Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte

Erster Band. Im Vaterhause

An Adolf Stahr

Du und ich, mein geliebter Mann! haben unsere einzelnen Arbeiten, wenn wir sie der Oeffentlichkeit überantworteten, immer gern einem oder dem andern, der uns besonders werthen Menschen zugeschrieben, um Ihnen damit ein Zeichen der Liebe, oder ein Zeichen des Dankes für die Theilnahme zu geben, welche sie uns und unserm Schaffen angedeihen lassen.

Nun stehe ich vor der Herausgabe meiner gesammelten Werke, eine dreißigjährige Thätigkeit überblickend, und ich kann getrosten Herzens und mit gutem Gewissen die Worte wiederholen, mit denen ich vor acht Jahren die vierte Abtheilung meiner Lebensgeschichte abschloß.

[1] »Ich bin mit einer großen Vorstellung von der Macht des Dichters auf den Geist seines Volkes, und von der Gewalt des Wortes über das Herz der Menschen, in die literarische Laufbahn eingetreten. Und weil ich die Wahrheit suchte, und die Wahrheit über Alles schätzte, wo ich sie erkannt zu haben glaubte, nahm ich mir vor, ihr in keiner Zeile und mit keinem Worte jemals abtrünnig zu werden, und wie groß oder wie gering mein Einfluß jemals werden könnte, ihn nie anders als im Dienste desjenigen zu verwenden, was mir Schönheit, Freiheit und Wahrheit hieß. Und dies Versprechen habe ich mir treu gehalten.«

Ich war noch ein Neuling auf dem neuen Wege, als wir, ich und Du, geliebter Mann! uns vor fünfundzwanzig Jahren in Italien zusammenfanden. Seit dem Tage bist Du der treue Zeuge meiner Arbeit gewesen, und an Dein Urtheil, an Deine Zustimmung habe ich bei derselben seitdem stets zunächst gedacht. Seit fünfundzwanzig Jahren haben wir beide, Jeder auf seine Weise, einem gemeinsamen Ziele zugestrebt, und danach getrachtet, unser Leben und Schaffen zu einem Einklang zu gestalten: denn der Mensch kann nicht [2] leisten und wirken, was er nicht selber ist. Dein sittlicher Ernst und Dein unbeirrbarer Idealismus waren mir eine starke Stütze. Dein Zuspruch hat mich aufgerichtet, wenn mich oft genug, mitten in der Freudigkeit der Arbeit, die Entmuthigung und der Zweifel überfielen, denen kein Schaffender entgeht. Wie oft hast Du mir zugerufen: »Man muß das Höchste erstreben, redlich und gewissenhaft arbeiten, und sich dann vor seiner Leistung bescheiden. Die Arbeit hat Dich innerlich aufgeklärt, hat Dich gefördert, hat Dich oft gefreut; sie wird auf Den und Jenen also auch die gleiche Wirkung haben. Was willst Du denn noch mehr?« – Und ich habe mich dann zurecht gefunden und bin frohen Herzens weiter fortgegangen.

Nimm denn diese Gesammt-Ausgabe meiner Arbeiten, von denen der bei weitem größte Theil unter Deinen Augen entstanden ist, als Liebes-, als Dankesgabe hin, und laß uns hoffen, daß Dein Wort zur Wahrheit werde: daß Andere fördere, was während dem Schaffen mich selbst gefördert; daß sie erfreue, was mich über manche Stunde gemeinsam getragener schwerer Sorge flügelkräftig fortgehoben; und daß die Leser das Gute, das [3] Wahre, das Schöne auch da herausfühlen mögen, wo es mir nicht gelungen ist, es klar zur Erscheinung zu bringen, wo mein Können hinter meinem Wollen, meine Leistung hinter meinem Ideale zurückgeblieben ist.

Und somit in Liebe und gemeinsamem Streben hoffentlich noch eine Weile weiter fort!


Berlin, im Mai 1870.

Die Deine Fanny Lewald-Stahr. [4]


Dem Andenken meines Vaters David Markus Lewald sei die Erzählung meiner Lebensgeschichte in dankbarer Liebe gewidmet. [5]

[6] [3]Einleitung

Wie der Reisende sich Empfehlungen von verehrten Personen zu verschaffen sucht, um sich einen freundlichen Empfang und gütige Theilnahme unter den Fremden zu sichern, so schicke ich dieser Arbeit eine Bemerkung Goethe's über die Bedeutung des Individuellen voran, die mich seit lange beschäftigt und mir während des Arbeitens oft im Sinne gelegen hat.

»Das Individuum, sagt Goethe, geht verloren; das Andenken desselben verschwindet; und doch ist ihm und andern daran gelegen, daß es erhalten werde.

Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich auch eigentlich nur für's Individuelle interessiren. Das Allgemeine findet sich von selbst, dringt sich auf, erhält sich, vermehrt sich. Wir benutzen's, aber wir lieben es nicht.

Wir lieben nur das Individuelle; daher die große Freude an Vorträgen, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener selbst unbedeutender Menschen.

Die Frage: ob Einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es thut, für den höflichsten aller Menschen.

[3] Wenn sich Einer nur mittheilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es thut.

Es ist gar nicht nöthig, daß Einer untadelhaft sei, oder das Vortrefflichste und Tadelloseste thut; sondern nur, daß Etwas geschehe, was dem Andern nützen oder ihn freuen kann.«

Ein andermal, als er die Entstehung seiner biographischen Annalen schildert, spricht er sich, auf das Urtheil Cellini's gestützt, dahin aus, daß man sich nicht zu spät daran machen dürfe seine Erinnerungen aufzuzeichnen, wenn man überhaupt die Neigung fühlt, dieses zu thun.

»Es ist keine Frage, heißt es dort, daß uns die Fülle der Erinnerung, womit wir jene ersten Zeiten zu betrachten haben, nach und nach erlischt, daß die anmuthige Sinnlichkeit verschwindet, und ein gebildeter Verstand durch seine Deutlichkeit jene Anmuth nicht ersetzen kann.

Hierbei ist aber noch ein bedeutender Umstand wohl zu beachten: wir müssen eigentlich noch nahe genug an unsern Irrthümern und Fehlern stehen, um sie liebenswürdig und in dem Grade reizend zu finden, daß wir uns lebhaft damit abgeben, jene Zustände wieder in uns hervorrufen, unsere Mängel mit Nachsicht betrachten und mancher Fehler uns nicht schämen mögen.«

An diese Aussprüche habe ich oftmals gedacht, wenn ich bei meinen dichterischen Arbeiten, im Gestalten der einzelnen Figuren, den Boden zeichnete, dem sie entstammten, die Einflüsse welche zu ihrer Entwicklung beitrugen, und den Weg auf dem sie an ihr Ziel zu [4] gelangen hatten. Dann ist mir häufig die Lust gekommen, mir einmal mein eigenes Leben und meine eigene Entwickelung in solcher Weise übersichtlich und zusammenhängend darzulegen, und seit Jahren habe ich die Neigung gehabt, meine Erinnerungen aufzuzeichnen.

Meine Freunde haben mich in dem Gedanken bestärkt, mich zu dem Unternehmen angetrieben, und nun ich mir endlich einmal die Muße dazu geschafft, nun ich mich an den Schreibtisch setze um an das Werk zu gehen, bewegt es mir feierlich das Herz. Denn wie man in der Jugend ahnungs- und hoffnungsvoll in die ungewisse Zukunft hineinblickt, so schaue ich in diesem Augenblick ruhig und befriedigt auf den Pfad zurück, der jetzt hinter mir liegt.

Es ist etwas Besonderes um das Festhalten und Aufschreiben seiner eigenen Schicksale, um das Wiedererwecken seiner eigenen Vergangenheit. Man ist Darsteller und Zuschauer, Schöpfer und Kritiker, jung und alt zugleich. Man empfindet alle seine genossenen Freuden mit der Kraft der Jugend, man blickt auf seine vergangenen Leiden mit dem Gefühle eines Ueberwinders zurück. Man durchlebt das Leben noch einmal, aber ruhig und mit unverwirrtem Bewußtsein. Und was uns im Affekte des Erlebens einst räthselhaft, was uns getrennt und zusammenhanglos, was uns zufällig, unwesentlich oder auch gewaltsam und ungerecht erschien, das gestaltet sich vor dem überschauenden Blicke zu einem übersichtlichen Ganzen, in welchem eigenes und fremdes Handeln, in welchem Irrthümer und Schmerzen, in welchem unser Denken und Streben, unser Mißlingen [5] und unsere Erfolge uns nur noch als eben so viele Ursachen und Wirkungen entgegentreten. Jedes Menschenleben trägt eben seinen vernünftigen Zusammenhang in sich, und mehr oder weniger habe ich in dem Schicksal aller mir bekannt gewordenen Menschen das alte Sprichwort bestätigt gefunden, das mein theurer Vater uns von Jugend auf als Lehre und Warnung auszusprechen pflegte: es ist Jeder seines Glückes Schmied!

In diesem Sinne haben Biographien, und vor allen Dingen ehrlich gemeinte Selbstbiographien, mich immer lebhaft angezogen. Sie sind mir bedeutsam gewesen als Bilder einer bestimmten Zeit und ihrer Kulturverhältnisse, sie sind mir lehrreich, tröstlich und erhebend gewesen. Der Hinblick auf das arbeitsvolle Ringen Anderer hat mich im Arbeiten und Beharren bestärkt. Bevorzugte, glückliche Lebensläufe haben mir Hoffnung auf Erfolg und Streben nach ähnlicher Befriedigung gegeben; und wenn ich Menschen, die ich über mich zu stellen hatte, mit Mißgeschicken kämpfen oder gar den sie umgebenden Verhältnissen unterliegen sah, so hat mich das vor thörichten Anforderungen an ein sogenanntes unbedingtes und müheloses Glück behütet, hat mich auf thätige Geduld verwiesen und mich gelehrt, sowohl das Gute, das mir durch meine angeborenen Verhältnisse geworden, als dasjenige, welches mir durch eigene Kraft zu erringen gelungen ist, in jedem Augenblicke doppelt bewußt zu genießen, doppelt dankbar anzuerkennen.

Und so mögen diese Aufzeichnungen, die ich im Gedenken an meine theuren verstorbenen Eltern und an mein liebes Vaterhaus beginne, allen Denen eine[6] freundliche Erinnerung bereiten, denen es einst wohl geworden in dem gastlichen Hause meiner Eltern, oder die mir sonst theilnehmend auf dem Lebenswege begegnet sind. Kommen sie nebenher einem oder dem andern Menschen hier und da aufklärend und beruhigend zu statten, so würde mich das von Herzen freuen. Gelingt das diesen Erinnerungen nicht, nun so bereiten sie doch vielleicht den Lesern einen Theil des Vergnügens, welches ich selbst bei dem Niederschreiben immerfort empfunden habe.


Berlin, im Juni 1858.

[7]
1. Kapitel
Erstes Kapitel

Ich bin am vierundzwanzigsten März des Jahres achtzehnhundert und eilf zu Königsberg in Preußen geboren, und stamme von väterlicher und mütterlicher Seite aus jüdischen Familien ab. Auch meine beiden Eltern waren geborene Königsberger.

Meine Mutter gehörte einer reichen Familie an. Sie war das jüngste von zwölf Kindern. Ihr Vater war aus dem Posen'schen, ihre Mutter aus Kurland nach Preußen gekommen. Sie hielten fest an dem Glauben und an den Sitten des Judenthums, waren ununterrichtete Leute, scheinen aber, nach allen Erzählungen meiner Mutter, viel auf eine wohlanständige äußere Form des Lebens gehalten und bei strenger häuslicher Oekonomie die Benutzung und Schaustellung ihres Reichthums für besondere Fälle geliebt zu haben.

Meine Mutter erzählte uns, als wir erwachsen waren, gern von dem großen Saale in ihrem Vaterhause mit seinen gelben Damastmeubeln und zahlreichen Spiegeln, der an den Feiertagen geöffnet wurde, von der gastfreien Aufnahme aller Fremden, welche sich zum jüdischen Karneval, dem Purimsfeste, maskirt und unmaskirt in ihrem Hause einfanden, von der ernsten [8] Begehung der großen Feiertage, des Passah, des Laubhütten- und des Versöhnungsfestes; und es machte immer einen fremdartig feierlichen Eindruck auf uns, wenn wir hörten, wie die Großeltern am Vorabende des Versöhnungsfestes alle ihre Kinder zusammen gerufen und sie gesegnet hätten. Wie dann die Großmutter in einem weißen, mit kostbaren Kanten besetzten Kleide den Großvater in die Synagoge begleitet habe, wie sie darauf erst spät Abends nach Hause gekommen wären, wie man der Großmutter schweigend das modische Entre deux von schwarzem Taffet mit strohgelbem Futter abgenommen, wie man am folgenden Tage gefastet und erst am Abend desselben bei dem Hervortreten der Sterne den ersten Imbiß gehalten habe, wonach das Leben dann wieder in seinen gewöhnlichen Lauf zurückgekehrt sei.

Gute Miniaturbilder dieser Großeltern hingen in unserem Wohnzimmer. Die Großmutter war eine bleiche Frau mit ruhigem klugen Blick, ganz weiß gekleidet, ein Spitzentuch um Brust und Hals gebunden, einen tiefgehenden Aufsatz mit weißen Spitzen auf dem Kopfe, der kein Haar hervorscheinen ließ und sich fest an Stirn und Schläfen anlegte. Sie trug auf dem Bilde schöne große Perlen in den Ohrgehängen und eben solche Perlen um den Hals. Der Großvater hatte ein sehr feines Gesicht mit hellblauen Augen, eine kleine gepuderte Perrücke, einen blauen Rock mit großen Knöpfen, und die alten Leute sahen Beide wie Bilder der behaglichsten Sauberkeit und Ruhe aus. Sie hatten etwas Feierliches in ihren Physiognomien, das mir immer einen großen Eindruck machte, wenn ich sie ins Auge faßte.

[9] Was mein Großvater in seinen früheren Jahren für ein Handels-Geschäft getrieben haben mag, weiß ich nicht. So weit die Erzählungen meiner Mutter reichten, hatte er sich schon vom Handel zurückgezogen und als ein reicher Mann von seinen Zinsen gelebt. Die Großeltern bewohnten sechsunddreißig Jahre lang das Eckhaus in der Kneiphöfischen Langgasse, welches der Königlichen Bank gegenüber dicht am grünen Thore liegt und die Ecke der Magistergasse bildet; und es wurde von unserer Mutter immer hervorgehoben, wie der Bankdirektor und eine Menge anderer angesehener Leute den Großvater mit besonderer Achtung behandelt hätten und wie selbst der Professor Kant ihn immer freundlich gegrüßt, wenn er im Sommer bei seiner täglichen Promenade den Großvater auf seinem gewohnten Platze am Fenster oder auf der Bank vor der Thüre sitzen gesehen habe. Es war damals in Königsberg noch eine Ehrensache für einen Juden, von Christen achtungsvoll behandelt zu werden.

Die geistige Bildung im Hause dieser Großeltern muß im Ganzen gering gewesen sein, obschon man den Söhnen, es waren ihrer fünf, eine gute Erziehung geben ließ. Zwei von ihnen haben Medizin studirt. Der Aeltere war ein in Königsberg geachteter Arzt, Doktor Assur, der Jüngste, David mit Namen, ging später zum Christenthum über. Es war der in Hamburg verstorbene, und mit Rosa Marie von Varnhagen verheirathete, Doktor Assing.

Die älteren Töchter meines großväterlichen Hauses waren in der französischen Sprache, in der Musik, im Tanzen und derlei äußerlichen Dingen unterrichtet worden. [10] Sie hatten auch einen »Complimentirlehrer« gehabt, der ihnen beigebracht, was man in der Gesellschaft und im Verkehr mit jungen Männern zu sagen, und wie man es zu sagen habe. Aber mit dem Tode meiner Großmutter hatte das Alles aufgehört, und für die Erziehung der jüngeren Töchter war fast Nichts geschehen, weil der Großvater die Bildung der Frauen als etwas Ueberflüssiges betrachtete. Meine Mutter, sein jüngstes Kind, beklagte dies durch ihr ganzes Leben als ein Unglück. Sie trug ein großes Verlangen nach Kenntnissen, aber ihr fehlte die Vorbedingung der ersten Grundlagen, sich dieselben noch in späterer Zeit anzueignen; denn sie schrieb und rechnete nur nothdürftig und hatte nicht das Geringste von wissenschaftlichem Unterricht gehabt.

Weder mein Großvater noch seine Frau hatten, nachdem sie sich einst in Königsberg ansässig gemacht, den Ort jemals verlassen, und die ganze Existenz in ihrem Hause scheint eine sorgenfreie und zufriedene, aber in jedem Betrachte wenig bewegliche und geistig sehr beengte gewesen zu sein.

Ganz anders waren die Verhältnisse in meinem großelterlichen Hause väterlicher Seits. Die Familie hatte seit vier Generationen von Vater auf Sohn in Königsberg gelebt, und mein Großvater hatte als ein vermögender junger Mann zu seiner Ausbildung einen Theil von Deutschland bereist, und später auch eine Berlinerin geheirathet.

Mein väterlicher Großvater war ein schöner und sehr geistvoller Mann. Er und seine Frau besaßen jenen Grad der allgemeinen Bildung, den die Berliner[11] Juden schon früher erlangt hatten, und Beide fühlten sich im Ganzen in Königsberg nicht glücklich. Namentlich die Großmutter gefiel sich in der Provinz nicht. Sie wurde dort nie recht heimisch, auch der Großvater hätte lieber in Berlin oder in Hamburg leben mögen. Aber er hatte sein ererbtes Vermögen, einige Jahre nach seiner Verheirathung, in unglücklichen Spekulationen eingebüßt, und obschon er auch unter seinen Standesgenossen als ein sehr gescheuter Kopf geachtet wurde, gelang es ihm doch nicht, sich ein neues Vermögen zu erschaffen. Er führte immer ein sorgenvolles, in spätern Jahren sogar eine Zeit lang ein kümmerliches Leben, und grade darum verargte man ihm eine gewisse Zurückhaltung und Abgeschlossenheit seines Wesens um so mehr. Er und seine Frau galten für stolz, er pflegte wenig Verkehr mit andern Menschen, hatte aber eine große Vorliebe für Studien aller Art, besonders für die Mathematik, mit der er sich viel beschäftigte, und brachte alle seine freien Stunden mit Lesen und Schreiben zu, wie er sich denn schriftlich und mündlich vortrefflich ausgedrückt haben soll. Bei seinem Tode fand man eine Anzahl logarithmischer Tafeln vor, die er ausgerechnet und für die Herausgabe vorbereitet hatte. Sie blieben damals liegen und sind dann verschwunden. Seine Lieblingslektüre waren die Werke der französischen Encyklopädisten, und er wie seine Frau waren äußerst aufgeklärte Leute. Das jüdische Ritualgesetz wurde daher von ihnen auch nur so weit beobachtet, als es eben nothwendig war, um in den damals noch eng zusammenhängenden Gemeinden keinen Anstoß zu geben. Die [12] Söhne wurden also auch im Hebräischen unterrichtet, und mein Großvater besuchte die Synagoge, weil das geschehen mußte, aber im ganzen häuslichen Leben ward keine religiöse Ceremonie irgend einer Art geübt, und es herrschte in allen religiösen Dingen dort die größte Freiheit.

Diese Großeltern väterlicher Seits, die Familie führte damals den Namen Markus, hatten sieben Kinder, vier Söhne und drei Töchter. Ohne diese Kinder christlichen Schulen oder öffentlichen Lehranstalten zu überantworten, hielt man sie zum Selbstunterricht an, und die Richtung auf geistige Interessen, die Theilnahme an dem Allgemeinen, wie ein gewisser Zug fester und ernster Selbstbestimmtheit ward Allen durch die Erziehung eingeprägt. Mein Großvater haßte es, wenn man von leeren Dingen sprach oder unnöthig viel Worte machte. »Erzähle in die Länge und nicht in die Breite!« ist eine Redensart, welche sich aus seinem Munde unter uns fortgeerbt hat; und eine Unüberlegtheit, eine Thorheit sprechen zu hören, war ihm so widerwärtig, daß er es an seinen Kindern streng bestrafte.

Als ein alter Diener des Hauses einmal nach mehrmonatlicher Abwesenheit zurückkehrte, und einer meiner Onkel, damals noch ein acht- oder neunjähriger Knabe, die unvernünftige Bemerkung machte: »Skatt sei recht gewachsen«, gab ihm der Großvater für diese Aeußerung, ohne weiter ein Wort darüber zu sprechen, augenblicklich eine Ohrfeige. Im gleichen Sinne befahl er seinen Kindern, wenn sie einmal etwas Kluges oder Witziges gesagt hatten, das Beifall gefunden, regelmäßig still zu [13] sein, damit sie nicht, in der Freude über ihren Erfolg, demselben eine Dummheit hinzufügten.

Die Familie meiner väterlichen Großeltern war irgendwie mit den Familien Itzig und Ephraim in Berlin verwandt, welche von Friedrich dem Großen für seine Finanzoperationen benutzt wurden, und es herrschte in dem Hause meiner Großeltern, wenn die Zeiten dort besonders sorgenvoll waren, immer die Hoffnung, von diesen Berliner Verwandten werde ihnen einmal mit einer Betheiligung an irgend einem großen finanziellen Unternehmen eine dauernde Hülfe kommen. Indeß statt dieser Hülfe erwuchs ihnen, als eine solche Betheiligung ihnen endlich dargeboten wurde, nur ein schweres Unglück daraus.

Friedrich der Große hatte nämlich die jüdischen Bankiers und namentlich auch Ephraim dazu benutzt, die englischen Subsidiengelder in schlechte Münze, in Zweigutegroschen-Stücke umprägen und verbreiten zu lassen, und bei diesem auf königlichen Befehl ausgeführten Geschäfte war mein Großvater als einer der Agenten der Königsberger Münze, denn die Provinzen hatten damals noch besondere Münzen, thätig gewesen. Er hatte dazu eigens eine Silberschmelze erbauen lassen müssen, die mein Vater noch besaß und in der ich selbst noch vielmals gewesen bin. Als nun unter Friedrich Wilhelm dem Zweiten die Beschwerden über die Münzverfälschung im Lande immer lebhafter wurden, wählte die Regierung den Ausweg, die Juden, welche einst auf ihren Befehl gehandelt hatten, für die Münzverfälschung verantwortlich zu machen. Man sperrte also, um der [14] öffentlichen Meinung ein Genüge zu thun, oder ihr doch mindestens ein Zugeständniß zu gewähren, an den verschiedenen Orten einige Juden, und unter diesen auch meinen Großvater, in das Gefängniß. Er für sein Theil, wie viele andere seiner Glaubens- und Leidensgenossen, verlangten eine Untersuchung. Indeß zu einer solchen konnte die Regierung es nicht kommen lassen, und nachdem man die Beschuldigten längere Zeit gefangen gehalten hatte, gab man sie ohne Urtheil und Recht, wie man sie eingezogen, auch wieder frei. Man hatte damit den Zweck erreicht, die Rechtlichkeit dieser Männer zu verdächtigen, die Anklagen, welche sich gegen die Regierung erhoben, auf die Schultern der Juden zu wälzen, und dabei ließ man es bewenden.

Aber diese Gefangenschaft hatte für den Großvater, abgesehen davon, daß sie ihm durch den Makel, den sie auf ihn warf, für den Rest seines Lebens sein Gewerbe als Geldwechsler den Christen gegenüber erschwerte, auch den Nachtheil, seine damals schon sehr schwankende Gesundheit völlig zu untergraben. Er war in den letzten Jahren der Vierziger, als man ihn verhaftete, in Folge einer Unterleibskrankheit von schwerem Augenleiden heimgesucht, und der Pflege der Seinen durchaus bedürftig. Ihn deshalb frei zu geben fühlte man sich nicht geneigt; die Familie erlangte es jedoch, daß man ihm seine älteste, damals fünfzehnjährige, Tochter Minna als Pflegerin mit in das Gefängniß gab, und von ihr, einer der bedeutendsten Frauen, welche ich gekannt, habe ich es oftmals mit bewegtem Herzen erzählen hören, wie ruhig und würdig unser Großvater sein Mißgeschick getragen.[15] Sie erinnerte sich immer mit Rührung daran, wie der Großvater sich auch im Gefängniß täglich auf das Sauberste gekleidet habe, wie er getrachtet einen kleinen Spiegel herbeizuschaffen, damit auch sie sich in ihrem Aeußeren nicht vernachlässige, und wie er streng darauf gehalten habe, daß sie sich täglich mehrere Stunden mit Lesen und Schreiben von Französisch, und mit ernster Lektüre beschäftigte, damit diese Unglückszeit mindestens doch für ihre Bildung gute Früchte trage. Die Tante hing mit tiefster Verehrung an dem Vater, und alle seine Kinder hegten eine fast abgöttische Liebe für ihn. Noch in ihrem späten Alter gedachte seiner fast keines derselben ohne Wehmuth und ohne Thränen.

Mein Vater war der dritte Sohn des Hauses. Er kann zu der Zeit, in welcher mein Großvater im Gefängniß war, nicht über acht Jahre alt gewesen sein. Der älteste Sohn war kränklich und mußte, da er in der Jugend bisweilen an heftigen Krämpfen litt, geschont werden. Der zweite Sohn war weniger thätig, und da der Großvater nach seiner Gefangenschaft immer leidender wurde, verwendete er meinen Vater, sobald derselbe dafür irgend brauchbar war, in seinem Handelsgeschäfte, das die Familie nur sehr mühsam ernährte. Aus meines Vaters Munde habe ich es er zählen hören, wie bitter schwer er den Druck dieser Verhältnisse empfunden habe. Als er einmal, kaum fünfzehnjährig, in's Vaterhaus zurückgehen mußte ohne ein Geschäft abgeschlossen zu haben, von dem mein Großvater sich für lange Zeit Hülfe für die Seinen versprach, waren Traurigkeit und Verzweiflung in dem Herzen des Knaben [16] so stark geworden, daß er bei dem Uebergange über eine Brücke die größte Versuchung gefühlt hatte, sich in das Wasser zu stürzen, weil es ihm so furchtbar schien, dem schwerkranken und schwerbekümmerten Vater einen ungünstigen Bescheid und die Vereitelung seiner Hoffnungen zu melden.

Wann mein Großvater gestorben ist, weiß ich nicht genau, doch muß es etwa sieben oder acht Jahre nach seiner Gefangenschaft und ganz zu Anfang dieses Jahrhunderts gewesen sein. Nach seinem Tode, er ist nur einundfünfzig Jahre alt geworden, nahmen die Verhältnisse der Familie eine günstigere Wendung. Die älteste Tochter, welche zu ihren mütterlichen Verwandten nach Berlin gegeben worden war, verheirathete sich an einen gebildeten und wohlhabenden Kaufmann in Breslau; sie ward die Mutter des in unserer politischen Geschichte rühmlichst bekannt gewordenen Heinrich Simon aus Breslau. Meine Großmutter mit dem jüngsten Sohne siedelte in Folge dieser Verbindung ebenfalls nach Breslau über, und ihr zweiter Sohn folgte ihr dorthin nach, wo er in das kaufmännische Geschäft eines Mutter-Bruders eintrat. Nur der älteste Bruder, Beer Markus, und mein Vater blieben in Königsberg zurück. Sie etablirten das Handlungshaus von Beer Markus u. Comp., und die beiden jüngeren Schwestern, Johanna und Rebekka, übernahmen die Besorgung des Haushaltes für die beiden Brüder.

Auf sich selbst und den Erwerb für sich und die Ihrigen gewiesen, verließen die zurückgebliebenen vier Geschwister, von denen selbst der älteste kaum zweiundzwanzig [17] Jahre alt war, die Bahn des Vaterhauses nicht. Keiner von ihnen hatte, wie ich erwähnt, eine folgerechte regelmäßige Schulbildung erhalten; aber sie waren Alle geistig sehr begabt, sehr strebsam, äußerst beharrlich und unverzagt, und dem ganzen Charakter nach ein Geschlecht, dem anzugehören ich immer als einen Vorzug empfunden habe.

Meine beiden Eltern kannten sich, wie das damals, als die jüdischen Gemeinden noch kleiner waren, nicht fehlen konnte, dem Ansehen nach von ihrer Kindheit an. Meine Mutter erzählte uns, daß sie als zwölfjähriges Mädchen einmal mit ihrem Vater am Fenster saß, als mein Vater, der nur drei Jahre älter war als sie, an ihrem Hause vorüberging. Sie hatte immer viel Gutes von ihm gehört, und wenn man das Mißgeschick der Markus'schen Familie beklagte, die gar nicht vorwärts kommen konnte, so hatte man die braven Kinder, und namentlich den Fleiß und die Treue des kleinen David Markus gerühmt, der von früh bis spät für seine Eltern thätig war. Das hatte meine Mutter gerührt und die große Schönheit meines Vaters hatte solchen Eindruck auf sie gemacht, daß sie an jenem Tage in kindischer Lebhaftigkeit plötzlich den Ausruf that: »Ach Papa! Den David Markus möchte ich heirathen!« womit sie natürlich unter ihren Geschwistern großes Lachen erregte. – Es fand aber gar kein Verkehr zwischen den beiden Familien statt, und meine Eltern lernten sich erst später persönlich kennen, als meine Mutter etwa siebzehn und mein Vater zwanzig Jahre alt war.

[18] Damals waren sie Beide schon elternlos. Meine Mutter lebte im Hause einer Schwester, die an einen Kaufmann Nathan verheirathet war, und mein Vater befand sich bereits in der Lage, eine Frau zu ernähren, selbst wenn sie nicht, wie meine Mutter, Vermögen gehabt hätte.

Indeß zu jenen Zeiten war es mit dem Heirathen der Juden in Preußen keine leichte Sache, denn jede jüdische Familie hatte nur für eines ihrer Kinder das Ansiedlungsrecht in den preußischen Landen, und ohne dieses waren Heimath und Niederlassung eine Unmöglichkeit für die Juden. In meiner mütterlichen Familie war dies Recht zu Gunsten der ältesten, sehr un schönen Tochter benutzt worden, der man damit einen Mann geschafft hatte; und da die älteste Schwester meines Vaters einen niederlassungsberechtigten Juden in dem Breslauer Kaufmann Simon geheirathet, so besaß mein Onkel Beer Markus das Niederlassungsrecht der Markus'schen Familie, das er um so weniger geneigt sein konnte an meinen Vater abzutreten, als er selbst in meine Mutter verliebt war und sich um sie bewarb.

Alle meine mütterlichen Onkel und Tanten waren auf seiner Seite. Meine Mutter war die einzige noch unverheirathete und unversorgte Schwester in ihrer Familie. Zwei Brüder und zwei Schwestern waren nach Hamburg übergesiedelt und dort verheirathet, zwei andere Brüder hatten sich in Berlin etablirt, drei Schwestern waren bereits in Königsberg ansässig, und der älteste Bruder praktisirte dort als Arzt. Es war ihnen allen daher das Bequemste, die jüngste Schwester ohne weitere [19] Schwierigkeiten und ohne besondere Bittgesuche bei der Regierung, ebenfalls in Königsberg zu verheirathen, und mein Onkel Beer war obenein ein eben so tüchtiger als gebildeter Mann. Aber er war sehr kränklich, und obschon, wie die Schwestern meines Vaters später erzählt haben, meine viel umworbene Mutter Anfangs Beer's Bewerbung annahm und ermunterte, wendete sich später ihre Neigung doch dem jüngern und viel schönern Bruder zu, und diese Neigung wurde, weil sie sowohl in der Familie als in den äußern Verhältnissen überall auf Hindernisse stieß, zu der lebhaftesten Leidenschaft von beiden Seiten.

Meine mütterlichen Verwandten verargten es meinem Vater, daß er ihnen die bequeme Verheirathung ihrer Schwester erschwere, und die Schwestern meines Vaters nahmen es ihm und meiner Mutter äußerst übel, daß sie dem ältern und kränklichen Bruder noch Herzenskummer machten. Die beiden armen jungen Leute standen also ziemlich verlassen und angefeindet in der Familie da. Nur meine Tante Nathan und der Doktor David Assing, der Lieblingsbruder und Vertraute meiner Mutter, der auch ein Freund meines Vaters war, hielten treu zu ihnen, und meine Mutter hat ihnen das immer dankbar nachgerühmt.

Wäre meine Mutter ihr eigener Herr, d.h. wäre sie großjährig gewesen, so hätte das junge Paar wohl den Ausweg gewählt, zum Christenthume überzutreten. Meine Mutter hatte einen großen Zug dafür, und meinem Vater war alles Dogmatische und Confessionelle der verschiedenen Religionen gleichgültig; aber die ganze Familie [20] meiner Mutter, vor Allem der Bruder und der Schwager, welche ihre Vormünder waren, wollten von einem solchen Schritte durchaus nichts hören. Die üblichen Bedrohungen mit Fluch und Verstoßung wurden nicht gespart, meine Mutter fühlte sich solchen Zerwürfnissen nicht gewachsen, und es blieb den Verlobten also kein Ausweg übrig, als mit Eingaben bei der Regierung, mit Geldopfern, wo diese thunlich waren, und mit persönlichen Bittgesuchen sich die Erlaubniß zur Niederlassung in Preußen zu verschaffen, deren Bewilligung immer schwerer gemacht wurde, je wohlhabender und heirathslustiger die jüdischen Gemeinden geworden waren. Darüber gingen Jahre hin, und dieser Kampf erzeugte in meiner Mutter, einer sehr milden und weichen Natur, eine lebhafte Abneigung gegen das Judenthum und gegen Alles was mit ihm zusammenhing. Sie sah es als ein Unglück an, eine Jüdin zu sein. Bei meinem Vater, dessen starkem Verstande die Unvernunft der damaligen preußischen Gesetzgebung für die Juden ohnehin klar genug eingeleuchtet haben mußte, verstärkten die Hindernisse, unter denen er persönlich zu leiden hatte, nur seinen Widerwillen gegen alle Unvernunft und Tyrannei.

Die Gewährung einer Niederlassungserlaubniß für einen Juden hing zu jener Zeit im Königreich Preußen von dem Kanzler von Schrötter ab. Er war sehr geachtet in der Provinz; seine Frau, eine geborene Gräfin Dohna, galt für eine ausgezeichnet edle Frau, und ein Sohn oder ein jüngerer Bruder des Kanzlers war ein Jugend- und Universitätsfreund von dem jüngsten Bruder meiner Mutter, von David Assing gewesen. Auf [21] den Rath dieses Letzteren gestützt, entschloß sich endlich meine Mutter, der bei ihrer Schüchternheit und Jugend solch ein Schritt sehr schwer geworden sein muß, sich bei der Gemahlin des Kanzlers persönlich eine Audienz zu erbitten und sie um ihre Verwendung zu Gunsten einer Niederlassung anzugehen.

Das entschied die Sache, und nach einer langen Liebeszeit wurden meine Eltern endlich zu einer Ehe verbunden, welche während der dreißig Jahre ihres Bestehens uns Allen ein Vorbild und überhaupt ein Muster häuslicher Eintracht gewesen ist.

[22]
2. Kapitel
Zweites Kapitel

Meines Vaters Vermögenslage war günstig als er sich verheirathete. Er und sein Bruder betrieben ansehnliche Bankier- und Speditionsgeschäfte, und das Kapital, welches meine Mutter ihm zubrachte, eröffnete ihm in jener Zeit, in welcher das Geld fast noch einen doppelten Werth hatte, die Aussicht, seine Geschäfte in der ersprießlichsten Weise ausdehnen zu können.

Beer Markus und die Schwestern nahmen eine besondere Wohnung, meine Eltern bezogen ein Haus in der Vorstadt, das zur Freude meiner Mutter hinter dem großen Hofe, auf welchem sich die Waarenremisen befanden, einen kleinen Garten hatte. Sie richteten sich ansehnlich und behaglich ein, und in diesem Hause in der Vorstadt bin ich an einem Sonntag Morgen geboren worden.

Mein Vater stand in seinem vierundzwanzigsten Jahre, meine Mutter im einundzwanzigsten, als ich auf die Welt kam, und ich habe es immer als einen Vorzug betrachtet, ihr ältestes Kind gewesen zu sein, denn die Erstgeburt ist ohne alle Frage ein Glück für Denjenigen, welchem sie zu Theil wird. Ein eben solches [23] Glück aber war für uns Geschwister alle die frühe Heirath unserer Eltern. Denn wie mich immer der Gedanke gefreut hat, daß ich es war, durch welche die Eltern zuerst die Wonne der Elternliebe kennen lernten, daß ich sie zuerst Vater und Mutter genannt habe, so kam uns Allen, je mehr wir heranwuchsen, die Jugendlichkeit unserer Eltern überall zu statten. Sie empfanden die Mühe und Störniß welche wir ihnen verursachten minder schwer, als Personen vorgerückten Alters; sie hatten ein Verständniß für unsere Wünsche und Fehler, weil ihnen selbst die Erinnerung an die eigene Jugend noch so nahe lag. Und die Hauptsache war: wir selber fühlten uns ihnen, als wir herangereift waren, näher verwandt, als es bei bejahrten Eltern vielleicht der Fall gewesen wäre. Junge Eltern zu haben, ist für Kinder ein ganz unschätzbarer Gewinn.

Ich soll sehr klein gewesen sein, dafür aber den ganzen Kopf voll krauser schwarzer Locken gehabt haben, als man mich meinem Vater brachte. »Ich habe mich sehr mit Dir gefreut!« sagte er mir einmal, als ich ein junges Mädchen war und in meiner Gegenwart die Rede auf meine Geburt kam; und noch in viel spätern Jahren pflegte er wohl gelegentlich meinen Kopf in seine Hände zu nehmen, und wenn er mich küßte, dazu sehr zärtlich: »mein ältestes Kind!« zu sagen. Wir haben einander sehr geliebt.

Meine Mutter konnte mich nicht selbst nähren. Man nahm daher eine Amme in das Haus, eine schöne, blonde und sehr fröhliche Person, die mehrere Jahre bei uns blieb, und die heute noch gesund und rüstig in meiner [24] Heimath lebt. Meine Eltern waren in den ersten Monaten nach meiner Geburt so glücklich, als ein schönes, junges, sorgenfreies Menschenpaar, das sich zärtlich liebt, es mit seinem ersten Kinde nur sein kann. Indeß schon in der Mitte des Sommers von achtzehnhundert eilf veränderte sich das plötzlich.

Mein Vater ging am Mittage, wie gewöhnlich, nach der Börse, meine Mutter hatte mich auf dem Arme und begleitete ihn bis zur Hausthüre, von wo aus sie ihm grüßend nachsah, so weit sie konnte. Dann ging sie in das Haus zurück, legte mich zu Bett und saß ruhig an meiner Wiege, als etwa eine halbe Stunde nachdem er sich entfernt hatte ein Feuerlärm von der Straße gehört wurde, und gleich darauf mein Vater bleich und mit dem Ausruf: die Speicher brennen! in das Zimmer meiner Mutter trat.

Wer Königsberg kennt, weiß, was dieser Ausruf zu bedeuten hat. Für Denjenigen, der es nicht kennt, bedarf es aber einer Erklärung, den Schrecken zu rechtfertigen, welchen eine solche Nachricht in meiner Vaterstadt erzeugt. Königsberg ist nämlich eine alte und aus drei besonderen Ortschaften zusammengewachsene Stadt. Sie besteht aus der Insel Kneiphof, aus der Altstadt und aus dem Löbenicht, welche einst besondere Stadtgerechtsame hatten und von deren Sonderwesen noch jetzt die drei Rathhäuser, die drei Junkergarten und ein Paar der übrig gebliebenen Thore und Thürme Zeugniß geben, mit welchen die Städte einst gegen einander abgesperrt gewesen sind. Der Pregel, welcher den ganz auf Pfählen erbauten Kneiphof umfließt, zieht sich in [25] zwei Armen auch durch die andern Stadttheile hin, und ist mit sieben Brücken überbaut, welche jetzt die Verbindung in und zwischen den verschiedenen Stadttheilen unterhalten. Vor alten Zeiten hatte jede der drei Städte ihre Scheunen und Speicher besonders, und jede auf einem besonderen Flecke, massenhaft zusammengebaut. Indeß als die Städte vereinigt worden waren, hatte der Handel sich ganz und gar nach dem Kneiphof gezogen, der als Insel den leichtesten Wasserverkehr zuließ, dessen Wasserumgebung die tiefste war, und der, wenn auch noch eine Meile davon entfernt, so doch in grader Linie vor dem Ausfluß des Pregels in das frische Haff gelegen war, wodurch er den Schiffen, weil sie keine Brücke zu passiren hatten, das leichteste Einlaufen an seine Kai's gewährte. Mit der Zeit hatte sich also auch der bei weitem größte Theil der Kaufmannschaft in dem Kneiphof und in seinen beiden Vorstädten angesiedelt, welche nur durch die sogenannte grüne Brücke von ihm getrennt, und die vordere und die hintere Vorstadt geheißen wurden. Hart an dieser grünen Brücke lag und liegt, wie der ganze Kneiphof auf Pfählen erbaut, die unschöne, und wie ich glaube nur aus Fachwerk errichtete Börse, und vor der Börse stehend hat man zu seiner Rechten das grüne Thor mit seinem hohen Thurme, den Eingang in den Kneiphof, zu seiner Linken die grüne Brücke und die Vorstädte, und vor sich gen Süden den Ausfluß des Pregels, dessen beide Ufer weit hinaus mit ganzen Stadtvierteln von Speichern besetzt sind. Das rechte Pregelufer heißt die Lastadie. Eine Fähre führt, der Zeitersparniß wegen, vom Kneiphof [26] dicht hinter der Königlichen Bank zur Lastadie hinüber, auf der sich die größte Anzahl der Speicher befindet. Auf dem linken Pregelufer liegt die Vorstadt, und dort reichten und reichen die Speicher bis dicht an die Hintergebäude der Wohnhäuser hinan.

Nun war Königsberg damals noch weit mehr als jetzt die Vermittlerin des Handels zwischen Polen und Rußland mit Deutschland und dem übrigen Norden von Europa, und es lagerten also in seinen Speichern, namentlich während der Schifffahrtszeit, große Massen von Getreide, Hanf, Flachs, Holz, Rinde, Matten, Oel, also lauter Gegenstände, welche eben so leicht Feuer fingen, als sie gemacht waren, es schnell durch die Reihen der Speicher fortzupflanzen, die obenein zum großen Theile nur Fachwerkbauten waren.

An dem gedachten Tage also, – es war am hohen Mittag des vierzehnten Juni und die Jahreszeit schon lange heiß und trocken, – befand sich die Kaufmannschaft eben an der Börse, als sich die Nachricht verbreitete, es sei nahe bei der Hanfwaage, auf der Vorstadtseite, im Heeringshofe ein Feuer ausgebrochen. Da nun während der Kontinentalsperre der Heeringshandel danieder lag, war der Heeringshof als Ablagerungsplatz für große Vorräthe von Oel, Talg, Theer und Pech eingeräumt worden, und kaum war die Kunde von dem Feuer nach der Börse gelangt, so schossen auch schon die hellen Flammen in die Höhe, flogen bereits aus der benachbarten Hanfwaage die brennenden Hanfbündel durch die Luft, zündend und Feuer erzeugend, wohin sie fielen. In Zeit von einer halben Stunde brannte es [27] an mehreren Stellen. Dazu lag der Pregel dicht voll von Schiffen und von jenen flachen, russischen und polnischen, floßartigen Fahrzeugen, Wittinnen genannt, die alle ebenfalls mit brennbaren Waaren schwer beladen waren, und die, weil sie sich bestrebten, aus dem Hafen fort, und hinaus in das Freie zu kommen, so in einander geriethen, daß jedes Entrinnen für sie unmöglich wurde. Schiffe und Wittinnen zu erleichtern, warf man einen Theil ihrer Ladung in das Wasser, auch aus den Speichern rollte man Oel- und Spiritusfässer in den Pregel, und bald standen nicht nur die beiden Seiten des Flusses, sondern der Fluß selbst in hellen Flammen. Die Schiffe und Kähne brannten, der ganze Pregel brannte, das aus den Fässern ausgeflossene Oel brannte zusammen mit den Hanfladungen der Wittinnen auf dem Wasser.

Die ganze Lastadie, die sämmtlichen Speicher auf der Vorstadtseite, die ganze, dem Kneiphof zunächst gelegene, vordere Vorstadt, und alle mit ihr zusammenhängenden Straßen bis in die hintere Vorstadt hinaus, die grüne Brücke und die Börse, wurden ein Raub der Flammen, und noch Monate nachher bezeichneten Rauchwolken die Stellen, an denen man hie und da unter den Trümmern Nachgrabungen zu unternehmen versuchte.

Mein Vater hatte gleich beim Ausbruche des Feuers meine Mutter mit mir und meiner Amme durch unsern treuen Hausknecht, – man nannte in Königsberg einen solchen einen Faktor, – auf einem weiten Umwege zu einer befreundeten Familie in den Kneiphof geschickt, welche in der Brodbänkenstraße unweit vom Domplatz [28] wohnte. Der Faktor, er hieß Hermann Kirschnik und war in meiner und meiner Geschwister Kindheit unser großer Freund, trug in einem Bündel meine Betten. Meine Mutter und meine Amme hatten Wäsche für mich zusammengepackt, und als nach dem Verlauf von mehr als vierundzwanzig Stunden mein armer Vater zum ersten Male wieder zu seiner jungen Frau kam – seine Kleider zerfetzt, seine Schuhe zerrissen und verbrannt, er selbst von Staub, Schweiß und Asche bedeckt, von Hunger und Anstrengungen erschöpft und bleich, – da waren seine Frau, sein Kind und die Betten und Wäsche seines Kindes das Einzige, was er aus seinem Hause hatte erretten können, das Einzige, was er aus demselben noch besaß. Der Brand – er wird in Königsberg der Vorstädtische Brand genannt – hatte ihn so gut wie ruinirt, denn ein unglücklicher Zufall hatte denselben für ihn noch besonders verderblich gemacht.

Die Feuerversicherung für den größten Theil der Waarenbestände des Hauses und für meines Vaters Mobiliar war nämlich grade an dem Tage fällig geworden. Weil mein Vater und sein Bruder aber einige Veränderungen darin zu machen gewünscht hatten, lag die ablaufende Police an jenem Morgen noch auf seinem Pulte im Comptoir, und er hatte die Absicht gehabt, diese Angelegenheit, sobald er von der Börse käme, in Ordnung zu bringen, d.h. die etwas umgeänderte Police prolongiren zu lassen. In diesem entscheidenden Augenblicke aber war das Feuer ausgebrochen, und aus ihrem hübschen Hause, aus sorgenfreien Umständen, sahen meine Eltern sich plötzlich in eine sehr schlimme und sehr schwere Lage versetzt.

[29] An eine neue hübsche Wohnung wie die bisherige war für meine Eltern, in ihren veränderten Verhältnissen und bei den um das dreifache gesteigerten Wohnungspreisen, nicht zu denken. Sie mußten froh sein als sie am obern Ende der Brodbänkenstraße ein Paar Zimmer zur Miethe fanden. Die Verwandten meiner Mutter, welche in dem Kneiphof wohnten und also von dem Brandunglück verschont geblieben waren, halfen für den Augenblick mit Wäsche, Hausrath und Möbeln aus, bis das Nöthige wieder herbeigeschafft werden konnte, und es bedurfte von Seiten meines Vaters und seines Bruders der größten Anstrengungen, um ihr Geschäft aufrecht zu erhalten und die gehabten schweren Verluste nur einigermaßen auszugleichen. Meiner Mutter Vermögen wurde dabei zum Opfer gebracht, und unsere Familie war mit ihrer Existenz von da ab allein auf meines Vaters Thätigkeit gewiesen, welche glücklicher Weise in den Ereignissen der nächsten Jahre ein reiches Feld fand, sich mit Nutzen geltend zu machen.

Königsberg hatte nämlich kaum Zeit gehabt, sich von seinem Brandunglücke zu erholen, als mit den beginnenden Durchmärschen der französischen Truppen, welche nach Rußland zogen, eine für den Kaufmannsstand Preußens sehr bedeutende Epoche eintrat. Vom Frühling des Jahres achtzehnhundert und zwölf ab glich die ganze Provinz Ostpreußen einem großen Heerlager, und es gab einen Zeitpunkt, in welchem dort durch mehrere Wochen dreimalhunderttausend Mann Fußvolk und über vierzigtausend Mann Reiter versammelt waren. Das Land wurde von dieser Last völlig ausgesogen [30] und erdrückt, die Noth, die Plagen und die Theuerung in den Städten waren ungemein groß; aber wer irgend welche Waare zu verkaufen hatte, konnte die höchsten Preise dafür erhalten, und bei dem ungeheuren Menschen- und Geld-Verkehr, bei den großen Unternehmungen welche für die Verpflegung dieser Heeresmassen nöthig waren, gehörte das Geld selbst zu einem der wichtigsten Handelsgegenstände, so daß die Banquiers und Geldwechsler bedeutende Geschäfte machten, und großen Gewinn davon hatten.

Mein Vater hatte, sobald es möglich gewesen war, die enge Wohnung, welche die Eltern nach dem Brande inne gehabt, wieder verlassen, und ein dreistöckiges, zwei Fenster breites, auch in der Brodbänkengasse gelegenes Haus bezogen, welche Brodbänkengasse die Hauptstraße des Kneiphofs, die Langgasse, mit dem Rathhausplatze verbindet. Sein Geschäft war wieder aufgeblüht, und neben dem frühern Speditionshandel hatten die Brüder angefangen ein bedeutendes Geldgeschäft zu betreiben. Meines Vaters älterer Bruder Beer, sein jüngster Bruder Friedrich Jakob, der achtzehnhundert acht und fünfzig in Breslau als Direktor der Oberschlesischen Eisenbahn in Breslau gestorben ist, sein Vetter der noch in Stuttgart lebende bekannte Schriftsteller August Lewald, und einige Handlungsgehilfen waren in dem Hause thätig, und da der älteste Onkel wenig über dreißig Jahre, mein Vater fünfundzwanzig, sein jüngster Bruder achtzehn und August Lewald zwanzig Jahre alt war, so bildeten sie bei aller auf ihnen lastenden Arbeit, und mitten in den Drangsalen der Kriegszeit, von denen kein Haus verschont [31] blieb, doch eine sehr fröhliche Gesellschaft, die keine Gelegenheit von sich wies, sich und Andern Lebensgenuß zu bereiten. Mein Onkel Friedrich Jakob und unser Vetter August Lewald wohnten im Hause meines Vaters. Sie waren sehr hübsche junge Männer; die Schwestern meines Vaters, von denen Johanna eine blendende Schönheit war, als welche ich selbst sie noch in ihren spätern Jahren gekannt habe, waren vielfach anwesend, und obschon man sich durch die zahlreiche Einquartierung in seinen Wohnungen über alle Gebühr beschränkt fand, so waren doch unter diesen unwillkommenen Gästen auch viele sehr gebildete und rücksichtsvolle Männer, mit welchen es sich gut verkehren ließ, und die bemüht waren, die Unbequemlichkeiten und Mühen, welche sie verursachten, durch Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit vergessen zu machen. Mancher Franzose, der mit schwerem Herzen Weib und Kinder in der Heimath zurückgelassen, war obenein sehr glücklich, ein Paar Tage in einer fremden Familie sich der Seinen zu erinnern. Es bildete sich also fast überall, auch in dem Hause meiner Eltern, eine Geselligkeit zwischen den Wirthen und der Einquartierung aus, und wenn die letztere, wie es hie und da der Fall war, längere Zeit an dem Orte verweilte, schied man bisweilen von den feindlichen Soldaten, wie diese sich von ihren Wirthen trennten, mit dem Bedauern, im Grunde doch Feinde zu sein.

Die eigentliche Königsberger Lebensweise, bei der man um sieben oder acht Uhr ein erstes, um eilf Uhr ein zweites Frühstück, um ein Uhr das Mittagsbrod einnahm, und dann noch mit Kaffee, Imbiß und Abendbrod [32] zwei drei Mahlzeiten zu machen hatte, mußte in vielen Familien nach dem Wunsche der Einquartierung geändert werden. In den Kaufmannshäusern wich sie dem großen Arbeitsandrange als Nothwendigkeit. Man richtete sich auf ein gehöriges Gabelfrühstück und auf ein Abendbrod ein, das dann reichlicher als das sonst gewohnte ausfiel, oder man aß gar erst nach dem Theater die Hauptmahlzeit, wobei dann oft bis tief in die Nacht hinein gewacht wurde. Diese veränderte Lebensart, diese schnell hinfluthende Existenz, in die sich das Militär mit seinem auf den Augenblick angewiesenen Dasein hineinmischte, in der gereifte Krieger von ihren abenteuerlichen Feldzügen durch ganz Europa, von ihren Siegen an den Pyramiden, von dem Glanze des Pariser Lebens und von den Wunderthaten ihres Kaisers erzählten, in der junge Soldaten von Ehren, Ruhm und Auszeichnungen sprachen, mit der sichersten Gewißheit sie zu erreichen, hatte etwas Berauschendes, Etwas, was die Phantasie anregte, und auch mittelmäßige und gleichmüthige Menschen über sich selbst hinauszutragen geeignet war. Man hatte den Sohn eines Pastetenbäckers König von Neapel werden und den Sohn eines Advokaten zum Beherrscher der Welt emporwachsen sehen. Junge, aus den untern Volksschichten hervorgegangene Männer durchzogen als Generale und Marschälle die Welt, welcher ihr Herr seine Gesetze vorschrieb; und wenn ich in spätern Jahren in Preußen in den Familien, von den Franzosen und von den Kriegsjahren erzählen hörte, geschah es immer mit einer Erregung, welche nicht allein von dem Zorne gegen die Feinde des Vaterlandes [33] herrührte. Es schien mir vielmehr, als drücke sich in solchen Mittheilungen eine ungewöhnlich lebhafte Erinnerung aus, als hätten die Menschen ein Bewußtsein oder doch mindestens eine Empfindung davon, daß sie in jener Zeit, welche recht eigentlich eine Zeit für die Jugend gewesen sein muß, weil überall die Jugend herrschte, ein volleres, ein frischeres Leben geführt hätten, als es ihnen sonst in der Ruhe der entlegenen Provinz jemals zu Theil geworden war. Selbst wo man sich über die Franzosen zu beschweren, wo man ihren Anmaßungen entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen gehabt hatte, war man sich eben dadurch seiner Persönlichkeit und seiner Kraft bewußt geworden; und so hart die Kriegsjahre auf dem Lande gelastet hatten, boten sie doch in der Erinnerung fast Jedem auf die eine oder die andere Weise etwas dar, das ihn innerlich erwärmte und erhob, wenn er es mit der stumpfen Ruhe verglich, welche die darauf folgende Epoche kennzeichnete.

In den jüdischen Familien befand man sich obenein gegenüber der französischen Invasion in einem sehr erklärlichen Zwiespalt. Die französische Revolution hatte die staatliche Gleichberechtigung der verschiedenen Kulte in Frankreich festgestellt, und wenn Napoleon auch seinen Frieden mit der katholischen Kirche gemacht hatte, so hatte er es doch nicht gewagt, die Glaubensfreiheit und die staatliche Gleichberechtigung der verschiedenen Religionsbekenntnisse anzutasten. In Frankreich, und wohin die französische Herrschaft sich ausbreitete, waren die Juden emancipirt; in Preußen lasteten Unfreiheit und Verspottung auf ihnen. Es ist also natürlich, daß in jener [34] Zeit sich in vielen Juden die Frage regte: ob Freiheit unter einem fremden Herrscher nicht der Knechtschaft unter einem heimischen Fürstenstamme vorzuziehen sei? Und es ist nach meiner Meinung nie genug gewürdigt worden, wie groß die Selbstverläugnung und die Vaterlandsliebe der Juden gewesen sind, welche sich im Jahre 1813 als Freiwillige den Kämpfern gegen Frankreich angeschlossen haben, um einem Lande seine Freiheit wieder erobern zu helfen, welches ihnen selbst keine Freiheit, wohl aber Kränkungen und Beschränkungen aller Art dafür zum Lohne bot. Das Verhalten der modernen Staaten, das Verhalten unseres Jahrhunderts gegen die Juden, mag man diese als abweichende Religionspartei oder als eine fremde Nation betrachten, wird einmal ein besonderes Kapitel in der Kulturgeschichte einnehmen: ein Kapitel, welches merkwürdig sein wird durch die begangenen Ungerechtigkeiten und durch den Mangel an Logik in den Thatsachen von denen es handelt. Daß die Bekenner des einen Kultus die Bekenner des andern Kultus verdammen, daß eine Race eine Abneigung gegen die andere empfindet, das ist zwar sehr unvernünftig, aber nicht auffallend, und die Urgeschichte der Juden selbst liefert dafür das Beispiel. Sie hätten kaum Etwas dagegen sagen dürfen, wenn die Germanische Race z.B. es fest ausgesprochen und durch ihre Fürsten hätte ausführen lassen, daß sie die Juden verabscheue und keine Juden wolle neben sich wohnen lassen – vorausgesetzt, die Germanische Race hätte dies wie die Juden vor zweitausend Jahren oder doch mindestens in den vorchristlichen Zeiten sagen können und gesagt. Daß [35] man die Juden aber in den christlichen Staaten zuließ, daß man sie die Staatslasten mit tragen ließ, daß man ihnen die Bürgerpflichten auferlegte, sie allmälig für alle Leistungen emancipirte und sie dennoch von dem Genuß der vollen Rechte eines Staatsangehörigen und Bürgers ausschloß, das ist jenes Verhalten, welches die Kulturgeschichte einst mit allen seinen ernsten und lächerlichen Einzelheiten in ihren Büchern zu verzeichnen haben wird.

Mein Vater wußte die französischen Institutionen, so weit sie den Juden zu Statten kamen, sehr wohl zu würdigen. Die Lebhaftigkeit der Franzosen sagte ihm daneben zu, ihre Sprache war ihm geläufig und er hegte für Napoleon, dem er beiläufig überraschend ähnlich sah, eine Sympathie, welche sich ganz auf den Kaiser als Person bezog. Das Beharrliche, das Selbstgewisse, das in sich Abgeschlossene und auch das Gewaltthätige im Charakter des Kaisers fanden in der Natur meines Vaters ein verwandtes Element, und der wunderbare Lebensweg, welchen jener Mann gegangen war, hatte für meinen Vater den Reiz, den ein außerordentliches Wollen und Können, und die Gewahrung eines ebenso außerordentlichen Gelingens für jeden kräftigen Charakter haben müssen. Ein blinder Verehrer des Kaisers war er nicht, aber ich kann es mir nicht denken, daß er in jener Zeit ein leidenschaftlicher preußischer Patriot gewesen sein sollte. Vorliebe für ein Land zu empfinden, nur weil er zufällig in demselben geboren, oder ein Herrscherhaus besonders zu lieben, blos weil es das Land besaß, in welchem er geboren worden war, das lag nicht in seiner [36] Art. Er verehrte Friedrich den Großen, wie er Napoleon verehrte, als bedeutende Menschen, indeß die preußischen Zustände waren von dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelm's des Zweiten bis zu dem Beginn der Freiheitskriege nicht dazu angethan, irgend einen Enthusiasmus zu erregen, am wenigsten in der Seele eines Mannes, dessen Vater durch die Willkür der Regierung in das Gefängniß geworfen worden war, und der selbst von den engherzigen Gesetzen des Landes zu leiden gehabt hatte.

Aber es war ein anderes Element, welches ihm den Gedanken an eine dauernde Fremdherrschaft unannehmbar machen mußte: mein Vater wurzelte mit seiner ganzen Bildung in Deutschland. Er liebte den deutschen Geist, er liebte und bewunderte die deutsche Literatur und ihre Klassiker mit tiefem Verständniß, und da jeder Mensch das Produkt seiner Zeit und ihres Geistes ist, so hatte ein Zug der damaligen Romantik höchst eigenartig neben dem scharfen Verstande meines Vaters Platz gefunden, der an sich allein hingereicht haben würde, ihm die Fremdherrschaft im Lande verhaßt zu machen, wenn dem selbstherrlichen jungen Manne nicht ohnehin die Willkür des Eroberungszuges im Allgemeinen, und die Willkür und Anmaßung der einzelnen Franzosen in seinem Hause unerträglich gewesen wären. Meine Mutter und meines Vaters jüngste Schwester, welche während jener Zeit ganz bei meinen Eltern lebte, um mei ner Mutter mit ihrer Kenntniß der französischen Sprache auszuhelfen, erzählten mir später oftmals, welche Angst der Vater ihnen verursacht, wenn er jeder unbilligen Forderung der Einquartierung [37] das Genügen verweigert habe, jeder ihrer Anmaßungen entschieden entgegengetreten sei, und wo er nicht selbst sein Recht wahren konnte, augenblicklich die Abhülfe und Genugthuung von den französischen Behörden verlangt habe, obschon man preußischer Seits auf das Dringendste vor einem feindlichen Auftreten gegen die Franzosen gewarnt und selbst die Magistrate in besondern Erlassen die Bürger zu geduldigem Ertragen aller Unbill ermahnt hatten.

Einmal, als auch ein älterer französischer Offizier ich weiß nicht welche übertriebene Forderung stellte, hatte mein Vater dies angezeigt und seine Entfernung aus dem Hause begehrt, ohne sie erlangen zu können. Der Offizier hatte einen Verweis erhalten, war aber im Hause geblieben, und hatte, obschon er sich von da ab in seinen Grenzen hielt, gedroht, er werde sich an meinem Vater rächen. Dieser hatte davon gar keine Notiz genommen, man hatte dem Offizier sein Essen, das er sonst am Familientische erhalten, seit dem Zerwürfniß auf sein Zimmer geschickt, und meine arme Mutter, welche keine Sylbe französisch verstand, hatte dadurch dreifach unter der Sorge gelitten, was der Offizier dem Vater anthun und was er mit ihm beginnen werde. Es ließ ihr nicht Tag nicht Nacht Ruhe, sie glaubte, man verberge ihr was der Offizier gesprochen, und als das Corps, zu dem er gehörte, Marschordre bekam, zählte sie die Stunden bis zum Aufbruche desselben. Die Tage vergingen jedoch ganz ruhig, der Abend vor dem Aufbruch kam heran, und es war nichts geschehen. Da sitzt meine Mutter, nachdem es dunkel geworden, in der [38] Kinderstube, in der man mich zu Bette brachte, als sie plötzlich ein furchtbares Schreien, ein Poltern, Schimpfen und einen Fall auf der Treppe hört. Sie stürzt hinaus und sieht bei der schwachen Beleuchtung der Flurlampe den Franzosen mit einer Hetzpeitsche in der Hand, der drohend gegen die untere Etage gewendet da steht und wüthend gegen Jemand hinunterspricht, welchem unten bereits die Hausgenossen zu Hülfe eilen. Ueberzeugt, daß es mein Vater sei, der von dem Franzosen gemißhandelt worden, fliegt sie nach der Treppe, aber der Offizier hatte das Opfer seiner feigen Rache verfehlt, und einer von den Handlungsgehülfen hatte die Peitschenhiebe empfangen, welche Jener meinem Vater zugedacht. Der Offizier hatte es sich nämlich gemerkt, daß mein Vater um die Dämmerungszeit gewöhnlich nach der Kinderstube ging, um mich vor Nacht noch zu sehen, und darauf fußend, hatte er sich in einer Ecke des Flures verborgen, von der aus er seinen Anfall unternehmen konnte. Indeß mein Vater war dies mal länger im Comptoir festgehalten worden, ein Commis hatte für ihn gelitten, und da der Erstere also heil und unversehrt war, erlangte er noch an dem Abende die Arretirung des Offiziers. – Im Ganzen aber waren die Klagen über die Rohheit mancher deutschen Truppen, namentlich der Hessen, Baiern und Würtemberger, in Preußen viel größer, als die Beschwerden über die Franzosen, und man rühmte diesen Letzteren im Allgemeinen große Rücksicht für Kranke und große Freundlichkeit für Kinder nach.

Durch zwei und ein Viertel Jahre blieb ich das [39] einzige Kind meiner Eltern. Meine Mutter hatte also Zeit sich viel mit mir zu beschäftigen. Sie war ungemein freundlich und lieblich, meine Amme war jung, froh und sehr redselig, und es war also kein Wunder, daß ich früh und gleich sehr deutlich sprechen lernte. Sie sagten mir, ich hätte von jeher ein starkes Gedächtniß gehabt, und noch vor dem Ende meines zweiten Jahres Verse vor mich hin gesprochen, die ich irgendwie aufgeschnappt hatte, und die ich doch bis zu einem bestimmten Grade auch verstehen mußte, weil ich sie hie und da richtig anzubringen wußte. Ein solcher Fall, der mir meine frühe Klugheit beweisen sollte, war nach der französischen Retirade aus Rußland, im Anfang des Jahres Dreizehn, nicht lange vor meinem zweiten Geburtstage vorgekommen.

Es waren damals eine Menge französischer Lieder im Schwange, und wieder andere, die irgend welche damals interessirende Zustände in gebrochenem Deutsch behandelten. Meine Mutter hatte eine liebliche Stimme, und muß wohl das Liedchen von »Jean Grillon«, das in aller Leute Munde war, vielfach gesungen haben, denn ich hatte es theilweise behalten und weiß es noch auswendig, da die Mutter es auch in späteren Jahren noch manchmal für uns sang. Es lautete:


Ich bin ein Franzose, mes dames,
Comme ça mit die hölzerne Bein,
Jean Grillon ist mein Name,
Mein Stolz ist die hölzerne Bein.
Ich scherze, ich küsse, ich kose,
Comme ça mit die hölzerne Bein,
Im Herzen, da bleib ich Franzose,
Und wär' ich auch außen von Stein.

[40] Nun fügte es sich eines Tages, daß wieder einmal ein Trupp retirirender Franzosen ankam, von denen Einer, dem das Bein in Rußland erfroren und abgenommen worden war, ein Quartierbillet auf unser Haus erhielt. Als man den Schwerleidenden vom Wagen gehoben und in das Zimmer gebracht hatte, befand ich mich in demselben. Ich sah den Offizier verwundert an, denn er hatte einen Stelzfuß, lief dann auf ihn zu und rief freundlich: »Comme ça mit die hölzerne Bein!« – Da stürzten dem noch jungen Manne die Thränen aus den Augen. »Ich habe auch solch ein Kind, solch ein Mädchen zu Hause«, sagte er zu meinem Vater, und diesem die Hand reichend, fügte er hinzu: »um dieses Kindes willen, haben Sie Mitleid mit mir, ich leide fürchterlich!« – Das war ein Anruf, der nicht unbeachtet geblieben wäre, hätte das Elend des jungen Franzosen nicht ohnehin alle Theilnahme für sich in Anspruch genommen. Er blieb also lange in unserem Hause, wurde sorglich gepflegt, und verließ Königsberg erst kurz vor dem Ausbruch des Kampfes im Frühjahr Achtzehnhundertdreizehn. Mir hatte er eine Schnur Perlen von Malachit zum Andenken geschenkt, die ich bei einem Kinderfeste verloren habe, als ich sieben, acht Jahre alt war. Sie waren sehr wahrscheinlich in Rußland erbeutet, d.h. gestohlen worden, ich beweinte aber seiner Zeit deshalb ihren Verlust nicht weniger.

Die russische Beute spielte überhaupt in Königsberg, das heißt in seinem Handel und namentlich in dem Banquier- und Wechselgeschäfte meines Vaters, durch die ganze Zeit der Retirade eine große Rolle. Elend und [41] leidend, wie das französische Heer, oder vielmehr die Trümmer desselben, aus Rußland zurückkehrten, schleppten sie doch noch eine ungeheure Beute mit sich, und waren bei der Eile ihrer Flucht bemüht, dieselbe um jeden Preis gegen deutsches oder französisches Geld umzuwechseln. Wahllos und leidenschaftlich, wie sie geraubt hatten was ihnen unter die Hände kam, hatten sie aus den Kirchen, aus den Klöstern, aus den Schlössern und aus den Familien oft unechten Flitter mitgenommen, in welchem sie Gold und Brillanten zu besitzen glaubten. Indeß waren durch Franzosen auch ungewöhnliche Kostbarkeiten in so außerordentlicher Menge in Königsberg vorhanden und zu kaufen, daß es damals ein Leichtes war, sich die prächtigsten Silbergeräthe und fürstlichen Schmuck um sehr geringen Preis anzueignen. Wahrhaft ungeheure Werthe sind auf diese Weise durch meines Vaters Hände gegangen, und die alte Silberschmelze meines Großvaters, die ziemlich in Vergessenheit gekommen war, wurde nun wieder in neue Thätigkeit gesetzt. Altargeräthe, silberne Apostel und Heilige, Kandelaber und Ziergeräthe aus christlichen und jüdischen Kirchen wanderten in den Schmelztiegel; der Schmuck wurde zerbrochen, die Steine verkauft, die Fassung eingeschmolzen, und die Gold- und Silberbarren wanderten nach Rußland und nach Berlin, wo man Geld für die Zurüstungen zu dem bevorstehenden Kriege zu prägen hatte.

Der Ertrag dieser Geschäfte war sehr groß, aber die Mühe und Plage, welche mit ihnen verbunden, waren es nicht minder. Reihenweise, so erzählte meine Mutter, hielten die Schlitten der flüchtenden Verwundeten Tag [42] und Nacht in der schmalen Straße vor unserm Hause. Krüppel und Kranke aller Art drängten sich in dem Comptoir; die Hausflur war voll von ihnen, und das Bitten und Flehen, ihnen ihren Raub abzunehmen und ihnen dafür Geld zum Vorwärtskommen zu geben, soll oft herzzerreißend gewesen sein.

Man war seit dem Jahre achtzehnhundert und sieben in Ostpreußen an viel Noth und Elend, an Verwundete und Seuchen gewöhnt genug. Nach den Schlachten von Eilau und Friedland hatte Königsberg Tausende von Verwundeten und die furchtbarsten Lazarethfieber in seinen Mauern gehabt. Man hatte aus den in Spitäler verwandelten Kirchen und Rathhäusern die Leichen, wie in Zeiten der Pest, zu Dutzenden auf einander geschichtet, in die dazu bereiteten Kalkgruben vor dem Friedländer Thore fortfahren sehen. Aber das Elend und der Jammer dieser Retirade sollen noch größer, und der Vergleich dieser Flucht mit dem stolzen Siegerzuge, der nach Rußland gegangen war, ein furchtbarer gewesen sein.

Alle öffentlichen Gebäude lagen wieder voll Verwundeter. Der Typhus und das Lazarethfieber wütheten in der Stadt, die Aerzte starben mit den Kranken. Aus den Junkerhöfen, die wieder Lazarethe geworden waren, warf man die Todten auf die Straße in die Karren hinab; in den Privathäusern wüthete der Typhus nicht minder heftig. Von zwei zu zwei Stunden machte man in meinem Vaterhause Räucherungen von Essig und Nelken, die man über glühende Steine goß, um sich vor der Ansteckung durch die Fremden, welche in das Comptoir kamen, zu bewahren. Die Theuerung, die täglichen [43] Bedrängnisse und Gefahren, die Anforderungen, welche an die Kraft jedes Einzelnen, so der Männer wie der Frauen, gestellt wurden, waren außerordentlich groß. Aber man hatte sich allmälig gewöhnt, das Ungewöhnliche zu leisten, man war in einer Aufregung, welche über den Moment hinweghalf. Und als dann, noch während der Retirade, zu Anfang des Jahres achtzehnhundert und dreizehn der General Graf Wittgenstein, mit seinen Russen den Franzosen auf dem Fuße folgend, in Königsberg einrückte, wuchs auch die Hoffnung auf den Sturz der französischen Herrschaft wieder um so schneller und mächtiger aus den geheimen Gedanken der zur That gewöhnten Menschen empor.

Man hatte für den Augenblick eine Fremdherrschaft mit der andern, das französische Regiment mit dem russischen, die französische Einquartierung mit der russischen vertauscht, und diese letztere war in der Masse durch ihre Unkultur noch unbequemer als die groben Hessen und Baiern, oder gar als die Franzosen. Aber wie der erste Sonnenstrahl plötzlich die ganze Gegend erhellt und Alles aufklärt, was bis dahin in Nebel und Dämmerung gelegen hatte, so weckte die entschlossene That des Grafen York in allen Herzen das Bewußtsein, daß es keine Fessel gäbe, welche man nicht zu brechen vermöge, und daß man frei werden könne, wenn man frei werden wolle, vorausgesetzt, daß man entschlossen sei, Alles an Alles zu setzen.

Mich in meiner Kinderstube ging das fürs Erste allerdings nichts an. Ich empfand nur großes Vergnügen, als bei einem Scharmützel, welches vor den [44] Thoren von Königsberg zwischen einem Trupp fliehender Franzosen und den sie verfolgenden Russen stattfand, der Knall und das Knattern des Geschützes in unserm Hause zu vernehmen war, und freute mich an dem Hunde eines bei uns einquartierten Russen ganz eben so, wie ich mich an den Zuckerplätzchen des armen stelzfüßigen Franzosen gefreut hatte. Aber die gewaltigen Zeitereignisse und die Gewohnheit, große Schicksalswechsel zu erleben und erleben zu sehen, stählte den Charakter meiner Eltern. Sie gab ihnen jenes Gleichmaß, das sich in guten und in üblen Lagen bewährte, und jene Ruhe und Tüchtigkeit, deren Beispiel auf uns Alle segensreich gewirkt hat, ohne daß man uns die Eigenschaften besonders anzuempfehlen brauchte, für die man uns erziehen wollte.

[45]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Meine eigenen und sehr deutlichen Erinnerungen beginnen in der Zeit zwischen meinem vierten und fünften Jahre, und sind alle rein sachlich. Wir wohnten damals nicht mehr in dem zweifenstrigen Hause, welches meine Eltern während der Retirade inne gehabt, sondern waren im Frühjahr von achtzehnhundert und vierzehn in das gegenüberliegende dreifenstrige Haus, Nummer vierzehn, gezogen, das wir erst im Jahre achtzehnhundert und zwanzig verließen, und in welchem ich also meine ganze glückliche Kindheit zugebracht habe.

Es steht mir noch mit allen seinen Einzelnheiten vor Augen, als wäre ich gestern erst darin gewesen, und doch habe ich es, nachdem wir es aufgaben, niemals wieder betreten. Der ganze Theil der Brodbänkengasse, in welcher es gelegen war, hatte damals noch Wolme, d.h. etwa zehn Fuß hohe, in die Straße hinausgebaute Vorgebäude, zu denen in ihrer Mitte eine Treppe hinaufführte, so daß dieselben also unter den Fenstern des hohen Parterres zu beiden Seiten der Hausthüre einen Balkon bildeten. Diese Balkons waren mit Eisengittern einfachster Art umgeben, aber[46] die Eisengitter und das Treppengeländer hatten große Messingkugeln, schlechtweg »die blanken Kugeln« genannt, welche mit den großen Messing-Thürklopfern übereinstimmten, und die spiegelblank zu erhalten eine Ehrensache der Hausfrauen war. Im Sommer wurden diese Wolme mit Markisen überspannt, man setzte Bänke darauf hin, und wie die Erwachsenen dadurch einen Ort hatten, auf dem sie im Laufe des Tages und namentlich an den Sommerabenden Luft schöpfen konnten, so besaßen wir Kinder in unserm Wolm einen Spielplatz, der selbst im Winter, so eng er war, täglich von uns benutzt ward.

Die Hausthür öffnete in einen räumigen Flur. Ihr gegenüber ging es in das große und dunkle Comptoir, das, wie alle diese großen Parterrestuben der auf den Handel berechneten Häuser an der Nordküste von Deutschland, nur ein großes, breites, vielscheibiges Fenster hatte; und aus dem Comptoir führte eine Treppe in ein paar dunkle Zimmerchen, in die Kasse hinauf. Vorn im Hause lag an der linken Seite der Thüre eine einfenstrige Stube, das Entree. Es war rosa angestrichen, mit dunklen Mahagonimöbeln eingerichtet, und es hingen eine Anzahl sehr guter Kupferstiche darin, welche bis in mein eilftes, zwölftes Jahr für mich den ganzen Bereich der Kunst repräsentirten.

Es waren theils moderne englische Kupferstiche, und diese hatten keinen besonderen Werth, theils sehr gute Blätter nach alten Meistern, deren Originale ich später mit großer Rührung in den Gallerien von Frankreich und Italien wiedergesehen habe. Meine Vorliebe galt außer [47] einem englischen Kupferstich, auf welchem eine Mutter auf den hohen Alpen neben ihrem im Schnee erstarrten Töchterchen händeringend kniete, der Madonna von Hannibal Caracci, welche den kleinen Christus schlafend in ihrem Arme hält, und dem vor ihm stehenden Johanniskinde ein Zeichen macht, den kleinen Schläfer nicht zu wecken. Ein Paar Kirschen und andere Früchte lagen auf dem Boden neben ihr ausgebreitet, und erhöhten für meine Vorstellung die Schönheit des Bildes ungemein.

Dann war das Opfer des Abraham in zwei kleinen Blättern da. Das eine stellte den Patriarchen dar, wie der Engel ihm erschien, ihm das Opfer zu befehlen. Er hatte den kleinen Isaak neben sich, der nur mit einem Schurz bekleidet, inbrünstig mit gefalteten Händen betend, neben dem Vater kniete. Auf dem andern Bilde war der Holzstoß aufgerichtet. Die Flamme loderte empor, Isaak kniete gebunden vor demselben, und mit dem zum Opfer erhobenen Messer trat Abraham wie erschöpft zurück, als er in den Zweigen des Gebüsches, vor dem der Altar sich befand, das ihm von Gott gesendete Opferthier gewahrte. Als ich später die Iphigeniensage kennen lernte, stellten sich mir die Vorgänge immer unter den Formen dieser Abrahamsbilder dar, und ich war sehr verwundert, im Griechenthume und im Judenthume dergleichen Sagen so unverändert zu begegnen.

Endlich erfreuten mich in diesem Entree noch eine Reihe von drei, vier Männerportraits in mittelalterlichem Costüm. Wen sie darstellten – das eine war ein[48] Portrait von Titian, das andere das Holbeinsche Portrait des Morel, des Goldarbeiters von Heinrich VIII., dessen Original sich in Dresden im Saale der Holbeinschen Madonna befindet – wen sie darstellten, das ahnte ich damals nicht. Aber das war mir nur um so bequemer, denn dadurch galten sie mir je nach meinem Bedürfniß für biblische Helden oder für Zauberer und Ritter, und unter jeder Voraussetzung waren sie mir schön und werth. Was hätte mir es auch geholfen, wenn man mir einen Namen genannt hätte, mit dem ich keinen Begriff verbunden, oder wenn man mir einen Namen und einen Begriff beigebracht hätte, mit denen ich keinen innern Zusammenhang haben konnte? Es kommt bei Kindern nur darauf an, daß sie nichts Häßliches sehen; wofür sie das, was sie sehen, halten, das ist ganz gleich, und je unbefangener man ihre Phantasie walten läßt, um so mehr Genuß haben sie davon.

Zu diesem Entree hatten wir Kinder freien Zutritt. Meine Mutter benutzte es wenig. Es diente meinem Vater zu Privatbesprechungen in Geschäftsangelegenheiten, und da es aus diesem Grunde im Winter auch geheizt wurde, hatten wir einen Spielplatz und eine Abwechselung mehr für unsere Existenz.

Oben im ersten Stock nahm der sogenannte Saal die ganze Fronte nach der Straße ein. Er wurde nur an Gesellschaftstagen geöffnet, und obschon ich jedes Stück in demselben auf das Genaueste kannte, hatte er, wenn die weißen Gardinen an der Glasthür nach dem Flur herabgelassen waren, für mich einen so geheimnißvollen Reiz, daß es mir schon ein Vergnügen gewährte, durch [49] das Schlüsselloch oder durch eine Spalte in der Gardine hineingucken zu können. Er war kornblau und hatte, da die Eltern ihn nicht von einem gewöhnlichen Stubenmaler, sondern von einem Professor Huhn hatten ausführen lassen, achtzig Thaler zu malen gekostet. Am Plafond war eine Göttin, ich glaube eine Viktoria oder Fama, in gelben Bronzefarben dargestellt, von der große vergoldete Sonnenstrahlen über die ganze Decke ausgingen. Oben an der Wand zog sich eine Borte von Vögeln hin, weiße Fasanen, die aus Bronzekörben sehr hölzerne Früchte aßen, und die mir wie die größten Wunderwerke der Malerei erschienen. Zwei große Spiegel zwischen den Fenstern hatten Tischchen von weißem Marmor vor sich, die von Bocksfüßen in Holzschnitzerei getragen wurden. Auf den Marmorplatten standen blaue Vasen mit Ansichten aus der sächsischen Schweiz, und in der Ecke eine Art runder Etagère, deren Bretter, sie hatte ihrer drei in abnehmender Größe, zu drehen waren. Man nannte dies Möbel damals eine Servante, besetzte es mit schön gemalten Tassen und kleinen andern Geräthen, und meine Mutter besaß eine große Anzahl zum Theil sehr schöner Tassen. Die Möbel des Saals waren ganz im Geschmack des Kaiserreichs, hart gepolstert und sehr unbequem. Vor dem Sopha lag ein sehr großer englischer Teppich mit breiter Blumenborte, und dann umschloß dieser Saal noch zwei Prachtstücke: eine Tischdecke von grauem Kasimir, auf der ein großes Hortensienbouquet mit schönen grünen Blättern in petit point gestickt war, und ein kaum spannhohes rundes Tischchen von grauem Marmor, das auch auf der Servante stand [50] und das, wenn man die geheime Feder drückte, sich aufthat und einen Nähapparat unter einem rosenduftigen, rosaseidenen Kissen enthielt. Hob man den Nähapparat heraus, so lag darunter auf dem Boden ein Blatt in Spiegelschrift geschrieben. Es standen darauf die Verse aus dem Tasso:


Willst Du genau erfahren, was sich ziemt,
So frage nur bei edlen Frauen an.
Denn ihnen ist am meisten dran gelegen,
Daß Alles wohl sich zieme, was geschieht.
Die Schicklichkeit umgiebt mit einer Mauer
Das zarte, leicht verletzliche Geschlecht.
Wo Sittlichkeit regiert, regieren sie,
Und wo die Frechheit herrscht, da sind sie nichts.
Und wirst Du die Geschlechter beide fragen:
Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte.

Ich verstand von diesen Versen kein Sterbenswort, aber sie zu hören war mir ein großer Genuß, und sie hingen in meiner Phantasie so genau mit dem Rosenduft und mit der geheimen Feder, welche den Deckel des Tisches öffnete, zusammen, daß mir das Ganze wie ein einziges großes Mysterium däuchte, dem dann und wann durch die Vermittlung meiner Mutter nahen zu dürfen, mir als ein wahres Glück erschien. Ja die ganze Servante war durch den grauen Marmortisch für mich geheiligt, und ich empfand es als eine Ehre, daß zwei Paar kleine gemalte Tassen, die mein Eigenthum waren, mit unter all' den großen erwachsenen Tassen auf der wundervollen Servante stehen durften.

Diese beiden Zimmer, das Entree und der Saal, waren unsere Museen, und in dem Letzteren durften[51] wir, wie in einem wirklichen Museum, auch gar Nichts anrühren. Dafür hatten wir aber in der Hinterstube, welche jenseits eines kleinen dunklen Hausflurs dem Saale gegenüber lag, und im zweiten Stocke, in der Schlafstube meiner Eltern, in unserer Kinderstube, auf den Hausfluren, und auf den Treppen und Treppchen, die aus den Fluren nach den einzelnen Zimmern führten, wie in den Kammern, deren das Haus ein Paar recht große enthielt, völlig freien Spielraum. Die Wohnstube mit ihren breiten, mit schwarzem Roßhaarzeug überzogenen Möbeln, mit ihren gelben Kattungardinen, auf denen Pagoden und Chinesen gedruckt waren, war so wohnlich als möglich, und es stand Nichts darin, was wir hätten verderben können. Die Bilder unserer Großeltern väterlicher und mütterlicher Seits hingen an der Wand, und darüber ein großes Pastellbild, auf dem ich in weißem Kleide mit blauen Schuhen in Lebensgröße figurirte. Vor mir saß mein ältester Bruder in seinem Hemdchen auf einem Kissen an der Erde und langte nach einer Weintraube, die ich in der erhobenen Rechten hielt, während ich ein Körbchen mit Früchten im linken Arme trug. Es war eines von den damals üblichen Motiven, und wer in jenen Tagen, in denen die Wiedergeburt der Künste in Deutschland noch nicht begonnen hatte, in leidlichen Verhältnissen geboren worden, hat gewiß auch auf irgend einem solchen Bilde mit seinem Apfelkörbchen dagestanden, oder, wenn er ein Knabe war, gemalt auf einem Schaukelpferde gesessen, oder einen Reifen vor sich her getrieben. Unser Bild hatte die nie fehlenden Verzeichnungen an Händen und Füßen so gut [52] wie jedes andere dieser Portraits, aber es war so sprechend ähnlich, daß es mich, als ich schon lange erwachsen war, immer überraschte wie gleich bei uns beiden Geschwistern die Stirnen und die Augen mit jenem Bilde geblieben sind.

Seit ich mich zu erinnern weiß, hatte ich zwei Brüder. Der mir im Alter am nächsten stehende war am zweiten Mai achtzehnhundert und dreizehn, am Tage der Schlacht von Lützen, und der jüngere am ein und dreißigsten März achtzehnhundert und fünfzehn, am Tage des Einzuges der verbündeten Heere in Paris geboren. Mein Vater prägte uns solche Data auf diese Weise ein, und damit ich auch eine Erinnerung für meinen Geburtstag hätte, erzählte er mir, daß schon am Abend desselben, am vier und zwanzigsten März, die Nachricht von der am zwanzigsten März erfolgten Geburt des Herzogs von Reichstadt in Königsberg bekannt geworden wäre.

Diese beiden Brüder waren meine eigentlichen Lebensgenossen durch meine ganze Jugend. Mit ihnen habe ich gespielt, mit ihnen gelernt, mit und an ihnen die ersten Erfahrungen des Lebens gemacht. All unsere Leiden und Freuden haben wir getheilt, die Entwickelung des Einen von uns ist immer auch eine Entwickelungsstufe in dem Leben des Andern geworden, und meine Erinnerungen aufzeichnen, heißt ihrer im Geiste fortdauernd gedenken.

[53]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

Man sollte im Grunde einen Menschen, wenn man sich sein Wesen erklären will, gar nicht fragen, an welchem Orte, sondern in was für einem Hause er geboren sei, und wie er seine ersten Jahre zugebracht habe; denn daß ein großer Theil unserer Anlagen sich schon in unsern ersten Lebensjahren zu bestimmten Eigenschaften ausprägen, davon bin ich fest überzeugt. Wir hatten es aber in diesem Punkte außerordentlich gut. Meine Eltern waren damals sehr vermögend, ja reich zu nennen. Sie waren glücklich mit einander, hatten keine Sorgen, liebten uns auf das Zärtlichste, und wir sahen nur heitere Gesichter um uns. Prachtliebe oder Verschwendung lagen außer dem Wesen meiner Eltern, aber der Zuschnitt der Haushaltung war damals breit und reichlich.

Wir hatten drei weibliche Dienstboten, eine Kinderfrau, die gewiß nicht viel über dreißig Jahre alt war, die uns aber natürlich sehr alt erschien, und die wir nur die alte Anne nannten. Meine frühere Amme war als Köchin im Hause geblieben, und daneben hatten wir noch ein Hausmädchen Regine, das nicht ganz jung und immer etwas verdrießlich war, und einen großen dicken [54] Hausknecht, mit sehr hübschem Gesichte, der Mankatz hieß und zugleich einen der Comptoirboten abgab. Alle diese Personen waren lange in den Diensten meiner Eltern. Die Kinderfrau durch dreizehn Jahre, Regine sieben Jahre, meine Amme bis zu ihrer Verheirathung, und ebenso die beiden Comptoirboten Mankatz und Hermann Kirschnik, und die Commis meines Vaters.

Das gab unserm Leben einen festen Boden. Wir hatten uns nicht an immer neue Eindrücke zu gewöhnen, wir wurden mit unseren Gedanken nicht von Einem zu dem Andern fortgezogen. Diese Menschen waren die Unsern, eins mit uns, und wie die Menschen um uns dieselben blieben, so wechselten wir auch unsere äußere Umgebung bis in mein eilftes Jahr nur ein einziges Mal, als mein Vater die Mutter und uns auf einer Reise nach Memel mit sich nahm. Alljährlich Sommerwohnungen zu beziehen, sah man in jenen Tagen noch nicht als eine Nothwendigkeit an, und meine Mutter oder eines von uns Kindern hätte schon schwer krank sein müssen, ehe die Eltern sich zu einer Trennung von einander entschlossen haben würden. Denn sie hatten sich aus Liebe verbunden, und lebten des guten Glaubens, daß die Menschen sich verheirathen, um möglichst viel bei einander zu sein.

Diese Dauerhaftigkeit der Zustände hatte für uns, oder um hier nur von mir zu sprechen, den großen Vortheil, mich in unserer kleinen Welt recht eigentlich heimisch zu machen, und ich glaube nicht, daß die Kinder, in dem jetzt modischen Wanderleben der Familien, bei dem Reisen und dem Wechsel der Sommeraufenthalte [55] irgend auch nur die geringste Entschädigung für jenes Heimischsein in der Heimath zu finden im Stande sind, welches uns damals zu Theil wurde. Denn wenn es für die allgemeine Entwicklung des Menschen überhaupt etwas Unerläßliches ist, ein Ding recht zu kennen, eine Sache recht zu verstehen, so ist das für die Entwicklung eines Kindes in noch viel höherem Grade der Fall, da das Kind auch bei dem ruhigsten Lebensgange täglich, ja stündlich, eine solche Masse von neuen Begriffen in sich aufzunehmen, so viel neue Erfahrungen zu machen hat, und da sein Organismus so viel empfänglicher und so viel reizbarer als der eines ausgewachsenen Menschen ist. Ich kann mich auch niemals des Mitleids erwehren, wenn ich bei unsern Reisen auf Familien stoße, welche ihre Kinder aus Selbstliebe mit sich in der Welt herum schleppen. Bald aufgeregt, bald ermüdet, hier von Fremden über die Gebühr gelobt und gehätschelt, dort von den Eltern und Wärterinnen grundlos zurechtgewiesen, wenn diesen auf der Reise einmal unbequem wird was sie den Kindern zu Hause gestatten, kommen die armen kleinen Geschöpfe zu keinem Behagen und zu keinem Gedeihen. Und nahm ich mir hier und da einmal die Mühe, die Kleinen nach den Dingen zu fragen, welche sie eben jetzt, oder gar vor einem Jahre auf der Reise erlebt hatten, so war ihnen nichts als irgend eine Kleinigkeit im Gedächtniß geblieben, die sie zu Hause viel leichter und ebenso gut hätten erleben können. Ein Kind, das unter der Aufsicht einer ehrlichen Kinderfrau auf irgend einem Grasplatze Butterblumen pflückt und mit einem Hunde spielt, ist tausendmal besser aufgehoben, [56] und hat unverhältnißmäßig mehr Gewinn für sein Leben, als die kleinen Geschöpfe, die heute in einer fremden Stadt umhergeführt werden, morgen mit ihren kleinen dummen Augen Etwas vor sich sehen, was man ihnen als das Meer bezeichnet, übermorgen in einen zoologischen Garten mitgenommen werden, und die dazwischen in lauter fremden Zimmern wohnen, sich unter lauter fremden Gesichtern bewegen müssen. Ein Glück ist's dabei nur, daß die Kinder sich mit instinktivem Selbsterhaltungstriebe gegen die ihnen zugemuthete Ueberfütterung mit Eindrücken zu wahren suchen, indem sie sich an das ihnen Gemäße halten. Ein paar acht- bis neunjährige Knaben, die man einmal in meiner Gegenwart einen aufsteigenden Luftballon bewundern machen wollte, amüsirten sich während dessen einen Pudel zu betrachten, der zu ihren Füßen in einem Graben schwamm; und ein dreijähriges Mädchen, das wir im Hafen von Hamburg die Schiffe anzusehen aufforderten, rief ganz vergnügt: »ach die rothen Strümpfchen!« – Sie hatte ihre Augen auf eine Leine voll trocknender Wäsche gerichtet, die man am Ufer ausgespannt, und sich an Strümpfchen gefreut, welche etwa die Größe der ihrigen hatten. –

Ruhig, wie unser Leben war, bot es aber doch Abwechslungen dar, welche uns sehr groß erschienen. Meines Vaters Banquiergeschäfte brachten ihn besonders mit russischen und polnischen Häusern in Verbindung. Mein ältester Onkel war viel in Petersburg, unser Vetter August Lewald viel in Warschau, und es kamen, von ihnen empfohlen, viel polnische und russische Kaufleute in unser Haus. Bisweilen hatten sie ihre Frauen mit sich, [57] ein Paarmal kamen auch hübsche Kinder mit. Für diese russischen und für andere Gäste wurde dann der Saal aufgemacht, ein fremder Diener deckte die Tafel mit Silbergeräth, welches nicht im täglichen Gebrauch war, er legte die Servietten in Fächer und Schiffchen und Sterne zusammen, drückte blätterartige Streifen in die Auflege-Servietten, es wurden Früchte auf den Tisch gestellt, die blauen Vasen mit den Ansichten von der Bastei und vom Königstein mit Blumen gefüllt, und wenn der Saal dann auch noch eiskalt war und der geschäftige Diener uns auch alle Augenblicke auf die Seite schob, »weil wir ihm immer unter den Füßen waren« – so war es doch eine Wonne, sich ein großes Tuch hinten zubinden zu lassen, und mit rothen frierenden Händen im Saale zu stehen, um abwechselnd die Servante mit ihren Herrlichkeiten zu betrachten, oder die Tafel anzustaunen, auf welcher der silberne Kuchenlöffel und die Glasschalen voll Früchte und Eingemachtem die ganze Wollust verkündeten, welche das Dessert uns zu gewähren hatte.

Wenn dann im Saale Alles fertig war und die Thüren bis zur Mahlzeit geschlossen wurden, so ging es hinunter zu ebner Erde in die Küche. Sie war, wie in allen den alten Königsberger Häusern, klein, kalt und finster; aber das Feuer brannte an solchen Tagen auf dem Heerde dreifach heller als gewöhnlich, denn der Braten hing am Spieße. Ueber und unter der großen kupfernen Tortenpfanne glühten die Kohlen, die »Kochfrau,« neben welcher unsere sonst sehr despotische Köchin dann ganz zum Schatten zusammenschrumpfte, reichte mit [58] ihren Augen und Armen überall zugleich hin, und der Hauptgenuß bei diesen Küchenbesuchen war es eigentlich, daß wir dort noch viel mehr im Wege waren und noch viel öfter bei Seite geschoben wurden, als in dem Saale, daß also viel größere Beharrlichkeit dazu gehörte, in die Küche einzudringen, oder gar sich eine kleine Weile darin zu behaupten.

War nun die Eßzeit da und mit ihr die Fremden gekommen, dann holte die Kinderfrau ihr erfrornes und verwildertes Kinderhäufchen zusammen, wir wurden auf's Neue gewaschen, zogen hübsche Kleider an, mußten oft recht lange artig sitzen bleiben, um uns nichts zu verderben, und wenn wir dann endlich gerufen wurden, wenn man uns in den Saal hineinbrachte, der uns mit seinen Lichtern immer fremd und feierlich erschien, dann war das Vergnügen auch ganz außerordentlich groß. Wir wurden bewundert, geliebkost, gefüttert, sahen die geputzten Leute, und wurden dann wieder entfernt, um in der stillen Kinderstube von den Erlebnissen des Tages zu reden und zu träumen.

Dann wieder kamen Tage, an denen die Eltern in Gesellschaft gingen, und wir zusehen durften, wie die Mutter sich ankleidete. Sie war eine feine, mittelgroße Gestalt, sehr schlank und so zierlich gewachsen, daß sie noch als fünfzigjährige Frau jugendlich in Gang und Haltung erschien. Zu dem schönsten Teint hatte sie starkes, schwarzes Haar und hellblaue Augen, dabei eine feine Gesichtsbildung und ein ungemein liebliches Mienenspiel. Ihr ganzes Wesen war Anmuth und Geschmack, und diese beiden Eigenschaften, verbunden mit einem sehr [59] gesunden Verstande und großer Güte, ersetzten in ihr für das Haus wie für den Verkehr mit Fremden, was ihr an Wissen und an Kenntnissen gebrach. Sie war zu klug, um scheinen zu wollen was sie nicht war, und während ihre Kenntnisse wirklich kaum über das Elementare hinausgingen, wußte sie den bedeutendsten Männern ihr Haus angenehm zu machen, und deren Verehrung und Freundschaft zu verdienen.

In ihren kleinen Schmuckkasten hineinzusehen, aus welchem ein Fläschchen Rosenöl starken Duft verbreitete, sie selbst zu bewundern, wenn sie im schwarzen Sammetkleide mit einem kleinen Brillantkamm und einer rothen Rose im Haar, Perlen um den Hals und schöne Pointspitzen um Nacken und Busen, zum Ball fuhr, das war uns eben so amüsant, als der Einzug einer Prinzessin verwöhnteren Kindern nur sein kann: denn es ist überall mehr der Sinn, mit welchem man die Eindrücke aufnimmt, als die Beschaffenheit der Gegenstände, von dem unser Genuß bedingt wird.

Aber solcher großen Ereignisse, welche doch nur die Ausnahme machten, bedurften wir gar nicht, um Freude zu haben. Da waren die Hühner in dem engen Hofe, und die fünf Gänse in ihrem Koben. Da waren immer ein Paar Puthähne, welche im Hofe gefüttert wurden, und vor allem die Tauben, welche einer unserer Commis, Herr Rubinson, – der ein großer Violinspieler zu sein glaubte, und manchmal stundenlang eine alte Geige in furchtbarem Gewinsel erklingen ließ – sich heimlich hielt, die unser Entzücken ausmachten. Das heißt mit der Heimlichkeit dieses Taubenhaltens war das eine [60] eigene Sache, denn Jeder im Hause wußte darum, und Jeder kannte die Ecke auf dem Boden, in welchem die fünf, sechs Taubenpaare ihr Wesen trieben, und Jeder hatte auch den Taubenschlag gesehen, der in ein Paar ausgehobene Dachziegel hineingelegt war. Mein Vater, der es verboten hatte, weil es gegen die Polizeiordnung war, wußte es; und meine Mutter, der die Schmutzerei auf dem Boden sehr zuwider war, wußte es; und der dicke Vetter Zacharias, der auch in unserem Geschäfte war und ebenfalls in unserem Hause wohnte, wußte es auch. Und wenn er bei Tische geflissentlich immer auf irgend welche Tauben zu sprechen kam, daß dem armen Rubinson das Blut in die Wangen schoß, weil er dachte, nun werde ein Interdikt erfolgen, so sahen wir Kinder auch ängstlich auf den Vater hin – aber das Interdikt wurde nie gesprochen. Der Vater war einst selbst ein leidenschaftlicher Taubenzüchter gewesen, die Mutter ließ sich die Unsauberkeit gefallen, weil wir Kinder solch Vergnügen an den Tauben hatten, und die Tauben waren und blieben ein öffentliches Geheimniß, bis Herr Rubinson einige Jahre später einmal bei dem Bestreben fremde Tauben anzulocken, aus dem Dachfenster hinausstieg und einen schweren Fall auf ein Nachbardach hinunter that, der ihn auf ein langes Krankenlager und damit die Tauben aus dem Hause brachte.

Wir waren zu bestimmten Stunden und viel, aber nicht immer, bei unserer Mutter, und solch eine Gewöhnung an eine bestimmte Zeiteintheilung ist Kindern schon in ihrer frühesten Jugend heilsam. Daß wir in verschiedenen Etagen wohnten, kam dieser Anordnung zu [61] Statten. Jede der Etagen hatte aus Vorsicht für uns vor der Treppe ein kleines hölzernes Gitter erhalten, und war dies zugemacht, so waren wir eben auf unser Terrain angewiesen. Es blieb uns dann nichts übrig, wenn wir nicht mit einander spielen mochten, als aus dem Fenster zu sehen, und wie ich im Hause nicht müde wurde, jeden Winkel und jede Schieblade zu untersuchen, so konnte ich stundenlang am Fenster auf einem Stuhle knieen und drüben die Häuser und die Nachbarschaft betrachten.

Von der Weise, welche man jetzt hat, die Kinder zu beschäftigen, von den sinnreichen Spielen, von der Fröbelschen Theorie, wußte man damals, oder doch mindestens in unserem Hause, noch nichts. Wir hatten allerlei Spielzeug, Häuserschachteln, Puppen, Festungen, die zum Theil sehr schön und kostbar waren, und die wir meist von unserm ältesten Onkel erhalten hatten, wenn er von Petersburg oder sonst von Reisen zurück kam. Aber mit fertigem Spielzeug läßt sich nicht lange spielen, und bis ich groß genug war, um selbst für die Puppen nähen und schneidern zu können, hatte all unser Spielzeug, hatten selbst meine kostbarsten Puppen nur das Interesse der Neugier für mich. Ich wollte wissen, wie die Dinge gemacht wären, wie sie von Innen aussähen, und um das zu ergründen, arbeitete ich so lange an ihnen herum, bis ich sie zerbrochen hatte.

Meine Eltern, welche uns nur einfachere Dinge gaben, schalten mich dann immer. Sie thaten mir aber damit, ohne es zu wollen und zu wissen, Unrecht, und die Kinderfrau, welche mich nicht besonders liebte,[62] bestärkte sie darin, denn sie versicherte, daß ich mir auch aus dem Allerschönsten gar nichts mache, daß kein Abmahnen bei mir helfe und daß ich nicht Ruhe hätte, bis Alles zerbrochen und verdorben sei. Sie sahen dem angebornen Thätigkeits- und Forschungstriebe der Kinder gar nichts nach oder vielmehr, sie verstanden denselben gar nicht. Sie dachten nicht, welch einen Eindruck es auf ein Kind macht, wenn es seiner ganzen kleinen Erfahrung entgegen ein todtes Ding, einen hölzernen Vogel, einen hölzernen Hund Töne von sich geben hört und sie räthselhafte Bewegungen machen sieht. Warum bellt der Hund im Bilderbuche nicht? fragt das Kind. – Der ist ja nur gemalt! heißt es dann. Aber warum bellt denn dieser hölzerne Hund? forscht es weiter, ohne sich bewußt zu sein, daß es mit diesem Schlusse von dem gemalten auf den hölzernen und auf den lebendigen Hund, den Begriff des Lebendigen und des Leblosen gefunden und in sich festgestellt hat. Das ist von Innen so gemacht! giebt man ihm zur Antwort, und bedenkt nicht, wie man das Kind damit wirklich zwingt, die Sache zu untersuchen.

Heute noch erinnere ich mich des Schreckens, mit dem ich einmal vor einer kleinen zerbrochenen Leier dastand, auf welcher sich ein Vogelbauer mit einem gelben Vogel in die Runde drehte, während kleine klimpernde Töne erklangen. Ich hatte mit voller Ueberlegung das Innere sehen wollen, und deshalb das weiße Leder zwischen den Brettchen der Leier ein wenig gelockert, aber das half mir nichts. Ich konnte nichts sehen, ich mußte etwas mehr losreißen. Nun hatte ich das gethan, ich [63] drehte die Leier wieder, sie klang nicht mehr recht. Die Ahnung, daß ich wieder etwas verdorben hätte, kam über mich. Fast ohne zu wissen, was ich that, riß ich das ganze Leder herunter. Da lagen nun die zwei weißen Brettchen, da sah ich nun fünf dünne Roßhaar-Saiten über einen kleinen Bock gespannt, und an der Kurbel saßen zwei Stückchen Federposen, welche über die Saiten streiften, wenn man die Kurbel drehte. Das war also Alles! Nun wußte ich's, und nun wollte ich das Spielzeug erst recht genießen. Aber ich drehte und drehte, das Vogelbauer ging in die Runde, so oft ich's nur wollte, indeß das Singen hatte der Vogel verlernt. Ein trauriger Zergliederer meiner Freuden stand ich vor einem neuen Räthsel da, und hatte mit tiefer Betrübniß im Herzen auf den gegen mich ausgesprochenen Tadel gar keine andere Entschuldigung vorzubringen, als daß ich den Vogel gar nicht hätte zerbrechen wollen, und daß ich Nichts dafür könne, daß mein Spielzeug entzwei gegangen sei. Noch viel unglücklicher aber sah ich auf meine Puppen hernieder, wenn ich, gleichfalls nur in der Absicht zu wissen wie sie von Innen gemacht wären, ihren Kopf mit einer Nadel oder mit einer Scheere von hinten leise angebohrt hatte, um dann erst mit einem Finger und dann mit zweien, behutsam hinein zu fühlen. Und wenn dann das Papiermaché oder das Wachs plötzlich in lauter Bröckeln zu meinen Füßen fiel, war ich jedesmal so betroffen und so niedergeschlagen, als wäre mir dasselbe nicht schon vorher oft genug begegnet. Es bedarf aber für Kinder durchaus der mehrmals wiederholten gleichen Erfahrung, um sie in jedem besonderen Falle den Schluß [64] von Ursache und Wirkung richtig ziehen und in sich feststellen zu lassen.

Ich habe mir nebenher daraus die Lehre gezogen, daß man bei Kindern wirklich einen Unterschied machen muß zwischen dem bösen, verstandlosen Zerstörungstriebe, dem man nicht früh genug entgegentreten kann, und zwischen der naturgemäßen Neugier, welche absichtslos, ja in gewissem Sinne mit voller Berechtigung ihr Zerstörungswerk verübt. Man hat mir dagegen eingewendet, daß man den Kindern eben deshalb nur ursprüngliche Dinge, also die Fröbelschen Würfel und Klötzchen und Stäbe zum Spielen geben, daß man ihre Spiele nur auf's Schaffen hinleiten, und sie stufenweise fortschreitend an die Dinge gewöhnen müsse, so daß sie nicht von Wundern überrascht und von Verwunderung zum Zerstören angetrieben würden. Mich dünkt aber, solche abstrakte Entwickelung und Unterrichtung lasse sich in Mitten unserer Welt nicht ausführen, und ich meine auch, man müsse dem Kinde das Denken und Vorwärtskommen auf seine eigene Weise nicht ganz behindern. Aus sehr systematischen Erziehungen habe ich meist nur beschränkte Köpfe und pedantische Seelen hervorgehen sehen, und wer nicht von früher Kindheit an auf seine eigene Hand zu irren und zu fehlen gelernt hat, der lernt es auch bei den Tausend unberechenbaren Wechselfällen und Zufällen des spätern Lebens nicht leicht, sich zurechtzufinden, sich zu helfen und sich durchzuschlagen. Der Mensch ist, wenn er eben die Anlage zu einem ganzen Menschen in sich trägt, schon in seiner Kindheit viel zu individuell, als daß es weise wäre, ihn nach [65] allgemeinen Grundsätzen, nach Theorien zu erziehen; und wenn ich sehen muß, wie viel mit halbverstandenen Systemen an den Kindern gesündigt wird, preise ich mein Geschick glücklich, das mich vor aller Experimentalerziehung bewahrte. Denn es schadet dem Kinde viel weniger, wenn es hie und da einmal Unrecht thut oder Unrecht leidet, als wenn sei nen natürlichen Anlagen zu sehr entgegengetreten, und dem Bischen Freiheit, das es nöthig hat, durch Regeln und Maximen der Spielraum entzogen wird.

[66]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

Aus dem Fenster zu sehen, bin ich als Kind nicht müde geworden. Alles interessirte mich, und das am meisten, was sich alle Tage wiederholte. Ich kannte in meinem fünften, sechsten Jahre jedes Haus und alle Menschen in der Straße. Da war erst ein Materialladen von Cholevius, in welchem zu unserer Belustigung der erste Commis Herr Honig hieß. Wir durften hingehen, uns dort selbst Etwas zu kaufen, wenn einer von den Eltern auf dem Wolme stand, um uns nachzusehen. Dann kam der Bäcker Herr Kuhr. Er hatte eine hübsche Tochter, die uns, wenn sie unserer habhaft werden konnte, immer küßte, und uns irgend ein Backwerk schenkte. Daneben lag unser früheres Haus. Es wohnte nun ein Bankier Borchard darin, mit einer schönen Frau. Die Leute waren kinderlos und hatten eine große Vorliebe für meine beiden Brüder. Uns ganz gegenüber wohnte ein Getreide-Makler Schulz. Er war groß und mager, trug beständig einen grauen, langen Rock, hatte eine rothe Nase und eine ganz glatte schwarze Perrücke. Die Frau, die hübsch und immer sehr elegant gekleidet war, saß schon am frühen Morgen stramm frisirt an ihrem Fenster oder auf ihrem Wolme, je nach der Jahreszeit. Sie [67] strickte und las dazu den ganzen Tag, und ihr gegenüber saß ein weißer Spitz mit blankem Halsband, der sich nicht rückte und nicht regte, außer wenn er sich hinlegte um zu schlafen, und wenn er sich gähnend beim Erwachen ausstreckte. Die Leute hatten auch keine Kinder, und weil sie also zu viel Raum im Hause hatten, wohnte im obern Gestock bei ihnen ein anderer Herr, mit Namen Peppel. Seine Fenster lagen grade denen unserer Kinderstube gegenüber, wir konnten zu ihm, er konnte zu uns hineinsehen – doch von ihm spreche ich noch ganz besonders.

Das Haus neben dem Schulze'schen hatte verschiedene Einwohner. Unten wohnte ein Zinngießer, Herr Bethge. Er war ein hübscher rüstiger Mann, der oft mit bloßer Brust und geschwärzten Händen von der Arbeit auf den Wolm hinaustrat, und hatte in seinen jungen Tagen als Gesell die Meisterin, eine kleine verwachsene Frau, geheirathet. Sie waren wohlhabende Leute, und wir haben manch Spielzeug von ihnen gekauft, manch anderes von ihnen geschenkt bekommen, wenn wir für unsere Fünfschillinge uns etwas kaufen wollten.

Mehr Reiz aber als der Zinnladen mit seinen blanken Tellern und Leuchtern, Krügen und Kannen, hatte die Familie für mich, welche die mittlere und obere Etage bewohnte. Es waren, wie wir es nannten, fromme Juden, d.h. Juden, welche noch ganz nach jüdischen Sitten und Gebräuchen lebten. Sie waren unbemittelt, waren uns verwandt, oder doch lange mit unseren Großeltern bekannt gewesen, und nahmen vielen Theil an uns. [68] Die alte, sehr kleine, sehr freundliche und äußerst saubere Hausfrau hatte meiner Mutter bei ihren Entbindungen beigestanden, besuchte uns in Krankheitsfällen und gab meiner Mutter, wenn diese in einer der Vorstuben grade am Fenster saß, ein Zeichen mit dem Kopfe oder mit der Hand, wenn wir Kinder oben in der Kinderstube am Fenster oder unten auf dem Wolme irgend etwas Gefährliches unternahmen.

Wie soll man die Kinder nur behüten! sagte meine Mutter einmal bei solchem Anlasse, als wir ihr einen heftigen Schreck verursacht hatten.

Kinder kann kein Mensch behüten, versetzte die alte Madame Japha, wenn der liebe Gott sie nicht mit seinen Engelchen bewacht.

Das ist einer von den wörtlichen Ausdrücken, die mir rührend und anmuthig aus jenen Tagen im Gedächtniß geblieben sind, so fern diese Anschauung mir jetzt auch liegt. Es gefiel mir so gut, daß die Engel über uns Wache hielten.

Herr Japha war viel zu Hause. Er hatte einen ganz kleinen grauen Bart, und immer eine weiße steifstehende Schlafmütze auf – die einzige Schlafmütze, welche ich damals kannte. Früh am Morgen stand er betend und sich dazu schaukelnd am Fenster, und ich sah ihn sich neigen und Bewegungen machen, die ich nicht verstand. Später am Tage saß er meist, aus einer Kalkpfeife rauchend und hie und da eine Prise nehmend auf demselben Platz am Fenster. Freitags Abend zündete man Lichter in der Stube an, und ich sah mehr Bewegung als sonst dort üblich war. Ich wußte, daß [69] jetzt dort Feiertag sei, daß über einer großen Stritzel, die mit einem weißen Tuch bedeckt war, jetzt ein Segen ausgesprochen wurde, aber zugesehen hatte ich das nie und darum beschäftigte es mich so sehr. Um Ostern schenkte man uns aus dem Hause Osterfladen und kleine Zuckerklümpchen, die eigens für die Osterzeit bereitet waren; zu einer andern Zeit im Jahre, im Herbste, standen während des Laubhüttenfestes Palmzweige und große Paradiesäpfel, eine Art von Cedraten, in einer bestimmten Ecke des Fensters. Die Hauptfeierlichkeit fiel aber in den Winter oder doch in den Spätherbst, wenn Regen und Schnee bereits ihr Wesen in den Straßen trieben, und die Tage, die bei uns in Preußen wesentlich kürzer sind als im mittlern Deutschland, durch die Nebel und Wolken noch mehr verkürzt erschienen. Dann tauchte mit einem Male drüben in der Stube auf dem Fensterbrett an einem Abende ein Wachslicht auf – und nun begann die Herrlichkeit, begann die Girandola meiner Kindheit. Am nächsten Abende standen und brannten zwei Lichte an dem Fenster, am dritten Abende drei, und so ging das nun, immer prächtiger und heller werdend fort, bis etwa sieben oder neun Lichte brannten, und dann die Herrlichkeit mit einemmale vorbei war. Das sei das jüdische Weihnachtsfest, sagte man uns, und wir zerbrachen uns über den Widersinn dieser Erklärung die Köpfe nicht. Denn wenn Herr Japha mit seinem Weihnachtsfeste fertig war, stand das unsere vor der Thüre, und wir vergaßen die jüdische Weihnachtszeit, um an unsere eigenen Weihnachtslichtchen zu denken.

Ich ging oftmals zu Madame Japha hinüber, das[70] heißt eigentlich zu der Tochter, die unverheirathet im Hause ihrer Eltern lebte, und mit ihrer Händearbeit die Familie unterhalten half. Sie galt für eine der geschicktesten Näherinnen der Stadt, hatte theilweise auch die Ausstattung meiner Mutter genäht, und diese sah es gern, daß ich spielend von dem guten Mädchen die erste Anleitung zu Handarbeiten empfing. Ich war sehr gern bei ihr. Denn erstens ließ sie mich immer ihr gegenüber auf dem Stuhle am Fenster, nicht wie ich es zu Hause gewöhnt war, auf einem Kinderstuhle oder Bänkchen sitzen, und ich kam mir also bei ihr viel erwachsener als zu Hause vor. Zweitens konnte ich bei ihr unser Haus und die andere Seite der Straße sehen, und drittens gab sie mir auf eine Menge Fragen Bescheid, auf welche ich zu Hause keine Antwort erhielt.

Von ihr erfuhr ich, daß wir Juden wären, und daß man mir dieses zu Hause verschweige, weil die andern Leute die Juden nicht leiden könnten. Von ihr erfuhr ich auch die Namen und die Bedeutung und die Ceremonien der jüdischen Feiertage. Sie zeigte mir eine kleine blecherne Kapsel an ihrer Stubenthüre und sagte, darin wären die zehn Gebote, und die seien dort angehängt, damit man sie immer vor Augen und im Herzen habe. Dann ließ sie mich ein Gewebe von blau und weißer Wolle sehen, das ihr Vater auf dem Körper trug, und das auch die zehn Gebote bedeuten sollte. Sie zeigte mir einen Gebetmantel und ein langes weißes Hemde, das sie den Kittel nannte, und erzählte mir, das ziehe ihr Vater an dem größten Feiertage, an dem Tage der langen Nacht in der Synagoge an, wenn der liebe [71] Gott sich mit den Menschen wieder für ein Jahr versöhne, und wenn ihr Vater sterbe, werde er in diesem Hemde begraben werden.

Als ich zu Hause von diesen Dingen zu sprechen anfing, verwehrte man es mir nicht eigentlich, aber man ließ mich doch nicht recht damit aufkommen. Und als ich dann dringlich wurde, erhielt ich den Bescheid, daß ich solche Sachen noch nicht verstehen könne, ich würde das später einmal Alles erfahren. Auf die ganz bestimmt gethane Frage: »sind wir wohl Juden?« – versetzte mein Vater: Du bist unser Kind, und weiter geht Dich nichts an!

Damit war äußerlich die Angelegenheit abgethan, aber innerlich beschäftigte sie mich um so mehr, und die Juden und ihre Feiertage und Gebräuche wurden mir unheimlich und mystisch, anziehend und widerwärtig zugleich. Daß wir Juden wären, und daß es schlimm sei, ein Jude zu sein, darüber war ich aber mit fünf, sechs Jahren, noch ehe ich in die Schule gebracht wurde, vollkommen im Klaren. So hübsch wir in unsern seidenen Pelzchen auch angezogen waren, und so gut unsere stattliche Kinderfrau uns auch spazieren führte, so erlebten wir es doch manchmal, daß ganz zerlumpte, schmutzige Kinder uns im Tone eines Schimpfes: Jud'! nachriefen, und die Kinderfrau sagte dann immer, daran sei nur ich mit meinem schwarzen Haare schuld.

Ich weiß nicht, weshalb ich zu Hause von solchen Ereignissen auf der Straße nie etwas erzählte. In den Kindern ist das Bewußtsein oft so umnebelt und so unvollständig, und doch die Einsicht, welche sie zum Handeln [72] oder zum Unterlassen von manchen Dingen antreibt, so weit über ihr bewußtes Verständniß hinaus, daß sie oft klüger handeln als sie wirklich sind. Man möchte sagen, sie handeln aus einem Instinkte, der sie mehr und mehr verläßt, je nachdem das Bewußtsein in ihnen lebendig wird.

Ich ging aber von da ab nur noch lieber zu Mamsell Japha hinüber. Alles was die Familie besaß: ein jüdisches Gebetbuch, ein altes silbernes Balsambüchschen, wurden für mich Gegenstände von Bedeutung, von Werth, und wie unsere Kupferstiche mir die Gesammtheit der Kunst ersetzten und bedeuteten, so repräsentirte die gute Familie Japha mir in meiner Kindheit das religiöse und mystische Element. Stundenlang konnte ich mit einem zu säumenden Staubtuch bei Mamsell Japha sitzen, und fragen und fragen. Ich hatte sie lieb, denn sie war die erste Vertraute meines Lebens, die erste Person, mit der ich ein Geheimniß theilte. Wenn sie dann meiner Fragen müde wurde und stille saß, oder gar mit ihrer schwachen Stimme Lieder bei der Arbeit sang, die meist sehr sentimental waren, und unter welchen das Lied: »Hier ruhst Du Karl, hier werd' ich ruhn, mit Dir in einem Grabe!« mich zu Thränen rühren konnte, so oft ich es auch gehört hatte, denn alle Drehorgeln spielten es damals – dann begann ein andres Vergnügen und zwar ein wunderliches Vergnügen für mich: ich betrachtete sie. – Und sie war so unschön, die gute Seele! Ihr Gesicht war von Blatternarben entstellt, ihre Nase platt, ihr Mund groß, und dazu war in der Blatternkrankheit oder durch sonst einen Zufall eines ihrer Ohrläppchen in zwei Theile gespalten. Ich fand diese [73] an sich höchst geringe Verunstaltung ganz schrecklich. Ich dachte immer, ich würde froh sein, wenn sie nur dieses Ohrläppchen nicht hätte, aber ich konnte mitunter kein Auge davon abwenden, und stierte sie dann dumm und ungeschickt an, bis sie die großen Locken, welche man damals trug und Brill-Locken nannte, so weit herunterzog, daß sie mir den Anblick ihres Ohrs benahmen.

Diese Lust an dem, was ihn quält, bleibt dem Menschen auf geistigem Gebiete oft bis in sein spätes Alter, aber es ist immer etwas Ungesundes darin, und ich bin froh, daß ich sie in der Kindheit an so geringen Dingen abgebüßt habe, als meine Phantasie überhaupt noch selbstquälerisch war. Ich glaube, mehr unnöthige Angst als ich hat sich nicht leicht ein Kind geschaffen. Die Furcht vor einzelnen Eindrücken, wie vor dem Krähen eines Hahnes oder vor lauten Trompetenklängen, die mich in den ersten Lebensjahren ganz außer mich brachten, hatte mein Vater mir dadurch abgestumpft, daß er absichtlich Hähne im Hofe hielt, und mich immer selbst auf die Wachtparade brachte. Es war eine homöopathische Kur, die vielleicht nicht überall zu empfehlen ist, die bei mir aber ganz gut anschlug, denn jene Empfindlichkeit hörte sehr bald auf.

Indeß sie war auch eine Kleinigkeit neben den Schrecken, mit denen meine Phantasie mich ängstigte. Gespensterfurcht habe ich in früher Kindheit nicht gekannt, aber wenn man mich Abends zu Bett gelegt hatte, sah ich immerfort Gestalten vor Augen: Riesen, Städte, Vögel, Zwerge, bekannte Menschen, Bilder, die unablässig wechselten, unablässig in einander flossen, sich neu gestalteten, wieder verschwanden, deren Hast sich steigerte, [74] je mehr ich mich davor zu fürchten begann. Ich rief dann die Kinderfrau, weinte, hielt sie an der Hand fest, bat, sie solle mir etwas erzählen, ich wolle das nicht mehr sehen. Aber was sie mir auch erzählte, es schwamm gleich Alles wieder in meine Bilder hinüber, und ich ließ dann mit Weinen und Bitten nicht eher nach, bis sie hinabging mir die Eltern zu holen, denen es auch immer gelang mich zur Ruhe zu bringen. Eine Spur dieses unfreiwilligen Bildersehens vor dem Einschlafen ist mir durch mein ganzes Leben geblieben. Nur daß es jetzt selten kommt, etwa wenn ich krank bin, oder wenn ich mich einmal mit Arbeit besonders angestrengt habe, und daß es jetzt meinem Willen doch meist gelingt, Herr darüber zu werden, indem ich die Gedanken mit Gewalt auf einen Gegenstand hinwende. Es muß dieses Bildersehen aber wohl bei Vielen vorkommen. Der berühmte Physiologe Johannes Müller bezeichnet es als Plasticität der Phantasie im lichten und im dunklen Sehfelde, die er selbst besaß, und hat seine Empfindungsweise dabei besonders geschildert. Genau so, wie er es schildert, habe ich es an mir erfahren, nur daß ich nicht im Stande war, die Bilder willkürlich zu erzeugen, sondern daß ich ihrem Erscheinen in meiner Kindheit willenlos erlag, und daß ich auch jetzt, wenn irgend ein Zufall mir solch ein Bild vor dem Einschlafen wach gerufen hat, nicht die volle Freiheit habe, die Reihe der ihm folgenden Bilder selbstständig zu bestimmen. Sie haben für mich auch heute noch das Verschwimmende von dissolving views, und nur ihr Aufhören liegt meist in meiner Macht.

Es war in jener Zeit meiner ersten Kindheit, in den[75] Jahren achtzehnhundert und sechszehn und siebzehn, daß Frau von Krüdner ihr Wesen in Deutschland trieb, und die Unterhaltung über den von ihr prophezeiten Weltuntergang war damals ebenso im Gange, wie vor einem Jahre das Gespräch über den Zusammenstoß der Erde mit dem Kometen. Dazu muß in jener Epoche irgendwo die Pest sehr stark gewüthet haben, denn die Vorstellungen, daß die Pest kommen und wir Alle sterben, oder die Welt untergehen und wir so Alle unsern baldigen Tod finden würden, waren sehr zeitig in meinen Kopf gekommen und flößten mir ein unbeschreibliches Entsetzen ein. Wo ich eines Menschen habhaft werden konnte, auf dessen Lust zu antworten ich irgend rechnen durfte, fragte ich nach dem Weltuntergange und nach der Pest. Kein Eifersüchtiger sucht mehr die Bestätigung seines Unglücks zu erspähen, als ich mir die Gewißheit zu schaffen strebte, daß wir Alle umkommen würden; und hatte ich heute darüber geweint, daß ich sterben müsse, so jammerte ich morgen darüber, daß die Eltern sterben und ich dann allein bleiben würde.

Meine Eltern hatten große Geduld mit mir. Die Mutter saß oft stundenlang an meinem Bette, mich zu beschwichtigen, der Vater redete mir mit Ernst zu, so weit ich mit meinen sechs Jahren für Vernunftgründe zugänglich war. Half dann Nichts, so schalt er mich und gab mir bisweilen, was jedoch nie aus Heftigkeit, sondern aus voller Ueberlegung geschah, ein Paar Schläge, welche in diesen Fällen bei Kindern ebenso wirksam sind, als irgend ein ableitendes Blasenpflaster. Ich hörte im Schreck über die Schläge zu sprechen auf, und das war [76] die Hauptsache, denn Kinder überreizen sich oft mit ihren eigenen Reden. Die Schläge gaben meinen Gedanken eine natürliche Richtung; ich fing vor Schmerz zu weinen an und weinte mich so still in den Schlaf.

Waren aber die Eltern, wenn ein solcher Anfall über mich kam, nicht zu erreichen, so ging es mir allerdings nach meinen Begriffen noch weit schlimmer. Der Kinderfrau, welcher ein sehr altkluges, sehr ernsthaftes und dabei ihr oftmals unbegreifliches Kind eben keine angenehme Pflegebefohlene sein konnte, war es unerträglich, wenn meine Phantastik ihr die letzte stille Abendstunde verdarb, auf welche sie sich den Tag über vertröstet haben mochte, oder wenn ich sie gar hinderte, sich niederzulegen, weil ich sie bei der Hand an meinem Bette festhielt. Sie fuhr mich dann sehr heftig an, deckte mich fest zu, weil ich manchmal vor Angst bald kalt bald heiß war, und sagte drohend nach dem uns gegenüber liegenden Hause des Herrn Schulz hinweisend: »warte nur! der Herr Peppel kommt!«

Das Entsetzen, welches diese Worte mir und gelegentlich auch meinen Geschwistern einflößten, vermag ich so wenig zu beschreiben, als ich jetzt zu begreifen vermag, wie und weshalb der gute Herr Peppel uns dasselbe erregen konnte. Es gehört für mich zu den räthselhaften Erscheinungen in der Phantastik der Kinder, denn Nichts, auch nicht das Geringste bot einen Anlaß dar, den Mann furchtbar für uns zu machen.

Er konnte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, war Commis in einem Kaufmannshause und hatte ein stilles, durchaus freundliches Gesicht. Am Tage war [77] er, mit Ausnahme des Sonntags, wenig in seiner Wohnung. Morgens band er vor einem Spiegel an seinem Fenster sein weißes Halstuch um und kämmte sein Haar; Mittags, wenn er eine Weile nach Hause kam, las er am Fenster, und Abends waren seine Rouleaux herunter. Niemand aus unserm Hause kannte ihn persönlich, wir Kinder hatten nie mit ihm gesprochen, nie das geringste Böse von ihm gehört, und ich weiß nicht, wie die Kinderfrau darauf gekommen ist, ihn zum Schreckbild für uns zu wählen, wenn es nicht etwa der Umstand sein mochte, daß er von allen in unserer Nähe wohnenden Personen allein für uns Kinder eine Art unbekannter Größe war. Die Thatsache steht fest, daß wir eine Seelenangst vor Herrn Peppel hatten, und daß die bloße Nennung seines Namens, die bloße Drohung, er werde kommen, mir den kalten Schweiß auf die Stirne trieb, und mir noch fürchterlicher war, als die Vorstellungen von Pest und Tod und Weltuntergang, welche sonst mein Herz beängstigten.

Ich zweifle nicht, daß es eine große Anzahl von Kindern giebt, deren Phantasie sich solche Schreckbilder schafft, denn es wiederholt sich in jedem einzelnen Menschen die Entwickelungsgeschichte der Menschheit, wenn der Fortschritt der Gesammtheit auch für den Einzelnen die verschiedenen Stufen und Uebergangsepochen weniger bemerklich gemacht, und in ihrem Verlaufe auf die kürzeste Zeit herabgedrückt hat. Es war als müßte ich immer etwas haben, was mir Angst einflößte, dem gegenüber ich meine Ohnmacht empfand, und ich zog meine Schreckbilder niemals aus einer gespenstigen Welt herbei, sondern aus den Dingen, die mir aus der Wirklichkeit [78] entgegen traten. Mit Ausnahme der ganz thörichten Angst vor unserm Nachbar beruhten meine Befürchtungen immer auf einer an und für sich wirklich schreckhaften Sache, und hatten also einen vernünftigen Boden. Aber wie das ganz kleine Kind nach dem Monde langt, weil ihm der Begriff der Entfernung und der Maßstab für dieselbe fehlen, so konnte ich nicht ermessen, wie nahe oder wie fern die Dinge mir waren, welche mir Furcht machten, und meine Phantasie vernichtete zu meinem Schaden alle Trennungen durch Raum und Zeit.

Ob mit wirklichen Erklärungen in solchen Fällen Etwas zu machen ist, möchte ich bezweifeln. Es nützt nichts, wenn man dem Kinde sagt: das Land, in dem die Pest ist, oder das Land, in welchem die Erde gebebt hat, ist sehr weit von hier. Nähe und Ferne sind ihm keine deutlichen Vorstellungen. Es fragt sofort: aber warum kommt das Unglück nicht auch hieher? Was man ihm dafür zum Troste geben kann, sind Erfahrungssätze und die auf diese Erfahrungssätze gebauten Schlüsse, die dem Kinde nichts bedeuten können, und die ihre Wirkung augenblicklich verlieren, wenn die Augen der Eltern, aus denen es seine beste Beruhigung sucht, nicht mehr über ihm leuchten.

Es bleiben also in der Regel nur zwei Hilfsmittel übrig, die Beschäftigung der Phantasie mit heitern Bildern und mit fremden Personen, d.h. die Dichtung, namentlich das Mährchen – und eine Disciplinirung des unregelmäßig spekulirenden Verstandes durch den Unterricht. Und diese beiden Ableiter wurden mir denn auch geboten.

[79]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Es war am ersten April des Jahres achtzehnhundert und siebenzehn, als ich die Schule zu besuchen begann. Ich hatte zu Hause von meiner Mutter das ABC und einige Gedichte gelernt, und ich erinnere mich nicht, daß der Gedanke, in die Schule zu gehen, mir irgend welches Vergnügen gemacht hätte.

Man nahm mich früher als gewöhnlich aus dem Bette, man gab mir einen ziemlich großen weißen Korb, der zwei Deckel hatte, packte mir eine Schreibtafel und eine Fibel von Löhr, ein Taschentuch und eine in Papier gewickelte Buttersemmel ein, und mein Vater selber nahm mich an die Hand, um mich in die Schule zu bringen. Die Mutter begleitete mich bis vor die Thür, die Kinderfrau, welche solche Gunst sonst nur meinen Brüdern bewies, die sie von ihrer Geburt an auferzogen hatte, steckte mir ein Stück Kandis in die Hand, und ich hatte ein beklemmendes Gefühl, als ob ich auf Reisen gehen sollte, oder als ob mir etwas Unangenehmes geschähe.

Der Weg, den wir zu machen hatten, war nicht lang. Wir gingen über den Rathhausplatz, durch die Brodbänkenstraße, über den kleinen Domplatz nach dem großen Domplatz, wo dem Dome gegenüber unser Schulhaus, [80] ein ganz gewöhnliches Bürgerhaus, gelegen war, denn die Ulrich'sche Schule, welche ich besuchen sollte, war eine Privatanstalt. Mein Vater war auf dem Wege sehr heiter mit mir, er ließ mich unten an der Treppe meine Stiefel recht rein machen, schärfte mir es ein, verständig und artig zu sein, und sagte, wenn die Schule aus sei, so werde man mich holen kommen.

Unten in einer kleinen Stube empfing mich die Frau unseres Direktors, eine noch junge, sehr anmuthige Frau, mit schönen blonden Locken zu beiden Seiten des Gesichts. Sie küßte mich, versprach auf meines Vaters Bitte, daß man Nachsicht mit mir haben werde, dann ging mein Vater davon und Madame Ulrich, die ich eben so wie ihren Mann schon ein Paar Tage vorher gesehen hatte, als der Vater mich ihnen vorgestellt, nahm mich an die Hand und führte mich in das große Hinterzimmer zu ebner Erde, in welchem das Morgengebet gehalten wurde.

Das Zimmer, groß, finster, kalt, wie all diese Königsberger Hinterstuben, war voll von Bänken und für meine Vorstellung voll von einer unermeßlichen Menschenmenge. Hinten nach den Wänden standen, wie mir schien, ganz erwachsene und sehr große Frauenzimmer. Sie mögen fünfzehn, sechszehn Jahre alt gewesen sein. Weiter nach vorn waren die jüngern Mädchen, und ganz vorn Kinder meines Alters, zwischen denen Madame Ulrich mir meinen Platz anwies. Die Mädchen standen Alle in Reih' und Glied, sprachen und lachten laut mit einander, die Kleinen zu meiner Seite fragten mich, wer ich sei, und ich hatte ein dumpfes Gefühl der Benommenheit, [81] in welchem ich die schweren Guirlanden von Blumen und Früchten, die in Stuck an der Decke ausgeführt und vor Alter ganz schwarz geworden waren, einfältig betrachtete.

Während dessen erschien noch eine Lehrerin und ein Paar Lehrer in dem Zimmer, welche mit Madame Ulrich neben dem Klavier Platz nahmen. Die Lehrerin, eine Mademoiselle Aune, kam mir zu sagen, daß ich meinen Schulkorb gerade vor meine Füße stellen, und, wenn das Morgenlied gesungen werde, die Hände falten müsse, und dann trat Herr Ulrich selbst herein. Das Sprechen verstummte plötzlich, alle Gesichter wurden ernsthaft, Herr Ulrich sah mit seinen großen, etwas hervortretenden Augen ernst, ja streng durch das Zimmer hin, dann setzte er sich am Klavier nieder, schlug ein Notenbuch auf, nannte das Lied: Wie schön leuchtet der Morgenstern! und nun fing die ganze Schaar von jungen Kehlen zu singen an.

Es war der erste Gottesdienst, dem ich beiwohnte, und er machte mir einen großen Eindruck. Ich verstand die Worte des Gesangs zwar gar nicht, nur die feierliche Melodie empfand ich; aber das Gebet, welches Herr Ulrich nach dem Liede aus dem Stegreif sprach, das begriff ich sehr gut, denn es enthielt ähnliche Gedanken, wie das Abendgebet, das ich immer vor Schlafengehen hergesagt hatte, und ich war schon auf dem Wege es recht hübsch in der Schule zu finden, als ein Zwischenfall meine beginnende Zufriedenheit störte.

Herr Ulrich nämlich, der, obgleich noch ein junger und eigentlich ein sehr hübscher Mann, doch eine harte [82] Physiognomie hatte, kam gleich nach dem Gebete auf mich zu, mich zu begrüßen und zu ermuthigen. Er sagte, er habe neulich gesehen, daß ich ein ganz kluges Mädchen wäre, ich möchte daher nur recht fleißig und aufmerksam sein, dann würden sie mich Alle sehr lieb haben. Wenn Du aber nicht fleißig bist, fügte er lachend hinzu, indem er in die Höhe nach dem Plafond hinauf sah, von dem ein leerer Kronenhaken in das Zimmer herunterhing, wenn Du nicht fleißig bist, Fanny! so packen wir Dich in Deinen großen Bücherkorb und hängen Dich hier an der Decke auf! – Er lachte noch einmal, die andern kleinen Mädchen lachten auch, und ich – ich glaubte ihm seine Drohung buchstäblich, und fing zu weinen an. Es war mir, als wäre ich in die Höhle des Ogers gerathen.

Madame Ulrich und Mademoiselle Aune kamen augenblicklich herbei, um mich zu trösten, ein kleines Mädchen, sie hieß Molly Zornow, sagte gutmüthig: sei doch nicht so dumm, es ist ja Spaß! Ein Paar der Erwachsenen hoben mich im Vorbeigehen auf und küßten mich, und ich wurde still. Aber die Schule war mir verdächtig geworden, und die große Hinterstube konnte ich nun ein für alle male nicht mehr leiden.

Zu meinem Glücke hatten wir Kleinen auch gar keinen Unterricht in derselben. Wir wurden, etwa acht oder zehn Kinder, den ganzen Morgen hindurch in einer freundlichen, nach der Straße gelegenen Stube im zweiten Stock von Mademoiselle Aune, der Tochter einer französischen Kolonisten-Familie, und von Madame Ulrich beschäftigt, und ich hatte mich in dem Zimmer und unter [83] den Kindern nach einer Stunde so eingewöhnt, daß der Hunger, der mir beim Frühstück zu Hause gefehlt hatte, sich mitten in der zweiten Stunde um so stärker einstellte, und ich meine Semmel hervorholte, um ihm zu genügen. Kaum aber hatte ich das gethan, als die ganze Klasse zu lachen begann, und Mademoiselle Aune mir meine Semmel mit dem Bemerken fortnahm, essen dürfe ich nicht. Sie legte das Brot auf einen Schrank, die Stunde hatte ihren ruhigen Fortgang, mir fing vor Hunger der Kopf an sehr wehe zu thun, und als Mademoiselle Aune das Zimmer nach beendigter Lektion verließ, vergaß sie mir mein Frühstück zurück zu geben. Es mir zu nehmen hätte ich nicht gewagt, wäre ich selbst im Stande gewesen, es zu erreichen. Die Andern, die es sich in der Zwischenstunde wohl schmecken ließen, dachten nicht an mich. Von ihnen etwas zu fordern, hielt eine Verlegenheit mich ab, die nächste Lehrerin wußte von dem Vorgange nichts, und so blieb ich bis zwölf Uhr sitzen, mit fürchterlichen Kopfschmerzen, mit dem größten Hunger, meine mir rechtmäßig gehörende Semmel immer vor Augen, und mit dem festen Entschlusse, nie wieder in die Schule zu gehen, die ich abscheulich fand. Der erste Zwang, der dem Menschen von Fremden auferlegt wird, drückt vielleicht am schwersten, und von diesem Punkte aus betrachtet, ist der Eintritt eines Kindes in die Schule eines der größten Ereignisse des Lebens, wenn schon ein Jeder das Gleiche erfährt.

Die bestimmte Erklärung, daß ich nie wieder in die Schule gehen würde, war auch das Erste, was ich zu[84] Hause mittheilte. Glücklicher Weise waren meine Eltern mit Herrn Ulrich übereingekommen, daß ich den Sommer hindurch nur die Vormittagsstunden besuchen und den Handarbeits-Unterricht noch nicht mitnehmen sollte, so daß ich an dem Tage Zeit fand, meinen Kummer im Spiele mit meinen Geschwistern zu vergessen; und am andern Tage brachte das Zureden meiner Eltern und die Versicherung, daß ich allein an meinem Unglück Schuld gewesen sei, mich dahin, die Sache noch einmal zu versuchen. Mein Vater gab mir einen Brief mit, in welchem er meldete, wie einfältig ich gehungert hätte, und da man daraus ersah, mit was für einem Geschöpfe man es zu thun hatte, behandelte man mich so freundlich und rücksichtsvoll, daß ich mich bald mit meinem Loose aussöhnte, ja es zu lieben begann.

Ich lernte leicht, der Vater half mir zu Hause auch nach, und in der Schule wie zu Hause dafür gelobt zu werden, machte mir großes Vergnügen. Man hatte damals bei uns noch die alte mühsame Buchstabirmethode, und das Lesenlernen war ein schweres Stück Arbeit, wenn man es mit der Weise vergleicht, in welcher die Kinder jetzt das Lesen und Schreiben so schnell und fast gleichzeitig erlernen. Aber ich glaube, hätte Herr Ulrich auch die Lautirmethode und alle die jetzt üblichen Erleichterungen gekannt, er wäre im Stande gewesen, sie, eben weil es Erleichterungen waren, zu verschmähen, denn das Lernen sollte nach seiner Ansicht, die ich freilich erst lange Zeit nachher begreifen lernte, vor allen Dingen die Kraft und die Energie des Geistes entwickeln. Daß er sich bei der Ausführung dieser Idee vielfach in den [85] Mitteln vergriff, ist nicht zu läugnen. Wo aber seine Ansicht und sein Wesen mit Elementen in Berührung kamen, welche für seine Behandlungsweise das nöthige Gegengewicht in sich trugen, da leistete er für die Entwickelung des Charakters bei den Kindern wirklich viel; und es leben gewiß noch eine große Anzahl meiner Mitschülerinnen, welche dies eben so dankbar anerkennen als ich.

Mit den jetzigen Schulanstalten hatte unsere Schule nicht allzuviel gemein, und sie wäre jetzt in Preußen wohl eine Unmöglichkeit, weil die Regierung ein solches Institut nicht dulden, und sich auch nicht leicht Eltern finden würden, ihre Kinder demselben anzuvertrauen. Herr Ulrich hatte nie ein Examen irgend einer Art gemacht, sondern schon frühe zu unterrichten und zu erziehen angefangen, sich dann mit der Tochter eines in Königsberg sehr geachteten Advokaten verheirathet und seine Schule eröffnet, die bald von den Töchtern der angesehensten Familien besucht wurde. Als ich in die Schule eintrat, war erst eine Generation von Schülerinnen darin unterrichtet worden, und sie mochte also seit dem Jahre zehn oder eilf bestanden haben. Etwa ein Jahr, nachdem ich mich in derselben befand, kam auch eine Anzahl von Knaben hinzu, die vorher besondere Lektionen gehabt hatten. Sie gehörten ebenfalls den begüterten Familien an und wir hatten mit ihnen alle Unterrichtsstunden gemeinsam, nur daß wir an getrennten Tischen saßen, und daß sie ihren Unterricht in den alten Sprachen erhielten, wenn man uns am Nachmittage in Handarbeiten unterwies.

[86] Aber nicht allein diese Einrichtung war eine willkürliche, sondern auch die Höhe des Schulgeldes hing in jedem besonderen Falle von der Bestimmung des Herrn Ulrich ab, der sich dasselbe je nach Schätzung der Vermögensverhältnisse seiner Schüler zahlen ließ. Es waren Knaben in der Schule, von welchen er sich für den bloßen Unterricht und zwei tägliche Arbeitsstunden, die ein Hilfslehrer überwachte, zehn und zwölf Thaler monatlich entrichten ließ. Andere Knaben und Mädchen zahlten drei, vier, sechs Thaler den Monat, und als wir in einer späteren Zeit, in welcher mein Vater sich in schlechten Vermögensverhältnissen befand, vier Geschwister zugleich die Schule besuchten, erklärte Herr Ulrich sich aus freiem Antriebe dazu bereit, uns für ein Monatsgeld von zehn Thalern alle viere in der Schule unterrichten zu wollen. Er hatte dabei den Grundsatz, daß solch ein gemeinnütziges Institut, wenn in demselben keine kleinliche Sparsamkeit in Bezug auf die Wahl der Lehrer herrschen solle, von den Eltern je nach ihren Kräften unterstützt werden müsse; und da er sich für berechtigt hielt, soviel für den Unterricht zu verlangen, als er erhalten konnte, so nahm er dafür auch gelegentlich für einen oder ein Paar begabte Schüler einen ganz besondern Lehrer an, der ihnen in der Schule selbst einen Privatunterricht ertheilte, wenn sie dem gemeinsamen Unterricht entwachsen waren. Ich selbst und eine noch in Berlin lebende Dame haben auf solche Weise von einem vortrefflichen Lehrer lange Zeit hindurch einen besonderen Unterricht im Französischen erhalten.

Mit dieser Ansicht über die Individualisirung der[87] Schüler, welche freilich in einer Privatschule, die schwerlich jemals mehr als hundert Schüler gezählt hat, leichter zu bewerkstelligen war, als in den großen öffentlichen Anstalten, hing auch die Methode zusammen, daß man in den verschiedenen Gegenständen bisweilen in verschiedenen Klassen unterrichtet wurde. Das hatte freilich für den Stundenplan große Unbequemlichkeiten, und wer zu diesen Ausnahmen von der Gesammtheit gehörte, konnte mitunter auch leere Stunden haben, in welchen man ihn mit Schreiben nach Vorschriften oder mit Zuhören in irgend einer andern Klasse beschäftigen mußte; aber es brachte doch vorwärts, und kam den Schülern auch dadurch zu Gute, daß es ihnen selbst ihre Befähigung für irgend einen Gegenstand feststellte, und ihren Eifer und ihre Neigung auf diesen hin verwies.

Wir hatten nur fünf Klassen, und sie waren, mit Ausnahme der Handarbeitsstunden, sehr klein. Die Versetzungen waren also selten, da der ganze Kursus auf etwa neun Jahre, vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahre angelegt war. Indeß befanden sich, als ich die Schule besuchte, nur zwei Schülerinnen in derselben, welche gleich von Anfang an in der Anstalt unterrichtet worden waren. Die Eine war ich selbst, und die Andere war ein schönes liebenswürdiges Mädchen, Angelika Michalski, einige Jahre älter als ich, die Tochter eines reichen Eisenhändlers, die ich liebte, eben weil sie so schön und freundlich war.

Herr Ulrich hatte eine Vorliebe für uns Beide. Er hob es gern hervor, daß wir recht eigentlich seine Schülerinnen wären, und wir haben auch immer zu Denen [88] gehört, welche von den üblen Seiten seines Charakters nicht viel gelitten haben. Er war nämlich von einer ungemessenen Heftigkeit und in derselben der größten Rohheit und Unbarmherzigkeit fähig. Hatte eine Unachtsamkeit, hatte ein Versehen, eine kindische Unart ihn gereizt, so fuhr er wie ein Rasender empor, und hatte er sich mit den häßlichsten Schimpfworten noch nicht genug thun können, so half er sich, indem er die Schüler ohrfeigte, sie an den Ohren zauste, sie am Arm in der Stube herumriß, oder ihnen die Bücher an den Kopf warf und sie mit dem Stiele seiner langen Pfeife – er rauchte die ersten beiden Morgenstunden immer – auf den Schädel schlug, was sehr empfindlich gewesen sein soll. Die regelmäßigen Strafen seines ganz drakonischen Systems waren gegen diese Rohheiten eine Erleichterung. Regelmäßig und mit Vorbedacht mit dem Lineal auf die Handfläche geschlagen zu werden, war besser als im Zorne abgestraft zu werden; und nachbleiben oder eine schlecht geschriebene Arbeit bis zum nächsten Tage fünf, sechs mal abschreiben zu müssen, das waren die nicht fleißigen Schüler so gewöhnt, daß ihnen dies gar nicht wie eine besondere Härte er schien. Wer schlecht liniirt hatte, blieb nach und liniirte fünfzig Seiten zur Strafe; wer ein Buch vergessen hatte, stand im Winkel, und ich glaube, ein Tag, an welchem Niemand bestraft worden wäre, kam in der Schule gar nicht vor.

Herrn Ulrichs Laune war dazu noch äußerst wechselnd. Wir lebten, ich lasse es ungesagt mit welchem Rechte, des Glaubens, daß er hohes Kartenspiel spiele, dabei die Nacht oft spät wache, und daß er, wenn das [89] der Fall gewesen sei, und er im Spiele kein Glück gehabt habe, immer am allerschlimmsten für uns gestimmt wäre. Eine Thatsache, die ich in den ersten Jahren meines Schulbesuchs noch mit erlebt habe, war es, daß er mitunter erst zum Morgengebete kam, wenn wir ihn lange erwartet hatten. Er sah dann übernächtig aus, hatte einen bis auf die Füße gehenden grauen Rock an, der es aber doch nicht verhüllte, wie er darunter noch nicht gehörig angezogen war, und selbst seine Frau, die ihm in der ersten Stunde den Kaffee hineinbrachte, und auch die Lehrer gingen ihm an solchen Tagen sichtlich aus dem Wege. Wer in solchen Stunden keinen Unterricht bei ihm hatte, pries sich von ganzem Herzen glücklich. Er ging dann finster umher, die Nägel kauend, die weiße Kreide von der Rechentafel in der Hand, in welche er aus Zerstreutheit bisweilen hineinbiß, daß die Lippen ihm weiß wurden, und er noch ärger anzusehen war. Der Unterricht aber blieb dabei vortrefflich, und obschon wir Alle ihn fürchteten, obschon wir Alle die größten Ungerechtigkeiten von ihm erfahren hatten, und ihm selbst die Härte gegen seine vortreffliche Frau und gegen Mademoiselle Aune mit kindlichem Gerechtigkeitsgefühle nachtrugen, so werden doch, mit Ausnahme einiger unbegabter Schüler, gegen welche sein Verhalten unverantwortlich war, nur Wenige in der Schule gewesen sein, die ihn im Grunde ihres Herzens nicht trotz alledem verehrt hätten, und sich seiner nicht gern und dankbar erinnern.

Wie das möglich war, das ist nicht schwer zu sagen. Auch der Einfältigste von uns mußte es nämlich erkennen, [90] mit welcher Leidenschaft Herr Ulrich bemüht war, uns vorwärts zu bringen, wie warm unser Wohl ihm am Herzen lag, wie glücklich, ich brauche dies Wort mit Absicht und Bewußtsein, jeder unserer Fortschritte ihn machte. Er litt thatsächlich von unseren Fehlern, und ich erinnere mich noch, wie er einmal, als er ein sehr träges, schlaffes und schon halb erwachsenes Mädchen mit Heftigkeit von seiner Bank emporgerissen hatte, plötzlich in den Ausruf ausbrach: »ich bin kein Lehrer für Dumme! ich kann nur gescheute Kinder unterrichten!« – Er ließ das Mädchen wieder auf seine Bank zurücksinken, und entfernte es dann bald darauf aus der Schule, weil es wirklich für seine Art des Unterrichts nicht paßte. Aber auf mich machte er an jenem Tage einen unvergeßlichen Eindruck. Obschon ich höchstens neun oder zehn Jahre alt gewesen sein kann, verstand ich an dem Tage den ganzen Zustand, ja den Charakter unseres Lehrers, und ich hing von da ab mit einer Art von scheuem Mitgefühl an ihm.

Dazu war seine Art zu unterrichten die angenehmste und geistreichste, welche mir jemals vorgekommen ist. Er stellte die Thatsachen hin und machte es uns durch seine sehr kurzen, sehr bestimmten und eng auf einander folgenden Fragen möglich, die Ursachen derjenigen Dinge zu finden, die uns zu Anfang der Stunde noch fremd und überraschend dagestanden hatten. Damit hing es zusammen, daß er verhältnißmäßig wenig vortrug, daß wir es aber lernten, leicht und bestimmt zu sprechen, und daß wir geistig fortdauernd thätig, immerfort eine Art von Siegesbewußtsein genossen. »Seht Ihr wohl, [91] das habt Ihr nun ganz von selbst gefunden, das ist ganz einfach!« pflegte er zu sagen, wenn er uns den Weg zu neuen Erkenntnissen so vorbereitet hatte, daß wir ihn unmöglich verfehlen konnten. Er schleuderte, wie man es mit einem Kinde thut, das man zum Gehen gewöhnen will, die Kugel weit vor uns hinaus und hielt uns immer auf dem Wege fest, auf welchem wir ihr nachkommen und sie finden mußten.

Im Ganzen lernten wir, den einzelnen Gegenständen nach, viel weniger als es jetzt üblich ist. Wir hatten Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, Geographie, Geschichte, in der deutschen und in der französischen Sprache, und sehr schlechten Unterricht im Gesang und im Zeichnen. Naturwissenschaften und Literaturgeschichte wurden gar nicht gelehrt. Von den Ersteren war damals überhaupt nicht viel die Rede, und was die Literatur und ihre Geschichte anbetraf, so hieß es, wenn wir in dem deutschen Sprachunterricht in der ersten Klasse Schiller'sche oder andere klassische Gedichte aufgesagt hatten, wir könnten jetzt wohl Schiller's, oder diese und jene Werke zu lesen beginnen, wenn wir Zeit hätten, es sei für unsere Bildung nothwendig und würde uns Vergnügen machen. Ganz eben so wurden wir, als wir alte Geschichte lernten, angewiesen, die Beckerschen Erzählungen und die nöthigen mythologischen Erklärungen zu unserem Vergnügen nachzulesen. Man nahm auch in diesem Falle an, daß wir uns selber helfen sollten, und wir halfen uns auch selbst.

Auf die deutsche Sprache, auf Rechnen und Geschichte wurde die größte Achtsamkeit und verhältnißmäßig [92] die meiste Zeit verwendet, und ein guter Kopfrechner zu sein, war Ehrensache in der Schule. Viele Bücher hatten wir nicht. Die deutsche Grammatik diktirte Herr Ulrich uns selbst in den allereinfachsten Sätzen, wie er sie uns eben sprechend entwickelt hatte, und wir lernten sie auswendig und schrieben freie Beispiele danach. Für Geographie hatten wir den Leitfaden von Cannabich, für die Geschichte einen Auszug von Galetti, der nur Thatsachen und Jahreszahlen enthielt, und wir arbeiteten die Vorträge aus, welche unsere Lehrer uns frei gehalten hatten. Später kam in der ersten Klasse eine preußische Geschichte von Heinle hinzu. Dann benutzten wir als Kinder die biblischen Geschichten von Kohlrausch, die Campe'sche Entdeckung von Amerika, und ein Lesebuch, eine Art Anthologie, von Betty Gleim. Ich glaube, ein Paar französische Bücher, wie die Comödien von Frau von Genlis, und ihre petits émigrés ausgenommen, ist Alles genannt, was ich in den sieben und ein halb Jahren meines Schulbesuches an Büchern gebraucht und besessen habe.

Auch von alle den übrigen Hülfsmitteln für den Unterricht, von Globen, von Tafeln für die Erklärung der mathematischen Geographie, die man jetzt in Anwendung bringt und welche man in anderen Schulen wohl auch damals schon gehabt haben wird, war bei uns nicht viel die Rede. Herrn Ulrichs Eigenartigkeit oder der damals gewiß nicht sehr geordnete Zustand seiner Kasse ließen ihn dergleichen Hülfsmittel verschmähen. Ich erinnere mich in diesem Augenblicke mit Lachen an das Experiment, durch welches uns seiner Zeit die Bewegungen [93] der Erde um ihre Achse und um die Sonne deutlich gemacht worden sind. Der Schwamm von der Rechentafel stellte dabei die Erde dar, zwei aus der Nebenstube herbeigeholte Stiefelaufzieher wurden an die Stellen der Pole eingehakt, und während eines der Mädchen ein Stück Kreide als Sonne festhielt, bewegte Herr Ulrich sich mit seinem Schwamm und seinen Stiefelhaken als Erde um dieselbe herum. Der Unterricht und die ganze Haltung der Klasse waren jedoch so ernsthaft, daß wir damals das Komische des Vorgangs gewiß nicht empfunden haben. Die Eintheilung durch die Meridiane und Linie wurde uns an der Klassentafel vorgezeichnet, und wir zeichneten sie zu Hause so gut wir konnten nach. Ebenso wurde es mit den Landkarten gehalten, deren wir freilich gute in der Schule hatten, und selbst die Geschichtstabellen wurden uns diktirt, obschon wir den Galetti besaßen. Wir mußten uns so zu sagen das Material für unseren Unterricht immer erst erschaffen. Es war eben Alles darauf berechnet, uns zum selbstständigen Denken, zur Selbstthätigkeit anzuleiten, und die Schule bot uns dadurch mehr als Unterricht, sie half uns erziehen.

Auffallend war es übrigens, wie sehr Herr Ulrich, der seine eigene Maaßlosigkeit und Formlosigkeit als schwere Fehler empfinden mochte, seine Schüler zur Beobachtung der Form und des Maaßes anhielt. Sein scharfes Auge und sein feines Ohr sahen und hörten an uns die geringste üble Angewöhnung in Miene oder Sprache. Eine Heftigkeit im Ausdruck oder in der Bewegung wurde gleich getadelt, ein Schrei bei einem [94] Schreck, zu welchem gerade unser Geschlecht so leicht seine Zuflucht nimmt, als »gemein« bezeichnet, und sich bei dem Fortgehen aus der Schule auf das Sorgfältigste anzuziehen, Nichts an sich in Unordnung zu haben, war ein unumstößliches Gesetz. Die kleinen Mädchen wurden von den Großen angekleidet, und manchmal, wenn man es sich gar nicht versah, stand Herr Ulrich an irgend einer Straßenecke, um zu sehen, ob wir auf dem Wege auch nicht stehen blieben, ob wir nicht laut sprächen, oder sonst irgend eine Nachlässigkeit an uns zur Schau trügen. Einem Mädchen, das einmal im Nachhausegehen ihren Arbeitsbeutel über die Schulter geworfen hatte und so einhergeschlendert war, wurde dies lange Zeit zum Vorwurf gemacht, und bei jedem Tadel über ein Versehen wurde der Armen der Vorwurf eingeschoben: freilich, wer sich den Pompadour über die Schultern hängt, der kann auch dies und das thun.

Strenge Gewöhnung zur Ordnung und Selbstbeherrschung, feste Unterwerfung unter eine bestimmte Disziplin und möglichste Heranbildung zu innerer Freiheit waren die Aufgaben, welche Herr Ulrich sich gestellt hatte, und in einer wirklich genialen Weise wußte er diese Ziele zu verfolgen. Während in der dritten und zweiten Klasse das Rechnen und namentlich auch das Kopfrechnen fast als das Wesentlichste betrachtet wurde, weil es am meisten zwingt, die Gedanken zu konzentriren, wurden in der ersten Klasse die Geschichte und die deutsche Sprache und in dieser der klare Ausdruck der Gedanken zur Hauptsache gemacht. Das war sehr folgerichtig, denn das Rechnen lehrt denken, die Geschichte giebt Gedanken, [95] und mit dem Unterricht in der Handhabung unserer Muttersprache wird uns die Möglichkeit gegeben, unsere gewonnenen Gedanken auszudrücken.

Wir hatten deshalb wöchentlich zwei größere deutsche Aufsätze zu liefern, wobei wir mitunter auch Briefe schreiben mußten, die dann wirklich in Briefform und gehörig couvertirt abgeliefert werden mußten. Wir lernten für diesen Zweck einmal in ein Paar besondern Stunden die Kunst, ein Couvert zu machen, und die verschiedenen Arten Briefe und Billete, je nach den Veranlassungen, passend zusammen zu falten. Und damit bei unseren zweimaligen Stylübungen in der Woche dem Lehrer die Zeit zu korrigiren nicht zu kurz würde, hatten wir doppelte Aufsatzbücher, so daß die Korrekturen mit der größten Sorgfalt ausgeführt werden konnten.

Auf irgend welche Gespräche, die nicht bestimmt auf den Unterricht Bezug hatten, ließ Herr Ulrich sich mit uns niemals ein. Nur in den Stunden warf er mit unter eine allgemeine Betrachtung oder Lehre, aber auch diese meist nur als kurze Sentenz hin, und ihr Sinn ging in der Regel darauf hinaus, uns vor Scheinwesen, vor Ansprüchen und Pedanterei zu bewahren. Ihr sollt Etwas lernen, hieß es dann wohl, aber nur um Etwas zu sein. – Was von Wissen außen an Euch hängen bleibt, ist Plunder; was nicht in Fleisch und Blut übergeht und Euch tüchtig macht, ist Euch gar nichts nütze. – Was der Mensch von seinem Wissen nicht augenblicklich zur Hand hat, wenn er es braucht, das hat er gar nicht, also lernt es, Eure Gedanken zusammenzuhalten. –

[96] Nach diesem Grundsatz war laut, schnell und bestimmt zu antworten, Etwas wozu wir von der frühsten Kindheit angehalten wurden, und ich glaube, daß es der Ruf der Tüchtigkeit ihrer Schüler gewesen ist, welcher der Ulrich'schen Schule immer wieder die Töchter der angesehensten Kaufmannsfamilien zuführte, denn aus diesen, aus den Tamnau's, Zornow's, Skerley's, Gädike's u.s.w. bestanden die Klassen zumeist, während das Gerücht von Ulrichs persönlicher Maaßlosigkeit in aller Leute Munde war und man dieselbe vielfach tadeln und verdammen hörte.

Ich selbst habe einmal als Kind von ihm einen freilich nur leichten Stoß gegen die Schulter bekommen, als Strafe für eine Unachtsamkeit. Aber mein Vater, gegen den ich mich darüber beklagte, hatte daraus Anlaß zu einer ernsten Rücksprache mit Herrn Ulrich genommen, und während ich durch dieselbe vor jeder weiteren Unbill bewahrt wurde, hatte jenes Aussprechen zwischen den beiden Männern eine gegenseitige Werthschätzung hervorgerufen, welche mir sehr zu Statten kam. Herr Ulrich neckte mich wohl bisweilen mit meiner Weichlichkeit, aber ich wurde stets rücksichtsvoll von ihm behandelt, und auch in dieser kleinen Welt erzeugten oder erhielten die Sklaven ihren Tyrannen selbst – sei es, daß die Verzagtheit der Kinder sie ihre Klagen verschweigen machte, oder daß die Eltern schwach genug waren, ihren Kindern ohne Widerstand ein Unrecht zufügen zu lassen.

[97]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

Es ist sehr schwer, von den Erlebnissen der Kindheit, von den innern sowohl als von den äußern mit einer Art von Folgerichtigkeit zu sprechen, weil die Eindrücke in der ersten Zeit des Lebens das Kind in solcher Massenhaftigkeit bestürmen, daß man es, wenn man es unternimmt, dieselben nachzudenken, kaum begreifen kann, wie das Kind so Vieles auf einmal in sich aufzunehmen vermag.

Gleich mit dem Eintritt in die Schule tritt die Nothwendigkeit, für uns selbst zu denken und zu stehen, und mit ihr die Lebenssorge an das Kind heran. Der Eintritt in die Schule ist der Eintritt in das allgemeine Leben überhaupt. Aus dem engen Bereich des Hauses und der Familie, in welchem Jeder uns kannte, Jeder uns bekannt war, in welchem alle Liebe und Vorsorge uns als freie Gnade ungesucht und wie selbstverständlich zu Theil ward, finden wir uns bei dem Eintritt in die Schule plötzlich in einen Lebenskreis versetzt, in welchem zwar auch noch liebende Sorgfalt über uns wacht, in dem wir aber anfangen müssen, den Antheil von Liebe und alles dasjenige zu verdienen, was wir zu erreichen wünschen. Man fängt an unser Thun zu wägen, man [98] rechnet und rechtet mit uns. Liebe, Theilnahme, Vergebung kommen uns nicht mehr als selbst verständliche Gunst entgegen. Wir sind nicht mehr die Einzigen, denen sie zugewendet werden. Wir bekommen unseres Gleichen, wir bekommen Bessere und Geringere als wir zu Gefährten, wir sind nur noch ein Theil des Ganzen und müssen es lernen, in der Masse zu leben, uns in der Masse zu bescheiden. Wollen wir uns in derselben erhalten, so müssen wir suchen uns derselben anzupassen, wollen wir uns bemerkbar machen, müssen wir uns auszeichnen. Unsere Fügsamkeit wird geübt, unsere Selbstständigkeit erweckt, unser Ehrgeiz angeregt. Wir befinden uns nicht mehr allein neben den Eltern und den Geschwistern, die zu lieben uns angeboren und anerzogen, die nicht zu lieben, ein Unrecht ist. Unsere Liebe, unsere Abneigung gewinnen Freiheit, wir werden frei im Lieben und im Hassen. Alles, was da ist, ist noch für uns und unser Bestes da, aber nicht mehr allein für uns. Der Lehrer, so sehr er auch Rücksicht nehmen mag auf die Eigenthümlichkeit des Einzelnen, kann sich dieser doch nicht so anpassen, wie dies zu Hause im besonderen Unterricht geschah. Das Kind muß sich vielmehr den verschiedenen Unterrichtsweisen der verschiedenen Lehrer anzupassen suchen, und nicht nur für die Neigung zu seines Gleichen hat es freie Wahl, es kann sich jetzt auch die Gegenstände seiner Verehrung wählen nach eigenem Gefallen, es wird frei in sich, unter der Herrschaft eines Allen gemeinsamen Gesetzes. Wie in einer gut komponirten Dichtung alle handelnden Personen allmählich und kaum merklich in die Scene geführt werden, so [99] werden durch den Besuch der Schule auf die geschickteste Weise eine Menge der Kräfte und Fähigkeiten in dem Kinde in Thätigkeit gesetzt, welche die eigentlichen Triebfedern und Regulatoren unseres Lebens werden sollen.

Ich habe in diesem Betrachte diejenigen Mädchen, welche zu Hause erzogen werden, immer beklagt. Die Schule bietet grade ihnen, deren Dasein sonst ganz in der Familie verfließt, die eigentliche Vorbildung für das Leben in der Welt und unter den fremden Menschen. Zu Hause bleiben sie, auch wenn mehrere Geschwister bei einander sind, immer den schädlichen Einflüssen unterworfen, unter denen einzige Kinder und Fürstenkinder zu leiden haben. Sie werden nothwendig verwöhnt. Alles, was da ist, ist um ihretwillen da. Der Lehrer der kommt, kommt nur um ihretwillen, ist bezahlt für sie, hat keinen Zweck als sie. Ihre Spielgefährten, ihr Umgang werden ihnen ausgesucht. Das Unrecht, die Unart können ihnen fern gehalten werden, und werden ihnen fern gehalten, sie sehen es nicht so leicht, sie beurtheilen es nicht selbst, sie haben kein Verdienst daran, wenn sie sich davor bewahren. Sie werden nothwendig unfreier und beschränkter als diejenigen, welche man in größern Gemeinschaften mit Andern, in Schulen erzieht, und die sogenannte Reinheit und Zartheit des Empfindens, welche man in den reichen und vornehmen Familien mit einer solchen Sondererziehung zu erreichen vermeint, waren, so oft ich Gelegenheit hatte, die Resultate dieser Erziehung in der Nähe zu betrachten, meist nicht viel mehr als eine scheue Weichlichkeit, die sich in sich selbst mit wohlgefälligem Dünkel zurückzog, weil sie sich vor [100] dem Ernst und vor der rauhen Seite des Lebens fürchtete. Es ist aber dem Menschen, der im Leben viel zu irren bestimmt ist, ein großer Gewinn, wenn er es zeitig an sich und an Andern lernt, daß unsere Irrthümer und unsere Fehler ihre Strafe in sich tragen, wenn die Schule ihm die Gelegenheit bietet, sich durch fremde Fehler, durch fremde Irrthümer gelegentlich zu belehren, und es ist ihm besser, daß er zeitig zwischen Gut und Böse wählen lernt, als daß er vor dem Bösen erschrickt oder gar sich über dasselbe erhaben glaubt.

Abgesehen von diesem erziehenden Element der Schule, das man nicht hoch genug veranschlagen kann, hat sie noch den Vorzug, daß sie dem Akte des Lernens eine erhöhte, eine ernstere Bedeutung giebt. Denn wie der Mensch auf einer bestimmten Lebensstufe des Gotteshauses, der Kirche, welche ihn seiner täglichen Umgebung entrückt, für seine Erhebung nicht wohl entbehren kann, so empfindet das Kind ganz anders in den Räumen eines Schulhauses, als in den väterlichen Zimmern, in denen sein tägliches Leben sich bewegt. Es hört nicht die Stimme der Mutter, nicht den spielenden Ruf der Geschwister, nicht den Ton der häuslichen Arbeit, es wird nicht zerstreut, nicht abgezogen.

Die Schule ist dem Kinde sein erster Tempel, die Lehrer sind die Priester desselben, und losgetrennt von der gewohnten heimischen Umgebung empfindet das kleine Geschöpf sich nicht als Kind seines Vaterhauses, sondern rein als Schüler. Es ist nur um des Lernens willen da. – So aber muß der Boden vorbereitet sein, wenn die Saat des Unterrichtes gute Früchte tragen soll, [101] und ich erinnere mich noch mit Freude der bis zur Leidenschaft gesteigerten Wißbegier, mit welcher ich den Stunden mancher Lehrer entgegenharrte.

Die Zahl unserer Lehrer war gering, wie die Zahl unserer Bücher. In den unteren Klassen unterrichteten Madame Ulrich, Mademoiselle Aune und ein jüngerer Bruder des Direktors, der sogenannte kleine Ulrich, fast ausschließlich. Madame Ulrich, die durchweg geistreich und von dem feinsten Herzen, dabei auch sehr unterrichtet war, gab uns den Schreibunterricht und erzählte die biblische Geschichte. Mademoiselle Aune lehrte lesen und die Anfangsgründe des Französischen. Der kleine Ulrich, eine etwas verkommene, zaghafte Natur, ertheilte Unterricht in der Geographie, und nur das Rechnen behielt der Direktor sich selber vor.

Regelmäßige Versetzungen hatten wir, wie schon gesagt, eben so wenig als regelmäßige Schulzeugnisse oder regelmäßige Schulprüfungen. Diese wie jene fielen mitunter aus. Aber da in dem täglichen Thun und Treiben die strengste Ordnung unwandelbar gehandhabt wurde, so machten die Unregelmäßigkeiten in den äußern Dingen keinen nachtheiligen Eindruck auf uns, und die Zeugnisse unter allen schriftlichen Arbeiten boten den Eltern doch die nöthige Controlle über unsern Fleiß.

Ich selbst machte die drei untern Klassen schneller durch als es sonst gewöhnlich war, und befand mich denn mit dem Anfang meines neunten Jahres in der zweiten Klasse, in einem Kreise von Mädchen, die alle zwei, drei Jahre älter als ich, theils mit Geringschätzung auf mich herabsahen, theils geneigt waren, ein Spielzeug [102] aus mir zu machen. Mir dies Letztere gefallen zu lassen war ich aber zu ernsthaft, und von der Geringschätzung zu leiden, hinderte mich mein Hochmuth. Ich hatte eine außerordentlich große Meinung von meinen Anlagen und von meinem Wissen, und diese zu unterdrücken hatte Herr Ulrich nur ein Mittel: er hielt mir beständig das Beispiel eines Knaben vor, der kurz vor mir die Schule besucht hatte und viel schneller vorwärts gekommen war, viel mehr geleistet hatte, als ich. Dieser Knabe hieß Eduard Simson, und ist der in unserm politischen Leben rühmlich bekannt gewordene Präsident und Professor Eduard Simson.

Was ich auch thun mochte, was ich auch begann, selbst wenn er mich lobte, immer setzte Herr Ulrich hinzu: Eduard Simson war in Deinem Alter viel weiter! Eduard Simson rechnete in Deinem Alter schon Gleichungen! Eduard Simson konnte dies und das! – Kurz, Eduard Simson, der mir außer der Schule von Kindesbeinen an ein lieber Spielkamerad gewesen war, wurde bis in mein zehntes, eilftes Jahr in der Schule mir ein Schreckbild und ein Vorbild zu gleicher Zeit.

Wir befanden uns damals in den Tagen der Wunderkinder. Karl Witte lebte als Mirakel in aller Leute Munde, und wenn Herr Ulrich zu viel gesunde Vernunft hatte, um aus seinen Schülern Wunderkinder erziehen zu wollen, so setzte er doch einen Stolz darin, daß sein Schüler Eduard in sehr frühem Alter in eine der oberen Klassen des Gymnasium Fridericianum aufgenommen worden war; und mein schnelles Fortschreiten in das [103] Licht zu stellen, wenn einmal Fremde die Schule besuchten, machte ihm gleichfalls Freude.

Eine weniger gesunde Natur als die meine würde durch ein solch geflissentliches Darniederhalten mit einem Vorbilde leicht zu entmuthigen gewesen sein, in mir aber steigerte es nur den Ehrgeiz und den Wissensdurst, und ich war in jenen Zeiten auch so sehr beschäftigt, daß ich zum Grübeln oder zum Sorgen keine Muße hatte. Es waren lauter neue Welten für mich aufgegangen. Von der Spannung, mit welcher ich den Thaten des Kolumbus, des Cortez gefolgt war, von dem Antheil, den die Leiden Montezuma's mir einflößten, dessen Seelenruhe mich unbeschreiblich gerührt hatte, wendete sich mein Enthusiasmus den griechischen Helden zu, und ich weiß noch, mit welch flammenden Backen wir da saßen, wenn uns Herr Ulrich mit seiner etwas trockenen, aber sehr energischen Weise den Heldenmuth eines Leonidas, die Größe eines Themistokles schilderte, oder wenn er uns die bezaubernde Liebenswürdigkeit von Alcibiades und seine Anhänglichkeit an seinen Lehrer Sokrates darstellte. Man bedenkt es niemals genug, daß lebhafte Kinder die Thatsachen der Weltgeschichte ganz persönlich erleben, daß Amerika für sie eben jetzt erst entdeckt, daß alle Helden- und Großthaten für sie eben jetzt erst gethan werden, und daß sie in dem Raume weniger Jahre die Ueberraschungen und Entzückungen der ganzen Vorzeit gleichsam in sich selbst nachzuleben berufen sind.

Neben meinem Interesse an der Weltgeschichte, oder noch früher als dieses, war aber meine Leidenschaft für das Mährchen und überhaupt für die Poesie erwacht, [104] und man leistete zu Hause dieser Neigung Vorschub, indem man mir bereitwillig so viel Bücher zuführte, als ich nur verlangen konnte. Die Auswahl wurde jedoch von meinem Vater sorgfältig getroffen, und ich bekam niemals ein neues Buch, ehe ich das alte nicht mehrfach durchgelesen hatte.

Verwandte und Freunde des Hauses gaben es den Eltern manchmal zu bedenken, daß so viel Lernen und Lesen mir physisch schaden könne, indeß die Eltern hatten den praktischen Nutzen erfahren, den eine geistige Beschäftigung, welche mir von außen Bilder zuführte, für mich hatte, und ließen sich zu meinem Glücke nicht beirren. Denn seit ich in die Schule ging, seit ich lesen konnte, und mir also auf jede Weise Beschäftigung geboten wurde, war ich ein gesundes Kind geworden. Alle die thörichten unverstandenen Vorstellungen, welche mir Ruhe und Schlaf geraubt hatten, die Angst vor Erdbeben, Pest und Todesfällen, die wüsten Bilder, die mich gepeinigt, waren wie mit einem Schlage verschwunden. Ich hatte jetzt tausend Dinge an die ich denken konnte, und wollte meine Phantasie doch ihr Recht haben, so waren Schneewittchen und der Däumling, so waren das Rößlein Fallada und die Tarnkappe da, um mich zu beschwichtigen, bis die Mährchen der Tausend und einen Nacht alle anderen Mährchen bei uns verdrängten.

