24. Die Kraft des Glaubens und des Gebethes

Nachstehendes Lied darf ja nicht bloß etwa als eine poetische Beschreibung von der Kraft des Glaubens und des Gebethes angesehen werden. Es soll nichts anders sagen, und sagt anders nichts, als was die Schrift selber sagt. Man bittet also alle wahrheitliebende Leser, dasselbe genau und allein nach der Schrift zu prüfen. Und damit es auch den Einfältigen desto leichter werde, diese Prüfung vorzunehmen, so findet man gut, die wesentlichen Gedanken, welche darinn enthalten sind, hier absonderlich und in der gemeinen Kanzelsprache ohne Reimen vorzulegen:

»Der Verfall des Christenthums ist sehr groß. Christen, an denen sich das Siegel des H[eiligen] Geistes auf diejenige Weise zeigt, wie an den ersten Christen, die ihren Glauben in übernatürlichen göttlichen Werken beweisen, Satan, sich und die Welt überwinden, nach dem Beyspiel Jesu unsträflich leben und für ganze Länder und Völker in den Riß stehen, sind dem Verfasser keine bekannt. Der ächte alte Glaube ist einem verdorrten Baume gleich.«

Zwar jeder meynt den rechten Glauben zu haben; aber seine Kraft kommt nicht zum Vorschein. Glauben ist Annehmung des göttlichen Zeugnisses. Glücklich ist, wer Gottes und seiner Gesandten Zeugniß an nimmt. Es ist Weisheit, seine Einsichten den Einsichten Gottes, seinen Willen dem Willen Gottes zu unterwerfen, Weisheit, allenthalben um sich her Glückseeligkeit zu verbreiten [249] und in allen Widerwärtigkeiten zu empfinden, daß Gott väterliche Gesinnungen gegen uns hat. Diese Weisheit ist der Gläubigen.

Alles darf der fromme Gläubige von Gott hoffen, wenn Gott selbst zweifelloses Zutrauen in seinem Herzen wirkt.

Durch den Glauben überwanden die Glaubenshelden Spott und Schmerz: sie litten alles um der Auferstehung und des ewigen Lebens willen. Durch den Glauben verrichteten sie die größten Wunderwerke: dem Glauben ist nichts zu schwer.

»Wahrlich, wahrlich, ich sage euch«, versichert Christus, »wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Er wird die Werke auch thun, die ich thue, und wird größere denn diese thun«.

Tief mögte der Verfasser es allen seinen Lesern einprägen, was Christus so klar und deutlich gesagt hat: »Alle Dinge sind dem, der da glaubet, möglich«. Es ist nur Ein Glaube. Wer den hat, der wird, nach Maßgab seiner Umstände und Bedürfnisse, denselben wie jene Glaubenshelden, deren Hebr. XI. gedacht wird, beweisen können. Bey Gott gilt kein Ansehen der Person. (Luther sagte:) »Glaube wie Abraham, so bist du Abraham«!

Ewig sicher vor der Verdammniß, Theilhaber an den göttlichen Verheißungen, Freunde Gottes, Väter, deren Söhne geseegnet seyn werden, Seher der Herrlichkeit Christi, vermögend durch den Heiligen Geist zu bethen und die Sünde zu überwinden, sind wie Abraham alle, die in die Fußtapfen seines Glaubens eintreten. Vor Gott ist kein Unterschied. »Ein jeder, der an ihn glaubt, wird [250] nicht zuschanden werden; denn es ist hie zwischen Juden und Heyden kein Unterschied, sintemal ihr aller ein einiger Herr ist, reich genug für alle, die ihn anrufen«. Wer die Wahrheit und Gottes Wort liebt, wird sehen müssen, daß kein Unterschied der Nationen oder der Zeiten bey Gott in Betrachtung kommt; daß der Glaube aller Zeiten und Völker im Grunde Einer und eben derselbe ist und dieselben Vortheile und Belohnungen zu erwarten hat. Also darf jeder sich die Worte Christi gesagt seyn lassen. »Bittet, so werdet ihr empfangen; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan werden«. So lang ich also mit Glauben und nach den Trieben des Heiligen Geistes und nach dem geoffenbarten Willen Gottes bethe, darf ich in keiner Noth verzagen. An Gottes Wort will ich mich halten, die Welt meiner lachen lassen, fortbethen und fortglauben, redlich im Kleinen seyn: »Wer da hat, dem wird gegeben werden;« »wer Gott ehrt, den wird er auch ehren«; »sollte Gott seinen Auserwählten nicht Rettung schaffen, die Tag und Nacht zu ihm schreyen«? Lang mußte Jacob im Gebeth ringen, bis Gott ihn »Israel« nannte. Also will ich nicht müde werden im Gebethe: »Herr, mehre mir den Glauben«!


