirst du mit dem Jahrhundert kommen?
O fleht: »Es komm!« wer flehen kann.
Ihm weiche Laster, Wahn und Leiden!
Es kommt mit gränzenlosen Freuden!
Macht ihm, durch fromme Demuth, Bahn!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lavater, Johann Kaspar. Gedichte. Vermischte Gedichte. Zürich am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Zürich am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DC11-2