Die Vorliebe für diese orientalische Mährchenwelt hat mich auch jetzt noch nicht verlassen, und der breite, freie Realismus, in welchem die Phantastik dort ihr Wesen treibt, der große Styl, in welchem das Mährchen dort [105] behandelt wird, scheinen mir noch heute unvergleichlich. Das deutsche Volksmährchen hat, obschon es auch aus dem Orient herstammt, etwas Knappes, Anekdotenhaftes. Man erzählt es sich in kalten Winterabenden, es schildert wenig, seine Abenteuer stoßen den Armen und Gedrückten zu, seine Wunder klemmen sich in das enge Haus und selbst seine Könige und Prinzen kauern sich gleichsam in sich selbst zusammen. In den orientalischen Mährchen ist die Behandlung breit und episch. Man meint es ihnen anzuhören, daß sie in den weiten Hallen des Bazars, unter den Zelten der lagernden Karawanen ihren Ursprung hatten, daß warme Sommernächte sie bilden halfen, daß das Murmeln der Fontainen den Ton ihrer Worte begleitete, und daß Farbe und Licht, daß Pracht und Herrlichkeit vollauf zu finden war in der Phantasie Derjenigen, welche sie erzeugten. Ein großer, man möchte sagen ein historischer Zug durchweht sie, das Leben darin ist bewegt, die Aktion leidenschaftlich, und die Tragik und das Elend selbst sind darin mit jenem Humor behandelt, der sich das Herz von augenblicklichem Leid nicht betrüben lassen will, weil er das Unglück als etwas ansieht, das vorübergehen muß. Bagdad, der menschliche Kalif Harun Alraschid, Scheherezade, Sindbad, die redenden Fische waren mir eine Quelle immer neuer Freude. Und was mir diese Freude noch erhöhte, war, daß mein Vater alle diese Dinge gleichzeitig mit mir las, daß er die schöne Fähigkeit hatte, sich selbst jugendlich daran zu erfreuen, und daß er es nicht müde wurde, sich solch ein Mährchen immer wieder von mir vorlesen zu lassen, oder mit mir, [106] so oft ich wollte, die Verse der rothen, gelben und blauen Fische herzusagen, und mich nach Herzenslust davon sprechen und erzählen zu lassen.

Wenn ich mich aber in der Schule für die Griechen und Römer begeistert, und in meinen Freistunden in den Herrlichkeiten und Wundern des Orients geschwelgt hatte, bot das Leben im Vaterhause mir gegen das Alles ein sehr gesundes und praktisches Gegengewicht. Die Zahl meiner Geschwister hatte sich schnell vermehrt. Zu den beiden Brüdern war, noch ehe ich die Schule zu besuchen angefangen, eine Schwester Clara hinzugekommen, und im Jahre achtzehnhundert neunzehn ein dritter Bruder. Es war also viel Kinderspiel um mich her, und ich theilte dies um so lieber, da ich, als die Aelteste dabei, immer etwas anzuordnen und zu erfinden hatte.

Wir waren täglich sechs Stunden in der Schule beschäftigt, hatten zu Hause reichlich eine Stunde zu arbeiten, und da man mich zeitig in Musik zu unterrichten angefangen, und ich also auch täglich eine Weile Klavier zu üben hatte, so belief sich, als ich sieben, acht Jahre alt war, meine tägliche Arbeitszeit, mit Ausnahme des Sonntags, Mittwochs und Sonnabends, doch immer auf sieben bis acht Stunden. Ich lernte daher schon früh eine recht ernste Arbeit und mit ihr die Wonne des Feierabends kennen. Im Sommer ging es an den Tagen, an deren Nachmittagen wir Schule hatten, erst um halb sechs Uhr Abends in das Freie, und weil dann für große Wege unsere Zeit und unsere Kräfte nicht ausreichten, so wurden wir meist nach dem Kneiphöfischen [107] Junkergarten gebracht, der nur einige hundert Schritte von unserer Wohnung entfernt lag.

Der Junkergarten stammte noch aus den Zeiten, in denen jede der drei Städte von Königsberg ihr eigenes Regiment gehabt hatte. Dicht an das Kneiphöfische Rathhaus schloß sich ein nicht unbedeutendes Gebäude, der Junkerhof, mit einem großen Saale an, dessen Decke mit sehr schwerer Stuckaturarbeit verziert war, und von deren Ecken kolossale Hautrelief-Gestalten ihre muskulösen Beine und Füße in den Saal hinunterstreckten. Dieser Junkerhof hatte einst wohl den Banketten der Junker gedient, nun wurde er als Festhalle für die großen Bälle und Konzerte benutzt. Unfern, nur durch eine schmale Straße von ihm getrennt, befand sich der Junkergarten. Man ging durch ein sehr kleines finsteres Thor, unter den Bogen eines Hauses, das zu meiner Zeit eine Art Bürgerressource war, in den Junkergarten hinein, der hart am Pregel zwischen der grünen Brücke und der Köttelbrücke gelegen, an der einen Seite von den Häusern der Magistergasse, an der andern zum Theil von der Börse, zum Theil von einem hohen Bollwerk eingeschlossen war, und seinen Anspruch, ein Garten zu heißen, nur auf ein Paar Reihen alter Bäume gründen konnte. Aber der ganze Boden, aus dem sie emporwuchsen, war gedielt, weil die Kaufmannschaft den Platz als Sommerbörse benutzte, und er hatte für uns Kinder also den Vortheil, daß wir vollkommen sicher auf demselben spielen konnten, da er auch von der grünen Brücke mit einem nur für Fußgänger passirbaren Thore abgeschlossen war.

Es war nichts weniger als ein schöner, aber uns[108] Kindern ein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Die Kinderfrauen, die dort immer einige ihrer Kollegen zu finden wußten, waren guter Laune; wir trafen Spielkameraden aus befreundeten Familien, und hatten unsere kleine Welt für uns. Eine Kuchenfrau, welche unter dem finstern Bogen an der Bürgerressource saß, verkaufte das unschuldigste, immer verstaubte und von der Luft ausgedörrte Backwerk, das wir dennoch köstlich fanden. Unter dem Bogen waren dort an den Wänden einige alte, zerschossene Scheiben von längst entschwundenen Königsschießen befestigt, deren fürchterliche und roth gekleidete Gestalten aus dem Staube der Jahrhunderte kaum noch kenntlich hervorsahen, und von der Decke hing ein ungeheurer Wallfischknochen herab.

Das Interessanteste aber waren mir immer eine Treppe, die aus der dunklen Halle in das obere Stockwerk leitete, und die Thüre, welche zu ebener Erde nach der Bürgerressource, der sogenannten Peilketafel führte. Die Treppe hatte gar nichts Besonderes. Sie sah wie alle anderen Treppen aus, nur daß sie finster war; und das obere Stockwerk, zu dem sie führte, hatte eben so wenig Etwas, wodurch es sich auszeichnete. In mir jedoch war einmal der Gedanke entstanden, daß die Treppe schaurig aussähe, und daß da oben irgend etwas Merkwürdiges sein, oder geschehen sein müsse. Aber auch in diesem Falle war es mir ganz unmöglich, diese Vermuthung irgend Jemand zu vertrauen, oder die Meinen zu fragen, wer da oben wohne? Ich hatte davor eine instinktive Scheu, die sich wohl auf die Furcht vor einer Enttäuschung gründete. Es wäre Alles aus gewesen, [109] hätte man mir gesagt, dort oben wohne der Gastwirth, oder ein Börsendiener, oder irgend eine Näherin. Ich hätte für ein Nichtwissen, das mich beschäftigte, ein Wissen eingetauscht, welches mir Nichts genützt und meine stille Unterhaltung gestört haben würde, und in allen solchen Fällen leistet man den Kindern gar keinen Dienst, wenn man sie unnöthig aufklärt, wenn man ihnen für ihre Ahnung ein positives Wissen, für ihre Träume ein Faktum giebt. Das ganze innere Leben der Kinder ist ein Halbwachen. Wie das Kind seines Lebens erste Monate im Halbschlaf hinbringt, so setzt sich dieser Zustand auch geistig noch lange in seiner Kindheit fort. All sein Denken ist Staunen, Vermuthen, sein ganzes Dasein ein bald ausgesprochenes, bald unausgesprochenes Fragen, und die Anlagen und der Entwickelungsgang der Kinder sind in jedem von ihnen so verschieden, daß man sie ruhig gewähren lassen muß, wenn nicht irgend eine bedenkliche Erscheinung es nothwendig macht, ihrem allmähligen. Erwachen zum Selbstprüfen und Selbsterkennen vorzugreifen. Je mehr man ein Kind in Ruhe läßt, um so richtiger findet es das ihm Angemessene. Ich ließ es mir still gefallen, von der Kinderfrau dafür gescholten zu werden, daß ich immer in der finsteren Halle steckte, statt unter den Bäumen zu spielen. Ich konnte nicht aufhören, die Treppe und die Thüre anzustaunen. Mir von den Dingen, die da oben sein konnten, eine Vorstellung zu machen, ist mir nie begegnet. Ich unterlag ganz einfältig jenem Banne, den das Fremde, Geheimnißvolle auf uns ausübt, und ich möchte behaupten, daß ich vor der Thüre und der Treppe nie [110] einen anderen Gedanken gehabt habe, als die Frage: was ist da oben?

Mit der Peilketafel aber war es ganz ein ander Ding. Das Peilkespiel, das ich sonst nirgend habe üben sehen, wurde damals noch in allen drei Junkergärten von Königsberg gespielt. Es gehörte dazu eine lange, dem Billard ähnliche Tafel, auf welcher Steine, nach Art großer Damenbrettsteine, ausgesetzt waren, und nach denen mit ähnlichen Steinen geschoben wurde. Das Zimmer, in welchem man Peilke spielte, lag zu ebener Erde, die niedrigen Fenster gingen nach dem Junkergarten hinaus, und obschon kleine weiße Gardinen davor waren, konnten wir doch ein Wenig hineinsehen. Weil ich aber nicht recht klug daraus werden konnte, was die Männer dort begannen, sprach ich zu Hause das Verlangen aus, einmal in die Peilketafel, so bezeichnete man im Volke das Lokal, hineinzugehen, und schon am andern Tage führte mein Vater uns in das Zimmer, in welchem eine Anzahl Männer, unser Nachbar, der Zinngießer Bethge unter ihnen, ihr Löbenichtsches Bier tranken, und mit ihren Kalkpfeifen im Munde theils Peilke spielten, theils dem Spiele zusahen.

Dieser Theil des Junkergartens verlor denn, seit ich ihn genau kannte, sein Interesse für mich. Um so lieber blieb mir aber der Ausgang aus dem Junkergarten, der nach der Köttelbrücke führte, denn da lagen am Bollwerk alljährlich ein oder ein Paar Schiffe, die Töpferwaaren, Steinkrüge und Näpfe, von Bremen nach Königsberg brachten. Die Eigenthümer der Schiffe, unter denen mir eine schöne, alte Frau, wir nannten sie schlechtweg [111] die »Bremerfrau«, im Gedächtniß und lieb in der Erinnerung geblieben ist, wohnten in ein Paar hölzernen Buden am Ufer, und hatten ihre Waaren auf dicken Strohunterlagen weit um sich her ausgebreitet. Da unsere Mutter ihren Bedarf von dieser Frau entnahm, unsere Kinderfrau sehr befreundet mit ihr war, und sich unter ihren Waaren sehr viel Spielzeug für uns befand, so war es immer ein Festtag für uns, wenn wir im Frühjahr endlich das Bremerschiff wieder am Bollwerk liegen sahen, wenn die alte Bremerfrau mit ihren rothen Wangen und ihrer schwarzen, fast holländischen Tracht, wieder auf dem Verdeck zu sehen war, wie sie das Stroh am Ufer ausbreiten, und ihre Waare an das Land tragen ließ.

Alles an der Frau gefiel mir: ihr gutes Gesicht, ihr fremder Dialekt, ihre große herzliche Freundlichkeit für uns Kinder. Sie kannte uns alle beim Namen, sie schenkte uns Schiffszwieback und Aepfel, wenn sie ankam, und weil ganze Haufen der Krüge, Näpfe, Wasserschweinchen und sonstigen Herrlichkeiten, die wir erstrebten, ihr eigen waren, so kam sie mir, obschon die Schätze des Krösus und die Pracht des Orients mir schon sehr geläufige Begriffe geworden waren, doch sehr reich, ja eigentlich ganz unermeßlich reich vor. Sie schenkte uns auch gar häufig von ihrem Spielzeug, und auf einem umgedrehten Napfe mitten unter ihrem Stroh zu sitzen, zuzusehen wie sie mit ihren Käufern handelte, oder Sonntag, wo wir auch am Vormittage in den Junkergarten gingen, dabei zu sein, wenn sie mit ihren Leuten Mittag aß, von dem wir zuweilen in unsern [112] kleinen Näpfen. Etwas zu schmecken bekamen, das war ein großes Vergnügen. Nur die Freude ging noch darüber, wenn der Christian, der wohl ein Schiffsjunge gewesen sein wird, mir beschrieb, wie groß das Meer sei, und wie finstere Nächte es habe, und wie schlimm es sich auf dem Wasser fahre, wenn der Wind heule und die Wellen über das Verdeck schlügen, daß man jeden Augenblick denken müsse, nun sei es aus. Kolumbus, Kortez, Pizarro, Sindbad und Ulysses waren in solchen Augenblicken für mich gar Nichts, im Vergleich zu Christian.

Das waren die Freuden der Schultage. An den freien Nachmittagen gingen wir in einen Bleichgarten, den Dey'schen Garten, der ebenfalls in der Stadt, zwischen den Holzplätzen, aber doch viel freier als der Junkergarten gelegen war. Die Hausfrauen des Kneiphofs ließen dort ihre Wäsche bleichen, und es waren, wie ich glaube, auch eine Kegelbahn und eine kleine Restauration dort eingerichtet. Wir blieben meist die ganzen Nachmittage dort, und gegen Abend, wenn mein Vater sein Comptoir geschlossen hatte, kamen die Eltern uns nach, und spielten noch mit uns, bis die Zeit zur Rückkehr da war. In diesem Garten geschah es, daß mein Vater im Spiel mit uns einen Kassenschein von fünfhundert Thalern aus der Brusttasche seines Rockes verlor, der aber am anderen Morgen, wenn auch von einem Gewitterregen ganz durchweicht, doch glücklich wiedergefunden wurde.

Bisweilen machten wir auch in einer der Vorstädte, auf dem Haberberg, mit der Kinderfrau Besuche bei[113] ihrer Schwester, der Frau Runge, die Wäscherin, und an einen Fuhrmann verheirathet war. Die Tochter der Kinderfrau, einige Jahre älter als wir, und der Sohn der Frau Runge machten dann unsere Spielgefährten. Wir saßen in einem ganz kleinen Gärtchen, in dem blaue Perlblumen, weiße Sternblümchen, Gilken und Marienblätter wuchsen, und ein Mitbewohner des Hauses, ein bejahrter Bombardier, der die Feldzüge mitgemacht hatte, saß rauchend bei uns, und erzählte vom Kriege, wenn wir ihn darum baten.

Dann hatten wir den eigentlichen Spaziergang des damaligen Königsberg, den Philosophendamm. Hippel hatte ihn angelegt, Kant ihn täglich benutzt, und man hatte ihm deshalb den hochtönenden Namen »Philosophendamm« gegeben, obschon er Nichts war als ein kreisförmig angelegter, mit Bäumen, zumeist mit Weiden, besetzter Damm, der sich durch ein Stück Wiesenland an den Gärten der Gemüse- und Kräuterzüchter hinzog. Ein Paar Wassermühlen zum Ablassen des Wassers im Frühjahre, ein Gasthaus, in welchem Artillerieoffiziere Kegel spielten, und vor dem es immer nach brennendem Zündschwamm und nach Lunte roch, eine Reifschlägerbahn, ein Pulverhaus, und weiterhin die feste Friedrichsburg, ein kleines Fort mit einigen Schanzen und Wällen, das wie ein Spielzeug da lag, das war Alles was wir auf diesem Spaziergange erblicken konnten, wenn wir den Hafen verlassen hatten, dessen Kais wir vorher passiren mußten. Aber das ist grade das Schöne an der Kindheit, daß sie überall für sich Gegenstände der Unterhaltung zu finden weiß, und man darf behaupten, [114] daß dieses Auffinden des Genußreichen sich steigert, je enger der Kreis ist, in welchem es gesucht werden muß.

Wir konnten, je nachdem die Jahreszeit vorschritt, das Düngen, Graben, Säen, Pflanzen und Erndten in den Gemüsegärten betrachten. Wir sahen, wie das Wasser allmählich von den Wiesen abgelassen wurde, wir fanden Genuß daran, dem rückwärtsgehenden Seiler mit den Augen zu folgen, wenn er, wie eine Riesenspinne, aus seiner Schürze voll Hanf die Schnüre herausspann. Wir kannten in der Festung den Thürhüter, und einen halbblödsinnigen Burschen, der aus gefärbtem Stroh allerlei Kästchen und Körbe flocht und verkaufte. Wir ließen uns vom Thürhüter erzählen, wie einmal irgendwo ein Pulverthurm geplatzt sei, und gingen dann so fern als möglich um das Pulverhäuschen herum; wir fürchteten uns vor den schweren Verbrechern in den Kasematten, obschon vielleicht gar keine darin waren, und sahen mit neugierigem Mitleid die Strafgefangenen in ihren Ketten bei der Arbeit.

Ueberall wohin wir geführt wurden, hatten wir Vergnügen, und überall waren wir sicher; denn meine Eltern beobachteten die Vorsicht, uns ganz unbemerkt nachzukommen, so daß unsere Wärterinnen sich nicht wohl eine Vernachlässigung oder Unregelmäßigkeit erlauben konnten. Mich gelangweilt zu haben, erinnere ich mich nie, und kein Kind langweilt sich, dem man es möglich macht, nach seiner Neigung sich in der Welt umzusehen, und sich unter den Menschen der verschiedenen Stände zurecht zu setzen. Diese Art von Freiheit, welche uns ohne besondere Ueberlegung, sondern weil es eben das Nächstliegende [115] war, in unserer Kindheit geboten wurde, hat mir durch mein ganzes Leben die besten Früchte getragen, denn ich habe mich von jeher zu Hause gefühlt unter den Leuten aus den handarbeitenden Ständen. Das wird aber den Kindern, und vollends den Mädchen aus den sogenannten gebildeten Klassen im Allgemeinen nicht zu Theil. Sie werden in vornehmer Abgeschiedenheit erzogen; man meint ihnen etwas Gutes zu thun, wenn man ihnen Scheu einflößt vor der Unbildung, vor Allem, was nicht ist wie sie. Und wenn man ihnen dann später auch die Pflicht auferlegt, für ihre armen Mitmenschen in jeder Weise und nach besten Kräften zu sorgen, so hat man ihnen schon die Leichtigkeit genommen, dieser Pflicht zu genügen, indem sie in ihrem Verkehr mit den Ungebildeten, bei ihrem Eintritt in die enge Wohnung der Armen, in sich Etwas zu überwinden, ein Opfer zu bringen haben. Sie leisten damit in sich selbst, von einem gewissen Standpunkte aus betrachtet, vielleicht ein Größeres als wir; was sie aber Denjenigen leisten, denen zu helfen, die zu trösten sie gekommen sind, das ist wieder eine andere Frage.

[116]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Für die Zeiteintheilung der Erwachsenen, welche ihre Tage zu Wochen, Monaten und Jahren ansammeln, und nach diesen, wie der Kalender es lehrt, vor- und rückwärts zählen, hat das Kind lange Jahre hindurch weder die Fähigkeit noch den Sinn. Es rechnet nach den Jahreszeiten und nach seinen Festen, und wer ihm diese letzteren zu vermehren weiß, kommt seinem Gedächtniß ungemein zu Hilfe, während man dem Kinde dadurch zugleich den dunkeln Horizont seiner Erinnerungen und seiner Zukunft mit lichten Sternen erhellt. An Festen aber waren wir sehr reich.

Neben den Geburtstagen und dem Hochzeitstag der Eltern, an denen immer Gesellschaft im Hause war, und für die wir von früh auf Etwas lernen und thun mußten, hatten wir unsere eigenen Geburtstage zu feiern, und außer den allgemeinen Feiertagen noch den ersten Schnee und den ersten Adventssonntag, als Merksteine für unsere Kindheit.

Der erste Schnee fällt aber in Preußen oft schon in der ersten Hälfte des Oktobers, und wir konnten an nebligen und regnigen Tagen manchmal gar nicht von den Fenstern fortkommen, weil wir immer hofften, heute [117] werde und müsse der erste Schnee fallen und dann werde am Abende, wenn der Vater herauf käme, die »große Schachtel« gezeigt werden, die wir eben nur einmal im Jahre, nur beim ersten Schneefall zu sehen bekamen.

Ich glaube kein egyptischer Priester hat jemals sorgfältiger auf das Steigen des Nils geachtet, als wir Kinder auf den Fall des ersten Schnees. War das Jahr mild oder trocken, ließ der Schnee auf sich warten, so reichte das leiseste Flöckchen in der Luft dazu hin, uns alle mit dem Ausruf: es schneit! in die Wohnstube zu treiben. Aber das half uns gar Nichts, und mit der Weisung, daß solch ein Gekrümel in der Luft nicht zähle, und daß es ordentlich schneien müsse, ehe die Schachtel erscheinen könne, wurden wir zu neuem Warten, zu neuem Hoffen, und dadurch zu erhöhter Freude gesteigert, wenn dann wirklich die weißen dicken Flocken in reicher Fülle von dem dunklen Himmel niederfielen, wenn die schwarzen durchregneten Straßen, wenn die Dächer und die Wolme und die Bleche vor den Fenstern sich dick mit Schnee bedeckten, aus dessen weißem Glanze uns die Aussicht auf die ersehnten Herrlichkeiten entgegenblinkte.

Ist's bald sieben Uhr? fragten die Kinder dann den ganzen Nachmittag, während zum erstenmale in dem Jahre die Aepfel zum Braten in die Röhre gelegt wurden, und ihr Schmoren und ihr Duft die beginnende Feier verkündeten. Die Zeit wurde uns immer erschrecklich lang, aber nicht eine Minute davon wurde uns erlassen, und erst um sieben Uhr gingen wir hinunter, wo die Eltern dann schon die »Schachtel« herausgenommen und auf den Tisch vor dem Sopha hingestellt hatten.

[118] Und was war, was enthielt diese Schachtel, auf die wir uns durch ein ganzes Jahr hindurch freuten, die wiederzusehen mir Vergnügen machte, als ich schon zwölf, dreizehn Jahre alt und sehr verständig war, und aus welcher irgend ein Stück vor Augen zu bekommen, mir heute das Herz mit großer Rührung füllen würde?

Die Schachtel war nichts als eine kleine Seitenschieblade aus dem Sekretair meines Vaters, und sie enthielt Nichts als einige Angedenken, welche er darin aufbewahrte. Es lag darin ein rothes Maroquinbuch, in dem unsere Geburtstage, unsere Krankheiten, der Anfang unseres Schulbesuchs – mit einem Worte die Hauschronik verzeichnet war. Es lagen darin in goldenen Kapseln die Bilder meiner Eltern als Brautleute gemalt, ein Hochzeitscarmen meiner Eltern, ein grünseidener, mit einer Inschrift versehener Vorhang, der unser Bild verhüllt hatte, als die Mutter es dem Vater zum Geburtstag geschenkt. Es lagen darin einer jener silbernen Becher, die zum Andenken der Schlacht von Kunersdorf aus Rubeln gefertigt worden waren; es lagen darin Gedichte, welche August Lewald bei meinem ersten Geburtstage an die Eltern gerichtet, desgleichen Brieftaschen, Börsen, Uhrbänder, welche Schwestern und Bekannte meinem Vater gehäkelt und gestickt und die er nie getragen hatte, – kurz es lagen Kleinigkeiten darin, wie jede nur einigermaßen bemittelte Familie deren ähnliche besitzt, es lag ein Schatz darin, den jede Familie sich für ihre Kinder ansammeln kann, wenn sie den Sinn hat, ihren Kindern auf die leichteste Weise unvergeßliche Freuden zu bereiten.

[119] Unsere ganze kleine Vergangenheit wurde uns von den Eltern vor dieser Schieblade unwillkürlich rekapitulirt. Wir hörten es mit Entzücken, an welchem Tage und in welcher Stunde wir geboren worden waren. Wir amüsirten uns damit, wie schlecht wir noch im vorigen Jahre die Gratulationsgedichte zu der Eltern Geburtstagen geschrieben, wir lernten die Jugendfreunde und Bekannten der Eltern an den kleinen Angedenken kennen, und was mehr als dies Alles war: wenn wir die ersten Bratäpfel verzehrten, hatten wir das Bewußtsein, ein großes Fest gefeiert zu haben, und fingen in aller Stille an, uns schon wieder auf den ersten Schnee des nächsten Jahres zu getrösten.

Unsere Freude an dem ersten Adventssonntage hatte einen noch viel geringeren Anlaß. Sie beruhte auf einem kleinen Spielzeug, welches aus zwei, auf grobe Holzsplitter gesteckten vergoldeten Aepfeln bestand, die mit ein Paar Sträußchen von Buxbaum und einem oder zwei aus grobem Thon geformten Vögelchen verziert waren, welche aber nur die Phantasie von Kindern für Vögel zu halten im Stande war. Die ganze Pyramide kostete vielleicht sechs Pfennige, aber – und darauf beruht ein großer Theil der Freude in dem Kinde – wir liebten sie, weil sie nur in der Adventswoche zu kaufen war, weil wir sie alle Jahre zum ersten Advent geschenkt bekommen hatten, weil wir sicher waren, daß man sie uns immer wieder schenken würde, und weil sie uns auf solche Weise überhaupt zu einem Sinnbild der herannahenden Weihnachtszeit geworden war. Sie war uns eine wundervolle Verkündigung, und der Engel, [120] welcher mit seinem Lilienstengel vor der Jungfrau erschien, um ihr die Geburt des Erlösers zu verkünden, konnte sie nicht glücklicher machen, als uns der Anblick unserer Eltern, wenn sie Abends, vom Ausgehen heimkehrend, uns die ersten Pfeffernüsse und die Aepfelbäumchen in das Zimmer brachten. Es umfloß sie ein wahrer Goldglanz von Hoffnungen, Alles, was wir erwünschten und erwarteten, trat in unsern Gesichtskreis, und nun, von diesem ersten Adventssonntage ab, fingen wir zu zählen an, bis endlich mit dem Weihnachtsabende die helle Glückessonne für uns aufging, deren Strahlen uns durch das ganze Jahr nicht zu leuchten aufhören sollten.

Die Kinder haben einen ganz ausgesprochenen Hang für das Bestehende, für das ihnen Bekannte, und wer von ihnen sagt, daß sie am Wechsel Freude finden, hat ihr Wesen nicht tief beobachtet, nicht recht erfaßt. Denn wie jedes Alter die Neigung für das ihm Angemessene in sich trägt, so hat das Kind, welches nur durch häufige Wiederholung derselben Gegenstände Etwas lernen kann, auch Freude an der Wiederholung; und unverdorbene Kinder ziehen deshalb das Spiel, welches sie oft gespielt haben, dem neuen Spiele in der Regel vor. »Ach! das haben wir noch nie gespielt!« kann man von Kindern überall als Ablehnung eines neuen Vorschlags sagen hören.

Auch wir hatten eine große Beharrlichkeit in unsern winterlichen Spielen, bei denen mein Vater ein für allemal die Hauptrolle übernahm. Er hatte, wie er mit mir die Märchenlust theilen konnte, überhaupt trotz seines Ernstes die Gabe, ein Kind mit seinen Kindern zu sein. Müde, arbeitsbeladen, oft auch sorgenvoll, vermochte er [121] es, so lange unsere Spiele währten, so völlig in uns aufzugehen, daß wir nie zu der Empfindung kommen konnten, er lasse sich zu uns herab, er spiele nur mit uns. Wem diese Gabe einmal fehlt, der ersetzt sie durch keinen guten Willen, die Kinder haben zu feine Fühlfäden dafür.

Was wir aber spielten? Meist Nachahmungen dessen, was wir gesehen hatten. Wir spielten Brettschneider, wenn wir auf einem Holzplatz gewesen waren. Man hatte uns zu einer Vorstellung von Kunstreitern mitgenommen, und wir machten den ganzen Winter hindurch die Kunstreiter. Hunderte von Malen habe ich von der Schwelle, welche aus der Wohnstube in das Kabinet führte, als Mademoiselle Rosalie meinen Salto Mortale gewagt und das Bravo meines Vaters erhalten, hundertmal haben meine Brüder den Trampolin-Sprung über eine Fußbank gemacht. – Wir sahen eine Menagerie mit einem dressirten Elephanten, und mein Vater lag allabendlich als unser Elephant flach auf dem Boden, ließ uns auf sich herumklettern, und hob uns mit seinen lieben Armen über sich fort, wie wir es den Elephanten mit seinem Rüssel an Kindern hatten thun sehen. Wir besuchten eine Bude mit sogenannten Wilden, und stürzten auf das Kommando meines Vaters eine lange Zeit hindurch an jedem Abende, mit aufgelöstem Haar, aus der Hütte hervor, die wir uns aus Sophakissen unter dem Klavier erbauten, um mit wildem Geschrei unsern Kriegstanz zu beginnen. – Aber all dies Spiel währte nicht eben lange. Es verstummte auf das erste Wort meines Vaters, und gerade seine kurze Dauer erhöhte das Vergnügen, [122] denn daß für die Größe des Genusses nicht die Masse desselben bestimmend sei, ist ein Grundsatz, welchen man bei der Erziehung nicht fest genug im Auge behalten kann.

Das Erziehen ist überhaupt eine Kunst. So wenig man es nach Regeln erlernen kann, ein Maler oder ein Dichter zu werden, so wenig kann man es aus Büchern oder durch allgemeine Regeln erlernen, ein guter Erzieher zu werden, wenn schon gewisse Grundsätze als allgemein gültige angesehen werden dürfen. Man muß die Anlage zum Malen, zum Dichten haben, um sich die Erfahrungen Anderer für die eigene Technik zu Nutze machen zu können; man muß selbst erzogen sein, oder sich selbst erzogen haben, um nachhaltig auf Kinder zu wirken, um die allgemein gültigen Grundsätze für den besondern Fall zurechtlegen zu können. Wie es aber unter den Künstlern glückliche Naturen giebt, die in ihrem Schaffen, im Bedürfniß des Momentes, sich die Technik und mit ihr die Regel erfinden, so giebt es auch Menschen, die von selbst erziehend wirken, weil sie sich selbst völlig durchgebildet und vollkommen entwickelt haben. Sie lehren und erziehen durch ihr bloßes Beispiel; sie finden für den augenblicklichen Gebrauch immer das Richtige; sie handeln nicht, wie man das oft zu sagen liebt, nach einem glücklichen Instinkte, sondern mit jener schnellen Entscheidung, welche eine Folge eben so schneller Erkenntniß und einer richtigen Beurtheilung ist. Zu diesen erziehenden Menschen gehörte mein Vater.

Ich glaube nicht, daß mein Vater, außer der Jean Paul'schen Levana, von der ich weiß, daß er sie früh[123] gelesen hat, sich mit Büchern über die Erziehung beschäftigt, oder sich sonst dem Gedanken besonders hingegeben hätte: was mußt Du thun, um Deine Kinder gut zu erziehen? Die Kinder müssen sehen, hören und gehorchen lernen! Das stand bei ihm fest; aber daß wir dieses lernten, machte sich ganz von selbst.

Da meine Eltern beide sehr ordentlich, meine Mutter von der größten Genauigkeit in allem ihren Thun und Treiben war, so herrschte in unserm Hause eine glänzende Reinlichkeit, und die geringste Sache, die nicht an ihrem Orte stand, die geringste Kleinigkeit, die auf einem falschen Flecke lag, mußte auffallen und fortgeräumt werden.

Hast du das Tuch nicht liegen sehen? Gehört das Band hieher? Das waren ganz natürliche Fragen, und wurde dann einmal die Entschuldigung vorgebracht, man habe es nicht gesehen, so folgte unabweislich die Entgegnung: man muß aber sehen! warum sehe ich denn Alles?

Befanden wir uns auf der Straße, und es fuhr ein Wagen an uns vorüber, auf dem Fässer oder Kisten geladen waren, so fragte mein Vater ganz kurz: was ist in den Fässern, Kisten, Ballen verpackt? Wußten wir es nicht, so hieß es: du hast solche Kisten aber schon bei dem Gewürzkrämer gesehen. Das sind Rosinenkisten! Du hast solche Ballen schon im Vorbeigehen an der Waage gesehen, das sind Baumwollballen! Du hast solche verkalkte Fässer schon oft gesehen, das sind Oelfässer; und wenn Du es nicht weißt, warum fragst Du nicht? Man muß die Augen offen haben, und Nichts ansehen, ohne zu denken und zu fragen, was es ist!

[124] Eben so wurden wir gewöhnt, keinen uns fremden Ausdruck an unserm Ohr vorübergehen zu lassen, ohne nach seiner Bedeutung zu fragen, und weil wir auf diese Weise eben zur Achtsamkeit angehalten wurden, lernten wir von frühe auf eine Masse von Dingen, erwarben wir eine Menge von Begriffen, welche andere Kinder mühsam erlernen mußten, ohne daß wir wußten, wie wir dazu gekommen waren. Wie übel es aber ist, wenn man die Kinder nicht zeitig daran gewöhnt, nichts Unverstandenes ohne Frage an sich vorübergehen zu lassen, das habe ich an einer den gebildeten Ständen angehörenden Familie erfahren, in welcher man genöthigt war, den ganz erwachsenen Kindern die unter uns eingebürgerten Fremdworte mühsam und ausdrücklich zu erklären, die sie theils gar nicht zu benutzen verstanden, theils völlig widersinnig gebrauchten.

Das Gehorchen lernen verstand sich für uns eben so von selbst, wie die Uebung unserer Sinne und unserer Achtsamkeit. Wir sahen und hörten im Vaterhause keinen Ungehorsam und überhaupt nicht leicht einen Unfrieden oder einen Streit. In den ein und dreißig Jahren, welche die Ehe meiner Eltern dauerte, hat keines von uns Geschwistern je ein unfreundliches oder gar ein heftiges Wort von unserm Vater gegen unsere Mutter, keines je andere Worte als die der verehrendsten Liebe von der Mutter zu unserm Vater gehört. Sie war voll unermüdlicher Sorgfalt für ihn, er von der rücksichtsvollsten Zärtlichkeit für sie. Wir lebten in einer Atmosphäre der Liebe und der Eintracht, es geschah uns nur Gutes, wir mußten also wohl die Unterordnung unter [125] die Eltern und die Eintracht unter einander als etwas Natürliches empfinden und üben.

Mit dieser Liebe aber gingen ein strenger Ernst und eine feste Beharrlichkeit Hand in Hand. Wir wußten wie gern die Eltern uns Freude machten, wir wußten es aber auch, daß gegen meines Vaters Befehl kein Widerspruch gestattet war, ja ich möchte sagen, wir hatten die Vorstellung nicht, daß wir nicht unbedingt und ohne alle Frage gehorchen müßten. Gehorchte doch Alles im Hause dem Vater auf das Wort: unsere Mutter, seine Mitarbeiter im Geschäfte, seine Untergebenen, und die Dienstboten. Die Mutter nannte den Vater, wenn sie von ihm zu der Dienerschaft sprach, immer nur »der Herr!« – Und »der Herr will es!« »der Vater hat es gesagt!« das waren Aussprüche, welche für das ganze Haus die Unumstößlichkeit eines Gottesurtheils hatten.

Meines Vaters Redeweise war im Ganzen knapp und sehr bestimmt, sein Verkehr mit den Handlungsgehilfen, die ganz in unserm Hause lebten, nur auf das Sachliche gestellt; und obschon das in Preußen nicht mehr die allgemeine Sitte war, redete er unsere männlichen und weiblichen Dienstboten mit Er und Sie an, wenn er zu ihnen sprach. Aber gerade die kurze Bestimmtheit seines Ausdruckes machte es, daß er nicht leicht mißverstanden werden konnte, daß er also meist gut bedient war, und daß er für sein Theil äußerst selten in die Lage gerieth, Verweise zu geben, oder zu heftigen Aeußerungen zu kommen. Heftig gegen Frau und Kinder habe ich ihn nie gesehen, und Allen denen, welche ihm dienten, galt er für einen strengen, aber gerechten und [126] guten Herrn. Es sind übrigens meist die Unkultur und die Würdelosigkeit der Befehlenden, welche die schlechten Diener hervorbringen.

Ein Mann, welcher es dahin gebracht hat, daß seine Frau und seine Diener ihm vertrauensvoll gehorchen, hat es im Allgemeinen gar nicht mehr nöthig, seine Kinder noch besonders zum Gehorsam zu erziehen. Der Gehorsam war uns eingeimpft mit der Luft, die wir athmeten. Weil aber alle Tugend Sache der Uebung ist, und weil der Mensch, und vor allem das Kind, einer stetigen Zügelung gegen seine Aufwallungen und Launen bedarf, so war es feststehendes Gesetz, daß wir die Eltern nie anreden durften, ohne dem Worte Vater oder Mutter das Beiwort »lieber« oder »liebe« hinzu zu fügen. Unbedeutend wie diese Maßregel scheinen kann, ist sie von großer Wichtigkeit, und ich selbst habe in spätern Jahren ihren erziehenden Einfluß auf Andre hinlänglich erprobt. Wen ich mit einem freundlichen Worte angesprochen habe, dem kann ich in solchem Augenblicke nichts Unehrerbietiges oder Trotziges sagen; und die Form der Rede wird so zu der Schranke, hinter welcher Heftigkeit und Uebereilung zurückbleiben müssen, abgesehen davon, daß an und für sich Gewöhnung an bestimmte Formen eine Wohlthat für das Zusammenleben in der Familie ist. So war uns z.B. die Sitte, den Eltern, bei der Begegnung am Morgen, nach den Mahlzeiten und bei dem Schlafengehen die Hand zu küssen, so sehr zum Bedürfniß gemacht worden, daß es eine unserer Strafen war, wenn man uns diese Gunst entzog. Und selbst als meine Brüder bereits erwachsene Männer waren, [127] und der Eine als Assessor, der Andere als Arzt außerhalb Königsberg lebten, brachte jede Heimkehr in das Vaterhaus ihnen das alte Herzensbedürfniß mit, den Eltern, wenn sie sich von des Vaters Tisch erhoben, die Hand zu küssen. Waren dann Fremde gegenwärtig, so wehrte der Vater den Söhnen wohl mit einem: schämt Euch doch Ihr großen Menschen! – aber er lächelte dazu, und es denkt wohl noch mancher unserer Gäste freundlich an den Familiensinn unseres Hauses.

Mitten in alle der Liebe und dem Frieden nahm aber die Entwicklung der einzelnen Kinder ihren eigenen und nicht überall guten Weg.

Ich war sehr glücklich in der Schule, lernte leicht, kam schnell vorwärts, wurde bei den öffentlichen Schulprüfungen sehr gelobt, und gehörte zu den Kindern, welche wir – denn auch die Mädchenschulen erzeugen sich einen Jargon – die Paradepferde nannten. Bei den Prüfungen vor den Eltern, welche etwa alle anderthalb Jahre einmal statt fanden, konnte dem Ehrgeiz des Einzelnen aber viel weniger ein Genüge gethan werden, als bei den Besuchen, welche der in der preußischen Schulgeschichte berühmte Konsistorialrath Dinter ab und zu unserer Anstalt machte.

Den Konsistorialrath Dinter kannte von Ansehn jedes Kind der Stadt. Jedes hatte ihn gesehen, den mittelgroßen, breitschultrigen Mann, mit dem runden offenen Gesicht, das, obschon Dinter das Haupt etwas gebückt trug, mit seinen hellen Augen so freundlich aus dem langen grauen Haar hervorsah. Jeder kannte Dinters breitschooßigen, quäkerhaften, schwarzen Frack und die [128] schwarze Kniehose, die niemals fest gegürtet war, und also von dem Träger in kleinen Intervallen immer wieder in die Höhe gezogen werden mußte, was sehr komisch aussah, weil diese Bewegung ihm zu einer Art mechanischer Gewohnheit geworden war. Ein kleiner ganz verdrückter Hut und hängende Strümpfe vollendeten für die Vorstellung das Bild eines altmodischen Gelehrten; aber wer dem alten Dinter nur in die Augen gesehen, zu wem er nur einmal mit seiner hellen, klugen Freundlichkeit gesprochen hatte, der vergaß seine sonderbare Erscheinung, oder vielmehr, der gewann sie lieb. Alles, was man außerdem von ihm hörte, war ganz dazu gemacht, die Neigung der Kinder und der Jugend für ihn zu erwecken. Dinter war unverheirathet, trotzdem hatte er sich einen großen Hausstand geschaffen, denn er hatte allmählig zwölf mittellose Knaben in sein Haus aufgenommen, die er als seine Kinder hielt und erzog, und von denen er den einen später förmlich adoptirte. Es ist dies der in Königsberg lebende, als Arzt und Mensch gleich hoch geschätzte Doktor Gustav Dinter. Ueber die Art der Dinterschen Häuslichkeit, über die Beschäftigung der Knaben, die bei der gemeinsamen Lektüre am Abende Federn schleißen und ähnliche Handarbeiten machen mußten, während der Consistorialrath strickte, hatten wir Alle unzählige Anekdoten gehört, die theils wahr, theils erfunden sein mochten; aber das empfand Jedes von uns, daß er die Kinder lieb hatte, und das zog uns zu ihm hin.

Seine Art zu fragen kam der unseres Lehrers nahe, aber sie war immer mit Heiterkeit gepaart, und wenn Dinter zu loben oder zu tadeln hatte, geschah es stets[129] mit einer gewissen guten Laune, mit einem Humor, der uns um so besser gefiel, je weniger wir ihn beim Unterrichte sonst gewohnt waren. Als er das erstemal in unsere Anstalt kam, mag ich etwa drei Jahre in derselben gewesen sein. Ich mußte ihm meine Rechenkünste vormachen, die vortrefflich gelangen, wurde viel in der Geographie befragt, in der ich grade meinen ganz dummen Tag hatte, und mir eigensinnig auch von Herrn Ulrich nicht einhelfen ließ, so daß ich schlecht bestand, und dann mich erst wieder durch Französisch und Geschichte einigermaßen vor den Augen Dinter's zurecht zu setzen hatte. Herr Ulrich war nicht zufrieden mit mir, Dinter aber klopfte mir auf den Kopf und sagte: Nu! Dein Kopf hätt' auch besser auf 'nem Jungen gesessen! – Dann aber fügte er freundlich hinzu: wenn Du aber nur 'n mal eine brave Frau wirst, so ist's auch gut! –

Mit heißen Wangen und höchst aufgeregt kam ich an dem Tage aus der Schule zurück. Ich erzählte Alles was geschehen war, ich klagte mich an, daß ich Nichts gewußt hätte, aber ich verweilte doch noch länger auf dem Lobe, das mir ertheilt worden war, denn ohne es zu wissen, was er gethan, hatte der treffliche Mann einen meiner geheimen Schmerzen berührt – ich beneidete es schon lange allen Knaben, daß sie Knaben waren und studiren konnten, und ich hatte eine Art von Geringschätzung gegen die Frauen. So thöricht das an einem Kinde von neun Jahren erscheinen mag, und so unberechtigt es in meinem besondern Falle war, lag doch der Ursprung zu diesen Gedanken nicht in mir selbst. Von jeher hatten Fremde, wenn sie meine Fähigkeiten lobten, [130] mit einer Art von Bedauern hinzugefügt: wie Schade, daß das kein Junge ist! – Ich hatte also die Idee gefaßt, daß die Knaben etwas Besseres wären als die Mädchen, und daß ich selbst mehr und besser sein müsse, als die andern Mädchen. Als Vorbild war mir immer auch ein Knabe, jener Eduard Simson, hingestellt worden, und meine Mutter, welche von dieser falschen Richtung meines Wesens später gelitten hat, hatte selbst in der besten Absicht den Gedanken, daß Wissen die Hauptsache und alles Andere dagegen gering sei, in mir genährt und gepflegt.

Voller Liebe für uns Alle, hatte sie große Freude an meiner Begabung und an meinen Fortschritten. Sie war stolz darauf, ein so kluges Kind zu haben, sie setzte mein Wissen vor meinen Onkeln und Tanten gern in ein großes Licht, und weil sie selber ohne alle Kenntnisse war, überschätzte sie das Wenige, was ich bis dahin gelernt hatte, über alles Maaß. Ich dagegen machte, nachdem ich etwa anderthalb Jahre regelmäßig unterrichtet worden, die Erfahrung, daß ich mir für mein Lernen bei der Mutter gar keinen Rath mehr erholen konnte, und noch ehe ich mein achtes Jahr vollendet hatte, wußte ich thatsächlich auch mehr als meine Mutter. Hätte ich damals den Verstand eines erwachsenen Menschen gehabt, so würde ich eingesehen haben, durch welche vortrefflichen Eigenschaften dieser Mangel an Kenntnissen in der Mutter überwogen wurde. Weil dieser Mangel sie selbst aber auf das Tiefste drückte, weil sie, um mir zuzuwenden was ihr fehlte, mir den Besitz von Kenntnissen immer als das Höchste und als das größte Glück [131] hinstellte, so konnte es geschehen, daß ich meine Mutter unterschätzte, wie ich von ihr überschätzt wurde.

Lieb hatte ich dabei die Mutter von ganzem Herzen, aber ich hatte den Vater noch lieber, bei dem ich immer Rath und Hilfe, wenn auch viel häufigern und strengern Tadel als bei der Mutter fand. Der Vater las mit mir, der Vater spielte mit uns, und, obschon die Mutter ihr Leben für uns hingegeben hätte, hatte sie nicht jene sich nach außen kundgebende Zärtlichkeit, welche mein Vater besaß, und die, obschon sie immer gemessen blieb, und er sich ihr nicht oft überließ, für mich etwas Bezauberndes hatte, weil sie mir als Entgegnung meiner eignen Zärtlichkeit ein Bedürfniß war.

Lobte meine Mutter meine Fortschritte, so dachte ich, sie verstehe es doch im Grunde gar nicht. Tadelte sie mich über einen Hang zur Unordnung, der sich bei mir einstellte, oder über meine Heftigkeit, so meinte ich, sie thue mir Unrecht, und das sei auch Alles ganz gleichgültig, wenn man nur recht viel lerne und wisse. Und da die Mehrzahl der Frauen, welche ich damals kannte, auch nicht viel unterrichteter waren, als meine Mutter, so setzte sich eben die Vorstellung in mir fest, die Frauen seien geringer als die Männer, und für sie sei es ganz gut, daß sie auf Ordnung sähen und Haus hielten. Ich aber wolle lernen wie ein Mann, und ordentlich zu sein hätte ich gar nicht nöthig. Eine unklare Erinnerung an eine Frau, die, wie ich hatte erzählen hören, damals Professor in Bologna gewesen war, schwebte mir dabei vor, und trug noch dazu bei, mich vollends zu verwirren.

Meinem Vater entging die Ursache dieser schiefen[132] Richtung keinesweges, und je mehr er Grund hatte, die Mutter zu lieben und zu verehren, um so entschiedener trat er jener Richtung entgegen. Ich besitze einen Brief, den er mir noch vor Beendigung meines achten Jahres aus Warschau schrieb, wohin seine Geschäfte ihn für einige Zeit gerufen hatten. Ich setze ihn hieher, weil er mit meinem damaligen Zustande zugleich die Art und Weise darthut, in welcher der Vater mit mir verkehrte.


Warschau den 11. Oktober 1818

Mittwoch.


»Meine liebe Fanny! Dein liebes Briefchen von heute vor acht Tagen hat mir viel Freude gemacht; es war recht nett geschrieben, und nicht so sehr kurz, als das früher empfangene.

Die gewünschten Karten werde ich Dir mitbringen, und daß Du abermals ein Zähnchen verloren hast, ist recht gut, da Du dieselben wechseln mußt. –

So wie sich aber Deine Zähne verändern oder wechseln, so wird noch Alles an Dir wechseln: Dein Urtheil über das, was um Dich her vorgeht, Deine Gesinnungen darüber, Deine Kenntnisse, genug Alles! –

Du mußt nun aber, wenn Du ein ordentliches Mädchen werden willst, sehr auf Dich aufpassen, daß dieses Wechseln immer zu Deinem Besserwerden beitrage. –

Bei Deinem Urtheil über das, was um Dich vorgeht, mußt Du nur immer berücksichtigen, wer die Handelnden sind, und es nie vergessen, daß ältere Personen als Du in der Regel jede Sache besser verstehen als Du. Siehst Du nun gleich selbst ein, daß Du einmal Etwas besser weißt, als eine ältere Person, so liegt [133] solches gewiß nur daran, daß Jene nicht Gelegenheit gehabt hat, es zu lernen; denn sonst würde sie es unbedingt besser wissen als Du, und Du mußt daher immer recht bescheiden sein.

Mit Demjenigen was Deine Eltern Dich jetzt und später lehren lassen, mußt Du nie prahlen. Du würdest schwerlich Etwas wissen, wenn Du keine Lehrer hättest, und überdem kannst Du alle Deine Zeit darauf verwenden Etwas zu lernen, während andere Kinder Deines Alters schon irgend Etwas thun müssen, um ihren Eltern nützlich zu sein, etwa mit kleinen Kindern spielen oder irgend Etwas der Art. Deine Lage ist also sehr glücklich; Du kannst alle Deine Zeit darauf verwenden, um ein gutes und liebes Kind zu werden. –

Ich liebe Dich, mein liebes Kind! wie alle meine Kinder recht sehr, und eben weil ich Euch liebe, wünsche ich, daß Ihr alle recht gute Kinder sein möget. Du bist die Aelteste, mache Du nur den Anfang, und die Uebrigen werden Deinem Beispiel folgen.

So oft Du kannst spiele mit den Kinderchen, und da Du auch noch ein Kind bist, so ist auch für Dich das Spielen noch sehr dienlich und für Dich passend. Wie wird es mich freuen, wenn ich bei meinem Zuhausekommen erfahren werde, daß Du immer artig gewesen!

Grüße Herrn Ulrich und Deinen Musiklehrer vielmal von mir, und gieb Klärchen und dem Heinrich einen herzlichen Kuß von ihrem und Deinem Vater. Den beiden andern Brüdern schreibe ich apart.«


Es war das die Weise freundlichen Ernstes, in welcher der Vater immer mit uns verkehrte, wenn er [134] nicht mit uns spielte, aber der Ton seiner Stimme, der Blick seines Auges und seine Miene waren dabei so gütig, und so voll Leben und Seele, daß wir wie im Sonnenscheine lebten. Lob, wirkliches Lob erhielten wir sehr selten von ihm. Bei den größten Anstrengungen, welche ich machte, bei den guten Zeugnissen, die ich immer nach Hause brachte, hörte ich selten etwas Andres, als »das ist ordentlich, so habe ich's gern!« und als einmal Fremde dem Vater zu unserm Fleiß und zu unseren Fähigkeiten gratulirten, sagte er gelassen: es sind ja auch meine Kinder! – Er legte sich also das ganze Verdienst unserer Begabung bei, und wir hatten im Grunde auch wirklich die Empfindung, uns bei ihm dafür zu bedanken, daß wir begabt und fleißig waren.

Mich in meinen Grillen für das Studiren und gegen die weiblichen Beschäftigungen zu bestärken, war mein Vater übrigens gar nicht der Mann, und das um so weniger, als meine Unordnung zu einer Art von Glaubenssache bei mir geworden war. Ich glaubte, es sei hübsch, sich um Kleinigkeiten nicht zu kümmern, und ich habe meiner Mutter in dieser Beziehung eine unendliche Mühe gemacht, und habe ihr in diesem Punkte meine ganze Erziehung zu danken. Durch Jahre und Jahre ist sie es nicht müde geworden, mich an jedem Abend selbst meinen Bücher- und Spielschrank aufräumen zu lassen, mich immer wieder zur körperlichen Achtsamkeit zu ermahnen, und mich im Hause, so gut es sich thun ließ, zu den Dienstleistungen anzuhalten, an denen meine Achtsamkeit und Pünktlichkeit sich üben sollten. – Die strenge Ordnung in der Schule kam ihr [135] dabei zu Hilfe, aber auch dort gab es plötzlich Klagen über schlechtes Schreiben, über fehlende Löschblätter, über Dintenflecken und ähnliche Nachlässigkeiten, und erst als irgend welche neue Gedanken mir die Erinnerung an den weiblichen Professor aus dem Sinne gebracht hatten, fand ich mich allmählig wieder zur Ordnung zurück. Ich war in der That mit Bewußtsein und mit Absicht, ja recht eigentlich aus Dünkel, unordentlich geworden.

[136]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Durch die nächsten Jahre ging mein Leben ruhig hin. In der Schule kam ich vorwärts, im Hause blieb Alles sich gleich, nur daß uns im Jahre achtzehnhundert achtzehn ein neuer Bruder, eben jener kleine Heinrich geboren wurde, den mein Vater mich beauftragt hatte zu küssen. Das Dazukommen eines neuen Kindes macht aber, wenn ihrer schon ein Häufchen beisammen ist, keinen großen Eindruck auf die Andern, und so lieb wir den lebhaften kleinen Jungen auch hatten, der mit seinen großen Augen dem Vater sehr ähnlich sah, so blieben ich und meine beiden ältesten Brüder doch einzig und allein auf uns selber angewiesen, und ich habe nie andere Spielkameraden unter meinen Geschwistern gehabt als sie.

Aus dieser Epoche sind mir jedoch drei Ereignisse besonders deutlich geblieben. Zuerst die Erinnerung an ein lebensgefährliches Scharlachfieber, die einzige schwere Krankheit, welche ich je gehabt habe. Von den Schmerzen und Leiden der Krankheit, die mich im siebenten Jahre befiel und mehr als zwei Monate währte, weiß ich gar Nichts. Es war aber, weil ich allein im Hause von der schweren Epidemie befallen worden war, und man mich also sorgfältig von den andern Kindern abgesperrt [137] hatte, die erste Trennung, welche ich von meinen Geschwistern erlitt, und sie fiel mir äußerst schwer. Zum Unglück hatte eine meiner Tanten, welche mich besuchte, an meinem Bette von dem Tode eines mir gleichaltrigen Schulkameraden gesprochen, der das Scharlachfieber bekommen hatte, während ich selbst mich noch gesund und in der Schule befand. Ganz plötzlich war mir dabei die Vorstellung gekommen, daß meine Brüder auch gestorben sein, und daß man mir dies eben so verheimlichen könne, wie den Tod jenes Knaben, und da ich aus dem Bereich meiner Bettschirme nicht heraus konnte, da man die Geschwister nicht zu mir lassen wollte, und keines von ihnen damals schreiben konnte, mir ein Zeichen zu geben, so war es von früh bis spät meine Frage, ob sie auch wirklich lebten, und was sie thäten, und was sie mir sagen ließen? Es war die erste Trennung und die erste schwere Sehnsucht, die ich erlitt, und sie war allmählig so heftig geworden, daß man mich, als ich nur das Bett verlassen konnte, in Pelze und Tücher gepackt bis an die geschlossene Stubenthüre führte, durch die ich meine Geschwister sehen konnte, und durch deren Glasscheiben wir einander küssen konnten, als sie ihre Köpfchen an dieselbe herandrängten. Kinder sind viel lebhafterer Schmerzen und Freuden fähig als man glaubt. Ich habe das Entzücken, mit welchem ich mich nach meiner ersten Ausfahrt wieder unter meinen Geschwistern und mit ihnen spielend befand, nie vergessen. Sie waren Alle so groß geworden, sie waren Alle so gut! Besonders die Zärtlichkeit meiner Brüder war so rührend, denn es war, als wäre ich ihnen fremd und neu und [138] lieber noch geworden! Und meine Eltern weinten Beide, als sie uns wieder beisammen sahen, als sie sahen, wie ihre Liebe unter uns fortwucherte.

Die beiden andern Erinnerungen sind allgemeinerer Art. Sie beziehen sich auf die im Jahre achtzehnhundertneunzehn erfolgte Ermordung Kotzebues, und auf die, in dem gleichen Jahre durch ganz Deutschland gehende Judenverfolgung.

Kotzebue hatte, nachdem er Rußland verlassen, längere Zeit in Königsberg gelebt, und mein Onkel, Doktor Assur, war sein Hausarzt gewesen. Dieser hatte mich, ehe ich in die Schule ging, häufig in seinem Wagen mitgenommen, wenn er seine Kranken besuchte, und da er bei dem Etatsrath – diesen Titel gab man Kotzebue – meist des Plauderns halber lange verweilte, so hatte er mich dann mit aussteigen lassen, und ich war freundlich aufgenommen und mit Näschereien, die dort immer auf einem Tische standen, beschenkt worden. Als ich dann einmal durch die Unvorsichtigkeit unseres Hausmädchens eine nicht unbedeutende Verwundung erlitt, deren mein Onkel, eben weil man mich dort kannte, im Kotzebue'schen Hause erwähnte, hatte mir der Etatsrath eine schöne Puppe geschickt, und ich war, als mein Nasenbein wieder geheilt worden, mit dem Onkel hingefahren, mich zu bedanken.

Alle meine Erinnerungen an den Mann waren also angenehm. Die Einrichtung des schönen Hauses, das er auf dem Königsgarten, nahe bei dem Theater, bewohnte, hatte eine gewisse Vornehmheit gehabt, die mir aufgefallen war, ohne daß ich gewußt hätte, warum sie mir [139] aufgefallen. Auch der Etatsrath, wie er mir in der Erinnerung lebt, eine nicht große feine Figur, hatte mir mit seinen schwarzen Escarpins und seidenen Strümpfen, mit seinem Jabot und seinen Manschetten, sehr gefallen, und nun war der mit einem Male ermordet worden, und es gab Personen, welche sagten, es sei ihm Recht geschehen, er sei ein Verräther gewesen, und Sand sei ein Held, dessen Namen auf die Nachwelt kommen werde, wie die Namen anderer Märtyrer und Heroen.

Die eifrigsten unter diesen Vertheidigern von Sand waren in unsrem Hause ein Dichter und ein Musiker: Raphael Bock und Gustav Wiebe. Sie waren Beide Hausfreunde meiner Eltern, und, wie ich es jetzt beurtheile, beide entschiedene Romantiker, wenn auch Jeder in anderer Weise. Bock hatte studirt und bekleidete später den Posten eines Custos an der Wallenrodt'schen Bibliothek, den er bis zu seinem Tode behalten hat. Er war eine große, magere, nach vorn gebeugte Gestalt, mit einem blassen Gesichte, dessen eingefallene dunkle Augen düster aus dem langen, schwarzen Haar seines Kopfes hervorsahen. Er hatte ein nahes Freundschaftsverhältniß zu Zacharias Werner gehabt, für dessen Schriften mein Vater ebenfalls eine gewisse Vorliebe besaß, und Bock gehörte, nebst dem später berühmt und berüchtigt gewordenen Professor Ludwig Sachs, zu den Jugendgenossen meines Vaters, mit denen er, so zu sagen, die Romantik der Zeit absolvirt hatte. Mein Vater war aber darüber lange hinausgekommen, nur die Neigung für Werner hatte er von Bock zum Erbe, die Schriften von Jakob Böhme als Geschenk von Sachs, und die Theilnahme[140] für diese Freunde als Andenken an seinen Romanticismus behalten. Er störte Bock auch niemals, wenn dieser den hingerichteten Sand als einen Helden pries, und dessen That als den Beginn der Wiedergeburt des deutschen Vaterlandes verkündete. Er ließ ihn durchaus gewähren, wie man einen Gemüthskranken gewähren läßt, und Bock hatte in der That die überspannte Schwärmerei eines solchen. Nur als Herr Wiebe, mein Musiklehrer, ein junger, schöner, blonder Mensch, sich einmal auch in die Begeisterung für Sand versetzte, sagte mein Vater abwehrend: »sein Sie doch kein Narr! Sand's That war eine Kopflosigkeit, Nichts weiter, und der arme Teufel verliert dafür den Kopf!« – Solch einzelne Aeußerungen setzten sich in den Kindern am leichtesten und sichersten fest.

Gegen den Onkel Doktor aber, der weil er Kotzebue persönlich nahe gestanden hatte, voll leidenschaftlicher Erbitterung gegen Sand war, entschuldigte mein Vater diesen Letzteren, und klagte Kotzebue an, und ich stand da, und wußte nicht, was ich denken sollte. Die Begriffe einer begeisterten Vaterlandsliebe, die Vorstellung eines Verraths am Vaterlande und eines Opfertodes für das Vaterland waren mir sehr geläufig, und die Thaten des Mutius Scävola, des Horatius Kokles und des Harmodios und Aristogiton hatten mir schon erhebende Empfindungen eingeflößt. Aber ich konnte mir das Alles doch nur in der römischen Toga vorstellen, und daß der Etatsrath, der mir nur Gutes gethan hatte, der wie alle meine Bekannten ausgesehen, ein Vaterlandsverräther sein sollte, daß ein junger Mensch, der auch nichts Andres [141] war als ein gewöhnlicher Student, wie deren Hunderte in unsern Straßen umhergingen, das Vaterland gerettet haben könnte, indem er den Etatsrath und sich selbst ermordete, das ging über mein Fassungsvermögen. Abgesehen davon, daß die Idee des Meuchelmordes, die Gedanken an eine Hinrichtung mir schrecklich waren, überraschte es mich, daß mein Vater sich über die That von Sand in dem einen Falle tadelnd, in dem andern entschuldigend ausgesprochen, und daß er mir auf meine desfallsigen Fragen abweisend erwidert hatte, ich verstände von der Sache Nichts und solle sie mir aus dem Sinn schlagen, ich könne an etwas Besseres denken. Das war aber leichter gesagt als gethan! Denn wohin man sah, fand man die Bilder von Sand. Auf den einen war er in dem Augenblicke dargestellt, in welchem er die That vollbrachte, und Kotzebue, sich auf die Stuhllehne stützend, zusammenbrach, während Frauen in das Zimmer stürzten; auf andern sah man ihn im Moment der Hinrichtung. Sein Portrait fand man an jedem Ladenfenster auf Pfeifenköpfen, Tabacksdosen, Tassen, kurz überall, wo es sich anbringen ließ, und die Erinnerung an das Ereigniß blieb mir deshalb lange und verwirrend gegenwärtig.

Stärker noch wirkte die Judenverfolgung auf mich ein. Je älter ich geworden war, je mehr hatte ich es gemerkt, wie sorgfältig die Meinen, die Eltern und alle ihre Verwandten, es vermieden, davon zu sprechen, daß wir Juden wären. Einzelne, fremdklingende Worte, von denen ich wußte, daß es jüdische waren, wurden zwischen ihnen hie und da einmal als Verständigung gebraucht, wenn man uns Kindern eine Mitwissenschaft entziehen [142] wollte, aber man sah es nicht gern, wenn wir diese Worte gehört hatten; in Gegenwart der Dienstboten oder fremder Personen bediente man sich ihrer nie, und allen den darauf bezüglichen Fragen wich man jetzt wie früher aus. In der Schule hingegen wurde es mir immer fühlbarer gemacht, daß ich nicht der Allgemeinheit angehörte.

Der Religionslehrer der oberen Klassen, der später so unglücklich bekannt gewordene Prediger Ebel, hatte mir, als ich etwa sieben Jahre alt war, und man mich bei einer Prüfung belobt hatte, einmal in Gegenwart der andern Kinder die Hände auf den Kopf gelegt, und mich dabei »du fromme Tochter Israels!« genannt, was mich und meine Mitschülerinnen lachen machte, weil es von uns in direkte Verbindung mit dem Erzvater gebracht wurde, und uns also höchst komisch erschien. Aber Kinder, und namentlich kleine Mädchen, sind neugierig wie junge Katzen. Einmal auf eine Fährte gebracht, bringt man sie nicht wieder davon ab. Ein Paar Tage neckten sie mich, und amüsirten sie sich mit der Ebel'schen Bezeichnung, dann aber wollten sie ergründen, was sie eigentlich wußten, daß ich keine Christin sei. Ich sollte sagen, bei wem ich getauft sei? und bei wem meine Eltern in die Kirche gingen? und bei wem ich den Confirmanden-Unterricht erhalten würde? – Ich antwortete der Wahrheit nach, und da es lauter gute und wohlgeartete Kinder waren, und wir einander lieb hatten, kamen sie auch bald von ihrer Neugier ab, weil sie sehen mochten, daß sie mich quälten. Mir aber blieb ein Stachel davon in der Seele zurück, und dieser verschärfte sich[143] daran, daß ich zu einigen Mädchen der Klasse, die ich am liebsten hatte, und die mich am liebsten hatten, nicht eingeladen wurde, wenn man ihnen Kindergesellschaft einlud. Zwei von ihnen, ein liebenswürdiges Zwillingspaar, dessen Geburtstag immer in ihrem Elternhause sehr gefeiert wurde, sagten es mir einmal mit Thränen, sie dürften mich nicht einladen und dürften auch nicht zu mir kommen, weil ihre Eltern nicht erlaubten, daß sie mit Juden Umgang hätten. Wir waren alle drei darüber sehr gerührt, und ich sehr unglücklich. Eine ganze Last von Kummer, von Schmerz, von Kränkung lag auf meinem armen achtjährigen Herzen, und ich hätte mich nicht überwinden können, zu Hause ein Wort davon zu sagen. Ich schämte mich und hatte das Gefühl, den Eltern nicht solch ein Herzeleid anthun zu wollen, wie ich es empfand.

Indeß bei der nächsten kleinen Gesellschaft, die man mir einlud, kam die Sache doch zur Sprache. Die Eltern schwiegen, als ich ihnen mein Erlebniß erzählte, aber ich konnte sehen, wie unangenehm es ihnen war, und wenn ich auch sonst aus der Schule und aus der Familie, und an den beiden Töchtern einer englischen Familie, die neben uns wohnte, Spielgenossen genug hatte, so verschmerzte ich meine Lieblinge doch nicht, und die Vorgänge in der Stadt trugen dazu bei, mich immer daran zu erinnern, daß es schlimm sei, ein Jude zu sein.

Wo sich in jener Zeit einzelne Juden oder jüdische Familien sehen ließen, rief man ihnen spottend in den Straßen nach. Gerüchte von Feindseligkeiten, welche in Süddeutschland gegen die Juden verübt worden waren, [144] cirkulirten wohin ich in der Familie kam, und wenn die Eltern sich auch hüteten, uns zu Hause Etwas davon hören zu lassen, so sprach man bei den Tanten und Onkeln um so mehr und um so besorgter davon. Ich vernahm es, wie man in Frankfurt am Main und in Würzburg den Juden die Fenster eingeworfen und ihre Häuser geplündert haben sollte, wie angesehene Männer auf der Straße beschimpft und mißhandelt worden wären, und man war in großer Angst um die in Hamburg lebenden Geschwister meiner Mutter, weil dort der Judenhaß auch sehr groß, und der Pöbel sehr roh sein sollte. Da solche Epochen der Verwirrung in den Geistern der Völker aber epidemisch sind, und sich mittheilen man weiß nicht wie, so waren auch unsere Dienstboten von der Kunde erreicht worden, und der Glaube, daß an irgend einem Tage in Königsberg etwas Unerhörtes gegen die Juden unternommen werden würde, war aus der Kinderstube in mich gekommen. Mein Vater, meine Mutter versicherten, das sei Thorheit, es wäre Nichts von alle dem wahr, was man fable, aber ich erfuhr doch, daß man in der Langgasse eines Abends einem reichen Kaufmann die Fenster eingeworfen habe, und daß dies wahr sein müsse, merkte ich daran, daß man uns Kinder Abends nicht mehr wie sonst, auf den Fenstertritten sitzen ließ, wenn wir bei meinen Tanten waren, die in der Langgasse wohnten, und deren Wohnzimmer nach der Straße gelegen waren.

Von da ab hatte ich den vollständigen Begriff von der Unterdrückung der Juden, von der Ungerechtigkeit, welche man gegen sie beging. Auch das Bewußtsein der [145] gebildeten Juden, aufgeklärter und besser zu sein, als ihre Verfolger, hatte bereits angefangen sich auf mich zu übertragen, und die Juden hatten damals ihr stolzes Selbstgefühl, das man ihnen so oft als Anmaßung und Arroganz vorgeworfen hat, sehr nöthig, wenn sie selbst sich aufrecht erhalten und ihre Kinder tüchtig machen wollten, an der allmähligen Emancipation des Volkes mitzuarbeiten. Viele, welche später in diesem Kampfe am meisten gewirkt, sind in jener Zeit der Judenverfolgung nicht viel älter gewesen als ich, und werden sich ihrer wohl auch erinnert haben. Dem Unterdrückten ist aber sein Selbstgefühl der beste Schild und die sicherste Waffe. Eine Nation und Menschen überhaupt, welche ungerechte Unterdrückung ohne stolze Empörung annehmen und ertragen, sprechen sich selbst ihr Urtheil und gehen an der feigen Demuth vor ihren Verächtern in Ehrlosigkeit unter.

In Königsberg aber ging die Epidemie der Judenverfolgung ziemlich gelind vorüber. Es blieb bei den spottenden Nachrufen, und als man sich damit genug gethan hatte, fand man sich von beiden Seiten äußerlich wieder zurecht. Es kehrte alles in das alte Gleis zurück, und auch wir lebten bis in das Jahr achtzehnhundertzwanzig ganz in der alten Weise fort. Es kamen freilich nicht mehr so viel auswärtige Gäste in das Haus, als in den ersten Jahren deren ich mich zu erinnern wußte, aber im Hause blieb die alte reichliche Lebensweise sich gleich, und nur die Besorgniß um den ältesten Bruder meines Vaters, dessen Kränklichkeit zu einem Lungenleiden geworden war, beunruhigte die Familie.

[146] Er wohnte in dem Hause seiner Schwester Johanna, die ihn auf das sorgfältigste pflegte, und wenn wir deren Kinder besuchen gingen, so wurden wir auch zu dem Onkel gebracht, der sehr blaß aussah, immer magerer wurde, viel hustete, und den ich mir gerade in dieser Zeit am deutlichsten vorstellen kann, wie er in einem braunen Ueberrocke in seinem Zimmer umherging, und die goldene Tabacksdose in der Hand hielt, aus der er häufig schnupfte.

Man fing an von seinem möglichen Tode zu sprechen, in das Comptoir kam er gar nicht mehr, und da er nicht mehr wie sonst nach Warschau und nach Rußland reisen konnte, war mein Vater öfter abwesend. Zuweilen besuchte der Onkel uns noch, aber er war nicht mehr so heiter wie sonst, es kam eine Art von Trübniß über das Haus, die ich schon empfand, ohne jedoch recht zu wissen, was eigentlich um mich her vorging. Der Vater arbeitete am Ende des Jahres bis tief in den Abend hinein mit seinen Leuten im Comptoir; das war aber immer zur Zeit des Jahresschlusses geschehen, und für uns war er immer der Alte. Trotzdem war Etwas anders im Hause geworden, und als zu Anfang des Jahres einundzwanzig im Februar unser kleiner Bruder Heinrich schwer erkrankte, wurde es vollends still. Er war nun beinahe zwei Jahre alt, und die letzten Zähne wollten bei ihm durchbrechen. Davon hatte er ein Paar Mal Krämpfe bekommen, so daß man ihn, um uns den Anblick zu entziehen, von uns getrennt hatte, und während man ihn mit der Kinderfrau in ein sonst unbenutztes Stübchen gebettet hatte, richtete man unten das Wohnzimmer [147] zur Wochenstube für meine Mutter ein, die ihre sechste Niederkunft erwartete.

In der Nacht zum sechszehnten Februar wurde meine Mutter von einem Knaben entbunden. Sie hatte unsern kleinen Heinrich in seinen furchtbaren Krämpfen verlassen müssen, am Morgen nach ihrer Entbindung starb das arme Kind.

Uns seinen Tod zu verheimlichen war nicht möglich, aber man ließ uns ohne das nicht in das Zimmer der Mutter hinein, und auch den todten Bruder bekamen wir nicht zu sehen. Man sagte uns, er sähe sehr entstellt aus, und versuchte uns in unsern bittern Thränen damit zu trösten, daß wir ja einen neuen Bruder bekommen hätten, der uns den Heinrich ersetzen würde.

Das half uns aber gar Nichts. Der Vater sah todtenblaß aus, das ganze Haus war uns unheimlich. Fremde Männer, alles Juden, alle schwarz gekleidet, kamen in Heinrich's Stube, die Todtengebete zu halten. Durch das Thürfenster der Kinderstube konnten wir sehen, daß in der gegenüberliegenden Stube, in der die kleine Leiche stand, am Abend ein Licht brannte, und daß ein fremder Mann neben dem Lager saß. Wir erinnerten uns, wie der kleine Bruder drollig mit dem Stock geschlagen, wir machten ihm nach, wie er »Hund« geschimpft, wenn er böse gewesen war, und so nahte sich der dritte Tag, an dem er beerdigt werden sollte.

Es war früh am Vormittag als die Wagen vor die Thüre fuhren. Wir standen oben, zwei Treppen hoch, in der Kinderstube am Fenster, als die Schritte der schwarzen Männer auf der Treppe verhallten, die man [148] mit Decken belegt hatte, damit meine Mutter kein ungewöhnliches Geräusch vernehmen sollte. Wir sahen den Vater in den Trauerwagen steigen, sahen den Wagen mit dem Brüderchen fortfahren, und aufgelöst in Schmerz, wie wir es Alle waren, lief einer meiner Brüder, da die Kinderfrau, selbst weinend, uns nicht beachtete, aus dem Zimmer, hinunter zu meiner Mutter, und stürzte sich mit dem Ausruf: Mutter! Mutter! jetzt fahren sie mit unserm Heinrich fort! über das Bett derselben.

Meine Mutter erkrankte von dem Augenblicke ab auf das gefährlichste. Unser kleiner Neugeborner, den sie selbst nährte, wurde das Opfer ihres Schreckens. Er starb an seinem achten Lebenstage, und man trug ihn in seiner Wiege in dasselbe Zimmer, in welchem eben erst die andere kleine Leiche gestanden hatte. Er sah mit seinen runden Bäckchen und den geschlossenen Augen wie ein schönes Wachsbild aus; aber die Kälte seiner Hände und seiner Wangen flößte mir ein unaussprechliches Entsetzen ein. Es war der erste Todte, den ich sah.

Man begrub auch ihn am dritten Tage. Am vierundzwanzigsten Februar, am Hochzeitstage meiner Eltern, starb der Onkel. Mein Vater war in dem Zeitraum von acht Tagen dreimal auf dem Kirchhofe, er begrub in einer Woche seinen ältesten Bruder, zwei von seinen Söhnen, und die Frau, an der sein ganzes Herz hing, lag auf den Tod darnieder. »Bleibt Ihr mir nur leben!« sagte er, indem er uns mit schwerem Seufzer küßte, als er das letzte Mal vom Kirchhof kam. Ich empfand seine Klage, seinen Schmerz und unsere Verluste ganz vollkommen.

[149]

Meiner Mutter Zustand war durch einige Wochen hoffnungslos, meines Vaters Lage furchtbar. Schon seit Monaten hatte der Bankerott einiger russischen Häuser, mit denen er in Verbindung stand, seinen eigenen Fall in Aussicht gestellt, und nur mit Mühe war es ihm möglich gewesen, das Hereinbrechen dieses Mißgeschicks hinauszuschieben, so lange sein Bruder lebte. Länger ließ es sich nicht verbergen, daß er zahlungsunfähig sei, er mußte sich bankerott erklären, und auch er verlor, bei der damals weit verbreiteten Handelskrise, sein Vermögen.

Wir Kinder, ich und mein ältester Bruder, gingen in die Schule wie sonst, es waren auch die gewohnten Personen, die uns bedienten, aber es war nicht mehr dasselbe Haus. Fremde Aerzte und Krankenwärterinnen gingen darin umher, wir aßen unten in dem kleinen Entree, in dem es viel zu eng war, und der Vater sah nicht kenntlich aus. Eines Abends, als wir Kinder schon in den Betten lagen, und mein Vater uns schlafend glaubte, kam er in die Kinderstube herein, und hatte einige Kleidungsstücke von sich über den Arm gehängt, die er unserer alten Anne hinreichte. »Trage Sie das morgen zum Schneider,« sagte er kurz, »er soll alles vier Finger breit enger machen. Es hängt mir auf dem Leibe und ich will nicht, daß Madame es sieht!« –

Er ging hinaus, nachdem er uns noch der Reihe nach betrachtet hatte, ich lag ganz still, und weinte bitterlich bis ich einschlief.

Meiner Mutter Krankenlager währte vier Monate. Der Schreck hatte ihr die Milch in den Körper zurückgetrieben, [150] es bildeten sich Geschwüre, ein Paar Mal wurden Operationen nöthig, und als sie endlich im Sommer auferstand, war ihr linker Arm steif und gekrümmt, und blieb es fast das ganze Jahr hindurch.

Am vierundzwanzigsten März, an meinem neunten Geburtstage, war meine Mutter noch gefährlich krank. Sie hatte in allen ihren Leiden aber doch an den Tag gedacht. Man hatte mir in der Kinderstube einen Kuchen und ein Paar andere Dinge bescheert und aufgebaut, und ich war wie immer an diesem Tage nicht in die Schule gegangen. Gegen Mittag ließ sie mich in ihre Stube kommen, wie sie sich die Kinder immer holen ließ, wenn die Schmerzen ihr nur irgend ein Bewußtsein gestatteten. Das Zimmer war sehr verdunkelt, hinter grünen Schirmen stand ihr Bett.

Sie winkte der Krankenwärterin fort zu gehen, und ließ mich auf ihr Bett sitzen, wobei sie mir die Hände hielt. Ich war unbeschreiblich traurig. Nach einer Weile nahm sie von dem Tischchen, das ihr zur Seite stand, ein Papier. Es lagen ein Paar goldene Ohrringe darin, die sie mir gab, und die ich mir einziehen mußte. »Die sollst Du nun immer,« sagte sie, »zu meinem Andenken tragen. Und wenn ich sterbe, – Du bist die Aelteste, sei nur recht gut zu den Kindern und zum Vater!«

Es fiel wie ein Schlag auf mich hernieder. So krank die Mutter war, so sehr ich Alle in Sorgen um sie gesehen hatte, an ihren Tod hatte ich zwar gedacht, aber ich hatte nicht an denselben geglaubt. Nun stand die entsetzliche Möglichkeit plötzlich vor mir, als müßte sie [151] gleich eine Wahrheit werden, und lähmte mich in dem Augenblicke völlig. Ich konnte Nichts sagen, ich konnte auch nicht weinen, bis die Mutter mich zu sich zog und küßte und ich in solches Schluchzen ausbrach, daß die Wärterin mich hinausführte.

Von der Stunde ab, so froh ich später auch noch spielen konnte, war ich doch kein Kind mehr. Ich hatte einen neuen Zusammenhang mit den Meinen, und für meine Vorstellung ein neues Verhältniß zu ihnen bekommen. Ein gutes Beispiel für meine Geschwister zu sein, hatte man mich immer ermahnt; jetzt kam mir der Begriff, daß eine älteste Tochter die Stütze der Familie sein müsse. Ich gewann dadurch eine Bedeutung für mich, und der Vorsatz, gut und wo möglich auch recht brauchbar zu werden, faßte selbstständig Wurzel in mir.

[152]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Im Laufe des Jahres verließen wir das Haus in der Brodbänkenstraße, das wir durch sieben Jahre inne gehabt hatten. Es hatte tausend Gulden preußisch (dreihundert dreiunddreißig Thaler) Miethe gekostet. Das war für jene Zeit in Königsberg eine große Summe, und weit mehr als der Vater in jenem Augenblick auf unsere Wohnung verwenden durfte.

Von unsern Handlungsgehilfen waren nur zwei und ein Lehrling im Hause geblieben, auch die alten Dienstboten verließen uns. Die Kinderfrau war entbehrlich geworden durch den Tod der beiden jüngsten Kinder, sie und die andern Mädchen waren an hohen Lohn und an gutes Leben gewöhnt, und da die größten Einschränkungen zur Pflicht geworden waren, meinte die Mutter mit Recht, dieselben mit den alten Dienstboten nicht so wie es nothwendig war, durchführen zu können.

Es war im Herbste, als wir in die Vorstadt hinauszogen, und da die Häuser dort alle erst nach dem Brande aufgebaut und also neu waren, wohnten wir in der Vorstadt nicht nur viel billiger, sondern eigentlich auch besser als in der Stadt. Die Straße ist eine der breitesten und hell und luftig. Auch die Häuser sind dort [153] breiter, haben wie das, in welches wir einzogen, meist Seitenflügel, und wir hatten also in der einen Etage, welche der Vater gemiethet, eben so viel Zimmer als in dem alten Hause, die großen Erkerstuben des obern Stockes gar nicht mitgerechnet. Aber das alte dunkle Haus war uns wärmer und behaglicher vorgekommen, die hellen großen Zimmer des neuen schienen uns Allen Anfangs kalt und frostig, die zusammenhängenden Stuben ließen in den einzelnen Gemächern nicht die gewohnte frühere Ruhe. Meine Mutter empfand es schwer, daß der Vater sein Comptoir nun in der Stadt hatte, und also theilweis außer dem Hause leben mußte, und wir Kinder hatten mit den uns vertrauten alten Dienstboten auch die alte Nachbarschaft und, was uns sehr zu Herzen ging, das Doppelfenster in der Kinderstube verloren, hinter dem wir in jedem Winter eine Anzahl von Rothkehlchen, Zeisigen und Meisen gehegt und zu Spielgefährten gehabt hatten. Auch die Kupferstiche aus dem Entree, die mir sehr lieb gewesen, kamen nicht mit in die neue Wohnung hinüber. Man sagte, es sei für sie kein rechter Platz. Ich vermuthe aber, daß sie, weil sie werthvoll waren, verkauft worden sind, obschon wir sonst unsern ganzen Besitz von Möbeln und Geräthen behalten und mitgenommen hatten.

Das ganze häusliche Leben wurde nun auf einen andern Fuß eingerichtet. Sonst hatten die stattliche Kinderfrau oder der Hausknecht mich nach der Schule gebracht, damit ich den schweren Pompadour voll Bücher nicht zu tragen brauchte, jetzt mußte ich den zweimal so weiten Weg allein machen. Die Kost im Hause wurde [154] verändert, der Mittagstisch auf das einfachste eingerichtet, die Abendmahlzeit regelmäßig mit einer Wassersuppe oder mit einem sehr billigen Kartoffelgericht gemacht, und alles was wir mit der Zeit von neuen Kleidern erhielten, war viel geringer an Werth, als dasjenige, was wir bis dahin getragen hatten. Auch meine Mutter beschränkte ihre ohnehin bescheidene Weise, sich zu kleiden, noch viel mehr, mein Vater ließ die damals noch üblichen Jabothemden eingehen und behalf sich mit Chemisetts, die seidenen Taschentücher machten allmählig den bunten Leinwandtüchern Platz, und jede solche Beschränkung, für welche Kinder, weil ihre Welt die Welt des Kleinen ist, vielleicht noch mehr Auge haben als die Erwachsenen, machte mir Kummer, weil sie mir in das Gedächtniß rief, was beide Eltern mir gesagt hatten, daß sie große Sorge hätten, daß es ihnen schwer werde uns zu erziehen, und daß wir also alles Mögliche thun müßten, ihnen ihre Sorge durch unsern Fleiß zu lohnen, und recht rasch vorwärts zu kommen.

Solche Eindrücke, so nachhaltig sie auf die Entwickelung eines Kindes wirken, sind aber doch nicht dauernd in demselben lebendig. Mit nothwendigem Selbsterhaltungstriebe sucht das Kind nach Freude, und die große Liebe unserer Eltern wußte uns auch in den beschränkteren Verhältnissen Freude und eine glückliche Kindheit zu bereiten, wie bisher. Dazu drückten uns Kinder die Einschränkungen eigentlich nicht persönlich. Daß ich jetzt allein in die Schule gehen mußte, kam mir bald als ein Zeichen der Erwachsenheit und als eine mir angenehme Freiheit vor. Die veränderte Kost ist Kindern, wenn sie [155] nur satt werden, und wenn man sie nicht überhaupt gewöhnt hat, auf die Art der Speise mehr Werth zu legen als es recht ist, meist sehr gleichgültig. Daß wir auch mit geringen Mitteln wohl gekleidet waren, dafür sorgte der feine Geschmack der Mutter, und für manches Andre, was jetzt nicht mehr so war als früher, entschädigten uns der weite Hof und besonders der kleine Garten, die wir am Hause hatten.

Dieser Garten, ein Raum von vielleicht zwölf Schritten im Geviert, war ein eingezäunter verwilderter Fleck, als wir das Haus bezogen. Er hatte eine Art von Laube, die aus Latten zusammengeschlagen und oben bedacht war, so daß sich über ihr ein kleiner Balkon erhob, der nach dem leeren, wüsten Jahrmarktsplatze hinaussah. Aber schon die Idee, einen Garten zu haben, beglückte uns, und als der Vater dann einen alten verarmten Gartenarbeiter kommen ließ, der einige Pappeln an den Balkon und Stachelbeerhecken um den Zaun pflanzte, der die Erde ganz umgrub, Beete abtheilte, diese mit einigen geringen Pflanzen besetzte, und uns die Anweisung gab, wie wir dieselben zu warten hätten bis er wiederkommen werde, da hatten wir nicht nur das alte Haus in der Stadt schnell vergessen, sondern fanden sogar, daß es in der Vorstadt viel schöner wäre, wie sie denn thatsächlich für uns Kinder auch ein weit gesunderer Aufenthaltsort wurde.

Grade als wir in die Vorstadt gezogen waren, hatte man mich in der Schule in die zweite Klasse versetzt, und ich brauche keinen zu starken Ausdruck, wenn ich sage, daß das Lernen, je weiter wir vorwärts schritten, [156] mich immer glücklicher machte. Wir lebten damals sehr eingezogen, die Eltern hatten den Grundsatz, daß man Kinder, und namentlich Mädchen, früh an Häuslichkeit gewöhnen müsse. Fremde kamen nicht mehr in das Haus; wenn also nicht der Geburtstag irgend einer Schulfreundin oder der Besuch bei einer meiner Tanten eine Ausnahme machten, war ich regelmäßig zu Hause, und in meinen Abendstunden nach Herzenslust zu lesen, meine beste Freude.

Mein Vater gab mir viel Reisebeschreibungen und Geschichtswerke, in Bearbeitungen für Kinder, aber er ließ mich auch, als die Mährchenwelt allein mir nicht mehr genügen wollte, viel Poetisches lesen, für das ich eine besondere Vorliebe hatte, und in dem oftmals der Klang der Sprache mich noch mehr entzückte als die Gedanken selbst.

Die erste Poesie, die an das Kind herantritt, ist gemeinhin das Lied, und da die Mutter, wie ich schon früher bemerkt habe, eine sehr angenehme Stimme hatte, sind die Lieder, die ich von ihr gehört habe, die ersten poetischen und musikalischen Eindrücke gewesen, welche ich empfangen habe. Das Lied aber, soweit es ein Volkslied wird, hängt immer mehr oder weniger mit den Ereignissen der Zeit zusammen, und die ersten Lieder bieten also dem Kinde auch gewissermaßen seine ersten politischen oder socialen Anhaltepunkte und Begriffe. Danach hat man den Werth des Volksliedes und die hohe Bedeutung desselben auf die Bildung des Volkes zu ermessen.

Die ersten Lieder, deren ich mich entsinne, waren jenes Lied von Jean Grillon, das ich schon mit zwei[157] Jahren gekannt, und ein andres sehr anmuthiges Wiegenlied, das auch aus dem Französischen übersetzt und ursprünglich für den König von Rom gedichtet sein sollte. Die Melodie mit der Stimme meiner Mutter hatte ich vollständig behalten, von dem Texte war mir Nichts geblieben, als die Verse:


Schlafe mein Prinzchen schlaf ein!
Küche und Keller sind Dein.
und dann wieder:
Dort in der Zofe Gemach
Klagt noch ein einsames Ach!

wie sich denn mitunter solche Brocken räthselhaft in unserem Kopfe festsetzen.

Später aber, als die erste Auflage dieser Lebensgeschichte erschienen war und sich Theilnahme erworben hatte, wurde mir von verschiedenen Seiten, durch mir unbekannte Zeit- und Altersgenossen, die Ergänzung jenes Liedes zugeschickt, und ich setze sie hierher, weil ein aufbewahrtes, anmuthiges Liedchen immer eine Bereicherung für die Poesie, und weil dieses für die Zeit seiner Entstehung sehr charakteristisch ist. Es lautet in seiner Vollständigkeit:


Schlafe mein Prinzchen! es ruhn
Schäfchen und Vögelchen nun,
Gärten und Wiesen verstummt;
Auch nicht ein Bienchen mehr summt.
Luna mit silbernem Schein
Leuchtet zum Fenster hinein.
Schlummre beim silbernen Schein,
Schlafe mein Prinzchen schlaf ein!
Auch in dem Schlosse schon liegt
Alles in Schlummer gewiegt,
[158]
Reget kein Mäuschen sich mehr,
Küche und Keller sind leer.
Nur in der Zofe Gemach
Tönet ein schmelzendes Ach!
Was für ein Ach! mag das sein? –
Schlafe mein Prinzchen! schlaf ein!
Wer ist beglückter als Du?
Nichts als Vergnügen und Ruh!
Zucker und Spielwerk vollauf
Und noch Karessen in' Kauf.
Alles besorgt und bereit,
Daß nur mein Prinzchen nicht schreit.
Was wird das künftig erst sein? –
Schlafe mein Prinzchen! schlaf ein!

Die Mehrzahl der Lieder aber, welche die Mutter sang, waren aus der Zeit der Freiheitskriege, und bei Spaziergängen oder bei den damals äußerst seltenen Spazierfahrten, bei denen wir mit einem Stellwagen vom Thore aus auf irgend ein nahes Dorf fuhren, und dann wieder vom Thore ab zu Fuß zurückkehrten, wurden von uns »der treue Tod« von Körner, mit der auf des Dichters eigenen Tod hinzugefügten Schlußstrophe, das Körnersche Schwertlied, Lützow's wilde Jagd, dann das Volkslied von der Flasche, mit dem Refrain: »mein König trank daraus,« gesungen. Da zwischen kam auch das Lied des Kosacken, die sogenannte »schöne Minka« vor, und diese Lieder waren von einer solchen Wirkung, von einer solchen belebenden Kraft nicht nur auf mich, sondern auf alle meine Geschwister, daß sie uns immer wieder erschütterten und erhoben, und wir einen wirklichen Genuß davon hatten, sie mitzusingen. Weit weniger machten wir uns aus den komponirten Gedichten [159] von Goethe oder aus andern kleinen lyrischen Sachen. – »Damon saß und blies die Flöte« – »An dem reinsten Frühlingsmorgen,« – und das damals noch beliebte Liedchen »Freut Euch des Lebens!« das man überall hörte, waren mir immer Geduldproben, nach denen ich nur um so dringlicher nach meinen beiden Lieblingsstücken verlangte, nach dem Reiterlied aus Wallensteins Lager und nach dem prachtvollen Schubertschen:


Auf, auf! Ich Brüder und seid stark,
Der Abschiedstag ist da.
Schwer liegt er auf der Seele, schwer,
Wir müssen über Land und Meer
In's heiße Afrika!

Der Ursprung und die Bedeutung aller dieser Lieder waren uns bekannt, weil wir eben gewohnt waren, Nichts zu hören, ohne es uns durch Fragen verständlich zu machen, und so habe ich oft auf einem elenden Stuhlwagen, manchmal neben fremden Menschen geringen Standes sitzend, im Halbdunkel einer Heimfahrt durch nebliges Wiesenland, an kleinen verkrüppelten Weiden vorüber, Momente einer Erhebung und Begeisterung empfunden, wie sie mir kein Opernsaal in London oder Paris später in ähnlicher Weise geboten hat. Namentlich das Schubertsche Lied, bei dem Text und Melodie gleich mächtig sind und einander vollkommen decken, während der unterdrückte Schmerzensschrei über ein schweres Schicksal überall daraus hervorklingt, ist mir in diesem Betrachte ewig unvergeßlich.

Nur mit einem Liede, das man für ein höchst patriotisches hielt, und das sehr im Brauch war, mit »des [160] Deutschen Vaterland« von Arndt konnte ich mich nie befreunden. Die trockne Länderaufzählung und der wunderliche Refrain: »o nein! o nein! mein Vaterland muß größer sein!« hatten für mich etwas unwiderstehlich Komisches. Ich fing immer dabei zu lachen an, wenn das »Geographielied«, wie ich es nannte, gesungen wurde, bis ich einmal derb für mein Lachen und Spotten gescholten, in Thränen ausbrach, und nun erst vollends einen Widerwillen dagegen faßte, der mir auch redlich geblieben ist. Damals war meine Unlust an dem Liede instinktiv; jetzt weiß ich, worin der große Mißgriff besteht, den der treffliche Arndt in dem Liede begangen hat. Das Negative ist nämlich nicht erhebend, sondern niederschlagend, und ein niederschlagendes Vaterlandslied ist eine betrübte Sache, deren mißliche Wirkung nicht aufgehoben wird, selbst wenn die letzte Strophe ein Positives als zu erreichendes Ziel hinsetzt.

Außer dieser gesungenen Poesie lernte ich aber auch frühzeitig die Schiller'schen und Goethe'schen Balladen kennen, und wählte sie, je länger sie waren, um so lieber zu meinen Deklamationsübungen. Ich hatte damals ein ungemeines Wortgedächtniß, das indeß geschwunden ist, je stärker mein sachliches Gedächtniß sich entwickelte, eine Erscheinung, die sich bei lebhaften Kindern fast regelmäßig wiederholt. Als ich zehn, eilf Jahre war, konnte ich die meisten Schiller'schen und Goethe'schen Balladen auswendig, und lernte einmal, da mein Vater mit einem unserer Bekannten darauf gewettet hatte, in zwei und einer halben Stunde die ganze Glocke von Schiller fehlerlos auswendig. Rhythmus, Klang und Reim waren [161] mir so genußreich, daß ich es wie erfrischende Luft in mich aufnahm.

Das erste Drama, das ich gelesen habe, war der Correggio von Oehlenschläger. Ich hatte es in der Genesung nach dem Scharlachfieber in meiner Krankenstube erwischt, wo der Vater es liegen lassen, und ich hatte, als man es mir fortnehmen wollte, so lange betheuert, daß ich es verstände und schön fände, bis man sich herbeiließ, meine Geschichtserzählung anzuhören, und mir das Buch nun für längere Zeit zu täglicher Lektüre zu vergönnen. Auch die Mehrzahl der Schiller'schen und der Goethe'schen Dramen, den Götz, den Egmont, die Iphigenie, die natürliche Tochter und den Tasso lernte ich sehr früh, ich meine bald nach meinem eilften Jahre kennen, während ich gar keine Romane in die Hände bekam, und nur selten Gelegenheit hatte, das Theater zu besuchen.

Meinen ersten Theaterbesuch hatte ich mir verdient, als ich den ersten Komödienzettel geläufig lesen konnte. Es war die Ankündigung von Aschenbrödel gewesen, und ich hatte, da das Mährchen von Aschenbrödel mir altvertraut war, an dem Anschauen eines lebendigen Aschenbrödels so viel Vergnügen gehabt, daß man mir an dem bald darauf folgenden Weihnachtsfeste einen kleinen Aschenbrödelanzug gemacht hatte, den ich mit Wonne trug. Dann nahm man mich später mit meinem Bruder zusammen einmal in die Zauberflöte mit, und wir spazierten danach eine lange Zeit immer zwischen zwei Stuhlreihen als Tamino und Pamina durch Feuer und Wasser; und das sind auch meine einzigen theatralischen [162] Erinnerungen aus jenen Tagen, mit Ausnahme einer äußerst komischen, die sich an eine der größten Tragödien und an eine der größten tragischen Künstlerinnen, an die Medea und an Sophie Schröder knüpft.

Ich mag etwa sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als die Schröder in Königsberg gastirte. Meine Eltern waren in die Medea gegangen, und da Königsberg damals noch eben so schlecht gepflastert, als schlecht beleuchtet war, hatte man die Gewohnheit, sich, wenn man keinen Wagen hatte, von dem Hausknecht mit einer großen Laterne, in der drei Lichte brannten, bei dem Wege zum und vom Theater, wie überhaupt am Abende, vorleuchten zu lassen. Als Herrmann, so hieß der Hausknecht, in die Kinderstube kam, um sich einen Shawl geben zu lassen, den er der Mutter für die Rückkehr nachzubringen Befehl erhalten hatte, fiel mir es ein, ihn zu bitten, daß er mich mitnehmen solle, ich wolle die Eltern auch abholen gehen. Das war nie geschehen, war gegen alle Hausordnung, aber mein dringendes Bitten, und Herrmanns Glauben, daß die Eltern es als einen Spaß nicht übel nehmen würden, bewogen ihn und die Kinderfrau mir nachzugeben. Man zog mir also einen Pelz an, setzte mir die pelzverbrämte Sammetkappe auf, Herrmann nahm mich auf den Arm, seine Laterne in die andere Hand, und so gingen wir aus dem Kneiphof den Berg in die Höhe und nach dem Theater.

Ob wir dort zu früh angekommen sind, ob mein Vater zufällig heraustrat und mich mit in das Theater hinein nahm, das weiß ich Alles nicht mehr. Nur des Weges erinnere mich, und des Augenblickes, in dem ich, [163] dicht am Orchester, wo der Vater einen Platz hatte, – die Mutter saß anderwärts, – plötzlich die Schauspieler in der befremdlichen Nähe vor mir erblickte. Sie sahen mir groß und furchtbar wie Riesen, und Alle mit ihren geschminkten Gesichtern abscheulich häßlich aus. Auch ihre lauten Stimmen klangen mir widrig, und ich wurde über den Schrecken erst Herr, als die Schröder in ihrem Prachtgewande auftrat, und Etwas deklamirte, was mich fesselte. Es waren sicherlich auch wieder nur der Klang und die Pracht der Sprache, die mich beherrschten, und ich starrte die berühmte Frau voll Verwunderung an, als sie mit einem Male mit einer sehr mächtigen tragischen Bewegung bis hart an den Souffleurkasten herantrat, und ihr Gesicht in die Hände verhüllte. Alles war athemlos, ich ganz benommen. Plötzlich hebt sie die Hände kaum merklich vor dem Munde auf, neigt sich wie unter der Last des Schmerzes hernieder, die Worte: »Esel! soufflir Er!« – dringen leise aber ganz vernehmlich in mein Ohr, – und aus allen meinen Himmeln geworfen, überfällt mich wieder der kaum überwundene Schrecken vor den Schauspielern.

Daß ich nicht aufgeschrieen habe, ist mir nur durch meinen großen Schreck erklärlich. Mein Vater, der den Ausruf der Schröder eben so vernommen hatte wie ich, lachte darüber. – Komödianten! sagte er mit wegwerfendem Tone zu seinem Nachbar, aber mir war alle Lust am Theater vergangen. Ich hatte ein gewisses Grauen davor, und da in den folgenden Jahren alle unnützen Ausgaben von den Eltern vermieden wurden, so bin ich durch lange Zeit nicht wieder in das Theater [164] gekommen, und hatte volle Muße, den mir so widerwärtigen Eindruck zu überwinden.

Im Ganzen aber, glaube ich, gehört das Theater zu denjenigen Vergnügungen, welche man die Kinder und die Jugend zeitig und mit Vortheil genießen lassen kann, wenn man die Stücke passend auswählt, in welche man sie führt; und man irrt entschieden, wenn man glaubt, der Eindruck, welchen das Theater machen soll, werde erhöht, wenn man ihn dem Menschen aufspart, bis er reifer geworden ist. Zweimal in meinem Leben bin ich zufällig Zeuge davon gewesen, als sechszehn Jahre alte Mädchen zum ersten Male einer dramatischen Aufführung beiwohnten. Es waren die Töchter einer sehr gebildeten Familie, sehr unterrichtete und für das Schöne empfängliche Mädchen. Die Eine sah den Don Karlos, die andere die Stumme von Portici als erstes Experiment, aber Beide hatten, ich weiß dafür keinen andern Ausdruck zu finden, nicht mit Illusion sehen lernen, und das Conventionelle, was die Schauspielkunst und die Bühne als ein Nothwendiges in sich tragen, kam ihnen lächerlich und störend vor. Der erhöhte Sprechton, die Costüme, die Bewegung der Coulissen, der Wechsel der Scenen, das Behaben der Diener, welche mit den Requisiten hin und her gingen, die Chorgesänge, die Trikots, kurz alle jene Dinge, die man als Voraussetzungen hinnehmen muß, waren ihnen anstößig; und als sie dieses Mißgefühl dann überwunden hatten, war ihr Verhältniß zu dem Theater durchaus kein höheres oder idealeres als das unsere, die wir uns von jeher gewöhnt hatten, von [165] der Bühne herab Anregung zu den verschiedensten Empfindungen zu erhalten.

Zauberopern wie das Aschenbrödel, der Freischütz, das alte Donauweibchen und selbst die Zauberflöte, Stücke wie der Verschwender von Raimund, machen einen durchaus guten und reinen Eindruck auf Kinder, und ihnen in jedem Winter einen oder ein Paar solcher Eindrücke zu bereiten, ist gewiß nicht schädlich. Es wird ihnen plastisch gemacht, was sie annähernd aus ihren Büchern kennen, ihrem Nachahmungstriebe wird Stoff geboten, ihr Bedürfniß zum Erzählen in einer ganz besondern Weise befriedigt, und sie lernen, wie gesagt, sich in die Bedingungen des Theaters finden, so daß sie dann später nur befähigter sind, die großen Meisterwerke ohne Zerstreuung und Verwirrung auf sich wirken zu lassen. Aber die Kinder, wie es in Berlin nur zu sehr Sitte ist, an das Niedrigkomische zu gewöhnen, sie in Lokalpossen mitzunehmen, in denen sich mehr oder weniger doch ein gut Theil Gemeinheit breit macht, das ist ein wirkliches Verbrechen, und es kommt mir ein Grauen an, wenn ich gelegentlich von zehn-, zwölfjährigen Jungen die Verse nachsingen und die Witze erzählen höre, mit denen der Komiker Helmerding sein Publikum belustigt. Man versündigt sich an der Kindheit, wenn man das Geringe als gut genug und als belustigend für dieselbe ansieht. Nur das Beste, innerhalb der Sphäre seines Verständnisses, ist dem Kinde angemessen. Es hat, wenn es nicht verdorben ist, einen Zug zu dem Erhabenen, zu dem Wunderbaren, zu dem Rührenden, wie das Volk, das große Kind, für den ihm die Befriedigung [166] von außen geboten werden muß. Seiner Lust am Komischen weiß es dagegen selbst ein Genügen zu schaffen. Die Familie, die Schule, die Lehrer und die Mitschüler bieten ihm dafür den Stoff. Wer sich seiner Schulzeit erinnert, wird mir darin Recht geben, daß man es nicht nöthig hat, den Hang zur Satire in den Kindern besonders anzuregen, und etwas Spottlustigeres als eine Mädchenschule ist gewiß nicht zu finden.

Auch in unserer Schule, so streng die Disciplin war, hat es uns nie an Stoff zum Lachen gefehlt. Da hatten wir den jüngern etwas schielenden Herrn Ulrich, den wir mit dem Vorgeben in Unruhe zu versetzen wußten, daß sein Bruder examiniren kommen werde; da hatten wir den alten, dicken und sehr unbehilflichen Zeichenlehrer Herrn Weidner, der noch ein Zöpfchen, steif wie ein Rattenschwanz, in dem breiten Kragen seines ewigen grauen Rockes verborgen trug, und den wir auf alle ersinnliche Weise zu irgend welchen heftigen Bewegungen zu veranlassen suchten, bei denen das Zöpfchen dann plötzlich aus dem Rockkragen hervorsprang. Es war ein Festtag in der Klasse, wenn der Zopf nun einmal draußen war, und sein Eigenthümer ohne es zu merken mit jeder Wendung seines Körpers den Zopf zu unserm Vergnügen mitbewegte; und im Herausfinden des Komischen suchte ich meines Gleichen.

Meine Mutter beobachtete fein und hatte ein großes Nachahmungstalent, das sie aber bei ihrer Gutmüthigkeit niemals zum Spott benutzte. Ich hatte das Auffassen des Komischen von ihr geerbt, konnte es jedoch an mir selbst durchaus nicht wiedergeben, und besaß dafür nur [167] die gefährliche Fähigkeit, es mit schnellem Witzwort zu charakterisiren. In der Schule, wo ich ohnehin beständig die Jüngste unter ältern Gefährtinnen war, fanden meine Mitschülerinnen das ganz reizend; zu Hause jedoch durfte ich davon Nichts erzählen, denn mein Vater verwies mir solche Aeußerungen jedesmal, und kam dann doch hie und da irgend eine zum Vorschein, so brachte mich ein schweigendes Winken mit dem Kopfe von Seiten meines Vaters augenblicklich auch zum Schweigen. Ueberhaupt fand ich mich bald von lauter Repressivmaaßregeln umgeben, denn mein Fortschreiten war den Eltern zu schnell, und ich sollte durchaus noch ein Kind bleiben, da ich es wirklich noch war.

Meinem Verkehr mit den ältern Mädchen wurden Schranken gesetzt. Man lud sie mir nicht ein. Zu den Tanten wurde ich, wenn Gesellschaft dort war, nicht mehr mitgenommen wie sonst, und besuchten mich die Cousinen und eine kleine Freundin, die, nur ein Jahr älter als ich, in den Klassen mit mir Schritt hielt, so wurden mir alle möglichen Lappen und Zeugreste geschenkt, damit wir für die Puppen schneidern, d.h. spielen und uns als Kinder empfinden sollten.

All solcher Zwang hindert und fördert aber wenig. Gegen die Nähereien für die Puppen hatte ich kein Widerstreben, denn es kam dabei doch Etwas zu Stande, woran wir als an einem Selbstgemachten wirklich Freude hatten; aber mit dem Spielen war es vorbei, und selbst jenes Erfinden von Geschichten, in die wir uns einlebten und in denen wir abwechselnd die Handelnden machten, hielt nicht lange vor. Wir wurden es bald müde, unsere [168] auswärtigen Onkel und Tanten vorzustellen und uns von Dingen zu unterhalten, die uns im Grunde gleichgültig waren und über die wir uns doch immer erst verständigen mußten, wenn nur so viel gesunder Menschenverstand hinein kommen sollte, als wir selber hatten. Wir kehrten, und das ist gewiß das Gesundeste, immer bald wieder zu uns selbst zurück, und brachten die nächsten Jahre hin, ohne selbst recht zu wissen wie. Die Zeit von meinem neunten bis zu meinem eilften Jahre ist auch diejenige, von der ich die geringsten Erinnerungen habe.

Nur meine ersten bewußten Freuden an gewissen Natureindrücken fallen in den Zeitraum. Sie bezogen sich jedoch meist nur auf ein Wohlgefallen an dem Wechsel der Jahreszeiten, und so wenig sind Kinder im Ganzen der Abstraktion fähig, daß mir niemals einfiel, ich hätte Freude an der Natur, oder ich freute mich auf den Frühling oder auf den Winter. Die Jahreszeiten und die angenehmen Empfindungen, welche sie mir erregten, verkörperten sich mir, wie einem Wilden, in gewissen Vorgängen, welche mit den Jahreszeiten zusammenhingen. Ich meinte mich auf die Schlittbahn, auf den ersten Fischfang, auf die Kornblumen oder auf die Aepfelkähne zu freuen, während alle diese Dinge mir nur Zeichen für die Natureindrücke waren, mit denen sie zusammenhingen.

Bei uns in Preußen, wo der Winter so lang und so furchtbar kalt ist, daß man den nach der Schule gehenden Kindern wohl die Weisung giebt, von Zeit zu Zeit Nase und Ohren anzufassen, um sich zu überzeugen, [169] daß sie nicht erfroren sind, und wo es vorkommt, daß man einem Vorübergehenden zuruft, es sei ihm ein Glied erfroren, – bei uns ist der Beginn des Frühlings noch viel wohlthuender als in einem südlichen Klima. In unsern strengen Wintern hört der Wechsel von winterlichen und herbstlichen Tagen vollkommen auf. Wenn die helle Kälte einmal eingetreten, wenn der Pregel und das Haff einmal zugefroren sind, so bleibt es Winter durch Monate und Monate. Alle Flüsse und alle Seen, ja das frische und das kuhrische Haff werden zu Bahnen für den schnellsten Landverkehr. Von allen Theilen der Provinz kommen die kleinen ein- oder zweispännigen Schlitten, mit Getreide und andern Landesprodukten beladen, auf den Markt, daß die engen Straßen vor Zufuhr schwer zu passiren sind. Auf jedem Schlitten sitzt, in seinen Schaafpelz eingemummt, die Pelzmütze oder die litthauische blaue Tuchkappe auf dem Kopf, welche Nacken, Brust und Gesicht bedeckt und nur die Augen frei läßt, der kutschirende Bauer oder Knecht. Masuren, Lithauer und Kuhren welschen ihre Dialekte auf den Märkten durcheinander, und die polnischen Juden, in ihren schwarzen kaftanartigen Pelzen mit den spitzen pelzverbrämten, noch ganz assyrischen Sammetmützen und den assyrisch gedrehten Locken an den Schläfen, tragen dazu bei, das winterliche Bild zu vollenden. Alles eilt in den Straßen, daß der rauchende Athem hinter ihm herfliegt; aus allen Schornsteinen steigen Rauchsäulen in die Höhe, die ganze Stadt wird zur Schlittbahn. Wer es ermöglichen kann, fährt im offenen Schlitten spazieren. Den ganzen Tag knallen die Schlittenpeitschen der [170] Studenten durch die Straßen, die Mehrzahl der Wagen, die Posten selbst, werden auf Schlitten gesetzt. Man friert furchtbar in den Straßen, aber man will doch zum Vergnügen draußen sein, und die Nothwendigkeit, sich zu erwärmen, macht die Menschen beweglich und munter. Hier steht ein Arbeiter, der gewaltsam die Arme über die Brust zusammenschlägt, dort springt ein Eckensteher von einem Beine auf das andre, weiterhin kauern sich Holzarbeiter um ein warmes Essen zusammen. Ueberall wird Holz und Brennmaterial gefahren, überall sind die Fenster dick befroren. Der Schnee liegt fest wie ein Parket auf dem Boden, Wochen hindurch, Monate hindurch; das Eis wird ein Paar Fuß dick auf dem Pregel. Schwere Frachtwagen fahren zwischen den Schlittschuhläufern und Spaziergängern auf dem Eise. Der Luxus an Schlitten und Pelzen gewährt einen lustigen Anblick. Und dazu ist der Himmel von einer unwandelbaren Klarheit, die Sonne funkelt auf dem weißen Schnee, die Sterne flimmern in den Nächten auf ihrem schwarzen Grunde. Man hört es aus den Zimmern, wie die Räder der Wagen schneidend schleifen auf dem Boden der Straße, alle Schlitten klingeln – es ist Winter! Es ist Winter in einer Weise, die zu ertragen ich jetzt für ein Unglück halten würde, die mir damals aber schön erschien, denn wir Kinder litten nicht sehr davon. Wir waren ziemlich abgehärtet. Auf den kalten Fluren und Treppen, in den kalten Küchen und Kammern hatten wir nicht viel zu suchen, und für die Straße weiß man sich bei uns in Preußen wohl zu versehen. Pelze, gesteppte und mit Pelz besetzte Kappen, Filzschuhe [171] und Pelzkragen hielten uns warm, und das Gefühl bei der Heimkehr von der Nachmittagsschule, aus dem Dunkel der Straße in das Licht der heimischen Wohnstube, aus der Eiseskälte in das warme Zimmer zu treten und den für die ganze Familie gedeckten Kaffeetisch auf sich warten zu finden, war gar zu köstlich.

Hatte das dann bis in den März und April hin gedauert, kam der heftige Thauwind, daß das Eis auf den Flüssen sich löste und auf den Straßen zerschmolz, so begannen als Frühlingsboten das Schaufeln des Schnees von den Dächern, das auch im Winter oftmals besorgt werden mußte, um die Last nicht zu groß werden zu lassen, und das Aufeisen der Straßen, dem zuzusehen ich stundenlang, am Fenster stehend, nicht müde werden konnte. Endlich nach vielen Monaten hörte man wieder die Räder auf dem Steinpflaster rollen. Die gewohnte Winterpromenade auf dem gefrornen Pregel war vorüber, man fing wieder an, gegen Abend am Bollwerk, das heißt am Kai des Hafens spazieren zu gehen. Dann kam ein milderer Wind, das Eis setzte sich in Bewegung, am letzten Ende des Bollwerks warfen die Fischer ihre Netze zum Stintfang aus, und um die Fischer her, deren hohe Lederstiefel von Wasser trieften, deren Hände roth geschwollen von dem kalten Wasser waren, zappelten und glitzerten Millionen der kleinen silbernen Fischchen in den Böten, und nicht lange währte es, so setzten im Philosophendamm sich die Wassermühlen in Bewegung, um die Wiesen zu entwässern.

Nun war es Frühling! In den Gärten der Gemüsezüchter begann das Graben. Ich roch den unvergleichlich [172] erquickenden Duft der frischen Erdscholle, ich sah die Regenwürmer ihre langen röthlich braunen Leiber darin langsam bewegen. Die grauen pelzigen Palmen erschienen, an den Weiden wuchsen wieder die gelben Schäfchen, unsere Pappeln im Garten bekamen harzduftige Knospen, und die Schneeglöckchen drängten sich aus der Erde hervor. Nun war es Frühling!

Wir konnten wieder nach einem bestimmten Platze am Wall hin gehen, auf welchem Vogelkräuter und Mandelblümchen wuchsen, und je älter wir wurden, je mehr wurden wir in der Umgegend der Stadt heimisch. Was zu Fuß erreicht werden konnte, die Hufen, die neue Bleiche, der Sprind, Böttchershöfchen, die Kose am Pregel gelegen, und die Dörfer vor den Thoren, nach denen man mit den billigen Stellwagen gelangen konnte, wurden oft besucht. Man hätte auch Schöneres erreichen können, aber meines Vaters Geschäfte ließen ihm nur die spätern Abendstunden frei, meine Mutter war für weite Wege nicht stark genug. Wir waren in der Kindheit und in der ersten Jugend also schlechte Fußgänger geblieben, und Wagen für größere Ausflüge zu nehmen, hatten wir kein Geld. Aber einen Genuß bot der Sommer uns dar, den wir über alle andern schätzten: man konnte auf dem Schloßteich, auf dem Pregel, man konnte auf dem Wasser fahren. Wenn ich einmal auf dem Wasser gefahren war, wenn ich einmal einen Kornblumenkranz von selbstgepflückten Blumen auf dem Hut getragen, und Rosen von einer Mitschülerin geschenkt bekommen hatte, deren Eltern einen großen Garten besaßen, dann war es Sommer! und in der größten Hitze in die [173] Schule zu gehen, war mir ein Vergnügen, weil mir das die sommerliche Empfindung steigerte. Irgend eines Gefühls, das man ein poetisches oder lyrisches hätte nennen können, irgend einer Empfindung oder eines Gedankens, der von den Dingen selbst absah, bin ich mir nicht bewußt. Es freute mich das Grün der Bäume, es freuten mich die Blumen, das Singen der Vögel, die Wölkchen am Himmel, die Strahlen des Mondes in dem Wasser. Ich liebte die Stille der Nacht, wenn ich einmal dazu gelangte, spät zu wachen, und die in Ostpreußen lange dauernde Helle der Sommernächte zu gewahren. Aber es fiel mir dabei nicht ein, an die Natur zu denken und daß sie schön sei, oder gar an Gott, der sie geschaffen haben sollte. Mein Genuß war ohne alle Reflexion, das heißt rein sinnlich, und ich glaube grade darum prägte sich mir Alles so fest und deutlich ein, daß ich im Stande bin, mir in jedem Augenblicke alle jene Zustände und Lufttöne, ja ich kann sagen den Duft der Jahreszeiten deutlich in das Gedächtniß zu rufen.

Im Herbste, der bei uns in Preußen damals auch in den Haushaltungen noch Anlaß zu wirklichem Einherbsten gab, waren die klaren Morgen mit ihrer frischen, scharfen Luft mir eine wahre Wonne. Mit meinem großen Büchersack in die Schule zu gehen, wenn die Marktwagen in die Stadt fuhren, war mir eine Lust. Der Duft der grünen Aepfel von den Wagen, das Schnattern der Gänse, von denen man ebenfalls ganze Leiterwagen voll zum Verkaufe brachte, der starke Geruch der Küchenkräuter, die man zum Einkellern in die verschiedenen Häuser fuhr, das Alles mahnte mich [174] an die Traulichkeit des Winters, an des Vaters Geburtstag, der im November war, an das kommende Weihnachtsfest, und heute noch ruft mir der Geruch frischer Gemüse regelmäßig jene Herbstmorgen zurück, in denen ich die Vorstadt entlang zur Schule wanderte; denn der Geruch ist der stärkste Vermittler der Erinnerung.

[175]
11. Kapitel
Elftes Kapitel

Nur zwei Jahre blieben wir in der Vorstadt wohnen. Mein Vater hatte ein neues Geschäft, einen Weinhandel unternommen, und da er seine Lager zum großen Theil in der Kneiphöfischen Langgasse, und der von ihr nach dem Kai herabführenden Kaistraße hatte, in der auch sein Comptoir sich befand, wurde unsere Uebersiedelung nach dem Kneiphof für ihn wünschenswerth.

Solche Betrübniß, wie wir beim Verlassen des alten Hauses in der Brodbänkenstraße empfunden hatten, fühlte jetzt Keiner von uns, obschon wir den Garten und den Hof verloren. Aber wir kamen wieder in meines Vaters unmittelbare Nähe, er konnte wieder mehr bei uns sein, und da wir ein Haus am Kai bezogen, entschädigte uns die Aussicht auf den Pregel und auf die Schiffe für den Garten und den Hof.

Ich war in den zwei Jahren ein wahrer Lesewolf geworden, und was meine Mutter auch that, mich von der überwiegenden Neigung zum Lernen und von der Unlust an jeder häuslichen Arbeit, ja von jeder Arbeit, die nicht geistig war, zu heilen, es schlug Alles fehl. Meine Mutter war darüber sehr betrübt; sie fühlte sich [176] persönlich davon gekränkt. Zu Allem, was sie trieb, was ich mit ihr treiben sollte, mußte ich mit Strenge angehalten werden; zu Allem, was der Vater in seinen wenigen freien Stunden mit mir vornahm, war ich aufgelegt und fröhlich. Ich fühlte das selbst, ich war sogar sehr unglücklich, wenn die Mutter immer über mich klagte, ich quälte mich auch mit guten Vorsätzen, aber es blieb immer der alte Vorwurf, daß ich finster und mürrisch sei, wenn ich Etwas zu leisten hätte, daß ich Alles nur mit halbem Sinne und mit halben Händen thue, und wie die Mutter sonst meine Neigung zum Lernen angefeuert hatte, so zwang der Vater mich jetzt zu bestimmten Verrichtungen im Haushalt, die ich alle nur mit innerm Widerstreben besorgte, weil ich einsah, daß sie im Grunde die Haushälterin eben so gut ausführen konnte, und daß man sie mich nur machen ließ, eben weil ich sie ungern und schlecht verrichtete. Wenig Tage vergingen, an denen mir die Mutter nicht vorhielt, daß Nichts widerwärtiger und unbrauchbarer sei, als ein gelehrtes unpraktisches Frauenzimmer, und daß ich alle Aussicht hätte, ein solches zu werden; wenig Wochen, in denen der Vater mich nicht daran erinnerte, daß wir unvermögend wären, daß die Haushälterin so bald als möglich abgeschafft, und ich der Mutter, deren Gesundheit sehr schwankend war, eine Hilfe werden müßte. Ich konnte dann Nichts thun, als weinend versichern, daß ich das auch Alles einmal sehr gerne erfüllen wollte, wenn man es mich allein und ordentlich machen lassen würde, aber so nachzulaufen, das sei mir unausstehlich, und dafür könne ich doch etwas Andres und Bessres thun.

[177] Im Grunde war ich dabei vollkommen in meinem Rechte. Kinder fühlen es sehr leicht heraus, ob das, was man ihnen aufträgt, etwas Zweckmäßiges und Nothwendiges ist, und dies besorgen sie in der Regel, weil es ihnen ein Gefühl von Wichtigkeit giebt, mit großem Vergnügen. Sie haben einen ganz bestimmten Trieb zum Helfen. Aber gegen die Verrichtungen, welche man ihnen nur als Uebung auferlegt, hegen sie eine ebenso bestimmte Unlust, und das erkannten die Eltern nicht. Hätte man mir z.B. aufgegeben, meine jüngeren Geschwister anzuziehen, oder sonst für sie zu sorgen, so hätte mir das Vergnügen gemacht. Aber durch die Stuben zu gehen und nachzusehen, ob irgend Etwas liegen geblieben sei, oder Nachmittags beim Kaffee den Zucker zu verschließen, wenn die Haushälterin alles Uebrige forträumte, das machte mich verdrießlich an und für sich, und da die desfallsigen Klagen vor dem Vater immer von der Mutter ausgingen, machte es mich mißmüthig gegen die Mutter, von der ich mir – ohne allen und jeden Grund – endlich einbildete, daß sie meinen ältesten Bruder und meine Schwester, welche durch den Tod der beiden Brüderchen lange die Jüngste geblieben war, viel lieber hätte als mich.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Vater mir manchmal bei meinen Vertheidigungen Recht gegeben hätte. Aber gegen den Tadel der Mutter, wie gegen den seinen, gab es keine Appellation, und da ich bei meinen Vertheidigungen immer sehr erschüttert und gerührt war, und leicht zu weinen anfing, was der Vater nicht leiden konnte, so endigten die Scenen in der Regel [178] damit, daß die Ermahnung mit den Worten schloß: sieh einmal in den Spiegel, wie häßlich ein mürrisches Frauenzimmer aussieht! Höre zu weinen auf, bitte die Mutter um Verzeihung, und nimm Dich zusammen! –

Der Vater küßte mich dann, ich ging auch um Vergebung zu bitten, ohne irgend überzeugt zu sein, daß ich Unrecht gehabt hätte, und nur der Vorsatz, mir das Weinen abzugewöhnen und mir womöglich neuen Tadel des Vaters zu ersparen, stand in mir fest. Der Tadel der Mutter war mir, weil er sich zu oft wiederholte, und bei ihrer Kränklichkeit auch heftiger wurde als die Sache es verdiente, allmählig gleichgültig geworden. Ich hielt die Mutter für ungerecht, und das um so mehr, weil mir in der Schule jetzt Niemand mehr den Vorwurf der Unordnung oder der Lässigkeit zu machen hatte.

Ich war, als wir wieder in die Stadt zurückzogen, eilf Jahre alt, und eben in die erste Klasse gekommen. Meine Mitschülerinnen befanden sich Alle zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahre, mein Selbstgefühl nährte sich daran, meine Zeugnisse, die ich von jenem Zeitpunkte ab noch besitze, erkannten mir musterhaften Fleiß, musterhafte Aufmerksamkeit und Ordnung zu, ich wußte auch, daß ich fleißig und ordentlich sei, und das machte mich gegen den häuslichen Tadel nur noch empfindlicher und reizbarer. Ich war glücklich bei meinen Lehrern, glücklich bei meinem Vater, nur bei der Mutter war ich es nicht, an der alle meine übrigen Geschwister mit der größten Liebe hingen, und die es auch mir an keiner Art von Liebe fehlen ließ. Es ist das eines von den Räthseln, die sich in irgend einer Weise in den [179] meisten Familien wieder finden. Ich kann es mit der größten Bestimmtheit sagen, daß es nie in meinem Leben eine Zeit gegeben hat, in welcher ich im innersten Herzen die Mutter nicht sehr geliebt hätte; aber ich war ihr, so sehr sie Alles, was ich Gutes haben mochte, anerkannte, ja überschätzte, nie so nach ihrem Sinne, wie ihre andern Kinder. Wir konnten uns niemals recht aus dem tiefsten Wesen heraus zusammenfinden, und weil die Mutter darüber eine Art von Bewußtsein hatte, nahm sie meine bisweilen überwallenden Zärtlichkeitsbezeugungen nicht immer mit dem herzlichen Entgegenkommen wie der Vater auf. Ich kniete z.B. überhaupt gern, und besonders gern vor den Eltern, wenn sie auf dem Sopha saßen und sprachen, ich küßte sie gern. Mein Vater ließ das Eine geschehen und erwiderte das Andre, meine Mutter hieß mich bisweilen aufstehen. Sie war im äußern Ausdruck ihrer Liebe nicht so warm als der Vater, und weniger geliebt, wie ich mich glaubte, trug das geringste Mißempfinden, das ich fühlte, dazu bei, mich einer Seits in mich selbst zurückzuweisen, und andrer Seits mich immer ausschließlicher an den Vater zu fesseln.

Mit allem, was ich in der Schule trieb, war ich ohnehin auf ihn gewiesen, und es war mir dort mit dem Eintritt in die erste Klasse in doppeltem Sinne ein neues Leben aufgegangen.

Wir hatten schon in der zweiten Klasse viel Geschichte gelernt, viel deutsche Aufsätze gemacht, und auch eine besondere Deklamirstunde gehabt. Die deutschen Aufsätze hatte ein Herr Motherby geleitet, ein höchst [180] gebildeter Kaufmann, der wie mein Vater in der Krisis der Jahre zwanzig und einundzwanzig sein Vermögen verloren, und sich, da er einer in Preußen ansässig gewordenen englischen Familie angehörte, zum Sprachlehrer für das Englische, Französische und Deutsche gemacht hatte. Sein Unterricht in den Sprachen selbst war vortrefflich, seine Behandlung der Stylübungen langweilig. Die Thema's, welche er uns gab, waren unfruchtbar, die Art in welcher sie in der Stunde durchgenommen wurden, noch unfruchtbarer, und weder für die Entwicklung der Gedanken, noch für die Kunst, sie gut auszudrücken, konnte uns durch Herrn Motherby irgend eine Förderung erwachsen. Wir liebten die deutschen Stunden nicht, dafür liebten wir die Geschichtsstunden und die Deklamationsstunden um so mehr, aber hier hatte die Liebe für den Lehrer bei den ältern Mädchen einen großen Theil des Enthusiasmus zu vertreten, den die Klasse in seinen Stunden zeigte.

Herr Neumann war noch Student, und ein hübscher, blühender, blonder Mensch. Sein Verhalten gegen die Klasse war würdig und tadellos, er hätte sich nicht anders betragen können, wenn er zwanzig Jahre älter gewesen wäre. Aber er war von Natur freundlich, die Freundlichkeit stand ihm gut, die Klasse fand ihn bezaubernd, und ein Paar von den Großen – d.h. von denjenigen, welche damals die ersten Bänke einnahmen und zum Theil schon zum Confirmandenunterrichte gingen, waren gradezu in ihn verliebt. Sie schnitten aus den alten Heften seine handschriftlichen Censuren aus, um solche Schnitzel zum Andenken zu behalten; eine Blume, [181] die er etwa im Knopfloch getragen und liegen lassen hatte, weil sie welk geworden, war eine Reliquie, um die man sich stritt, und wem es zufällig einmal begegnet war, in einer Gesellschaft mit Herrn Neumann zu tanzen, der erzählte das Quartal hindurch von dem Ereigniß, und war, wie ich glaube, im Grunde sehr verwundert, daß Herr Neumann ihm noch keine Liebeserklärung gemacht hatte. Hörte man ihn kommen, so hieß es hie und da: ach da kommt der Engel! Ging er, so lief man an das Fenster, ihm nachzusehen, und der äußerst unschuldige Gegenstand aller dieser Backfisch-Zärtlichkeit hatte davon sicherlich keine Ahnung.

Ich war am Anfang sehr verwundert über das Gebahren, und da ich mit dem Worte sehr rasch bei der Hand war, hatte ich, als eine der Aeltesten und Begeistertsten mir, der Jüngsten, die unverdiente Ehre erzeigte, mich zur Vertrauten zu machen, spottend den Vers recitirt: »der Mond, der wandelt ruhig fort und läßt die Möpse bellen!« – Das Zutrauen der Liebenden und ihre gute Meinung hatte ich damit ein für alle Mal verscherzt; aber die Luft in einer Schulklasse ist ansteckend, und bald fand ich so gut wie die Andern, daß Herr Neumann »einzig« sei, wenn schon ich keine eigentliche Herzenszärtlichkeit für ihn hegte. Das Beste an der Sache war, daß wir sehr fleißig arbeiteten, um ihm zu gefallen, daß wir die längsten Gedichte auswendig lernten, und daß er also alle Ursache hatte, mit uns ebenso zufrieden zu sein, wie wir mit ihm.

Plötzlich verbreitete sich die Nachricht, Herr Neumann werde abgehen, um seine Examina zu machen, auch Herr [182] Motherby werde seine Stunden bei uns aufgeben, und wir würden für Geschichte und für alles, was mit der deutschen Sprache zusammenhing, einen neuen Lehrer bekommen.

Der Schrecken war groß. Die Ueberzeugung, daß für Herrn Neumann kein Ersatz zu finden, und daß sein Nachfolger höchst widerwärtig sein werde, stand in uns Allen unumstößlich fest, und nachdem Herr Neumann von der gerührten Klasse Abschied genommen hatte, sahen wir im Voraus mit erhabener Geringschätzung auf jeden Mann herab, der die Kühnheit haben wollte, den geliebten Lehrer zu ersetzen.

Endlich an einem Dienstage um elf Uhr, zur Zeit der Deklamationsstunde, öffnete sich die Thüre, Herr Ulrich trat herein, hinter ihm ein kleiner Mann von etwa sechs und zwanzig Jahren, in einem grünen Rock, er selbst von unscheinbarem Aeußern. Das war Friedrich von Tippelskirch, ein Kandidat der Theologie. Und der wollte uns Herrn Neumann ersetzen!

Ein Blick empörten Einverständnisses flog von einem Auge zu dem andern. Wir fanden ihn häßlich, unserer unwürdig, das Gemeingefühl erklärte sich gegen ihn, und es war uns höchst gleichgültig, als Herr Ulrich uns ermahnte, in unserm bisherigen Fleiße auch bei dem neuen Lehrer fortzufahren, und Herr von Tippelskirch uns mit einer Stimme, die lange nicht so wohlklingend war, als die seines Vorgängers, versicherte, daß er von unserm guten Willen ebenso überzeugt sei, als wir es von dem seinigen sein dürften.

Als Herr Ulrich die Klasse verlassen hatte, sollte die [183] erste Schülerin Rechenschaft geben über das, was wir bisher getrieben hätten. Es kam aber Alles verkehrt heraus. Herr von Tippelskirch ließ das also auf sich beruhen, nahm ein Buch hervor und sagte, daß er uns Etwas vorlesen werde. Es waren Goethe's Gedichte. Er wählte Johanna Sebus. Kaum aber hatte er mit seiner dumpfen Stimme und einem uns ungewöhnlichen Pathos die ersten Worte: Der Damm zerreißt, das Meer erbraust, die Fluthen schäumen, der Sturmwind saust! – ausgesprochen, als die ganze Klasse in ein lautes Lachen ausbrach, und übermüthig und spöttisch, wie solche Mädchenschaar es ist, dies Lachen geflissentlich steigerte. Ohne eine Miene zu verziehen, legte Herr von Tippelskirch das Buch aus der Hand, sah uns ruhig an und sagte: ich werde warten, bis Sie fertig sind! –

Das kam uns überraschend, das war etwas Andres als die Heftigkeit und der Zorn des Direktors, etwas Andres als die zutrauensvolle Freundlichkeit des abgegangenen Lehrers. Wir waren erschrocken, Alles wurde augenblicklich still, Herr von Tippelskirch las dieselben Verse ganz in derselben Weise noch einmal, es lachte Niemand mehr, und er hatte seine Herrschaft festgestellt, wenn die Mehrzahl sie auch noch mit Widerstreben trug.

Als er fortging, war Alles in Aufruhr. Die Einen fanden ihn grundhäßlich, die Andern lächerlich, die Dritten so unhöflich, daß man sich es nicht gefallen lassen dürfe und ihm durch Trotz bessere Sitte beibringen müsse. Es waren aber auch einige Mädchen da, auf welche er einen großen Eindruck durch seine ruhige Entschlossenheit gemacht hatte, und zu diesen gehörte ich.

[184] Er hatte in der Stunde das Gedicht durchgenommen und erklärt, wie ich bis dahin noch Nichts erklären gehört hatte. Das Gedicht, welches ich lange vorher auswendig gelernt, schien mir ein ganz andres geworden zu sein. Verwunderung, Neugier und ein unbewußtes Gefühl von Verehrung machten mich auf den Fortgang dieses Unterrichts begierig, und dieser hielt weit mehr als ich zu erwarten verstanden hätte.

Es kam mit Herrn von Tippelskirch ein anderer, ein höherer Sinn in unsern Unterricht. Bisher hatten wir gelernt, um »tüchtig zu werden und unsern Verstand auszubilden«, wie Herr Ulrich es nannte, oder wir hatten auch ohne allen Nebengedanken gelernt, weil wir eben in die Schule gingen und unsere Aufgaben machen mußten. Der neue Lehrer wies uns ein höheres Ziel, und ich werde es nie vergessen, wie zum ersten Male die Worte an mein Ohr klangen: daß es die Aufgabe des Menschen sei, beständig ein sittliches Ideal vor Augen zu haben, und diesem nachzustreben mit allem Thun und Denken. – Es fiel wie eine Offenbarung in mein Leben.

Was Herr von Tippelskirch für meine Mitschülerinnen gewesen ist, weiß ich nicht zu sagen. Ueber mich gewann er in kürzester Zeit eine unbedingte Herrschaft, und ich hatte in seine Worte und in sein Wesen ein felsenfestes Vertrauen, weil ich tagtäglich den guten Einfluß fühlte, den er auf mich übte. Ihm, seiner ruhigen Milde, seinem sanft aufklärenden Worte, seinem Eingehen in unsere Eigenheiten, verdanke ich persönlich mehr, als allen meinen andern Lehrern zusammen. Er brachte mich zu der Einsicht, daß das bloße Wissen unfruchtbar [185] sei, daß alles Lernen Nichts nütze, wenn es nur dem Kopfe zu Gute käme, und daß es der Güte und der Liebe bedürfe, um für sich und Andere ersprießlich zu machen, was man geistig erwerbe.

Es war überhaupt mit unserer Schule eine Wandlung vorgegangen. Noch als ich in der zweiten Klasse saß, waren die Knabenschule und die Mädchenschule getrennt und in verschiedene Gebäude verlegt worden. Mit der Knabenschule verband sich jetzt ein Pensionat, Madame Ulrich war also häuslich mehr beschäftigt, hatte den Unterricht in den Mädchenklassen fast ganz aufgeben müssen, und da auch Mademoiselle Aune ausgetreten war, so hatten einige neue Lehrerinnen ihre Stellen ersetzt. Es waren ein Fräulein von Derschau und eine Mademoiselle Kohlhoff, beide, eben so wie Herr von Tippelskirch, Anhänger des Prediger Ebel, der schon seit langen Jahren den Religionsunterricht in der Schule ertheilte – derselbe Ebel, der später, wie ich schon erwähnte, in dem Proceß gegen die Mucker eine so traurige Berühmtheit erlangt hat.

Schon damals war man auf das Wesen der Ebelianer, auf ihre große Kirchlichkeit, auf die fast herrenhutische Einfachheit, mit welcher die Frauen sich kleideten, auf ihr festes Zusammenhalten, auf ihre Betstunden, auf ihre weitreichende Armenpflege aufmerksam geworden. Man nannte sie Pietisten, man nannte sie auch damals schon Mucker, und ich erinnere mich, daß es auffiel, wie unsere Schule mehr und mehr mit Lehrern besetzt wurde, welche Ebelianer waren. Man hatte aber zu Ulrichs gesunder Vernunft großes Zutrauen, die Eltern [186] der Schüler kannten auch Ebels Wirksamkeit an der Schule als eine durchaus vortreffliche, und wir Alle konnten keine bessern Lehrer und Lehrerinnen wünschen, als er und seine Anhänger es uns waren.

Ich selbst hatte etwa von meinem achten Jahre ab den Religionsunterricht bei Ebel gehabt, und liebte ihn persönlich von ganzem Herzen. Eben als ich in seine Klasse kam, hatte er eine mir gleichaltrige Tochter verloren, und wie die Andern mir sagten, mich um deshalb noch herzlicher als gewöhnlich aufgenommen. Er war ein ziemlich großer, schlanker Mann, mit einem sehr edeln und ernsten Gesichte. Seine großen dunkeln Augen, seine bleiche Farbe und ein glänzend schwarzes Haar, das er gescheitelt und etwas länger als sonst üblich trug, gaben ihm einen besondern Ausdruck. Er hatte feine Hände, und wenn er diese gefaltet hatte und seine Augen zum Gebet erhob, sah er wirklich wie ein Apostel aus. Seine Stimme war ergreifend, sein Vortrag von großer Kraft! Man hatte immer den Glauben, daß er aus tiefstem Herzen spreche, und ich bin auch jetzt noch überzeugt, daß dieses sein Fall war.

Gleich in einer der ersten Stunden, welche wir bei ihm hatten, kam es zwischen mir und ihm zu einer wunderlichen Erörterung. Wir hatten bis dahin bei Madame Ulrich die biblischen Geschichten von Kohlrausch gelesen. Ebel trug uns dieselben frei und mündlich vor, und sei es nun daß diese mir neue Weise mir für Unterbrechungen geeignet, oder gar wie eine Art von Unterhaltung scheinen mochte, – genug, als Ebel uns die Geschichte von der Schlange erzählte, sagte ich mitten [187] in der Stille der Stunde ganz laut: das glaube ich nicht, Schlangen können nicht sprechen!

Ebel sah mich an und fragte, wer mir das gesagt habe? Ich versetzte, das hätte mir Niemand gesagt, das wisse ich von selbst, kein Thier könne sprechen. – Gewiß nicht! bedeutete Ebel, wenn Gott es ihm nicht giebt! –

Ich verstummte. Das war auch gewiß Alles, was Ebel in dem Augenblicke beabsichtigt hatte, aber meine Zweifel waren nicht beschwichtigt, und an irgend ein Wunder geglaubt zu haben, kann ich mich überhaupt nicht erinnern.

Mein Unglaube hatte übrigens meine Neigung für Ebel, und ich denke auch seinen Antheil für mich, nicht vermindert. Er war immer gut und freundlich zu uns Allen. Sein Unterricht war durchaus einfach, ohne alle Ueberspannung, seine Morallehren völlig unserm Verständniß angemessen. Er muthete uns keine Art von Selbstverläugnung zu, die über unserm Alter lag, er nahm uns nicht, wie man es ihm nachgesagt hat, die Freude und die Lust an den Außendingen, und die Art und Weise, in welcher er uns später die Geschichte Christi und namentlich die Passionsgeschichte erzählte, schwebt mir als ein Meisterwerk feuriger, lebengebender Beredsamkeit vor. Er machte, daß wir an Allem mit dem Herzen Theil nahmen, daß wir ein menschliches Mitgefühl mit den Personen der christlichen Geschichte empfanden, daß die Geburt des Christkindes uns freute, daß wir den liebevollen Jesus liebten, daß sein Tod uns schmerzte, wie wenn es einen Mitlebenden gegolten hätte, und erst als wir, ich möchte sagen, menschlich Eins [188] geworden waren mit Jesus, hob er ihn aus dem Bereich, in welchem wir ihn hatten erfassen können, zu einer höhern Sphäre, zum Gottmenschen und Gottessohn empor, unsere menschliche Liebe in anbetend Verehrung umgestaltend. Es war das der Weg, den die Menschheit selbst in ihrem Verhältniß zu dem Gekreuzigten genommen hatte, und grade darum war er so wirksam. In wie weit Ebel dabei seinem Instinkte oder einer Berechnung folgte, das war für uns völlig gleichgültig.

Mit dem Auswendiglernen von Geboten, Glaubenssätzen und Liedern hielt er es auch sehr vernünftig. Wir lernten die Erstern nur, weil das nothwendig war, aber die Erklärungen waren edel und förderlich, und von Gesängen lernten wir Nichts als die wirklich schönen: die Lieder von Gerhard, von Flemming, von Luther und die ihnen ähnlichen; Lieder, an deren Versen ich noch oft eine Freude habe, so weit meine jetzige Ueberzeugung auch von dem Standpunkte abliegt, auf welchem jene frommen Dichter sich befanden. Mit einem Worte: Ebel's Wirksamkeit an der Schule war eine höchst liebevolle, höchst förderliche und ganz ungetrübte. Und dies Zeugniß werden ohne alle Frage meine sämmtlichen Mitschülerinnen nicht nur ihm, sondern allen seinen Anhängern, so viel ihrer unter uns thätig waren, eben so dankbar geben als ich.

Was nun Herrn von Tippelskirch anbetraf, so hatte er nicht das fortreißende Feuer von Ebel, aber dafür, wenigstens nach meinem Empfinden, eine noch überzeugendere Ruhe und eine Liebe für alles Gute und poetisch Schöne, die mich fest zu ihm hinzog. Alle seine Aufgaben [189] nöthigten uns zum Nachdenken, aber es war nicht unser Scharfsinn, den er in Bewegung setzte, sondern unser Gemüth. Bald erklärten wir einen sinnvollen Schiller'schen oder Goethe'schen Spruch, bald schrieben wir Herder'sche Paramythien auf, die er uns vorgelesen hatte, bald übertrugen wir Gedichte, die er genau ihrer Bedeutung nach mit uns durchgenommen hatte, in Prosa, und machten unsere eignen Bemerkungen dazu, und hie und da geschah es auch wohl, daß er uns aus dichterischen Reisewerken vorlas, die wir dann in Briefform oder in Form eines Berichtes wiederzugeben hatten.

Mir wurden diese Aufsätze zum größten Genusse. Ein Theil meines geringen Taschengeldes ging darauf hin, das schönste Papier und die feinsten Deckel für meine Hefte zu beschaffen, und ich wüßte nicht, daß ich in der Zeit irgend eine liebere Beschäftigung gekannt hätte, als deutsche Aufsätze zu schreiben.

Ich war Etwas über zwölf Jahre alt, als Herr von Tippelskirch uns einmal die Schilderung einer Besteigung des Aetna und einen Sonnenaufgang auf demselben vorlas, die wir nacherzählen sollten. Ich machte mich, weil die Beschreibung mir sehr gefallen hatte, mit Eifer an die Arbeit, und da ich die Fähigkeit gewonnen hatte, solche Aufsätze gleich in der Reinschrift anzufertigen, brachte ich zwölf oder vierzehn Seiten zusammen, in denen ich allerlei Eignes dem Gehörten beimischte, und viel Sternenlicht und Morgenroth und Alpenblumen, und was mir sonst noch an derartigem Material zu Gebote stand, verwendete. In der Freude an der Arbeit hatte ich aber wahrscheinlich versäumt sie ordentlich durchzulesen, [190] und erschrak daher nicht wenig, als ich mein Buch zurück erhielt, und mit der feinen Handschrift unseres Lehrers die sündhafte Zahl von zehn Fehlern angemerkt fand, denen obenein noch eine lange Nachschrift folgte. Sie lautet also: »Obschon durch Unachtsamkeit zehn Fehler in dem Aufsatze sind, ist er dem Inhalte nach sehr gut. Die Phantasie der Verfasserin, diese eben so schöne als gefährliche Gottesgabe, kann ihr einst eben so viele Freude und Glück gewähren, als Schaden, wenn sie dieselbe nicht stets unter dem strengsten Zügel der Vernunft und Sittlichkeit erhält!«

Herr von Tippelskirch sprach kein Wort über diese Nachschrift, sondern tadelte mich nur über die Schreibfehler, mir jedoch lag die Censur den ganzen Morgen fortwährend im Sinne. In der Klasse machten sie Witze über das Prädikat »die Verfasserin«, das sonst nicht gebräuchlich bei den Unterschriften war, und ich hatte eine Mißempfindung darüber, daß mein guter Aufsatz mir eigentlich Nichts eingetragen hatte, als eine Ermahnung, zu der irgend welchen Anlaß gegeben zu haben, ich mir nicht bewußt war. Was hatte ich denn verbrochen, daß ich besonders zur Vernunft und Sittlichkeit ermahnt werden mußte? Was sollte der Vater von der Unterschrift denken, dem ich meine Censuren regelmäßig vorzulegen hatte?

Der Vater machte jedoch gar keine Bemerkung darüber, und die Sache ging im Augenblicke vorbei. Aber im Innern beschäftigte mich doch die Frage, was es mit meiner Phantasie wohl auf sich haben möge, und ob ich, da die Aufsätze mir so gut gelangen, nicht auch Gedichte [191] machen könnte? Es kam jedoch, weil wir weit mehr als billig und gesund mit Arbeit überhäuft waren, zu poetischen Versuchen niemals. Wir hatten buchstäblich an den Schultagen keine Zeit dazu, denn wir waren häufig genöthigt, auch noch eine Stunde nach dem Abendessen an die Beendigung unserer Aufgaben zu wenden, und die einzigen Verse, welche ich in meiner Kindheit gemacht habe, wurden in den Zwischenstunden auf ein Blättchen des Diariums geschrieben. Sie galten der Freude über Umschlagetücher von Bourre de soie, welche meine liebste Freundin und ich erhalten hatten, und sie waren recht schlecht und kindisch.

Neben den Ansprüchen, welche die Schule an uns machte, wurden im Hause die Anforderungen an mich ebenfalls größer, und die ganze Erziehung ernster und strenger. Es waren nach dem Tode unserer Brüderchen, während wir in der Vorstadt wohnten, zu mir und meiner Schwester Clara noch zwei Mädchen hinzugekommen, eine fünfte Tochter wurde den Eltern geboren, bald nachdem wir an den Kai gezogen waren, und obschon meines Vaters Geschäfte wieder aufwärts gingen, waren seine Sorgen und die Arbeit und Mühe meiner Mutter bei einer Familie von sieben Kindern, bei einem Haushalt, der durch die im Hause lebenden Commis noch beschwerlicher wurde, doch übermäßig groß. Meiner Mutter Gesundheit hatte durch ihre Wochenbetten, durch Sorgen und Beunruhigungen sehr gelitten; sie sollte sich schonen, der Vater ermahnte dazu und that für sie was er konnte; aber bei einer solchen Kinderschaar ist für eine gewissenhafte Mutter an Rast und Pflege nicht viel [192] zu denken, am wenigsten, wenn sie gezwungen ist auf jede Weise zu sparen, und wenn dem Hause und der Familie daneben das Nothwendige gewährt und der Anstrich der Wohlanständigkeit erhalten werden soll.

Was meine Mutter in diesen Jahren geleistet hat, war bewundernswerth; was sie meinem Vater durch ihre Bereitwilligkeit zu jeder Einrichtung, durch ihre Zufriedenheit und Genügsamkeit gewesen ist, das kann nur eine Frau mit einem sehr liebevollen Herzen sein, und es war dabei sehr in Rechnung zu bringen, daß sie im Reichthum erzogen, und daß Nahrungssorgen und Entbehrungen ihr in ihrer Jugend fremd gewesen waren.

Bald nachdem wir in die Stadt gezogen, hatte mein Vater neben dem Weinhandel, den er im Großen betrieb, es für zweckmäßig erachtet, in den Souterrains unseres Vorderhauses eine Weinstube zu eröffnen. Das Haus bestand nämlich aus zwei Gebäuden, dem in der Langgasse gelegenen Vorderhause, und dem Hinterhause am Kai, das wir bewohnten, die durch ein langes Zwischengebäude voll Kammern und Remisen verbunden waren. Während nun der Vater persönlich auch den Detailhandel in der Weinstube leitete, und den Fremden, wenn es sein mußte, den Wein selbst reichte, den sie bestellt hatten, übernahm meine Mutter es, tagtäglich die Bereitung der Speisen zu überwachen, die Köchin zu kontrolliren, täglich mehrmals die beiden Treppen hinunter und ein Ende über die Straße zu gehen, um Alles in der Küche der Weinstube in Ordnung zu halten, und nie – so beschwerlich es ihr sein mußte – habe ich ein Wort der Klage darüber von ihr gehört, nie auch nur die Aeußerung[193] von ihr vernommen, daß es ihr schwer oder mühevoll sei. Eben so tapfer trug mein Vater seine Sorgen.

Dreißig Jahre lang habe ich an seinem Tische mein Brod gehabt, nie ist ein Wort der Sorge während der Mahlzeiten, nie ein Wort von seinen Geschäften im Hause, über seine Lippen gekommen. Wenn er kalt und durchfroren aus seinen Speichern und Lägern nach Hause kam, klagte er nicht über die Kälte, die er gelitten, sondern pries die Wärme, welche ihn zu Hause erwartete. Wenn er müde und matt in der Sommerhitze heim kam, hatte er freundliche Worte über den Schatten in den Zimmern, und was dies Menschenpaar einander an Liebe und Erleichterung, an Theilnahme und Freude bereiten konnte, das haben sie einander ihr Leben lang redlich geleistet.

Wenn der Vater nach Hause kehrte, fuhr er sich mit einer schnellen Bewegung durch sein reiches, schon im dreißigsten Jahre ergrautes Haar und über die schöne Stirn, als wolle er nun Alles verscheuchen, was ihn drückte. Dann umarmte und küßte er jedesmal die Mutter und diejenigen von uns, die ihm zunächst waren, und dann setzte er sich nieder, sein Mahl zu verzehren. Wenn er kam, stand Alles schon bereit, er nahm alle Mahlzeiten mit uns gemeinsam ein. Für jede Mahlzeit, selbst für den Imbiß, wurde, was auch im Hause zu thun sein mochte, der Tisch in aller Form gedeckt, und wenn das Tischzeug auch allmählich dünn und voller Ausbesserungen, das Geschirr auch geringer geworden war: in der alten formvollen Lebensweise wurde nicht das Geringste geändert, ja selbst die Möglichkeit [194] Andern beizustehen und zu helfen, suchten und wußten die Eltern sich zu erhalten.

Es hatten von jeher ein Paar unbemittelte Bekannte des Hauses an bestimmten Tagen bei uns zu Mittag gegessen. Der Eine, ein alter, sehr braver Mann, war einst Commis bei meinem Großvater väterlicher Seit's gewesen und lebte nun als Junggeselle in einem bescheidenen Stübchen, von den Zinsen seines kleinen Vermögens. Er hieß Götting, war aus Altona gebürtig, und ein Muster wohlanständiger Dürftigkeit. Der Andere war ein Schlesier, ein jüdischer Student der Medicin, und Beide blieben unsere Gäste nach wie vor, wenn auch der Tisch nicht mehr so gut besetzt war, als früher. Ich selbst war damals ein sehr mageres und bleiches Kind, hatte oftmals Kopfweh, und der Onkel Doktor, statt zu rathen, daß man mich nicht so viel arbeiten lasse, hatte angeordnet, daß man mich mäßig ernähre, und daß ich weder Kaffee noch Bier genießen solle. Ich hatte Beides ohnehin nie gemocht, die Verordnung war mir also nichts weniger als unangenehm; indeß dem alten Götting, der uns Kinder alle hatte geboren werden sehen, und der uns lieb hatte, fiel es auf. Er bot mir ein paar Mal aus seinem Glase zu trinken an, ich schlug es mit der Bemerkung aus, daß ich kein Bier bekommen solle, und er schwieg. An einem Nachmittage blieb er einmal länger da, als es seine Art war, und als der Vater schon wieder in das Comptoir gegangen und Herr Götting mit meiner Mutter allein war, kam er sehr verlegen an sie heran, küßte ihr die Hand, was er sonst nicht that, und sagte: Madame! wenn ich auch nicht [195] darüber rede, ich sehe doch, daß Sie sich sehr einschränken. Aber entziehen Sie dem mageren Kinde das Bier nicht. Ich will lieber auf meinen Tisch verzichten, nur das Kind soll Nichts entbehren! – Ihm waren dabei die Augen voll Wasser, und der Mutter liefen die Thränen herunter, als sie ihm, gerührt von seiner Liebe für mich, betheuerte, daß nur des Arztes ausdrücklicher Befehl sie bewogen habe, mir alle erhitzenden Getränke zu entziehen; und der alte Mann gab sich damit denn auch zufrieden und blieb Dienstags und Freitags unser Gast. Aber die Eltern haben ihm Beide den Zug nicht vergessen, haben ihn mir Beide erzählt, und den alten Mann, als er krank und schwach wurde und es uns wieder wohl und gut ging, bis an sein Ende treu gepflegt. – Auch dem Studenten wußte die Mutter mit der größten Rücksicht auszuhelfen, indem sie ihm abgelegte Kleidungsstücke meines Vaters zurecht machen ließ, und während sie selbst sich viel versagte, während sie manches nicht schaffen konnte, was sie gern für uns gehabt hätte, war sie immer bereit und hilfreich, den beiden Schwestern meines Vaters, deren Männer in derselben Zeit wie er ihr Vermögen verloren und die ebenfalls große Familien hatten, beizuspringen und sie zu unterstützen, wie es irgend anging. Die Mutter war neidlos und selbstlos wie wenig Andere.

Obschon mir nun eigentlich Nichts fehlte, was ich zu vermissen verstanden hätte, wußte ich doch genau, daß wir unbemittelt waren, und der Vater hielt darauf, mich dies nicht vergessen zu lassen. Bei allem was ich lernte, schärfte er mir ein, daß ich fleißig zu sein habe, einmal, [196] weil der Unterricht Geld koste, das ihm zu erwerben schwer falle, und zweitens, weil ich bald anfangen müsse, meine jüngern Geschwister zu unterrichten. Das galt namentlich von der Musik, zu der ich keine große Lust bezeigte.

Man hatte schon im siebenten Jahre mich darin zu unterrichten angefangen, und ich hatte Anfangs schnelle Fortschritte gemacht. Mein Lehrer, eben jener Herr Wiebe, dessen ich schon früher als eines entschiedenen Romantikers und eines sehr hübschen Menschen erwähnt, gab sich Mühe mit mir, und ich hatte ihn sehr lieb, ja ich war eigentlich verliebt in seine Schönheit, für die Kinder so überaus empfänglich sind. Er war schon brustleidend als mein Unterricht begann, und nach Jahr und Tag hatte das Uebel so sehr zugenommen, daß er oft Monate lang im Winter das Zimmer nicht verlassen konnte. Ich ging dann also zu ihm, meine Stunden zu nehmen. Er wohnte auf dem Königsgarten in einem alten Hause, aber in einer sehr freundlichen Parterrewohnung, welche seine Mutter, die mit ihren schneeweißen Haaren noch eben so hübsch aussah als ihr Sohn, wie ein wahres Schmuckkästchen geordnet hatte und erhielt. Ueberall hingen Bilder, immer blühten Blumen an dem Fenster, immer duftete es nach Reseda, und selbst wenn es draußen regnete und stürmte, war es bei Madame Wiebe wie im Frühling.

Mein Vater gab mir, wenn ich in die Stunde ging, jedesmal die Marke für den Lehrer mit, und zugleich eilf Groschen, die ich in eine bestimmte Sparbüchse thun mußte, aus welcher dann die Mutter am Ende des [197] Monats die sechs Thaler für sechszehn Unterrichtsstunden zahlte. Es sollte mir das, wie gesagt, den Werth der Stunden einschärfen. Wie es aber geht, daß auch gescheute Kinder auf Dummheiten verfallen, und wie es mir mein Leben lang im Besondern ergangen ist, daß wenn ich einfältig war, es immer eine große Dummheit gab, so hatte sich in meinem Kopfe, als ich etwa zehn Jahre alt war, der Gedanke festgesetzt, meine blaue Marke sei eben so gut Geldeswerth wie etwa die Tresorscheine, welche damals im Umlauf waren. Da passirte es mir, daß ich eines Tages auf dem Weg zur Stunde meine Marke verlor. Ich befand mich auf dem Königsgarten, wußte, daß ich die Marke auf dem Prinzessinplatz noch in der Hand gehabt hatte, und fing nun an den Weg zurückzulegen, um das blaue Schnippschen Papier – um, wie ich glaubte, die eilf Groschen zu suchen, welche zu erwerbendem Vater so schwer fiel. Während ich gegangen, war leichter Schnee vom Himmel gefallen und liegen geblieben, und ich wanderte nun immer hin und her, mit den Füßen den Schnee fortschiebend, um die Marke zu entdecken, wobei mir die Thränen reichlich aus den Augen rollten. Endlich war Herr Wiebe unruhig darüber geworden, daß ich nicht zur Stunde kam, weil die Eltern in solchem Falle sonst regelmäßig absagen ließen. In der Besorgniß, daß ich auf dem Wege zu Schaden gekommen sein könne, hatte mir Madame Wiebe ihr Dienstmädchen entgegen geschickt, das mich denn mit sich nahm, und halb erfroren, aufgelöst in Thränen, langte ich bei den guten Menschen an, ihnen schluchzend mein Unglück zu erzählen.

[198] Anderthalb Jahre später, im Anfang des Frühjahres, starb der schöne, sanfte Mensch, und ich bekam in einem Herrn Thomas, der sich einen Eleven der englischen Musikschule nannte, und mich meist nur Sachen von Clementi und Field spielen ließ, einen neuen Lehrer. Er erklärte, mit dem hübschen, geschmackvollen Vortrag sei es gar Nichts, Gründlichkeit sei die Hauptsache. Mit Gefühl zu spielen, worauf Wiebe großen Werth gelegt, das erlerne jedes Frauenzimmer von selbst. Geläufigkeit hätte ich mehr als mir gut sei, aber nun solle ich den Ernst der Musik kennen lernen, und wenn ich dabei Jahr und Tag Geduld haben wollte, dann sollten wir erleben, was damit gewonnen sein würde.

Meinen Eltern, die von Musik Beide Nichts verstanden, machten seine Reden, die er mit einer gewissen Derbheit vorbrachte, einen Eindruck. Um also mit dem Ernste gleich Ernst zu machen, wurde mir Clementi's »Einleitung in die Kunst, das Klavier zu spielen« angeschafft, und ein ganz erbarmungsloses Tonleiter- und Etüdenspiel wurde nun plötzlich mein täglich Brod. Langweiligere Stunden als diesen Musikunterricht habe ich nie ausgestanden. Ich nahm meine Lektionen am Mittwoch und Sonnabend von drei bis vier Uhr. Dann hatten wir Beide Mittag gegessen, mein Lehrer und ich, ich war unlustig, mein Lehrer schläfrig, ich orgelte und dudelte gleichgültig meine Tonleitern und Etüden herunter, mein Lehrer nickte bisweilen dabei ein, und ermunterte sich dann plötzlich, um mit seinen dicken Fingern ein paar Mal über die Tasten hin und her zu fahren, und mir mit hervorgestoßenen Worten seinen Tadel auszusprechen. [199] Ich dankte immer Gott, wenn er seine Marke in der Tasche und ich meine Stunde beendigt hatte.

Schlimmer noch als die Stunden waren aber die Uebungen. Der Mangel an Einsicht macht wortgläubig. Mein Vater schwor daher unbedenklich zu des Lehrers Fahne, und ich durfte in der täglich festgesetzten Uebungsstunde jetzt auch absolut Nichts als meine Etüden spielen. Weil ich diese nun leicht auswendig behielt, kam ich auf den Ausweg, mir ein Buch auf das Notenheft zu legen, und die ganze Stunde hindurch seelenvergnügt und nach Herzenslust zu lesen, während ich die Tonleitern und die Etüden abhaspelte. Kam Jemand in das Zimmer, so setzte ich mich auf das Buch, und ich habe dies Verfahren Jahre hindurch mit Beharrlichkeit durchgeführt, ohne daß man es gewahr worden wäre. Ja ich hatte es in diesem mechanischen Spiel zu solcher Sicherheit gebracht, daß ich später auch bei größern Musikstücken ruhig lesen konnte, wenn die Sachen mir erst einmal im Gedächtniß und in der Hand fest saßen. Welch ein sinnloses Spiel das gab, brauche ich nicht erst zu sagen.

Wie es dabei zuging, daß ich dennoch vorwärts kam, begreife ich nicht. Ich erlangte aber allmählich die Zufriedenheit meines Lehrers, er schenkte mir zur Erinnerung an meine Fortschritte eine Clementische Sonate, und wußte sich sehr viel mit seinem Unterricht, der mir immer lästig blieb, weil ich den Lehrer nicht mochte. Man sagte, er sei früher Zimmermann gewesen, und irgend Jemand hatte in meiner Gegenwart die Bemerkung gemacht: weil Zelter, der einst Maurer gewesen, ein großer Musiker geworden, und dabei zufällig grob sei, so halte [200] sich Herr Thomas, weil er Zimmermann gewesen und ungeschliffen sei, auch für einen großen Musiker. Empfänglich für das Komische und für den Witz, wie ich es war, verdarb der Ausspruch die Sache vollends. Ich hatte von da ab gar kein Zutrauen mehr zu meinem Lehrer, und ohne darüber zu sprechen, fing ich an, auf meine eigene Hand andere Dinge zu üben, als die, welche man mir aufgab. Da ich zu neuen Musikstücken nicht immer gelangen konnte, entstand in mir das Verlangen, mir selbst Etwas zu erfinden. Herr Wiebe hatte oftmals, wenn er bei uns gewesen war, lange im Dämmerlichte am Klavier phantasirt, und weil mir das so angenehm gewesen war, wollte ich mir gern selbst das Vergnügen bereiten, das ich damals empfunden hatte. Aber so oft ich mich auch im Dämmerlichte hinsetzen mochte, ich konnte die ersehnte Musik nicht erzeugen; ja selbst der Versuch, gehörte Melodien wiederzugeben, scheiterte fast gänzlich. Nur den eigentlichen Stock der Melodie, so weit er rein und ohne schwierige Uebergänge war, brachte ich zu Stande, für alle Modulationen, obschon ich sie deutlich im Sinne hatte und sie mir auch vorsingen konnte, vermochte ich auf dem Instrumente die entsprechenden Töne nicht zu finden. Es war, als erlösche urplötzlich der Ton in meinem Gedächtniß auf dem Wege nach der Taste, und ich gewann für mein Theil schon damals die feste Ueberzeugung, daß ich keine musikalische Begabung hätte. Meine Lust am Klavierspiel nahm dadurch noch mehr ab. Ich sprach es auch aus, daß ich kein Talent hätte, erzählte den Eltern und selbst Herrn Thomas, welche Bemerkung ich über meine[201] mangelhafte musikalische Fähigkeit gemacht, und bat, den Unterricht nicht weiter fortsetzen zu dürfen.

Mein Vater hörte jedoch auf meine Vorstellung ganz und gar nicht. Daß man besonders für die Musik organisirt sein müsse, sah er, trotz seines Verstandes, damals doch noch als ein Vorurtheil an. Er erzählte mir wie die russischen Edelleute sich die prächtigsten Kapellen aus ihren leibeigenen Bauern zusammenstellten, und daß sich nach dem sehr richtigen russischen Sprichwort: »was zwei Augen und zwei Hände gemacht haben, das müssen zwei Augen und zwei Hände nachmachen können« bei gehöriger Ausdauer Wunder bewirken ließen. Je mehr Unlust ich hätte, das Klavierspielen zu erlernen, um so besser und nöthiger sei es, daß ich mich mit Selbstüberwindung dazu zwinge. Daß ich in der Schule fleißig sei, darin läge kein Verdienst, denn das thäte ich, weil es mir Vergnügen mache. Wenn ich mich aber gegen meine Neigung fleißig auf die Musik verlegte, so würde er erstens darin sehen, daß ich gern thäte was er wünsche, – und zweitens würde ich damit nur das thun, was mir nützlich sei, und was so mancher russische Bauer auf Kommando für seinen Herrn gethan habe.

Dies originelle, von meines Vaters Standpunkt aus ganz logische Urtheil ließ nur die Kleinigkeit außer Acht, daß die russischen Fürsten sich unter ihren Sklaven aller Wahrscheinlichkeit nach die musikalisch begabten zu ihren Musikern heraussuchen, und er that mir insofern Unrecht, als meine Unlust an der Musik lediglich aus der richtigen Erkenntniß meiner unvollständigen Begabung hervorging. Denn ich liebte die Musik, ich hatte große [202] Freude daran, sie von Andern gut ausführen zu hören, ich hatte Empfindung und Gedächtniß dafür, und eben mein Verlangen, sie frei zu üben, selbst Etwas darin schaffen zu können, und wäre es auch das Geringste gewesen, hätte für mich sprechen müssen. Man blieb aber dabei, ich sei zu bequem, mich anstrengen zu wollen, und da Herr Thomas meinem Vater mit dem Bemerken beistimmte, daß ich eine große Fingerfertigkeit, einen guten Vortrag hätte, und der mir fehlende Sinn sich bei näherer Kenntniß der Musik schon finden würde, so war die Folge der ganzen Erörterung nur die, daß zu meinen zwei Klavierstunden in der Woche noch eine dritte hinzugefügt und es mit dem Ueben noch strenger als bisher gehalten wurde.

Hatte ich in den Wochentagen, von der Arbeitslast bedrängt, hie und da eine Viertelstunde an meiner Uebungszeit abzukürzen nöthig gehabt, so mußte ich das am Sonntage ersetzen. War ich einmal zu einer Freundin gegangen, ohne geübt zu haben, so mußte ich am andern Morgen, ehe ich in die Schule ging, die versäumte Stunde nachholen. Ich entbehrte dann thatsächlich den mir nöthigen Schlaf, und das Alles nur, weil mein Vater von dem Glauben ausging, Musik sei etwas Mechanisches, was jeder Mensch erlernen könne. Woher er bei dieser Geringschätzung der Musik so dringend verlangte, sie mir zu eigen zu machen, habe ich nicht einsehen können. Aber er setzte seine ganze Energie daran, und als ich längst erwachsen, als ich längst darüber im Klaren war, was ich in dieser Hinsicht leisten könne und was nicht, blieb bei aller Freiheit, die er mir im Uebrigen gestattete, doch[203] der Befehl, Musik zu treiben, über mir schweben. Fünfundzwanzig Jahre lang, von meinem siebenten bis in mein zweiunddreißigstes Jahr hinein, habe ich unausgesetzt Musikunterricht nehmen und täglich üben müssen. Nahezu tausend Thaler und eine unverantwortliche Masse von Zeit sind darauf verschwendet worden, und nachdem ich es dahin gebracht hatte, Beethoven und Chopin, Hummel und Ries, und was man wollte, zu spielen, hielt ich für meine Ueberzeugung immer nur auf demselben Punkte, auf dem ich in meinem dreizehnten Jahre gestanden hatte. Das heißt: ich liebte die Musik, und hatte eben deshalb eine Betrübniß darüber, mich in derselben nicht frei und schöpferisch bewegen zu können.

Ich würde über meine musikalischen Leiden schneller hinweggegangen sein, hätte ich nicht die Absicht, in ihnen und mit ihnen eine Warnung für eine große Anzahl von Eltern zu geben, eine Fürbitte für eine Menge armer Kinder einzulegen, und eine Erleichterung für die Masse von Menschen zu erbitten, die jetzt auf allen Punkten der Erde durch unmusikalisches Musikmachen gemartert werden. Wer er auch sei, und wo er sich auch aufhalte, selbst der Kinderlose, wird es empfunden haben, was es heißt, talentlose Kinder Musik treiben zu hören. Drei Jahre lang habe ich in einer unserer Wohnungen unter der Plage gelebt, daß ein armer Junge, dessen Eltern unter unserer Etage wohnten, mit aller Gewalt das Beethoven'sche Septuor spielen lernen sollte. Alle Tage des Jahres übte er von zwölf bis ein Uhr, recht in Mitten meiner Arbeitszeit. Alle Tage kam unter Anderm das Septuor an die Reihe, alle Tage saß ich, da ich [204] dasselbe nur zu genau kannte, mit gespanntem Ohre da, des Fehlers gewärtig, den er mit unfehlbarer Sicherheit an derselben Stelle machte. Alle Tage machte er den Fehler, alle Tage fuhr ich ärgerlich dabei zusammen, alle Tage nahm ich mir vor, nicht wieder auf das Spiel zu hören, und an jedem kommenden Vormittage, wenn er sein Septuor begann, gerieth ich in die quälende Erwartung des Adagio's, in welchem der Fehler kommen mußte, und gelangte nicht eher zur Ruhe, bis ich ihn mit dem Ausruf »da!« vernommen und überwunden hatte.

Ich glaube, kaum einem vernünftigen Menschen fällt es ein, seinen Sohn zum Maler oder zum Dichter zu machen, ohne daß irgend Etwas in demselben zu einem solchen Plane ermuthigt. Musik aber läßt man, wie jetzt unsere Sitten sich gestaltet haben, auf gut Glück einen Jeden lehren, und es wird in der Regel frisch darauf los gelehrt und frisch darauf los gespielt, bis in den meisten Familien ein Individuum vorhanden ist, dessen musikalische Leistung »Stein' erweichen, Menschen rasend machen kann!«

Daß man, wo die Geldmittel dies gestatten, den Versuch macht, ob in den Kindern ein Talent vorhanden sei, daran thut man wohl, obschon man es in der Regel im Voraus wissen könnte, was man in dem Betrachte zu erwarten hat. Wenn man aber meint, auch eine geringe Anlage sei der Ausbildung werth, so irrt man, und dies besonders in unsern Tagen, in denen man sich gewöhnt hat, so große Anforderungen an die Ausübenden zu machen.

Wenn ein Kind keinen besondern Hang zur Musik, kein feines Gehör dafür verräth, wenn die Musik ihm[205] nicht ein angeborenes Bedürfniß ist, sollte man von dem Gedanken, es Musik treiben zu lassen, ohne Weiteres abstehen. Ist ein Mensch musikalisch angelegt, so kann er Freude haben und Freude bereiten durch das kleinste Liedchen, durch die kleinste Tanzmelodie, die er nach dem Gehör spielt, denn es kommt dadurch wirklich Musik zur Erscheinung, und die Freude daran wird Jedem durch alle Lebensalter bleiben. Wendet man jedoch an den Unterricht von nicht eigentlich musikalischen Naturen große Pflege, so können sie es, wie ich und tausend Andere mit mir, zu einer großen Fertigkeit bringen; weil sie aber zu sklavischem Nachahmen, zu immer neuem mühsamen Erlernen verdammt sind, hört die Geduld zu dieser mühsamen Arbeit bei ihnen augenblicklich auf, sobald sie irgend einen Beruf, irgend eine Beschäftigung entdecken, welche ihnen eine freiere Thätigkeit verspricht, denn nur in freier Thätigkeit, nur in einer Thätigkeit, in welcher man selbst ein Gelingen wahrnimmt, findet der Mensch einen Genuß.

Man hat daher z.B. sehr Unrecht, die jungen Frauen anzuklagen, wenn sie ihr mühseliges Klavierspiel in der Ehe nicht weiter üben. Wer musikalisch ist, läßt nicht von der Musik, wer sie aufgiebt, hat sicher keine musikalische Natur, kein musikalisches Bedürfniß, und thut nur das Vernünftige, indem er von sich legt, was man ihm aufgezwungen hat. Es wäre in diesem Falle den Frauen nur zu wünschen, daß sie etwas anderes Geistiges an die Stelle jener Beschäftigung eintreten ließen, denn irgend eine ideale Bestrebung hat gerade die Mehrzahl der Frauen äußerst nöthig, um sich nicht allzusehr von [206] dem Kleinkram des täglichen Lebens umfangen und einspinnen zu lassen.

Mit einem Worte also: es singe, wem Gesang gegeben! und der Unmusikalische begnüge sich mit dem Hören. Er kommt damit auch dem Rathe des größten griechischen Weltweisen, dem Rathe des Aristoteles am besten nach, der in seiner Politik über den Einfluß der Musik auf die Erziehung der Staatsbürger ausführlich gehandelt und sich dahin erklärt hat, daß für Denjenigen, der nicht ausübender Künstler werden könne oder werden solle, es eine Zeitverschwendung sei, seine Kraft auf die Erlernung virtuosistischer Kunststücke zu verwenden.

Hätte mein Vater mich die Zeit und das Geld, welche mein Musikunterricht hingenommen, auf mir angemessenere Gegenstände, auf Zeichnen, auf Sprachunterricht, oder auf den Unterricht in Naturwissenschaften, die freilich damals noch nicht in den Bereich der allgemeinen Bildung gezogen worden waren, verwenden lassen, so würde ich ohne Zweifel mehr davon geerntet haben, als die bei meinen Musikstudien gewonnene Einsicht, daß ich zu unmusikalisch sei, um in meinem musikalischen Musikmachen irgend eine Befriedigung zu finden.

Aber ich kehre von dieser Abschweifung zu meiner Erzählung zurück.

[207]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Mein Vater hatte die Absicht, mich bis zum Ende meines vierzehnten Jahres in der Schule, und damit volle drei Jahre in der ersten Klasse zu lassen, was sonst nicht üblich war. Man wußte aber nicht recht, wie man mich, wenn ich früher die Schule verließe, angemessen beschäftigen sollte, und da Herr Ulrich mir und einer meiner Mitschülerinnen, bei dem früher erwähnten vortrefflichen Sprachlehrer Herrn Motherby, innerhalb der Schulstunden noch einen besondern Unterricht im Französischen, namentlich in der Conversation ertheilen ließ, und ich inzwischen auch eine große Lust zu feinen Handarbeiten bekommen hatte, die wir in der Schule erlernten, so war es gewiß das Beste, mich ruhig an den Repetitionen der Klasse meinen Theil nehmen zu lassen, während ich dabei noch Handarbeit und Französisch lernte, und die allgemeine Förderung genoß, welche der Unterricht des Herrn von Tippelskirch uns gewährte.

Aber schon nach Ablauf des zweiten Jahres verbreitete sich das Gerücht, Herr Ulrich werde die Schule aufgeben. Man sagte, die ungünstigen Handelsjahre hätten Königsbergs Wohlstand heruntergebracht, die Kaufmannsfamilien [208] wären nicht mehr im Stande, die hohen Schul- und Pensionsgelder zu zahlen, an wel che Herr Ulrich gewöhnt war, und die er thatsächlich auch zur Erhaltung der Anstalt in seiner Weise brauchte; dazu hätten sich die Gymnasien und die städtische Mädchenschule sehr gehoben, und das Bedürfniß einer Privatanstalt sei daher nicht mehr in der frühern Art vorhanden. Wir Schulkinder glaubten aber gar nicht an eine solche Möglichkeit, denn Alles ging in der Schule ruhig seinen Weg, bis etwa im Juli des Jahres achtzehnhundert vierundzwanzig Herr Ulrich den Eltern seiner Schüler die Anzeige zugehen ließ, daß er mit dem Schluß des Sommersemesters, also Mitte September, seine Anstalt auflösen, und selbst nach Memel übersiedeln werde, wo man ihn zur Begründung eines neuen Instituts für Mädchenerziehung aufgefordert habe.

Ich war wie aus den Wolken gefallen bei dieser Nachricht. Der Untergang der preußischen Monarchie hätte mir lange nicht den erschreckenden Eindruck hervorgebracht, als der Untergang unserer, meiner Schule. Mein ganzes Denken und Sein war mit ihr verknüpft, ich konnte mir kaum eine Vorstellung von dem Zustande machen, der für mich mit dem Austritt aus der Schule anheben mußte, und es war mir, als thue sich eine Wüste, als thue sich die unendliche Ferne vor mir auf, wenn ich mir die Tage und Monate und Jahre ohne mein gewohntes Streben, ohne meine gewohnte Beschäftigung auszumalen versuchte.