Ach, wie tief bist du gefallen,
Volk des Herrn; erwählt, vor allen
Seine Wunder auszukünden!
Sag, wo kann ich Christen finden?
Flög' ich über Thal und Hügel,
Wo fänd' ich des Geistes Siegel;
Wo des alten Glaubens Kraft,
Der mit Gott zerstört und schafft?
[251]
Weh uns! Denn ich finde keinen
Glaubenshelden; ach, nicht Einen 1,
Der durch jeden Zweifel dringet,
Satan, sich und Welt bezwinget;
Keinen, der unsträflich wandelt;
Keinen, der wie Jesus handelt;
Dessen Glaube, deß Gebeth
Seegen einer Welt erfleht!
Ach! du Trost in trüben Stunden,
Glauben, ach! du bist verschwunden!
Fester Stab auf steilen Wegen!
Reiner Quell von Licht und Seegen!
Ehrner Schild in den Gefahren!
Großes Pfand des Unsichtbaren!
Ach, wie du verdorret bist,
Ächter Glaub' an Jesum Christ!
Zwar, es rühmt sich jeder deiner;
Aber deine Kraft hat keiner!
Über böse Zeiten klagen,
»Herr, Herr«, nur zu Jesus sagen;
Sich auf Christi Tod verlassen,
Aber Christi Tugend hassen –
Ferne, daß dies Glaube sey,
Glauben ist nicht Heucheley!
»Gottes Lehren richtig kennen,
Erst nach Prüfung göttlich nennen,
Keine söndern, stille schweigen«,
Spricht Gott, sprechen seine Zeugen.
Sich mit Leib und Seel' und Leben
Seinem Willen hinergeben,
Gehen, wo er heißt uns gehn,
Will er, plötzlich stille stehn;
[252]
Trutz der täglichen Erfahrung
Bau'n auf Gottes Offenbarung;
Alles stehn und fahren lassen,
Gott nur und sein Wort umfassen;
Wo wir nichts als Nächte schauen,
Wie bey hellem Tag ihm trauen;
Ist von Anbeginn der Welt
Glaube, der dem Herrn gefällt.
»Glaube, glaube Gottes Worte«!
Ruft die Schrift an jedem Orte.
»Glaube jedem, den ich sende«!
Ruft vom Anfang bis zum Ende
Gottes Stimme. »Glücklich leben
Soll, wer mir Gehör will geben!
Ewig gilt, was Gott verspricht:
Ich, Jehova, liege nicht«.
Weisheit ist es, Gottes Lehren
Stillanbethend anzuhören;
Mensch, in deinen Finsternissen,
Wurm am Staub, was kannst du wissen?
Aller Welten Herr und Meister,
Vater, Lehrer aller Geister!
Dir Verstand und Willen weyhn,
Sollte das nicht Weisheit seyn?
Weisheit nicht, auf alle Seiten
Licht und Leben zu verbreiten?
Im Getümmel, in der Stille
Stets zu trinken Gottes Fülle? 2
In der Welt, der Welt entrissen,
Unaussprechlich es zu wissen:
[253]
»Stühnden Welten wider mich,
Gottes, Gottes Kind bin ich«!
Alles will dem frommen Glauben
Gott von ihm zu flehn erlauben;
Beth im Glauben, Christi Jünger,
Dich bezwingt kein Weltbezwinger;
Deinem Heldenglaubensflehen
Kann kein Satan widerstehen;
Wenn die Allmacht zu dir spricht:
»Ich bin bey dir, zage nicht«!
Durch den Glauben überwanden
Helden Gottes Schmerz und Schanden:
Weg von hier in jenes Leben
Drang ihr mächtiges Bestreben:
Auferstehung! Deine Freuden
Machten zum Triumph ihr Leiden!
Glaube, o wie strömtest du
Jedem Stärke Gottes zu!
Tage kämpfen, Nächte wachen,
Tödten und lebendig machen;
Schweigen, wenn Tyrannen wüten,
Durst und Hunger weggebieten;
Sturm und Ungewitter stillen,
Sterben um der Tugend willen;
Mond und Sonne heißen stehn,
Glaube, das kannst du erflehn!
Alles lernen, alles lehren;
Wandeln auf empörten Meeren 3;
Bey den Löwen, wie bey Schaafen,
Ruhig wachen, sicher schlafen 4;
[254]
Riesen schlagen 5, Heere zwingen 6,
In den Flammen Gott lobsingen 7;
Nichts, wenn's auch noch größer wär,
Glaube, dir ist nichts zu schwer!
Wer dem Sohne glaubt auf Erden,
Soll dort ewig seelig werden 8!
Wahrlich, wahrlich, wer ihm gläubet,
Mit ihm Eins ist, in ihm bleibet,
Dem mittheilt er seine Stärke;
Der thut größre Wunderwerke,
Als, nach Gottes weisem Rath,
Christus selbst auf Erden that 9.