Sonst, wenn meine älteren Mitschülerinnen von der Klasse aus den Konfirmandenunterricht besuchten, und dann die Schule verließen, um als erwachsene Mädchen [209] zu Hause in ihren Familien zu bleiben, hatte ich mir wohl auch gewünscht, erwachsen zu sein, und gemeint, auf Ostern nächsten Jahres, nach meinem vierzehnten Geburtstag, da würde es sich mit dem Erwachsensein für mich schon finden, wenngleich die andern Mädchen erst ein Paar Jahre später dazu gelangt waren. Aber nun mitten im Schuljahr, so viele Monate vor meinem vierzehnten Geburtstag, konnte das Alles gar nicht gehen; und es waren vielleicht nur wenig Kinder in der Anstalt, welche den Entschluß des Direktors, so wie ich, als ein wirkliches Unglück für sich betrachteten.

Die Paar Wochen bis zum Schluß der Schule vergingen wie im Fluge. Der Lehrer wie der Schüler hatte sich ein erhöhter Eifer bemächtigt, und ohne zu wissen, wie uns eigentlich geschehen war, standen wir plötzlich an dem Trennungstage, zu welchem eine kleine Feierlichkeit veranstaltet worden war. Es wurde ein kurzer Gottesdienst von dem Prediger Ebel gehalten, ich und eine meiner Mitschülerinnen überreichten dem scheidenden Direktor ein Paar silberne Fruchtkörbe, wozu wir einige, von Ebel für uns aufgesetzte, ziemlich geschmacklose Worte hersagten. Herr Ulrich entließ uns mit einer aus dem Herzen kommenden Ansprache, die uns auf das Tiefste erschütterte, weil er selbst tief erschüttert war; Lehrer und Schüler, Alles weinte, Alles umarmte einander, Alles nahm Abschied, und ich kam traurig und in Thränen nach Hause. Ich wußte nicht, wie ich ohne Herrn Ulrich, und namentlich ohne den von mir so verehrten Herrn von Tippelskirch würde leben können.

Mit einem nicht zu beschreibenden Gefühle der Verlassenheit [210] und der Vereinsamung packte ich meine Hefte und Bücher in mein Schränkchen ein. Ich nahm Abschied von jedem Blatte, das ich aus der Hand legte, und eine Stimme in meinem Innern, die mir immer wieder die Thränen in die Augen lockte, sagte mir fortdauernd: jetzt ist Deine glückliche Kindheit vorbei! – Ich kam mir ununterrichtet, unfertig vor, wie nie zuvor, ich las die Unterschriften unter meinen ältesten Arbeiten, als stecke die größte Weisheit darin, ich holte alle Paar Stunden mein Stammbuch hervor, um mich an den Zeilen zu erfreuen, welche meine Lehrer mir eingeschrieben hatten, und mit einemmale, am zweiten, dritten Tage, nachdem ich die Schule verlassen, kam mir aus dem Erinnerungsblatte, welches Herr Motherby mir gegeben hatte, ein Gedanke, und damit auch ein Trost. Es lautete: Tâcher de défaire notre esprit de l'erreur, notre coeur de l'égoisme, voilà la grande tâche de notre vie, voilà le but de toute éducation; de cette éducation de nous même, qui commence quand nos instituteurs nous quittent, quand la main de ceux qui ont veillé sur notre enfance ne nous guide plus!

Ich wollte das befolgen, ich wollte an mir selber arbeiten, und vor Allem: ich wollte den Egoismus ablegen, mit welchem ich die beiden Tage hindurch mich immer nur gefragt hatte, was ich denn jetzt beginnen solle? – statt mich an das Nächste zu halten und im Hause nachzuhören, wo ich helfen und der Mutter nützlich werden könne. Je weniger diese Art der Dienstleistung mir selbst genehm sei, um so besser! Das sollte [211] der erste Akt der Selbstüberwindung werden, von welcher Herr Motherby gesprochen hatte, und da die Jugend opferfreudig ist, fand ich eine Beruhigung in meinem gefaßten Vorsatze.

Die Eltern hatten übrigens meinen Austritt aus der Schule, grade so wie ich, als einen Lebensabschnitt angesehen. Sie hatten mir gesagt, ich sei jetzt kein Kind mehr, und da ich bisher alle meine Zeit ausschließlich für mich verwendet, so sei es nun doppelt meine Pflicht, sie für Andere zu verwerthen. Ich war auch sehr bereit dazu, nur daß Niemand recht wußte, was ich eigentlich thun sollte. Die Paar kleinen Geschäfte, welche meine Mutter mir übertrug, füllten den Tag nicht aus. In den häuslichen Handarbeiten besaß ich noch nicht jene Gewandtheit, welche sie für den Haushalt ersprießlich macht, denn ich arbeitete noch ängstlich und langsam; das, was also zuerst in Angriff genommen werden sollte, war natürlich wieder die Musik, und da ich immer darüber klagte, daß ich nicht verstände, was ich spielte, daß ich von der Musik die Regeln kennen möchte, wie ich sie von den Sprachen kenne, so erhielt ich die Erlaubniß, an einem Musikunterricht Theil zu nehmen, welcher von einem Herrn von Zivet nach Logier's Methode in einer Art Musikschule ertheilt wurde. Ich hatte gehofft, dabei Generalbaß zu lernen, es hatte aber, was ich hier gleich bemerken will, mit der ganzen Schule nicht viel auf sich, und nachdem ich sie den Winter hindurch zweimal in der Woche besucht hatte, wurde die Sache aufgegeben. Die ganze Schule löste sich auch bald nachher wieder auf, und der Lehrer entfernte sich plötzlich, wie er gekommen war.

[212] Die ersten Paar Wochen, nach dem Verlassen der Schule, gingen mit allerlei Versuchsbeschäftigungen hin. Die Mutter wußte mich nicht recht zu verwenden, ich trieb mich also ziemlich planlos in den Stuben umher, bis ich irgend ein Buch erwischte und mich in einen Winkel hinsetzte, um zu lesen. Das lag jedoch gar nicht in meines Vaters Absichten, und eines schönen Morgens, kurz vor dem ersten Oktober, überraschte er mich mit folgendem, von ihm selbst aufgesetzten Stundenplan, den ich seitdem oft mit lächeln der Rührung betrachtet habe und den ich der Originalität wegen hersetze:


Stundenzettel

für

Fanny Marcus,

entworfen Ende September, gültig bis zur veränderten Jahreszeit und bis andere Lehrstunden eintreten.

Allgemeine Bestimmung:


Des Morgens wird spätestens um 7 Uhr aufgestanden, damit um 71/2 Uhr das Ankleiden völlig beendet sei.


Montag

von 8 – 9 Uhr Clavierstunde. Uebung
neuer Stücke.
" 9 – 12 " Handarbeit, gewöhnliches
Nähen und Stricken.
" 12 – 1 " Nachlesen der alten
Lehrbücher, als: Französisch,
Geographie, Geschichte,
Deutsch, Grammatik u.s.w.
" 1 – 21/2 " Erholung und Mittagessen.
" 21/2 – 5 " Handarbeit gleich oben.
" 5 – 6 " Clavierstunde bei Herrn
Thomas.
" 6 – 7 "Schreibeübung.
Dienstag

" 8 – 9 " Uebung neuer Clavierstücke.
" 9 – 10 " Häusliche Handarbeit.
" 10 – 12 " Unterricht im Generalbaß.
[213]
von 12 – 1 Uhr gleich Montag.
" 1 – 21/2 " dito.
" 21/2 – 5 " dito.
" 5 – 6 " Uebung alter Clavierstücke.
" 6 – 7 " Schreibeübung wie Montag.
Mittwoch gleich Montag; von 5–6 Uhr Uebung der alten Musikstücke am Clavier.

Donnerstag, Freitag und Sonnabend gleich den drei ersten Wochentagen.

Sonntag wird völlig der Bestimmung von Fanny anheimgestellt, mit Ausnahme der Clavierübung von 8–9 Uhr; jedoch müssen die wöchentlich unnöthig versäumten Lektionen nachgeholt, und die Stunden, welche am Clavier durch Ausgehen oder durch Besuche versäumt worden, genau ersetzt werden.

Fanny wird durch pünktliche Erfüllung dieses Stundenzettels und durch sonstiges gutes Betragen sich bemühen, ihren Eltern den Beweis zu geben, daß sie würdig sei, noch anderweitigen Unterricht zu erhalten, und von ihrem Vater für ihre Erholungsstunden gute Lesebücher zu bekommen.

Besuch außer dem Hause wird wöchentlich einmal, und nur ausnahmsweise zweimal stattfinden.


Diese Anordnung mit ihrer befehlenden Kürze er schien mir weder auffallend, noch hart. Ich war von Kindheit auf an eine sehr bestimmte Zeiteintheilung und Zucht gewöhnt, und ich bin gewiß, daß der Stundenzettel meiner Mutter damals ebenso wie mir eine Erleichterung gewährte. Er nahm ihr die Sorge, was sie mich thun lassen solle, und enthob mich dem Unbehagen, das in mir durch ihre wechselnden Versuche, mich zu beschäftigen, erzeugt worden war. Aber langweilig wurde dieser Winter mir im höchsten Grade.

Fünf Stunden an jedem Tag saß ich in der Wohnstube an einem bestimmten Platz am Fenster und erlernte [214] Strümpfe zu stopfen, Wäsche auszubessern und beim Schneidern und andern Arbeiten Hand anzulegen. Zwei Stunden brachte ich am Clavier zu, eine Stunde langweilte ich mich mit dem Inhalt meiner alten Schulbücher, den ich damals von A bis Z auswendig konnte, eine andere Stunde schrieb ich Gedichte zur Uebung meiner Handschrift ab. Dazwischen ging ich Gänge aus der Küche in die Speisekammer, und aus der Wohnstube in die Kinderstube, beaufsichtigte ab und zu die drei jüngsten Geschwister, und hatte am Abende das niederschlagende Gefühl, den Tag über nichts Rechtes gethan zu haben, und einen brennenden Neid auf meine Brüder, welche ruhig in ihr Gymnasium gingen, ruhig ihre Lektionen machten, und an denen also lange nicht so viel herumerzogen werden konnte als an mir. Ihr ganzes Dasein erschien mir vornehmer als das meine, und mit der Sehnsucht nach der Schule regte sich in mir das Verlangen, womöglich Lehrerin zu werden und so zu einem Lebensberuf zu kommen, bei dem mich nicht immer der Gedanke plagte, daß ich meine Zeit unnütz hinbringen müsse.

Diese Ideen gegen meine Eltern auszusprechen hätte ich aber nicht gewagt, denn sie würden darin eine Bestätigung für die alte Ansicht meiner Mutter gefunden haben, daß mir der rechte weibliche Sinn für die Häuslichkeit und für die Familie fehle, daß ich viel mehr Verstand als Herz hätte, und daß meine Neigung für geistige Beschäftigungen ein Unglück für mich wie für sie sei. Hätte sie diese Ansicht nur wirklich festgehalten, so wäre für mich damit fertig zu werden gewesen. Indeß [215] wenn sie mir heute diese Vorwürfe gemacht hatte, so bezeigte sie morgen wieder die alte große Freude über meine Begabung und mein Wissen; und wenn mein Vater, der ihrer sonstigen Beobachtungsgabe mit Recht großes Zutrauen schenkte, nun in Folge ihres Urtheils mich mit seiner etwas gewaltthätigen Consequenz häuslich und weiblich machen wollte, so war es gerade im Gegentheil meine Mutter, die, von Mitleid bewegt, mir wieder etwas mehr Freiheit zu verschaffen suchte. Ich war wirklich in diesem Winter sehr übel daran und habe doch keinen von meinen Eltern deshalb anzuklagen, denn sie handelten Beide aus Liebe zu mir und nach ihrem besten Wissen. Meine Mutter hatte keinerlei Bewußtsein von der Eifersucht, welche sie gegen meine ganze Entwicklung fühlte, und meinem Vater lag der Gedanke, eine solche Eifersucht in der Mutter vorauszusetzen, noch viel ferner. Ja, ich selbst erkannte damals diese Schwäche meiner Mutter nicht. Ich glaubte aus allerlei unvernünftigen Gründen mich, wie schon gesagt, von ihr weniger geliebt als meine andern Geschwister, und das machte das Uebel nicht geringer. Kurzsichtig, wie man es in den Familien meist für die Ursache der Mißstände ist, welche sich unter ihren Mitgliedern entwickeln, errieth Niemand, was eigentlich meine Mutter und mich nie zu dem richtigen Verhältniß kommen ließ. Als viele Jahre später mein Vater diese Einsicht gewann, sind doch alle Uebrigen der Ansicht geblieben, daß die Schuld nur an mir gelegen habe, und Keiner hat es einsehen wollen, wie viel Unrecht, wie viel empfindliche Verletzungen ich von der Mutter, ohne ihr Wissen und Wollen, gerade in den Jahren erduldet habe, [216] in denen mein Herz noch so weich, meine Widerstandsfähigkeit so gering war, daß ich mich über Nichts mündlich auszusprechen, geschweige denn über mich Erklärungen zu machen, oder gar mich gegen irgend ein mir zugefügtes seelisches Leid zu wehren verstanden hätte. Man kann gegen die Jugend in diesem Punkte nicht vorsichtig genug sein. Sie ist verwundbarer, je empfänglicher und je wehrloser sie ist; und jede Herzensverletzung drängt sie in sich selbst zurück, gewöhnt sie an ein einsames Innenleben, das für gewisse Naturen sehr bedenklich werden kann, wenn schon es für kräftige Seelen zum Heil ausschlägt. Was es übrigens mit der Eifersucht von Eltern gegen die größere Bildung der Kinder auf sich hat – einem Mißverhältniß, das sich häufiger wiederholt, als man es gewahr wird – das habe ich später in einem meiner Romane, in den Wandlungen, an den Figuren des alten Brand und seines Sohnes poetisch darzustellen unternommen.

Aber nicht allein zu meiner Mutter, auch zu meinen Geschwistern hatte ich gerade in jenem Zeitpunkte das alte frohe Kindheitsverhältniß nicht mehr. Mädchen entwickeln sich im Allgemeinen viel früher als Knaben, ich war noch schneller als gewöhnlich vorgeschritten, und also den beiden zehn- und zwölfjährigen Brüdern, wie der achtjährigen Schwester völlig entwachsen. Im Hause machten die andern drei kleinen Schwestern der Mutter viel Noth und Arbeit, und es stand ihr ein zehntes Wochenbett bevor. Ihre Gesundheit war sehr schwach, und obschon sie trotz aller dieser Mühen und Beschwerden mir gerade in diesem Winter eine Tanzstunde arrangirte, die abwechselnd [217] bei uns und bei den Eltern der drei andern Mädchen gehalten wurde, welche den Unterricht mit mir gemeinsam nahmen, so empfand ich doch den Druck der Sorge, die auf dem Hause lastete, nur allzuschwer. Aber auch von dieser Einsicht getraute ich mir nicht zu sprechen, und ohne die zärtliche Freundschaft, welche ich damals für eine meiner frühern Mitschülerinnen hegte, wäre ich in jener Zeit wirklich recht unglücklich gewesen.

Ich hatte diese Freundin bald nach meinem Eintritt in die zweite Klasse gewonnen. Wir waren fast vier Jahre in der Schule zusammengeblieben und haben durch unsere ganze Jugend mit der größten Liebe aneinander gehangen, bis später unsere verschiedenen religiösen Ueberzeugungen uns allmählich von einander entfernten.

Mathilde war die jüngste Tochter eines Major von Derschau, und drei Jahre älter als ich. Sie hatte den Vater in ihrer ersten Kindheit verloren. Ihre Mutter, eine Frau von vortrefflichem Charakter und von einer männlichen Geradheit und Wahrhaftigkeit, hatte eine Stelle in einem der Königsberger Frauenstifte. Sie lebte von einer mäßigen Pension und von den Zinsen eines kleinen Vermögens. Auch sie hielt sich, wie ihre älteste Tochter, die ebenfalls in dem Stifte lebte und eine unserer Lehrerinnen in der Schule gewesen war, zu der Ebel'schen Gemeinde, aber eine gewisse Kernhaftigkeit ihrer Natur bewahrte sie vor der weichlichen Weise seiner übrigen Anhänger. Ihr frischer Sinn blieb mit dem Leben und mit der Außenwelt immer vorurtheilslos in Verbindung, und selbst ihre Vorliebe für die schöne Literatur, soweit [218] diese die Lieblingsdichter ihrer Jugend, Schiller, Bürger, und – Philippine Gatterer betraf, war durch ihre spätere religiöse Richtung nicht beeinträchtigt worden. Sie beschäftigte sich viel mit der Bibel und mit Erbauungsschriften, aber sie versagte es sich nicht, dann und wann einmal ihr Lieblingsstück »Kabale und Liebe« sehen zu gehen, und wenn sie auch im Gesangbuch gelesen hatte, hörte sie es gern mit an, daß wir ihr diejenigen Schiller'schen oder sonstigen Gedichte vorlasen, die unserer damaligen Entwicklung und unserm Hange für das Sentimentale und Pathetische angemessen waren.

Mathilde stand im dreizehnten Jahr, als ich sie kennen lernte. Sie hatte früher eine andere Schule besucht, und weil das Lernen damals nicht ihre stärkste Neigung war, fiel es ihr trotz ihrer glücklichen Anlagen Anfangs schwer, sich in die Disciplin und in den Ernst unserer Anstalt zu schicken. Voller Güte, voller Frohsinn, immer zum Lachen aufgelegt, machte sie mit ihrer früh entwickelten Wohlgestalt, mit ihren großen Augen, mit dem prächtigen hellbraunen Haar, das vor lauter Gelock sich in keine übliche Frisur einfangen lassen wollte, den Eindruck eines eben so reizenden als liebenswürdigen Mädchens. Ihre ganze Figur, ihre Hände und Arme waren schön, ihre Zähne, welche der lachende Mund fortwährend enthüllte, ganz unvergleichlich, und ganz im Gegensatz von mir, der von körperlichen Uebungen Nichts als das Tanzen gut gelang, war sie Meister in allen körperlichen Spielen. Es war ein Vergnügen, sie laufen, springen, Ball werfen und klettern zu sehen.

Was uns Beide eigentlich zuerst zusammengeführt, [219] war Mathildens Verlangen, Hilfe bei ihren Arbeiten zu finden. Aber wir faßten bald eine große Zärtlichkeit für einander, und kannten keine größere Freude als das Beisammensein.

Mathilde war in unserm Hause heimisch wie ich selbst, und auch ich war ganz und gar eingelebt in den kleinen Stübchen ihrer Mutter. Sie fand bei uns, so beschränkt unsere damaligen Verhältnisse waren, doch mehr Leben und Zerstreuung als zu Hause, und mir, die immerfort in einer großen Schaar von Kindern lebte, war das Alleinsein mit Mathilde und die Stille auf dem entlegenen Kirchplatz und in den kleinen Stuben ihrer Mutter etwas sehr Zusagendes. Wir arbeiteten dann an dem Tische, an welchem ihre Mutter in ihrem unwandelbaren schwarzwollenen Kleide, mit der schlichten weißen Haube, strickend neben uns saß, wir machten Zeichnungen nach der Natur, oder entschlüpften, wenn die ältere Schwester ausgegangen war, in deren Zimmer, um uns Alles mitzutheilen, was wir irgend dachten und wußten.

Alles, was wir besaßen, liebten wir zu theilen, Alles, was wir von unsern Eltern erhielten, erbaten wir uns womöglich von der gleichen Art, und da man sich in beiden Familien mit den Ausgaben auf das Nothwendigste beschränken mußte, waren unsere Wünsche gleichmäßig bescheiden. Konnten wir es verabreden, so kleideten wir uns möglichst gleich, und die ersten Verse, welche wir in meinem zwölften Jahre machten, galten eben den neuen Umwerftüchern von Bourre de Soie, welche unsere Eltern uns geschenkt hatten, und mit denen wir uns reich wie Fürsten fühlten.

[220] Ein Hauptgenuß aber war es, wenn wir am Sonnabend mit all unsern Arbeiten abschließen und dann vom Sonnabend Nachmittag bis Montag früh, je nachdem, in unserm Hause oder in der Stiftswohnung der Majorin beisammen bleiben konnten. Daß daneben im Stifte Alles so eng, daß es im Grunde dort nicht bequem war, daß wir uns für einander kleine Entbehrungen auflegen, uns miteinander behelfen mußten, das gehörte wesentlich zu dem Vergnügen dieses Beisammenseins, denn die Freundschaft der Jugend ist opferfreudig; und man sollte niemals weder über diese frühen Freundschaften, noch über die frühen Herzensneigungen der Kinder spötteln. Es erwächst dem Menschen keine seiner Eigenschaften, keine seiner Tugenden gleich auf einmal fix und fertig, gleich in ihrer Vollendung und in ihrer Kraft. Die Eigenschaften und die Tugenden wollen sich durch ihre Uebung entfalten, und wo sich in der Kindesfreundschaft nicht Ueberspannung, wo sich in der Liebe der Kinder nicht Sinnlichkeit verräth, soll man sie achten und sie gewähren lassen.

Am Sonntag, wenn ich bei Mathilde war, ging ich mit ihr und ihrer Mutter zu Ebel in die Kirche. Wir saßen dann beieinander, sangen aus demselben Gesangbuch, hörten gemeinsam die Predigt des uns vertrauten Lehrers an, und ich glaube, in jenen Tagen war ich diejenige von uns Beiden, welche dabei die meiste Erhebung fand. Im Sommer machten wir am Nachmittage mit ihrer Mutter einen Spaziergang, bei dem wir häufig das Grab einer Tochter besuchten, die als erwachsenes Mädchen gestorben war, und am Abende spielten wir [221] auf dem Bleichplatz hinter dem Stifte mit den andern im Stifte heimischen Kindern, unter denen die vier Söhne einer Justizräthin Richelot, die Alle älter waren als wir, und von denen einige sich schon in den oberen Klassen eines Gymnasiums befanden, unsere liebsten Genossen waren.

Diese Freundschaft hatte ich aus der Schule mit in das häusliche Leben hinübergenommen, und sie war, je älter wir wurden, um so fördernder für uns Beide und um so herzlicher geworden. Mathildens Frohsinn und Jugendlichkeit waren für mich eine nothwendige Ergänzung, während meine Theilnahme an ernsten Dingen, meine Lust am Lesen ihr zu Gute kamen; und wenn ich durch den Verkehr mit ihr auch noch früher, als es sonst geschehen wäre, mich zu den Erwachsenen zu zählen anfing, so war sie so anspruchslos und ihr ganzes Wesen so kerngesund, daß ich keine bessere Freundin auf der Welt hätte finden können. Alles Grübeln, alles Nachdenken waren ihr verhaßt, die Rührung lästig, und sie war eigentlich ihrer ganzen Natur nach nirgend weniger an ihrem Platze, als in ihrer nächsten Familie. Neben ihrer ernsthaften Mutter, neben ihrer auf kirchliches und auf inneres Leben gestellten Schwester nahm sie sich immer wie ein Vogel unter der Luftpumpe aus. Sie hielt sich dann ängstlich still, ihr fehlte das Lebenselement, und nur im Hause ihres Bruders, der mit einer schönen lebenslustigen Frau verheirathet war, oder in unserm Hause, athmete sie fröhlich auf.

Auch war sie bei uns der allgemeine Liebling. Meiner Mutter war ihre Natur viel verwandter als die meine, [222] mein Vater schalt sie bisweilen, wenn sie ihm zu viel und zu laut lachte, was er nicht gut leiden konnte, aber wenn sie über den Zuruf, den wir oftmals zu hören bekamen: lacht nicht so dumm! lacht nicht so viel, das ist unanständig! nur in neues Lachen ausbrach, und dies nicht zu beenden war, bis man uns zum Zimmer hinauswies, so mußte er zuletzt selbst über die Gutmüthigkeit und Kindlichkeit lachen, mit welcher das erwachsene schöne Mädchen seinen Tadel hinnahm; und Allen fehlte Etwas im Hause, wenn Mathilde einmal eine Woche nicht dagewesen war.

Nur einen Kummer trugen wir gemeinsam, den Schmerz, daß sie ohne mich zum Religionsunterricht gehen, daß sie ohne mich eingesegnet werden müsse, weil ich nicht Christin war wie sie. Dieses Bedauern theilte die Mutter auf das Lebhafteste. Tausendmal habe ich es sie aussprechen hören, wie sehr sie es bereute, aus Rücksicht auf ihre Familie, nicht zum Christenthum übergetreten zu sein, als sich ihrer Verheirathung so viel Schwierigkeiten entgegensetzten; tausendmal habe ich es sie beklagen hören, daß sie keiner Kirche, keiner Religionsgemeinde recht angehöre, und daß wir, wie sie es nannte, ohne rechte Religion aufwachsen sollten.

Sonntags, oder an den andern christlichen Feiertagen, wenn die Familien mit ihren Kindern zur Kirche gingen, that es ihr weh, daß ihr diese Erbauung fehle, und es ist mir zweifellos, daß es für unsere Mutter die größte Wohlthat gewesen sein würde, hätte der Vater sich in diesen Zeiten dazu entschlossen, zum Christenthum überzutreten. Es wäre ihrem Gemüth in dem Anlehnen an [223] eine positive Religion, in dem Aufschauen zu einer höhern Weltführung, eine Stütze und ein Halt geboten worden.

Daß sie jemals ein solches Verlangen gegen den Vater in Bezug auf sich ausgesprochen, bezweifle ich, denn die Befriedigung eines solchen geistigen Bedürfnisses bestimmt zu fordern, war ihre eigene Empfindung ihr wahrscheinlich nicht klar genug. Für uns aber äußerte sie fortdauernd den Wunsch, uns Christen werden zu lassen, den sie immer in doppelter Weise motivirte. Sie hielt es dem Vater einerseits vor, daß es traurig sei, zwischen zwei Religionen zu stehen wie wir. Von dem Judenthum wüßten wir gar Nichts, in den Schulen hätten wir christlichen Religionsunterricht empfangen, wir hätten also doch mehr Zusammenhang mit dem Christenthume, und es würde daher ein Segen für uns sein, wenn man uns anwiese, wozu wir uns zu halten hätten, denn eine Religion müsse der Mensch haben. Daneben stellte sie dem Vater vor, daß sich ganz derselbe Zwiespalt wie in religiöser Hinsicht auch für unser praktisches Leben herausstelle. Uns mit den jüdischen Familien verkehren zu lassen, wünschte sie nicht; die angesehenen christlichen Familien aber wiesen die Juden jetzt noch eben so wie vor zehn Jahren von sich zurück. Ein großer Theil der Gesellschaft und eine Menge anderer Vorzüge wären den Juden verschlossen, und der Gedanke, uns lebenslang in einer so peinlichen Lage zu wissen, wie die Juden sie erdulden müßten, werde ihr äußerst schwer. Sie sei überzeugt, daß es mich glücklich machen würde, mit Mathilde zum Religionsunterricht zu gehen, und da ohnehin des Vaters Brüder und seine Schwester in Breslau mit ihren [224] Familien längst zum Christenthume übergetreten wären, würde sie es als eine Wohlthat für uns ansehen, wenn er für die Seinen einen gleichen Weg einschlagen wollte.

Indeß ihre Wünsche drangen in diesem Augenblicke noch für keinen von uns durch. Mein Vater hatte für sich nicht das leiseste Bedürfniß nach einer religiösen Erhebung oder nach einer kirchlichen Gemeinschaft; an den geselligen Verbindungen, die sich ihm nicht öffneten, war ihm selbst gar Nichts gelegen; er hielt obenein seinen Uebertritt zum Christenthum, falls er sich der Mutter zu Liebe zu einem solchen hätte bequemen wollen, seinen geschäftlichen Beziehungen, die ihn beständig mit den strenggläubigen polnischen Juden in Verbindung brachten, für nachtheilig, und es blieb uns also vorläufig noch überlassen, mit unserm Glauben und mit unsern religiösen Bedürfnissen fertig zu werden, wie wir wollten und konnten.

Im Hause kam von Religion äußerst wenig an uns heran. Wir beteten Abends aus Gewohnheit das Vaterunser und damit war es abgethan. Religiöse Gespräche wies mein Vater, wenn hie und da die Rede sich darauf lenkte, meist mit dem Bemerken von sich, daß derlei sich in der flüchtigen Unterhaltung nicht abthun lasse und kein Gegenstand für gesellschaftliche Besprechung sei. Kam es aber doch einmal zu Erörterungen über das Wesen des Menschen, oder gar über die Unsterblichkeit der Seele, so machte auch diesen der Vater meist mit der Bemerkung ein Ende, daß es unfruchtbar sei, den Sinn auf Dinge zu richten, von denen wir Nichts wissen könnten, und thöricht, sich Vorstellungen von einem Zustande machen [225] zu wollen, der dann eintreten sollte, wenn alle Fähigkeiten, mit denen wir jetzt wahrnehmen und urtheilen, erloschen sein würden. Jeden Augenblick, den man den Spekulationen über das Jenseits zuwende, entziehe man dem Diesseits. Ein »Hab' ich« sei aber tausendmal mehr werth als zwei »Hätt' ich«, und da das Thun ein für allemal die Hauptsache sei, so müsse man das Rechte und das Seinige thun und sich weiter um das Jenseits nicht kümmern. In seinen Thaten habe der Mensch seine geistige Unsterblichkeit, in seinen Kindern seine irdische Unsterblichkeit. Das alte Testament wisse Nichts von dem Glauben an eine Fortdauer nach dem Tode, und deshalb hielten die Juden so sehr darauf, sich früh zu verheirathen und eine Nachkommenschaft zu haben, in der sie und ihr Gedächtniß über ihren Tod hinaus lebendig blieben.

Neben dieser rationellen und praktischen Auffassung von dem Wesen des Menschen und von der Unsterblichkeit, die mir sehr einleuchtete, hatte sich aber in mir eine eigene religiöse Welt ausgebildet; denn wenn mir auch die Anschauungsweise meines Vaters verständlich und angemessen war, so ließ sie eine Seite in meinem Gemüthe leer, die in dem Christenthum ihre Nahrung fand.

Die großen Lehren von der Liebe und von der Selbstverläugnung, welche das Christenthum in sich trägt, begeisterten mich, und der Ebel'sche Religionsunterricht sowohl, als der mehrjährige Unterricht des Herrn von Tippelskirch hatten in mir das Verlangen nach einem Ideal erzeugt, für das ich eine Gestalt zu haben begehrte. [226] Weder die historischen Figuren des Alterthums, noch die der neuen Geschichte, boten mir was ich bedurfte. Ich konnte die Thaten, die Seelenstärke, die Großmuth, die Hingebung einzelner Helden bewundern, indeß sie Alle verkörperten mir die ideale Liebe, das Streben nach Selbstvollendung nicht, nach denen ich trachtete, und hätten meine Lehrer mich nicht schon früher auf Christus hingewiesen, so würde mein jetziger Umgang mit der Familie von Derschau hingereicht haben, mir Christus den All-Liebenden, der sich für die Menschen geopfert hat, zum Ideale zu erheben.

Es war aber nicht der Gottessohn, den ich verehrte, denn an das Dogma von dem eingebornen Sohne Gottes hatte ich von jeher eben so wenig zu glauben vermocht, als an die Menschwerdung der griechischen Götter, sondern es war der Mensch Jesus Christus, der meinem Volke entsprossene Befreier, der historische Christus, den ich verehrte und dem ich nachstrebte, ohne daß ich damals diese Bezeichnung gekannt, oder von den über diese Auffassung obwaltenden Streitigkeiten Etwas gewußt hätte. Auf dem Boden jedoch, auf dem ich lebte, in den Verhältnissen, in denen ich aufwuchs, gehörten weder ein besonderer Scharfsinn noch eine besondere Divinationsgabe dazu, um zu einer Anschauung zu kommen, welche ohnehin in der Zeit lag.

Da ich von früh auf gewöhnt worden war, meine Vernunft zu brauchen, war ich zum urtheilslosen Glauben nicht gemacht, und je an ein Wunder geglaubt, je einen andern als einen mythologischen Eindruck von den christlichen Wundern gehabt zu haben, kann ich mich nicht [227] erinnern. Ich versuchte hie und da einmal sie mir natürlich zu denken, wenn mir das aber nicht gelang, so sagte ich mir, alle alten Völker hätten an Wunder geglaubt, und ließ es dabei, wie an etwas Abgethanem bewenden. Aber die Geschichten des alten Testaments, mit den abenteuerlichen Fahrten und Thaten seiner Völker und Helden, zogen mich lebhaft an. Die Züge der Juden durch die Wüste, die Episode von Joseph und seinen Brüdern, von Saul und David und Jonathan, die Erzählungen von Ruth, von Esther, die Pracht der Bundeslade und des Tempels von Jerusalem, der Verrath von Absalon, und die Geschichte der heldenmüthigen Makkabäer, hatten ihrer Zeit meine Phantasie lebhaft beschäftigt, bis endlich Christus den Sieg über sie Alle davon trug und mir zum Ideal erwuchs.

Diese letztere Verehrung hatte sich bei mir aber erst in bestimmter Form herausgebildet, nachdem ich die Schule verlassen hatte, und mein Trieb zum Gestaltgeben hatte sich dieser Verehrung zugesellt. Ich erinnere mich noch des Tages, an dem ich zum erstenmale darauf verfiel, mir »die Geschichte des Heilandes deutlich vorzustellen.«

Ebel hatte seine Gemeinde, einen oder zwei Tage vor Weihnachten, zu einem Nachmittagsgottesdienst in der Altstädtischen Kirche versammelt, und ich war mit der Familie von Derschau zur Kirche gegangen. Es war ein trüber Tag, Regen und Schnee wechselten miteinander ab, und noch während der Predigt fing es zu dunkeln an, so daß man den am Altar hängenden Kronleuchter anzündete, dessen Licht jedoch nur strichweise Helle verbreitete. [228] In seiner ergreifenden Weise hatte Ebel von der Geburt Christi, von diesem zweiten: »es werde Licht!« gesprochen, das über der Erde ertönt war, und da er ein Mann voller Phantasie, und in der Darstellung höchst plastisch war, hatte sich mir, deren Sinn diesem plastischen Vermögen entgegen kam, die heilige Familie, die Maria mit ihrem Kinde und dem heiligen Joseph, fast sinnlich deutlich auferbaut, wie sie in dem Stalle zu Bethlehem ihr Lager gefunden, wie das Licht erschienen in dem Dunkel, wie der Herrlichste der Menschen in der Niedrigkeit geboren worden war, und besonders hatte mich das Bild des Sterns beschäftigt, dem die Könige nachzogen aus dem fernen Morgenlande, bis er stille stand über der Stätte, an welcher ein noch hellerer Stern für die ganze Menschheit aufgegangen war.

Sehr gerührt und in mich versunken saß ich da, während zu den Tönen der Orgel das Hosiannah der Gemeinde durch die Kirche klang, und als ich den Blick einmal zu dem mir gegenüberliegenden Fenster erhob, flimmerte plötzlich ein leuchtender Stern vor meinen Augen. Daß dies nur ein Wiederschein des Lichtes vom Altare war, daß durch die trüben Scheiben der alten Kirchenfenster kein Sternschein dringen, daß an dem umwölkten Himmel kaum ein Stern hervorleuchten konnte, das fiel mir gar nicht ein. Ich faltete unwillkürlich die Hände, ich fühlte eine große freudige Bewegung in meinem Herzen, und ohne einem Menschen ein Wort davon zu sagen – denn über starke Empfindungen zu sprechen, trägt die wahrhaftige Jugend Scheu, weil ihr die Kraft und die Selbstbeherrschung dazu fehlen – hatte ich die Ueberzeugung, [229] daß erst mit diesem Tage Jesus auch für mich lebendig geworden sei.

Von da ab begannen die christlichen Feiertage für mich eine eigene Bedeutung zu gewinnen, und meine Verehrung des Heilandes bekam etwas Enthusiastisches, das seinem Heroismus und seiner Selbstverläugnung galt. Ich staunte ihn an, weil er mit der Voraussicht aller der Schrecken, die ihm bevorstanden, doch aus Pflichtgefühl hingegangen war, sie über sich zu nehmen, um der Menschheit das Beispiel der Liebe und der Opferfreudigkeit zu geben.

Vornehmlich war es die Zeit von dem Palmsonntage bis zum Pfingstfeste, an denen die Phantasie und das Gemüth sich ergötzten. Von Tag zu Tag verfolgte ich nach bestem Wissen die biblische Tradition; von Stunde zu Stunde suchte ich mir in der Zeit vom Palmsonntage bis zum Ostermorgen die Passionsgeschichte vorzustellen, und mir auszumalen, wo Christus eben jetzt gewesen sei, und was er jetzt gethan habe. Nun zog er nach Jerusalem ein, und sie breiteten Palmen auf seinen Weg und sangen Hosiannah. Nun verspotteten ihn die Juden. Nun war er auf dem Oelberge und betete. Nun genoß er mit seinen Jüngern das Abendmahl. Nun führten sie ihn vor Pontius Pilatus, und so weiter fort. Und das Alles belebte sich mir nach der Weise der wenigen Kupferstiche, die ich gesehen hatte, und es schien darüber eine Sonne, und es war in einem Lande, die beide schöner waren, als Alles, was ich kannte. – Dann kam der Charfreitag, dessen Feier in der Kirche ich nicht versäumte. Und wenn dann das Charfreitags-Evangelium verlesen wurde, in seiner ganzen tragischen Majestät, wenn die Kunde [230] von der Kanzel heruntertönte, daß der Himmel sich verfinstert und die Erde gebebt habe bei dem Tode meines Helden, so erbebte mir selbst das Herz in der Brust, und ich hatte eine stolze Genugthuung darüber, daß ihm also geschehen war, daß bei dem Untergange des edelsten der Menschen, daß bei dem Untergange eines gerechten Helden Gott die Welt erzittern lassen.

Danach wurde es am Sonnabende still in meiner Seele, bis ich mir am Ostermorgen sagen durfte: Christus ist erstanden! und damit eine volle Freude in mir erwachte.

Ich glaube, die Mysterien, welche man im Mittelalter der gläubigen Menge zur Erinnerung aufführte, können ihr nicht mehr Genügen bereitet haben, als ich mir selbst verschaffte. Alles war mir lebendig, die heiligen Gestalten waren mit mir, was auch sonst um mich her vorgehen mochte. Ich belebte mir die Scenerie mit Allem, was ich von der Bibel, von dem Orient und von der Zeit der Römer wußte. Jede Stunde war mir voller Handlung.

Es lag ein großer Genuß in dieser Anschauungsweise, in welcher sich vielleicht zuerst die mir angeborne plastische Kraft ein Genüge that, während sich zugleich die Bedeutung der historischen Gestalt des Heilandes und die erhebende Gewalt des rein historischen Christenthumes darin kund gaben. Und ich bin gewiß, daß das Christenthum nicht weniger wirksam, ja daß es in unsern Tagen auf viele junge Seelen im Gegentheil wirksamer werden würde, wenn man die dogmatischen und mythischen Elemente desselben hinter die historischen stellen, und statt für Christus göttliche Anbetung zu fordern, für ihn die höchste menschliche Verehrung der Jugend in Anspruch [231] nehmen würde. Denn es ist der Jugend leichter möglich und fördersamer, einem großen Menschen mit allen ihren Kräften nachzustreben, als sich im Glauben auf die erlösende Liebe eines schuldlos geopferten Gottes zu verlassen; auch wenn der Begriff eines sterbenden Gottes nicht dem Christenthum widerspräche, und den Erlöser der Menschheit der ganzen übrigen Reihe menschgewordener mythologischer Gestalten einverleibte, die für Gebilde der Phantasie zu halten und an die nicht zu glauben, man uns von unserer Kindheit an gewöhnt.

Später, etwa von meinem sechszehnten, siebzehnten Jahre ab, trat die Lektüre der Goethe'schen Osterfeier im Faust an die Stelle meines innerlichen Osterkultus. Ich hatte den Faust schon gelesen, als ich noch in die Schule ging, und er war mir seitdem eine Art von Lebensgefährte geworden, von dem ich mehr und mehr zu gewinnen vermochte, je nachdem ich vorwärts kam. Als dann meine Brüder heranwuchsen, haben wir durch eine lange Reihe von Jahren eine Art geistiger Frühlingsfeier darin gehabt, daß wir am Ostermorgen gemeinsam die Schlußscene des ersten Aktes vom Faust lasen, und uns das Herz erquickten an dem jubelnden: Christ ist erstanden!

Ich habe eigentlich in dieser Epoche meines Lebens die Erzählungen der Bibel überhaupt bei weitem den homerischen Erzählungen vorgezogen, an denen die Wiederkehr der Beiwörter, und auch der Ereignisse, mich ermüdeten. Dazu stießen die Schilderungen von Mord und Kampf mich ab, und ich erinnere mich, daß mein Vater mich nur mit einer Art von Zwang, indem ich täglich ein bestimmtes Pensum lesen und erzählen mußte, [232] zur Lektüre der Ilias bewegen konnte. Mein Vater wurde einmal ganz verdrießlich über die Hartnäckigkeit, mit welcher ich behauptete, es sei mir ganz gleich, ob sie dem Einen ihren Spieß durch die Zähne, oder dem Andern den Spieß durch den Leib stießen. Es würde doch Nichts weiter gethan, als gemordet, und zwar für Nichts und wider Nichts gemordet. Denn daß zwei Völker einander zerfleischten, und eine Stadt zerstört würde, nur weil eine Frau von ihrem Manne fortgelaufen, das sei unvernünftig, und dafür könne ich mich nicht begeistern. Wäre nicht hie und da eine Geschichte wie die von Hektor und Andromache, so würde die Ilias abscheulich und das Morden und Sterben, ohne eine Idee, für die die Menschen stürben, nicht zum Aushalten sein.

Mit solchen Aussprüchen, die der Vater als Eigenwilligkeiten verdammte und ohne Weiteres streng zurückwies, zog ich mir immer harten Tadel zu; und doch konnte ich sie nicht unterdrücken, denn ich empfand es ganz so, wie ich es sagte, und ich konnte keine Bewunderung erheucheln für Etwas, das meinem innersten Wesen widersprach. Es lag das wohl in meiner Abneigung gegen das Grausame überhaupt, und war ein Vorbote der Mißempfindung, welche ich später bei der Darstellung der Dante'schen Höllenqualen und aller gemalten Martyrien erlitten habe. Heute noch kostet mich der Anblick der Laokoon's-Gruppe Ueberwindung, und in Rom war es mir stets ein Trost, daß im Vatikane der Belvedere'sche Apoll sein nächster Nachbar war, bei dem ich zu verweilen pflegte, wenn meine Freunde sich in das Studium des Laokoon versenkten.

[233]
13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel

Einige Wochen nach meinem vierzehnten Geburtstage wurde meinen Eltern ihr letztes Kind geboren, und dieses Ereigniß machte zugleich den Merkstein für meinen Eintritt in das praktische Leben.

Bei den frühern Entbindungen meiner Mutter hatte man eine Haushälterin angenommen, diesmal sollte ich das Amt einer solchen verrichten, und ich übernahm es mit Zagen. Meine Mutter hatte mich in der vorhergehenden Zeit zu dem Nothwendigen angewiesen, aber sie hatte immer gefürchtet, daß ich nicht mit meinen Obliegenheiten zurechtkommen würde, und es war mir daher in doppeltem Sinne sehr bange, als sie sich eines Morgens niederlegen ging, und ich nun dastand mit der Angst um sie, mitten in einer großen Familie, mitten in einem Hause, in welchem Jeder an die Sicherheit und Erfahrung einer reifen Frau gewöhnt war, und in dem jetzt Alle plötzlich auf mich allein angewiesen sein sollten.

Mein Vater brachte mir aus der Schlafstube der Eltern den Schlüsselkorb meiner Mutter heraus, und während ihm selbst gewiß nicht leicht um's Herz war, sagte er freundlich ermuthigend: »habe nur Courage! wem Gott ein Amt giebt, dem giebt er auch Verstand. Vor Allem halte die Kinder ruhig!« – Er küßte mich dabei [234] auf die Stirne, und mir kam damit die Zuversicht, daß es gehen werde, weil es gehen müsse. Und es ging auch, obschon die Leitung eines solchen Hauswesens damals keine leichte Aufgabe für mich war.

Unser Hausstand umschloß in jenem Augenblicke siebzehn Menschen: die Eltern, acht Kinder, von denen die vier jüngsten einander fast Jahr auf Jahr gefolgt, und also noch alle völlig hilfsbedürftig waren, drei Commis, einen Lehrling, eine Köchin, die alte Kinderfrau, welche zur Wartung der kleinen Schwestern wieder zu uns zurückgekehrt war, und endlich eine Amme. Das war ein Personal, welches eine Menge von Bedürfnissen hatte, und das um so schwerer zu versorgen war, als man damals in den bürgerlichen Haushaltungen, die sich wie wir einzuschränken und genau über ihre Ausgaben zu wachen hatten, noch eine Art von Wirthschaft führte, die in großen Städten nicht anwendbar ist, und auch in Königsberg vielleicht jetzt nicht mehr üblich sein mag. Sie war insofern sehr vernünftig, als sie den Grundsatz festhielt, daß es vortheilhaft sei, im Großen und Ganzen zu kaufen, wo die Billigkeit des Raumes Aufspeicherung gestattet; aber man hegte daneben das unzweckmäßige Verlangen, Alles, was irgend möglich war, im Hause selbst zu fabriziren. Man richtete sich ein, als lebte man auf dem Lande, und nahm alle Mühen über sich, welche die Entfernung von der Stadt der Landwirthin auferlegt, während man die Dienstboten und Lebensmittel mit städtischen Preisen bezahlen mußte.

Freilich waren der Lohn der Dienstboten und die Preise der Lebensmittel damals verhältnißmäßig noch sehr [235] gering. Eine Köchin erhielt je nach ihren Leistungen achtzehn bis vierundzwanzig, ein Stubenmädchen nicht über zwanzig Thaler Gehalt, und daß die Eltern der Kinderfrau, um sie für ihre langjährigen Dienste zu belohnen, und sich die treue und verläßliche Person für die Kinder zu sichern, dreißig Thaler zahlten, das wurde von der Familie als eine in unsern Verhältnissen fast unerhörte Ausgabe betrachtet. War das Jahr gut, so zahlte man für den Scheffel Kartoffeln zehn Silbergroschen, hatten wir Theurung, so konnte er bis zu vierzehn steigen. Kaufte man ein fettes halbes Kalb, so galt das Pfund im Durchschnitt ein zwei drittel, bis zwei ein halb Groschen, der Werth der übrigen Fleischarten war entsprechend. Ein Huhn bezahlte man mit fünf bis sieben ein halb Groschen, junge Hühner im Sommer, wenn man sie noch eine Weile füttern wollte, mit zwei ein halb, Gänse mit vierzehn Groschen. Zum Preise von zwei ein halb Groschen konnte man durch die Sommerzeit auch eine Mandel Eier haben, ein Pfund Butter galt fünf Groschen und die Fische und das Obst waren sehr billig. – So allein war es aber auch möglich, daß ein Hausstand wie der unsere durch das ganze Jahr mit siebenzig Thalern monatlich, welche mein Vater dafür ausgesetzt hatte, seinen völligen Bedarf an Lebensmitteln und Beleuchtung, den Zucker abgerechnet, bestreiten konnte, während doch ab und zu Gäste in das Haus kamen, und noch eine Menge kleiner Ausgaben und Reparaturen von der ausgesetzten Summe gedeckt werden mußten.

Eine ordentliche Königsberger Familie legte sich also im Herbste ihre zehn, zwanzig Scheffel Kartoffeln in den [236] Keller. Einige Scheffel Obst wurden im Sommer geschält und aufgereiht und bei dem Bäcker getrocknet, Pflaumen- und Kirschmus im Hause gekocht. Von allen Gemüsearten wurde der nöthige Vorrath im Herbste für das ganze Jahr angeschafft, und in Beeten von grobem Sand, je nach ihrer Art, in den Kellern untergebracht, was man Einkellern nannte. In gleicher Weise wurden ganze Fässer voll Sauerkohl und Gurken, Töpfe voll rother Rüben und marinirter Häringe eingemacht, der feineren Früchte und der für Krankheitsfälle nöthigen Gelees und Fruchtsäfte nicht erst zu gedenken. Selbst Kamillen, Hollunder und Kalmus wurden für vorkommende Fälle im Sommer von den Kräuterleserinnen gekauft und als Vorrath für den Winter aufbewahrt.

Aber das genügte noch nicht. Allwöchentlich wurde das Roggenbrod zu Hause angeteigt, mußte zu Hause säuern und besonders bei dem Bäcker gebacken werden. Gab es einen Geburtstag oder ein Fest, so wurde der Kuchen im Hause gebacken. Die Milch kaufte man, wie sie von der Kuh kam, um selbst die Sahne abzuschöpfen, das Bier ließ man in Fässern kommen und füllte es selbst auf Flaschen. Wurst wurde, wenn man es haben konnte, wenigstens einmal im Jahre im Hause gemacht, Schinken und alle Pöckel- und Rauchfleischwaaren galten für besser, wenn sie nicht vom Schlächter besorgt waren. Um sich vortheilhafter einzurichten, kaufte man je nach der Jahreszeit halbe Hämmel, halbe Kälber und halbe Schweine. Daß bei solchen Ansichten alles Federvieh im Hause gemästct, im Hause gerupft wurde, daß man die Federn sammelte und sie schleißen ließ, und daß also [237] natürlich auch Alles was irgend möglich war, im Hause gestrickt, genäht und geschneidert wurde, braucht nicht erst erwähnt zu werden. Die Grille der Selbstfabrikation ging so weit, daß man die Töchter nicht nur im Schneidern und Putzmachen unterrichten ließ, was insofern sehr vernünftig war, als es uns geschickt und unabhängig machte, sondern man ließ eine Zeit hindurch auch Schuhmacher in die Familien kommen, um das Schuhmachen zu lernen, um die Damen- und Kinderschuhe im Hause verfertigen zu können.

Wahr ist's, solch ein Haushalten im Großen und Ganzen hatte seine Reize. Es lag ein Vergnügen in dem weiten Voraussorgen, wenn man die Mittel hatte, ihm zu entsprechen. Die gefüllten Speisekammern und Keller mit ihren Steintöpfen, Fässern, Kasten und Schiebladen waren hübsch anzusehen. Das Backobst auf den Schnüren, der Majoran und die Zwiebeln verliehen, im Verein mit den Gewürzen, der Speisekammer einen prächtigen Duft, das aussprossende Gemüse in den Kellern roch vortrefflich. Man hatte ein Gefühl des Behagens, wenn nun Alles beisammen war. Nun konnte der Winter in Gottes Namen kommen! Der Besuch eines unerwarteten Gastes genirte auch nicht im Geringsten. Wie überall, wo man aus dem Vollen wirthschaftet, war man eher geneigt, einmal Etwas daraufgehen zu lassen; und für die Kinder gab es bei all dem Backen und Obsttrocknen, Einkellern, Einkochen und Wurstmachen vielerlei Vergnügen, auf das man sich im Voraus freute. Die Männer bezahlten in vielen Fällen diese Art der Wirthschaft nur mit mehr Geld als nöthig, die Frauen mit [238] einem Aufwande von Kraft, der oft weit über ihr Vermögen ging, und zu irgend einem nicht auf den Haushalt und die Familie bezüglichen Gedanken blieb Denjenigen, die wie wir bei Allem selbst Hand anlegen mußten, wenn ihr Sinn nicht entschieden auf Höheres gerichtet war, kaum noch Zeit übrig. –

Daß nach diesen Angaben eine Königsberger Familie viel Raum haben mußte, daß Keller, Boden, Kammern und ein Hof unerläßlich, daß mehr Dienstboten dafür nöthig waren, versteht sich von selbst. Rechnet man nun noch die fanatische Reinlichkeit meiner Landsmänninnen dazu, für die es damals ein Dogma war, alle Zimmer wöchentlich einmal scheuern zu lassen, eine Gunst, welche den Fluren und Treppen zweimal in der Woche widerfuhr; rechnet man dazu, daß die Spiegel und sogar die Fenster, so lange die Kälte dies bei den Letztern nicht unmöglich machte, wöchentlich geputzt, die Stuben jeden Morgen feucht aufgewischt, und nach dem Mittagessen, wo es thunlich war, noch einmal gekehrt und abgestäubt wurden, so entstanden mit dem nothwendigen Reinhalten der Küche, der Kammern und des vielen für alle diese Vorräthe nöthigen Geschirres, eine nicht endende Arbeit und Unruhe, und eine Atmosphäre feuchter Reinlichkeit, in welcher Orchideen und Wasservögel, je nach der Jahreszeit, eigentlich besser an ihrem Platze gewesen wären, als wir armen Menschenkinder.

Rastlos wie die Frauen es auf diese Weise wurden, waren es die weiblichen Dienstboten noch viel mehr, und alle Theile klagten gelegentlich darüber. Indeß wer es den damaligen Hausfrauen – ich spreche von einer Zeit, [239] die über ein Menschenalter hinter uns liegt – zugemuthet hätte, irgend einer ihrer wirthschaftlichen Gewohnheiten zu entsagen, wer ihnen zugemuthet hätte, ihr Brod vom Bäcker, ihr Backobst vom Kaufmann, ihren Bedarf an eingesalzenem Fleische von einem Schlächter zu beziehen, den hätten sie als einen Ketzer angesehen, als einen Frevler, der ihre hausfraulichen Pflichten beschränken wolle, um ihrer Würde und Bedeutung damit Abbruch zu thun, und so das Glück der Ehen und der Familien allmählig zu untergraben.

Sie gaben zu bedenken – und dies mit einem Schein von Recht – daß außer dem Hause Alles schlechter und theurer sei als in dem Hause, aber sie brachten dabei die Kosten der großen Wohnung, des Dienstpersonals, der Feuerung, und den Werth der Zeit nicht im Detail in Anschlag, die im Hause auf die fraglichen Gegenstände gewendet worden waren. Sie vergaßen ferner, daß ihre Vorurtheile es den Verkäufern unmöglich machten, sich auf einen Verkauf im Großen einzurichten, und daß keine Konkurrenz den Preis der Waare ermäßigen kann, wo man entschlossen ist, keine Nachfrage nach Waare zu machen. Erleben wir doch jetzt nach dreißig weitern Jahren ganz dasselbe, wenn man es der Mehrzahl der Frauen begreiflich machen will, daß es für den Unbemittelten nicht zweckmäßig sei, an ein spärliches Mittagbrod ein eigenes Feuer und die Arbeit eines besonders dafür bezahlten Mädchens zu wenden, und – war ich doch selbst, so lange ich in meinem Vaterhause haushielt, von dem Glauben an die nicht zu übertreffende Zweckmäßigkeit unserer Königsberger Einrichtungen überzeugt. [240] Es giebt aber freilich auf der Welt nichts Beschränkteres, und also auch nichts Eigensinnigeres als die Frauen, wenn sie, statt sich ihrer Vernunft zu bedienen, sich hinter die Schranken der geheiligten Gewohnheit zurückziehen. Sie machen dann die Gewohnheit zur Sache der Empfindung und des Herzens, ihre Vorurtheile zum Symbol des Familienglückes, ja zum Palladium der ganzen socialen Lebensordnung; und so lieb mir auch heute das hausfrauliche Walten und Sorgen im eigenen Hause und am eigenen Heerde ist, weil unsere Vermögenslage mir gestattet, einen Theil meiner Zeit dafür zu verwenden, so bin ich doch froh darüber, daß der häusliche Heerd mir nicht mehr ein wesentlicher Bestandtheil des Familienglückes, und der Kochlöffel in der Hand der Hausfrau nicht mehr als das Symbol ihrer Würde, oder gar als das Scepter erscheint, mit welchem bewaffnet das Weib allein seine Stelle als Gattin, Mutter und Hausfrau behaupten und seine Pflichten erfüllen kann. Es ist aber keine Frage, daß die Frauen ihren Pflichten auch genügen können werden, wenn wir einmal zu guten und allein vernunftgemäßen allgemeinen Kochanstalten kommen sollten, wie wir ja zu den Bäckern, Brauern, Conditoren u.s.w. schon gelangt sind.

Ich habe mein Leben hindurch eine Lust darin gefunden, Schwierigkeiten zu bekämpfen, denen ich mich gewachsen glaubte. Ehrgeiz und Thätigkeitstrieb kamen mir dann zu Hilfe, und ich fühlte mich dabei munter und zuversichtlich. Zu dieser Stimmung, welche sich bei mir einstellte, nachdem meine jüngste Schwester geboren, und die Noth und Gefahr für meine arme Mutter überstanden [241] war, gesellte sich damals die Freude, für die Mutter zu sorgen, dem Vater, den Geschwistern und den Hausgenossen es an keinem Nothwendigen fehlen zu lassen, und die Genugthuung, es den Eltern beweisen zu können, daß ich nicht unpraktisch und nicht unnütz sei.

Ich war mit Bangen und mit Zagen an mein Amt gegangen, nach den ersten acht Tagen aber fühlte ich mich bei der Arbeit frischer und glücklicher als je zuvor, obschon sie mir sowohl körperlich als geistig schwer fiel. Mein Vater hat mich in spätern Tagen gern damit geneckt, daß er mich eines Tages in stillen Thränen vor dem großen Wäschschrank gefunden, weil ich, auf einem Stuhle stehend, mit dem Heben der schweren Tischgedecke nicht fertig werden konnte, und doch Niemand rufen wollte, um meine Schwäche und mein Ungeschick nicht den mir untergebenen Dienstboten zu verrathen. Ich war vierzehn Jahre alt.

Aber die Kraft übte sich allmählig, ich war dazu plötzlich meinen trocknen Stundenplan los geworden, meine Mutter war mit mir zufrieden, mein Vater hatte sichtliche Freude an meinem Gelingen, und meine kleinen Schwestern, die mir bis dahin, trotz aller meiner Liebe für sie, doch oft recht unbequem gewesen, wuchsen mir anders als vorher in's Herz, seit sie die Gegenstände meiner Sorge und Mühe waren.

Dazu war es Frühjahr, das Wasser floß funkelnd unter unsern Fenstern hin, und warf seine Reflexe an die Decke unserer Zimmer, Schiffe kamen und gingen, die ersten gelben Glockenblumen und Himmelschlüsselchen konnten meiner Mutter in ihre Wochenstube getragen werden, mit dem ersten kleingeschnittenen Kalmus, mit [242] den ersten frischen Tannensprossen konnten wir ihr, die diesen Duft liebte, Guirlanden um die Schränke und Tische legen, das Kind in der Wiege trug das Häubchen und das Jäckchen, das ich vor seiner Geburt für dasselbe gemacht, und wie oft ich an jenes Frühjahr denke, immer erscheint es mir als ein besonders angenehmes. Das hat aber seinen guten Grund: ich genoß in demselben zum ersten Male die Freuden einer werkthätigen Liebe, zum ersten Male die Kräftigung, welche selbstständiges Handeln uns mit seiner Verantwortlichkeit auferlegt.

Dadurch fühlte ich mich aber auch als ein erwachsenes Frauenzimmer, und als nähmen mit diesem Bewußtsein meine körperlichen Kräfte ebenmäßig zu, so fing ich an schnell zu wachsen, wurde stärker, bekam Farbe, und sah, wie man das bei uns mit dem Volksausdruck bezeichnet, bald so vollständig aus, daß es nicht mehr möglich war, mir die Rolle eines halberwachsenen Mädchens aufzudringen, die mir, wie alle Halbheit, immer unbequem gewesen war.

Auch der Sommer, welcher diesem Frühjahr folgte, ist mir in der Erinnerung lieb geblieben. Die mir zusagende Thätigkeit im Hause hörte zwar mit der Genesung meiner Mutter fast gänzlich auf, obschon mein Vater sie mir zu belassen wünschte, und obschon dies für die Mutter, die ihre Kräfte sehr zu schonen, und für mich, welche die ihren zu entwickeln und zu verarbeiten nöthig hatte, gleich vortheilhaft gewesen wäre. Indeß die Mutter, welche in der Bewältigung des Haushaltes ihre eigentliche Stärke und ihr eigentliches Element besaß, konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie, wenn sie mich die Wirthschaft weiter selbstständig fortführen ließ, ihre Ueberlegenheit [243] über mich auch in diesem Punkte allmählig verlieren könnte. Sobald sie es daher im Stande war, nahm sie mir das Regiment wieder ab, und da sie obenein die Gewohnheit hatte, Alles, was Andere in ihrem Auftrage gemacht hatten, der Sicherheit wegen noch einmal nachzusehen, so verdarb sie mir die Lust, irgend Etwas zu thun, weil ich mich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß sie es auf diese Weise eben so gut hätte selbst machen können. Dies ängstliche Mißtrauen in die Leistungen Anderer ist aber sowohl bei Männern als bei Frauen ein sehr gewöhnlicher Fehler, dem natürlich der Glaube an die unerreichbare Vortrefflichkeit der eigenen Leistungen zum Grunde liegt. Alle jene Klagen über die Unanstelligkeit und Unzuverlässigkeit von Untergebenen, denen man in so vielen Verhältnissen begegnet, sind in der Regel darauf zurückzuführen. Bestimmt zu befehlen, sich auf die Ausrichtung der Untergeordneten zu verlassen, und diese verantwortlich zu machen für das Versäumte und Fehlende, scheint etwas so Natürliches für Jeden zu sein, der einer Gesammtheit vorzustehen hat, und doch verstehen dies so Wenige, weil eben in den meisten Fällen – die Eifersucht sie verhindert, sich für ersetzbar anzusehen.

Hätte ich mit vierzehn Jahren die Einsicht und die Duldsamkeit gehabt, welche ich zwanzig Jahre später besaß, so würde ich überall bereitwillig geholfen haben, wo meine Hilfe irgend etwas nützen konnte, ohne eine Anerkennung dafür zu begehren. Aber ich hielt damals meine kleinen Hilfsleistungen, die auch wirklich nur Handlangerdienste waren, für einen Zeitverderb. Ich wollte, wie schon gesagt, Nichts thun »wobei Nichts herauskam«, und weil [244] ich es doch thun mußte, that ich es unlustig, so daß meiner Mutter immerwährende Klage, ich sei verdrießlich, sobald ich Etwas leisten solle, vollkommen begründet war – wenn schon ich mich heute wie damals lange nicht so schuldig daran fühlte, als ich ihr erschien. Was aber die Sache noch verschlimmerte, war, daß mein Vater jetzt, wie früher, der Mutter in ihrem Tadel gegen mich Recht gab, während ich deutlich empfand, daß er mit seiner Ueberzeugung durchaus auf meiner Seite stand.

Dadurch bildete sich schon in jener Zeit eine Art von schweigendem Einverständniß zwischen mir und meinem Vater, und grade dieses verletzte und verstimmte meine Mutter, die das bald herausfühlte, nur noch mehr. Sie wußte, wie sehr mein Vater sie liebte, sie liebte auch mich sehr, aber die Ahnung, daß mein Vater eine Seite in seinem Wesen habe, der sie nicht entspräche, die wachsende Vermuthung, daß ich diese Lücke einst ausfüllen könne und werde, machten sie unglücklich, und gaben ihrem Verhalten gegen mich oft eine Gereiztheit, die ich ungerecht fand, und die mir durch meine ganze Jugend, ja durch mein ganzes Leben das Verhältniß zu meiner Mutter vollends getrübt hat, zu der alle meine fünf jüngern Schwestern und meine Brüder eine rechte Kindesliebe besaßen und besitzen konnten.

Wenn ich mich amüsirte, wenn ich an Vergnügungen, an Putz, an Menschenverkehr Freude zeigte, war die Mutter immer mit mir zufrieden. Sie fand mich dann mädchenhaft und natürlich; und ich hätte ihr und mir manche trübe Stunde sparen können, wäre ich klug oder unwahr genug gewesen, die ernstere Seite meiner Natur, [245] welche sie als »männlich und schroff« bezeichnete, vor ihr mehr zu verbergen.

Im Ganzen aber hatte ich, seitdem ich einmal den Haushalt geführt, doch mehr Freiheit für die Wahl meiner Beschäftigung gewonnen, wenn ich meine Näh- und Strickarbeit für das Haus und meine Musikübungen erst abgethan hatte. Ich brauchte nicht mehr in bestimmten Stunden »die alten Schulbücher« durchzustudiren, ich konnte von historischen und ähnlichen Werken in meinen Mußestunden lesen, was ich mir verschaffen konnte, und ich hatte eben so freie Wahl unter den Romanen von Scott, die mein Vater gleichzeitig mit mir, und mit eben solcher Spannung las, als ich.

Nun wir wieder im Kneiphof wohnten, und ich auch eher allein ausging, kam ich öfter zu meiner jüngsten Tante, der Schwester meines Vaters, hin, die gegen ihre Neigung mit einem vermögenden aber ungebildeten Kaufmann verheirathet und sehr unglücklich in ihrer Ehe war. Sie hatte eben so viel Verstand als Bravheit und Herz, und viel Empfindung für Poesie; und da sie daneben eine hübsche Bibliothek besaß, aus der ich, wenn ich sie besuchte, selbst wählen konnte, was ich ihr vorlesen wollte, so ging ich gern zu ihr, und ihr Andenken knüpft sich für mich an manchen poetischen Eindruck aus jener Zeit.

Mein Vater hatte unter den Goethe'schen Dramen eine besondere Vorliebe für die natürliche Tochter. Es war daher auch eines der ersten, welche ich gelesen, und zwar ihm selbst zum großen Theile vorgelesen hatte. Er hatte mich die hohe und einfache Schönheit der Sprache bewundern lassen, die ich selbst empfand, aber er hatte [246] meine Aufmerksamkeit auch bei dem Stoffe und bei dem Ausgang der Dichtung festgehalten, und mir den Charakter Eugenien's als einen solchen gerühmt, der sich zu entscheiden und zu bescheiden wisse, was für Frauen doppelt unerläßliche Eigenschaften, und recht eigentlich Tugenden wären.

Mich ließ das Drama gänzlich kalt. Die langen Gespräche, bei denen nach meiner Meinung Alles nur darauf hinaus lief, daß ein unglückliches Mädchen sich ohne seine Neigung verheirathete, zogen mich nicht an, und da die Jugend und das reife Alter sehr verschiedene Ideale haben, und die Jugend sich glücklicher Weise noch nicht auf sittliches Transigiren versteht, so flößte mir meines Vaters Ideal von Weiblichkeit, so flößte mir Eugenie mit ihrer Resignation eigentlich nur Widerwillen ein. Ich hätte es viel natürlicher gefunden, daß sie ihr Vaterland verließ, als daß sie sich ohne Liebe verheirathete, und zwar auf die ungewisse Möglichkeit hin, einmal im Vaterlande den Verwandten nützen zu können, welche sie verstoßen hatten.

Als ich das gegen den Vater aussprach, tadelte er mich, indem er mir sagte, er bedaure es, daß er mich das Drama habe lesen lassen, ich verstände es offenbar noch nicht. Aber die Einsicht in den hohen Werth desselben werde mir mit den Jahren kommen, und er könne sich deßhalb vorläufig die Erklärung sparen. Er hatte offenbar damit die Absicht gehabt, meine Wißbegier anzuregen, und mich zu wiederholtem Lesen der Dichtung zu veranlassen. Indeß sie mißfiel mir so gründlich, daß seine Absicht fehl schlug. Und der heimliche Gedanke, meines [247] Vaters Vorliebe für Eugenie rühre hauptsächlich von seiner Ansicht her, daß jede Frau sich verheirathen müsse, und daß eine Frau, je gebildeter sie sei, sich auch um so würdiger in eine ihr nicht angemessene, ja unerwünschte Ehe schicken könne, machte mir die Resignation der natürlichen Tochter noch viel widerwärtiger.

Eines Tages, als ich bei meiner Tante war, brachte ich das Gespräch auf Eugenie, und darauf, daß der Vater sie und ihren Entschluß so erhaben fände. Die Tante hörte mir mit ihrem freundlichen und traurigen Gesichte zu, und sagte dann ganz kurz: laß Dir doch nichts einreden! Das sagen sie so, weil es ihnen bequem ist!

Das hatte ich eigentlich zu hören erwartet, aber die Tante brach plötzlich ab, als ihr Mann hereintrat, der, in Erscheinung, Sprache und Manier gleich unangenehm, irgend Etwas von ihr begehrte. Als er fortgegangen war, sagte sie: Es ist Unsinn zu behaupten, daß eine Frau sich an Etwas gewöhnen könne, was ihr abstoßend ist. Habe ich mich denn an mein Loos gewöhnt? Ich wußte, das ich mein Todesurtheil unterzeichnete, als ich mich verheirathete, und ich habe es ihnen gesagt. Aber sie haben mir Alle zugeredet, Alle – nun bedauern Sie mich Alle!

Sie hatte das mit einer ihr ganz fremden Bitterkeit gesprochen, und die Anklage, welche sie mit ihren Worten gegen ihre von ihr sehr geliebten Brüder, gegen den verstorbenen Onkel und gegen meinen Vater aussprach, von denen sie, wie ich wußte, mit dringenden Ueberredungen zu ihrer Heirath genöthigt worden war, fiel mir schwer auf das Herz. Mehr noch erschreckte mich der [248] plötzliche deutliche Blick auf das Unglück meiner Tante, das übrigens kein Geheimniß war, so geduldig sie es auch trug; und der Gedanke, daß man mir einst Aehnliches zumuthen könne, bestürzte mich vollends.

An jenem Tage aber, in meinem fünfzehnten Jahre, faßte ich den festen Entschluß, mich nie zu einer Heirath überreden zu lassen, und mich nie anders als aus voller Ueberzeugung und Liebe zu verheirathen. An jenem Tage entwickelte sich mir zum ersten Male ganz vollständig die Vorstellung, daß das Kind auch seinen Eltern gegenüber Rechte habe, es entwickelte sich in mir der Begriff meiner angebornen Selbstständigkeit auch meinem Vater gegenüber, den ich vorher nie zu denken gewagt haben würde, und meine Ideen richteten sich damit, wie mit einem Zauberschlage, über die Schranke des Hauses und der Familie, weit hinaus in eine eigene Zukunft und in eine weite Welt.

Auch die Ueberzeugung, welche das Motiv zu manchen meiner Dichtungen geliefert hat, erwuchs in jener Stunde; wie denn überhaupt die Kindheit und die Jugend darum der Betrachtung so werth sind, weil in ihnen alle jene Keime verschlossen liegen, aus denen später die Ueberzeugungen und der Charakter eines Menschen sich entwickeln und zusammensetzen. Denn Welt und Menschenverkehr und Leben erzeugen in uns nicht sowohl ein Neues, als sie vielmehr nur entwickeln und festigen, was in uns beim Austritt aus der Kindheit schon erschaffen und vorhanden war.

[249]
14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel

Im Sommer dieses Jahres ließ sich in Königsberg ein Schnellläufer sehen. Meine Eltern erzählten uns, wie in früheren Jahren alle vornehmen Herrschaften vor ihren Karossen Läufer gehabt hätten, die ihnen vorangeeilt wären; und während mein Vater diesen alle Menschlichkeit verspottenden Luxus tadelte, wurde doch beschlossen, daß wir den Schnelllauf mit ansehen sollten, um einen Begriff von der dem Menschen möglichen Schnelligkeit zu bekommen.

Wir waren zu dem Zwecke auf einem Stellwagen nach einem Gasthof auf dem Below'schen Gute Kalgen gefahren, der an der Chaussee und ungefähr auf der Hälfte des Weges gelegen war, welchen der Läufer zurücklegen sollte. Draußen vor dem Gasthof war Alles voll von Menschen aller Stände, und da die Studenten sich in Königsberg damals überall sehr bemerklich machten, so waren auch an dem Tage ihrer eine Anzahl zu Pferde und zu Wagen in Kalgen anwesend.

Es währte denn auch nicht lange, bis von der Stadtseite her einige Offiziere herangesprengt kamen, welche den Läufer zu Pferde begleiteten, und zwischen ihnen wurde ein mittelgroßer, magerer junger Mann sichtbar, der in einem [250] flatternden Pagenanzug von verblichenem blaßblauem und weißem Atlas, pfeilschnell vorüberrannte, während der Wind die hohen Federn auf seinem Barett hin und her jagte. Ich hatte mit den Andern und mit Mathilde, die bei solchen Anlässen immer mit uns war, unten vor der Thüre des Gasthofes gestanden, und war, als der Ruf der Menge die Ankunft des Läufers verkündete, auf den etwa zwei Fuß hohen Sockel einer der hölzernen Säulen gestiegen, welche den Balkon vor dem oberen Stockwerk stützten. Kaum aber befand ich mich auf der geringen Erhöhung, als aus dem Kreise der dabei stehenden Studenten sich Einer umwendete, und, nach mir hinsehend, zu seinem Gefährten sagte: hat das Mädchen schöne Augen! wird die hübsch werden!

Ich rutschte von meinem Piedestal herunter, denn mir flammte das Gesicht, aber nicht vor Schaam, sondern vor unaussprechlichem Vergnügen. Der Läufer hätte noch zehnmal an mir vorüberjagen können, sie hätten – mein Vater und ein anderer Herr – noch viel lebhafter darüber sprechen können, ob es Recht sei oder nicht, solche Produktionen, wie den Schnelllauf zuzulassen, da sich doch immer Menschen fänden, die mit ähnlichen Dingen ihr Brod verdienen wollten, es war mir in dem Augenblicke äußerst gleichgültig! Die Gewißheit, daß Jemand mich hübsch fand, die Möglichkeit, daß ich noch hübscher werden könnte, machten mich gar zu glücklich. Als Kind hatte man mich in der Schule wegen meiner Blässe und Magerkeit geneckt, und neben Mathilde war ich selbst mir immer so unschön erschienen, daß ich mich allmählich, wenn auch mit schwerem Herzen, dazu beschieden, [251] durch geistige Eigenschaften gefallen zu müssen, während ich in diesem Zeitpunkte gar kein lebhafteres Verlangen kannte, als groß, schlank und schön zu sein, wie ich mir die Heldinnen aller Dichtungen vorstellte, wie ich es je zu werden auch nicht die geringste Aussicht hatte.

Der junge Student, welcher mir damals diese Freudenbotschaft verkündete, und der jetzt, ein anerkannt tüchtiger Mann, im fernen Masuren auf seinem Gute lebt, hat sicherlich nie eine Ahnung davon gehabt, welche Wohlthat er mir an jenem Nachmittage mit seinem Ausrufe erwies. Er war mir ein Befreier von der Pedanterie, welche sich aus meinen, auf das Ernste gerichteten Anlagen in mir zu entwickeln drohte. Eine Bibliothek von Büchern hätte ich an dem Nachmittage hingegeben für einen Strohhut, der mich gut gekleidet hätte, und all mein bischen Wissen für das Vergnügen, es noch einmal aussprechen zu hören, daß ich hübsch werden könne.

Die Stimmung blieb nun auch die vorherrschende in mir, und machte mich sehr heiter. Zum Lernen hatte ich keinen so ausschließlichen Trieb mehr, ich wollte nur gefallen, und statt des wissenschaftlichen Ehrgeizes, den ich als Kind gehegt, statt der Sehnsucht nach einem Doktortitel und einem Lehrstuhl in Bologna, hatte ich jetzt nur den einen Wunsch, bald möglichst in die Welt zu kommen, das hieß auf einen Ball zu gehen, oder eigentlich, recht bald Befriedigung für diese neu erwachte Eitelkeit zu finden. An einen Ball aber war für mich noch nicht zu denken, denn mein Vater hatte es festgesetzt, daß ich in diesem Jahre noch keinen Ball besuchen sollte, und das um so weniger, als sich mir allmählich ein Umgangskreis [252] eröffnet hatte, der mir Vergnügungen mancher Art bereitete, und mir genugsam Gelegenheit bot, mit Mädchen und mit jungen Männern zusammenzukommen, deren Besuche auch in unserm Hause nicht fehlten.

Noch während ich in die Schule ging, hatte ich die Kinder der angesehensten jüdischen Familie von Königsberg, der Familie Oppenheim, kennen lernen. Das Haupt derselben, der alte Banquier Oppenheim, lebte mit seiner Gattin, einer sehr schönen Matrone, in einem ansehnlichen und für die damalige Mode prächtig eingerichteten Hause, in der Kneiphöfischen Langgasse, grade über dem Hause, welches meine Großeltern mütterlicher Seits sechsunddreißig Jahre inne gehabt hatten. Die älteste Tochter, an einen Herrn Friedländer verheirathet, wohnte mit ihren Söhnen und Töchtern in dem Hause ihrer Eltern. Zwei andre Töchter, die Eine an einen Banquier Warschauer, die Andre an einen Consul Schwarz verheirathet, und der einzige Sohn der Familie, der eine sehr schöne und liebenswürdige Frau hatte, waren Alle in Königsberg in großem Wohlstande ansässig, und bildeten einen Familienkreis und eine Geselligkeit, wie sie mir nicht häufig wieder begegnet sind.

Die Frauen waren in demselben, wie das damals in den jüdischen Familien häufig der Fall zu sein pflegte, den Männern an Bildung weit überlegen, und dabei zum Theil Meisterinnen der geselligen Form. Da das Haus weit verzweigte Handelsverbindungen hatte, kamen fortwährend Fremde in dasselbe, alle bedeutenden Künstler, welche Königsberg besuchten, wurden dorthin empfohlen, und weil die Frauen angenehm, und die Gastfreiheit der [253] Familie sehr groß war, so suchten auch manche der Beamten und Gelehrten der Stadt die Bekanntschaft derselben auf, während die christliche Kaufmannsaristokratie sich in ihrem Judenhasse damals von der Oppenheim'schen Familie ebenso fern, als von allen andern Juden hielt. Nur zu den Bällen der christlichen jungen Kaufmannschaft, und zu den andern Bällen, welche die Kaufmannsaristokratie, die Beamten und der Adel gemeinsam veranstalteten, zu den sogenannten Corporations- und zu den Combinationsbällen, ließ man die Oppenheim'sche und vielleicht noch eine oder zwei andre reiche Judenfamilien zu – ein Vorzug, den ich ihnen damals sehr beneidete, obschon er nur den Ausspruch Lessings bewahrheitete: der reichere Jude war Euch stets der Bessere!

In allen den vier Familien, welche die Kinder des alten Banquier Oppenheim gegründet hatten, gab es tüchtige junge Gelehrte als Hauslehrer, und überall auch französische Gouvernanten. Die dritte Generation war in ihrem Alter sehr verschieden. Der älteste Enkelsohn hatte schon den Feldzug von achtzehnhundertfünfzehn, als siebenzehnjähriger Jüngling mitgemacht, ein Bruder und eine sehr geistvolle und liebenswürdige Schwester standen ihm in Jahren nahe, und um diese drei jungen Personen zunächst bewegte sich eine ganze Schaar jüngern Volkes, die theils ein Paar Jahre älter als ich, theils gleichaltrig mit mir oder auch jünger waren. Mittwoch und Sonnabend Abends, und Sonntag den ganzen Tag über, waren alle Stämme der Familie, bis auf die jüngsten Kinder hinab, im Vaterhause versammelt. Die Hauslehrer und Gouvernanten, die Privatlehrer, die Freunde der[254] verschiedenen Söhne, Töchter und Enkel, und eine Anzahl Fremder fehlten dann selten, und es war an solchen Tagen wirklich originell, durch das Haus zu gehen, und nachzusehen, wie die verschiedenen Genossenschaften sich die Zeit vertrieben, wie die alte Frau Oppenheim in ihrem nach altem Schnitte gemachten seidenen Oberrock, mit ihrer Spitzenhaube und ihrem weißen Perlenschmuck, mit schwarzseidenen Schuhen und weißseidenen Strümpfen, die sie selbst als Greisin auch im kältesten Winter trug, durch die Zimmer ging, und leise, mit dem Kopfe zitternd, überall nach dem Rechten sah.

Oben in des Großvaters Stube, der Winters tief in den Filzstiefeln des Podagristen steckte, spielten einige alte Leute ihre Partie, in dem Zimmer der einen Enkelin las man gesellschaftlich, und in den großen Hinterstuben trieben wir Jüngern unser Wesen, spielten wir als Kinder mit unsern Puppen, spielten wir später sogenannte jeux d'esprit, oder tanzten wir mit unsern männlichen Altersgenossen, seit wir der Kinderspiele müde geworden waren. Ich habe sehr frohe Stunden und Tage in diesem Kreise verlebt.

Im Sommer zogen die sämmtlichen Familien nach einem großen Landsitz, nahe vor der Stadt, nach Karlsruh hinaus, dessen Gärten drei, vier Häuser und Häuschen umschlossen. Man mußte also zusammenrücken, man wohnte enge, und da die Gastfreiheit im Sommer in noch größerem Umfange geübt wurde als in der Stadt, so konnten wir Jungen uns kein fröhlicheres Leben wünschen, als es sich uns in dem Landsitze eröffnete, auf dem ich mitunter ein Paar Wochen ganz als Gast verweilte.

[255] Bei einem dieser längern Besuche sah ich zum er sten Male die Schröder-Devrient, und sie war zugleich die erste Bühnenkünstlerin, der ich außerhalb des Theaters begegnete. Ich denke, es muß achtzehnhundertsechs- oder siebenundzwanzig gewesen sein, und sie konnte somit nicht viel über zwanzig Jahre zählen. Ich hatte sie ein paar Tage vorher, unter dem Schutze meines Onkels, der damals Theaterarzt war, als Emmeline in der Schweizerfamilie gehört, und mit dem ganzen Publikum heiße Thränen vergossen, als sie mit unterdrücktem Schluchzen und mit lächelndem Munde, mit bezaubernder Miene, die Arie: »Ich bin ja so fröhlich« gesungen. Wie der Inbegriff aller kindlichen Sanftmuth, aller Güte und Unschuld war sie mir vorgekommen, und ich kannte sie kaum wieder, als ich sie in ihrer blendenden und sieggewissen Schönheit, in dem Kreise der sie bewundernden Männer und Frauen wiedersah. Strahlender in den Farben, vollendeter an Gestalt, und von einnehmenderen Zügen, als es Wilhelmine Devrient damals war, wüßte ich mir keine Frau zu denken. Ihr goldblondes Haar leuchtete förmlich um ihre Stirne, ihre Arme und ihr Hals glänzten aus dem ausgeschnittenen Kleide von weiß und rosa gestreiftem Tafft hervor, und wir jüngern Mädchen standen in der Ferne und sahen ihr wie geblendet, und doch erschrocken zu. Sie gefiel uns gar nicht, weil sie nicht Emmeline war, als welche auch die andern Mädchen sie gesehen hatten, und wir nahmen es ihr übel, daß sie jetzt nicht weinte, daß sie uns jetzt nicht rührte. Wir besaßen noch den vollen Egoismus der Jugend, die es verlangt, daß die Menschen dasjenige sein sollen, was sie [256] an ihnen liebt, was sie an ihnen bewundert. Von Wehmuth und Rührung war aber an der lebensvollen Frau jetzt keine Spur zu finden. Sie erzählte ganze Reihen komischer Geschichten, sie sang zum Clavier Liederchen im Wiener Dialekt, und als irgend Jemand ihr ein Compliment machte über das reizende Grübchen in ihrem Kinn, sagte sie: als Gott mich fertig gemacht hatte, gefiel ich ihm nicht. Da hat er mir mit dem Finger einen Stoß gegen das Kinn gegeben, hat mich auf die Seite geschoben, und gesagt: nun mach' Mädel, daß Du weg kommst, und sieh zu, wie Du Dich durch die Welt schlägst! davon kommt das Grübchen! Es ist ein schlechtes Merkmal, sonst Nichts. Sie lachte dazu, die Gesellschaft fand die kleine Erfindung reizend, aber wir blieben in der Opposition, und als sie dann vollends nach all dem Scherz und Lachen, ganz so unschuldig und rührend wie an den verwichenen Abenden die Emmelinen-Arie sang, da erlitten wir eine Art von Schmerz, denn es wurde uns eine Illusion zerstört; Emmeline hörte auf, uns ein wirklich existirendes Wesen zu sein, und die Künstlerin um der Kunst willen zu bewundern, waren wir noch nicht reif genug. Vielleicht aber sind die Triumphe mit die reinsten, welche die Künstler der Jugend gegenüber erringen, die in ihnen noch wirklich ihre Ideale sieht und liebt, und es ganz vergißt, daß der Künstler auch außerhalb seiner Rolle noch ein Dasein hat.

In dem Oppenheim'schen Hause war es auch, daß ich die Familie des Konsistorialrath Kähler kennen lernte. Er war Professor an der Universität, erster Prediger an der Löbenicht'schen Kirche, Konsistorialrath, und so aufgeklärt [257] und freisinnig, als es für einen Geistlichen irgend möglich, der mit Ueberzeugung sein Amt als Lehrer und Prediger des protestantischen Christenthums verwalten sollte. Ohne Vorurtheile irgend einer Art, von der höchsten allgemeinen Bildung, hatte er, ehe er nach Königsberg kam, sich viele Jahre in einem kleinen Pfarramte mit einer großen Familie durchbringen müssen, und da er ein Mann voll Phantasie und des Wortes durchaus Meister war, hatte er sich in jenen Zeiten als Dichter versucht, und mehrere Romane anonym erscheinen lassen. Zwei derselben: Herrmann von Lobeneck, und Bruder Martin der Mörder, wurden, da man den Verfasser jetzt in Königsberg kannte, viel gelesen; und der bloße Gedanke, daß Konsistorialrath Kähler ein Dichter sei, hätte mir seine ganze Familie anziehend gemacht, wäre sie es nicht schon durch sich selbst gewesen. Denn ich liebte die Dichter und hatte doch nie einen solchen gesehen, mit Ausnahme des unglücklichen, spukhaften Raphael Bock, der meinen Vorstellungen von einem Dichter nicht im Entferntesten entsprach.

Der Vater, die Mutter und alle Kinder des Kählerschen Hauses waren schöne Menschen. Sie hatten, so verschieden sie in ihrem Aeußern waren, alle etwas Leuchtendes in Blick und Teint; und eine ganze Reihe gut gemalter Portraits ihrer verstorbenen Großeltern und Urgroßeltern zeigte eben so schöne Gesichtsbildungen und eben so viel intelligenten Ausdruck. Ein Geist edler Bildung ging durch das ganze Haus. Man lebte reichlich, aber doch ohne allen Luxus, man sah Fremde, gab aber wenig Gesellschaften, und der kluge Sinn der trefflichen Hausfrau wußte die Ansprüche, welche ein weit verzweigter [258] Umgang und die Lebenslust der Kinder machten, auf das Beste mit den etwaigen Bedenken orthodoxer Gemeinde-Mitglieder zu vereinigen, welche von dem Leben einer Predigersfamilie Zurückgezogenheit und Stille forderten. Zwei Söhne und zwei Töchter waren außerhalb Königsberg bereits verheirathet und versorgt, drei Töchter und ein Sohn, der damals Medizin studirte, lebten noch bei den Eltern, und es kamen theils als Freunde des Sohnes, theils als Zuhörer des Vaters, viel junge Männer, wenn auch nur zu kurzen Besuchen, in das Haus.

Dazu war mir noch ein neuer Zuwachs an häuslicher Geselligkeit geworden, als eine uns verschwägerte Familie unser Vorderhaus bezog. Es waren das die Eltern des schon früher von mir erwähnten Eduard Simson, der mir von da ab ein täglicher Umgang wurde. Schon unsere Mütter und Väter waren Jugendfreunde gewesen. Eduard hatte, als seine Eltern unsere Miether wurden, eben mit fünfzehn Jahren sein Studenten-Examen gemacht, und geistvoll und strebsam, wie er es war, fand er eben so viel Freude daran, mir von seinen Collegien und Arbeiten zu sprechen, als mir die Bücher mitzutheilen, die ihn beschäftigten. Er lernte mit Leidenschaft, er lehrte eben so gern, so daß unser Umgang uns Beiden gleich erfreulich und angenehm war, und wie er meiner Lust am Aufnehmen gewiß manche eigene Aufklärung verdankt, so danke ich ihm eine Menge von Anregungen und von vereinzelten Kenntnissen und Belehrungen, die den großen Vortheil für mich hatten, mir, eben weil sie vereinzelt waren, immer neuen Stoff zum Denken zu geben. Auf diese Weise kamen, als Simson die philosophischen[259] Collegia von Herbart besuchte, die ersten philosophischen Begriffe, und in derselben Zeit, ebenfalls durch ihn, einzelne Schriften von Friedrich Jacobs an mich heran, die mir neue Vorstellungen und Bilder aus dem klassischen Alterthume zuführten.

Seit die Familie Simson das nach der Kneiphöfischen Langgasse gelegene Vorderhaus unseres Hauses bezogen hatte, während wir immer noch das Hinterhaus am Kai bewohnten, hatten wir ein Paar Stuben und Kammern des Vorderhauses zu unserer Wohnung mit hinzugenommen, und ich war dadurch aus der Kinderstube, und in den Besitz eines besondern Zimmers gekommen, das ich jedoch mit meiner Schwester theilte. Es war ein sehr finsterer, kalter, völlig sonnenloser Raum, der nur ein Fenster nach dem Hofe, dafür aber drei Thüren hatte, die alle in kalte Kammern führten. Ueber mir – die Stube lag in dem langen, schmalen Zwischengebäude, das eine Straße lang, das Vorderhaus mit dem Hinterhause verband – hatte ich ein flaches Dach, auf dem ein großer Balkon, ein sogenannter Schauer war; unter meiner Stube befand sich einer von meines Vaters Wein-Lagerräumen, dessen Geruch immer in meine Stube drang. Aber der Besitz dieses Zimmers machte mich doch sehr glücklich, und ich trug in dasselbe zusammen, was ich nur an kleinen Zierrathen habhaft werden konnte. Das war freilich nicht viel, und meine eigenen, sehr mittelmäßigen eingerahmten Kreidezeichnungen und meine noch schlechter gemalten Fruchtstücke, die über dem höchst unbequemen Sopha hingen, bildeten die Hauptverschönerung.

War es nun das eigene melancholische Zimmer, das [260] mir solch ein Gefühl von Wichtigkeit gab, oder war es die Lektüre von Rosaliens Nachlaß von Friedrich Jacobs, die mich dazu begeisterte, genug, ich kam ganz plötzlich auf den Gedanken ein Tagebuch zu führen.

Bis dahin hatte ich mich begnügt, mir einzelne Stellen aus den Büchern, welche ich las, auszuschreiben, aber nun befriedigte mich das nicht mehr. Die jungen Mädchen und Männer in dem Jacobs'schen Romane, den ich mit Mathilde zusammen gelesen, hatten mir gar zu gut gefallen. Das sanfte Gemisch von edeln Empfindungen und blaßblauen Schleifen, von Bällen und Religiosität, von Liebe, Schwindsucht und frommer Todesempfindung, war sehr nach meinem Geschmack gewesen, und da man mich in dieser Zeit, Dank einer eben grassirenden Thorheit, systematisch krank gemacht hatte, und ich also wirklich mancherlei Leiden und Beschwerden zu erdulden hatte, so wurde es mir noch leichter, mich in die Stimmung Rosaliens hineinzuphantasiren.

Das hing aber sonderbar genug mit dem Aufsehen zusammen, welches in jenen Tagen die Fortschritte auf dem Gebiete der Orthopädie zu machen angefangen hatten. Bis dahin waren wir Alle, eben so wie unsere Mütter und Großmütter, aufgewachsen, ohne daß man besonders daran gedacht hätte, unser eigentliches körperliches Wachsthum zu überwachen. Wer nicht verwachsen war, galt ohne Weiteres für grade, und ich wüßte auch nicht, daß aus der großen Zahl meiner Alters- und Schulgenossen irgendwie gebrechliche oder verwachsene Frauen hervorgegangen wären. Wir saßen Alle freilich in der Regel mehr als nöthig war, man ließ uns auch ganz unnütze [261] feine Handarbeiten, namentlich viel Stickarbeiten in sogenannten Petit-Points am Rahmen ausführen, und wir selbst hatten den Ehrgeiz, für diese Arbeiten den feinsten weißen Cannevas auszusuchen, wodurch sie die Augen noch mehr anstrengten, und für die Haltung am Stickrahmen noch bedenklicher wurden. Indeß Alles in Allem genommen befanden wir uns, da der Körper sich in der Jugend viel bieten läßt, vortrefflich, als mit einem Male, durch die Zeitungen, oder Gott weiß durch welche Mittheilungen angeregt, sich über unsere Mütter die epidemische Angst vor dem Verwachsen ihrer Kinder zu verbreiten begann.

Daß wir grade gingen und uns nichts Uebles anzusehen war, beruhigte unsere Mütter ganz und gar nicht, und half uns nichts. In allen Familien wurden Haussuchungen nach beginnenden Verkrümmungen gehalten, es war ein wahres Mißgeschick über uns hereingebrochen, und ehe wir es uns versahen, bestanden wir aus lauter Gebrechlichen, und wurden Behufs der mit uns zu beginnenden Kuren dezimirt. Drei Cousinen von mir, die Töchter eines Hauses, kamen in die neuerrichtete Königsberger orthopädische Anstalt, ein Paar Mädchen aus der Oppenheim'schen Familie wurden zu Blömer nach Berlin gebracht, diese und jene von meinen Freundinnen bekamen in ihren Familien fabelhafte Maschinen zu tragen, und wurden Nachts zu Hause auf Streckbetten geschnallt; kurz es schien als könnten unsere Mütter erst zur Ruhe kommen, wenn ihnen irgend ein Arzt die Gewißheit gegeben hatte, daß sie auch so unglücklich wären, angehende Krüppel unter ihren Kindern zu haben.

[262] Ich für meinen Theil hatte so gut wie alle Andern viel gesessen, hatte die Thorheit des Stickens so weit ausgedehnt, auf feinem Linon in Petit-Point zu arbeiten, aber Dank der Sorgfalt meiner Mutter, hatte ich mich immer sehr grade gehalten, und da ich eines der glücklichst organisirten Augen hatte, keine Art von Nachtheil von meinen unnützen und mühseligen Handarbeiten gehabt. Indeß diese Sorgfalt meiner Mutter machte sie auch geneigt, von der orthopädischen Epidemie mit angesteckt zu werden. Sie fing an mich auszukleiden und zu betrachten, und machte dann eines Tages die unglückliche Entdeckung, daß auch ich schief sei. Ihr Bruder, eben unser Onkel Doktor, und ein Medizinalrath Ungher, der Direktor der chirurgischen Klinik, wurden herbeigerufen, ich wurde hin- und hergedreht und gewendet, und es wurde dann endlich festgestellt, daß ich zwar einen tadellosen Knochenbau hätte, daß aber meine rechte Schulter doch stärker sei als die linke, daß ich also täglich eine Weile an einer Art von Reck hängen, täglich eine Stunde auf der harten Diele auf dem Rücken liegen, und alle vierzehn Tage vier bis sechs Blutegel an die verdächtige Schulter gesetzt bekommen solle.

Mein Vater freilich sah das Alles als eine große Thorheit an, indeß dem Urtheil gewiegter Aerzte war nicht zu widersprechen, eine Verantwortung mochte er vielleicht auch nicht übernehmen wollen, genug ich mußte am Reck hängen, wovon ich Blasen und für Jahr und Tag eine harte Haut in den Händen bekam, mußte eine schöne Stunde täglich unnütz an der Erde liegen, was mir Schmerz machte und mich tödtlich langweilte, und [263] nachdem man Jahr und Tag die noch viel unnützeren und mir höchst nachtheiligen Blutentziehungen fortgesetzt hatte, fing man an sich sehr zu wundern, daß ich fortwährend über Kopfschmerzen, über Schwindel und Herzklopfen klagte, die wahrscheinlich nur die nothwendige Folge der Blutentziehungen gewesen sind. Man war aber weit entfernt, sie dafür zu halten, sondern man verordnete mir starke Bewegung – mein Vater ließ mich täglich im Hofe eine halbe Stunde Wasser in die Anker und halben Anker pumpen, die dort zum Spülen lagen – und statt mich ordentlich zu ernähren, weil ich mager geworden war, ließ man mich während der Sommermonate eine rein vegetabilische Kost genießen, um, wie es hieß, mein Blut zu verdünnen.

Daß ich auf diese Weise es glücklich zu einem Ansatz von Bleichsucht und zu sehr feinen Empfindungen brachte, war nur natürlich. Ich war noch leichter als vorher zu rühren, verrieth einen mir bisher ganz fremden Hang zum Elegischen, und dachte viel an meinen Tod. Mathilde, die ein paar Geschwister in unserm Alter verloren hatte, half mir dabei nach besten Kräften, obschon sie wie das Leben selbst aussah, und an ihrer schönen Gestalt keine orthopädischen Strapazen zu erdulden hatte; und was ich von Schwärmerei am Tage mitten in dem Spektakel der Kinder und mitten im Haushalt nicht hatte fertig bekommen können, das vertraute ich Abends beim Schimmer eines spärlichen Talglichtes, in der eiskalten Stube, den verschwiegenen Blättern meines Tagebuches an, das ich, beiläufig bemerkt, der guten Ulrich'schen Schulordnung getreu – hübsch in blaues Deckelpapier eingenäht, und [264] mit dem festgenähten reglementsmäßigen Löschblatt versehen hatte.

Das trieb ich mit großem Selbstgenuß eine ganze Zeit so fort. Fror mich Abends bei dem Schreiben, was in dem kalten Zimmer sehr natürlich war, so »fühlte ich die Schwingen des Todes über mir wehen.« War ich schläfrig und sah ich bei dem spärlichen Lichte schlecht, so »schloß sich mein Auge vor dem trügerischen Schein der Welt.« Kurz jedes Wort, das ich schrieb, war eine leere Phrase oder eine Affektation. Während meine Putzsucht recht groß, mein Hang zum Vergnügen sehr gesund waren, während jede Galanterie, die man mir erzeigte, mir eine wirkliche Genugthuung bereitete, und während ich im Grunde sehr wohl mit mir und meinen Erfolgen zufrieden war, hatte ich, als mir der zweite Herbst in meinem eigenen Zimmer herankam, zwei saubere Quartbücher voll geschmachtet und voll gewinselt, und saß eines Abends wieder da, um »meine Gedanken zu sammeln, ehe sich mein Auge wieder über einem meiner Tage schloß.« Dabei kam ich auf den glücklichen Einfall, einmal im Zusammenhange überschauen zu wollen, was ich erlebt und empfunden hatte. Ich wollte doch wissen, wie meine hinterlassenen Bekenntnisse auf die Ueberlebenden wirken würden, und äußerst gerührt, mit Thränen in den Augen, fing ich an zu lesen, und las und las – und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

Nicht ein Wort war wahr von allem dem, was ich seit fünf Viertel Jahren zusammengeschrieben hatte. Ich hatte von Seelenleiden geredet, die ich gar nicht kannte, von einer Sehnsucht, die ich nie gehegt. Ich war ganz [265] benommen, ganz verdutzt über mich selbst. Ich war mir widerwärtig und lächerlich zugleich. Ich besann mich, was mir denn eigentlich gefehlt habe? Ich hätte mich wirklich gefreut, hätte ich auch nur gefunden, daß ich in irgend Jemand verliebt sei. Aber ich befand mich in dem erwünschtesten Gleichgewichte, und meine Rechtschaffenheit hielt es mir bitter vor, wie unwürdig es sei, sich so mit erborgtem Gefühlsplunder aufzuputzen. Mein Verstand sagte mir dazu, wie undankbar es sei, sich ohne Grund unglücklich zu nennen; und ich kann nicht anders als den Ausdruck brauchen, mit dem ich damals meinen Zustand in mir selbst bezeichnete: ich kam mir wie ein Falschmünzer und im höchsten Grade malhonnette vor. Das war ein Wort, welches mein Vater für solche Unredlichkeiten brauchte, und ich hatte, nun ich mich einmal auf mich selbst besonnen, auch nicht eher Ruhe, bis das letzte Wort dieser Lügenchronik im Ofenfeuer verkohlt war.

Damit endeten meine Selbstbespiegelungen ein für alle Mal, und ich hatte gegen allen Selbstbetrug eine solche Abneigung bekommen, daß ich nie wieder ein regelmäßiges Tagebuch geführt habe. Schrieb ich später hie und da einmal eine Notiz für mich auf, so war es, um mir die Erinnerung an etwas, das ich gelesen hatte, an eine augenblickliche Lage, oder auch, um mir eine Bemerkung über Dritte festzuhalten, und selbst diese fast sachlichen Aufzeichnungen begann ich erst wieder im Jahre achtzehnhundert vierunddreißig, als ich zum dreiundzwanzigsten Geburtstage von einem meiner Verwandten ein Tagebuch geschenkt bekam, und meiner innern Wahrhaftigkeit ziemlich sicher sein durfte.

[266] Ich habe aber aus dieser an mir selbst gemachten Erfahrung das Bedenkliche der Tagebücher für junge Personen erkennen lernen, und eigentlich, so oft mir regelmäßig geführte Tagebücher von Mädchen oder Frauen zu Gesichte kamen, immer die Bemerkung gemacht, daß sie unwahr und ein Unsegen für ihre Besitzerinnen waren. Das Leben der meisten Frauenzimmer ist einförmig, ihr Gedankenkreis in der Regel sehr beschränkt, und ihr Sinn daher auf das Kleinleben in ihrer Nähe gerichtet, das möglichst einfach und leicht genommen werden muß, wenn es erfreulich und vernünftig fortentwickelt werden soll. Hat man sich aber einmal vorgenommen, täglich Etwas aufzuschreiben, fängt man erst an, in sich hineinzublicken und auf die Andern zu achten, um etwas Besonderes zu finden, so gewöhnt man sich bald, das, was man einfach als seine Obliegenheit zu thun hat, als eine Pflichterfüllung, das, was die Andern uns Angenehmes oder Widerwärtiges bereiten, auch als äußerst bedeutende Dinge anzusehen, und es kommt dann regelmäßig darauf hinaus, daß sich sehr gewöhnliche Frauenzimmer in den allergewöhnlichsten Lagen zu unverstandenen Seelen und edlen Dulderinnen hinaufschwindeln. Ein frohes, fröhliches, gesundes Frauentagebuch ist mir nie vorgekommen; sie waren alle nichts nutz, und wie das meine zu nichts Weiterm gut, als den Ofen damit zu heizen. Mütter, die ihre Kinder zu ähnlichen Aufzeichnungen anhalten, begehen daher nach meiner Ueberzeugung einen großen Fehler, während es der Jugend und den Frauen sehr heilsam ist, sich Excerpte des Gelesenen zu machen, und so ihren geringen Gedankenvorrath mit den Gedanken [267] großer und reifer Denker zu erweitern und zu bereichern.

Für mich war es eine eigene Erfahrung, daß mir, so oft ich mich innerlich auf einem falschen Wege befand, jedesmal die Worte einfielen, welche unser früherer Lehrer Herr Motherby bei dem Abgang aus der Schule mir in das Stammbuch geschrieben hatte. Sein Zuruf: tâcher de défaire notre esprit de l'erreur et notre coeur de l'égoisme, voilà la grande tâche de notre vie, voilà le but de toute éducation; de cette éducation de nous même, qui commence quand nos instituteurs nous quittent, quand la main de ceux qui ont veillé sur notre enfance ne nous guide plus! – ist mir oft, sehr oft im Leben ernsthaft mahnend in den Sinn gekommen, und ich habe dieser Sentenz vielmal ernstes Inmichgehen und große innere Fortschritte zu danken gehabt.

[268]
15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel

Während ich so mich geistig auszubreiten und meinen bestimmten Platz in dem Kreise meiner Jugendgenossen einzunehmen begann, blieb die strenge häusliche Zucht und des Vaters eiserner Wille immer über mir schweben. Ich konnte denken und empfinden, was und so viel ich wollte, aber ich mußte thun, was mir oblag; und je freier ich mich innerlich zu entwickeln geneigt schien, um so unerbittlicher und strenger wurden die Forderungen, welche mein Vater an meinen Gehorsam und an meine Pflichterfüllung stellte.

Nicht die kleinste Lässigkeit wurde mir jemals nachgesehen, Nichts, was ich mir einmal vorgenommen hatte, durfte ich unausgeführt lassen, und ich erinnere mich dabei an ein Paar Vorfälle, welche meines Vaters Weise, mich zu behandeln, charakterisiren.

Ich hatte seit Jahren gewünscht, meiner Mutter, wie es damals Mode war, einen Pompadour in petit point zu sticken, hatte aber vom Vater weder die Erlaubniß, noch das Geld dazu erlangen können. Endlich im Sommer von sechsundzwanzig, als ich vor der Mutter Geburtstag meine Bitte erneuerte, mußte ich einen »Kostenanschlag« des Cannevas, der Stickseide, der Muster, Borten, Schnüre [269] und des silbernen Schlosses machen, der sich zusammen auf sechs, sieben Thaler belief, was damals in unsern Verhältnissen allerdings eine sehr große Ausgabe für einen Luxusgegenstand war. Weil ich aber eine förmliche Ehre darein setzte, die Mutter mit solch einer Handarbeit zu überraschen, erhielt ich das Geld und machte mich an die Arbeit, an der ich jedoch nur Morgens, ehe die Mutter aufstand, und Nachmittags von zwei bis vier Uhr nähen konnte, wenn sie schlief.

Unglücklicher Weise hatte ich jedoch, um meinen Pompadour recht schön zu machen, den Cannevas so fein gekauft, daß sich Muster, die für große Rückenkissen ausreichend gewesen wären, auf den kleinen Raum eines Pompadours zusammenzogen, und während ich in dem Gedanken schwelgte, daß die Taube, welche auf Rosen und Vergißmeinnicht lag, und der Kranz von Sommerblumen auf der andern Seite wie gemalt aussehen würden, sah ich einen Tag um den andern verstreichen und an jedem Tage die Unmöglichkeit wachsen, diese Arbeit bis zum zwanzigsten August, dem Geburtstag meiner Mutter, auch nur zur Hälfte fertig zu bekommen.

Mit einer vorgesetzten Arbeit nicht fertig zu werden war aber etwas, was mein Vater »nicht statuirte«; und obschon ich mir nicht klar machen mochte, was geschehen würde, wenn ich im Rückstand bliebe, so hatte ich doch die Ahnung eines mir drohenden Unheils, das ich um jeden Preis zu vermeiden wünschte. Ich stand, was mir immer sehr schwer wurde, in der größten Frühe auf, ich nahm meinen Stickrahmen mit, so oft ich einen Besuch außer dem Hause machen durfte, meine ganze Seele war [270] auf die Taube mit ihren Rosen gestellt, und mein Vater, der wohl sah, in welcher Noth ich mich befand, schwieg ganz still. – Endlich, etwa acht Tage vor dem Geburtstag, kam er eines Nachmittags, als ich auch wieder an meinem Rahmen saß, in meine Stube, und fragte, wann ich fertig sein würde? –

Sehr beklommenen Herzens steckte ich die Arbeit auf, bekannte, daß ich nicht einmal die erste Hälfte beendet hätte, betheuerte, daß ich Alles gethan, was in meinen Kräften gestanden habe, aber ich hätte die Arbeit unterschätzt, und es werde mir nicht möglich sein, auch nur die eine Seite bis zum Geburtstag herzustellen.

Mein Vater verzog keine Miene. Wenn diese erste Hälfte nicht zum Zwanzigsten fertig ist, sagte er, so werde ich sie zerschneiden, damit Du einen Denkzettel daran hast, daß ein vernünftiger Mensch Nichts anfängt, was er nicht durchführen kann. Danach richte Dich! –

Nun saß ich da! – Daß der Vater Wort halten würde, daß ihm an der zerstörten Arbeit, an meinem Kummer, an der unnützen Geldausgabe gar Nichts gelegen sei, wenn es galt, seinen Willen durchzusetzen und mir eine Lektion zu geben, darauf kannte ich ihn, und wollte ich dem angedrohten Schicksal entgehen, so blieb mir Nichts übrig, als die Nacht für meine Arbeit zu Hilfe zu nehmen, was ich denn auch that, obschon es wirklich eine Sünde gegen meine Augen war. – Ich hatte aber am bestimmten Tage wenigstens die erste Hälfte meiner Arbeit fertig und die Genugthuung, daß die Mutter sich freute und der Vater mir sagte, es sei ihm lieb, daß ich mich zusammengenommen hätte.

[271] Um dieselbe Zeit hatte ich mir angewöhnt, die Stubenthüre schlecht zuzumachen, oder sie, wenn ich eilig war, auch aufzulassen, und mehrfache Erinnerungen waren vergeblich dagegen gewesen. Da befand ich mich eines Abends sehr heiter in einer Gesellschaft bei einer meiner Tanten, man tanzte, und ich fühlte mich sehr als Dame, als plötzlich das Dienstmädchen mit der Meldung hereintrat, unser Hausknecht sei unten, und der Vater lasse mir sagen, gleich nach Hause zu kommen. Sehr erschrocken, und überzeugt, daß meiner Mutter, die damals schon viel kränkelte, etwas zugestoßen sein müsse, eilte ich fort. Der Hausknecht wußte mir nicht zu sagen, was geschehen sei, und in der größten Sorge kam ich die beiden Treppen hinauf und in das Wohnzimmer. Da saß mein Vater ruhig lesend auf dem Sopha, die Mutter mit dem Strickzeug neben ihm, die Geschwister mit ihren Schularbeiten an dem Tische; und ohne mir Zeit zu einer Frage zu lassen, sagte mein Vater mit völliger Gelassenheit: Du hast, als Du fortgegangen bist, wieder die Thüre aufgelassen; mache die Thüre zu! – Ich stand wie angenagelt, die Thränen kamen mir in die Augen, und ich wollte still Mantel und Hut ablegen, um zu Hause zu bleiben; aber auch das gab mein Vater nicht zu. Ich mußte mich wieder zurecht machen, der Hausknecht begleitete mich abermals, und mit einer nicht zu beschreibenden Empfindung kehrte ich in die Gesellschaft zurück, wo dann freilich nach einer Stunde die Lust an Spiel und Tanz die Oberhand über meine innere Demüthigung gewann.

Alle solche Gewaltmaßregeln entsprangen aber bei meinem Vater nicht aus Launen, sondern aus dem[272] Grundsatz, mich verläßlich, fest und selbstständig zu machen. Hatte ich gegen irgend Etwas eine Abneigung, so mußte ich grade das thun; war im Hause Etwas zu leisten, wogegen weibliche Empfindlichkeit sich sträubt, so mußte ich es übernehmen, und ich erinnere mich noch, wie schwer es mir wurde, als ich meinen jüngern Schwestern die Ohrlöcher einstechen mußte, nachdem eine alte Frau es mir an ein paar armen Kindern vorgemacht hatte. Wagte ich es einmal, irgend etwas Derartiges von mir ablehnen zu wollen, so hieß es: ich habe in Dir das Vorbild für sieben Geschwister zu erziehen. Gebe ich Dir nach, so habe ich mit jedem Einzelnen von vorn anzufangen, und da Du das Glück hast, die Aelteste zu sein, hast Du auch die Pflicht, uns Eltern in Dir die Erziehung für die Andern erleichtern zu helfen.

Hundertmal habe ich in solchen Momenten das Glück meiner Erstgeburt verwünscht. Wollte ich keine Fische essen, die mir damals wirklich widrig waren, so mußte ich sie des Beispiels wegen genießen; wehrte ich mich, einen Frosch, eine Spinne zu berühren, so bekamen die Brüder die Anweisung, sie mir in die Hand zu drücken; sah mein Vater, daß gewisse Töne, wie das Quitschen von Messen auf Porzellan, mich unangenehm berührten, so erhielten die Brüder Erlaubniß, mir solch ein Tellerkonzert vorzumachen. Und wie mit diesen äußern Dingen, verfuhr der Vater unerbittlich, sobald ich eine Gemüthsschwäche, einen Schreck, ein Zeichen von Unüberlegtheit oder von Fassungslosigkeit verrieth. Seine eigenen Schwestern tadelten ihn deshalb, und ich hörte einmal, wie die Aelteste ihm sagte, man müsse mit weiblichen Schwächen [273] Nachsicht haben, und er werde mich mit seinen Abhärtungs-Experimenten für mein ganzes Leben nervenschwach machen. – Sei so gut und überlaß das mir! antwortete er ganz kurz; und heute noch, so schwer mir damals häufig seine Strenge wurde, segne ich es, daß er kein unnützes Mitleid mit mir, daß er kein Erbarmen mit jenen Weichlichkeiten hatte, welche die Frauen in sich als weibliche Zartheiten kultiviren, und daß er nicht sowohl daran dachte, mir die Tage der Jugend leicht, als mich für das Leben zu meinem und zu anderer Menschen Nutzen brauchbar zu machen. –

Daß mein Vater übrigens streng oder ungerecht gegen mich sei, das zu denken fiel mir bei dem unbedingten Zutrauen, das ich in seine Einsicht, bei der Verehrung, die ich vor seiner ernsten Selbstbeherrschung und seiner unermüdlichen Thätigkeit hatte, gar nicht ein; und seine Güte und seine milde Gerechtigkeit waren auf der andern Seite so überwiegend und so überwältigend, daß ich die Empfindung, mit welcher ich und alle Geschwister an ihm hingen, nur mit der Bezeichnung einer anbetenden Liebe zu bezeichnen weiß.

Nie ist es ihm begegnet, einer heftigen Aufwallung gegen uns Raum zu geben oder ein schmähendes Wort gegen uns zu sprechen; nie habe ich, seit ich erwachsen war, ihn einen Tadel oder einen Vorwurf gegen mich anders als unter vier Augen aussprechen hören. Selbst die Gegenwart der Mutter suchte er dabei zu vermeiden, weil deren nervösere Natur leicht gereizt wurde und Tadel oder Vorwürfe herbeizog, die mit dem vorliegenden Falle Nichts zu schaffen hatten. Bei allen seinen Ermahnungen [274] waltete immer der ausgesprochene Grundsatz vor: »der Mensch kann nicht zurückleben! Ueber das, was geschehen ist, ist also nur insofern zu sprechen, als es in Zukunft vermieden werden soll.«

Thränen, Reue, Zerknirschung waren Dinge, die ihm im höchsten Grade zuwider waren; und wie er die Meinung hatte, daß jeder Mensch sich täglich im Spiegel betrachten müsse, um Herr und Meister über sich und seine Mienen zu bleiben, so führte er uns an den Spiegel, wenn wir weinend uns gedemüthigt zeigten. –

»Sieh, wie Du aussiehst! Verdirb Dir das Gesicht nicht! Die Sache ist abgethan, mache es künftig besser!« Das waren die Worte, mit denen er uns fast immer entließ, wenn er uns nach einem Verweise die Hand gab und uns küßte. Sein ganzes Verlangen war darauf gerichtet, uns zu besonnenen Menschen heranzubilden, denen ihre eigene Vernunft der Gesetzgeber, ihr Bewußtsein der Richter, und das Gute und Rechte üben, weil es das Gute und Rechte sei, der Beweggrund der Handlungen sein sollte. Dabei suchte er unser Selbstgefühl auf das Entschiedenste zu kräftigen. Als kleine Kinder durften wir sogar von unsern Onkeln und Tanten nicht das geringste Geschenk an baarem Gelde annehmen. Geld, hieß es, dürfe man nur von seinem Vater erhalten, sonst müsse man Nichts annehmen, was man nicht verdient habe. Du hast Dich gut benommen! Du hast vernünftig gehandelt! Das waren aber die höchsten Lobsprüche, die wir je von ihm erhalten haben.

Auf diese Weise, und das ist die Hauptsache bei aller Erziehung, waren die Erörterungen, welche sich auf [275] dieselbe bezogen, ungemein kurz und selten. Jenes keifende Tadeln, das immer die Gegenrede, die Vertheidigung hervorruft, und damit zu dem ganz verwerflichen Parlamentiren zwischen Eltern und Kindern führt, das unter dem Titel der zutrauensvollen Ueberlegung mit den zu erziehenden Kindern nur zu sehr Mode geworden ist, waren bei uns eine Unmöglichkeit. Es fiel dem Vater nicht ein, unreife Menschen als seines Gleichen anzusehen. Selbst als er uns in spätern Jahren in seinem Herzen wohl mündig sprechen mochte, hielt er uns an dem Gedanken fest, daß wir Nichts thun dürften, was wir vor ihm nicht vertreten könnten.

Neben dem ernsten Verkehr, den er mit uns Allen hatte, gab er mir sehr früh auch ernste Bücher in die Hand. Ich war im sechszehnten Jahre, als ich zum erstenmale und mit der größten Erbauung die Kant'sche Anthropologie las. Mein ganzes Leben, meine ganze Erziehung hatten mich darauf vorbereitet, mir die einfachen Begriffsbestimmungen einleuchtend und werth zu machen, und mehr noch, als mein Vater es vielleicht erwarten und wissen mochte, wirkten Kapitel, wie die vom Begehrungsvermögen, vom Charakter der Person, vom Charakter des Geschlechtes, auf mich ein. Sich frei zu machen von üblen Eigenschaften, um in ihnen den Andern keine Handhaben für ihre Herrschaft über uns zu bieten; sich zu überwachen und zu veredlen, um frei und selbstherrlich zu werden, das waren Lehren, die meinem innersten Wesen begegneten. Die bestimmte Definition der Charaktereigenschaften und der Charakterfehler brachten mich zu einem Nachdenken über mich selbst, das mir [276] förderlich war, und zu dem festen Vorsatz, nach allen Seiten Herrschaft über mich selbst zu erlangen, damit Andere sie nicht über mich gewinnen könnten.

Einzelne Auseinandersetzungen, wie die über das Wesen der Frauen, machten mich am meisten betroffen. Es hieß z.B., die Weiblichkeiten heißen Schwächen; man spaßt darüber; Thoren treiben damit ihren Spott, Vernünftige aber sehen sehr gut, daß sie grade die Hebezeuge sind, die Männlichkeit zu lenken und sie zu jener ihrer Absicht zu gebrauchen. Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verräth ihr Geheimniß nicht, obgleich Anderer ihres (wegen ihrer Redseligkeit) schlecht bei ihr verwahrt ist. Er liebt den Hausfrieden und unterwirft sich gern ihrem Regiment, um sich in seinen Geschäften nicht behindert zu sehen. Sie scheut den Hauskrieg nicht, den sie mit der Zunge führt, und zu welchem Behuf die Natur ihr Redseligkeit und affektvolle Beredtheit gab, die den Mann entwaffnet. Er fußt sich auf das Recht des Stärkern, im Hause zu befehlen, weil er es gegen äußere Feinde schützen soll; sie auf das Recht des Schwächern: vom männlichen Theile gegen Männer geschützt zu werden, und macht durch Thränen der Erbitterung den Mann wehrlos, indem sie ihm seine Ungroßmüthigkeit vorrückt.

Das gab mir eine große Abneigung gegen die sogenannte schwache Weiblichkeit. Ich wollte einmal, das nahm ich mir fest vor, bei den Männern weder durch meine Schwäche Mitleid erregen, noch über sie durch Schwächen herrschen, welche ihnen lästig fielen; und statt des Verlangens meiner Kindheit, so viel zu lernen wie die Knaben, ward nun das Streben in mir wach, in [277] meinem Kreise so tüchtig zu werden, wie die Männer in dem ihren, und nicht ihren Schutz und ihre Galanterie, sondern ihre Anerkennung und ihre Achtung zu gewinnen. Da aber in einem jungen Kopfe vernünftige Ansichten meist einige kleine unvernünftige Schößlinge erzeugen, so bekam ich einen Widerwillen gegen gewisse Arten der gewöhnlichen männlichen Höflichkeit. Ich mochte es nicht leiden, wenn man mir anbot, meinen Schirm oder meinen Schawl zu tragen, oder mir einen ähnlichen Dienst zu leisten. Es kam mir das wie eine den Männern nicht geziemende Dienstbarkeit vor, zu der sie sich nur verständen, weil sie uns wie hilflose Kinder betrachteten; und je mehr meine ganze Seele voll war von einem Ideal von männlicher Würdigkeit, das ich mir aus den Eigenschaften meines Vaters erbaut und mit der jugendlichen Liebenswürdigkeit verschiedener Romanhelden geschmückt hatte, um so mehr wollte ich werth werden, die Liebe eines solchen Mannes zu verdienen, und eine ihm zupassende Frau zu werden.

Mein Vater nährte diese Ideen, so weit sie ihm im Leben zufällig sichtbar wurden, auf das Entschiedenste. Er fand die Stellung der Frauen traurig, und kam man bei uns darauf einmal zu sprechen, so pflegte er zu sagen, die Juden wüßten wohl, weshalb sie ihrem Gotte täglich dafür dankten, als Männer geboren zu sein. Er wies uns dann wohl auf die Goethe'schen Verse hin:


Der Frauen Zustand ist beklagenswerth.
Zu Haus' und in dem Kriege herrscht der Mann
Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.
Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg!
Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.
[278]
Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!
Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen,
Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar
Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!

Aber er that das nur, um uns damit Fügsamkeit in das Unvermeidliche zu predigen, um danach seinen Grundsatz auszusprechen, daß jede Frau sich verheirathen müsse, daß die verheirathete Frau, auch wenn ihr ein beschränktes Loos und ein ihr nicht zupassender Mann zu Theil geworden sei, immer noch ein beneidenswerthes Schicksal neben der unverheiratheten habe, weil sie sich in dem ihr naturgemäßen Berufe bewege, und daß eine Frau, die in sich selbst gefestigt sei und neben ihrem naturgemäßen Berufe ein eignes inneres Leben habe, immer glücklich sein könne, wenn sie ihre Pflicht gegen ihren Mann erfülle, und ihre Kinder gut erziehe. Sie besitze dann alle Elemente der Zufriedenheit, sei vollkommen was sie sein solle, und außerdem stehe es fest, daß die Frau die beste sei, von der man außerhalb ihres Hauses gar Nichts wisse und Nichts spreche.

Er sagte das immer mit rühmendem Bezug auf unsere Mutter, aber er bedachte nicht, daß alle Anleitung, welche ich von ihm erhielt, darauf hinauslief, mich in vielem Betrachte zu dem Gegensatz von ihr zu machen. Während er mir unablässig vorhielt, daß ich bestimmt sei, eine fügsame, häusliche, von ihrem Manne abhängige Frau zu werden wie sie, hatte er mir längst eine Selbstständigkeit und Charakterfestigkeit eingeflößt, die er unterschätzte, weil meine Liebe und Verehrung vor ihm mich ihm in blindem Gehorsam unterwarfen. Seine Ansichten nicht [279] zu theilen, fühlte ich mich bereits durchaus berechtigt; und ich theilte sie z.B. in Bezug auf die Plane, welche er für meine einstige Verheirathung hatte, ganz und gar nicht. Aber, wenn ich mir auch immer vorhielt, daß ich mich nie zu einer mir nicht zusagenden Heirath zwingen lassen würde, so kam mir doch nicht der Gedanke, daß ich es wagen könnte, jemals eine Heirath oder sonst irgend einen Schritt ohne meines Vaters Zustimmung zu thun. Ich fühlte mich in dieser Beziehung durchaus als sein Eigenthum, – nur mich an einen Andern fortzugeben, wenn ich es nicht wollte, das Recht gestand ich ihm nicht zu.

[280]
16. Kapitel
Sechszehntes Kapitel

In dieser Zeit war es, daß ich die Bekanntschaft eines jungen Mannes machte, der auf meine nächsten Jahre und auf meine Entwicklung überhaupt, einen großen Einfluß gewann. Ich hatte eine Tanzstunde mit fünf von den jungen Mädchen aus der Oppenheim'schen Familie und zwei von den Töchtern des Konsistorialrath Kähler. Unsere Tänzer waren, mit Ausnahme eines jungen Auskultators, Studenten, und da die Stunden nur einmal in der Woche, und zwar in den verschiedenen Häusern der Oppenheim'schen Familie gehalten wurden, waren es immer kleine Tanzgesellschaften, zu denen nach den Stunden sich die Gäste einstellten, und die man uns durch allerlei Veranstaltungen noch zu beleben und noch angenehmer zu machen wußte. Man stellte lebende Bilder auf, man improvisirte Sprichwörter und führte im Laufe des Winters auch drei- oder viermal Lustspiele auf, bei denen die Theilnehmer der Tanzstunde und einige der ältern Mädchen und Männer der Oppenheim'schen Familie die Schauspieler machten. Ich selbst hatte an diesem Komödienspielen gar keinen Theil, weil mein Vater mir dergleichen Verkleidungen und Schaustellungen nicht gestattete. Ich mußte, weil meine Mutter den Winter [281] leidend und der Stille wegen zu mir in meine Stube gezogen war, auch in der Regel früher als die Uebrigen die Gesellschaft verlassen, aber das Alles störte mich in meinem Vergnügen nicht. Die Tanzstunden waren der Gedanke meiner Tage und so sehr der Traum meiner Nächte, daß ich im Schlafe davon sprach und meiner Mutter dadurch oft beschwerlich fiel.

Gegen das Frühjahr hin, als die Stunden sich ihrem Ende näherten, gab man in dem Kähler'schen Hause eine Gesellschaft, in welcher unser froher Kreis noch einmal zusammenkommen sollte. Es waren Freunde des Sohnes, der auch Student und einer unserer Tänzer gewesen war, Freundinnen der Töchter, einige Verwandte des Hauses und einige von den jungen Männern geladen, welche die Collegia des Konsistorialraths besuchten, so daß die Anzahl der Personen, welche ich nicht kannte, recht groß war. Da man in dem Hause nicht tanzte, wurden Spiele gespielt, und der Abend verging uns, weil der ganze Ton in der Familie ein geistig gehobener war, sehr angenehm. Ich hatte Mathilden, die nicht mit dabei gewesen war, am andern Tage viel zu berichten und erzählte ihr, daß, als ich bei dem Fortgehen in den Wagen meiner Freundinnen eingestiegen sei, ein großer junger Mann den Bedienten fortgeschoben habe, um mir hineinzuhelfen. Sie fragte mich, wer es gewesen sei, ich wußte aber seinen Namen nicht.

Einige Tage darauf besuchte mich eine der Kähler'schen Töchter, eines der lieblichsten Geschöpfe, das man sich denken konnte. Ihr goldblonder Lockenkopf, ihre hellblauen Augen gaben ihr bei einer starkgebogenen, kühnen [282] Nase und dem blendendsten Teint einen unwiderstehlichen Reiz, und ihre große Lebendigkeit ließ sie, da sie klein war, leicht wie ein Vogel erscheinen. Sie kam lachend zu mir in das Zimmer, und kaum befanden wir uns allein, als sie mich in ihrer fröhlichen Weise fragte: Du! hast Du nicht Lust zu heirathen? –

Ich sah sie verwundert an, obschon man an ihr, sie war auch nur siebenzehn Jahre, und also nur ein Jahr älter als ich, alle Arten von Uebermuth gewohnt war; aber sie nahm eine ernsthafte Miene an und sagte: nein! ich scherze nicht. Du hast doch unsern Verwandten, den Leopold Bock gesehen? Der hat fest erklärt, er werde Dich heirathen, oder nie eine Andere, und das ist Einer, der hält Wort. Du weißt nun, wonach Du Dich zu richten hast!

Wir lachten Beide immer auf's Neue darüber, und amüsirten uns vortrefflich damit. Es wurde besprochen, daß Leopold in den nächsten Tagen sein theologisches Lizentiatenexamen machen würde, daß er Hauslehrer in einer Kaufmannsfamilie sei, und am meisten erlustigten wir uns mit dem Witze meiner Freundin, daß ich als seine Frau ihn niemals würde »unterfassen« können, weil ich viel zu klein sei, ihm auch nur bis an den Arm zu reichen. Wir behandelten den Gegenstand nicht anders, als wir fünf, sechs Jahre vorher beim Spielen unsere erfundenen Familien-Verhältnisse behandelt hatten, denn wir waren im Grunde unseres Wesens doch noch halbe Kinder, trotz der mancherlei Dinge, die wir gelernt hatten, und trotz der ernsten Gedanken, die wir zu denken vermochten, wenn wir dazu angeregt wurden; [283] und ich meine, es ist gut, daß es so war. Es lassen sich in dem Entwickelungsgange eines Menschen keine Stufen ungestraft überspringen, es will Alles gelernt und entfaltet sein, am meisten aber die Kraft der Liebe. Denn was man von der Gewalt der ersten Liebe in den Herzen sehr junger Personen spricht, davon habe ich niemals einen Beweis erlebt, obschon solche jugendliche Zuneigungen bisweilen zu ganz glücklichen Ehebündnissen führen. Daß aber unfertige Menschen nicht in sich die höchste Blüthe ihrer Natur, eine große, bewußte Liebe erzeugen können, das hat meine Beobachtung mir fast zu einem Dogma erhoben.

Einen Eindruck machte mir die Mittheilung meiner Freundin dennoch, so muthwillig wir auch darüber sprachen, und ich konnte mir es nicht erklären, weshalb ich nicht einmal wüßte, wie der junge Mann aussah, der sich freilich mehr zu den Eltern meiner Freundin, als zu uns gehalten, und nur hie und da an unserm Zeitvertreibe Theil genommen hatte. Auch in den folgenden Wochen und Monaten sah ich ihn nur hie und da von fern mit andern jungen Männern, die ich kannte; aber die Neckereien meiner Freundinnen dauerten fort, und ich erfuhr von ihnen, daß Leopold aus dem Harz gebürtigt, daß er der Sohn eines Landpredigers, und daß er ein sehr reiner und idealistischer Charakter sei. Alle seine Studiengenossen schätzten ihn hoch, und ich war ebenso neugierig ihn kennen zu lernen, als beschäftigt und geschmeichelt durch den Gedanken, einem solchen jungen Manne durch ein ganz oberflächiges Begegnen einen so großen Antheil eingeflößt zu haben.

[284] Endlich gegen das Ende des Frühlings machten die Eltern einmal mit uns eine Nachmittagspartie vor das Thor, zu der einige Mädchen meiner Bekanntschaft und mehrere junge Leute eingeladen waren. Die Gegend um Königsberg ist eine Meile im Umkreise sehr flach und sandig. Außer den Dämmen am Pregelufer, die sich bis zum Ausfluß des Pregels in das Haff hinziehen, findet man nur vor dem Steindammer Thor ein etwas gewelltes Terrain, und hie und da, wie in der neuen Bleiche, im Julchenthal und weiter hinaus im Juditherwalde einige Punkte, die freundlich und einladend, und zum Verweilen angethan sind. Wer wie wir nur selten einen Stellwagen benutzen konnte, mußte sich mit diesem bescheidenen Naturgenuß genügen lassen, und glücklicher Weise ist es nicht die Schönheit der Gegend, sondern die Empfänglichkeit des Menschen, durch welche seine Freude an der Natur und der Welt um ihn her bestimmt wird. Das Julchenthal mit seinen schattigen Bäumen, mit dem kleinen Quell im Grunde, mit seinem Finkenschlag und Nachtigallengesang ist mir ebenso lieb und lieber in der Erinnerung, als manche große Scenen der erhabensten Gebirgswelt, die ich später nicht mit dem ruhigen Sinn jener frühen Tage auf mich einwirken zu lassen vermochte.

Mit meinen jungen Freundinnen, mit meinen sämmtlichen Geschwistern, von denen die Jüngsten noch hinausgetragen werden mußten, hatten wir in ländlichen Spielen den Nachmittag heiter verlebt, und uns eben niedergelassen, um das mitgebrachte Abendbrod zu verzehren, als plötzlich Leopold in unserer Nähe erschien, und ein Paar von den jüngern Männern, die mit uns waren, [285] aufstanden, ihn zu begrüßen. Einer derselben, der uns verwandt war, bat meinen Vater, ihm den Angekommenen vorstellen zu dürfen, und gastfreundlich, wie die Mutter war, lud sie ihn ein, an unserm Abendbrode Theil zu nehmen, ohne daß sie freilich wußte, was sie ihm damit gewährte, und was ich dabei empfand. Wie er nicht zufällig, sondern von den andern jungen Leuten benachrichtigt, gekommen war, so machten ihm diese auch an meiner Seite Platz, und ich sah und sprach ihn damit eigentlich zum erstenmale.

Er war sehr groß und schlank, und hatte jene bräunliche, frische Gesichtsfarbe, welche man, trotz ihrer blauen Augen, bei den dunkelhaarigen Harzbewohnern häufig findet. Sein Organ war äußerst wohlklingend, sein Wesen über seine Jahre ernsthaft. Auch überraschte mich in der Befangenheit, die über mich gekommen war, am meisten der Ernst, mit welchem er zu mir sprach, ja er erschreckte mich eigentlich, weil er mir die Freiheit und die Zuversicht benahm, welche ich sonst allen Andern gegenüber empfand. Von der Zuvorkommenheit, von der Galanterie, welche sonst junge Männer einem Mädchen beweisen, dem sie zu gefallen wünschen, war in seinem Betragen keine Spur. Ich wußte ihn mir nicht zu deuten. Als wir dann, weil wir die Kinder mit uns hatten, früh aufbrachen, und durch den schönen Abend in die Stadt zurückkehrten, begleitete er uns, indem er abwechselnd mit mir und mit meinem Vater ging. Und als er vor unserer Thüre um die Erlaubniß nachsuchte, einen Besuch zu machen, wurde ihm dies ohne Weiteres gewährt, weil er in dem Hause eines Mannes Hauslehrer [286] war, den mein Vater schätzte, und der seine Kinder nur einem tüchtigen und verläßlichen Menschen anvertraut haben konnte.

Leopold mußte an dem Abende den ganzen Weg, den er mit uns gemacht hatte, wieder zurück, und noch eine Strecke weiter hinaus in das Land gehen, weil die Familie, in welcher er lebte, im Sommer einen ziemlich entlegenen Landsitz bewohnte, und diese seine Entfernung von der Stadt machte es, daß ich ihn bis zum Herbste nicht häufig sah. Ich hörte aber von den Bekannten um so öfter von ihm sprechen, und traf ich ihn selbst, kam er einmal zu uns, so befragte er mich über Alles, was ich gethan hatte, und über das, was ich trieb und beabsichtigte, als habe er ein Recht dazu. Die weibliche Natur hat aber so sehr den Instinkt ihrer Abhängigkeit von dem Manne, daß sie sich namentlich in der ersten Jugend unwillkürlich Demjenigen zum Eigenthum fühlt, der den Willen hat, sie als sein Eigenthum anzusprechen. Ich wenigstens war von Leopold beherrscht, lange ehe ich es wußte, und wenn ich hie und da mich gegen diese Herrschaft aufzulehnen suchte, so geschah das ebenfalls nur aus dem instinktiven Bedürfniß, meinen Willen nicht völlig zu verlieren, mir selbst nicht ganz und gar verloren zu gehen.

Im Herbste verließen wir unsere Wohnung an dem Pregel, und zogen, weil wir mehr Raum bedurften, da die heranwachsenden Brüder doch auch ein besonderes Zimmer haben mußten, in das Vorderhaus, nach der Langgasse. Es war das auch für meinen Vater viel bequemer, der uns nun aus seinem Comptoir und aus[287] seinen Kellern und Lägern leichter erreichen konnte, und außer dem großen schönen Wolm, dem Balkon vor der Hausthüre, der uns Allen zu statten kam, gewannen ich und meine eilfjährige Schwester damit ein äußerst freundliches, kleines Stübchen im Entresol, eine sogenannte Hangelstube, die ich bis achtzehnhundert fünfundvierzig, bis ein Jahr vor meines Vaters Tode inne hatte, als ich mein Vaterhaus zum letzten Male besuchte und bewohnte.

Diese Hangelstube bildete die Ecke des Eckhauses, in welchem wir nun lebten. Ein Fenster ging in die Seitenstraße hinaus, welche nach dem Pregel hinunterführte, zwei andere lagen an der Frontseite in der Langgasse, und ich konnte mit meinem scharfen Auge die ganze Brodbänkengasse übersehen, bis hin zu dem Domplatz, an dessen Eingang Leopold in der Familie seiner Zöglinge wohnte. Mein Nähtisch stand am Fenster, und alle Mittage, wenn Leopold mit seinen Eleven die lange Brodbänkengasse hinunterkam, um sie spazieren zu führen, sahen und grüßten wir einander. Das war nun für mich der eigentliche Mittelpunkt des Tages.

Er selbst war damals sehr fleißig, seine Freunde sagten, er wolle eilen sein zweites theologisches Examen zu machen. Er selbst sagte Nichts davon. Er kam aber ein paar Male in der Woche zu uns, und war durch seinen reinen Sinn, durch seine Begeisterung für alles Große, durch die kindliche Einfachheit, welche den Ernst und die Strenge seines Charakters milderte, den Eltern und den Geschwistern allen bald eben so werth geworden als mir. An ihm konnte man es erkennen, welches die Frucht jener Studentenverbindung war, die unter dem Namen der deutschen[288] Burschenschaft so schwere Verfolgungen erlitt, und der doch grade die tüchtigsten Charaktere sich angeschlossen hatten. Eine tiefe Liebe für das Vaterland, eine eben so tiefe Hingebung an die im Christenthume enthaltene Menschheitsidee, die strengste Sittenreinheit, eine wahre Heilighaltung des Weibes, ein Gefühl der Brüderlichkeit für die Mitmenschen, waren so fest in sein Herz geprägt, daß Geringes, Leichtfertiges oder gar Unwürdiges ihn nicht berühren konnte. Gut und sanft, wo er vertraute und verehrte, konnte er in die größte Heftigkeit oder in den kältesten Zorn gerathen, wenn Unedles oder Frivolität ihm entgegentraten.

Was ihn auf mich aufmerksam gemacht, was ihn so plötzlich an mich gekettet hatte, ist mir in spätern Jahren oft selbst ein Räthsel gewesen. Ich vermuthe, daß es ganz allein mein Aeußeres war; denn von den Eigenschaften, welche er in dem Weibe suchte, besaß ich an dem Tage, an welchem ich ihn kennen lernte, wirklich so gut wie Nichts. Ich war in hohem Grade auf äußerlichen Erfolg gestellt, hatte ein großes Verlangen nach einem geräuschvollen Leben in der Welt, und ein Ball mit recht brillanten Tänzern spielte damals in meinen Phantasien eine ganz andere Rolle, als das zurückgezogene Leben in einer einsamen Landpfarre. Ich verstand eine Liebe, wie sie mir zu Theil wurde, kaum zu schätzen, und ich habe sie Anfangs gewiß nicht verdient.

Indeß eben diese Liebe, eben dieser Glaube an mich, erhoben mich allmählich; und was die, Jahre hindurch fortgesetzte Bemühung meines Vaters doch nicht in dem nöthigen Maaße erreicht hatte, mir – abgesehen von [289] der Entwicklung des Verstandes – einen wahrhaft sittlichen innern Halt und meinem Gemüthsleben die rechte Entfaltung zu geben, das vollbrachte die vertrauende Liebe eines reinen Männerherzens in sehr kurzer Zeit. Wie das geschah? Wer könnte das sagen! – Alles Werden ist und bleibt ein Mysterium selbst da, wo man den Prozeß verfolgen kann, durch den es sich vollzieht. Wie sollte man es vermögen, den leisen Wandlungen mit beobachtendem Blicke zu folgen, die sich in unserm Herzen vollziehen, wenn die männliche Liebe es aus der Selbstsucht der Kindheit für die Hingebung an den Mann zu befreien beginnt?

Wir sahen einander niemals allein. Wir hatten einander auch Nichts zu sagen, was nicht alle Uebrigen hätten hören können. Leopold tadelte mich, wenn ich Freude an Heine's kecken und leichtfertigen Schriften, oder an französischen Romanen zeigte, die seinem reiferen und edlern Sinne widerstanden, ebenso tadelte er meine leidenschaftliche Lust am Tanze, weil er selbst den Tanz nicht liebte. Er erzählte von dem Pfarrhause seines Vaters im Harz, er schilderte mir mit großer Wärme das Leben in schöner Natur, er sprach von seinen Eltern, die er verehrte, von seinen Brüdern, die alle älter waren als er, von dem Wunsche seines Vaters, ihn zum Nachfolger zu haben, von der ganzen häuslichen Einrichtung seines Vaterhauses, ja selbst von den beiden weißen Spitzhunden, welche seines Vaters Haus bewachten; und wenn ich dann sagte, daß ich Hunde nicht möge, und Spitze vollends nicht, weil sie so schrecklich kläfften und gleich die Zähne wiesen, so tröstete er mich damit, daß sie klug wären, [290] und sehr freundlich zu Allen, die zum Hause gehörten, und das beruhigte mich nicht nur, sondern es machte mich glücklich – weil er mich damit als zu seines Vaters Hause gehörend betrachtete.

Allmählich gewann Leopold die ganze Leitung meiner Lektüre, und das war ein großer Vortheil für mich. Sie wurde nicht ernster dadurch, denn ernste Sachen hatte mein Vater mir selbst gegeben, aber sie wurde einem jungen Mädchen angemessener. Ich hatte immer eine große Vorliebe für Körner's Leier und Schwert und für sein Heldendrama Zriny gehabt, die man mir auch früh geschenkt hatte. Nun lernte ich Körner in seinen Liebesgedichten kennen, und die Ideen der Liebe und des deutschen Vaterlandes begannen sich in mir zusammenzuschmelzen, wie sie in Körner verschmolzen gewesen waren, wie sie in Leopold's Herzen als Eines lebten. Bis dahin hatte ich gewußt, daß Tugend, daß Sittlichkeit recht und nothwendig wären. Jetzt fing ich an zu empfinden, daß sie schön und heilig seien, und die Erinnerung an die Freiheitskämpfe des Vaterlandes, die mir sonst nur als große, heldenhafte, historische Momente vorgeschwebt, und in denen die Gestalt Napoleon's immer, gleichviel ob siegreich oder besiegt, den Mittelpunkt für meine Theilnahme gebildet hatten, gewannen für mich eine neue Bedeutung, eine versittlichende und erhebende Kraft, weil ich sie als die Erhebung eines ganzen Volkes gegen eine entsittlichende Tyrannei zu erkennen begann. Mein Gemeingefühl für ein einiges deutsches Vaterland danke ich jenen Tagen der ersten Jugendliebe.

Statt Rosaliens Nachlaß, der meine thörichten Tagebuchblätter [291] hervorgerufen hatte, las ich das Leben der Pfarrerin von Meinau und ähnliche Schriften, und es kam mir vor, als wachse ich unter seinen Augen, wenn Leopold mir deutlich machte, welch einen weithinreichenden und fortzeugenden Wirkungskreis eine Frau innerhalb einer kleinen Dorfgemeinde, innerhalb der Grenzen ihres Hauses und ihrer Familie gewinnen könne. Er verlachte mich, wenn ich ihm erzählte, welch ein Streben nach Gelehrsamkeit ich in meiner Kindheit gehabt, und weil er mir zutraute, daß ich Alles das sei oder doch werden könne, was seine idealistische Liebe in mir erblickte, machte er mich ihm gegenüber sehr demüthig, während er mich förderte und erhob. Es waren schöne Tage!

[292]
17. Kapitel
Siebenzehntes Kapitel

Meine Brüder zählten etwa dreizehn und fünfzehn Jahre, als mein Vater mich und sie eines Tages in das Wohnzimmer kommen ließ, um uns die Anzeige zu machen, daß er beschlossen habe, die beiden Söhne zum Christenthume übertreten zu lassen. Wir waren Alle gleichmäßig davon überrascht: ich, weil ich von dem Uebertritte ausgeschlossen werden, die Brüder, weil derselbe vor sich gehen sollte, ohne daß davon mit ihnen zuvor die Rede gewesen. Meine Mutter, der ein heißer Wunsch damit erfüllt wurde, und die ihren vollen Antheil an dem Beschlusse hatte, schien sehr erfreut. Als wir Kinder aber die erste Bestürzung überwunden hatten, erklärte der älteste Bruder sehr bestimmt, er wolle nicht zum Christenthume übergehen, wenn die Eltern und Geschwister es nicht auch thäten. Er wolle geistig nicht von ihnen getrennt leben, wolle die äußere Gemeinschaft mit ihnen nicht verlieren, und da er der Mutter schon damals näher stand als wir andern Alle, waren sie Beide gleich erschüttert und bewegt. Mein anderer Bruder, eine starke und leidenschaftliche Natur, bei der jedoch all diese Kraft sich damals mehr in körperlicher Gewaltsamkeit als in geistiger Unabhängigkeit äußerte, nahm die Sache, wie alle solche Dinge, höchst [293] gleich gültig auf. Sein Sinn war auf große Reisen in ferne Länder, auf Kämpfe mit wilden Völkern und mit wilden Thieren gestellt, er hatte ein Verlangen, zur See zu gehen, die Schule war ihm, trotz seiner glänzenden Fassungsgabe, durchaus zuwider; aber ob er dieser oder jener Kirche angehörte, ob er hier oder dort begraben würde, war ihm völlig einerlei. Dazu kam, daß mein Vater, da der leidenschaftliche Sinn dieses Sohnes sich schon in frühester Kindheit kundgegeben, denselben, statt ihn in die rechte Bahn zu lenken, zu brechen versucht hatte. Moritz fürchtete den Vater also, obschon er ihn mit Leidenschaft liebte, und bei der größten Zärtlichkeit von beiden Seiten ist dieses Bruders Verhältniß zu meinem Vater nie ein völlig freies geworden, ist die Gewalt, welche seinem Charakter als Kind angethan worden, ihm durch sein ganzes, nur zu kurzes Leben nachtheilig geblieben. Es ist aber ein Irrthum, der in hunderten von Familien immer wieder auf das Neue begangen wird, daß man sich für die Kinder halbwege im Voraus Schemata zurecht macht, in denen ihr Lebensweg sich halten soll. Will eine Ausnahme-Natur sich nicht danach bequemen, so legt man sie auf das Prokrustesbett, und wundert sich nachher, wenn sie sich in die aufgezwungene Beschränkung trotz alle dem nicht fügen lernt, daß sie auch für die von ihr erstrebte Freiheit nicht die volle, ungebrochene Kraft besitzt, nachdem man sie gelähmt hat. Erzieher müssen Leiter, nicht Herren des Menschen sein, der ihrer Pflege zu Theil geworden ist, wenn sie nicht schaden, sondern fördern wollen.

Auch ich hatte sonst meinem Vater gegenüber keinen [294] rechten Muth, und die Erklärung, daß ich von dem Uebertritt zum Christenthume ausgeschlossen bleiben sollte, erschreckte mich doppelt, weil sie mir ein langgehegtes bestimmtes Verlangen versagte, und weil sie mir gleichzeitig als ein böses Omen für die Zukunft meiner Liebe erschien. Von dieser getrieben und ermuthigt, wagte ich die Frage, warum der Vater mich nicht auch die Taufe empfangen lassen wolle?

Weil Dich die Taufe bindet, die die Brüder frei macht! antwortete der Vater fest. Ich habe Alles überlegt, macht Ihr Euch also keine Gedanken darüber! Es bleibt, wie ich gesagt habe. Wenn ich die Söhne Christen werden lasse, mache ich sie zu freien Herren über ihre Zukunft. Sie können jeden Beruf wählen, der ihnen ansteht, sie treten als Gleichberechtigte in das Staatsleben ein, können sich mit Jüdinnen oder Christinnen verheirathen, wie sie wollen; und glauben in sich, thut zuletzt jeder vernünftige Mensch, was ihn gut dünkt. Frauenzimmer aber, die weder ihren Beruf noch ihren Mann wählen können, bleiben am besten in den Verhältnissen, in denen sie geboren sind, und wenn die Neigung eines Christen einmal auf eine Jüdin fällt, so kann man dann überlegen, was man thun will. Für mich und die Mutter, fügte er endlich hinzu, paßt es mir nicht, uns taufen zu lassen, und daß ein solcher Akt keine Trennung der Familie, und für die Familienliebe ohne störenden Einfluß ist, davon wird die Zukunft Euch überzeugen.

Er küßte uns darauf. – Unsere Mutter, die so gern Christin geworden wäre, und mein ältester Bruder waren sehr gerührt, ich aber, in der jenes Gefühl der Isolirung [295] von der angebornen Familie rege geworden war, das die Liebe in dem Weibe erzeugt und erzeugen muß, weil es einst naturgemäß in eine neue Familie überzugehen bestimmt ist; ich nahm von dieser Unterredung die beglückende Gewißheit mit, daß von des Vaters Seite mir in diesem Punkte für meine Zukunft mit Leopold kein Hinderniß in den Weg gelegt werden würde.

Die Taufe meiner Brüder erfolgte denn auch bald darauf im Hause des Konsistorialrath Kähler, und der Winter ging uns ruhig hin, nur daß die Mutter wieder häufig kränkelte, und der Arzt darauf drang, daß sie für die Sommermonate eine Wohnung auf dem Lande nehmen solle.

Es war das die erste derartige Trennung, welche der Familie bevorstand, und die Eltern entschlossen sich schwer zu derselben; denn man war es damals noch nicht so wie heut zu Tage gewohnt, die Familien zu ihrer Erholung im Sommer auseinanderstieben zu sehen. Man dachte mit Sorge an des Vaters Einsamkeit, an die Brüder und an die zehnjährige Schwester, welche der Schule wegen in der Stadt zurückbleiben mußten, und die Mutter war so traurig darüber, den geliebten Mann, die drei Kinder, ihren Haushalt, ihre gewohnte Pflichterfüllung aufgeben zu müssen, und dem Vater eine erhöhte Ausgabe zu veranlassen, daß er ihr, um sie zu trösten, die Worte »zum Wohl der Deinen!« schön in großer Schrift geschrieben, in ihrer Sommerwohnung an die Wand heftete, damit sie sich daran erinnere, daß diese Erholung für sie zugleich eine Pflichterfüllung sei.

Das Dorf Neuhausen, in welchem wir einige Zimmer [296] in dem Hause eines Gutsbesitzers gemiethet hatten, ist anderthalb Meilen von der Stadt gelegen und einer der schönsten Orte in ihrer Umgegend. Ein altes, noch aus den Zeiten des deutschen Ordens stammendes Schloß, mit starken Mauern und runden Thürmen, ein schöner Park in hügliger Waldgegend, ein ansehnliches Pfarrhaus, eine freundliche Kirche an einem kleinen Teiche, reinliche Häuser für die Pfarrwittwe und den Küster, und eine Anzahl von Höfen, in deren größtem wir wohnten, boten vielerlei zu sehen und zu betrachten, besonders für uns, die wir noch niemals auf dem Lande gelebt hatten.

In dem Schlosse, das Friedrich Wilhelm der Dritte nach den Freiheitskriegen dem Grafen Bülow von Dennewitz geschenkt, lebte die gräfliche Wittwe mit ihren Kindern und mit ein paar adeligen Gesellschaftsfräulein, welche ich mit dem Hauslehrer oft in fliegenden Reitkleidern durch die Gegend reiten sah. Die Pfarre hatte ein Sohn des Konsistorialrath Kähler, der Bruder meiner Freundinnen inne, der mit seiner Frau sehr segensreich auf die allgemeine Kultur des Dorfes wirkte, den wir aber nicht kannten. Die Pfarrwittwe, unsere nächste Nachbarin, war eine freundliche Greisin; die Kantorsfrau, die Schwester unserer Wirthin, eine tüchtige und von Herzen fröhliche Person; und da der Gutsbesitzer, bei dem wir wohnten, kinderlos, und seine Frau ebenso gutmüthig als ihre Schwester war, so gewann die Freundlichkeit unserer Mutter diese Menschen Alle bald für sich. Ihre Gesundheit besserte sich zu unserm Glücke auf dem Lande schnell, da Ruhe und Stille und der Verkehr[297] mit einfachen Menschen ihr im hohen Grade zusagten. Sie war also sehr zufrieden mit ihrem neuen Aufenthalte. Ich selbst aber denke an diese Zeit noch heute mit großer Befriedigung zurück als an die Zeit, in welcher ich es zum ersten Male kennen lernte, was Stille, was Muße und was Freiheit sei.

Zu den unschätzbarsten Gütern, welche die Natur einem Menschen auf seinen Lebensweg mitgeben kann, gehört jene Art des Gedächtnisses, welche man das Gedächtniß der Empfindung nennen könnte. Es ist schon ein Gewinn, sich nach langen Jahren deutlich der Menschen erinnern zu können, denen man begegnet ist, der Gegenden, welche man gesehen, der Dinge, welche man erlebt hat. Aber es ist ein Glück, wenn uns mit diesen aus der Vergangenheit heraufbeschworenen Bildern zugleich die volle Empfindung jener Tage wiederkehrt. Es liegt darin ein Trost gegen die Vergänglichkeit der Zeit, eine Art von ewiger Jugend, ein Zusammenfassen und Beherrschen des Entfernten und Getrennten, und eine dauernde Verklärung dessen, was uns einst flüchtig Genuß und Glück gewährte. Die Gabe solchen Gedächtnisses ist mir in hohem Grade zu Theil geworden.

Während ich diese Zeilen niederschreibe, sehe ich ihn wieder vor mir, den einfachen Garten, in welchem das zweistöckige, ansehnliche Haus gelegen war. Ich sehe aus den geöffneten Thüren unseres Wohnzimmers hinaus durch die gegitterte Pforte, auf den Grasplatz am Teiche, hinter dem sich die Kirche erhob. Ich sehe die Aeste der beiden Pflaumenbäume vor unserm Fenster sich auf- und niederwiegen, auf denen sich Schaaren von Vögeln schaukelten; [298] die Bienen und Wespen fliegen summend durch unsere Stube, die Sonnenstrahlen des Mittags dringen bis in ihre entlegenste Ecke – und nun Alles so still! – Die Mutter schlief am Nachmittage immer ein paar Stunden, die kleinen Schwestern spielten irgendwo im Schatten unter der Aufsicht der Kinderfrau. Ich hatte kein bestimmtes Geschäft, Niemand brauchte mich um diese Zeit, und ich konnte still da sitzen und an den Entfernten denken, der in jenem Sommer mit seinen Zöglingen am Ostseestrande war; oder ich konnte umhergehen im Dorf, in den Schloßgarten, in die Felder, in die verschiedenen Höfe hinein, ich konnte allein umhergehen, ohne die Eltern, ohne die Geschwister. Es war mir, als athme ich anders, freier, wenn ich mich einmal so als eignes, selbstständiges Wesen empfand, wenn ich für mich selbst, und nicht als Glied der Familie, als Kind vom Hause existirte. Und wie das Kind, wenn es einmal die Bezeichnung des Ich, mit dem Worte Ich, gefunden hat, von dieser Bezeichnung niemals wieder abläßt, so hörte in mir das Verlangen nach einer gesonderten Selbstständigkeit nie wieder auf, nachdem ich es in meinen stillen Nachmittagsspaziergängen hatte empfinden lernen, wie unfrei bis auf die geringste Bewegung das Leben der Mädchen in den Familien gemacht wird, oder wie völlig unfrei ich selbst bis dahin gewesen war.

Dazwischen träumte und dachte ich mich immer tiefer in mein einstiges Leben als Frau eines Landgeistlichen, als Leopolds Frau hinein. Was ich that und trieb, bezog sich auf ihn. Ich selbst war außerordentlich heftig, leicht aufgeregt, und hatte, weil ich den Eltern gegenüber [299] dies beherrschen mußte, mich oft um so rückhaltsloser gegen Untergebene gehen lassen. Aber auch Leopold war heftig, und um seinetwillen, um ihn nicht in der Zukunft durch meine Erregbarkeit und Maßlosigkeit unglücklich zu machen, begann ich nun nach jener Fassung zu ringen, die mir später oft so sehr zu Statten gekommen ist. Ich habe einmal irgendwo die Worte gelesen: der Mann ist das Unterschicksal des Weibes! – Ob das eine Wahrheit, für alle Frauen eine Wahrheit sei, das möchte ich nicht behaupten; aber die Erziehung der Frauen wird zum großen Theil, wenn nicht durch die Männer selbst, so durch unsere Liebe für sie bewirkt; und es ist mir oft vorgekommen, als brauchte man die Mädchen nur dahin anzuleiten, daß ihre Neigung sich keinem unedeln oder geringen Manne zuwenden könne, um ihrer befriedigenden Entwicklung gewiß zu sein.

Wir lebten fast ohne Abwechslung auf unserm Dorfe. Sonnabends kamen mein Vater und eines der Kinder mit einem der heimkehrenden Milchpächter auf dessen Wagen zu uns heraus, und sie blieben dann bis Montag in der Frühe bei uns. Hie und da gingen wir durch den schönen Wald nach einem nahegelegenen Lustorte, an dem sich Sonntags viele Städter einfanden; einmal kam Mathilde auf acht Tage zu uns heraus, und in dieser Woche befand ich mich eines Abends grade in der Speisekammer, um das Abendbrod herzurichten, als Mathilde mit dem Ausruf bei mir eintrat: Leopold ist da, zu Pferde mit einem Freunde!

Ich wußte mich vor Ueberraschung, vor Freude kaum zu fassen. Alles Blut stieg mir nach dem Kopfe, und [300] wäre ich meiner Aufwallung gefolgt, so würde ich, wie ich da stand, mit der Küchenschürze hinausgelaufen sein, ohne mich um das zu bereitende Abendbrod weiter zu bekümmern. Unglücklicher Weise kam mir aber der Gedanke, daß ich mich ja beherrschen lernen, daß ich gefaßt und ruhig werden wolle, und so sagte ich, Mathilde möge nur zur Mutter und zu den Gästen gehen, ich würde gleich mit dem Abendbrode nachkommen. Mit fliegender Hast putzte ich die Radieschen, setzte ich noch schnell mehr Eier zum Kochen auf, schnitt Schinken, strich Butterbrode, und hatte eben Alles fertig, hatte mir eben, höchst zufrieden mit meiner Selbstbeherrschung, und froh ihrer nun ledig zu sein, die Schürze abgebunden und die Hände gewaschen, als ich Pferdegetrappel auf den Steinen hörte, und zur Thüre eilend, die beiden Reiter davontraben sah.

Benommen, verwirrt und traurig blickte ich ihnen nach. Ich zürnte auf mich und meinen unglückseligen Versuch der Selbsterziehung, ich zürnte auf meine Freundin, weil sie mich nicht noch einmal rufen gekommen war, ich zürnte auf Leopold, weil er nicht auf mich gewartet hatte, die ihm doch nur ein gutes Abendbrod bereiten wollte. Daß mein Ausbleiben ihn ungeduldig gemacht, daß er es als eine Kälte, als eine Koketterie von mir betrachtet hatte, und daß er, im Zorne gegen mich, schnell aufgebrochen und davongeritten war, das zu denken, war ich nicht gescheut genug. Man ist aber nie unglücklicher, als wenn man die Folgen einer Dummheit erträgt, die man mit dem bestimmten Bewußtsein begangen hat, etwas ganz besonders Gutes und Vernünftiges zu thun.

[301] Den ganzen Sommer hörte und sah ich Nichts von Leopold, und die Erinnerung an jenen Abend lastete fortan wie ein Vorwurf und wie ein Schmerz auf mir, bis eine andere schwere Sorge mich davon abzog.

Wir hatten einen Sonntag ganz heiter mit dem Vater und mit den Brüdern verlebt, die Mutter hatte sie mit mir noch eine Strecke begleitet, da sie sich wohler als seit Jahren fühlte, und wir gingen ruhig zu Bett, wobei sie, als sie sich entkleidete, die Bemerkung machte, sie müsse sich in der linken Hand eine Sehne verdreht haben, die Hand schmerze sie bei der Bewegung. Früh, als der Tag dämmerte, weckte sie mich plötzlich mit der Frage: ob ich das Schießen nicht höre? – Ich richtete mich auf, es waren oftmals Militair-Manöver in der Gegend, und das Schießen nichts Ungewöhnliches, aber ich hörte Nichts, und sagte das. Höre doch! Höre doch! rief die Mutter mit solcher Heftigkeit, daß ich erschrocken aufsprang; und an ihr Bett eilend, fand ich sie mit wirrem Blicke, völlig ohne Bewußtsein, in wilden Fieberphantasien.

Anderthalb Meilen von der Stadt, ohne Fuhrwerk, ohne männliche Bedienung, war die Lage, in der ich mich befand, ganz furchtbar. Ich mußte umherlaufen, mir nur erst einen Boten zu schaffen, um den Vater und den Arzt benachrichtigen zu können, und als dieser am Nachmittage mit dem Vater herauskam und das Leiden der Mutter für Gicht erklärte, die sich auf den Kopf geworfen habe, war damit für uns Nichts gebessert. An einen Transport in die Stadt war nicht zu denken. Der Vater, dessen Geschäfte ihn gerade während der Zeit der [302] Schifffahrt vollständig in Anspruch nahmen, konnte weder bei uns bleiben, noch uns täglich sehen kommen, und so blieb ich denn mit der kranken Mutter und mit den Kindern in Neuhausen zurück, darauf angewiesen, durch meine Berichte dem Arzt so viel Auskunft zu geben, daß er, wenn er spät am Abende herauskam, womöglich die nöthigen Arzneien mitbringen konnte, die wir uns sonst erst am folgenden Tage aus der Stadt zu verschaffen vermochten.

Nachdem ich also die Reize des Landlebens ein paar Wochen gekostet hatte, lernte ich nun gleich auch eine seiner Schattenseiten kennen, und ich denke noch mit Entsetzen an die Angst und an die Hast, in welcher ich einmal in brennender Mittagshitze nach dem nächsten Dorfe lief, um mir von dort Blutegel zu holen, da diejenigen, welche man aus der Stadt geschickt hatte, den Dienst versagten. Man muß Tage und Nächte so hilflos an einem einsamen Krankenbette zugebracht haben, um zu wissen, was Angst und Sorge sind!

Endlich, nach fast drei Wochen, erlaubte es der Zustand meiner Mutter, daß man sie, in Betten gepackt, in Begleitung des Vaters und des Arztes, nach der Stadt bringen konnte. Am folgenden Tage kam ein großer Packwagen und noch ein Fuhrwerk heraus, ich ließ all unser Mobiliar aufladen und fuhr dann mit unserer alten Kinderfrau und mit den Kindern, bang und beklommen, nach dem ersten Aufathmen in Gottes freier Natur, in die Heimath zurück, wo Wochen voll Sorge und Arbeit meiner warteten. Denn die Mutter kam nur sehr langsam wieder zu Kräften, und es war schon Herbst [303] und schlechtes Wetter, ehe die gewohnte Lebensweise sich im Hause wieder herstellte.

Mit dem Herbste kehrte auch die Familie, in welcher Leopold lebte, in die Stadt zurück, und gleich am Abende seiner Ankunft sahen wir einander wieder.

Warum sind Sie nicht hinausgekommen, als ich in Neuhausen war? fragte er mich, sobald sich die Gelegenheit dazu darbot. – Ich dachte, daß Sie auf mich warten würden, versetzte ich ehrlich. – Ich mußte ja am Abend zurück sein, und ich hatte mich die ganze Zeit darauf gefreut, Sie draußen einmal zu besuchen! Ich war recht böse auf Sie, ich glaubte, Sie wollten mich warten lassen! entgegnete er. – Wie kamen Sie auf diesen Einfall? rief ich erschrocken und verwundert aus, und mein Erstaunen war die beste Antwort, die ich geben konnte. Wir waren Beide mit einander zufrieden, waren voll Glauben und Zutrauen zu einander, und wir waren so jung, daß wir für den Augenblick Nichts mehr verlangten, als uns zu sehen und in Gegenwart der ganzen Familie wieder mit einander verkehren zu können.

Allmählich aber wurden Leopolds Besuche häufiger. Statt wie im verwichenen Jahre ein paar Mal in der Woche zu kommen, erschien er nun Tag um Tag, dann endlich jeden Abend, ohne daß die Eltern das auffallend zu finden schienen. Auch sein Betragen gegen mich veränderte sich. Er setzte sich zu mir, gleichviel ob andere Personen anwesend waren, er tadelte und lobte mich in Gegenwart der Eltern je nach seiner Meinung, und er wies mit Eifersucht alle meine alten Bekannten und Jugendfreunde zurück, wenn diese sich mir nahten. Weil [304] er mir sehr werth war, machte mir dies Alles Freude, aber es brachte mich doch auch in Verlegenheit. Die ältern Mädchen unserer Bekanntschaft zogen mich mit unserer »stummen Liebe« auf, einer oder der andere meiner jungen Bekannten neckte mich damit, daß ich sehr sanft und nachgiebig geworden sei, und mit dem wetterwendischen Sinne eines launenhaften Kindes nahm ich mir eines Tages vor, daß ich mir von Leopold Nichts mehr befehlen lassen wolle.

Es war im November, an meines Vaters Geburtstag, der wie alle solche Tage gefeiert und besonders hoch gehalten wurde. Da die Eltern fast gar keinen Familienumgang hatten, so wurde die geladene Gesellschaft fast immer nur für uns versammelt, und da wir auch an jenem Abende sechs oder acht von unsern Bekannten bei uns hatten, beschlossen wir zu tanzen. Leopold aber tanzte nicht, und kaum hatte ich aufgehört zum Tanze zu spielen, um selbst in die Reihe zu treten, als er an mich herankam und mir sagte: tanzen Sie nicht! – Ich sah ihn an und fragte: weshalb nicht? – Weil ich nicht tanze! antwortete er. – Als ob das ein Grund wäre! rief ich, und wollte eben die Hand meines Vetters ergreifen, als Leopold mich mit den Worten zurückhielt: wir sehen uns nicht wieder, wenn Sie tanzen! –

Das bannte mich, aber es empörte mich auch. Zu tanzen wagte ich nicht, und doch mußte ich vor den Andern eine Ursache haben, es nicht zu thun; und um fortzukommen und mir fortzuhelfen, eilte ich mit dem Vorgeben auf mein Zimmer, daß mir nicht wohl sei. Oben in der dunkeln Stube fing ich zu weinen an, aber [305] ich wußte eigentlich nicht worüber. Ich war glücklich, daß Leopold mich so völlig als sein Eigenthum betrachtete, daß er mit mir schaltete und waltete nach seinem Belieben; aber ich empfand einen Zorn gegen ihn, wie ich ihn nie gegen einen andern Menschen gefühlt hatte. Ich hasse ihn! sagte ich einmal zu mir selbst, und hatte nie sicherer gewußt, daß ich ihn liebte, als eben jetzt. – Ich nahm mir vor, gar nicht mehr hinunterzugehen, um ihn recht zu quälen und zu ängstigen, um ihm zu zeigen, daß ich mir nicht befehlen lasse, und daß er kein Recht habe, mir zu befehlen, und doch war ich untröstlich darüber, daß ich hier oben in der finstern Stube saß und weinte, statt unten bei den Andern und bei ihm zu sein.

Das sind Zustände, wie jeder Mensch, so Weib als Mann, sie durchlebt hat. Es ist der Kampf der freien Jugend, die davor zurückschreckt, sich an ein anderes Wesen zu verlieren, und ich meine, es lasse sich aus der Stärke dieses Kampfes mit Sicherheit auf die Größe der Hingabe schließen, deren der Mensch einst fähig sein wird. An kräftigen jungen Männern habe ich diese Sprödigkeit, diese Selbstwilligkeit oft bis zu einem Grade stark gesehen, der sie an sich selbst verzweifeln ließ. Man muß aber Etwas sein, um Etwas aufgeben zu können, man muß sich selbst besessen haben, um sich verschenken zu können, und der Trotz der Liebe ist in der Natur des Menschen nur der Sturm des Aequinoctiums, der dem Beginn des Frühlings vorangeht.

Mitten in meinen Thränen kam Mathilde zu mir. Freundlich und heiter wie immer, forderte sie mich auf, [306] hinunterzukommen und vernünftig zu sein. Aber ich war froh, nun Jemand gefunden zu haben, gegen den ich alles Zornige, das mir das Herz bewegte, in heftigen Worten aussprechen konnte. Ich schalt auf Leopold, ich nannte ihn egoistisch, rechthaberisch und herrschsüchtig; ich versicherte, daß ich nun eine Lehre empfangen hätte, die mir – ich war siebenzehn Jahre! – für mein ganzes Leben nützen sollte; und Alles, was die gute Mathilde thun mochte, mich zu beruhigen, reizte mich nur noch mehr. Endlich, als sie alle ihre Gründe vergebens an mir erschöpft hatte, sagte sie: gieb mir Dein Wort zu schweigen, so will ich Dir Etwas vertrauen, das mir Deine Mutter unter dem Siegel des Geheimnisses erzählt hat. Aber gieb mir Dein Wort, daß Du schweigst, daß Du Dir Nichts, gar Nichts merken lässest.

Ich leistete das Versprechen, und Mathilde erzählte: Gleich nachdem Leopold in die Stadt gekommen ist, hat er Deinen Vater aufgesucht, und bei ihm um Deine Hand gebeten. Er hat ihm gesagt, daß er Dich liebe, und daß er nicht länger ohne Dich sein könne. Er wolle deshalb eine Lehrerstelle, die ihm geboten werde, annehmen, um Dich heirathen zu können. Dein Vater hat aber erklärt, davon könne die Rede nicht sein, Leopold müsse erst sein zweites theologisches Examen machen, und wenn er dann eine Pfarre haben würde, so würde er dem Vater willkommen sein. Und dann hat er sich von Leopold das Ehrenwort geben lassen, daß er Dir von seiner Bewerbung nichts sagen, und sich in keiner Weise gegen Dich erklären würde, weil Du noch zu jung wärest, und weil Du ruhig bleiben solltest, und so weiter fort!

[307] Ich war wie umgewandelt, war geblendet, als träte ich aus tiefem Dunkel in ein helles Licht. Mein Zorn war erloschen, ich hatte Niemand anzuklagen, als mich selbst, Niemand hatte Unrecht als ich; aber ich fühlte doch augenblicklich, daß die Lage, in welche meines Vaters Vorsorge mich gebracht hatte, eine üble, und daß sie ohne Berechnung und Rücksicht auf Leopold's Natur gewählt war. Und das hat sich auch bewährt!

Ich kehrte in die Gesellschaft zurück, zu Leopold zurück, glücklich im Innersten des Herzens, voll Verlangen ihn zu versöhnen; und wo man der Liebe gegenübersteht, ist das keine schwere Aufgabe. Wie wir uns ohne Worte zusammengefunden hatten, so verstanden wir uns ohne Worte, und die nächste Zeit verging uns in täglichem Beisammensein in stillem, freudigem Frieden.

Den Weihnachtsabend sollte Leopold bei uns zubringen. Beschränkt, wie unsere Verhältnisse es noch immer waren, hatten die Eltern uns doch nie die Freuden des Weihnachtsbaumes entbehren lassen, und auch fast immer die Mittel gefunden, ein oder den andern Freund des Hauses an der Bescheerung Theil nehmen zu lassen, während wir Kinder von jeher angehalten worden waren, irgend welche von den Hausarmen mit Geschenken zu erfreuen, für die wir uns das Geld von unserm Frühstück oder sonst auf eine Weise zu ersparen suchten.

In Königsberg ist es Sitte, die Festtage einzuläuten wie allerwegen, aber es existirt in der Stadt noch ein Legat von einem alten Fräulein, nach welchem die Stadtmusikanten am Mittage das Lied: »Wie schön leucht't [308] uns der Morgenstern«, und Abends um neun Uhr »Nun ruhen alle Wälder« vom Thurm der Schloßkirche in die Stadt hinunterblasen. Die Kinder nennen das: die Jungfer bläst vom Thurm! – Dieselben Stadtmusikanten ziehen denn, ebenfalls nach einer Verordnung aus uralter Zeit, sobald es am Weihnachtsabende zu dunkeln beginnt, – und das geschieht in unserer nordischen Heimath um diese Zeit des Jahres schon gegen vier Uhr, – durch alle Straßen der Stadt, und still durch das nächtliche Dunkel erklingt von ihren Blaseinstrumenten die schöne Melodie: »Ein Kindlein uns geboren ist!«

Schon von weit her vernimmt man den nahenden, wachsenden, anschwellenden Ton des Liedes. Ohne daß man die Musikanten gewahrt, klingt die Melodie zu uns heran, der ganze Zauber der Weihnachtspoesie verkörpert sich in diesen Tönen, und Niemand, der seine Kindheit und Jugend in unserer Heimath verlebt hat, wird dieser nächtlichen Weihnachtsmusik ohne Rührung gedenken.

Wir Geschwister hatten die Gewohnheit, uns am heiligen Abende, wenn es dunkelte, in meiner Stube zu versammeln, und dort zu warten, bis die Eltern den Aufbau beendet hatten und wir zur Bescheerung gerufen wurden. Auch diesmal saßen wir in dem kleinen Stübchen, im Dämmerlicht, im Dunkeln bei einander, während das Streiflicht der Laterne, die von unserm Hause nach der andern Ecke der Straße hinüberhing, grade genug Helle zu uns hineinwarf, das ganze Häufchen der Geschwister übersehen zu lassen. Da hörten wir endlich wieder die alte, liebe Melodie, und mit ihrem Klange kam eine [309] tiefe Wehmuth über mich. Ich sah die Brüder, meine eilfjährige Schwester, die vier kleinen Mädchen und dachte: wie viel Male werde ich den Abend noch mit Euch verleben? Ich dachte, daß ich sie verlassen, sie nicht heranwachsen sehen würde, und weil ich mir vorstellte, daß ich vielleicht bald nicht mehr ein Kind dieses Hauses sein würde, fühlte ich, wie sehr ich ihm zu eigen war.

Die Klingel, welche uns in das Wohnzimmer rief, brachte uns in Bewegung. Wir älteren Geschwister nahmen die kleinsten an die Hand und auf den Arm, um sie schnell die Treppe nach der Wohnstube hinunter zu bringen, und vor dem bescheidenen Glanze unseres Weihnachtsbaumes, der uns aber strahlend dünkte, vor dem Jubel der Kinder, vor der Befriedigung der guten Eltern über unsere Freude, gewann jenes Gefühl innerlichster Wehmuth neue Kraft, so sehr ich bemüht war, es in mich zu verschließen. Es war nicht Sitte im Hause, von Gefühlen zu sprechen oder sich ihnen leicht in sichtbarer Weise zu überlassen, und mich dünkt, das hat, wenn es nicht übertrieben wird, sein Gutes. Es macht den Menschen innerlich, und verhindert das Aufkommen der Phrase, hinter der die Oberflächlichkeit und Leerheit sich so pomphaft und so bequem verbergen.

Die rechte Weihnachtsfreude kennen aber nur die Unbemittelten, die es wissen, mit welcher Liebe und mit welcher Sorge die Gaben zusammengebracht sind, an denen man sich erfreut. Wir, die wir wußten, wie oft der Vater sich in Geldverlegenheit befand, weil sein Geschäftsbetrieb mehr Mittel erforderte, als ihm zu Gebote [310] standen, wir wußten auch, wie oft und reiflich die geringste Kleinigkeit von unserer Mutter erwogen, wie allmählig die einzelnen Gegenstände herbeigeschafft werden mußten, die uns unter dem Lichte des Weihnachtsbaumes entzückten. Noch spät am Abend sahen wir dann den Vater, wenn das Comptoir geschlossen wurde, mit dem Hausknecht fortgehen, um die Aepfel und Nüsse und das Backwerk zu holen, und irgend welche Teller oder Gläser oder sonst nothwendig gewordenen Hausrath zur Ueberraschung für die Mutter einzukaufen, und wenn dann Alles besorgt war, wenn die Handlungsgehülfen ihre Ducaten und Friedrichsd'or, die Dienstboten ihre Geschenke erhalten hatten, wenn wir dann beisammen waren, die Eltern und die acht Kinder, und die freundlichen Augen der Mutter, die hellstrahlenden Blicke des Vaters über uns leuchteten, wenn man es ihm ansah, wie alle Sorge ihm gering erschien, wenn er seine »acht gesunden Kinder« um sich und die Mutter neben sich hatte, dann küßten wir seine lieben Hände und die Hände der Mutter mit jener inbrünstigen Liebe, in die der Dank für ein neues uns geweihtes und geschenktes Jahr voll Arbeit und voll Sorge eine besondere Weihe legte.

Mitten in unserer Weihnachtsfreude erschien Leopold, der bei der Bescheerung seiner Zöglinge hatte anwesend sein müssen. Er war froh und aufgeschlossen, er war Allen willkommen, fühlte sich heimisch, und während die Kinder ihn mit ihrem neuen Spielzeug umringten, sagte er, sich zu mir wendend: Ich möchte wissen, wo wir heute in zwei Jahren sein werden?

Ich habe immer eine Abneigung gegen das Voraussehenwollen [311] der Zukunft, immer eine unheimliche Empfindung gehabt, wenn man in meiner Gegenwart solche Wünsche äußerte. Dieses Gefühl bemächtigte sich meiner auch in jenem Augenblicke, und ohne zu wissen, was mich dabei ängstigte, bat ich, er möge so Etwas nicht aussprechen.

Weshalb denn nicht? rief er heiter. Wissen Sie denn nicht, daß ich ein Glückskind bin, und daß das Leben mir noch nie die Erfüllung eines Wunsches verweigert hat?

Aber weit entfernt, mich zu ermuthigen, wurde seine Zuversicht auf sein Glück mir nur noch unheimlicher, und ohne zu bedenken, was ich damit that, sagte ich: »Mit des Geschickes Mächten ist kein ew'ger Bund zu flechten, und das Unglück schreitet schnell.«

Kaum aber hatte ich diese Worte beendigt, als ich sie um jeden Preis hätte zurücknehmen mögen. Sie klangen mir fürchterlich, als hätte nicht ich, als hätte ein Anderer sie gesprochen, und als ich zu Leopold emporsah, war all seine Heiterkeit von ihm gewichen. »Wie kommen Sie zu dem unglücklichen Worte!« sagte er wie mit einem Ton der Abwehr, und ich selber wußte es nicht, wie ich darauf gekommen war. Wir konnten indeß danach die frühere Heiterkeit nicht wiederfinden, obschon wir Alle munter bei einander waren, und – die letzten ganz glücklichen Stunden, die wir mit einander verlebt, lagen hinter uns.

[312]
18. Kapitel
Achtzehntes Kapitel

Aeußerlich änderte sich mit dem neuen Jahre in unserem Leben Nichts. Leopold kam Anfangs wie bisher, so oft er wollte, aber ich empfand, daß man uns beobachtete, daß der Vater ihn nicht so freundlich als sonst willkommen hieß, daß er überall kleine und oft komische Hindernisse zwischen uns aufrichtete. So erinnere ich mich, daß wir einmal übereingekommen waren, bei uns das Bild von Houwald mit einigen Bekannten personenweise zu lesen, und der Vater hatte dagegen keine Einwendungen gemacht. Wir hatten die Rollen so vertheilt, daß ich natürlich die Camilla, Leopold den Maler lesen sollte, und die Uebrigen hatten sich dieser Anordnung gefügt, während ich mir schon Tage lang alle die schönen gefühlvollen Dinge vorgelesen hatte, die gegen Leopold auszusprechen ich ebensoviel Verlangen als Scheu trug. Ich hatte mir Alles vorgestellt, wie es kommen müsse, ich konnte den Abend gar nicht erwarten, hatte mich schön geputzt, um mich so weit als möglich den Worten des Dramas anzupassen, und voll Hoffnung und Spannung setzte ich mich, als die kleine Gesellschaft beisammen war, in dem großen Wohnzimmer an dem Tische vor dem Sopha nieder, auf dem meine Eltern bereits Platz [313] genommen hatten. Kaum aber ergriffen wir unsere Exemplare, als mein Vater dem ihm zunächst Sitzenden das Buch aus der Hand nahm und, auf das Personenverzeichniß blickend, mit freundlichster Ruhe die Worte aussprach: Wartet Kinder! ich werde mitlesen, ich werde den Maler lesen!

Ein Habicht, der auf eine Flucht von Tauben stößt, bringt keine solche Verwirrung, keinen solchen Schreck hervor, als ich sie fühlte. Der ganze Thurmbau meiner Hoffnungen stürzte zusammen. Ich sah Leopold an, er war blaß geworden und biß die Lippen zusammen, was er nur im Zorne that. Die ganze kleine Gesellschaft gerieth in Aufruhr, Alles fiel nun auseinander. Der Vater entwarf eine neue, höchst unglückliche Rollenvertheilung, und statt der Freude, die ich mir erwartet, hatte ich das komische Vergnügen, meinen Vater mit all den Zärtlichkeiten anzulesen, die ich für Leopold so sehnlich auszusprechen gewünscht hatte.

Der aber war nicht der Mann sich zu verstellen. Sein sichtbarer Verdruß, seine Gereiztheit steigerten sich durch das nicht verborgene Lachen der Andern, er blieb mißmuthig, mein Vater verwies ihm das, und der Abend wurde ein verstörter und unlustiger für alle Theile.

Solcher kleinen Mißhelligkeiten gab es von da ab immer wieder. Ich fragte Mathilde, ich fragte meinen Bruder, der sich mit Liebe an Leopold angeschlossen hatte, und von diesem und von der Mutter in das Vertrauen gezogen worden war, was denn geschehen sei? Sie wußten Beide Nichts. Leopold hatte ich nie allein gesehen, er hatte, seinem Worte treu, nie von seiner Liebe [314] zu mir gesprochen, ihn konnte ich nichts fragen, und mit meiner Mutter davon zu reden, wäre mir eben so unmöglich gewesen, als meinen Vater um die Gründe seiner Handlungsweise anzugehen. Ich hatte zur Mutter nicht das Zutrauen, daß sie mir rathen oder helfen könne, sie hatte mich auch einmal mit einer taktlosen Aeußerung über mein Verhältniß zu Leopold verletzt, und von meinem Vater hielt die Gewohnheit des blinden Gehorsams, zu dem er uns erzogen hatte, mich fern. Zwischen den zärtlichsten Eltern, die ich beide liebte, war ich ganz allein.

Einige Wochen später hörte ich aus meinem Zimmer um die siebente Abendstunde die Hausklingel erschallen. Ich hörte die Thüre öffnen, ich kannte den Schritt auf den Fliesen des Hausflurs und ich packte mein Nähzeug zusammen, um in die Wohnstube zu gehen, die sich jetzt nach meiner Meinung öffnen mußte. Aber dieser Ton ließ sich nicht vernehmen, die Hausthüre klingelte abermals, die Küchenthüre wurde zugeworfen, und es blieb Alles still. Ich begriff das nicht! – So schnell ich konnte, eilte ich hinunter. Ich fragte in der Küche, wer da gekommen sei? Man nannte mir Leopold, und auf die zweite Frage, ob er bei der Mutter sei, versetzte das Mädchen: nein! der Herr sei schon zu Hause, und habe befohlen, wenn Herr Leopold käme, zu sagen, daß die Herrschaft ausgebeten sei.

Das hatte ich nicht erwartet! Das hatte auch Leopold nicht glauben können, denn die Eltern waren mit Ausnahme von zwei Abenden im Jahre, an denen ein paar Feste in den Familien meiner Tanten gefeiert wurden, [315] niemals in Gesellschaft, und zudem fiel das Licht aus dem Wohnzimmer durch die Glasthüren desselben hell auf den Flur hinaus. – Ich war völlig rathlos und sehr traurig. Ich hatte das dringendste Verlangen, mir selbst zu helfen, Etwas zu thun, an Leopold zu schreiben. Dann dachte ich wieder, das sei seine und nicht meine Sache, und ich hatte auch gar keinen Muth, weder ihm noch dem Vater gegenüber.

Die Tage gingen mir hin, ich wußte nicht wie. Leopold kam Mittags immer wie sonst die Straße herab und grüßte mich, das war Alles. Am Ende der Woche trat eines Abends mein Vater in mein Zimmer, stellte sich an den Ofen, fragte, was ich treibe, und sah dann die Bücher durch, die auf der Kommode lagen. Mehrere davon waren Leopold's Eigenthum, sein Name stand darin. Mir klopfte das Herz, daß ich fast erstickte. Mein Vater legte die Bücher wieder fort und sprach von etwas Anderem, aber ich hörte es kaum; er kam in solcher Weise, Abends und allein, sonst nie zu mir herauf, und ich erwartete daher irgend einen Tadel, eine Erklärung, einen Aufschluß. Ich erwartete ihn vergebens.

Nachdem der Vater eine Weile bei mir gewesen war, schickte er sich an, mich zu verlassen, und erst im Hinausgehen sagte er: Du hast da, wie ich sehe, ein paar Bücher von Leopold, schicke die ab! – Lieber Vater, ich lese sie noch! sagte ich, weil ich doch ein Lebenszeichen von mir geben wollte. – Schicke sie nur ab, Du kannst sie ein andermal zu Ende lesen! – Aber weshalb, lieber Vater? fragte ich mit großer Ueberwindung. – Soll ich Dir Gründe angeben? versetzte mein Vater. Das [316] war sonst nicht nöthig zwischen uns. – Seine Stimme klang weich und bewegt, er ging hinaus, und am andern Morgen schickte ich ohne ein Wort, ohne eine Zeile die Bücher zurück; nur ein Blättchen Papier ließ ich als Zeichen und Andenken bei einem der Körner'schen Gedichte liegen, das wir oftmals mit einander gelesen hatten, und das wir Beide liebten.

Damit endet eigentlich die Geschichte dieser Jugendliebe, deren Ausgang mir ein ungelöstes Räthsel geblieben ist. Im Frühjahr, als Leopold sein Candidaten-Examen gemacht, gab er seine Stelle in Königsberg auf, um sich von einem Fieber, das ihn befallen hatte, im Hause seines Bruders herzustellen, der eine Superintendentur in unserer Provinz bekleidete. Eben jene gemeinsame Freundin, die mir zuerst von Leopolds Liebe gesprochen, sich in dieser Zeit verheirathet hatte und Leopold häufig bei sich sah, beschwor mich, einmal zu ihr zu kommen, um ihn dort zu treffen: er sei krank und wolle mich sprechen, ehe er Königsberg verlasse. Ich schlug das ab, weil ich die Erlaubniß nicht zu erbitten und gegen meines Vaters Befehle nicht zu handeln wagte. Aber ich hatte keine Freude an diesem Gehorsam, sondern nur Schmerz über meine Unfreiheit und Muthlosigkeit. Ich hätte besser von mir selbst gedacht, wäre ich des Ungehorsams fähig gewesen.

Niemand hat mir je darüber Aufschluß gegeben, was die Handlungsweise meines Vaters oder Leopold's bestimmte. Seine nächsten Freunde, die ich in viel späteren Jahren, als jene Erlebnisse mir schon, so wie jetzt, in völliger Losgelöstheit von mir selbst erschienen, darum [317] befragte, wußten Nichts davon. Sie vermutheten wie ich, daß man ihm in seiner Familie Einwendungen gegen seine Heirath mit einer Jüdin gemacht, daß mein Vater dies erfahren, daß er uns deshalb getrennt haben mochte, und daß mein blinder Gehorsam gegen den Vater Leopold hatte irre werden lassen an der Liebe, die ich für ihn fühlte.

Mein Leben wurde nach Leopold's Entfernung aber für eine Weile sehr still und trübe. Alle meine Bekannten hatten unsere Zuneigung bemerkt, alle sahen mich darauf an, wie ich die Trennung ertragen würde; denn die Menschen betrachten einander viel öfter als man glaubt unter dem Gesichtspunkte eines Darstellers, der verpflichtet ist, sich ihnen gegenüber in der Rolle zu behaupten, welche ihre Meinung ihm zuertheilt hat.

Die kalte Neugier der Einen, die mitleidige Schonung der Andern, die bloße Achtsamkeit auf mich waren mir unerträglich. Bedauert zu werden, weil dies herabsetzt und erniedrigt, war mir das Unerträglichste; und so gut ich es vermochte, suchte ich zu verbergen, was ich litt. Das lag auch durchaus in den Planen und Grundsätzen meines Vaters, und mein Bestreben, gleichmäßig in der alten Weise des Daseins fortzugehen, wurde unterstützt, obschon ich es fühlte, daß meine Mutter mich innerlich beklagte, daß mein Vater milder als sonst mit mir verkehrte, daß ich neben ihm an einer Freiheit gewann, die mir damals noch zu gar nichts nützte, weil meine Erziehung mich unfähig gemacht hatte, sie zu gebrauchen.

Im Verkehr mit meinen Freunden, in unserer Häuslichkeit und Geselligkeit blieb sich Alles gleich und[318] war mir alles gleichgültig. Nur zwei Gedanken beschäftigten mich. Wie war das möglich? fragte ich mich wieder und wieder, und dann drängte sich mir die zweite Frage auf: kann das so bleiben? werde ich ihn nicht wiedersehen? – Ein junges Herz, das liebt, hat nicht viel Gedanken.

Da man mich in der Familie doch wohl sehr verändert finden mochte, und da die im Sommer erfolgte Einsegnung meiner beiden Brüder mich sehr ergriffen hatte, bot mein Vater, ich glaube auf Veranlassung der Mutter, es mir im Herbste plötzlich an, auch mich zum Christenthum übertreten zu lassen. Meine erste Empfindung galt bei dieser Nachricht aber nicht der Freude, ein früher so sehnlich erstrebtes Ziel erreichen zu können, sondern nur dem entfernten Geliebten. Ich erinnerte mich der Ansicht, welche mein Vater vor der Taufe der Brüder über den Religionswechsel der Frauen ausgesprochen hatte, ich mußte danach diesen plötzlichen Entschluß, mich Christin werden zu lassen, irgendwie auf Leopold's Einwirkung zurückführen, und während ich meine Zufriedenheit mit der erlangten Bewilligung aussprach, dachte ich eigentlich an nichts weniger, als an irgend etwas Religiöses.

Alle meine Hoffnungen belebten sich neu – alle täuschten sie mich. Leopold hatte gar nichts mit dem Entschlusse meiner Eltern gemein, er lebte nach wie vor bei seinem Bruder, und wenn ich unsere Freundin nach ihm fragte, so erhielt ich den Bescheid, daß seine Gesundheit schlecht sei, daß er seine Eltern im Harz besucht habe, und mit dem Vorsatz, noch in Preußen zu bleiben, [319] hierher zurückgekommen sei. Aber sein Fieber kehre immer wieder, er sei recht krank, und wenn ich gescheut wäre, würde ich ihm längst einmal geschrieben haben.

Bald nachher begann der Religionsunterricht, den mir der treffliche Consistorialrath Kähler ertheilte. Weil ich achtzehn Jahre und somit zu erwachsen war, um der allgemeinen Kinderlehre beizuwohnen, hatte Kähler die Güte, mir besondere Stunden zu bewilligen, und je nachdem es sich mit seinen Vorlesungen an der Universität und mit seinen übrigen Beschäftigungen vertrug, ging ich zweimal in der Woche des Abends zu ihm, wenn er es nicht vorzog, zu mir zu kommen.

Das waren schöne, förderliche Stunden, wenn schon sie, sicherlich gegen die Absicht meines würdigen Lehrers, schließlich nicht dazu beigetragen haben, mich in dem Glauben an die eigentlichen Dogmen des Christenthums zu befestigen. Kähler war ebenso geistreich als durchgebildet, ein kluger, erfahrener und herzenskundiger Mann. Es fällt mir, so oft ich mich seiner erinnere, der Ausspruch des heiligen Augustinus ein: Im Wesentlichen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit, in Allem – Liebe!

Er war streng und fest in seinen Ansprüchen an die Moralität der Menschen, duldsam gegen ihre Ansichten und gütig in all seinem Lehren und Denken. Er hatte sorgenvolle Jahre durchlebt, und doch sah man seiner geistvollen Stirn, seinen blitzenden, hellblauen Augen keine Spur dieser Leiden an. In Königsberg genoß er der größten Verehrung. Seine Collegien waren von den Studenten eben so besucht, als seine Predigten von den Gebildeten aller Stände, und seine Aufklärung und [320] Toleranz waren so anerkannt, daß selbst Juden sonntäglich zu seinen Predigten gingen und zu seinen begeistertsten Verehrern zählten.

Er selbst hielt Verkehr mit mehreren jüdischen Familien, und es war zum Theil sein Beispiel, nicht allein die fortschreitende Aufklärung der Zeit – denn der einzelne Mensch macht und befördert den Fortschritt der Gesammtheit – das allmählig das Verhältniß der Christen zu den Juden zu einem besseren umgestaltet hatte. Grade aber seine Kenntniß des jüdischen Geistes gab ihm auch den Maßstab für dasjenige, was einem außerhalb des Christenthums erzogenen Menschen von den Dogmen desselben zugänglich werden könnte, und was nicht.

Ohne zu ahnen, wie sehr er damit dem Zuge meines Geistes begegnete, wies er mich vornehmlich auf Christus, den durch sein Leben und sein Beispiel die Welt erlösenden Befreier, hin. Die Lehren des Christenthums hatten in den letzten Jahren oft den Gegenstand der Unterhaltung gebildet, wenn Leopold bei uns und der Vater nicht zugegen gewesen war, der solche Erörterung mit einem Gläubigen nicht lieben konnte. Von dem Munde Leopold's kommend, hatte die christliche Liebeslehre eine neue Bedeutung, einen höheren Werth für mich erlangt, und weil er glaubte, hatte ich mir nicht mehr erlaubt zu zweifeln. Ich hatte nicht denken mögen, weil es mir süßer war, mit ihm gemeinsam zu empfinden. So hatte ich mich in aller Unschuld in ein Gewebe von Halbheit und Selbstbetrug eingesponnen, und hatte felsenfest geglaubt, mit meinen Ueberzeugungen mich auf dem Standpunkte zu befinden, den Leopold als Schüler Kähler's einnahm, [321] und den auch dieser natürlich festhielt. Mit gutem Gedächtniß und weiblicher Aneignungsfähigkeit hatte ich mir eine Reihe von fremden Anschauungen erworben, mit denen mein Lehrer zufrieden war. Er hatte offenbar Freude an meinem Bestreben, mich im Christenthume festzusetzen, und von diesem Mittelpunkte aus die Welt und das Wesen der Menschen, unsere Pflichten und unsere Hoffnungen verstehen zu lernen.

Sein Unterricht war kein pedantisches Lehren, sondern ein freies Besprechen, das jede Frage und jeden Einwand von meiner Seite zuließ. Ich war in unserm wie in seinem Hause immer während des Unterrichts mit ihm allein, und er hatte mir ein solches verehrendes Vertrauen eingeflößt, daß ich ihm sicher alle meine Zweifel ausgesprochen haben würde, hätte ich deren in seiner Nähe gehegt. Es giebt aber Menschen von einer solchen geistigen Ueberlegenheit, daß sie uns durch ihr Wort, durch ihren Blick, und vollends durch ihr eigentliches Sein in den Kreis ihres Denkens bannen, und zu diesen gehörte Kähler. Nicht, daß er mich eingeschüchtert, meine Denkfreiheit gehindert hätte. Im Gegentheil! Er fragte mich immer sehr genau, ich antwortete ebenso. Wo ich nach seiner Meinung irrte, klärte er mich mit seiner auf das Wesentliche gestellten Duldsamkeit freundlich und geduldig auf, und so lange ich mit ihm war, ja während der ganzen Monate, welche dieser Unterricht währte, fühlte ich eine wachsende Zufriedenheit, die ich meiner klarer werdenden Erkenntniß des Christenthums zuschrieb, und von der ich dachte, daß Leopold große Freude daran haben würde, wenn er darum wüßte.

[322] Im Februar erklärte mein Lehrer mich genugsam vorbereitet, die Taufe zu empfangen. Der vierundzwanzigste Februar, der Hochzeitstag meiner Eltern, wurde für diesen kirchlichen Akt festgesetzt, und Kähler forderte mich nun auf, ein Glaubensbekenntniß anzufertigen, zu dem ich mich dann in Gegenwart der Freunde bekennen sollte, die ich mir zu meinen Taufzeugen auserwählt hatte.

Indeß kaum setzte ich mich nieder, dieses Glaubensbekenntniß zu schreiben, als ich – nun allein im Nachdenken mit mir selbst, die unwiderstehliche Einsicht gewann, daß ich beinahe Nichts von Alle dem glaubte, was das Wesen des kirchlichen Christenthums ausmachte, was die eigentlichen Glaubensartikel bildet. Ich glaubte nicht an die göttliche Abstammung des Heilandes, ich glaubte nicht an den »einigen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Todten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur rechten Hand Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten.« – Ich glaubte nicht an Unsterblichkeit, geschweige denn an die Auferstehung des Fleisches; ich glaubte weder an eine angeborene Sünde, für die ich, obschon ich sie schuldlos trug, zu büßen hätte; noch an die Möglichkeit von einer Sünde, die ich selbst und frei begangen hätte, erlöst werden zu können durch den Tod des vor achtzehnhundert Jahren schuldlos gekreuzigten Ideals der Menschheit. Ich [323] glaubte auch nicht an die befreiende Kraft des Abendmahls; an Nichts glaubte ich eigentlich von Alle dem, zu dem ich mich bekennen sollte, und ich war darüber in Verzweiflung.

Ich hatte mehrere Tage Zeit für die Ausarbeitung meines Glaubensbekenntnisses erhalten, und jeder hinschwindende Tag steigerte meine Rathlosigkeit. Ich schreckte vor dem Gedanken zurück, feierlich eine Unwahrheit auszusprechen und also bei der Taufe einen Meineid zu schwören. Ich schreckte fast ebenso vor dem Gedanken zurück, dem verehrten Lehrer zu sagen, wie weit ich die Freiheit der rationellen, menschlichen Deutung des Christenthums ausgedehnt hatte, zu der er mir freilich in seinen Erklärungen desselben ein gewisses Recht gegeben. Ich stellte mir vor, welchen Eindruck es auf Leopold machen würde, wenn er erführe, – und er mußte das durch die Kähler'sche Familie nothwendig erfahren – daß ich mich schließlich geweigert, zum Christenthume überzutreten. Alles, was wir miteinander gesprochen, mußte ihm einfallen, Alles, was ich ihm oft gesagt, mußte ihm wie eine absichtliche Lüge erscheinen. Er, mein Lehrer, meine Eltern, Mathilde, sie mußten Alle an mir irre werden, – war ich es doch beinahe an mir selbst geworden!

Wer aber in solchem Falle nicht an sich selbst verzweifeln will, der kommt leicht dahin, an den Andern zu zweifeln, und der Instinkt der Selbsterhaltung trieb mich auf diesen Weg. Ich fing an mich zu fragen, ob mir mein Lehrer denn auch wirklich den letzten inneren Kern seines Glaubens enthüllt habe? Ob es nicht die Geistlichen der christlichen Kirche ebenso mit den Dogmen [324] und mit den Mysterien hielten, wie sie selbst es von den heidnischen Priestern erzählten, welche dem Laien das Symbol statt der Wahrheit gaben. Ich fragte mich, wie es möglich sei, daß ein Mann von so scharfem Geiste wie Kähler, ein Mann von so ernstem Ringen nach Wahrheit wie Leopold, an die Mysterien des Christenthums glauben könnten; und weil mir dies für mich unmöglich fiel, sagte ich mir dreist, daß es auch ihnen unmöglich sein müsse, daß sie sich ein Recht zuerkennen müßten, innerhalb der festgestellten Dogmen sich einen geläuterten Inhalt, innerhalb der Form den reinen Geist zu denken. Eine Religion, die für Alle auf ein Mysterium gegründet war, mußte auch dem Einzelnen sein Mysterium zugestehen, und wenn die Lehrer des Christenthums sich mit einem schweigenden Wissen neben dem ausgesprochenen Bekenntniß abfinden zu können glaubten, warum sollte ich nicht dasselbe thun dürfen, wenn ich mich in der gleichen Lage befand wie sie? – Ich wiederhole es: weil ich auf dem Punkte stand, feierlich eine Unwahrheit auszusprechen, klagte ich die Männer, welche ich verehrte, in meinem Herzen des gleichen Unrechts an!

In diesem Sinne mich beschwichtigend, ging ich daran, mein Glaubensbekenntniß zu verfassen. Es war ein trauriges Muster von schwungvollem Jesuitismus. Ich vermied so viel ich konnte jede positive Erklärung, und bei der Unklarheit, mit welcher junge Mädchen sich im Allgemeinen über abstrakte Gegenstände auszudrücken pflegen, hätte es in manchem andern Falle wohl passiren können. Für mich aber, die schon damals Herrschaft über ihre Gedanken und deren Ausdruck besaß, war es ein reines [325] Product der Berechnung, und als solches mir in späteren Jahren so unheimlich und widerwärtig, daß ich es gelegentlich verbrannte, um dieses Actenstück gegen meine Wahrhaftigkeit nicht immer wieder zu Gesichte zu bekommen.

Der Tag meiner Taufe rückte nun heran, sie sollte, wie die meiner Brüder, wieder in der Kähler'schen Wohnung vollzogen werden, weil man bei uns zu Hause kein Aufsehen damit machen wollte, und es war eine Abendstunde dazu festgesetzt. Ich hatte mir meine Taufzeugen selbst gewählt: ein Paar ältere, meinen Eltern befreundete Männer, die ich schätzte, die Consistorialräthin Kähler, ein wahres Musterbild einer edlen und gebildeten Matrone, und meine Freundin Mathilde. Meine Eltern, meine Brüder waren zugegen, die Taufe, die Confirmation gingen in würdiger Weise vorüber. Meine gute Mutter war sehr erfreut, wieder eines ihrer Kinder dem Judenthume entzogen zu haben; mein Vater sagte: möge es Dir zum Guten gereichen! – Das war Alles.

Als ich nun aber dastand, aufgenommen in den Bund der christlichen Gemeinde, als meine Freundin, meine Brüder mich beglückwünschten und umarmten, als ich selbst mir sagen mußte, daß ich mich mit diesem Schritte in gewissem Sinne Leopold genähert und von den Eltern entfernt hatte – fand ich mich dem Ersteren grade jetzt mit allem meinem Glauben ferner, und meinem Vater mit meinen Ueberzeugungen enger verbunden, als je zuvor. Es war einer der wenigen Momente meines Lebens, in denen ich mich mit mir selbst im Zwiespalt und deshalb sehr unglücklich fühlte.

[326] Ich war mir bewußt, einen Entschluß, an den ich mit gutem Glauben, mit Liebe und mit Zuversicht herangetreten war, mit einer mir sonst fremden Heuchelei ausgeführt zu haben, weil mir der Muth gebrach, einen Irrthum einzugestehen und mich mit Denen, welche ich am meisten liebte, in offenen Widerspruch zu setzen. Ich hatte mich vor mir selbst vergangen aus Menschenfurcht und Liebe, und wenn ich in jener Stunde, die immer einen Abschnitt in meinem Leben bezeichnete, auch keinen andern guten Vorsatz gefaßt hätte, so gelobte ich mir wenigstens, daß es das erste und das letzte Mal gewesen sein sollte, wo ich von dem Gott der Wahrheit und der furchtlosen Wahrhaftigkeit abgefallen wäre. Und ich glaube, daß ich dies gehalten habe. – Die Bedeutung und der Geist des Christenthums als reinste Lehre der Befreiung und der Brüderlichkeit gingen mir aber erst in einer Zeit auf, in welcher die Tage der ersten Jugend schon sehr weit hinter mir lagen.

[327]
19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel

Mit der fortschreitenden Bildung seiner Kinder hatte meines Vaters eigene Bildung nach allen Seiten zugenommen, und so viel auch seine Söhne an Einzelwissen durch ihre Gymnasialbildung vor ihm vorausbekommen konnten, so blieb er ihnen doch nicht nur durch seine Jahre und seine reife Einsicht überlegen, sondern seine Gesammtbildung überflügelte uns Alle, bis wir selbst über die Jugend hinausgekommen waren. An ihm stellte es sich recht deutlich dar, was mir mein späteres Leben so oft bewahrheitet hat: daß nicht das viele Wissen, sondern das rechte Verstehen und das Zusammenhalten des Erlernten mit dem, was wir erleben, die Bedeutung eines Menschen bedingen. Wäre das bloße Wissen, das bloße in sich Aufnehmen ausreichend, Bedeutung zu verleihen, so müßten alle Gelehrten, die des Studirens, und alle die müßigen Männer und Frauen, die des Lesens und Lernens kein Ende finden können, bedeutend sein, während sie doch so häufig nur abstrakt, unpraktisch und für das Leben fast überall nicht zu brauchen sind. Es gehört ein starker Kopf, es gehört große geistige Selbstthätigkeit dazu, viel in sich aufzunehmen. Wem diese Bedingungen fehlen, den lähmt und verdummt das fortwährende [328] in sich Aufnehmen fertiger Resultate, statt ihn zu fördern.

Daß man nicht Zeit haben könne, zu lesen und sich zu bilden, das war Etwas, was der Vater in keinem Lebensverhältniß »statuirte«. Die Menschen kommen zu Nichts, pflegte er zu sagen, weil sie nicht darauf achten, daß wir zwei Ohren, zwei Augen und nur einen Mund haben, damit wir viel sehen und hören und wenig reden sollen. Sie bringen die Zeit mit unnützem Schwatzen hin, und beklagen sich dann über Mangel an Zeit. Wenn sie nur überlegen wollten, was sie von ihrem Plaudern mit Andern haben, würden sie einen Widerwillen dagegen bekommen. Ein Mann, der viel über kleine Tagesereignisse sprechen, den Frauen galante Dinge sagen konnte, war ihm ein Gegenstand komischer Verwunderung. Kam er einmal in einen Kreis, in welchem sich die gewöhnliche Frauenunterhaltung in ihrer fast geheiligten Trivialität breit machte, so war es ein Vergnügen, den freundlichen Ausdruck des lächelnden Erstaunens in seinem edlen Antlitz zu beobachten, mit dem er auf eine solche Gesellschaft wie auf Wesen einer ganz besonderen Species hinsehen konnte.

Er war von einer großen, aber sehr ruhigen Thätigkeit, wobei ihm freilich eine vollkommene Gesundheit zu Statten kam. Im Sommer stand er um fünf Uhr, im Winter um sechs Uhr auf, und hatte dann zwei Stunden, die er, ehe er in sein Geschäft ging, mit Lesen zubrachte. Einige Jahre hindurch hatte er sich hauptsächlich mit historischen Werken beschäftigt. Im Laufe des Tages kamen dann, sobald sich ihm ein Paar Augenblicke des [329] Rastens boten, die Königsberger und Berliner Zeitungen an die Reihe; denn der Vater hatte von jeher eine große Theilnahme für die Zeitereignisse und für die Politik gehabt, und spät am Abend fand er immer noch eine Weile, sich mit den neuen Dichtungen und Romanen bekannt zu machen, an welchen letzteren ihn aber nur, wie er es nannte, »das Mährchen« interessirte, während die eingestreuten Gedanken und Betrachtungen der Verfasser ihm als eine Störung in seiner Unterhaltung lästig waren. Später, als ich selbst Romane schrieb, pflegte er mich öfter scherzend zu fragen, weshalb die Dichter von ihren Romanen nicht zwei verschiedene Ausgaben veranstalteten, die eine mit guten Gedanken für Personen, die sich noch bilden wollten, und die andere ganz einfach und faktisch für ältere Personen, die selbst gedacht hätten und sich nicht mehr zu belehren brauchten.

Das Jahr achtzehnhundert und dreißig steigerte seine Theilnahme an der Politik. Die Namen der großen englischen und französischen Staatsmänner waren uns durch den Vater von jeher geläufig gewesen, und von früh auf hatten wir die Vorzüge der konstitutionellen Regierung rühmen hören. Als sich nun in Frankreich die Bewegung gegen die Reaction der Bourbonischen Herrschaft kund zu geben anfing, lebte und webte der Vater in der Theilnahme für die französischen Liberalen, und die Unterhaltung richtete sich mehr und mehr auf politische Gegenstände hin. Während man in den kaufmännischen Kreisen mit Besorgniß der Möglichkeit entgegensah, daß in Frankreich in Folge der Ordonnanzen eine neue Revolution zum Ausbruch kommen könne, hoffte [330] der Vater entschieden auf diese Umwälzung, und ich erinnere mich noch sehr deutlich, mit welch' leuchtenden Augen er uns die Nachricht von der Juli-Revolution verkündete.

Wir saßen mit der Mutter und ihrem ältesten Bruder, dem Doctor, unter dem Schatten der Markise auf dem Wolme, als der Vater die Stufen zu demselben schnell herauf kam. Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und sagte: die Revolution ist ausgebrochen, Karl der Zehnte ist entflohen, die Liberalen haben gesiegt, der Herzog von Orleans ist zum General-Lieutenant von Frankreich proklamirt, Lafayette, Casimir Perrier, Lafitte haben das Ruder in Händen! Das wird Luft und Bewegung nach allen Seiten schaffen!

Der Vater war freudig erregt und schwungvoll, der Onkel, bedeutend älter als er, schüttelte abwehrend den Kopf. Die frühere Knechtschaft der Juden hatte ihn ängstlich gemacht, er war ein Bürger, wie despotische Regierungen sich ihn wünschen müssen. Er war vollkommen zufrieden, wenn man ihn seine Steuern zahlen, in seinem Berufe arbeiten und in seinem Hause nach Belieben schalten ließ.

Sprechen Sie nicht so laut davon! sagte er zum Vater, was soll Ihnen das? Sie sind ein Mann, der Frau und Kinder hat! Und was geht es uns an? Still sein und die Ohren ankneifen, ist immer das Beste.

Diese letztere Wendung war ein Lieblingsausdruck des Doctors, und dieser Ausdruck war dem Vater womöglich noch fataler, als die Gesinnung, aus welcher er [331] hervorging. Er antwortete entschieden ablehnend, der Onkel entfernte sich, und der Vater ließ sich nun von uns die Zeitungsberichte noch einmal vorlesen, gleichsam um sie doppelt zu genießen, wobei er der ersten französischen Revolution und ihrer Vorkämpfer gedachte, und mit Wärme die Entwickelung einer freien Verfassung auch für Preußen erhoffte. Die Julirevolution war recht eigentlich eine Revolution nach seinem Sinne, denn sie brachte den gebildeten Bürgerstand an das Regiment, sie legte die Gewalt und den Schwerpunkt in die Hände des Standes, zu dem er selbst gehörte, in die Hände der intelligenten Gewerbtreibenden, und darüber hinaus gingen weder die Wünsche, noch die Ansichten des Vaters. Hätte er die Zeit von achtzehnhundert acht und vierzig erlebt, hätte er sich in einer solchen Zeit in der Fülle seiner Kraft befunden, so würde er sich ohne Frage den Bestrebungen der Demokratie auf das entschiedenste abgeneigt bewiesen haben. Er war allen seinen Untergebenen ein gerechter und vorsorglicher Herr, sie blieben lange in seinen Diensten, sie hingen alle an ihm und verehrten ihn, wie auch die Handwerker es thaten, die er beschäftigte. Aber den Gedanken, daß seine Commis, sein Herr Jürgens, sein Herr Ehlers, daß seine Arbeiter, sein Wilhelm und sein Friedrich, mit ihm gleich stimmberechtigt sein sollten, daß seine Faßbinder, seine Weinschröter mit ihm zusammen wählen, daß sie neben ihm Etwas zu sagen haben sollten, würde er als eine Thorheit, ja als eine Beleidigung seiner Würde von sich gewiesen haben. Er war eine durchaus auf das Befehlen und auf die Ausübung der Oberherrlichkeit gestellte Natur. Selbst in den [332] Beziehungen zu seiner Familie war Etwas von dem alten Stammesoberhaupt in ihm zu fühlen, und als Edelmann geboren, würde er ein starrer Aristokrat gewesen sein. Er galt mir in diesem Betrachte immer als ein Beweis dafür, wie schwer selbst Menschen von hellem Geist und edlem Herzen die Schranken der Zeit überschreiten, in welcher sie die Jahre ihrer Kraft verlebten.

Auf mich aber machte die französische Revolution einen tiefen Eindruck, denn sie war nächst dem griechischen Freiheitskampfe, dessen Helden und Thaten mich in der Kindheit doch nur wie märchenhafte Erscheinungen berührt hatten, das erste große Ereigniß, das ich mit deutlichem Bewußtsein, und mit meinem Verständniß darauf vorbereitet, erlebte. Ich kannte die Heldenthaten, welche durch die Jahrtausende für Erlangung einer unterdrückten Freiheit unter den verschiedenen Völkern verrichtet worden waren, ich hatte eine große Begeisterung für die deutschen Freiheitskämpfe gegen die Napoleonische Herrschaft gewonnen, aber mich erfaßte von jeher selbst das Geringere, was in meinem Bereiche, was mir gewissermaßen sinnlich nahe und erreichbar war, viel lebhafter als das Größere, das mir fern ab lag. Da mir nun ohnehin die französische Sprache lieb und geläufig, die französische Literatur theilweise bekannt war, so bildete sich in mir in jener Zeit durch die Theilnahme an der Julirevolution die Theilnahme an den öffentlichen Dingen überhaupt aus, die mich seitdem nicht mehr verlassen hat. Theilnahme an einem Allgemeinen aber haben wir nöthig, um es zu empfinden, wie gering einerseits die Bedeutung des Einzelnen in der Gesammtheit ist, und um uns doch andrerseits [333] auch wieder daran zu erinnern, daß die Masse der Einzel-Bestrebungen allein das Gelingen und den Fortschritt der Gesammtheit möglich machen.

Bei den Männern in unserer Familie fand der Vater mit seiner Freude an der Julirevolution keinen sonderlichen Anklang. Sie standen ihm an Bildung mehr oder weniger fern, und unser Verhältniß unter unsern Anverwandten war überhaupt ein besonderes geworden.

Die Zeiten, in welchen alle Stämme unserer Familie in ziemlich ähnlicher Lage gelebt hatten, waren lange vorüber. Man ging nicht mehr, wie das noch in meiner Kindheit geschehen war, einander nach dem Abendbrode besuchen, um noch bei einem Glase Punsch oder Kalteschaale, je nach der Jahreszeit, eine Stunde zu plaudern, man wohnte nicht mehr so nahe beisammen, auch die Vermögensumstände waren ungleich geworden. Ein Paar von den Schwestern meiner Mutter waren reiche oder doch wohlhabende Frauen, eine Andere hatte es nicht reichlicher als wir, die Schwestern meines Vaters kämpften fortdauernd mit Mangel, da ihre Männer sich nicht aus ihren Verlusten heraufzuarbeiten verstanden; und obschon man sich gegenseitig nach Kräften half und stützte, wurde nicht nur die Lebensweise in den verschiedenen Häusern, sondern auch der Bildungsgrad, die Interessen, der Umgang und die Erziehungsweise der Kinder je nach den Umständen eine verschiedene.

Die Mutter hatte mit ihren Schwestern, von denen nur eine Kinder hatte, so lange sie lebte, ein herzliches Verhältniß, die Tanten schätzten auch den Vater sehr, und hatten uns Kinder lieb; aber die ganze Erziehung [334] und die ganze Richtung, welche uns gegeben worden, wurde fortdauernd kritisirt und als zu vornehm bezeichnet, obschon der älteste Schwager meiner Mutter, ein sehr vermögender und geachteter Mann, bei dem Unterrichte seiner Kinder, die theils älter, theils jünger als ich, mir liebe Genossen gewesen sind, es auch in keiner Weise fehlen ließ. Aber meine Cousinen hatten die Aussicht, einst wohlhabend zu werden, wir hatten diese Aussicht nicht, und so mußte ich von den Onkeln und Tanten oftmals den Ausspruch hören, daß ich weit über unsere Verhältnisse erzogen, daß ich für keinen Mann unseres Standes passen würde, da der Vater ja nur gelehrte und studirte Leute, und gar keine jüdischen jungen Kaufleute bei sich sähe; und als ich dann vollends zum Christenthume übergetreten war und die Verbindung mit Leopold sich zerschlagen hatte, gehörte die Frage, was der Vater einmal mit den sechs vornehm gewöhnten Töchtern anzufangen denke, zu den Hauptunterhaltungen, mit denen meine kinderlosen Onkel und Tanten, wenn ich allein bei ihnen war, mich heimzusuchen pflegten.

An meinen Vater kamen solche Bemerkungen nie heran, denn Jeder wußte, daß er der Mann war, sie so entschieden als möglich abzuweisen, aber die Mutter wußte sich ihrer nicht zu erwehren und wurde dadurch verstimmt. Sie that für uns mit dem unabweislichen Glauben, daß Bildung das höchste Glück sei, was irgend in ihren Kräften stand. Sie wachte über unser äußeres Betragen, über unsere Sprache und Haltung mit so feinem Gefühl und mit solch unermüdlicher Geduld, als wäre ihr in ihrer Jugend Aehnliches zu Theil geworden. Sie konnte jedoch [335] nicht sagen, was sie sich eigentlich von unserer Zukunft für ein Bild machte, und einzugestehen, daß ihr Hauptwunsch darauf gerichtet sei, uns nicht an Juden zu verheirathen, ja uns womöglich aus jedem Zusammenhange mit Juden zu entfernen, das konnte sie nicht über sich gewinnen.

Ich selbst half mir meinen Verwandten gegenüber stets mit Trotz. Ich wußte, daß keine der Anklagen gegen meine sogenannte Verwöhnung und Vornehmheit zutraf, denn von mir allein konnte die Rede sein, da die andern Schwestern sämmtlich noch Kinder waren. Ich nähte, arbeitete, leistete in der Familie grade so viel, wo nicht mehr als alle andern Mädchen, ich schneiderte für das ganze Haus, ich faßte überall an, griff überall zu, wo es in der Wirthschaft nothwendig war; aber weil die Mutter uns gewöhnt hatte, von früh bis spät völlig angekleidet zu sein, und es uns nie zu irgend einer Arbeit »bequem zu machen«, und weil wir Alle zufällig hübsche Hände hatten, denen die Arbeit Nichts anthat, so hieß es dann immer, wir müßten wohl die Hände nicht in kalt Wasser stecken, um sie für das Clavier und die Gesellschaft weiß zu erhalten, und was es an ähnlichen Bemerkungen müßiger Frauen noch mehr gab.

Weit entfernt mich zu vertheidigen, ließ ich mir das gern gefallen. Sagte man mir, ich sei zu vornehm, so versicherte ich, ich würde einmal noch viel vornehmer werden, wenn ich Herr meiner Handlungen wäre. Setzte man mir auseinander, daß ich für keinen Mann unseres Standes passe, so erklärte ich, daß es mir auch nie eingefallen sei, einen solchen jemals heirathen zu wollen. [336] Warfen sie mir vor, daß ich an irgend einem Orte nicht herangekommen sei, sie zu begrüßen, was sie mir als eine Verläugnung auslegten, so lachte ich dazu in einer Weise, die sie deuten konnten, wie sie mochten. Ich hatte ein Vergnügen daran, sie zu ärgern, weil sie mir Unrecht thaten und mir Verdruß machten, und da sie es im Grunde doch gut meinten, da sie mich lieb hatten, so habe ich ihrer in späterer Zeit immer mit einer Art von Beschämung gedacht. Es ist aber ein durchgehender Zug in den jüdischen Familien, daß man, um in ihnen Duldung für sich und seine abweichende Richtung zu erlangen, reich sein muß. Dem reichen Juden verzeiht der ärmere Jude jeden Hochmuth, ja selbst eine Impertinenz; die Selbstachtung und das Streben des Unbemittelten, sich über die bisherigen Schranken der allgemeinen Familienbildung zu erheben, erscheinen ihm dagegen als eine nicht zu billigende Anmaßung, bis man sein Ziel erreicht hat, und der Familienstolz sich dann des Erwerbnisses des Einzelnen als eines Familiengutes bemächtigt, und es als solches schätzt und ehrt, ohne deshalb denjenigen nach Gebühr zu ehren, der sich emporgeschwungen hat. Es mag sich vielleicht auch unter den Deutschen und in den Familien aller Völker ziemlich das Gleiche wiederholen, ich habe es nur bei den Juden ganz besonders vorherrschend gefunden; und ich glaube, daß der oppositionelle Geist einzelner Juden, der zu Zeiten so viel von sich hat reden machen, seine Nahrung nicht nur direkt aus den staatlichen Verhältnissen derselben, sondern ebenso auch aus dem Gemeinde- und Familienleben der Juden gezogen hat, welche denn freilich auch [337] wieder durch ihre staatliche Ausschließung bedingt worden sind.

Damals war es nun, daß die Börne'schen Schriften ein großes Aufsehen zu machen begannen. Seine Auffassungsweise hatte etwas typisch Nationales, das uns Alle mächtig ergriff, seine Ideen hatten etwas Erweckendes, das die erzeugte Erregung nicht mehr zum Einschlafen kommen ließ. Man mußte sich rückerinnern, man mußte vorwärtsdenken! Jede einzelne dieser Börne'schen Skizzen war ein zündender Funke, in jeder seiner Arbeiten fühlte man, mit welcher Kraft der feste Verstand das heiße Herz zu bemeistern strebte, und wie das heiße Herz den Verstand zu seinen Schlüssen und Vergleichen vorwärtstrieb. Auch die kleinste von Börne's Arbeiten war ein Aufruf zur Befreiung von irgend welchen Vorurtheilen, ein Aufruf zur Freiheit überhaupt, und wie die Gedanken darin stark und frisch und muthig waren, so war auch der Styl freier, die Sprache, in welcher er redete, flüssiger und energischer geworden, als man es seit den Zeiten Lessing's erlebt hatte. Mich überraschte nicht nur der Geist der Börne'schen Schriften, sondern seine Sprache machte solchen Eindruck auf mich, daß ich nicht müde wurde, sie mir, rein um des Klanges und der Lebendigkeit willen, immer und immer wieder laut vorzulesen, so daß ich später einzelne Skizzen, wie: den »Roman« und den »Janustempel«, wörtlich auswendig wußte. Was Börne und Heine für die deutsche Sprache gethan haben, und daß sie es hauptsächlich gewesen sind, die ihr die Schnellkraft und Schlagfertigkeit wiedergegeben haben, welche allein sie für die Behandlung der politischen und [338] socialen Debatte geeignet machten, das hat man, dünkt mich, nicht nach Gebühr gewürdigt. Sie prägten die Goldbarren des Sprachschatzes, den Schiller und Goethe aufgehäuft hatten, in Münze um, und machten zum beweglichen und fördernden Gemeingut, was bis dahin schwer benutzbar, sich im ausschließlichen Besitze einiger Wenigen befunden hatte.

Der französischen Revolution folgte die belgische auf dem Fuße, die Welt war in Bewegung gekommen, man hörte unablässig neue, aufregende Nachrichten, und wollte deren immer noch mehr haben. Die Frage: was bringst Du Neues mit, lieber Vater? war Allen, wenn der Vater am Mittag um ein Uhr von der Börse zurückkehrte, sehr geläufig geworden. Wir waren dann meist Alle mit der Mutter in der kleinen Vorstube, die an der Straße lag, beisammen, um gleich in das große Wohnzimmer und zu Tisch gehen zu können, wenn der Vater heimkehrte; und so saßen wir auch im September einmal Alle mit unsern Arbeiten ihn erwartend da. Die Mutter an dem gewohnten Platz auf dem Fenstertritt, ich ihr, wie immer, gegenüber an demselben Fenster, die Schwester an dem andern Fenster, die Kinder und die Brüder in der Stube, als der Vater um die rechte Zeit nach Hause kam, und die Frage: Bringst Du etwas Neues, lieber Vater? ihn wie sonst auch empfing.

Ja! sagte der Vater, ich bringe etwas Neues, aber nichts Gutes, vielmehr etwas recht Trauriges!

Erschreckt, weil solche Anmeldungsweise gar nicht des Vaters Art war, sahen wir zu ihm empor, seine Mienen verkündeten, daß er selbst sehr betroffen war, und mit [339] bewegter Stimme sagte er: ich habe eben erfahren, daß Leopold in Braunsberg gestorben ist.

Alle schwiegen, Alle sahen nach mir, und ich saß so ruhig da, wie kaum einer der Andern. Gehört hatte ich ganz deutlich, was der Vater gesagt hatte, verstanden hatte ich es auch, ich hatte auch seit längerer Zeit davon sprechen hören, daß Leopold's Fieber immer wiedergekehrt sei, und daß man für seine Brust zu fürchten anfange; aber kräftig und lebensvoll, wie ich ihn gekannt, hatte ich ihn mir eigentlich kaum krank, geschweige denn in irgend einer Gefahr zu denken vermocht, und daß er todt sein könne – das faßte ich nicht. Ich war wie betäubt, ich empfand Nichts als eine Art innerlicher Lähmung.

Die Mutter fragte um die nähern Umstände, mein Bruder, der Leopold sehr lieb gehabt hatte, war erschüttert, die Schwestern alle sprachen freundlich und bedauernd von ihm, ich saß immer fort. Endlich sollte man zu Tische gehen, und die Eltern fragten mich, ob ich vielleicht in meiner Stube essen wolle? Ich lehnte das ab und ging mit den Andern ruhig zu Tisch. Und so sonderbar ist unser Wesen organisirt, daß ich mich heute noch der Speisen erinnere, welche ich damals genoß, daß ich mich erinnere, wie der Vater während der Mahlzeit den Handlungsgehilfen die Nachricht von Leopold's Tode mittheilte, während ich doch die ganze Zeit wie empfindungs- und gedankenlos dabei war.

Nach der Mahlzeit ging ich gewöhnlich in meine Stube. Ich that das auch an dem Tage. Die Schwestern und die Brüder waren in ihre Schule und in ihr Gymnasium [340] gegangen, ich saß an dem Fenster, an dem ich immer gesessen, wenn Leopold früher Mittags mit seinen Schülern die Straße hinabgekommen war, mich zu sehen und zu grüßen. Heute kam er nicht – und er konnte nun auch nie wieder kommen!

Das sagte ich mir immer, weil ich gern hätte weinen mögen, weil ich gern hätte aus der Leblosigkeit herauskommen mögen, die mich befallen hatte; aber es half mir Nichts. Ich konnte nicht weinen, und mitten aus der Erstarrung rang sich in mir eine verzweiflungsvolle Reue darüber empor, daß ich blind und willenlos wie eine Maschine den Befehlen meines Vaters Folge geleistet, daß ich nicht den Vorstellungen meiner Freundin gefolgt war, und ihn nicht wiedergesehen hatte, als er mich wiederzusehen verlangt. Ein nicht zu bannendes Schuldbewußtsein, ein Zorn gegen meinen Vater kamen als neue quälende Gefühle hinzu, und dabei immer das Gefühl der Erstarrtheit. Es waren ein Paar Stunden, deren ich noch mit Entsetzen gedenke.

Der Besuch einer Freundin, die Leopold's Tod ebenfalls erfahren hatte, riß mich aus der Lähmung meines ganzen Wesens heraus. Ihr bleiches Gesicht, die Zärtlichkeit, mit welcher sie mir um den Hals fiel, ihre Thränen riefen die meinen hervor, ich weinte, ich fing an zu sprechen, ich konnte fühlen, was ich verloren hatte – und ich war noch so jung, daß ich glaubte mit allen Wünschen und Hoffnungen für das Leben fertig zu sein. Das Unglück, das die Jugend trifft, wirkt darum so stark, weil sie die herstellende Kraft des Lebens noch nicht kennen gelernt hat, und also jeden Verlust wie einen [341] unersetzlichen empfindet, jede zerstörte Hoffnung als die einzige und letzte anzusehen geneigt ist. Es ist deshalb in diesem Sinne sehr falsch, die Jugend als die Zeit des Muthes und der Hoffnung zu bezeichnen, welche Beide weit mehr eine Frucht der Erfahrung und ein Erwerbniß der reifen Jahre sind.

Weder mein Vater noch meine Mutter sprachen nach jenem Tage je wieder eine Sylbe über Leopold zu mir, noch ich zu ihnen. Meine herangewachsenen Geschwister und ein Paar von meinen Freundinnen trösteten mich so gut sie konnten, und boten mir die Möglichkeit, von ihm zu reden. Wie er die letzten Zeiten seines Daseins zugebracht, wie er gestorben war, darüber habe ich Nichts erfahren. Es blieb mir dunkel und geheimnißvoll. Nur mein Verlust war mir klar. Ich hatte ein ganzes Liebesleben durchlebt und durchlitten, ohne den Gegenstand desselben je anders als im Beisein meiner ganzen Familie gesprochen zu haben; ich hatte eine Zukunft sich vor mir aufbauen sehen, ohne andere Basis, als die des Glaubens an den Geliebten, und sie war zusammengestürzt, ohne daß ich begreifen konnte, woher der vernichtende Stoß gekommen. Ich stand an einem Grabe, und durfte kaum zeigen, daß ich trauerte. – Eines aber hatte ich gewonnen – die Kraft innerlich zu erleben, ohne nach außen viel davon zu verrathen, die Kraft mich auf mich selbst zu stellen und mich in mich selbst zusammen zu fassen. –

Viele Jahre später, als ich einmal mit meinem Freunde Johann Jacoby aus Königsberg über diese Aufzeichnungen aus meinem Leben sprach, kamen wir auch auf Leopold zu reden, der sein Freund gewesen war. Aber auch ihm [342] war das Verhalten desselben ein Räthsel geblieben, und als ein solches hat die Erinnerung an diese Jugendliebe mich durch mein Leben begleitet. Ein Brief, den Leopold wenig Monate vor seinem Tode an Johann Jacoby geschrieben, und den dieser mir neuerdings einmal gesendet hat, als er ihm durch Zufall in die Hände fiel, war die erste Handschrift, die ich jemals von Leopold gesehen habe. Er war einige Monate vor seinem Tode aus seinem Vaterhause im Harz datirt, und enthielt die Mittheilung, daß er trotz des Wunsches seines Vaters, der den Sohn zum Adjunkten verlangte, nach Preußen zurückkehren und in Königsberg ein Hilfslehreramt an einem der Gymnasien antreten wollte. Ein neues Erkranken hielt ihn auf dem Wege im Hause seines Bruders fest, und dort ist er gestorben.

Personen meines damaligen Umgangskreises haben, als ich später dichterisch zu schaffen angefangen hatte, in meinem zweiten Romane »Jenny« eine Geschichte dieser Jugendliebe zu finden geglaubt; indeß wer meine jetzige Erzählung und jene Dichtung vergleicht, wird es herausfühlen, daß in »Jenny« weit mehr meine religiösen Erlebnisse und die Erfahrungen, welche ich über die sociale Stellung der Juden zu machen Gelegenheit hatte, ihre poetische Abspiegelung und Verklärung gefunden haben, als meine Herzenserlebnisse. Ich war nicht reich wie Jenny, ich hätte dem Geliebten gar keine Opfer zu bringen gehabt, und nicht nur würden meine Eltern zufrieden gewesen sein, mich einem jungen Theologen zu verheirathen, sondern ich selber würde es, ganz abgesehen von meiner Neigung für Leopold, damals als ein großes Glück betrachtet haben, die Frau eines Landpredigers zu werden; [343] und von des Candidaten Reinhold eigensüchtigen Wunderlichkeiten war in dem schönen und einfachen Charakter Leopold's nicht eine Spur zu finden. Ich habe überhaupt niemals in meiner ganzen dichterischen Thätigkeit ein reines Portrait von irgend Jemand dargestellt, und niemals ein wirklich erlebtes Faktum in seiner Nacktheit wiedergegeben, wenngleich ich hie und da eine einzelne Scene, einen Moment, einen episodischen Vorgang nach meinen Erlebnissen oder nach Erfahrungen an Fremden, hingestellt habe. Ich meine, so wird es auch den Meisten ergangen sein, die eine selbstständig schöpferische Kraft in sich empfinden.

Der Dichter arbeitet in gewissem Sinne genau so, wie es der Maler und der Bildhauer thun, nur daß er nicht, wie diese, seine Studien im Momente auf dem Papiere festhält. Ich sah einmal in dem Atelier von August Schenk von Holstein in Paris, in der großartigen Skizze zu einer Cimbernschlacht, einen jungen Helden, der sich auf seinen Schild stützte, und dessen Haltung etwas ungemein Majestätisches und Edles hatte. Wissen Sie, wo ich den Burschen her habe? fragte der Künstler; das ist ein Fischer, den ich einmal, einer Poissarde gegenüber, sich genau so auf seinen geleerten Fischkorb stützen sah. Aehnliche Bemerkungen über das, was sie anregte und zeugend in ihnen wirkte, habe ich vielfach von Künstlern gehört, und gleiche Erfahrungen an mir selbst gemacht.

Wer zum Beobachten geneigt ist, nimmt unwillkürlich und fortwährend in sich auf. Wie sich uns Physiognomien einprägen, denen wir vielleicht nur einmal im Leben [344] flüchtig auf einer Eisenbahn begegnet sind, daß ihr Bild uns im Gedächtniß bleibt, ohne daß wir wissen, wer sie trägt, ohne daß wir je eine Sylbe mit ihren Trägern gewechselt haben, so prägen sich uns eine Masse von Thatsachen, von Charakterzügen, von Bemerkungen ein, aus denen sich jener geläuterte Vorrath von Erkenntniß und Einsicht bildet, den wir Erfahrung nennen. Aus der Fülle der beruhigten Erfahrung allein läßt sich aber ein reines Kunstwerk erschaffen.

Müssen doch der Maler und der Bildhauer bis zu einem gewissen Grade selbst von dem Portrait das ganz Zufällige in der Erscheinung fern halten, um das geistige Bild der Person rein darzustellen. Wollen sie aber eine selbstständige Gestalt erschaffen, so darf ihnen die trockene Naturstudie vollends nicht maßgebend sein. Ganz dasselbe gilt in noch höherem Grade von dem Dichter. Was er dem Leben ohne Läuterung und Idealisirung nachschreibt, wird kleinlich und entstellt, wie das Bild des Daguerreotyps. Was er selbstthätig aus dem angesammelten Schatze seiner Erkenntniß erzeugt, das wird, je nach seiner eignen Begabung, lebensfähig und wahrhaftig sein, und wenn es dies Beides in seinen ursprünglichen Elementen ist, so gewinnt es zwingende Kraft und Gewalt selbst dem Dichter gegenüber, daß er nur weiter schaffen kann innerhalb der Grenzen jenes ersten Erzeugens, und daß ihm als unwahr widersteht, was der innern Wahrhaftigkeit jenes hingestellten Charakters nicht entspricht. Es ist mir dabei oft das Bild des Goethe'schen Zauberlehrlings eingefallen. Sie heraufzubeschwören, die Geister, haben wir die Macht; aber sind sie einmal da, so hat man sich zu [345] wehren, daß sie nicht über uns Herr werden, und nur die Vernunft und die Gerechtigkeit des Dichters bannen sie in ihre Grenzen.

Ich komme auf das, was Wahrheit und was Dichtung in dem Dichter und im besondern in meinen Arbeiten ist, wohl später noch zurück, wenn ich mit diesen Aufzeichnungen bis zu dem Zeitpunkt gelangen sollte, in dem ich meine dichterische Thätigkeit begann.

[346]
20. Kapitel
Zwanzigstes Kapitel

Noch waren im Herbste dieses Jahres die Menschen mit den Ereignissen und Folgen der französischen und belgischen Revolution beschäftigt, als Gerüchte über eine große Aufregung der Gemüther in Polen sich bei uns in Preußen zu verbreiten begannen, und das Fortschreiten der Cholera gegen die Grenzen des europäischen Rußlands hin schwere Besorgnisse einzuflößen anfing.

Von den Zuständen in Polen, von dem Drucke, mit welchem das russische Gouvernement auf dem Lande lastete, von den einzelnen schreienden Ungerechtigkeiten, von der launenhaften und bizarren Tyrannei, in welcher der Großfürst Constantin sich gefiel, wußte man, so sehr der Verkehr zwischen Preußen und Polen auch erschwert war, in unserer Heimath doch mehr als genug, um den Widerwillen der Polen gegen die russische Herrschaft begreiflich zu finden.

Mein Vater selbst hatte seiner Geschäfte wegen mehrmals einen längern Aufenthalt in Warschau gemacht, und die Stadt, und das gesellige Leben in ihr, und der schwungvolle Charakter ihrer Männer und Frauen hatten ihm zugesagt. Wir Alle hatten seit unserer Kindheit viel Polen kennen lernen, da ihrer alljährlich eine Anzahl [347] mit meinem Vater in Geschäftsverbindung standen, und es hatten sich unter diesen Gutsbesitzern, welche in den Wittinnen ihre Landesprodukte zum Verkaufe brachten, häufig schöne und angenehme Männer befunden. Die Mehrzahl von ihnen verstand das Deutsche gar nicht, einige radebrechten es nothdürftig, aber Alle sprachen mehr oder weniger geläufig französisch; und da von diesen Gutsbesitzern und Kaufleuten uns häufig die Frauen ihrer Familie empfohlen wurden, wenn dieselben auf ihren Reisen nach Deutschland Königsberg berührten, oder wenn sie in eines der preußischen Ostseebäder gingen, so hatten wir oftmals polnische Gäste im Hause, deren Unterhaltung dem Vater und mir zufiel, weil Niemand im Hause des Französischen mächtig war, als wir beide.

Ich hatte auf solche Weise eine gute Uebung in dieser Sprache gehabt, und eine Vorliebe für die Polen gewonnen. Die Männer sowohl als die Frauen hatten leichtere Umgangsformen, als ich sie bis dahin kennen lernen, und eine Wärme des Ausdrucks, eine Begeisterungsfähigkeit, die für mich etwas Hinreißendes besaßen. Sie hatten mich auch gern, weil mein Antheil für sie und meine Lebhaftigkeit ihnen zusagten, und eine ältere polnische Dame, die ihres kranken jüngsten Töchterchens wegen einen langen Aufenthalt in Preußen machte, gewann auf mich dadurch einen Einfluß, daß sie mich bemerken machte, wie vorurtheilsvoll und hart ich in meinen Urtheilen über andere Frauen und Mädchen, und wie prüde ich selbst sei. Sie war eine ernste Frau, eine treffliche Mutter, und wie ihre Landsleute sagten, die mir später von ihr sprachen, von einem tadellosen Ruf. [348] Es fiel mir daher auf, als sie sich einmal in einer Gesellschaft im Seebade Kranz, wo ich während einer Woche ihr Gast war, sehr freundlich der Frau eines Königsberger Professors näherte, und mit ihr sprach, welche von den übrigen Damen mit großer Geflissenheit gemieden wurde, weil man sie als eine der frühern Maitressen des Prinzen August bezeichnete. Ich fragte sie am Abende, ob sie das nicht wisse? – »O ja! versetzte sie, man ist sehr beeifert gewesen, es mir zu erzählen. Aber die Frau ist hier um sich zu erholen, sie giebt keinen Anstoß irgend einer Art, sie war neulich am Strande freundlich gegen meine Tochter, und es ist unbarmherzig, sie so ohne Noth an eine Vergangenheit zu erinnern, die sie vielleicht selbst gern vergessen möchte. Die Tugend der deutschen Frauen muß sehr zerbrechlich sein, daß sie fürchten, sie könne durch die bloße Begegnung mit einer armen, verirrten Person gleich Schaden leiden!« –

Ein andermal, als wir wieder auf dies Gespräch zurückkamen, und ich ihr erklärte, wie strenge man in meinem Vaterhause darauf sehe, mich auch den Schein einer Unvorsichtigkeit vermeiden zu lassen, warf sie flüchtig die Bemerkung hin: »man wird dahin kommen, Sie zu einer völligen Prüden zu machen, und das wäre nicht gut. Man thäte besser, Ihnen zu sagen, daß es Lagen giebt, in denen auch Frauen es nicht scheuen dürfen, den Anschein des Unrechts auf sich zu nehmen, wenn es einer großen Ueberzeugung oder einem großen Zwecke gilt. Der Ruf einer Frau ist etwas sehr Wichtiges und Beachtenswerthes, aber er ist nicht das letzte Kriterium für ihren Werth! Und bedenken Sie es, wie leicht Sie [349] es haben, zwischen Vater und Mutter auf der ebenen Straße fortzugehen. Was wissen Sie, was wissen die andern Frauen, welche sich hier von der armen Professorin so richterlich abwenden, von den Wegen ihrer Vergangenheit? Aber es ist der Protestantismus, der die deutschen Frauen so unbarmherzig macht. Der Protestantismus kennt die Vergebung der Sünde (die Absolution) nicht, und hat kein Mitleid mit dem Sünder. Nur im Katholizismus liegt die Liebe, liegt die vergebende Barmherzigkeit.«

Das waren Alles neue Begriffe für mich. Nicht, daß ich nicht ähnliche Aussprüche gelesen hatte; aber die Wirkung eines in Thätigkeit gesetzten Grundsatzes ist eine ganz andere, als die der geschriebenen Doktrin, und die Worte und die Handlungsweise jener Polin wirkten um so lebhafter in mir fort, je mehr ich gewohnt war, Alles was mir der Art entgegenkam lange und still in mir zu verarbeiten. Ich bin weder in der Jugend, noch in späterer Zeit im Stande gewesen, große fertige Systeme in mich aufzunehmen, oder große, eigentliche Lehrbücher mit Vortheil zu benutzen, weil ich mir das Fremde immer selbst vollständig zum Eigenen machen mußte, ehe es irgend eine Bedeutung für mich gewinnen, oder mir gar brauchbar werden konnte. Ich glaube auch, daß die selbstthätige Entwicklung eines einzigen Satzes dem Menschen, der nicht mit außerordentlichen Gaben versehen und nicht förmlich für das studirende Erkennen fremder Theorien geschult ist, viel mehr Nutzen bringt, als das massenhafte Kennenlernen des von Fremden Gedachten. Mich haben systematische Lehrbücher über Theorien fast immer nur [350] erschreckt und verwirrt, denn sie waren mir meist zu mächtig; aber das einzelne lebendige Wort oder der Anblick eines bestimmten Thun's brachten mir Nutzen und förderten mich.

Daß eine Frau wie diese Marschallin von Raës ihr Vaterland liebte, daß sie die Unterdrückung desselben beklagte, verstand sich von selbst. Aber sie hatte natürlich mit mir nie ein Wort von der Möglichkeit seiner nahen Befreiung gesprochen, während ich doch wußte, welchen Antheil sie an den Revolutionen im Westen nahm. Nur als sie Königsberg verließ, und davon sprach, im nächsten Jahre wiederzukehren, – was nicht geschah – äußerte sie die Ansicht, daß es dann hoffentlich leichter sein werde, Pässe in das Ausland zu erhalten. Auf unsere Frage, worauf sich diese Erwartung gründe, versetzte sie: »auf alle die Umwälzungen, welche dies Jahr gebracht hat. Man ist sehr unglücklich bei uns, und das Unglück giebt Entschlossenheit und Muth.«

Weiterhin gegen den Herbst brachten die polnischen Juden, die Hauptvermittler des Handels zwischen Polen und Preußen, so oft sie über die Grenze kamen, die Nachricht, daß es »unruhig« in Polen sei. Endlich, im Anfang des Dezember, kamen die ersten Nachrichten von der Revolution in Warschau nach Königsberg.

Das berührte uns nun freilich näher, als die Revolutionen im Westen, und an ungewöhnliche Ereignisse nicht eben gewöhnt, ging man im Fürchten und im Hoffen weiter, als die Wahrscheinlichkeit es zu thun berechtigte. Für den Kaufmannsstand, sofern ihn kein höheres Interesse beschäftigte, stand die Frage, welchen [351] Einfluß die Revolution auf die Grenz- und Zollverhältnisse haben werde, in erstem Gliede, und das Bedürfniß so der kriegführenden Polen wie der Russen machte es bald nothwendig, die Einfuhr nicht wie bisher zu kontrolliren. Ich erinnere mich nicht, ob von polnischer Seite die Grenze förmlich geöffnet wurde, oder ob man dort wie auf den russischen Stationen nur durch die Finger sah, aber der Handel in Königsberg wurde plötzlich so lebhaft, daß die Stadt im Winter so voll von polnischen Juden war, als es sonst nur im Sommer der Fall zu sein pflegte, und es war bei uns damals mit Allem und an Allem Geld zu verdienen.

Solch eine Gelegenheit wußte denn auch der Vater zu benutzen. Die Arbeit in den Weinlägern ging buchstäblich mitunter Tag und Nacht in einem Zuge fort. Die Nächte hindurch spülte man in unserm Hofe Fässer und Flaschen, und da es kalt war, mußten Nachts von uns Kaffee und Biersuppen gekocht werden, die Arbeiter wach und frisch zu erhalten. Mein Vater war viel auf Reisen. Er fuhr nach Danzig und Stettin, um aus den dortigen Niederlagen seine Vorräthe zu vergrößern, er ging ein paar Mal nach den verschiedenen Grenzstationen, um die Beförderung der Waaren zu überwachen, und je weiter die Revolution in Polen sich ausbreitete, um so lebhafter wurde auch der Geschäftsverkehr in unsrer Stadt, ja selbst im Hause wurde von der Familie, gegen alle sonstige Gewohnheit, im Erwerb geholfen.

Mein Vater hatte nämlich von jeher den Wunsch gehabt, seinen Kindern irgend welche praktischen Fertigkeiten für den Erwerb anzueignen, und wie er mich, bald nachdem [352] ich aus der Schule gekommen war, im Schneidern und in allen Arten von Stopfereien unterrichten lassen, so war immer davon die Rede gewesen, daß die Brüder ein Handwerk erlernen sollten. Man hatte gedacht, sie zu einem Buchbinder oder Glaser zu schicken. Indeß die Paar freien Stunden, welche den beiden Gymnasiasten übrig blieben, würden zur Erlernung dieser Handwerke nicht ausgereicht haben, und so hatte der Vater grade in dem vorhergehenden Frühjahre die Gelegenheit benutzt, sie durch einen Franzosen, der zufällig durch Preußen gereist war, in der Destillation von Liqueuren, von Eau de Cologne und von Parfümerien unterrichten zu lassen, die auf kaltem Wege fabrizirt wurden.

Es war dazu eigens einer der Waarenräume, die sich hinter unsern Wohnstuben in dem Hause befanden, eingerichtet worden, und unter der Anleitung von Herrn Jeannillon hatten die Brüder und die älteste meiner Schwestern, die sehr gewandt und zu allen solchen Beschäftigungen äußerst anstellig war, in den Abendstunden Branntwein entfuselt und mit Beinschwarz und ätherischen Oelen herumhandtiert, bis die Fabrikate, die sehr gut ausfielen, zu Stande kamen. Nach Jeannillon's Abreise war hie und da unter des Vaters Leitung wieder einmal solch ein kleiner Posten Liqueure gemacht worden, um die drei jungen Fabrikanten in Uebung zu erhalten, und unser Geschäftsreisender hatte sie, wenn er seine Tour durch die Provinz machte, mit Vortheil abgesetzt. Jetzt, nach dem Ausbruche der Revolution, da in Polen alles Verkaufbare Gewinn versprach, wurde auch diese Fabrikation in weit größerem Maßstabe in Angriff genommen. [353] Es war artig zu sehen, mit welchem Eifer die beiden Primaner und die Schwester, wenn sie ihre Studien und Unterrichtsstunden beendet hatten, in ihr Laboratorium eilten, und dann schwarz wie die Kohlenbrenner, aber seelenfroh daraus hervorgingen, weil sie dem Vater hatten nützlich sein können. Die Mutter, ich und die Kinder, hatten nur das leichte Amt dabei, die Etiketts zu schneiden und auf die Flaschen zu kleben, und auf solche Weise wurde neben den großen Geschäften meines Vaters noch ein ganz ansehnliches Nebengeschäft gemacht, das hauptsächlich auf der Thätigkeit der drei Geschwister beruhte. Ein andermal, gegen das Frühjahr hin, kaufte der Vater eine ganze Ladung Apfelsinen, die bei uns im Hause umgepackt, einzeln nachgesehen und frisch eingewickelt werden mußten, und der Ertrag dieses Geschäftes wurde der Mutter, die wie wir Alle dabei geholfen hatte, zur Anschaffung eines Atlas-Mantels überwiesen, da sie seit den Jahren, in welchen der Vater seine Zahlungen eingestellt, sich jeder Art von Luxus enthalten hatte. Der Vater verfuhr in diesem Betrachte so consequent, daß, als mein ältester Onkel mir zum fünfzehnten Geburtstage ein schwarzseidnes Kleid schenkte, es ein Paar Jahre liegen bleiben mußte, weil der Vater unserer Mutter keine seidenen Kleider geben konnte, und es mir also nicht angestanden haben würde, mit einem mir geschenkten seidenen Kleide Parade zu machen. Später, als der Vater selbst uns Allen wieder seidene Kleider und einen verhältnißmäßig großen Toiletten-Luxus gewähren durfte, haben die seidenen Kleider, welche meine Verwandten mir hie und da zum Geburtstage schenkten, keine Hindernisse erfahren, [354] und mir, die den Putz liebte, großes Vergnügen gemacht.

Je weiter die Revolution in Polen um sich griff, um so lebhafter wurden Handel und Gewerbe in Königsberg, und eben der vorhin erwähnte Mangel an Transportmitteln gab bei uns im Haushalt oft zu komischen Dingen Veranlassung. War der Vater um Fuhrwerk in Verlegenheit, so sendete oder ging er auf den Markt, um nachzuhören, ob Bauern von der preußischen Grenze da wären, und diesen wurde dann, gleichviel ob ihre Produkte für uns brauchbar waren, oder nicht, ihre ganze Ladung in Bausch und Bogen abgekauft, und sie selbst noch an demselben Tage mit einer Rückfracht von Weinen und andern Dingen nach den Grenzstädten geschickt, in denen die Spediteure die Waaren zur Weiterbeförderung in Empfang nahmen. Dadurch befanden wir uns je nach der Jahreszeit bald im Besitz von so viel Zwiebeln, als wir in Jahr und Tag nicht verbrauchen, von weit mehr Eiern, als wir irgend benutzen konnten, und einmal wurde unser Hühnerstall ganz plötzlich mit nahezu achtzig Hühnern bevölkert, die dann in aller Eile aufgegessen werden mußten, weil der Stall so viel nicht halten konnte.

Zu dem, was man sonst ein gleichmäßiges ruhiges Leben nannte, kamen wir in dem Jahre nicht. Es gab immer neue Arbeiten, immer neue Störungen. Aber wir sahen den Vater sehr heiter, weil seine Thätigkeit Gewinn brachte, und das machte auch die Mutter froh, die sich dabei gern der »Kriegszeiten von achtzehnhundert zwölf und dreizehn« erinnerte, in denen das Treiben noch ein ganz andres gewesen war. Dazwischen kamen dann ab [355] und zu mit der Aussicht auf größere Sorgenfreiheit auch einzelne Annehmlichkeiten, die man lange entbehrt hatte, und die man nun um so mehr genoß. Es wurde an den Feiertagen wieder Wein auf den Tisch gebracht, was bis dahin, obschon der Vater Weinhändler war, nicht geschehen war. Nur die Eltern tranken bei dem zweiten Frühstück ein Glas Wein, im Uebrigen genoß der Vater, der persönlich ganz bedürfnißlos war, und weder rauchte, noch schnupfte, noch Karten spielte, nur Wasser. Was aber noch größeres Wohlbehagen als der Wein erregte, der eigentlich nur als Symbol besserer Zeiten Werth für uns hatte, das war die erste Spazierfahrt in einem Miethswagen, den man vor die Thüre kommen ließ.

In meiner Kindheit war eine Spazierfahrt am Sonntag eine feststehende Sache, und die sämmtlichen Kutscher des alten Fuhrherrn Stange unsere guten Freunde gewesen. Mit dem Vermögensverluste meines Vaters hatte das aufgehört, und es waren neun Jahre vergangen, in denen das höchste Vergnügen darin bestanden hatte, einmal mit einem Stellwagen vom Thore aus auf das nächste Dorf hinaus zu fahren, wobei dann der Heimweg vom Thore in die Stadt zurück, mit den müden, schlaftrunkenen Kindern, die man gelegentlich auch tragen mußte, sehr beschwerlich war. Nun kam eines Abends der Vater im Sommer von einunddreißig nach der Arbeit aus dem Comptoir herauf. Man hätte gern noch Luft geschöpft, aber zu einem Spaziergang war er zu müde, und plötzlich sagte er: wir wollen eine Stunde fahren, ich werde einen Wagen holen lassen.

Die Freude, welche mir diese Worte machten, ist mir [356] noch gegenwärtig. Es war wie eine Erlösung und wie eine Verheißung, es war etwas Feierliches für mich, und obschon weiter kein Wort darüber gesprochen wurde, haben gewiß alle die Meinen es ebenso empfunden. Neben der Wonne, daß der Vater sich dies Vergnügen wieder gönne, daß die Mutter, der frische Luft so nöthig war, und die keine Kraft zu weiten Wegen hatte, nun wieder fahren könne, neben dieser verständigen Freude hatte ich auch eine kindische Genugthuung unsern Nachbarn gegenüber, als ich dachte, daß nun auch bei uns wieder ein schöner gelber Wagen vorfahren würde. Ich meinte, sie müßten es dem Hausknecht ansehen, daß er fortginge, einen Halbwagen zu bestellen, und als der Wagen nun wirklich vorfuhr, als wir Alle ruhig im Zimmer warteten, bis die Eltern fertig waren, damit man uns die freudige Ungeduld nicht so anmerke, und als wir dann nun wirklich durch die Langgasse fuhren, der Vater und die Mutter im Fond, ich, die Schwester und der eine Bruder auf dem Rücksitz, der andere Bruder bei dem Kutscher auf dem Bock, überall die Bekannten grüßend, und in der That über unsern ungewohnten Luxus von ihnen angestaunt, da – ja da waren wir, glaube ich, Alle ebenso glücklich als ich.

Solch ein Hinblick auf die Nachbarschaft, solch eine Werthschätzung eines kleinen Ereignisses, mag Manchem kleinlich scheinen, aber das Leben setzt sich eben nur aus kleinen Ereignissen zusammen, und wem die volle Empfindung für das Kleine fehlt, der wird überhaupt keinen großen Gewinn und Genuß von seinem Leben haben. Man braucht nicht in das Kleinliche zu verfallen, weil [357] man sich des Kleinen und seiner einstigen Bedeutung für uns erinnert, und bei der Beurtheilung solcher Empfindungen muß man es nothwendig in Anschlag bringen, wie verschieden in großen und in kleinen Städten der Zusammenhang der Menschen ist. In einer großen Stadt hat man in der Regel keine Nachbarn, selbst nicht an den Personen, mit denen man denselben Flur bewohnt. In Königsberg waren die Einwohner unserer ganzen Straße unsere Nachbarn, und unsere Nachbarn waren mehr oder weniger die Welt für uns, wenngleich dasjenige, was fern von uns in der großen weiten Welt geschah, uns darum nicht weniger berührte. Man kann sich der ungestörten Verlorenheit in einer großen Stadt zu Zeiten sehr erfreuen, und kann zu andern Zeiten sich doch daran erinnern, wie anders es war, als man von seiner Straße noch sagen konnte: das ist meine Welt!

An dem Kriege und an dem Schicksale der Polen nahm man in Preußen großen Antheil, obschon die sogenannte preußische Neutralität den Russen vielfach Vorschub leistete. Das hielt uns jedoch gar nicht ab, Charpie für die Polen zu zupfen und ihren Siegen mit Begeisterung zu folgen, ihre späteren Niederlagen zu betrauern. Die Bilder von Chlopicki, Lelewel, Dwernicki, Skrzynecki, und vor allen das Bild der heldenhaften Gräfin Cäcilie Plater waren in Aller Händen, überall hörte man die polnischen Lieder und Märsche singen und spielen, und wie sehr auch später ein Theil unserer preußischen Landsleute sich mit ihrem Antheil von dem Schicksal, d.h. von der Befreiung Polens abwendete: damals wünschte die bei weitem größte Mehrzahl ihnen ganz entschieden [358] den Sieg. Man freute sich an dem Gedanken, die russische Tyrannei nicht mehr zum Grenznachbar zu haben, man erzählte es sich mit Vergnügen, wie der verhaßte und gefürchtete Großfürst Constantin inmitten seiner russischen Soldaten eigentlich dem unbesonnenen Wagniß einiger jungen Patrioten erlegen sei; und obschon die älteren und erfahrenern Personen unserer Bekanntschaft bald bedenklich auf die Uneinigkeit blickten, die sich in den Unternehmungen der Polen zeigte, und das Wort von der Zerfahrenheit der polnischen Reichstage als böses Omen bald zu hören war, so erregten doch die Heldenthaten der Einzelnen und der Muth der Truppen im Allgemeinen eine große Bewunderung selbst bei Denen, die an dem Gelingen des Unternehmens zweifelten.

In der Mitte des Sommers, als der Stern der Polen schon tief im Sinken war, mich dünkt, es muß Ende Juni oder Anfangs Juli gewesen sein, brach in Königsberg zum ersten Male die Cholera aus, und zwar in einem der Häuser am Dey'schen Garten, der einst der Tummelplatz unserer Kinderspiele gewesen war.

Man hatte dem Heranrücken der Plage seit Jahr und Tag mit wachsendem Schrecken entgegengesehen. Städte im fernsten Rußland, an die man sonst nie gedacht, hatten für uns eine Bedeutung bekommen, je nachdem die Cholera sie berührt oder übersprungen hatte, und das Entsetzen vor der Krankheit war noch durch die drohende Absperrung gesteigert worden. Die Bilder der Aerzte, die, in Wachstuch gekleidet, mit Essigflacons vor den Nasen, an das Bett der Kranken treten sollten, die schwarzen Schilder an den Häusern, in denen sich Kranke [359] befanden, der Gedanke, daß man die Kranken und die Todten der Sorgfalt der Familien entreißen, und die Gestorbenen in allgemeine, mit Kalk angefüllte Gruben werfen werde, hatte etwas Grauenhaftes, und man würde davon noch stärker ergriffen worden sein, hätte die Theilnahme an dem Kriege den Gemüthern nicht zeitweise eine andere Richtung gegeben.

Etwa ein halbes Jahr, ehe die Cholera nach Königsberg kam, waren mehrere junge preußische Aerzte nach Rußland und nach Polen gegangen, theils um die Cholera kennen zu lernen, theils um in den Lazarethen Hilfe zu leisten. Unter ihnen hatte sich Johann Jacoby befunden, der damals erst fünfundzwanzig Jahre alt war. Kurz vor seiner Abreise hatte ich ihn noch in einer Gesellschaft gesehen, und es hatte uns Mädchen überrascht, daß Jemand so fröhlich tanzen und so sorglos heiter sein könne, der einer so ernsten Zeit und einer so ernsten Aufgabe entgegenging. Ich selbst kannte ihn damals nicht näher, unsere Freundschaft stammt erst aus einer viel späteren Zeit, ja ich glaubte in jenen Tagen, daß er ein Vorurtheil gegen mich habe, und mich für oberflächig halte. Das wäre freilich kein Wunder gewesen, denn ich hegte und pflegte damals noch als etwas Gutes allerlei Arten von Thorheiten in mir, die er wohl in ihrem rechten Lichte sehen mochte; und wie er mich meist scharf und kurz anredete, so machte ich mir das Vergnügen, ihm in ähnlicher Weise zu entgegnen. Ich war daher immer der Meinung, daß wir einander abstießen und gut thäten, uns zu meiden. Die ruhige Ueberlegenheit, die diesen Mann von früher Jugend an kennzeichnete und ihn über alle seine Altersgenossen hinaushob,[360] forderte eine Achtung ab, die ich nicht geneigt war, einem jungen Manne zu gewähren, weil seit Leopold's Tode keiner meiner jungen männlichen Bekannten sie mir einzuflößen wußte.

Sobald die Cholera in Preußen auftrat, kehrte Jacoby aus Polen zurück, und seinen Berichten verdankte man es hauptsächlich, daß der treffliche und aufgeklärte Ober-Präsident der Ostseeprovinz, Herr von Schön, sich gegen die Absperrungstheorie erklärte, und Königsberg sowohl nach Außen, als in dem Inneren der Stadt vor dieser Widerwärtigkeit bewahrt blieb. Dennoch waren der Schrecken und die Verwirrung unter den Menschen außerordentlich groß, und da die Cholera in den ersten Tagen eben nur Personen aus den arbeitenden Ständen ergriffen hatte, welche in dem Bereich des Dey'schen Gartens und der Holzwiesen am Pregel wohnten, so waren denn, wie in vielen anderen Fällen, auch hier das Mißtrauen und die Thorheit schnell bereit gewesen, an eine Vergiftung der armen Leute zu glauben.

Es war am hellen Mittag, als sich die Nachricht verbreitete, daß ein Volkshaufe sich vor der Wohnung des Polizeipräsidenten Schmidt auf dem Altstädtischen Markte versammelt habe, und dort nicht zu bewilligende Forderungen stelle. Die Einen erzählten, das Volk wolle die Kranken nicht in die Choleraspitäler schaffen lassen, Andere sagten, man wolle gegen die Aerzte Etwas unternehmen. Dann wieder hieß es: man verlange von den Reichen bessere Nahrungsmittel für die Armen, und nachdem der Vater selbst nach dem Markte hingegangen war, sich zu überzeugen, was dort geschehe und was man [361] dort begehre, kam er mit der Ansicht zurück, daß von einer bestimmten Forderung gar keine Rede sei, sondern daß Angst und Schrecken die Menschen in eine Aufregung versetzt hätten, die sich eben in dem Tumulte Luft mache, und durch einzelne Personen unter den Arbeitern, die von den Revolutionen des letzten Jahres wußten, zu einem schwachen Seitenstück derselben gesteigert werde.

Dennoch blieb es, eben weil weder die Ruhigen, noch die Aufgeregten in der Stadt an solche Vorfälle gewöhnt waren, ganz unberechenbar, wie weit die Sache gehen, wie weit die Unruhe sich ausdehnen könne, denn je grundloser eine Aufregung ist, um so mehr ist sie durch jeden Zufall der Steigerung in das Maaßlose ausgesetzt. Man hatte im Polizeigebäude die Fenster eingeschlagen, Möbel und Geschirre auf die Straße geworfen, Betten zerrissen und die Federn zerstreut, und als man damit fertig, war die aufgeregte Masse nach dem Kneiphof aufgebrochen, um ihr Heil vor dem Rathhause zu versuchen, in welchem der Magistrat seine Versammlung hatte.

Mein Vater war, als er nach Hause kam, schnell entschieden was er zu thun habe. Er ließ seine Weinkeller und Lager schließen und schickte sein ganzes Personal, die Commis und die Arbeiter, zu uns in das Haus. »Die laufen und spektakeln wenigstens nicht mit!« sagte er zu uns, während er ihnen ernst und wichtig den Auftrag ertheilte, über seine Frau und seine Töchter und über das Haus zu wachen. Von dem Balkon vor der Thüre wurden die eisenbeschlagenen Stangen abgenommen, welche die Markisen trugen, da sie füglich als Waffen dienen konnten, die Laden zu ebener Erde wurden zugemacht, [362] die Dienstboten erhielten die Weisung, mit den Kindern die Hinterstuben nicht zu verlassen. Und nachdem der Vater also die Männer, über die er zu bestimmen hatte, für den Moment unschädlich gemacht, ging er mit den beiden Brüdern, die damals noch Primaner des Gymnasiums waren, nach dem Magistrate, wo eine Anzahl von Bürgern sich versammelt hatte, um zu versuchen, wie man die Menschen beruhigen könne.

Kaum war er fort, so hörten wir die Avantgarde jedes Straßenereignisses in Königsberg, die Schusterjungen, lärmend durch die Straßen laufen. Hie und da klirrten zerbrochene Scheiben, und von einer Gallerie im Innern des Hauses, die allerdings von einem Steinwurf wohl getroffen werden konnte, sahen wir, wie ein Haufe von Arbeitern, Sackträgern und Weibern an unserm Hause vorüber in die Brodbänkengasse einbog, und vor dem Magistrate Posto faßte. Aus den Fenstern meiner Stube konnten wir, als der Haufe davongezogen war, die Bewegung vor dem Rathhause sehen und hören, aber es währte etwa nur eine halbe Stunde, als es dort lichter und ruhiger wurde. Einzelne Gruppen, unter ihnen manch Einer mit Blut bedeckt, fingen an zurückzukommen, man sah sie lebhaft gestikuliren und die Fäuste drohend erheben, indeß das eigentliche Gewitter war trotz diesem Grollen des Donners vorüber. Die Polizeibeamten und die sogenannten Stadtsoldaten, ein kleines Invalidencorps, wurden vor dem Rathhause wieder sichtbar, die Bürger, die sich auf das Rathhaus begeben hatten, fingen an, mit weißen Taschentüchern, als Erkennungszeichen um den Arm gebunden, durch die Straßen zu[363] gehen, und es währte nicht lange, bis der Vater mit den Brüdern nach Hause kam, uns zu sagen, daß wir ruhig sein könnten und daß anscheinend keine Gefahr mehr vorhanden sei. Dennoch organisirte sich eine Art von Bürgerwehr, in die der Vater und die Brüder eintraten, und die ein paar Tage hindurch Tag und Nacht in den Straßen patrouillirte, wobei höchst originelle Physiognomien und Gestalten zum Vorschein kamen, deren Komik dadurch noch gesteigert wurde, daß man die Leute kannte, und also wußte, wie weit diese Art der Tagesarbeit und der nächtlichen Heerschau von ihren Neigungen und von ihren Gewohnheiten entfernt lag.

So endete dieser erste Krawall, dem ich zugesehen habe, und er hatte, da er keinen Zweck gehabt, auch Nichts ausrichten können, als daß die Geister nach einer anderen Seite hin beschäftigt worden waren, und daß man sich inzwischen darin gefunden hatte, die Cholera in den Mauern zu haben, und die Menschen plötzlich als ihre Opfer hinsterben zu sehen. Nach anderthalb Tagen wurden die Markisenstangen wieder auf dem Wolme festgebunden, die Menschen kehrten zu ihren Geschäften zurück, und nur Einer von des Vaters Arbeitern, ein rühriger, heftiger einäugiger Mann, wurde entlassen, weil er während des Krawalls trotz des Vaters Befehl auf die Straße gegangen war. Er hatte es lockender gefunden, einige Fenster einzuwerfen, als »seine Madame und die Fräuleins« zu beschützen, und ihm allein war der Gedanke gekommen, daß mein Vater eigentlich gar kein Recht hatte, seine Untergebenen in ihrem freiem Willen zu beschränken und in ihren Krawallvergnügungen zu stören. [364] Leute aber, die seinen Befehlen gegenüber andere persönliche Rechte zu haben glaubten, als die, welche sein Wille ihnen zugestand, konnte der Vater nicht gebrauchen; ja ich möchte behaupten, es sei ihm nie der Gedanke gekommen, daß Jemand, der als sein Untergebener in seinem Lohn und Brod stehe, mehr verlangen könne, als der reiflich überlegten, wohlmeinenden Anordnung des »Herrn« pünktlich Folge zu leisten.

In unsrer Lebensweise brachte die Cholera keine wesentliche Aenderungen hervor, weil der Vater jeder übertriebenen Besorgniß mit Ruhe entgegentrat, und selbst unsere Mutter die Erinnerung bewahrt hatte, daß die Zeit des Typhus und der Lazarethfieber während der Kriegsjahre mehr Opfer gefordert hatten, als die jetzt herrschende Epidemie. Die Schulen waren freilich geschlossen, und für die jüngeren Schwestern wurde deshalb gleich ein Privatunterricht hergestellt, um sie nicht müßig gehen zu lassen. Es blieb auch in dem plötzlichen Hinsterben der Menschen, es blieb in dem dumpfen Rasseln des sogenannten Cholera-Wagens, der Abends die Leichen zu dem neuerrichteten Cholerakirchhof in die Kalkgruben fuhr, noch Quälendes genug für die Phantasie übrig; aber unser Haus und unsere Familie blieben von der Seuche ganz verschont, und ich glaube, ich war diejenige im Hause, die sich mit ihren hypochondrischen Grillen am meisten das Leben erschwerte, wennschon man nach der Hausordnung solche Selbstquälereien nicht verlauten lassen durfte. In solchen Dingen aber ist das Schweigenmüssen ein großer Gewinn, denn bei allen körperlichen Leiden pflegt das Klagen die Empfindung der Beschwerde zu [365] steigern, ganz abgesehen davon, daß es die Stimmung der Andern verdirbt. Uns z.B. über die Hitze des Sommers, über die Kälte im Winter zu beklagen, war Etwas, was der Vater uns von jeher verboten hatte. Denkt Euch einmal, welch eine verdummende Unterhaltung entstehen müßte, pflegte er zu sagen, wenn sich in einem Haustand von achtzehn Personen jeder Einzelne über unabänderliche Thatsachen auslassen und beschweren wollte! Im Sommer ist es heiß, im Herbste naß, im Winter kalt! Das fühlt Jeder, das erleiden Alle, wozu also die un nütze Meldung und das unnütze Gerede?

Bald nach dem Ausbruch der Cholera überraschte der Vater uns eines Tages mit der Nachricht, daß er bei der Regierung darum eingekommen sei, den Namen Markus ablegen und dafür den Namen Lewald führen zu dürfen, den seine Brüder schon zwanzig Jahre früher angenommen hatten. Ob der Vater diese Maßregel grade in diesem Zeitpunkte vorbereitet hatte, um die Thatsache festgestellt zu haben, wenn das Unglück ihn uns während der Seuche entreißen sollte, ob er den Augenblick gewählt, weil er denken konnte, daß ein solcher Entschluß weniger Aufsehen machen würde, während man durch äußere Ereignisse so vielfach beschäftigt war, ist gleichgültig. Genug, seine Absicht wurde uns eben so bestimmt und plötzlich mitgetheilt, als früher den Brüdern ihre bevorstehende Taufe; aber die Letztere war der Mutter eine Freude gewesen, und die Kunde von dem Namenswechsel erregte in ihr eine große Betrübniß. Sie fiel dem Vater weinend um den Hals, sie bat ihn, nicht darauf zu bestehen, sie wären nun zwanzig Jahre unter diesem Namen glücklich [366] mit einander gewesen, und es sei ihr, als ob man ihr ein Stück ihres Lebens entreiße, wenn man ihr diesen Namen nehmen wolle.

Solche aus dem Gemüthe stammende Einwendungen schonte der Vater liebevoll, ohne daß sie natürlich in seinem Entschlusse Etwas änderten. Sein Herz war sehr warm, aber sein Verstand bewahrte ihn vor aller Weichheit der Empfindung, so lange er sich in seiner vollen Kraft befand, und erst später, als er krank wurde, zeigte sich jene Schwäche in ihm, die man so oft fälschlich als »Gemüth« bezeichnet. Er tröstete die Mutter freundlich mit Gründen der Vernunft. Er hielt ihr vor, wie inconsequent es von ihr wäre, die sich so viel möglich vom Judenthume loszusagen wünsche, wenn sie nicht mit Freuden einen jüdischen Namen ablege. Er fragte sie scherzend, ob sie ihn denn nicht geheirathet haben würde, wenn er vor zwanzig Jahren Lewald geheißen; und als er bemerkte, daß sich auch bei den Kindern, namentlich bei dem ältesten Bruder, ein Mißfall en gegen den Namenswechsel fühlbar machte, sagte er ernsthaft: die Hauptsache ist, ich halte diesen Schritt für angemessen, ja für nothwendig. Ihr beiden Jungen werdet im Laufe dieses und des kommenden Jahres die Universität beziehen. Was soll Euch da der jüdische Name? Was soll er Euch im Leben? Ganz abgesehen davon, daß Ihr als Namensfremde unter Euere Familie treten würdet, wenn Ihr jemals mit meinen auswärtigen Brüdern und deren Kindern zusammen kämet. Macht Euch also keine Gedanken darüber, ich weiß, was ich thue, und Ihr werdet es allmählig begreifen lernen und es mir danken.

[367] Am folgenden Tage wurde die Anzeige dieses Namenswechsels in den Zeitungen bekannt gemacht. Als dann gegen den Herbst hin das Gymnasium und die Schule, welche meine Geschwister besuchten, beim allmähligen Nachlassen der Choleraepidemie wieder eröffnet wurden, geschah in Bezug auf unseren neuen Namen eine Anzeige bei ihren Directoren, und gleich am ersten Tage hielt der Vater uns an, den Namen Lewald mit unsern Vornamen so lange wieder und wieder zusammen zu schreiben, bis wir ihn leicht und fließend in die Hand bekamen. Er und die Brüder behielten den Namen Markus als einen der Vornamen bei, wir Töchter legten ihn ganz ab, und da ich mich durch eine lange Zeit an den Gedanken gewöhnt hatte, meinen Familiennamen gegen den von Leopold zu vertauschen, so hatte ich eben keine schmerzliche Empfindung davon, daß ich ihn nun aus einem anderen Grunde ablegen sollte.

Woher der Name Lewald aber in unsere Familie gekommen ist, oder wie der eine Großonkel, der sich dreißig, vierzig Jahre früher mit einer christlichen Handwerkerstochter verheirathet und ihn zuerst angenommen hatte, darauf gefallen war, ihn zu wählen, habe ich nie erfahren. Er kam sonst in Preußen in den bürgerlichen Familien nicht vor. Die adelige Familie, die ihn führte, schrieb sich Lehwaldt, und so scheint unser Name in seiner jetzigen Schreibweise eine Erfindung jenes Onkels gewesen zu sein. Er hat für uns aber das höchst Angenehme damit erreicht, uns einen Namen vorzubereiten, der uns wenig Namensvettern gab und der uns also das leistete, was ein Name leisten soll – ein positives Kennzeichen zu sein.

[368]
21. Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel

Am achten October achtzehnhundert einunddreißig ging die geschlagene Hauptarmee der polnischen Revolutionäre über die preußische Grenze. Die polnische Erhebung war abermals mißglückt, die russische Herrschaft hatte den Sieg davon getragen. Einige Wochen später kamen ganze Schaaren von polnischen Offizieren nach Königsberg, und es wurden in allen Dörfern der Umgegend polnische Soldaten und Offiziere einquartiert.

Der Handel, der während eines Jahres mit großem Gewinn gelohnt hatte, gerieth durch die strenge Grenzsperre wieder in das Stocken, aber es hatten eine Menge von Menschen in demselben Vermögen gewonnen, und da man einerseits das Erworbene genießen und sich von dem Drucke und von der Beschränkung erholen wollte, unter denen man sich während der Dauer der Cholera befunden hatte, andererseits auch den polnischen Emigranten den Antheil bezeigen wollte, den man an ihnen nahm, so wurde der Winter ein ungemein geselliger, und der Bälle und Tanzgesellschaften, der Schlittenpartien und sonstigen Lustbarkeiten gab es in Fülle.

Die Polen, welche nach Königsberg gekommen waren, hatten zum größten Theile dem Gielgud'schen Corps angehört, und eine große Anzahl unter ihnen war recht [369] dazu gemacht, den Frauen zu gefallen. Die Einen waren jung, schwungvoll, und von der Begeisterung für ihre Sache so sehr durchglüht, daß die Hoffnung einer neuen baldigen und glücklicheren Erhebung sie über das Unglück des Augenblickes forthob. Andere, und es waren die Ernsteren und Bedeutendern unter ihnen, trugen schwer an dem Schmerze um das Vaterland, und mit wie guter Art sie sich auch den Zuvorkommenheiten der Gesellschaft hingaben, so konnte man ihnen doch anfühlen, daß ihre Seele nicht dabei war. Im Allgemeinen sprachen sie gut französisch, hatten leichte und gefällige Manieren, eine im Worte stets bereite Galanterie, und außer dem ihnen Allen gemeinsamen Vorzuge, unvergleichlich gute Tänzer zu sein, hatten Viele noch hübsche musikalische Talente. Rechnet man dazu ihre kleidsamen Uniformen, die sie freilich bald ablegen mußten, und den Nimbus, welchen der eben überstandene Kampf und das Unglück ihres Vaterlandes um sie verbreiteten, so wird man es natürlich finden, daß sie den Frauen und Mädchen anziehend waren, und daß sie sich über Mangel an Gastfreundschaft nicht zu beklagen hatten, – eine Gastfreundschaft, die sie übrigens in jedem Betrachte zu ehren und zu respectiren wußten.

In unser Haus waren keine Polen eingeführt wor den, aber ich traf hie und da einige Offiziere in befreundeten Häusern, und namentlich in dem Schlosse zu Holstein, dessen Besitzer ein Jugendfreund unserer Eltern war.

Dieses Holstein, am Ausflusse des Pregels in das frische Haff, eine Meile von Königsberg gelegen, ist ein von Friedrich dem Ersten erbautes Königliches Jagdschloß, das schöne Garten- und Parkanlagen hat, und [370] das der Hof besuchte, wenn er in der Kaporn'schen Heide jagte, in welcher allein das Elenthier sich noch in Preußen erhalten hat. Später war das Schloß mit seinen Ländereien in den Besitz eines Herzogs von Holstein Gottorp, dann in die Hände des bekannten Herrn von Trenk, endlich an einen Banquier übergegangen, von dem es an die uns befreundete Familie des Amtmann Magnus kam, der es Anfangs nur als Pächter inne hatte.

Am Sonnabend, wenn die mit uns gleichaltrigen Söhne und Töchter des Amtmanns aus der Stadt nach Hause geholt wurden, mit hinauszufahren und bis zum Sonntag Abend draußen zu verweilen, oder einmal eine Ferienwoche in Holstein zuzubringen, war uns immer ein Vergnügen gewesen. Seit der älteste Sohn des Amtmanns die Universität bezogen, und die Töchter wie ich herangewachsen waren, hatten wir in Holstein an den Sonntagen außer der Freude, auf dem Lande zu sein, auch noch immer ein Paar andere Bekannte der Kinder, und damit eine Gelegenheit zu Spiel und Tanz gefunden, die nun durch die Anwesenheit der polnischen Offiziere noch belebter wurden. Sie waren theils in Holstein selbst, theils in der Umgebung einquartiert, und gehörten bald zu den feststehenden Sonntagsgästen des Hauses.

Konnten wir in dem Winter Sonnabends nicht mitgenommen werden, so schickte der Amtmann Sonntags bisweilen einen verdeckten Schlitten, die Eltern und uns zu holen, und es war dann eine doppelte Lust, auf der Eisfläche des gefrorenen Pregels, zwischen allen den andern Spazierenfahrenden in klingendem Froste, in Pelzen wohlverwahrt dahin zu gleiten, und Nachts nach vier-, fünfstündigem [371] Tanzen, im funkelnden Sternenlichte nach Hause zu fahren, wobei man, weil dann auch des Amtmanns Kinder zur Stadt befördert werden mußten, in zwei Schlitten untergebracht, und wir Jüngern in den einen derselben zusammengepackt wurden, was die heitere Laune nur erhöhte, so daß wir singend und lachend die Stadt zu erreichen pflegten.

Und ich lachte immer mit, denn ich war jung und leicht angeregt, bis mir dann plötzlich mitten in Spiel und Tanz der Gedanke kam: aber Leopold liegt in der Erde und Du tanzest!

Dann flog mir ein eisiges Grauen vor mir selbst durch die Glieder. Ich sah ihn todt, entstellt! – es kam mir unnatürlich vor, daß ich lebte, daß ich Stunden hatte, in denen ich froh sein und vergessen konnte, und weil die ganze Wucht des Schmerzes, die ganze Größe meines Verlustes mich grade immer dann befiel, wenn mich die Heiterkeit der Andern mit fortgerissen hatte, so fing ich an, mich vor dem Frohsein, ja vor mir selbst zu fürchten. Und doch hätte ich keine Möglichkeit gehabt, mich der Gesellschaft zu entziehen, denn der Vater würde mir nicht gestattet haben, sie zu meiden, hätte ich dies Verlangen ausgesprochen.

Tausendmal habe ich in jenen Tagen gedacht: wie glücklich wärst Du, wenn Leopold Dir öffentlich verlobt gewesen wäre, wenn Du sagen könntest, daß Du um ihn trauerst, daß Du unglücklich bist! – Dann aber kam mir wieder eine Scheu davor, es die Leute wissen zu lassen, daß ich mich unglücklich fühlte. Ich mochte nicht gefragt, ich mochte nicht beklagt sein, und wenn ich eben erst gewünscht hatte, Trauer und Leid tragen zu dürfen, [372] sagte ich mir im nächsten Augenblicke: »welch ein Glück, daß sie nichts von Dir wissen! welch ein Glück, daß Du für Dich allein lebst!«

Dazu aber gesellte sich eine thörichte Geringschätzung der Menschen, weil sie sich von meinem äußern Frohsinn täuschen ließen. Ich hatte eine Genugthuung daran, hell zu lachen, wenn jenes Entsetzen über Leo pold's Tod sich meiner bemächtigte, und wenn ich dann gewahrte, daß meine Heiterkeit die Andern ansteckte, daß man mich amüsant und geistreich und witzig nannte, so genoß ich einen Triumph, der mir das Herz zerriß.

»So wenig von meinem eigentlichen Wesen gebe ich Ihnen,« sagte ich einmal zu einem jungen Manne, der mir viel Aufmerksamkeit bewies, »und das genügt Ihnen! Sie müssen nicht verwöhnt sein, oder – nicht viel werth!« – Er nahm das für einen Scherz, wie es die Meisten thaten, wenn ich es so machte, weil die Unart gar zu groß war, weil ihnen solcher Unart gegenüber auch nicht viel Andres übrig blieb, und weil ich sie meist mit großer Heiterkeit aussprach. Sie ließen sich den unverzeihlichen Uebermuth als Koketterie gefallen, und dieser verzeihen die Männer selbst das Ungehörige, weil sie in ihr das ihnen schmeichelnde Bestreben der Frauen sehen, um jeden Preis die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen, und ihn durch ungewöhnliche Anreize an sich zu fesseln. Auch hielten mich viele Leute für kokett, und doch dachte ich in jenen Zeiten an Nichts weniger als an die Eroberung irgend eines Mannes.

Aus reiner Traurigkeit, aus dem Bedürfniß sie zu verbergen, aus dem Zwiespalt zwischen meiner Empfindung und zwischen der Lebensweise, in der ich mich bewegte, [373] war ich in den Ton der Koketterie hineingekommen; und während ich selbst sie unedel, ja niedrig fand, hatte ich mich an ein Betragen gewöhnt, das mir nothwendig den Anschein dieses Fehlers geben mußte. Ich hatte von meinem Gebahren indessen keinen andern Genuß, als denjenigen, welchen ein geschickter Spieler am Kartenspiel empfindet. Es zerstreute mich. Ich wurde mir gewisser Fähigkeiten dabei bewußt, und ich glaubte eine Ueberlegenheit über Andere zu beweisen. Hätte mir in jenen Tagen eine lebenserfahrene, herzenskundige Frau zur Seite gestanden, die mich zu leiten gewußt, es wäre mir manche schmerzliche Stunde, es wären mir manche Irrthümer zu ersparen gewesen, von denen ich durch mich selbst zurückzukommen viel Zeit gebrauchte. Aber meine Mutter sah, daß man mich suchte, daß ich gefiel, daß mich dies zerstreute, sie ließ mich also gewähren, und für einen Zustand, wie der meine es damals war, reicht das Auge eines Vaters nicht aus. Ein ernster, fremder Mann hätte mir zu Hilfe kommen, mich in das Gleichgewicht setzen können; vor dem Vater zogen sich meine Fehler in achtungsvoller Scheu zurück, und sein Zutrauen zu dem Ernste meiner Natur war so unbedingt, daß er mich des Komödiespielens, dem ich mich ergeben hatte, nicht für fähig gehalten haben würde. So lebte ich eine ganze Weile fort, und nur einmal kam von außen her eine Warnung an mich heran.

Unter den polnischen Offizieren, welche ich in Holstein hatte kennen lernen, war ein Oberlieutenant, ein Mann von etwa dreißig Jahren, der uns Allen ein angenehmer Gesellschafter, und der auch in unserm Hause später vorgestellt worden war. Er sprach das Französische sehr gut, spielte [374] hübsch Guitarre, sang angenehm, tanzte vortrefflich, und ließ sich zu dem Allen, obschon er ernst und oft sehr trübe gestimmt war, stets bereitwillig finden, wie Einer, den es freut, die Pflicht der Dankbarkeit abtragen zu können. Er hatte eine Braut im russischen Litthauen zurückgelassen, und war trotz der dringenden Abmahnungen seiner Freunde einmal verkleidet über die Grenze zurückgegangen, um sie zu sehen und ihr Lebewohl zu sagen. Wir Alle waren ihm mehr oder weniger gleichgültig, und selbst die Oberflächigsten von uns trugen allmählig eine Scheu, ihn zum Singen oder Spielen aufzufordern, weil wir fühlten, daß er ein Opfer damit bringe. Mit mir hatte er, wie mit den Andern, gesprochen und getanzt, und sich, wie mir schien, um mich nicht mehr gekümmert, als eben nöthig und höflich war.

Da befanden wir uns eines Abends in unserm Hause in Gesellschaft. Ich hatte oben in meinem Zimmer viel geweint, und die gute, treue Mathilde, deren einfachem und natürlichem Charakter meine damalige Ueberreizung ebenso räthselhaft als unheimlich blieb, hatte mir die oft gethane Frage vorgelegt: wer zwingt Dich denn, froh zu scheinen, wenn Du es nicht bist? – Aber das half mir nicht. Sie kannte das falsche Ehrgefühl, den falschen Stolz nicht, die es mir unerträglich machten, unglücklich oder auch nur traurig zu scheinen, und kaum hatte ich meine rothgeweinten Augen getrocknet und gekühlt, kaum waren die Gäste unten im Wohnzimmer bei uns eingetreten, so tanzte ich wieder auf dem Seil des Frohsinns, und gerieth, um nicht herabzufallen, in die übertriebensten Sprünge, in absprechende Behauptungen, in unvernünftige Paradoxien, und in ein Scherzen und Lachen, die [375] mir wehe thaten. Der Oberlieutenant sah das mit Verwunderung an, ich mochte es vielleicht lange nicht so arg getrieben haben. Mit einem Male, als wir in der Nähe des Fensters und zufällig allein nebeneinander standen, sagte er: Mit einem ernsten Charakter wie der Ihre muß man sehr unglücklich sein, um sich in einer solchen Heiterkeit zu gefallen! –

Ich war überrascht, wußte Nichts zu sagen, und wurde still. Es fiel auch nie wieder zwischen uns ein ähnliches Wort, denn wir sahen einander nicht eben häufig. Aber zum ersten Male trat der Zweifel an mich heran, ob man mir denn meine Heiterkeit auch glaube? zum ersten Male dachte ich daran, daß es gut und selbst bequem sein würde, könnte ich von dem Wege umkehren, auf den ich mich verirrt hatte. Indeß ich wußte es nicht zu machen, und die Besorgniß, jene Lüge, in die ich mich hineingelebt hatte, von Allen erkannt zu sehen, hielt mich in derselben fest.

Nach Außen hatte ich in diesem Winter an Freiheit sehr gewonnen. Der Kreis meiner Bekannten hatte sich ausgedehnt, ich war öfter als sonst in Gesellschaft, und der Vater legte mir darin jetzt keine Beschränkung mehr auf, als die Rückkehr zu einer festgesetzten Stunde. Ich war, wohin ich auch ging, fast überall allein. Die Kränklichkeit der Mutter hielt sie im Winter oft lange an das Haus und an das Zimmer gebannt, die Eltern hatten auch mit den Eltern meiner Freundinnen keinen Verkehr, und ich gewöhnte mich also, mich selbstständig zu halten und zu behaupten. Kam ich dann nach Hause, so schlief die Mutter, die sich früh zur Ruhe legen mußte, schon lange; aber der Vater saß, und er hatte das von jeher [376] so gehalten, völlig angezogen und lesend da, ließ sich von mir erzählen, was ich erlebt hatte, nahm dem mich begleitenden Hausknecht den Schlüssel des Hauses ab, und diese liebevolle Aufsicht setzte er regelmäßig fort, bis ich im Laufe des Winters nach dem Studentenexamen meines Bruders, durch dessen Eintritt in die Gesellschaft, einen Begleiter und einen Gefährten gewann.

Es war aber, als wollten die Eltern mich selbst gern zerstreuen, als wollten sie mir jede Freude gönnen, die mir zu gestatten und zu gewähren in ihrer Macht stand; denn auch die Erlaubniß, an den Aufführungen zu einem Polterabende mitzuwirken, wurde mir jetzt gewährt, so entschieden derlei mir früher versagt geblieben war. An diesen Polterabend knüpft sich die Erinnerung meines ersten dichterischen Erfolges, der freilich von meinem Auftreten als Schriftstellerin volle zehn Jahre entfernt liegt.

Die älteste Enkelin des alten Bankier Oppenheim verheirathete sich mit einem Philologen, und die Freunde und Geschwister des Paares hatten es auf einen großen Polterabend abgesehen. Die Schwestern der Braut forderten mich auf, daran Theil zu nehmen, ich hatte eine große Zuneigung zu derselben, denn sie war mir im Stillen ein Vorbild, so wenig Anstalt ich auch damals machte, ihr ähnlich zu werden, und ich trug großes Verlangen, ihr an dem Polterabend irgend Etwas zu lieb zu thun, – nur daß ich wußte, dergleichen dürfe ich nicht von den Eltern fordern. Indeß die eine Schwester der Braut, die mich liebte und mich durchaus bei dem Feste betheiligt haben wollte, bat in ihrer unbefangenen Weise meine Eltern, mich mitwirken zu lassen, und zu meinem größten Erstaunen erhielt ich ohne Weiteres ihre Zustimmung.

[377] Nun ging es an ein Berathen und Ueberlegen! Alle Bibliotheken und Buchladen wurden in Anspruch genommen, aber obschon wir ganze Stöße von Büchern um uns aufstapelten, waren die darin enthaltenen so genannten Polterabendscherze so trivial und zum Theil so roh, daß sie uns anwiderten, und wir sie nicht brauchen konnten. Es setzten sich also die dichterischen Talente unter unsern Bekannten in Bewegung. Indeß die Einen schafften eben nur, was sie selber brauchten, die Andern warfen Himmel und Erde durcheinander, ohne viel damit zu erreichen, und nachdem ich vom Lesen und Suchen endlich müde und unlustig geworden war, kam ich eines Tages ganz plötzlich auf den Gedanken, mir selber Etwas zu machen.

Ich hatte damals noch Unterricht im Zeichnen, war grade mit einer Copie des Amor und der Psyche nach Gerard beschäftigt, die ich der Braut zu schenken dachte, und wollte, um diese Zeichnung gut anbringen zu können, als irgend ein Genius erscheinen, der dem Brautpaare das Bild der Liebe zum täglichen Gefährten in das Haus bringen sollte. Daß die Mythe von Amor und Psyche eben kein gutes Bild, oder kein gutes Omen für die eheliche Liebe und Treue darbot, focht mich dabei nicht an. Ich hatte nur die rosa Tricotstrümpfe, die silbergeschnürten Sandalen, das weiße Gazekleid, die großen weißen Flügel und den Kranz von Rosen und Lilien im Sinne, den ich aufsetzen wollte, und was mir etwa von mythologischen Zweifeln kommen konnte, das erstickte der Gedanke an die schönen Verse, die ich zu machen beabsichtigte.

Wenn die Menschen aber sehen, daß man selbst für [378] sich zu sorgen anfängt, so finden sie es gleich in der Ordnung, daß man auch für Andre sorge. Das wird ein Jeder in den kleinsten wie in den größten Verhältnissen an sich erfahren, und kaum hatte ich daher erklärt, daß ich mir selbst ein Gedicht zum Polterabend machen würde, so wünschte die jüngste Schwester der Braut, daß ich auch noch eine zweite Scene, für sie und mich zusammen, erfinden sollte. Weil ich nun in der Scene für mich sehr in die Erhabenheit zu gerathen vorhatte, so beschloß ich meine zweite Dichtung ganz aus dem gewöhnlichen Leben zu nehmen, und ein alter Volksgebrauch sollte mir dazu den Stoff bieten.

Es hatte sich damals noch aus früheren Zeiten in Königsberg, wo fast alle Lebensmittel von den Verkäufern in den Straßen ausgerufen und in die Häuser zum Kauf getragen werden, die alte Sitte erhalten, daß die Fischfrauen zu Fastnacht in einzelnen Paaren, mit einem buntgeschmückten großen Netz in die Häuser ihrer Kunden gingen, und dort im Flur tanzend, und einige bestimmte Verse absingend, ein Trinkgeld erhielten. Die Verse wurden plattdeutsch gesungen, was damals noch im Volke und auch in den Häusern von den Dienstboten gesprochen wurde, und was also Jedermann konnte, oder doch wenigstens kannte. Die Fischfrauen trugen dazu ihre besten Röcke und Jacken, große breite Schürzen, und den damaligen Hauptputz der Frauen aus dem Volke, das hochaufgethürmte bunt- oder schwarzseidene Kopftuch, das um so mehr geschätzt wurde, je vielfarbiger und greller die eingewirkte Borte war.

Ein solches Costüm ließ sich für uns aus den Vorräthen unserer älteren Dienstboten – die jüngeren hatten [379] bereits die kleinen weißen Hauben angenommen – leicht zusammenbringen; sie waren es auch, die uns das Plattdeutsche geläufiger einexercirten, und am betreffenden Tage traten wir denn als Fischfrauen in den Saal. Große Kunst hatte ich für meine Erfindung nicht nöthig gehabt. Das eigentliche Volkslied lautete:


Loop an de Linge (Leinen)
De Fischke's de springe,
De Fischergeselle singe,
De Fischerwiwer springe.
Wi' winsche dem Herrn
Enen goldenen Disch,
Up alle veer Ecke
Gebratene Fisch.
Wi' winsche de Fru
Eenen jungen Sohn, –

und so ging das weiter fort, für alle Hausgenossen, die Köchin nicht zu vergessen, der hier und da auch Böses nachgesagt wurde, wie denn gelegentlich auch einmal eine Derbheit vorkommen konnte.

Ganz ähnliche Volkslieder mit Wünschen für das Haus singen, beiläufig bemerkt, auch die Landmädchen in dem polonisirten Theile von Westpreußen, wenn sie den Erndtekranz in das Haus bringen. Nur findet sich unter diesen Mädchen fast immer Eines oder das Andere, das die Verse zu variiren und der Gelegenheit anzupassen weiß, und es ist dort Sitte, mitten unter den guten Wünschen dem Hausherrn und der Hausfrau auch neckend ihre Fehler vorzuhalten, was mit einer gewissen Ehrlichkeit geschieht. Als ich aber später einmal auf dem Gute unseres Freundes Julius von Hennig, in Plonchott, einem solchen Erndtefeste beiwohnte, hatte dessen Frau [380] kurz vorher die Schwester verloren, und trug noch ihre Trauerkleider, als sie den Erndtekranz in Empfang nahm, und dafür das erste Brod vom frischen Korn den Arbeitern vertheilte, welche geholfen hatten, die Frucht der Erde abzugewinnen. Da erlebten wir von der Herzensfeinheit des Volkes den schönen Zug, daß die Vorsängerin, nachdem sie dem Herrn seine Schwächen vorgehalten, sich zur Frau wendend die Worte sang: »die Frau wollen wir nicht schelten, denn die trägt schwarze Kleider, und hat ein schweres Herz!« – Natürlich sangen sie polnisch, und was ich davon weiß, verdanke ich Denen, die es mir übersetzten.

Ich hatte also, wie solch eine bäuerische Vorsängerin, mir die Paar Verse zwischen dem Volksrefrain zurechtgemacht, wir hatten schön bekränzte, von Flittergold strahlende Köscher, faßten einander, wie das der Brauch der Fischfrauen ist, bei dem Tanze so unter die Arme, daß wir mit den Köpfen nach verschiedenen Seiten sahen, sangen und schwenkten uns dabei nach Kräften, und erregten große Heiterkeit und Freude.

Dann kam ich nachher mit meinen pathetischen Versen, und mit meiner Kreidecopie von Amor und Psyche, die für einen Genius etwas schwer zu tragen war, weil ich der Ordnung und des Anstandes wegen sie in Glas und Rahmen hatte bringen lassen. Und war es das Siegesbewußtsein, das ich selbst über die Schönheit der Zeichnung und die Vortrefflichkeit des Gedichtes hatte, war es die Jugend, die immer gefällt: ich erndtete einen großen Beifall, fand lebhafte Bewunderung für meine Verse, und von dem Tage ab stand es unter meinen jüngern weiblichen Bekannten eigentlich felsenfest, daß ich [381] eine Dichterin sei. Ich selbst glaubte das nicht so unbedingt, aber ich hatte doch das größte Vergnügen von dem Abende und von meinem Erfolge. Ich fand mich sehr schön in meinem Geniuskostüm, ich hatte mich selbst mit meiner gefühlvollen Poesie sehr gerührt, und da alle Andern mich auch lobten, gab ich mich doch heimlich der schmeichelhaften Hoffnung hin, etwas nicht Gewöhnliches geleistet zu haben. Ich besitze von diesen Gedichten jetzt nicht mehr ein Blatt. Ich habe sie vor langen Jahren verbrannt, weil das Aufbewahren unnützer Papiere etwas so Thörichtes und Unpraktisches ist. Ich habe aber immer, auch als ich reifer war, nur schlechte Verse, und mit Ausnahme von Gelegenheitsgedichten für meinen Gebrauch nur wenig Verse gemacht. Außer ein Paar kleinen Gedichten, die ich auf einer Reise geschrieben hatte, und die mein Vetter August Lewald einmal in der Europa abdrucken ließ, ist keine meiner gereimten poetischen Produktionen den Leuten gedruckt unter die Augen gekommen, und als ich dann zehn Jahre später einsehen lernte, daß ich Prosa schreiben könne, habe ich die Poesie vollends in Ruhe gelassen.

[382]
22. Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ich habe es von Dichtern oftmals in ihren Werken darstellen sehen, wie die Menschen nach außen hin durch lange Jahre ein Leben der Freude und des Genusses führen und in ihrem Herzen doch fortdauernd in tiefe Traurigkeit versenkt bleiben. Indeß weder an mir selbst, noch an Andern habe ich im Leben diese Möglichkeit bestätigt gefunden. Unsere Beschäftigung, unsere äußern Eindrücke gehen in uns über, wie die Luft, die wir athmen, wie die Kost, die wir genießen. Sie stimmen und gestalten uns um, und wir verändern uns, ohne daß wir es gewahr werden, bis wir plötzlich, durch irgend einen äußern Zufall aufmerksam gemacht, die Wandlung mit einem gewissen Erschrecken bemerken. Denn es liegt in der Natur des Menschen, daß er sich lieb gewinnt in seinen verschiedenen Entwickelungsstufen, daß er sich fast in jeder auf der ihm eigentlich zusagendsten Stelle zu befinden glaubt, und daß er sich nicht gleich zurecht finden kann, wenn er bemerkt, daß er sich auf derselben nicht mehr recht behauptet, daß er durch sich selbst gezwungen ist, eine neue Stufe zu betreten. Und je jünger und je entwickelungsfähiger wir sind, um so schneller gehen diese Wandlungen in uns vor sich.

Als Leopold starb, hatte ich eigentlich gar keinen[383] Wunsch, gar keinen bestimmten Plan gehabt. Ich half nach wie vor im Haushalt, pflegte die Mutter, wenn sie leidend war, übte täglich Clavier, nahm wöchentlich ein Paar Zeichenstunden, unterrichtete die Schwester im Clavierspiel, aber es war, als gehe mich das Alles gar Nichts an. Früher hatte ich gern an meiner eigenen Ausbildung gearbeitet und daran ein Selbstgenügen gefunden; dann hatte ich um Leopold's willen Etwas sein und werden wollen, und die Freude an der Selbstbefriedigung verloren, seit ich das größere Ziel im Auge gehabt, einen geliebten Mann zufrieden zu stellen. Nun lebte ich eine Zeitlang so hin, und all mein Thun und Treiben machte mir keine Freude mehr.

Die Jugend aber, wenn sie mit einem Zustande fertig ist, glaubt leicht mit Allem fertig zu sein, und wie sie sich meist über den Umfang ihres Wissens und ihrer Einsicht täuscht, so täuscht sie sich auch über die Kraft ihrer Neigungen und über ihre Beständigkeit. Ich hatte Leopold, so sehr ich konnte, geliebt, und gewähnt, nie eine andere Liebe fühlen zu können, als die für ihn, und ich hatte das ehrlich und fest geglaubt; ich hatte mich sogar, wie ich meinte, auch darin gefunden, keine Hoffnung und ein freudloses Leben vor mir zu haben. Ein Vorfall, den ich mir noch heute nicht zu erklären weiß, und der zu den wenigen geheimnißvollen Erfahrungen meines Lebens gehört, hatte mich in diesen Gedanken bestärkt, weil er mir, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, dennoch die Vorstellung eines Zusammenhanges gab, der zwischen mir und Leopold noch über das Grab hinaus bestehe.

Ich hatte nämlich das Datum von seinem Todestage entweder nicht erfahren, oder mit einem andern Datum [384] verwechselt, und die Stunde, in welcher er gestorben war, ebenso nicht gewußt. Natürlich aber hatte ich, als nach Jahresfrist der Monat seines Todes wiederkehrte, mehr noch als gewöhnlich an ihn gedacht. Ich war unwohl, niedergeschlagen, und legte mich eines Abends müde und traurig zu Bett. Mit einem Male wache ich mitten in der Nacht auf, weil ich mich, für mein Ohr ganz unwiderleglich, laut und deutlich von Leopold rufen höre. Ich springe auf, sehe mich um, die Nachtlampe brennt ruhig, es ist Alles still. Aber ich hatte die Gewißheit, in diesem Augenblicke ist es ein Jahr, daß er gestorben ist. Ich blieb wach, draußen schlug bald darauf die Thurmuhr die Stunde. Und als ich dann später nachfragte, erhielt ich die Bestätigung, daß mich wirklich die Todesstunde des Geschiedenen erweckt hatte. All mein jetziges Denken widerspricht der Möglichkeit einer persönlichen Fortdauer nach dem Tode, widerspricht der Möglichkeit eines Vorganges, wie ich ihn damals er lebt zu haben glaubte. Nichtsdestoweniger ist aber die Erinnerung an jene Nacht mir noch heute so gegenwärtig, und der Eindruck in mir so lebhaft, daß er sich mir oftmals, und auch im Augenblick dieser Rückschau, unwillkürlich darbietet.

Die bewegten Zeiten, welche dem Tode Leopold's gefolgt waren, die mancherlei Zerstreuungen, welche meine Eltern mir jetzt gestatteten, eine freiere und ausgebreitetere Lektüre, hatten mir eine Menge neuer Ideen geboten, und während ich mich selbst oft auf dem Gedanken betraf, daß es für mich ein großes Glück, ja das Allerbeste sein würde, früh zu sterben, sagte ich mir, ohne dabei eine Ahnung von Selbstbetrug zu haben, daß es schön sei, in den Raum eines kurzen Lebens so viel geistigen Gehalt [385] als möglich aufzunehmen. Ob es allen Menschen so geht, das weiß ich nicht, ich habe aber in meiner Jugend stets im besten Glauben gehandelt, wenn ich mich selbst betrog; und während ich, durch mancherlei Nervenleiden in meinen Todesahnungen bestärkt, mich über die Kürze meines Lebens zu trösten und es gut auszufüllen strebte, bereitete ich mich eben dadurch für ein neues Weiterleben vor, und tröstete ich mich über das erfahrene Leid.

Eine äußere Gewohnheit kam mir dabei zu Hilfe. Mein Vater hatte uns angehalten, auf die Frage, wie es uns gehe, wenn dies irgend thunlich war, mit »sehr gut« zu erwidern, um nicht durch eine klägliche Antwort eine bemitleidende Entgegnung, und ein nichtsnützendes Hin und Her von Jämmerlichkeiten hervorzurufen. Wir sind aber, mehr als wir uns eingestehen, unter dem Banne unserer eigenen Aussage von uns selbst, und da aus diesem Grunde die Leute mich für getröstet hielten, da man von allen Seiten mit mir wie mit jedem andern Mädchen von der Zukunft sprach, so lernte ich es allmählig wieder, den Blick auf eine solche zu richten.

Während ich noch glaubte, mich den Zerstreuungen aus Gleichgültigkeit oder aus Gefälligkeit für Andere, oder weil ich eben nicht anders könne, hinzugeben, hatte ich unmerklich selbst wieder Lust und Theilnahme daran gewonnen. Während ich dachte, wie schrecklich es sei, daß bald gar Nichts von mir übrig bleiben und ich der Vernichtung rettungslos anheimfallen würde, hatte zwar noch kein einzelner Mann wieder irgend eine Bedeutung für mich erhalten, aber die Gesellschaft und die Männer in ihr, und mein Erfolg bei ihnen, waren mir wieder wichtig geworden. Und weil ich glaubte, nie wieder [386] einem stillen Glück begegnen zu können, wie das, welches ich an Leopold's Seite zu finden gehofft, fingen meine Wünsche an, sich auf die belebten Kreise der großen Welt zu richten, und die Schilderungen der großen weltberühmten Salons, die Schilderungen der berühmten Frauen, um welche sie sich gebildet, beschäftigten meine Phantasie und regten meinen Ehrgeiz auf, während meine Vernunft mir unablässig vorhielt, daß solche Wünsche für mich thöricht, daß ein Leben außerhalb der beschränkten Verhältnisse, in denen ich geboren war, für mich nicht möglich sei.

Dazu hatte ich mich grade in jener Zeit, besser als früher, in die Art und Weise meiner Mutter schicken lernen. In Folge unausgesetzter Uebung waren alle häuslichen Verrichtungen mir geläufig geworden, und da man an jedem Dinge, das man recht zu machen versteht, allmählig selbst Freude gewinnt, so war das Hauswesen mir lieb und die Zufriedenheit der Eltern mir ein Lohn geworden, auf den ich stolz war. Ich hatte mich nun auch bereits gewöhnt, der kränkelnden Mutter mancherlei Unannehmlichkeiten, manchen Schreck, manche Beunruhigung zu ersparen, sie in vielen Dingen zu vertreten, ohne sie wie früher dadurch zu verletzen. Weil es mir aber schwer wurde, mir diese Art der Selbstverläugnung, des schweigenden Thuns, anzueignen, so lohnte mir auch das Gefühl der Selbstüberwindung, und das Heranwachsen meiner Geschwister gab daneben meinem Leben neue Anhaltpunkte und erhöhten Reiz.

Mein ältester Bruder, der Anfangs Theologie studiren wollte, weil der Verkehr mit Leopold ihm eine Neigung dazu eingeflößt, hatte auf den Rath und Wunsch meines Vaters davon abgestanden, und sich in die juristische [387] Fakultät einschreiben lassen. Mein zweiter Bruder, dessen Sinn auf Abenteuer stand, hatte immer davon gesprochen, zur See zu gehen, sobald er sein Studentenexamen, welches der Vater ihm nicht erlassen wollte, beendet haben würde. Aber das Ungewisse und Gefährliche dieses Lebensweges, das ihn reizte, schreckte die Eltern davon zurück, und es waren endlich die Ueberredung und der Einfluß meiner Mutter, welche ihn bestimmten, seinen Wunsch aufzugeben und Mediziner zu werden. Die Möglichkeit, als solcher sich überall einen Wirkungskreis bereiten und als Arzt doch nach freiem Belieben die Welt sehen zu können, söhnte ihn mit der Wahl dieses Berufes aus, der ihm dann später lieb wurde, und in dessen Ausübung er in Tiflis seinen frühen Tod fand, als er von Grusien zurückkehrte, wohin er gegangen war, um die epidemischen Wechselfieber zu beobachten.

Das Studentenleben der Brüder, ihr Verkehr mit ihren Genossen, brachten viel Abwechslung in das Haus. Wie der Vater uns Töchter unter strenger Zucht hielt, so gewährte er den Söhnen, nun sie in das Leben traten, viel Freiheit. Er versorgte sie nach seinen Mitteln reichlich mit Geld, er kontrollirte sie wenig, und hatte ihnen gesagt: Ihr werdet voraussichtlich wie alle jungen Leute Thorheiten machen und da durch in Verlegenheit gerathen. Befindet Ihr Euch in einer solchen, so wendet Euch nie an einen Fremden, sondern an mich. Ich habe sicherlich mehr guten Willen, Euch zu helfen, als jeder Andere! – Und dies Uebereinkommen ist, weil wir die Worttreue meines Vaters Alle kannten, von den Söhnen wie von dem Vater auch gehalten worden.

Was die Brüder an studentenhaftem Treiben mitzumachen [388] wünschten, die bunten Trachten, die Commerse und Gelage, es wurde ihnen frei gestattet. Mein Vater räumte den Brüdern, die ohnehin zwei Stuben im Hause bewohnten, eine Zeitlang sogar ein großes drittes Zimmer, das wir nicht benutzten und das leerstand, als Fechtboden für sie und ihr Kränzchen ein, weil – es sie am Hause und an der Familie unmerklich festhielt; und diese Vergünstigung, die sehr viel Unruhe und Laufen in das Haus brachte, wurde ihnen erst entzogen, als sie es sich einmal beikommen ließen, ein Duell in unserem Hause auszufechten.

Das Leben der Studenten war damals aber in Königsberg noch absonderlich und wüst und roh genug. Obschon die Stadt gegen sechzigtausend Einwohner hatte, einen großen und wohlhabenden Kaufmannsstand, alle großen Beamtenkollegien der Provinz, das Oberlandesgericht, das Tribunal, die Regierung und ein großes Militärkommando in sich schloß, zählte doch das Häuflein der Studenten, wenngleich ihrer selten über fünfhundert auf der Universität beisammen waren, als etwas Bedeutendes mit. Man ließ ihnen Freiheiten, wie es sonst nur in den kleinen Städten zu geschehen pflegte, welche von den Studenten leben; und weil viele angesehene Königsberger Familien ihre Söhne unter ihnen hatten, blieb man mit ihrem Thun und Treiben in einem Zusammenhange.

Ich habe einen Abriß des Verhältnisses der Königsberger Studenten zu den Familien im Anfange meines Romanes »Wandlungen« zu geben versucht, und ich glaube, daß meine Schilderung für die eine Seite des dortigen Studentenlebens ein treues Bild ist. Die andere Seite war aber wirklich äußerst roh, und das Benehmen mancher Landsmannschaften und mancher jungen Männer [389] so gegen alle Sitte, daß es mir jetzt unbegreiflich scheint, wie dadurch nicht ein Vorurtheil gegen die Studenten im Allgemeinen hervorgerufen wurde.

Einzelne Figuren waren förmlich ein Schrecken der Bürger, und ich erinnere mich deutlich eines großen, sehr wüsten Theologen aus Masuren, der ein paar Jahre ehe meine Brüder die Universität bezogen, in Königsberg sein Wesen trieb. Ueberall gewahrte man seine große, ungeschlachte Gestalt, seinen schmutzigen, weißen Flausrock, überall wußte man von seiner Rohheit, gegen welche Karzer und andere Strafen sich unwirksam bewiesen, überall tadelte man ihn, und schließlich lachte man über seine Streiche.

Einmal war in einer angesehenen Kaufmannsfamilie, in welcher verschiedene Studenten Zutritt hatten, ein Ball. Einen so wüsten Gesellen sah man aber natürlich in dem Hause nicht, und er war also auch zu dem Balle nicht eingeladen. Dennoch erklärte und wettete er am Morgen, daß er Abends den Ball besuchen werde, und zwar so wie er da stehe und gehe, in Flausrock, Lederhose und Kanonenstiefeln. Am Abende, als die Gesellschaft sich versammelte, standen seine Freunde vor der Thür, um zu sehen, ob sich ihr Commilitone einstellen werde. Indeß man tanzte oben bereits, ohne daß er gekommen war, und eben wollten die wartenden Studenten sich entfernen, als Jener in der Straße erschien, sich vor dem Hause hinstellte und mit starkem Schwunge seine kurze Tabackspfeife durch das Mittelfenster des Saales in denselben hineinwarf. Dann ging er raschen Schrittes in das Haus und in den Saal, in welchem der Schreck den Tanz unterbrochen hatte, sagte, als man, ihm entgegentretend, nach seinem Begehren fragte: er komme, [390] seine Pfeife zu holen, die ihm in das Fenster geflogen sei, und entfernte sich, ehe die Dienerschaft beisammen war, ihn fortzubringen. – Ein andermal wettete er, daß er ein schönes junges Mädchen, die Tochter des ersten Geistlichen an der reformirten Kirche, am hellen Mittage über den Kirchplatz nach ihres Vaters Wohnung tragen würde, und auch dieses Vorhaben führte er aus, freilich nicht, ohne das Eine wie das Andere im Karzer zu verbüßen.

Aehnliche Uebertreibungen kamen, wennschon in geringerem Maße, auch noch zu den Zeiten vor, in denen meine Brüder Studenten waren; aber den Studenten verzieh man, was man keinem andern Stande verziehen haben würde, und zog damit zum Theil jenen anmaßenden Kastengeist der Junker und der Beamten groß, der später in den Parteikämpfen unseres Vaterlandes grade aus den Reihen der Studirten die heftigsten und rücksichtslosesten Gegner der Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetze geliefert hat.

Mein Vater, der einen sehr stark ausgeprägten Bürgersinn besaß, verabscheute dieses Treiben entschieden, und konnte, wenn er einmal die Studenten halbbetrunken von ihren Gelagen und Comitaten heimkehren sah, oder wenn die in unserer Nachbarschaft wohnenden Studenten, auf den Fensterbrettern des zweiten Stockes sitzend, ihre Beine auf die Straße hinaushängen ließen und Bier trinkend ihre Lieder sangen, wohl spottend die Bemerkung machen: das sind unsere künftigen Herren Prediger und Minister! – Dennoch ließ er die Brüder gewähren, so weit sie gehen wollten.

Der Aelteste war Student mit Leib und Seele, aber er blieb seiner Natur nach doch immer in den Schranken [391] des Wohlanständigen, und mußte, als der zweite Bruder ein Jahr später die Universität bezog, bald für ihn eine vermittelnde und ausgleichende Rolle übernehmen, weil dieser in dem Ungestüm seiner Kraft sich außer dem Hause und in dem studentischen Leben für die Zucht und den Zwang zu entschädigen suchte, den das Familienleben Jedem auferlegt. Phantastisch und zu Uebertreibungen geneigt, ließ er sich einen feuerroth karrirten Rock machen, wo die Andern sich mit irgend welchen farbigen Abzeichen begnügten. In Hemdeärmeln durch die Straßen zu gehen, wenn es warm war, sah er als das Natürlichste an. Galt es eine Wette, so fanden wir ihn eines Sonntages auf dem belebtesten Spaziergang der Stadt, ebenfalls in Hemdeärmeln, auf einem Eckstein sitzen und die vorübergehenden Bekannten ernsthaft um ein Almosen ansprechend. Daneben gab es Händel mit Thorschreibern, Nachtwächtern und Polizeisoldaten, oder eine Prozession, in der er als Leidtragender voranging, während man ein paar todte Katzen zur Anatomie hintrug, und dazwischen Berichte, die uns ängstigten, wenn er bei einem Commers aus dem Fenster eines oberen Geschosses gesprungen war, um sich, heiß und weinglühend, in dem Teiche vor dem Hause abzukühlen.

Der Vater wußte, sah, erfuhr das Alles und ließ es geschehen, aber er hatte es gern, wenn dergleichen Dinge in einer Weise mitgetheilt wurden, die sein Einschreiten nicht nöthig machte. Denn da der Tollkopf trotz seiner Wildheit die Collegia fleißig und pünktlich besuchte, so mochte der Vater die Absicht haben, diesem Sohne durch die ihm gestattete Freiheit die Scheu zu nehmen, welche die strenge und falsche Behandlung seines [392] Charakters in der ersten Kindheit ihm vor dem Vater eingeflößt hatte. Indeß die ersten Eindrücke, welche wir empfangen, sind weit maßgebender, als man glaubt. So wurde auch mein zweiter Bruder niemals dem Vater gegenüber völlig frei, niemals im wahren Sinne Herr über sich selbst. Er that, wozu seine Laune, sein Temperament, sein ganzes Naturell ihn trieben, aber er that es immer mit einem inneren Widerstreben, er bereute es immer. Er übte das Verkehrteste meist mit dem geheimen Gefühle aus, es zu thun, um seine Freiheit damit kund zu geben und zu wahren, und daneben mit der geheimen Sorge, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er glich darin einer großen Masse von Menschen, die ihre Thorheiten gleichsam Andern zu Liebe, das heißt im Hinblick auf den Tadel der Andern begehen, dem Trotz zu bieten ihrer inneren Unfreiheit als Heldenthat erscheint. Wirklich freie Menschen habe ich immer auch maßvoll und besonnen, rücksichtsvoll für das Wohl und schonend für das Empfinden ihrer Umgebung gefunden.

Aber nicht allein das Zusammenleben mit meinen Brüdern, auch die Entwickelung meiner Schwestern wurde eine neue Quelle der Freude und des Interesses für mich, und je bestimmter die Eigenartigkeit einer Jeden sich von früh an aussprach, um so mehr trugen sie dazu bei, das Dasein im Hause vielgestaltig zu machen und zu beleben. Nun erst, da man der größten Mühe um ihre körperliche Wartung enthoben war, nun, da selbst die Jüngsten schon kleine Menschen mit bestimmten Gaben und Wünschen waren, nun fing auch für uns ältere Geschwister die Freude an den Kleinen an. Es erzieht aber den Menschen Nichts so sehr, als das Erziehen Anderer, es fördert [393] Nichts so sehr seine Einsicht, als das enge Zusammensein mit Kindern. Die Gelassenheit und Schonung, die man mit ihrem Fortschreiten und für ihre Eigenheiten haben muß, sind eine gute Vorübung für jene Geduld, ohne welche man im Leben Nichts leisten und Vieles zerstören würde, wie andererseits die einfache Güte der jüngeren Geschwister uns oft beschämte und von großer Wirksamkeit auf uns Erwachsene war. Ich gedenke dabei eines speciellen Falles. Mein jüngerer Bruder hatte einmal in einem Anfall von unbegründeter übler Laune unsere kleine, etwa sechsjährige Schwester Henriette gescholten und ihr, was streng verboten war, einen Schlag gegeben, so daß sie weinend in die Kinderstube gegangen war. Dem Bruder hatte das gleich leid gethan, aber er hatte es doch so hängen lassen. Ein paar Stunden später, als das Kind ihn im Flur des Hauses erblickte, lief es auf ihn zu, umarmte ihn und sagte: sei nicht böse, daß ich Dich so geärgert habe!

Solche Züge der Güte und Liebenswürdigkeit waren denn nicht verloren, und es bildeten sich in der Familie zwischen den einzelnen Geschwistern besondere Sympathien aus, die alle zusammengehalten wurden durch das starke Band der Liebe zu den Eltern, und durch das Streben, ihnen im Allgemeinen Ehre, im Einzelnen so viel Freude als möglich zu machen.

So abgezogen von mir selbst durch Thätigkeit und Liebe für die Meinen, gesellig vielfach angeregt, allmählig an einen verhältnißmäßig weiten Verkehr mit Menschen gewöhnt, hatte ich mein einundzwanzigstes Jahr vollendet. Unsere Vermögenslage hatte sich gebessert, ohne daß mein Vater darum sorgenfrei oder die Nothwendigkeit strenger häuslicher Oekonomie für uns geringer geworden wäre. [394] Des Vaters Geschäfte hatten sich in einem Grade ausgedehnt, der ein großes Betriebskapital erforderte. Dieses fehlte ihm, und sei es, daß er es nicht für gerathen hielt, mit fremdem, erborgtem Kapital zu arbeiten, oder daß er sich ein fremdes Kapital in dem Belange, wie er dessen bedurfte, nicht zu schaffen vermochte, genug, er befand sich durch viele Jahre in einem Mißverhältniß zwischen der Größe seiner Mittel und der Ausdehnung seines Geschäftes. Obgleich sein Erwerb recht groß war, obgleich er mit den zunehmenden Jahren auch die sich steigernden Bedürfnisse seiner Familie freigebig zu befriedigen und noch ein gewisses Vermögen dabei anzusammeln vermochte, wußten wir den Vater doch, ohne daß er sich darüber aussprach, häufig in Geldverlegenheiten, erhielten wir doch fortdauernd die Mahnung, uns einzuschränken, um dem Vater so wenig Sorge als möglich aufzubürden.

Um so überraschender war es also für mich, als wenig Tage nach meinem einundzwanzigsten Geburtstage mein Vater mich in das Zimmer rief, in dem er sich mit der Mutter befand, und mir die Frage vorlegte: was würdest Du sagen, wenn ich Dich heute über vierzehn Tage mit mir nähme?

Es war nämlich schon seit dem Winter eine Reise meines Vaters behufs seiner Weineinkäufe am Rhein und am Neckar im Werke gewesen, und diese war in den letzten Wochen auf die Mitte des Aprilmonates festgesetzt worden.

Es war die erste so weite Reise, welche mein Vater unternahm, und damals waren die westlichen Grenzen Deutschlands von Königsberg für die Vorstellung weit entfernter, als jetzt. Ich selbst hatte nie eine andere [395] Stadt als Königsberg gesehen, und ihren Umkreis nur überschritten, um hie und da einen Besuch bei Bekannten im Seebade Kranz, fünf Meilen von der Stadt, zu machen. Denn als die Eltern mit den Brüdern und der mir nächsten Schwester etwa ein Jahr vorher einmal einen Ausflug gemacht, um Frauenburg und seinen Dom, um Elbing und Marienburg mit seinem unvergleichlichen Schlosse zu sehen, war ich als die Aelteste zu Hause geblieben, um den Haushalt und die kleinen Geschwister zu versorgen. Aber schon damals hatte der Vater auf das Bedauern der Mutter, mich zurücklassen zu müssen, tröstend gesagt: sei ruhig, liebe Mutter! Fanny soll einmal noch mehr von der Welt zu sehen bekommen, als Ihr jetzt!

Indeß das Wort war keine Zusage gewesen, und so oft ich auch, am Fenster sitzend, mir bei winterlichen Sonnenuntergängen den röthlich schimmernden Schnee der Dächer betrachtet und mir das Alpenglühen auf den Gletschern vorgestellt, so oft ich mir Mignon's »Dahin, dahin!« vordeklamirt, und so begeistert ich oftmals für mich in der Stille beim Nähen die Worte der Jungfrau von Orleans, von »der prächtig strömenden Loire« wiederholt hatte: auf eine Reise für mich zu hoffen, eine Reise mir so nahe zu glauben, war mir niemals eingefallen. Es lag weit hinaus über Alles, was ich selbst von der Güte meiner Eltern erwarten konnte; es lag auch weit hinaus über die Ansprüche, welche man damals sogar in den Kreisen meiner wohlhabenderen Verwandten für die Töchter als berechtigt annahm, und ich wußte auf meines Vaters Frage auch Nichts zu sagen, als ihn und die Mutter strahlend vor Freude anzusehen.

Und freudestrahlend waren wir Alle drei. Der Vater [396] in dem Bewußtsein, mir ein so unverhofftes Glück zu bereiten; die Mutter, deren ganze Liebesfülle und Anmuth in solchen Augenblicken hell hervortrat, in der Freude über mein glückliches Gesicht, und ich selbst – ja mir war eigentlich zu Muthe, als solle ich nicht nur ein Stück von der Welt sehen, sondern als schenke der Vater mir die ganze Welt!

Und ein schön Stück Welt und Leben hat jene erste Reise mir erschlossen, den Weg gebahnt hat sie mir für alle Zukunft – wenn schon einen Weg, den weder mein Vater noch ich damals für mich im Auge haben konnten!

Im Hause begann nun reges Leben. Mein Vater schenkte mir vierunddreißig Thaler, meine Ausrüstung zu bestreiten. So viel hatte ich noch in meinem Leben nicht besessen, und es dünkte mir, als lasse sich damit eine Garderobe herstellen, die selbst in der Fremde sich sehen lassen könne. Indeß ein einfaches grünes Marcellinkleid, das erste farbig-seidene Kleid meines Lebens, und dadurch eine wahre Errungenschaft, ein anderes Sommerkleid, ein Reisehut, ein paar Morgenhauben, deren Spitzen und rosa Bänder mir in meinen Augen einen unwiderstehlich romantischen Anstrich gaben, einige gestickte Kragen und neue Schuhe, hatten mein kolossales Vermögen von vierunddreißig Thalern schnell erschöpft, und zu Hause begann danach ein Nähen und Schneidern der neuen Herrlichkeiten, ein Aufputzen und Zurechtmachen des vorhandenen Alten, daß man kaum zu Athem kam.

Für meine Geschwister war ich nun mit einem Male eine ganz neue Person geworden. Aber auch sie betrachtete ich mit einer Art von Erstaunen, weil ich sie und die Mutter auf eine ungewisse Zeit verlassen sollte. [397] Daß »wir Kinder«, die wir uns immer nur als eine Einheit empfunden hatten, getrennt werden könnten, daß ich jetzt, jetzt gleich, fortgehen würde, war mir, nun es vor mir stand, eine völlig neue Vorstellung, so oft ich früher auch an meine Verheirathung mit Leopold gedacht hatte. Alle Voraussicht ist farblos gegen die Gewalt der Wirklichkeit und Gegenwart.

Wir waren Alle unbeschreiblich glücklich. Wir kamen uns ordentlich vornehmer vor als sonst, weil Eine von uns zum Vergnügen auf Reisen ging, und doch weinten wir, Mathilde und ich, und selbst die Brüder, so oft wir daran im Alleinsein dachten.

In der Familie gab es viel Rederei. Die kinderlosen Onkel und Tanten sahen in diesem Reiseplane nur einen neuen Akt der Verwöhnung, die man mir angedeihen ließ, bis sie auf den Gedanken kamen, mein Vater habe die Aussicht, mich irgendwo an irgend Jemanden zu verheirathen. Das lag in ihrem Gesichtskreise, sie sprachen es auch gegen mich aus, daß der Vater wohl »eine Partie« für mich haben werde, und ermahnten mich dringend, nun endlich vom »hohen Pferde« zu steigen, und wenn ein ordentlicher Mann mich haben wolle, vernünftig zu heirathen ohne groß an Liebe zu denken, die in der Ehe doch nicht wie im Brautstande dauere. Man könne sich seinen Mann nicht bestellen und nicht malen, und wer wie ich fünf Schwestern und kein Vermögen habe, der müsse sehen, daß er aus dem Hause und unter die Haube komme.

Vernünftig war das sehr, nur war ich für diese Art von prosaischer Vernunft nicht eben sehr empfänglich, und sie hatte keine andere Wirkung auf mich, als mich [398] in allen meinen Idealen zu bestärken, und mich noch sehnsüchtiger zu machen nach einer Lebenssphäre, in der ähnliche Gründe solcher Vernunft mir in ähnlicher Weise nicht ausgesprochen werden konnten. Wie tausendfach die Unbildung das feinere Empfinden kränkt, davon hat sie zu ihrem großen Glücke meist kein Bewußtsein.

Meine Schul- und Jugendfreundinnen waren anderer Ansicht. Sie hatten nicht vergessen, daß unser Lehrer mich einmal »die Verfasserin« genannt, und sie hatten auch meine schönen Polterabendgedichte nicht vergessen. Sie sagten mir, mein Vater nähme mich mit, weil ich Schriftstellerin werden sollte! Wie außerordentlich dies gegen meines Vaters damalige Wünsche für mich war, oder wie das eigentlich angefangen werden würde, mich zur Schriftstellerin zu machen, das wußten sie freilich so wenig als ich selbst.

Ich schwamm aber in einem wahren Meere von Wonne! Alles entzückte mich: die neuen Kleider und die Abschiedsbesuche, mein Koffer und die Liebe meiner Geschwister, der Paß, auf dem mein Name neben dem des Vaters stand, und die unermüdliche Güte der Mutter, die immer neue Kleinigkeiten zu meiner Reiseausstattung hinzuzufügen beflissen war. Von dem Oberflächigsten zu dem Innerlichsten schwankte ich hin und her; aber über Allem leuchtete das Licht der goldigsten Hoffnungen. Was ich erwartete – ich hätte es keinem Menschen zu sagen gewußt. Aber ich war voller Erwartung, und dieser Zustand kommt dem reinen Glück am nächsten.

Im Fluge vergingen die Tage bis zu unserer Abreise. Wie wir zu Hause Abschied nahmen, wie wir nach der Post fuhren, das beschreibt sich nicht. Aber eben so wenig [399] beschreiben sich die Seligkeit und der Stolz, mit denen ich in dem Cabriolet der Schnellpost an des geliebten Vaters Seite durch die Straßen fuhr. Dies Vergnügen, alle die Bekannten zu grüßen! Dies Vergnügen, den grünen Schleier meines Strohhutes durch den hellen Morgen des dreizehnten April hinflattern zu sehen!

Und nun wieder Thränen, als ich die Mutter und die Brüder und all die guten Kinder weinend auf dem Wolme, und die Commis, die Küfer und die Arbeiter grüßend vor den Kellern stehen sah! Und dann der Triumph, an den Häusern der beiden Tanten vorbei zu fahren, die mich durchaus verheirathen wollten, und mir dabei zu sagen: ich heirathe doch nicht, und niemals, wenn ich es nicht will!

Dann noch ein Blick auf den Pregel und seine Schiffe, auf die Häuser der Vorstadt, auf die alte Haberberger Kirche, auf die Pumpe mit dem kleinen geschnitzten, bunt angemalten Figürchen des Hans von Sagan, des heldenmüthigen Schusters, der einst Königsberg gegen die Polen vertheidigt – und nun hinaus zum Thor, auf die lange, lange, unabsehbare Chaussee – die überall hinführte!

Und ich hatte zum ersten Male Königsberg und das Vaterhaus verlassen.

Mein Vater gab mir die Hand. »Nun Fanny?« sagte er. Ich küßte ihm die Hand, und er selbst führte mich hinaus in die Welt, hinaus in das Leben, das mich auf den weitesten Wegen hinbringen sollte an ein mich beglückendes Ziel.

[400]

Zweiter Band. Leidensjahre

1. Kapitel
[3] Erstes Kapitel

Im Jahre achtzehnhundert zweiunddreißig war das Reisen noch nicht so leicht als in unsern Tagen, und doch sah man es schon als einen ungemeinen Fortschritt an, daß man den Weg von. Königsberg nach Berlin, der auf der Chaussee etwa achtzig Meilen lang war, in zweiundsiebenzig Stunden zurücklegen konnte. Man liebte es zu erzählen, wie unsere Großväter und zum Theil auch noch unsere Väter, von Königsberg bis Berlin und Leipzig vierzehn Tage unterwegs gewesen wären, wie man auf der ordinairen Post elend und eng gesessen, wie die Wagen in den Löchern des Weges stecken geblieben wären, und umgeworfen hätten, wie die Passagiere unter dem Gepäck zu liegen gekommen, und wie gewissenhafte Familienväter ihr Testament gemacht und ihr Haus bestellt hätten, bevor sie einmal eine solche Reise unternahmen.

Dagegen war nun die pünktliche, wohlgepolsterte Schnellpost, die ihren Dienst auf den glatten Chausseen tadellos verrichtete, ein ganz andres Ding! Indeß man mußte doch recht frisch und kräftig sein, um zweiundsiebenzig Stunden unausgesetzter Fahrt, um drei Nächte in Kleidern, ohne alle Ruhe, nicht als etwas höchst Ermüdendes [3] zu empfinden; und wenn man zu sechs Personen in dem Innern der Schnellpost saß, und darunter, was mir später wohl gelegentlich geschehen ist, bei guter Jahreszeit drei, vier polnische Juden zu Gefährten hatte, die in ihren großen Pelzen von den Messen heimkehrten, so war es mit den Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Schnellpostwagens nicht eben weit her. Aber die Vorstellungen von der Bequemlichkeit wechseln mit der Möglichkeit sie zu befriedigen, und es kommt vielleicht noch die Zeit, in der man es als eine große Strapaze und als etwas sehr Unangenehmes betrachten wird, mit Hunderten von Menschen auf einmal, ohne alle persönliche Freiheit, als menschliches Frachtgut auf den Eisenbahnen befördert zu werden.

Damals aber, als ich im Jahre achtzehnhundert zweiunddreißig meine erste Reise unter dem Schutze meines Vaters machte, fiel es mir sicherlich nicht ein, daß es nicht bequem sei, zweiundsiebenzig Stunden zu fahren. Ich saß an seiner Seite in dem Coupé des Wagens, der gute Conducteur, ein großer dicker ehemaliger Kürassier-Unteroffizier, als Dritter neben uns, und ich empfand Nichts als ein fortdauerndes Vergnügen über das Glück, zu reisen, und über all das Neue, das ich sah. Was aber war mir, die ich meine Vaterstadt niemals verlassen, die ich die Welt nicht weiter gesehen hatte, als in einem Umkreise von sechs Meilen, was war mir nicht neu!

Glücklicher Weise ließ sich damals noch mit den Conducteuren reden, wie man das nannte. Sie hatten es nicht so gar eilig auf den Stationen, und mit einem Trinkgeld für sie und den Postillon ließ sich etwas Versäumniß [4] leicht wieder einbringen. That der Conducteur dann auch sehr ergrimmt, wenn die Passagiere selbst nach dem dritten Blasen nicht gleich kommen wollten, so fuhr er, und das war die Hauptsache, doch nicht eher ab, als bis er seine auf dem Stunden- und Courszettel wohlgebuchte Personenzahl beisammen hatte, und es war eigentlich ein höchst gemüthliches Gefühl, beständig solch einen verantwortlichen, ehrlichen Beamten, solch einen gutmüthig polternden Aufseher neben sich zu haben. Es war beinahe unmöglich, Etwas zu versäumen, zu vergessen, zu verlieren; der Conducteur gewährte fast alle Annehmlichkeiten eines Reise-Couriers.

In aller Gemächlichkeit besahen wir den Frauenburger Dom, die kopernikanische Wasserleitung, die, so viel ich mich erinnere, halb verfallen war, besuchten in Marienburg, das in seiner Art einzige Ritterschloß, die Marienburg, das der deutsche Orden gegründet, und gingen gemächlich in dem freundlichen Elbing spazieren, wo der Conducteur wirklich Noth hatte, seinen Beiwagen voll Cadetten, die sich nach allen Weltgegenden zerstreut hatten, wieder vollständig zusammen zu bekommen.

Die lange Tuchler Haide, die ganze Reihe häßlicher kleiner Judenstädte, durch die wir in Westpreußen zu fahren hatten, boten doch immer Etwas dar, was mich beschäftigte, und als ich einmal Nachts in Friedberg vor dem Posthause durch das Stillstehen des Wagens erwachte, war es mir so undenkbar, daß ich nicht zu Hause, daß ich im Postwagen und unterwegs wäre, daß ich mich förmlich und lange besinnen mußte, wie ich denn eigentlich hierher gerathen und was mit mir vorgegangen sei. [5] Ich hatte das Gefühl, als käme ich in einem Wagen von einem Balle nach Hause, und fragte ganz verwundert, wie ich denn auf der kleinen Strecke habe so fest einschlafen können? Erst das Lachen meines Vaters und des Conducteurs brachte mir meine Reise in's Bewußtsein. Ich war so sehr mit der Heimath verwachsen, so sehr an das Vaterhaus gewöhnt, daß ich mich in ein Dasein außerhalb desselben gar nicht recht finden konnte.

Am Morgen des neunzehnten April kamen wir in aller Frühe in Berlin an. Schon die Vorstädte hatten mir einen großstädtischen Eindruck gemacht, und die Frankfurter Linden, der Alexanderplatz, die Königsstraße, die Kurfürstenbrücke setzten mich mehr und mehr in Erstaunen. Ich dachte nicht daran, daß ich drei Nächte nicht im Bette gewesen, ich fühlte nicht die leiseste Müdigkeit, und war äußerst betrübt darüber, als mein Vater mir befahl, mich schlafen zu legen, nachdem wir unsere Zimmer im Hotel de Portugal in der Burgstraße eingenommen hatten. Ich versicherte, daß ich kein Auge schließen würde, denn die Sonne stand – es war sechs Uhr Morgens – hell am Himmel und ich war äußerst aufgeregt; aber die Natur machte ihr Recht doch geltend, und ich hatte einige Stunden vortrefflich geschlafen, als ich mit dem höchsten Glücksgefühl erwachte, und mich nun ganz sicher und gewiß in Berlin befand.

Alles entzückte mich. Ich hatte zum ersten Male im Leben ein Zimmer für mich ganz allein, ich wohnte zum ersten Male im Leben in einem Hôtel, ich wurde von Kellnern bedient, hatte rothseidene Fenstergardinen und einen schönen Teppich über den ganzen Fußboden, und [6] was die Hauptsache war, ich hatte gar Nichts zu thun, gar keine Pflicht zu erfüllen, war nur für mich selbst und zu meinem Vergnügen da, und Alles, was geschah, geschah in gewissem Sinne um meinetwillen. Diese Befriedigung des Egoismus war mir sehr angenehm. Ich wiegte mich ordentlich in dem Gefühl der Freiheit. Ich dachte zwar nach Hause, an meine Stube, an die Mutter, an die Geschwister, die nun an die Arbeit oder in die Schule gehen mußten, aber nur, um mich darüber zu freuen, daß ich dieses alles nicht nöthig hatte. Ich war wirklich sehr glücklich an dem Morgen, und ich kam mir so wichtig, so interessant vor, daß ich noch mit Vergnügen daran denke. Es schien mir, als fange das Leben erst jetzt für mich an, als liege die ganze Welt nun offen vor mir da, als müsse mir nun gleich das Beste und das Allerschönste begegnen, und als ich mich dann mit meinem für die Reise angeschafften Negligee, einem Foulard-Rock und einer kleinen Haube mit rosa Bändern, in das Fenster legte, um mit verwunderten Augen das alterthümlich prächtige Schloß und die Kurfürstenbrücke und die Statue des großen Kurfürsten anzustaunen, da war ich in meinem tiefsten Herzen überzeugt, Berlin müsse mich ebenso anziehend finden, als es mir erschien. Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn drüben an dem Fenster des Schlosses irgend ein vornehmer und schöner junger Mann gestanden und sich augenblicklich in mich verliebt hätte. Die kindische und romantische Eitelkeit der jungen Mädchen denkt man sich im Allgemeinen nie groß genug, weil man nicht weiß, wie weltfremd sie in der Regel sind, und weil die meisten Frauen sich[7] ihrer später so sehr schämen, daß sie sie nicht eingestehen mögen. Ich für mein Theil verwechselte mit der größten Unbefangenheit mein Gefühl mit dem Gefühl der mich umgebenden Menschen. Ich meinte Ueberraschung und Wohlgefallen erregen zu müssen, weil ich beides empfand, und der Neuling im Leben hat solche Selbsttäuschung beinahe nöthig. Er muß sich halbwege wie der Mittelpunkt der Welt erscheinen, um von dem Fremden, das ihn überall umgiebt, nicht er schreckt und nicht gedemüthigt zu werden. Erst die reife Erfahrung bringt uns dahin, uns gelassen als ein Atom in der Menge zu empfinden, und uns, auf uns selbst gestellt, in all dem Wollen und Treiben zu behaupten, das sich, mit uns gleich berechtigt, um uns her bewegt, oder uns der Gesammtheit dienend unterzuordnen und uns ihr zu fügen, je nachdem es eben für uns und Andere nöthig ist.

Indeß die zehn Tage, welche wir damals in Berlin verlebten, waren nicht danach angethan, meiner Selbstzufriedenheit wesentlichen Vorschub zu leisten, oder den Erwartungen, welche ich mir von der Gesellschaft in der Residenz gemacht, und die ich bei dem ersten Eintritt in dieselbe gleich fix und fertig vor mir zu finden gehofft hatte, irgendwie zu entsprechen.

Ich hatte zu Hause, wenn man von Berlin erzählte, immer nur von den Linden, von all den schönen eleganten Straßen, von den geistreichsten Cirkeln sprechen hören, hatte am ersten Tage auch eine Fahrt durch die schöngebauten Straßen der Friedrichsstadt gemacht, und kannte dem Namen nach die Familien, in denen jene anziehende [8] und geistvolle Gesellschaft sich bewegen sollte. Aber ich lebte, nachdem wir das Hotel verlassen hatten, nicht in den eleganten Stadttheilen, sondern bei einer meiner Tanten in der häßlichen, lärmvollen Münzstraße, und die ersehnten Kreise waren für mich nicht vorhanden. Ich war auf unsere Verwandten und auf die Geschäftsfreunde meines Vaters angewiesen. Das waren gute, brave Leute, indeß die Geselligkeit, welche ich bei ihnen fand, blieb fast überall hinter derjenigen zurück, an die ich in der Heimath gewöhnt gewesen war. Dazu kam, daß ich meinen Verwandten lange nicht so gut gefiel, als ich es mir erwartet hatte. Sie modelten auf alle Weise an mir herum. Meine Kleider hatten nicht den rechten Schnitt, die Taillen waren zu kurz, mein Haar war auch nicht nach der Berliner Mode geordnet. Ich trug Locken, die bei schwarzem Haar alt machen sollten. Auf mein Haar und auf meine Locken, die ich von Kindheit an getragen, war ich aber so stolz, als Simson auf die seinen; und nachdem mein Aeußeres kritisirt worden, ging es allmählich auch an die Kritik meines Verhaltens. Ich sollte zuvorkommender, sollte naiver, gelegentlich auch verlegener sein, denn so wie ich wäre, so ernsthaft und sicher und bestimmt, könne ich den Männern nicht gefallen; und zu gefallen müsse ich suchen, da sich sonst nicht leicht Jemand finden dürfte, der sich ein Mädchen mit so viel unversorgten Geschwistern aus einer nicht bemittelten Familie zur Frau erwählen würde. Das Schlimmste bei der Sache war, daß keine der mich zurechtweisenden Frauen mir Zutrauen oder gar Verehrung einflößte. Sie waren älter als ich, viel älter; aber das [9] bloße Alter hat mir an und für sich nie imponirt. Oberflächigkeit und Halbbildung werden ja dadurch nicht gemildert oder verbessert, daß man sich in ihnen ein ganzes Leben hindurch bewegt hat. Ich hatte es aber meist mit halbgebildeten, und darum in der Regel auch anmaßenden Frauen zu thun, die keine Ahnung von dem Ernste meiner Natur und meines Wollens hatten.

Mein Vater war übrigens an den Ermahnungen, in denen man sich gegen mich erging, sicher nicht ohne Antheil. Ich hörte einmal, daß er mit einem Bekannten davon sprach, wie sehr lieb es ihm sein würde, für mich »eine passende Partie« zu finden, und wie er mich zum Theil deshalb mit sich genommen habe. Ich hätte vor Scham und Zorn aufschreien mögen in dem Augenblicke. Ich kam mir wie eine elende Waare vor, die man auf den Markt führte, weil sich zu Hause kein Käufer dafür gefunden hatte, und ich wurde dadurch jedenfalls weder naiver, noch heiterer, noch liebenswürdiger. Ich hatte die größte Ueberwindung nöthig, mich schweigend zu verhalten, und ein Besuch, den wir gleich danach in der Familie eines Geheimen Justizraths machten, der meinem Vater verschwägert, und dem er durch seine Schwester dringend empfohlen worden, war nicht danach angethan, mir das Herz zu befreien.

Der Geheimrath, ein zum Christenthum übergetretener Jude, empfing uns vornehm, kalt und abweisend. Das war thöricht, denn er hätte uns gar nicht an zunehmen brauchen. Aber ich glaube, er genoß sich in jenem Zeitpunkte in seinen Würden und in seinem Ansehen selbst noch als etwas Besonderes, und er mochte sich die Genugthuung [10] nicht versagen, uns seine Herrlichkeit empfinden zu lassen. Zehn Jahre später war er durch die freiere Entwickelung seiner Kinder selbst wesentlich verwandelt, in sich frei und wohlwollend geworden; und er war nicht der einzige Mann meiner Bekanntschaft, den seine Kinder erzogen und weiter gebildet hatten, nachdem er ihre erste Erziehung und Bildung geleitet. Ich habe, so oft mir diese Erscheinung im Leben begegnete, immer an das Laub der Bäume denken müssen, das aus dem Baume seine Entstehung hat, aus ihm seine erste Nahrung zieht, und dann im Winter den Boden erwärmt, aus dem der Baum sich seine Kraft für sein neues Blühen und Treiben zu suchen hat.

Auf meinen Vater machte das vornehme Gebahren des Geheimraths einen komischen Eindruck, und er sprach das heiter lachend aus, als wir denselben verlassen hatten. Auf mich, die ich ohnehin verletzt und gedrückt war, hatte es eine entmuthigende Wirkung, obschon ich mit stiller Genugthuung die würdige Haltung meines Vaters bei dem Besuche genossen und mich an seiner Schönheit und Freimüthigkeit, gegenüber dem sehr unschönen Geheimrath, recht eigentlich gefreut hatte. Aber ich sagte mir zugleich in jenem Augenblicke: vor den Uebeln, unter denen ich zu Hause gelitten, gebe es kein Entfliehen für mich, und schon fing ich an, es höchst gleichgültig zu finden, ob ich zu Hause oder in Berlin mich unglücklich fühle, als wir eben an jenem Morgen voll peinlicher Empfindungen, zum ersten Male in das zu jener Zeit noch neue, von Schinkel erbaute Museum gingen.

[11] Aus dem heißen Frühlingstage, aus dem Lärm der Straße traten wir durch den damals noch unbemalten, und darum ruhigen Säulengang in die kühle, stille, von oben beleuchtete Rotunde der Antiken-Gallerie ein. Ich hatte nie ein edles Bauwerk, nie ein Werk der Plastik gesehen, und es war mir, als werde ich plötzlich in eine andere Welt, in eine Welt versetzt, von der ich in unklaren Ahnungen, wie von einer fernen Heimath geträumt hatte. Ich wußte nicht, wie mir geschah, ich hätte nicht sagen können, was ich dachte; aber die Thränen kamen mir in die Augen, ich mußte die Hände falten, und ich konnte mich nur durch den Gedanken an die Anwesenheit meines Vaters davon zurückhalten, niederzuknieen vor Entzücken. Ich genoß zum ersten Male die Seelenbefreiung, welche mir in späteren Jahren so oft durch die Betrachtung des Schönen, durch die Kunst überhaupt, gewährt worden ist, und jetzt noch, wenn ich die Rotunde des Museums betrete, die freilich durch das geschmacklose Standbild Friedrich Wilhelms des Dritten sehr verunziert worden ist, erwärmt und erquickt mich die Erinnerung an jenen ersten Eindruck.

Ich empfand, daß für mich Etwas auf der Welt vorhanden sei, das höher stehe, als alles mich zufällig Berührende und Verletzende. Mochte ich den Menschen gefallen oder nicht, mochte ich mich verheirathen oder nicht, mochte ich abhängig oder frei sein, mochte man mich gütig oder kalt empfangen: das Schöne war vorhanden auf der Welt, und ich konnte es genießen!

Die vollkommene Harmonie, das in sich Beschlossene des Baues, der stille, feierliche Ausdruck in den Köpfen [12] der alten Bildwerke, die sanfte Gemessenheit in den Bewegungen der Gestalten, waren mir fremd und vertraut zugleich. Es dämmerte mir damit eine Offenbarung für mein ganzes Leben auf, und wenn ich damals auch weit davon entfernt war, mir klar machen zu können, welchem Zauber ich erlag, so fühlte ich seine Macht über mich deshalb nicht weniger stark und beglückend.

Mein Vater theilte meine Befriedigung nicht. Er sah in jener Zeit die Aufstellung unbekleideter Bildwerke an Orten, welche von Frauen und namentlich von Mädchen besucht werden konnten, als etwas Unsittliches an, und ich hatte daher auch die wenigen in der Kunstschule zu Königsberg befindlichen Gipsabgüsse niemals sehen dürfen, obschon ich, durch die Jacobs'schen Schriften angeregt, danach Verlangen getragen hatte. Wir verweilten daher auch nicht lange in der Antiken-Sammlung, sondern durchwanderten die Bildergallerie, an der mein Vater vom Standpunkt der Sittlichkeit ebenfalls viel auszusetzen hatte, und es war der einzige, den er an jenem Morgen mir gegenüber gelten lassen wollte. Er hielt sich also auch bei den Bildern verhältnißmäßig nur kurze Zeit auf, und ich hatte dagegen Nichts einzuwenden. Ihre Farben, ihre oft leidenschaftliche Aktion regten mich auf, und störten mir die feierliche Empfindung, die mir so wohl gethan hatte, und deren noch einmal theilhaftig zu werden, ich lebhaft wünschte. Ich hatte immerfort Mignon's Worte im Sinne:


Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder steh'n und seh'n dich an –

[13] und ich fühlte es, wie man die Sehnsucht nach solchen, nach der ruhigen Schönheit der Kunst nicht mehr verlieren könne, wenn man einmal die Freude kennen lernen, welche sie zu gewähren im Stande ist.

Es war die lebhafteste Erinnerung, die ich von jenem ersten Aufenthalte in Berlin mit mir nahm, und alles Andere verschwand davor. Ich hatte den Aufführungen des Tasso und des Oehlenschläger'schen Correggio beigewohnt, in welchem Letztern Lemm als Michel Angelo einen wahren, Triumph gefeiert hatte und in Erscheinung und Spiel gleich ausgezeichnet und energisch gewesen war; indeß ich hätte alle Theatervorstellungen dafür hingegeben, hätte ich wieder in das Museum gehen dürfen. Das wurde mir jedoch nur noch einmal, am Tage vor unserer Abreise zu Theil, wo ich im Vorübergehen einen Blick hineinwerfen konnte, und damit schloß sich für mich der Tempel der Kunst auf eine lange Zeit.