(Laut, wie Stimmen vieler Meere,
Ruft' ich's gern zu Gottes Ehre;
Ruf' aus meines Meisters Munde,
Ruf' noch in der letzten Stunde:
»Möglich ist dem Glauben alles 10!
Was Gott kann, das kann er alles«!
Deckt die Nacht des Todes mich,
Ruf's mein Lied noch laut, wie ich 11!)
Nur Ein Glauben ist! Nur Einer!
Der gefällt Gott, und sonst keiner!
Wer den hat, der wird erfahren,
Was der Glaubenshelden Schaaren:
Vor dem Richter aller Welten
[255]
Können keine Namen gelten:
Glaubt' ich heut, wie Abraham,
Heute wär' ich Abraham!
Ewig sicher vorm Verderben,
Göttlicher Verheißung Erben,
Freunde Gottes, Seegens-Väter,
Christi-Seher, Geistes-Bether,
Welt- und Sündenüberwinder,
Abraham, sind deine Kinder.
Jeder, der Gott glaubt, wie er,
Siehet Wunder, täglich mehr.
Jesus, das sind deine Lehren:
Dich will ich, nicht Menschen hören!
Meinen, ach, noch schwachen Glauben
Den soll mir kein Satan rauben!
Fest halt ich an deinem Worte;
Jederzeit, an jedem Orte,
Gilt dir gleicher Glaube gleich
Alles Herr; für alle reich!
Wahrheit! Laß dich sehn und finden;
Gieb dich Herzen zu empfinden,
Die nach deinem Lichte schmachten,
Alles außer dir verachten;
Wahrheit, Wahrheit! komm, zernichte
Wahn und Nacht mit deinem Lichte!
Wahrheit, du bist hell und schön:
Kindereinfalt muß dich sehn.
Wer die Schriften Gottes ehret,
Wahrheit, wird von dir gelehret;
Wir, auch wir seyn Gottes Kinder,
Gott hör unser Flehn nicht minder,
Als das Flehen der Propheten;
Wenn wir, wie sie, gläubig bethen;
[256]
Gott, er, der viertausend Jahr
Aller Frommen Vater war?
Allen Christen aller Zeiten,
Ruft der Herr der Ewigkeiten 12:
»Viel vermag das Flehn der Frommen«.
Wer zu seinem Gott will kommen,
Der muß glauben, daß er lebe,
Allen alles Gute gebe,
Was sein Wort uns klar verspricht.
Glauben muß er, zweifeln nicht!
Bitte, und du wirst empfangen!
Suche, und du wirst erlangen!
Klopfe, laß nicht nach im Klopfen:
Sollte Gott sein Ohr verstopfen
Mußt du leiden; Bethe, bethe!
Ruf mich an, spricht Gott, ich rette,
Wenn sonst niemand retten kann;
Ruf in jeder Noth mich an!
Trübsal sey mir noch so bitter:
Zehentausend Ungewitter
Mögen über uns sich sammeln;
Kann ich nur im Glauben stammeln,
Kann ich durch den Geist nur bethen,
Zag ich nicht in tiefen Nöthen;
In der tödtlichsten Gefahr
Hilft der Herr uns wunderbar.
Mögen die, die Gott nicht kennen,
Meinen Glauben Thorheit nennen;
Fleh' ich nur: »Herr, hilf dem Schwachen«!,
Wenn sie meiner Kühnheit lachen:
[257]
Halte nur, trutz alles Spottes,
Immer fest am Worte Gottes;
Achte keiner Creatur,
Fürchte mich nicht, glaube nur!
Müßt' ich gleich oft trostlos weynen;
Bäth' ich fort, wär' treu im Kleinen:
Gott wird meinen Muth erheben;
Wer da hat, dem wird gegeben!
Glaube! Laß den Muth nicht sinken;
Nicht zur Rechten, nicht zur Linken!
Schau nur Gott an, und sein Wort:
Glaube redlich, bethe fort!
Fort, und laß nicht nach im Flehen;
Was du bittest, wird geschehen:
Wer Gott liebt, den will er hören;
Wer ihn ehret, wieder ehren.
Seine Auserwählten sollte
Der, der für sie sterben wollte,
Wenn sie Tag und Nächte schreyn,
Zögert er gleich, nicht erfreun?
Jacob! Ach im Nachtgebethe
Wie er rang, und weynt' und flehte,
Bis er Gottes Herz durchdrungen,
Bis er Seegen sich errungen!
Wie die müde Seele brannte,
Bis Gott »Israel« ihn nannte;
Bis mit gottgestärkter Hand
Seinen Gott er überwand!
Dieß erfahren, dieß empfinden,
Überwinden, überwinden
Will ich Gott dich! Jesus, heute
Weich ich nicht von deiner Seite.
Morgen, übermorgen wieder,
[258]
Alle Tage fall' ich nieder,
Weyn' und flehe laut zu dir:
»Mehre meinen Glauben mir«!