An dem Abende, an welchem man im Theater den Correggio spielte, machte man mich in einem Zwischenakte auf eine Dame aufmerksam, die sich in einer der Logen befand. Sie war klein und betagt, hatte einen wunderlichen und nicht eben hübschen oder frischen Kopfputz auf, und unterhielt sich mit einer neben ihr sitzenden Frau und mit zwei Herren, die hinter ihr saßen und sich zu ihr geneigt hatten. Man hörte ihr offenbar sehr aufmerksam zu, sie wendete aber im Sprechen den Kopf oft mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit nach dem Theater hin, ich konnte also sehen, daß sie einen dunklen Teint und sehr ernsthafte dunkle Augen hatte. Daß sie eine Jüdin sei, war unverkennbar, und man sagte mir, das sei Rahel[14] Levin, die Frau von Varnhagen von Ense. Ich hatte ihren Namen nie gehört, nur um Varnhagen's willen interessirte sie mich, und ich erzählte, daß wir von meiner Tante, der Doctor Assing in Hamburg, eine Empfehlung an ihren Bruder, an Herrn von Varnhagen, mitgebracht, aber auf meine Bitte nicht benutzt hätten, weil der gezwungene Empfang bei dem Geheimrath mir so widerwärtig gewesen sei. Man wollte meinen Vater überreden, noch am letzten Tage das Varnhagen'sche Haus mit mir zu besuchen, weil man sich dort von Rahel's Güte und Varnhagen's Humanität nur des Besten zu versehen habe. Indeß ich hatte Scheu davor, mein Vater war beschäftigt und es unterblieb. Später hätte ich viel darum gegeben, Rahel, die durch ihre hinterlassenen Briefe ein Gegenstand meiner wärmsten Verehrung und Liebe geworden war, nur einmal in ihrem Hause gesehen und das Wort ihres beredten Mundes nur einmal vernommen zu haben.

Von Berlin, das ich mit solch kindischer Zuversicht betreten, schied ich eigentlich in recht gedrückter Stimmung, obschon meine Briefe in die Heimath davon gewiß Nichts verrathen haben, und mein Vater keine Ahnung davon hatte. Was mich quälte, hätte ich nicht sagen dürfen, und ich wollte doch auch nicht undankbar erscheinen. Wir besuchten Leipzig, wo zwei meiner Hamburger Onkel sich der Messe wegen aufhielten. Ich sah das lebhafte Geschäftstreiben, sah Armenier und Perser, wurde von meinen Onkeln mit Putz- und Schmucksachen beschenkt; wir wohnten im Hotel de Pologne sehr hübsch, frühstückten in Auerbach's Keller, besahen das Schlachtfeld, Poniatowsky's Denkmal und das Haus in Gohlis; [15] waren im Rosengarten, und es trat überhaupt viel Neues an mich heran, mir widerfuhr Nichts als Gutes; aber die rechte Freude an der Reise war mir genommen, seit ich wußte, welchen Absichten ich sie eigentlich verdankte.

Von Leipzig ging es über das Schlachtfeld von Lützen nach Weimar. Goethe war erst wenig Wochen todt. Wir standen in Betrachtung vor seinem Hause, und mein Vater war auffallend gerührt dabei. Das Haus Schiller's damals gesehen zu haben, erinnere ich mich nicht. Mein Vater hatte Goethe's Wohnort sehen wollen, und wir waren nur deshalb in Weimar geblieben, bis die nächste Schnellpost uns über Erfurt und Gotha nach Frankfurt fahren konnte, wo wir für einige Tage Halt machten. In Frankfurt waren es wieder Goethe's und Börne's Geburtsstätten, die wir aufsuchten, und es sah in jenen Tagen in der Judengasse, in welcher Börne geboren war, noch entsetzlich genug aus. Ich kannte sie, als ich sie achtzehnhundert achtundvierzig wieder sah, kaum noch wieder. Selbst das Verzerrte in den Physiognomien ihrer Bewohner, das uns im Vergleich zu den oft so schönen polnischen Juden aufgefallen war, kam mir später in der jungen Generation gemildert vor. Die Verkommenheit des Volkstammes in der Judengasse hatte achtzehnhundert zweiunddreißig wirklich etwas Entsetzliches, und wir wurden des Eindrucks lange nicht ledig. Wir verweilten ein paar Tage in Frankfurt, weil der vortreffliche Gasthof »Zum Weidenbusch« dem Vater gefiel, fuhren nach verschiedenen Orten der Umgegend, sahen die historischen Gebäude, und verließen es, um uns nach Darmstadt zu wenden, an welchem Orte wir die Post aufgaben und [16] einen eigenen Wagen mietheten, um der Fahrt auf der Bergstraße bis hinunter nach Heidelberg recht gemächlich froh werden zu können.

Am Morgen unserer Abfahrt von Darmstadt kam der Lohnkutscher fragen, ob mein Vater wohl geneigt wäre, einem Studenten, der von Göttingen komme und nach Heidelberg wolle, die Mitfahrt zu gestatten. Mein Vater ließ ihn zu sich bitten, der junge Mann, er hieß Stolting, gefiel ihm, und so fuhren wir zu Dreien in den schönen Morgen hinein. Das helle Frühlingswetter, die schöne Gegend, die Hügelkette, die blühenden Fruchtbäume an den Chausseen, und der bescheidene, fröhliche Student verscheuchten meine innere Verstimmung. Der Vater, der in seinem Herzen sehr jung war, und eben so wie ich sich zum ersten Male in einer schönen Gegend befand, war ungemein heiter. Wir gingen weite Strecken zu Fuß, ein Vergnügen, das wir Beide auch noch nicht genossen hatten, machten Halt, wo es uns gut dünkte, spazierten in den kleinen, reinlichen Städten umher, in denen wir den Mittag einnahmen oder die Nacht zubrachten, und überall fand ich Neues, überall Erfreuliches. Die hübschen, bei uns im Norden nicht vorkommenden Brunnen mit ihren fließenden Röhren, die Mädchen, welche Wasser schöpfend an ihnen verweilten und die Last auf dem Kopfe heimtrugen, die langen Wagenreihen der Frachtfuhrleute in ihren blauen Blousen, die vielen Bäche und die vielen Wassermühlen, die ganze südlichere Natur, der fremde Menschenschlag, der fremde Dialekt, Alles machte mir Freude, und daß man mich überall für die Frau und nicht für die Tochter meines [17] Vaters hielt, war noch eine besondere Quelle von Heiterkeit und Scherzen.

Ich glaube wir brachten zwei Tage auf der Bergstraße zu, und gelangten erst am Nachmittage des dritten Tages nach Heidelberg, das mir die zweite Offenbarung auf dieser Reise zu bieten hatte.

Es war in Königsberg unter meinen Jugendfreundinnen eine feststehende Redensart gewesen, daß ich mir »aus der Natur Nichts mache!« und ich hatte das gelassen so lange angehört, bis ich es selbst geglaubt. Wie sie darauf gekommen waren, mir diese Fühllosigkeit zuzutrauen, begreife ich jetzt wohl. Was ich in der freien Natur empfand, das hatte ich von meiner frühesten Kindheit an empfunden, und so angenehm die Eindrücke mir waren, dünkten sie mir viel zu natürlich und zu vertraut, als daß ich ihrer besonders hätte erwähnen, oder sie besonders aussprechen mögen. Der Frühlingssonnenschein, das Flüstern des jungen Laubes, die schönen Sommernächte waren mir gewiß eben so erquicklich als den Andern, aber ich sagte das nicht, und es machte mich ungeduldig, wenn die Andern sich darüber in Ausrufen und Redensarten ergingen, die ich alle schon so oft von ihnen gehört hatte, die ich alle schon kannte. Bei den Einen erschien es mir geschwätzig, bei den Andern geziert. Ich kam also leicht dahin, sie zu verspotten, und es war mir zuletzt recht angenehm, wenn sie mich für gefühllos gegen die Naturschönheiten hielten, sofern ich nur keine jener landläufigen Entzückungen mit anzuhören brauchte. Sie waren dabei im Rechte, und ich ohne meine Schuld im Unrecht. Die Strenge meines[18] Vaters gegen Alles, was an Empfindsamkeit streifte, hatte mich in mich selbst zurückgewiesen, und sein Widerwille gegen »leere Redensarten« mir die Freiheit und Unbefangenheit des mündlichen Ausdrucks meiner Empfindung nach dieser Seite hin, für lange Jahre genommen. Ja selbst als ich in späterer Zeit dichtend zu schreiben begann, blieb mir noch sehr lange die Scheu, mich in Schilderungen der Natur zu ergehen. Ich fürchtete immer etwas Allbekanntes und darum Ueberflüssiges damit zu thun, fürchtete ermüdend oder lächerlich damit zu werden, und erst als ich vollkommen Herr der Darstellung geworden war, wagte ich es in diesem Punkte meiner Neigung nachzugeben.

Es war ein wundervoller Mittag, als die waldige Höhe, an deren Fuß Heidelberg gelegen ist, immer deutlicher hervortrat, und endlich das Schloß in seiner röthlichen Farbe vor unsern Augen aus dem jungen Grün emporstieg. Wir befanden uns in der ersten Hälfte des Maimonats. Die Bäume hatten ihr volles Laub, denn das Frühjahr war zeitig angebrochen, und der ganze Schmelz der ersten Frische machte es noch üppiger erscheinen. Alles stand in Blüthe, die Fruchtbäume, die hie und da bereits anfingen ihre Blüthen abzuschütteln, so daß dieselben glänzend in dem Sonnenlichte umherstäubten, die Kastanien, welche ihre weißen und rothen Fackeln noch hoch emporhielten, und der Flieder, der seine Düfte weit hinaus sendete. Selbst Rosen gab es schon an vielen Stellen, und auf dem Gemäuer wuchsen zwischen dem großblättrigen Epheu wilder Goldlack und rothe Federnelken hervor.

[19] Ich fühlte mich wie in ein Paradies versetzt, und mit ungewöhnlich scharfen Sinnen begabt, empfand ich die mir fremde Ueppigkeit der mich umgebenden Natur doppelt lebhaft. Die Helle der Luft, der schnelle Strom und das Funkeln des Lichtes auf dem Wasser, der starke Wohlgeruch, der die Luft erfüllte, die Schönheit des Hügelzuges, der Glanz der Farben und ein Etwas in der Luft, das ich noch nie geathmet hatte, berauschten mich und regten mich zu einer unbeschreiblichen Freude auf. Ich mußte, um doch irgend einen Ausdruck für mein Glück zu haben, meinem Vater immerfort die Hände küssen, und es that mir ordentlich wehe, als wir in die Stadt und in das Hotel einfuhren, und ich statt der weiten, sonnigen Natur die Häuserreihen des Marktes vor mir hatte, auf dem der gewöhnliche städtische Verkehr, auf dem auch die Studenten mit ihren Hunden ihr Wesen trieben.

Indeß wir verweilten in den Stuben auch nicht länger als eben nöthig war, und anderthalb Stunden hindurch schweiften wir in den Anlagen auf der Höhe und in den Ruinen des Schlosses umher, und was sonst irgend Merkwürdiges in Heidelberg zu sehen war, das Heidelberger Faß und das Wahrzeichen von Götz von Berlichingen's eiserner Hand wurde gewissenhaft in Augenschein genommen. Epheuranken und wilder Goldlack wurden sauber gepreßt und auf Papier geheftet, und wie mit einem Zauberschlage war in der weiten, schönen Natur der Druck von mir genommen, der seit Berlin auf mir gelastet hatte.

Es kam eine ganz neue Jugendlust über mich. Ich[20] dachte an keine geistige Fortbildung, an kein Streben irgend einer Art, und nicht an die Heimath und nicht an die Zukunft. Ich fühlte mich sorglos wie nie zuvor, ja es war mir eigentlich, als brauche der Mensch gar kein Obdach und gar keine andere Menschen, da es ja so warm und so schön sei in der Welt. Ich hätte nur immer fort und immer weiter in die schöne Luft und in die schöne Gegend hineinlaufen mögen, und beneidete unsern jungen Studenten gar sehr darum, daß er in Heidelberg bleiben und umherwandern könne nach Herzenslust.

Am zweiten Morgen nach unserer Ankunft trennten wir uns von unserm jungen Reisegefährten. Er nahm sich vor, uns in Baden-Baden noch besuchen zu kommen, führte das auch aus, und ich sah ihn dann durch eine Reihe von fünfundzwanzig Jahren nicht wieder, bis wir einmal in Berlin in einer Gesellschaft zufällig auf einander trafen. Er, ein angesehener Beamter und Vater einer großen Familie; ich, weit abgeführt von der Beschränkung des Lebens, die ich mir damals zugewiesen glaubte, als wir in glücklicher Jugendlust an den Ufern des Neckar uns der schönen Frühlingsluft erfreuten. Aber wir dachten doch Beide noch daran mit Freude, und ich gab dem Manne mit rechter Rührung die Hand, der einst so gute Stunden mit uns durchlebt, und der meinen Vater so heiter und so froh gesehen hatte. Er war mir, was die eiserne Hand des Götz mir einst gewesen, ein Wahrzeichen aus der Vergangenheit. Und da ich dies Bild gebrauche, möchte ich der Bedeutung der guten alten Wahrzeichen einmal das Wort reden und für sie [21] eintreten. Mit wie vornehmem Lächeln die übersättigten und die in Abstraktionen erzogenen Menschen auch auf Wahrzeichen herabsehen mögen, für die Jugend und für den nicht vollständig unterrichteten Menschen behalten sie ihre entschiedene Bedeutung. Denn je gesunder und unbefangener der Mensch in sich und in seiner Gegenwart beruht, um so mythischer ist ihm alle Vergangenheit. Er hat Noth, daran zu glauben, daß eine Zeit vor ihm dagewesen ist, und Noth sich vorzustellen, daß eine Zeit kommen werde, in der er nicht mehr sein wird. Alles, was er nicht selbst erlebte, hat für ihn nur etwas Schattenhaftes, ja ein gewisses zweifelhaftes Wesen. Er hat davon gehört, gelernt, er glaubt auch daran, er hat sich vielleicht dafür begeistert, aber – er ist nicht dabei gewesen und er hat es nicht gesehen. Sehen aber ist Alles für Denjenigen, in dem der Naturmensch nicht durch die Erziehung untergegangen ist, denn unsere besten Kräfte beruhen auf unserer Sinnlichkeit. Noch heute erinnere ich mich ganz genau, wie das »Schauen mit Augen« mir Dinge und Zeiten und Menschen erst bis zur vollständigen Wirklichkeit lebendig machte, die mir längst bekannt, aber bis dahin nur Begriffe gewesen waren, und wie mir der flüchtige Anblick eines eisernen Handschuhes, den man zum Andenken an Götzen's Aufenthalt in jenem Hause zu Heidelberg dort angebracht, die Gestalt des Götz urplötzlich aus der Poesie in die Historie, aus der Dichtkunst in die Wirklichkeit hinübertrug.

Ganz ebenso erging es mir, als wir in den nächsten Reisetagen durch die kleinen Städte der Pfalz und Badens [22] fuhren. Durlach, Bruchsal, Pforzheim, alle diese Ortsnamen, die ich in der Schule mit maschinenhafter Sicherheit der Reihe nach hergesagt hatte, deren Geschichte mir bis zu einem gewissen Grade vertraut war, und von deren geistlichen Fürsten und von deren Unterthänigkeit unter das deutsche Reich ich so und so oft gehört und gesprochen, hatten doch nicht wesentlich dazu beigetragen, mir die Vorstellung der deutschen Zerspaltung und Kleinherrschaft zu geben. Das deutsche Reich war für mich auch nur ein Begriff gewesen, der mir von der Gegenwart viel weiter abzuliegen schien, als es thatsächlich der Fall war. Aber als wir nun durch diese Orte fuhren, als wir die verlassenen Paläste und Lustschlösser sahen, die öden Schloßhöfe, aus deren Steinpflaster das Gras hervorwuchs, die sonneverbrannten Fenster mit den geschlossenen Laden, deren Lack und Goldverzierung zerbröckelt war, als uns hier einmal in einem alten architektonischen Ornament die Bischofsmütze, dort einmal Kreuz und Krummstab in ähnlicher Weise begegneten, und ich bemerkte, wie man es gar nicht einmal der Mühe werth geachtet hatte, diese alten Zeichen der verschwundenen Herrschaft fortzunehmen; als daneben die Leute davon sprachen, wie es zu den bischöflichen Zeiten, oder zur Zeit des Reiches »im Reich« gewesen sei, und wenn sie von den nächstgelegenen Orten noch so redeten, als lägen sie im Auslande; wenn sie draußen nannten, was keine drei Meilen von ihnen entfernt war, da lernte ich verstehen, wie es hier noch vor kaum einem Menschenalter gewesen, und was sich hier ereignet hatte. Und wie ir[23] bis dahin die Poesie die Wirklichkeit verdunkelt, so half jetzt die Wirklichkeit, so half der sinnliche Eindruck jetzt dazu, mir die Poesie zu erklären und mir lebendiger zu machen, was durch sie und in ihr dargestellt worden war.

[24]
2. Kapitel
Zweites Kapitel

In heiterster Gemüthsverfassung langten wir in Baden-Baden an, und der Gedanke, mich in einem der ersten Badeorte der Welt zu befinden, entzückte mich. Alles, was ich in deutschen, französischen und englischen Romanen von Badeorten im Allgemeinen und von Baden-Baden in's Besondere gelesen hatte, webte sich in meiner Phantasie zu einem magischen Ganzen zusammen, das in schattenhaft wechselnden Bildern an meinem Geiste vorüberzog. Ein Kursaal, ein Spielsaal, Promenaden, Trinkhallen, berühmte Leute, galante Kavaliere, geputzte Damen, schöne Kavalkaden, Bälle, und Gott weiß welche Herrlichkeiten noch, schwebten mir vor der Seele, wirbelten kaleidoskopisch durcheinander, und ich empfand wieder einmal jene frohe Zuversicht der Jugend, jene Neugier der Unerfahrenheit, die so beglückend ist, weil sie immer nur Erfreuliches und Bedeutendes zu finden erwartet. Und Gutes und Bedeutendes wurde mir in Baden-Baden auch zu Theil, wenn schon nicht so direct und nicht in der Weise, welche ich mir vorgestellt hatte.

Unsere Fahrt nach Baden hatte meinem Onkel Friedrich Jacob Lewald, dem jüngsten Bruder meines Vaters gegolten, der ein Jahr vorher, der Cholera wegen, von [25] Breslau, wo er ansässig war, mit seiner ganzen Familie nach Süddeutschland gegangen war, und seinen Aufenthalt daselbst verlängert hatte, weil die Entwickelung des dort bereits eingebürgerten Constitutionalismus ihn interessirte, und später die Niederkunft meiner Tante das Verweilen bis in das Frühjahr nöthig machte, wo man sich denn wieder der schönen Jahreszeit wegen nicht von den lieblichen Gegenden trennen wollte. Die Familie hatte den Winter in Mannheim und Heidelberg zugebracht und war dann zum Frühjahr nach Baden übergesiedelt, wo mein Onkel ein ganzes Haus, auf der Wiese neben der Lichtenthaler Allee, zur Miethe genommen hatte.

Und es bedurfte in der That eines ganzen Hauses, um eine so zahlreiche, an größte Bequemlichkeit gewöhnte und verwöhnte Familie unterzubringen. Sie bestand damals aus einer Tante meines Vaters, deren Tochter mein Onkel Lewald zur Frau hatte, aus den fünf Kindern meines Onkels, von denen das älteste Mädchen vierzehn Jahre alt sein mochte, und der jüngste Knabe eben geboren worden war. Dazu kamen noch die Gesellschafterin meiner Großtante, ein ältliches adeliges Fräulein, und eine junge entfernte Verwandte der Familie, die von der Großtante erzogen wurde. Ein süddeutscher Candidat der Theologie, der Erzieher der Kinder, und eine Französin aus dem Elsaß, die Wärterin des Neugebornen, mit der übrigen zu einem solchen Hausstande gehörenden Dienerschaft, vollendeten das Personal.

Mein Onkel, dessen unverkennbare Aehnlichkeit mit meinem Vater mir angenehm auffiel, empfing uns an der Thüre seines Hauses. Die beiden Brüder hatten sich [26] lange, lange Jahre nicht gesehen, ihre Begegnung war sehr herzlich, und der Onkel, der mich als ein lallendes Kind verlassen hatte, schien Freude an mir zu haben, und gefiel sich darin, mein »ächt Lewald'sches Gesicht« zu betrachten. Auch die Frauen nahmen uns mit offenen Armen auf, und es machte mir großes Vergnügen, den Vater mit einem seiner Brüder verkehren zu sehen, oder es zu hören, wie die Großtante ihn »lieber Sohn« und »Du« hieß. Er erschien mir dadurch zum ersten Male nicht so ausschließlich nur als mein Vater und viel jünger als zu Hause.

Mein Vater stand damals in seinem fünfundvierzigsten Jahre, mein Onkel war achtunddreißig Jahre alt. Seine Bildung war eine schulmäßigere als die meines Vaters. Er hatte von seinem zwölften bis zu seinem sechszehnten Jahre das altstädtische Gymnasium zu Königsberg besucht, und dann auf einem dem Grafen Truchseß-Waldburg gehörigen Gute die Landwirthschaft erlernen wollen, für die ihm durch sein ganzes Leben eine Neigung geblieben war. Ich weiß nicht, welche Verhältnisse und Rücksichten ihn bestimmt haben mögen, trotz dieser Vorliebe, dem gewählten Berufe zu entsagen; aber er verließ das Gut nach zwei Jahren und trat mit achtzehn Jahren, wie früher erwähnt, in das Handlungshaus meines Vaters ein, in dessen Angelegenheiten er Polen und Rußland, und namentlich die russischen Ostseeprovinzen bereiste. Kaum einundzwanzig Jahre alt, verheirathete er sich mit seiner gleichaltrigen Cousine, die eine einzige Tochter und reiche Erbin war, und lebte von da ab, ohne eigentliche Berufsbeschäftigung, mit deren Eltern in [27] demselben Hause in Breslau. Ein Handlungshaus, das er mit einem seiner Onkel etablirt, war wieder aufgelöst worden, und da der Tod seines Schwiegervaters, der seiner Frau ein namhaftes Vermögen zufallen machte, den Onkel der eigentlichen Lebens-und Nahrungssorgen ganz und gar enthob, so hatte er sich seit dem, in glücklicher Ungebundenheit, sehr viel mit den ökonomischen und merkantilischen Verhältnissen von Schlesien, und eben so mit der Geschichte dieser Provinz beschäftigt. Das in jener Zeit neu gegründete Handelsministerium bediente sich daher seiner Kenntnisse zur Erforschung der nach dem Kriege sehr verwickelt gebliebenen Verhältnisse der Provinz, und das Finanzministerium hatte achtzehnhundert und zweiundzwanzig den sechsundzwanzigjährigen jungen Mann auf mehrere Monate nach Berlin gerufen, um ihn bei der Regulirung der indirecten Steuern zu Rathe zu ziehen. Sein Unabhängigkeitssinn und die Rücksicht auf seine Frau und Schwiegermutter, welche Breslau nicht zu verlassen wünschten, hatten ihn abgehalten, auf den Vorschlag des Minister von Maaßen einzugehen, und im Finanzministerium Dienste zu nehmen, aber sein Augenmerk war auf die Finanzverhältnisse des Landes, auf das öffentliche Leben im Allgemeinen und besonders auf die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten von Breslau gerichtet geblieben, und ebenso lebhaft und energisch, als des Wortes in Schrift und mündlichem Verkehr durchaus mächtig, trat er bei den verschiedensten Anlässen bald persönlich, bald mit größern oder kleinern Arbeiten in der Presse angreifend oder berathend ein. Einzelne von diesen Arbeiten waren über den Bereich der Provinz [28] hinaus bekannt geworden, und hatten, da sie durchweg freisinnig waren, ihm unter den süddeutschen Liberalen mannigfache Bekanntschaften erworben, mit denen er vielfach verkehrte. Er sah damals überhaupt, im Gegensatz zu seinen spätern Lebensgewohnheiten, gern viel Menschen um sich her, und er war recht dazu geschaffen, in der Gesellschaft zu gefallen und sich selber in ihrer Mitte wohl zu fühlen.

Mit einem glücklichen Gedächtniß begabt, stets im vollen Besitz seiner geistigen Mittel, äußerst humoristisch, und gleich geschickt zu ernster Auseinandersetzung wie zu heiterer Unterhaltung, witzig, schlagfertig, rasch, und wenn er es wollte auch wieder von schöner epischer Behaglichkeit, habe ich nie Jemand anmuthiger und geistreicher erzählen hören, als mein Onkel es in jenen Tagen that. Er hatte nach seiner Verheirathung alljährlich einen Theil des Sommers auf Reisen und in Bädern zugebracht, hatte sich im weiten Menschenverkehr geschult, seine Formen abgeschliffen, vielerlei erlebt, viel beobachtet, und was mir die Hauptsache war, er hatte im Jahre achtzehnhundert dreiundzwanzig in Marienbad Goethe kennen lernen, was ihn für mich mit einem wundervollen Nimbus umgab.

Ich wurde es nicht müde, die Unterhaltung auf jene Tage zu bringen, ich war sehr gespannt darauf, einen rothseidenen Regenschirm zu sehen, unter welchem der Onkel einmal die Excellenz Goethe nach Hause geleitet, und den er deshalb, als der Schirm unbrauchbar geworden, in Breslau zum Andenken aufgehoben hatte; und da der Onkel ein Talent für Nachahmung besaß, wußte er es sehr ergötzlich darzustellen, wie ein einfältiger [29] österreichischer Graf sich eines Tages abgemüht, Goethe zu beweisen, daß es sehr leicht sei, sich in der Rechnung mit dem Münz- und Scheinengeld zurecht zu finden. »Zwei Kreuzer sind fünf Kreuzer, und vier Kreuzer sind zehn Kreuzer, und zwei Gulden sind fünf Gulden« hatte der Graf immerfort erklärt, und Goethe hatte das mit unerschütterlicher Gelassenheit angehört. Endlich aber hatte er mit seiner Olympischen Ruhe gesagt: »daß das Publikum sich damit in's Gleiche zu setzen versteht, das glaube ich gern, wie aber die Regierung sich einmal aus dem Dilemma zwischen Schein und Sein herauswickeln und mit ihrer Finanzwirthschaft in Ordnung kommen wird, das möchte schwerer zu bestimmen sein.« Der Graf hatte ihn indeß versichert, daß »das All's 'ne Kleinigkeit sei« und sich in bester Ordnung befinde, und Goethe ihn mit der Bemerkung entlassen: »es soll mich sehr erfreuen, mein Herr Graf! in diesem Punkte mich geirrt zu haben.«

Ein andermal hatte Goethe den Onkel um unsere Vaterstadt Königsberg befragt, die ihn um Kant's, Hamann's und Hippel's willen interessirte, und der Onkel konnte es nicht genug rühmen, wie vortrefflich Goethe durch seine wohlberechneten Fragen die Menschen bei demjenigen festzuhalten gewußt, was er von ihnen zu hören verlangt. Mehr aber noch als diese Mittheilungen überraschte uns die Kunde von des Greises leidenschaftlicher Liebe für Fräulein von Levezow, die jetzt aller Welt bekannt ist, und auch damals wohl den nahestehenden und literarischen Kreisen lange kein Geheimniß mehr gewesen sein wird. Für mich aber, die ich jenen Regionen so fern gelebt,[30] und zu ihnen und zu Goethe wie zu dem Olymp und zu Jupiter hinaufgesehen hatte, lag etwas ganz Wunderbares darin, von einem Augenzeugen, und obenein von einem meiner Verwandten, über Goethe's persönliche Verhältnisse sprechen zu hören.

In einem andern Jahre hatte der Onkel den Herzog Karl August, ich glaube, in Karlsbad, kennen lernen, und zwar auf folgende Weise: Der Herzog speiste an der Gasttafel des Hotels, in welchem er wohnte, und sein Reisebegleiter hatte die Anweisung, Personen, welche er dem Herzog angenehm glauben durfte, zur Theilnahme an dieser Gasttafel aufzufordern, die der Herzog mit einem allgemeinen Beitrag unterstützte, so daß man dort besser aß als andern Ortes. Für diese Tafelgelder hatte der Hauswirth aber die Verpflichtung, keine Tafelgäste ohne Zustimmung des herzoglichen Reisemarschalls anzunehmen, sondern sie, falls derselbe sie nicht angemessen fand, mit dem Vorgeben, daß er keinen Platz mehr habe, zurück zu weisen. Es war das ein öffentliches Geheimniß, und die Einladungen geschahen ganz beiläufig. Es hieß: »essen Sie doch in unserm Hotel, man ißt da sehr gut!« Indeß der auf solche Weise Geladene wurde dann in die nächste Nähe des Herzogs gesetzt, und von diesem meist eben so sachlich befragt, als Goethe dies zu thun verstand; bis der Herzog, der dem Scherz und der Anekdote geneigt war, selbst den Anstoß zu einer leichtern Unterhaltung gab, in der er Meister war, und bei der er von den Andern die Zwanglosigkeit erwartete, die er selber bewies.

Mir, mit meiner inbrünstigen Verehrung für die[31] Heroen unserer Literatur, wurde mein Onkel gleichsam über alles Gewöhnliche hinaus gehoben, durch den bloßen Gedanken, daß er Goethe und Karl August gekannt, daß er sie gesehen, daß er mit ihnen gesprochen habe, und ich wunderte mich fast, daß ihm dies Glück nicht gleich anzusehen war. Ich hatte, wie Jeder zum Verehren des Großen, Schönen und Erhabenen geneigte Mensch, einen natürlichen und ehrlichen Cultus des Genius, und ich begreife Nichts leichter, als wie die christgläubige Menschheit dazu gekommen ist, die Verehrung ihrer Märtyrer als Dogma aufzustellen, und zu deren Grabstätten und Geburtsorten mit der Erwartung zu wallfahrten, dort einer ganz besondern Erhebung theilhaftig zu werden.

Alle diese Dinge, von denen ich eben berichtet, erfuhr ich jedoch erst nach längerem Verweilen in des Onkels Hause, denn die ersten beiden Tage vergingen uns wie im Fluge. Wir fuhren gleich am ersten Tage in dem schönen Wagen, welchen die Großtante für die ganze Zeit ihres Aufenthaltes gemiethet hatte, die Lichtenthaler Allee entlang, nach den Wasserfällen, bestiegen am zweiten Tage die alte Burg, von deren Höhen wir den Rhein sich wie ein bläuliches Silberband durch die schönen Lande hinschlängeln sahen, und machten am Nachmittage unsern ersten Besuch in dem Kurhause, vor welchem bei dem schönen Wetter die Gesellschaft im Freien ihren Kaffee trank.

Die eigentliche Saison für Baden-Baden fällt in die Zeit des Hochsommers und Herbstes, und es war also noch leer in der Stadt und auf den Promenaden. Nur einige vorüberreisende Fremde und eine Anzahl von Personen, [32] die sich dort ansässig gemacht hatten, bildeten die Gesellschaft und kamen fast täglich zusammen. Unter diesen Letztern waren Börne und Ludwig Robert die hervorragendsten, und mein Onkel kannte sie Beide, obschon sie selbst wenig Verkehr mit einander hielten, und auch, wenn sie durch Dritte zusammengeführt wurden, sich nicht hingebend mit einander einließen. Der Onkel stellte uns gleich an diesem ersten Tage beiden Männern vor, die Jeder von einer Dame begleitet waren.

Ludwig Robert, Rahel Varnhagen's Bruder, war in der Mitte der Fünfziger, sah aber älter aus, weil sein krauses Haar schon ganz grau geworden war. Es bildete einen starken Gegensatz zu seiner großen Beweglichkeit. Ich habe ihn, so lange wir in Baden waren, fast täglich gesehen, und es ist mir stets vorgekommen, als ob ihm jenes sichere Selbstvertrauen fehlte, das die eigentliche ruhige Würde bedingt. Er pflegte, wenn er sprach, zunächst seine Frau anzublicken, und dann nach den Mienen aller übrigen Anwesenden zu sehen, als müsse er sich des Eindrucks versichern, den seine Reden auf seine Zuhörer machten. Er sprach aber sehr fließend, und erzählte viel, wenn er gut aufgelegt war. Das gehörte jedoch zu den Ausnahmen, denn die liberale Aufregung, die sich im Lande überall kundgab, verstimmte ihn und ließ ihn gegen die Freunde der damaligen Bewegung oft so bitter werden, daß seine Frau dann freundlich und vermittelnd eintrat; und ihr mußte es freilich immer gelingen, die Menschen zu versöhnen und zu beruhigen, denn die Schönheit hat eine besänftigende Kraft.

Friederike Robert war eine Süddeutsche und bedeutend [33] jünger als ihr Mann. Es ging das Gerücht, daß er sie aus ihrer ersten sehr unglücklichen Ehe nur durch ein namhaftes Geldopfer, das er ihrem Manne brachte, habe befreien können. Sie war groß und vollkommen schön gewachsen. Eine Fülle von dunkelm Haar umgab ihr Gesicht, das trotz der sehr hellen Farbe einen bräunlichen Ton hatte, wie man ihn öfter bei den Frauen des südlichen Deutschlands findet. Die ganze Bildung ihres Gesichtes war edel und regelmäßig, und die breite, offene Stirne, die sie nach der damaligen Mode ziemlich frei trug, hatte etwas so Klares, die Augen waren so leuchtend und die ganzen Mienen des Gesichtes so überaus anmuthig, ihr Ton und ihr Wesen so natürlich und gütig, daß ich mich nicht erinnere, außer Frau Therese von Bacherach, jemals eine Frau gekannt zu haben, welche gleich bei der ersten Begegnung so völlig für sich einnahm, und so geeignet war zu halten, was ihr erster Anblick verkündete und verhieß.

Börne wohnte nicht ferne von uns, im Stephanienbade. Wenn wir aus unserm Hause nach der Stadt gingen, kamen wir bei seiner Wohnung vorüber, wo er häufig mit seiner Freundin, Frau Wohl, und mit deren Gesellschafterin vor der Thüre saß. Er war klein und mager, sein Haar auch schon leicht mit grau gemischt, obschon er noch im besten Alter stand. Das viel verbreitete, nach dem Portrait von Oppenheim gestochene Bildniß Börne's ist ihm vollkommen ähnlich. Ich finde, da ich in diesem Augenblicke, seiner denkend, ein altes Excerpten- und Notizenbuch aufschlage, folgende in jenen Tagen niedergeschriebene Zeilen, die ich hieher setze, [34] weil sie mindestens das Verdienst der Ursprünglichkeit haben.

»Börne's Augen sehen aus, als ob sie nach innen blickten, wie man das an manchen Menschen findet, wenn sie Musik hören, und dazu hat er eine sanfte, wohlklingende Stimme. Ich war recht stolz darauf, als er ein paar Mal bei verschiedenen Begegnungen auf der Promenade die Andern vorangehen ließ und mit mir allein langsam nachging. Ich sollte ihm von Ostpreußen erzählen und von den Zuständen daselbst, aber ich sollte nicht sagen, was ich darüber gehört und gelesen hätte, sondern ganz einfach, wie es mir vorgekommen wäre. Auch von dem polnischen Kriege, von der Stimmung in Königsberg in Bezug auf Polen, und von dem Empfang der Flüchtlinge bei uns, und von der sogenannten Emeute bei Fischhausen, wollte er hören. Einmal holte er sogar Ludwig Robert herbei, und ich mußte es diesem, der sehr gegen die Polen und die polnische Revolution eingenommen, und im Vergleich zu Börne recht freiheitsfeindlich war, Alles noch einmal wiederholen. Börne sagte darauf, als ich geendet und Herr Robert mich noch dies und das gefragt hatte: ›Da hören Sie es! so ist es gewesen und nicht wie die preußischen Zeitungen es lügen; erst den Russen Brod gebacken und dann die flüchtenden Polen zum Lande hinausgejagt! Das nennen sie in Preußen Neutralität! Und das Mädchen sagt, was es zu Hause erlebt hat, und nicht mehr und nicht weniger.‹«

Ein anderes Mal sprachen die Herren von irgend welchen bedenklichen Regierungsmaßregeln in Baiern, und [35] kamen dann auf die Gedichte des Königs Ludwig zu reden, wobei mein Onkel mich aufforderte, ein Paar Verse des Königs herzusagen, die ich irgendwo gelesen und auswendig behalten hatte. Sie waren sehr geschmacklos. Mein Onkel spottete über die Verse und eiferte noch lebhafter gegen die unzweckmäßigen Erlasse und Handlungen des Königs. Börne aber sah ganz still vor sich hin, zuckte mit Schultern und Augenbrauen, und sagte: »lassen Sie ihn doch! der Mann hat so viel Gereimtes gemacht, daß er sich nun auch wohl einmal auf das Ungereimte verlegen kann!«

Abgeschlossenheit und Ruhe waren die charakteristischen Eigenschaften von Börne's äußerer Erscheinung. Er hörte schon damals nicht gut, und es lag dadurch in seinem Gesicht etwas Gespanntes, Lauschendes, ja Lauerndes, wenn Andere sprachen, das jedoch schnell aus seinen Mienen entschwand und dem leidenden Ausdruck Platz machte, der in seinem Gesichte vorherrschend war, sobald er selber redete. Seine Kleidung war sehr sauber, man sah, er hielt auf sich, und nur eine lange, große Uhrkette fiel mir an ihm, als nicht zu dem Ganzen passend, auf. Wir meinten immer, es müsse ein Erbstück oder ein Geschenk von Jemand sein, der Börne nicht persönlich gekannt hatte.

So aufgeregt die Stimmung und so leidenschaftlich deshalb die Diskussionen in jenen Tagen, die ganz eigentlich dem Hambacher Feste vorangingen, auch werden mochten, so blieb Börne dabei stets gelassen und ließ Jeden gewähren und sich äußern, bis er dann selbst einmal mit irgend einem schlagenden und entscheidenden [36] Worte dazwischen fuhr. Dann war es rührend zu beobachten, mit welcher freudigen Genugthuung Madame Wohl zu ihm hinüberschaute, und mit welcher Freude sie den Eindruck wahrnahm, welchen Börne's aufklärende und entscheidende Weise auf die Hörer ausübte.

Auch sie schien schwächlich und schien, eben so wie Börne, viel durchlebt und viel gelitten zu haben. Sie kann nie hübsch gewesen sein, aber an Personen, welche, wie sie, gar keinen Anspruch auf äußerliche Vorzüge machen, vermißt man dieselben auch nicht, und da sie den guten Geschmack hatte, sich im höchsten Grade einfach, fast nonnenhaft bescheiden zu kleiden, so fand man sie gerade recht, wie sie eben war, und ich habe von ihr nie anders als mit großer Achtung und vielem Antheil sprechen hören.

Wir waren gegen den zwanzigsten Mai, etwa einen Monat nach unserer Abreise von Königsberg, in Baden-Baden angekommen, und wir hatten kaum einige Personen aus dem Bekanntenkreise meines Onkels kennen lernen, als wir gewahren konnten, wie viel näher wir der politischen Bewegung und Aufregung gekommen waren, deren Entstehen und Anwachsen wir bis dahin in den Zeitungen verfolgt.

Die Namen Wirth's und Siebenpfeiffer's waren in aller Leute Munde, und die von Siebenpfeiffer und dreiunddreißig andern Bürgern aus Neustadt an der Hardt erlassene Aufforderung zur Begehung eines nationalen Festes auf dem Hambacher Schlosse bei Neustadt, zu dem man nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen und Jungfrauen Deutschlands eingeladen hatte, fand eine [37] gesteigerte Theilnahme, seit die Regierung das Fest verboten, und es dann doch wieder, aus Furcht vor noch größerer Aufregung, frei gegeben hatte. Bekanntmachungen der Regierung gegen das Fest, und Bekanntmachungen der Unternehmer, welche es vertheidigten, folgten einander schnell. Ludwig Robert sah den Ausbruch einer unheilvollen Revolution durch diese Festfeier herannahen; und je nach ihren Gesinnungen fürchteten und hofften die Leute von dem Maifeste auf dem Hambacher Schlosse das Außerordentlichste.

Man hatte es damals offenbar entweder noch nicht genugsam erfahren, oder es vergessen, daß in solchen Festfeiern eine die Seele befreiende Kraft liegt, welche die Energie des Zornes, und damit die Energie des zum Handeln drängenden Entschlusses, abstumpft und zerschmilzt. Von dem Platze, an welchem man einem Volke eine Festfeier versagt hat, können Haß und Zorn und Erbitterung sich als gährender Stoff in die Adern desselben ergießen, und zerstörend und aufbauend fortwirken. Von einem Feste, an welchem man sein Herz in Reden ausgeschüttet, in feurigen Liedern erhoben, und mit Freunden und Gesinnungsgenossen sich ausgesprochen hat, kehrt man beruhigt, und zum Hoffen und Abwarten geneigt, in die friedliche Behausung zurück. Solche Feste wirken in der Regel ableitend, wie Blasenpflaster bei Entzündungen, und ich habe später es nicht begreifen können, daß diese Einsicht nicht weiter verbreitet und nicht, je nach dem Parteistandpunkte, mehr beherzigt worden ist.

Mein Vater mußte seiner Geschäfte wegen nach Neustadt gehen, es war das einer der Punkte, nach denen [38] seine Reise ursprünglich gerichtet war. Es sollte dort eine Weinversteigerung stattfinden, und da der Termin derselben dicht mit dem Hambacher Feste zusammenfiel, beschloß er, demselben beizuwohnen.

Ich hatte großes Verlangen, ihn zu begleiten, und mein Onkel redete ihm zu, mich mit sich zu nehmen; indeß der Vater meinte, daß ich ihm bei einer solchen Feier, deren Verlauf nicht vorherzusehen war, unbequem werden könne, und so reiste er ohne mich ab. Auch Börne ging ein paar Tage vor dem Feste nach Neustadt und kam in sehr gehobener Stimmung zurück. Ich stand dabei, als er dem Onkel und einigen anderen Herren von demselben sprach, und als er mich dann bemerkte, sagte er: »bedanken Sie sich bei mir, ich habe Ihren Herrn Vater, den ich noch gestern gesprochen, bei dem Feste unter meine Protektion genommen. Man war sehr antipreußisch gestimmt, und ich habe gesagt, das sei ein Preuße, den man ruhig als Theilnehmer bei dem Feste lassen könne, das sei kein Spion!«

Es war das ein Scherz, aber nur insoweit, als von meinem Vater die Rede dabei war, denn was die Stimmung gegen Preußen betraf, hatte er die Wahrheit gesprochen. Man warf es ganz mit Rußland zusammen, und ich selber habe es damals in Baden ein paar Mal gesehen, daß auf gedruckten Plakaten an öffentlichen Lokalen unter den Worten: »es wird gebeten, keine Hunde mitzubringen,« der schriftliche Zusatz gemacht worden war: »und keine Preußen!« – Solche Plakate wurden dann zwar bald entfernt, indeß für die Einigung Deutschlands, die man auf dem Hambacher Schlosse anstrebte, war das nicht eben viel versprechend.

[39] Mein Vater kehrte erst einige Tage später von seiner Geschäftsreise wieder, und erzählte uns mit großer Lebhaftigkeit und großer Wärme von dem Feste, dem ersten Volksfeste, das er mitgemacht hatte. Er brachte Siebenpfeiffer's Eröffnungsrede, betitelt: »der Deutschen Mai« und eine Anzahl anderer Drucksachen mit. Es befanden sich darunter die ersten Nummern einer neuen, gleichfalls unter dem Titel: »der Deutschen Mai« erschienenen Zeitung, und viele für das Fest gedichtete Lieder. Alles war in leidenschaftlichem Styl gehalten, und hatte (die Blätter, die ich zum Andenken unter meinen Reise-Erinnerungen aufbewahrt, liegen, während ich dies schreibe, fahl und vergilbt auf meinem Tische) alle Eigenschaften und alle Mängel der Kundgebungen, welche darauf berechnet sind, den Strom der Empfindung aufzuregen, ohne ihm zugleich das Bette anzuweisen, in welches eingedämmt er zu einer treibenden Kraft zu werden vermag. Wo dies aber fehlt, verläuft die höchste Fluth der Begeisterung sich unwirksam und unfruchtbar in's Nichts.

Es waren auf dem Hambacher Schlosse an dreißig Tausend Menschen versammelt und der Enthusiasmus groß gewesen. »Ihr deutschen Männer,« so hieß es an dem Schlusse von Siebenpfeiffer's Rede, »o lasset uns aller Spaltungen vergessen, alle Marken und Abscheidungen beseitigen; lasset uns nur eine Farbe tragen, damit sie uns stündlich erinnere, was wir sollen und wollen, die Farbe des deutschen Vaterlandes; auf ein Gesetz nur lasset im Geiste uns schwören, auf das heilige Gesetz deutscher Freiheit; auf ein Ziel nur lasset uns blicken, auf das leuchtende Ziel deutscher National-Einheit, deutscher [40] Größe, deutscher Macht: und wenn einst alle deutschen Männer dieser eine Gedanke voll und lebendig durchdringt, dann, ich schwöre es bei Thuisko, dem Gott der freien Deutschen, dann wird in strahlendster Gestalt sich erheben, wonach wir Alle ringen und wozu wir heute den Grundstein legen – ein freies deutsches Vaterland. Es lebe das freie, das einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten! Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!«

Alle Welt hatte in Neustadt die deutschen Farben getragen und war dann nach dem Feste heimgegangen, hinter die in allen ersinnlichen andern Farben angestrichenen Grenzpfähle, mit denen die fürstlichen Besitzer der verschiedenen deutschen Vaterländer ihre Territorien gegen einander einhegen. Es war damals ungefähr eben so wie jetzt. Freilich ist es nicht mehr Sitte, Thuisko, den Gott der freien Deutschen herauf zu beschwören; man begnügt sich mit Herrmann dem Cherusker, der uns auch fern genug steht, aber man hat dagegen jetzt auch keinen Namen, wie den von Ludwig Börne, den Jedermann kannte, Jedermann hoch hielt.

Der Vater hatte viel zu erzählen von der Verehrung, welche Börne überall entgegen gekommen war. Wo er sich gezeigt, hatte lauter Zuruf ihn freudig begrüßt; die in Neustadt anwesenden Studenten hatten ihm Ständchen gebracht, Frauen ihm ihre Sträuße gereicht und zugeworfen, [41] und ohne daß er selbst hervorgetreten, war er fast der Mittelpunkt des Festes gewesen.

Mir war bei alle diesen Berichten und Erlebnissen zu Muthe, als schaute ich durch ein Teleskop. Die fernen Welten, von deren Vorhandensein und von deren Einfluß auf unser eigenes Leben ich Kenntniß gehabt, ohne sie gesehen zu haben, traten jetzt plötzlich in meinen Gesichtskreis, und blendeten mich durch ihren Gehalt und ihren Nimbus. Ich konnte mit meinem Denken dem Erleben kaum nachkommen, aber ich hatte doch großes Wohlgefallen an meiner veränderten Lage; und was mir besonders gut that, hier in Baden gefiel ich den Menschen, mit denen ich zusammenkam. Man ließ mich gewähren, man munterte mich auf, man nahm Theil an mir, und daß dies Personen thaten, welche ich mit Grund weit höher schätzte, als diejenigen, die in Berlin nie recht zufrieden mit mir gewesen waren, das steigerte meine Zufriedenheit.

Gleich nach meines Vaters Ankunft von Neustadt machten wir, mein Onkel, der Vater und ich, noch eine Fahrt nach Straßburg. Der Vater wünschte, den Boden Frankreichs zu betreten, ein französisches Theater und den Straßburger Münster zu sehen, und das Alles wurde uns in den zwei Tagen zu Theil, die wir dort verweilten. Es erschütterte mich sehr, als ich die Tricolore zum ersten Male durch die Luft flattern sah, als ich an einem Denkmal die Worte las: au General Dessaix l'armée du Rhin, als am Abende bei der Militairmusik die Melodie der Marseillaise auf französischem Boden zum ersten Male an mein Ohr klang.

Am andern Morgen betrachteten wir die Rosette über [42] dem Portale des Münsters, die Goethe so liebevoll geschildert, und standen am Nachmittage, da die Sonne schon im Sinken war, auf dem Plateau des Münsters, hinabschauend auf die Stadt und auf den Rhein und auf das ganze blühende Land. Ich feierte lauter geistige Erinnerungsfeste. Ich dachte an die französische Revolution und ihre Helden, ich dachte an Goethe und an seine Wege durch diese Fluren, wenn er, das Herz voll Liebe und Lieder, nach Sesenheim gezogen, und ich war voll Dankbarkeit gegen meinen Vater und gegen mein Schicksal, die mir solche Gunst gewährten. Mit einem warmen Herzen und einem enthusiastischen Kopfe, wohl vorbereitet auf das, was ich erlebte, und einundzwanzig Jahre alt, war ich recht eigentlich dazu geschaffen, solche Eindrücke mit nachhaltiger Wirkung in mich aufzunehmen.

Den zweiten Abend schickte mein Vater mich, da er etwas Anderes vorhatte, in das deutsche Theater. Ein Lohndiener führte mich hin und holte mich zurück, und ich genoß in einer Aufführung der Preziosa das tragikomische Vergnügen, die sämmtlichen Dialekte Deutschlands in einer Weise unbefangen und natürlich durcheinander welschen zu hören, wie mir dies nie wieder in solchem Grade vorgekommen ist. Der Zigeunerhauptmann sprach österreichisch, die Viarda schwäbisch, die Preziosa ächt sächsisch; aber man mußte es wohl hier so gewohnt sein, denn Niemand lachte darüber und Niemand gab ein Zeichen des Mißfallens kund.

Kaum nach Baden heimgekehrt, erklärte mir mein Vater, als wir uns Abends in unsere Stuben zurückgezogen hatten, daß er nach einer Ueberlegung mit seinem [43] Bruder es beschlossen habe, mich nicht nach Preußen zurückzunehmen, sondern mich bei demselben zurück zu lassen. Er müsse seine Reise jetzt sehr beschleunigen, davon würde ich keine Freude mehr haben, der Onkel aber beabsichtige, noch in Baden zu bleiben, werde noch eine Tour durch Deutschland machen, von der ich Genuß erwarten dürfe, und vor Allem wünsche er mir den Vortheil zu bereiten, in meines Onkels Hause in Breslau eine Weile zu leben, und die übrigen dortigen Verwandten, namentlich die älteste Schwester meines Vaters, meine Tante Simon, kennen zu lernen.

Ich war im ersten Augenblicke darüber mehr betroffen als erfreut. Die mir bevorstehende Trennung von meinem Vater erschreckte mich, und da ich noch ganz und gar gewohnt war, mit dem Hinblick auf Andere zu leben, so hatte ich bei all meinen neuen Eindrücken und Bekanntschaften immer den heimlichen Gedanken an die Meinen zu Hause, an meine Mutter und Geschwister, an meine Königsberger Freunde und Bekannte gehegt, und mir es mit eitlem Behagen ausgemalt, wie ich diese Alle in Erstaunen versetzen, und welchen Eindruck ich mit meinen Erzählungen auf sie machen würde.

Es befanden sich in meinem heimischen Umgangskreise leidenschaftliche Verehrer von Börne; nun hatte ich Börne gesehen und er hatte öfter mit mir sehr freundlich gesprochen. Ich kannte Frauen und Männer, die sich, wie ich es auch gethan, lebhaft für die Romane von Spindler, für den ›Juden‹, den ›Bastard‹ und den ›Jesuiten‹ interessirten. Jetzt konnte ich ihnen erzählen, daß Spindler ein hübscher, etwas fetter, schwarzlockiger Mann sei, der [44] eine schwarze, mit Schnüren reich besetzte Litewka trage. Ich hatte mit Tante und Großtante Visite bei der alten Madame Meyerbeer und bei Meyerbeer's Schwägerin gemacht, mit denen die Damen seit Jahren befreundet waren, und dabei Herrn Meyerbeer, den berühmten Componisten selbst, gesehen; und das Alles sollte ich nun zu Hause nicht gleich erzählen können, und sollte allein bleiben!

Das wollte mir nicht in den Kopf. Meine ganzen schönen Plane waren damit zu Nichte gemacht, ich fing zu weinen an, und bat und beschwor den Vater, mich mit nach Hause zu nehmen.

Mein Vater ließ sich aber durch mein kindisches Gebahren nicht beirren. ›Ich weiß,‹ sagte er, ›daß Du mich lieb hast, und ich habe Dich auch lieb, aber grade darum lasse ich Dich hier. Es ist nicht abzusehen, ob und wann Dir jemals wieder eine solche Gelegenheit geboten werden wird, Dich in der Welt umzusehen, und dies Glück sollst Du nicht verlieren.‹ – Daß damit die Sache abgethan war, das wußte ich. Mein Vater ging zur Ruhe, ich legte mich auch nieder, aber ich konnte nicht schlafen und es blieb mir also gar Nichts übrig, als in meinem Bette über mein unerwartetes großes Glück so lange zu weinen, als ich es für nöthig fand, denn ich hatte wirklich Furcht, mich sehr nach dem Vater und nach den Meinen überhaupt zu bangen. Eine ganze Reihefolge von Vorstellungen alles dessen, was denselben in meiner Abwesenheit von Hause geschehen, was mir in der Entfernung von ihnen begegnen könne, ging durch meinen Sinn. Von dem Vernünftigen und Wahrscheinlichen schweifte ich zu dem Unvernünftigsten und Unwahrscheinlichsten [45] über; von der dazwischen plötzlich auftauchenden Freude über den Gedanken, daß mir mit solchem Leben in der Fremde etwas Ungewöhnliches geboten, und daß ich damit aus dem Gleise des Gewöhnlichen herausgehoben werde, kam ich wieder zu einer tiefen Traurigkeit über die Trennung von Mathilde und von meinen Brüdern, an denen ich mit großer Liebe hing; und nachdem ich mich dann auch darüber wieder beruhigt hatte, fing ich aus anticipirter Sehnsucht doch noch einmal zu weinen an, und quälte mich auf die thörichtste Weise, bis der Tag zu dämmern und das Tageslicht durch die grünen Jalousien der Stube zu scheinen begann.

Dies flimmernde Licht machte mir Vergnügen. Ich beobachtete, wie es bald diese, bald jene Blume dermille fleurs Tapete, an der ich immer Wohlgefallen gehabt, beleuchtete, wie das Roth des Mohnes und dann wieder das Blau der Cyanen so tief und glühend wurden, wenn der Sonnenschein sie traf, und dann fing ich an, mich über die grünen Jalousien, die mir noch etwas Neues waren, zu freuen. Grüne Jalousien kamen mir so überaus poetisch vor! Auch meine rothseidene Bettdecke und die Klingel, die man mir vor mein Bett gestellt hatte, dünkten mich äußerst vornehm. Der Comfort, der mich umgab, däuchte mir wie der rechte Rahmen um mein Bild. Ich meinte, in solche Umgebung passe ich doch ganz eigentlich hinein, und wie mein Wohlgefallen an mir und den Dingen um mich her mehr und mehr die Herrschaft über meine frühere Empfindungsweise und Gedankenreihe gewann, so wurde ich abgespannter und müder. Ich sah mit angenehmer Empfindung nach der [46] Arabesken-Borte der Tapete hinauf, in welcher aus den Blumenkelchen Frauenleiber hervortauchten. Das alte Spiel meiner Kinderphantasie kam wieder einmal zum Vorschein; die Blumen, die Frauen, die Gesichter der neuen Bekannten, die Gebäude und Gegenden, welche ich in den letzten Wochen gesehen, lösten sich wechselnd vor meinem Auge ab und ineinander auf, und ich erwachte, als man mich am späten Morgen weckte, völlig ausgesöhnt, ja äußerst zufrieden mit der über mich getroffenen Bestimmung.

Meine Verwandten sagten mir, daß sie mich gern bei sich behielten, meine Großtante kündigte mir an, daß ich in Breslau mit ihrer Gesellschafterin zusammenwohnen würde; diese hieß mich auch sehr willkommen, die Kinder freuten sich, wie sich Kinder über Alles freuen, was neues Leben in ihre Häuslichkeit bringt, und dazu war das Wetter so schön und die Gegend so reizend, daß ich mich am Morgen eben so glücklich fühlte, als ich am verwichenen Abende verzagt gewesen war. – Junge Menschen, die ein Bedürfniß nach selbstständiger Entwickelung und nebenher einen Trieb zu poetischem Gestalten in sich tragen, leben eigentlich immer in einer schwankenden Bewegung zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft. Von der Ersten eben so gefesselt, als von der Letzten mächtig angezogen, kommen sie nur schwer dazu, sich von der Vergangenheit loszulösen und sich fest in die Zukunft hineinzudenken, in der sie für sich selbst stehen und eine selbstständige Bedeutung haben sollen. Sie leben in einem phantastischen Zwischenreich, in dem sie sich selber zu dem Gegenstand poetischer Ausschmückung machen, bis sie die Kraft gewonnen haben, frei zu schaffen und die Gestalten[47] ihrer Einbildungskraft, von sich selbst abgelöst, in der Dichtung darzustellen. Die poetisch begabte Jugend führt daher unwillkürlich und selbst bei natürlicher Wahrhaftigkeit, in der Regel das Dasein eines sich betrügenden Betrügers, und nährt sich von Leiden und Freuden, die beide oft gleich grundlos sind.

Da die Tage gezählt waren, die mein Vater noch mit uns zubringen konnte, und das Wetter uns begünstigte, so sollte an dem nächsten Nachmittage noch eine Partie in den Schwarzwald hinein gemacht werden. Wir fuhren, weil die Tante sich nicht auf so viel Stunden von ihrem Säugling trennen konnte, zu Dreien: der Onkel, der Vater und ich; und da wir viel bergauf zu fahren hatten, war eine sehr leichte Briczka mit zwei starken Pferden bestellt worden, in welcher wir bei dem hellsten Sonnenschein, an dem hohen Felsenufer der Murg zunächst nach Gernsbach fuhren. Um den ganzen Ueberblick der Gegend zu haben, hatte ich mich zu dem Kutscher hinausgesetzt, und bald langsamer, bald schneller fahrend, wie das wechselnde Steigen und Fallen des Weges es mit sich brachte, waren wir auf einer Höhe angelangt, auf welcher der Kutscher anhielt, um die Hemmschuhe zum Hinunterfahren anzulegen.

Ich war aufgestanden, um mich umzusehen, und Onkel und Vater riethen mir, bei dem langsamen Hinabfahren des Wagens auch stehen zu bleiben, wenn ich es ertragen könne. Kaum aber war der Wagen hundert Schritte vorwärts gekommen, als ein leises Klirren und Knacken sich hören ließ. Die Kette des einen Hemmschuhes war gerissen, der Wagen bekam dadurch eine [48] schiefe Richtung, die auch das andere Rad aus dem Hemmschuh brachte, die Pferde vermochten den Wagen kaum aufzuhalten, und pfeilschnell herabrollend, zur Rechten in schwindelerregender Tiefe unter uns das dunkle, reißende Wasser der Murg, schwebten wir ein paar Minuten lang in einer wahrhaften Todesgefahr. Ein falscher Tritt, ein Straucheln der Pferde, und wir waren rettungslos verloren.

Mein Vater und mein Onkel waren Beide aufgesprungen, um mich auf den Sitz hinabzuziehen, mein Vater blieb stehen und hielt mich fest. Kein Laut, kein Ausruf kam über unsere Lippen; aber als es dem Kutscher endlich gelang, den Wagen und die Pferde zum Stehen zu bringen, als wir einander betrachteten, da waren wir Alle blaß genug, und tief aufathmend sagte der Vater: »Das war kein Spaß! aber Du bist recht vernünftig dabei gewesen!«

Es war das die einzige große Gefahr, in welcher ich mich bei allen meinen vielen Reisen mein Leben hindurch befunden habe, und ich erinnere mich, daß ich gar keine andere Empfindung dabei hatte, als die einer athemlosen Spannung. Das Entsetzen kam erst über mich, als wir in Ruhe waren, und mehrere Tage später, als mein Vater schon abgereist war, konnte ich an den Augenblick nicht denken, ohne daß mir die Thränen in die Augen traten.

[49]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Mein Vater reiste in der ersten Woche des Juni von Baden ab, und es hatte in dem Plane meines Onkels gelegen, daß wir bis Ende August in Baden bleiben sollten. Indeß wie die Furcht vor der Cholera, von der besonders meine Tante und meine Großtante ergriffen waren, die Familie einst von Breslau fortgetrieben hatte, so machte das Fortschreiten der Epidemie, die sich mehr und mehr dem westlichen Deutschland näherte, auch unserem Aufenthalt in Baden schnell ein Ende.

Die Badener Aerzte vertrösteten zwar mit der Hoffnung, daß die Orte, welche warme Quellen hätten, von der Seuche bisher verschont geblieben wären; eine Garantie für ihre Behauptung und für das Zutreffen ihrer Aussage, wie die Großtante sie verlangte, konnten sie ihr jedoch nicht leisten, und Alles in Allem genommen mochte wohl auch mein Onkel sich nicht der Möglichkeit aussetzen wollen, der drohenden Krankheit mit einer Familie, wie die seine, außerhalb der Heimath zu begegnen.

Die Herrlichkeit in Baden währte also nicht lange, und eines schönen Tages befanden wir uns mitten in den Zurüstungen zur Abreise. Die beiden großen Reisewagen wurden vom Stellmacher und vom Schmied[50] untersucht, die Koffer, Walisen, Waschen und Reisesäcke wurden vom Sattler nachgesehen, eine Masse von Büchern und Geräthschaften, welche man im Verlauf der anderthalb Jahre in Süddeutschland gekauft, wurden einem Spediteur zur Nachsendung übergeben, und es hob nun ein Packen an, das darum so schwierig war, weil Jeder Alles auf das Bequemste haben sollte und wollte, und deshalb die Ordre gegeben war, eine ganze Menge von Sachen »zu oberst« zu legen, was natürlich nicht möglich war.

Bei diesen Reisezurüstungen sah ich es denn zum ersten Male, wie schwer die Menschen sich das Leben machen, die keine Unbequemlichkeiten und Entbehrungen ertragen mögen, und wie die Reichen vor lauter Bestreben, sich die durch ihr Vermögen ihnen zu Gebote stehenden Vortheile zu Nutze zu machen, in einen Zustand hineingerathen, um den sie wirklich nicht zu beneiden sind, weil sie sich und Anderen damit beschwerlich, ja zur Qual werden.

Um die Freiheit, welche der Besitz gewährt, mit Vortheil für sich und für seine Umgebung zu benutzen, muß man, das habe ich später hundertfach erfahren, einen innern Gehalt und eine wirkliche Bildung haben. Mir ist nie ein Armer vorgekommen, der mir mit den Klagen über seine bittere Noth soviel zu schaffen gemacht hätte, als die Reichen mit ihrer Unentschlossenheit über das, was sie wollten, und mit den Lamentationen über ihre eingebildeten Unbequemlichkeiten und Behinderungen. Sie bedenken dabei auch gar nicht, wie kleinlich, geistesleer und herzlos sie Demjenigen erscheinen müssen, dem sie[51] ihre Beschwerden und Entbehrungen klagen, und der, durch seine Bildung vielleicht zu höheren Ansprüchen als die ihrigen berechtigt, mit unendlich Geringerm sich ein edles und schönes Leben zu bereiten weiß. Es haben mir oft Männer, und namentlich Frauen, weitläufig auseinandergesetzt, wie sie mit ihren acht großen Zimmern und ihrer Dienerschaft nicht fertig werden und nicht auskommen könnten, während sie in unsern kleinen, engen Stuben unsere Gäste waren, und sich von unserer einzigen Magd bedient fanden. Und es ist mir oft ein wahrer Widerwille angekommen gegen die aufgeputzte Unkultur, die sich den Anschein geben möchte, an geistigen Interessen Theil zu nehmen, während es sie aus ihrer Fassung bringt, wenn sie ein Zimmer weniger hat, und sie lang und breit darüber sprechen kann, wer ihr die Bouillon und den Haferseim bereiten werde. Ich habe lachen müssen, wenn solche Personen mich glauben machen wollten, daß irgend ein Höheres in ihnen vorhanden sei, als die Sorge für ihr jämmerliches Ich.

Meine Großtante hatte es aber gar kein Hehl, daß sie sich als die Hauptsache, ja, als der Mittelpunkt der Welt erschien; und da die Tante sie sehr liebte, und der Onkel dieser höchst gefällig war, so that man Alles, die alte Dame zufrieden zu stellen.

Daß wir reisen sollten, stand entschieden fest, aber wann und wie wir reisen sollten, darüber konnten die beiden Damen zu keinem Entschlusse kommen, und mein Onkel kam mir dabei gradezu bedauernswerth vor. Meine arme Tante, der das Reisen mit dem Säugling beschwerlich sein mußte, wollte natürlich gern auf dem [52] kürzesten Wege, und so schnell als möglich, nach Hause fahren. Ihre Mutter dagegen wollte nur ganz kurze Tagereisen machen und vor allen Dingen jeden Ort vermeiden, an dem sich auch nur Spuren von Cholera oder Brechruhr gezeigt hätten. Trennen wollte man sich, da die Seuche überall spukte, unter keiner Bedingung von der alten Frau, und so ließ sich denn der Onkel endlich herbei, nach den verschiedenen Städten, in denen wir übernachten sollten, zu schreiben, und Erkundigungen über den Stand der Gesundheit in denselben einzuziehen. Daß dieser sich längst geändert haben konnte, ehe Anfrage und Antwort ihren Weg, und endlich wir selbst die Reise nach dem betreffenden Orte gemacht haben konnten, daran dachte natürlich die Großtante durchaus nicht. Sie war vollkommen beruhigt und zufrieden, als die Briefe geschrieben und abgeschickt worden waren; und als dann endlich aus dem Bureau unserer Gesandtschaft in Frankfurt am Main die Nachricht anlangte, daß, so viel man wisse, zwischen Baden-Baden und Frankfurt, und in Frankfurt selbst, Alles noch gesund sei, traten wir unsere Reise an.

Das war in jenen Tagen aber noch eine andere Expedition als jetzt. Schon am Abend vorher standen die Reisewagen, da das Haus, in welchem wir wohnten, keine Remise hatte, gepackt vor der Thüre, wurden fest verschlossen und ein Mann engagirt, der bei ihnen Wache halten mußte. Und nun am Morgen der Aufbruch selbst!

Die Damen und die Kinder hatten jeder irgend eine Bequemlichkeitsgewohnheit, von der sie auch in der letzten Nacht nicht lassen zu können gemeint, und es gab denn am Morgen noch ein Packen und Kramen und Hasten [53] ohne Ende. Hier standen eine Nachtlampe und eine Nachtuhr, dort lag eine seidene Steppdecke und ein seidenes Plümeau; rechts lag ein ledernes Kopfkissen und links ein wattirter Morgenmantel, der durchaus beim Frisiren umgebunden werden mußte; hier war eine Hausapotheke, die Nachts ebenso durchaus vor dem Bette stehen mußte, und daneben gab es noch ein Dutzend anderer durchaus unentbehrlicher Unnöthigkeiten zu verpacken. Die Dienstboten, das Gesellschafts-Fräulein, die Pflegetochter, der Onkel, die Frauen hatten alle Hände voll zu thun; der Hauslehrer, einer der zerfahrensten und konfusesten deutschen Gelehrten, den das Schicksal wirklich im Zorn zum Hauslehrer gemacht haben mußte, und der sich zum Erzieher eignete, wie ein Bär zum Zitherschlagen, lief, sich den Kopf mit beiden Händen krauend, und dabei eigentlich völlig kopflos, in den Zimmern umher, um die Kinder zusammen zu halten; und man athmete erst auf, als alle die Päcke, Chatoullen, Necessaires, und endlich auch die Frauen und Kinder in den Wagen untergebracht und festgesetzt waren, als man die Wagenthüren zuschlug, die Postillone in's Horn stießen und die beiden großen, vierspännigen Karossen sich in Bewegung setzten.

Ich fuhr mit der Großtante. Wir saßen zu Vieren in ihrem sehr bequemen Wagen: sie selbst, ihre Gesellschafterin, ihre Pflegetochter und ich. In unserm Coupé, denn beide Wagen hatten Coupé's, der Hauslehrer, der in der Regel eines oder das andere der Kinder bei sich hatte, wenn nicht eine von uns es vorzog, draußen zu sitzen; und in des Onkels Wagen [54] reiste er mit seiner Frau, mit seinen übrigen Kindern und der Wärterin.

Unser Weg ging wieder über Heidelberg und Frankfurt, wo wir mehrere Tage verweilten. Dann besuchten wir die Taunusbäder: Wiesbaden, Schlangenbad, Schwalbach, gingen von Mainz bis Coblenz zu Schiff, machten einen mehrtägigen Aufenthalt in Coblenz und Ems, und eine zweite Schifffahrt bis Cöln, um den Rhein noch weiter kennen zu lernen, und kehrten dann nach Coblenz zurück, von wo wir die eigentliche Heimreise nach Breslau antraten.

Für mich war die Reise, so viel Unbequemlichkeiten und Mühen sie auch für den Onkel mit sich brachte, eine äußerst vergnügliche. Hatte er, wie er es nannte, am Morgen Alles »herausgelotset« und am Abend Alles untergebracht, was keine Kleinigkeit war, da wir immer sechs Zimmer haben mußten, so gewann sein ungemein heitrer Sinn gleich die Oberhand. Stets zur Mittheilung geneigt, sehr leichtlebig und frei im Verkehr mit Fremden, machte er viel Bekanntschaften, und mir war es damals noch eben so neu als genußreich, Fremde zu sehen und mit ihnen zu verkehren.

Dazwischen fehlte es an komischen Intermezzi nicht. Bald hatte die Großtante, die immer ihr eigenes Besteck mit sich führte und nur mit diesem aß, im Eifer des Aufbruchs, ein Besteck des Hotels in ihr Etui gepackt, während ihre Pflegetochter das richtige Besteck reinigen ließ, und wir wurden dann, nachdem wir das Hotel schon verlassen hatten, in unsern vornehmen Reisewagen angehalten, worüber die alte Dame und ihre Kinder, jeder [55] auf seine Weise, empört und zornig waren, um die mitgenommenen Messer und Gabel auszuliefern; bald wohnten wir, wie in Coblenz, in elenden Erkerstuben, weil der Emser Wirth in dienstbeflissenem Eifer heimlich die Bel-Etage für uns im Voraus bestellt und unsern Namen so undeutlich geschrieben hatte, daß der Besitzer des Coblenzer Gasthauses seine guten Zimmer für uns in Bereitschaft hielt, während wir so schlecht als möglich untergebracht waren. Aber mich focht das Alles gar nicht an. Ich war gar nicht verwöhnt, hatte auf dieser Reise viel mehr an Luxus, als ich jemals gehabt und bedurft, wurde auf das Gütigste behandelt und hatte die größte Freude an all dem Schönen, das sich mir an jedem Tage darbot. Die halben Nächte durch saß ich mit der Pflegetochter des Hauses, mit der ich gewöhnlich zusammen wohnte, auf dem Fensterbrett unserer Stube, in Ems und in Coblenz, und schaute auf die Nahe, und schaute auf den Rhein hinab, und sah, wie drüben über dem Ehrenbreitenstein die Sterne funkelten, und wie sie wiederschienen aus dem dunkeln, schnell hinfluthenden Strom, und die Stille und Abgeschiedenheit thaten mir in dem Hinblick auf die Natur unbeschreiblich wohl. Es löste sich in solchen Stunden so Manches von mir ab, was mir das Herz zusammengepreßt und den Sinn befangen hatte. Ich konnte freier sehen, weiter hinausdenken in die Ferne und in die Zukunft, und was für mich und meine ganze Entwicklung wohl die Hauptsache war: ich lernte mich in dieser nächtlich stillen Betrachtung als selbstständiges Wesen empfinden, während ich am Tage in dem vielseitigen Menschenverkehr bewußt und [56] unbewußt manche von den Eigenheiten und Wunderlichkeiten abzulegen begann, die allen den Menschen ankleben, welche stets in einem sehr fest begrenzten Familienkreise gelebt, und sich dadurch gewöhnt haben, ihn als ihre Welt anzusehen. Denn das Familienleben hat die doppelte Eigenschaft, dem Menschen die letzte und höchste Ausbildung zu geben, wenn er sich frei und mit dem Auge auf das Allgemeine gerichtet, innerhalb desselben bewegt, und ihn beschränkt und kleinlich, ja oft völlig ungenießbar und unbrauchbar zu machen, wenn er sich von demselben befangen läßt und ganz in demselben aufgeht. Darin liegt der Grund, weshalb Männer, welche meist reifer in die Ehe eintreten, sich in derselben häufig zu ihrer Vollendung entwickeln, und Frauen, bei denen Reife in jungen Jahren so überaus selten ist, in der Ehe eben so häufig förmlich zu Grunde gehen.

Unsere Reise ging langsam von statten, und das um so mehr, als die Cholera nach wie vor unsern Reisemarschall machte. Von Frankfurt hatten wir ursprünglich unsern Weg über Würzburg und Prag nach Breslau nehmen sollen, da sich aber inzwischen die Seuche in jenen Gegenden hier und da gezeigt hatte, wurde noch am Vorabende unseres Aufbruchs von Frankfurt die Reiseroute verändert, und wir schlugen mit einem großen Umwege unsere Straße über Kassel und Berlin ein, wobei denn später noch ein Extra- Umweg nöthig wurde, da man das infizirte Erfurt zu vermeiden wünschte.

In Kassel machten wir einen längern Halt, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen. Wir durchzogen das ganze Schloß mit den, aus der Napoleonischen [57] Zeit stammenden Prachtmöbeln und den frostigen, silbergestickten Paradebetten; wir fuhren nach der Wilhelmshöhe und kletterten bei einer wahrhaft tropischen Hitze in der Statue des Herkules umher; und da die Tante am verwichenen Tage an dertable d'hôte, bei welcher unser Eintritt, zehn Mann stark, immer ein Gegenstand des Staunens war, von ihrem Nachbar erfahren hatte, daß in Kassel ein botanischer Garten sei, so fuhren wir, auch diesen zu besichtigen. Das war jedoch ein schwer Stück Arbeit. Denn der Garten, um den es sich handelte, gehörte einem Herrn Scheelhas, einem Privatmanne, der uns auf Ansuchen meiner Tante den Garten, so viel ich mich erinnere, selbst zeigte, oder durch seinen Gärtner zeigen ließ. Er war natürlich auf dem sonnigsten Punkte der Gegend angelegt, und um uns für die Erklärungen dankbar zu beweisen, welche unser Cicerone uns angedeihen ließ, zogen wir, die Tante, ich und die Pflegetochter stundenlang auf dem großen, zu Ehren der tropischen Pflanzen, stellenweise ganz schattenlosen Terrain umher, während die Julisonne uns unbarmherzig auf den Köpfen brannte, und unser Cicerone uns eben so unbarmherzig von all den Holztäfelchen neben den Pflanzen und Gewächsen die lateinischen Namen hersagte, mit denen ich für mein Theil auch nicht den leisesten Begriff verbinden konnte.

Halb todt vor Hitze und Ermüdung langten wir in dem Gasthof an. Die Tante, die an Migraine litt, bekam einen heftigen Anfall derselben und mußte zu Bette gehen; ich hatte das ganze Gesicht von der Sonne schmerzlich aufgebrannt, und der Onkel, der, wie wir [58] Alle, am verwichenen Tage sein reichlich Theil von Mittagssonne genossen hatte, als an dem hessischen Grenzzollamte auf offener Heerstraße unsere sämmtlichen Koffer abgeschnallt und geöffnet worden waren, empfing uns im Schatten der Gasthofshalle behaglich Obst essend und uns auslachend über den wissenschaftlichen Eifer seiner Frau. Solche Ereignisse kamen öfter vor, und es war belustigend, es zu beobachten, wie die einzelnen Personen unserer Karavane sich überhaupt zu dem Reisen verhielten.

Die Großtante, welche der Urheber der ganzen Fluchtreise gewesen war, reiste im Grunde nicht ungern, weil es sich für eine reiche Frau schickte, Reisen zu machen, und weil sie, wie alle alten, müssigen Damen, neugierig war und die Abwechselung liebte. Sie rührte sich nicht ohne den Lohndiener und schwor ohne Weiteres auf diesen. Je älter und gesetzter der selbe war, um so sicherer fühlte sie sich bei seiner Führung und Belehrung. Hatte er gar berühmte Leute zu nennen, die er früher herumgeführt, so war sie vollends beruhigt, und gegen die Autorität ihres Lohndieners, dem es natürlich von ihr gleich beim Beginn der Tour ausdrücklich eingeschärft wurde, daß sie kränklich sei, und daß er sie nicht übermüden dürfe, gab es dann gar kein Aufkommen, so daß die Gesellschaft ihre Besichtigungen in der Regel in zwei Partieen unternahm.

Die Tante wollte, wo möglich, zur Beruhigung ihres Gewissens Alles sehen; der Onkel, wo möglich, Nichts. Er war kein Freund von Merkwürdigkeiten, und die Menschen und die Zustände in den verschiedenen Ländern interessirten ihn mehr, als die merkwürdigen Sachen und [59] die Dinge. Der Hauslehrer, der, seit er aus den Bergen zum ersten Male in seinem Leben in das Flachland gekommen war, sich wie ein Fisch auf dem Trocknen befand, fragte überall zuerst, ob am Orte gutes Bier zu haben sei. Er sehnte sich nur nach der Bekanntschaft der renommirtesten Kneipen. Die Gesellschafterin hatte einen Zug zum Sentimentalen. Sie fand immer irgend einen Baum, oder ein Monument, oder ein Grab, von dem sie einen Zweig in ihr Stammbuch legen und mit einer passenden Notiz versehen konnte. – Und bei all diesen abweichenden Neigungen hielten natürliche Güte, Bildung, Gewohnheit, und vor Allem die bestimmte Festigkeit des Onkels, diese aus den verschiedensten Elementen bestehende Gesellschaft doch so vortrefflich zusammen, daß ich mich nicht eines einzigen störenden Ereignisses auf der ganzen Reise zu erinnern wüßte, außer denen, die durch die Kränklichkeit des einen Sohnes herbeigeführt wurden, der in Gießen die Bräune bekam, und uns nöthigte, dort bis zu seiner Herstellung zu verweilen.

Aber bei all dem Guten und Genußreichen, das die Reise mir zu bieten hatte, machte ich doch die Erfahrung, daß derartige Unternehmungen mit einer großen Familie mehr eine Last, als ein Vergnügen sind. Die Bedürfnisse einer solchen sind im Nomadenleben nicht leicht zu befriedigen, und so oft ich später großen Familien auf der Reise begegnet bin, habe ich immer meine stille Freude daran gehabt, daß ich nicht von der Partie zu sein brauchte.

Da wir nun einmal über Berlin gingen, so verstand es sich von selbst, daß man sich dort ausruhen mußte. [60] Die Großtante, eine geborene Berlinerin, hatte noch nahe Verwandte in Berlin am Leben, Onkel und Tante besaßen dort manche Freunde und viele gesellschaftliche Beziehungen, und so wurden wir denn noch einmal förmlich im Hotel de Rome installirt, und ich hatte Zeit und Muße, mit der Tante, die viel Neigung für die Kunst besaß und viel mehr davon verstand, als ich in jenen Tagen, das Museum und namentlich die Antiken-Gallerie und die Rotunde zu besuchen, nach der meine Sehnsucht unvermindert geblieben war.

Daneben sah ich auch die Personen wieder, die ich bei meinem ersten Aufenthalte in Berlin hatte kennen lernen, und ich fand mich von ihnen zu meinem Erstaunen nun ganz anders aufgenommen, als zuvor. Da ich die Wege nicht kannte, und die Großtante gern umherfuhr und Leute sah und sprach, begleitete sie mich fast überall, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Zustimmung, deren ich jetzt so viel mehr als früher theilhaftig wurde, wesentlich auf Rechnung der Equipage zu setzen war, in welcher ich vorfuhr, auf Rechnung des Lohndieners, der uns anmeldete, und auf Rechnung meiner reichen Großtante, die mich mit ihrer Gesellschafterin chaperonnirte. Dazu hatte mein Onkel mich in Baden-Baden freigebig mit ein Paar nach neuester Pariser Mode gemachten Anzügen beschenkt. Meine Taillen und meine Kleider waren also äußerst kurz, meine Stiefel von bester Façon und nußbraun, meine Aermel weit wie Säcke, die weißen Pellerinen mit ihren hohen gesteiften Fraisen unproportionirt groß, die Kravattentücher möglichst reich, der rosa Bibi-Hut, mit [61] französischer Rose, möglichst klein, der Sonnenschirm umfangreich wie ein Regenschirm, und dies Ensemble von Knappheit und Weite, das ganz unharmonisch war, fand vor den Augen meiner früheren weiblichen Kritiker solchen Beifall, daß ein Theil davon auf mich selber zurückfiel, und ich um mehrere Grade in ihrer Achtung und Anerkennung stieg. Ich ließ mir das sehr gern gefallen, ich hatte es noch durchaus nöthig, Wohlwollen und Zustimmung zu finden, und doch wußte ich ganz genau, wie hoch diese Art des Beifalls und der Freundlichkeit anzuschlagen und wie viel sie werth waren. Man ist aber nicht nur in seiner frühen Jugend so thöricht, dasjenige zu erstreben und aus Schwäche hoch anzuschlagen, was man bei ruhiger Ueberlegung gering schätzt!

Wir hatten ein paar Tage mehr in Berlin zugebracht, als ursprünglich in der Absicht gelegen hatte, und der Onkel drängte nun zum Fortgehen, obschon, wie ich glaube, die erste Aufführung von Robert dem Teufel in Aussicht stand, zu welcher die Mutter des Componisten eine Loge angeboten hatte. Aber der Onkel hatte es offenbar völlig satt, das Wanderleben der Erzväter an der Spitze ihres Stammes weiter fortzuführen, und trotz aller Bitten und Vorstellungen blieb es bei der Reise. Indeß der Mensch denkt und Gott lenkt!

Wir waren keine Tagereise von Berlin entfernt, als der schon einmal erkrankte Knabe wieder einen schweren Anfall von Bräune bekam, und nun saßen wir sammt und sonders in dem elenden Gasthof des kleinen Städtchens Münchenberg, in schwerer Sorge um das Kind, ohne Vertrauen zu dem Arzte, den man herbeigerufen [62] hatte, da die gewohnten und immer bereit gehaltenen Mittel nicht helfen wollten, und sehnten uns nach Berlin zurück, wo eine solche Katastrophe viel weniger beängstigend gewesen wäre, und wo man obenein Robert den Teufel spielte.

Aber auch diese Gefahr ging glücklich vorüber, und zwei Tage später sahen wir den Elisabeththurm vor uns emporsteigen, und fuhren in die engen Straßen des alten Breslau ein, Alle mehr oder weniger zufrieden, an Ort und Stelle, und in der Heimath zu sein.

[63]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

Breslau hat auf mich, so oft ich es besuchte, in seinem eigentlichen Kerne niemals den Eindruck einer deutschen Stadt gemacht, und achtzehnhundert zweiunddreißig erschien es mir besonders fremdartig. Es war nicht der Markt, vielleicht der schönste Marktplatz in Deutschland, mit seinem alterthümlichen, spitzgiebligen Rathhaus, dessen graues Gestein so malerisch von Epheu umzogen ist, es waren auch nicht die alten Kirchen, oder die einzelnen zum Theil sehr alten Häuser, die mir auffielen und als nicht deutsch erschienen, sondern ein gewisses, mir selbst unerklärliches Etwas in der Physiognomie der Stadt, von dem ich mir sagte, das sei polnisch, ohne daß ich bis dahin jemals eine polnische Stadt gesehen hatte. Es war vollkommen anders, als das kleinstädtische und unschöne Königsberg, und auch vollkommen anders als Berlin und alle die andern Orte, durch die wir gekommen waren. Am meisten gemahnte es mich an Leipzig, aber auch dieses hatte jenen polnischen Anstrich für mein Auge gehabt. Selbst in neuer Zeit, in welcher die Ausdehnung der Städte, über ihre frühere Grenze hinaus, sich auch in Breslau und Leipzig nothwendig gemacht, und die Neubauten der Vorstädte auf die Bauten in der [64] innern Stadt ihre rückwirkende Kraft geübt, haben Breslau und Leipzig den ihnen gemeinsam fremdartigen Charakter für mich noch nicht verloren, ohne daß es mir möglich wäre, es mir völlig klar zu machen, wodurch diese Wirkung hervorgebracht wird.

Wie in vielen alten Städten, haben die einzelnen Häuser in Breslau Schilder und Embleme, von denen sie ihren Namen führen, Damals hatte die Familie meines Onkels den sehr weitläufigen ersten Stock der »drei Mohren« an der Ecke des Blücherplatzes inne, und kaum waren wir vor dem alterthümlichen Portal des Hauses vorgefahren, als die Familie sich auch schon von einer ganzen Menge von Verwandten und Bekannten begrüßt fand.

Der älteste Onkel Lewald, mein Onkel Simon mit der ältesten Tochter, verschiedene Vettern meiner Tante Lewald von ihrer väterlichen Seite, der Hausarzt, und die Hausfreunde, und der alte Kutscher mit seiner Frau, und die Dienerschaft des Hauses, und noch Dieser und Jener waren herbeigekommen, uns zu erwarten. Fragen, Erzählungen, Bestellungen wirrten durch einander. Ich wurde meinen Verwandten vorgestellt, es kamen allmählig noch andere weibliche Familienmitglieder herbei, der Unruhe wurde immer mehr, das Auspacken der nothwendigsten Dinge begann inzwischen auch, und als ich mich in dem Eßzimmer, das noch am ruhigsten war, auf einen Fenstertritt setzte, um auszuruhen, schlief ich in demselben Augenblicke ein, um kurz darauf unter dem Lachen meiner Onkel sehr beschämt zu erwachen. Man sagte mir, da ich nun wohl ausgeschlafen hätte, müsse ich noch heute, und zwar jetzt gleich, mit meinem Onkel Simon zu der [65] Tante hinausgehen, da diese mich zu sehen wünsche und ihr Haus nicht gern verlasse.

Tante Minna, wie mein Vater die Tante bezeichnete, wenn er von ihr sprach, war die älteste der Geschwister, und wurde von Allen eben so sehr geliebt, als – und dies selbst von den Brüdern – mit einer unverkennbaren Unterordnung unter sie, verehrt. Sie und ihr Haus waren das Ideal meiner beiden väterlichen Tanten; die Großtante selbst sprach von »Minna« mit einem ganz andern Tone, als von allen andern Menschen, und es waren eben auch Tante Minna und die Ihren gewesen, deren Bekanntschaft der Vater mir in Aussicht gestellt hatte, als er mich mit dem Gedanken an eine lange Entfernung von Hause hatte aussöhnen wollen.

Ich selbst war schon seit mehreren Jahren dazu angehalten worden, der Tante und ihren Töchtern zu schreiben, und es hatte sich ein freundlicher Verkehr zwischen uns herausgebildet. Meine Cousinen, die zum Theil älter, zum Theil jünger waren als ich, wußten von unserem Leben, wie ich von dem ihren, und wenn die Tante zwischen unserer Correspondenz einmal ein Briefchen einschaltete, so war mir das stets als eine besondere Gunst angerechnet worden. Die Tante war ihrer ganzen Natur nach zurückhaltend und genoß, ohne alle Berechnung, die Vortheile, welche eine solche Gemüthsart gewährt. Man muß aber vielleicht, wie ich, durch seine eigene hingebende Weise sehr viel gelitten haben, um die natürliche Anlage zur Zurückhaltung als einen der größten Vorzüge für Denjenigen anzuerkennen, dem sie innewohnt.

Wir hatten ein Ende zu gehen, bis wir die Sommerwohnung [66] erreichten, welche die Simon'sche Familie damals vor dem Schweidnitzer Thore in dem Konrad'schen Hause gemiethet hatte.

Müde und eben von der Reise angekommen, nach anderthalb Jahren zum ersten Male wieder mit seiner eigenen zahlreichen Familie in dem eigenen Hause, machte der Onkel Friedrich Lewald sich doch mit Onkel Simon und mir gleich auf den Weg, um die älteste Schwester noch an demselben Abende zu besuchen, und die ganze Familie schien dies nur in der Ordnung zu finden. Für den gläubigen Neophyten wird der Gott aber mehr und mehr erhoben, durch den Cultus, welchen seine Priester ihm zollen, und da ich sehr dazu geneigt und ganz darauf vorbereitet war, diese Schwester meines Vaters zu lieben und zu verehren, so wuchs diese Empfindung und die Spannung, mit welcher ich der Begegnung harrte, durch des Onkels Rücksicht für seine Schwester, in mir nur noch höher empor.

Das Konrad'sche Haus lag in einem großen, schattigen Garten, und mir klopfte das Herz, als wir in das Thor desselben eintraten, als meine Cousinen uns vom Hause her entgegen kamen, und ich die Tante aus der Gartenstube hervortreten und, da sie äußerst kurzsichtig war, mit der Lorgnette nach uns ausschauen sah. Sie stieg, da sie uns gewahrte, die Treppe hinunter und als sie vorwärts schritt, bemerkte ich, daß sie ein wenig hinkte, aber da ihr Gang schnell und für ihr Alter ungewöhnlich leicht war, so fiel jene Schwäche, die ihr durch die Blattern zugekommen war, durchaus nicht unangenehm an ihr auf.

[67] Sie umarmte ihren Bruder, umarmte mich darnach, und sagte mit sehr sanfter Stimme, während sie die Augen leise zusammenzog, um mich deutlicher zu sehen: »Sei willkommen, Kind! Du bist Deinem Vater recht ähnlich!« – Ich war von ihrem Anblick, von ihrer Stimme, von ihren wenigen Worten gerührt und gewonnen. Ich küßte ihr die Hand und war ihr durch jenen selten täuschenden Zug von Sympathie schon im ersten Augenblicke von Herzen ergeben, ehe ich noch ahnen konnte, wie sehr ich sie lieben und welch großen Einfluß sie auf mich gewinnen würde.

Die Tante war, wie ich denke, damals in den ersten Fünfzigern und eine mittelgroße, sehr fein gebaute Gestalt. Sie glich ihren Geschwistern, ohne daß ihre Züge so schön und edel gewesen wären, als die meines Vaters und seiner einen Schwester. Sie war blatternarbig und bleich, hatte helle Augen, denen man auch in der Nähe ihre Kurzsichtigkeit anmerkte, und deren schwermüthiger Ausdruck sich nur verlor, wenn irgend ein angenehmes Ereigniß oder ein Scherz, dem sie sehr zugänglich war, sie heiter stimmte, wobei dann ihre Miene etwas höchst Anmuthiges und Gewinnendes bekam. Vor Allem aber waren es ihre leise Stimme, die Art sich auszudrücken, und die feinen Züge um ihren Mund, die sie so einnehmend machten, wenn sie sprach; und wie es edle stylvolle Räume giebt, welche Demjenigen, der in sie eintritt, es zu verbieten scheinen, daß er Geringes und Unedles in ihnen äußert, oder auch nur denkt, so wirkte die Tante beruhigend und maßgebietend auf Alles, was sich um sie her bewegte.

[68] Sie war eine ganz und gar ernsthafte Frau, und es giebt gar wenige unseres Geschlechtes, auf welche diese Bezeichnung anzuwenden ist. Alle jene kleinen Neigungen, in denen die Mehrzahl der Frauen sich gehen läßt, alle die Schwächen und Schwachheiten, die sie als besondere Eigenschaften des Geschlechtes, alle jene Thorheiten, die sie als Niedlichkeiten in sich hegen und pflegen, waren ihr durchaus fremd. Sie liebte den Putz nicht, obschon sie immer von größter Sauberkeit in ihrer ganzen Erscheinung war. Sie hatte gar kein Bedürfniß nach Zerstreuung, weil ihre innere Sammlung sie befriedigte, sie sehnte sich nach keinen Reisen, weil ihr Haus ihr die Welt ersetzte, sie hielt fast gar keinen Verkehr mit Fremden, weil sie sich in ihren Kindern eine ihr vollkommen zusagende und sie geistig erfrischende Gesellschaft erzogen hatte, und diese Art zu sein macht es erklärlich, daß oft Monate vergingen, ohne daß sie auch nur für ein paar Stunden ihr Haus verließ. Im Sommer, wenn man eine Gartenwohnung bezogen oder sich nach einem der schlesischen Badeorte begeben hatte, spazierte sie, da sie die Natur sehr liebte, in ihrem Garten, und konnte dann lange und liebevoll einem Vögelchen oder einem Käfer zusehen, und sich mit großer Freude grade in die Betrachtung der kleinsten, unscheinbarsten Grasblüthen versenken. Winters ging sie im Dämmerlicht alltäglich in ihrem Zimmer auf und nieder, um sich Bewegung zu machen, und es war dann ein Genuß für uns Alle, ihre sanfte Stimme mit uns plaudern, und wenn sie heiter war, ihr ebenso sanftes Lachen zu hören. Aber ihre Abgeschlossenheit war keine egoistische, denn sie war [69] hilfreich und theilnehmend, wo man sie in Anspruch nahm, ohne sich aus müßiger Geschäftigkeit zum Helfen und Theilnehmen unberufen anzubieten, und obschon oder vielmehr weil sie keine Art von Neugier für das Individuelle besaß, hatte sie das Auge und den Sinn stets in ungewöhnlicher Weise für das Allgemeine offen.

Aus der Besorgniß, daß die Liebe für ihre Kinder sie dazu verleiten könne, sich denselben so ausschließlich hinzugeben, daß sie in ihrer eigenen Entwickelung dadurch zurückgebracht und nicht befähigt werden könne, dieselben würdig zu erziehen, hatte sie sich schon in den ersten Jahren ihrer Ehe das Gesetz gemacht, täglich eine oder zwei Stunden ganz ausschließlich für sich selbst und zur Lektüre anzuwenden, und dies Gesetz hatte sie pünktlich aufrecht gehalten. Jeden Nachmittag zog sie sich in ihre Stube zurück, um Ruhe zu haben, und man kann auf solche Weise viel in sich aufnehmen und viel in sich verarbeiten, wenn man sich mit seiner Lektüre an das Große und Bedeutende hält, wie sie es that. Sie war stets mit den neuesten Werken der Literatur bekannt, sie nahm lebhaften Antheil an den Cultur- und Staatsverhältnissen Europa's, und Niemand konnte die Fortschritte und die Erfolge, welche die gesunde Vernunft über das Vorurtheil, die Freiheit über die Unterdrückung auf irgend einem Gebiete davon trugen, mit größerer Genugthuung gewahren, als sie.

Ihre Neigung zur Stille, und die beständige, aber zum großen Theile eingebildete Krankheit einer Tochter, hatten alle Arten von Geselligkeit aus dem Hause entfernt. Man ging nicht in Gesellschaft und es wurde[70] auch keine geladen. Hie und da kam für ein Paar Stunden ein einzelner Besuch, oder die Töchter machten einen solchen, und nur der Vater, der bei einer für den Kaufmann der damaligen Zeit sehr seltenen Bildung, einen sehr heiteren, mittheilsamen Sinn besaß und die Geselligkeit liebte, ging täglich von fünf bis acht Uhr in die Ressource, kam dann aber auch regelmäßig zu dem Familienabendbrod nach Hause.

Von den sechs Kindern, zwei Söhnen und vier Töchtern, war die zweite Tochter in Breslau an einen geistvollen jungen Advokaten, Justizrath Gräff, verheirathet, der zweite Sohn als Beamter auswärts angestellt. Der älteste Sohn hingegen, der nachmals in der politischen Entwickelung Deutschlands vielfach betheiligte Heinrich Simon, lebte in jener Zeit noch im väterlichen Hause, und bereitete sich bei dem Breslauer Oberlandesgericht für das Assessor-Examen vor.

Man hatte mir von diesem meinem Vetter Heinrich auf der Reise, in den vielen Tagen, die man plaudernd im Wagen zuzubringen hatte, schon viel erzählt. Onkel Lewald nannte ihn einen sehr braven und tüchtigen Menschen, die Frauen in der Familie rühmten seine äußere Erscheinung, seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit, und umgaben ihn in ihren Schilderungen immer mit einem gewissen romantischen Schimmer, der für mich durch ein trauriges Ereigniß in seinem Leben noch gesteigert worden war.

Heinrich Simon war, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, in Brandenburg an der Havel zu einem Duell genöthigt worden, bei welchem er das Unglück gehabt hatte, [71] seinen Gegner, einen Referendarius Bode, zu erschießen. Er hatte sich darnach den Gerichten gleich selbst gestellt, und war nach einer längeren Untersuchungshaft in Brandenburg zu einer vieljährigen Gefängnißstrafe verurtheilt worden, zu deren Abbüßung man ihn auf die Festung Glogau geschickt. Ich glaube, irgend eine allgemeine Amnestie hatte ihn befreit, ehe die Strafe völlig verbüßt war, und als ich in Breslau eintraf, befand er sich schon wieder längere Zeit in der Mitte seiner Familie.

Er war nicht zu Hause, als ich zu meiner Tante kam, aber Mutter und Geschwister sprachen von ihm, und als Onkel Lewald mich aufforderte, mit ihm in die Stadt und nach Hause zurück zu kehren, wollte Niemand recht darin willigen, daß ich fortginge, ehe ich Heinrich kennen lernen. Endlich, als wir nicht länger verweilen konnten, meinten seine Schwestern, er werde sich wohl am andern Morgen früh bei uns einstellen; die Tante jedoch wünschte, daß ich gleich nach dem Frühstück zu ihr käme, da sie nun auch, wie sie sagte, meiner froh werden wolle, nachdem ich so lange bei meinen anderen Verwandten gewesen wäre.

Bei guter Zeit schickte man mich denn am nächsten Morgen nach dem Garten hinaus, aber der Vetter war schon zur Abhaltung eines Termines nach dem Oberlandesgericht gegangen, und es war Mittag, als seine Schwestern fröhlich ausriefen, daß der Heinrich nach Hause komme.

Die jüngste Schwester ging ihm entgegen, und ich hatte eigentlich auch Lust dazu, weil es das Natürlichste war. Aber ich befand mich damals noch mitten in dem [72] Irrglauben an die Lehre von jener weiblichen Würde und Zurückhaltung, welche man keinem Manne gegenüber, auch nicht im Verkehr mit seinen nächsten Angehörigen, verläugnen dürfe. Dazu hatten die Großtante und ihre Gesellschafterin immer davon gesprochen, wie sehr Heinrich Simon allen Frauen gefiele und wie sehr sie ihn verwöhnten. Es war wohl der einzige Gesichtspunkt, unter dem die beiden guten Personen den jungen Mann zu sehn verstanden. Ich aber hatte mir vorgenommen, ihn ganz gewiß nicht zu verwöhnen. Um nun diesen Entschluß gleich von Anfang an auszuführen, und die gepriesene weibliche Würde und Zurückhaltung zu beweisen, die in den meisten Fällen nur eine Berechnung und eine herausfordernde und anreizende Affektation ist, und auch bei mir nur eine Ziererei war, blieb ich ruhig neben der Tante im Zimmer sitzen, während ich sehr neugierig war, den Cousin zu sehen, und im Voraus sehr geneigt, ihn zu lieben, da die Seinen mir so gut gefielen und ihn in hohem Grade zu lieben schienen.

Es mag wohl meine tugendsame Zurückhaltung gewesen sein, die meinen Cousin bewog, mich, als er in das Zimmer trat, sehr förmlich zu umarmen, und mich nicht Du zu nennen, wie die anderen Alle es thaten. Das befing mich und verdroß mich. Und als ich dann zu ihm in die Höhe und in sein edles Antlitz sah, kam mir der Gedanke, mit diesen Augen habe er auf einen Menschen gezielt, und mit der Hand, die er mir zum Willkommen gegeben, einen Mord begangen; denn soviel gesunde Vernunft hatte ich damals schon, das Duell, den privilegirten Mord, verabscheuenswerth zu finden. Das [73] machte mir einen erschreckenden Eindruck. Ich wußte es mir nicht zu deuten, daß er so heiter mit den Seinen plauderte, daß er der Neckerei mit seinen Schwestern kein Ende finden konnte, und als diese Lust am Scherz sich endlich auch gegen mich wendete, mißfiel sie mir um so mehr. Da er mir in jedem Betrachte überlegen, und durch seine Erfahrungen noch mehr gereift war, mochten meine Allweisheit und Geistreichheit, die wohl noch vielfach nach der Schul- und Kinderstube geschmeckt haben werden, ihm komisch erscheinen. Es lag daher in seinem Verkehr mit mir an jenem ersten Tage etwas Spielendes, das mich unbeschreiblich kränkte, weil ich meinte, nicht nach meiner Würde behandelt zu werden.

Zu Hause war am Abende von allen Seiten die erste Frage, wie mir Heinrich gefallen habe. »Er ist schön und geistreich«, sagte ich, »aber kalt und abstoßend. Er mag sehr liebenswürdig sein können, mir aber ist er nicht so erschienen, und ich kann auch über den Gedanken nicht fort, daß er einen Menschen erschossen hat.«

Mein Onkel, der äußerst selten gegen Jemand einen Tadel aussprach, sondern in den meisten Fällen die Leute ihren Weg gehen und mit sich selber fertig werden ließ, wich diesmal von seiner gewohnten Weise ab. Er hielt es mir vor, daß es unvernünftig und ungerecht sei, einem Menschen sein Unglück zum Verbrechen anzurechnen, und sagte endlich: »wenn Du wüßtest, wie sehr der Arme noch unter der Nachwirkung jenes Ereignisses leidet, würdest Du es sehr achtungswerth von ihm finden, daß er dies Leiden still in sich verbirgt, und den Seinen, die viel Sorge um ihn getragen, und auch viel Opfer für [74] ihn gebracht haben, immer nur ein heiteres Gesicht zeigt. Ich bin manchmal mit ihm hart aneinander gekommen, denn er ist hochfahrend und ein Rigorist, aber er ist dabei doch ein seltener und ein vortrefflicher Mensch, über den sich nicht so aburtheilen läßt, wie Du es so eben gethan hast.«

Es war das erste und das einzige Mal, daß der Onkel mir einen Verweis gab; und da man bei solchen Anlässen gern seine Schuld und sein Unrecht auf Denjenigen abwälzt, an dem man es begangen hat, so erzürnte ich mich gegen meinen Vetter nun erst recht. Ja ich wußte mir Etwas damit, daß er auf mich durchaus nicht so einnehmend gewirkt hatte, als man es mir prophezeit! Ich sah mich als eine Ausnahme unter meinem Geschlechte an, und natürlich als eine schöne und würdige Ausnahme. Aber während ich mich mit beneidenswerthem Selbstgefühl zur Ruhe legte, und meiner Stubengefährtin weitläufig auseinandersetzte, was mir Alles an meinem ältesten Cousin mißfallen habe, konnte ich mich innerlich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß ich in dem Kreise meiner männlichen Bekannten noch keinen schönern Mann, noch keinen Mann gefunden hätte, der ihm gleich gewesen wäre.

[75]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

Den folgenden Tag kam ich nicht nach dem Garten hinaus. Die Großtante wünschte mir die Stadt zu zeigen, ich sollte die Kirchen, die Promenade sehen, und auch die Hausfreunde der Familie Lewald kennen lernen, die jenen Namen recht eigentlich verdienten, weil sie fast tägliche Gäste des Hauses waren, das in seiner ganzen Einrichtung und Lebensweise für mich des Auffallenden, des Fremden und Anziehenden eine reiche Fülle hatte.

Es ist ein großer Unterschied, ob man Menschen auf der Reise kennen lernt, oder ob man sie in ihrem Hause sieht. Das Reiseleben trennt Jeden von seinen täglichen Gewohnheiten ab, die sich wie eine Art von Austernschale um den eigentlichen Kern seines Wesens festsetzen. Was an den verschiedenen Naturen Weiches und Liebenswürdiges ist, tritt auf der Reise leichter und offener an ihnen hervor, sie rücken dadurch vielfach bequemer zusammen, und da sie auf die Hauptsache, auf die Aufrechterhaltung ihrer Eigenheiten, ihrer täglichen Gewohnheiten, verzichten müssen, so geben sie dabei auch manche störsame Unart ihres Wesens mit in den Kauf – ohne sie jedoch darum für immer aufzugeben. Sie verzichten darauf nur, wie bei den englischen Grundstückverkäufen, auf [76] neunundneunzig Jahre, und diese neunundneunzig Jahre der Leichtlebigkeit sind für die meisten Reisenden in der Regel an dem Tage zu Ende, an welchem ihr Fuß die Heimath wieder betritt.

Ich hatte mir eingebildet, als ich nach einem zehnwöchentlichen Beieinandersein mit der Familie meines Onkels Ende Juli in Breslau anlangte, in derselben eingelebt, und mit den einzelnen Personen wie mit ihrer Lebensweise bekannt zu sein; und unerfahren wie ich war, hatte ich gemeint, das ganze Dasein der Familie werde in der Heimath nur noch enger verbunden sein. Wenn ich mir auch vorgestellt hatte, daß meine wohlhabenden Verwandten nicht die straffe, berechnete Oekonomie beobachten würden, wie ich sie zu Hause gewöhnt war, so dachte ich mir ihre Hausordnung doch eben so streng gegliedert und eben so auf die Alleinherrschaft des Vaters gegründet als die unsere, und ich war daher Anfangs im höchsten Grade betroffen, als ich bemerkte, wie die Familie, sobald sie in dem Hause sich wieder festgesetzt hatte, sich gleichsam in drei verschiedene Häuslichkeiten auflöste, die aber durch eine Art von Gewohnheit dennoch innerlich zusammenhingen, und auch äußerlich sich so ineinander gefügt hatten, daß sie nebenander und zugleich miteinander bestehen und Jeder auf seine Weise befriedigt sein konnten.

Die eine Häuslichkeit bildete die Großmutter. Sie hatte in der linken Seite des Hauses drei große Zimmer inne, in welchen sie mit ihrer Gesellschafterin und einer alten, anscheinend schweigsamen, aber dabei sehr beobachtenden und klatschhaften Kammerjungfer lebte. Die [77] Zimmer waren mit besonderer Berechnung auf Bequemlichkeit eingerichtet. Gardinen und Vorhänge hielten Licht und Zug ab, wenn dies nöthig war, die Teppiche schützten gegen Kälte, und obschon sich viele neue Möbel in den Stuben befanden, war doch auch noch mancher Hausrath aus einer frühern Zeit in denselben aufbewahrt. Alte Bilder, ein paar alte Uhren, altes silbernes Frühstücksgeräth und altes Porzellan, gaben der Einrichtung zugleich ein behagliches und besonderes Ansehen, und ich war gar wohl damit zufrieden, in diesem Theil der Wohnung meinen eigentlichen Aufenthalt zu haben.

Ich schlief in dem Zimmer der Gesellschafterin, arbeitete, wenn ich es überhaupt that, mit derselben in der Wohnstube der Großtante, frühstückte mit ihr, fuhr, wenn ich nichts Anderes vorhatte, am Mittag mit ihr aus, und kam in der Regel erst von der Mahlzeit ab mit den übrigen Hausgenossen dauernd zusammen.

Die Sorgenfreiheit, die ich im Vaterhause in dem Grade nie gekannt hatte, und auch das ruhige materielle Wohlleben gefielen mir außerordentlich gut. Die Großtante, die gar keine Beschäftigung hatte und sich nur selten Etwas vorlesen ließ, sprach gern von sich, von ihrer Vergangenheit, von ihrer Jugend, von ihren Geschwistern, von ihren Eltern. Ich bekam dadurch von meiner eigenen Großmutter zu hören, von meinem Großvater, und wie er schön und klug und liebenswerth gewesen sei, als er um die Großmutter geworben, ja selbst von der Urgroßmutter erfuhr ich viel. – Wenn die gute alte Frau sich dann genugsam in den Tagen ihrer Jugend ergangen hatte, so erzählte sie von der französischen [78] Invasion, von den Kriegszeiten, von der Belagerung von Breslau, von ihrer Flucht nach Troppau, kurz, sie erzählte eben, und ich hatte von Jugend auf meine größte Freude daran gehabt, erzählen, besonders aber alte Leute erzählen zu hören. Ohne im Entferntesten daran zu denken, daß ich es einmal brauchen könne, habe ich auf die Art viel von ihnen gelernt, was mir später gut zu Statten gekommen ist.

Die Gesellschafterin, welche alle diese Geschichten schon gar zu oft gehört hatte, und obenein nicht das Interesse dafür haben konnte, das diese Mittheilungen mir einflößten, wurde oft ungeduldig dabei, und war endlich sehr froh, wenn sie sich hie und da eine halbe Stunde oder gar einmal ausnahmsweise einen Nachmittag entfernen konnte, während ich bei der Großtante blieb und mich an ihrer Gesprächigkeit erfreute. Das stellte, ohne daß ich es beabsichtigte, auf die natürlichste Weise ein gutes Vernehmen zwischen mir und den beiden Damen her, und ich hatte dabei an den täglich wiederkehrenden Vorgängen in dem kleinen Staate mein Vergnügen, als ob ich die Darstellung davon in einem heitern Buche läse.

Früh, wenn die Großtante noch im Bette lag, gingen die Audienzen und die Cour schon an. Die Kammerjungfer Lore mußte berichten, wie viel Grad der Thermometer zeige, die Gesellschafterin, wie die Tante Lewald und sämmtliche Enkel geschlafen hätten und sich befänden. Dann kam die Tante selbst, der Mutter guten Morgen zu wünschen, und eines oder das andere der Kinder, das grade aus irgend einem besonderen Grunde an dem Tage ein specielleres Interesse erregte, wurde herbeigeholt. War [79] die Großtante nun endlich aufgestanden und in den langen braunseidenen Schlafrock gekleidet, so kam das Frühstück an die Reihe. Ihm folgte der Friseur, welcher, ein wanderndes Intelligenzblatt, den Mund noch fleißiger brauchte als Kamm und Bürste, und in der Regel kaum das Zimmer verlassen hatte, wenn der alte Kutscher zu der Berathung über das Ausfahren hereintrat. Das war eine der längsten Conferenzen. Wann gefahren, in welchem Wagen, zu welchem Thore hinaus gefahren und wer mitgenommen werden solle, das war nicht schnell zu entscheiden, und der alte Pfeiffer, der »noch bei dem seligen Herrn gedient hatte« und daher Alles besser verstand als jeder Andere, und die Frau Pfeifferin, die für die Großtante Commissionen ausrichtete, und immer wie eine vorsichtige alte Katze in den Fluren und Gängen und auf den Treppen umherschlich, hatten immer noch heimlich ihrer alten Herrin dies und jenes zu berichten, wovon an dem Tage Niemand Etwas erfuhr, was denn aber gelegentlich ganz unerwartet und nicht immer angenehm zum Vorschein kam, wie die in Münchhausens Trompete eingefrorene Musik.

War die Spazierfahrtsfrage erledigt, so kam die Pflegetochter des Hauses, die den Haushalt besorgte, sich zu erkundigen, ob das Befinden der Großtante etwa eine besondere Diät erfordere, und da dieselbe in frühern Jahren öfter an einem Bluthusten gelitten hatte, von dem sich noch hie und da kleine Anfälle zeigten, so gab es über das Nichtsalzen der Suppen und das Nichtwürzen der Compotte immer sehr viel Anweisungen und Empfehlungen, die glücklich die Zeit ausfüllten, bis ein entfernter [80] Verwandter der alten Dame kam, dem das Geschäft oblag, ihre verschiedenen Uhren aufzuziehen und möglichst in Einklang zu erhalten. Damit aber war die Reihe der Besuche noch nicht zu Ende, und jeden Tag fand sich noch Einer oder der Andere ein, der nicht in die Liste der täglichen Erscheinungen gehörte. Heute kam Onkel Simon und morgen der ältere Onkel Lewald, denn es waren zwei von meines Vaters Brüdern in Breslau ansässig, und Beide verheirathet und in gleich guten äußern Umständen. Eines Tages war es der Hausarzt der Großtante, der alte Medizinalrath Wendt, der gern davon sprach, welch ein schöner junger Mann er gewesen sei, als er im rothen gestickten Tuchfrack, en escarpins und mit dem dreieckigen Hute unter dem Arme seine Praxis begonnen habe, und der – ein ächter Damenarzt – immer im Voraus errieth, was seine alte Patientin zu hören wünschte, und ihr immer die Anordnungen machte, welche mit ihren Tagesabsichten im Einklang standen. Die Hauptsache aber war, wir erfuhren in den stillen Stuben der Großtante nicht nur alles Erhebliche, das sich in der Welt und in der Stadt ereignete, sondern auch das Unerhebliche, und waren die Besuche vorüber, so wurde die tägliche Spazierfahrt gemacht, bei der immer wenigstens zwei verschiedene Mäntel in dem Wagen mitgenommen wurden, damit beim Aussteigen und Promeniren der Mantel und die Temperatur gehörig in Einklang gebracht werden konnten. Wir fuhren dann immer viel in Magazine, es wurden Sachen besehen und gekauft, für die Enkel Etwas mitgenommen, und wie der Morgen hingegangen war, so wurden auch der [81] Nachmittag und Abend zugebracht, während die Kammerjungfer fortwährend an ihrem Nährahmen saß und fortwährend Battist-Taschentücher, die Liebhaberei ihrer Herrin, stickte, und die Gesellschafterin sich mühsam durch die langen, völlig müssigen Tage durchschlug, sehnsüchtig den Abend erwartend, an dem die Großtante stets in den Zimmern ihrer Tochter eine Zeitlang an der Geselligkeit Theil nahm, die dort selten fehlte.

Den zweiten Haushalt machten der Onkel und die Tante mit ihren Kindern aus, die sie sehr viel um sich hielten, und auf welche eine Sorgfalt wie auf Fürstenkinder verwendet wurde. Daneben beschäftigte die Tante sich fast ausschließlich mit Lektüre. Im Reichthum erzogen, hatte sie niemals die Nothwendigkeit irgend einer Arbeit gekannt, und früh die Möglichkeit besessen, sich nach freier Wahl einen sie unterhaltenden und fördernden Zeitvertreib zu suchen. Sie hatte Französisch, Englisch, Italienisch gelernt, Musik und Malerei getrieben, es auch ein wenig mit der Plastik versucht, vor Allem aber sehr viel gelesen. Das war ihr jedoch im Grunde Alles kein Selbstzweck, sondern eben nur ein Mittel gewesen, ihre Muße auszufüllen, und alle diese Studien waren seit ihrer Verheirathung, wie das meist zu geschehen pflegte, liegen geblieben. Indeß sie hatte doch allerlei Kenntnisse, nahm einen gewissen Theil an Geistigem, kaufte und las was irgend in der Literatur Interessantes und Bedeutendes erschien, und war dabei eine im Grunde gutmüthige, stets zum Lachen aufgelegte Frau, die in ihrer bequemen Corpulenz neben der großen magern, immer rührigen Großmutter etwas Behagliches hatte.

[82]

Während die alte Dame jedes Detail der Haushaltung mit einer Wichtigkeit und Nachdrücklichkeit behandelte, als hinge nicht nur das Wohl der Welt, sondern – was ihr unendlich wichtiger war – ihr eigenes Leben davon ab, hatte die Tochter fast gar keinen Sinn dafür, und war herzlich froh, wenn die Pflegetochter ihr von dieser Sorge soviel als möglich abnahm. Sie liebte ihren Mann mit einem schönen Stolz auf ihn, sie liebte ihre Kinder mit Zärtlichkeit, und ihre Mutter mit gelegentlicher und bisweilen sehr berechtigter stiller Ungeduld über deren Selbstsucht, und sie liebte dabei ihr sorgenfreies, bequemes Leben und eine gute Unterhaltung. Es war leicht mit ihr zu verkehren, leicht sie zufrieden zu stellen, sie kümmerte sich um die Andern nicht eben viel, verlangte nicht viel von ihnen, und war zufrieden, wenn man sie ihre Wege gehen ließ.

Den dritten Haushalt endlich hatte mein Onkel mit seinem Freundeskreis noch ganz für sich allein. Es existirte mitten in der allgemeinen Zimmerreihe eine Stube, die meines Onkels Stube hieß. Sie hatte einen großen Cylinderschreibtisch und andere auf das Bedürfniß eines Mannes eingerichtete Möbel, aber der Herr und eigentliche Besitzer dieses Raumes war in demselben nur selten einmal, und nur gelegentlich zu finden. Wenn er nicht bei seiner Frau und seinen Kindern war, für die er als ein ungewöhnlich zärtlicher Vater die größte Sorge trug, so traf man ihn sicherlich in zwei sehr kleinen dunkeln Stuben, welche das Ende der ganzen Wohnung bildeten und einen besondern Ausgang nach dem Hofe und damit nach der Straße hatten. Sie waren ringsum von oben [83] bis unten mit Bücherborden bestellt, und enthielten eine Bibliothek, die theils aus nationalökonomischen und statistischen Werken, hauptsächlich aber aus alten Provinzial-Chroniken, altdeutschen Gesangbüchern und ähnlichen für die altdeutsche Sprachforschung und für die Geschichte der Provinz bedeutenden Schriften bestand, für welche Professor Hoffmann von Fallersleben dem Onkel ein Interesse eingeflößt hatte.

Von einer hübschen Einrichtung, von irgend welchem Comfort war in den beiden Zimmern, die diesen Namen kaum verdienten, keine Rede; dafür aber war den ganzen Vormittag Gesellschaft darin, und die Hausfreunde des Onkels: Hoffmann von Fallersleben, Professor Stenzel, Professor Frankenstein, Doktor Eppstein, Doktor Halling, Doktor Kalkstein, der treue Hausarzt Doktor Guttentag, und was es von nahen und entfernten männlichen Verwandten der Familie in Breslau gab, das kam, saß und ging von früh bis Mittag in den kleinen Stuben, ohne in der Familienwohnung vorzusprechen, in der dieselben Gäste einzeln oder auch in größerer Zahl am Abend zu erscheinen pflegten. Man plauderte, man frühstückte auch bisweilen, und da oft mehr Gäste als Stühle vorhanden waren, so saß man auf einem Pack Bücher, auf einer Bibliothekleiter, auf einer Tischecke, wie es sich eben traf.

Ich konnte aus der Stube, in welcher die Gesellschafterin und ich zusammen wohnten, über einen verdeckten Corridor, der sich an der Hofseite des Hauses hinzog, nach der Bibliothek gelangen, ohne die Wohnzimmer zu passiren; und nachdem ich einmal im Auftrag der Großtante zum Onkel in seine Bibliothek gesendet, [84] und von ihm und dem dort versammelten Collegium sehr gut aufgenommen worden war, ging ich, da mein Onkel mich bisweilen einlud, öfter auch ungebeten zu ihm. Männer frei mit einander verkehren zu hören, war mir in der Weise etwas Neues. Zu Hause waren unsere männlichen Gäste bis zur Zeit meiner Abreise meist Altersgenossen von uns Kindern gewesen, und die älteren und fremden Personen, welche damals unser Vaterhaus besuchten, hatten bei der ganzen Unterhaltung immer die Rücksicht genommen, welche die Anwesenheit junger heranwachsender Mädchen und die Unfähigkeit meiner Mutter, sich an ernster Unterhaltung zu betheiligen, ihnen auferlegen mußte. Jede Discussion hatte dadurch in ihrem geistigen und räumlichen Gehalt bald ihre Schranke gefunden, und vertiefte sie sich einmal mehr als mein Vater für gut zu hören fand, oder dehnte sie sich auf Gebiete aus, auf welche er unsern Blick nicht geleitet zu sehen wünschte, so hatte er derselben ganz ohne alle Umstände mit der Erklärung ein Ende gemacht, davon wolle er nicht gesprochen haben.

In der Bibliothek beim Onkel war das anders. Die Zeit war bewegt, die deutschen Zeitungen und Journale brachten täglich Anregendes und Aufregendes, und waren ebenso wie die Revue de Paris und die Revue des deux mondes stets bei der Hand. Politik, Literatur, sociale und religiöse Fragen wurden mit voller Freiheit durchgesprochen, und weil ich ernsthaft war und wirklich verstehen lernen wollte, wovon man sprach und um was es sich handelte, so vergaß man es leicht, daß ich ein junges Mädchen [85] war, und verfolgte die Discussion bis zu ihren letzten Consequenzen.

Man befand sich damals an einem jener Zeitpunkte, in welchen das Leben der Völker und damit auch das Leben des Einzelnen in einen schnellern und lebhaftern Fluß gekommen zu sein scheinen. In Frankreich war die romantische Schule mit all ihren glänzenden und leidenschaftlichen Uebertreibungen, mit ihren bizarren aber doch geistreichen Compositionen aufgetreten, und hatte für den Augenblick selbst die Ruhigen und Besonnenen mit sich fortgerissen. Victor Hugo, Balzac, Lamartine, George Sand, Janin, Dumas, Eugene Sue, Alphonse Karr, Emile Souvestre waren von gewaltiger Wirkung auf alle Diejenigen, welche sich bisher mehr oder weniger fest und ausschließlich an die klassischen Vorbilder der deutschen Literatur gehalten hatten. Es wurde durch jene Schriften ein Einblick in die Zustände und Sitten der französischen Gesellschaft gewährt, der von Rechtswegen hätte abstoßen und erschrecken müssen. Weil aber das geistige Leben in Deutschland sich unter dem Druck der staatlichen Verhältnisse nicht frei entfalten konnte, weil ihm der rechte Gehalt, und den Männern ein rechtes Feld für die Entwickelung ihrer Kraft gebrach, so geschah es, daß man in der fremden Literatur Maßlosigkeit für Kraft, Zügellosigkeit für Freiheit, Verwirrung der sittlichen Begriffe und alle Fehler und Verbrechen, welche aus derselben entspringen, für die Berechtigung des Individuums halten konnte, und daß selbst gute Menschen, die keiner Fliege hätten wehe thun mögen, sich des schaudernden Entzückens nicht erwehren konnten, wenn Han d'Islande vor ihnen [86] herumwüthete, wenn die Histoire des treizes ihnen ihre grausenhaften Geheimnisse entrollte, wenn Quasimodo und Lukrezia Borgia, und die Schrecknisse der tour de Nesle, und die Verschmachtenden und Rasenden auf dem Salamander, ihnen bei völliger persönlicher Sicherheit jenes Entsetzen bereiteten, das Bettina bei ähnlichen Anlässen als ein »Grauel-Plaisir« zu bezeichnen pflegte.

Abgesehen aber von dem Ueberreizten in den Compositionen und von dem rein sachlichen Interesse, das sie dem Leser einflößten, fanden sich in den meisten jener Werke eine Menge tiefsinniger Gedanken und feine psychologische Beobachtungen, und die Sprache war zu gleicher Zeit so schmiegsam und so gewaltig, so zärtlich und so feurig geworden, daß jene Werke berauschend und blendend wirken mußten.

In Deutschland war ebenfalls ein neues Geschlecht in der Literatur herangereift. Heine's Reisebilder und französische Zustände, Börne's Mittheilungen aus Paris, vermittelten das französische Leben mit dem deutschen, und trugen das Verlangen nach freier Bethätigung des Einzelnen in dem Staate, nach freier Selbstbestimmung in den persönlichen Verhältnissen nur noch lebhafter nach Deutschland hinüber. Gutzkow, Laube, Theodor Mundt, Gustav Kühne und Wienbarg sprachen eine Sprache, welche man in Deutschland noch nicht gehört hatte. Und wie wir und einzelne dieser Männer selbst, jetzt auch über ihre ersten Compositionen denken und hinausgewachsen sein mögen, wir Alle, die wir damals jung waren wie sie selbst, wir müssen, wenn wir ehrlich Zeugniß geben wollen, es, wenn vielleicht auch mit Widerstreben, eingestehen, [87] daß wir alle jene Jugendwerke des sogenannten jungen Deutschland in Pausch und Bogen mit Ueberraschung und mit großer Zustimmung begrüßten, und daß selbst reifere Menschen, als das junge Deutschland und seine jungen Leser es damals waren, die bewegende und vorwärts bringende Kraft in den jungen Weltstürmern nicht verkannten, wenn schon sie weit entfernt davon waren, die Grundsätze und das phraseologische Gebahren derselben gut zu heißen und zu bewundern, wie wir Andern es thaten.

Neben all diesen neuen Dichtungen bewahrten aber die Freunde des Onkels ihre tiefe Verehrung für unsere Classiker, und selbst die deutsch-romantische Richtung, mit welcher die Mehrzahl sich nicht viel zu schaffen machte, hatte in Doktor Eppstein ihren leidenschaftlichen Verehrer. Er war, als ein unabhängiger und seiner Muße lebender Mann, der sich zum Dichter bestimmt glaubte, ohne es jemals auch nur zu irgend einer nennenswerthen Production gebracht zu haben, in Dresden in das Tieck'sche Haus eingeführt worden und ein häufiger Gast desselben gewesen. Das hatte ihn an Tieck und namentlich an dessen Tochter Dorothea gefesselt, und ihn für immer zu einem begeisterten Verehrer der ganzen von Tieck vertretenen Dichtungsgattung gemacht. Es kamen also auch Tieck, so weit ich ihn noch nicht kannte, und Novalis und Waiblinger, und daneben die Romane von Heinrich Steffens, und die Gedichte von Anastasius Grün und von Zedlitz in meinen Bereich; denn alle Bücher gelangten aus der Bibliothek nach kurzem Verweilen in die Zimmer meiner Tante, und war durch die Gesellschaft der Männer [88] meine Aufmerksamkeit erst auf die Werke hingeführt worden, so hatte ich nachher volle Muße, sie zu lesen und zu excerpiren, so viel ich nur immer wollte.

Ich habe noch einen Band Excerpte aus jener Zeit, der mir die Erinnerung an meinen damaligen Zustand lebhaft in das Gedächtniß ruft. Ich las, was ich irgend habhaft werden konnte, ich war unersättlich im Aufnehmen, aber glücklicher Weise auch im Nachdenken des Aufgenommenen. Jeder Pfad des Geistes, der sich vor mir eröffnete, lockte mich, ihn zu verfolgen, jeder Blick in die mir fremden Gebiete des Lebens reizte mich, sie kennen zu lernen. Ich hätte Alles auf einmal erfassen, Alles auf einmal verstehen lernen mögen, ich dachte mich und alle meine Freunde in die wunderbarsten Lebenslagen hinein, ich sann und dichtete unaufhörlich, ohne eine Vorstellung davon zu haben, daß ich dichtete, und ohne zu vermuthen, daß ich jemals dahin gelangen würde, dies Dichten ernsthaft zu nehmen, und dasjenige auszugestalten, was meine Phantasie ersann. Ich war wie die Bienen, wenn sie an den ersten schönen heißen Tagen des Jahres zu schwärmen beginnen. Sie wissen dann gar nicht, wie schnell sie die Flügel rühren, wie sie hoch genug gen Himmel steigen und wieder schnell genug zu den hervorbrechenden Pflanzen hernieder schweben sollen, von denen sie Ausbeute für sich hoffen. Sie schwärmen nach rechts und nach links, vom Grashalm zum Baumeswipfel, und überall finden sie sich in ihrem Element, in Luft und Licht, in Sonnenschein und Wärme; und mitten in dem üppigen Genuß arbeiten sie, und tragen sie zusammen, was ihnen frommt, und was, freilich nach [89] einem förmlichen Stoffwechsel, durch sie neu gestaltet und fruchtbar werden soll.

Es macht mir dabei einen seltsamen Eindruck, an jenen Excerpten zu ersehen, aus welch kleinen vereinzelten Bruchstücken sich mein Wissen und meine Einsicht gebildet, aus wie vielen unscheinbaren und von den verschiedensten Ecken und Enden mühsam herbeigeholten Stiftchen sich mein Lebensmosaik zusammengesetzt und zu einem selbstständigen Ganzen abgerundet hat; und es drängt sich mir das alte Bedauern darüber auf, daß man den Frauen auch heute noch jene gründliche wissenschaftliche Schulbildung, jene Erziehung für ihren Beruf versagt, welche man für die Männer aller Stände und Berufsthätigkeiten mehr oder weniger als eine unerläßliche Nothwendigkeit betrachtet.

Wäre es nicht so überaus ernsthaft, so könnte man die Zuversicht sehr komisch finden, mit welcher die Männer die Aufsicht ihres Hauses, die theilweise Vertretung ihrer Stellung in der Gesellschaft, die theilweise Verwaltung ihres Erwerbes, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder, und endlich ihr eigenes Glück und ihre Ehre, in die Hände von jungen Personen legen, welche für alle diese wichtigen, ja für diese höchsten Leistungen durch Nichts befähigt sind, als etwa durch ihren guten Willen und den meist sehr blinden Glauben verliebter Männer an den Werth des Mädchens, das ihnen wohlgefällt.

Man nimmt keinen Dienstboten in sein Haus, ohne zu wissen, ob er die dazu nöthige Vorbereitung erhalten habe, man verlangt von jedem Lehrling, mag er Handarbeiter oder ein Lehrling auf geistigem Gebiete sein, [90] eine mehrjährige Studienzeit, man erkennt Niemand als Meister an, man vertraut keinem Lehrer, keinem Baumeister, keinem Tischler und keinem Professor oder Rath ein Amt an, ohne sich von seiner Tauglichkeit überzeugt zu haben, und man überantwortet die höchste Aufgabe des Lebens, die Gründung und Leitung der Familie, die Erziehung des Menschen, in der Regel den jungen unerfahrenen Geschöpfen, denen man grundsätzlich die Möglichkeit verweigert hat, sich für ihren Beruf gebührend vorzubereiten; ja man scheint offenbar der Ansicht zu sein, daß allein die Frauen untauglich gemacht werden, ihre Pflichten zu erfüllen, wenn man ihnen jene Kenntnisse systematisch zukommen läßt, deren Besitz fast jeder Mann ausdrücklich nachweisen muß, um zu der Ausübung irgend eines geistigen Berufs zugelassen zu werden.

Dies ist eine Geringschätzung der Frauen, ein völliges Verkennen ihrer Stellung und Aufgabe innerhalb der menschlichen Gesellschaft, von welcher dafür später auch Niemand schwerer zu leiden hat, als Diejenigen, welche sich dieser Sünde gegen die Frauen und gegen das menschliche Geschlecht schuldig machen. Die Zahl der wahrhaft glücklichen Ehen, die Zahl der Frauen und Mütter, welche im Stande sind, ihren Männern und Kindern im wahren Sinne des Wortes eine Stütze zu sein, ist daher überall, auch bei uns in Deutschland weit geringer als man es sich eingesteht, ja überaus gering; und es ist sehr häufig weder Glück noch Gedeihen zu finden in einer Masse jener Ehen, in welchen Mann und Frau nur deshalb friedlich neben einander leben, weil der Mann sich, im richtigen Gefühl seines Verschuldens, [91] bescheidet, von seiner Frau nicht zu fordern, was sie nicht leisten kann; weil er sich beschieden hat, nicht mehr zu erwarten, daß ein unreifes, weder durch wirkliche Kenntnisse noch durch Einsicht in die Verhältnisse der Menschen und des Lebens auf die Ehe vorbereitetes Geschöpf nicht dadurch reif geworden ist und Urtheil gewonnen hat, daß sich ein Mann gefunden, der es zu seinem Weibe machte.

Was von den eigentlichen Kenntnissen gilt, das gilt natürlich in den meisten Fällen auch von der Lektüre der Mädchen, die wenigstens für die geistige Entwickelung und für das Heranreifen derselben Etwas leisten, und ihnen den Weg bahnen könnte, sehen, denken und urtheilen zu lernen. Aber auch mit dieser war es, und ist es jetzt fast noch mehr als früher, schlecht bestellt; denn es gehört zu den abergläubischen Axiomen der gewöhnlichen Erziehung, daß jene Unschuld, welche im Nichtwissen besteht, und welche die erste Stunde der Ehe zerstört, die eigentliche Seelenschönheit des Mädchens und seinen höchsten Reiz ausmache, und daß daher jede Lektüre zu vermeiden sei, welche dieses Kleinod des Nichtwissens antasten könnte.

»Meine Tochter ist noch ein völliges Kind!« das habe ich unzählige Male von Müttern als ein Lob der Tochter aussprechen hören, der man so bald als möglich einen Mann zu geben wünschte, oder auf welche vielleicht eben die Wahl eines Mannes gefallen war. Auch Männer selbst haben mir rühmend gesagt: »meine Braut, meine Frau ist noch ein völliges Kind!« und es ist mir dann immer förmlich Angst geworden über eine solche Verblendung. Welche Früchte solche Unschuld und Unkenntniß [92] tragen, davon hat wohl Jeder Beispiele genug erlebt, und es wäre wirklich an der Zeit, daß man sich dazu erhöbe, von einem Weibe beim Antritt seiner Ehe, neben der Reinheit des Sinnes, die jeder Mensch, so Mann als Weib in sich zu wahren hat, auch einen gesunden und gereiften Verstand und jene ernste Entwickelung zu verlangen, ohne die keine wahre Selbstverläugnung und keine nachhaltige Einwirkung auf das Wohlgedeihen der Familie möglich ist. Man hat kein Recht, große Charaktere und Vaterlandsliebe, hohe Gesinnung und Mannesmuth, von einem Geschlechte zu verlangen, das zum großen Theil von kindischen Frauen, von unreifen Müttern erzogen worden ist.

Es ist, um gar keinem Zweifel über meine Forderung Raum zu lassen, es ist die Emancipation der Frau, die ich für uns begehre; jene Emancipation, die ich für mich selbst erstrebt und errungen habe, die Emancipation zur Arbeit, zu ernster Arbeit. Und es ist der Arbeit außerhalb, und mehr noch innerhalb der Familie überall vollauf für die Frau vorhanden, wenn man sie nur fähig macht, zu begreifen, worin dieselbe besteht, und zu leisten, was sie als ihre Aufgabe erkannt hat. Aber davon später mehr. Ich komme zunächst noch einmal auf den Ausgangspunkt dieser Erörterung, auf die Lektüre der Jugend zurück.

Die meisten Eltern und Erzieher leben, wie gesagt, der Ansicht, daß die Sittlichkeit der Jugend beider Geschlechter am sichersten durch das Nichtwissen bewahrt werde! Wer aber durch Lektüre verdorben werden kann, der muß nach meiner Ueberzeugung in sich eine Seite [93] haben, die ihn für jene Verderbniß vorzugsweise empfänglich macht, und es möchte selbst unter den Werken unserer Classiker nicht viele geben, aus denen sich nicht jene Vorstellungen und Eindrücke schöpfen ließen, die man für so gefährlich hält, wenn ein unreiner Sinn sich ihrer Deutung bemächtigt. Man bildet sich ein, etwas Gutes zu leisten, wenn man, wie mein Vater dies auch gethan, die Lektüre der Jugend, namentlich der jungen Mädchen, ängstlich überwacht, und ihnen Alles fern hält, was sie über die Leidenschaft der Liebe, über die Beziehungen zwischen Mann und Weib, über die Irrthümer des Herzens, die Verirrung der Sinne, und über jene unzähligen Conflicte aufklären könnte, aus denen sich die Zerwürfnisse in der Familie, und die traurigen Schicksale der Einzelnen entwickeln. Abgesehen davon, daß diese Maßregel nur bei jenen Naturen einigen Erfolg verspricht, bei denen der Gehorsam stärker ist, als der Trieb nach freiem Umschauen und die natürliche und berechtigte Wißbegierde, so wird im Allgemeinen mit solcher Vorsicht der erstrebte Zweck doch selten einmal erreicht. Es lebt innerhalb unserer Gesellschaft kaum ein Wesen, dem dasjenige, was man ihm durch Lektüre nicht nahe zu bringen wünscht, nicht dennoch früh genug zu Ohren käme. In jedem Orte, in der großen Stadt wie auf dem Dorfe, in den Familien der Vornehmen wie der Geringen, giebt es hie und da leichtfertige Liebeshändel, Verführung, ernste Leidenschaft, unglückliche Ehen, Ehescheidungen, Untreue und Verrath. Hüthen die Eltern sich auch noch so sehr, vor dem jungen Mädchen Etwas davon verlauten zu lassen, so kommt ein Freund, der unvorsichtig[94] davon spricht, so findet sich eine Bekannte, die davon gehört hat und es achtlos berichtet, so wissen die Dienstboten durch ihre Collegen davon; und was in der edlen Dichtung verständig und barmherzig motivirt und zugleich in den meisten Fällen sittlich abgeurtheilt wird, so daß es aufklärend und erziehend, Milde fordernd und vor Nachahmung warnend, dargeboten wird, das kommt der Jugend aus der Wirklichkeit unvermittelt und hart, ja oft leichtfertig besprochen und gedankenlos beschönigt entgegen.

Urtheile ich nach meiner eigenen Kindheit und Jugend, und nach den Erfahrungen, welche ich später selbst als Erzieher gemacht, so halte ich es für diejenigen jungen Leute, welche in einem gesunden Familienleben unter den Augen verständiger Eltern erwachsen, für das Allerbeste, sie lesen zu lassen, was zu lesen sie Neigung haben. Es geschieht gewiß sehr selten, daß junge Personen auf gut Glück an eine Bibliothek herangerathen, aus der sie eben so auf gut Glück bald dieses, bald jenes Buch hervorziehen und lesen. In den meisten Fällen ist es das Gespräch der Erwachsenen, welches die Jugend begierig macht, ein bestimmtes Werk kennen zu lernen. Liest man in einem Hause nichts Unwürdiges, bespricht man das Schlechte nur, um es zu tadeln, rühmt und schätzt man nur das Gute, so tritt die Jugend in gewissem Sinne schon vorbereitet an die Werke heran, sie weiß annähernd, wie sie sie aufzufassen hat, und dann mag man sie ruhig gewähren und ihrer instinktiven Einsicht überlassen. Denn die verschiedenen Alter lesen aus bedeutenden Werken ganz verschiedene Dinge heraus und [95] finden doch jedes auf seine Weise Genuß und Befriedigung daran. Es ist eben, wie der greise Goethe sagt:


»Anders lesen Knaben den Terenz,
Anders Grotius!
Mich Knaben ärgerte die Sentenz,
Die ich nun gelten lassen muß.«

Ich denke dabei in diesem Augenblicke an die Wahlverwandtschaften. Ich war sehr jung, vielleicht sechszehn oder siebenzehn Jahre alt, als ich in Königsberg diesen Roman einmal zufällig bei meiner jüngsten Tante aufgeschlagen fand und ihn zu lesen begann, während meine Tante schlief. Der Anfang hatte für mich etwas Erschreckendes. Der klare, anscheinend so kunstlose und durchsichtige Vortrag kam mir unheimlich vor, ich wußte nicht weßhalb. Es dünkte mich, als verberge er ein Geheimniß. Ich war davon wie von einem Schwindel erfaßt, und plötzlich kam mir, obschon ich nur die Tante zu besuchen brauchte, um den Roman in der Stille ganz gemächlich beenden zu können, der feste Vorsatz, diese Dichtung nicht zu lesen. Das war aber nicht Gehorsam gegen meinen Vater, nicht ein Trieb meines Gewissens, es war das instinktive Zurückschrecken vor einer Welt, die zu erfassen mir noch die Kraft gebrach.

Vier Jahre später, als ich in Breslau mit einem der Freunde meines Onkels einmal von dieser an mir selbst gemachten Erfahrung sprach, belächelte er jene Scheu; und ich selber meinte in den vier Jahren, welche seit meinem ersten Einblick in die Dichtung verflossen waren, derselben soweit nachgewachsen zu sein, daß ich versuchen könne, sie mir anzueignen. Gedacht, gethan! Ich machte [96] mich an's Werk. Der Roman fesselte mich, ich las ihn wieder und wieder, und doch war es noch nicht das Element der Liebe, der Leidenschaft, das mich an ihm entzückte, denn ich hatte die Liebe und die Leidenschaft noch nicht in ihrer ganzen Kraft gekannt. Es waren ernste Bemerkungen, Aussprüche zu Gunsten der Ehe, die ich nach dem zweiten Lesen des Romans in meinem Excerptenbuche aufgezeichnet finde.

Ich war damals sogar höchlich überrascht, als man die Wahlverwandtschaften in meiner Gegenwart für ein gegen die Heiligkeit der Ehe gerichtetes Werk er klärte. Ich sah in ihnen nur die Lehre von der Nothwendigkeit, die Ehe selbst auf Kosten einer an sich berechtigten Liebe, ja selbst der inneren Sittlichkeit zum Trotze, aufrecht zu erhalten, weil eine solche Anschauungsweise, mir durch meine Erziehung eingeimpft, mich die einzig moralische dünkte. Und erst viele Jahre später, als meine Anschauungen und Ueberzeugungen eine wesentliche Veränderung erfahren hatten, stellte sich in mir die Ansicht fest, daß Goethe bei der Anlage des Romans einen andern Ausgang desselben beabsichtigt, und nur aus der Scheu, sich mit der ihn umgebenden Welt in gar zu grellen Mißklang zu bringen, den ursprünglichen Plan, nicht zum Vortheil für die ethische Befriedigung wahrer Sittlichkeit, in der Mitte umgebrochen habe. Denn während der Roman, wie er ist, thatsächlich die äußere Berechtigung der Ehe aufrecht erhält, thut er schlagend die Unsittlichkeit solcher Gewaltthat dar. Das heißt, er beweist als nothwendig, was er zu thun für Unrecht erklärt – und darin liegt das Verderbliche und Verwerfliche in dem inneren [97] Wesen dieser in tausend Beziehungen so unvergleichlichen Dichtung.

Das herauszufühlen ist aber nicht Sache der Jugend, sie hält sich an das ihr Gemäße, und wie ich durch die Wahlverwandtschaften mich in meinem zwanzigsten Jahre nur in dem Respekt vor der Ehe bestärkt fühlte, so erzählte mir einmal ein junger Mann, daß er mit vierzehn Jahren zufällig das Werk gelesen, und kein anderes Interesse daran gefunden habe, als die darin geschilderten schönen Parkanlagen, womöglich auf dem Gute seines Vaters, in einem ihm zugewiesenen Raume von wenig Fuß, bestmöglichst nachzubilden. Es sieht, nach dem alten französischen Sprichwort, Jeder nur das, was er zu sehen geeignet und fähig ist, und einem reinen Sinne erwächst nicht leicht ein Nachtheil, wenn er früh dasjenige kennen lernt, woran reife Menschen sich erheben. Es ist der Jugend jedenfalls besser, ihren Geist früh an großen Gedanken und Problemen zu üben, als leer an äußerm Tand zu hängen. Falsche Gedanken lassen sich berichtigen und das Leben selbst tritt ihnen berichtigend entgegen; Fadheit aber ist unverbesserlich, und das absichtliche Kindlicherhalten der Mädchen, das man jetzt so vielfach zu erzwingen sucht, hat mit wenig Ausnahmen eine junge Generation herangebildet, deren Oberflächigkeit, Antheillosigkeit und Geistesleere mich erschrecken, wenn ich gelegentlich den Gesprächen junger Mädchen und Frauen zuhöre, oder den Unterhaltungen folge, welche die jungen Männer mit ihnen führen. Solche Mädchen und Frauen aber, ich wiederhole es, erziehen keine Männer!

[98]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Ich fühlte mich sehr wohl in dem Hause meines Onkels. Er und seine Frau hatten Freude an mir und ließen mich gewähren. Was die Tante und Großtante hie und da an mir zu tadeln fanden, wurde mir freundlich verwiesen, und da die Töchter des Hauses noch halbe Kinder und ich das einzige junge Mädchen in dem Kreise war, so wurde mir von den Männern, welche das Haus besuchten, viel Achtsamkeit und Freundlichkeit zu Theil. Mein Selbstgefühl erstarkte daran, und ich kam mir bald mit meinem täglichen Zuwachs an literarischer Kenntniß so reich vor, daß ich wie ein ächter Emporkömmling beständig mit den Goldstücken klimperte, welche in meiner Tasche zu haben mir noch neu war. Mein glückliches Gedächtniß eignete sich alles Gelesene ohne Mühe an, ich hatte Citate im Ueberfluß im Kopfe, ich kombinirte schnell, und da Einer von den Hausfreunden sich in unaufhörlichen Citaten gefiel und ein Anderer gern mit Witzworten um sich warf, so machte ich Beides nach besten Kräften nach, und genoß dabei weniger ein eigentliches Wohlgefallen an mir selbst, als das unbeschreibliche Vergnügen, thun und sagen zu können, was ich wollte. Ich war wie ein in strenger Zucht aufgewachsener Schüler, [99] der bei dem Uebergange auf die Universität in der Uebertreibung seine Freiheit darthun zu müssen meint.

Wie ich den Freunden meines Onkels erschien, das weiß ich nicht zu sagen; ich selber schwankte in meiner Ansicht von mir selbst. Bisweilen hielt ich mir vor, was mein Vater dazu denken würde, wenn er mein maßloses Lesen kennte, oder wie er mich tadeln würde, wenn er hörte, wie entschieden ich über Dinge urtheilte, die ich nicht genugsam verstand. Aber das währte niemals lange. Ich fand mich immer bald wieder mit meiner richtigen Erkenntniß ab, indem ich mir sagte, mein Vater sei es ja grade gewesen, der mich gegen meinen Wunsch von sich entfernt und mich meinem Onkel, oder vielmehr mir selber überlassen habe. Damit habe er mir meine Freiheit gegeben, mich mündig gesprochen, und ich sei jetzt eben mein eigener Herr, und könne lesen und sprechen, thun und lassen was ich wolle, vorausgesetzt, daß ich wöchentlich meine zwei unerläßlichen Clavierstunden nähme und täglich meine Stunde übte.

Denn kaum hatten wir uns in Breslau wieder eingerichtet, als ich von meinem Vater den Befehl erhielt, nun gleich wieder meine musikalischen Studien zu beginnen, und der Musikmeister der Lewald'schen Kinder wurde auch für mich engagirt. Herr Freudenberg war nach dem Urtheil der Sachverständigen ein in musikalischer Beziehung gründlich gebildeter Mann und hatte, wie ich glaube, an einer Kirche eine Organistenstelle. Seine große, magere Gestalt, sein gelbes Haar, seine äußere Unbehilflichkeit, sein altmodischer gelbbrauner Frack und seine seelenvollen Augen machten ihn zu einer besonderen Erscheinung. [100] Die Musik war ihm ein Ideal, ein Göttliches, das er am liebsten nur für sich ganz allein, oder mit einigen Auserwählten in stiller Andacht genossen hätte. Virtuosen und Concerte sah er – und nicht mit Unrecht – im Allgemeinen als Gräuel, ja als eine Art von Unsittlichkeit an; und ich beklage in der Erinnerung den armen Organisten, der eine wahrhaft Jean Paul'sche Figur war, wenn ich bedenke, daß er verdammt war, mich und die völlig unmusikalischen Kinder meines Onkels zu unterrichten.

Es war nun freilich mit dem Unterrichten und mit den Stunden und dem Ueben lange nicht so schlimm und so ernst gemeint als zu Hause, und ich sah zu, wie ich mich und meinen Lehrer aus der Noth zog. Ich hatte meinen Unterricht in dem Zimmer der Großtante, in welchem sich auch ein Instrument befand. Uebte ich, so schwatzte ich dabei mit der guten alten Frau, die immer über Kopfweh klagte, sobald man musizirte, und froh war, wenn sie mir sagen konnte, daß meine Uebungsstunde um sei. Kam mein Lehrer, so sprachen wir viel von Musik, wobei ich mehr Vortheil hatte, als bei dem Spielen, und wobei ich ihn geflissentlich festzuhalten suchte. Gingen die praktischen musikalischen Studien an – ich mußte meist Fugen spielen, die ich damals gar nicht verstand – so korrigirte er mein Spiel und lobte meine schönen Hände und Arme, und meine Großtante benutzte die Gelegenheit, ihm von ihrer Jugendfreundin, der Baronin Eskeles, zu erzählen, die viel schönere Hände und Arme gehabt hätte als ich, und wundervoll anzusehen gewesen sei, wenn sie die Harfe gespielt. Dazwischen [101] machten wir gelegentlich wieder ein wenig Musik, das heißt, der Lehrer spielte die Fuge, die unter seinen Händen freilich ganz etwas Anderes wurde, als unter den meinen, und die Großtante schalt ihn, weil er grade in der Zeit, am Tage nach der Entbindung seiner Frau, um derselben eine angenehme Ueberraschung und eine Freude zu bereiten, vor der Thüre ihrer Wochenstube mit seinen Freunden einige Quartette aufgeführt hatte. Er behauptete und betheuerte aber, daß einer so musikalischen Seele, wie seine Frau es sei, gute Musik nur stärkend wirken könne. Die Gesellschafterin, welche der Musikstunde ebenfalls zuhörte und bereits in die Jahre gekommen war, in welchen weibliche und gefühlvolle Herzen, wenn sie in der Welt allein stehen, das Loos der Frauen beklagenswerth finden und für seelische Genüsse und Musik schwärmen, tadelte ebenfalls die Unvorsichtigkeit und Selbstsucht des Musikers, und gab doch zu, daß eine Frau zu beneiden sei, deren Mann sie an seinen geistigen Erhebungen Theil nehmen lasse. Auch dazu wurde etwas Clavier gespielt, und wenn während dessen, was in der Regel geschah, ein Besuch erschien, so mußte der arme, höchst gewissenhafte Organist die Stunde natürlich aufgeben, was er immer nur mit Widerstreben that; denn bei all seiner Phantastik war er ein Muster von einem braven Manne und einem pflichttreuen Lehrer. Er konnte nicht dafür, daß die Großtante und ich keine Freunde von Clavierstunden waren, und sie uns zu verkürzen suchten, so gut wir eben konnten.

Indeß, wie es zu gehen pflegt, ich wurde es bald müde, meine Freiheit in Uebertreibungen und durch ein [102] geschmackloses Beweisen meines Geistes zu genießen. Es lag auch im Grunde gar nicht in meiner Natur, und wäre mir meine eigene Vernunft nicht zu Hilfe gekommen, so würden das Leben im Hause meiner ältesten Tante und der Sinn, welcher in demselben herrschte, mich wohl allmählig wieder auf das rechte Maß zurückgebracht haben.

Die Gesellschaft meiner Cousinen und meiner Cousins stand mir durch ihr Alter und ihre Erziehung, durch die Art ihrer Bildung näher, als der Kreis von Männern, in dem ich mich im Hause meines Onkels bewegte. Das streng disciplinirte Familienleben sprach mich vertraut an, und bald hatte sich zwischen mir und meinen Cousinen eine Zuneigung entwickelt, die uns durch viele Jahre eng verband. Mehr aber noch als meine Cousinen gewannen meine Tante, und vor Allen mein Vetter Heinrich meine Liebe, und Einfluß auf mich und meine ganze Zukunft.

Von dem ersten Tage, an welchem ich ihn gesehen, hatte er mich innerlich beschäftigt. Er war damals nahezu siebenundzwanzig Jahre alt und, wie schon gesagt, einer der schönsten jungen Männer, die ich gekannt habe. Seine hohe, kräftige Gestalt und seine Haltung hatten einen großen Adel. Die Gesichtsbildung, die in spätern Jahren die auffallendste Aehnlichkeit mit dem Moseskopfe von Michel Angelo, dem Idealbilde des jüdischen Typus zeigte, hatte damals bei aller Kraft der Formen doch etwas Leidendes. Ueber der schönen Stirne, die von einer Fülle schwarzen, lockigen Haares umgeben war, lag ein Zug von tiefer Schwermuth, der jedoch einem Ausdruck von leuchtender Klarheit weichen konnte, wenn er heiter und frohen Muthes war; und noch in seinem Mannesalter [103] riß er Alles zum Frohsinn mit sich fort, wenn sein Gesicht heiter war und sein silberhelles Lachen ertönte. Er war ein Meister in allen männlichen Uebungen, ein guter Turner, ein guter Reiter, ein guter Schütze und vortrefflicher Schwimmer. Seine jungen Collegen und seine Vorgesetzten nannten ihn einen tüchtigen Juristen und unermüdlichen Arbeiter, seine Freunde einen treuen Freund, seine Schwestern liebten ihn mit einer Art von Stolz, und seinen Eltern und seinem Bruder war er offenbar das Licht ihrer Tage.

Auch kam jedesmal ein anderes Leben in die Familie, wenn der älteste Sohn in dem Garten anlangte, und doch sagte die Mutter mir einmal seufzend: es thut mir recht leid, daß Du Heinrich nicht früher gekannt hast. Er war ein so fröhlicher Mensch! – Auch die Schwestern betrachteten ihn immer mit einer Art von Sorge, deren Grund mir nicht recht einleuchten wollte, weil er mir heiter, geistesfrei, beständig zur Unterhaltung aufgelegt, und stets bereit schien, sich mit voller Liebe den Seinen hinzugeben. Er führte die Mutter im Garten spazieren, schaffte die kranke Schwester an den ihr zusagendsten Platz, trug seine kleine Nichte mit sich herum, so lange das Kind es verlangte, und wußte Jedem etwas Liebes zu leisten, so daß Alles, selbst die alten Dienstboten des Hauses an ihm hingen und seines Lobes voll waren.

Sein Sinn war aber entschieden ernsthaft und sein Denken groß und weitreichend. Er hatte viel gelesen, viel gelernt, und war damals in dem ganzen Kreise beinahe der Einzige, auf welchen das Blendende der damaligen literarischen Neuigkeiten keinen Eindruck machte. [104] Er brauchte gelegentlich einen Heine'schen Vers als Citat, »weil es bequem war, wie auch die unsaubere und abgegriffene Scheidemünze gelegentlich bequem sein kann,« aber er verachtete Heine's Cynismus, und verachtete ihn selbst, weil es ihm »mit dem Heiligsten nicht ernst sei.« Das Letztere machte er auch gegen Viele der andern Schriftsteller geltend, für die ich eingenommen war. »Sie thun nur so!« pflegte er zu sagen, oder: »Sie würden sich wohl hüten im Leben zu bethätigen, was sie in ihren Büchern behaupten; ich fühl's ihnen überall an, sie sind nicht aus einem Stück.« Damals kam mir das Urtheil hart vor, später hatte ich manche Gelegenheit, zu erkennen, wie richtig er gesehen und geurtheilt hatte.

Er selbst war dafür ganz aus einem Gusse, eine in sich beruhende Natur, die bewußt und unbewußt daran arbeitete, sich selbst zu vollenden. Er trug ein Ideal von Mannestüchtigkeit und Manneswürde in der Seele, dem er nachstrebte, und hatte eine Begeisterung für das Schöne, die ihn danach trachten ließ, sich selber zu einem in Schönheit lebenden Menschen zu erziehen. Dabei war ihm eine Art von Phantastik und Romantik eigenthümlich, die sich auch in seiner Vorliebe für Jean Paul und Byron kund gab, und ihn daneben einen großen Reiz in feingeplanten Scherzen und Mystificationen finden ließ, die er, wenn seine Seele frei war, mit jugendlichem Uebermuth gegen uns Alle auszuführen liebte, und deren ich Anfangs alle Arten zu erleiden hatte.

Der Verkehr zwischen mir und ihm war schon nach einigen Tagen der heiterste von der Welt. Wir kamen aneinander wie ein Paar gute Kameraden, die miteinander [105] zu ringen lieben, weil sie sich einander gewachsen glauben. Einer forderte den Andern heraus, und Jeder nahm die Ausforderung an. Die nahe Verwandtschaft enthob uns manches Zwanges; wir neckten einander von früh bis spät, man hatte in der Familie seinen Spaß daran, und selbst meine Tante fand sich dadurch häufig belustigt.

Bei all der Heiterkeit und all den Scherzen lernte ich es allmählig einsehen, daß mein Vetter nicht immer so hingebend und aufgeschlossen war. Er war vielmehr ungewöhnlich zurückhaltend im Verkehr mit Fremden, die übermüthig spielende Laune machte augenblicklich einem scharf zusammengefaßten Ernste Platz, sobald eine Unterhaltung mit Männern seine Theilnahme erregte. Sein Scharfsinn und seine unbestechliche Wahrheitsliebe traten bei allen Fragen, welche man erörterte, schlagend hervor; und wie er nachgiebig im engeren Verkehr war, wo es sich nur um seine Wünsche oder Interessen handelte, so konnte er bis auf das Aeußerste seine Meinung verfechten, und man war sicher, ihn starr und unbeugsam zu finden, sobald es einen Grundsatz oder eine Idee galt, die aufrecht zu erhalten ihm eine Sache der Ueberzeugung war. Er hatte von Natur, um es mit wenig Worten zu sagen, einen ernsten, strengen Geist und ein fröhliches, liebevolles Herz.

Mitten in seinen heitern Stunden aber überkam ihn zu Zeiten, und ohne daß man bisweilen ergründen konnte, weßhalb eben jetzt, eine plötzliche Niedergeschlagenheit. Er konnte, wenn wir eben ganz fröhlich beisammen gewesen waren, in Nachdenken versinken, es schwand dann alle Lebhaftigkeit aus seinen Mienen, und er ging unter irgend [106] einem Vorwande davon, um nach ein paar Stunden, still und ernst, aus seinem Arbeitszimmer wieder zu uns zurückzukehren.

Seine Mutter, die mit ihm gleichsam von demselben Athemzuge zu leben schien, wurde dann gewöhnlich niedergeschlagen wie ihr Sohn. Sie sah ihm mit ihrer sanften, traurigen Miene nach, wenn er sich entfernte, und blieb er lange aus, so fragte sie mit einer Stimme, der man die zärtliche Sorge anhörte: habt Ihr Heinrich nicht gesehen?

Ich habe niemals den Zug gehabt, nach den persönlichen Verhältnissen meiner Freunde zu fragen, wenn sie sich nicht gedrungen fühlten, sie mir mitzutheilen. Wer vorzeitig ein Vertrauen zu gewinnen sucht, ist mir immer wie die Kinder erschienen, welche eine Rosenknospe aufblättern und eine Rose zu gewinnen hoffen; und so war ich denn schon mehrere Wochen ein täglicher Genosse in dem Kreise meiner Tante, ehe irgend Jemand speciell des Grundes gegen mich gedacht hätte, aus welchem man die Melancholie meines Vetters herleitete, oder nur mit einer Sylbe des Duells erwähnt hätte, das ihn auf die Festung gebracht und damit in seiner juristischen Laufbahn zurückgehalten hatte.

Was ich dann endlich darüber erfuhr, war Folgendes. Heinrich Simon war nach seinem ersten juristischen Examen an das Oberlandesgericht von Brandenburg gegangen, dessen Director den Ruf genoß, sehr tüchtige Juristen heranzubilden, und unter den Räthen und jüngern Beamten des Collegiums durch sein Beispiel eine Art des geselligen Verkehrs eingeführt zu haben, die eben so der [107] weltmännischen als der juristischen Entwickelung der jungen Männer Vorschub leistete. Räthe, Assessoren und Referendarien gingen freundschaftlich miteinander um, es kam häufig zu lebhaften, außeramtlichen Erörterungen über schwierige, juristische Fragen, und in Folge eines solchen Anlasses war Heinrich Simon bei einem Diner mit einem sich unter den Gästen befindenden Justizkommissarius in einen Wortwechsel gerathen. Beide Männer hatten sich durch denselben erhitzt, der Erstere, der älter als Simon war, glaubte sich von diesem beleidigt und beauftragte den Justizkommissarius Ziegler, den nachmaligen Oberbürgermeister von Brandenburg, Simon auf Pistolen zu fordern.

Als mein Freund Ziegler, dessen schriftlichen Mittheilungen ich die näheren Umstände dieses Vorganges verdanke, welche ich mir mit seinen Worten wiederzugeben erlaube, zu Simon kam, sagte er zu diesem: »ich habe den bestimmten Auftrag, Sie auf Pistolen zu fordern. Sie wissen, daß mein Freund eine Frau und fünf Kinder hat, wissen auch, daß er, der für das Vaterland als Offizier gefochten und geblutet, die herkömmlichen Gesetze der Ehre nicht aufgeben kann und will, und Sie werden daher auch begreifen, daß nur eine genügende Erklärung von Ihrer Seite meinen traurigen Auftrag zu einem guten Ende zu führen vermag.«

»Sie fordern von mir,« fiel Simon, der mit Ziegler ebenfalls befreundet war, demselben in die Rede, »wie es scheint, eine schriftliche Ehrenerklärung.«

»Ich fordere sie nicht,« erwiderte der Cartelträger, »aber ich glaube, daß ich sie erhalten werde, weil [108] ich Ihnen den moralischen Muth zutraue, sie mir zu geben.«

»Das ist's eben,« rief Simon, »das ist's eben, daß zu dieser Erklärung deshalb so viel Muth gehört, weil Sie recht gut wissen, daß ich in dem vorliegenden Falle Nichts thun kann, als auf mich schießen lassen.«

Bei einer solchen Auffassung der Sache wurde es dem Secundanten nicht schwer, Simon's Bedenken zu beseitigen, und dieser setzte sich plötzlich an seinen Schreibtisch und sagte: »diktiren Sie.«

»Ich werde mich hüten, das zu thun,« erwiderte der Cartelträger, »da ich von Ihrem Herzen eine bessere Erklärung erhalten werde, als von meinem Diktat.« – Simon sah den vermittelnden Freund mit einem Blick voll freudiger Zustimmung an, und schrieb eine so freimüthige Ehrenerklärung nieder, wie Jener sie ihm abzufordern nie gewagt hätte.

Vierzehn Tage nach diesem Vorgange fiel der Auskultator Bode im Pistolenduell von Simon's Hand.

Simon war in Verzweiflung darüber. Sein starker Verstand und sein gesundes Gefühl ließen ihn das Duell als eine Sünde gegen den Geist der Menschlichkeit und als eine Unsittlichkeit ansehen. Und doch wäre es für ihn auch bei dem besten Willen von seiner Seite nicht möglich gewesen, dieses zweite Duell durch eine Ausgleichung zu vermeiden, ohne sich dem Vorwurf der Muthlosigkeit ausgesetzt zu sehen, den selbst um einer gerechten Sache willen zu ertragen er noch nicht die Kraft besaß. Reue und Aufregung warfen ihn auf das Krankenlager, er hatte ein Fieber zu bestehen, in dessen Phantasien [109] er beständig den Erschossenen vor sich sah, und erst als nach seiner Krankheit sein Onkel, der Geheime Ober-Justizrath Simon, den Leidenden im Gefängnisse besuchte, gelang es der Autorität des von ihm hoch verehrten Mannes, ihn über den innern Vorwurf zu beruhigen, daß er gegen sein besseres Wissen, ja gegen seine Ueberzeugung, einem Vorurtheile zu Liebe, das Leben eines Menschen geopfert habe. Und es war von jenem Zeitpunkte an, daß sich in Heinrich der feste Vorsatz entwickelte, überall für das Recht und gegen das Vorurtheil einzutreten, ein Vorsatz, den er fest und männlich bis an sein Ende durchgeführt hat.


Eines Abends, als die Tage gegen den Herbst hin schon kürzer waren, gingen mein Cousin und ich aus dem Garten hinaus, eine Strecke in das Freie spazieren. Der Tag war schon hinunter, es fing zu dunkeln an und die Luft war, wie man das im September noch häufig findet, sehr schwül und drückend, so daß wir plaudernd immer weiter vorwärts schritten, in der Hoffnung, irgendwo auf einen Punkt zu kommen, wo wir einen frischen Luftzug fänden. Wir sprachen mit behaglichem Gleichmuth von lauter heitern Dingen, als plötzlich der Ton eines fallenden Schusses an unser Ohr schlug, und Heinrich zusammenzuckte. Er führte das Gespräch noch einen Augenblick, aber sichtlich antheillos fort, verstummte danach, und sagte nach einem kurzen Schweigen: »Hast Du einmal gesehen, wie ein Schuß tödtet?« – [110] Ich antwortete nicht. Der gepreßte Ton seiner sonst so klangvollen Stimme schnürte mir das Herz zusammen. »Es ist merkwürdig genug!« fuhr er fort. »Ein Mensch in der Fülle seiner Kraft steht Dir gegenüber, Du hältst das elende todte Mordinstrument in der Hand, ein kleiner Druck, ein kaum sichtbares Aufblitzen, und ein Mensch mit all seinen Hoffnungen, mit all seinen Kräften liegt vernichtet vor Deinen Füßen.« –

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte ihn gern trösten mögen, aber ich fand das Duell eben so abscheulich als er. Ich konnte Nichts thun als still weinen, es that mir so unbeschreiblich wehe, ihn unglücklich zu sehen, und ich bewunderte die Selbstbeherrschung, mit welcher er sich in der Familie, und namentlich der Mutter gegenüber, bewegte. Wir wendeten bald darauf um, und ohne weiter ein Wort zu wechseln, langten wir vor dem Garten an. Als wir uns dem Hause näherten, drückte er mir die Hand und bat: »Sprich nicht davon gegen die Mutter und vergieb, daß ich Dir den Spaziergang verdorben habe.«

Im Zimmer sah ich bei dem Lichte, daß er ungewöhnlich düster war. Auch seiner Mutter fiel es auf. Sie befragte ihn, ob er unwohl sei, er verneinte es, und hatte auch bald danach den muntern Ton wiedergefunden, in welchem er, eben weil er ihm in solchen Augenblicken nicht natürlich war, sich bis zur Ausgelassenheit steigern konnte, wenn er bemerkte, daß die Seinen an seine Heiterkeit glaubten und sich daran erfreuten. Wir blieben in einem fortwährenden Lachen über ihn. Als wir aber vom Tische aufstanden, nahm die Tante [111] mich auf die Seite. »Was fehlt dem Heinrich?« fragte sie, »er ist so überreizt.« Ich sagte, ich wisse es nicht. »Hat er Dir auf dem Spaziergange Etwas erzählt, was ihn aufgeregt hat?« fuhr sie fort. Ich verneinte auch das. Sie wendete sich mit einem stillen Seufzer von mir. Ihr Mutterauge war nie zu täuschen.

Von dem Abende an begann ich um ihn zu sorgen, und was wir sorgend beobachten, das wächst uns in das Herz. Ich freute mich, daß meine Gesellschaft ihm lieb war, ihn zerstreute. Ich glaube, auch die Tante gewann mich dadurch lieber, und ich zog auf ihren und ihrer Kinder Wunsch, ehe sie den Garten verließen, noch für ein paar Wochen ganz zu ihnen hinaus.

Das waren fröhliche Tage. Wir waren Alle jung, mein Onkel Simon hatte einen sehr heitern Sinn, der Mann der zweiten Tochter, der eben jetzt verstorbene Justizrath Heinrich Gräff, war damals ein junger, vielbeschäftigter Advokat, der, glücklich an der Seite seiner schönen und liebenswürdigen Frau, das Leben liebte, und dem die Lebhaftigkeit und die Lust an seinem Dasein aus den Augen leuchteten. Seine Freunde, eine Anzahl junger Juristen, unter denen der damalige Oberlandesgerichtsrath Wenzel, der sich später in der parlamentarischen Geschichte Preußens so ehrenvoll ausgezeichnet, ihm am nächsten stand, kamen mit ihren Frauen oftmals zum Besuch hinaus, ein paar Familien von höheren Offizieren, mit denen man bekannt geworden war, weil sie ebenfalls im Conrad'schen Garten wohnten, schlossen sich dem Kreise an, und innerhalb der Vaterstadt, innerhalb eines mäßig großen Gartens, führten wir ein Dasein, [112] wie man es sonst nur in Badeorten anzutreffen pflegte. Man sah und mied sich nach Bequemlichkeit, ernstes Gespräch und heiteres Geplauder wechselten mit einander ab, und ohne daß man es merkte, trat man sich näher und lernte man sich kennen und schätzen.

Meine Cousinen und ich faßten eine große Zärtlichkeit für einander, und die ganze Familie liebte mich, wie ich sie liebte. Zum ersten Male in meinem Leben genoß ich das Glück, mich gegen eine Frau, die ich von ganzer Seele verehrte, frei und offen aussprechen zu können. Meiner Mutter und auch meinem Vater gegenüber war das eine Unmöglichkeit für mich gewesen. Vor der Tante konnte ich mein Verlangen nach einer umfassenden Bildung kundgeben, ohne ihr selbst damit wie meiner Mutter zu nahe zu treten, oder sie zu verletzen; vor der Tante konnte ich von meinem Verlangen nach Unabhängigkeit, von meiner Lust, die Welt und die Menschen kennen zu lernen, reden, vor ihr konnte ich, ohne dafür Zurechtweisungen zu befürchten, es aussprechen, daß eine nur um der Versorgung willen geschlossene Ehe mir als eine Erniedrigung der Ehe und als eine Unsittlichkeit erscheine, zu welcher ich mich niemals hergeben würde. Ihr erzählte ich von meiner Neigung für Leopold, und sie hörte mich ruhig an. Sie wußte es sicherlich besser als ich, wie nahe ich daran war, dieser blöden ersten Liebe für immer zu vergessen. Ich gewann in meiner Tante eine Mutter und hatte in ihrem Hause durch eine lange Reihe von Jahren meine zweite Heimath.

Alle Seiten meines Wesens fanden ihre Befriedigung in diesem Theile meiner Familie. So hoch mein Vater [113] die deutsche Literatur schätzte, so sehr er die Schönheit und Erhabenheit der Dichtkunst und ihrer Werke empfand, und so viel Herz und Gefühl meine beiden Eltern besaßen, so war der Geist in meinem Vaterhause doch vorwiegend ein strenger, weil das ganze Thun und Treiben fortwährend dem Urtheil der Vernunft unterworfen wurde. In meines Vaters Gegenwart Etwas zu sagen oder zu thun, was irgendwie an Uebertreibung oder an Phantastik grenzte, wäre mir, und ich glaube uns Allen, nicht möglich gewesen. Wer sich aber in der Jugend niemals ganz gehen läßt, wer sich nicht frei und sorglos dem Reize einer augenblicklichen Stimmung überläßt, wer sich nicht die Freiheit zuerkennt, auch einmal etwas Unüberlegtes zu thun, der bleibt ewig am eigenen Gängelbande, der verliert die Fähigkeit des Aufschwunges und büßt damit einen großen Theil seiner Ursprünglichkeit und seiner Glückesfähigkeit ein.

Niemand, weder mein Onkel noch meine Tante, noch eines ihrer Kinder hatte ein poetisches Talent, aber sie waren mehr oder weniger poetische Naturen, und es war ihnen Allen jener Zug gemeinsam, das eigene Leben poetisch zu gestalten, der oft Niemandem mehr abgeht, als den Dichtern selbst. Ich habe in spätern Zeiten, als ich die Mehrzahl unserer Dichter und Schriftsteller kennen gelernt hatte, mich oftmals gefragt, wie es möglich sei, daß Menschen, die erdichtete Schicksale mit so viel Wärme und Schönheit auszustatten wußten, ihr eigenes Dasein so unschön, und oft in so strohtrockener Weise hingehen lassen konnten. Und ich habe dagegen wieder andern Personen und Familien gegenüber gestanden, und [114] gedacht: warum sind diese Menschen keine Dichter, da ihr Sein und Leben ein Kunstwerk und ein Gedicht ist? Ja es sind mir im Allgemeinen nur wenig Personen vorgekommen, bei denen ihr eigenes Leben die Wiederspiegelung und Ergänzung ihrer Schriften abgab, denn dies zu ermöglichen, dazu gehören nicht nur möglichst vollkommene Organisationen, sondern auch unabhängige Charaktere, die es nicht scheuen in der Wirklichkeit zu vertreten, was sie in der Dichtkunst als berechtigt hinstellen. Ist doch überhaupt die Zahl der Menschen, welche den Muth haben, für sich und nicht für die Meinung Anderer zu leben, sehr gering.

Diesen Muth besaß man aber in dem Hause meiner Tante, und ohne daß man darüber besonders sprach, ohne daß es Erörterungen über das Recht der Selbstbestimmung gegeben hätte, und ohne daß eine von den Töchtern meiner Tante jemals den fast zu eng begrenzten Kreis ihres Familienlebens verlassen hätte, athmete ich in ihrer Nähe eine Luft der Freiheit ein, die für mich eine belebende und befreiende war.

Im Herbste, als man in die Stadt zog, lernte ich die Familie erst recht in ihrer völligen Abgeschlossenheit, und die klösterliche Regelmäßigkeit ihrer Tage kennen. Der Onkel und mein Vetter waren durch ihre Amtsverhältnisse bestimmte Stunden außer dem Hause. Die Wohnung war nicht groß, die Zimmer lagen nahe bei einander. An die Wohnstube stieß auf einer Seite das Zimmer meines Cousins, an die andere Seite ein Schlafzimmer; des Onkels Stube lag apart. Eine der Frauen bewachte in der Schlafstube beständig [115] jene Tochter, die sich darin gefiel, die Kranke zu spielen.

Zu welcher Stunde man auch kommen mochte, es war todtenstill im Hause, weil die Kranke kein Geräusch zu hören wünschte, und immer, wann ich auch erschien, war ich sicher, die Tante mit ihrer Arbeit und mit ihrem guten schwermüthigen Gesichte, auf ihrem Platz am Fenster, nähend oder bei einem Buche, zu Hause zu finden. Klingelte es an der Außenthüre, so kannte man die Personen, welche kom men konnten, schon an ihrem Läuten, und war die Mittagsmahlzeit vorüber, war gegen Abend der Onkel in seinen Club gegangen, und der Sohn aus dem Kaffeehause heimgekehrt, in welchem er an jedem Nachmittage die Zeitungen las, so herrschte wieder dieselbe vollkommene Stille wie am Morgen.

Im Dämmerlichte ging die Tante, gewöhnlich mit Einer von uns untergefaßt, im Wohnzimmer hin und wieder, wir hörten wohl auch Heinrich in seiner Stube auf- und abgehen, und dann setzten wir uns mit unseren Arbeiten an dem Tisch vor dem Sopha hin. Ich konnte hören, wenn er den Stuhl vor seinem Arbeitstische fortschob, wenn er aufstand um Etwas zu holen, ich konnte an der Uhr in der Wohnstube die Viertelstunden abzählen, die er noch bei der Arbeit verweilen würde, bis er mit dem Schlage acht Uhr zum Abendbrode in das Zimmer trat, und es war mir solch ein Glück, ihn erwarten zu können.

Wir scherzten nicht mehr so viel mitsammen als in der ersten Zeit, aber mein ganzes Denken und Sinnen war bald nur auf ihn gerichtet. Ich konnte ihm jede[116] Stimmung von seinem edeln Gesichte ablesen, ich genoß und litt nur mit ihm, und der Antheil, die Liebe für ihn, machten mich bald sehr gleichgültig gegen die bewegte Geselligkeit, deren ich im Lewald'schen Hause theilhaftig ward, und die mich eine Zeit hindurch so lebhaft angezogen hatte.

Ich konnte mich Anfangs gar nicht darin finden, als ich es gewahrte, daß und wie sehr ich meinen Vetter liebte. Mit der Naivetät der Jugend hatte ich die Lehre von der einen Liebe, welche das ganze Herz und das ganze Leben ausfüllen sollte, als einen Glaubensartikel angenommen, und stand nun vor mir selber wie vor einem Wunder da. Ich war überrascht, froh und stolz, und auch sehr glücklich. Weil mir als halbes Kind eine schöne Liebe zu Theil geworden war, ohne daß ich sie ersehnt, meinte ich, es könne mir nicht fehlen geliebt zu werden, wo ich liebte; und weit entfernt, die erste schüchterne Jugendliebe als die schönste Blüthe unserer Natur zu erkennen, kam mir Alles, was ich in der Vergangenheit empfunden hatte, matt und blaß vor, gegen das starke, freudige Gefühl, das mich durchglühte. Es sind auch armselige Naturen, deren Liebeskraft sich in einer Jugendliebe ein für allemal erschöpft, armselig und schwach und krank, wie ein Baum, der nur einmal Blüthen und niemals Früchte tragen könnte.

Wir sahen einander fast täglich, und doch nicht so viel, daß die Entbehrung seiner Nähe mir es nicht zu einer Freude gemacht hätte, ihn immer wiederzusehen.

Wir waren im Alter nur durch sechs Jahre getrennt, hatten ähnliche Bildungsgrundlagen, und Freude Einer [117] an des Andern Wesen. Dazu fanden wir uns in der hingebenden Liebe für die Mutter zusammen, und waren doch wieder verschieden genug von einander, um durch die Gegensätze einen Anreiz zu ihrer Ausgleichung zu erhalten.

Heinrich Simon war mit siebenundzwanzig Jahren natürlich noch nicht der Mann, der später im Jahre achtzehnhundert neunundvierzig mit dem festen Bewußtsein, sich einer für den Augenblick verlorenen Sache zu opfern, die auf ihn gefallene Wahl zur Reichsregentschaft annahm, weil auszuharren in Ueberzeugungstreue ihm ein Bedürfniß geworden war; aber es lag schon damals etwas Mächtiges in seinem Wesen, das ich fühlte und das mich beherrschte.

Wie sehr ich an ihm hing, das wußte er sicherlich sehr bald, und er hätte kein Mann sein müssen, hätte ihn das nicht anziehen sollen. Ob er sich in jenem Winter jemals gefragt hat, was er für mich empfände, weiß ich nicht. Er hatte mich lieb, wie die Seinen mich liebten, er hatte Zutrauen zu der Kraft meiner Natur, wie ich zu der seinen, und er und seine Mutter hatten eine Ahnung davon, daß in mir wohl mehr vorhanden sei, als sich bis dahin entwickelt und bethätigt hatte.

»Ich würde, wenn ich Dein Vater wäre,« sagte meine Tante einmal zu mir, »Dich täglich schreiben lassen.« – »Ja! was denn?« fragte ich. – »Was Du wolltest. Dir ist es offenbar ein angebornes Bedürfniß, Dich mitzutheilen, und Du wirst Dir, das habe ich oft gesehen, in der Mittheilung selbst viel klarer.« – »Ich spreche Dir wohl zu viel?« fragte ich noch einmal. – [118] Sie lächelte. – »Ich meine nur,« entgegnete sie, »Du sagst doch nicht Alles, was Du denkst, und beim Schreiben würdest Du ruhiger und tiefer nachdenken können als beim Sprechen, und also noch mehr Vortheil davon haben.«

Ein andermal sagte mein Vetter: »Ich glaube, Du wirst im Leben viel zu leiden haben, denn mir kommt vor, als könntest Du standhaft ertragen, und solchen Naturen schenkt's das Schicksal nicht. Ich möchte wohl wissen, was aus Dir noch einmal werden wird? Ewig Tapisserie nähen und Strümpfe stopfen wirst Du gewiß nicht.« – »Ich versichere Dich, daß dies auch keinesweges mein Verlangen, sondern nur mein Loos ist!« versetzte ich. – »Hast Du nie Verse gemacht oder sonst gedichtet?« fragte er. – Ich nannte diese Frage lächerlich, und damals war meine Seele auch wirklich auf Nichts weniger gestellt, als auf ihre Bethätigung durch die Poesie.

[119]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

Der Herbst, der Winter gingen hin, ich wußte nicht wie. Ich merkte auch kaum, daß mein ganzes Wesen sich entwickelte. Nur wenn ich die Briefe meiner Geschwister und Briefe von Mathilde erhielt, fand ich, daß ich um mehr als die Monate, welche mich von ihnen trennten, älter, daß ich reifer geworden war, und andere Anschauungen und Interessen gewonnen hatte als sie. Namentlich fiel es mir an Mathilden's Briefen auf, daß sie einen Ton der Entsagung anschlugen, der ihr sonst fremd gewesen war. Sie hatte eine Neigung zu einem jungen, charaktervollen Adeligen gehabt, die von seiner Seite warm erwiedert wurde. Sie schrieb mir davon selten, reflektirte darüber, und als ich ihr dann gegen das Frühjahr hin, es endlich nicht verbarg, welch ein Schmerz mir das Scheiden von Breslau und die Trennung von meinem Vetter sein würden, ermahnte sie mich zur Resignation, und verwies mich auf die Fügung Gottes, die Alles zu meinem Besten leiten würde.

Damit war mir aber weder geholfen noch gedient. Ich fürchtete, daß der Pietismus ihrer Familie und ihrer Umgangsgenossen Herr über sie geworden sei, nun sie in mir und meinen abweichenden Ueberzeugungen kein Gegenwicht [120] gegen denselben gehabt habe, aber ich getröstete mich der Hoffnung, sie davon zurück zu bringen, wenn ich nur erst wieder in ihrer Nähe lebte. Ich hatte die Erfahrung noch nicht gemacht, daß es viel leichter sei, einen hellen Verstand zu verdunkeln und zu verwirren, als einen verwirrten und verdunkelten Verstand wieder aufzuklären und auf sich selbst zurück zu führen. Indeß der Briefwechsel mit ihr wurde mir immer weniger tröstlich, je näher der Zeitpunkt meiner Abreise von Breslau heranrückte.

Meine Abwesenheit von Hause war von Anfang an höchstens auf ein Jahr berechnet gewesen. Der Vater schrieb mir also im Februar, daß er im März, wenn es nicht zu kalt sei, nach Schlesien kommen werde, um mich abzuholen, und ich sah es mit wahrer Angst, als im Februar die Kälte nachließ, als hier und da der Schnee von den Dächern zu fallen begann, und im März das Eis auf der Oder sich in Bewegung setzte. Mit jedem Tage wurde mir die Vorstellung schrecklicher, daß ich Heinrich nicht mehr sehen, nicht mehr in seiner Nähe leben sollte, und ich hatte Stunden, in denen ich überzeugt war, er liebe mich, weil ich fühlte, wie gern er mit mir war, wie sehr er mir vertraute. Er sprach zuweilen mit rückhaltsloser Offenheit von sich, er war weich und bewegt, ich mußte mir sagen, daß Männer seiner Art nur da, wo sie Neigung empfänden, so hingebend sein könnten. Aber solche Augenblicke währten nicht lange, er überwand sich immer bald, faßte sich wieder, und wenn er seinen alten Gleichmuth gewonnen hatte, begann für mich die Qual auf's Neue.

[121] Ab und zu, wenn wir Bücher mit einander auswechselten oder eine Verabredung zu treffen hatten, schrieben wir einander. Ein paar Wochen vor der Ankunft meines Vaters erhielt ich eines Morgens ein Billet von Heinrich. Der Anfang desselben war aus den ersten Tagen des März geschrieben und lautete:

»Ich bin sehr ärgerlich über mich, daß ich Dich gestern in so schlechter Stimmung begleitete. Aber den ganzen Tag hatte es mir verwirrend im Sinn gelegen, daß es schön wäre, wenn man einen Seitenweg aus der plattgetretenen Heerstraße des Lebens gehen dürfte, aus diesem faden Elend, diesem kläglichen, unsäglich bittern Nichts; diesem, wie der Dichter sagt, ›müden Zirkellauf voll kranker Lust, und wildem Schmerz und wimmerndem Verzagen! Ein Räthsel von Verzweiflung aufgelöst; der wüste Traum des tollgewordnen Staubes.‹ – Sei mir nicht böse deshalb, daß ich Aehnliches gestern Abend gegen Dich ausgesprochen. Es thut zu wohl, die Brust einmal lüften zu dürfen, wenn sie, um Nahestehenden nicht wehe zu thun, mit tausendfachen Banden umschnürt ist. Die Mittheilung ist schon Trost genug, sonstigen bedarf und giebt es nicht, also laß das auch abgethan sein.«

Diesen Zeilen war an dem Morgen, an welchem ich sein Billet erhielt, folgende Nachschrift hinzugefügt: »So eben hörte ich in der Wohnstube von einem an Dich zu sendenden Zettel sprechen, und es fiel mir dabei ein, daß ich Dir vor ein paar Tagen geschrieben, die Zeilen aber, anstatt sie Dir zu senden, aus mehrfachen Dir wohl einleuchtenden Gründen wieder in die große Papiermappe gesteckt. Ich suchte sie hervor – und ein gänzlich fremdes [122] Wesen stiert mich daraus an. Die neuliche Stimmung ist wieder einmal vorüber, und da dergleichen Lamento's nicht eben sehr würdig sind, so würde ich die Zeilen – wie ich wohl auch damals Willens war – ad acta geschrieben, d.h. in's Tagebuch zu ihren Brüdern gelegt haben, wenn ich nicht Dir erklären wollte, was mich neulich angefochten, und wenn ich nicht annehmen könnte, daß Du am Ende bloß Dir Bekanntes aus dem neulichen Billetanfang erfährst. Denn entweder hieltest Du mich für einen Narren, oder konntest Dir während unseres ganzen Zusammenseins nur eben so mein zwanzigmal von der Ausgelassenheit zur Schwermuth überspringendes Benehmen, hervorgebracht durch tausend und einen Umstand, erklären. Darum magst Du es lesen; Unglück ist blos in den Augen der Weltmenschen ein Laster; ich falle Niemandem damit besonders lästig, da ich mit Hülfe meines gottgepriesenen leichten Sinnes mich nur in seltenen Stunden übermannen lasse, obschon ich anerkenne, daß es Menschen giebt und ich zu ihnen gehöre, denen es nicht geziemt, glücklich zu sein, die aus Grundsatz unglücklich sein müssen.«

Der Brief erschütterte mich sehr. Die Gewißheit, daß er leide, daß ich ihm ein Trost sei, kettete mich nur fester an ihn, und ich lag die Nächte auf meinem Lager und sann und sann, wie er mich denn von sich gehen lassen könne, und wie mir sein werde, wenn ich von ihm gegangen sein würde?

Inzwischen traf mein Vater in Breslau ein, und ich bemerkte mit Schrecken, daß ich gar keine Freude über seine Ankunft fühlte, so sehr ich ihn auch liebte. Alles, [123] was er mir mit seinem liebevollen Herzen von Königsberg, von Mutter und Geschwistern erzählte, flößte mir nur eine Art von Angst ein, weil es mich daran erinnerte, daß meine Heimath nicht hier in Breslau sei.

Auch über meine neuen Lieben kam mit der Ankunft meines Vaters der Gedanke an das nahe Scheiden mehr und mehr herauf. Die Tante Simon, die es mir anfühlte, wie sehr ich litt, sprach zuversichtlich mit mir von einem baldigen Wiedersehen, von neuem Beieinandersein. Der Onkel schenkte mir ein Loos zu einer Güterlotterie, und sagte lachend: »Mache daß Du die Herrschaft gewinnst und reich wirst, und dann suche Dir einen Mann nach Deiner Wahl aus.« Die Cousinen umgaben mich mit der größten Liebe, Heinrich war herzlicher als je und verargte es meinem Vater, daß dieser ihm nicht verstattet, mich bis Posen zu geleiten, wozu er sich erboten hatte, als der Vater meinen Onkel Lewald aufgefordert, mich bis Posen zu bringen, um ihm die Winterreise und die Entfernung von Hause zu verkürzen. Ich legte mit unbewußtem Selbsterhaltungstrieb mir das Alles zum Besten und nach meinen Wünschen aus, denn mit zweiundzwanzig Jahren hat man noch nicht den Muth, sich es ohne die äußerste Nothwendigkeit einzugestehen, daß man ohne Hoffnung ist.

Und warum sollte ich nicht hoffen? warum sollte mein Vetter mich nicht lieben, wie ich ihn liebte? Aber wenn er mich auch liebte, was half mir das? Ich mußte ihn ja doch verlassen. Er war mittellos wie ich, hatte noch ein Examen zu machen, arbeitete viel und schwer, [124] um seinen Unterhalt zu gewinnen, und selbst, wenn sein Examen gemacht war, gab ihm das noch kein gesichertes und festes Auskommen. Was sollte er mit mir? – Ich sagte mir in meinen vernünftigen Stunden, daß Heinrich grade so wie ich das Verlangen habe, sich vollständig auszubilden. Ich hatte ihn oft von weiten Reisen, niemals von Ehe und Häuslichkeit für sich sprechen hören. Ich wußte es von ihm selbst, daß er mit dem Leben noch zerfallen, mit sich noch nicht im Klaren, daß er unglücklich sei. Ich war trostlos darüber, weil ich ihn liebte – und hatte doch im Grunde gar kein heißeres Verlangen, als ihn wo möglich noch unglücklicher zu wissen, durch eine Liebe für mich, die, wie unsere Verhältnisse lagen, im besten Falle für den Vielbeladenen nur eine Sorge und ein Kummer mehr geworden wäre. Aber die ganze blinde, selbstische Sophistik leidenschaftlicher Liebe hatte sich meiner bemächtigt, und von unbegründeten Voraussetzungen zu unbegründeten Hoffnungen übergehend, litt ich zehnfach, weil meine Vernunft mir meine Thorheit oftmals vorhielt, und mein Herz sich der Vernunft nicht unterwerfen wollte.

So kam der Tag der Abreise heran. Wir sollten spät am Abende mit der Schnellpost Breslau verlassen. Am Nachmittage war ich noch einmal zu meiner Tante Simon gegangen, um ihr Lebewohl zu sagen. Von dort aus wollte ich meine verheirathete Cousine besuchen, die mich dann nach Hause und zu meinem Vater zu bringen versprochen hatte.

Unter Thränen verließ ich die Tante. »Denke, daß Du mir wie eins meiner Kinder bist!« sagte sie. Ich[125] küßte ihre Hände, ich hing an ihr von ganzem Herzen. Heinrich gab mir das Geleit.

Es war am achtzehnten März, der Himmel schon dunkel, die Wege trocken. Wir hatten ein paar Straßen zu durchwandern, er hatte mir den Arm gegeben, wir legten ohne ein Wort zu sprechen den ganzen Weg zurück. Ich war so traurig, daß ich unser Schweigen gar nicht bemerkte. Als wir oben an den Zimmern meiner Cousine angelangt waren, fragte er mich: »warum sprichst Du nicht?« – »Ich kann nicht!« gab ich kurz zur Antwort. Ich hatte die Hand erhoben, die Schelle zu ziehen. Er hielt mich zurück. »Warte noch!« bat er, und nun standen wir einander gegenüber, Beide keines Wortes mächtig. Mit einem Male rief er: »Es hilft Nichts! Lebe wohl!« – Wir fielen einander in die Arme und weinten Beide bitterlich. Dann raffte er sich zusammen, wir gaben uns die Hände und trennten uns – um uns nach einer Reihe von mir schwer durchlittener Jahre zu einer Freundschaft wieder zusammen zu finden, die bis zu des unvergeßlichen Mannes Tode uns in nicht wankender Treue und Festigkeit verbunden hat.


Wie ich den Abend durchlebt habe, weiß ich kaum mehr. Es waren viel Leute, die Gäste und Freunde meines Onkel Lewald, es waren auch meine andern Onkel um meines Vaters willen da. Man unterhielt sich mit mir, man beschenkte mich noch mit allerlei Andenken; ich mag mich übel genug dabei benommen haben. Als wir [126] dann in der Schnellpost saßen, die Stadt verließen und in das Dunkel hinausfuhren, war ich in meinem Innern wie zerschlagen. Es war ganz umsonst, daß ich mir vorhielt, mein geliebter Vater sei bei mir, daß ich an die Mutter, an die Geschwister, an meine heimischen Freunde dachte. Ich fühlte mich losgelöst von ihnen, und losgelöst von Breslau ebenso.

Es mag für einen Mann ein schlimmes Gefühl sein, sich auf der Erde im bürgerlichen Sinne ohne feste Heimath zu wissen; aber es ist noch schlimmer für ein Mädchen, sich mit dem Herzen heimathlos zu fühlen. Was ich besaß, dünkte mich in den Stunden gänzlich werthlos, was ich erstrebte, war mir versagt, und von einer Hoffnung zur andern schweifend, tröstete ich mich bald damit, daß ich mich unter den Meinen wieder einleben und mich bei ihnen wieder heimisch machen werde; bald sagte ich mir, es sei unmöglich, daß Heinrich meine Entfernung nicht eben so schwer empfände, als ich die Trennung von ihm; und zu Allem, was ich mir Ermuthigendes vorhielt, sagte mein Verstand: betrüge Dich nicht selbst.

Die Reise war sehr unangenehm. Die Schnellpost fuhr nur bis zur schlesischen Grenze, wo die Chausseen aufhörten, und wir hatten von dort bis Dirschau ein paar Tagereisen ohne Chaussee zu machen. Weil die Fahrpost zu langsam ging und uns gar zu lange aufgehalten haben würde, nahm mein Vater von der Grenze ab Extrapost, und weil wir keinen eigenen Wagen hatten, waren wir genöthigt, alle drei Meilen das Fuhrwerk zu wechseln und das Gepäck umpacken zu lassen, wenn es [127] hier und da sich nicht zufällig traf, daß ein Posthalter seine Chaise auf einer fremden Station hatte stehen lassen, und wir also sechs Meilen in demselben Wagen bleiben konnten.

Dazu war es, als wir in das Großherzogthum Posen kamen, dort noch völlig Winter. Es hatte schon in der Nacht, in welcher wir Breslau verließen, wieder zu schneien angefangen, und schneite danach ohne Unterlaß. Von Weg und Steg war keine Spur. Die Postillone stiegen ab und zu vom Wagen, um sich zurecht zu finden, die unabsehbaren weißen Flächen ließen jedoch kein Abzeichen erkennen, wenn man nicht hier und da an einen Wegweiser kam; und gleich an dem ersten Abend, nachdem wir Extrapost genommen hatten, warf der Postillon uns unweit von einem kleinen Orte in einen tiefen mit Schnee angefüllten Graben. Den Schreck abgerechnet, kamen wir gut davon, nur daß wir lange warten mußten, bis Leute anlangten, die den Wagen und die Pferde in die Höhe und wieder in Gang bringen konnten. Mein Vater beschloß aber danach, in der Nacht nicht wieder zu fahren, und wir hatten dadurch zwei, drei Nachtquartiere zu ertragen, die mit ihren schmutzigen Stuben und Betten nach meinem Gefühl weit schlimmer waren, als in den Schnee geworfen zu werden.

Antheillos sah ich Posen, das einen fremdartigen Eindruck auf mich machte, aber etwas Großstädtisches hatte. Wir fuhren durch Städte, auf deren Wochenmärkten sich betrunkene Polen küßten und prügelten. Judenfrauen und Juden in polnischer Tracht machten unsere Wirthe in den abscheulichen Gasthöfen von Wongrowiez, Nackel und wie die Orte noch geheißen haben [128] mögen, in denen wir rasten mußten; und obschon ich mir fortdauernd vorpredigte, alle diese Unbequemlichkeiten halte der arme Vater nur um meinetwillen aus, und ich habe ihm tausendfach dafür zu danken, so hatte ich doch nur den Schmerz und die Frage, warum er mich von da fortgeholt, wo – freilich Niemand daran gedacht hatte, mich festhalten zu wollen.

Es war eine Wohlthat, als wir wieder die Pappeln einer Chaussee vor uns auftauchen sahen, als endlich wieder die gelbe Schnellpost und in ihr zufällig derselbe Conducteur, der uns vor einem Jahre von Königsberg nach Berlin gefahren hatte, in unsern Gesichtskreis kamen. Nun waren alle Fährlichkeiten und Widerwärtigkeiten der Reise überstanden, denn daß man vor den großen Strömen in dieser Jahreszeit die Post verlassen mußte, um zwischen dem treibenden Eis in Kähnen über die Weichsel und Nogat gesetzt zu werden, an deren entgegengesetzten Ufern Passagiere und Gepäck in bereit gehaltenen Postwagen weiter befördert wurden, das war man, ehe die Eisenbahnbrücken über die Ströme vollendet worden, in unserer Gegend so sehr gewohnt, daß man es nicht wesentlich zu den Unbequemlichkeiten rechnete, wenn die Ueberfahrt nicht grade ungewöhnlich beschwerlich war und dadurch sehr lange dauerte.

Am Tage vor der Ankunft in Königsberg hellte sich das Wetter auf und wurde trocken. Es war der Vorabend meines zweiundzwanzigsten Geburtstages, und die Nähe der Heimath, die Nähe der Meinen und des Wiedersehens mit ihnen, fingen mich zu bewegen an. Wir hatten schon in Breslau erfahren, daß eine äußerst [129] heftige Grippe in Königsberg epidemisch herrsche, daß mein jüngster Bruder fast der Erste gewesen sei, der davon befallen worden war. Seine starke Natur hatte die Krankheit glücklich überwunden, aber es waren nach den Briefen auch einige von den Schwestern davon erfaßt worden. Ich fing an, viel daran zu denken, ob die Mutter nicht erkrankt sein möge, ich beschäftigte mich im Geiste mit den Meinen, und schlief danach eigentlich zum ersten Male, seit wir Breslau verlassen hatten, einen gesunden Schlaf.

Am Morgen beim Erwachen fand ich mich zum Geburtstag mit meinem Vater allein. Das war mir nie geschehen und rührte mich deshalb. Er umarmte mich mit seiner warmen Liebe, er sagte, ich würde nun hoffentlich zu Hause für Mutter und Geschwister zu verwerthen wissen, was ich durch meinen Aufenthalt unter Fremden an Erfahrung gewonnen hätte. Er finde mich geistig sehr entwickelt, das wolle er mir nicht verhehlen, und darum grade erwarte er, daß ich vor allem Andern gelernt haben würde, in mir selbst zu leben. Es freue ihn, daß Tante Minna, die er ungemein hochschätze, so viel Liebe für mich gewonnen. Sie habe sich gegen ihn über mich in einer Weise ausgesprochen, die mir Ehre mache; dies zu wissen, werde mich nun auch ermuthigen, selbstlos und pflichttreu wie die Tante das Meinige zu thun. Er habe mir von der Tante und von den Ihren die herzlichsten Glückwünsche zu sagen, und ihnen versprochen, mir das Päckchen, das er aus der Brusttasche zog, noch vor der Ankunft in Königsberg auszuhändigen.

Ich war voll Dank, voll Beschämung, als mein Vater [130] mir so gütig zusprach. Ich hatte das durch meine innere Widerspenstigkeit, durch die Unlust, mit welcher ich zu den Meinen heimkehrte, nicht verdient, und ich wußte durch jenes Aufleuchten der Wahrheit in meinem Herzen, gegen welches sich auch die blindeste Leidenschaft in gewissen Augenblicken nicht zu verblenden vermag, daß es Thorheit sei, an die Liebe meines Vetters zu glauben. Ich wußte, daß meine Zukunft in dem Kreise meiner Familie ihren Halt zu suchen habe, ich nahm mir vor, mich mit allen Kräften an sie zu klammern, nur für sie zu leben, standhaft in meinem Verzichten zu sein. Ich hatte einige ganz heldenmüthige Minuten. Aber kaum sah ich die Handschrift meiner Tante auf dem Geburtstagsbriefe, kaum hatte ich das Packet eröffnet und den Ring heraus genommen, der eine Flechte von dem Haar meiner Breslauer Lieben enthielt, als ich in Thränen ausbrach und mir die Flügel der Morgenröthe wünschte, um dorthin zurück zu kehren, von wo ich mit so bitterm Leid geschieden war.

Alle hatten sie mir geschrieben: Onkel und Tante, die Töchter, die Söhne, der Schwiegersohn. Selbst von dem Enkelkinde hatte man die braunen Härchen in die Flechte gethan, und dem Kinde die Hand geführt, damit auch sein Name nicht fehle unter Denen, die mich ihrer Liebe, ihres Andenkens, ihrer Hoffnung mich wiederzusehen, mit der größten Zärtlichkeit versicherten. Das war zu viel für mich und mein innerer Kampf begann auf's Neue. Es war mir ganz verwirrt zu Muthe.

Ich konnte mich kaum zurecht finden, als ich die ersten bekannten Häuser in den Dörfern vor meiner[131] Vaterstadt erblickte. Da lag der Gasthof in Kalgen, vor dem ich einst so glücklich gewesen war, weil ein fremder Mensch es ausgesprochen, daß ich einmal hübsch werden könne. Aber wie lange war das her, und wie gleichgültig war mir das jetzt! Was hätte es mir geholfen, wäre ich schön wie ein Engel gewesen, wenn der Mann mich nicht schön fand, dem zu gefallen ich allein Verlangen trug? – Nun kamen wir an ein kleines Haus, in welchem unsere Milchfrau wohnte; dort ging der Weg nach dem Dorfe Ponarthen hinab; ich konnte schon das Thor sehen. An dem Zollhause stand noch immer, nahe an dem Walle, der Baum, unter welchem sich im Sommer der Einnehmer mit seiner langen Pfeife aufzuhalten pflegte. Der Baum war entblättert – das war mir grade recht!

Wenn man in das Brandenburger Thor einfuhr, hatte man damals zur Linken die kahlen Mauern von ein paar Kirchhöfen, zur Rechten einige niedrige Gebäude, die, so viel ich mich erinnere, während der Kriegsjahre eilig als Lazarethe aufgebaut worden und dann stehen geblieben waren. Vor ihnen befand sich eine Pumpe, auf welcher die aus Holz geschnittene und bunt bemalte Figur jenes Königsberger Schuhmachers, des Hans von Sagan, aufgestellt war, der die Stadt einst muthig gegen einen Angriff der Polen vertheidigt hatte. Es war ein unansehnliches, wenige Schuh hohes Ding, und daß es keine Herrlichkeit sei, hatte ich immer gewußt; aber ich hatte es recht gut leiden können, wie es da so wunderlich auf einem Beine mit seiner rothen Fahne dastand. An dem Morgen meiner Heimkehr sah mir dieser Hans von [132] Sagan äußerst abgeschmackt aus, und Alles war mir überhaupt wie verwandelt.

Die Vorstadt, die mir immer sehr stattlich erschienen war, kam mir kleinstädtisch vor, das grüne Thor mit dem Thurme am Eingang unserer Straße dünkte mir kleiner geworden, die Langgasse weit schmäler, als ich sie mir in der Erinnerung vorgestellt. Ich machte die Erfahrung von der Wechselwirkung der verschiedenen von uns aufgenommenen Eindrücke aufeinander, ich lernte einsehen, daß Nichts für sich allein dasteht, daß unser geistiger Maßstab immer ein relativer, und damit alles Urtheil ein persönlich bedingtes ist. Von der Sinnenwelt ausgehend, predigt diese Erfahrung wie kaum eine andere Duldung und Nachsicht – zwei Tugenden, welche zu besitzen oder gar zu üben ich in jenen Tagen weit entfernt war, und die sich lebhafte und entschiedene Naturen überhaupt schwer aneignen, weil in ihnen ein Zug zu dem Absoluten vorherrscht.

Meine Verwandten wußten den Tag unserer Ankunft. In der Vorstadt lag meine gute alte Tante im Fenster, mich zu begrüßen; ich freute mich gar nicht, sie zu sehen. In der Langgasse schauten meine Bekannten um meinetwillen nach der Ankunft der Post aus, und grüßten mich hier und da: ich hätte weinen mögen bei ihrem Anblick. Was sollte ich mit ihnen, was sollten sie mit mir machen?

Nun sah ich unser Haus. Es war Sonntag, die Weinkeller und das Comptoir waren geschlossen, die Straßen still. Mein Vater hatte es, gegen das Postreglement, von dem Conducteur erlangt, daß er uns an unserer Thüre aussteigen lassen sollte. Der Postillon,[133] dem es aufgetragen war, an unserem Hause anzuhalten, blies vom grünen Thore ab, eines guten Trinkgeldes sicher, geflissentlich seine schönste, lustige Melodie, und ich – ich hatte mit einem Male den Vers aus dem Cid im Sinne: »blast unglückliche Drommeten!« –

Da sah ich unsere Thüre sich öffnen, alle meine Schwestern kamen auf den Wolm hinausgelaufen, meine beiden Brüder halfen uns aus dem Wagen, mir wallte das Herz auf. Es waren die Menschen, die ich geliebt von meiner frühesten Erinnerung an, die an mir hingen, mit denen ich, jung wie wir Alle waren, bereits so manches Leid, so manche Freude getheilt – und jetzt fühlte ich es auch, wie theuer sie mir waren, und der Schmerz kam über mich, daß ich ihnen, die mir als die Alten entgegeneilten, nicht als die Alte, nicht mehr so ausschließlich als die Ihre wiederkehrte!

Sie sahen Alle krank und blaß aus, sie hatten mehr oder minder schwer von der Grippe gelitten, meine arme Mutter war am meisten mitgenommen. Sie blieb auch halsleidend von da ab, und die arge Grippe hatte den Keim für die Schwindsucht gelegt, an welcher sie später starb. Es muß damals schlimm mit der Epidemie gewesen sein, denn in unserm Hause hatte es mehrere Tage gegeben, an welchen das ganze Haus, die Mutter, die Kinder, zwei von den Commis und die Dienstboten zu Bett gelegen, und nur mein jüngster, zuerst von der Krankheit ergriffener und auch zuerst wieder hergestellter Bruder, mit einer zur Hilfe genommenen Wärterin, von Bett zu Bett gegangen war, die nöthige Pflege zu besorgen.

[134] Man empfing mich mit offenen Armen oder besser und wahrer mit offenen Herzen. Man hatte mir so viel zu erzählen, so viel von mir zu erfragen. Die Mutter lag noch zu Bette, aber meine älteste Schwester war stark und ein ganz erwachsenes Frauenzimmer geworden, sie hatte ihr sechszehntes Jahr zurückgelegt und vertrat die Hausfrau vollständig. Meine Brüder hatten ein männlicheres Aeußere bekommen, der Jüngste war in meiner Abwesenheit Student geworden; die jüngeren Schwestern waren sehr gewachsen. Sie sahen mir dadurch Alle so fremd aus, und ihre Stimmen, ihr preußischer Dialekt klangen mir fremd. Lange Abwesenheiten haben für Menschen, die noch in ihrer Entwickelung begriffen sind, eine sehr bedenkliche Seite. Sie geben uns oft eine unerwartete Richtung, und es findet sich, daß der Baum, dem man mit frischer, neuer Luft nur ein wenig nachzuhelfen gedacht, nicht mehr in den Kübel hineinpaßt, für den man ihn bestimmt hatte.

Es war wie gesagt mein Geburtstag, es kamen also meine Onkel, meine Cousinen, meine Freundin Mathilde, einige von meinen andern Bekannten, aber auffallend genug hatte von allen den Menschen grade in diesem Jahre Niemand daran gedacht, mir Etwas zu schenken. Der Ring, den ich am Morgen aus Breslau erhalten, blieb mein einziges Angebinde, und das erhöhte nur noch seinen Werth in meinen Augen. Nur die Mutter hatte mir trotz aller ihrer Krankheit eine Freude bereiten wollen. Sie wußte, wie sehr ich mein Stübchen liebte, und sie hatte es mir neu malen und neue Gardinen in dasselbe machen lassen. Aber auch dieser [135] gute Wille sollte mir nicht frommen. Es lag eben kein Glück auf jenem Tage!

In der That hatte ich bei all' meinem Herzleid immer mit einer Art von Getrostheit an meine Stube gedacht. Ihre engen und niedrigen grünen Wände, ihre alten bunten Gardinen hatten etwas Einfriedendes für meine aufgeregte Phantasie besessen, und es war mir ordentlich wohl, als meine Schwester mir mit einer herzlichen Freude über die mir bereitete Ueberraschung die Thüre meiner Stube öffnete. Aber ich kannte das kleine Zimmer gar nicht wieder. Statt der grünen Farbe leuchtete mir ein gewaltsames Rosa entgegen, statt der dunkeln, schadhaften aber schattigen Gardinen hing ein blendend weißer Mousselin an den Fenstern, und ließ das Licht mit solcher Macht hinein, daß die Wände noch unerträglicher aussahen. So geringfügig die Sache an sich war, so weh that sie mir. Ich kam mir wie ein Vogel vor, dem man sein Nest zerstört hat. Der einzige Punkt, auf den ich meine Hoffnung gebaut, auf den ich mich gefreut hatte, den hatte man mir unangenehm gemacht, und doch hatte ich mich dafür zu bedanken, doch waren es Liebe und treue, gütige Vorsorglichkeit gewesen, welche mir meine letzte Zuflucht geraubt hatten.

Ich hatte tausend Anfragen zu begegnen, das war ein Glück, denn es half mir über den Tag hinweg. Ich mußte meine neuen Kleider, meine Hüte, meine neuen Bücher und die vielen Geschenke und Kleinigkeiten zeigen, die man mir im Laufe dieses letzten Jahres gegeben hatte. Jedes Stück enthielt für mich eine Erinnerung an dasjenige, was ich zu verschweigen beschlossen, und [136] was sich sicherlich all' Denen, die Auge und Ohr dafür hatten, gleich an dem Tage verrieth, weil mein Herz gar zu voll davon war.

So kamen der Abend und die Nacht heran. Wir waren wieder in der alten, großen Hinterstube, Mathilde war mit uns, aber sie war am meisten verändert und mir am meisten fremd. Sie war sehr dunkel und geflissentlich einfach gekleidet, und über ihr schönes, lachendes Gesicht hatte sich jener Schleier von ernster Abgeschlossenheit gelegt, welchen der Pietismus für sich als Erkennungszeichen auserkoren zu haben scheint. Sie sprach mit halber Stimme, sie lächelte kaum noch. Ich merkte es ihr an, daß sie sich damals mit ihrer ganzen Haltung in einer Rolle bewegte, die aufrecht zu erhalten ihr eine Ueberzeugungssache, aber offenbar noch ein großer Zwang war.

Aufgeregt und recht eigentlich fassungslos, wie ich mich fühlte, benutzte ich die erste Gelegenheit, mit ihr allein auf mein Zimmer zu gehen, um mich ihr in die Arme zu werfen und ihr mein ganzes gequältes Herz auszuschütten. Sie hörte mich an, aber statt der alten Theilnahme, statt der Liebe, die gar nicht raisonnirt, sondern tröstet und forthilft, so gut sie kann, erhielt ich einige halb religiöse Zusprüche, von deren gänzlicher Wirkungslosigkeit auf mich sie überzeugt sein mußte. Ich stand vor der liebsten Gespielin meiner Kindheit, vor der mir so theueren Gefährtin meiner Jugend mit dem Bewußtsein da, daß ich sie verlieren würde oder sie schon verloren hatte, und dazu sahen mich die unglückseligen rosa Wände auch eben so kalt und eben so fremd an, wie sie.

[137] In dem Leben jedes Menschen, wie in der Weltgeschichte, dem Leben aller Menschen, sind es immer einzelne Momente, an welchen sich die lange und allmählig vorbereiteten Veränderungen zur Entscheidung bringen. Diese hervorragenden Tage prägen sich mit ihren Leiden und Freuden, mit ihren großen und kleinen Vorgängen dem Gedächtniß ein, und es bleibt dem Menschen auch das Geringfügigste, was sich an ihnen zutrug und was er an ihnen empfand, lebendig und deutlich in der Seele. Es sind aber, wenn man viel durchlitten hat, oft grade die an sich geringfügigsten Dinge, es sind Zufälligkeiten, welche man in einer andern Stunde, in einer anderen Verfassung gar so schwer nicht gefühlt haben würde, die jedoch, weil sie an dem vollgemessenen Kelch des augenblicklichen Leidens den Tropfen des Uebermaßes bilden, ihn zum Ueberfließen bringen, und seine Bitterkeit uns so unerträglich machen. Die Pein, mit welcher ich mich fern von dem Geliebten, fern von der Frau, die ich wie eine Mutter verehrte, fremd in meiner Familie, geschieden von meiner Jugendfreundin fühlte, fand ihren Ausdruck und ihren Gipfel darin, daß mir auch mein Zimmer mit den rosa Wänden und den weißen Gardinen statt einer Zuflucht eine Qual geworden war. Und man leidet von den Qualen der Einbildung nicht weniger, als von wirklichen Leiden, so lange man nicht im Stande ist, über sie mit seiner Vernunft den Sieg davon zu tragen, und sie als selbstgeschaffen zu erkennen. Ich aber hatte Niemand neben mir, der mir gesagt und dem ich es geglaubt hätte, daß eine kräftige und ehrliche Natur an einer hoffnungslosen Liebe nicht zu Grunde zu gehen braucht.

[138]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Silvio Pellico sagt im dritten Kapitel seiner Gefängnißmemoiren: Lo svegliarsi la prima notte in carcere è cosa orrenda! – Possibile! (dissi ricordandomi dove io fossi) possibile! Io qui? E non è ora un sogno il mio? 1

So oft ich später diese Stelle las, habe ich an die erste Nacht denken müssen, welche ich nach meiner Heimkehr in meinem Zimmer zubrachte, und an den ersten Morgen, welcher dieser Nacht folgte. Ich wachte mehrmals auf und konnte mich nicht darin finden, wieder zu Hause und nicht mehr in Breslau zu sein. Ich mußte mich auf dem Lager aufrichten und mich umsehen, um mich auf mich selber zu besinnen, und mich zu überzeugen, daß ich nicht träume. Aber es war Alles Wirklichkeit.

Ueber meinem Schlafsopha hing das schöne Bild Mathildens, meine schlechten Zeichnungen an beiden Seiten. An der anderen Seite des Zimmers schlief meine [139] Schwester. Ich hörte ihre ruhigen Athemzüge, ich konnte ihr ruhiges Gesicht beim Schein der Nachtlampe deutlich sehen. Ich hätte gern auch geschlafen! – Aber ich mußte denken, immerfort denken, an Breslau denken, an meinen Vetter denken! Es war heller Tag, als ich endlich einschlief.

Kalt, abgemattet, wie nach einem Fieberanfall, erwachte ich, als das Hausmädchen uns wecken kam. Ich stand auf, kleidete mich an, die Rouleaux wurden aufgezogen, ich trat an das Fenster, es war Alles unverändert, Alles wie sonst. Unser Nachbar, der Materialhändler, stand gradeüber in seinem braunen Rocke vor der Thüre seines Ladens; in dem Hause daneben saß die alte Madame Meier wieder mit ihrer Kaffeetasse am Fenster und tauchte ihre Semmel in die Tasse wie sonst. Das kam mir unbegreiflich vor. Mich dünkte, es sei ein Menschenalter verflossen, seit ich das zuletzt gesehen. Ich hatte so viel erlebt, und all' mein Erleben hatte auf das Dasein der Andern gar keinen Einfluß gehabt. Ich fühlte, welch' ein Atom der Einzelne ist, ich wurde irre an all' meinen Gedanken, es war mir, als hätte ich das rechte Maaß für den Verlauf der Zeit verloren, und immer fragte ich mich: ist's denn möglich?

Bei uns im Hause nahm das Thun und Treiben den gewohnten Gang. Wir frühstückten in der Vorstube, unsere Eltern küßten uns zum guten Morgen, sie saßen am Fenster auf dem Fenstertritt, die vier kleinen Schwestern gingen, von dem Hausknecht begleitet, in die Schule, die Brüder in ihre Collegien, der Vater an sein Geschäft, meine Schwester an die Besorgung der ersten Haushaltsgeschäfte. [140] Und ich? ich hatte auf der Welt Gottes Nichts zu thun, ich hatte auch keinen Plan.

Endlich besann ich mich, daß ich mich in mein Zimmer hinaufbegeben könne, um mich neu einzurichten. Ich räumte die Bücher, welche man mir während der Reise geschenkt hatte, in das Schränkchen, vor dem meine Mutter so oft mit mir gekniet, als ich noch ein unordentliches Kind gewesen war, das sie mühsam zur Ordnung gewöhnt. »Unserer lieben Fanny von ihren Eltern zu ihrem achten Geburtstage,« stand darin auf einem angeklebten Blatte geschrieben. Welch' eine Ewigkeit war das her, seit diesem achten Geburtstage! Heute, wo dieser achte Geburtstag mehr als vierzig Jahre hinter mir liegt, kommt er mir lange nicht so entfernt vor, als in meinem zweiundzwanzigsten Jahre. Die Zeit schrumpft für die Phantasie zusammen, je länger man in ihr gelebt hat; der Jugend erscheinen die einzelnen Jahre, wie dem spätern Alter die Decennien, und auch darin erfährt der Einzelne das Schicksal des ganzen Menschengeschlechtes.

Ich war mit den paar Büchern bald an Ort und Stelle, ich ordnete meine Briefe, ich besah und durchstöberte alle Papiere in meinem Schreibtisch, ich las weinend die Breslauer Stammbuchblätter durch, brachte meine Kommode, den Kleiderschrank, den Nähtisch in Ordnung – nun war ich fertig und was nun?

Da kam es mit einem plötzlichen Entschlusse über mich: ich mußte vorwärts!

Müßiges Leiden habe ich nie ertragen können, und das Gefühl der schweren Undankbarkeit, deren ich mich gegen die Meinen schuldig machte, indem ich meine Heimkehr [141] zu ihnen so unwürdig beging, brachte mich zur Besinnung. Sie waren ja völlig schuldlos an Allem, was mich beschwerte; und was hatte ich denn zu ertragen im Vergleich zu Heinrich, der aus Liebe zu den Seinen einen weit schwereren Schmerz mit sich selber abmachte, und heiter und dankbar anerkannte, was ihm an Liebe entgegen gebracht wurde? Ich wollte nicht geringer sein als er, ich wollte mit mir fertig werden, still für mich leiden, was ich nicht ändern konnte, und thun, was mir oblag.

Aber das war das Schlimme, es lag mir eben wieder gar Nichts ob! Nicht einmal die Wirthschaft hatte ich zu führen, wie bei meinem Austritt aus der Schule, denn ich sollte jetzt in den Haushaltsbesorgungen mit meiner Schwester Monat um Monat abwechseln, und den ersten Monat noch in Freiheit genießen. Das war eine schlimme Freiheit für mich, und fast hätte ich mich nach meinem alten Stundenplan mit seinem strengen Reglement zurückgesehnt.

Ich fing natürlich bald wieder an, zwei Clavierstunden die Woche zu nehmen und eine Stunde täglich zu üben. Ich hatte auch wöchentlich zwei Zeichenstunden, machte gelegentlich verschiedene Versuche nach der Natur zu zeichnen, aber der Unterricht war schlecht. Ich traf zwar die Personen leidlich, die ich zu zeichnen unternahm, indeß ich gelangte zu keiner Durchbildung und zu keiner Freiheit in der Sache. Ich hatte deshalb von meinem Zeichnen eben so wenig wahres Vergnügen, als von meinem Clavierspielen, und die Lust an der Musik wurde mir dadurch vollends genommen, daß ich genöthigt war, zwei von[142] meinen kleinen Schwestern in derselben zu unterrichten, die bei redlichem Willen noch viel talentloser waren, als ich selbst.

Somit begann nun für mich jenes Leben, das die Mädchen in unseren bürgerlichen Familien fast überall führen: ich konnte thun, was ich wünschte, aber ich wußte nicht, was ich mit mir und mit meiner Zeit beginnen sollte.

Ich war im Vaterhause, hatte keine Nahrungssorge und keine nothwendige Thätigkeit, außer den Näharbeiten für die Familie, an denen es natürlich bei einem Hausstande von achtzehn Personen niemals fehlte. Wir hatten einige Jahre vorher bei einer besonderen Lehrerin das Ausbessern und Feinstopfen erlernt, ich nähte auch nicht ungern, denn alle Menschen, die mit einem starken Thätigkeitstriebe begabt sind, gewinnen Freude an jeder Arbeit, bei welcher irgend Etwas zu Stande kommt. Aber den ganzen Tag nur nähen und stricken und ausbessern, das konnte, sollte und wollte ich nicht. Mit meinen alten Umgangsgenossen fühlte ich mich eben in jenem Zeitpunkt nicht wie sonst verbunden, ich hatte also kein augenblickliches Interesse, das mich an sich zog, und so blieb mir denn Nichts übrig, als ein Nachsinnen über dasjenige, was zu vergessen mir sehr nöthig gewesen wäre, um mich gesund zu erhalten.

Ich hatte gleich am Tage nach meiner Rückkehr meine Mußezeit dazu benutzt, nach Breslau zu schreiben und für die empfangenen Briefe und den Ring zu danken, und ich hatte das mit tausend heißen Thränen gethan. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Meine [143] Verwandten waren eben so an mich gewöhnt als ich an sie, in dem stillen Hause mußte man das Fehlen eines heiteren täglichen Gastes wohl empfinden. Man schrieb mir das; auch Heinrich, der gleich nach meinem Fortgehen von der Grippe befallen war, schrieb mir das und brachte in seiner Weise sein Erkranken mit meiner Abreise in Verbindung. Und ich, verblendet von meinen Wünschen, nahm für baare Münze, was ich später, als ich einmal die Briefe mit beruhigtem Sinne wieder las, mit einer Art von Beschämung über meine Verkehrtheit, als den Ton des unverkennbarsten Scherzes ansehen mußte.

Mit jenen ersten Briefen war nun eine Correspondenz eingeleitet, die Anfangs zwischen mir und meinen Cousinen äußerst lebhaft fortgesetzt wurde, und die für mich den gefährlichen Vortheil hatte, mir indirect beständig Nachricht von meinem Vetter zu schaffen, auch wenn er selbst mir just nicht schrieb. Dieser Briefwechsel war mein eigentliches Leben in jener Zeit. Ohne allen anscheinenden Bezug auf Heinrich, suchte ich in die Familienbriefe, von welchen ich nach meiner Kenntniß des dortigen Lebens mit Sicherheit wußte, daß er sie las, all' dasjenige hinein zu schreiben, was ich von ihm zu hören und zu erfahren wünschte, und neben diesen Familienbriefen wurde denn auch, wenn schon in größeren Zwischenräumen, die Correspondenz mit meinem Cousin selber fortgesetzt, der, wie Frau Rath Goethe von ihrem Sohne an Bettina schrieb, freilich mehr zu thun hatte, als mir Briefe zu schreiben.

Ich las aus den Briefen, welche ich empfing, den[144] Meinen gelegentlich dasjenige vor, was ich dazu für geeignet hielt, zeigte aber die Briefe, die ich schrieb, Niemandem von den Meinen, und behielt damit ein gesondertes Dasein, mein ideales Leben, für mich allein, obschon meine erwachsenen Geschwister bald meine Vertrauten wurden, und meine Leidenschaft für Heinrich Simon kaum einem meiner damaligen Lebensgenossen ein Geheimniß gewesen ist.

Meine Geschwister liebten ihn nicht, wenngleich sie ihn nicht kannten. Sie sahen mich leiden und bürdeten ihm, weil sie jung und unerfahren waren, die Schuld davon auf. Sie wußten nicht, wie leicht ein liebebedürftiges Herz sich an einen Mann verliert, und hatten es noch nicht erprobt, wie süß es ist, geliebt zu werden; wie schwer, selbstlos und kalt zu bleiben gegenüber einem offenen, warmen Herzen, das sich uns stolz und freudig entgegenbringt. Vermögen wir es doch kaum, einen Schmetterling, der sich auf unsere Hand setzt, einen Vogel, der uns in das Zimmer fliegt, von uns zu entfernen. Die Liebe eines Thieres gewinnt unser Herz, daß wir sie erwidern und sie schwer entbehren, wenn sie uns verloren geht; denn Liebe und Zutrauen sind die geheimnißvolle Kette, welche die Wesen aneinander bindet, und man muß es erlebt haben, wie die Liebe eines Mannes, oder umgekehrt eines Weibes, uns überrascht, erfreut und erwärmt, wie sie uns gefangen nimmt, uns zuletzt beherrscht und mit sich fortzieht, um sehr mild und dadurch gerecht zu urtheilen über eine Menge von Verhältnissen zwischen Mann und Weib, in welchen man im Allgemeinen bald dem Weibe, bald dem Manne, einen leichtsinnigen [145] Egoismus, eine kalte Koketterie, und das Unglück des anderen Theiles zuzuschreiben geneigt ist. Dazu mischt sich in alle Beziehungen zwischen Mann und Weib gleich von Anfang an mehr Liebe ein, als die Jugend es sich im ersten Augenblicke denken kann, und man glaubt oftmals noch Herr über sich selbst und über die Verhältnisse zu sein, wo man bereits von der fremden Leidenschaft in Flammen gesetzt ist, und grade nur noch Besonnenheit und Festigkeit genug übrig behalten hat, sich im entscheidenden Augenblicke gewaltsam loszureißen. Das war es, was die Meinen damals nicht ermessen konnten, was mich selber täuschte, und mich durch lange Jahre nicht zur Ruhe kommen ließ.

Einige Monate hielten das Hoffen, das Warten, das nicht glauben können, mich in Aufregung. In der Mitte des Sommers mußte meine Mutter in ein Seebad gehen, meine Schwester und ich leisteten ihr dort abwechselnd Gesellschaft. Wir wohnten wieder in dem großen Logirhause, es war viel Gesellschaft dort, wir fanden in derselben einige von unsern Freunden und Bekannten, und machten neue Bekanntschaften. Wir besuchten die Assembleen und Bälle, ich hatte allen Anlaß, mit dem Antheil zufrieden zu sein, den man mir bewies, und es waren meist die reifen Frauen und Männer, die mir entgegenkamen und sich mir zuwendeten. Ich war, was damals nicht so allgemein war, eine gereiste Person, ich hatte eine Menge Menschen kennen lernen, von denen zu hören man begierig war, und ich erzählte gern, weil es mich an die mir angenehmen Tage der Reise erinnerte. Es konnte also leicht geschehen, daß man mich interessant [146] nannte, meine Mutter freute sich darüber, aber sie wußte nicht, daß dies ein Prädikat ist, welches man der eigentlichen Jugend nicht ertheilt, und diese war für mich thatsächlich auch vorüber.

Die Mutter und ich lebten aber seit meiner Heimkehr weit leichter mit einander als vorher. Ich hatte an anderen Frauen eine Menge der vortrefflichen Eigenschaften vermißt, welche die Mutter im hohen Grade besaß, und hatte ihren Werth dadurch viel besser schätzen lernen. Ihre natürliche Einfachheit, ihre Anspruchslosigkeit und stets wache Güte, erschienen mir jetzt in ganz anderm Lichte. Ich fand eine große Genugthuung darin, sie zu pflegen, und wenigstens sie zufrieden zu stellen, da ich selber nicht zufrieden war, und es fiel mir daher leichter als sonst, auf dasjenige zu verzichten, was uns von einander trennte. Das Zusammenleben mit sehr verschiedenen Personen hatte mich erzogen, und eine wahre Liebe, wie ich sie fühlte, macht allmählig die ganze Natur des Menschen milder.

Ich war gern am Meere, seine Poesie war mir stets zugänglicher, als die der Gebirge. Die große, unabsehbare Weite hatte Etwas, worin mein Geist sich gern verlor, das Schrankenlose gab mir stets das Gefühl einer persönlichen Allmacht, denn wie weit das Auge auch trug, der Gedanke reichte darüber hinaus. Stundenlang habe ich, wenn meine Mutter ruhte oder schlief, vor der Thüre auf dem Balkon gesessen und dem Spiel der Wellen, dem Meeresleben in allen seinen Aeußerungen gelauscht. Es war mir einunaus sprechlicher Genuß, das Meer in seiner Ruhe sich vor meinen Füßen ausbreiten zu sehen, [147] und ein noch größeres Entzücken, wenn der Wind es aufjagte, wenn im fernen Westen die dunkeln Wolken am Rande des Horizontes wie ein schwarzer Streif emporstiegen, wenn sie sich schnell über den ganzen Horizont verbreiteten, und wenn der Wind aufkam, sich zum Sturm gestaltete, und Wolken und Wellen in wildem Jagen vor sich hertrieb. Im Wind am Meere zu athmen ist eine Wollust. Man fühlt, als könnte man damit unendliche Lebenskraft in sich aufnehmen, und während man die Ohnmacht des Menschen gegen die Gewalt der Elemente klar vor Augen hat, trat und tritt mir noch heute das Bewußtsein freien, selbstherrlichen Wollens und Vermögens nie deutlicher hervor, als gegenüber dem Sturm am Meere. Ja, auch ich kann sagen: »Ich liebe das Meer wie meine Seele!« Und ich habe niemals in der Gebirgswelt gelebt, und vor ihrer starren Erhabenheit gestanden, ohne eine unbeschreibliche Sehnsucht nach dem Meere und seinem Leben und seiner Bewegung zu empfinden. Wenn ich mich krank gefühlt, hat mein ganzes Verlangen nach dem Meere gestanden, und ich könnte, wäre ich gezwungen, dauernd in Bergen zu leben, ein wahres Heimweh nicht nur nach dem Meere, sondern auch nach der freien Fernsicht der Ebenen bekommen.

Die Stadt war sehr heiß als ich vom Strande nach Hause kam und meine Schwester an das Meer ging; aber ich hatte zu thun, hatte den Vater, die Brüder, die jüngeren Schwestern zu versorgen, und das war mir angenehm. Ich fing an, mich wieder in der Familie, unter meinen Bekannten zurecht zu finden, ich begann wieder zu lesen, zu excerpiren, und das eigentliche Haushalten [148] machte mir Freude. Ich versuchte Ersparnisse zu machen, um mit ihrem Ertrag meiner Mutter für ihre Rückkehr eine Ueberraschung zu bereiten, und war auf gutem Wege, mich mit mir allmählig abzufinden, als der Herbst herankam, und mit der Heimkunft meiner Mutter für mich die alte Unthätigkeit begann, die mich mit Einem Schlage wieder in meine Melancholie zurückwarf.

[149]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Das Frühjahr von achtzehnhundert vierunddreißig brachte uns ein schweres Unglück. Eine meiner jüngeren Schwestern, ein schönes, begabtes Kind, das die prächtigen Augen meines Vaters geerbt hatte, erkrankte an einer plötzlichen Augenentzündung, und hatte das Unglück, ein Auge zu verlieren.

Schon am Charfreitage erklärten die Aerzte, die Sehkraft des Auges sei unwiederbringlich verloren; man meinte jedoch, die äußere Form des Auges noch erhalten zu können, aber auch diese Hoffnung schlug fehl, und Anfangs Juni mußte das Auge extirpirt werden.

Der Schmerz meiner Eltern war unsäglich groß. In allen ihren Leidensjahren, in den Tagen voll Sorge, Kummer und Nöthen, war es immer meines Vaters Trost gewesen, acht gesunde Kinder zu haben. Dies Glück ward den Eltern jetzt zerstört, und während meine Mutter von dem augenblicklichen Leiden des Kindes selbst fast zu Boden geworfen wurde, sah mein Vater mit schwerer Bekümmerniß voraus, welch einen Einfluß dieses Unglück auf das Leben meiner Schwester haben, und wie viel Entbehrungen ihr dadurch unvermeidlich auferlegt werden mußten.

[150] Mein Vater und mein jüngster Bruder, der Medicin studirte und an den Anblick von Operationen bereits gewöhnt war, wohnten derselben bei, wir Anderen waren bei unserer Mutter, die auf ihren Knieen lag und händeringend und in Verzweiflung betete. Es war ein entsetzlicher Morgen.

Das Kind bewies eine große Energie. Es verlangte, als man ihm das andere Auge zuband, daß man ihm die Binde noch einmal abnehmen solle, es müsse den Vater noch einmal sehen. Das gestand man zu, und nun hielt die Kleine ohne zu zucken, ohne einen Laut von sich zu geben, die Operation geduldig aus; ja, als man bei dem Verbande einer Stecknadel benöthigt war, zog sie dieselbe aus ihrem Gürtel und reichte sie dem Arzte hin.

Natürlich wurde diese Tochter von da ab der Gegenstand größter Sorgfalt und größter Achtsamkeit für das ganze Haus. Sie hatte schon während der langen Kur, welche der Operation vorausging, die schwersten Schmerzen ausgestanden, und fast eben so schwer von der Unthätigkeit gelitten, zu welcher sie verdammt war. Lange Wochen hindurch hielt man die zehnjährige Kleine, die bereits an die Schule gewöhnt war und die Arbeit liebte, in einem völlig dunkeln Zimmer. Man konnte also kein rechtes Spiel mit ihr treiben, konnte ihr nicht vorlesen, die ihr gleichaltrigen Geschwister hielten es auch nach Kinderart nicht lange in der Finsterniß aus, und so hatten die Mutter, die zweite Schwester und ich nun die Aufgabe, die kleine Kranke zu unterhalten, deren Lebhaftigkeit das nicht leicht machte. Sie hatte schon viel Mährchen gelesen, [151] hatte ein Gedächtniß, dem Nichts von dem Gelesenen entschwand, und wollte doch immer Neues hören. Das brachte mich eines Tages auf den Einfall, ihr Etwas zu erzählen, was ich in dem Augenblick für sie erfand.

Sie war mit der Mutter und mir im verwichenen Sommer an der Ostsee gewesen, ich erzählte ihr also ein Mährchen von der Frau Balta, der mächtigen Seekönigin, und von deren zwei ungerathenen Töchtern, dem frischen und dem kuhrischen Haff, welche Frau Balta hinter den Dünen eingesperrt habe, um sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen; und ich putzte das mit allerlei dem Kinde verständlichen Allegorien und personifizirten Naturerscheinungen auf. Marie hatte die größte Freude daran. Ich mußte ihr die Geschichte wiederholen, schrieb sie mir darnach auf ein Blatt Papier, um sie nicht zu vergessen, und wenn es gewünscht würde, sie in gleicher Weise und ohne Auslassungen oder Aenderungen, denn Kinder lieben diese nicht, wieder vorbringen zu können; und da ich sah, daß meine Schwester von dieser Erfindung, die sich an ihr bekannte Gegenden und Namen lehnte, mehr Vergnügen hatte, als an allem Andern, so erdachte ich im Laufe der nächsten Tage noch zwei kleine Geschichten, die sich an den Spazierort Judithen und an Schloß Aarnau knüpften, welche Beide nahe bei Königsberg gelegen sind. Die Mährchen oder Sagen waren nicht bedeutend, erfüllten jedoch ihren Zweck, und wie sie die ersten Versuche waren, welche ich im erzählenden Dichten machte, so blieben sie auch die Einzigen bis zum Jahre achtzehnhundert einundvierzig, in welchem ich mit der bestimmten Absicht, etwas Dichterisches [152] zu schaffen, mich wieder im Erfinden und Erzählen versuchte.

Wir zogen zur Erholung für die Mutter und die kleine kranke Schwester in der Mitte des Sommers vor das Thor hinaus, und wie im ersten Jahre nach meiner Heimkehr war mir auch diesmal der Aufenthalt im Freien erwünscht, denn mein Zusammenhang mit der Natur wurde immer tiefer und ernster. Ich hatte in früheren Jahren eine Abneigung gegen Naturschilderungen gehabt und es nicht recht begreifen können, wie Jemand darauf kommen möge, eine Elegie zu schreiben. Jetzt ging mir das Verständniß dafür auf.

Ich konnte mich in der Umgebung unseres Hauses, die nichts weniger als anmuthig war, stundenlang in das Anschauen der Bäume, des Grasplatzes, des kleinen Teiches versenken, in dem die Sonnenstrahlen sich spiegelten; ich konnte mit selbstquälerischer Wollust am Abend das ungezählte Heer der Sterne sich am Firmamente ausbreiten und zu mir herniederleuchten sehen, und mir sagen, wie thöricht es sei, wenn das Atom, das sich Mensch nenne, es sich beikommen lasse, sein Glück und sein Leid als etwas Wesentliches zu betrachten. Neben der Unendlichkeit der Natur kam mir die Spanne unseres Lebens so kurz vor. Wenn ich mich aber recht tief in die Entsagung hinein gedacht hatte, wenn ich mir die Seele erfüllt hatte mit der Vorstellung an unsere Vergänglichkeit, wenn unser ganzes Leben mir wie ein Tag erschien, so erschienen mir plötzlich wieder die Stunden eines jeden Tages und die sechszig Minuten jeder Stunde als eine lange Zeit, denn ich hatte es bereits erfahren,[153] wie viel Glück und wie viel Leid das Menschenherz in dem Raume weniger Stunden durchleben kann.

Es war ein beständiger Wechsel von Kleinmuth und Selbstgefühl, von verzagendem Lebensüberdruß und nicht zu ertödtender Lebenslust in mir, aus denen sich doch immer wieder der Gedanke herausarbeitete, daß die Natur in ihrem Werden und Vergehen allmächtige Kräfte entfalte, daß sie immer schöpferisch, immer neu, Jedem das Spiegelbild des eigenen Daseins entgegenhalte, und daß sich nothwendig in dem kleinsten Geschöpfe derselbe Prozeß vollziehen müsse, der zerstörend, um neu zu bilden, das Weltall zusammenhalte. Und da ich nach jedem Winter den Frühling wiederkehren sah, meinte ich immer: auch für mich müsse er noch kommen, und es müsse mir im Leben noch irgend Etwas beschieden sein, das mich schadlos halte für die Freudlosigkeit, von welcher ich innerlich befangen war.

In unserm häuslichen Leben und in unsern geselligen Verhältnissen waren inzwischen manche günstige Veränderungen eingetreten. Meines Vaters Vermögenslage besserte sich fortdauernd. Wir hatten mit einigen Professoren-Familien, theils durch unsern Aufenthalt im Seebade, theils durch meine beiden studirenden Brüder näheren Umgang gewonnen, es waren uns auch ein paar geistvolle Docenten, welche sich von Berlin nach Königsberg übergesiedelt hatten, empfohlen worden, und da wir jetzt die Möglichkeit besaßen, für den Haushalt mehr als früher aufzuwenden, so sahen wir häufig Leute bei uns, ohne daß der Zuschnitt der Bewirthung dadurch wesentlich verändert worden wäre.

[154] Es wurde nach wie vor mit dem Essen keine Art von Luxus getrieben, wenn Sonntags, wie das inzwischen zur Sitte geworden war, einer oder der andere Gast mit uns speiste. Man aß eine Suppe, einen Braten, trank Bier und damit war die Sache abgethan; und selbst wenn größere Gesellschaften geladen wurden, für welche eine entsprechende Veränderung gemacht werden mußte, sah man nur darauf, daß Alles, was dargeboten wurde, gut war, nicht daß Vielerlei und Ungewöhnliches gegeben wurde.

Aber eben dadurch war es den Menschen behaglich bei uns. Sie sahen, daß sie nicht belästigten, und daß sie zwanglos und mit Freude aufgenommen wurden. Der Vater hatte uns aus einem der Lagerräume ein Zimmer einrichten lassen, das sich als Eßstube bequem an die übrigen Stuben anreihte, die Service, die Gedecke, das Silber waren erneut worden, und uns Töchtern wurde für unsere Garderobe alle wünschenswerthe Freiheit gewährt, denn beide Eltern hatten Freude daran, uns wohlgekleidet zu sehen. Hie und da machte wohl Einer unserer Verwandten die Bemerkung, daß solcher relativer Toilettenluxus uns verwöhne; indeß die Eltern waren der Meinung, daß Entbehrung den Anreiz zu den Dingen steigere, und daß in der Regel die Mädchen und Frauen, welchen in der Jugend die Möglichkeit gefehlt hatte, ihrer Neigung für Putz und Schmuck zu genügen, in späteren Jahren weit größeren Werth darauf legen, als diejenigen, welche dieselbe befriedigen können; und so weit es ihre sechs Töchter betraf, hatten die Eltern sich darin nicht getäuscht.

[155] Ich für mein Theil liebte die Gesellschaft und liebte den Putz eigentlich mehr als alle meine Schwestern. Die geistige Bewegung durch das Gespräch, die körperliche Bewegung durch den Tanz waren mir Zerstreuung, Erfrischung, ja recht eigentlich ein Bedürfniß, und ein Mittel, meiner selbst froh zu werden, denn ich fühlte mich für den Verkehr mit Menschen und für den geistigen Austausch geschaffen. Es machte mir auch große Freude, mir einen hübschen Anzug auszudenken, und noch größere Freude, mir in demselben zu gefallen. Ich konnte mich mit einer Befriedigung, die halb der Eitelkeit und halb einer künstlerischen Lust angehörte, in aller Ruhe am Spiegel stehend, lange betrachten, und ich that das in jenen Zeiten niemals lieber, als wenn ich mich recht elend fühlte.

Mit der selbstquälerischen Wollust der Leidenschaft klagte ich dann mein Schicksal an. Ich gestand mir, daß ich gut aussehe, ich wußte im Voraus, daß Dieser und Jener es mir sagen, daß ich gefallen würde, und ich hatte dann einen wahren Zorn darüber, daß mein Vetter dafür nicht das rechte Auge gehabt, und wieder einen andern Zorn gegen Diejenigen, denen angenehm zu sein ich sicher war. Ich fand einen Trost darin, mir vorzuhalten, daß ich in jedem Betrachte geliebt zu werden verdiene, und mich vor mir zu erheben, um es doppelt hart und unbegreiflich zu finden, daß ich von dem Gegenstand meiner Liebe so verschmäht ward. So thöricht der Heine'sche Ausspruch: »ich wollte unendlich glücklich sein oder unendlich elend, und jetzo bin ich elend!« auch klingen mag, er drückt die Maßlosigkeit jugendlicher [156] Leidenschaft vortrefflich aus, und ich habe ihn mir oft genug vorgesagt, wenn ich mit farbenstrahlenden Kränzen im Haar, zum Balle geputzt, mein Zimmer verließ. Jetzt weiß ich, daß in jenem Empfinden noch ein Theil von Selbstbetrug verborgen lag; aber man macht sich von demselben nur sehr schwer und erst bei völliger Reife frei, und ich war in der That recht übel daran.

Daß mein Vater, der meiner jugendlichen Neigung für Leopold so streng und selbstherrlich seinen Willen und sein Verbot entgegengesetzt hatte, mich ohne alle Hinderung, ja, ohne eine Anfrage oder Mahnung, meiner Leidenschaft leben ließ, ist mir jetzt nur dadurch erklärlich, daß er entweder die Kraft dieser Liebe unterschätzte, oder sie erkannte und in ihrer Stärke würdigte. In dem ersten Falle hätte es in seiner Weise gelegen, die Zeit walten zu lassen; in dem anderen würde er sich nicht in eine Lage gebracht haben, in welcher seiner väterlichen Gewalt Trotz geboten werden konnte; denn seine Gewalt über uns zu bewahren, sah er als seine erste Pflicht und sein Recht gegen uns an, so lange er die volle Energie seines Charakters behalten hat.

Mitten in diese Zeit voll innerer Kämpfe für mich brach plötzlich ein Ereigniß herein, das in Königsberg eine allgemeine Bestürzung, und auch über unsere Vaterstadt hinaus ein schlimmes Aufsehen erregte. Ich meine die Enthüllungen und Anklagen, welche gegen die Prediger Ebel und Diestel, und die von ihnen gestiftete religiöse Gemeinschaft erhoben wurden.

Ich habe in dem ersten Bande meiner Lebensgeschichte dieser Sekte bereits Erwähnung gethan, und den Prediger [157] Ebel als den in meiner Kindheit von mir sehr verehrten Religionslehrer unserer Schule bezeichnet. Von dem Unterricht an Schulen hatte er sich, wie ich glaube, nach dem Eingehen des Ulrich'schen Institutes, ganz und gar zurückgezogen, aber seine Wirksamkeit als Kanzelredner und Seelsorger hatte er immer eifriger und erfolgreicher fortgesetzt, und die Gemeinde, welche sich ihm und seinem Collegen Diestel angeschlossen, war mit den Jahren bedeutend gewachsen.

Ebel war Prediger an der altstädtischen, Diestel an der Haberberger Kirche, und der Letztere war zugleich Divisionsprediger. Die Diöcese des Ersteren umfaßte einen der mittleren Theile der Stadt, in welchem viele angesehene Kaufleute und Gewerbtreibende angesessen waren, während die Gemeinde der in der Vorstadt belegenen Haberberger Kirche sich zum großen Theile aus den Ackerbürgern der Vorstädte zusammensetzte. Indeß die Sekte, welche sich zu Ebel's Lehren bekannte, zählte nicht viel Gewerbetreibende unter ihren Anhängern, und hatte, so viel ich weiß, ihre eigentlichen Glieder nicht unter den Eingepfarrten der einen oder der anderen Kirche. Sie bestand vornehmlich aus Beamten, Theologen und Aristokraten, und war unter dem ostpreußischen Adel weit verzweigt. Zu diesem Kern der Gesellschaft gehörten denn auch noch eine Menge alter Mädchen. Es waren unter diesen mehrere Fräulein aus alten Kurländischen und Lievländischen Adelsgeschlechtern, einige Töchter reicher, auswärtiger Kaufmannsfamilien, und verschiedene theils zum Christenthum übergetretene, theils noch unbekehrte Jüdinnen aus armen Familien. Eine nicht unbedeutende [158] Anzahl von Handwerkern und armen Leuten reihten sich dem gebildeten Theile der Sekte als Hülfesuchende und Unterstützte an.

Da die stille Gemeinde Niemandem Etwas in den Weg legte, hatte man sich im Publikum nicht viel um sie gekümmert. Man begnügte sich damit, sie mit dem Spottnamen »Mucker« zu bezeichnen. Sprach man einmal von ihrem Glauben und Treiben, so hieß es, sie seien Anhänger und Nachfolger von Schönherr; und Schönherr, darüber war man einig, war ein halbverrückter Theologe gewesen, von dessen Ansichten es also gar nicht erst zu sprechen lohne. Man erinnerte sich lachend, wie der lange, blasse Mann mit seinem wallenden schwarzen Haar durch unsere Straßen gegangen, wie er mit den dunkeln, tiefliegenden Augen vor sich niedergesehen hatte, und man wußte auch, daß er in Memel zu Hause, und irgendwo in der Nähe von Königsberg vor nicht langen Jahren, das hieß zu Ende der zwanziger Jahre gestorben war. Die Mittelstände waren in jener Zeit in unserer Heimath ganz und gar nicht kirchlich. Um im Staate und Amte vorwärts zu kommen, brauchte man nur rechtschaffen und befähigt, aber nicht kirchlichfromm und dogmatisch-gläubig zu sein. Zu religiösen Spekulationen war man nicht aufgelegt, und die Mucker blieben also von der Masse entweder unbeachtet, oder sie wurden von ihr verlacht.

Jedermann kannte Ebel und kannte den Divisionsprediger Diestel, der rasch und rüstig aussah, wie ein verkleideter Husarenführer, und Jedermann konnte einen Mucker und eine Muckerin auf den ersten Blick von jedem [159] anderen Manne und jeder anderen Frau unterscheiden. Es waren nicht blos die langstreckigen altmodischen Röcke und Fracks, und die schmalen weißen kandidatenhaften Halstücher der Männer, es war auch nicht das gescheitelte Haar und die geflissentliche Unscheinbarkeit in der Kleidung der Frauen, es waren eine ganz besondere, Allen gemeinsame Physiognomie und Haltung, welche sie kennzeichneten. Ihr Blick schien die Dinge dieser Welt, wenn diese ihnen nicht angehörten, gar nicht zu sehen, sie konnten sich in der Masse bewegen, als wäre diese nicht vorhanden, sie konnten in einer ihnen nicht zugehörenden Gesellschaft dasitzen, als hörten sie nicht, oder als vernähmen sie Himmelsstimmen, die für andere Ohren nicht vorhanden waren. Ein Ausdruck stiller Versunkenheit in sich, und tiefen Mitleids mit den übrigen Menschen, lag über ihren Mienen ausgebreitet, und selbst ihre Ausdrucksweise und ihre Organe hatten ein besonderes, Allen gemeinsames Gepräge, obschon von eigentlichen pietistischen Phrasen oder von der Redeweise der Herrenhuter bei diesen gebildeten Menschen keine Spur zu merken war.

Traf man eine solche Persönlichkeit in einer ihr fremden Umgebung, so wurde der Eindruck derselben, obschon sie sich dann sehr vorsichtig zurückhielten, leicht komisch. War man aber in einem ihrer Kreise, so daß das Wesen des Einzelnen sich nicht in Disharmonie mit den übrigen Menschen befand, so machten sie auf mich fast immer und fast durchweg einen angenehmen Eindruck. Sie hatten formvolle Manieren, was sehr erklärlich war, da sie meist der gebildetsten Gesellschaft angehörten; sie [160] drückten sich, Männer sowohl als Frauen, im Gespräch vortrefflich aus, und die Unterhaltung hatte immer einen ernsten Hintergrund. Ich habe, wie früher bemerkt, nicht nur Ebel und Diestel, sondern eine große Anzahl ihrer Anhänger gekannt, und Einige von ihnen von Herzen lieb gehabt, denn es waren gute, nach einem Ideale strebende und zum Theil sehr bedeutende Menschen, die weit über die Masse des Gewöhnlichen emporragten.

Nie habe ich von einem der Ebelianer jenes leichtfertige Gerede gehört, mit welchem man sich sonst wohl die Zeit zu vertreiben pflegt. Viele von ihnen waren sehr bewandert in der deutschen und englischen Literatur, Andere zeichneten und malten vortrefflich, und Kunst und Literatur wurden von ihnen, wie es sich eigentlich überall von selbst verstehen sollte, nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck, das heißt mehr um der versittlichenden Kraft, als um der bloßen Schönheit willen geliebt und geschätzt. Der Sinn für das Erhabene und Edle war in ihnen sehr rege und fruchtbringend für sie selbst und für Andere durch sie.

Daneben waren sie im höchsten Grade hilfreich untereinander, und zugleich die ersten Menschen, von denen ich eine wahrhaft heilige und selbstverleugnende Armenpflege habe ausüben sehen. Sich selbst Etwas zu entziehen, um es Aermeren zuzuwenden, waren sie immer geneigt, und ich habe von ihnen großartige Akte der Selbstverleugnung erlebt. So erinnere ich mich, daß eine nervenschwache, im hohen Grade für das Schöne empfängliche Frau, sich durch eine lange Zeit von einer alten Person bedienen ließ, die schwer am Krebse litt [161] und deren Gesicht fast nur Eine Wunde, deren Nähe für Andere kaum zu ertragen war. Als ich bei dem ersten Anblick der Unglücklichen, vom Schrecken erfaßt, unwillkürlich zusammenschauderte, sah ihre Herrin mich mit ihren sanften, braunen Augen still und fürbittend an. Ich nahm mich zusammen so gut ich konnte, aber kaum hatte die Kranke das Zimmer verlassen, als ich mit den Worten herausfuhr: wie können Sie das ertragen? Das ist ja entsetzlich! – Ja! entgegnete sie mir, es ist mir auch schwer geworden, mich daran zu gewöhnen. Aber Einer muß sich der Armen doch annehmen und sie um sich dulden, damit sie sich nicht selbst als einen Gegenstand des Abscheues zu fühlen beginnt. – Und das wurde ohne allen erklärenden Zusatz, das wurde ohne eine schönthuende Phrase mit jener erhabenen Einfachheit gesagt, die alles dasjenige als natürlich voraussetzt, was einmal als Pflicht erkannt worden ist. Und solche Züge standen nicht vereinzelt da!

Ich hatte Ebel, so lange er mein Lehrer gewesen war, immer mit großer Genugthuung sprechen und predigen hören; Herr von Tippelskirch, dem ich den besten Theil meines Schulunterrichts und in gewissem Sinne meine ganze Richtung verdankte, war einer seiner Anhänger. Mathilden's ganze Familie und sie selbst hielten sich zu Ebel, ich war mit Mathilde öfter in dem Hause ihres Schwagers, des Grafen Kanitz gewesen, der mit seiner Frau zu Ebel's vertrautesten Freunden gehörte; ich kannte überhaupt eine Menge Menschen aus der Gemeinde, aber Alles, was ich je von ihnen gesehen und gehört hatte, war tadellos, ja es war im Grunde besser, als das [162] Thun und Treiben der meisten anderen Leute, denn es war ernst und planvoll zusammenhängend.

Da verbreitete sich eines Tages die Nachricht, Professor Olshausen, der sich früher zu den Ansichten Ebel's bekannt, habe sich schon vor längerer Zeit von demselben losgesagt, ein Gleiches habe Herr von Tippelskirch gethan, und diese Beiden, im Verein mit dem Schwager des Letzteren, einem Grafen Fink von Finkenstein, dessen Frau eben so schön als von dem fleckenlosesten Rufe war, hätten Aussagen gegen die Prediger Ebel und Diestel gemacht, welche deren sofortige Suspension vom Amte zur Folge gehabt hätten.

Mit dieser Nachricht drangen auch Gerüchte über das innere Treiben der Ebel'schen Gemeinde in das Publikum, die eine allgemeine Bestürzung erregten. Unter dem Deckmantel der Religion, unter der Maske der Heiligung sollten grobe Unsittlichkeiten von den Muckern verübt, ja zur Lehre erhoben worden sein. Diese Gerüchte wuchsen von Tag zu Tag, und nun man darüber nachzusinnen und sich mehr darum zu bekümmern begann, wurde man einerseits gewahr, welch eine Ausdehnung die Gemeinde erlangt hatte, und anderseits gewannen manche Erscheinungen, welche man bis dahin nicht im Zusammenhang betrachtet und also als Einzelheiten übersehen hatte, mit einem Male eine Bedeutung.

Es fiel auf, daß so viele Mucker kränklich waren. Mädchen, welche sich gesund und frisch dem engern Kreise einverleibt, waren bald verblüht. Der lange, magere Hals der Muckerinnen war zu einem Scherzworte geworden. Man brachte nun mit einem Male diese Bemerkungen [163] mit der Anklage gegen die Sekte in Zusammenhang. Man behauptete, daß der Gemahl einer vornehmen Frau, welcher von dem Prediger Ebel Unehrbares zugemuthet worden, den ersten Anstoß zu den Enthüllungen seines Treibens gegeben hätte, und je mehr man im Ganzen durch den Vorfall aufgeregt war, um so thätiger war die Phantasie der Menschen, demjenigen, was allmählig von den Lehren und Uebungen der Sekte bekannt wurde, noch immer Schlimmeres hinzu zu setzen.

Es währte nicht lange, so wurde ein Kriminalprozeß gegen die beiden Geistlichen eingeleitet, und eine große Anzahl von Männern und Frauen, die man bis dahin zwar für überspannt und für Frömmler gehalten hatte, stand unter den schwersten Anschuldigungen gegen ihre Sittlichkeit vor den Schranken. Je länger die Untersuchungen dauerten, je weiter dehnten sie sich aus. Man vernahm die Aerzte, die Dienstboten der verschiedenen Familien; wohin man kam, hörte man, wenn auch mit der nothwendigen Zurückhaltung, von dem Prozesse sprechen, und selbst wir Mädchen, vor denen man diese Rücksicht besonders nahm, konnten nicht im Zweifel bleiben, um was die Anklage sich bewegte.

Der Eindruck, welchen das Ereigniß machte, war ein sehr trauriger und niederschlagender. Man sah eine Anzahl hochbegabter Männer und Frauen, in dem unleugbaren Streben nach einem hohen Ziele, in furchtbarer Weise von ihrem Wege abgekommen, und Verirrungen anheimgefallen, wie das unglückliche dualistische Princip, das dem Menschen seine Einheit geraubt hat, sie schon oftmals, und in den verschiedensten Jahrhunderten, unter [164] den verschiedensten Völkern hervorgebracht hat. Während die junge Literatur jener Epoche den Zwiespalt zwischen der menschlichen Natur und dem Sittengesetz dadurch auszugleichen oder aufzuheben versuchte, daß sie die sogenannte Emancipation des Fleisches predigte, war die theosophische Sekte dahin gekommen, die Heiligung des Fleisches durch den Geist anzustreben, und wenn die weltlichen Reformatoren mit der Emancipation des Fleisches folgerichtig auch zugleich à la Saint Simon die Emancipation der Frau und ihre Priesterschaft anerkennen mußten, so spielte auch in den Theorien der Mucker die Frau als Mitschöpferin und Werkzeug der göttlichen Gewalt eine große Rolle. Das Bedürfniß nach Einheit und Einigung des Seins war in den Geistern offenbar und überall vorhanden, aber man suchte die Lösung des Problems, wo sie nicht zu finden war, in den Gesetzen der Ethik, der Sozialpolitik und der Religion, und übersah den Weg, welcher allein im Stande ist zur Versöhnung der Menschennatur mit sich selber zu führen – die Naturgeschichte und die Naturwissenschaft.

Mir persönlich wurde der Prozeß nur zu nahe gebracht. Die ganze Familie von Derschau war tief in denselben verwickelt, und man rieth meinem Vater sogar von verschiedenen Seiten, meinen Verkehr mit meiner Freundin nicht weiter zu gestatten. Indeß sein Gerechtigkeitssinn und sein Zutrauen zu dem Mädchen, das ich liebte, wenn schon wir einander nicht mehr sein konnten, was wir uns einst gewesen, ließen sich nicht beirren, und wir sahen uns nach wie vor ganz ungestört. Mathilde blieb auch der ganzen Untersuchung fern. Ihre Gutmüthigkeit, [165] ihre Wahrhaftigkeit waren immer dieselben, aber ihre Seele verdüsterte sich mehr und mehr bei dem Hinblick auf die Verwickelungen, in welche ihre neuen Gesinnungsgenossen sich verstrickt hatten. Ihr Herz litt durch die von ihr selbst gewollte Trennung von dem Manne, dem sie sich früher zugesagt, und der es jetzt von ihr gefordert hatte, daß sie sich von der Ebel'schen Gemeinde förmlich lossagen solle. Wer sich aber selbst ertödtet, kann für Lebende nicht mehr viel sein. Wir lebten noch lange neben einander und sahen und sprachen uns öfter, bis ich viele Jahre später meine Heimath für immer verließ; indeß es lag schon vorher eine Welt zwischen uns. Wir erreichten uns nur noch mit dem Tone der Stimme, aber die Worte hatten für uns verschiedene Bedeutung bekommen, wir verstanden einander weniger und weniger und waren für einander bereits todt und gestorben, als wir noch immer in ihrer oder in meiner Stube an den altgewohnten Plätzen beisammen saßen.

[166]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Die Untersuchung gegen Ebel und Diestel war schon eine geraume Zeit im Gange, als der Oberlandesgerichtsrath Ludwig Crelinger als Justizcommissarius aus Schlesien nach Königsberg versetzt wurde.

Er war völlig fremd in dem Orte und meinen Eltern von unsern Verwandten angelegentlich empfohlen worden. Ich hatte ihn schon in Breslau kennen lernen, als er eben von irgend einem kleinen schlesischen Orte nach der Hauptstadt der Provinz an das Oberlandesgericht von Breslau gekommen war. Damals war er mit einem Mädchen aus geringem Stande verheirathet, das, wie man sagte, früher schon seine Geliebte gewesen war, und dieser Umstand erschwerte ihm den Eintritt in die Breslauer Gesellschaft.

Die Männer jedoch schätzten ihn sehr. Sie sprachen mit dem größten Lobe von der Aufopferung, welche er in dem kleinen Städtchen während einer furchtbaren Cholera-Epidemie bewiesen, man rühmte seinen glänzenden Geist, seine tiefen und umfassenden Kenntnisse in seinem Fache, seine universelle Bildung und seine Freunde gaben es zu bedenken, daß sicherlich mehr Liebe, Muth und Ehrenhaftigkeit dazu gehörten, ein armes verführtes [167] Geschöpf zu seiner Frau zu machen, als es zu verstoßen. Indeß die weibliche Tugend der Breslauerinnen blieb unerbittlich, es verstanden sich kaum die Frauen von Crelinger's nächsten Freunden dazu, der armen Zurückgewiesenen einen Gegenbesuch zu machen, und da eine meiner nächsten Verwandten zu der kleinen Anzahl der Duldsamen gehörte, so hatte ich, eingedenk der Mahnung meiner polnischen Freundin, nie in hartherzige Tugend zu verfallen, mich dazu erboten, meine Cousine bei dieser Visite zu begleiten.

Die arme verfehmte Frau war seitdem gestorben, Rath Crelinger war, etwa ein Jahr nachdem ich Breslau verlassen hatte, wegen einer aus seiner früheren Amtsführung herrührenden Vernachlässigung mit einer Untersuchung bedroht worden, und hatte das Unrecht gegen sich begangen, sich dieser Untersuchung zu entziehen, indem er sein Amt freiwillig niederlegte. Es hatte sich, so viel ich weiß, darum gehandelt, daß er die Auszahlung einer sehr geringen Summe auf Ansuchen der betreffenden Personen zu früh gemacht, und es versäumt hatte, sich darüber eine Quittung zu fordern. So hatte er, neben einer wirklichen Ueberschreitung seiner Befugnisse, den Anschein einer Unterschlagung auf sich gezogen, und er hatte, in seiner Ehre angegriffen und gekränkt, amtlos und erwerblos ein paar Jahre in schweren Sorgen und drückenden Verhältnissen gelebt, als seine Ernennung zum Advokaten in Königsberg ihn in der öffentlichen Meinung wieder herstellte, und ihm zugleich die Gelegenheit bot, sich von den Folgen seines zu schnellen Austrittes aus seinem Amte frei zu machen.

[168] Da seine Mittel, als er nach Preußen kam, ihm keine unnöthigen Ausgaben verstatteten, war ihm daran gelegen, sobald als möglich das Hôtel, in welchem er abgestiegen war, gegen ein Privatlogis zu vertauschen. Es wollte sich aber ein Quartier, wie er es für sich und sein Büreau nöthig hatte, nicht gleich finden lassen, und da grade die mittlere Etage unsers Hauses, die auch früher schon einmal vermiethet worden war, weil wir ohne dieselbe eilf Zimmer und damit Raum genug hatten, in dem Augenblicke leer stand, machten die Eltern ihm das Anerbieten, diese Etage für ihn zu meubliren, so gut es sich eben thun ließ, und sie ihm vorläufig für Jahr und Tag zur Miethe zu überlassen. Crelinger nahm das mit Freuden an, die Wohnung wurde schnell hergerichtet, und schon nach wenig Tagen zog er in unser Haus ein.

Er mochte damals gegen vierzig Jahre alt sein, aber er sah bei dem ersten Anblick zu jener Zeit weit älter aus, als er wirklich war, denn die Spuren vieler Sorgen und schweren Kummers lagen auf seinem Gesichte. Er war sehr groß und mager, und trug sich mit Brust und Kopf vorn über gebückt. Sein schwarzes Haar lag schlicht an den schmalen Schläfen, die ungewöhnlich große Nase sprang weit zwischen den nicht großen, grauen, von einer Brille verdeckten Augen hervor, der Mund hatte sehr volle Lippen, die Unterlippe war besonders stark ausgeprägt, und man hätte ihn sehr häßlich nennen müssen, hätte nicht das Gesicht ein ungemein feines Mienenspiel gehabt, in welchem die ganze Kraft und Anmuth seines Geistes sich, namentlich durch die Züge um den Mund, zum Ausdruck brachte.

[169] Mit großer Herzenswärme und Güte verband er einen satyrischen Geist, und es war eigenthümlich anzusehen, wie seine Muskeln sich bewegten, wie es um seine Lippen zuckte, wenn er etwas ihm Lächerliches beobachtete und sein Urtheil darüber nicht aussprechen mochte. Sein Witz war je nach dem Anlaß von spielender Anmuth und von vernichtender Schärfe. So war auch sein Betragen gegen Fremde ein wechselndes. Während die Einen seine Liebenswürdigkeit priesen, scheuten Andere ihn; darin aber stimmten Alle überein, ihm einen vornehmen Geist und eine dem entsprechende Haltung zuzuerkennen, und er selbst war sich dieser Vorzüge wohl bewußt.

Es war ein Vergnügen, seinen edlen Handbewegungen zu folgen, ein Vergnügen, ihn den Wirth an seinem Tische machen zu sehen, und eine Gefälligkeit von ihm zu empfangen, wurde zu einem Genusse durch die Art, in welcher er sie erzeigte. Obschon sein Organ stumpf war, las er vortrefflich, und seine Beredtsamkeit, die sich auch in seiner amtlichen Thätigkeit bewährte, war hinreißend, weil sie ihre Mittel eben so sehr aus dem Kopfe als aus dem Herzen zog.

Dabei wußte er den Männern und den Frauen gegenüber seine besondere Stellung wohl zu nutzen. Er war verheirathet gewesen und war Wittwer. Er war nicht so alt, daß er sich nicht zu den jüngern Männern zählen durfte, und nicht so jung, daß die ältern ihn nicht bereitwillig als ihres Gleichen gelten lassen konnten, und Alt und Jung fühlte sich behaglich mit ihm, weil die große Beweglichkeit seines Geistes und seiner Phantasie [170] es ihm möglich machte, sich stets völlig in die Wesenheit Desjenigen zu versetzen, mit dem er sich eben beschäftigte. Man wurde, wenn man ihn näher kannte, durch seine Art sich zu betragen häufig an den auch in Frankreich fast ausgestorbenen Typus des unverheiratheten Marquis erinnert, der in den alten Schauspielen und Romanen als galanter und getreuer Hausfreund eine Rolle spielt. Alles vertraut ihm, überall hilft er aus, er hat an sich und seiner Stellung und seinen Leistungen sein eigenes Vergnügen, ist der größten Selbstverläugnung fähig, und hat doch aus seiner Jugend her eine Ader von Leichtsinn bewahrt, welche ihn gelegentlich mit in die Verwirrung hineinzieht, die er zu lösen beabsichtigt. Diese Gestalt ist eine überaus liebenswürdige, und Crelinger hatte ihre besten Eigenschaften. Er war nur viel bedeutender, als der französische Roman seinen Marquis zu schildern pflegte, und er würde sicherlich ein großer Mensch gewesen sein, hätte ihm nicht die letzte Eigenschaft gefehlt, welche den Charakter eines Mannes vollendet: der rechte, in sich selbst beruhende, moralische Muth. Daß dieser ihm mangelte, das empfand er bisweilen selbst, und der Mangel desselben war es auch, der ihn in spätern Jahren, als Preußen durch die Revolution zu einem constitutionellen Staate geworden war, verhinderte, die Stellung einzunehmen, welche seinem Geiste, seinem Wissen, seinem Organisationstalent und seiner weltmännischen Bildung die allein angemessene gewesen wäre.

In einer Stadt mittler Größe ist der Eintritt eines Fremden in ansehnliche Amtsverhältnisse immer ein bedeutendes Ereigniß. Seine Person, seine Vergangenheit [171] werden einer genauen Kritik unterworfen, und Ludwig Crelinger war wie dazu geschaffen, den Leuten Stoff für ihre Betrachtungen und Unterhaltungen zu liefern. Er war der Sohn eines sehr reichen Mannes, der während des Krieges in Berlin als Lieferant große Geschäfte gemacht, großes Vermögen erworben und ein glänzendes Haus geführt hatte. Blücher, Hardenberg und die andern hervorragendsten Kriegs- und Staatsmänner der Epoche waren die Gäste desselben gewesen. Bernadotte hatte als Einquartierung lange in dem Crelinger'schen Hause gewohnt, und als er dann später König geworden, der Hausfrau ein prächtiges Ameublement als Andenken und Schadloshaltung gesendet. Was sich in der Kunstwelt ausgezeichnet, war in der Crelinger'schen Familie eingeführt gewesen, und den Söhnen auf diese Weise eine glänzende Jugend und ein wohl vorbereitetes Auftreten in der Gesellschaft zu Theil geworden.

Ludwig Crelinger war der älteste dieser Söhne. Geistvoll, witzig, von lebhafter Sinnlichkeit, für das Große und das Schöne gleich begeistert, hatte er sich die Verhältnisse seiner Familie zu Nutze zu machen gewußt. Er hatte Jura studirt, und danach seine praktische Carriere als Auskultator in Berlin begonnen. Indeß in jenen Tagen mag die Arbeit nicht eben seine größte Leidenschaft gewesen sein. Er hatte viel mit Schauspielern verkehrt, Ludwig Devrient und die Freunde desselben waren ihm früh bekannt geworden, und der Lebensgenuß mag ihn damals vor allen Dingen beschäftigt haben. Man erzählte, daß sein Freund Carl v. Holtei den Referendarius in den Wienern in Berlin als eine harmlose [172] Verspottung des jungen Crelinger geschaffen, und die zum Sprichwort gewordene Redensart: »ich habe unmenschliche Reste!« von diesem für sein Singspiel entlehnt habe.

Später war Crelinger zur Zeit des Ministerium Villele einige Zeit in Paris gewesen, hatte dort die Gesellschaft und die große Welt ebenfalls kennen lernen, und war dann plötzlich aus diesen günstigen Verhältnissen dadurch herausgerissen worden, daß sein Vater sein Vermögen verlor.

Nun hatte Crelinger zu arbeiten begonnen, und der Abstand von den Berliner und Pariser Salons zu dem schlesischen Landstädtchen, in welchem er eine Anstellung erhielt, der Abstand von einem fast fürstlichen Luxus zu den Lebensbedingungen eines knapp besoldeten Stadtrichters, mögen fühlbar genug gewesen sein. Indeß er trug die veränderten Verhältnisse wie er mußte, und er besaß in seiner Bildung eine Quelle von geistigen Genüssen, an die er sich zu halten verstand.

Dennoch hatte er etwas Gedrücktes, als er nach Königsberg kam, wo seine geistige Bedeutung bald Aufsehen machte und ihm schnell Freunde gewann. Auch eine advokatorische Praxis bildete sich für ihn schon nach kurzer Zeit, und vor Allem kam es ihm zu statten, daß die angeklagten Geistlichen, daß die Prediger Ebel und Diestel ihn zu ihrem Vertheidiger erwählten. Ein solcher berühmter und berüchtigter Prozeß bot ihm das Feld, sich und seine Kraft geltend zu machen, und das war Alles, was ihm in dem Augenblicke nöthig war.

Wir hatten nun die Angelegenheiten des Mucker-[173] Prozesses, wie man ihn nannte, aus der ersten Hand. Mein Bruder, der Referendarius war, diente dem Untersuchungsrichter als Protokollführer, und unser Hausgenosse Crelinger den Angeschuldigten als Vertheidiger. Beide Männer hatten dabei die sicherste Gelegenheit, die Anhänger der Sekte kennen zu lernen, und Beide sprachen mit Erstaunen, ja oftmals mit Bewunderung von der geistigen Energie, von der Klarheit und Festigkeit, welche viele der Männer und Frauen bei den Verhören und bei ihren Auslassungen an den Tag gelegt hatten. Namentlich gaben sie den Frauen das Zeugniß großer Bildung und Bedeutung, großer Fassung und ungemeiner Haltung; und die Anklagen, gegen welche sie sich zu rechtfertigen hatten, waren doch der Art, daß sie für Frauen quälend und vernichtend sein mußten.

Einzelne Vorgänge, Scenen und Aussagen aus der Untersuchung drangen auf den verschiedensten Wegen in das Publikum, und man konnte sich oft des tiefsten Mitleids nicht erwehren, wenn man die wackersten Männer und Frauen in diese Untersuchung hineingezogen und verwickelt sah, die theils als Zeugen gegen die Sekte aufgetreten, theils herbeigerufen waren, um Auskunft über ihre nächsten Angehörigen, über ihre Geschwister, Kinder und Gatten zu geben. So erinnere ich mich, daß eine der edelsten Matronen der Stadt, die Frau des Kanzlers von Preußen, Frau von Schrötter, eine geborene Gräfin Dohna, vernommen wurde, deren Tochter zu den vertrauten Anhängern Ebels gehört haben und in die Mysterien der Sekte eingeweiht gewesen sein sollte. Man hatte die Greisin gefragt, ob sie die Doktrin der Sekte gekannt,[174] ob sie ihre Zustimmung zur Betheiligung ihrer Tochter an den geheimnißvollen Uebungen derselben gegeben habe? Da hatte die schöne alte Frau mit ruhigem Blicke umhergesehen, hatte die sie verhörenden Männer der Reihe nach angeschaut und Nichts geantwortet als: »Sie haben wohl selbst noch Mütter, meine Herren! lassen Sie sich von diesen die Antwort auf Ihre Frage geben!« –

Daneben erfuhr man denn auch wieder, wie viel Unheil von den Anhängern der Sekte ausgegangen war. Wie überall in solchen Fällen hatte die Gemeinde sich als die eigentliche Familie ihrer Anhänger hingestellt, und es war durch sie der heftigste Zwiespalt in Häuslichkeiten getragen worden, die sich bis dahin eines ungetrübten Glückes erfreut. Gatten waren einander entfremdet, Kinder ihren Eltern abgewendet, schwache Frauen von ihren frommen Freundinnen förmlich gefangen gehalten und tyrannisirt worden. Der Prozeß hielt die Spannung und die Theilnahme des Publikums eine Weile rege, und trug gründlich dazu bei, die ohnehin sehr rationellen bürgerlichen Kreise meiner Vaterstadt gegen alles Frömmeln noch mehr einzunehmen. Da sich aber die Untersuchung lange hinzog, so war das Interesse an derselben fast erloschen, als mehrere Jahre später die Amtsentsetzung und die Bestrafung der beiden Geistlichen erfolgte.

Was aus dem Prediger Diestel geworden ist, weiß ich nicht. Für Ebel kauften seine Anhänger einen Landsitz nicht fern von Königsberg; die Gemeinde blieb, so weit sie sich nach außen kund gegeben hatte, nach wie vor bestehen; ob die Behörden sie überwachten, ist mir nicht bekannt. In der Stadt hörte man auf, sich um sie zu [175] bekümmern, und ich weiß nicht einmal, ob noch einer der beiden Geistlichen am Leben ist.

In unserm Familienleben ging aber während dessen vielerlei Gutes vor. Mein Vater, der schon mehrere Jahre Stadtverordneter gewesen, wurde zum Stadtrath erwählt, und wir Alle, besonders aber unsere Mutter, hatten eine große Genugthuung darüber. Von dem Vertrauen seiner Mitbürger ein Amt zu empfangen, ist sicherlich das Ehrendste, was einem Manne in seinen bürgerlichen Verhältnissen widerfahren kann, und mein Vater war der Mann, es in diesem Sinne aufzufassen. Er hatte schon seine Stelle im Stadtverordneten-Collegium mit Vorliebe eingenommen, und sich gern und viel in demselben bethätigt. Sein Uebergang in den Magistrat entsprach aber seiner Neigung noch mehr, denn jeder reife Mann hat das Bedürfniß, seine Wirksamkeit über seine Familie hinaus für die Gesammtheit zu bethätigen. Wo dem Manne diese Möglichkeit entzogen ist, leidet sein Wesen darunter, und er versinkt nur zu leicht in das Kleinleben der Frauen und des Hauses.

Meinem Vater that die Anerkennung seiner Mitbürger doppelt wohl, denn es war seit der Verleihung der Städteordnung in Königsberg bisher nur einmal ein Jude in den Magistrat gewählt worden. Die Auszeichnung, welche er erfuhr, war also zugleich ein Zeichen verständiger Toleranz, und die neue Thätigkeit selbst war meinem Vater sehr zusagend. Er wendete große Liebe und viel Zeit auf seine Amtsgeschäfte, und fand in dem Zusammenwirken mit seinen Collegen besonders später viel Befriedigung, als der jetzige Minister Rudolf von [176] Auerswald nach dem Abgange des Oberbürgermeisters List dessen Nachfolger wurde, und mit ihm ein frischer, unternehmender Geist in das Collegium kam.

Unsere Mutter, der im Ganzen wenig persönliche Befriedigungen zu Theil wurden, und die eine Neigung für das Beamtenwesen und seine Titel hatte, hörte sich gern Frau Stadträthin nennen, und uns Allen kam die Wahl des Vaters in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen vielfach zu Nutze. Es ging uns in jenen Zeiten recht nach Wunsch, wir brauchten in keinem Sinne mehr Etwas zu entbehren, meine Brüder schritten auf ihrem Wege fort, und das alte, liebevolle Familienleben blieb dasselbe. Den Söhnen war ihre Zukunft gewiß, wenn sie fortarbeiteten wie bisher, die jüngern Töchter versprachen zum Theil sehr hübsch zu werden, und waren gutgeartete, und einzelne von ihnen auch begabte Mädchen, von denen man sich jedes Guten und Folgsamen gewärtigen und keine der Besonderheiten fürchten durfte, welche in dem Charakter eines Mädchens zu den Unbequemlichkeiten für die Familien gerechnet werden. Ich meinerseits hatte die Macht der Gewohnheit wieder wohlthätig über mich wirksam gefühlt, und war zu einer verhältnißmäßigen Resignation gelangt. Ich las viel, ging viel in Gesellschaft, und lebte dabei mein Innenleben für mich allein.

Im Herbste verließ mein jüngster Bruder uns, um seine medicinischen Studien in Berlin fortzusetzen. Er war noch nicht einundzwanzig Jahre alt, und der Vater trug Bedenken, den leidenschaftlichen und tollkühnen Jüngling aus seiner Zucht, und namentlich aus der ihn mäßigenden Nähe des ältern Bruders zu entlassen, die [177] sich vielfach behütend und ausgleichend erwiesen hatte, da die Brüder mit der größten Liebe aneinander hingen. Indeß Moritz hatte sich so tief in die Maßlosigkeiten und Thorheiten des sogenannten Studentenlebens in Königsberg verstrickt, der Händel, der Duelle, der ernstlichen Verwundungen waren so viel geworden, daß er selber endlich, da noch ein Liebesverhältniß mit einer verheiratheten Dame dazu kam, die den leicht zu Entflammenden gefesselt hatte, seine Entfernung wünschte. Seine Universitätslehrer, welche sich gegen den Vater sehr günstig über die große Begabung und den glücklichen Blick meines Bruders ausgesprochen hatten, riethen gleichfalls, ihn fortzuschicken, und an einem der letzten Abende vor seiner Abreise, an dem er in schwerer Sorge über eine Kranke war, welche er aus der Polyklinik zu behandeln hatte, kam er, als es schon dunkelte, in meine Stube, setzte sich zu mir an das Fenster, sprach ernst von seiner Kranken, von seiner Zukunft, und fragte dann plötzlich: »was wird denn aus Dir werden?«

Ich war sehr verwundert über diese Frage. Er hatte sich verhältnißmäßig wenig um mich bekümmert. Er war viel außer dem Hause, wußte in der Regel nicht, was im Innern der Familie vorging, hatte dabei Alle von Herzen lieb und pflegte sich gelegentlich darüber zu beschweren, daß ihm Alles verheimlicht werde. Die Geschwister neckten ihn damit, daß er stets mit der Frage: was? – in die Thüre und in die Gespräche hineinfalle, und wenn es sich dann herausstellte, daß er wirklich wieder mehrere Abende nicht zu Hause gewesen war, so that ihm das leid, er ärgerte sich selbst darüber, wollte [178] es ändern, aber ihm fehlte die ertragende Geduld, ohne die man in einer großen Familie nicht auskommen kann. Wenn er dann höchst liebenswürdig und hingebend gewesen war, und eine Weile von all den Kleinlichkeiten hatte sprechen hören, aus denen sich unsere Zufriedenheit zusammensetzte oder unsere Verdrießlichkeiten ihren Ursprung hatten, so sah man, wie unbehaglich ihn das machte, und mit den besten Vorsätzen, häuslich zu sein, lief er davon, um Raum für sich und seine Weise in der Mitte seiner Freunde in dem Wirthshaus seines Studentenkränzchens zu suchen.

Allen hatte er schon Sorge gemacht. Wir hatten ihn bei schweren Verwundungen nach seinen Duellen gepflegt, und seine Geduld im Leiden und seine warmherzige Dankbarkeit waren dann gleich bezaubernd gewesen. Wir hatten manche seiner Thorheiten der strengen Ahndung des Vaters zu entziehen gesucht, ja man war eigentlich immer in Sorge um ihn, denn er stürmte auf sich und sein Leben mit jenem Uebermuthe los, den nur eine Fülle körperlicher und geistiger Kraft zu erzeugen pflegt. Bald hatte er, um einem Zollbeamten zu trotzen, die halbe Nacht bei eisigem Herbstwetter auf einem Balken im Wasser sitzend zugebracht, bald hatte er auf der Anatomie die unnützesten und bedenklichsten Experimente gemacht. Stellte man ihn dann zur Rede, mahnte man ihn zur Vernunft, verwies man ihn auf die Pflicht gegen seine Eltern, so war er eine Weile ernsthaft, aber gleich darauf ging die ganze Helligkeit seines Jugendübermuthes wieder wie Sonnenschein über sein breites, treuherziges Gesicht, und man mußte sich von ihm abwenden, wenn [179] man ihm nicht zeigen wollte, daß man von ihm bestochen, selbst bereits wieder über und mit ihm lachte.

Vor all den Dingen, welche man Familien-Calamitäten nennt, hatte er die größte Scheu. »Davon verstehe ich Nichts!« sagte er, und machte sich aus dem Staube. Aber als Krankenpfleger war er unermüdlich, und seine Jugend schien dann weit hinter ihm zu liegen; ich glaube, er war für das Krankenbett und zum Arzte geschaffen.

Auf seine Anrede: »was soll denn aus Dir werden?« war ich also gar nicht gefaßt gewesen, und ich fragte ihn daher, was er damit wolle? Er wußte es mir Anfangs selber nicht zu sagen, und meinte endlich: »Ich glaube, sie wollen Dich verheirathen.« »Mich?« rief ich aus, »mit wem? wie kommst Du darauf?« »Ich weiß nicht, ich habe so Etwas gehört!« »Aber mit wem denn?« wiederholte ich beängstigt. »Das weiß ich nicht!« versicherte er.

Ich beschwor ihn, mir zu gestehen, was er erfahren, wer davon gesprochen, er wußte aber wirklich Nichts, und hatte in der That nur einmal zufällig von den Eltern ein Wort davon reden hören.

»Du kannst Dir ja denken, mir sagen sie davon Nichts, und das ist mir auch ganz lieb!« versicherte er; und mit einem Male die Stimme ändernd, sprach er sehr zärtlich: »Thu's aber nicht, wenn Du nicht willst! Ich hab's an der N ... (er nannte den Namen der Frau, die ihn beschäftigt hatte) gesehen, es ist eine elende Geschichte, wenn eine Frau sich aus ihrem Manne Nichts macht; und so widerwärtig solch ein Leben als alte Jungfer ist, besser als eine Heirath ohne Neigung ist es doch!« Er kam dann auf seine Zukunft zu sprechen, [180] und daß er gern, wenn er seine Examina gemacht hätte, als Schiffsarzt die Meere durchziehen und die Welt kennen lernen möchte, und nachdem wir stundenlang vor einander die Herzen ausgeschüttet hatten, und ich mit wahrer Angst daran dachte, was man mit mir vorhaben könne, war er schon wieder mit der Ausmalung heiterer Lebensaussichten für sich beschäftigt, und rief, wie er es als kleiner Junge gethan hatte, lachend aus: »Wenn ich nur erst in irgend einem Urwalde bin, und habe einen ordentlichen großen Hund, dann heirathe ich gewiß nicht!«

Er half sich mit solchen Scherzen gern über Rührung und Wehmuth, über Sorgen und Verlegenheiten weg, und es machte eine fühlbare Lücke in unserm Leben, als der immer heitre, von Allen geliebte und umsorgte wilde Bruder nicht mehr bei uns war, hinter dessen übermüthiger Außenseite das weichste Herz und ein feuriger Geist verborgen lagen. Ich aber hatte keine Ruhe mehr seit jener Unterredung, und das angedrohte Unheil ließ denn auch nicht lange auf sich warten.

Moritz war erst kurze Zeit von uns entfernt, als ich eines Vormittags in die Eßstube kam, und den Vater mit zwei andern, mir unbekannten Männern bei einem Glase Wein am Fenster sitzen sah. Darin lag an und für sich nichts Auffallendes, denn es kam öfter vor, daß der Vater einen seiner Geschäftsfreunde, wenn er längere Auseinandersetzungen mit ihm hatte, in die Wohnung hinauf nöthigte. Ich machte also eine Verbeugung und wollte in die Nebenstube gehen, in welcher ich Etwas zu besorgen hatte, aber mein Vater rief mich an, und stellte mir die Herren vor.

[181] Der Aeltere war ein Kaufmann aus einer Provinzialstadt, der Andere, ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, ein zum Landrath erwählter Assessor, der in einer der unwirthbarsten Gegenden der Ostprovinzen, in der Tuchler Heide, seinen Wohnsitz hatte. Wir wechselten einige Worte mit einander, ich machte die gewöhnliche Frage, ob die Herren länger in Königsberg verweilen würden, und erhielt die Antwort, der Aeltere, der Onkel, würde abreisen, der Neffe wolle sich, da er die Stadt nicht kenne, einige Zeit in derselben umsehen, und der Vater lud ihn darauf ein, am nächsten Tage, da dies ein Sonntag war, mit uns zu essen.

Auch das war nur ganz in der Ordnung, aber mir schoß plötzlich der Gedanke durch den Kopf, das könne der mir zugedachte Bräutigam sein, und ich hatte mich nicht geirrt. Der folgende Mittag brachte mir denn seine nähere Bekanntschaft.

Es war Niemand von den gewöhnlichen Sonntagsgästen geladen, wahrscheinlich damit der Prätendent sich um so ungestörter geltend machen konnte, und er that das auch auf seine Weise. Er erzählte von den hübschen Honoratioren-Kränzchen in seinem Wohnorte, beschrieb sein Haus, sprach von seinen angesehenen Verwandten in Berlin und Breslau, und daß er hoffe, bald versetzt und nicht immer Landrath in seinem jetzigen Kreise zu bleiben. Dazwischen nannte er die schönen Hyazinthenspecies, die er erziehe, und schilderte ausführlich und liebevoll das Vergnügen, Krebse bei Fackelschein zu fangen. Das half mir und ihm aber gar Nichts, er mißfiel mir über alle Maßen. Seine untersetzte fette Gestalt, [182] und ein Ausdruck satter, hochmüthiger Selbstzufriedenheit, eine gewisse zuversichtliche und landläufige Sprechweise, und die anmaßende Sicherheit, mit der er sich mir gegenüber stellte, würden ihn mir unangenehm und antipathisch gemacht haben, hätte ich auch nicht eines anderen Mannes Bild und eine leidenschaftliche Liebe für denselben im Herzen getragen; und ich sah meinen Vater, der sonst für Unarten, wie mein Prätendent sie hatte, ein nachsichtsloser Richter war, fortwährend darauf an, ob er den Mann nicht ebenso widerwärtig fände, als ich selbst. Aber der Vater sowohl als die für das Komische leicht zugängliche Mutter schienen diesmal völlig blind. Der Assessor-Landrath kam in dem Laufe der folgenden Tage noch verschiedene Male wieder, meine Schwestern machten ihre Scherze über ihn, die Eltern lobten ihn, und ich war im tiefsten Innern empört und erbittert darüber, daß man nur daran denken konnte, mir einen Mann zum Gatten zu geben, den beide Eltern sicherlich nicht zu unserm Umgangskreise gezogen haben würden, hätte er mich nicht zur Frau zu nehmen gedacht.

Endlich an einem Nachmittage kam das Stubenmädchen mit der Meldung zu mir, der Herr lasse mich bitten, auf des jungen Herrn Stube zu kommen. Jetzt wußte ich, was mir bevorstand, und mit klopfendem Herzen, aber mit fester Ueberzeugung von dem, was ich zu thun hatte, stieg ich die drei Treppen hinauf.

Ich fand meinen Vater allein und sehr bewegt. Er sagte, ich würde mir denken können, weshalb er mich habe rufen lassen. Der Assessor habe ihn um meine Hand gebeten, und er wünsche und hoffe, daß ich mich bereit [183] finden lassen würde, sie anzunehmen. Diese Redeform, die ganz gegen meines Vaters sonstige Ausdrucksweise verstieß, gab mir deutlich kund, daß er selbst von meinem Bewerber nicht eben eingenommen war, und ich erklärte daher unumwunden, daß es mir leid thue, meinem Vater seinen Wunsch und seine Hoffnung nicht erfüllen zu können.

Er schwieg einen Augenblick und bemerkte danach: »Ueberlege Dir die Verhältnisse, mein Kind! Du bist nicht mehr jung, Du bist fünfundzwanzig Jahre. Ich befinde mich leider nicht in der Lage, Dir ein Vermögen zur Mitgift zu geben, man weiß, daß ich kein reicher Mann bin, und ich habe fünf Töchter außer Dir. Zwei davon sind bereits erwachsen, die Andern werden es in wenig Jahren sein, und sechs erwachsene Töchter können sich in einem Hause neben einander nicht wohl befinden. Der Assessor wählt Dich um Deiner selbst willen, das wird vielen reichen Mädchen nicht zu Theil, und Du hast als Frau eines Landraths, der sicher eine gute Carriere machen wird, eine ehrenvolle Stellung und ein gesichertes Auskommen; ganz abgesehen davon, daß eine Frau selbst in einer nicht ganz glücklichen Ehe noch immer besser daran ist, als ein altes Mädchen.«

Ich fragte, ob der Vater diese letztere Erfahrung an seiner jüngsten Schwester gemacht habe, deren unglückliche Ehe uns Allen stets ein Gegenstand des Kummers gewesen war. Er erwiderte mir, der Assessor sei ein Mann von Bildung, den man mit dem Manne meiner Tante nicht zu vergleichen habe, und fügte dann hinzu: »Ich weiß nicht, welche Wünsche und Erwartungen Du in Dir hegst, ich glaube aber, daß sie unbegründet sind, [184] und Du könntest es vielleicht später bereuen, die Hand eines Ehrenmannes ausgeschlagen zu haben. Ein Ehrenmann aber ist der Assessor nach Allem, was ich selbst von ihm gehört und über ihn erkundet habe.«

Die Unterhaltung ging so eine Weile fort. Mein Vater war sehr weich und äußerst gelassen. In mir wogten die verschiedensten Empfindungen auf und nieder. Ich wollte gern auch gelassen bleiben, aber das Herz schlug mir, daß ich kaum athmen konnte, und in den Schläfen hämmerte mir das Blut. Ich mußte solchen Heirathsvorschlägen ein für allemal ein Ende machen, das fühlte ich. Ich erklärte meinem Vater also, daß Nichts auf der Welt mich bestimmen könne, eine Heirath ohne Neigung einzugehen; wenn er mich zu einer solchen zu überreden gewünscht, wenn er die Absicht gehabt hätte, aus mir Nichts zu machen, als eine der Frauen, die sich für ein gutes Auskommen einem Manne verkaufen, so hätte er mir die Erziehung nicht geben dürfen, die ich von ihm erhalten, so hätte er mich nicht selbstständig werden lassen müssen. Mir sei eine Dirne, die sich für Geld verkaufe, wenn sie Nichts gelernt habe und ihre Familie arm sei, nicht halb so verächtlich als ein Mädchen, das genug gelernt habe, um sich zu ernähren, und sich für Haus und Hof verkaufe.

Mein Vater unterbrach mich, da ich heftig geworden war. »Ehe Du weiter sprichst«, sagte er, »will ich Dir nur das Eine noch bemerken. Ich weiß, wie Du an Tante Minna hängst. Ich habe in diesem Falle nicht allein über Dich entscheiden wollen. Ich habe an die Tante geschrieben und sie gefragt, was sie in solcher Lage thun, [185] und ob sie sich nicht berechtigt glauben würde, ihre Töchter zu einer Heirath zu zwingen, wenn sie eine solche ohne vernünftigen Grund von sich wiesen; und die Tante stimmt mir darin bei, daß man alle Mittel aufbieten müsse, solchen Zwang auszuüben.«

Er reichte mir eine Abschrift seines Briefes an die Tante und deren Antwort hin. Ich sollte sie lesen, ich sah sie auch durch, aber ich verstand vor Zorn, vor Scham, vor Kränkung kaum was ich las. Ich fühlte nur, daß man mir mit diesen Briefen den Zusammenhang mit Heinrich habe stören, mir jede Hoffnung auf seine Liebe nehmen wollen, und daß man mich zwingen zu können glaubte. Diese Vorstellung, daß mein Vater, den ich so unsäglich liebte, mich zu zwingen, mich in's Unglück zu stoßen dachte, um, wie ich es in meiner Empörung nannte, der Sorge für mich zu entgehen, brachte mich außer mir.

»Du willst mich zwingen, wie willst Du das machen, lieber Vater?« fragte ich. »Meinst Du mich einzusperren oder mich hungern zu lassen? Oder was kannst Du mir thun, wodurch ich mich zu einer Erniedrigung meiner selbst bewegen lassen würde? Bin ich Dir zur Last, lieber Vater, so sage es, und ich will gehen und mir mein Brod selbst verdienen, da Du mir ja die Mittel hast angedeihen lassen, es zu können; und es wird vielleicht für mich und für uns Alle am besten sein, wenn das geschieht!«

Meinem armen Vater traten die Thränen in die Augen, er mochte darauf nicht vorbereitet gewesen sein, und es mochte ihm plötzlich der Gedanke kommen, daß ich nicht mehr glücklich in seinem Hause und überhaupt [186] nicht glücklich sei. Er nahm mich bei der Hand und sprach mit der Stimme, die mir so unwiderstehlich war: »Fanny! wer denkt denn daran! Aber ich bitte Dich, Dein Vater bittet Dich darum, diese Heirath einzugehen, Du würdest mich und die Mutter sehr glücklich dadurch machen.« –

Ich fing zu weinen an. Den Vater mich bitten zu hören und nicht Ja sagen zu können, zerriß mir das Herz. »Quäle mich nicht, lieber Vater!« flehte ich, »ich kann nicht! ich kann nicht heirathen!« –

Mein Vater saß auf dem Sopha, ich stand vor ihm. Er hatte den Kopf auf die Hand gestützt. Mit einem Male stand er auf. »Also das ist Dein letztes Wort, es bleibt bei Nein!« –

»Ich kann nicht anders!« wiederholte ich.

»Gut denn! also Nein! und ich will hoffen, daß Du es später nicht einmal bedauerst.« Er küßte mich und ging hinaus; als ich ihm folgen wollte, gab er mir die Weisung, zurückzubleiben. »Beruhige Dich erst, und wasche Deine Augen, damit man im Hause nicht sieht, daß Du geweint hast!« sprach er, und ließ mich nach wiederholter Umarmung zurück.

Und ich blieb zurück, um meine Verzweiflung in heißen, bitteren Thränen auszuweinen. Elender als in der Stunde habe ich mich in meinem ganzen Leben nicht gefühlt. Ich habe in spätern Jahren manchen großen Schmerz durchlebt, aber es waren reine Schmerzen, und sie thaten nicht so weh, denn sie kamen mir nicht von einem Vater, den ich mit einem wahren Cultus liebte. Es ist mir viel Unbilliges, viel Unvernünftiges zugemuthet worden, [187] indeß es kam dann von Personen, die mich nicht so kannten, wie ich mich von meinem Vater gekannt wußte oder glaubte, und sie konnten nicht ermessen, wie sie mit ihren Forderungen gegen meine eigenste Natur verstießen. Mir war der Boden unter den Füßen fortgezogen, ich hatte zu Niemandem mehr Vertrauen, nicht zu meinem Vater, nicht zu meiner Tante. Ich sagte mir nur immer: »Wie überlästig muß ich in unserm Hause sein, wie wenig muß selbst der Vater mich kennen, wenn er mich fortstoßen, mich zwingen will, unglücklich zu werden, nur um mich nicht mehr versorgen zu müssen.«

Es war ganz vergebens, daß ich mir vorhielt, wie die meisten Eltern im gleichen Falle das Gleiche thun würden, wie die und jene meiner Bekannten den guten Landrath mit tausend Freuden zum Manne nehmen, wie die meisten Leute finden würden, daß ich eine höchst annehmbare Heirath ausgeschlagen hätte. Ich hielt mir alles Allgemeine vor, um für das Persönliche einen Trost daran zu finden, aber es wollte nicht verschlagen. Ich war einmal nicht wie alle Welt. Es lebte in mir ein großer, starker Glaube an eine hohe Liebe und an eine idealische Ehe, die mir ein Heiliges war; es lebte in mir das Gefühl von der wahren Menschenwürde, die man erniedrigt, wenn man den Menschen zwingen will, gegen sein eigenstes Wesen zu handeln; und all der Jammer, all die Kränkung, all die zornige Empörung, welche aus tausend Frauenherzen den Aufschrei nach Emancipation hervorgebracht haben, ich habe sie von jener Stunde an zu empfinden nicht aufgehört, bis ich erreicht, was ich bedurfte, mich vor der beleidigenden Zumuthung [188] zu sichern, welche in den Worten liegt: »Was soll denn aus Dir werden?«

Diese Worte, die Jeder sich für berechtigt hält, einem unbemittelten Mädchen zuzurufen, schließen ganz einfach und selbstverständlich den Gedanken in sich: »Was soll denn aus Dir werden, wenn Du Dich nicht mit oder ohne Liebe, mit Allem was Du bist, für den Preis Deines Lebensunterhaltes einem Manne in die Arme wirfst?«

Wer aber unsere socialen Einrichtungen, unsere geselligen Sitten und unser Familienleben, so wie sie jetzt sich gestaltet haben, zu lobpreisen vermag, wenn diese Frage einmal an ihn gerichtet worden ist, der hat nicht viel in sich von dem wahren Ehrgefühl und Schamgefühl, ohne die weder Mann noch Frau sich selbst achten, oder wahre Achtung verdienen können.

Ich kann noch heute nicht ohne wirkliches Entsetzen daran denken, was mein Loos gewesen sein würde, wäre ich in jener Stunde weniger selbstgewiß, weniger charakterfest und weniger idealistisch gewesen. Aus Vorurtheil und Kurzsichtigkeit hätte mein sonst so kluger und guter Vater mich in ein für mich unabsehbares Elend gestoßen – und immer noch, wenn ich auf den Höhen des Lebens, im Voll-Genuß des Erhabenen, Großen, Schönen, das es uns zu bieten hat, mein Dasein gesegnet habe, sind mir die Tuchler Heide und der unglückliche Mann eingefallen, die mein Vater mir für meine Zukunft ausersehen hatte. Ich wäre in Verzweiflung an mir selbst zu Grunde gegangen, ohne den mich rettenden Selbsterhaltungstrieb.

[189]
11. Kapitel
Elftes Kapitel

Hier nun scheint es mir am Orte, abgesehen von meinem eigenen Leben und von meinen persönlichen Erfahrungen, es noch einmal gründlich auszusprechen, wie tief man den Zustand und die Lage der Frauen dadurch herabdrückt, daß man den Töchtern in den Familien des mäßigbegüterten Mittelstandes das Recht auf eine verständige gewerbliche Thätigkeit entzieht, und ihnen damit die Möglichkeit einer ehrenvollen Unabhängigkeit versagt.

Wohin man sich wendet, kann man die Klage vernehmen, daß von Jahr zu Jahr die Zahl der unverheiratheten Frauenzimmer zunimmt. Man braucht sich nur in unsern Gesellschaften umzusehen, um sich zu überzeugen, wie viel Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sich hinter den bleichen Gesichtern jener alternden Mädchen verbergen, die mit allem ihrem guten Willen sich zu helfen und mit dem erzwungenen Lächeln, die Traurigkeit ihres armen Daseins nicht abändern und nicht verbergen können.

Kaum in eine Familie kann man eintreten, die nicht in ihrer Verwandtschaft alternde und unverheirathete Schwestern oder Töchter hätte, welche gelangweilt und müde, ohne eigene Freude und Hoffnung, ein leeres, nutzloses Dasein führen, und sich ohne Lust von einer [190] Gesellschaft und Vergnügung zu der anderen hinschleppen, nur um einen Wechsel in die Oede ihrer Tage zu bringen. Sich selbst zur Last, in vielen Fällen auch den Ihren eine schwere Last, hört man die Frage: wohin mit ihnen? was soll man mit ihnen machen? Und da man sich die rechte Antwort aus Vorurtheilen nicht geben mag, bescheidet man sich, die alten Mädchen in der Gesellschaft und in den Familien als ein unvermeidliches Uebel zu ertragen.

Ich habe mich erst nach meinem vierzigsten Jahre verheirathet, und wenn ich auch durch meine schriftstellerische Thätigkeit von meinem dreißigsten Jahre ab eine Ausnahmestellung, und deshalb von dem Uebelwollen und von der halben Lächerlichkeit nicht zu leiden gehabt habe, welche die alten Jungfern verfolgen, so hat doch auch mir die Gelegenheit nicht gefehlt, es zu beobachten, was es mit dem kläglichen Dasein eines unthätigen, unnützen Mädchens auf sich hat, dem in den meisten Fällen die Ueberzeugung nicht erspart bleiben kann, daß es zu Niemandes rechter Freude auf der Welt ist.

Gegen dies Elend, das nicht wegzuleugnen ist, giebt es nur ein Mittel – die Emancipation der Frauen zu Arbeit und Erwerb, von der ich schon einmal in diesen Aufzeichnungen gesprochen habe, und auf die immer wieder anmahnend zurückzukommen, der Verlauf meiner Lebensgeschichte mich zwingen wird.

Keine bürgerliche Familie auf der Welt hat es Hehl, daß sie bei der Erziehung eines Sohnes das Ziel im Auge hat, ihn so früh als möglich zu selbstständigem Erwerbe fähig zu machen. Man gesteht es mit Freude [191] und Genugthuung ein, wenn der Sohn es mit zwanzig Jahren einmal dahin gebracht hat, dem arbeitsbeladenen Vater nicht mehr zur Last zu fallen. Man spricht damit unumwunden aus, daß in den Familien unserer Mittelstände die Ernährung erwachsener Kinder eine Last ist, und man bedenkt es nicht, welchen Eindruck es auf die etwa anwesenden Töchter machen muß, sich in solcher Weise stillschweigend als schwere Bürde für den Vater bezeichnet zu sehen. Aber man geht darin noch weiter.

Während man es für einen jungen Mann als eine Sache der Ehre ansieht, sich sein Brod zu erwerben, betrachtet man es als eine Art von Schande, die Töchter ein Gleiches thun zu lassen, wie das auch in meinem Vaterhause so geschah. Bringt irgendwo die Nothwendigkeit es mit sich, daß ein Mädchen für ihren Unterhalt arbeitet, nimmt eine Kaufmannstochter, eine Geheimrathstochter, eine Professorentochter eine Stelle als Lehrerin, als Gesellschafterin, als Kinderwärterin oder Haushälterin an, so wird dies Ereigniß irgendwie beschönigt. Es heißt: die Tochter habe eine unwiderstehliche Neigung, die Welt kennen zu lernen, sie habe eine so große Vorliebe für den Verkehr mit Kindern, sie solle sich doch auch einmal Jahr und Tag unter fremden Menschen bewegen lernen. Man erfindet irgend eine Verwandtschaft oder Bekanntschaft mit den Familien, in welche das Mädchen eintreten soll, um der Sache einen unverfänglichen, gemüthlichen und vornehmen Anstrich zu geben; aber man entschließt sich nur in den seltensten Fällen dazu, einfach zu sagen: das Mädchen geht fort, um sein Brod zu verdienen, um doch etwas zu thun, um uns das [192] Leben zu erleichtern; und man nimmt ihm damit die Genugthuung, seinen Entschluß von Andern gebilligt und anerkannt zu sehen, man nimmt ihm die Freude, mit welcher es vielleicht seinen Beruf ergriffen hat, und die frische, gehobene Stimmung, mit welcher man einer neuen Lebenslage entgegen treten muß, um Behagen und Fortkommen darin zu finden.

Eben so geht man zu Werke, wenn die Töchter endlich hie und da Unterricht ertheilen; und doch sind Gouvernanten- und Gesellschafterinnenstellen und Unterrichtgeben noch diejenigen Broderwerbe, welche durch die oft wiederkehrende Nothwendigkeit, sich ihnen zu unterziehen, gewissermaßen als anständig, und angesehener Familien nicht unwürdig betrachtet werden. Aber es giebt zahlreiche Mädchen, denen die Kenntnisse, die Anlage für geistige Beschäftigung fehlen, die nicht lehren und erziehen können, die aber nichtsdestoweniger mittellos, also ebenfalls in der Lage sind, ihr Brod verdienen zu müssen. Auch diesen tritt das Vorurtheil entgegen, daß Broderwerb eine Schande für eine Frau oder ein Mädchen aus guter Familie sei, und nöthigt sie, es zu verheimlichen, daß sie für Magazine sticken und nähen. Jahrelang habe ich in der Berliner Gesellschaft die Wittwe und die drei Töchter eines Generals gesehen, welche von der Wittwenpension der Generalin, von fünfhundert Thalern, unmöglich leben konnten. Man wußte, daß sie sich zu Hause Entbehrungen aller Art aufzuerlegen hatten, und dazu saßen die unglücklichen alternden Mädchen in den Gesellschaften da, emsig an Tapisserie-Arbeiten nähend, und immer ihr Entzücken an diesen Nähereien aussprechend, während [193] jeder Verständige sich fragen mußte: wie können Leute in so beschränkter Lage so unvernünftig viel Geld an nutzlose Arbeiten, an eine bloße kindische Liebhaberei verschwenden?

Die Generalin fand es »gentil«, ihre Töchter mit dieser Liebhaberei für Wolle und Canevas thöricht erscheinen zu lassen. Einzugestehen, daß die braven Mädchen noch bis spät am Abende, noch in der Gesellschaft, für ihr Brod arbeiteten, wäre »nicht gentil« gewesen; dafür würde es aber vielleicht manchem Manne, mit dem die Generalin eine ihrer Töchter gern verheirathet hätte, Achtung vor den armen Personen gegeben haben, über die man sich jetzt lustig machte. Ihr beharrlicher Fleiß würde vielleicht einer oder der anderen von ihnen zu einer Ehe mit einem der verständigen Männer verholfen haben, die jetzt das ewige rastlose Tapisserienähen in der Gesellschaft einfältig und thöricht fanden.

Hat in einer Familie ein Sohn keine Anlage zum Studiren, so ist man gern geneigt, ihn Kaufmann, Maschinenbauer, Techniker und in guten, verständigen Bürgerfamilien auch Handwerker werden zu lassen. Der junge Mensch steht am Werktisch, am Verkaufstisch, am Pulte seines Magazins, verkehrt mit der Außenwelt, verkehrt mit seinen Collegen, und hat er sonst eine gute Erziehung genossen, so sieht man in seinem Eintritt in das Leben keine besondere Gefahr. Für das besterzogene, innerlich tüchtigste Frauenzimmer aber würde man bei solchem Schritte gleich wieder Bedenken tragen. Das heißt, man würde den Töchtern, auch den besten, die Schmach anthun, sie durch ihre ganze Jugend – und in diesem Falle dehnen [194] die Familien die Zeit der Jugend für ihre Töchter übermäßig lange aus – für moralisch unselbstständig, für sittlich unzuverlässig zu halten. Aus der Besorgniß, daß sie sich wie Unmündige betragen könnten, erhält man sie also lebenslang in einer Unmündigkeit, in der aus ihnen unmöglich etwas Rechtes werden kann.

Aber es ist nicht überall so in der Welt, und es kann und wird auch bei uns in Deutschland nicht immer so bleiben. In Amerika, wo die weibliche Jugend der Mittelstände, bei guten Sitten und feinen Manieren, doch viel selbstständiger ist als bei uns, arbeiten zu Lowell in den Fabriken die Töchter angesehener Bürger aus dem ganzen Staate, und man hat für sie sogar eigene Logirhäuser eingerichtet, in denen sie leben, bis sie wieder in ihre Familien zurückkehren, nachdem sie sich eine mehr oder weniger große Summe für ihre Ausstattung erworben haben. In Genf werden wohlerzogene Mädchen in den Uhrenfabriken beschäftigt, in Belgien in den Comptoirs und Bureaus der Eisenbahnen, in Frankreich sind die Frauen und Töchter der Kaufleute bei der Buchführung thätig. In Bern leisten die geschickten Hände und die Sauberkeit von Frauen die vortrefflichsten Dienste bei der Bereitung von mikroskopischen Präparaten, und selbst bei uns in Deutschland findet man eine Anzahl von Putzläden, Weißzeug- und Tapisserieläden, die von Frauen geleitet werden, zum Theil auch Frauen zu Besitzern haben, und die in der Regel vortrefflich gedeihen. Denn die Frauen sind meist häuslicher als die Männer, haben weniger Bedürfnisse und einen Sinn für Ordnung und für das Detail, Eigenschaften, welche bei jeder Geschäftsführung [195] von großem Nutzen sind. Aber bei uns in Deutschland sind es bis jetzt meist nur die nicht Gebildeten, die Familien des sogenannten kleinen Bürgerstandes, welche ihre Töchter zum Broderwerb erziehen.

Es kommt also, um die nöthige Reform in den Berufsverhältnissen der Frauen zu machen, wie es mich bedünken will, hauptsächlich auf die Einsicht und Ehrlichkeit der gebildeten und nicht reichen Familien an, und auf den guten Willen ihrer Töchter, den zu bezweifeln man Unrecht thäte; denn es sind gar zu viele unter ihnen von stillem, schwerem Leid, und von noch schwererer Hoffnungslosigkeit bedrückt.

Finden sich gebildete, den sogenannten guten Ständen angehörende Familien, die es kein Hehl haben, daß sie ihre erwachsenen Töchter nicht leicht erhalten, daß sie ihnen keine Mitgift zu geben, keine ausreichende Versorgung für ihr Leben zu bieten vermögen, entschließt man sich, diese Töchter eben so gut wie die Söhne etwas Ordentliches lernen zu lassen, erwerben sie sich die Kenntnisse von Buchführern, von Gehülfen in Kaufmannsgeschäften, entschließen sie sich, Handwerke zu erlernen, welche innerhalb ihrer Fähigkeiten liegen, so werden sie mit der Zeit auch Beschäftigung, mit der Beschäftigung Erwerb, mit dem Erwerb Freude am Leben, und eine relative Freiheit und Selbstständigkeit gewinnen. Die Eltern werden dann häufiger Gelegenheit finden, ihre Töchter zu verheirathen, denn es ist leichter einen Hausstand zu begründen, wenn Mann und Weib gemeinsam für den selben arbeiten, als wenn der Mann allein die Frau ernähren soll, die Nichts gelernt hat, als ihre Zeit in müßiger Weise mit [196] Haushaltungsdetails hinzubringen, welche in der Hälfte dieser Zeit abzuthun sind, und Luxusarbeiten oder schlechte Musik zu machen, welche besser gänzlich unterblieben.

Die Hauptsache aber ist, daß die Ehe nur dann in ihr wahres Recht eingesetzt, nur dann zu der idealen Schönheit erhoben werden kann, die freierwählte, freigeschlossene Verbindung gleichberechtigter Gatten zu sein, wenn sie aufhört, für die Frauen den einzig möglichen Weg zu materieller Versorgung und zur Begründung ihrer gesellschaftlichen Geltung darzubieten.

Man behauptet, für die Frauen sei die Liebe die Hauptsache im Leben. Das ist unter uns nicht der Fall und darf in den jetzigen Zuständen kaum der Fall sein. Man würde richtiger sagen: wie die Verhältnisse liegen, ist die Ehe die Hauptsache für die Frau, ja nicht allein die Hauptsache, sie muß nur zu oft für sie eine Sache der Berechnung werden, und ist das jetzt auch fast überall für die Mädchen und für ihre Mütter. Diese Zustände haben den weiblichen Charakter in der Masse verdorben. Was man von der Selbstlosigkeit unseres Geschlechtes, was man von dem Egoismus der Männer in ihrem Verhalten gegen die Frauen behauptet, und als ein Axiom in den weiblichen Katechismus aufgenommen hat, ist nach meinen Erfahrungen und nach meiner Ueberzeugung, das Eine wie das Andere, zum größten Theile eine Unwahrheit.

Neun Zehntheile der unglücklichen Lieben und Leidenschaften, mit denen die weibliche Jugend in sich zu kämpfen hat, sind nur eine natürliche Folge ihrer mißlichen Lage und ihrer schlechten Erziehung; und die meisten jungen [197] Männer sind in gewissem Sinne bei ihrem Eintritt in die Gesellschaft weit naiver, als die Mädchen in dem gleichen Zeitpunkt. Das aber ist natürlich, denn die Männer sind freier, und ihr Verhältniß zu den Mädchen ist daher unbefangener, absichtsloser, und also schöner als das der Mädchen zu den Männern.

Ein junger Mann, der ein Mädchen hübsch, gescheut, angenehm findet, verräth ihr das in der Regel so unbefangen, so absichtslos, wie man seine Freude am schönen Wetter ausspricht, und weil sie ihm wohlgefällt, möchte er ihr auch gefallen. Er bemüht sich, ihr im besten Lichte zu erscheinen, er leistet ihr kleine Dienste, die ihr Freude machen, er sucht sich die liebliche Empfindung, welche ihre Nähe ihm bereitet, so oft als möglich zu verschaffen, er macht ihr also, wie man das nennt, in aller Form den Hof. Er kann aber dies Wohlgefallen für drei, vier Mädchen zu gleicher Zeit in sich tragen, ohne bei einer einzigen zu denken, daß eben sie seine Frau werden solle; denn seine täglichen Berufsarbeiten erinnern ihn daran, daß er vorläufig noch Anderes zu thun habe, als an das Heirathen zu denken. Er hat ernsthafte Beschäftigungen, ernste Interessen, das Wohlgefallen an dem jungen Mädchen ist ihm eine Freude, ein Genuß. Die aufwallende Neigung, die aufdämmernde Liebe bleiben ihm ein reines Empfinden, weil er weiß, daß seine Verhältnisse es ihm nicht erlauben, ein Verlangen daran zu knüpfen. Er kann, wenn er nicht zufällig sich einem reichen Mädchen gegenüber findet, keinen Vortheil davon erwarten, er baut keine Plane darauf, seine Zukunft, seine Existenz haben gar keinen Zusammenhang damit. [198] Er liebt um der Schönheit, um der Liebe willen. Und treten dann Hindernisse, tritt eine Trennung zwischen ihn und den Gegenstand seiner Neigung, so kann er vielleicht davon schwer getroffen werden, aber auch hier bleibt sein Schmerz rein; denn sein Verlust ist nur ein geistiger, und er steht in allen seinen übrigen Beziehungen, er steht in Betracht seines ganzen Lebensplanes und Lebensweges unangetastet da, mag das Mädchen ihn lieben oder sich von ihm wenden.

Bei den Mädchen ist das nicht der Fall. Von ihrer frühesten Jugend an wird ihnen die Ehe als ihr einziger Lebensberuf vorgehalten, und wenn sie mit fünfzehn, sechszehn Jahren die Schule verlassen, die Einsegnung überstanden haben, so treten sie trotz ihrer Unfertigkeit als berechtigte Mitglieder in die Gesellschaft ein. Unreif, mangelhaft unterrichtet, unausgebildet für irgend einen ernsten Zweck, werden sie dem Manne gegenüber gestellt. Ohne Lebensplan, ohne einen Ehrgeiz, ohne Aussicht auf Selbstständigkeit durch ihr eigenes Thun, bleibt ihnen keine Hoffnung für ihre Zukunft, als die Ehe. Man bewacht, man behütet sie vor jeder Neigung, vor jeder Liebe, die nicht die sichere Anwartschaft auf die Ehe, auf die bürgerliche Versorgung in ihrem Gefolge hat. Das zur Liebe vorzugsweise geschaffene Geschlecht soll gar nicht lieben, sondern vor allen Dingen sich verheirathen. Sorgfältige Mütter und Väter halten von ihrem Hause und von ihren Töchtern diejenigen Männer fern, die denselben Neigung einflößen und keine Versorgung bieten könnten, und während es keinem Manne Nachtheil bringt, wenn man von ihm aussagt, er habe für diese oder jene junge [199] Schöne eine Liebe empfunden, ist es dem Rufe eines Mädchens schon nicht vortheilhaft, wenn es heißt, sie habe Jemand geliebt, dessen Frau sie nicht geworden ist.

So ist es denn jetzt allmählig dahin gekommen, daß ein Jüngling, ein junger Mann, einem Mädchen ohne jeden Nebengedanken von Herzen huldigen, und kaum ein Mädchen die Huldigungen eines Mannes annehmen kann, ohne sehr bald darauf bestimmte Ansprüche zu gründen und an die Ehe zu denken. Die Partie ist dadurch aber gänzlich ungleich. Denn der junge Mann sucht in der Gesellschaft das Vergnügen, das Mädchen hat man dahin gebracht, dort unter der Hülle und unter der Aegide des Vergnügens ihre Versorgung durch den Mann zu suchen – und ich wiederhole es, das hat den Charakter des weiblichen Geschlechtes im Allgemeinen heruntergebracht.

Es giebt wenig unbemittelte Mädchen von starkem Selbstgefühl, wenig entschlossene muthige Naturen unter ihnen, welche die Kraft behalten, zu lieben um der Liebe willen, und einen ihnen nicht zusagenden Mann zurück zu weisen, wenn derselbe ihnen eine Versorgung und eine nur einigermaßen gute Stellung in der Gesellschaft zu bieten hat. Sie werden deshalb auch in der Mehrzahl zu Schmeichlerinnen und zu Sklavinnen des Mannes erzogen, der sich um sie bewirbt, und werden deshalb folgerichtig seine Tyrannen, wenn die Bewerbung dann ihr Ende erreicht, die Ehe Mann und Weib für immer aneinander gebunden hat, und der Frau die materielle Existenz und die gesellschaftliche Stellung begründet sind, welche sie erstrebte. Die Folge davon ist der Hochmuth und die Nichtachtung der Männer gegen [200] die Frauen. Sie haben nicht Unrecht mit der Behauptung, welche man von ungebildeten Männern überall vernehmen kann, daß sie nur zu wollen brauchen um jedes Mädchen haben zu können.

Dazu kommt noch, um die Achtung der Männer und die würdige Haltung der Mädchen zu verringern, daß die Frauen in ihrer Arbeitslosigkeit so sehr dazu geneigt sind, sich müßigen Einbildungen hinzugeben. Was der huldigende Mann dem Mädchen an Freundlichkeit erweist, wird meist ernsthafter genommen, als es von ihm gesagt ward. Während er am nächsten Tage des heiter gesprochenen Wortes in seinem Comptoir, auf der Anatomie, bei seinen Akten kaum gedenkt, sitzt das Mädchen und grübelt darüber nach, wendet und deutet es, und legt es zurecht nach ihren Wünschen. Woran sie am Morgen noch zweifelt, das glaubt sie am Mittag, weil sie es glauben zu können wünscht. Sie tritt ihrem jungen Verehrer also bei dem nächsten Zusammentreffen zuversichtlicher entgegen. Das steigert sein Vergnügen, macht ihn freundlicher, und von Tag zu Tag in gleicher Weise vorwärts gezogen, finden die jungen Herzen sich bald auf einem Wege, den zu betreten sie vielleicht Beide nicht Willens waren.

Das Mädchen, das ein weit positiveres Interesse daran hat, geliebt zu werden, als der Mann, ist sich daher ihrer Empfindung auch viel schneller bewußt, und nur zu geneigt, die gleiche Empfindung in dem Geliebten vorauszusetzen. Durch keine Thätigkeit von sich selber abgezogen, wird ihr schnell zur Hauptsache, zum Mittelpunkte ihres Lebens, was dem Manne noch ein Nebensächliches [201] ist. Seine Ruhe steigert ihre Ungeduld, sie sieht und berechnet deshalb die Schranken nicht, welche den Mann, selbst wenn seine Liebe der des Mädchens gleich ist, von der Erreichung seiner Wünsche abhalten. Kommt nun durch zwingende Verhältnisse die Nothwendigkeit des Scheidens heran, so findet sie gewöhnlich den Mann, der täglich den Bedingnissen des praktischen Lebens gegenübersteht, noch der Ueberlegung fähig, und damit der Fassung fähig und Herr über sich selbst, wo das Mädchen ohne die erhebende Kraft einer selbstbestimmenden Wahl, ohne Thätigkeit, ohne Hinblick auf irgend ein zu erreichendes Ziel, plötzlich vor der Zerstörung aller ihrer Hoffnungen, einem ohnmächtigen Verzagen zur Beute wird.

Der Mann geht mit seinem Schmerze an die Arbeit und in das Leben hinein, das Mädchen bleibt mit ihrem Schmerze sitzen, und dumpfes Verzagen macht schnell alt. Man hat nicht viel Mitleid mit einem Manne, der seine Geliebte nicht zur Frau bekommt, aber man bedauert ein Mädchen in der gleichen Lage, und Bedauern drückt vollends herab. Jenem sagt man: arbeite, zerstreue Dich, und Du wirst vergessen! Dieser bedeutet man: tröste Dich!

Aber woran? womit? – Etwa mit dem Hinblick auf die Familie, die in der Regel ebenso betrübt ist, die Tochter nicht versorgt zu wissen, als diese, nicht genug Liebe gefunden zu haben!

[202]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

In einem solchen Augenblicke dumpfer Betrübniß befand ich mich nach dem von mir nicht angenommenen Heirathsantrage. Meine Mutter war verstimmt und besorgt, aber sie und ich sprachen mit einander kein Wort von dem Vorgefallenen. Mein Vater war gleich wieder in das alte Gleis gekommen, ihn brachte Nichts leicht aus seiner Fassung. Er verkehrte mit mir ganz wie früher, nur ich konnte mich nicht wieder zurecht finden, weil ich mir immer sagen mußte, er hätte es doch lieber gesehen, wenn ich gegangen wäre, wenn er mich nicht mehr um sich gehabt hätte. Meinen ältern Geschwistern that ich leid. Anderseits aber sahen sie die Betrübniß der Mutter, ich selber erzählte ihnen, daß der Vater sich bis zu einer Bitte gegen mich herabgelassen und daß ich dennoch nicht nachgegeben hätte; das that ihnen für den Vater wehe. Es kam ihnen, ja es kam mir selber unbegreiflich vor, wie ich das zu thun vermocht hatte. Sie waren mit sich nicht im Klaren, aber sie waren, soweit sie schon eine Meinung haben konnten, doch mehr oder weniger auch der Ansicht, daß ich wohl hätte nachgeben und heirathen können, weil ja so viele meiner Bekannten sich in solcher Weise verheirathet hatten, und weil ich [203] doch, nach den üblichen Begriffen, in einer für ein Mädchen nicht vortheilhaften Stellung war.

Leopold, der mich geliebt hatte, war gestorben, und Niemand wußte eigentlich recht, weshalb wir uns die letzten Jahre vor seinem Tode nicht mehr gesehen, und ob er sich nicht vielleicht freiwillig von mir zurückgezogen hatte. Heinrich Simon, den ich liebte, hatte nur Freundschaft, oder wenigstens nicht die Art der Liebe für mich, die es ihm zur Nothwendigkeit gemacht hätte, mich zur Frau zu nehmen; und daß sich noch viele Bewerber um ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren finden würden, das so ausschließlich mit dem Gedanken an einen Andern beschäftigt war, dazu gab es keine sonderliche Aussicht. Man nahm also in der Familie an, ich würde eine alte Jungfer werden, und ich selbst war davon überzeugt. Mit sechszehn Jahren in die Gesellschaft eingetreten, kam ich mir und meinen Bekannten nicht mehr jung vor. Ich hatte neun Jahre auf den Bällen getanzt, es waren ein paar Generationen junger Mädchen und Männer an mir vorübergegangen, die ich als Kinder gekannt, während ich schon für erwachsen gegolten hatte. Meine Freundinnen hatten sich zum großen Theil verheirathet, sie waren die Einen reizender und vermögender, die Andern nur auf ihre Versorgung bedacht gewesen, ich war übrig geblieben. Mich dem neuen Nachwuchs zuzugesellen, war ich zu ernsthaft. Ich hatte immer nur mit Personen verkehrt, die älter gewesen waren als ich, und so schloß ich mich denn jetzt nur noch an ältere Frauen und Männer an, und entfernte mich dadurch nur noch weiter von der Jugend. Mit fünfundzwanzig Jahren galt ich für alt, [204] und hielt ich mich für alt! Es war der Mangel an einem Lebensberuf, der das verschuldete.

So gingen meine Tage hin. Die große Liebe, welche die Eltern und uns Kinder unter einander verband, half über das Unbehagen des Augenblickes fort, ich übernahm wieder meinen Wirthschaftsmonat, ich bemühte mich gut und dienstbar zu sein, um meine Anwesenheit im Hause wohlthuend zu machen; aber ich konnte das Gefühl nicht los werden, daß ich eben für diese Anwesenheit um Entschuldigung zu bitten habe, und die Traurigkeit, welche dies Gefühl in mir erweckte, mag mich gewiß nicht liebenswürdiger gemacht haben. Ob ich berechtigt war, so zu empfinden, ob Jede an meiner Stelle so empfunden hätte, will ich unerörtert lassen. Für mich stand die Thatsache fest und lastete auf mir, obschon die Männer in der Familie, der Vater und die Brüder, bald Mitleid mit mir fühlten, und mir noch mehr Liebe zuwendeten, als sie mir vorher bewiesen. Sie konnten ermessen, was mich drückte, der Mutter und den noch sehr jungen Schwestern mußte das Verständniß dafür fehlen.

Etwas thun, etwas Ersprießliches vornehmen und die Ueberzeugung gewinnen, daß ich Etwas für den Vater und für die Familie schaffe, wollte ich doch um jeden Preis, und so kam ich eines Tages auf den Einfall, mir ein kleines Buch zu machen, in welchem ich mit peinlicher Sorgfalt verzeichnete, wie viel Taschentücher ich an dem Tage gesäumt, wie viel Paar Strümpfe ich gestopft, was ich überhaupt für die Familie mit Nähen, Schneidern, Musikunterrichtgeben geleistet hatte, und mir dies nach seinem Geldwerthe am Ende des Monates zu [205] berechnen. Klein wie die Summen waren, verschafften sie mir doch eine gewisse Genugthuung, aber die Rathlosigkeit meiner damaligen Lage trat mir klar vor Augen, als ich einmal in viel späteren Jahren das unglückliche kleine Buch wieder zu Gesichte bekam, und das lange Register der genähten Küchenhandtücher und der gezeichneten Strümpfe, bei Groschen und Pfennigen berechnet, übersah.

Daß ich mich als Schriftstellerin versuchen, daß ich mir als Uebersetzerin eine Thätigkeit, einen Broderwerb, und damit die Möglichkeit freier und völliger Entwicklung schaffen könne, daran muß ich wohl nie gedacht haben, denn ich erinnere mich nicht, in jener Zeit den geringsten derartigen Versuch gewagt zu haben. Mein Sinn war dafür zu gelähmt, es lagen auch solche Gedanken nicht innerhalb des Kreises, in welchem ich mich bewegte, und ich war wieder ganz und gar in das Familienleben und in die Ansichten meines Vaters eingebannt.

Trotz alledem aber hegte ich in gewissen Stunden in mir einen unzerstörbaren Glauben an die Zukunft, und mit ihm an ein ideales Leben, das weit ablag von der Sphäre, in welcher ich mich bewegte. In der Regel verschwieg ich das, und man war dann mit mir auch wohl zufrieden. Nur bisweilen wenn einerseits die Sehnsucht nach dem Entfernten, und andererseits das Verlangen nach freierer Bethätigung meiner Kräfte, die meist Hand in Hand in mir gingen, mich einmal übermannten, und ich, von der Lebhaftigkeit dieser Empfindungen hingerissen, ihnen Worte lieh, dann klaffte plötzlich der Riß zwischen mir und meiner Umgebung, zwischen meiner [206] Gegenwart und meinen Wünschen für die Zukunft auf, und dann gab es immer schmerzliche Scenen und Auseinandersetzungen, die wieder für eine geraume Zeit trübe Schatten über meine Tage warfen.

Es war seit längerer Zeit eingeführt worden, daß wir, wenn wir in der Stadt waren, zweimal in jeder Woche spazieren fuhren, damit die Mutter frische Luft genießen konnte. Im Winter kam dann um drei Uhr Nachmittags eine geschlossene Kutsche, in welcher man eine Stunde umherfuhr, im Sommer um sechs oder sieben Uhr, je nachdem mein Vater sich frei machen konnte, ein Stuhlwagen, auf dem die ganze Familie Platz hatte, und man suchte womöglich eines der nahe gelegenen Dörfer zu erreichen, um dort im Freien ein mitgenommenes Abendbrod zu verzehren. Wir langten nach solchen Fahrten natürlich erst im Dunkeln wieder in der Stadt an, und namentlich im Herbste erschienen mir dann gegen die scharfe, frische Luft, welche draußen geweht, gegen den weit ausgespannten hell funkelnden Sternenhimmel, die Atmosphäre in den schmalen Straßen, und die hohen, engen Häuserreihen immer sehr drückend und befangend.

Nun hatte es sich zufällig gefügt, daß wir mehrmals hintereinander ein Dorf besucht hatten, zu welchem der Weg durch den Stadttheil führt, den man Löbenicht nennt, und in welchem die Brauer wohnen. Die ganze Hauptstraße des Löbenicht, die Löbenichtsche Langgasse, lag immer von beiden Seiten voll Bierfässer, die ganze Luft roch nach geschrotetem Malz und saurer Hefe, überall gab es Dampf und Qualm, und während mir dies an [207] sich unangenehm war, so hatte ich von dem Stuhlwagen aus im Vorüberfahren bequem in die Parterre-Wohnungen der schmalen, hohen Häuser hineinblicken können, und die Bemerkung gemacht, mit welcher Regelmäßigkeit überall die Familien Abends in ihren Stuben auf demselben Flecke saßen. Der Vater rauchte, die Mutter strickte, die Kinder arbeiteten. Das war einmal wie allemale, und dazu waren die Fenster geschlossen; und grade über in dem Hause saßen sie ebenso, und daneben auch ebenso – es überfiel mich eine wahre Angst. Ich dachte, aus dieser Stube gehen sie zu Bett und schlafen acht Stunden, und morgen kommen sie aus der Schlafstube wieder in diese Wohnstube, und wenn das Glück gut ist, dann ist über zwei und drei und fünf Jahre das Alles ganz ebenso wie heute, nur daß die Kinder größer sind und vielleicht ein paar Kinder mehr an dem Tische sitzen. Und über eine Weile dann sterben sie, und denken doch auch auf der Welt gewesen zu sein und gelebt zu haben!

Meine Empfindungen und meine Gedanken blieben sich bei dem Anblick immer gleich; aber sie müssen einmal besonders stark gewesen sein, denn ich konnte sie nicht verschweigen und brach plötzlich in den Ausruf aus: »Herr Gott! wenn ich lebenslang solch' ein Dasein haben sollte, ich müßte verzweifeln!« – »Was das wieder für eine Aeußerung ist!« tadelte mein Vater. Ich bereute es innerlich auch schon, sie gethan zu haben, und die Sache war damit für den Augenblick abgemacht. Indeß irgend ein unglücklicher Zufall erinnerte bei dem nächsten Abendbrode noch einmal daran und es kam zu sehr peinlichen Erörterungen darüber.

[208] Mein Vater machte mir den Vorwurf, daß ich unberechtigte Ansprüche an das Leben erhebe. Meine Mutter, die sich sonst in dergleichen Verhandlungen mit mir nicht mischte, fühlte sich hier auf ihrem Grund und Boden, und meinte, es sei traurig, daß mir der rechte Sinn für das Familienleben abgehe. Mein ältester Bruder nannte das Stillleben, auf das wir im Löbenicht hingesehen hatten, die eigentliche Poesie des Familienlebens, und fand es höchst »gemüthlich«. Man fragte mich, wonach ich denn eigentlich verlange, ob ich meine, daß in den Salons der großen Welt mehr Glück zu finden sei? ob ich Pracht und Glanz und Reichthum haben müsse, um zufrieden zu sein?

Ich war dem Weinen nahe, und schüttelte immer nur den Kopf, um Nein zu sagen, während ich nach Fassung rang, denn es war eigentlich gar nicht abzusehen, weßhalb Alle eben jetzt und eben bei diesem Anlaß so unerbittlich über mich herfielen. Es geschieht aber überall so, im Leben des Einzelnen wie in der Welt, daß sich, wo eine Unzufriedenheit herrscht, im Stillen allmählig ein Brennstoff anhäuft, den dann ein kaum sichtbarer Funke zum plötzlichen Auflodern bringt, so daß alle Theile überrascht dastehen und kaum begreifen können, woher das Feuer gekommen sei, und wie es solchen Umfang habe erreichen können.

Ich versicherte, daß ich mit meinem Ausruf in dem Augenblicke wirklich nicht an mein Loos und an unser Haus gedacht hätte. Mir sei nur, gegenüber dieser dumpfen Glückseligkeit, das Goethe'sche Wort eingefallen: »Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an!« Ich läugnete [209] es aber nicht, daß ich mir ein Leben schrecklich denke, in welchem nach der täglichen Arbeit jeder Abend die gleiche Erholung, den Strickstrumpf und die Zeitung bringe. Ich könnte, sagte ich, diese Art Menschen um ihre Selbstzufriedenheit, um ihr Gefühl von Wichtigkeit, von Unentbehrlichkeit, das man ihnen ansehe, von Herzen beneiden, wenn ich es nur eine Stunde im Leben empfunden hätte!

Damit hatte ich allerdings die Wahrheit ausgesprochen, aber in Bezug auf meine persönliche Lage etwas durchaus Ungehöriges und mir Nachtheiliges gethan. Ich wurde meiner Mutter unangenehm dadurch, mein Vater mußte, seinen Grundsätzen nach, solche Aeußerungen in Gegenwart der jüngern Töchter durchaus tadeln, und ich sollte nun, um die Sache abzuthun, auf seine festgestellte Frage antworten: was ich mir denn eigentlich denke, und was ich wolle?

Das war ich nicht im Stande. Ich fing mitten in der Familie wie ein Kind zu weinen an. Alles war gegen mich, ich selbst war mit mir unzufriedener als je, und ich eilte mit stürzenden Thränen auf mein Zimmer, um mir das Herz frei zu schreiben.

Heinrich Simon hatte mir nämlich ein Jahr nach unserer Trennung ein Buch zum Geburtstag geschenkt, mit dem Vorschlag, ein Tagebuch daraus zu machen, und es mit einem Goethe'schen Motto eingeweiht. Den Nachtheil der Tagebücher für mich hatte ich in meinen ersten Jugendjahren kennen lernen, und also auch nicht wieder daran gedacht, ein solches zu führen. Ich schrieb daher nur einzelne Notizen, schrieb die kleinen Verse hinein, die ich hier und da zu den Geburtstagen meiner [210] Freunde machte, oder eine Bemerkung über ein gelesenes Buch, und kam endlich dahin, in Momenten besonderer Aufregung mir in dem Buche das Herz frei zu schreiben, wenn es mir nicht thunlich schien, meine Klagen an den Geber des Buches selbst zu richten.

Im Laufe von sechs, sieben Jahren haben sich auf diese Weise kaum hundert Seiten des kleinen Octavbandes gefüllt, und von diesen nehmen die Gelegenheitsgedichte und die ersten Mährchen, die ich erfunden, wohl mehr als die Hälfte ein. Die übrigen Blätter, nach denen ich jetzt zum Theil die Erlebnisse meiner Leidensjahre aufzeichne, sind durchweg ernst und traurig, und haben mich seltsam angeschaut, als ich sie jetzt wieder einmal aus ihrem alten Schiebfache hervorgeholt habe.

Mein Lieben und Denken und Leiden, das war in mir Alles einen Tag wie den andern, und dabei hatte ich beständig ein Schuldbewußtsein, dabei fühlte ich mich immer ungerecht und undankbar gegen meine Eltern und Geschwister, die Nichts dafür konnten, daß ich mich nach Heinrich sehnen mußte, und daß ich nicht zufrieden war mit dem Loose, welches mir auf der Welt doch vor vielen Tausenden günstig gefallen. Ich war dann fest entschlossen, nicht weiter so hinzukränkeln, ich wollte meine Liebe besiegen und vergessen, und empfand doch eine instinktive Angst vor dem Augenblicke, in welchem mir dies gelungen sein würde. Ich hatte jetzt doch noch ein Ideal, dem ich zustrebte und nachstrebte. Wenn dies seine Bedeutung, seinen Zauber für mich verlor, was blieb mir dann?

Manchmal, wenn mein Zustand mir gar zu lähmend [211] wurde, kam mir der Einfall, ich möchte Erzieherin werden. Aber einer solchen Idee konnte ich mich nie lange überlassen, weil ich eigentlich nicht gern unterrichtete, und weil ich auch wußte, daß solch ein Plan unausführbar für mich war. Mein Vater hatte einen ausgesprochenen Widerwillen gegen jede Art von Dienstbarkeit. Er hatte sie nie gekannt, und eine seiner Töchter ohne zwingende äußere Nothwendigkeit Fremden dienstbar zu machen, würde er sich nie entschlossen haben. Dazu hätte es in Folge unserer Sitte, welche den Wohlstand einer Familie nach dem Müssiggange ihrer Töchter ermißt, die Verhältnisse meines Vaters in ein schlechtes Licht gestellt, wenn er mich hätte arbeiten und Geld erwerben lassen.

Bisweilen wieder meinte ich Zerstreuung zu finden, wenn ich mich an den Armenschulen, oder auch nur bei den Wohlthätigkeitslotterien und Suppenanstalten betheiligen könnte, die mehr und mehr in Aufnahme kamen, und über deren Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit nachzudenken, in der Verfassung, in welcher ich mich befand, nicht meine Sache war. Aber mein Vater war einmal überhaupt ein Gegner dieser Art von Wohlthätigkeit, und mehr noch ein Gegner davon, daß Frauenzimmer sich irgendwie außerhalb ihres Hauses und ihrer Familie bethätigten.

»Willst Du Kinder erziehen und unterrichten, so haben wir hier im Hause noch drei Mädchen von dreizehn bis neun Jahren, da ist Arbeit genug für Dich!« sagte er. »Willst Du Kranke pflegen, so ist Deine Mutter da, welche immer der Pflege und Bedienung bedarf, und was die Handarbeiten für Arme und für Wohlthätigkeitsvereine [212] betrifft, so kosten solche Luxusarbeiten Denjenigen, welche sie anfertigen, die Zeit ganz abgerechnet, mehr Geld, als sie den Armenvereinen abwerfen, sie sind also unpraktisch und unrationell. Thue im Hause, was Dir das Nächste ist, und im Uebrigen benutze Deine Zeit so gut Du kannst, für Deine eigene Ausbildung.«

Ich befand mich also mit meinem Streben, mir selbst zu helfen, vor einer unübersteiglichen Schranke, denn mir standen in jener Zeit noch die entschiedensten Vorurtheile meines Vaters entgegen. Der Satz, daß die Frau mit ihrem ganzen Sein und ihrem Thun unter allen Verhältnissen nur dem Hause und der Familie angehöre, war bei ihm so sehr Ueberzeugungssache, daß ich sogar auf eine Mißbilligung stieß, als ich, nach meiner Heimkehr, den mir in Breslau zur Gewohnheit und zum Bedürfniß gewordenen täglichen Spaziergang machen und meine Schwester dazu mit mir nehmen wollte. Der Vater fand es »häßlich«, wenn man junge Mädchen täglich auf der Straße sähe, und es währte wohl vierzehn Tage, ehe wir zu dieser unschuldigsten aller Vergnügungen und Lebensäußerungen seine Zustimmung und die Erlaubniß erhielten, am Nachmittage die Tour am Hafenbohlwerk entlang, und um den einsamen, melancholischen Philosophendamm zu machen.

Aber selbst das war mir schon eine Gunst und ein Gewinn. Ich konnte Luft schöpfen, die Wolken ziehen, die Vögel fliegen sehen. Wir kamen auf den Stadtwall, und ich konnte die Chaussee entlang blicken, welche dorthin führte, wohin alle meine Gedanken sich wendeten. Die Mauern des Hauses, die Straßen der Stadt engten mich [213] nicht mehr ein, es sah mich Niemand darauf an, was ich wohl denken möchte, es war eine verhältnißmäßige Freiheit, es war doch wenigstens eine körperliche Bewegung.

Hätte man mich in jener Epoche mit einer bestimmten, mich geistig hinnehmenden und körperlich ermüdenden Arbeit, in meines Vaters Comptoir an eines seiner Pulte gestellt; hätte man mich, da ich leidlich zeichnete, an einen Lithographir-Stein gesetzt und mich arbeiten lassen; hätte man mir die Aufsicht über eine Erwerbschule, oder sonst Etwas anvertraut, woran mein natürliches Talent zum Einrichten und Verwalten sich hätte geltend machen können, oder hätte mir ein wohlgeleitetes, auf einen absehbaren Zweck hinführendes Studium offen gestanden, ich würde mir wie begnadigt vorgekommen sein, und hätte daneben noch bequem all' dasjenige vollbringen können, was von meiner Seite für die Familie gefordert wurde.

Um doch aber Etwas zu thun, fing ich an, Englisch zu lernen; und wieder war es die Mutter, welche mir die Erlaubniß dazu erwirkte. Es lag darin etwas sehr Rührendes für mich. Während es mir unmöglich gewesen wäre, ihr zu sagen: »Ich leide«, und ihr eben so unmöglich, mich zu fragen: »Was fehlt Dir?« errieth ihre Mutterliebe und das zärtliche Auge, das sie für Jeden von uns hatte, es immer zuerst, wenn für Einen von uns eine Hülfe nöthig war. Und obschon grade in jenen Tagen mein Vater sich offenbar in Zweifel darüber befand, ob er mit der Erziehung, welche er mir gegeben, mein Wohl befördert, ob er nicht vielleicht besser daran gethan hätte, mich weniger Werth auf Geistiges legen zu machen, so daß er eben jetzt nicht geneigt war, mir [214] zu willfahren, so fühlte die Mutter, daß für mich an ein Zurückgehen nicht zu denken sei, und daß man mich auf dem Wege Befriedigung suchen lassen müsse, auf dem ich sie zu finden glaubte und hoffte. Ich bekam also englischen Unterricht gemeinsam mit meinem ältesten Bruder, und die Kenntniß dieser Sprache ist mir später trefflich zu Statten gekommen.

[215]
13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel

Ein alter Vers sagt: »Ist am größten die Noth, ist Gott am nächsten der Demuth!« und ohne zu erörtern, in wie weit das letzte Prädikat in jener Zeit auf mich passen mochte, kamen mir damals, nach christlichen Begriffen, ein Trost und eine Quelle der Hoffnung recht eigentlich vom Himmel; denn sie wurden mir durch eine Todte, durch Rahel Varnhagen von Ense zu Theil, die im Jahre achtzehnhundert zweiunddreißig gestorben war, und deren Briefe, in ihrer ersten, für Freunde gedruckten Ausgabe, ich etwa zu Ende des Jahres vierunddreißig kennen lernte.

Es waren eine Offenbarung und eine Erlösung, die sich für mich durch die hinterlassenen Briefe dieser Frau vollzogen. Was den Menschen am tiefsten niederwirft, das ist die Vorstellung: ein Besonderes zu erleiden. Das gilt von allen Menschen und von allen Arten von Leid; denn der Mensch ist ein Gesellschaftswesen. Was er von Andern ertragen sieht, erträgt er leichter. Der Schrecken, der Verlust, den er mit Andern zu theilen hat, verlieren bis zu einem gewissen Grade ihre lähmende Gewalt und ihr niederwerfendes Gewicht für ihn. Große, allgemeine Leidenszeiten, wie die Epochen der Pest, wie die französische [216] Schreckensherrschaft im vorigen Jahrhundert, und wie Kriegszeiten überhaupt, beweisen und bestätigen diese Erfahrung.

Was mir auch begegnet war, was ich Unbequemes, Peinliches, Schmerzliches zu ertragen und zu erleiden gehabt hatte, Rahel Levin hatte das Alles gekannt, hatte das Alles durchgemacht, hatte über Alles mit der ihr innewohnenden Kraft den Sieg davon getragen, und sich endlich an den Platz hinzustellen gewußt, an dem sie gefunden, was sie ersehnt: die Möglichkeit zu genießen und zu leisten nach dem eingebornen Bedürfniß ihrer Natur. Alles konnte ich ihr nachempfinden, bis in die kleinsten Züge ihres Wesens, bis in die verborgensten Falten ihrer Seele konnte ich ihr nachdenken, und überall fast hätte ich sagen mögen: das ist Fleisch von meinem Fleische, das ist Blut von meinem Blute. In jedem ihrer Jugendbriefe fand ich sie wieder, die Schilderung eines würdigen, liebevollen Familienlebens, das doch unter Umständen grade für den Einzelnen, durch dessen besondere Anlagen und Neigungen zu einer hemmenden Schranke, und allmählig zu einer Quelle von Leiden werden kann; Kränkungen, Herzeleid, Liebesschmerzen, den Drang nach freier Entwicklung, sie hatte das Alles gekannt, Alles durchlebt, Alles bestanden und überwunden durch das Festhalten an sich selbst und an der Wahrheit.

Wie durch meine erste Jugend mir der Denkspruch, welchen mein Lehrer Motherby mir in mein Stammbuch geschrieben, zu einem Compaß geworden war, mit welchem ich mich zurecht fand, wenn Etwas mich verwirrte, so traten jetzt einzelne Aussprüche von Rahel an dessen [217] Stelle. In manchen Herzensbedrängnissen, in mancher Verlegenheit und Pein haben mich die Worte aufgerichtet: »Ich habe mich in der großen allgemeinen Weltnoth einem Gotte gewidmet; und so oft ich noch gerettet worden bin, so ist's der, der mich gerettet hat, die Wahrheit!« – Wenn ich, von den Vorurtheilen meiner Umgangsgenossen eingeengt, nicht wußte, ob das was mein Gefühl mich zu thun antrieb, mit den allgemeinen Schicklichkeitsregeln in Einklang zu bringen sei, und ob Diese und Jene sich herausnehmen würden, was mir unerläßlich dünkte, hielt ich mir Rahel's Ausspruch vor: »Damit ein schlechtes Mädchen nicht dumm handeln kann, soll ein gutes eingeschränkt sein! Bewundern Sie die Institution, wenn Sie können.« – Kurz überall, wo ich einer Stütze bedurfte, wo mir eine Ermuthigung fehlte, fand ich sie an ihr. Es war, bei der großen Liebesfähigkeit ihres Herzens, etwas Männliches, Festes, Dreistes in ihrem Geiste, das mir in hohem Grade sympatisch war, und sie hatte eine Beharrlichkeit und eine Unermüdlichkeit im Aufrechterhalten ihrer Ueberzeugungen, die mir Ehrfurcht einflößten. Ich fand an ihr den Meister, der mir Muth zum Ertragen und zum Handeln, der mir Ausdauer im Lieben und im Wollen, und Selbstverläugnung predigte, wo diese einem Andern frommen konnte. Und wie der Gläubige die Bibel aufschlägt, um sich Rath und Trost und Beruhigung aus ihr zu schöpfen, so griff ich zu den Briefen Rahel's, und fand mich immer mir selbst und einer relativen Ruhe und Zufriedenheit wiedergegeben, wenn ich mich in den Lebenslauf und in das Sein und Wesen dieser merkwürdigen Frau vertieft hatte, die nicht [218] persönlich kennen gelernt, und zwar aus Verzagtheit nicht kennen gelernt zu haben, ich jetzt ungemein bedauerte.

Neben diesem unsichtbaren und verschwiegenen Tröster war mir aber auch der Umgang mit unserm Hausgenossen Crelinger zu einer großen Förderung und zu einem dauernden Gewinn geworden. Er hatte sich mehr und mehr an uns angeschlossen, und als er etwa ein Jahr in unserm Hause wohnte, besaßen wir Alle, und Jeder von uns im Besondern einen Freund an ihm, wie wir nie vorher einen gehabt, und wie man ihn überhaupt nur selten findet; denn er hatte eben so viel Verstand als Güte, eben so viel Scharfblick als Nachsicht und Geduld, und er hatte einen Genuß daran, Andern Freude zu bereiten. Mit feinem Sinne errieth er Alles, wo er Freundschaft für Jemand hegte. Er fragte nie, wovon oder wodurch man gequält werde, weshalb man leide? Er wußte es immer und half, ohne daß er seine Hülfe fühlbar machte. Er verstand zu schweigen und zu sprechen, er konnte Stunden lang sich von seinen dringendsten Arbeiten entfernen, um ruhig neben einem Menschen zu sitzen, den er von einer Sorge oder von einem Schmerze gedrückt glaubte, und dem er die Möglichkeit bereiten wollte, sich in dem Augenblicke aussprechen zu können, wenn sein Bedürfniß ihn dazu antrieb. Wie kein Anderer vermochte er die Gedanken eines Bekümmerten von sich und seinen Widerwärtigkeiten abzuziehen, und neue Reihen von heiteren Vorstellungen den trüben Bildern und Gedanken unterzuschieben. Stets bereit jede Freude durch seine Theilnahme zu erhöhen, und jedes Leiden mitzutragen, machte er, wo er sich einmal hingab, wenig [219] Ansprüche für sich selbst, und war doch äußerst empfänglich, äußerst dankbar für jeden Beweis von Neigung und Anerkennung, den man ihm entgegenbrachte. Kurz, er war ein Virtuose im geselligen Verkehr und ein wahres Genie für die Freundschaft. Diese Art von Menschen werden aber immer seltner. Die Unruhe und Hastigkeit des jetzigen Lebens ist dem Ausleben der Empfindungen offenbar nicht günstig, und wenn es so fortgeht mit dem Drängen und Treiben der Noth und des Egoismus, wird bald die rechte Freundschaft kaum noch ihre volle Ausbildung unter uns gewinnen können.

Die Eltern und wir Kinder, Jeder fand, daß ihm irgend eine Ergänzung durch den »Rath« zu Theil wurde, und selbst als seine advokatische Praxis die bedeutendste der Stadt geworden war, und seine gesellschaftlichen Verbindungen sich durch alle Kreise der Gesellschaft weit über seine Wünsche ausgedehnt hatten, blieb unser Familienkreis sein eigentliches Centrum, und erhielt er sich die Zeit und die Freiheit für den innigsten Verkehr mit uns.

Er brachte, während der vier, fünf Jahre, die er bei uns wohnte, einen großen Theil seiner Abende mit uns zu, war unser Gast am Sonntag Mittag, und manche Dämmerungsstunde wurde mit uns verplaudert. Er besuchte die Mutter in ihrem Zimmer, saß oft lange in meinem und meiner Schwester Stübchen, er war im eigentlichen Sinne einer der Unsern, wie keiner unserer Verwandten es je gewesen war. Für mich hatte er, neben all' dem Guten und Bedeutenden, das ich an ihm zu schätzen wußte, den großen Vorzug, mit allen meinen Breslauer Verwandten bekannt zu sein, und vor allem [220] die beste Meinung von Heinrich Simon zu haben. Meine Geschwister waren, ohne diesen Letzteren zu kennen, gegen denselben eingenommen, weil sie mich leiden sahen, und ihm die Schuld davon aufbürdeten. Sie waren Alle jung und wußten nicht, wie leicht eines Mädchens Liebe sich auf einen bedeutenden Mann hinwendet, und wie schwer es für diesen ist, selbstlos und kalt zu bleiben, gegenüber einem warmen Herzen, das sich ihm entgegenbringt. Mit reiner Liebe geliebt zu werden ist ein solcher Genuß, hat etwas so Bezauberndes, daß es kaum ein Menschenwesen, weder Weib noch Mann geben dürfte, welches dabei nur an die künftigen möglichen Leiden des Liebenden, und nicht vielmehr an sein eignes gegenwärtiges Glück gedächte. Und ich möchte behaupten, daß Derjenige, welcher dieser selbstlosen Reflexion und Beherrschung fähig wäre, vor dem Geliebtwerden ziemlich sicher sein könnte.