Fußnoten

1 Anmerkung Lavaters: »Ach! nicht Einen: Ich sage nicht: Es ist keiner; sondern nur: Ich weiß keinen zu finden«.

2 Anmerkung Lavaters: »Stets zu trinken Gottes Fülle: Ist es nicht Weisheit, in einer solchen Vereinigung mit Gott zu stehen, daß man immer Kraft und Seeligkeit in vollem Maaß aus ihm schöpfen kann?«

3 Anmerkung Lavaters: »Wie Jesus und Petrus: Matth. XIV, 23. 31«.

4 Anmerkung Lavaters: »Bey den Löwen: Wie Daniel«.

5 Anmerkung Lavaters: »Riesen schlagen: Wie David«.

6 Anmerkung Lavaters: »Heere zwingen: Hebr. XI, 34; I. Sam. XIV. 12«.

7 Anmerkung Lavaters: »Gott lobsingen: Dan. III, 26«.

8 Anmerkung Lavaters: »Joh. VI, 47«.

9 Anmerkung Lavaters: »Joh. XIV, 12«.

10 Anmerkung Lavaters: »Marc. IX, 23«.

11 Anmerkung Lavaters: »Ruf's mein Lied noch laut wie ich: Wenn ich nicht mehr auf Erden lebe, soll dieß Lied noch statt meiner die große Wahrheit ausbreiten, daß alle Dinge dem, der da glaubt, möglich sind«.

12 Anmerkung Lavaters: »Der Herr der Ewigkeiten: Der Gott aller Jahrhunderte, der, der sich durch alle Ewigkeiten als Jehovah, den treuen und wahrhaftigen Gott, beweist«.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Lavater, Johann Kaspar. Gedichte. Christliche Lieder. Aus: Fünfzig christliche Lieder. 24. Die Kraft des Glaubens und des Gebethes. 24. Die Kraft des Glaubens und des Gebethes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DC22-9