Auch mir bewährte unser Hausfreund sein Talent zu trösten und zu beruhigen, in seiner eigenthümlichen Weise. Er sprach mit mir lange Zeit hindurch nie von mir selbst, er sprach nur von sich, sprach von Frauen und Mädchen, deren Schicksal er sich hatte entfalten sehen, er verwies mich darauf, daß mein Vetter eine bedeutende Zukunft haben werde, er machte mich diese Zukunft als die Hauptsache ansehen, und er wußte mir daneben so viel Neues zuzuführen, mein Interesse nach allen Bereichen des Lebens anzuregen und auszudehnen, daß ich mich nicht mehr so unbeschäftigt fühlte, weil ich in mir selbst mehr beschäftigt wurde.

Dabei hatte er eine große Freude an dem Schönen und am Luxus, und sobald seine günstigen Verhältnisse [221] es ihm gestatteten, sich diesem Zuge hinzugeben, nahmen auch wir daran auf unsere Weise Theil. Heute hatte er von einer Berliner Buchhandlung, die ihm regelmäßig Zusendungen zur Auswahl machte, Kupferwerke bekommen, die wir ansahen, morgen hatte er für Einen von uns einen Blumenstock, übermorgen für den Andern einen neuen Parfüm oder irgend eine andere kleine Gabe. Ganz unmerklich wurden wir ältern Schwestern dadurch an eine ganze Menge von neuen Bedürfnissen gewöhnt, und obschon beide Eltern sich dagegen entschieden auflehnten, und die einzelnen Geschenke immer nur von geringem Werthe sein durften, so brachten sie uns doch dahin, auf eine Eleganz zu halten, an die zu denken wir uns früher nicht erlaubt hatten. Meine schlechten Zeichnungen in meinem Stübchen machte allmählig einigen guten Lithographien nach bedeutenden Malerwerken Platz, ich bekam schönere Schreibgeräthe und damit die Lust, mir das dazu Fehlende von meinem reichlichen Taschengelde anzuschaffen, ich fing an viel Blumen zu ziehen, und mich überhaupt an kleinen Freuden ergötzen zu lernen. Darin liegt eine Resignation, aber eine schöne und segenbringende; denn wer sich nicht gewöhnt, in jedem Augenblicke das kleinste Gute, das sich ihm darbietet, anzuerkennen und zu genießen, der wird viel freudlose Zeiten in seinem Leben zählen. Große Befriedigungen, große Glücksfälle werden uns nur selten zu Theil, aber es giebt kaum einen Tag, der uns nicht etwas Gutes oder Angenehmes brächte, kaum einen Tag, an welchem uns nicht ein Unangenehmes, das uns begegnen konnte, erspart worden ist; und wer es erlernt, dies negative und jenes positive Gute zu [222] beachten und dankbar anzuerkennen, der hat am Ende jeder Woche doch meist Etwas, woran er sich zu halten und wofür er seinem Schicksal zu danken hat. Liebevolle Anerkennung des geringsten Erfreulichen ist ein sicheres Mittel zu beständiger Zufriedenheit.

Crelinger's Anwesenheit in Königsberg und in unserm Hause brachte uns aber, abgesehen von dem unschätzbaren Verkehr mit ihm, auch an seinen auswärtigen Freunden, wenn sie nach Preußen kamen, manche angenehme Bekanntschaft und manchen werthen Gast. Einer der ersten von diesen war Carl von Holtei, der im Frühjahr von achtzehnhundertsiebenunddreißig nach Preußen kam, als er sich anschickte, die Direktion des Rigaer Theaters zu übernehmen. Er war ein Vierziger von gefälligem Aeußern, obschon der erste Eindruck kein bedeutender war. Sein Wuchs war hoch, sein Haar hellbraun und glatt, die Augen blau, ziemlich erloschen und ohne festen Blick. Aber Nase und Mund waren, wenn gleich groß, so doch von edlem Schnitt, und die Hände schön und durchgebildet in der Bewegung. Den Schauspieler sah man ihm in Haltung und Erscheinung eben so wenig an, als den Edelmann. Er hatte eine Art sich gehen zu lassen, welche jenen beiden Ständen im Allgemeinen nicht zu eignen pflegt. Sein Behaben war schlicht im gewöhnlichen Verkehr, wurde er aber angeregt, so brach der Schwung des Lyrikers, des Poeten in seinem Wesen schnell hervor, und er hatte dann Feuer und Anmuth in gleichem Grade. Er sprach gut, und wie die meisten Menschen, welche diesen Vorzug besitzen, auch gern. Erzählte er von sich und seinen Erlebnissen, wozu er neigte, so wurde er [223] leicht gerührt und zu Thränen bewegt, konnte aber wenig Augenblicke danach nicht nur eine sehr heitere Anekdote, sondern so burschikose, so dreiste, ja zuweilen so cynische Scherze und Witze zum Vorschein bringen, daß man sich wundern mußte, wie diese Stimmungen bei ihm so nahe bei einander wohnen konnten. Mein Vater, welchem das Unschöne eben so fremd, als zuwider war, ertrug es auch von seinem Gaste nicht, und rief ihn, wenn dergleichen vorkam, mit dem Hinweis auf unsere Anwesenheit zur Ordnung, was Holtei sich gutmüthig gefallen ließ und auch gefallen lassen mußte.

Mein Vater hatte, grade als Holtei nach Königsberg kam, das Haus gekauft, das wir damals schon fünfzehn Jahre als Miether bewohnten. Er war ein Mann danach, sein Gefallen am Besitz von Haus und Hof zu haben, baute daneben gern, und war nun schnell mit allerlei Planen bei der Hand, welche sich jetzt, da man sicher war, in dem Hause zu verbleiben, viel berechtigter als vorher ausführen ließen. Der Mutter, welche ihre Jahre der Mühe und Entbehrung so standhaft getragen, machte es Freude, als Frau Stadträthin in dem großen, eigenen Eckhause am Fenster zu sitzen, und ich fühlte mich auch sehr geborgen, seit ich mir sagen konnte, daß unser Stübchen im Entresol, welches die Schwester und ich allmählig wie ein Schmuckkästchen aufgeputzt, und das, auf meine Bitte, bald seine sanfte grüne Farbe wiederbekommen hatte, mir nicht genommen werden könne. Diesen Hauskauf zu feiern, dessen Alle sich erfreuten, sollte eine große Gesellschaft gegeben werden, und Herr von Holtei, welcher schon öfter unser Gast gewesen war, [224] erbot sich sehr freundlich, zu der Feier dadurch beizutragen, daß er an dem Gesellschaftsabende in aller Form eine Vorlesung bei uns hielt.

Unsere sämmtlichen Freunde und Bekannten, einige von den Universitätslehrern und Vorgesetzten meiner Brüder waren bei uns versammelt. Holtei las den ersten Akt des Hamlet und danach den gestiefelten Kater, und erndtete den größten Beifall, ja er erregte Erstaunen neben der verdienten Anerkennung, denn die Mehrzahl seines Auditoriums hatte überhaupt noch keinen Vorleser gehört. Man war überrascht und befremdet zu gleicher Zeit. Man hatte mehr und weniger empfangen als eine Theatervorstellung bietet, man konnte sich nicht gleich Rechenschaft über den erhaltenen Eindruck geben, und so wenig meine Landsleute es lieben, hingerissen zu werden ohne sich es klar machen zu können, wodurch es geschieht, erlagen sie doch dem Zauber von Holtei's unvergleichlichem Humor.

Ich hingegen, so herzlich ich auch gelacht hatte, als Holtei im gestiefelten Kater sein: »Herr Leitner, helfen Sie mir mal den Herrn Schlosser binden!« ausgerufen, ich konnte mich doch an seine Weise nicht gleich gewöhnen. Ich hatte Karl Schall in Breslau lesen hören, dessen Vortragsweise von der Holtei'schen abweichend war, und wie jeder unfertige Mensch hing ich an der Autorität der ersten Eindrücke.

Schall war in den Fünfzigern gewesen, als ich ihn gesehen, und er bot das völlige Bild eines in den Charakter unseres Jahrhunderts übertragenen John Fallstaff. Seine Größe verschwand in seiner Stärke, seine kleinen [225] dunkeln Augen versteckten sich hinter den feisten Wangen, und er konnte komisch aussehen, wenn er, in seiner Behaglichkeit dasitzend, die kleinen fetten Hände, auf deren Schönheit er stolz war, mit sichtlicher Koketterie über dem Magen zur Schau gefaltet hielt. Trotz seiner fünfzig Jahre war er sehr bemüht den Frauen zu gefallen, und da die jungen Männer unserer Zeit ihm in diesen Bestrebungen nicht wesentlich hinderlich waren, so liebten die Frauen seine Gesellschaft. Wenn er sanft lächelnd, mit allem Bewußtsein eines Stutzers sagte: »Ich habe heute eine Einladung von der guten Frau von N. ausgeschlagen, um die liebe kleine A. zu besuchen und ihr nicht wieder défaut zu machen!« so lag darin so viel Freude über befriedigte Eitelkeit, so viel stille Verliebtheit und Zärtlichkeit, daß man sich denken konnte, wie man noch Vergnügen daran fand, ihm diese Genugthuung zu bereiten, und seine Huldigungen anzunehmen. Als ich ihn bei meinen Verwandten in dem Garten vor dem Thore zum erstenmale sah, standen die Georginen schon in voller Blüthe und Pracht. Er pflückte deren zwei große, eine hochrothe und eine goldgelbe, und bat so lange, bis ich sie mir, wenn auch mit Unbehagen, von ihm in dem Haar befestigen ließ. »Sehen Sie diese reizende Pomona!« rief er darauf mit großer Selbstzufriedenheit, während die Gesellschaft in herzliches Lachen ausbrach, weil ich, so widerwillig geschmückt, und Schall, mit solchem Vergnügen mich schmückend, ein komisches Bild ausmachten, das noch lange ein Gegenstand des Scherzes und der Neckereien blieb.

Wenn Schall jedoch las, war er gleich ein Anderer.[226] Seine dunkeln Augen sahen dann sehr klug und scharf aus, und er imponirte dann plötzlich. Ich hörte von ihm die Hauptscenen des Julius Cäsar und des Coriolan. Die Rede des Mark Anton, die wiederkehrenden Worte: »und Brutus ist ein ehrenwerther Mann«, das anklagende, mit schaudernder Rührung auf die Thatsache verweisende: »hier stieß der vielgeliebte Brutus durch!« habe ich nie wirksamer und siegreicher sprechen hören. Sein Lesen war sehr maß- und verständnißvoll; nur als er an einem andern Abende einen Schwank von sich, »den Knopf am Flausrock« zum Besten gab, übertrieb er nach allen Seiten, um die Wirkung des sehr unbedeutenden Scherzes zu erhöhen. Er steigerte Stimme und Ausdruck bis zur Karikatur, und machte das kleine ganz unbedeutende Stück damit erst recht zu nichte.

Im Allgemeinen hielt er sich bei klassischen Werken, mehr als Holtei es that, in den Grenzen des Vorlesens. Er streifte nur selten an die theatralische Deklamation und Mimik, welche an einem Sitzenden leicht komisch erscheinen, wenn sie lebhaft und leidenschaftlich werden. Er brauchte eben deshalb auch die starken Stimm-Modulationen nicht, und entging dadurch dem Uebelstande des Fistulirens in den Frauenrollen, deren Vortrag bei Holtei, wenn man an das Genre noch nicht gewöhnt war, hie und da zum Lachen reizte, wo er dasselbe zu erregen nicht beabsichtigt hatte. Dafür aber hatte Holtei sein, man möchte sagen, intuitives Erfassen der dichterischen Absicht in dem jedesmaligen Kunstwerk, und die Fähigkeit voraus, dem Hörer den Glauben zu geben, daß der Vorlesende selbst von dem Zauber beherrscht und hingerissen [227] sei, welchen er auf sein Publikum ausübte. Schall konnte, wie es mir erschien, durch sein Lesen sehr erfreuen, sehr viel verdeutlichen, aber der Hörer war im Stande, dabei immer seine eigene Ansicht fest zu halten. Holtei hingegen zwang, durch die ihm innewohnende dichterische Empfänglichkeit und plastische Kraft, sein Publikum, so lange es ihn hörte, zu seiner Ansicht, und ich meine nicht zu dessen Nachtheil; denn es ist mir, als ich später von ihm einen ganzen Cyklus Shakespeare'scher Stücke hörte, keine Rolle vorgekommen, die er vergriffen oder nicht zur klaren Anschauung gebracht hätte. Er selbst hielt den Sommernachtstraum und namentlich den Coriolan für dasjenige, was ihm am Besten gelinge, indeß, wenn bei einem Vorleser wie Holtei, von einem mehr oder weniger gut die Rede sein darf, so möchte ich behaupten, daß das Humoristische ihm noch zusagender war und seinem Talente noch vollkommener entsprach, als das Hochtragische und rein Heldenmäßige. Man mußte ihn bewundern, wenn er den Coriolan, den Hamlet las, aber als Falstaff, und in den Volksscenen mit lebhaftem Dialog leistete er das Unvergleichliche. Die große Beweglichkeit seines Geistes, die Flüssigkeit seines Organs, sein leichtes Mienenspiel kamen ihm dabei zu Statten, und es konnte nichts Ergötzlicheres geben, als ihn zum Beispiel den geschwätzigen Barbier von Holbein lesen zu hören. Während man sich von seiner sprudelnden Heiterkeit immer schneller und schneller fortgezogen fühlte, fragte man sich, ob es möglich sei, daß er sich in diesem schwindelerregenden Tempo halten könne, und hatte doch zugleich die Gewißheit, er werde als ein Virtuos der Sprache seine Aufgabe überwinden, [228] und Alles wohl zu Ende führen. Eine Sprachgeläufigkeit wie die seine, die in der größten Uebertreibung von Tempo und Rhythmus doch stets vollkommen deutlich und stets völlig Herr des geistigen Gehaltes und Ausdrucks blieb, habe ich an keinem andern Deutschen, sondern nur an Romanen, namentlich an Italienern in den Buffopartien wahrgenommen. Als ich mich erst an seine Vortragsmanier gewöhnt und ihre Vorzüge begriffen hatte, fand ich an seinem Vorlesen eines Shakespeare'schen Werkes fast immer weit mehr Genuß, als die Bühnendarstellung in der Regel zu gewähren im Stande ist. Denn die Vorlesung war das Produkt eines geistvollen, denkenden und poetischen Kopfes, Alles an ihr war Einheit und Zusammenklang, während auf der Bühne Unbildung und Mißverstand neben dem etwa vorhandenen Vollendeten hergehen, und seine Wirkung beeinträchtigen, ja, oftmals sie völlig zerstören.

Später, als ich Herrn von Holtei in den Jahren achtzehnhundertacht- und neunundvierzig in Hamburg wieder begegnete, fand ich ihn sehr verändert. Er hatte äußerlich mehr gealtert, als die Zahl der verflossenen Jahre es rechtfertigte, und war grau geworden. Dazu hatte die Revolution den streng monarchisch Gesinnten schwer betroffen und ihn sehr gebeugt, so daß ein Widerwille gegen Welt und Menschen sich seiner bemächtigt hatte, der sich bald in wehmüthigen Klagen, bald in schmerzlichem Lebensüberdrusse äußerte, und ihn ungerecht gegen die Zeit, ungerecht auch gegen sich selbst, gegen sein dichterisches Talent und gegen diejenigen seiner Arbeiten machte, die, wie die Leonore und seine Memoiren, ihn [229] und die Epoche, in welcher sie entstanden, überdauern werden. Nur auf Andringen seiner Bekannten ließ er sich überreden, in vertrauten Kreisen zu lesen; er sang auch noch seine kleinen Vaudevilles, aber er sang sie traurig, wie Einer, der sich selbst entfremdet ist, und sie rührten uns, während er uns erheitern wollte. Er kam mir wie eine Ruine vor, in deren altes Epheugerank sich Vögel vor dem Sturm geborgen, und trotz desselben erhalten hatten. Er hatte Nichts mehr gemein mit den heitern Tönen, welche aus seiner Brust erklangen. Freunde aber, die ihn neuerdings gesehen, haben ihn glücklicher Weise wieder erfrischt, beruhigt und als den Alten gefunden, und seine neuern Arbeiten sprechen dafür, daß ihm ein kräftiges Greisenalter beschieden, und seine Gebeugtheit nur eine vorübergehende gewesen ist. Es lebt eben jedes Geschöpf nur in seinem Elemente gesund und froh, und nicht Jeder ist dazu geschaffen, sich in stürmischer Bewegung zu behaupten und von ihr gehoben zu fühlen. Ausdauer ist die Sache des Blutes. Zum Manne der Revolution, wie zum Dichter, wird man geboren.

[230]
14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel

Wie musikalische Kinder sich schon früh dahindrängen, wo sie eines rhythmischen oder musikalischen Klanges theilhaftig werden können, so hatte ich von Jugend auf große Lust am Verkehr mit Menschen gehabt. Fremde Leute zu sehen, zu sprechen, hatte mir stets noch mehr Vergnügen als das Lesen gemacht. Ich behielt Physiognomien und Art und Weise der unbedeutendsten Personen in der Regel auch noch viel sicherer im Gedächtniß, als manche erhabenen Gestalten der Vergangenheit und der Poesie; denn Alles, was ich mit den Sinnen als ein Lebendiges in mich aufnehmen konnte, wurde mir völlig eigen und ging als ein Unverlierbares in meinen Besitz über.

Begegnungen, wie die mit Herrn von Holtei, Anregungen, wie man sie durch ihn empfangen hatte, versetzten mich für geraume Zeit in eine gehobene Stimmung, und die bedeutenden Eindrücke kamen uns damals in meiner Heimath noch nicht so oft und so schnell zu, daß ich nicht Zeit gehabt hätte, sie innerlich zu verarbeiten, und dasjenige ruhig auszuleben, was auf mich eingewirkt hatte.

Dazu war die ganze Epoche für Preußen noch eine ruhige. Die politische Bewegung zu Anfang des Jahrzehntes hatte unser specielles Vaterland nicht eben wesentlich [231] ergriffen, die konstitutionellen Bestrebungen und die Entwickelung des konstitutionellen Lebens in Süddeutschland blieben vorläufig ohne direkten Einfluß auf unsere Heimath. Das Verhältniß des Volkes zu dem Könige war ein rein persönliches, ja, ein ganz und gar gemüthliches. Man liebte den König und hing an ihm, wie an einem greisen Familienoberhaupte. Man hatte, wie der Volksausdruck lautete, Leid und Freude mit ihm getragen. Man erinnerte sich seiner Flucht nach Memel, seines Aufenthaltes in Königsberg, seines Schmerzes über den Tod der Königin Louise, deren Andenken wie das einer Heiligen geehrt und gefeiert wurde. Man freute sich, daß er auch mit der Fürstin Liegnitz, die er sich hatte antrauen lassen, in so guter und friedlicher Gemeinschaft lebte, und daß des Kronprinzen Ehe ebenfalls eine glückliche sei. Das Verhältniß sämmtlicher Söhne, Töchter und Schwiegerkinder zu dem königlichen Vater galt für ein musterhaftes; auch der Kaiser Nikolaus wurde in den Bereich der Familientheilnahme gezogen, mit welcher man das Königshaus umgab, und so kindlich und selbstlos war die Mehrzahl des Volkes noch, daß es sich durch das Wohlergehen und die Zufriedenheit seines Herrscherhauses geehrt, und in gewissem Sinne auch befriedigt fühlte. Die Menschen hatten ihre Freude daran, daß der König die ostpreußischen grauen Erbsen und die Muränen aus dem Nargensee noch immer gern aß. Sie rechneten es ihm hoch an, daß er die Familien nicht vergessen hatte, auf deren Landsitzen er zur Zeit seines Mißgeschickes verweilt. Die geistreichen Einfälle und Witzworte des Kronprinzen gingen von Mund zu Mund, manche [232] dreiste Aeußerung, die man selbst zu thun nicht wagte, wurde – nach dem alten Grundsatze: wer hat dem wird gegeben – dem geistreichen Königssohne in den Mund gelegt, und im Uebrigen erfuhr man nur dasjenige, was die strenge Censur in den Zeitungen und Büchern passiren zu lassen für heilsam und angemessen befand. Die völkerverbindenden Eisenbahnen, die gedankenschnellen, indiskreten Telegraphen störten den Frieden der Herrscher und die Ruhe des täglichen Lebens noch nicht. Das Reisen war noch immer zeitraubend und kostspielig, der Briefverkehr langsam, das Briefporto fünfmal so hoch als jetzt 2, alle Nachrichten, welche man erhielt, waren verhältnißmäßig alt, die Ereignisse, von denen man erfuhr, immer schon vor einer Weile geschehen. Die Völker, die einzelnen Menschen wurden dadurch von einander fern gehalten, das allgemeine Interesse an dem Allgemeinen abgestumpft. Denn was uns räumlich fern liegt, hat für uns im Grunde nur die Bedeutung einer historischen Thatsache, und regt die Mitleidenschaft nicht all zu mächtig auf.

Man las allerdings in den Zeitungen, was in den französischen Kammern, was in dem englischen Parlamente geschah, die Namen der dortigen Parteihäupter fanden Parteinahme auch in Preußen, man interessirte sich für die süddeutschen Liberalen, man sah mit Genugthuung auf die Freiheitsäußerungen in der deutschen Literatur, aber man that das, der bei weitem größten Mehrzahl nach, sehr abstrakt. Man hielt sich überzeugt, auf das Beste regiert zu werden, die besten unbestechlichsten [233] Beamten, das beste Volksschulwesen, das beste Militär, und in der Landwehr den wahren Hort aller Unabhängigkeit nach Außen zu besitzen. Die Allianz mit dem Manne der ältesten Königstochter, der Prinzeß Charlotte, die russische Allianz, war ein Rückhalt, wie man ihn besser gar nicht verlangen konnte, und sich selbst zu regieren, wo man sich so gut regiert glaubte, trug man kein eigentlich Verlangen. Man wußte wohl, daß man mehr Freiheit zu fordern berechtigt sei, man klagte über manche drückenden Uebelstände und sprach gelegentlich auch von der verheißenen Verfassung; indeß wer hätte solche von dem geliebten alten Könige fordern mögen, da er sie nicht gewähren wollte. Wenn Friedrich Wilhelm der Dritte einmal todt sein würde, dann dachte man sich zu regen, dann mußten die Zustände, die man immer als ganz vortrefflich bezeichnete, freilich anders werden, aber bis dahin mußte man warten, wollte man zufrieden sein; und man sagte sich nicht, daß man sich in dieser Weise in ehrlichem Selbstbetrug auf den Tod des geliebten Königs hoffnungsvoll vertröstete.

In solchen Zeiten politischer Stille wendet sich die Neigung der Menschen, die, ihrer geselligen Natur zufolge, nach einer Gemeinsamkeit trachten, dem Theater und überhaupt dem gemeinsamen Kunstgenusse zu. Schauspieler und Virtuosen ziehen die Theilnahme auf sich, man bewundert das Talent und seine vergänglichen Leistungen, weil der Augenblick die Entwickelung von Charakteren und die Kundgebung ihrer Kraft und Thaten nicht begünstigt, und auch ich habe damals meine größten Erhebungen und meine reinsten Genüsse durch das Theater empfangen.

[234] Nicht all zu lange nachdem Herr von Holtei bei uns gewesen, kam Frau Auguste Crelinger mit ihren beiden Töchtern nach Königsberg, und durch ihren Schwager, den Rath Crelinger, natürlich auch in unser Haus. Die Töchter waren jung und hübsch, die Mutter noch immer sehr schön. Der Mutter ging der Ruf, eine große, tragische Künstlerin zu sein, voraus, den Töchtern stand das günstigste Vorurtheil zur Seite. Sie wurden als Künstlerinnen und Frauen, auf der Bühne wie in der Gesellschaft, mit der größten Zuvorkommenheit empfangen, und wußten dieselbe in jedem Betrachte zu verdienen. Frau Crelinger war, wie ich glaube, schon früher in Königsberg gewesen, denn mich will bedünken, daß meine Erinnerungen an ihr Gastspiel sich auf zwei verschiedene Epochen beziehen. Ich sah sie als Julie, als Donna Diana, als Sappho, als Gräfin Orsina, als Gräfin Terzky und in einem Raupach'schen historischen Trauerspiele. Ueberall war ihre Darstellung verständnißvoll und würdig, ihre Erscheinung schön und edel, ihre Deklamation richtig. Wo sie mit ihren Töchtern zusammen auftrat, mußte das ineinandergreifende Zusammenspiel erfreulich überraschen, die Mutter war durchweg imponirend, die beiden Mädchen oft sehr reizend und anmuthig, aber keine von allen Dreien hatte jene mit sich fortreißende Gewalt der aus dem innersten Wesen kommenden Leidenschaft und Naturwahrheit, welche dem Hörer die Freiheit des Urtheils nimmt, weil sie ihn unterjocht. Keine von ihnen hatte jene unwiderstehlichen Naturlaute und Genieblitze, welche Sophie Schröder, die einige Jahre vorher in Königsberg gewesen war, so unvergeßlich und unvergleichlich [235] machten. Frau Crelinger war bedeutend jünger als die Schröder, sie hatte vor dieser, die nie schön gewesen sein konnte, sondern klein von Gestalt, und als ich sie sah, schon sehr stark war, ihre große, vollendet edle Gestalt, ihr schönes Antlitz voraus; aber die Schröder hatte jene Zauberkraft des Genius, mit der sie sich wie ein Proteus jedesmal in das Wesen verwandelte, das sie zur Darstellung brachte. Sah man sie als Medea, als Isabella, als Königin Katharina in den Fürsten Chavansky, so konnte man sich diese Gestalten nie mehr anders als unter ihrem Bilde vorstellen. Man dachte sich dann die Medea, die Isabella, die Kaiserin Katharina nicht schön, nicht jung, aber man behielt von ihnen den Eindruck einer freien Seelengröße, einer geistigen Hoheit, und man hatte ein Widerstreben dagegen, diese Rollen jemals wieder von einer andern Schauspielerin ausgeführt zu sehen. Darin aber liegt das sichere Zeichen für das Große, für das zum Ideal vollendete in aller Kunst. Es verlangte und verlangt Niemand nach einem neuen Jupiterkopfe seit Phidias sein Jupiterideal geschaffen; es verlangt Niemand nach einer neuen Composition des Don Juan, und nicht die kleinste Abänderung oder Verzierung mag man willig ertragen, wo man einmal das Vollendete genossen hat.

Das Spiel der Crelinger war immer edel. Kein Mißton beleidigte, keine Gewaltsamkeit störte den Eindruck. Es war darin etwas Statuarisches, aber auch etwas konventionell Pathetisches und Deklamatorisches, das junge Talente reizen und verführen konnte, sich nach ihr zu bilden, und das ihren großen und nicht günstigen Einfluß auf die Berliner Bühne begründet hat. Nach [236] Sophie Schröder konnte sich nicht leicht Jemand bilden wollen, denn man mußte sie selbst sein, um die schroffen Gegensätze, welche die augenblickliche Begeisterung sie hervorrufen machte, vermittelnd zu erklären, und zur Einheit zu verbinden, und ich wüßte in Deutschland nur ihre Tochter Wilhelmine, die Schröder-Devrient, der das in gleichem Maße wie ihrer Mutter gelang.

Es war ebenfalls zu Ende der dreißiger Jahre, als diese Letztere wieder nach Preußen kam. Damals stand sie auf der Höhe ihres Ruhmes. Freilich war sie nicht mehr die sanfte Gestalt, wie in der ersten Jugend, es war jedoch nun ein Etwas in ihr, das größer war, als jene Anmuth, und das ich nicht anders als mit dem Ausdruck dämonisch zu bezeichnen weiß. Sie war über dreißig Jahre alt, war stark geworden, alle Formen ihres Kopfes und namentlich die Züge um Augen und Mund waren scharf ausgeprägt, aber sie paßten so nur noch besser zu dem großartigen Schädelbau, zu dem mächtigen Hinterkopf und zu dem prachtvollen Nacken. Ihre Schönheit war imponirend, ihre Haltung, auch wo sie sich im Freundeskreis bewegte, meist gebieterisch. Im Verkehr mit Frauen zeigte sie sich freundlich, im Verkehr mit Männern willkürlich, bald stolz herausfordernd und abstoßend, bald anziehend und im höchsten Grade zu gefallen bemüht, ja selbst die freie Benutzung äußerlichen Anreizes nicht verschmähend. Sie gefiel sich in der Wirkung, die sie auszuüben sicher war; indeß der Eindruck, den sie in jener Zeit in der Gesellschaft und als Frau auf mich machte, war kein angenehmer.

Desto herrlicher war sie auf der Bühne. Ein allgemeiner [237] Laut der Bewunderung empfing sie, als ich sie zum ersten Male wieder auf derselben erblickte. Schon drei Scenen hindurch hatte man den, in der deutschen Uebersetzung mitunter ganz sinnlosen Text der Norma, mit allem Glockenspiel Bellinischer Musik an sich vorübergehen lassen, als aus dem Dunkel des Waldes, gefolgt vom Chor der Priesterinnen, Norma hervortrat, leuchtend in dem weißen Gewande, das ihre Gestalt in langen anschmiegenden Falten umfloß, den grünen Kranz auf dem Haupte, das Beil der Opferpriesterin in ihrer Rechten. So schritt sie bis zu dem Altar im Vordergrunde; um sich schauend mit einem Blicke, der Alles verstummen machte, und sich auf das Beil stützend, intonirte sie die strafende Frage: »Wer läßt hier Aufruhrstimmen, wer Kriegesruf ertönen?«

Und so wie sie, mögen die Velleden und Thusnelden ausgesehen haben, so wie sie mußte man sich die Priesterinnen der deutschen Vorzeit denken. Alles was in dem Texte der Oper zusammenhanglos und unbegründet, ja selbst das, was jämmerlich in der Rolle des Sever erscheint, wurde durch sie nicht nur wahrscheinlich, sondern berechtigt und nothwendig. Der römische Feldherr Sever, der die Opferpriesterin Norma verführt, und dem sie zwei Söhne geboren hat, macht eine klägliche Figur mit seiner Treulosigkeit gegen Norma und mit seiner Liebe für die jugendliche Priesterin Adalgisa. Norma's Absicht, aus Rache die Söhne Severs zu ermorden, sticht bis zum Unglaublichen ab gegen ihre schwärmerische Hinneigung zu Adalgisa, als diese sich erbietet, auf Sever zu verzichten, und eben so unbegreiflich ist am Ende Norma's[238] plötzlicher Entschluß, sich als Schuldige zu bekennen und den Flammentod zu erleiden, dem sie Sever als Entweiher des Altars überantwortet.

Indeß dieser Norma gegenüber kam das Alles gar nicht in Betracht, denn sie war eine von den Frauengestalten wie Medea, von denen ein Mann hingerissen, aber nicht festgehalten werden kann, weil ihre Kraft und Gewalt erdrückend und damit erkältend und abstoßend wirken. Zum Herrschen geboren, war sie nur als Königin oder Hohenpriesterin an ihrem Platze. Mit der Hingebung an Sever hatte sie sich selbst verloren, und sie schien überall wie sich selbst entfremdet, wo sie nicht als gebietende Priesterin vor ihrem Volke stand. So tief sie den Schmerz der verlassenen Liebe ausdrückte, so rührend ihre Klage erscholl, wenn Adalgisa ihr das Bekenntniß ablegte, daß und wie Sever ihr Herz gewonnen, und sich in Norma dabei die Erinnerung an die erste Zeit der eigenen Liebe regte, so furchtbar sie erschien an dem Lager der schlafenden Söhne, die sie aus Rache tödten will, so blieb das für mich Alles hinter der Hoheit zurück, mit welcher sie im letzten Akte, Sever entgegentretend, zum Tode entschlossen, die Worte sang:


In dieser Stunde sollst Du erkennen,
Was für ein Herz Du Dein konntest nennen.
Du wolltest fliehn? Du bist bezwungen,
Treuloser Römer, Du bleibest hier!
Des Fatums Stimme, der Götter Gnade
Hat uns vereinigt am Todespfade,
Die Flammenzungen in Eins verschlungen
Theilt Deine Norma ein Grab mit Dir!

Es kann Einem wehe thun zu denken, daß eine [239] Schröder-Devrient durch Jahre und Jahre genöthigt gewesen ist, solche Trivialitäten zu singen, aber durch ihr göttliches Talent machte sie selbst diesen abgeschmackten Text zu etwas ganz Erhabenem; und man fühlte eine Genugthuung, wenn Norma sich dem unschönen Wirrsal ihres Liebesleidens durch den Tod entzog, wenn die Opferpriesterin und das beleidigte Weib zu einer Einheit gelangten, indem Norma sich und den Geliebten zugleich opferte, sich und die Götter zugleich rächte und befriedigte.

Von Wilhelmine Devrient als Sängerin zu sprechen, muß ich Andern überlassen, dazu fehlen mir die Kenntnisse, aber was sie als Darstellerin so auszeichnete, und was mir gleich damals in der Rolle der Norma so schlagend entgegentrat, das waren die Klarheit und Festigkeit, mit welcher sie den eigentlichen Gehalt einer dichterischen Gestalt erkannte und ergriff, und dann auch nur diesen allein, durch alle Abweichungen und Schattirungen der Rolle, ja selbst gegen die Irrthümer des Dichters aufrecht erhielt. Die Dichtung war ihr im Grunde nur der Stoff, ihre Schöpfung war immer frei, und da sie Opernsängerin war, immer unendlich größer als der Inhalt ihres Textes. Die Norma, wie sie gewöhnlich aufgefaßt wird, ist ein sehr geringes Motiv, nichts mehr und nichts weniger als eine verlassene Geliebte. Die Norma der Devrient aber war eine Priesterin, die es dem Manne nicht vergeben konnte, daß er sie von ihrer stolzen Höhe herabgezogen hatte. Auch ohne Severs Verrath, – das Gefühl wurde ich nicht los, – hätte diese Norma ihm und sich selbst, früher oder später den Untergang, als letzte That ihrer Freiheit und ihrer Macht [240] bereiten müssen, um sich dafür zu rächen, daß er sie vor ihrem Volke und vor ihrem eigenen Bewußtsein erniedrigt hatte.

Eben so erhaben, aber weiblicher war sie als Donna Anna im Don Juan; und wie in allen ihren Rollen stellte gleich die erste Scene, stellte gleich ihre äußere Erscheinung die Idee, welche sie sich von ihrer Aufgabe gemacht hatte, in solcher Weise fest, daß Niemand sich mehr darüber täuschen konnte, daß ein Mißverstehen ihrer Absicht kaum möglich war. Es war das etwas Charakteristisches an ihr, und eben das Zeichen ihrer großen schöpferischen Kraft. Was sie erkannt hatte, das stand gleich lebendig da. Wer sie als Norma, als Donna Anna, als Romeo, als Valentine gesehen hat, wird, wie ich glaube, das Bild ihres ersten Erscheinens in jeder dieser Rollen nie wieder vergessen, und eben dieses festgehalten haben. Andere Künstler lieben es, im Verlaufe des Stückes, an dem Gange der Entwicklung und der Ereignisse, den Charakter ihrer Rollen allmählig heraus zu gestalten. Die Devrient trat immer im vollen Besitz des Charakters auf, sie glich darin ihrer großen Mutter, sie war Donna Anna, war Romeo, war Valentine! Sie stand gleich mitten in ihrer Schöpfung und sie hatte Nichts mehr an ihrer Rolle zu erklären, wenn man sie angesehen hatte; sie hatte nur noch ihr Schicksal innerhalb der Bedingungen ihres Charakters zu erfüllen.

Als Norma eine Art von rächender Göttin, war sie als Donna Anna vollständig das Weib, das mit Wollust der Kraft des Mannes erliegt, und ihr Schmerz war nur der Wehschrei ungesättigter Liebesgluth. Gleich ihr Bestreben, [241] Don Juan festzuhalten, war voll leidenschaftlicher Liebe. Sie klammerte sich an ihn, und ihre Verzweiflung galt vor Allem seiner Flucht. Ich bin gewiß, daß sie Hoffmann's Erklärung des Don Juan gekannt hat, aber auch ohne diese, glaube ich, hätte sie die Donna Anna in seinem Sinne spielen müssen, denn diese Auffassung lag in ihrer eigensten Natur; und in keiner andern Rolle war sie so vollkommen sie selbst, als eben in der Donna Anna. Ihre Klage um den todten Vater klagte zugleich um den entflohenen und begehrten Geliebten, der den Mord des Vaters als Scheidewand zwischen ihnen aufgerichtet hatte, und als sie dann in Oktavio's Armen aus der Ohnmacht ihres Schmerzes erwacht, mußte man es ihren Worten, mußte man es dem bleichen, erschöpften Antlitz glauben, daß es für Donna Anna nur noch einen Gedanken, nur noch einen Wunsch geben könne: das Wiederfinden des Entflohenen; aber Niemand konnte glauben, daß sie ihn zu finden wünsche, um sich an ihm zu rächen. Ihr ganzes Wesen war in dieser Rolle aufgelöste Liebe, und selbst in dem Terzett mit Elvira und Oktavio, in welchem sie sich zur Entlarvung Don Juan's und zur Rache an ihm verbinden, konnte man sich des Gedankens nicht erwehren, daß Donna Anna's Worte: »Der Schritt ist voll Gefahren, ach wer wird Dich bewahren!« mehr der Sorge um Don Juan galten, als der Besorgniß um Oktavio, der neben einer solchen Donna Anna erst recht zum Schemen zusammenschrumpfte. Diese Haltung des Charakters, die sich durch die ganze Dichtung gleich treu blieb, gewann in der Schlußscene, deren Moralsprüche im Munde dieser Donna [242] Anna ohnehin befremdlich klangen, erst ihre volle Bestätigung durch ihre Bitte an Oktavio, die Hochzeit noch hinaus zu schieben. Der Wunsch: »lascia, o caro, un'ann ancora allo sfogo del mio cor!« »Ach, Geliebter, noch laß uns harren, dulden nur zwölf Monden noch!« läßt an und für sich auf keine große Zuneigung für Oktavio schließen, und wer ihn von den Lippen der Schröder-Devrient, mit dem Tone herzzerrissener Klage, mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes aussprechen hörte, der konnte nicht anders als glauben, daß ihre Leidenschaft, für den in Höllenflammen untergegangenen Don Juan, sie zurückschaudern mache vor der Verbindung mit ihrem biederen, makellosen und langweiligen Verlobten. Donna Elvira war eine verlassene Geliebte, Donna Anna eine verzweifelnde Braut, ein trauerndes, untröstliches und liebendes Weib.

Fidelio, der im Allgemeinen für eine der vollendetsten Rollen der Devrient angesehen wurde, entbehrte für mich der einheitlichen Gewalt, die grade ihre Persönlichkeit allen ihren übrigen Rollen verlieh. Aber das lag in dem Stoff der Oper, nicht an der Künstlerin. Die ersten halb komisch gehaltenen Scenen bereiten nicht gut auf das Pathos vor, das folgen soll, und die Verliebtheit Marzellinens ist vollends widerwärtig, da sie einer Frau gilt. Wer nun zu den unglücklichen Opernbesuchern gehört, denen es nicht gleichgültig ist, was gesungen wird, vorausgesetzt, daß gut gesungen wird, der kann diese Abneigung gegen das Meisterwerk Beethovens nicht ungerecht finden. Ich habe mich niemals einer Mißempfindung dabei erwehren können, und der Chor der [243] abgezehrten Gefangenen und Leonorens: »Da nimm, da nimm das Brod, Du armer, Du armer Mann,« haben mir stets den Eindruck des vollkommen Häßlichen gemacht, selbst wenn die Devrient die Leonore spielte und sang, selbst wenn ihnen ihr Klageruf: »O mehr als ich ertragen kann!« mit dem Ausdruck der Herzzerrissenheit folgte, den sie in denselben zu legen wußte, und der sicher allen Denen unvergessen sein wird, die ihn von ihr gehört haben. Es ist wahr, ihr Doppelspiel war in dieser Rolle bewundernswerth; jeder Augenblick, in welchem sie sich in der heiter aufrecht erhaltenen Männerrolle der eigenen Frauenempfindung hingab, war sehr innig, ihre ganze Haltung schön, aber zu ihrer rechten Geltung kam sie erst in den großen pathetischen Scenen des letzten Aktes. Erst in dem Quartett: »Er sterbe!« erst in Leonorens Ausruf: »Zurück!« fand man die ganze Mächtigkeit der Künstlerin wieder, und aus der Figur des jugendlichen Mannes entwickelte sich nun die große Gestalt des liebenden Weibes, der Alles wagenden, todesmuthigen Gattin in ihrer vollen Erhabenheit. – Sie selbst hatte übrigens eine Vorliebe für diese Rolle und erzählte es gern, wie sehr sie Beethovens Beifall in derselben errungen hatte.

Wenn ich behauptet habe, daß das eigentlich Pathetische, das Hochtragische ihr das Angemessenste war, so gelang ihr deshalb das Liebliche nicht weniger, und die Arie aus der Euryanthe: »Glöcklein im Thale« wurde, von ihr gesungen, zu dem schönsten musikalischen Ausdruck des Frühlings, zu einem Ausdruck mädchenhafter Sehnsucht, wie sie nicht reiner, nicht zarter gedacht werden [244] konnte. Man wurde in ihrer ganzen Auffassung der Euryanthe immer an die Genoveva erinnert, und das typisch Deutsche in ihrer Erscheinung trug mit dazu bei, diese mährchenhafte Erinnerung beständig wach zu erhalten. Das Weibliche, das Unschuldige, stand ihr vollkommen zu Gebot, aber die Fülle ihrer Kraft erschien, wie gesagt, im Pathos am freiesten und am glorreichsten.

Die Rolle, welche mir, vom dramatischen Standpunkt aus, immer als ihre höchste Leistung vorgekommen ist, war Romeo, weil in derselben ihre ganze Begabung, ihre Anmuth, ihre Innigkeit und ihre Kraft gleichmäßig Gelegenheit fanden, sich zu entfalten. Auch in dieser Rolle war ihr erstes Auftreten schon ein vollständiger Sieg, und ihre Arie: »Vor Romeo's Rächer-Armen soll kein Gott, kein Gott Dich schützen!« durchzuckte das Auditorium wie eine Flamme. Sie strahlte in Schönheit, wenn sie raschen Schrittes aus der Coulisse hervortrat, die feuerrothe Schärpe über der Schulter, das schwarze Barett mit wallender Feder auf dem blonden Haar, mit blitzendem Auge, mit stolz aufgeworfenem Kopfe wie ein Gebieter sich zwischen die Kämpfenden stellend – ein jugendlicher Held in aller seiner Pracht. Ich habe nie einen Mann gesehen, der sich in der Darstellung des Romeo mit der Devrient vergleichen konnte. Aus dem elenden Operntexte, unter dem Zwange der Unwahrheit, welche die italienische Musik ihr aufnöthigte, gestaltete sie das Ideal des Shakespeare'schen Romeo rein und erhaben heraus. Sie und kein Anderer war Romeo, und wer sie in dieser Rolle gesehen, ist wirklich einer Offenbarung des Genius theilhaftig geworden.

[245] Ueberwältigend durch Kraft und Schwung, durch Feuer und Adel, wo sie den Männern im Kampfe gegenüberstand, war sie unwiderstehlich in den Scenen mit Julia. Wie sie in Julia's Zimmer eintrat, wie sie ihr Barett und ihre Handschuhe von sich warf, wie sie Julia an ihr Herz drückte, das kann das Wort nicht wiedergeben. Und wenn Julia dann ihre Weigerung, dem Geliebten zu folgen, ausgesprochen hatte, wenn Romeo sein: »Nein! nein! Du liebst mich nicht!« im Tone des schmerzlichsten Vorwurfs und doch wie ungläubig erschallen ließ, so faßte man einen Zorn gegen Julia, die diesem Romeo gegenüber schwanken konnte. Aber sein ganzer Liebeszauber kam erst zur Erscheinung, wenn Romeo sich zürnend von der Geliebten abgewendet hatte, und sich dann ihr schnell wieder nähernd, die Worte sang: »Des Geliebten Glück und Leben sind in Deine Hand gegeben!« – Es lag in diesem Tone das felsenfeste Vertrauen in Julia's Liebe, und doch wieder die schmeichelnde Bitte, der es eine Wonne ist zu fordern, was gewährt zu finden ihr als ein immer neues Glück erscheint; es lag die höchste Liebesschönheit in und über diesen Worten Romeo's, und noch heute, während ich dies niederschreibe, höre ich sie mit ihrem vollen Zauber in mir erklingen.

Wie die reine Tragödie des letzten Aktes von Romeo und Julia ihr gelang, bedarf der Erwähnung kaum, aber es wird Niemand, der es gesehen, das Bild vergessen haben, das die Devrient darbot, wenn sie sterbend Julia's Kopf in ihre Hand nahm, und mit bleicher Lippe die letzten Küsse auf das Haupt der Geliebten drückte. Jede Bewegung, jede Miene war vollendet schön, jeder Ton [246] voll erschütternder Wahrheit – und all diese Poesie ist dahingegangen mit ihr!

Schon in jener Zeit hörte ich sie in der Gesellschaft Lieder singen, und schon damals waren es vorzüglich Schubert'sche und Mendelssohn'sche Compositionen, welche sie vorzutragen liebte. Der »Wanderer,« dessen Text ein wahres Wunder von leeren Redensarten ist, der Erlkönig, die Forelle, dann das Berger'sche Lied vom blauen Veilchen, kamen fast immer an die Reihe, und schon damals machte man ihr den Vorwurf, daß sie das Lied zu dramatisch behandle. Man vergaß dabei aber, daß sie nicht anders konnte, daß Alles, was sich irgend zur lebendigen Gestaltung eignete, ihr unter der Hand selbstständiges Leben gewann. Sie glich darin dem verzauberten Mädchen, unter dessen Berührung sich Alles auch wider seinen Willen in Gold verwandeln muß.

In den vierziger Jahren sah ich sie dann hier in Berlin zum letzten Male auf der Bühne als Valentine in den Hugenotten, und das war denn auch wieder recht eigentlich eine Rolle für sie. Die großen Scenen mit Raoul im vierten und fünften Akte gaben ihr Gelegenheit, ihre ganzen Mittel zu entfalten, und das Herz erbebte Einem in der Brust, wenn sie ausrief: »Nein, bei Gott, Du darfst diese Schwelle, darfst sie nicht überschreiten! Fest an Dich klammre ich mich an!« – Wenn man sie knieend den Geliebten um den Tod von seiner Hand anflehen hörte, da er es verweigerte, sich um ihretwillen dem sichern Untergange zu entziehen, fühlte man, daß hier ein Höchstes an Leidenschaft dargestellt und in voller Schönheit dargestellt wurde. Ich habe später die [247] Grisi, die eine große Künstlerin und eine mächtige Natur ist, als Valentine gesehen, aber auch hierin ist die Devrient mir als ein Ideal er schienen, und die todesmuthige Entschlossenheit, mit welcher sie im letzten Momente mit den Worten: »Hugenotten, auch wir!« den Mörderschaaren entgegenschritt, kann Niemand erhabener ausdrücken, als sie es that.

Ich habe bei den Erinnerungen an diese verschiedenen rhetorischen und theatralischen Leistungen mich so lange verweilt, um in gewissem Sinn eine Pflicht der Dankbarkeit abzutragen. Der ausübende Künstler, der Lektor, der Musiker, der Sänger und der Schauspieler haben keine andere irdische Unsterblichkeit als diejenige, welche die Erinnerung ihrer Zeitgenossen von ihnen aufbewahrt. Den Maler, den Bildhauer, den Dichter und den Componisten überdauern seine Werke. Sie reden von ihm, sie schaffen ihm Ehre und Liebe über seinen Tod hinaus, und oftmals in höherem Grade, als sie ihm zu Theil wurden, während er noch auf der Erde wandelte. Was der Schauspieler in feuriger Begeisterung erschafft, stirbt mit dem Augenblicke, welcher es erzeugte, und nur in der Wirkung, welche er auf Andere ausübt, wird ihm selbst die Möglichkeit zu Theil, sich von dem Gelingen seines Werkes zu überzeugen, sich an dem Gelungenen zu erfreuen. In diesem Sinne ist die Schauspielkunst die idealste aller Künste, sie ist losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, ein Leben, Schaffen und Vergehen im Moment; eine gewaltige Herrscherin über den Augenblick, und völlig ohnmächtig, wenn er verrauscht ist. Wie sollten also Diejenigen, welchen es gegeben ist, Großes in dieser Kunst [248] zu leisten, nicht ein gesteigertes Leben führen? Wie sollten sie nicht Erregungen und Entmuthigungen empfinden, die weit hinausgehen über das Maß des Gewöhnlichen? Und wie könnte oder dürfte man den Versuch unterlassen, im Worte, in dem bleibenden Worte, wenigstens den Schattenriß des Schönen und Erhabenen festzuhalten und für eine spätere Nachwelt aufzubewahren, an dem eine ganze Generation sich erfreut und erhoben hat?

Meine persönliche nähere Bekanntschaft mit Wilhelmine Devrient gehört einer spätern Zeit an. Damals in Königsberg erfreuten mich das stolze Selbstgefühl, mit dem sie von sich selber sprach, und die Ehrlichkeit, mit welcher sie sich über alle die mit ihr gleichzeitigen Opernsängerinnen stellte. »Ich bin von Gottes Gnade!« sagte sie einmal. »Es ist mir viel gegeben und ich habe gut damit gewuchert. Die nach mir kommen, werden Noth haben, mich vergessen zu machen.«

Der Stolz stand ihr prachtvoll an. Schmucklos wie sie ihr schönes Haar beständig trug, sah man doch das Diadem auf ihrem Haupte, und sie hatte recht mit ihrem Worte: »Ich kann keine Coiffüren tragen! Der Kopf ist nur für den grünen Kranz und für das Diadem gemacht!«

[249]
15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel

Für mich hatte die Begegnung mit den weiblichen Bühnenkünstlerinnen noch eine ganz besondere Bedeutung, weil sie mir das Bild einer Unabhängigkeit und einer persönlichen Freiheit vorführte, nach denen meine ganze Seele trachtete. Stundenlang konnte ich es mir bei meinem Nähen und Stricken ausmalen, welch eine Wonne es mir sein würde, unabhängig zu sein, einen selbstständigen Beruf zu haben, wie diese Frauen. Als ihr Onkel Crelinger die hübsche Clara Stich einmal neckend ausschalt, antwortete sie ihm lachend: »So darfst Du mit mir nicht sprechen, ich bin Hofschauspielerin, ich bin ein königlicher Beamter!«

Das hatte ihr gut gestanden, hatte allgemeines Lachen erregt. Ich aber, älter, reifer, ernster als sie, beneidete es ihr, daß sie dies sagen konnte, daß sie Etwas für sich selber war, daß sie erwerben, über ihren Erwerb frei verfügen, sich und Andern eine Freude machen konnte, ohne dazu fremdes Geld und eine besondere Erlaubniß nöthig zu haben. Dann kamen wieder andere Stunden, in welchen ich die Schauspielerinnen glücklich pries, weil sie zur Erscheinung bringen konnten, was in ihnen lebte. Es war meine Liebe, welche mir diese Möglichkeit besonders [250] wünschenswerth machte. Ich stellte es mir als das höchste Glück vor, auf irgend eine Weise dem geliebten Manne die ganze Fülle und Leidenschaft der Liebe, die ich für ihn im Herzen trug, kund geben zu können, ohne daß ich sie ihm selber in klaren Worten ausspräche. Ich meinte, die Dichtungen noch ganz anders beleben, mit einem andern Geiste, mit einer andern viel tiefern Wärme wiedergeben zu können, als diese hübschen Kinder. Ich konnte es mir mit den lebhaftesten Farben ausmalen, wie mir zu Muthe sein würde, wenn ich auf der Bühne stände, wenn der Geliebte unter dem Publikum säße, wenn ich ihm sagen könnte, wie ich ihm zu eigen wäre, wenn alle Welt mich bewunderte, mir Beifall zuriefe, und er allein es wüßte, daß ich dies Alles nur für ihn gesprochen hätte, daß ich diesen Beifall, diese Anerkennung, diese Bedeutung nur erstrebte, um sie ihm als Huldigung zu Füßen zu legen.

An andern Tagen beschäftigte mich die Königin Viktoria, und sie däuchte mir das glücklichste Weib der Welt. Jung zu sein, die Krone des größten Königreichs der Erde zu tragen, und sich selbst und mit sich selbst eine Königskrone und jedes denkbare Glück dem Manne hingeben zu können, den man liebte, das war eine Idee, das mußte eine Glückseligkeit sein, die mich schwindeln machte. Ich war in einem beständigen Phantasiren bei den allerbürgerlichsten und häuslichsten Verrichtungen, und doch kam ich nicht auf den Einfall, meine Phantasien zu einem selbstständigen Ganzen zu gestalten, und in dieser Reproduktion dem Geliebten ein Zeichen meiner Liebe zu geben. Meine Empfindung war mir zu heilig, ich war [251] auch viel zu verzagt, um mir ein Talent zuzuerkennen, das mich zu dichten befähigte, und meines Vaters immer wiederholter Ausspruch, daß die Frau nur für das Haus geboren sei, hatte doch so weit auf mich zurückgewirkt, daß ich niemals ernstlich an die Verwirklichung der Träume dachte, welchen ich mich trotzdem fortwährend überließ.

Wenn ich mich mit Sinnen und Vorstellen ermüdet hatte, wenn den hochfliegenden Wünschen die entmuthigte Ermattung folgte, so verlor ich mich in Grübeleien über das, was das Christenthum die göttliche Vorsehung und die göttliche Gerechtigkeit nennt, und was ich mir damals als Schicksal, und als Ausgleichung innerhalb des Schicksals bezeichnete. Ich fragte mich: warum bin ich nicht schöner? Warum bin ich nicht liebenswürdiger? Warum habe ich keine Vorzüge, die Heinrich lieben muß, da ich doch nicht anders kann, als ihn lieben und seine Gegenliebe begehren? Warum bin ich hier an diesem Platze? Warum in Verhältnissen, in denen Alles, was ich als das Beste in mir erkenne, was ich in mir hegen und pflegen möchte, eigentlich ein Ueberflüssiges, wenn nicht gar ein Lästiges ist? Warum wird mir anderseits ein Familienleben zu Theil, das Hunderte mir beneiden mögen, und das mich nicht mehr glücklich macht, aus dem ich mich fortsehne mehr und mehr?

Ich hatte keine Antwort auf diese Fragen, und darum lasteten sie mir nur um so schwerer auf dem Herzen. Ich quälte mich unablässig, wurde immer mehr mir selbst entfremdet, und machte mich krank und elend, während der Gegenstand meiner Liebe sich immer gesünder und freier herausbildete, und kaum eine Vorstellung davon [252] haben konnte, wie unglücklich ich mich fühlte. Wenn ich in meiner Stube saß, und bei meiner Näherei, oder meinem Lesen seiner dachte, war er mit Arbeiten beschäftigt, die seine ganze Kraft in Anspruch nahmen, ja sie hoben.

Heinrich Simon war Assessor geworden und als solcher erst bei dem Kammergerichte in Berlin, dann bei dem Oberlandesgerichte in Magdeburg angestellt worden. – »Meine hiesige Beschäftigung,« schrieb er mir einmal aus Magdeburg, »spricht mich an. Beim Kammergerichte, wo ich nicht viel zu thun hatte, lebte ich nur dem Vergnügen; hier fast nur der Arbeit; aber es ist um das Rechtsprechen etwas Schönes, Edles, Großes! Es überträgt ein Gefühl der innern Würde, das mir bisher in Beziehung auf mein Amt fremd war. Daher habe ich die Absicht, mit der ich hierher kam, zur Administration überzugehen, wo das Vorwärtskommen leichter wäre, auch völlig aufgegeben. Ich mag die Erhebung nicht verlieren, die mir aus meinem Amte innerlich erwächst.«

Er schrieb mir unregelmäßig. Bald folgten sich seine Briefe schnell, bald mußte ich sie sehr lange erwarten. Im Herbste schickte er mir meist die Tagebücher von seiner Ferienreise, und ich hatte dann die Möglichkeit, ihm zu folgen und es nachzuleben, wie er voll Jugendlust durch die Berge zog, ihre Höhen bestieg, mit Leuten aller Stände verkehrte, und mehr und mehr das Leben wieder als ein Glück, das Dasein als einen Genuß zu empfinden begann. Ich erfreute mich darüber, ich war glücklich, wenn ich aus seinen Tagebüchern und Briefen ersah, wie er in jedem Sinne vorwärts schritt, ich konnte mir ihn vorstellen, wie er in dem oder jenem Augenblicke [253] ausgesehen, wie er gesprochen, wie seine Stimme geklungen haben müsse. Ich war unermüdlich, mir alle die Möglichkeiten zu durchdenken, welche uns zusammenführen könnten; die Liebe macht eben Jeden zum Dichter. War ich einmal muthlos, so bewies ich mir, daß ein Mann, der einem Mädchen nach so langer Trennung noch den vollen Antheil an seinem Leben darbiete, es nothwendig lieben müsse; und wenn ich vielleicht vor Ankunft seiner Briefe mich mit einer nothdürftigen Entsagung zu beschwichtigen versucht hatte, so saß ich bald nach Empfang der Briefe an meinem Schreibtisch, und brachte ihm die ganze Fülle meiner Liebe dar, ohne daß das Wort jemals genannt wurde, und war glücklich darüber, daß meine Briefe ihn erfreuten, und daß ich ihn lieben durfte und konnte.

Fünf Jahre gingen so hin, und fünf Jahre sind so lang, wenn man jung ist! Jedes Jahr grub den Stachel dieser Leidenschaft tiefer in mein Herz. Ich konnte mir keine Antwort mehr geben auf die Frage, was aus mir werden solle, wenn er mich nicht liebte. Ich lernte es damals, was es heißt, einem Manne zu eigen sein. Zwischen einer Hoffnung und einer Enttäuschung schwebend, die für mich Glückseligkeit und Vernichtung in sich schlossen, hätte ich zu Grunde gehen müssen, wenn nicht ein unbewußter Selbsterhaltungstrieb und das Leben in einer großen Familie, mit all seinen Sorgen und Freuden, mit seinen Ansprüchen und seinen wechselnden Vorgängen, mir ein Gegengewicht geboten und mich gezwungen hätten, von mir selber abzusehen, wo es galt, für Andere, für die Meinen, Etwas zu leisten.

[254] Meine Brüder waren während dessen eine Zeit lang Beide durch ihre Berufsgeschäfte von Königsberg entfernt, und das wies mich, weil mir meine eigentlichen alten Lebensgenossen in ihnen entzogen wurden, mehr auf den Umgang mit meinen Schwestern an. Indeß sie waren, ganz abgesehen von der großen Altersverschiedenheit, welche uns trennte, in ihren Anlagen, in ihrer Richtung und in ihren Wünschen sehr von mir verschieden, und mein Vater hatte in ihrer Bildung und Erziehung die meine nicht wiederholt. Ich darf es sagen, daß er mich eben so achtete als liebte, daß er mich wie seine Stütze und seine Freundin behandelte. Er hatte es auch nach dem einen Versuche, gewaltsam in mein Leben einzugreifen, nie wieder unternommen, mir Etwas zuzumuthen, was gegen meine Natur war; aber es mochte ihm in jenem Falle unbequem geworden sein, mich nicht so »traitabel« gefunden zu haben, als es ihm nach seinen Ansichten wünschenswerth gewesen wäre, und die Schwestern wurden deßhalb weniger zur Selbstständigkeit genöthigt, wurden im Ganzen milder behandelt, mehr ihren Neigungen und mehr der Leitung unserer Mutter überlassen, an der sie von ganzem Herzen hingen. Sie wurden sorgfältig unterrichtet, das musikalische Talent der Aeltesten sehr gepflegt; indeß keines von den in jener Zeit erwachsenen Mädchen besaß jenes Streben nach allseitiger Ausbildung, jenen Drang Etwas aus sich zu machen, der mich von meiner ersten Kindheit an beseelt hatte. Ich blieb also mit meiner ganzen Richtung und meinem Streben unter ihnen allein, und ihnen damals in demselben fremd. Sie waren hübsche, liebenswürdige [255] Mädchen, und sind alle drei wackere Gattinnen und Mütter geworden, die sich, Jede innerhalb der ihr zu Theil gewordenen Lebenssphäre, in wechselnden und oft schweren Lebenslagen versucht und wohl bewährt haben.

Trotz der zwischen uns Schwestern obwaltenden großen geistigen Verschiedenheit, sprach mein Vater es aber beständig aus, daß alle seine Kinder in seinem Hause gleiche Rechte und gleiche Ansprüche hätten, daß mein Aeltersein mir kein Anrecht und keinen Vorzug gebe, daß alle Autorität in den Händen der Eltern ruhe und darin bleiben müsse; und diese Theorie, welche durch die Nothwendigkeit der Sache alltäglich ihren praktischen Gegenbeweis erfahren mußte, verstimmte mein Verhältniß zu den Schwestern vollends.

Es ist sehr schwer, von den vielen kleinen Einzelnheiten und Irrthümern ein Bild zu geben, aus welchen sich in solchen Verhältnissen die Störungen des Familienfriedens herleiten; schwerer noch, es begreiflich zu machen, wie ein Familienleben und eine Häuslichkeit, in welcher sich Alle durch feste, tiefe Liebe verbunden fühlten, und welche Jedem als ein Glück erschienen, ja überall als ein Muster genannt wurden, für ein einzelnes Glied dieses Verbandes allmählig zu einer Quelle ganz unerträglichen Druckes werden können, ohne daß dessen Liebe für die Seinen und dessen Anhänglichkeit für das Haus dadurch erschüttert werden. Und doch war dies mein Fall.

Jene Uebel, unter welchen ich im Vaterhause schon früh gelitten hatte, traten mit den Jahren nur um so deutlicher hervor. Meiner Mutter Gesundheitszustand war seit meiner Rückkehr von Breslau selten ein guter [256] gewesen. Sie litt an einem Halsübel, das allmählig in Halsschwindsucht überging. Ihre Stimmung war dadurch leicht getrübt, ihre Nerven so reizbar, daß man, selbst mit dem besten Willen, sie nicht leicht zufrieden stellte. Das Wohlbefinden, die Zufriedenheit, die Erhaltung der Mutter waren unseres Vaters einziges Bestreben, und damit doppelt der Mittelpunkt für unser Thun und Treiben. Jede unnöthige Aufregung, jede Sorge sollte ihr wo möglich erspart werden. Von der vielen Noth, welche unseres zweiten Bruders leidenschaftliche Natur uns machte, von seinen Tollheiten und Uebertreibungen erfuhr sie so wenig als möglich, und wenn es sein konnte, erst dann, wenn Alles überwunden war.

Einmal, als er noch in Königsberg gelebt, hatte er auch wieder ein Duell gehabt und eine schwere Verwundung erlitten. Der ältere Bruder kam mit der Nachricht, daß Moritz schwer verwundet sei, zu dem im Comtoir und in seiner Arbeit vergrabenen Vater. Mein Vater wurde blaß. Ist er sehr entstellt? fragte er. Der Hieb hat nicht das Gesicht getroffen, die Hand ist durchgeschlagen! antwortete mein Bruder. Gott sei Dank! rief der Vater aus. – Der Bruder bemerkte, voraussichtlich werde die Hand nicht zu retten, und damit die drei Jahre medizinischer Studien und die ärztliche Carriere für Moritz verloren sein. »So wird er etwas Anderes studiren! versetzte der Vater mit wiedergekehrter Ruhe. Ich werde gleich hinkommen. Bringt ihn dann bald nach Hause, damit die Mutter ihn sieht und sich nicht mehr als nöthig erschreckt, und Fanny soll die Vorkehrungen für ihn treffen.« Das geschah denn auch. – [257] Meine Mutter saß unter der Markise auf dem Wolm, als der Wagen vorfuhr. Obschon Moritz beide Arme in Binden hatte, weil man ihm, nach dem Verband der Wunde, am andern Arme zur Ader gelassen hatte, eine Entzündung zu verhüten, gewann er es über sich, mit einem Satze aus dem Wagen auf die Treppe zu springen, um der Mutter die Sache als nicht gefährlich darzustellen, und nur seine Blässe und das Blut auf seinem Hemde, das der abfallende Mantel zeigte, verriethen ihr was vorgefallen war.

Ich erzähle dieses Ereigniß, weil es die Art und Weise darthut, in welcher man für die Mutter sorgte, und die Stellung, welche ich natürlich einnehmen mußte. Wer aber in besondern Lebenslagen genöthigt ist, das Steuer in die Hand zu nehmen, greift bald unwillkürlich dazu, wo es Noth thut, und in einer Familie, in welcher die Kinder erwachsen und in das Leben eintreten, ist eine stets aufmerksame und feste Leitung derselben doppelt unerläßlich. Es gab zwischen mir und dem Vater über die Entwicklung und Erziehung der jüngern Schwestern bald dies, bald jenes zu berathen. Hier mußte angefeuert, dort Einhalt gethan werden, und alle Besprechungen über solche Dinge regten die Mutter weit mehr auf, als sie es verdienten. So lange der älteste Bruder im Hause gewesen war, hatte er den Vermittler gemacht. Ihm erkannten Mutter und Schwestern, wie die meisten Frauen, schon weil er ein Mann war, bereitwillig eine Ueberlegenheit zu, und er mochte auch versöhnlicher dabei zu Werke zu gehen wissen, als ich. Mein Einschreiten dagegen sahen Mutter und Schwestern [258] stets als eine Anmaßung und Kränkung an. Die Erstere konnte es nicht vergessen, daß ich ihr Kind war und daß sie mir eigentlich überlegen sein müsse, die Letztern waren trotz ihrer Erwachsenheit noch unfertig genug, den Ausspruch meines Vaters, daß seine Kinder einander Alle gleich seien, zu wörtlich zu nehmen, und ich selber hatte damals noch jene einfältige Wahrhaftigkeit, die das Rechte als Recht durchführen, und durch Ueberzeugung und auf dem gradesten Wege an ihr Ziel gelangen will. Mir war, so lange ich erzogen wurde, von meinem Vater und von meinen Lehrern ohne Weiteres befohlen worden, ich hatte die guten Folgen davon an mir verspürt, ich meinte also den Andern leisten zu müssen, was mir zum Heile gereicht hatte, und hielt sie und mich für zu gut, sie zu behandeln, und behandelt zu werden, wie wir unsere kranke Mutter behandeln mußten.

Mit all meinem guten Willen brachte ich es aber doch nur dahin, von meinen Schwestern für herrschsüchtig gehalten zu werden. Die dahinzielenden Aeußerungen fanden durch die Mutter sicher keine Widerlegung. Daß ich mich nicht verheirathete, daß ich, wie es viele verständige Leute nannten, mein Leben in einem thörichten Liebesverhältniß verschwendete, gereichte mir in den Augen der jungen Mädchen, denen solch ein Liebesverhältniß als ein schweres Unrecht angerechnet worden wäre, auch nicht zum Vortheil; und mit einer gewissen Mißstimmung gegen mich setzte sich in ihnen der Glaube fest, daß mein Vater mich vorziehe, mir zu viel Gewalt einräume, und daß ich kein Recht habe, sie leiten zu wollen, da ich mein eigenes Dasein ja zu keinem ersehnten Ziele zu führen wisse.

[259] Das Alles wurde nie ausgesprochen, ja ich möchte behaupten, die Mädchen selbst hatten kaum ein klares Bewußtsein über ihr Empfinden; aber die Wirkung desselben trat mir, da ich scharf beobachtete und fein fühlte, in tausend unscheinbaren Thatsachen, in kleinen Aeußerungen und hingeworfenen Bemerkungen schmerzlich entgegen; und ließ ich es mir beikommen, dem Vater Etwas davon zu sagen, so erhielt ich regelmäßig den Bescheid: »was Dir widerfährt, ist einzig Deine Schuld. Je überlegener man Andern ist, um so weniger kann man durch sie leiden, wenn man sie richtig und liebevoll behandelt. Hältst Du es für möglich, daß Du nicht von meinem guten Willen für Dich überzeugt sein könntest? oder umgekehrt, daß Du mich kränken oder ich mich von Dir beleidigt glauben könnte? Je mehr Du Dich der Mutter und den jüngern Schwestern überlegen fühlst, um so nachsichtiger und geduldiger mußt Du werden. Du hast in der Sache fast überall Recht, Du verfehlst es nur in der Form. Denke, was der Dichter von den Frauen sagt: durch Sanftmuth herrschen sie! Du sollst und mußt mir helfen, aber Du kannst es nicht, wenn man es merkt. Lerne herrschen, ohne es zu zeigen, lerne Dich damit begnügen, daß das Rechte geschieht, gleichviel aus welchen Gründen und auf welche Weise, wenn es nur geschieht; und vor Allem gieb es auf, Deinen Willen schnell durchzusetzen. Ein Tropfen höhlt einen Stein aus, und Du kennst ja das Mährchen von der Frau, die durch Geduld einen Löwen bezähmt hat. An allen Deinen Leiden trägst Du selbst die Schuld!«

Indeß so fest sich mein Vater uns gegenüber immer [260] behauptete, so hatte er selbst es doch nöthig, sich allmählig in ein neues Verhältniß zu uns einzuleben, seit wir erwachsen waren. Er mochte sich mit dem Glauben geschmeichelt haben, daß es ihm möglich sein würde, seinen Kindern alle Vortheile eines weitern Lebenskreises, alle Vortheile der modernen Bildung zu eröffnen, und daneben das patriarchalische Verhältniß aufrecht zu erhalten, innerhalb dessen er uns erzogen. Er hatte gewünscht, uns zu freien, selbstständigen Menschen zu erziehen, hatte unser Ehrgefühl, unser Selbstgefühl auf jede Weise genährt, und das Gepräge seines eigenen selbstbestimmten Charakters war, je nach unserer Individualität, an den Einzelnen mehr oder weniger stark erkennbar. Nun fiel es ihm auf, wenn sich an seinen Kindern die Folgen dieser Erziehung bemerkbar machten, wenn wir, trotz aller Liebe für die Eltern, unsere Selbstbestimmung in den Fällen zu wahren suchten, die unsere innere Nothwendigkeit und unser eignes Schicksal betrafen. Er freute sich, daß wir reif geworden waren, und gab seine unbedingte Herrschaft über uns, wenn auch nur mit innerm Widerstreben, ja mit Selbstüberwindung auf. Er lieferte damit den stärksten Beweis für die Klarheit seines Verstandes und die Größe seines Herzens. Er gab Rechte auf, um die Liebe freier Menschen zu gewinnen.

Erörterungen, wie die vorhin erwähnte, waren zwischen dem Vater und mir äußerst selten, aber sie trafen und überzeugten mich darum um so tiefer, und wenn mein Vater mich dann küßte, und mich sein liebes ältestes Kind nannte, so war ich auch so durchdrungen von meinen Fehlern und Irrthümern, und so fest entschlossen, [261] mich zu ändern und Alle zufrieden zu stellen, daß ich dann mit großem Ernste an den Kampf gegen mich selbst ging, und in der Selbstüberwindung und in jedem Zeichen von Liebe und Zufriedenheit, das mir von den Meinen entgegengebracht wurde, einen Lohn fand, der mir zeitweilig das Zusammensein mit ihnen, und das Leben im Vaterhause als einen Segen, ja fast als ein Unentbehrliches erscheinen ließ.

Dazu litten meine Schwestern ebenso wie ich von der Nervosität unserer armen Mutter, wenn sie schon bei ihrer Jugend es nicht ganz so schwer und tief empfinden konnten als ich es that. Es ist nichts Leichtes, einem Menschen zu genügen, der ganz ohne geistige Interessen, also ohne alle Fähigkeit ist, sich selbst auch nur eine Stunde angenehm und förderlich zu beschäftigen. Wer an nichts Großes, an nichts Ernstes zu denken hat, verfällt nothwendig auf Kleinliches, und wer in sich selbst kein Bedürfniß nach innerer Ruhe und nach Sammlung hat, läßt Andere auch nicht dazu kommen, und verbreitet zuletzt Unruhe rings um sich her.

Meine Mutter mußte es allmählig aufgeben, sich in der Wirthschaft selbst zu betheiligen. Sie durfte nicht mehr so viel Treppen steigen, nicht in den zugigen Hausfluren umhergehen, und es war daher nothwendig geworden, daß sie derjenigen Tochter, welche den Wirthschaftsmonat hatte, die Schlüssel und das Wirthschaftsgeld überließ. Mein Vater hatte ihr bewiesen, daß wir auf diese Weise das Haushalten erlernten, wir hatten auch Alle die Anlage dazu, fügten uns natürlich jeder Anordnung der Mutter, und diese behielt sich nur die Aufsicht [262] über die Wäsche, über das Nähen, und über die Garderobe der jüngern Schwestern vor; denn ich und die älteste Schwester erhielten seit Jahren das für unsere und für die damaligen Verhältnisse reichliche Garderobegeld von sieben Thalern monatlich, mit dem wir für unsere Toilette zu sorgen hatten, während die Wäsche uns von der Mutter angeschafft wurde.

Es war dies für uns eine höchst nützliche und äußerst bequeme Anordnung. Wir lernten uns einrichten, lernten sparen um die Andern beschenken zu können, blieben in der Gewohnheit uns aus Sparsamkeit Alles, was wir konnten, selbst zu machen, und schafften uns dadurch immer noch ein kleines Kapital für besondere Fälle. Indeß meiner Mutter wurde auf diese Weise ein großer Theil ihrer frühern Thätigkeit entzogen, und sie wußte, grade wenn sie sich verhältnißmäßig wohl befand, gar Nichts mit sich anzufangen. Feine Arbeiten, zu welchen wir ihr Lust zu machen suchten, waren ihr nicht geläufig, und was sie davon erlernte, ertrugen ihre Augen nicht lange. Nähen und stricken konnte und sollte sie nicht immerfort, was sollte also geschehen, da sie auch keine Freude am Lesen und Vorlesen hatte? Sie mußte dahin gelangen, sich in Unnützem Beschäftigung zu suchen, sie mußte andere Menschen in Bewegung setzen, da eigene Thätigkeit für sie leider nicht mehr, wie sie es wünschte, möglich war.

Hatte sie einmal mehr als gewöhnlich gelitten, so war diese stille Unruhe immer am schlimmsten. Sie wollte dann für ihren Haushalt an Sorgfalt einbringen, was sie an ihm in der Krankheit nach ihrer Meinung hatte [263] versäumen müssen, und des nutzlosen Schaffens war dann kein Ende. Drei weibliche Dienstboten, vier müssige erwachsene Töchter und eine Näherin, welche fast täglich in das Haus kam, weil sie der Mutter angenehm war, wurden dann um Nichts und wieder Nichts in Bewegung erhalten. Es war ein ewiges leises Hin- und Hergehen, ein stilles Treppenlaufen, ein vorsichtiges Aufräumen, ein tägliches Nachsehen der Wäsche, ein Reinigen der Vorrathskammern, was im Grunde Alles überflüssig war, weil wir Schwestern, Dank der mütterlichen Erziehung, ordentlich waren und das Unsere im Haushalt thaten. Die Dienstboten wurden allmählig verdrießlich, und in dieser Verdrießlichkeit lässig oder unhöflich; das wurde heftig getadelt, der Streit mit ihnen, der Dienstbotenwechsel blieben nicht aus, und wir hatten deßhalb eine weit schlechtere Bedienung als in den Jahren, in welchen man denselben weit mehr Arbeiten um geringeren Lohn auferlegen müssen. Verdruß und Widerwärtigkeiten machten dann die Mutter unwohl, es war kein Herauskommen aus dem Labyrinthe, und dabei hatte man die Mutter beständig zu bemitleiden, denn sie klagte, daß sie überflüssig sei, und war oft wirklich sehr unglücklich über ihre Lage.

Ich meinerseits fühlte mich in diesem Treiben förmlich erniedrigt. Ich konnte es nicht aushalten, ein Pack Wäsche fortzuräumen, wenn im nächsten Augenblicke mir die Näherin nachgeschickt wurde, um zu sehen, ob es auch so geschehen sei, wie es angeordnet worden; ich fand es unerträglich, Verrichtungen zu übernehmen, von denen die Mutter in der Regel behauptete, so gut wie die Näherin mache es Niemand. Was mich als Kind schon gepeinigt [264] hatte, das wurde mir jetzt zu einer Marter; denn für wirklich thätige Menschen sind eifrige Arbeit und gänzliche Ruhe ein Genuß, unnütze Geschäftigkeit eine Qual; und ich war oft völlig verzweifelt über ein Leben, das mir lästig war, und Niemandem zu frommen schien. – »Komm! wir wollen in's Theater gehen!« pflegte an solchen Tagen meine älteste, sehr leichtlebige Schwester mit komischer Entschlossenheit auszurufen. »Der Vater erlaubt's gewiß, und wir haben dann drei Stunden Ruhe!« –

Solchen Epochen der Rastlosigkeit folgten bei der Mutter meist Zeiten der größten Nervenschwäche, in welcher jedes Geräusch, das leiseste Sprechen, das Umwenden eines Blattes beim Lesen ihr beschwerlich waren. Der Vater verlangte dann unbedingtes Nachgeben für sie. Unser treuer Hausarzt, Doktor Kosch, beschwor mich, nicht darauf zu achten. Wenn der Vater ihn ersuchte, nicht so fest in dem Zimmer aufzutreten, nicht so laut zu sprechen, so machte der Doktor beim Fortgehen die Thüre mit Geräusch zu, und sagte mir draußen: »Ihrer Mutter Nervenleiden steigert Ihr Herr Vater durch seine Schwäche. Wenn das so fortgeht, werden Sie bald dahin kommen, Teppiche auf die Treppen und Tuchleisten zwischen die Thüren nageln zu lassen, und die Mutter wird dann noch mehr leiden. Sie als die Aelteste sind es selbst Ihrem Vater schuldig, die Mutter zu behandeln, wie man eine Nervenkranke behandeln muß.«

Ließ ich nun in Behutsamkeit geflissentlich nach, so hielt die Mutter mich für lieblos und herzlos, weinte und beschwerte sich bei dem Vater. Dieser verbat sich's, daß ich »des Doktor's Experimente« machte, die Schwestern [265] erinnerten sich dann an die einzelnen Fälle, in denen ich ihnen hatte entgegentreten müssen, und ohne daß sie sich ein Bewußtsein darüber machten, nahmen sie Partei wider mich. Das heißt, sie kamen zu dem Resultate: daß ich die Mutter weniger liebe, als sie es thäten, und es gab wirklich Augen blicke, in denen ich mich der Mutter förmlich entfremdet fühlte. Indeß kaum war solch eine Empfindung in mir aufgetaucht, so folgten ihr auch schon die bitterste Reue und die schwersten Selbstvorwürfe. Ich sah dann ihr feines, blasses und in der Ruhe so liebliches Gesicht. Ich hörte den heisern, gebrochnen Ton ihrer Stimme, ich fühlte ihre heißen Hände, und verwünschte Alles an mir, was nicht war wie sie, was sich in meiner Natur der ihrigen nicht fügen wollte. Ihr Ausdruck war oft so sanft, ihr schwarzes Haar legte sich so glatt und in so weichem Scheitel um ihre schmale Stirn, ihr Bestreben, sich für den Vater auch äußerlich noch angenehm zu erhalten, war so rührend. Mir kamen oft die Thränen in die Augen, wenn sie sich frisch ankleidete, um den Vater Abends bei der Rückkehr aus dem Comtoir recht heiter am Theetisch zu empfangen, wenn sie einmal wieder Gesellschaft sehen und mit uns leben konnte wie sonst. Ich zweifelte nie an ihrer Liebe für mich, ich konnte mir mit furchtbarer Deutlichkeit die Stunde ausmalen, in der diese guten Augen mich nicht mehr so freundlich anblicken würden, und meine Angst um sie, meine Liebe für sie, waren dann noch lebhafter als meine vorangegangene Mißempfindung.

Ich nannte mich dann eine Thörin, weil ich mir einbildete, mich nicht aufgeben zu dürfen. Ich läugnete[266] mir mit der Uebertreibung, zu welcher aufgeregte Zustände uns verleiten, jede Art der Bedeutung ab, ich sagte mir, ein Frauenzimmer, das nicht Liebe zu erwecken im Stande sei, sei Nichts werth. Und wessen Liebe hatte ich denn erworben, da weder Heinrich, noch die Schwestern mich liebten, wie ich es wünschte, und da ich für die Mutter auch Nichts zu sein verstehe? – Es blieb immer nur der Vater übrig; und wenn ich mit dem Fanatismus eines Büßenden gegen mich selbst gewüthet hatte, war der Hinblick auf den Vater der Hort, an dem ich mich emporrichtete. Ich habe um meine Mutter in jedem Betrachte viel gelitten, und wir lieben Denjenigen, um den wir in solcher Weise leiden. Ich habe im Leben nie nach ihr verlangt, wenn Schmerz und Kummer mich bedrängten, weil sie mir nicht hätte helfen können; aber ich ersehne mir ihre Theilnahme und ihren freundlichen Blick doch noch heute gar oft, wenn ich an der Seite meines theuern Mannes und in dem Kreise seiner Kinder, in unserm Hause ein Glück genieße, das sie mir so oft gewünscht hat, und das in solcher Fülle für mich zu hoffen ich damals weit entfernt war.

Inzwischen war mein ältester Bruder von Berlin nach Hause gekommen, und die Entfernung von der Heimath und das Leben in fremder Umgebung hatten auch auf ihn vielfach eingewirkt. Er hatte Beziehungen gewonnen, Verbindungen geschlossen, die uns fremd waren; er hatte Heinrich Simon kennen lernen, und da er mit einem, durch seine brüderliche Liebe für mich natürlichen Vorurtheile gegen denselben, nach Berlin gekommen war, so hatten sie sich nach kurzem Zusammenhange von einander [267] entfernt. Diese Entfernung aber wirkte für den Augenblick befangend, und in gewissem Sinne erkältend auf unser geschwisterliches Verhältniß und unser gegenseitiges Vertrauen ein. Auch von der Mutter und den Schwestern wußte ich aus tausend kleinen Aeußerungen, daß sie gegen Heinrich eingenommen waren und mein Festhalten an ihm als eine Thorheit, ja in gewissem Sinne als eine Unwürdigkeit betrachteten. Nach dem Gesetzbuch der bürgerlichen Sittlichkeit ist es ja nicht schicklich für ein Mädchen, einem Manne mehr Neigung zuzuwenden, als er für dasselbe hegt; und zu lieben, wo man nicht in gleicher Weise wieder geliebt wird, gilt als entschieden unweiblich und unanständig. Die conventionelle Sitte und Weiblichkeit sind gute Haushalter und gute Rechner, aber sie vergessen bei ihren Moralexempeln, es in Anschlag zu bringen, daß die schöne, glühende Begeisterung, die reine liebende Verehrung eines bedeutenden und guten Menschen ihren Lohn in sich tragen, und daß eine starke Leidenschaft trotz aller ihrer Qualen eine Erhebung und ein Glück ist.

Diese verschiedene Anschauungsweise hielt mich von dem weiblichen Theile meiner Familie fern. Mein Bruder fühlte sich von der Heiterkeit, Anmuth und Jugend der jüngern Schwestern lieblicher angesprochen als von mir. Er arbeitete dazu sehr viel, und der Verkehr mit Rath Crelinger, der ihn nach seinem vollen Werthe schätzte, wurde trotz der großen Altersverschiedenheit, welche zwischen den beiden Männern obwaltete, zu einem engen und dauernden Freundschaftsbande, das den Bruder vielfach in Anspruch nahm. Mein Vater hatte sich seit Jahren gewöhnt,[268] seine merkantilischen Angelegenheiten mit ihm durchzusprechen, der Freund und die Stütze der Mutter war er immer gewesen, und ich blieb mir also mit meinen »unberechtigten Ansprüchen«, mit meiner »Ueberspannung«, und mit meiner »gemüthlosen Verstandeskälte« augenblicklich mehr als in früheren Jahren selber überlassen, ich war und fühlte mich mehr als je zuvor allein. Für sich selbst stehen zu lernen ist aber ein Glück, das man mit vorübergehendem Schmerze nicht zu schwer erkauft, wenn man seinen Weg im Leben zu suchen und zu machen hat.

[269]
16. Kapitel
Sechszehntes Kapitel

Im Januar von achtzehnhundert neununddreißig war ich seit Monaten ohne alle direkte Nachricht von dem Geliebten gewesen. Seine letzten Briefe hatten eine Zurückhaltung verrathen, die ich empfand, ohne mir klar machen zu können, worin sie sich kund gebe. Es klang Alles wie sonst und war doch nicht wie sonst. Auch in den Nachrichten, die ich inzwischen von den Seinigen empfangen hatte, war seiner in einer Weise erwähnt worden, die mir auffiel. Man sprach von ihm so besonders, so vorsichtig gegen mich; eine gemeinsame Freundin von ihm und mir tastete ängstlich mit ihren Zeilen an mir herum, schien mir Etwas sagen und es doch verschweigen, mich aufmerksam machen und mich nicht beunruhigen zu wollen. Ich konnte das nicht ertragen. Mit derartiger Schonung behandelt zu werden ist immer kränkend für einen Menschen, der nicht feige ist; und sich über einen Mann, den man liebt und dem man sein Vertrauen geschenkt hat, indirekte Nachrichten durch Andere zu verschaffen, dünkte mir unwürdig.

Wissen aber, was um mich her geschah, wollte und mußte ich, und so setzte ich mich denn eines Tages hin, und fragte fest und ehrlich bei ihm an: was bedeutet das [270] weibliche, vorsichtige Geflüster und Heimlichthun in den Briefen? was wollen die Deinen mich errathen lassen und mir verschweigen? Es würde mich nur ein Wort, eine bestimmte Frage kosten, Alles zu erfahren; aber ich will es nur von Dir selber wissen. Was ist mit Dir vorgegangen?

Ich zählte die Tage bis zur Ankunft seiner Antwort. Ende Januar war eines Abends eine kleine Gesellschaft bei uns im Hause. Mathilde, die ich immer, wenn auch ohne die alte Befriedigung sah, unser Hausgenosse Rath Crelinger, die Mutter, meine Geschwister, und einige andere Personen waren in dem großen Wohnzimmer versammelt, als mein Vater aus dem Comtoir heraufkam und ein kleines Packet in der Hand hielt. Er begrüßte Alle und reichte mir, ehe er sich in der gewohnten Sophaecke niedersetzte, das Päckchen mit den Worten hin: Das ist für Dich, Fanny!

Ich hatte schon von fern die Handschrift erkannt. Mein Blut jagte mir durch die Adern, ich stand nach meiner Ueberzeugung vor einer großen Entscheidung, vor einem Wendepunkte in meinem Schicksal. Das Packet brannte mir in den Händen, ich konnte kein Auge davon lassen. An seinem Inhalt hing mein ganzes Leben, und ich konnte ihn nicht lesen, ich durfte ja nicht auffallen. Ich behauptete also meinen Platz und meine Ruhe mit der Selbstbeherrschung, die Jeder erlernt, der durch lange Jahre ein Herzensgeheimniß vor peinlichen Berührungen zu bewahren hat. Man sprach, ich weiß nicht was, ich antwortete, ich weiß nicht wie. Endlich, als die Singlehrerin meiner Schwester sich mit dieser an das Instrument [271] begab, um Musik zu machen, und die Aufmerksamkeit der Anwesenden sich dadurch auf einen bestimmten Punkte gerichtet hatte, setzte ich mich in meine Lieblingsecke zwischen dem Ofen und der Uhr nieder, und fing an, die Siegel zu erbrechen, den Bindfaden aufzuschneiden, die doppelte Umhüllung des Inhaltes abzuwickeln. Ein langer Brief von Heinrich's Handschrift fiel in mein Auge. Ich fing zu lesen an – ich war wie vernichtet.

Der Mann, dem meine ganze Seele sich zugewendet, an den alle meine Gedanken, Wünsche und Hoffnungen sich geklammert, der Mann, an den mein Sein gebunden war, liebte eine Andere – liebte mit der höchsten Leidenschaft und hatte entsagt, um nicht sein besseres Selbst zum Opfer bringen zu müssen.

Ich war nicht im Stande, den Brief fest in den Händen zu halten, ich hatte Noth, die einzelnen Blätter wieder so weit zusammenzulegen, daß ich sie in die Tasche stecken konnte. Ich wollte aufstehen, die Füße versagten mir den Dienst, ich wollte sprechen, und die Lippen waren mir wie gelähmt. Ich konnte eigentlich kaum sagen, daß ich irgend Etwas wollte. Im Weltuntergange kann dem Einzelnen nicht viel Willen, nicht viel Ueberlegung übrig bleiben, und wie bei einem Weltuntergange war mir zu Muthe. Der Boden, auf dem ich gestanden, in dem ich gewurzelt, aus dem ich meine Nahrung gezogen hatte, sieben lange, lange Jahre hindurch, war mir unter den Füßen fortgezogen. Das Ziel, auf das ich mein Auge gerichtet, nach dem ich gestrebt, war versunken, ich hatte keinen Halt mehr, mir schwindelte, ich wußte nicht, was ich that, kaum was ich oder wie ich eigentlich empfand.

[272] Ich erhob mich, um das Zimmer zu verlassen, ging aber wie im Traume, grade nach der entgegengesetzten Seite hin, und blieb mitten auf dem Wege wie verwirrt stehen. Niemand außer Crelinger bemerkte das. Er trat an mich heran und sagte leise: »Gehen Sie hinauf, Fräulein Fanny! Sie sind fassungslos!« Er begleitete mich, neben mir herschreitend, bis zur Thüre hin, und ich begab mich in mein Zimmer.

Es war finster, die Rouleaux herabgelassen, das Feuer brannte im Ofen. Ich warf mich mit einem Aufschrei auf das Sopha, ich meinte, das Herz zerspringe mir in der Brust; aber ich konnte nicht weinen, nicht liegen bleiben. Ich sprang empor, zog das Rouleau in die Höhe, stieß die Fensterflügel auf, und legte mich in das offene Fenster. Es war eine brennende Kälte, und ich war im bloßen Halse.

Ich sah hinaus, die Straße war still. Der Schnee lag blendend weiß auf dem Boden, auf den Wolmen, auf den Dächern der gegenüberstehenden Häuser. Die Schritte, welche auf den Treppen vor den Wolmen eingetreten worden, waren bereits wieder verweht und verdeckt. Die Laterne, die zwischen unserm Hause und der gegenüberstehenden Ecke an eiserner Kette hing, schwankte und schaukelte schrillend in dem starken Sturme hin und her. Ich blickte zum Himmel empor, die Sterne schienen mit nordischer Klarheit von dem tiefdunklen Firmamente hernieder. Ich haßte ihr helles Licht, ihr sinnloses Geflimmer in dem Augenblicke. Aber der eisige Sturmwind entzückte mich, der mir die Locken in die Höhe jagte und sie mir über die Augen trieb, und mit einer wahren [273] Wollust fühlte ich die schneidende Kälte der Luft auf meinem Nacken und auf meiner Brust. Erhitzt wie ich war, hoffte ich einen plötzlichen Tod zu finden; denn zu sterben, das war Alles, was ich verlangte. – Und nicht einmal einen elenden Schnupfen trug ich davon. Man ist wie gefeit gegen alles äußere Ungemach, wenn man so unglücklich ist!

Was ich dachte? – Ich hatte gar keine Fähigkeit zum Denken. Es war wie ein Fallbeil auf mich hernieder gefallen. Nur eine Art unbestimmter Empfindung war in mir rege, und diese rief in mir beständig: er ist so unglücklich als Du! – und ich hatte darüber eine Freude, eine Freude, die mir das Herz zerriß.

Wie lange ich so am Fenster mit der Todessehnsucht zugebracht, weiß ich nicht. Ein Zuruf schreckte mich empor. »Um Gottes willen, was machen Sie?« sagte plötzlich eine Stimme hinter mir, und eine Hand zog mich von dem Fenster zurück. Es war unser treuer Freund, Rath Crelinger, der mir zu Hülfe kam. »Man vermißt Sie,« fuhr er fort, »können Sie nicht hinunter kommen?«

Ich zündete Licht an, er mochte sehen, wie verstört ich war, aber ich erklärte, daß ich ihm gleich folgen würde. Er war damit zufrieden und entfernte sich. In der Thüre aber wendete er sich noch einmal um. »Ich kann mir denken, was Ihnen geschehen ist!« sprach er. »Ich verlange nicht, daß Sie mir's sagen; aber was es auch sein mag, es läßt sich Alles überstehen, und die Zeit wird Herr über Alles. Wir sprechen doch wohl einmal davon!«

[274] Er ging hinaus; ich hatte mein verstörtes Haar zu ordnen. Als ich vor den Spiegel trat, mußte ich lachen. Mein Bild sah mir ganz unverändert aus demselben entgegen. Man meint immer, solche innere Revolutionen müßten sich auch äußerlich kennzeichnen, man möchte vernichtet sein, wenn man sich vernichtet glaubt; und man ist ergrimmt darüber, daß es nicht so ist. Denn wir erhalten in unserer Dauerhaftigkeit gegen unsern Willen eine Bürgschaft für das Ueberstehen und Verschmerzen des gegenwärtigen Zustandes, gegen welche man sich empört, weil sie gegen die Berechtigung desselben zu protestiren scheint. Und doch ist die Leidenschaft berechtigt, schon darum, weil sie der Kraftmesser der menschlichen Natur ist. Nur wer es weiß, welcher Stärke er im Lieben und im Hassen, im Genießen und im Leiden fähig ist, besitzt sich ganz und wird Herr über sich selbst.

Als ich die Treppe hinunterging, fühlte ich eine ganz unerwartete Ruhe über mich kommen, die Ruhe der Verzweiflung. Es hatte Alles gar Nichts zu bedeuten, was jetzt noch geschehen konnte, es war für mich Alles vorüber.

Im Wohnzimmer stand der Tisch für das Abendbrod gedeckt, ich setzte mich mit den Andern zum Essen nieder. Man fragte, weßhalb ich mich entfernt, weßhalb ich so erhitzt sei, ich schützte meinen alten Herzkrampf vor, damit beruhigte sich Alles. Wir aßen und plauderten wie immer. Man erhob sich danach, der Eßtisch wurde beseitigt, man fing noch einmal an, Musik zu machen, und da der Zufall tückisch ist, bat mein Vater mich, die Weber'sche Aufforderung zum Tanz zu spielen, [275] die er gern hörte. Daß ich nicht Folge leisten könne, fiel mir gar nicht ein. Weßhalb sollte ich auch nicht spielen? fragte ich mich. Ich würde ohne alle Weigerung sogar getanzt haben, hätte man es von mir verlangt. Es wird ja morgen und übermorgen und in alle Zeit hinaus nicht anders sein, sagte ich mir, und leben werde ich ja müssen, so gut wie jetzt. Was morgen, was künftig sein muß, kann ich auch heute thun. Ich spielte also mein Stück herunter; aber mehr im Widerspruch ist der Geist dieser Composition vielleicht niemals mit der Empfindung desjenigen gewesen, der sie vortrug, als in diesem Falle.

Ich war auf das Aeußerste ermüdet und erschöpft, als ich endlich zur Ruhe kam, und obschon ich wachen wollte, bis die Schwester schlafen würde, um dann den Brief noch einmal zu lesen, sank ich in Schlaf. Er währte jedoch nicht lange, und ich erwachte erschreckend mit dem vollen Gefühl meines Unglücks.

Ich hatte das Packet unter mein Kissen gelegt. Nun zündete ich Licht an, und las und las, immer dasselbe, immer dasselbe, und jedesmal daß ich es las, wurde mein Verlust mir fühlbarer, mein Elend mir erdrückender, denn jetzt lernte ich es erst kennen, wie dieser Mann zu lieben vermochte.

Ohne sich zu schonen, klagte Heinrich sich der Schwäche an, in der er sich mir gegenüber gehen lassen. Es hatte ihm wohlgethan, sich von einem starken ehrlichen Herzen, auf dessen Ausdauer er rechnen konnte, geliebt zu wissen, und er hatte sich die Frage, was daraus werden solle, wenn er sie sich vorgelegt, nicht streng beantwortet. Er [276] hatte das Leben, die Zeit, die Verhältnisse walten lassen wollen. Er hatte gewußt, daß ich an ihn gefesselt sei, hatte sich dessen gefreut, und seine Herrschaft und seine Freiheit zugleich behalten wollen. Er hatte empfunden und gehandelt, wie Tausende von Männern handeln, weil sie sich und ihr Geschick, sich und ihre Zufriedenheit, sich und die Gestaltung ihrer Zukunft, höher und wichtiger schätzen als das Weib und dessen Loos – und von der Hand und dem Herzen einer Frau war dem stolzen Herzen die Nemesis dafür geworden.

Seine Liebe und Hingebung erschlossen ihm das Verständniß für die meine, sein gewaltiger Schmerz machte es ihm klar, was ich jetzt zu erdulden hatte, und mit der wahren Reue, die nicht zurückblickt, sondern vorwärts sieht, sagte er mir: »ich habe Nichts von Dir zu fordern, Nichts von Dir zu erbitten. Hast Du es nöthig, um Frieden für Dich zu finden, so wende Dich von mir. Kannst Du Dich überwinden, wie ich es thun mußte, so bleibe mir. Laß uns als Freunde an einander halten, und in keiner Stunde Deines Lebens werde ich Dir fehlen.« – Und er hat redlich Wort gehalten bis an sein Lebensende!

Ich habe meinen Zustand an jenem Abende mit der Zerstörung durch ein Erdbeben verglichen. Wie nach einem solchen Unheil sah es am darauf folgenden Tage in meinem Innern aus. Es war Alles über den Haufen geworfen, es lag Alles wirr und wüst durcheinander, ich wußte nicht, ob sich die Bruchstücke meines Lebens jemals wieder zusammen fügen lassen würden, und wonach ich zu greifen hätte, um mich für den Augenblick daran zu [277] stützen und zu halten, um mich vor der Vernichtung zu bewahren. Aber worauf ich meinen Sinn auch richtete: die Liebe meines Vaters, meine Geschwister, mein Vaterhaus, meine Pflichten für dasselbe, die Freundschaft unseres vortrefflichen Hausgenossen, die Liebe von Heinrich's Mutter, es brach Alles wie Binsen unter meiner Hand zusammen, es war mir an dem Tage völlig werthlos. Der Trost, daß man jedes Leid überstehe, daß man vergessen könne, ein neues Leben leben könne, war mir zuwider und ich wies ihn heftig von mir. Was war ich denn, wenn ich nicht mehr so unglücklich war? Wie die verstoßene Königstochter sich in ihr langes blondes Haar einhüllt, sich mit dem Einzigen umgiebt und schirmt, was man ihr noch gelassen hat, so hüllte ich mich in meinen Schmerz ein. Er war mein Schutz, mein Kleid, mein Rang. Ihn mir nehmen wollen, hieß mich des Letzten berauben, was ich noch besaß – und er hüllte mich für lange Zeit in seinen dunkeln Mantel ein, schnitt mich für lange Zeit von Allem ab, was mich umgab.

Nur Eins stand in mir fest. Ich wollte nicht kleinherziger, nicht geringer sein, als der Geliebte mich geglaubt hatte. Ich wollte und mußte mir seine Freundschaft und sein Vertrauen erhalten um jeden Preis, und ich traute mir zu, dies zu vermögen. Ich schrieb ihm, noch ehe der erste Tag zu Ende ging. Jetzt, da er mir verloren war, jetzt gönnte ich es mir, ihm einmal im Leben zu sagen, wie sehr ich ihn geliebt. Und wie er sich mir zum Freunde angelobt, so habe auch ich ihm das gleiche Versprechen wiedergegeben, und auch ich habe mein Wort redlich gehalten, bis an sein Lebensende und darüber hinaus.

[278] Hier aber möchte ich die Worte wiederholen, die ich bei dem Beginne meiner Lebensgeschichte niederschrieb: »Es ist etwas Besonderes um das Festhalten und Aufzeichnen seiner eigenen Vergangenheit. Man ist Darsteller und Zuschauer, Schöpfer und Kritiker, jung und alt zugleich. Man empfindet alle seine genossenen Freuden mit der Kraft der Jugend, man blickt auf seine vergangenen Leiden mit dem Gefühle eines Ueberwinders zurück.« Und ich setze jenem Ausspruche jetzt noch hinzu: damit man aber solche auf das innere und äußere Erleben gerichtete Memoiren schreiben könne, sind drei Vorbedingungen unerläßlich.

Es gehört dazu ein durch die Phantasie nicht bestochenes und nicht zu beirrendes Gedächtniß, wie die Natur es mir verliehen. Es gehören dazu ein fester Glaube an die überzeugende Kraft und Macht der Wahrheit, und ein Lebensweg, dessen man sich, trotz seiner Irrthümer, mit all seinen Leiden und Freuden nicht zu schämen hat. Denn wie man von dem Menschen im Allgemeinen sagen kann: sage mir mit wem Du umgehst, und ich will Dir sagen, wer Du bist! – so darf man von einem Weibe unbedenklich behaupten: man könne es beurtheilen nach dem Werth und der Bedeutung der Männer, die es geliebt hat; während das Gleiche nicht in gleicher Weise für die Männer gilt.

[279]
17. Kapitel
Siebenzehntes Kapitel

Im März, wenige Tage vor meinem achtundzwanzigsten Geburtstage, kam mein jüngerer Bruder nach beendigtem medizinischen Staatsexamen in das Vaterhaus zurück. Er war noch nicht vierundzwanzig Jahre alt, und stand nun auf dem Punkte, eine Bestimmung über seine Zukunft treffen zu müssen.

Die mehrjährige Entfernung von der Heimath, während welcher er nur in zwei Besuchen nach Hause zurückgekehrt war, hatte ihn in jedem Betrachte vortheilhaft entwickelt. Man rühmte seine Kenntnisse in seinem Fache, er hatte von Jugend auf viel gelesen, war in der deutschen und französischen Literatur bewandert, seine Ideen waren reifer geworden, seine gesellschaftlichen Formen abgeschliffen; aber er hatte noch immer den Zug zum Ungewöhnlichen, und eine unbestimmte Sehnsucht in die Ferne, die ihn nicht recht zur Ruhe kommen ließen, und ihn besonders in jenem Zeitpunkte plagten, in welchem er sich, nach der hinnehmenden Arbeit für sein Examen, nun plötzlich unbeschäftigt fand. Er wohnte natürlich wieder in unserm Vaterhause, und da der Vater sich nur schwer von jener strengen Controlle entwöhnen konnte, welche er von jeher über uns zu führen für Pflicht erachtet, [280] so verlangte er auch bald, der Sohn solle sich auch während des Interregnums, in welchem er sich befand, eine bestimmte Tageseintheilung, bestimmte Arbeits-und Studirstunden feststellen, überhaupt, wie er es nannte: »etwas Ordentliches thun!«

Nun gehörte Moritz aber zu jenen Naturen, denen grade das äußerlich regelmäßige Thun und Arbeiten ein Zwang, und jeder Zwang unerträglich war. Die bloße Vorstellung, daß er um diese oder jene Stunde Etwas thun solle, was um diese Stunde zu thun nicht nöthig sei, machte ihm dieses Etwas zuwider. Es wäre ihm leicht und natürlich gewesen, von frühe bis in die Nacht in einer medizinischen Praxis, oder in einem Hospitale nicht zu Athem zu kommen; aber freiwillig von Morgens bis Mittag am Studirtisch zu sitzen, weil der ältere Bruder um diese Zeit auf dem Gerichte, der Vater im Comtoir beschäftigt war, dazu konnte er sich nicht bringen. Der Vater sah das, ohne es an dem Sohne, der ein Mann war, offen tadeln zu mögen; Moritz fühlte, daß der Vater nicht mit ihm zufrieden sei, und da er denselben sehr liebte, machte dieser Gedanke ihn selber unbehaglich, während er sich mit Recht sagen mußte, daß er sich von dieser Art der väterlichen Beaufsichtigung frei machen müsse, falls er in Königsberg bleiben solle.

Aber die Wahl seines nächsten Aufenthaltes und die Plane für den Beginn seiner selbstständigen Laufbahn waren ein anderer Gegenstand der Erörterungen und der Sorgen. Da der Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten ihm zupassenden Weges meist bewußt ist, so beharrte Moritz noch immer bei seinem alten Verlangen, [281] die Welt zu sehen, und sprach oftmals den Gedanken aus, als Schiffsarzt sich irgend einer Expedition anzuschließen, nach Algier zu gehen, nach Amerika auszuwandern, kurz einen Lebensweg zu wählen, der ihm jene Aufregungen und jene Entwicklung und Bethätigung seiner Kraft ermöglicht hätte, in denen er sich allein wohl befand.

Davon wollte der Vater aber Nichts hören. Er hatte es in der Erziehung seiner ältesten beiden Kinder mit Elementen zu thun gehabt, die seiner Natur auf die eine oder die andere Weise verwandt waren; bei seinem zweiten Sohne war das nicht der Fall, und er sah es nicht ein, oder wollte es damals noch nicht zugeben, daß die Erziehung ebensowohl eine auf Erfahrung begründete Wissenschaft mit ganz bestimmten Regeln, als eine freie Kunst sei, in welcher für jeden Ausnahmefall eine andere Methode angewendet werden muß, wenn die Erziehung ihrer eigentlichen Aufgabe genügen soll: die jedesmaligen Anlagen in der ihnen angemessenen Richtung zu entwickeln, und auf das ihnen entsprechende Ziel hinzulenken.

Er liebte diesen Sohn mit der ganzen Liebe, die er für Jeden von uns hegte, er hatte oft Ursache gehabt, sich von der reichen Begabung desselben und von seiner Liebe für den Vater zu überzeugen. Er erzählte oftmals, daß Moritz von frühester Kindheit auf, anders gewesen sei, als wir; indeß er zog nicht die richtige Folgerung daraus. Keiner von uns Allen hatte sich je einer Strafe widersetzt, sie waren auch sehr selten und immer verdient gewesen. Moritz, der schon als zweijähriger Knabe von einer leidenschaftlichen Heftigkeit gewesen war, hatte bisweilen Schläge bekommen, und kaum sechsjährig, als der [282] Vater ihn einmal gezüchtigt, ausgerufen: »Bin ich denn dazu auf der Welt, geschlagen zu werden?« Das hatte den Vater bewogen, ihn vorsichtig zu behandeln; aber statt diesen Knaben zur freien Selbstbeherrschung zu gewöhnen, die allein ihn hätte zügeln können, hatte der Vater ihn, wie uns Alle, unter seiner Herrschaft behalten wollen und es war daraus Nichts entstanden, als daß Moritz sich selbst nicht beherrschen konnte, während ihm jede andere Herrschaft lästig fiel, und daß er die selbstvertrauende Energie eingebüßt hatte, die ihn hätte leiten können. Er ist mir oft wie ein Schiff vorgekommen, das ohne Steuermann mit vollen Segeln auf dem Meere herumgetrieben wird. Aufregung und Entmuthigung wechselten bei ihm ab, und in einem Zustande selbstbewußter Ruhe, oder fest entschlossenen Wollens, habe ich ihn kaum gesehen. Geistreich, gut, schwungvoll und von einer kindlichen Liebenswürdigkeit, wurde er seines Lebens niemals im wahren Sinne froh; und so lustig und ausgelassen er sein konnte, war man niemals sicher, daß er in dem nächsten Augenblicke nicht mit vollster Wahrheit sein ganzes Leben als ein ihm nicht zusagendes bezeichnete, und es nicht der Mühe des Lebens werth fand. Er taumelte recht eigentlich von Begierde zum Genuß, und schmachtete doch in demselben nach etwas Besserem und Höherem als der Rausch befriedigter Begierde ihm gewährte. In außergewöhnlichen Verhältnissen wäre er ohne Frage ein bedeutender Mann geworden; in der Beengung durch kleine Verhältnisse rieb er sich nutzlos auf, und als er endlich später das ihm zusagende Terrain gefunden hatte, ereilte den Neunundzwanzigjährigen leider ein jäher Tod.

[283] In den Tagen, von denen ich bisher gesprochen, hatte Moritz für seine sogenannten abenteuerlichen Plane indessen nicht nur den Vater, sondern uns Alle gegen sich. Die Vorstellung von weiten Seereisen, von großen Entfernungen war uns Allen nicht so geläufig, als sie es jetzt den Menschen in der Zeit der Dampfschiffe, der Eisenbahnen und der Telegraphen geworden ist. Wir suchten sie ihm, jeder auf seine Weise, auszureden, und doch war der Vater zugleich der keineswegs begründeten Ansicht, daß es Moritz unmöglich fallen werde, sich in seiner Vaterstadt, in welcher sein wildes Studentenleben und seine anderweiten Abenteuer noch in frischem Andenken standen, eine ausreichende ärztliche Praxis zu erwerben.

Die Mutter war anderer Meinung und zwar mit dem vollsten Rechte. Daß Moritz nicht in die Welt gehen solle, war bei ihrer Kränklichkeit ein sehr natürlicher Wunsch; und sie machte darauf aufmerksam, daß er den Frauen angenehm sei, daß alle Kinder ihn liebten, daß die geringen Leute schnell ein Herz zu ihm faßten, und daß ein Arzt, der die Frauen, die Kinder und die Armen für sich habe, immer sicher sein könne, zu einer Praxis zu gelangen. Ein paar seiner Freunde erinnerten in gleicher Weise, daß er grade durch sein Universitätsleben auf eine Kundschaft unter den Studenten rechnen könne, die ihm weiter vorwärts helfen würde; und wenn er in den hergebrachten bürgerlichen Verhältnissen bleiben sollte, war er anscheinend nicht abgeneigt, sich in Königsberg niederzulassen, da er mit großer Innigkeit an uns Allen, besonders aber an den Eltern und dem Bruder hing. Indeß hier trat die Feigheit seiner Geschwister [284] ihm entgegen. Wir fürchteten die Reibungen und Mißhelligkeiten, die bei dem besten Willen von beiden Seiten, zwischen dem Vater und dem Sohne gelegentlich entstehen konnten, bis der Vater sich gewöhnt haben würde, ihn völlig von seiner Aufsicht frei zu geben; und man gerieth also auf den Gedanken, er solle seine Niederlassung in einer der preußischen Provinzialstädte nehmen. Dagegen widersetzte ich mich nun so sehr ich konnte, weil ich überzeugt war, daß die Lebensverhältnisse einer kleinen Stadt nicht das Element in sich trugen, dessen dieser Bruder zu seiner Entwicklung bedurfte, und darin irrte ich mich nicht. Man wußte also buchstäblich nicht, was mit ihm werden solle. Da nun jeder seine Meinung äußerte und diese eifrig vertheidigte, wie sich denn im Familienleben auch der Unbedeutendste nicht nur für befugt, sondern für verpflichtet hält, mit zu rathen und zu thaten, auch wenn er die Sache nicht eben sonderlich übersehen kann, um die es sich handelt, so kamen statt eines vernünftigen Planes, eine große Menge von natürlichen Empfindungen und von zärtlichen Sorgen in Betrachtung, und ich lieferte meinen Antheil dazu so gut wie alle die Andern. Wer sich bei diesen Erörterungen endlich am gleichmüthigsten verhielt, das war Derjenige, den sie betrafen.

Moritz sah bald ein, daß er ein ihm gemäßes Resultat nicht werde erreichen können. Das Reden, Ueberlegen, Anfragen, Bestimmen und Abändern währte eine geraume Zeit. Der junge Doktor fing an, seinen Müssiggang schwer zu empfinden. Daneben wurde er es müde, heute die arme Mutter über seine voraussichtliche Entfernung [285] sehr gerührt zu sehen, und morgen von mir weitgehende Plane entwickeln zu hören, welche mit seinen Neigungen übereinstimmten, und die nur den Fehler hatten, unter unsern Verhältnissen und grade für ihn, nicht ausführbar zu sein, während sie es unter denselben Bedingungen für mich gewesen wären, die ich, in jenen Tagen, mehr Energie und Ausdauer besaß als er. Ihm fehlten, unserer berathenden Rathlosigkeit, unserer beschließenden Unentschlossenheit gegenüber, die nöthige Charakterstärke und jener Egoismus, der in solchen Fällen eine Wohlthat für alle Theile ist, wenn man ihn Anfangs auch schwer verurtheilt. Er gewann es nicht über sich, dem Vater zu sagen: gieb mir, was Du mir zu geben für gut erachtest, und laß mir die Freiheit der Wahl! – Sein moralischer Muth kam seinem physischen Muth nicht gleich. Er dachte also nicht daran, Etwas zu unternehmen, was mißglücken und indirect den Eltern Sorge machen konnte. Die Familienliebe hatte ihn in gewissem Sinne gebrochen, sie machte ihn unfrei in sich, und bald hatte er gar kein anderes Verlangen mehr, als aus dem augenblicklichen Unbehagen heraus, und zu dem Genusse einer relativen Freiheit, gleichviel unter welchen Bedingungen, zu gelangen.

Aber nicht allein Moritz war unzufrieden, wir fühlten uns Alle nicht mehr so glücklich, als in jenen sorglosen Tagen, in welchem wir, dem Willen unseres Vaters unterthan, uns nur als eine Gesammtheit und als seine Kinder erschienen waren. Meine Brüder und ich hatten Neigungen, Wünsche, Ansprüche und Verlangnisse, die über die Grenze des Vaterhauses hinausgingen. Unsere [286] Charaktere hatten sich bereits sehr verschieden ausgeprägt, wir wußten, daß wir uns über verschiedene Punkte nicht vereinigen und nicht verständigen konnten. Wir liebten die Eltern und liebten einander noch wie zuvor, aber wir nahmen einander nicht mehr auf Treu und Glauben hin, sondern beurtheilten die Eltern und ihre Handlungen, und beurtheilten auch das gegenseitige Wesen und Thun, jeder von seinem Standpunkte aus. Da wurde man denn allmählich inne, daß man nicht mehr wie früher Ein Ganzes, sondern nur eine Gesammtheit, und zwar eine solche ausmachte, welche naturgemäß auf ein Zerfallen in einzelne selbstständige Existenzen angewiesen war; und man erschrak darüber nicht mit Unrecht. Die Zeiten, in welchen sich diese Wandlung innerhalb der Familie, diese Auflösung der Gesammtheit zu selbstständigen Einzelheiten, vollzieht, sind schwer zu bestehen. Sie sind in gewissem Sinne für den Vater eine ähnliche Krisis, wie die Geburt des Kindes es für die Mutter ist. Wie hier das Kind sich mit physischer Nothwendigkeit von dem Organismus der Mutter losreißt, dessen integrirender Theil es bis dahin gewesen, so kommt für jeden Familienvater ein Zeitpunkt heran, in welchem seine Kinder sich mit eben solcher Nothwendigkeit von der Hörigkeit ihrer Kindheit und Jugend losreißen müssen, und in beiden Fällen ist für die Eltern, wie für die Kinder Gefahr vorhanden, wenn der Organismus, an dem sich die Krisis vollzieht, kein gesunder ist.

In dem physischen wie in dem psychischen Leben, in der Familie wie in dem Staate wiederholt sich überall derselbe Prozeß, waltet überall das gleiche Gesetz, und [287] mit ihm die gleiche Nothwendigkeit ob. Alles was selbstständig existiren kann, trachtet nach Selbstständigkeit und bedarf ihrer zu seiner Entwicklung und Vollendung. Und wo die dazu nothwendige Freiheit nicht rechtzeitig und in dem genügenden Grade geboten und geschafft wird, wo man die Individuen nicht für den richtigen Gebrauch derselben vorbereitet hat, wendet sich das für Freiheit reif gewordene Wesen, unwillkürlich oder mit Bewußtsein, zerstörend und bisweilen sich selber mitvernichtend, gegen die Schranke, von der es zurückgehalten wird. Die Familien und die Staaten, Väter und Kinder, Fürsten und Völker wissen davon zu sagen, und auch in der sogenannten unorganischen Natur finden sich die Belege für dieses Grundgesetz.

Keiner von uns Geschwistern konnte sich freilich damals einer solchen Erkenntniß rühmen, aber die Erwachsenen fühlten sich mehr oder weniger doch Alle gedrückt, und unsere innern Zustände waren damals recht bedenklich. Wir waren, bei all unserer Liebe, wie eine Brut flügge gewordener Vögel, die im Neste nicht mehr Platz haben, und hinaus müssen, um im Freien wieder fröhlich und gute zufriedene Kameraden zu werden. Der Reibungen, der Mißverständnisse, der Unzufriedenheiten des Einen mit dem Andern, der tiefeingreifenden Gespräche und der daraus folgenden Aufregungen gab es wieder und wieder; und hätte man recht zugesehen, so würde es sich bald herausgestellt haben, daß man nur mich und Moritz von Hause zu entfernen brauchte, um sich wieder völlig in Harmonie und in Zufriedenheit zu befinden.

[288] Ein Gutes jedoch hatte jene Zeit für uns: wir erlernten es an einander, Duldung für die abweichende Meinung, und Schonung für die uns nicht zusagende oder unrichtig dünkende fremde Ansicht zu üben. Je besser ich es aber allmählig über mich gewann, mich in die Naturen der Andern hinein zu denken, und mit ihnen aus ihrer Seele heraus zu empfinden, um so weniger war ich mit mir zufrieden, denn ich kam mir dabei falsch und unwahr vor. Man wird, so lange man sich selbst noch als einen Maßstab für die Andern annimmt, stets um so ungerechter und härter gegen sie, je idealistischer man ist. Die beschränkte Einseitigkeit, welcher wir auf diesem Entwicklungsgrade unterliegen, läßt uns völlig übersehen, daß jeder Mensch in seinem Thun und Treiben so lange unangefochten bleiben muß, als ihm oder uns kein Hinderniß durch sein Gebahren in den Weg gelegt wird. Ich quälte mich jedoch bald auf die eine, bald auf die andere Weise. War ich unduldsam, so machte ich mir Vorwürfe darüber; sah ich Etwas schweigend mit an, was ich für Unrecht hielt, so sagte ich mir, daß ich jetzt klüger, das heißt schlechter werde, daß ich gleichgültig gegen die Entwicklung meiner eigenen Geschwister, daß ich nicht mehr wahrhaft sei, und um des lieben Friedens willen heuchle. Der alte mir so werthe Vers: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele, oder was kann der Mensch geben, daß er seine Seele wieder erlöse« lag mir dann beständig im Sinne, und ich empörte mich in meinem Herzen gegen die Familie als solche, weil sie nach meiner Meinung dem Einzelnen nicht die Freiheit [289] gestattete, glücklich oder unglücklich zu sein nach seinem eigenen Willen, und ihn zwang, sich zu verleugnen, wenn er Ruhe haben wollte.

Ich war dabei indeß nur halb in meinem Rechte. Die Familie, wie sie ist, kann nur ein Interesse haben: das Wohlbefinden und das bürgerliche Fortkommen ihrer einzelnen Glieder. Was diesen beiden Voraussetzungen entgegen ist, muß sie verwerfen, und verwirft sie auch schonungslos. Daß ich mein Herz einem Manne hingab, der dies nicht durch seine Hand zu belohnen dachte, war mir immer als eine Thorheit, als eine Unweiblichkeit, ja oft noch schlimmer angerechnet worden, und im Grunde waren Alle recht wohl damit zufrieden, daß dieser romantischen Verblendung jetzt durch Heinrich selbst ein Ende gemacht worden war. Man wollte mir sogar beweisen, daß ich froh sein müsse, meinen Irrthum endlich dargethan zu sehen, und man begriff nicht, daß man mir damit das ganz Unmögliche zumuthete.

Moritz befand sich auf seine Art ziemlich in derselben Lage und wir hätten also füglich ein Verständniß für einander haben müssen. Indeß wir lagen, mit all unserm Begehren nach Unabhängigkeit, doch Beide noch so fest im Bann des väterlichen Willens, im Bann der Liebe für die Eltern, daß ich eine direkte Auflehnung des Bruders gegen unseres Vaters Absichten nicht für möglich gehalten haben würde, obschon ich selbst mich ihrer für den Nothfall fähig wußte; und daß Moritz es heftig tadelte, wenn er mich traurig und nicht glücklich sah.

So aber machen wir Menschen es mit einander. Jeder, der einen Vogel mit gelähmtem Flügel findet,[290] hebt ihn auf, und trägt und hegt ihn, und sein Mitleid mit dem hülflosen Geschöpfe läßt ihn das Ersinnliche zu dessen Heilung versuchen. Wer aber einen Menschen vor sich hat, dem seine Schwingen zerbrochen sind, verlangt in der Regel ganz zuversichtlich, daß er fliegen solle, und bedenkt es nicht, wie elend der Gelähmte, Gebrochene sich auch ohne diese ungerechte Forderung fühlen muß.

Am unglücklichsten war dabei ohne alle Frage wieder unsere Mutter. Sie hatte im Allgemeinen einen sehr richtigen Blick für die Lage jedes Einzelnen. Sie erkannte oft das Nöthige deutlicher als jeder Andere, und konnte dann ihr scharfes Urtheil mit wenigen Worten sehr klar motiviren. Es war nur übel für uns, und übler noch für sie, daß solche hellsehende Augenblicke ohne Folge blieben, weil die nächste nervöse Umstimmung ihr den Blick verdunkelte, und Alles verwirrte, was man nun ein für allemal neben ihr und durch sie gewonnen zu haben glaubte.

So kamen denn, nach Epochen voll herzlicher Aufgeschlossenheit, wieder Stunden, in denen sie sich über uns, eigentlich nur über mich, bitter beschwerte. Ich war es, deren geistige Richtung den einfachen Sinn ihrer Kinder verwirrte; ich, deren Ansprüche an das Leben jeden Bewerber von mir, und also auch von meinen Schwestern fern hielten. Ich trug die Schuld, daß sie nicht den ihr gebührenden Einfluß im Hause hatte; und wie ihre Eifersucht sich sonst nur gegen meines Vaters Vorliebe für mich gerichtet hatte, so war ihr jetzt meine ganze Bildung, ja meine Einwirkung auf meine Schwestern durchaus zuwider. Ich habe unbeschreiblich davon [291] gelitten und mir dann oft gesagt: wenn heute alle Verdrießlichkeiten, die auf der Erde sind, erschöpft wären, so würde wahrscheinlich neuer Anlaß dazu für mich vom Himmel regnen. Ich habe mich oft gefragt: wofür will mich das Leben denn mit dieser harten Schule, mit diesen Geduldproben erziehen? – Und mitten in den mir schwersten Stunden habe ich meinen Vater angesehen, der weit sorgenvoller und beladener als ich, niemals sein Gleichgewicht, niemals seine Zärtlichkeit und nachsichtige Liebe für den Einzelnen verlor, und der mir denn auch nur freundlich entgegen zu kommen brauchte, um mich vergessen zu machen, was mich eben noch empört hatte. War er unter uns, so hörte jedes Mißbehagen auf, und vor seinem hellen Auge verschwanden, wie Nebel vor der Sonne, alle unsere Sorgen und Zerwürfnisse. Die Mutter war dann immer heiter, wir saßen wieder als Kinder eines Hauses, abgetrennt von der Außenwelt, an seinem Tische, und es wollte mich dann oft unbegreiflich dünken, wie ich etwas Anderes, etwas mehr verlangen könne, als die Meinen heiter zu sehen und mit ihnen so zusammen zu leben.

Mitten in das Erwägen und Berathen von meines Bruders Zukunft trat ein Ereigniß ein, das der Unentschlossenheit plötzlich ein Ende machte. Moritz hatte im Laufe des Jahres achtunddreißig in Berlin ein Schußduell mit einem jungen Adeligen gehabt und diesen schwer verwundet. Der anwesende Arzt und mein Bruder selbst hatten die augenblickliche Zuziehung des damals berühmtesten Chirurgen von Berlin, des Professors Dieffenbach für nöthig erachtet. Dieser hatte sich meinem Bruder [292] stets sehr geneigt bewiesen, hatte gelegentlich geäußert, er finde in dem jungen Manne sich und seine eigene Jugend wieder, und hatte denn auch nach seiner Weise mit einer Art von Vergnügen über die sehr extravaganten Bedingungen des Duells und den schönen Schuß gegen Dritte mehrfach gesprochen. Dadurch war das Duell ruchbar und eine Untersuchung eingeleitet worden, welcher die Betheiligten zu begegnen suchten, indem mein Bruder Berlin verließ und auch der junge Edelmann sich, sobald es anging, aus der Residenz entfernte.

Ich erinnere mich nicht, durch welche Veranlassung diese Untersuchung, die in's Stocken gerathen war, nun im Frühjahr von neununddreißig wieder aufgenommen wurde. Nur so viel ist mir deutlich geblieben, daß mein Vater, beunruhigt durch die Möglichkeit einer längern Festungsstrafe für den Sohn, den Entschluß faßte, ihn außer Landes zu schicken; und da seine Handelsgeschäfte ihn nach wie vor mit Polen und Rußland in Verbindung hielten, Polen und Rußland uns also geläufige Begriffe waren, einigten sich endlich Alle dahin, daß Moritz unter den obwaltenden Verhältnissen gar nichts Besseres thun könne, als nach Rußland zu gehen und dort seine ärztliche Praxis zu beginnen.

Unser junger Doktor war damit gar wohl zufrieden. Er hatte sich oftmals aus dem Staube gemacht, wenn wir uns in die Ueberlegungen vertieften, und sich mit den Worten des Tell entschuldigt: »Ich kann nicht lange prüfen oder wählen, bedürft Ihr meiner zu entschlossener That, so ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen!« – Nun richtete er mit seiner angebornen Lebhaftigkeit sein [293] Auge schnell auf Petersburg. Geheimrath Dieffenbach und noch einige seiner Universitätslehrer versahen ihn gern mit vortrefflichen Zeugnissen über seine ärztliche Befähigung, mit warmen Empfehlungen an einflußreiche Personen, und die Aussicht auf das Leben in einer neuen, ihm völlig fremden Umgebung, der Hinblick auf den Krieg gegen die Tscherkessen, in welchen Rußland damals verwickelt war, die Möglichkeit sich dorthin zu wenden, wenn er nur einmal selbst über sich zu bestimmen hätte, ließen ihn die Uebersiedelung nach Rußland bald als etwas sehr Wünschenswerthes betrachten. Er sprach mit Eifer davon, ein Unterkommen an irgend einer Klinik und mit ihr Material für seine Thätigkeit zu suchen; er malte sich die Begegnisse des Lebens in der großen und üppigen Kaiserstadt aus, er wollte Moskau sehen, dachte mit Entzücken an tscherkessische Pferde und schöne kaukasische Frauen, und war ganz Leben und Feuer, ganz Muth und Zuversicht.

Aber die Sache kam nicht so zur Ausführung, als er es wünschte und als es zweckmäßig für seine Person gewesen wäre. Eine Niederlassung in Petersburg setzte nach den eingezogenen Erkundigungen ein Kapital voraus, das mein Vater nicht beschaffen konnte. Dazu war er der Ansicht, Moritz würde sich in der Petersburger Gesellschaft nicht zusammen zu halten vermögen und deßhalb nicht so vorwärts kommen, wie es nöthig sei. Er verlangte also, derselbe solle sich zuerst in irgend einer Provinzialstadt von Russisch-Polen ansässig machen, um dort die russische und polnische Sprache zu erlernen, während er sich in der französischen zugleich übe, und wenn [294] er außer der Kenntniß der drei für Rußland unentbehrlichen Sprachen sich das Geld zu einem Abwarten und Versuchen in Petersburg erworben haben würde, dann solle er dort, oder wo es ihm sonst gut dünken würde, seinen Aufenthalt wählen und seine Niederlassung bewerkstelligen.

Dieser Ausweg war, an und für sich betrachtet, ein wohl überlegter. Er bot den Vortheil dar, verhältnißmäßig wenig Geldaufwand zu erheischen, und es wäre gar Nichts dagegen einzuwenden gewesen, hätte er nicht grade Alles dasjenige in sich vereinigt, was man eben für Moritz an den verschiedenen andern Vorschlägen im Einzelnen auszusetzen gehabt hatte. Indeß die alte Erfahrung, daß langes und vielseitiges Berathen den Menschen verwirrt und ermüdet, und daß man aus Ermüdung und Ueberdruß schließlich Zugeständnisse macht, die man einzuräumen beim Beginne der Verhandlungen für undenkbar gehalten hätte, bewährte sich auch bei uns, und es stand also plötzlich fest, daß Moritz uns noch in der Mitte des Julimonates verlassen und nach Willna gehen solle.

Meine Mutter, welche seit zehn Jahren jeden Sommer auf dem Lande zubrachte, wohnte damals wieder in Neuhausen, wo sie ihren ersten Erholungsaufenthalt gemacht. Wir hatten uns in demselben Hause eingemiethet, in welchem wir früher gelebt, aber wir nahmen jetzt mehr Räume ein, und da der Vater einen leichten Wagen und zwei Pferde gekauft, welche zur Verfügung der Mutter in Neuhausen blieben, so konnte man sich die Trennung der Familie fast unfühlbar machen, indem man Diejenigen, [295] welche sich bei dem Vater in der Stadt befanden, so oft es erwünscht war, auf das Land hinausholen ließ.

Am dreizehnten Juli hatte mein Vater in dem kleinen Städtchen Schaaken, auf der kuhrischen Nehrung am kuhrischen Haff gelegen, ein Geschäft zu besorgen, und da sein Weg von Königsberg ihn über Neuhausen führte, war er schon am Abende vorher zu uns hinausgekommen, um an dem betreffenden Tage bei guter Zeit mit unserm Fuhrwerk nach der Nehrung zu fahren. Die Mutter, für welche solche weitere Ausflüge etwas Seltenes waren, äußerte den Gedanken, ihn zu begleiten, ein Paar von den Schwestern wurden mitgenommen und da am Nachmittage die Brüder mit dem Neuhausener Milchbauer aus der Stadt zu uns heraus kamen, so gingen wir zurückgebliebenen Mädchen mit ihnen den Eltern am Abende eine tüchtige Strecke Weges entgegen.

Es war einer der schönsten Sommertage. Der Weg erfreute uns. Es kam selten bei uns zu großen Promenaden und wir hatten also ein Vergnügen daran, unsere Kräfte zu erproben. Die Eltern waren angenehm überrascht, als sie uns mit einem Male vor sich sahen, der Vater stieg aus, die jüngsten müden Schwestern wurden an seiner Stelle zur Mutter in den Wagen gesetzt, und durch die wallenden Kornfelder und frischgemähten Wiesen gingen wir nach Neuhausen zurück, um unter den blühenden Linden, außerhalb des Gartens, dem Teiche gegenüber, wo der gedeckte Tisch uns erwartete, unser Abendbrod einzunehmen.

Wir waren ganz allein, die Eltern und ihre acht Kinder, und wir wußten, daß es wohl für eine geraume [296] Zeit der letzte Abend sein würde, der uns in so enger Gemeinschaft beisammen fand. Niemand mochte es aussprechen, aber Jeder sagte sich, wie es nur noch drei Tage bis zu des Bruders Abreise hin sei, und daß er in der Stadt noch vielerlei für dieselbe vorzubereiten habe. Es waltete ein Gefühl und ein Bewußtsein des Glückes in uns, das wir in der Vereinigung unserer Familie alle die langen Jahre hindurch besessen hatten. Man stand an einem Wendepunkte und sah gleichsam von einer Höhe auf den zurückgelegten Weg zurück. Wie oft für den Einzelnen die einzelnen Pfade auch eng und dornig gewesen sein, an welchen Steinen er sich gestoßen, wo er müde hingesunken sein mochte, jetzt war das Alles nicht mehr zu sehen. Ein schöner, vielfach gewundener Weg breitete sich vor unsern Blicken aus. Alles was uns vielleicht noch wenige Stunden vorher geschmerzt hatte, war in der Tiefe von milder Dämmerung wohlthuend verhüllt, und nur Erinnerungen an Liebe und an Freude, die uns zu Dank verpflichteten, ragten in sonnenbeschienener Höhe hell und leuchtend aus der Vergangenheit hervor. Es hatte sicherlich an dem Abende Keiner von uns Allen einen anderen Wunsch, als wieder und immer wieder so vereint in der Nähe unserer Eltern zu verweilen.

Des Vaters seelenvolles Gesicht sah so ruhig auf uns hin, die Mutter, welche sich ihrer durch die Fahrt erprobten Kräfte rühmte, war heiter und so anmuthig, wie es ihr eigentlich angeboren war. Sie getröstete sich, daß es doch noch mit ihr gehen, daß sie gewiß noch einmal wieder recht zu Kräften kommen werde. Unser [297] junger Doktor befestigte sie nach bestem Vermögen in dieser Voraussetzung, obschon er ihren Zustand für sehr bedenklich hielt; und da er selber gern Hoffnung geben und hoffen wollte, so gewann die Zuversicht uns Alle. Man sprach gar nicht von der Trennung, nur von den guten Dingen, die man für den Scheidenden erwünschte und erwartete. Sein froher Muth verlor sich in weite Flüge. Er versprach uns chinesischen Thee und russische Pelze und Warschauer Schuhe, und persische Schlafröcke für Vater und Bruder zu senden, wenn er Geld haben würde, was zu erwerben ihm gar nicht fehlen konnte; und man kehrte dann wieder auf die ersten Erinnerungen aus seiner Kindheit zurück, um aller der Einzelnheiten, aller der Anekdoten zu gedenken, welche seine Eigenartigkeit frühzeitig kund gegeben hatten. Heute lachte der Vater über Alles. Er lachte über die Händel mit den Lehrern, deren man sich erinnerte, er lachte über die Kreuzzüge gegen Nachtwächter und Stadtsoldaten, die Moritz unternommen, und deren Details er mit der größten Schalkheit zu erzählen wußte; und als der Sohn sich dann wieder zu ernsterem Gespräche wendete, hatte der Vater offenbar große Freude an ihm, und Zuversicht zu seiner Zukunft. Er hörte es gern mit an, als Moritz es sich so heiter ausmalte, wie Alles sein werde, wenn er nach mannigfachen neuen Erfahrungen als ein gemachter Mann zu den Eltern heimkehren und eine oder die andere Schwester mit sich nehmen werde, sie in seiner Nähe zu versorgen. Weil man die Trennung so sehr fürchtete, hielt man sich um so fester an das einstige Wiedersehen.

[298]

Es war ein Abend, dessen ich noch heute mit großer Freude gedenke. Es war für unser ganzes Leben der letzte Abend, an welchem die Familie vollständig beisammen war.

Und in diesem Augenblicke danke ich es unserm Schicksal, daß uns dieser letzte Abend in so reiner Verklärung zu Theil ward, daß er mir noch heute wie ein mildes klares Abendroth aus der weiten Ferne seine sanften Strahlen, seine aufdämmernden und leise flimmernden Sterne in die Seele leuchten läßt.

[299]
18. Kapitel
Achtzehntes Kapitel

Moritz verließ uns am siebzehnten Juli, am dritten Juli aber war Heinrich Simon zum ersten Male in seinem Leben nach Paris gegangen. Das zog meine Gedanken nach zwei Seiten in die Ferne und ich hatte das nöthig, denn ich muthete mir zu, was über meine Kräfte ging, und hatte davon schwer zu leiden.

Ich schrieb meinem Vetter nach wie vor, ich zwang mich zu einer Ruhe, die zu fühlen ich sehr entfernt war, ich suchte ihn zu zerstreuen, ihn über meinen eigenen Zustand zu täuschen, und weil ich mich immer tiefer in die mir unnatürliche Tugend der Entsagung hineinleben wollte, fing ich auch an, mich mit meinem häuslichen Leben und mit meiner Stellung in der Familie auf den Entsagungston zu halten.

Ich begann meine Kleidung in bescheideneren Farben einzurichten, ich wollte in meiner Erscheinung den Schwestern und den Leuten darthun, daß ich nicht mehr die Ansprüche der Jugend mache, ich beschloß auf das Tanzen zu verzichten, mit einem Worte, ich wollte mich gewöhnen alt zu sein; und da ich, wie mein Vater, schon mit einundzwanzig Jahren hier und da ein graues Haar gehabt, so nahm ich die weißen Fäden, die sich in meinen Locken [300] mehrten, als eine Anmahnung zur Resignation, was mich indessen gar nicht abhielt, sie sorgfältigst zu verbergen.

Den Eltern entging es nicht, welche Wandlung ich mit mir zu machen beabsichtigte. Sie waren davon betroffen. Mein Vater, der von jeher ebenso wie die Mutter großen Werth auf unsere äußere Erscheinung und darum auch auf die Art unserer Kleidung gelegt hatte, machte gegen mich die Bemerkung, daß die matten Farben mich nicht kleideten, daß ich mich in der Toilette nicht vernachlässigen dürfe, daß jedes Frauenzimmer die Pflicht habe, so lange als möglich jung zu erscheinen, und so gut auszusehen, als ihr Aeußeres ihr es irgend gestatte. Ich scheine verstimmt zu sein, aber dagegen müsse man ankämpfen und sich »die Traurigkeit nicht einmariniren, um sie möglichst lange frisch zu erhalten. Es habe Jeder im Leben Dinge, die er von sich abschütteln und vergessen müsse, und je eher man das thue, um so gescheiter sei es.«

Das war nun recht schön und gut, ich sagte mir bisweilen auch dasselbe, und mit ein Bischen andern Worten sagte mir es hier und da auch unser Hausfreund, der treffliche Herr Rath. Es war nur schlimm, daß Keiner von Allen wußte, woran ich mich zerstreuen sollte, und schlimmer noch, daß ich die alte Widerstandskraft nicht mehr besaß. Die langen Jahre voll fortdauernder Gemüthserschütterungen waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Meine Gesundheit hatte sehr gelitten, und ich fühlte mich so abgespannt, so kraftlos und so ohne Schwung, daß ich mich selber nicht erkannte. Ich hätte immer nur die Platen'schen Worte auf mich anwenden [301] mögen: »ich schämte mich der eigenen Gedanken, wenn sie wie Schwalben an der Erde flögen.«

Es war nichts Gemachtes in der Entsagung, die ich an den Tag legte, denn wie alle phantasievollen Menschen hatte ich immer das entschiedene Bedürfniß, mein Innenleben auch äußerlich zur Erscheinung zu bringen. Ich hatte mich der hellen Farben, des Schmuckes, der Blumen, immer mit ganz besonderm Genusse bedient, wenn ich froh gewesen war; nun lastete das Alles auf mir, und die leichten Bänder und Ranken drückten mich wie Blei. Ich legte sie mit Widerwillen an, ich warf sie mit Verachtung von mir, und durch mein ganzes Leben ist mir dies Bedürfniß geblieben, mich im Aeußerlichen und Innerlichen in Harmonie zu erhalten. Es ist das ein Zug zur Demonstration, den man, wie ich glaube, nicht verdammen, sondern vielmehr selbst in Denjenigen nähren und pflegen sollte, denen er nicht angeboren ist; und bei den Deutschen ist er zum Nachtheil ihres öffentlichen, ja ihres politischen Lebens selten genug. Nicht der verschwiegene, sondern der kundgegebene Gedanke, nicht das heimlich genährte, sondern das ausgesprochene Gefühl ist der elektrische Funke, der sich von Mensch zu Mensch entzündend fortpflanzt, bis er die Massen entflammt. Es hat mich oft bedünken wollen, als wäre es für unser deutsches Vaterland ein großes Glück, wenn die Einzelnen das Bedürfniß hätten, ihr Wesen und ihr Wollen in sichtbaren Zeichen zu dokumentiren. Die Italiener, die Ungarn, die Polen, selbst die Engländer, haben diesen Zug in ihrem Charakter, und seine Wirksamkeit in ihrer nationalen Entwicklung hat sich bei den verschiedensten [302] Anlässen und in den verschiedensten Epochen thatsächlich genug bewährt.

Meine ältesten Geschwister zeigten sich nun sehr liebevoll gegen mich. Sie hielten es mir oftmals vor, daß ich eben nur krank sei, daß ich weit mehr Lebenslust besäße, als ich mir in diesem Augenblicke zutraute; und kam ich dann durch irgend einen Zufall mit Personen in Berührung, deren Gespräch mich anzog, die mich nöthigten von mir selber abzugehen, so wurde ich mir auch gleich wieder meiner Kraft bewußt. Mitten aus der Asche der Ermattung, die sich über mich gelagert hatte, zuckte dann plötzlich hell und fest der Vorsatz auf: mich nicht brechen, nicht untergehen zu lassen, mich aufrecht zu erhalten, und mich – – Ich wußte nicht, was ich noch hinzufügen sollte, aber es sollte und mußte, nach meiner Meinung, durchaus noch Etwas aus mir werden. Heinrich sollte sehen, was er an mir aufgegeben hatte, was er an mir hätte besitzen können. Er war und blieb noch immer der Mittelpunkt meiner Gedanken und die bewegende Kraft für all mein Thun.

Etwa vierzehn Tage nach der Abreise unseres jüngern Bruders, es war am zweiten oder dritten August, und wieder an einem heißen Mittage, erscholl in den Straßen mit einem Mal der Ruf: »Feuer auf der Lastadie«, und eingedenk der furchtbaren Zerstörung, welche achtundzwanzig Jahre früher die Stadt durch einen solchen Brand, den sogenannten Vorstädtischen Brand, dessen ich zu Anfang dieser Erinnerungen gedacht, erlitten hatte, erregte dieser Feuerruf ein Entsetzen unter den Einwohnern, denn die Löschanstalten waren noch immer äußerst unzureichend.

[303] Meine Schwestern waren im Hinterzimmer, sie hatten den Feuerruf nicht vernommen, und sahen plötzlich meinen Vater sehr schnell und bleichen Angesichts in die Stube eintreten. »Ruft mir den Otto herunter«, sagte er, »es ist Feuer auf der Lastadie, er soll gleich zu mir kommen! Ich werde alle Schlüssel der Läger und Keller heraufschicken, behaltet sie bei Euch, und laßt die Dienstmädchen nicht fortgehen.«

Das Feuer war in der Nähe eines Speichers ausgebrochen, in welchem sich die großen für den Export bestimmten und daher unversteuerten Rum- und Spiritusvorräthe der Kaufmannschaft unter Verschluß der Zollbehörden befanden. Erfaßte das Feuer diesen Speicher, geriethen diese Läger in Brand, so war das Unheil, welches daraus entstehen konnte, nicht abzusehen; und mit dem schnellen Ueberblick, der meinem Vater in den bedenklichsten Lagen eigen blieb, richtete er sein Augenmerk auf die Verhinderung dieser drohenden Gefahr.

Er ließ seine Läger in der Stadt alle sofort schließen, befahl seinen Handlungsgehülfen und Arbeitern, ihm zu folgen, und unserm Bruder Otto, ihm von dem nächsten Geldwechsler für hundert Thaler Zehnsilbergroschenstücke zu holen und sie ihm nachzubringen. Als er die Brandstätte erreichte, zu der man, weil die Schiffe sich gleich alle aus dem Hafen fortzumachen suchten und eine Ueberfahrt auf einem Boote also nicht ohne großen Zeitaufwand zu bewerkstelligen war, nur auf dem weiteren Wege durch die Straßen gelangen konnte, fand er dort den Brand schon verbreiteter, als er erwartet hatte, und sah den Zollspeicher, ich glaube er lag am sogenannten rothen [304] Krahne, verschlossen und von den Zollbeamten besetzt. Er verlangte, man solle den Speicher öffnen, damit man die feuergefährlichen Spiritusvorräthe fortschaffen könne. Die Zollbeamten verweigerten das. Sie hatten, wie sie sagten, noch keine Instruction dazu, und eigenmächtig oder auch nur mit vernünftiger, und in diesem Falle gebotener Selbstständigkeit zu handeln, fehlte den allein an das Gehorchen gewöhnten Subalternbeamten der Muth. Mein Vater hielt ihnen die Gefahr vor, welcher sie die Stadt aussetzten, indeß sie beharrten bei ihrer Weigerung. Da, rasch entschlossen, rief er einige Zimmerleute herbei: »Schlagt die Thüren ein!« gebot er, »ich übernehme alle Verantwortung und komme für den Schaden auf!« – Und diese Männer, deren Einsicht und Herzhaftigkeit nicht durch blindes Gehorchenmüssen gebrochen waren, welche also so gut wie jeder Andre die Dringlichkeit der von meinem Vater beabsichtigten Handlung begriffen, leisteten ungesäumte Folge. Die Thüren wurden eingeschlagen, mein Vater ließ so viel Arbeiter heranrufen, als man erreichen konnte. »Jeder, der hier aus dem Speicher die Fässer unversehrt nach der Laak (einer vom Feuer entlegenen Straße) hinschaffen hilft, erhält zehn Groschen pro Faß!« rief er ihnen zu, und befahl zugleich dem Böttigermeister, der immer für ihn beschäftigt war, sich mit seinen Gesellen und Collegen längs dem Wege aufzustellen, damit man überall gleich nachhelfen könne, wenn etwa bei dem Rollen der Gefäße hier und da die Bände abspringen sollten. Er hatte damit zugleich eine beständige Aufsicht geschaffen, welche es verhinderte, daß ein zufälliges Abspringen der Bände oder [305] das Platzen eines Fasses Anlaß zum Trinken, und dadurch zur Einstellung der Arbeit und zur Unordnung geben könne.

Auf diese Weise wurde der Speicher rasch und ohne alle weiteren Hindernisse geleert, die Ober-Steuerbehörde that dann auch nachher das Ihre zur Bewachung der geflüchteten Gefäße, indeß der Brand griff doch noch weit genug um sich, und eine ganze Anzahl von Speichern wurde trotz dieser Vorsicht ein Raub der Flammen. Der Rauch und der Qualm waren so stark, daß wir auf dem Lande, fünf viertel Meilen von der Stadt, ihn gegen den Abend plötzlich beim Athmen empfanden, und als man in die obere Etage hinaufging, nachzusehen, ob vielleicht irgendwo in der Nähe Feuer sei, brachten uns die heimkehrenden Landleute grade die Nachricht auf das Dorf hinaus, daß die Lastadie in Flammen stehe.

Während wir noch überlegten, ob wir zu den Unsern in die Stadt hineinfahren sollten, langte auch schon ein Bote meines Vaters, der niemals Etwas vergaß, was der Mutter Aufregung ersparen, oder eine Beruhigung bereiten konnte, bei uns an. Er meldete, daß ein Feuer ausgebrochen, daß man seiner Herr zu werden begonnen, daß die Gefahr anscheinend vorüber sei, und der Vater und die Geschwister sich wohl befänden. – Indeß trotz dieser guten Kunde ließ es der Mutter und uns nicht Ruhe in der kühlen Stille unsers Dorfes, da wir den Vater in Mitten solcher Bedrängniß wußten. Die Mutter ließ den Wagen anspannen, und wir fuhren in die Stadt.

Es mochte sieben oder halb acht Uhr Abends sein, als wir vor unserm Hause anlangten. Rauch und Qualm [306] lagen über unserer ganzen Straße, die nur durch den an dieser Stelle gar nicht breiten Pregel von der Brandstätte getrennt war. Die Verwirrung, die Aufregung waren noch in dem ganzen Stadttheil sichtbar. Einzelne Straßen waren noch gesperrt, auf der Lastadie Alles noch in voller Gluth. Man fühlte sie in weiter Entfernung. In unserm Hinterhause waren von der Hitze die Scheiben geplatzt.

Der Vater war eben erst nach Hause gekommen, er war mehr als acht Stunden nicht von der Brandstätte gewichen. Er saß auf dem Wolme, seine Kleider sahen unkenntlich aus, ihm selbst konnte man die Ermüdung, die Erschöpfung an jedem Zuge ablesen; aber kaum sah er den Wagen vor der Thüre halten, als er heiter die Treppe hinunter kam, der Mutter herauszuhelfen, und sie und uns zu begrüßen. Ich umarmte ihn, und als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, fühlte ich, daß seine Kleidung völlig naß war. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und bat ihn, sich umzukleiden. Er lachte. »Das haben mir schon die andern Marjellen (ein in Preußen üblicher lithauischer Ausdruck für Mädchen) auch gesagt, nun kommst Du noch dazu von Neuhausen herein. Laßt's gut sein, es geht heute in Einem hin; ich will Nichts als sitzen, denn gegessen und getrunken habe ich eben, und das ordentlich!« – Er war dabei freundlich, und als ob gar Nichts vorgefallen wäre, immer derselbe, immer für Andere sorgend, und ohne Ansprüche für sich selbst. Er erwähnte kaum, daß und wie schwer er gearbeitet, er sprach gar nicht davon, wie entschlossen er gehandelt und was er damit geleistet; und doch hatte er [307] allein an jenem Tage, nach meiner festen Ueberzeugung, unsere Vaterstadt vor einem unübersehbaren Unglück bewahrt.

Bald nach dem Brande zog ich zu meinem Vater in die Stadt, und meine beiden Schwestern, welche ihm bis dahin hausgehalten, gingen zur Mutter auf das Land hinaus. Ich hatte nicht viel zu thun, weil außer dem Vater und dem Bruder sich nur die vier Commis im Hause befanden. Die Männer waren sämmtlich den ganzen Tag beschäftigt, ich war also viel allein, und die Ruhe in den wohleingerichteten Zimmern, die Stille um mich her, waren mir sehr angenehm. Hatte ich am Morgen meine Wirthschaft versorgt, so gehörte mir, wenn ich im Laufe des Tages die Vorrichtungen für die einzelnen Mahlzeiten getroffen hatte, die ganze übrige Zeit; und waren dann bei dem schönen warmen Wetter die Markisen vor den Fenstern herabgelassen, und frische Blumen auf die Tische gestellt, so konnte ich mit dem größten Genusse in den kühlen dämmrigen Stuben vollkommen müssig sitzen, und mich umsehen, und mich daran freuen, daß es so hübsch bei uns sei. Die Fähigkeit zu diesem ganz gedankenlosen Ausruhen war damals ein wahres Heilmittel für mich, und bewährt sich mir, wenn ich einmal viel gearbeitet, viel gedacht, viel zu leisten gehabt habe, noch heute als ein solches. Ich mache dann wie die Türken, ohne daß ich es suche, recht eigentlich meinen »Keff«. Ich sehe einen Baum an, oder die Wolken, oder eine Katze auf dem Nachbardach, oder ein Bild, eine Statuette in meinem Zimmer, die ich bis in ihre kleinsten Züge kenne; und ich denke dabei gar Nichts. Ich genieße es nur, daß ich gut sitze, daß mein Kopf, [308] meine Arme, meine Füße bequem ruhen, ich fühle mich behaglich, und würde Stunden hindurch dasselbe thun können, wenn man mich nicht störte. Ich bin dann wie das Blatt Papier, auf das die Sonne die Bilder photographirt, ganz passiv, und oft kommen mir erst nach Monaten, ja nach Jahren die Eindrücke zum Bewußtsein, die ich in solchem dämmernden Ausruhen, ohne es zu wissen, in mich aufgenommen habe. Giebt es irgendwo jenen Aufenthalt der Seligen, dessen die Gläubigen sich getrösten, so werden sie dort wahrscheinlich eben so dasitzen und in alle Ewigkeit Nichts thun als sich behaglich fühlen, und sich mit sanfter Ruhe über irgend einen Anblick freuen.

Auf Erden aber hält dieses unvergleichliche Wohlbefinden nicht immer vor, und es gab Stunden, in denen ich nicht recht wußte, was ich thun sollte. Ich las sehr viel, schrieb mir aus langer Weile die Namen der Bücher und mein Urtheil über sie auf, das machte mir jedoch kein großes Vergnügen. Ich wußte ja, was ich von den Sachen hielt; es einem Andern vorzulesen, fiel mir nicht ein, das Schreiben dünkte mich also etwas Unfruchtbares, und ich gab es wieder auf. Dann fing ich einmal an, etliche Gedichte von Beranger und von Byron zu übersetzen, indeß sie waren ja auch ohne mich in guten Uebersetzungen vorhanden, meine Verse waren mir obenein nicht rein und glatt genug, und auch damit hatte es ein Ende.

Endlich an einem Sonntag-Nachmittage war ich ganz einsam in der Stadt. Der Vater und der Bruder waren, wie das bisweilen geschah, mit dem Neuhäuser Milchpächter [309] am Morgen zur Mutter gefahren, Rath Crelinger, der mir sonst oftmals Gesellschaft leistete, war zu einem Diner geladen, die Commis hatten sich ihren freien Sonntag zu Nutze gemacht, ich und das Dienstmädchen blieben in dem großen Hause also ganz allein, und es herrschte die vollkommenste Stille in demselben. Ich hatte lange gelesen, war dessen müde und blieb nun eine Weile sitzen, bis mir einfiel, ich könne wohl einmal an Heinrich schreiben. Ich stand auf, ging an meinen Schreibtisch, als ich aber die Feder in die Hand nahm, gab ich meinen Vorsatz wieder auf. Ich wollte ja zur Ruhe kommen, und wie konnte ich das, wenn ich seiner dachte, wenn ich zu ihm sprach?

»Draußen fiel der Regen mit langsamer Einförmigkeit vom Himmel hernieder. Der ganze Horizont war von bleichgrauen Wolken überzogen, kein Luftzug rührte sich, kein Lichtstrahl ließ sich blicken, und das lähmende Gefühl, das nervös reizbare Menschen bei warmer und feuchter Luft oft plötzlich überfällt, lastete schwer auf mir.«

Diese Situation, die ich damals nach der Natur schilderte, weil mir mit einem Male der Gedanke durch den Kopf schoß, ich müsse eine Erzählung schreiben, kopire ich in diesem Augenblicke aus dem Buche, in welchem ich sie damals verzeichnete. Es folgte ihr die Charakterisirung einer gewissen Mathilde, die natürlich Niemand anders, als ich selbst war, und ich hatte es auf etwa drittehalb Octavseiten gebracht, als unser Hausgenosse von seiner Mittagsgesellschaft heimkehrte, sich mit seiner Cigarre zu mir setzte, mir Bruchstücke aus Shakespeare's Heinrich[310] dem Sechsten vorlas, und danach den Rest des Abends mit mir verplauderte.

Nach mehreren Tagen, als ich das Buch wieder in die Hand nahm, schämte ich mich jenes Dichtungsversuches. Ich kam mir recht eigentlich »albern« damit vor. Ich kannte das Beste unserer eigenen und der englischen und französischen Literatur, und weil ich es sehr zu würdigen verstand, hatte ich eine tiefe Geringschätzung gegen das Mittelmäßige und Unbedeutende. Mir irgend ein über die Mittelmäßigkeit hinausgehendes Talent zuzutrauen, fiel mir gar nicht ein, und schlechte Schriftstellerinnen waren mir immer ein Gegenstand des Spottes, ihre Werke unlesbar gewesen. Aus langer Weile und Herzensleere Romane zu schreiben, schien mir obenein unwürdig; und mit meinem tiefsten Empfinden, mit meinem geheimsten Denken einfältige Frauenzimmer und schläfrige Kammerjungfern zu unterhalten, wie ich es mir damals nannte, kam ich mir zu gut vor. Ich dachte von der Dichtkunst sehr hoch, von der Masse des Publikums sehr gering; von mir als Talent hielt ich gar Nichts, von mir als meines Vaters Tochter und als Charakter um so mehr, und so zog ich denn durch die drei componirten Seiten drei dicke, ehrlich gemeinte Rothstift-Striche, und die begonnene Erzählung und das, wie ich glaubte, aus bloßer langer Weile entstandene literarische Gelüsten waren damit bescheidentlich wieder einmal für lange Zeiten abgethan.

Es gab auch in den nächsten Wochen Anderes für mich zu denken, denn unserm armen Moritz traten gleich beim Beginne seiner neuen Laufbahn unerwartete Hindernisse [311] in den Weg. Alle Erkundigungen, welche man vor seinem Abgange nach Rußland, bei den dortigen Behörden und von Privatpersonen über die Verhältnisse der Aerzte in Rußland eingezogen, hatten gleichstimmig dahin gelautet, daß die Bescheinigung des in Preußen wohlbestandenen medizinischen Staatsexamens zur Ausübung der ärztlichen Praxis in Rußland hinreichend sei. Kaum aber war Moritz in Wilna angelangt, als ein neues Gesetz ausgegeben wurde, welches alle von dem Auslande kommenden, und auch die bereits promovirten Aerzte, zu einem neuen Examen in Rußland verpflichtete, das eben so wie die preußische Prüfung in verschiedene praktische Sectionen zerfiel, und somit einen Zeitraum von mehreren Monaten hinnahm. Das war eine sehr lästige Sache, um so mehr, als das Examen eigentlich in russischer Sprache gemacht werden mußte, deren Moritz nicht mächtig war, und er hatte es endlich noch als eine Vergünstigung zu betrachten, als ihm, je nach dem Vermögen der verschiedenen Professoren, der Gebrauch des Lateinischen oder Deutschen für sein Examen zugestanden wurde.

Er nahm diese Verzögerung wie er mußte, aber schon in den ersten Wochen seines Aufenthaltes in Wilna gewann er die Ueberzeugung, daß an tüchtigen Aerzten dort gar kein Mangel, daß die Vorliebe für Deutsche, von welcher die Geschäftsfreunde meines Vaters gemeldet hatten, keineswegs vorhanden sei, und daß sich ihm dort nicht schneller eine Praxis eröffnen dürfte, als es in der Heimath der Fall gewesen sein würde. Es war also mit seiner Uebersiedlung nach Rußland im Grunde eine ganz [312] falsche Spekulation gemacht worden, sofern man nicht den ersten ursprünglichen Plan festhielt, der sich auf die großen Hauptstädte oder auf den Süden bezogen hatte, und man stand nun auf demselben Punkte wie zuvor. Man hatte eine zweite Entscheidung zu treffen, und hatte nicht wohl die Möglichkeit den Sohn zurückkommen zu lassen, ohne ihn zu compromittiren und seine Aussichten in Preußen durch seine schnelle Rückkehr aus der Fremde völlig ungewiß zu machen.

Während man im Beginn des Herbstes noch allseitig mit dieser Angelegenheit beschäftigt war, kam mein Vater eines Abends, mit einem Journal in der Hand, von der Börsenhalle, der Ressource der Kaufmannschaft, in welcher er nach dem Schluß des Comptoirs eine Stunde die Zeitungen zu lesen pflegte, nach Hause. Er legte das Blatt, ein Heft der Europa, welche damals sein Cousin August Lewald redigirte, vor mir nieder und sagte: »Wenn ich nicht wüßte, daß Du sehr lange dem August nicht geschrieben hast, würde ich behaupten, dieser ganze Artikel sei von Dir.«

Ich nahm das Heft und erkannte in der angezeigten Stelle augenblicklich ein Stück aus einem Briefe, den ich mehrere Monate vorher meinem Vetter geschrieben, und in welchem ich ihm auf seinen Wunsch, Auskunft über den Stand des Muckerprozesses und über die Schwärmerei der Sekte gegeben hatte. Der Vater fand, daß der Bericht gut geschrieben sei. Er machte die Bemerkung, daß er sich, nun er wisse, wie Lewald meine Briefe benutze, Manches erklären könne, was ihm in der Europa hier und da auffallend gewesen sei, und da wir keine Journale [313] im Hause hielten, sah und erfuhr ich nicht, was Lewald früher etwa aus meinen Briefen für seine Correspondenz-Artikel benutzt hatte. Ich fragte ihn deßhalb auch nicht weiter an, denn unser Briefwechsel war überhaupt nicht durch irgendwelche schöngeistige Idee, sondern durch die Vorsorge für seine alte Mutter eingeleitet und fortgeführt worden.

Diese alte Tante Lewald war eine durchaus originelle Person. Sie stammte aus einer angesehenen und durch ihre große Bildung ausgezeichneten Kopenhagener Judenfamilie, mit Namen Eichel. Ihr Bruder war ein Freund von Moses Mendelsohn gewesen und hatte, wie ich glaube, die Psalmen oder irgend welche andere Theile des alten Testamentes vortrefflich in das Deutsche übersetzt. Sie selbst war sehr jung an einen Halbbruder meines Großvaters verheirathet worden, und muß nach einem Bilde, das sie als Braut, im weißen Brokatkleide mit einer Menge von rosa Schleifen, das braune Haar hoch auffrisirt, und mit obligaten Schönpflästerchen an Schläfe und Wange, darstellte, trotz ihrer auffallend kleinen Gestalt, eine gar hübsche Person gewesen sein. Noch in ihrem späten Alter hatte sie sehr feine Züge, einen wunderschönen Mund, eine feingebogne Nase und kluge hellbraune Augen von lebhaftem und schnell wechselndem Ausdruck. Ihre Erziehung war offenbar sehr sorgfältig gewesen, und sie hatte ihre Kindheit und Jugend in reichlichen und angesehenen Verhältnissen zugebracht, denen leider ihre Lage nach ihrer Verheirathung in Königsberg nicht entsprach. Sie verlor ihren Mann sehr früh und blieb ohne Vermögen mit ihren Kindern [314] zurück. Einige davon starben in der Kindheit, eine erwachsene sehr schöne Tochter war im Jahre achtzehnhundert vierzehn der Schwindsucht erlegen, und meine ersten Erinnerungen an die Tante reichen nahe an diese Zeit zurück. Ihr einziger Sohn war damals schon seit etlichen Jahren von Königsberg entfernt, und sie lebte mit der letzten ihr übrig gebliebenen Tochter, die, ebenso wie die ältere Schwester, schwindsüchtig war, in einer engen, äußerst saubern Wohnung, in welcher einige altmodische Möbel, ein Paar chinesische Porzellanvasen und ein Potpourri, der sehr stark duftete, und auf dessen Deckel sich eine rothe Rose befand, während der Topf an der Vorderseite eine Namenschiffre von Vergißmeinnicht zeigte, für mich etwas Bezauberndes hatten. Dazu hingen einige Oelgemälde in den Stuben, die einzigen, welche ich damals zu sehen bekam. Es waren, das Portrait der Tante abgerechnet, lauter Arbeiten ihres Sohnes August. Eine hübsche Copie nach der Rafael'schen jardinière, eine schöne Landschaft nach Claude Lorrain und noch einige andere Landschaftsbilder; und wie diese mich fesselten, so liebte ich auch die brustkranke Cousine Adelheid, welche eine treffliche Clavierspielerin war, und mit ihrer weißen Stirne und den braunen Haaren so besonders aussah.

Meine Eltern hielten Beide große Stücke auf Adelheid. Sie wurde mir immer als ein Muster von Güte und Geduld vorgestellt, denn sie hatte bei ihrer kleinen, sehr excentrischen Mutter ein recht schweres Leben, und war doch, wenn sie zu uns kam, um meinem Bruder Musikunterricht zu geben, oder Sonntags mit uns zu essen, [315] immer heiter. Manchmal hörte ich, daß sie meiner Mutter vertraute, wie sie wieder sehr heftig Blut gehustet, es aber zu Hause verheimlicht habe, und wenn ihr darüber abmahnende Vorstellungen gemacht wurden, so sagte sie: »Es hilft mir ja doch nicht! ich werde ebenso sterben wie Johanne!«

Meine Mutter that für Adelheid's Pflege, was in ihren Kräften stand. Ich mußte oft Bouillon-Gelee's und Fruchtsaft und ähnliche Erfrischungen zu ihr tragen, wenn sie krank war, aber was mir die Cousine besonders anziehend machte, war mein Glaube, daß Adelheid meinen ebenfalls brustkranken Musiklehrer, den im Beginne dieser Erinnerungen erwähnten schönen Gustav Wiebe, den Freund ihres Bruders, geliebt habe. Ob zu dieser Annahme irgend ein Grund vorhanden war, weiß ich nicht, indeß der Instinkt aufmerksamer Kinder pflegt sich in solchen Voraussetzungen selten zu irren, und die kranke Cousine erschien mir dadurch in einem noch poetischeren Lichte.

Aber das war noch lange nicht Alles. Tante Lewald wohnte in jener Zeit nahe an der Schloßbrücke, in dem Instrumentenmacher Weber'schen Hause, in welchem, weil es unfern vom Theater lag, auch eine Schauspielerfamilie wohnte. Diese Familie und noch einige andere Schauspieler, mit denen August Lewald bekannt gewesen war, kamen zuweilen zur Tante zum Besuch. Und Schauspieler zu sehen und sprechen zu hören, mich mit Agathe Lanz, die ich als Aschenbrödel, als Fanchon angestaunt, in demselben Zimmer zu befinden, machte mir das größte Vergnügen. Es wurde jedoch noch unendlich gesteigert, wenn die Tante gelegentlich eines solchen Besuches mit [316] ihren geheimen Schätzen hervorrückte, die in nichts Geringerm, als in den Resten einer Maskengarderobe bestanden.

Die Tante hatte nämlich die geschicktesten Hände von der Welt. Das Wort: »was die Augen sahen, konnten die Hände machen« fand auf sie seine volle Anwendung; und da sie eine Frau von Ehrgefühl war, hatte sie nach dem Tode ihres Mannes jedes Mittel ergriffen, sich und ihre Kinder anständig durchzubringen, ohne ihren Verwandten lästig zu fallen. Sie hatte Pensionäre gehalten, Zimmer vermiethet, aus feinem Leder, welches man ihr aus Dänemark sendete, eine Art sehr gesuchter Handschuhe fabrizirt, Blonden gewaschen, und endlich, da sie neben ihren geschickten Händen auch viel Phantasie besaß, auf Bestellung, für die damals sehr üblichen Maskeraden die Costüme angefertigt. Einzelne Stücke davon waren in ihrem Besitz geblieben, und in einem großen Turban, der mir auf dem Kopfe wackelte, mit einem gelben Atlasschurz und blechernem Dolche als Mohrenkönig in der kleinen Stube umherzugehen, oder im rosa Domino und Federbarett auf dem Stuhle am Ofen zu sitzen, und dazu das Bild der belle jardinière und die schöne waldige Landschaft anzusehen, auf welcher einige Götter und Göttinnen sich im Vordergrunde bewegten, war mir als Kind ein ganz entzückender Genuß gewesen.

Später, als ich schon größer geworden, nahm die Poesie, welche sich für mich an diese Wohnung knüpfte, eine andere und positivere Gestalt an. Adelheid ließ mich bisweilen in ihren Papieren kramen. Da gab es Stammbücher der Tante und des Bruders und Johannens, [317] Zeichnungen, getrocknete Blumen, mancherlei Verse, und endlich verschiedene Hefte von geschriebenen Erzählungen, welche theils von der verstorbenen Johanne, theils von Adelheid verfaßt waren. Ich wurde nicht müde, sie immer wieder zu lesen, und fand sie unvergleichlich schöner, als alles Gedruckte, was ich kannte. Aber ich durfte davon gegen Niemand, auch gegen meine Eltern und gegen Adelheid's Mutter nicht sprechen. Wenn ich sie gelesen hatte, wickelte Adelheid wieder den rothseidenen Faden um die Papierrolle, und sie verschwanden in dem kleinen Nähtisch, der mir dadurch eben so geheimnißvoll und heilig däuchte, wie das kleine Marmortischchen auf der Servante meiner Mutter mir in meiner ersten Kindheit erschienen war.

Adelheid hatte ihr Schicksal nur zu richtig vorausgesehen. Sie starb wie ihre Schwester früh. Die Mutter blieb nun ganz einsam zurück, und fing selber mehr und mehr zu kränkeln an. Sie hatte schon früher oft an Gicht gelitten, jetzt wurde sie fast beständig davon geplagt. Ihre arbeitsamen Hände bekamen dicke Knollen; sie konnte nicht mehr nähen, und wie sie dadurch hülflos, und auf die Unterstützung meines Vaters und ihres Sohnes angewiesen wurde, so nahmen ihr Unglücksgefühl und mit diesem ihre Reizbarkeit und ihre Empfindlichkeit von Jahr zu Jahr in stetem Wachsen zu.

Meine Mutter und meines Vaters Schwestern hatten viel Noth und noch mehr Geduld mit ihr. Man hatte sie, um sie besser versorgen zu können, dahin überredet, daß sie in den Kneiphof zog, wo wir und die Tanten wohnten. Die Frauen besuchten sie oft und besorgten [318] auch ihre Kost; indeß das Brod der Wohlthätigkeit bleibt immer ein bittres, und was man auch mit dem besten Sinne für sie that, sie zweifelte beständig an dem guten Willen, den man für sie hegte, und war mit Niemandem zufrieden, außer mit meinem Vater, der ihr neben seiner Güte auch zu imponiren wußte. Manchmal war man ärgerlich über sie, manchmal mußte man lachen. Es war nichts Seltenes, daß sie eine der Frauen plötzlich mit dringender Bitte, gleich zu kommen, zu sich bescheiden ließ, blos um ihr zu sagen: die Suppe, welche sie ihr geschickt, sei zu gesalzen für ihren gestrigen Zustand gewesen. Dann wieder ließ sie einmal meine Mutter holen, um ihr einen nöthigen Vorschlag zu machen, der in nichts Anderem bestand, als daß wir erwachsenen Kinder, den von einer Reise heimkehrenden Vater auf der Post mit einem Liede empfangen sollten, das sie gedichtet, und zu dem sie auch die Melodie ausgesucht hatte. Und sie weinte und schalt dann vor Herzenskränkung, als die Mutter ihr die Unstatthaftigkeit ihres Vorschlages nachwies, und ihr damit, wie die alte Frau es nannte, die Gelegenheit raubte, sich dankbar zu beweisen.

Sie war höchst beklagenswerth, denn sie hatte von den Fehlern ihrer guten Eigenschaften, von ihrer Phantasie und ihrer Lebhaftigkeit reichlich so viel zu leiden, als sie den Andern dadurch zu ertragen gab. Es war schwer mit ihr zu leben!

Da mein Vater unmöglich die Zeit hatte, ihr die Briefe an ihren Sohn, wie sie es wünschte, zu schreiben, so war mir allmählig dieses Amt zuerkannt worden, und ich war im Auftrage der alten Tante und meines Vaters [319] in eine Correspondenz mit unserm Vetter August Lewald gerathen, den ich persönlich gar nicht kannte; denn er hatte Königsberg bereits verlassen, als ich zwei oder drei Jahre alt gewesen war. Natürlich drehte dieser Briefwechsel sich immer um dasselbe Thema, und da mir dies allmählig kein Vergnügen machte, da ich auch obendrein sehr gern schrieb und Lewald von seiner Vaterstadt gern erzählen hörte, so hatte ich mich gewöhnt, ihm neben der Auskunft über das Ergehen seiner Mutter auch Nachricht über die in Königsberg vorkommenden Ereignisse zu geben; und einmal an diesen Zusammenhang gewöhnt, wurde er auch nach dem Tode der alten Tante aufrecht erhalten, der, wie ich meine, im Jahre achtunddreißig erfolgt sein muß.

Ich hatte nach demselben auf Anordnung meines Vaters ihre Papiere durchgesehen, und dem Sohne, während ich ihm von den letzten Tagen seiner Mutter berichtete, die Bilder, Briefschaften und Skripturen aus ihrem Nachlasse gesendet. Sie bezogen sich zum Theil auf seine Jugend, und ich hatte damit einen Einblick in sein und seiner Jugendgenossen Leben und Treiben gewonnen, das ihn mir noch anziehender machte, als die Schilderungen, die ich in seiner und meiner Familie von ihm vernommen. Er hatte dann allmählig auch seinerseits ein Interesse und eine Zuneigung und Freundschaft für mich gefaßt, die mir bald sehr zu Statten kommen, und maßgebend und entscheidend für mein ganzes Leben werden sollte.

Wenn ich mich an diese Einzelnheiten und Anfänge erinnere, fällt mir oft der Ausspruch von George Sand [320] ein. Er lautet: »La vie ressemble plus souvent à un roman, qu'un roman ne ressemble à la vie!« Daran liegt aber nichts Auffallendes. Die Gewalt der Ereignisse und ihre zwingende, nothwendige Folgerichtigkeit, sind stärker und mächtiger, als es oftmals die Vernunft der Dichter ist, und wer den Lebensweg eines Menschen in seinen Einzelnheiten und diese in ihrem Zusammenhange betrachtet, wird, je nach seiner Anschauungsweise, an das Walten einer göttlichen Vorsehung, an eine Nemesis oder an das folgerechte Auf- und Ineinanderwirken der Charaktere und der Zustände, in welchen sie sich bewegen, glauben müssen.

Alles, was mir begegnete, was ich that und thun mußte, war immer halb Nothwendigkeit, halb Freiheit, oder wenn man so sagen kann, Freiheit in der Nothwendigkeit. Die Ereignisse, die Personen, traten ohne mein Zuthun an mich heran, nur das Erfassen war freie Wahl aus innerer Nothwendigkeit. Das Erleiden drängte mich zum Handeln, mein Thun wurde mir dabei zum Leide; und ganz unmerklich wurde ich durch die natürlichsten Vorgänge innerhalb des Familienlebens, darauf hingeleitet, mir der Kraft bewußt zu werden, welche in mir schlummerte, während eben so natürliche Verhältnisse mich abhielten, auf ihren Gebrauch zu verfallen, ehe eigenes Denken und Beobachten, Erleben und Erleiden, mir ein selbstständiges Material zur Verarbeitung, und ein, bis zu einem gewissen Grade, selbstständiges Wesen erschaffen hatten.

Es ging mir damals lange und lebhaft im Kopfe herum, als ich durch jene Europa-Artikel die Bemerkung [321] machte, daß August Lewald, dessen eleganter Styl, dessen gewandte Darstellung uns oft große Freude gewährt hatten, und dessen Erfahrung in literarischen Dingen unzweifelhaft war, meine sorg- und absichtslos geschriebenen Briefe für den Druck geeignet fand. Meine Worte und Gedanken sahen mich auf dem weißen Papier mit den schönen schwarzen Lettern, und in Gesellschaft mancher bekannten Schriftstellernamen, fremd und vornehm an. Es war mir, als befände ich mich plötzlich in kostbarer, mich verschönender Kleidung in einem prächtigen Saale, von verehrten Menschen gütevoll empfangen. Es that mir äußerst wohl. Aber wie ich es mir damals noch keineswegs beikommen ließ, mich für ein Talent zu halten, so hatte ich noch viel weniger den Muth, meinen Vetter anzufragen, ob er mir ein solches etwa zutrauen würde.

Indeß meinen Eltern mochte sich doch wohl durch diesen und mancherlei andere kleine Vorgänge die Idee aufdrängen, daß in mir ein Etwas vorhanden wäre, welches der Ausbildung werth, und daß ich eine Natur sei, der man vielleicht mehr Raum für ihre Entwicklung gönnen müsse. Gesund war ich nicht, heiter und zufrieden auch nicht, und meine Unzufriedenheit, die ihre Ursache nur in geistigen Motiven hatte, ließ sich durch äußere Gewährungen nicht beschwichtigen. Je friedlicher sich im Allgemeinen das Familienleben gab, wenn die Mutter nur leidlich wohl war, um so unbehaglicher mußte Allen der Gedanke sein, in dem Kreise einer so harmonischen Familie ein Mitglied zu zählen, das sich nicht mehr mit demselben in dem rechten und vollen Einklange befand, und es nicht über sich gewinnen konnte, dasjenige [322] aufzugeben, was sich nicht in den Sinn der Gesammtheit einfügen ließ. Das Axiom von meiner Kälte und Gemüthlosigkeit, von meinen freien Ideen und von meiner Unweiblichkeit, war allen Frauen des Hauses, von meiner Mutter bis hinab zu den jüngsten Schwestern wundervoll geläufig, und wenn sämmtliche Schwestern sich auch zutrauensvoll und von meinem guten Willen für sie zweifellos überzeugt, an mich wendeten, sobald Etwas sie bedrückte oder betrübte, so konnte es doch unter den obwaltenden Verhältnissen gar nicht fehlen, daß sie Alle mich für extravagant und sich im gewissen Sinne für besser als mich halten mußten, besonders da meine Art zu fühlen und zu sein mich nicht glücklich, sondern unglücklich gemacht hatte. Wo man also damals von meiner Herrschsucht zu leiden glaubte, hatte ich mich in Wahrheit immer nur in meinem Rechte und in meiner Eigenthümlichkeit zu vertheidigen und zu behaupten. Wo man im Stillen über die Nachsicht und die Vorliebe klagte, welche mein Vater mir angedeihen ließ, that ich das Meinige, um mir durch die größte Nachgiebigkeit und Unterordnung den Schatz, den Rettungsanker zu erhalten, den ich in der Liebe meines Vaters besaß. Und ich glaube, wenn auch die nächsten Freunde es wußten, daß ich nicht glücklich sei, so hatte doch sicher Niemand eine Ahnung davon, wie nicht meine unerwiderte Liebe für meinen Cousin allein, sondern die innersten Elemente unseres Familienlebens mich unglücklich machten. Wir litten Alle, ich direkt und die Meinen indirekt, von der falschen auch jetzt noch herrschenden Sitte, welche die Töchter der Mittelstände über die Jahre [323] der Kindheit und Jugend hinaus zum nutzlosen Hinleben in den Banden der Familie verdammt, auch wenn sie denselben lange entwachsen und in jedem Betrachte für ein selbstständiges Leben und Walten reif geworden sind. Als bezahlte Vorsteherin eines fremden Haushalts und einer fremden Familie würde ich sehr nützlich gewesen, würde ich zur Ruhe gekommen, und bei meinen etwaigen Besuchen im Vaterhause glücklich und geliebt worden sein, wie ich es ersehnte und wie ich es verdiente. Als die Aelteste von sechs erwachsenen und zu versorgenden Töchtern war ich für den ganzen Organismus der Familie überflüssig und unnütz wie das fünfte Rad am Wagen, und obenein hinderlich wie ein solches fünftes Rad, weil ich für mich eigene und unabhängige Bewegungen machen wollte und machen mußte, um mich zu erhalten.

Dennoch begehrte ich meine Entfernung nicht, und konnte sie auch aus den vielfach angeführten Gründen nicht begehren, hätte ich mich sogar überwinden können, es dem Vater einzugestehen, daß ich nicht mehr glücklich in seiner Nähe sei. Für eine Dienstbarkeit hätte ich die Erlaubniß nie erhalten, und an einen andern Aufenthalt außer dem Hause zu denken, war für mich schon darum ganz unmöglich, weil er Kosten verursachen mußte, die ich meinem Vater um so weniger zumuthen durfte, als Moritz in Wilna noch zu unterhalten war.

Es dünkte mich deßhalb eine wahre Wohlthat, als meine Eltern mir die Möglichkeit in Aussicht stellten, meinen Vater abermals auf einer Reise zu begleiten. Er war seit der ersten Reise, auf welcher er mich mit sich genommen, mehrmals in Deutschland und über dessen [324] Grenzen hinaus gewesen, und im Herbste von neununddreißig wieder zu einer Reise genöthigt. An diese Reise nun knüpfte sich sein Plan, mich bis Berlin mit sich zu nehmen und mich, wenn es zu machen wäre, den Winter dort zubringen zu lassen. Außer dem guten Willen für mich, wirkte ohne Frage der Hinblick auf meine Schwestern bestimmend auf diesen seinen Entschluß ein. Die Schwestern konnten mehr zur Geltung und zur freiern Ausbildung ihrer Eigenthümlichkeiten gelangen, wenn nicht eine älteste Tochter von so bestimmter Richtung auf ihnen lastete: das fühlten Alle, und das war auch ganz richtig. Man muß ja auch im Walde durch das Fällen der alten Bäume Raum für das Gedeihen des Nachwuchses zu schaffen suchen.

Da ich nun große Neigung hatte, für eine Weile fortzukommen, und in jenem Augenblicke Niemand ein Interesse daran, mich zu halten, so wurden die Einrichtungen für meine Abreise bald gemacht. Und nach einem Zeitraum von mehr als sieben Jahren verließ ich denn, unter dem Schutze meines Vaters, zum zweiten Male die Vaterstadt und das Vaterhaus; aber nicht wie das erste Mal eine, trotz ihrer Schmerzen sehr glückliche Jugend, sondern eine Reihe bittrer Leidensjahre hinter mir zurücklassend, und weit, sehr weit entfernt von allen jenen goldenen Hoffnungen und Erwartungen, welche mich einst bei jenem ersten Eintritte in die Welt so fröhlich umgaukelt hatten.

[325]
19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel

Es mag Ende Oktober oder Anfangs November gewesen sein, als wir in Berlin anlangten. Dank den verbesserten Posteinrichtungen fuhr man jetzt nicht mehr, wie bei meiner ersten Reise, zweiundsiebenzig, sondern nur achtundvierzig Stunden von Königsberg nach der Hauptstadt; indeß Regen und Schlackwetter hatten die Fahrt unbehaglich gemacht, und auch Berlin sah mich mit den nassen verregneten Straßen, auf denen Alles unter triefenden Regenschirmen eilig vorwärts ging, nicht so verlockend freundlich an, als vor sieben Jahren, da ich die Stadt im hellsten Sonnenschein eines frischen Frühlingsmorgens zuerst betreten hatte. Ich knüpfte auch keine besondern Wünsche und Hoffnungen an diese Rückkehr in die Residenz, und vielleicht wurde ich mir grade dadurch der Wandlung, welche diese Jahre in mir hervorgebracht hatten, deutlicher als je zuvor bewußt.

Mein Vater konnte nicht lange in Berlin verweilen. Er hatte in seinen eigenen Geschäften auswärts zu thun, und übernahm es noch auf Bitten eines Schwagers, in dessen sehr verwickelten Angelegenheiten nach Hamburg zu gehen. So mußte denn, da ich nicht allein in dem Gasthofe bleiben sollte, rasch ein Unterkommen für mich geschafft [326] werden, und derselbe Schwager bot meinem Vater ein solches für mich gegen eine geringe Entschädigung an. Die Vermögenslage dieses Onkels war bei einer einträglichen Stellung, durch eine Menge von ihm verschuldeter Umstände, keine günstige, aber er hielt es für nothwendig, den Schein guter Verhältnisse aufrecht zu erhalten, und nahm noch immer eine ansehnliche Wohnung ein, so daß der Vater und ich uns der Hoffnung getrösteten, ich würde in dem Hause wohl versorgt sein. Wir hatten auch die gutmüthige und gefällige Tante, die bedeutend jünger als ihr Mann, und nur zehn Jahre älter als ich war, Beide gern und lieb, und hätte sie in dem Hause zu bestimmen gehabt, so würde sie Alles besser für mich eingerichtet haben.

Indeß mein Onkel gehörte zu den Leuten, die eine sogenannte kalte Putzstube mit Leinwand-überzogenen Möbeln für das erste Erforderniß eines anständigen Haushaltes betrachten; und wie alle Männer, die sich zu spät verheirathet haben, mochte er in seinen Gewohnheiten keine Aenderung einführen. So fror denn in dem ungeheizten Putzzimmer ein vor Jahren höchst elegantes aber äußerst unbequemes Ameublement von schwarzem Ebenholz mit Bronzeverzierungen, an welchen Jeder, der einmal darauf zu sitzen kam, sich die Kleider zerriß; daneben fror in einer ebenfalls ungeheizten Stube der schöne Kisting'sche Flügel meiner Tante, den die musikliebende Frau auf diese Weise den Winter hindurch nicht benutzen konnte, und mich fror in der schlechten Stube des in eine Kammer verwiesenen, und deßhalb gegen mich stets übellaunigen Dienstmädchens. Und das Alles nur deßhalb, [327] weil mein Onkel sich nicht an die Vorstellung gewöhnen konnte, daß Jemand in dem heilig gehaltenen Putzzimmer wohnen, oder in der Klavierstube schlafen könne. Nichts verengt das Herz und umnebelt den Verstand schneller und mehr, als die Abhängigkeit von Gewohnheiten.

Es macht mich lachen, wenn ich an jenes Winterquartier in meines Onkels Hause zurück denke. Ich hatte ein zweifenstriges, früher einmal gelb gewesenes und fast leeres Zimmer. Eine geringe Bettstelle, eine elende Kommode, zwei ordinaire, mit Wachstuch übernagelte Tische, einen kleinen Spiegel, ein paar schlechte Rohrstühle und ein aus Latten und ungebleichter Leinwand zusammengeschlagenes Gestell zum Aufbewahren der Kleider. Das war mein ganzes, oder vielmehr des Dienstmädchens Ameublement, welches mir von demselben nur mit dem größten Unmuth abgetreten wurde. In Eile und um den Raum nur einigermaßen einer Stube ähnlich zu machen, hatte die Tante weiße Rouleaux und einen Anflug von weißen Gardinen vor den Fenstern angebracht und mir eine Decke vor das Bett gelegt; aber der Abstand zwischen diesem Aufenthalte und meiner heimischen Wohnung war doch sehr groß. Ich war an eine äußerst gefällige Umgebung gewöhnt und liebte dieselbe. Wenn ich manchmal an einem der schlechten Tische saß und die alte Schwarzwälder Uhr neben dem schwarzen, stets rauchenden Kachelofen ihre schweren Pendelschläge that, wenn die Sonne, durch die weißen Rouleaux so blendend hereinschien, daß meine damals sehr leidenden Kopfnerven davon wirklich gemartert wurden; wenn ich statt meiner [328] Epheuwand, statt meiner hübschen Bilder und Statuetten, auf denen mein Auge so gern ausruhete und an welchen meine Verstimmung sich oft besänftigt hatte, nun gar Nichts vor mir sah, als die kahlen, fleckigen Wände, und die blaubeklebten Töpfe, in welchen neben dem Ofen die ganze, mir höchst widerwärtige Colonie von Mehlwürmern auferzogen wurde, die mein Onkel als Futter für seine melancholische Schwarzdrossel gebrauchte, so war ich mir ganz unwahrscheinlich in der Umgebung. Dazu kam noch, daß ich selbst diese elende Stube nicht unbeschränkt besaß. Alle häuslichen Verrichtungen, wie das Plätten und ähnliche Dinge, mußten in derselben vorgenommen werden, und da sie obenein den Durchgang von den Wohnstuben nach der Küche bildete, so war sie beständig ausgekühlt und ich keinen Augenblick vor Störungen gesichert.

Und doch fand ich mich darin, doch war ich bald mit diesem, im Grunde unerträglichen Aufenthalte ganz zufrieden, weil ich dasjenige besaß, wonach ich mich vor allem Andern gesehnt hatte. Ich war geistig ungestört mit mir allein; und wie der Kranke nach der heftigen Erregung eines Fieberanfalles kein anderes Verlangen hegt, als mit allen seinen Sinnen auszuruhen, so glaubte ich, daß mir auf der Welt Nichts fehle, nun ich mir endlich einmal selber überlassen war.

Mein Vater war sichtlich betroffen, als er mich, bei seiner Rückkehr von Hamburg, in dem mir von meinem Onkel zugewiesenen Zimmer vorfand. Es hatte allerdings Keiner von uns, weder vorher noch jemals nachher, einen solchen Aufenthalt gehabt, und er fragte mich mit seiner gewohnten Vorsorge und Güte, ob mir es nicht [329] gar zu unwirthlich sein, ob ich darunter nicht leiden würde. Da er mich aber von jeher in dem Gedanken auferzogen, daß man die Mittel wollen müsse, wo man den Zweck im Auge habe, da ich ferner auch wußte, daß die Sache nicht wohl zu ändern sei, so erklärte ich mich ganz zufrieden; und nachdem der Vater noch einige Besuche mit mir gemacht, mich ein paarmal in das Theater geführt und mich vor allen Dingen angewiesen hatte, mir für meine Stube ein Piano zu miethen, um meine täglichen Uebungen nicht zu unterbrechen, kehrte er nach Königsberg zurück, und ich hatte nun die Aussicht auf einen Winter in Berlin vor mir eröffnet.

Was ich eigentlich beabsichtigte, wußte ich selber nicht. Ich wollte mich zerstreuen, sollte mich amüsiren. Das ist aber Beides viel leichter gesagt als gethan, denn nun ich mir die Sache zu überlegen anfing, fand ich, daß man, um sich zu amüsiren, bestimmte Neigungen haben müsse, denen man nachleben, denen man Etwas zu Gute kommen lassen könne; und ich hatte weder bestimmte Neigungen, noch irgend welche bestimmte, hervorragende Kenntnisse oder Anlagen, die auszubilden mir ein Genuß gewesen wäre.

Ich wußte Mancherlei, sogar Vielerlei und Einiges davon ziemlich genau; ich hatte sehr viel und recht scharf gedacht, das war Alles recht schön, aber damit war ich doch Nichts, und damit war auch nicht viel anzufangen. Ich mußte also zusehen, abwarten, probiren, und um doch Etwas zu thun, nahm ich mit ein paar Bekannten bei einem Engländer wieder einmal einige Monate Sprachunterricht, der uns französisch ertheilt wurde, so daß wir [330] dadurch einer doppelten Uebung genossen. Ich las daneben viel, ging viel in Gesellschaft, und gewann bald einen Anhalt an einer entfernten Verwandten meines Vaters, an Frau Sophie Bloch, deren Bild ich mir mit um so größerm Vergnügen in das Gedächtniß zurückrufe, als sie und ihr Gatte mir durch viele Jahre eine lebhafte Theilnahme und vielerlei Freundliches und Dankenswerthes erwiesen haben.

Wie wir mit ihr verwandt waren, habe ich nie recht begriffen, aber sie pflegte es gern zu erzählen, daß man sie dem schönen Vater meines Vaters stets ähnlich gefunden habe, und sie legte eine so warme Zuneigung für meine Tante Simon an den Tag, daß sie schon damit mein Herz gewann. Als ich sie zuerst im Herbste von neununddreißig sah, mochte. sie nahezu sechszig Jahre zählen, man konnte das jedoch bei ihrem Anblick nicht leicht glauben, denn sie hatte sich ungewöhnlich gut erhalten, und ihre feinen Züge, ihre sehr beweglichen Mienen waren noch eben so anmuthig, als ihr Auge hell und glänzend. Man sagte, daß sie eine große Schönheit gewesen sei, und ich glaube das gern, denn noch als sechszigjährige Frau konnte sie in großer Toilette so prächtig aussehen, daß man sie nicht nur eine conservirte, sondern wirklich noch eine schöne Frau nennen mußte, wozu ihre vornehme Haltung wesentlich mit beitrug.

Diese Haltung war aber bei ihr keine bloß äußerliche, sondern der Ausdruck eines durchweg edlen und gleichmäßig ausgebildeten Wesens. Sie hatte ungemein viel gesunde Vernunft, einen klaren Verstand, einen sehr feinen Schönheitssinn, ein durch und durch wohlwollendes Herz, [331] und eine angeborne Abneigung gegen das Geringe und Gemeine. Ueberwältigende, hinreißende Wirkungen brachte sie wohl auf Andere niemals hervor; aber ich meine, daß sie Jedem einen bedeutenden und nachhaltig wohlthuenden Eindruck machen mußte, mit dem sie in Berührung kam. Es leben gewiß noch sehr Viele, die sich ihrer eben so gern als ich erinnern.

Sie war meine Landsmännin, und wie ich aus ihren gelegentlichen Erzählungen entnehmen konnte, hatte sie sich einmal in einer ähnlichen Lage befunden wie ich. Sie war dem Kreise ihrer Familie entwachsen, ohne sich verheirathet zu haben, und dann aus demselben fortgegangen, um in Berlin sich selber zu leben. Wie die meinen, so waren ihre Mittel beschränkt gewesen, indeß Berlin hatte ihr dargeboten, was sie am Nöthigsten gehabt: die Möglichkeit zu freier Bethätigung ihrer selbst, zu der auch sie in der Familie nicht gelangt war. Das alte Sprichwort: »Der Schilling gilt Nichts an dem Orte, an welchem er geschlagen worden,« hat immer noch seine Richtigkeit. Die Menschen, in deren Nähe wir aufgewachsen sind, vergessen es nicht, daß sie uns als ein Kind, daß sie uns unfertig gesehen und gekannt haben; und weil es in unserm Leben eine Zeit gegeben hat, in der sie sich uns naturgemäß überlegen oder als unseres Gleichen gefühlt, werden sie diese trügerische Erinnerung nicht los, und halten sich berechtigt und verpflichtet, uns zu hindern, zu tadeln und zu berathen, wenn wir aus eigener Kraft uns lange von dem Boden entfernt, auf welchem wir uns einst neben ihnen befunden, und einen Weg eingeschlagen, eine Entwicklung genommen haben, [332] die sie von ihrem festen Standpunkte aus weder übersehen können noch mögen. Jeder Mensch, der Etwas aus sich machen will, muß sich deßhalb nach meiner festen Ueberzeugung, in der entscheidenden Epoche seines Lebens so nothwendig von der Familienabhängigkeit frei machen, als das junge Huhn die Eierschaale von sich stößt, wenn es auf eigenen Beinen stehen kann. Der Freigewordene mag dann seine Familie wieder an sich ziehen, oder in sie zurückkehren, wenn er sein Ziel erreicht hat, und die Stellung bestimmen kann, die einzunehmen ihm angemessen ist. Wer es aber versäumte, sich einmal völlig frei zu machen, der wird diese Versäumniß um so schwerer zu bereuen haben, je bedeutender, und je mehr er von Natur zu liebender Nachgiebigkeit geneigt ist.

Frau Bloch hatte sich gegen das Ende ihrer dreißiger Jahre in Berlin mit ihrem Manne verheirathet. Er war, wie er das in guten Stunden zu erzählen liebte, als ein armer Junge mit ein paar Dukaten als einzige Mitgift in der Tasche, aus einem kleinen böhmischen Orte in die Welt gegangen, sein Glück zu versuchen. Ohne Freunde, ohne Kenntnisse, nur mit seinem scharfen Geiste und einer nicht zu ermüdenden Energie ausgerüstet, hatte er sich, während er in Berlin als Ladenbursche und dann als Lehrling und als Handlungsgehülfe diente, selbst unterrichtet und selbst in einer Weise gebildet, daß die Besten seiner Zeit ihn mit Freuden zu ihren Freunden zählten. Später war er nach Königsberg gekommen, und dort hatte er eine Liebe für die schöne Tochter seines Prinzipals gefaßt, die Anfangs nicht hoffnungsvoll geschienen hatte, endlich aber in Berlin an ihr Ziel gelangt, [333] und die Grundlage zu einer sehr glücklichen Ehe geworden war.

Durch die wechselvollsten Schicksale, durch einen ungemein großen Menschenverkehr hatte Herr Bloch sich ein sehr scharfes Urtheil und die Fähigkeit klaren Ueberblickes angeeignet. Er hatte bedeutende Vermögen erworben, verloren und wieder erworben, er war dann zum Agenten der Königlich Preußischen Seehandlung ernannt, als solcher mit großartigen Finanzoperationen betraut worden, und eben damals mit der Gründung der Anhalter Eisenbahn beschäftigt, die ganz und gar sein Werk ist. Aber wie er energisch außer dem Hause, barsch und kurz gegen Fremde, stolz und abweichend gegen Personen sein konnte, die ihm anmaßlich entgegentraten, so war er hülfreich und werkthätig, wo sich die Gelegenheit dazu darbot, und in seinem Hause hatte er offenbar nur einen Lebenszweck: das Wohlbefinden seiner Frau. Es lag etwas Rührendes in der Sorge, mit welcher er sie umgab. Er hielt sie, wie ein Kunstenthusiast das Meisterwerk seiner Sammlung. Es war ihm Nichts gut genug für sie. Sie anerkannt, geschätzt, bewundert zu sehen, war ihm die größte Genugthuung, ja die Liebe für sie war wirklich ein Cultus bei ihm, und sie machte ihn weich und gütig und liebenswürdig für alle Diejenigen, welche die Theilnahme seiner Frau in irgend einer Weise gewonnen hatten.

Beide Eheleute hatten sich durch lange Jahre in der besten Gesellschaft bewegt und die bedeutendsten Personen ihrer Zeit gekannt. Sie waren als vertraute Freunde von Zelter im Goethe'schen Hause wohl aufgenommen, und ebenso Geothe'sche Familienglieder in ihrem Hause [334] als Gäste gewesen. Sie hatten Rahel Varnhagen, Professor Gans, Heinrich Heine, die Milder, die Sontag, Hegel, die Humboldt's, und alle jene Gelehrten gekannt, welche den Ruf der Berliner Universität begründet. Herr Bloch war als ausgezeichneter Finanzmann mit den damaligen Staatsmännern unseres Vaterlandes in vielfache Berührungen gekommen, und hatte eben durch die Unternehmungen, welche ihm obgelegen, manche der deutschen Fürsten persönlich kennen lernen. Mann und Frau besaßen also einen Schatz von Erinnerungen, und daneben jene Lebendigkeit, welche den Verkehr mit der Jugend liebt und als Erfrischung anerkennt.

Die eigentliche Glanzzeit der Berliner Geselligkeit war schon vorüber, als ich zum zweiten Male nach Berlin kam. Man sprach überall noch von den Zeiten vor dem Jahre sechs, und namentlich von den Jahren, welche den Freiheitskriegen gefolgt waren, als von einer schönen Vergangenheit. Jene Zirkel, in denen man um der Unterhaltung willen zusammen gekommen war, in denen die geistig Bevorzugten aller Stände sich getroffen, und in welchen sich der Ruf der Berliner Gesellschaft, als der Ton angebenden in Deutschland, gebildet hatte, existirten nicht mehr. Der Geist des vorigen Jahrhunderts, der die Menschenrechte und die Gleichheit proklamirte, hatte die Berliner Gesellschaft erzeugt, hatte Bürgerliche, Adel, Juden, Gewerbtreibende und Gelehrte mit einander, zum größten Vortheil jedes einzelnen Standes, in Berührung gebracht, und die Noth der französischen Usurpation, die Begeisterung für die Befreiung des Vaterlandes, die Leiden und Opfer, welche Jeder für dieselbe über sich [335] zu nehmen gehabt, hatten geistig und materiell die Gleichheit und damit die Neigung zu Anschluß und Verkehr noch eine Weile aufrecht erhalten. So lange die preußischen Fürstinnen mit den bürgerlichen Damen die Sorge für die Lazarethe, die Pflege der Invaliden theilten, so lange man die verwundeten Söhne in den verschiedenen Städten dem Wohlwollen der Bürger anvertraut wußte, und alle Verhältnisse durch gleiche Noth einander angenähert blieben, so lange dauerte jene Art der Gesellschaft fort, in welcher Bildung die einzige Forderung war, die man an ihre Theilnehmer stellte. Der Friede und die ihm folgende Reaktion, hatten die Fürsten von dem Volke, den Adel von den Bürgerlichen, das Militär vom Civil getrennt. Der Gewerbtreibende hatte in Schaustellung seines Reichthums Ersatz gesucht für den Verlust des geistig befreiten Verkehrs. Die Gelehrten und Beamten, denen die Mittel zu solchem Luxus nicht zu Gebote standen, und die vielleicht nicht gern empfangen mochten, was sie nicht erwidern konnten, hatten sich in engere Kreise zurückgezogen; und da die Menschen, auf welche ein Druck ausgeübt wird, leicht zu dem unvernünftigen Verlangen kommen, an Andern zu vergelten was ihnen Böses geschieht, so gab sich die christliche bürgerliche Gesellschaft bald wieder das Vergnügen, sich ebenso von den Juden zu entfernen, wie der Adel und der Hof sich von der bürgerlichen Gesellschaft entfernt hatte.

So viel und auf so verschiedene Weise man daher auch von der Berliner Gesellschaft noch in den Provinzen zu sprechen liebte, so wenig war von ihr zu Ende der dreißiger Jahre noch vorhanden. Was davon noch [336] existirte, waren Ausläufer einer vergangenen Zeit, und ich komme auf dieselben später noch zurück. Die verschiedenen Stände waren ziemlich scharf getrennt, feste Gesellschaftsabende oder Häuser, welche den Besuchern an jedem Abende offen gestanden hätten, gab es in den bürgerlichen Kreisen wenige. Die Aristokratie hielt sich um den Hof geschaart, die Ministersoireen standen der unabhängigen bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen nicht offen. Die höhern Beamten lebten das Jahr hindurch meist in genauester Beschränkung, um ein- oder zweimal im Winter eine jener ängstlich aufgesteiften, mit frostigem Ueberfluß versehenen Gesellschaften zu geben, bei denen in sonst ungeheizten Sälen die Feuchtigkeit aus den Wänden schwitzte und fremde Lohndiener sich in den Zimmern nicht zurecht fanden; und die reichen Kaufleute, Christen sowohl als Juden, gaben Bälle, Mittagbrode und Soireen, welche von hochgestellten Beamten, von Gelehrten, und von höheren und niederen Militärpersonen sehr gern, aber doch mit einer gewissen halbironischen Herablassung besucht wurden. Es war, so weit mein Blick und die Berichte reichten, welche ich von Andern erhielt, die mehr noch als ich Gelegenheit hatten, die Gesellschaft von Berlin kennen zu lernen, damals nicht anders als jetzt. Das Jahr der Revolution in Preußen, dem man gern die Schuld von allen Unbilden aufbürden möchte, von denen man zu leiden hat, fand an der Berliner Geselligkeit nicht mehr viel zu verderben und zu zerstören. Es stellte nur die lang bestandene innere Trennung der verschiedenen Klassen noch bestimmter und ehrlicher heraus, und es wird hoffentlich der Epoche einer neuen Bewegung vorbehalten sein, aus dem Gesonderten [337] das Zusammengehörende hervorzuheben und zu einer neuen Gesellschaft zu verbinden. Denn der Geist hat ein Centrum nöthig, in welchem er sich sammelt, und aus dem er durch das Zusammenströmen und Zusammenwirken Aller gekräftigt, befestigt und zur Thätigkeit erfrischt, hervorgeht.

Eines der Häuser, in welchen die alte gute Art der Geselligkeit sich so weit möglich noch erhalten hatte, war das Bloch'sche Haus. Man lebte in demselben reichlich, aber ohne Schaustellung von Luxus. Herr Bloch war mit den Weltvorgängen beständig vertraut, und nahm an der Entwicklung der politischen Verhältnisse eben so großen Antheil, als seine Frau an den Erscheinungen in der literarischen Welt. Sie lasen Beide viel, und wenn Frau Bloch mit liebevollem Eingehen ein neues Werk weitläuftig zu erörtern pflegte, so traf ihres Mannes in eine Sentenz zusammengefaßtes Urtheil oft mit äußerst komischer Schärfe, besonders wo es Tadel galt, den Nagel auf den Kopf.

Herr Bloch bewohnte damals das erste Stockwerk des Hauses Nummer fünf unter den Linden. Die Wohnung war für die kinderlose Familie sehr geräumig, indeß eine junge schöne Engländerin, welche als Gesellschafterin in der Familie lebte, und ein paar Neffen und Nichten, die fast täglich in derselben waren, belebten die Räume, und an Gästen war niemals Mangel. Ich war um mehrere Jahre älter, als das andere junge Volk, aber Frau Bloch, die gern erziehend einwirkte, und an mir noch reichlich Anlaß dazu finden mochte, nahm mich unter ihren jungen Anhang auf, und es verging keine Woche, ohne daß ich mehrmals bei ihr war.

[338] Sie und ihr Mann billigten meine Entfernung aus dem Vaterhause auf das Entschiedenste. »Du gewinnst Jugend, das heißt, Du gewinnst Leben damit!« pflegte sie oftmals zu sagen, »und Alles, woraus Du Dir zu Hause ein großes Bewußtsein machst,« fügte sie dann wohl scherzend hinzu, »sind lauter Thorheiten. Du weißt Dir zu Hause Etwas damit, allen Leuten entgegen zu rufen, daß Du achtundzwanzig Jahre alt bist, weil das Aelterwerden Deiner Geschwister Dich daran erinnert, und Du es für nöthig hältst, Deine auf Dein Alter gegründete Anspruchslosigkeit gleich von vorn herein zu konstatiren. Das ist sehr einfältig! Es dankt Dir Niemand für Dein Alter. Die Jugend ist viel liebenswürdiger an einem Frauenzimmer. Du siehst noch jung und gut aus, habe das Alter Deiner Erscheinung. Das Alter ist ein arger Feind, gegen den man sich wehren, und dem man nicht entgegenlaufen muß. Denke nicht immerfort nach Hause, sondern denke daran, daß Du Deine Stirne nicht durch unnöthiges Runzeln derselben entstellst, und vor Allem halte die Einsicht fest, daß der Einzelne seiner Familie am besten und am wirksamsten nützt, wenn er sich selber hilft, und sich selber vorwärts bringt und versorgt. Dich selbst vorwärts zu bringen, ist Deine nächste Aufgabe; an die halte Dich, und das Uebrige daran, denke, wenn Du erst selber Etwas sein wirst!«

Das war ein Zuspruch, dessen ich noch nöthig hatte, und da meine Beschützerin mich den Personen, welche in ihr Haus kamen, in wohlwollender Weise vorstellte, so fand ich mich von ihnen sehr gut aufgenommen, und [339] gewann, was ich beinahe gänzlich eingebüßt, wieder ein Gefühl von Jugendlichkeit und mit ihm Lebenslust und Zuversicht zum Leben. Nebenher fing ich, durch sie aufgemuntert, auf die Bildung meiner Sprache im mündlichen Verkehr, auf meine Haltung und auf die Beobachtung dessen, was man den Ton und die Haltung der Gesellschaft nennt, mehr zu achten an, als ich bisher für gut und nöthig gefunden hatte. Wir waren in dieser Beziehung von Hause aus leidlich geschult, aber das enge Familienleben bringt dem Menschen mit seiner Eigenart manche Unart, mit seiner Vertraulichkeit manche Nachlässigkeit, und da der Deutsche im Allgemeinen ohnehin wenig Sinn für die schöne Form in Sprache und Erscheinung besitzt, ja sogar geneigt ist, sich aus seinen Mängeln Tugenden zu machen, so hatte ich mich bis zu einem bestimmten Grade in dem billigen Glauben gewiegt, daß wir »bieder und natürlich« seien, und daß damit genug gethan wäre. Indeß es ging mir mit dieser sogenannten Naturwüchsigkeit, wie es den Meisten, ja Allen denen ergeht, die sich ihrer befleißigen: sie ließ mich im Stiche, wenn ich mich formvoll gebildeten Menschen gegenüber befand. Wo diese sich im Besitz der schönen Form völlig frei und ohne irgend ein Scheinenwollen bewegten, fühlte ich mich noch stets unfrei, und gerieth, weil sich nun das Bedürfniß, ebenfalls das Richtige und Schöne zu thun, meinem Verstande und meinem Geschmacke unwiderleglich aufdrängte, entweder in Verlegenheit oder in Ziererei, was mir Beides gleich widerwärtig war.

Meiner gütigen Freundin entging das nicht und sie bot mir eines Tages ohne meine Bitte ihre Hülfe an.[340] »Sieh wie ich es mache, und wie Frau W. und Frau M. es machen,« sagte sie, »und wenn mir Etwas an Dir störend auffällt, will ich es Dir bemerken.« Ich nahm das dankbar an, und die Erinnerungen blieben denn auch nicht lange aus. Bald war ein Ausdruck zu stark, bald zu familiär, bald nicht üblich. Heute saß ich schlecht, und morgen brauchte ich vor einem Manne, der sich mir empfahl, nicht aufzustehen. Bald war ich zu dienstbeflissen, bald nicht zuvorkommend genug gewesen; kurz, es waren lauter Kleinigkeiten, die ich nicht verstand, die ich bisher gering geachtet hatte, an die zu denken mir oftmals langweilig schien, wie es mir denn überhaupt gar lästig war, beständig über mich und mein Erscheinen wachen zu sollen. Indeß was mir Anfangs ein Zwang gewesen war, wurde mir bald geläufig und zur natürlichen Gewohnheit, und als ich nach einigen Monaten mir in dem Begegnen mit Fremden von guten Manieren nicht mehr innerlich die Frage vorzulegen brauchte: ist das was du sagst und thust, und wie du es sagst und thust, auch das Richtige? als ich mir zutrauen durfte, nicht eben etwas Unschönes oder Ungeschicktes an den Tag zu legen, da erst fing ich an, mich frei und sorglos unter Fremden, und im Vollbesitze meiner geistigen Kräfte zu fühlen. Denn wer noch damit zu thun hat, wie er sich zur Erscheinung bringt, der ist nie im Stande, sich ganz unbefangen hinzugeben, und dadurch eben so wenig fähig, das Bild eines Andern rein in sich aufzunehmen, als Andern ein wahres Bild von sich selbst zu geben. Der gebildeten und auf Convention gegründeten Form können nur große Menschen, nur jene seltenen Naturen [341] entbehren, die in sich selbst ihr Maß und ihr Gesetz besitzen. Für jeden Andern ist Beherrschung der üblichen Formen der sicherste Weg, die innere Freiheit auch äußerlich zu gewinnen und zu behaupten.

Es thut mir daher immer wehe, wenn ich es gewahre, wie häufig diese Erziehung zur guten Form bei uns versäumt wird, und es kommt mir oftmals vor, als würde es damit immer ärger und ärger, als würden die Begriffe Freiheit und Formlosigkeit immer mehr verwechselt. Ich kenne Personen, denen es höchst auffallend ist, wenn ein Schriftsteller einen nicht klassischen Ausdruck braucht, oder einen bezeichnenden Provinzialismus, oder ein selbstgeschaffenes Wort in die Schriftsprache einer lebendigen, also fortbildungsfähigen Sprache einzuführen unternimmt; Andere, die von dem falschen Accent, mit dem ein Ausländer seine eigene Sprache redet, sich unangenehm berührt fühlen, und die es doch sammt und sonders ruhig hinnehmen, wenn ihre eigene Muttersprache in ihrem Beisein in einer Weise mißhandelt wird, die gradezu der gesunden Vernunft entgegen ist. Namentlich unter den Frauen ist diese Unsitte in nicht zu entschuldigendem Grade verbreitet; und es wäre wirklich zu wünschen, daß sie auf die Zusammengehörigkeit ihrer Worte nur halb so viel Gewicht legten, nur halb so viel Achtsamkeit verwendeten, als auf die Harmonie der Farben an ihren Kleidungsstücken. Eine Schleife, die nicht zur Farbe des Kleides stimmt, ist für einen halbwege gebildeten Sinn lange nicht so beleidigend, als ein Adjectiv, das nicht zu seinem Hauptwort, ein Adverbium, das nicht zu seinem Verbum paßt, sondern demselben auf das Entschiedenste [342] widerspricht. Solche Zusammenstellungen kommen aus der Tiefe des Wesens. Sie sind unwiderlegliche Zeugnisse von Unkultur, und wirken wieder zurück, wenn sie einmal ausgesprochen worden sind. Wie mit der Sprache, so ist es aber auch mit der Haltung und mit den Manieren überhaupt. Mich jammert's, wenn ich ein schönes sauber gekleidetes Mädchen erzählen höre, daß sie sich »ganz schrecklich auf den morgenden Ball freue«. Mich jammert's, wenn ich junge Männer von edlem geistigen Streben, von tüchtiger Bildung in einen Saal eintreten sehe, ohne zu wissen, wie sie sich verbeugen, wie sie gehen und stehen sollen. Sie thun dann immer bald zu viel, und bald zu wenig. Sie nicken herablassend mit dem Kopfe wie ein Pascha, oder verbeugen sich wie ein Sclave, sie winden sich ängstlich durch die Zimmer, oder stolpern blitzschnell auf die Hausfrau zu, um sich sobald als möglich der Verlegenheit zu entreißen, mit welcher das Bewußtsein, beobachtet zu werden, sie dann zu ihrem Erstaunen erfüllt. Sie sind lächerlich auf eine oder die andere Art, und mein gutes bürgerliches Gefühl empört sich dann gegen die Eltern und Erzieher, die, weil sie selber formlos sind, ihre Kinder und Zöglinge durch Vernachlässigung einem Mangel aussetzen, welcher alle Vorzüge derselben beeinträchtigt, und dem schwächsten Kopfe, der auf einem wohlgeschulten Körper sitzt, mindestens für den Anfang ein entschiedenes Uebergewicht über jenen giebt. Der Zauber, welchen die sogenannten Vornehmen auf die andern Menschen üben, beruht auf den guten Formen, mit welchen und in welchen sie sich kund geben; und nach meiner Ueberzeugung ist es eine der [343] großen Aufgaben des Bürgerstandes und der Demokratie, sich und ihre Jugend zur guten Form zu gewöhnen, um sie an Freiheit der Erscheinung und damit an Freiheit in der Kundgebung ihrer selbst, den Bestgebildeten gleich zu machen. Man kann nivelliren, indem man das Eine erniedrigt oder das Andere erhebt; und in unserm Falle möchte das Letztere sich als das Wirksamere beweisen.

[344]
20. Kapitel
Zwanzigstes Kapitel

Ich hatte noch nicht lange in Berlin gelebt, als es mir auffiel, wie verschieden das Gemeingefühl seiner Bewohner in Bezug auf die politischen Verhältnisse und die Regierung unseres Vaterlandes von dem über jene Dinge bei uns, in der Provinz Preußen, herrschenden Gemeingefühl sich kund that. Natürlich gab es an beiden Orten Männer, welche dem Gange der Ereignisse sorgfältig folgten; aber die Theilnahme an denselben war in Berlin lange noch nicht so verbreitet, wie bei uns, und man konnte Wochen hindurch in der Berliner Gesellschaft leben, ohne von jenen Vorgängen und Thatsachen sprechen zu hören, welche bei uns so sehr den Gegenstand der Unterhaltung unter den Männern ausmachten, daß die Frauen gezwungen waren, sie kennen zu lernen und sich, wenn auch nicht dafür zu interessiren, so doch mindestens bis zu einem gewissen Grade darüber zu unterrichten.

In der Berliner Gesellschaft herrschte noch eine gewisse patriarchalische Harmlosigkeit. Man sprach wohl von den Welthändeln, insofern das Königshaus und die Ansicht der einzelnen Glieder desselben dabei in Betracht kamen, aber von den Vorgängen im eigenen Lande war wenig die Rede. In der Residenz beschäftigte man sich [345] vorzugsweise mit dem Leben des Hofes, bei uns in Preußen mit den Maßregeln der Regierung. Wie fern die Kreise, in welchen ich mich damals in Berlin bewegte, dem Hofe auch standen, so waren sie doch voll von höheren Beamten, welche ganz entschieden den Ton angaben und natürlich sehr geneigt waren, Alles vortrefflich zu finden.

Bei uns war das anders. Freilich liebte man dort den König auch, und erinnerte sich enthusiastisch jener Zeiten, in welchen das fliehende Königspaar mit seinen Kindern Zuflucht in Preußen und in der damaligen Hauptstadt seiner Monarchie gesucht hatte, aber man sagte sich gleich daneben, daß jene Zeiten in Berlin vergessen, daß die Energie und der Opfermuth der alten Provinzen nicht genügend anerkannt worden sei. Man konnte oftmals den Ausspruch vernehmen, daß die Berliner es gar leicht hätten, an dem Königshause zu hängen und mit der Regierung zufrieden zu sein, da Alles für die Residenz geschehe, während die Ostprovinzen wie Stiefkinder behandelt würden, deren Klagen und Bedürfnisse man keineswegs nach Gebühr beachte. Man nannte die Summen, welche die Oper und das Ballet, die Lieblingsvergnügungen des alten Königs, in Berlin verschlangen, und berechnete, wie viel Nothwendiges damit geschehen, welchen wesentlichen Mängeln damit in den Provinzen abgeholfen werden könne; und da man sich von jeher bei uns Etwas mit dem nüchternen Sinne unserer Provinz gewußt hat, und die Kaufleute in Danzig, Elbing und Königsberg gute Buchführung zu halten gewohnt waren, so rechneten sie auch mit der Regierung, und ihre Unabhängigkeit ließ [346] sich nicht so leicht von der Meinung der Büreaukratie und des Militärs unterjochen, als es damals in Berlin geschah.

Das bürgerliche Element des Kaufmannsstandes behauptete bei uns die Herrschaft, und unsere Kaufleute, deren überseeische Geschäfte ihren Blick erweitert und sie selbst vielfach in der Welt umhergeführt hatten, sahen in jenen Tagen mit Geringschätzung auf die Bank- und Papiergeschäfte von Berlin herab, die ihnen, mit Recht oder Unrecht, weniger ehrenvoll, weniger des großen Kaufmanns würdig erschienen. Trat in Königsberg irgendwo eine Anmaßung von Seiten der Beamten oder des Militärs hervor, so fand sie sicherlich bald ihre Abfertigung, und wer ihr dieselbe angedeihen ließ, konnte der allgemeinsten Zustimmung versichert sein.

Der hannöversche Verfassungsbruch, die Entsetzung der sieben Göttinger Professoren, von denen Albrecht früher in Königsberg gewesen war, hatten eine große Aufregung verursacht. Herrn von Rochow's Hinweis auf den »beschränkten Unterthanenverstand«, der direct gegen die Elbinger Bürgerschaft gerichtet worden war, lebte als schwer empfundene Beleidigung in dem Gedächtniß der Ostpreußen, und selbst Kinder brauchten gegen einander spottend diese Redewendung, weil sie dieselbe immer und immer wieder zu hören bekamen. Vor Allem aber war man gegen die Art der Frömmigkeit eingenommen, welche in Berlin zum guten Ton gehören sollte. Nach den Erfahrungen, die man mit dem pietistischen Sektenwesen bei uns zu machen gehabt, war es nicht auffallend, wenn man jedem religiösen Scheinwesen, [347] jeder schwärmerischen überspannten Gläubigkeit und orthodoxen Tyrannei im Gebiet des Protestantismus äußerst abgeneigt und sehr begierig auf den Ausgang des Streites und der verschiedenen einzelnen Conflikte war, in welche die Regierung durch ihr Verfahren gegen den Kölner Bischof mit der katholischen Geistlichkeit gerathen war. Bei uns nahmen alle diese social-politischen Ereignisse die Geister bereits mächtig hin, während man in Berlin sich noch tief in der Ruhe dilettantischer Kunstliebhabereien wiegte.

Ich war oft ganz erstaunt darüber, welche Wichtigkeit man einer Theateraufführung, einem Concerte beilegte. Ich sah mit Verwunderung, daß Personen, die nicht selbst ausübende Künstler waren, ihren ganzen Sinn auf das Theater oder das Concert, oder gar auf das Ballet gerichtet hatten; und wenn es mir äußerst lächerlich vorkam, daß man sich über den und jenen Pas und über die Mimik und den Ausdruck einer Tänzerin, die mir bei Allen ziemlich gleich nichtssagend und conventionell abgeschmackt erschienen, mit Eifer und Begeisterung unterhielt, so machte es mir einen nicht minder komischen Effekt, das Gebahren der Musikliebhaber von Profession zu betrachten. Es waren das bisweilen ganz alte Männer. Einmal saßen in einem Concerte zwei solche eingefleischte Dilettanten neben mir. Sie hatten, wie das damals gar Viele thaten, ihre Partituren mitgebracht, und blätterten in denselben herum, während man ihnen ihre Unzufriedenheit ohne Weiteres ansehen konnte. Ich überlegte, was ihnen fehlen möge, war aber unfähig es zu ergründen. Da sagte endlich der[348] Eine: »was das nur heute wieder für eine Anzeige gewesen ist. Symphonie von Haydn aus X-dur! als ob's nur Eine gäbe!« – »Ja!« meinte der Andere, »es ist unverantwortlich! man kann sie doch nicht alle viere mit sich nehmen.« – »Welche haben Sie denn mit?« – »Die mit dem Paukenschlag! wenn's die nur wäre!« – Und als es dann wirklich »die mit dem Paukenschlage« war, da hatte der alte Herr eine Freude, daß er sich immer wieder darüber aussprach, und sie lasen nun Beide die Musik nach, als ob sie taub wären, und sahen nicht auf von den Noten, und rechts und links taktirten andere Leute mit den Köpfen, und die Leistungen der einzelnen Instrumente wurden durchsprochen, als hinge von einem falschen Tone das Heil der Welt ab. Grade so verhielt man sich auch in den Theatern, und ähnlich auch gegenüber der schönen Literatur. Die Zeiten, welche Börne so richtig mit den Worten: »Sonntag, Häring, Hofrath, göttlich!« charakterisirt, waren für Berlin noch nicht vorüber; und jene Art von Eitelkeit, welche dasjenige am höchsten schätzt, was sie selbst besitzt, machte sich in Bezug auf alle Leistungen in den Kunstgebieten und auf die Künstler selber geltend, welche, namentlich die Schauspieler, wie es mir scheint, damals mehr in der bürgerlichen Gesellschaft gesehen wurden, als das jetzt der Fall ist.

Die ganz veränderte Atmosphäre, in welcher ich mich bewegte, that mir aber wohl. Ich war mehr mit Betrachtung der Andern als mit mir selbst beschäftigt, indeß es gab dazwischen doch kaum einen Tag, an dem ich mir nicht die Frage vorgelegt hätte: was soll dir dieser Aufenthalt [349] in der Fremde? kaum einen Tag, an welchem ich es nicht empfunden hätte, wie alle diese Zerstreuung mich eigentlich nur äußerlich berührte, und im Innern nicht viel damit gewonnen war. Ein Ausspruch Goethe's der mich gleich als ich ihn zuerst gelesen, sehr lebhaft getroffen hatte, wollte mir gar nicht aus dem Sinne. Er lautete: Es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft, unsere Empfindung verschwimmt sich darin, und wenn das Dort nun hier wird, ist Alles nach wie vor, und das Herz sehnt sich nach entschwundenem Labsal! – Wo ich auch war, was ich auch trieb, ich konnte mich nicht frei machen von Erinnerungen und Wünschen, die mich immer wieder in das alte Leidensgefühl zurückwarfen, und die mich theils unempfindlich, theils undankbar gegen das Gute machten, das sich mir darbot.

Das Jahr ging so zu Ende, das neue Jahr begann, es war Alles dasselbe, und »das Herz sehnte sich nach entschwundenem Labsal«. Mit dem Gedanken saß ich eines Abends einsam in meinem Zimmer. Es war grade ein Jahr her, daß ich Heinrich's Geständniß seiner Liebe für eine andere Frau erhalten. Onkel und Tante waren in einer Gesellschaft, ich hatte es abgelehnt, sie zu begleiten, weil ich sehr niedergeschlagen war, und mir den Zwang einer affektirten Heiterkeit nicht auferlegen wollte. Ich dachte meine Vergangenheit durch, ich suchte nach einem Punkte, auf dem ich fußen, von dem aus ich meine Zukunft erbauen konnte, und ich fand ihn nicht.

Ich hatte mich gewöhnt, mich für alt, für fertig mit dem Leben zu halten, diesen Glauben nahm man mir in meiner jetzigen Umgebung; aber wenn ich nun noch [350] jung war, wenn ich noch zehn, noch zwanzig, noch dreißig Jahre vor mir hatte, was sollte mit diesen werden? was sollte ich mit ihnen machen? Sie hinzubringen, wie die letzten Jahre, war eine Aussicht, die mir Entsetzen einflößte. Sollte und wollte ich leben, so mußte es ganz anders werden als bisher; und aus der tiefen Muthlosigkeit, welche sich meiner bei diesen Betrachtungen bemächtigte, erwuchs mir ein Widerstreben gegen längeres Leiden, erwuchsen mir der Glaube und die Gewißheit, daß es eine Thorheit, ja ein Verbrechen sei, sich dem Leide zu überantworten, ehe man nicht Alles versucht hätte, sich davon zu befreien. Zu einer solchen Einkehr in mich selbst war ich früher nie gekommen. Wenn man sich wehren, sich vertheidigen muß, um sich zu behaupten, wird man des richtigen Blickes in die Ferne beraubt, und sieht nur das Nächste, das uns dabei in der Regel über die Gebühr groß und wichtig erscheint. Zu Hause, wo ich in Bezug auf mein Verhältniß zu meinem Vetter, die Ansicht meiner ganzen Familie gegen mich hatte, weil man diese Liebe in Eins zusammen warf mit allem Uebrigen, was mich leiden machte, hätte Nichts mich bewegen können, an meine Befreiung zu denken, obschon Niemand es so gut wußte, als ich selbst, was der Briefwechsel mit Heinrich mich jetzt kostete, und wie hart es mir ankam, ihm eine Ruhe und Fassung vorzuspiegeln, von denen ich Nichts wußte, und mit denen ich ihm nur zu beweisen wünschte, daß mir für ihn Nichts zu schwer sei.

Ein Jahr lang hatte ich das nun ertragen; aber Unwahrheit, auch die in bester Absicht über mich genommene [351] Unwahrheit, aufrecht zu erhalten, das war das Einzige, was auf die Länge stets über meine Kräfte gegangen ist. Und nun kein Widerstand von außen mich zu eigensinniger Selbstverblendung anreizte, wurde der Gedanke in mir immer lebhafter: lieber ganz einsam und ganz verlassen, aber in der Wahrheit zu leben, als auf Kosten der Wahrheit in einer für den Augenblick nur künstlich erhaltenen Gemeinschaft mit dem Geliebten.

Ein heißes Verlangen mich zu erretten, mich einmal frei und leicht zu fühlen, wachte in mir auf. Ich war lebenslustiger als seit langer Zeit, ich wollte genießen, mich freuen, und ich traute mir die Fähigkeit dafür zu, nur mußte ich neue Pfade gehen. Wo diese für mich zu finden wären, von wo mir Licht und Luft und Leben kommen würden, das ahnte ich freilich nicht; aber ich wollte sie suchen, und damit mir dieses möglich würde, mußte ich mit der Vergangenheit brechen.

In gewissen Naturen bereiten Entschlüsse sich langsam vor, aber ihre Ausführung ist dann eine plötzliche und man bereut sie niemals, weil sie die Folge langer Erwägungen und langer Kämpfe ist. Und so setzte ich mich denn noch an demselben Abende nieder, und schrieb dem geliebten Manne, was ich auf der Seele hatte.

Ich sagte ihm, es gehe jetzt noch über meine Kräfte, ihn als meinen Freund zu betrachten und seine Freundin zu sein. Ein Herz, das sich ihm gegenüber beständig in Zwang und Unwahrheit verhülle, könne ihm Nichts sein. Er, das fühle ich, bedürfe meiner in diesem Augenblicke auch nicht. Es sei Mitleid, das ihn jetzt an mich fessele, nicht Nothwendigkeit, die ihn mir verbinde, und ich müsse [352] und wolle es lernen, ohne ihn meinen Weg zu finden. Ich bat ihn, meine Briefe alle zu verbrennen, und wenn das Leben uns irgendwo zusammen führe, mich zu vermeiden, bis ich selbst ihm sagen würde, daß ich ihn ruhigen Herzens, in Frieden und mit Freuden wiedersehen könne. Es sei dies das Einzige und zugleich Alles, was er für mich zu thun vermöge, und ich bäte ihn, mir selbst diesen Brief nur mit der Zusicherung zu beantworten, daß er meinem Verlangen hinsichts meiner Briefe nachgekommen sei, die ich nicht zurückfordere, weil ich mich davor bewahren wolle, sie etwa selbst zu lesen, und sie dadurch noch einmal zu durchleben.

Nach wenig Tagen erhielt ich die von mir gewünschte Antwort; und in der selbsterschaffenen Leere, die sich jetzt plötzlich grauenerregend vor mir aufthat, richtete ich mich empor, um vorwärts zu gehen.

Das war aber gar nicht leicht. Ich hatte Zeiten voll tiefer Versunkenheit, in denen ich mir wieder gewaltsam ein Interesse an den verschiedensten Dingen aufzunöthigen strebte. Das nahm jedoch höchstens meinen Kopf und einen Theil meiner Gedanken hin, und im Herzen blieb es dunkel und leer. Ich fing wieder an Verse aus dem Englischen zu übersetzen, ich besah die Gemälde- und Antikengallerien, ich besuchte Fabriken, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bot, ich las und excerpirte, es häufte sich allerlei Wissen planlos in meinem Kopfe an, weil ich für planmäßiges Lernen und systematisches Arbeiten nicht geschult war, und ich dachte bisweilen: wozu das Alles? – Tüchtig vorgebildet, wie die jungen Männer es durch ihren Gymnasialunterricht [353] in der Regel sind, hätte ich diese Muße anders zu benutzen verstanden, und hätte mir neben einer wirklichen Beschäftigung eine Menge gründlicher Kenntnisse erwerben können, die mir später in hohem Grade nützlich gewesen sein würden.

Indessen solch ein gewaltsames Heranziehen von neuen Eindrücken hat, wie planlos es auch sein möge, doch auch sein Gutes. Sie legen sich wie ein Verband über die wunde Stelle in unserm Innern und halten uns ab, diese in jedem Augenblicke selbstquälerisch aufzudecken und zu berühren. Sie treten in den Vordergrund unseres Bewußtseins, sie drängen das früher Erlebte zurück, und wenn sie es auch nicht verschwinden machen, – denn was wir erlebten wird ein Theil von uns selbst und kehrt uns, wenn auch nur in unsern Träumen wieder, – so stumpfen die neuen Eindrücke doch die Macht des bestimmenden Einflusses ab, welchen die alten Eindrücke auf uns ausübten, und man hat deßhalb sehr Unrecht zu behaupten, daß die sogenannten Zerstreuungen sich gegen ein wahrhaftes Leid nicht wirksam beweisen. Sie thun in erhöhtem Maßstabe an uns die Arbeit der Alles besiegenden Zeit. Die Masse der neuen Eindrücke verstärken heißt die Zeit und ihre Gewalt über uns intensiv verdoppeln, und der Leidende, welcher sich geflissentlich dieser Hülfe entzieht, gesteht damit ein, daß ihm nicht darum zu thun sei, sich herzustellen, daß ihm sein krankes Dulden lieber sei als ein gesundes Thun. Es sind auch immer nur sehr egoistische Naturen, welche den Schmerz in sich zu bewahren und zu erhalten suchen, der sie von [354] dem thätigen Lieben entbindet und ihnen nach ihrer Meinung ein Anrecht giebt, geschont und ertragen zu werden.

Ich ging nach meinem neuen Entschlusse in einer Weise an das Vergnügen, die mir in der Erinnerung jetzt sehr komisch erscheint, denn ich verhielt mich dazu, und zu meinem ganzen auf etwa fünf Monate berechneten Berliner Aufenthalte, wie die Badegäste in den Brunnenorten zu ihrer Kur. Jeder Tag sollte mir Etwas leisten, meine täglichen zwölf oder vierzehn Stunden sollten mir so gewiß Etwas helfen, als die Becher Mineralwasser den Kurgästen, und wie diese sich Diät auferlegen, so legte ich mir Vergnügen und Heiterkeit auf. Dennoch hat kaum irgend eine Epoche meines Lebens mir weniger sachliche Erinnerungen zurückgelassen als eben diese. Es fällt mir mitunter plötzlich eine Person ein, die ich damals in Berlin gesehen, eine Gesellschaft bei gleichgültigen Leuten, in welcher ich mich mit Onkel und Tante befunden; es kommt mir bisweilen im Traume mein eigen Bild in einem Anzuge vor Augen, den ich damals getragen, und an den ich sicherlich nicht wieder gedacht habe, und nur wenige hervorragende Einzelnheiten aus jener Zeit stehen mir immer klar und deutlich zu Gebote.

Unter diesen zählt ein öffentlicher Ball im Schauspielhause, der, ich weiß nicht bei welchem Anlasse gegeben wurde.

Der König Friedrich Wilhelm der Dritte erschien auf demselben mit seinen sämmtlichen Söhnen in bürgerlicher Kleidung, und schon an dem Abende machten Personen, welche den König früher und in der Nähe gesehen hatten, [355] die Bemerkung, daß er verändert sei. Er trug sich jedoch noch fest und aufrecht, sah in dem braunen Frack und mit einem runden Hute noch ansehnlich und wohlerhalten aus, und sprach mit verschiedenen Kaufleuten, mit einigen Künstlern und ein paar Schauspielerinnen längere Zeit sehr freundlich, so daß man jene Bedenken und Befürchtungen über das Befinden und das nahe Ende des Königs nicht gelten lassen wollte. Man schrieb sie dem Aberglauben, oder vielmehr einem chronologischen Wunderglauben zu, welcher dem vierzigsten Jahre jedes Jahrhunderts eine besondere Bedeutung für Preußen beizulegen gesonnen war.

Leute, die sich sonst nicht eben viel mit der Geschichte und mit ihren Jahreszahlen zu schaffen machten, hatten jetzt die bedeutenden Ereignisse aus der preußischen Vergangenheit wie am Schnürchen bei der Hand. Ueberall hörte man die Frage: »Was wird dieses Jahr uns bringen?« – Und verlangte man zu wissen, weshalb es denn etwas Besonderes bringen müsse, so erhielt man die Antwort, daß seit fünfhundert Jahren die Zahl vierzig für die Dynastie der Hohenzollern, und damit auch für das Vaterland, eine entscheidende gewesen sei. Tausendvierhundertundvierzig sei der erste Hohenzollern'sche Kurfürst von Brandenburg gestorben; fünfzehnhundertvierzig seien die Hohenzollern protestantisch geworden; sechszehnhundertvierzig sei der große Kurfürst und siebzehnhundertvierzig Friedrich der Große zur Regierung gekommen, also werde dies Jahr sicherlich auch ein entscheidendes werden.

[356] Gab man sich die Mühe, gegen das Unlogische dieser historischen Logik eine Einwendung zu machen, so lautete die Antwort: der König ist siebenzig Jahre alt! – Und wenn man auch das als keinen Grund dafür gelten lassen wollte, daß er eben in diesem Jahre sterben müsse, so rückte als letztes Argument eine Chronik mit prophetischem Anhange in das Feld, die irgendwo, mich dünkt in dem ehemaligen Kloster Lehnin, aufgefunden worden sein, und noch ganz andere Dinge voraussagen sollte, als den Tod des Königs. Es war das dieselbe Chronik, die, wie man im Jahre achtzehnhundertachtundvierzig vielfach von guten gläubigen Seelen vernehmen konnte, auch die preußische Revolution vorausverkündet hatte. Schade nur, daß man an solche Wunderbücher immer nur glaubt, ohne zu versuchen, ob es mit etwas gesunder Vernunft und etwas gutem Willen nicht möglich wäre, sich gegen das prophezeite Unheil rechtzeitig zu schützen. Es giebt so viele Schriften, die, ohne heilig gesprochen zu sein, oder sich auf übernatürliche Voraussicht zu stützen, in dieser Beziehung mit sehr heilsamem Erfolg von den Glaubensbedürftigen gelesen und beherzigt werden könnten.

Berlin nimmt sich, wenn es abergläubisch wird – und das passirt ihm je bisweilen – immer äußerst komisch aus, besonders weil es in der Regel nicht die Ungebildeten sind, sondern die sogenannten Gebildeten, welche in solcher Weise von ihren Ansprüchen auf Bildung und Aufklärung abfallen. Die Ungebildeten haben nicht die Zeit, sich in Thorheiten hinein zu träumen; die Müssigen, welche sich so phantastische Vergnügungen bereiten können, und viele von den Gebildeten sind [357] müssig, schämen sich im ersten Augenblicke ihres Abfalls, aber um sich nicht allein schämen zu müssen, machen sie bald Propaganda dafür, und in der Masse fühlt dann Jeder sich sicher und berechtigt, mag er auf die Lehniner Chronik oder auf das wunderthätige Mädchen in der Fischerstraße schwören, das zehn Jahre später die wirren Phantasien der Wundersüchtigen eine Weile in Beschlag nahm, bis das Criminalgericht der Wunderthäterin ihre Mirakel untersagte, und die Gläubigen wieder für eine Weile Rationalisten wurden.

Je weiter indeß das Jahr vierzig vorschritt, um so häufiger hörte man davon sprechen, daß der König krank sei. Er kam nicht mehr so oft in das Theater, man erfuhr auch, daß er sich nie mehr bei den kleinen Gesellschaften erblicken ließ, welche sein Kämmerier bei sich veranstalten mußte, und bei denen der König dann als erwarteter unerwarteter Gast eine Weile zu erscheinen pflegte, um sich Neuigkeiten erzählen zu lassen. Die Einen sagten, der Tod des Ministers von Altenstein, seines alten und treuen Dieners und Gefährten, habe ihn angegriffen, die Andern behaupteten, er selber tenne die Lehniner Prophezeiung, und sie wirke nachtheilig auf ihn; und endlich behauptete man, die weiße Frau, die Ahnfrau des Geschlechtes der Hohenzollern, die immer erscheine, wenn ein Todesfall unter ihren Nachkommen bevorstehe, gehe bereits im Schlosse wieder umher. Es war als solle und müsse nun durchaus, der Ordnung wegen, im Jahre vierzig ein König von Preußen sterben. Man war förmlich darauf aus, Beweise dafür herbei zu schaffen, daß der König gefährlich krank sei, und das war[358] um so unbegreiflicher, als man nebenher die größte Liebe für den König, und hier und da auch eine gewisse Sorge wegen des bevorstehenden neuen Regimentes aussprechen hören konnte, von dem man ziemlich übereinstimmend fürchtete, daß es »weniger bürgerlich« als das gegenwärtige sein werde.

Indeß die Theilnahme an dem Ergehen des Königs blieb doch die Hauptsache, und es lag durch das ganze Frühjahr eine Art von Druck auf den Menschen, wie die Ungewißheit ihn zu erzeugen pflegt. Es war, ohne daß man hätte sagen können seit wann und woher, eine Bewegung in die Geister gekommen, man fing wieder an, nach einer Vereinigung in Deutschland zu trachten, und da man diese zu erreichen vorläufig keine besondern Aussichten hatte, feierte man, wo der Anlaß sich dazu bot, eben wie in unsern Tagen auch, die deutschen Heroen, deren Geist und Größe, deren Thaten und Werke dem ganzen deutschen Stamme angehörten und allen Deutschen zu Gute gekommen waren.

In diesem Sinne wurde seit Jahren an dem Kölner Dombau gearbeitet, wurde in Leipzig das Jubiläum Guttenbergs gefeiert, die neue Prachtausgabe der Nibelungen veranstaltet, und als fühle man, daß diesen Kundgebungen gegenüber in Preußen auch Etwas geschehen müsse, so wurde kurz vor dem hundertjährigen Geburtstage seines größten Königs ein Dekret erlassen, welches die Grundsteinlegung zu einem kolossalen Standbilde desselben anordnete. Aber die Theilnahme an diesem Vorgange war keine reine, denn die Besorgniß, ob der König der Feierlichkeit werde beiwohnen können, ob er sie erleben [359] werde, trat dabei in den Vordergrund, und als sich die Nachricht verbreitete, daß sämmtliche Kinder des Königs, selbst die Kaiserin und der Kaiser von Rußland nach Berlin kommen würden, sah man das mehr für ein Zeichen von dem bedenklichen Zustande des Königs, als von dem Enthusiasmus für das dem Ahnherrn zu errichtende Denkmal an.

Die Friedrichsfeier ging denn auch am letzten Mai von Statten. Das Wetter war schön, die Tribünen am Opernhause glänzend besetzt, die Parade vollständig; das Alles wurde jedoch verhältnißmäßig nur wenig in Betracht gezogen, neben der Thatsache, daß der Kronprinz hier zum ersten Male öffentlich an der Stelle seines Vaters funktionirt, und daß der König nicht mehr die Kraft gehabt hatte, dem Akte von seinem gewohnten Platze an dem Eckfenster seines Palais aus bis zu Ende zuzusehen.

Von Tag zu Tag wurden nun die Berichte über das Befinden des Königs ungünstiger, und zu jeder Tageszeit konnte man Leute aus allen Ständen in Massen vor dem Palais stehen sehen, die nach den Fenstern hinaufblickten, als könnten sie dadurch Kunde von dem Ergehen des Kranken erhalten. Diese Volksmassen mehrten sich mit den Gerüchten von der wachsenden Gefahr, und ihre Stille, ihr lautloses Ausharren gaben die große Liebe zu erkennen, welche der König bei dem Volke genoß. Kam einer der Aerzte, kam ein Beamter oder ein Diener aus dem Schlosse, so drängte man sich an ihn heran, um zu fragen, wie es stände, aber trotz der sichtlichen Aufregung blieb Alles still. Einmal, als ich grade vorüberging, bellte auf dem Platze ein kleiner Wachtelhund sehr laut, [360] und augenblicklich sprangen mehrere wohlgekleidete Personen hinzu, das Thier zu fangen und fortzubringen, damit der König Ruhe habe.

Die Pfingsttage fielen damals auf den sechsten und siebenten Juni, und wie man sich acht Tage früher gefragt, ob der König die Friedrichsfeier erleben werde, so fragte man sich jetzt: wird er das Pfingstfest überdauern? Am siebenten war ich mit meinen Verwandten um Mittag nach Potsdam hinaus gefahren. Schon bei der Abfahrt von dort erfuhren wir auf dem Perron der Eisenbahn den Tod des Königs. Als wir nach Berlin zurückkamen, war eine stille Unruhe in den Straßen zu bemerken. Eine Menge Equipagen fuhren trotz der späten Stunden noch hin und wieder. Vor den verschiedenen Schlössern hielten Wagen, die Leute standen vor dem Palais des verstorbenen Monarchen und sahen nach den Fenstern hinauf, und gingen nach dem großen Schlosse und betrachteten den Flügel desselben, in welchem der neue König wohnte. Sie hätten gern an den Mauern ablesen mögen, was darinnen geschah und was jetzt werden würde. Die Bangigkeit, welche Jeden vor einer großen Entscheidung überfällt, hatte sich des Volkes bemächtigt, und eine wirkliche Trauer über den Tod des Königs war unverkennbar. Man betrauerte ihn nicht blos wie einen König, sondern wie einen guten Mitbürger und alten Freund. Die alten Leute gedachten der Kriegsjahre und all der Noth und Fährlichkeit, welche sie mit Friedrich Wilhelm dem Dritten und er mit ihnen durchlebt. Wohin man kam, sprach man von seinen Familientugenden, von seiner Einfachheit, von seinem Privatleben. Alle Anekdoten [361] über ihn wurden mit dem größten Wohlwollen erzählt, man freute sich in der Erinnerung an der Sparsamkeit, mit welcher er sein Likör- oder Rumfläschchen selbst unter Verschluß gehalten, man freute sich an seinem alten Soldatenmantel und der alten durch lange Jahre getragenen Dienstmütze; und wenn hier und da Jemand die Bemerkung machte, daß dieser Sparsamkeit der große Aufwand für das Ballet sonderbar widersprochen habe, so konnte man sehen, daß selbst des Königs Vorliebe für dasselbe, und sein Verhältniß zu den Tänzerinnen für die Berliner eine gemüthliche Seite hatte – und im Grunde war das sehr natürlich. Um Großes gern zu bewundern, Kleines von Herzen gering zu achten, muß man selbst eine gewisse Größe haben. Den kleinen Seelen ist es eine Bequemlichkeit, da Schwächen zu finden, wo sie eigentlich verehren sollten; denn das bringt ihnen den Verehrten näher. Im Ganzen fehlte allen Menschen Etwas, nun der König nicht mehr da war. Sie hatten jenes Mißgefühl, jene Unruhe, von denen man sich ergriffen fühlt, wenn man plötzlich das Ticken einer alten, treuen, verläßlichen Uhr nicht mehr vernimmt, oder wenn ein Thurm abgebrochen wird, auf den hinzublicken man sich von Jugend auf gewöhnt hat. Der alte König fehlte ihnen. Sie konnten sich's nicht denken, daß der alte König nun nie mehr hinter seiner Gardine der Wachtparade zusehen, am Abende nicht mehr hinter dem rothen Vorhang der kleinen Loge sitzen würde. Und von dem, was der neue König thun würde, konnte man sich keinen rechten Begriff machen.

[362] Er war mehr ein Gegenstand der Neugier, als der Liebe oder gar des Vertrauens. Was man sich bis dahin von ihm erzählt hatte, waren Witze oder geistreiche Worte gewesen, von denen nachweislich viele auf seine Kosten gestellt wurden, die niemals von ihm ausgegangen waren. Von einer lebendigen Theilnahme an den Regierungsgeschäften wußte man wenig oder Nichts. Auch beschäftigten sich in diesem Augenblicke mehr die gebildeten Klassen mit der Zukunft, welche er bringen würde, als das Volk, das ganz allein auf die Trauer um den Verstorbenen gestellt war. Und so sehr hielt man diese Trauer bei Allen Denen, welche eine schwarze Tracht ermöglichen konnten, für natürlich und angemessen, daß man auf den Straßen angefochten wurde, wenn man sich derselben entzog. Straßenbuben riefen den nicht trauernden Frauen nach, sich zu schämen, es schicke sich, daß man traure. Ein andermal sah ich in der Jägerstraße eine Dame mit einem rosa Hute an mir vorübergehen, der ein paar Schüler zuriefen: »Na! Sie weiß wohl auch nicht, daß unser König todt ist, daß Sie mit Ihrem rothen Hute umherläuft!« – und zur Bekräftigung seines Mißfallens schlug der eine Knabe ihr mit seinem Bücherriemen, den er frei in der Hand hielt, muthwillig über den Kopf.

Am zehnten fand die Beisetzung des Königs und der Trauergottesdienst im Dome statt. Meine Freunde hatten mir, damit ich den Zug mit ansehen könne, einen Platz unter der Säulenhalle des Museums verschafft, und das Geschlecht der Hohenzollern gewährte damals einen gar stattlichen Anblick, als die sämmtlichen Söhne und Töchter des verstorbenen Königs, alle in der Fülle der Kraft, [363] alle groß und schön gewachsen, trauernd dem Sarge von dem königlichen Schlosse durch den Lustgarten nach dem Dome folgten. Ergreifender aber war doch der Zug, in welchem die königliche Leiche nach Charlottenburg gebracht wurde, wo sie in dem Mausoleum des Schloßgartens, das der König für seine verstorbene Gemahlin erbauen lassen, zur Ruhe bestattet werden sollte. Man hatte für den Zweck die Barrieren niederreißen lassen, welche am obern und untern Ende die eigentliche Lindenallee von der allgemeinen Straße abtrennen, und im Dunkel der Mitternacht schwebte nun plötzlich, Fackeln voran und Fackeln zum Schluß des Zuges, der schwarzverhangene Leichenwagen, von einer Anzahl Trauerwagen gefolgt, lautlos und schnell wie eine Vision, über den weichen Sandboden dahin, zum Brandenburger Thore, von dem die stolze Viktoria majestätisch hernieder sah, hinaus in das Grün der Bäume, in die Stille, in die freie Natur, in die Nacht! – Es lag etwas höchst Phantastisches in diesem Eindrucke!

[364]
21. Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel

Es war eigentlich immer bestimmt gewesen, daß ich bei dem Beginne des Frühjahrs Berlin verlassen sollte, und ich selber fühlte die Verpflichtung dazu, da mein Aufenthalt außer dem Hause, wie mäßig meine Ansprüche damals auch noch waren, doch mancherlei Ausgaben verursachte, welche fortfielen, wenn ich in der Heimath lebte. Aber meine Freunde widerriethen mir die Rückkehr. Sie machten mich darauf aufmerksam, daß ich mich in Berlin in jedem Betrachte erholt hätte, daß ich in meinem Vaterhause wieder von den alten Uebelständen zu leiden haben würde, und die Verständigsten und Wohlmeinendsten unter ihnen redeten mir dringend zu, eine Stelle als Gesellschafterin oder als Vorsteherin eines Hauswesens zu suchen. Man stellte mir das Beispiel von Henriette Mendelssohn auf, der Tochter von Moses Mendelssohn, die sich einst im Hause des General Sebastiani in Paris eine ehrenvolle Stellung bereitet hatte; man wußte mir noch andere ähnliche Fälle zu nennen, und die Sache leuchtete mir sehr ein, denn ich hatte jetzt mehr als je das Bedürfniß, Etwas mit mir anzufangen, weil mir die letzte innere Anlehnung genommen war, seit ich auf den Zusammenhang mit dem [365] Geliebten aus Selbsterhaltungstrieb verzichten müssen. Ich konnte mit Fug und Recht den Ausspruch auf mich anwenden, den Goethe von Ottilie thut, so wenig ich sonst Aehnliches mit dieser hatte. »Ein Herz das sucht, fühlt wohl, daß ihm etwas mangle, ein Herz das verloren hat, fühlt, daß es entbehre. Sehnsucht verwandelt sich in Unmuth und Ungeduld, und ein weibliches Gemüth, zum Erwarten und Abwarten gewöhnt, möchte nun aus seinem Kreise herausschreiten, thätig werden, unternehmen und auch etwas für sein Glück thun.«

Stärker jedoch als dies Gefühl war in mir die Scheu, mich über diese Dinge gegen meinen Vater auszusprechen. Wäre mir ein derartiger Antrag gemacht worden, so hätte ich ihn wohl mitgetheilt und die Erlaubniß erbeten, ihn annehmen zu dürfen. Indeß ihm zu schreiben, daß ich eine Stelle für mich suchen wolle, konnte ich nicht über mich gewinnen, denn es schien mir undankbar und deßhalb unmöglich ihm zu sagen, wie schwer das Leben in unserm Hause mir geworden, und wie also in gewissem Sinne all das Gute, das er mir erwiesen, für mich verloren gewesen sei. Ich beschloß daher, wie ich schon oft genug gethan, mich selbst zu betrügen. Das heißt, ich wollte dem Vater nicht unnöthig wehe thun, sondern für's Erste aufpassen, zusehen und abwarten, bis die Gelegenheit zu einem entscheidenden Handeln sich darbieten würde, und inzwischen that ich, was zu thun ich für Unrecht gehalten hatte, ich bat den Vater in einem Privatbriefe, mich noch in Berlin zu lassen, wo es mir wohl ginge und mir wohl gefiele.

Natürlich erhielt ich die Erlaubniß dazu, und ich[366] wiegte mich noch in meiner müden Unentschiedenheit, mit der ich nur Zeit und Muth verlor, als ich bald nach dem Begräbnißtage des Königs von meinem Vater die unerwartete Weisung erhielt, nach Hause zu kommen, da die wieder sehr leidende Mutter auf das Land hinausziehen solle, und meine Anwesenheit im Vaterhause dadurch wünschenswerth sei. Es ward mir zugleich angedeutet, daß je schneller ich heimkehrte, um so willkommener ich sein würde, und daß ich deßhalb, ohne auf irgend Jemand zu warten, mit dem ich die Fahrt gemeinsam machen könne, sobald ich fertig wäre, mit der Schnellpost allein nach Hause kommen solle.

Meine sämmtlichen Plane, wenn man die schwankenden Absichten eines unentschiedenen Menschen Plane nennen kann, wurden dadurch vollständig umgeworfen. Meine Gedanken wendeten sich alle plötzlich der Heimath zu. Ich fing an zu besorgen, daß meine Mutter mehr krank sei, als man es mir sage, und nachdem ich in der größten Eile Vorkehrungen für meinen Aufbruch gemacht hatte, kehrte ich nach Hause zurück.

Ich fand die Mutter schon auf dem Lande, d.h. in einem Hause der Vorstadt eingerichtet, welche man die Hufen nennt, und in der, nebst den Landhäusern der Wohlhabenden und einer Anzahl von Wirthshäusern, sich auch noch einige ländliche Besitzungen befanden, in denen man Sommerwohnungen zur Miethe erhielt. Das Quartier, das wir bekommen hatten, war nur klein. Es bestand aus zwei Stuben zu ebner Erde und einer Stube im obern Geschoß, so daß die Mutter nur eine der jüngsten Schwestern, die man besonders zu schonen hatte, [367] und meine zweite Schwester bei sich hatte, welche sie pflegte. Wir Andern blieben Alle in der Stadt, gingen aber natürlich fast an jedem Abende Einer oder der Andere mit dem Vater, oder auch Alle zusammen auf die Hufen hinaus, obschon es in der Stadt weit belebter und unterhaltender war, als es sonst zu sein pflegte, denn die Huldigungsfeierlichkeiten standen nahe bevor, und da mit denselben eine größere Heerschau verbunden werden sollte, hatten sich allmählig die Truppenkörper schon zusammen gefunden, und waren nach kurzer Rast in das bei Lauth, einem von der Stadt etwa eine Stunde entfernten Dorfe, aufgeschlagene Lager eingezogen. Viele der Landwehroffiziere, die Gutsbesitzer oder Beamte waren, hatten Frauen und Töchter zu den bevorstehenden Festlichkeiten mitgebracht, der Landadel, die Landstände, die Vertreter der verschiedenen Städte kamen allmählig auch herbei, und wenn solch ein Zusammenfluß von Menschen in den Städten, welche mehrere Hunderttausende von Einwohnern zählen, auch nicht eben auffällt, so machte es sich in einer Stadt von sechszigtausend Einwohnern, in welcher alle Welt einander mindestens von Ansehen kannte, natürlich sehr bemerklich, als zehn- bis zwölftausend Fremde in ihren Straßen auf- und niedergingen, das Militär gar nicht mit eingerechnet, welches unablässig aus dem Lager in die Stadt kam. Wir waren wie in eine fremde Welt versetzt, und bei der Gastlichkeit, welche dem Norden eigen ist, war das Treiben bald sehr allgemein.

In jedem Hause war es voll von Gästen aus der Umgegend, die ihre Freunde und Bekannten als eben so willkommene Gäste mit sich brachten; es kamen Leute zu [368] Tisch und wurden als gute Bekannte zur Wiederkehr eingeladen, von denen man Nichts erfuhr, als daß ihre Güter in der Nähe des Gutes eines uns befreundeten Gutsbesitzers gelegen waren. Die Abgeschlossenheit der meisten häuslichen Kreise hatte sich plötzlich in eine rasche Geselligkeit verwandelt. Die Massen waren in Fluß gekommen, die Pedanterie des steifen Umgangstones war vor dem Gefühl einer gemeinsamen freudigen Erwartung gewichen. Fremde Männer, schwarz gekleidet, gingen durch die Stadt und sahen Gebäude und Menschen an, glänzende Equipagen rollten durch die engen Straßen, überall tünchte man in der Eile noch die vernachlässigten Häuser an, besserte man das Straßenpflaster und die Brücken aus, und fuhr man ganze Wälder von Laub und Tannen herbei, um die Guirlanden zur Ausschmückung der Stadt zu fertigen. Es gingen Wunderdinge vor, und wir waren auf Großes gefaßt.

Und Großes und Bedeutendes stand uns denn auch bevor. Wie sehr auch die Folgezeit jene hochgespannten Erwartungen herabgestimmt und getäuscht hat, welche man von der Regierung Friedrich Wilhelms des Vierten zu hegen sich berechtigt hielt, man darf den Eindruck nicht vergessen und nicht verkleinern wollen, welchen sein erstes öffentliches Auftreten durch ganz Deutschland hervorrief, man muß den Zauber selbst empfunden haben, den seine Persönlichkeit damals auf die Menschen übte, um dem Wesen des Königs und seiner geistigen Bedeutung gerecht zu sein.

Es ist nicht nöthig, der Blumengewinde und der Triumphbogen zu erwähnen, welche die Thore und die [369] Straßen schmückten, und die Stadt auf dem ganzen Wege, den der König vom Brandenburger Thore bis zum Schlosse zurückzulegen hatte, gleichsam in einen altfranzösisch festonnirten Garten verwandelten. Es war das nicht wesentlich anders, wie es überall bei solchen Anlässen zu sein pflegt, wo die respektiven Stadtbehörden zu einem Thore aus- und einziehen, wo weißgekleidete Mädchen Blumen überreichen und Bürgermeister Reden halten. Wir hatten das Alles in ähnlicher Weise schon öfter gesehen, und wenn der Anblick der Blumen, dieser Sinnbilder der Freude und des Lebens, uns auch heiter stimmten, so war es doch nicht dasjenige, was uns in den Stunden, welche dem Einzuge des Königs vorangingen, mitten in den Schaaren der wogenden Menschenmenge das Herz bewegte und erschütterte. Es war ein Anderes und ein Größeres.

Es war der Aufzug der Zünfte, welche dem Könige entgegen gingen. Sie kamen an mit fliegenden Fahnen, mit den Zeichen ihres Gewerkes, mit lautem Spiel. Vorauf ritten die Fleischer, denen der alte Kurfürst für treue Kriegsdienste das Recht verliehen, die Beherrscher des Landes in die Stadt zu führen. Ihnen folgten die Maurer, die Zimmerleute, mit mittelalterlich gekleideten Fahnenschwenkern, die ihr lustiges Spiel zum Ergötzen der Menge ausübten, die Schuhmacher mit dem Bilde des tapfern Schusters, des wackern Hans von Sagan in ihrer Fahne, die Tischler mit künstlich gearbeitetem Geräth und Werkzeug auf zierlichen Stangen, und so, gar heiter herausgeputzt, auch die übrigen Gewerke nach einander.

[370] Und heiter wie der Anblick war, standen wir ganz ernsthaft da, und manch kräftiges Herz schlug höher und manch schönes Auge weinte, denn wir sahen, Viele von uns zum ersten Male, unsere Fabrikanten und Handwerker als eine Gesammtheit, als Bürger, vereint auftreten, und wir sahen kein Militär, das ihren Weg beschränkte, und keine Gensd'armes, die das Volk mit hochmüthiger Gewalt zurückstießen.

Die Bürger zogen feierlich froh durch die Straßen, sie bildeten selber das Spalier, das den Einzug des Königs beschützte, und der König zog dadurch ehrwürdiger ein, als wenn eine große Soldatenmacht die Straßen abgesperrt und das Volk von seinem Pfade zurückgehalten hätte. Drängte sich die neugierige Jugend einmal durch das Spalier, das die Gewerke vom Brandenburger Thore ab gebildet hatten, so wußten die handfesten Männer sie recht handgreiflich zurechtzuweisen, und die Umstehenden sahen das ruhig und billigend mit an, während sicherlich überall Streit entstanden wäre, wenn Polizeibeamte ähnliche Beruhigungsversuche gewagt hätten. Es war damals bei uns in Königsberg, wie es hier in Berlin vor drei Jahren bei dem Einzug des Kronprinzen und der Prinzeß Viktoria gewesen ist. Die Leute fühlten sich gehoben und verantwortlich, weil man sie ohne Bevormundung sich selber überließ, weil man ihre bürgerlichen Verhältnisse achtungsvoll anerkannte.

Nach den Gewerken fuhr die Deputation des Magistrates, der Oberbürgermeister, der Bürgermeister, sechs Stadtverordnete und sechs Stadträthe in Staatsequipagen dem Könige bis Schönbusch, dem Landhause eines Privatmannes, [371] eine Viertelmeile vor der Stadt, entgegen. Mein Vater befand sich unter diesen sechs Stadträthen, und er sah schön aus, mit dem Claquehut und der weißen Halsbinde. Ich dachte an meine kindische Phantasie von dem Aufzuge, in welchem mein Vater dem Kaiser Napoleon entgegengezogen und ihm die Stadtschlüssel überbracht haben sollte, und an die häufigen Verweise, welche ich erhalten, wenn ich immer wieder mit diesem Hirngespinste zum Vorschein gekommen war, das alles Anhaltes, das jedes vernünftigen Grundes entbehrte. Wie mochten die Feierlichkeiten dieses Tages sich einprägen in die Tausende von Kinderköpfchen, die von allen den Fenstern und Wolmen herniedersahen, und welche Phantasmagorien mochten daraus in denselben entstehen! Die Langgasse sah aber mit ihren Wolmen fast italienisch aus, und der Gäste waren überall so viele, als Fenster und Wolme fassen konnten. Wir hatten gegen achtzig Personen zum Frühstück geladen, und dabei meine kleine Stube noch eigens für die Mutter frei gehalten, welcher man einen ruhigen, stillen Anblick des Einzugs bereiten, und die Aufregung durch lebhaften Menschenandrang ersparen wollte.

Vor und in dem Thore der Stadt gab es denn natürlich Empfangsgedichte und Blumen, und als der König die Stadt betrat, kündete lauter Glockenschall von den Thürmen dies Ereigniß dem Volke an. Die Königin fuhr in langsamem Schritt in einem offenen Wagen, ihr zur Rechten ritt der König in einer militärischen Galauniform, links vom Wagen der Prinz von Preußen. Sie waren damals Beide schöne, sehr gebietende Gestalten, und die alten Leute, welche sich noch der Königin [372] Luise erinnern konnten, fanden Friedrich Wilhelm den Vierten seiner Mutter in den Zügen, wie in dem freundlichen Ausdruck seiner Mienen, auffallend ähnlich. Der König ritt so langsam, daß die Menge sich dicht bis an sein schönes Pferd herandrängte, und da weder Militär noch Gensd'armes anwesend waren, ihm Platz zu schaffen, bog er selbst sich von Zeit zu Zeit hernieder, um freundlich die Bitte auszusprechen: »Kinder! laßt mich durch!« Seine Heiterkeit, die sichtliche Ergriffenheit der Königin, gewannen ihnen die Neigung der Menge, und es ist sicherlich etwas Großes um das Glück, sich als Herrscher von einem Volke geliebt zu wissen.

Am Abende war die Stadt erleuchtet, es war Cour im Schlosse, und durch die ganze Woche währte das festlich bewegte Leben in den Straßen und in den Häusern fort. Der König inspicirte die Truppen im Lager, es gab Manöver in der Umgegend, und mit seinen Brüdern machte der König einen Ausflug nach der Seeküste und in das Land. Täglich war bei dem Könige Tafel, zu welcher Männer aus allen Provinzen und aus den verschiedensten Ständen, vor Allen aber Gelehrte und Deputirte gezogen wurden. Sie rühmten sämmtlich den Geist und die Liebenswürdigkeit des neuen Herrschers, und seine Theilnahme für Alles, was die Wissenschaft betraf, oder sonst eine Bedeutung beanspruchen konnte. Der botanische Garten, die Sternwarte, welche damals noch unter Bessel's genialer Leitung stand, wurden in Augenschein genommen, Kinderwarteschulen, Hospitäler, Kirchen besucht; man sah zu, wie ein großes Briggschiff mit voller Takelage vom Stapel gelassen wurde, das den [373] Namen der Königin führte; der Hof erschien fortwährend öffentlich, und da man bald hier bald dorthin ging, um den König und die Königin zu sehen, so bewegten die Menschen sich den Tag über auf den Straßen. Wer nicht, wie einzelne Gewerke, zu den Festlichkeiten zu arbeiten hatte, ließ seine Geschäfte ruhen, man wollte nur sehen und sich sehen lassen, hören und plaudern.

Nächst der königlichen Familie war es die katholische Geistlichkeit, welche die Augen am meisten auf sich zog, vor Allen der Posener Erzbischof von Dunin, ein kleiner, magerer Mann, mit kleinen, scharfen Zügen, schnellem Auge, eigensinniger Physiognomie und rascher Bewegung. Er hatte genugsam von sich reden machen, man fand, daß er dem Bilde wohl entsprach, das man sich von ihm entworfen. Der Bischof von Hatten, ein hinfälliger, gebückter aber freundlicher Greis mit milden, hellen Augen, und die Bischöfe von Culm und Braunsberg begleiteten ihn häufig, der ganze katholische Clerus bildete eine kompakte Masse.

Während man die Fragen berieth, welche sich auf die Vereidigung der Deputirten von verschiedenen Confessionen bezogen, und in der Versammlung der Stände sich die ersten Conflikte zwischen dem König und dem Volke vorbereiteten, bot jeder Tag zwischen der Ankunft des Monarchen und der Huldigungsfeier neue und wechselnde Festlichkeiten dar. Am Vorabende der Huldigung gaben die Stände dem Könige ein Abendfest in dem, auf dem Königsgarten gelegenen, und für diesen Zweck dekorirten Exercirhause, bei welchem lebende Bilder und Musik die Unterhaltung ausmachten. Eine Borussia hielt die Ansprache[374] an das Königspaar und an das Volk. Danach folgten die Bilder, alle aus der Geschichte der Provinz. In dem ersten führte der Landmeister Herrmann von Balk dem Bischof Christian die ersten Christen zu, in dem zweiten weihte der sterbende Ordensmarschall Schindekop den Winrich von Kniprode zum Hochmeister. Das dritte Bild zeigte den Herzog Albrecht, der seine Braut Dorothea von Dänemark in Königsberg empfängt, das vierte den großen Kurfürsten, wie er seiner Gemahlin die besiegten schwedischen Generale vorstellt, und das letzte Tableau war eine Allegorie auf die Krönung Friedrichs des Ersten. Professor Cäsar von Lengerke hatte den Text zu den Erklärungen gemacht, die der jetzige Oberlandesgerichts-Präsident, Professor Eduard Simson, sprach, und ich glaube, obschon mir damals noch der vergleichende Maßstab für derlei Festlichkeiten fehlte, so daß mein Urtheil einem Jugendeindruck zu vergleichen ist, daß die ganze Festlichkeit eine gelungene zu nennen war.

Indeß Alles, was man für den Empfang des Königspaares bereitet hatte, trat zurück und wurde verdrängt und vergessen durch die Ereignisse des Huldigungstages, durch die Huldigung selbst und durch die Ansprache des Königs an die Huldigenden und an sein Volk.

Die Huldigung sollte im innern Schloßhofe stattfinden. Das Königsberger Schloß liegt auf einer Höhe mitten in der Stadt, und hat in einzelnen Theilen noch den Charakter seiner ersten, burgartigen Anlage bewahrt, obschon es durch Anbauten und Aenderungen aller Art umgestaltet, kaum ein Ganzes genannt, oder gar irgend einem Baustyle eingereiht werden kann. Es hat keine ordentliche [375] Façade nach irgend einer Seite, und ist, mit keinem andern Schlosse zu vergleichen, nur sich selber gleich. In Mitten der Baulichkeiten, aus welchen das Schloß sich zusammengesetzt, befindet sich ein viereckiger, nicht allzuweiter Hof, der Schloßhof. Das eigentliche alte Schloß bildet die eine Seite des Vierecks, ihm gegenüber nimmt die Schloßkirche die zweite Seite ein; eine Reihe neuerer Gebäude, in denen sich die Wohnung des Oberpräsidenten und die Räumlichkeiten verschiedener Dikasterien befinden, umgiebt die dritte Seite, an der vierten ziehen sich andere Gebäude hin, die, theilweise während der russischen Okkupation umgestaltet, den Namen des Moskowitersaales führen. Dazwischen liegen noch ein paar Thürme, die als Gefängnisse dienen, kurz es ist das sonderbarste Gemisch von Bauten, das sich auf einem Platze zusammengefunden hat. Nur durch ein enges und niedriges Thor unterhalb des Schlosses, und durch ein zweites unterhalb der Kirche gelangt man in den Hof, der auf diese Weise wohl abgeschlossen und von hohen Mauern umgeben, für eine akustische Wirkung besonders geeignet ist.

Vor dem ersten Stockwerk des Schloßflügels hatte man nun einen Balkon erbaut. Er war in der Mitte hoch, an den Seiten niedriger, trug den Thron, und gewährte auf seinen beiden Seitenflügeln Raum für die höchsten Beamten des Civil und Militär. Ein Sammetdach deckte den Thron, eine scharlachbeschlagene Treppe führte in den Hof hinunter. An dem Aufgange flatterten auf hohen Standarten die preußischen Fahnen, während Fahnen mit den Wappen von Ostpreußen und Litthauen, von Westpreußen und von Posen die Abtheilungen bezeichneten, [376] in denen die Deputirten der verschiedenen Provinzen sich dem Throne gegenüber zu versammeln hatten. Links von demselben war eine niedere Estrade für die lutherische, rechts eine für die katholische Geistlichkeit errichtet. – Der rechte und der linke Flügel des Hofes waren mit den für das Publikum bestimmten Tribünen umgeben.

Schon um sieben Uhr Morgens versammelten sich die Landstände und die Deputirten der Städte, der Magistrat und die Stadtverordneten von Königsberg, und alle Diejenigen, welche Eintrittskarten zu dem Platze oder zu den Tribünen erhalten hatten, in dem Schloßhofe. Stunden vergingen bis Alle und Jeder sich an ihrer rechten Stelle befanden. Das Wetter war sehr hell und der Septembermorgen eben so klar und leuchtend als frisch.

Als die Ordnung hergestellt war, trat der König auf den Balkon hinaus. Er ging allein und zuerst die Freitreppe, welche nach dem Schloßplatz führte, hinunter; ihm folgten die Prinzen des Hauses, die Minister und Würdenträger, der Magnifikus der Universität im rothen Sammetmantel und Baret, die Dekane der Fakultäten, die Geistlichkeit beider Confessionen, die Deputirten und Landstände von ihren Marschällen geführt; und in dieser Ordnung begab sich der Zug in die Kirche und nach dem Gottesdienste zurück in das Schloß, wo die Fürsten von Thurn und Taxis und von Sulkowski durch Stellvertreter, und der Magnifikus der Universität im Thronsaal den Huldigungseid schwuren. – Man hatte bei dem langen Wege durch den Schloßhof hinlänglich Gelegenheit, den König und die Prinzen zu sehen: sie hatten Alle einen ritterlichen Anstand, und selbst der zwölfjährige [377] Sohn des Prinzen Carl hatte für sein Alter schon eine feste, sichere Haltung.

Als nun der König wieder heraustrat, und sich auf den Thron gesetzt hatte, hielt der Kanzler von Preußen, Herr von Wegnern, eine Anrede an die Stände, welche die Sprecher der drei Provinzen beantworteten. Darauf verlas ein Regierungsrath den Huldigungseid, der wie aus Einer Brust nachgesprochen wurde, und von dem man jede Sylbe vernahm, obgleich mehr als zwölftausend Menschen auf dem beschränkten Raume beisammen waren.

Da, als nun mit dem »Amen« das letzte Wort verklungen war, erhob sich der König mit dem Impuls der höchsten Begeisterung, trat mit einer stürmischen Bewegung bis an den äußersten Rand des Balkon's, und sprach mit einer Stimme, die in jeder Brust wiederklingen mußte, indem er die Hand zum Schwur aufhob: »Und ich schwöre und gelobe vor dem allmächtigen Gott und vor diesen lieben Zeugen allen, daß ich ein gerechter Richter, ein treuer, sorgfältiger, barmherziger Fürst, ein christlicher König sein will, wie mein unvergeßlicher Vater es war! Gesegnet sei sein Andenken! Ich will Recht und Gerechtigkeit mit Nachdruck üben, ohne Ansehen der Person, ich will das Beste, das Gedeihen, die Ehre aller Stände, aller Confessionen und aller Volksstämme mit gleicher Liebe umfassen, pflegen und fördern – und ich bitte Gott um den Fürstensegen, der dem Gesegneten die Herzen der Menschen zueignet, und aus ihm einen Mann nach dem göttlichen Willen macht – ein Wohlgefallen der Guten, ein Schrecken der Frevler! Gott segne unser theures Vaterland! Sein Zustand ist von Alters her oft beneidet, oft vergebens erstrebt! Bei uns ist Einheit [378] an Haupt und Gliedern, an Fürst und Volk, im Großen und Ganzen herrliche Einheit des Strebens aller Stände nach einem schönen Ziele – nach dem allgemeinen Wohl in heiliger Treue und wahrer Ehre. Aus diesem Geiste entspringt unsere Wehrhaftigkeit, die ohne Gleichen ist. – So wolle Gott unser preußisches Vaterland sich selbst, Deutschland und der Welt erhalten. Mannigfach und doch Eins! wie das edle Erz, das, aus vielen Metallen zusammengeschmolzen, nur ein einziges edelstes ist – keinem Roste unterworfen, als allein dem verschönernden der Jahrhunderte.«

Nur wer eine solche Scene erlebt, wer es selbst einmal empfunden hat, wie die Flamme der Begeisterung in vielen tausend Herzen zugleich auflodert, kann sich einen Begriff von jenem Augenblicke machen. Der König selbst sank auf den Thron zurück, und barg sein Antlitz in seinem Tuche, und es war kein Auge trocken geblieben. Ernsten Männern rollten vor Begeistrung die Thränen über die Wangen, und das Lebehoch, das dem Könige und der Königin gebracht wurde, und sich bei seiner Rückkehr in das Schloß wiederholte, war an jenem Tage der leidenschaftliche Ausdruck hoher Verehrung.

Friedrich Wilhelm der Vierte, obschon kein junger Mann mehr, war durch seine enthusiastische Natur noch jung in seinen Empfindungen, und selbstherrlich in dem Ausdrucke derselben, hatte er sich mit seinem Volke in diese bisher in Preußen völlig ungewöhnliche persönliche Berührung gebracht. Er fühlte, ohne alle Frage, in jenem Momente das Glück, ein Volk wie das preußische zu beherrschen, und die Pflicht, es nach dessen Bedürfniß wohl zu regieren. Er war stolz darauf, als Herrscher [379] eines solchen Volkes dazustehen, und Mann gegen Mann, erhob er sich zum Gegenschwure; und das starke Echo im Schloßhofe wiederholte jedes seiner Worte, als ob es den Schwur noch bindender machen wollte. Es war ein außerordentlich bedeutender Eindruck und die Wirkung auf die Menschen eine überwältigende.

Aufgeregt, voll Vertrauen, voll Erwartung und voll Hoffnung kehrten die Menschen in ihre Behausungen zurück. In allen Häusern hatte man Gäste, gab es so zu sagen offene Tafel, stand das Gabelfrühstück auf dem Tische. Die ältern Personen sagten, so aufgeregt, so unruhig sei es in Königsberg seit der Franzosenzeit nicht gewesen. Auch bei uns im Hause war der ovale Eßtisch in dem großen, nach hinten gelegenen Wohnzimmer für achtzehn Personen gedeckt, die Dienstboten waren wie zum Sonntag gekleidet, wir Alle kamen in Festtagskleidern von der Huldigungsscene heim, unsere nächsten unverheiratheten Freunde begleiteten uns. Niemand mochte in den überfüllten öffentlichen Gastzimmern sein, der mit Freunden zusammenbleiben konnte, Niemand mochte allein speisen. Stehend, an Nebentischen sitzend, nahm man die gebotenen Erfrischungen an. Man wollte von den Andern hören, daß man dies Alles wirklich erlebt, daß ein König von Preußen aus freiem Antriebe also zu seinem Volke geredet habe, man wollte sich aussprechen. Mit den Hausfreunden kamen deren Bekannte herbei, die Herzen waren offen, wie sollten die Häuser es nicht sein? Mein Vater, sonst ein strenger Wirth in diesen Dingen und immer der Ansicht, daß Weinluxus im Hause eines Weinhändlers sich nicht gut ausnehme, ließ Wein heraufbringen, so viel man trinken mochte; Jeder war zur [380] Freigebigkeit geneigt. Es giebt gar Nichts, das liebenswürdiger wäre, als ein zur Hoffnung aufgeregtes Volk!

Man nannte den König groß, den Vorgang erhaben, unvergleichlich, man überbot sich in Lobpreisungen. Alle waren von dem gleichen Gefühle, von dem gleichen Enthusiasmus erregt; ich habe meinen Vater niemals durch einen äußern Vorgang so erhoben gesehen. Nur Einer von Allen war völlig ungerührt geblieben; das war Rath Crelinger. Er nannte das Erlebte eine originelle Scene!

Man verargte ihm das, es focht ihn nicht an. Sein leises ironisches Lächeln flog um seinen Mund, und er drückte die Brille fester gegen das Auge, um die einzelnen Personen näher anzusehen. Die allgemeine Stimme einigte sich darin, die Rede des Königs als ein Versprechen, als die Zusage anzunehmen, mit welcher er die Verfassung zur Ausführung zu bringen verhieß, welche sein Vater dem Lande noch schuldig geblieben war. Es war freilich kein Wort davon in der Rede oder vielmehr in dem Eidschwur vorgekommen, aber man hatte mit voreingenommener Seele zugehört, und das Orakel auf seine Weise gedeutet.

Wird der König die Constitution geben? wird er sie noch hier geben? wird sie morgen proklamirt werden? wer hat sie verfaßt? weiß Herr von Schön darum? hat er vorher darum gewußt? das waren die Fragen, mit denen man sich beschäftigte. »Oh!« rief mein Vater, der seiner Natur nach ganz auf persönliches Eingreifen gestellt, und sein Vertrauen daher leicht auf den Willen und die Stärke eines Einzelnen zu bauen geneigt war, »oh! mit einem solchen Könige brauchen wir keine Constitution!« –

[381] Der und Jener unter den ältern Männern stimmten ihm bei, aber auch jetzt blieb jener Eine völlig unbewegt, und dem Vater leise auf die Schultern klopfend, sagte er gelassen: »Lieber Herr Stadtrath! das wollen wir doch erst abwarten!«

Er mißfiel mit dieser Bemerkung allgemein, er sah das, und lächelte wieder; und sich zu mir wendend, fragte er mich: »Kennen Sie die Aeußerungen, welche Pius der Siebente bei Napoleon's Krönung in Paris gethan?« Ich verneinte es. »Erinnern Sie mich, daß ich sie Ihnen einmal gelegentlich mittheile!«

Man blieb nicht lange bei dem improvisirten Frühstück, man zog aus einem Hause in das andere, man besuchte alle seine Freunde. Am Abende regnete es, als der Fackelzug der Studenten nach dem Schlosse hinaufging, und wie eigenartig das Fest auch war, welches am folgenden Tage die Kaufmannschaft in der Börse und auf den Dampfschiffen veranstaltet hatte, mit denen man in das Haff hinausfuhr, wie prächtig das Souper und das Concert auch sein mochten, mit welchem der König der Bürgerschaft und den Deputirten ihre Aufnahme vergalt, so war doch, da jeder Zustand seinen Höhepunkt hat, der eigentliche Huldigungsakt dieser Culminationspunkt gewesen, und schon am nächsten Morgen, als die Königsberger Hartung'sche Zeitung, und in ihr die Schwurrede des Königs erschien, fiel es allen Denen, welche sie selbst vernommen hatten, peinlich auf, daß in dem Abdruck, an der Stelle: ich will das Beste, das Gedeihen, die Ehre aller Stände, aller Confessionen und aller Volksstämme mit gleicher Liebe umfassen, pflegen und fördern – die Worte »aller Confessionen« ausgeblieben waren.

[382] Andere Gerüchte über die politischen Ansichten des Königs, über Aeußerungen, welche er gegen einzelne Personen gethan haben sollte, wurden damit zusammen gehalten, und erregten Befremdung und Erstaunen. Man wollte jedoch Nichts glauben, als was man selbst vernommen, und man hielt sich an den Eindruck, dessen Nachwirkung man noch empfand. – Während der König den Eid leistete, hatte man einen furchtbaren Schrei vernommen, den eine Frauenstimme ausgestoßen zu haben schien. Die Nächststehenden wollten die Worte gehört haben: »Du sollst nicht schwören! sagt der Herr!« Man behauptete, es sei eine halb irrsinnige Mennonitin gewesen, welche die Warnung ausgerufen. Am Huldigungstage hatte man das Intermezzo ganz vergessen, in den nächsten Tagen erinnerte man sich plötzlich daran. Es war Etwas in der Stimmung der Menschen verändert, sie waren noch dieselben, aber sie sahen nicht mehr so strahlend und so hoffnungsreich aus. Die Sonne lag nicht mehr so hell über der Gegend, es fanden sich schon Einer oder der Andre, welche sich zu Crelingers Ansicht bekannten: daß man es abwarten müsse! Aber die Begeisterung und das Vertrauen waren noch sehr groß, und wie auch die spätere Zeit die Gesinnungen Friedrich Wilhelm's des Vierten gewandelt haben mag, daß er in jener Stunde voll festen Glaubens an sich selber, voll großen Willens und selbst eben so hingerissen war, wie er hinriß, davon bin ich noch heute überzeugt. Er war eine der reizbaren und phantasievollen Naturen, welche der Augenblick über sich hinaushebt, und die dann später vor ihrer eigenen Größe bange werden, weil ihnen die Kraft gebricht, sich selber dauernd gleich zu sein!

[383]
22. Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel

Vierzehn Tage nach der Abreise des Königs empfing ich einen Brief von August Lewald. Er schrieb mir, daß er gern eine recht genaue Schilderung der Huldigungsfeierlichkeiten für die »Europa« haben möchte, und daß ich ihm einen Gefallen thun könnte, wenn ich ihm eine solche machen wolle. Mir war das sehr erwünscht, denn ich war froh, wenn ich Etwas zu schreiben hatte, und da ich selbst noch unter dem frischen Eindruck des eben Erlebten war, so sprach sich das bis zu einem gewissen Grade in der Skizze aus, die ich meinem Vetter sendete. Er druckte sie so ab, wie ich sie geschrieben, und es war noch vor Weihnachten, als mein Vater eines Tages einen Brief von Lewald erhielt, in welchem dieser meinem Vater sein Wohlgefallen an meiner kleinen Arbeit aussprach. Er lobte das Sachliche der Beschreibung, lobte den Styl und machte die Bemerkung: »Fanny hat ein so entschiedenes Talent der Darstellung, daß ich nicht begreife, wie sie nicht von selbst darauf gekommen ist, sich mehr darin zu versuchen. Sie ist ohne Frage eine dichterische Natur, und es wäre nicht zu verantworten, wenn sie eine solche Begabung nicht benutzte und ein Feld [384] brach liegen ließe, von dem sie für ihre Zukunft gute Früchte erndten könnte.«

Mir stieg, als ich diese Worte las, das Blut vom Herzen schnell und warm zu Kopfe; ich sah meinen Vater an, er mochte mir die Freude von den Augen ablesen. Ja! das war es! das konnte mir helfen!

Es war mir ein Blick aus der Wüste in das gelobte Land, es war eine Aussicht auf Befreiung, es war die Verwirklichung eines Gedankens, die Erfüllung eines Wunsches, die ich mir einzugestehen nicht getraut hatte.

Ich suchte aus meines Vaters Mienen zu errathen, was er zu dem Briefe Lewald's dächte. Er verstand das. »Ich habe anfänglich Bedenken getragen, Dir den Brief zu geben,« sagte er, »weil ich glaube, wenn Du wirklich ein Talent zum Dichten hättest, würdest Du es von selbst gethan haben, und Du weißt nebenher, daß ich für das Heraustreten der Frauen aus ihrer Sphäre nicht bin. Anderseits aber bist Du in einem Alter, in welchem ich Dir nicht verheimlichen mag, was Lewald über Dich urtheilt, und wenn Du in der Muße, die Du hast, Deinen Styl ausbilden willst, so kann das in jedem Falle Dir für Dein ganzes Leben nur vortheilhaft sein. Nur sprich nicht darüber, denn wer über die Dinge spricht, die er thun möchte und vielleicht einmal thun wird, ist ein Narr!«

Mir war zu Muthe, als wären mir Flügel verliehen! Ich konnte den Augenblick nicht erwarten, in welchem ich mich an meinem Schreibtisch befinden würde, und als ich nun in meine kleine Stube eintrat, als ich mich vor dem Schreibtisch niedersetzte, kam mir der kleine Raum, [385] so hübsch er mir immer erschienen war, doch wie erleuchtet und verwandelt vor. Es war ein klarer Wintertag ohne Frost und Schnee, wie sie bei uns vor Weihnachten, nach langem Regenwetter bisweilen vorkommen. Die Straße war trocken, es sah hell aus, wenn ich das Auge hinauswendete. Die Mittagssonne schien auf die Bilder, die über meinem Schreibtisch hingen, auf die Statuette der Jungfrau von Orleans, die zwischen ihnen auf ihrer kleinen Console stand, auf mein großes Epheuspalier und meinen Lehnstuhl, der noch heute, dreißig Jahre später, an meinem Schreibtisch steht, und mir jetzt den damaligen Tag recht lebhaft in das Gedächtniß ruft. Ich kam mir wie in einem Mährchen, wie verzaubert vor, denn es dünkte mir, als sei mir die Herrschaft über die Welt geschenkt, als brauchte ich nur den Zauberstab, die Feder in die Hand zu nehmen, um für mich und Andere Welten, Menschen, Ereignisse und Schicksale aus dem Nichts hervorzuzaubern. Was mir in früher Kindheit mein Lehrer, Herr von Tippelskirch, vorausgesagt, was mir oft dunkel, oft klarer vorgeschwebt und was mir einzugestehen nur der große Begriff mich abgehalten, welchen ich von der Würde und von der Bedeutung dichterischen Schaffens gehabt hatte, das erkannte mir jetzt ein Mann un bedenklich zu, der so viele Talente sich unter seinen Augen hatte bilden sehen, so vielen ein Rath und ein Führer geworden war. Ich sollte die Fähigkeit des Dichters haben, ich sollte ein Dichter werden können! Ich war über alles Sagen glücklich!

Mit einer wahren Scheu nahm ich mein grünes Maroquinbuch aus der Schieblade hervor, in welcher ich[386] es aufbewahrte. Heinrich Simon hatte es mir im Jahre achtzehnhundert vierunddreißig von Breslau zum Geburtstage gesendet. Mit goldenen Buchstaben stand das Wort: Erlebtes! darauf gedruckt. Innen als Einleitung hatte er am 15. März 1834 die Worte geschrieben: Was bildet den Menschen, als seine Lebensgeschichte? – Wahrlich eine recht ermüdende Bildung! Erfahrungen rings, daß man eine Ewigkeit brauchte, sie zu würdigen, und, kaum wahrgenommen, schon wieder von andern verdrängt, die eben so unbegriffen verschwinden. Auch der Versuch lohnt, sie festzuhalten. Das Höchste aber, sagt Goethe, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Bewußtsein eigener Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst, welches ihm die Anleitung giebt, auch fremde Gemüthsarten zu durchschauen.

Das alte Buch mit seinen vergilbten Blättern liegt in diesem Augenblicke vor mir, ein Zeuge der Wandlungen im Menschenleben und im Sinn des Menschen.

Denn unter jene Zeilen von Heinrich Simon's Hand hat vierzehn Jahre später der Mann, an dessen Seite mein Leben seinen Abschluß und sein Glück gefunden, die Worte hingeschrieben: »Was bildet den Menschen als Liebe, die ihm Glauben giebt an sich selber und an die Menschheit. Leidenserfahrungen sind die scharf geschliffene Pflugschar, die das Erdreich des Herzens aufreißt, aber die Liebe ist der Samen, der hineingestreut wird und Frucht bringt tausendfältig.«

Und als wir dann, wieder nach Jahren einmal zu Dreien, das Buch in Händen hatten und diese beiden Motto's lasen, da hatte auch Heinrich's Sinn sich lange schon [387] gewandelt, und das Beobachten und Durchschauen der Menschennatur dünkte ihn nicht mehr als das Höchste. Auch er war dahin gelangt, die Liebe als das Höchste zu erkennen, die Liebe für den Einzelnen und für die Menschheit, die im Ertragen und Dienen, im Helfen, Fördern, Nützen und Wirken für das eine große Ziel, ihr Glück und ihren Beruf erkennt, und der sein Dasein gewidmet war, bis es zu früh erlosch.

Grade hundert Seiten des Oktavbandes hatte ich in sechs Jahren vollgeschrieben, nun schlug ich das Buch auf. Es fanden sich die Mährchen darin, die ich in Zeiten der Langweile begonnen, aber sie waren nie über die ersten zwei Seiten hinaus gekommen, denn wer mit einem reifen Verstande und einem durch gute Lektüre gebildeten Geschmacke an das eigene Schaffen geht, der hat es nicht leicht. Ihm fehlt jene sogenannte naive Ursprünglichkeit, welche in den meisten Fällen Nichts ist, als die Selbstzufriedenheit der Unkultur – eine Eigenschaft, welche manchen Dichtern zu ihrer großen Bequemlichkeit, wenn auch nicht zum Vortheil ihrer Leser, durch ihr ganzes Leben und Schaffen eigen bleibt.

Ich kannte das Beste, ich wußte es voll und ganz zu schätzen, und ich hatte dadurch ein Ideal vor Augen, das, statt mich im Beginne zu heben, mich entmuthigte. Alle meine Anfänge erschienen mir so unbedeutend, so gänzlich nichtig, ich selber mußte darüber lachen, wie konnte ich also daran denken, daß sie einem Unbetheiligten gefallen würden? Versuchen wollte ich aber dennoch, was ich vermöchte! Indeß vor lauter Wollen brachte ich Nichts zu Stande. Denn kaum hatte ich eine kleine [388] Fabel ausgedacht, so fiel mir eine andere ein, die mir hübscher däuchte, und fing ich diese zu schreiben an, so sagte ich mir: wie dumm und nichtig ist das Alles gegen den Wilhelm Meister, gegen die Wahlverwandtschaften, gegen die Romane von Jean Paul und Ernst Wagner, gegen Sand und Balzac, gegen Bulwer und Walter Scott! Und etwas Albernes wollte ich doch nicht thun! Lächerlich, wie so viele sogenannten Schriftsteller und Schriftstellerinnen mir waren, wollte ich nicht werden!

Indeß die Verlockung, die Lust zu schreiben waren gar zu groß; und wenn ich auch an jenem Tage nicht eine Zeile auf das Papier brachte, so verließ mich doch der Gedanke an das Schaffen nicht. Ich stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus, und betrachtete die erhobenen Linien, die sich auf den kleinen gefrorenen Wasserflächen zwischen den trockenen Steinen gebildet hatten, und Alles, was mich durch Jahre und Jahre bewegt und erschüttert, worüber ich mich gefreut und worunter ich gelitten hatte, wogte in mir auf und nieder, zog wie fliehendes Gewölk an meinem innern Auge vorbei, und ich dachte: wenn du das sagen, wenn du das darstellen könntest, was du durch diese sieben Jahre an dir erfahren, an Andern beobachtet hast! Und es formte sich in mir so deutlich, daß ich im Stande gewesen wäre, es außer mir hinzustellen, es ruhig und völlig abgelöst von mir zu beobachten, zu betrachten, zu beurtheilen, aber ich sagte mir: das würde ja ein Roman! Und ein Roman kam mir dann wieder als etwas so Großes vor, daß ich es für unmöglich hielt, ihn durchzuführen.

Tage lang kämpfte ich mit meinem Verlangen und[389] mit meinem Mißtrauen gegen mich selbst, und eine ganze Reihenfolge persönlicher Beweggründe trieben mich daneben vorwärts zu gehen. Ich stellte mir vor, wie die Meinen es begreifen würden, was ich vor ihnen voraus hätte, welches innere Walten mir oft das enge Dasein, die täglichen unnützen Beschäftigungen und Quälereien so lästig, so unaushaltbar gemacht, wenn ich in einer Dichtung es ihnen im Bilde zeigen könnte. Ich weidete mich an der Vorstellung, es vor Heinrich, ohne von mir selbst zu reden, einmal Alles aussprechen zu können, was ich sei, was ich durch ihn erlitten, und was er an mir verloren habe, weil er es nicht zu erkennen oder nicht zu schätzen gewußt. Dann wieder, und der Gedanke wurde mir der liebste und kam auch zur Ausführung, dann wieder wollte ich mir sein Bild malen, so treu, so warm, daß ich es lebenslang in seiner Schönheit vor Augen haben könnte, daß Alle, die ihn liebten, sich daran erfreuen sollten; und endlich bemächtigte sich der Ehrgeiz meiner. Ich sah meinen Namen von den Besten gekannt und werth gehalten, ich sah meinen Vater stolz auf mich, sah mir alle Vorzüge des Lebens sich eröffnen: die Bekanntschaft hervorragender großer Menschen, Reisen, Kunstgenüsse, und vor Allem, vor allem Andern – Freiheit und Selbstbestimmung mir ein für allemal gesichert!

Hatte ich mir solche Wonne erträumt und setzte ich mich zum Schreiben nieder, so blickte mich die kleine Büste von Goethe, die auf meinem Schreibtisch stand, mit ihren ernsten Augen und den nachdenklichen Falten an den Wangen so ermahnend an, daß ich schnell wieder zur Besinnung kam, d.h. daß ich wieder an mir zu [390] zweifeln anfing, bis ich am Neujahrstage von achtzehnhundert vierzig der Lust, mich zu erproben, nicht länger widerstehen konnte. Da mir nun das Mährchen, das ich früher gemacht, immer gut gefallen hatte, so meinte ich, ein Mährchen, wenn auch sonst nichts Anderes, das würde ich sicherlich wieder machen können; und so nahm ich denn mein grünes Buch vor, und schrieb ein kleines Geschichtchen zusammen, das ich ein »Modernes Mährchen« nannte, und dessen vierundzwanzig Seiten ich in Einem Zuge auf das Papier warf. Es verdankte einem Gespräche seine Entstehung, dem ich einige Zeit vorher beigewohnt hatte. Es war dabei von der Aehnlichkeit die Rede gewesen, welche die obern Gesichtstheile vieler Menschen mit den Thieren aufwiesen. Man hatte die Probe durch die Gesellschaft gemacht, war dann auf die Lehre von der Seelenwanderung gekommen, und ich hatte im Stillen daran gedacht, in wie weit die äußere Thierähnlichkeit sich im Innern der betreffenden Personen wiederfinden würde, und wie die Anzahl derjenigen gar nicht klein sei, deren unkultivirte Instinkte sie den Thieren verwandter machten, als dem durchgebildeten Menschen. So hatte ich denn in meinem Mährchen sich ein junges Frauenzimmer in einen Herrn von Salm verlieben lassen, der nur ein Mensch gewordener Fisch war; und die junge Schöne entging dem Schicksal, sich mit einem solchen Halbwesen zu verbinden, nur dadurch, daß eine alte hellseherische Tante, die durch ähnliche Lebenserfahrungen gegangen, das Mysterium verrieth, und das Mädchen errettete. Ein paar andere solcher Wandelgestalten liefen noch nebenher, einige Salonscenen gingen dazwischen vor, [391] das Ganze hatte, obgleich das sachlich Geschilderte ziemlich scharf bezeichnet und sichtbar war, doch noch einen gewissen Briefstyl-Diktus, und ich hatte auch nicht daran gedacht, es drucken zu lassen, denn ich hatte es in das grüne Buch geschrieben, das damals all' meine Schreibereien in sich aufnahm.

Ich las es aber dennoch eines Abends dem Vater und den Schwestern vor. Den Letztern gefiel es gut, dem Vater gar nicht. Er fand dies Hin und Her von Wirklichkeit und Phantastik nicht nach seinem Geschmack, meinte, ein Mährchen müsse man in fremde Länder oder in vergangene Zeiten hinein verlegen, bei denen man ohnehin die Dinge auf Treue und Glauben nehme. So mitten aus seiner Umgebung heraus Wunder hervorspringen zu lassen, habe etwas zu Unvernünftiges selbst für die Phantasie, und man müsse den Menschen nicht das Unmögliche zu glauben zumuthen. Er verwies mich in Bezug auf das Mährchen auf meine Lieblingsmährchen, die der tausend und einen Nacht und Musäus Volksmährchen, vergaß aber, daß Callot-Hoffmann die Zügellosigkeit und Willkür der Phantastik in die Gegenwart übertragen hatte, und daß die Berechtigung dies zu thun, für das Mährchen von dem Augenblicke an vorhanden war, in welchem Jemand sich die Gegenwart mit phantastischer Willkür belebt und zerstört vorstellen konnte.

Ich vertheidige damit nicht im Entferntesten die Spielerei, die ich in jenem »Modernen Mährchen« gemacht habe, und das auch der Vertheidigung nicht verlohnt; ich gebe nur eine ganz allgemeine Bemerkung mit den letzten Worten.

[392] Wir lebten den Winter über sehr still. Meine Mutter, die von einer vollkommenen Ruhe viel Gutes für sich erwartete, hatte den Wunsch ausgesprochen, einmal auch den Winter hindurch außerhalb der Stadt und der Familie zu leben, und war, da mein Vater auf diesen, wie auf jeden ihrer Wünsche bereitwillig einging, mit einer der Töchter auf den Hufen in der Sommerwohnung geblieben. Dadurch brachte der Vater ebenfalls mehrere Abende in der Woche auf den Hufen zu, Eine von uns begleitete ihn dann in der Regel, um ihm auf dem Wege Gesellschaft zu leisten, an andern Tagen gingen ein paar von uns Schwestern zur Mutter hinaus, der man ihre freiwillige Entfernung von den Ihrigen so wenig als möglich empfindlich machen wollte, und während so eine Art von äußerer Unruhe in das Familienleben hinein kam, so hatten doch Diejenigen, welche sich zu Hause befanden, viel stille Tage und Abende, da die Geselligkeit unter diesen Verhältnissen natürlich auch nur eine beschränkte sein konnte.

Meine Aussichten und Plane beschäftigten mich dadurch nur um so lebhafter, da ich ihnen jetzt ungestörter nachhängen konnte. Weil ich bei meinem Vater mit meinem Mährchen kein sonderliches Glück gemacht, und nebenher selbst gefunden hatte, daß die Schilderung der Wirklichkeit mir gelang, so machte ich mich bald nachher daran, eine kleine Erzählung »der Stellvertreter« zu schreiben, die auch nur einige Bogen umfaßte, und die erdichteten Erlebnisse eines jungen zum Manöver kommandirten Offiziers zum Mittelpunkt hatte. Ich genoß eine ganz neue Freude, während ich die Stoffe zurecht legte, die Einzelnheiten aussann, und wenn ich nun daran [393] ging, sie niederzuschreiben, war ich im eigentlichen Sinn des Wortes seelenvergnügt. Ich konnte es gar nicht erwarten, sie den Andern vorzulesen; aber, und das war ohne alle Frage ein Glück für mich, der Beifall, den ich erndtete, kam meiner Lust beim Schaffen gar nicht gleich. Mein Vater und mein älterer Bruder, an deren Urtheil und Zustimmung mir gelegen war, fanden die Dinge der Wirklichkeit nicht bestimmt genug ausgeprägt, mein Bruder riß bei einigen langen Perioden im Scherze seine Cravatte vom Halse, um mir anzudeuten, daß man an so langen Sätzen ersticken müsse, und das Endresultat blieb: »es sind gewöhnliche Journalgeschichten, und ob Du die machst oder nicht, ob von denen überhaupt ein paar mehr oder weniger gemacht werden, das ist ganz gleichgültig. Versprichst Du Dir Etwas davon, oder glaubst Du uns nicht, so schicke sie dem August Lewald, und höre, was der davon hält.«

Hart und selbst bitter wie diese Ablehnungen sich gaben, waren sie für mich, was die einzelnen kalten Tage eines sehr warmen Frühjahrs für die Pflanzen sind. Sie hielten mich von Uebereilung und Ueberschätzung zurück; sie lehrten mich gleich beim Beginne meines Schaffens, neben der Phantasie auch den Verstand und die Vernunft zu brauchen, und mich von Anfang an fest an die Wirklichkeit und Wahrheit anzuschließen.

Ich änderte und korrigirte eine ganze Weile an der kleinen Erzählung herum, dann aber wollte ich mein Schicksal kennen, und schickte sie mit Erlaubniß meines Vaters an August Lewald, der damals in Baden-Baden lebte. Er schrieb mir bald danach, daß er in dem Augenblicke [394] nicht Zeit habe, das Manuscript zu lesen, fügte aber hinzu: »Dein Hang zum Schreiben ist sehr natürlich. Wer so wie Du gesunde Gedanken auf schöne Weise darzustellen weiß, hat Beruf dazu und darf ihn nicht durch bloße äußerliche Rücksichten auf gewaltsame Weise ersticken.« Und da ich ihm auch alle Ausstellungen und Einwendungen der Meinen gegen die kleinen Arbeiten selbst mitgetheilt hatte, so sagte er mir in einem zweiten Briefe vom vierundzwanzigsten Juni achtzehnhundert vierzig: »Dein Streben, Dein Geist, Deine Bildung, Dein selbstständiger Sinn, das Alles gefällt mir wohl, Denn Du paarst damit Gemüth und Seele. Das Stillleben in Deinem elterlichen Hause, Deine späte Entwicklung zum Blaustrumpf – wenn ich so sagen darf – hat Dich vor gar Vielem bewahrt, was sonst unzertrennlich davon scheint. – Was ich Dir über Dein Talent gesagt habe, wiederhole ich Dir hiermit; lasse Dich von Deinem Bruder nicht beirren. Du magst Dir sein Urtheil immerhin, wenn Du es aus dem rechten Standpunkte betrachtest, zu Deinem Nutzen wenden – ja es kann Dir sogar heilbringend sein, – allein über Deinen Beruf brauchst Du ihn gar nicht zu befragen. Glaube mir! – Dein Mährchen ist sehr hübsch und mir lieber als Dein ›Stellvertreter‹, wenn auch dieser wieder manche Vorzüge hat. Eine gewöhnliche Journalerzählung, wie sie es bei Dir zu Hause nannten, ist sie aber nun einmal gar nicht; denn da müßte sie spannender und anziehender verwickelt sein, überhaupt mehr Schilderung enthalten. Dafür ist sie aber besser. Du kannst gestalten. Dein ›alter Stellvertreter‹ ist eine wahrhaft originelle [395] Figur und die ironische Farbe, die Du über das Ganze hinzuhauchen verstehst, verräth einen Grad von Kunstbegabung, zu dem man Dir Glück wünschen kann. Wie ich Dir aber schon bemerkte, hält Plan und Anlage – die Erfindung, wie man's zu benennen pflegt – mit der Ausführung nicht gleichen Schritt. Darauf mußt Du nun Dein Augenmerk richten.«

Er ermuthigte mich zugleich, mich ohne Weiteres an eine größere Arbeit zu machen, schrieb mir, daß er das »Moderne Mährchen« gleich habe abdrucken lassen, schickte mir das Honorar dafür, das in acht Thalern und einigen Groschen bestand, und – ich war im ersten Momente geradezu benommen von meiner Freude.

Ich las den Brief immer auf's Neue, es war mir, als müsse ich wachsen und sichtlich größer werden. Das Lob that mir so wohl, und daß ich mich um das Urtheil meines Bruders nicht bekümmern sollte, war mir vollends angenehm. Ich wußte noch nicht, wie sehr sein geschulter und tüchtiger Verstand mir später für meine ganze Art zu arbeiten maßgebend und belehrend sein würde, und mein Verlangen nach Unabhängigkeit war so groß!

Mitten in meiner Erregung traf mein Vater mich. Es war eilf Uhr, die Stunde, in welcher er sein Gabelfrühstück einzunehmen pflegte. Wir befanden uns im Hochsommer, und die Hitze war sehr groß. Vor den Fenstern der kleinen Wohnstube, die auf den Wolm hinaussahen, war die große Markise herunter gelassen, das Zimmer war dämmrig, auf den Tischen standen Blumen, die wir uns während der guten Jahreszeit alltäglich kauften.

[396] Um eilf Uhr war der Frühstückstisch immer gedeckt, damit der Vater nicht zu warten brauchte, und in der Regel waren dann so viele von uns in dem Zimmer, als eben abkommen konnten, um dem Vater während der Viertelstunde, die er zu verweilen pflegte, Gesellschaft zu leisten, und ihm zu erzählen, was etwa vorgegangen war. Den Morgen befand ich mich zufällig mit ihm allein, und mir schlug das Herz vor Aufregung und Freude, als ich ihn die acht Stufen zu dem Wolme hinaufkommen sah. Wie immer bei dem Eintritt küßte er mich, und setzte sich dann mit der gewohnten Phrase: »Na! was giebt's Neues?« zu seinem mäßigen Frühstück nieder.

Ich sagte, daß ich einen Brief aus Stuttgart bekommen. Er hatte das im Comptoir, vom Lizente kommend, bereits erfahren. »Was schreibt Dir Lewald?« fragte er wieder. Ich las ihm den Brief vor; er lächelte dabei.

»Das klingt sehr aufmunternd,« sagte er darauf, »und Lewald wird's wohl verstehen! Aber er irrt, wenn er Dir allein ein Urtheil über Deine Arbeiten zutraut. Im Gegentheil! man ist in der Regel incompetent über das, was man selbst gemacht hat.«

Ich versuchte das zu widerlegen, indeß der Vater unterbrach mich mit der Frage: »Und Du denkst also wirklich daran, eine größere Arbeit anzufangen, Du willst also Schriftstellerin werden?«

»Ja! wenn Du nichts dagegen hast, lieber Vater!«

Er zuckte mit den Schultern, wie er es zu thun pflegte, wenn er sich in Etwas fügte, was ihm nicht lieb war. Das that mir wehe und leid.

»Ueberlege Dir die Sache, lieber Vater!« fuhr ich[397] fort, »und das Eine bemerke ich dabei ausdrücklich: bedenke, daß ich Nichts halb zu thun pflege.«

»Was heißt das?« fragte er kurz und ernst.

»Ich meine, wenn ich arbeite, so ziehe ich die gelben Glacé-Handschuhe aus, und fasse die Dinge fest und mit nackter Hand an. Wenn ich schreiben soll, so muß ich ganz heraus sagen können, was ich denke, und jedes Thema berühren, das mir dazu angemessen scheint. Ich kann keine Rücksicht nehmen auf dasjenige, was Du von mir zu hören wünschest, oder was Du die Kinder (so wurden wir in Gesammtheit noch immer genannt) hören lassen willst.«

»Das begreife ich!« entgegnete er mir.

Wir waren Beide gleich ernsthaft, der Eine wie die Andre, denn ich wollte, wenn ich meinen neuen Lebensweg antrat, am wenigsten meinen Vater darüber im Unklaren lassen, wie ich über denselben dachte. »Auf die Weise wie bisher,« nahm ich noch einmal das Wort, »kann ich dauernd dann nicht weiter leben. Wenn ich die Mittel dazu erwerben kann, muß ich die Welt sehen, und freier mit Menschen, mit Männern, die mich fördern, verkehren können, als es hier bei uns am Theetisch, in Gegenwart von Euch und von fünf Schwestern geschehen konnte.«

Ich sah, daß diese Verlangnisse und Aussichten meinem Vater ungelegen und nicht erwünscht waren, und ich erklärte, wenn er mit dieser meiner Meinung nicht einverstanden sei, so wäre ich in diesem Momente noch bereit, auf die Erfüllung meiner Wünsche zu verzichten.

Mein Vater schwieg einen Augenblick und frühstückte [398] während der ganzen Unterredung ruhig fort. »Ich sehe nur nicht ab, was für ein Aequivalent ich Dir dafür zu bieten hätte!« meinte er nach einer Weile. »Du bist dreißig Jahre, bist unverheirathet, und ich kann nicht sagen: hier ist ein Vermögen, das Dich lebenslänglich unabhängig erhält. Auf der andern Seite bist Du immer verständig gewesen, hast mir nie Anlaß gegeben, mit Dir unzufrieden zu sein, und Du versprichst Dir Glück von der Ausübung Deines Talentes. Also thu' was Dir gut däucht, und Gott gebe, daß es zu Deinem Guten sei. Nur das Eine bedinge ich mir ganz ausdrücklich aus, es darf Niemand, auch Rath Crelinger und Doktor Kosch – der Letztere war unser Hausarzt – das Geringste von Deiner Schriftstellerei erfahren.«

»Verlaß Dich darauf!« betheuerte ich, »aber bedenke, lieber Vater, daß alle Kinder es wissen.«

»Ich werde ihnen verbieten, davon zu reden!« sagte er mit jener Zuversicht, die sicher ist, sich unbedingten Gehorsam zu verschaffen.

Er stand auf, nahm den Brief von Lewald, und betrachtete die Anweisung, welche darin lag. Sie war au porteur ausgestellt, und von seinem bisherigen Ernste zum Scherze übergehend, sagte er: »Da Du also heute angefangen hast, Geld zu verdienen, wirst Du es wohl auch gleich in Händen haben wollen. Ich werde die Anweisung nehmen und Dir das Geld herauf schicken.«

Er wendete sich nach der Thüre, kehrte noch einmal um, sagte mit einer unverkennbaren Bewegung: »Also eine Schriftstellerin!« – Dann zog er die schönen Augenbrauen ein wenig in die Höhe, diese Miene drückte [399] es bei ihm aus, daß etwas ihm nicht Erwartetes und nicht eben Angenehmes geschehen sei, und meinen Kopf in seine beiden Hände nehmend, und mich herzlich küssend, sprach er: »Gott gebe Dir Glück dazu!«

Damit ging er hinaus, und ich war so gerührt, daß mir die Thränen über das Gesicht flossen. Feierlicher war mir nicht zu Muthe, als ich mich meinem Manne für das ganze Leben angelobte. Denn das Eine wie das Andere war mir die freudige Uebernahme eines aus tiefster Ueberzeugung und innerster Nothwendigkeit übernommenen Berufs, dem mit allen meinen Kräften nachzuleben, dem mich in voller Liebe und Freiheit gänzlich hinzugeben, mir ein Glück war.

Es war kein unbewußtes Hineindämmern in die Zaubergärten der Poesie. Ich hatte eine große Vorstellung von der Macht des Dichters auf den Geist seines Volkes, und von der Gewalt des Wortes über das Herz der Menschen. Und weil ich die Wahrheit suchte, und die Wahrheit über Alles schätzte, wo ich sie erkannt hatte, so nahm ich mir vor, ihr in keiner Zeile und mit keinem Worte jemals abtrünnig zu werden, und wie groß oder wie gering mein Einfluß jemals werden könnte, ihn nie anders als im Dienste desjenigen zu verwenden, was mir Schönheit, Freiheit und Wahrheit hieß. Und dies Versprechen habe ich mir treu gehalten!

[400]

Dritter Band. Befreiung und Wanderleben

1. Kapitel
[3] Erstes Kapitel

Es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und es giebt kaum irgend einen feierlichen Akt, der nicht sein komisches Zwischenspiel in sich erzeugte.

So war denn auch der frohen Erhebung jener ersten Stunde, in welcher ich über meine Zukunft entschied, gleich an demselben Tage eine sehr komische Niedergeschlagenheit und ein lächerlicher Vorgang gefolgt.

Mein Vater schickte mir, wahrscheinlich um mir ein Vergnügen zu machen, durch seinen Lehrling den Betrag meines ersten Honorars in harten Thalerstücken herauf, aber statt mich daran zu erfreuen, war es mir äußerst widerwärtig, das Geld zu nehmen. Auferzogen in einer Umgebung, in der alle Frauen es gewohnt waren, von ihren Männern oder Vätern versorgt und unterhalten zu werden, und sich vornehmer zu dünken, je reichlicher dieses geschah, kam ich, die doch seit Jahren gar kein höheres Verlangen als das nach Selbstständigkeit gehabt hatte, mir plötzlich wie herabgesetzt, wie aus meiner angestammten Kaste ausgestoßen vor, als ich mit diesen acht Thalern die Gewißheit vor mir hatte, daß ich von diesem Tage an beginnen werde, für Geld zu arbeiten, um mir mein[3] Brod einmal selber zu erwerben. Ich war ziemlich nahe daran, der Abwechslung wegen, in Thränen der Rührung darüber auszubrechen, daß ich nun endlich meinen Willen hatte. Das währte jedoch nicht lange, und die Ueberlegung, was ich mit diesem Gelde kaufen solle, nahm dann zunächst meinen Sinn in Anspruch.

Daß es nicht für mich zu verwenden sei, stand fest. Mein ältester Bruder hatte uns dafür das Beispiel gegeben, als er mit dem ersten Gelde, welches er als Auskultator oder Referendar verdient, den Eltern ein Paar silberne Serviettenbänder angeschafft, auf welchen das Datum und die Worte: »Die ersten Sporteln« eingegraben waren. Meinem Vater Etwas zu kaufen, war beinahe unmöglich, denn er hatte außer den Kleidern, die er trug, und außer einfacher Kost, durchaus keine persönliche Bedürfnisse. Er rauchte nicht, ein Schlafrock und ähnliche Bequemlichkeiten waren ihm damals, in seinem dreiundfünfzigsten Jahre, noch völlig fremd, da er von früh bis spät gleichmäßig angezogen blieb, was denn das Gute mit sich brachte, daß auch uns Allen jene üble Gewohnheit der Mittelstände, »sich in Negligé zu werfen«, ebenfalls fremd geblieben ist. Schmuck zu tragen, wäre ihm lächerlich erschienen, und bis wir sämmtlichen Kinder ihm einige Jahre vor seinem Tode einmal eine goldene Uhr und Kette zum Geburtstage schenkten, war seine alte silberne Uhr, da er den Trauring verloren hatte, das Einzige, was er über das Unentbehrliche hinaus besaß.

Ich hatte also nur die Möglichkeit, wie der Bruder es gethan, ein Stück in die Wirthschaft anzuschaffen; und [4] da unserer hübschen und reichlichen Silbereinrichtung zufällig ein Paar Messer zu Butter und Käse fehlten, von deren Kauf die Mutter oft als von einer gewissen Nothwendigkeit gesprochen hatte, so beschloß ich, ihr diese zum Geschenk zu machen.

Die Mutter wohnte noch in der Sommerwohnung, die sie schon über ein Jahr inne hatte. Der Tag, es war der vierte Juli, war außerordentlich heiß, trotzdem lief ich gleich am Vormittage, weil die Lust zu schenken mir keine Ruhe ließ, zu den verschiedenen Goldschmieden umher, und erlangte es denn auch, daß Herr Krickhahn, bei dem ich das mir Zusagende gefunden, mir die Chiffre meiner Mutter und das Datum des Tages bis um vier Uhr Nachmittags zu graviren versprach. Die Worte: »vom ersten Verdienste« darauf setzen zu lassen, mußte ich mir versagen, da kein Fremder dies wissen sollte, aber ich konnte die vierte Stunde kaum erwarten, und als mein Vater zum Kaffee kam, hatte ich ihm das gekaufte Silber mit großer Freude auf den Tisch gelegt.

Er nahm es mit der heitern Wärme auf, mit welcher ich es dargeboten hatte. Er scherzte darüber, daß seine Kinder ihm bald einen »Staatstresor« anschaffen wür den, wenn es so fortginge, und es verstand sich nun von selbst, daß ich mich gleich aufmachen sollte, der Mutter den Brief von August Lewald, mit all seinen guten Nachrichten und die beiden silbernen Messer als den ersten Ertrag meiner Arbeit auf die Hufen hinaus zu bringen.

Als ich nun eben auf den Wolm hinaustrat, um von Hause fortzugehen, kam eine Wursthändlerin, welche uns allwöchentlich mit den für den Thee nöthigen Würsten [5] versah. Es befand sich unter diesen eine Art frischer Leberwürste, welche meine Mutter besonders gern aß, und die im Sommer immer nur an dem Tage genießbar waren, an welchem man sie fabrizirte. Ich kaufte also von meinem Gelde, um mir nebenher noch einen Spaß zu machen, die größte dieser noch ganz warmen Würste, wickelte sie gut ein, und ging nun meines Weges.

Kaum aber war ich eine Strecke von Hause entfernt, und hatte die Krämerbrücke erreicht, so mußte ich warten, weil sie aufgezogen war. Während ich nun unter den andern Leuten dastand, kam ein kleiner Hund an mich heran, und es dauerte nicht lange, so folgte ihm ein großer. Ich hatte in jener Zeit, weil ich als kleines Kind einmal von einem Hunde gebissen worden war, den man für toll gehalten hatte, noch eine so unvernünftige Furcht vor Hunden, daß Geschichten über diese meine Angst zu den Lieblingsanekdoten der Familie gehörten, und auch jetzt befiel mich ein wahrer Schreck bei der Bemerkung, daß es die warme, stark nach Majoran duftende Wurst sei, welche mir die Hunde an die Seite lockte. Ich versuchte die Thiere mit den Falten meines Kleides, mit meinem Sonnenschirm, mit ergrimmten Blicken und mit dem barschen Zuruf: fort! von mir zu verscheuchen, es blieb Alles vergebens. Der Wurstgeruch wirkte mächtiger auf sie, als die so oft gepriesene Gewalt des menschlichen Blickes, und schon stand ich – da die erworbenen acht Thaler siebzehn Groschen mich sehr leicht in Bezug auf Geldausgaben denken ließen – auf dem Punkte, die Wurst, welche zehn Groschen gekostet hatte, dem ersten besten Armen zu geben, der mir in den Weg [6] kommen würde, als ich mir einen Akt der Selbstüberwindung aufzuerlegen beschloß, um meiner Mutter den kleinen Leckerbissen nicht zu entziehen.

So rasch ich konnte, schritt ich also, um nur je eher je lieber der Qual entledigt zu werden, die Steindammer Brücke in die Höhe, den langen im Sonnenbrande glühenden Steindamm entlang, im Voraus immer berechnend, und die Seite vermeidend, an welcher ein Schlächter wohnte, und von woher mir also wahrscheinlich ein Hund entgegenkommen konnte. Aber das half mir gar Nichts. Es schien mir in meiner Seelenangst, als ob an dem Tage alle Hunde der Stadt sich ein Rendezvous auf meinem Wege gegeben hätten. Hier wedelte ein Wachtelhündchen um mich herum, da stieg ein dicker Mops, denn es gab damals noch Möpse, wirkliche dicke Möpse mit schwarzen Nasen und glotzenden Augen, neben mir einher, dort sprang ein Köter über den Weg und folgte mir schnuppernd, daß ich, immer mehr in Furcht gejagt, immer schneller zuging, meine Wurst festhaltend, wie ein Fähnrich seine Fahne im ersten Kugelregen, bis ich denn, auf's Aeußerste erhitzt, mit dem Bewußtsein, aus Liebe etwas mir sehr Schweres gethan zu haben, und mit der Hoffnung, große Freude zu erregen und herzlich empfangen und bedankt zu werden, in der Sommerwohnung meiner Mutter landete.

Die Mutter und die Schwestern saßen unter den Pappeln vor dem Hause und vesperten. Meine Mutter hatte während ihrer Mittagsruhe nicht gut geschlafen, sie war ermattet aufgewacht und dadurch mißgestimmt. Ich packte, als ich das gewahrte, zuerst die Wurst aus, um [7] die Ueberraschungen zu steigern, erzählte lachend, wie es mir damit gegangen, und meine Mutter fragte, ob ich nicht irgend einen andern Gegenstand mitgebracht hätte, dessen sie in ihrer kleinen Haushaltung bedurfte, und den sie durch die Wirthstochter, welche in die Stadt gegangen, bei uns hatte bestellen lassen. Ich verneinte das, denn das junge Mädchen war noch gar nicht bei uns gewesen, als ich mich von Hause entfernt. Der Mutter war das unangenehm, und um dies gut zu machen, holte ich denn nun wirklich freudestrahlend meine beiden Messer hervor, denen, wie ich wähnte, denn in solchen Augenblicken wird Jeder wieder zum Kinde, gar nicht zu widerstehen war.

Leider hatte ich jedoch die Macht der Krankheit über den Sinn des Menschen nicht in Betracht gezogen. »Was ist das?« fragte meine Mutter gleichgültig. Ich sagte, das sei mein erster Verdienst. August Lewald ermuntere mich auf das Entschiedenste zu literarischer Arbeit, der Vater sei damit einverstanden; kurz ich brachte so schnell als möglich all meine Freuden an den Tag, und schloß damit, diese Messer als die Nachfolger der Serviettenbänder anzukündigen, wobei ich hervorhob, daß die Mutter sie ja schon lange zu besitzen gewünscht hätte. Sie mußte das aber offenbar in dem Augenblicke ganz vergessen haben, denn sie, die in guten und gesunden Tagen sich über eine Reihe Stecknadeln, die man ihr schenkte, wirklich freuen konnte, legte die Gabe, die ich so glücklich gewesen war, ihr bieten zu können, ohne dieselbe auch nur recht anzusehen, mit den Worten auf die Seite, daß das eine höchst unnütze Ausgabe sei, und daß ich mein Geld lieber hätte verwahren sollen.

[8] Zurückgewiesen und getadelt zu werden, wo man sich offenen Herzens liebevoll genaht, ist sehr empfindlich, und war es mir in diesem Augenblicke und grade von meiner Mutter um so mehr. Es schnürte mir den Hals zu, all meine Freude war mit einem Schlage vorüber, ich dachte: Du hast nun einmal kein Glück! – und es war sehr gut für mich, daß meine Schwestern erriethen, wie mir zu Muthe war, und mich mit ihrer Freude und ihrem Antheil für die mangelnde Theilnahme meiner Mutter zu entschädigen suchten.

Ich war ganz kleinlaut geworden, ganz zusammengedrückt, als mein Vater am Abende hinauskam. Seine Anwesenheit machte die Mutter ihre schweren Leiden und ihren Unmuth stets vergessen, und da sie sah, wie gut gelaunt er forderte, daß man, um mir ein Vergnügen zu machen, die Messer gleich einweihen solle, so fing nun auch die Mutter sich zu freuen an, die Geschwister waren beisammen und sehr munter, wir gingen in der Stube zu Tisch und befanden uns über irgend einen drolligen Vorgang in lautem Lachen, als Rath Crelinger unerwartet in das Zimmer trat, von unserm Lachen angesteckt, sich ebenfalls dazu hingerissen fühlte, und unsere Lachlust dadurch, daß er lachte, ohne zu wissen worüber, bis zu dem Grade steigerte, daß es den ganzen Abend zu gar keiner vernünftigen Erklärung kam, und wir danach sehr heiter, in bester Laune, und Alle sehr zufrieden mit einander in die Stadt zurückkehrten.

Als ich nun zu Hause vor dem Schlafengehen mein Mährchen zum ersten Male gedruckt vor Augen hatte, und es zu lesen begann, kam es mir verändert vor. Es[9] gefiel mir mehr und weniger als im Manuscripte. Es las sich besser, es klang vornehmer, nun es sich so glatt anhören ließ, aber es schien mir an Wärme und Leichtigkeit verloren zu haben. Ich wunderte mich, wo ich die guten Einfälle hergenommen – während ich in Briefen oft ernstere und durchdachtere Dinge geschrieben hatte, ohne mir irgend eine besondere Rechenschaft darüber zu geben oder gar mir ein Bewußtsein daraus zu machen – und wunderte mich ebenso, wo ich den Muth gefunden, diese Spielereien den Menschen zum Lesen anzubieten. Ich machte, ohne es zu wissen, die Erfahrung von der abtrennenden Wirkung, welche der Druck einer Arbeit auf das Verhältniß des Schreibers zu derselben ausübt, und es dämmerte mir dabei die erste Ahnung davon auf, daß man an jede Kunst bis zu einem gewissen Grade die Anforderungen machen muß, welche man an die Plastik stellt, mag diese einen erhabenen oder einen Gegenstand aus dem alltäglichen Leben zu ihrem Stoffe gewählt haben. Allem Bleibenden, allem Demjenigen, das in seiner gegenwärtigen Gestalt nicht mehr zu ändern ist, muß die strenge Festigkeit und Abgeschlossenheit des Monumentalen innewohnen, wenn es wohlthuend und zugleich überzeugend und zwingend auf uns wirken soll. Das sogenannte Natürliche, Unwillkürliche leidet darunter nicht. Es gewinnt im Gegentheil dadurch; denn in der Kunst wirkt nur Dasjenige als wahrhaft schöne Natürlichkeit, das durch die Kunst geläutert und, alles Zufälligen entkleidet, in verklärter Naturschönheit und Naturwahrheit vor uns hingestellt wird. Man hat daher vollkommen recht, von der plastischen Darstellung in Sprache und[10] Schrift zu sprechen, und die Parallele wird dadurch nur vervollständigt, daß der Stoff eine verschiedene Behandlungsweise erfordert, je nach dem Material, in welchem er zur Erscheinung gebracht werden soll. Die Schrift, der Druck und das gesprochene Wort haben ihre modifizirende Wirkung, aber es möchte nicht leicht sein, die Gesetze und Regeln dieser Verschiedenheit einem Menschen klar zu machen, der die angeborne Empfindung für dieselbe nicht in sich ausgebildet hat.

Je weniger mein kleines Mährchen mir genug that, um so mehr drängte es mich, etwas Besseres zu machen, und mir selbst in einer größern Arbeit die Ueberzeugung zu schaffen, daß ich leisten könne, was der Freund mir zu leisten zutraute. Um einen Stoff war ich nicht verlegen, und Muße hatte ich auch, denn es war schon seit mehreren Wochen abgeredet worden, daß ich mit dem Beginne des August zu meiner Mutter auf die Hufen hinausziehen, und meine älteste Schwester mich in der Stadt im Haushalte, den ich nun ein volles Jahr lang allein verwaltet hatte, ablösen sollte. Die Eltern hatten das meiner Gesundheit wegen so angeordnet, die schon seit lange nicht gut war. Ich sollte also frische Luft und Bewegung haben, und nun man mir Zeit für meine Arbeit gönnen wollte, wurde die Uebersiedelung nur um so schneller in's Werk gesetzt.

Im Ganzen machte der Entschluß, den ich für meine Zukunft gefaßt, auf die Meinen im ersten Momente einen lebhaftern Eindruck als ich erwartet hatte. Ich kam ihnen dadurch einige Tage lang fremd und verändert vor. Indeß das glich sich schnell wieder aus, Jeder sah sich das [11] gedruckte Mährchen an, Jeder fragte mich, was ich denn nun weiter machen würde, und damit war es abgethan, bis auf eine Menge freundlicher und wohlgemeinter Neckereien, und eine Folge von nicht endenden Projekten, in denen ich und die Schwestern uns gelegentlich um die Wette ergingen, und die alle darauf hinausliefen, daß ich mir einen Namen erwerben und daß es mir in der Welt sehr gut ergehen würde.

Sobald ich mich bei meiner Mutter eingerichtet hatte, machte ich mich an die Arbeit. Mir hatte oftmals vorgeschwebt, welches meine Lage geworden wäre, wenn man mich zu jener sogenannten Vernunftheirath überredet, und ich nachher den Geliebten wiedergesehen haben würde, und ich hatte mich dann oftmals mit der Frage beschäftigt, ob mein Pflichtgefühl stark genug gewesen sein würde, über meine Leidenschaft den Sieg davon zu tragen. Ich hatte mir eine Menge von Situationen erdacht, hatte das Für und das Wider nach allen Seiten hin erwogen, hatte mir bald einen verzweiflungsvollen Untergang, oft auch eine edle und sehr erhabene Entsagung ausgemalt, und da mein ganzer Sinn nach allen Richtungen darauf gestellt war, mich an das Nächste zu halten, so suchte ich auch jetzt nicht nach besondern Ereignissen, griff auch nicht in ferne Zeiten, oder vornehme Regionen hinüber, wie Anfänger das gern und meist zu ihrem Nachtheil thun: sondern ich hielt mich einfach an das, was ich genau kannte, an Menschen, an Charaktere, und an Verhältnisse, bei denen ich mich über keine Unwahrheit oder Unwahrscheinlichkeit mit jenem besänftigenden und beschönigenden »es könnte wohl so sein«, oder »es wird wohl [12] so sein« zu beruhigen vermochte, und so entstand denn der kleine Roman »Clementine«, den ich eben jetzt, nach langen Jahren, zum ersten Male wieder angesehen habe.

Denjenigen, welche ihn gelesen haben und sich seiner noch etwa erinnern sollten, brauche ich nun nicht mehr erst zu sagen, daß die Vorgänge und Figuren des Romans erfunden sind, und daß Nichts der Wirklichkeit entnommen ist, als der Gang meiner Gedan ken und die äußere Gestalt des Helden, in welcher ich mir das Bild Heinrich Simon's, wie er mit siebenundzwanzig Jahren ausgesehen, festzuhalten bemüht gewesen bin. Aber schwerer als dieses Unternehmen, mir die liebe Gestalt im Worte darzustellen, möchte es sein, die Erregung und das leidenschaftliche Glück zu schildern, womit das Arbeiten an dem kleinen Romane mich erfüllte.

Von Kindheit auf an eine regelmäßige Zeiteintheilung gewöhnt, hatte ich es mir gleich zum Gesetz gemacht, auch meine neue Thätigkeit dahin zu regeln, daß ich am Morgen, wenn ich fertig angezogen war, mich an die Arbeit setzte. Die Erkerstube, welche ich in der Sommerwohnung inne hatte, war dann noch nicht aufgeräumt, ich ging also mit meinem Schreibwesen in die Laube des kleinen bäuerlichen Gartens, und da saß ich nun die ganzen Morgen still für mich allein und schrieb und schrieb, mit einer so reinen und großen Freude, daß ich noch heute gern daran gedenke.

Die Sonne schien so warm durch die grünen Blätter, die Ranken des Geisblatt wiegten sich so leise auf und nieder, hier und da flog ein Vogel aus dem Grün empor, daß sein Schatten über mein Papier hinweg huschte, während [13] die Sonnenfunken – nicht eben zum Nutzen meiner Augen – darauf flimmerten und tanzten. Es war so mährchenhaft still und schön. Schöner aber noch und mährchenhafter dünkte mir die Welt der unsichtbaren Gestalten, die mich umgab. Diese Männer und Frauen, von deren Dasein Niemand wußte, die Niemand kannte als ich allein, die mir sammt und sonders sympathisch waren mit ihren Eigenschaften und Mängeln, die ich nur zu rufen brauchte, damit sie auf meinen Wink erschienen, die mir ihre Leiden und Freuden vertrauten, denen ich half und rieth, denen ich wehrte und gebot, die mein eigen und doch nicht ich selber waren, die ich übersah, und die ich doch als Ideale über mich stellte – ich war ganz erstaunt über ihr Dasein, und hatte sie doch sammt und sonders erschaffen. Dieser Freude an den Gestalten gesellte sich nun noch die Wonne hinzu, durch ihre Vermittlung einmal Alles sagen zu können, was mir seit so vielen Jahren auf dem Herzen gelegen hatte, und es sagen zu können, ohne daß man mich zurecht wies, ohne daß man mir widersprach, ohne daß ich mich zu mäßigen und Rücksicht zu nehmen und ohne daß ich es zu meiner Vertheidigung zu sagen brauchte. Es ist ein solches Glück, seine innerste Ueberzeugung aussprechen, seinen Glauben bekennen zu dürfen! Wäre das nicht der Fall, die Zahl der Märtyrer auf allen geistigen Gebieten würde lange nicht so groß geworden sein!

Mir klopfte das Herz vor Entzücken, wenn ich niederschrieb, was ich über die Liebe, über die Ehe dachte. Es war mir wie das Niederlegen eines Glaubensbekenntnisses. »Ich hasse die Ehe nicht«, ließ ich einmal die Heldin des [14] Buches, Clementine, in einem Briefe an ihre Tante schreiben, »ich hasse die Ehe nicht, im Gegentheil! Ich halte sie so hoch, daß ich sie und zugleich mich zu erniedrigen fürchte, wenn ich dies heilige Band knüpfte, ohne daß mein Gefühl Theil daran hätte. Was kann es Beglückenderes geben, als mit einem geliebten Manne sein Leben zu verbringen? Für ihn zu sorgen, seine Freuden und Leiden zu theilen; zu wissen: Alles, was mein Herz bewegt, Alles, was mich berührt, theilt und fühlt mein bester Freund mit mir? Beide leben dann ein doppeltes Leben. O! ich habe mir das oft himmlisch schön gedacht, ich habe es heiß gewünscht, und ich halte heute noch die Ehe für den einzigen Weg, der den Menschen zu der größten Vollkommenheit führt, die seiner Individualität möglich ist. Darum aber kann ich den Gedanken an eine gleichgültige Ehe nicht ertragen, weil sie für mich eine unglückliche wäre; und ich habe es nie begreifen können, wie in der Ehe irgend Etwas die Menschen an einander kettet, als ihr Herz. Die Ehe ist in ihrer Reinheit die keuscheste, heiligste Verbindung, die gedacht werden kann. Rein, wie ein Engel des Lichts, geht das Weib aus den Armen ihres geliebten Gatten hervor, und wenn man mir, nach dem katholischen Ritus, die Madonna die reine Mutter Gottes nannte, hat für mich ein rührend tiefer Sinn darin gelegen, ein ganz anderer Gedanke, als die Kirche ihn will. Ja! die Ehe ist rein! und aus der Umarmung liebender Gatten kann ein göttlicher Mensch, ein Retter der Welt entstehen. – Aber was hat man aus der Ehe gemacht? – Ein Ding, bei dessen Nennung wohlerzogene Mädchen die Augen [15] niederschlagen, über das Männer witzeln und Frauen sich heimlich lächelnd ansehen. Die Ehen, die ich täglich vor meinen Augen schließen sehe, sind schlimmer als Prostitution. Erschrick nicht vor dem Worte, da Du mich zu der That überreden möchtest. Ist es denn nicht gleich, ob ein leichtfertiges, sittlich verwahrlostes Mädchen sich für eitlen Putz dem Manne hingiebt, oder ob Eltern ihr Kind für so und so viel Tausende opfern? Der Kaufpreis ändert die Sache nicht; und ich gestehe Dir, ich würde das Weib, das augenblickliche Leidenschaft und heißer Sinnentaumel hinreißen, groß finden, gegen diejenige, die, das Bild eines geliebten Mannes im Herzen, sich dem Ungeliebten ergiebt für den Preis seines Ranges und seines Namens.«

Es war mir, als hätte ich eine That gethan, einen Freiheitskampf bestanden, einen mir nicht mehr zu entreißenden Sieg erfochten, wenn ich solche Worte vor mir auf dem Papiere hatte, wenn ich mir dachte, daß mein Vater sie lesen, sie als meine Ueberzeugung vor der Oeffentlichkeit ausgesprochen lesen würde. Ich dachte Tag und Nacht nur an meine Arbeit, meine ganze Seele war davon entflammt, ich vergaß die Zeit, es raubte mir den Schlaf.

Mitunter, wenn ich in meiner Laube saß, bis der Mittag heraufkam und die heiße Augustsonne mir auf den Scheitel brannte, kam die Mutter zu mir, mir mein Frühstücksbutterbrod zu bringen. Sie sah dann mein flammendes Gesicht, sie scherzte gutmüthig darüber, daß die Wangen mir so glühten, und nannte mich neckend: ihren armen Poeten! Aber sie ließ mich ruhig gewähren, [16] und schwer krank, wie sie es damals schon selber war, hatte sie Mitleid mit mir, denn auch mir ging es übel, und die ungewöhnliche Aufregung, in welche mein Arbeiten mich versetzte, verschlimmerte das Nervenleiden, das mich plagte.

Fast in jeder Nacht, und oftmals auch am Tage, wurde ich von einem Herzkrampf befallen, der mir den Athem nahm, mir den Angstschweiß auf die Stirne trieb, und mich auf das Aeußerste ermattet zurückließ, wenn er vorüber war. Gefährlich sollte diese Beschwerde nicht sein, ich hatte sie schon nach der Trennung von Leopold hie und da gefühlt, jetzt aber war es bei weitem schlimmer. Ich magerte ab, und denke noch mit Grausen an die Angst jener Tage und Nächte. Unser Arzt, der treffliche Doktor Kosch, verordnete mancherlei, indeß da ich es ihm auf ausdrücklichen Befehl meines Vaters verheimlichte, daß ich schrieb und daß diese Thätigkeit mich so gewaltig anspannte, so machten wir es ihm unmöglich, sich meine wachsende Ueberreizung richtig zu erklären, und als er mich eines Tages in einem heftigen Weinkrampf antraf, erklärte er mir sehr energisch, wie seine Kunst solcher Art von Nervenleiden gegenüber völlig machtlos sei, wie mir gar Nichts zu meiner Herstellung übrig bleibe, als mich gewaltsam zusammen zu nehmen, und jene Selbsterziehung zu beginnen, die in Selbstbeherrschung bestehe, und ohne welche ich für mein ganzes Leben verloren sein würde. »Wenn Sie sich Weinkrämpfe passiren lassen,« sagte der wackere Mann, »so weiß ich keinen Rath. Sie haben nicht nöthig, sich damit interessant zu machen, und wohin das Nachgeben gegen Nervenleiden führt, haben Sie zu [17] sehen Gelegenheit gehabt. Leidend sind Sie, aber Sie leiden nicht schwerer, sondern weniger, wenn Sie den Anfall ruhig aushalten, ohne zu weinen. Und haben Sie Zutrauen zu mir, so werfen Sie auch all' die Paliativmittel fort, die ich ihnen bisher gegeben habe. Auf die Länge nützen Sie Ihnen gar Nichts. Je entschiedener Sie sich aber sagen, daß Ihnen Nichts hilft, als ruhig zu bleiben, um so wahrscheinlicher ist's, daß Sie das Leiden allmählich wieder los werden. Es sind genug nervenschwache Frauenzimmer auf der Welt, und es ist wirklich nicht nöthig, daß Sie deren Zahl noch vermehren helfen. Nehmen Sie sich zusammen!«

Sein etwas scharfer und kalter Ton machte mir den Ausspruch sehr hart klingen, indeß so böse ich auf ihn war, fühlte ich doch, daß er Recht hatte, und habe es ihm in meinem Innern später viele tausendmal gedankt, daß er es nicht scheute, mir weh zu thun und mich zu verletzen, um mich zur Besinnung zu bringen, und daß er genug Glauben an meine Vernunft und an meinen guten Willen hatte, um mir das »hilf Dir selbst, und Gott wird Dir helfen!« auch auf diesem Gebiete in das Gedächtniß zu rufen.

In allen solchen Fällen kam mir neben meiner Vernunft immer auch der Stolz zu Hülfe, der sich nicht beklagen und bemitleiden lassen mag, und auch in diesem Punkte begeht man bei der Erziehung der Frauen ein Unrecht, wenn man sie von Jugend auf in dem Wahne erzieht, daß sie nicht blos das schwächere, sondern überhaupt das schwache Geschlecht sind, daß sie weniger ertragen können, daß sie eher ihren Leiden nachgeben dürfen, [18] als der Mann. Schäme Dich! sagt man zum Knaben, wenn er sich über einen Schmerz beklagt, Du bist ja ein Junge! Dem Mädchen ruft man das selten zu. Man tröstet es, man beklagt es leichter, und macht so dem Geschlechte, das, seiner Naturbestimmtheit nach, vielfach zum Ertragen von Unbequemlichkeiten, von Leiden und Schmerzen gezwungen ist, statt es mit geistiger Kraft gegen dieselben auszurüsten, mit einer systematischen Verzärtelung die Weichlichkeit zu einer ihm zustehenden oder gar angebornen und also berechtigten Eigenschaft. Man kajolirt die Empfindlichkeit der Mädchen und wundert sich nachher über das nervenschwache und hysterische Geschlecht. Aber auch die Aerzte sind zum Theile mit daran Schuld; denn in den tausend und aber tausend Fällen, in welchen sie nicht mit ihren Medikamenten und Säften helfen können, sondern erziehend und berathend helfen müßten, fehlt ihnen das, was kein Professor lehren und kein Staatsexamen ergründen und bescheinigen kann: der Muth der Ehrlichkeit und der feste, männliche Charakter. Es steckt in gar vielen Aerzten noch ein gutes Stück der Priesterkaste, aus der sie hervorgegangen sind. Das Geheimthun ist ihnen lieber als die Wahrheit, ihr Nimbus ihnen mehr werth als das Wohl des Kranken. Und die einzige Eigenschaft, welche sie aus ihrer Priesterkaste hinübernehmen müßten, die Eigenschaft treue und verständnißvolle Seelsorger zu sein, geht den Einen ab, und wird Denen, die sie vielleicht besitzen, durch die falsche Zurückhaltung der Kranken auszuüben unmöglich gemacht – eben wie es unserm Arzte in meinem Falle geschah.

[19] Ich trug denn nun, nach des Doktors Ermahnung, mein Herzklopfen und meine Beklemmung mit wachsender Geduld, und schrieb daneben an meinem Romane mit einem Eifer fort, daß ich das Bändchen im Verlaufe eines Monats zusammen hatte. Und nun bewiesen sich mir die gründliche Schulbildung und die juristische Distinktionskraft meines Bruders, dem ich meine Arbeit zur Durchsicht übergab, von großem Nutzen. Streng und gewissenhaft, wie er ein Aktenstück untersucht haben würde, prüfte er jeden Satz, machte er mich auf jede Unklarheit im Ausdruck, auf jede Unregelmäßigkeit im Satzbau aufmerksam. Das war mir nicht immer angenehm. Es kam mir oftmals vor, als zerre er an meinen eigenen Gliedern, wenn er mir die Sätze, in denen ich meine erhabensten Gedanken und meine allerfeinsten Empfindungen niedergelegt zu haben glaubte, so auseinandernahm und logisch analysirte. Ich mußte dabei unwillkürlich an Hoffmann's automatische Figur denken, welcher, dem Liebenden gegenüber, die schönen Augen aus dem Kopfe genommen werden; aber zweckmäßig war diese Schulung Nichts destoweniger. Wenn ich bei allem Sachlichen, sofern ich selbst es nicht auf das Genaueste in seinen Einzelnheiten kannte, darauf hingewiesen wurde, mir bei Fachleuten auch über das anscheinend Geringfügigste genaue Auskunft zu holen, so gehörte das eben auch zu jenem »Arbeiten mit dem Schurzfell«, ohne welches man in keiner Kunst und in keiner Wissenschaft über das Dilettantische hinaus zu etwas Ordentlichem kommen kann, und welches doch grade manche [20] Schriftsteller und vor allem so viele Schriftstellerinnen als etwas Unwesentliches zu betrachten lieben.

Der Glaube, daß man durch Inspiration etwa auch die Regeln der deutschen Grammatik und Einsicht in die Technik der verschiedenen Gewerbthätigkeiten empfange, daß man durch seine idealen Empfindungen den deutschen Satzbau und die Culturzustände der Vergangenheit oder die Sitten und Gebräuche der vornehmen Welt und des Auslandes kennen lerne, hat mir später oft recht viel zu schaffen gemacht, wenn meine jungen Colleginnen mir die meistens etwas unbequeme Ehre erzeigten, mein Urtheil über ihre Leistungen, d.h. meine Bewunderung für dieselben zu verlangen. Sagte ich einer Dame: »Sie haben gewiß Talent, aber Sie müssen Grammatik lernen, denn Sie brauchen die Conjunktive und selbst die Präpositionen falsch!« so sprach die junge Muse mir natürlich alles tiefe Gefühl und alle »poetische« Empfindung ab. Stellte ich einer Andern vor, daß eine vergossene Tasse Kaffee nicht in »Kaskaden vom Tische herunterrieseln« könne, so sah ich es ihr an, für wie pedantisch sie mich hielt. Bedeutete ich einer Dritten, daß man so und so viel Fuß weit nicht springen, daß man unter diesen und jenen Verhältnissen also ganz unmöglich eine Flucht bewerkstelligen könne, so erhielt ich die zurechtweisende Belehrung, daß der Dichter sich so viel Freiheit wohl nehmen dürfe, und daß dies eben die poetische Licenz sei. Fragte ich eine Vierte, was sie sich denn bei dem und jenem Satze eigentlich gedacht habe? so blickte sie mich verwundert an, und begriff nicht, daß ich mir bei jedem Satze »Etwas denken wolle«, und daß ich nicht im Stande war, aus[21] dem konfusen Gewirr ihrer Worte, ihre hinduselnden Empfindungen nachzufühlen. Kurz, wo ich lehren sollte, wurde ich in der Regel indirekt darüber belehrt, daß es mir an Einsicht in das Wesen der Dichtkunst gebreche, welches auf Inspiration beruhe, und daß mir das Verständniß für jene Art der Poesie abgehe, welche dem weiblichen Gemüthe angeboren sei, und es so unwiderstehlich zum Dichten antreibe, daß man, auch ohne etwas Rechtes gelernt zu haben, ihrem Drange unbedenklich folgen müsse.

Es war dann ganz umsonst, wenn ich ihnen auseinandersetzte, wie ich gegen ihr Dichten gar Nichts einzuwenden hätte, sofern sie es, wie das Beten, in ihrem stillen Kämmerlein betreiben wollten, und mich nur dagegen wehrte, daß sie, um ihren Namen auf einem Titelblatte prunken zu sehen, Thorheiten drucken ließen, gegen welche sich der Spott der Männer mit Fug und Recht erheben müsse. Vergebens machte ich sie darauf aufmerksam, daß der Dichter sich neben dem idealen Verhältniß zu seinen Lesern auch in einem ganz realen Verhältniß zu ihnen und zu seinem Buchhändler befinde, und daß der Schriftsteller, welcher hingeschluderte Arbeiten, Arbeiten, an die er nicht sein ganzes Können und Vermögen und seinen gewissenhaft ehrlichen Fleiß gewendet habe, um Nichts besser, ja in meinen Augen schlimmer sei, als der Krämer oder der Bäcker, der für gutes Geld schlechte Waare verkaufe. Ich wurde dann gewöhnlich mit einem vornehmen oder mitleidigen Lächeln abgelohnt, und sie verließen mich, zu meiner großen Erleichterung, mit der sie beglückenden Ueberzeugung, daß sie mich überschätzt [22] und viel zu gut von mir gedacht hätten, da ich nach meinen eigenen Geständnissen jener Art von Inspiration entbehrte, welche von der Arbeit und Solidität des künstlerischen Studiums befreit.

Keinem Maler, keinem Bildhauer, keinem Schauspieler, keinem Architekten oder Musiker fällt es ein, daß er seine Kunst vor dem Publikum ausüben könne, ohne ihre Regeln, ihre Technik, ihre Gesetze studirt, ohne sie durch eine gewisse Praxis erlernt zu haben; nur mit der Dichtkunst, mit dem Schreiben für die Oeffentlichkeit solle es nach der Meinung vieler Frauen und auch vieler Männer anders sein, und wird es anders gehalten. Nun: es geht dann auch eben wie es kann, und sie sind »Narren auf ihre eigne Hand!«

Da mir nun beim Beginne meiner schriftstellerischen Thätigkeit ernster und guter Rath zur Seite stand, und mir auch alles Unfehlbarkeitsbewußtsein, aller Glaube an die zwingende Inspiration abging, denn ich hatte meiner Lust zum Dichten stets mißtraut, und mir nie ein Dichtertalent zugestanden, ehe man es mir zuerkannte, so sah allerdings mein schönes Clementinen-Manuscript trübselig genug aus, als ich es mit meinem Bruder durchgenommen hatte; und wollte ich meinem Vetter Lewald das Lesen desselben nicht beschwerlich machen, so blieb mir Nichts übrig, als es von Anfang bis zu Ende noch einmal abzuschreiben, und in dieser Reinschrift legte ich es denn auch meinem Vater vor, der es mit sich in die Stadt nahm, um es »Abends im Bette« zu lesen.

Ich war sehr gespannt und eigentlich besorgt, meines Vaters Urtheil zu vernehmen, und da er sich nicht zu [23] übereilen pflegte, mußte ich es erwarten, bis ich etwa acht Tage später einmal in die Stadt kam, und in das Comptoir ging, um dem Vater einen Auftrag von der Mutter auszurichten. Er war beschäftigt, hatte einen Starosten und ein paar polnische Juden bei sich, hörte also meine Commission nur eben an, und versprach, am Abende, wenn es nicht zu spät werde, hinauszukommen. Als ich mich danach entfernen wollte, rief er mich mit einem: »Hör' einmal, Fanny!« zurück, und sagte mir leise: »wenn Du Deine Schreiberei mitnehmen willst, so liegt die oben in meinem Sekretair. Es liest sich ganz gut, es ist ganz hübsch!«

Wer war glücklicher als ich. Ich hatte allerdings auf mehr Lob gerechnet, dagegen aber Einwendungen gegen die Tendenz meiner Arbeit, Ausstellung gegen einzelne darin geäußerte Ansichten, selbst gegen Wendungen im Ausdruck erwartet; indeß um den Preis, dieser Letztern ledig zu sein, leistete ich auf das Erstere gern Verzicht. Ich muß es dabei meinem Vater dankend und anerkennend nachrühmen, daß er mir das Wort, welches er mir bei dem Beginn meiner literarischen Laufbahn gegeben, fest und treu gehalten, und mir für all mein Schaffen und Thun völlig freie Hand gelassen hat, selbst als seine Ansichten und die meinen sich später nicht überall im Einklang befanden. Von dem Augenblicke an, da er mir das Recht zusprach, meinen Beruf selbstständig zu erfüllen und meinen Weg zu gehen, hat er mir volle Freiheit für denselben gelassen, und mich neben sich als eine Kraft, als gleichberechtigte Persönlichkeit anerkannt, die er zu schätzen und zu respektiren hatte, wenn sie auch sein Kind [24] war. Das war aber bei einem Manne, von meines Vaters Charakter und Weise, das Höchste, was er seinem Kinde gewähren konnte. Ich habe ihm das nie vergessen; und eine gleiche Achtung vor meiner persönlichen Freiheit hat mir zu meinem Glücke später auch der freie und große Sinn meines Gatten zugestanden, so daß mir in beiden Fällen das Gehorchen und Fügen, wo es durch die Einsicht geboten war, zu einer leichten Aufgabe und Liebespflicht geworden ist.

[25]
2. Kapitel
Zweites Kapitel

Das Jahr vierzig und das Jahr einundvierzig, dessen Herbst inzwischen herangekommen war, hatten in Königsberg ein ganz neues Leben hervorgebracht. Gleich dem Goethe'schen Zauberlehrling hatte Friedrich Wilhelm der Vierte mit seiner Huldigungsrede Kräfte zur Thätigkeit aufgerufen, die, lange vorhanden, nur des Augenblicks gewartet hatten, sich zu bethätigen, die der König nicht zu bannen vermochte, die ihm über den Kopf wuchsen, und sich gegen ihn zu wenden begannen, als er es versuchte, sie auf's Neue in Fesseln zu schlagen und zu unterdrücken.

Der Gemeingeist unserer Vaterstadt und der ganzen Provinz war immer ein freisinniger und kräftiger gewesen, und der Einfluß und die Richtung ihres Ober-Präsidenten, des Herrn von Schön, hatte in den letzten Dezennien diesen Sinn genährt. Rechnet man die Verirrungen der Ebelianer ab, so war man in weltlichen wie in geistigen Dingen sehr rationell. Vom deutschen Bunde ausgeschlossen, die russische Despotie zur Nachbarin, hielt man um so fester an dem specifischen Preußenthume und an dem Königshause fest, und grade weil nach der allgemeinen Ansicht der König selbst das Signal [26] zur freien Aussprache der Meinungen, zum Heraustreten in die Oeffentlichkeit gegeben hatte, konnte und wollte man sich lange nicht davon überzeugen, daß es damit wieder ein Ende haben solle. Ruhige und consequente Menschen haben der Inconsequenz gegenüber einen schweren Stand, weil sie den Gedankensprüngen und Einfällen derselben nicht zu folgen und nicht an dieselben zu glauben vermögen.

Einer der consequentesten Köpfe unserer Zeit, ein scharfer Denker, ein durchaus ernsthafter, damals aber noch junger Mann, war es denn auch, der es in Königsberg über sich genommen hatte, die allgemeine Meinung zum Ausdruck zu bringen, die allmählig heranzubilden und zu erzeugen er seit einer Reihe von Jahren mitgewirkt. Doktor Johann Jacoby war fünfunddreißig Jahre alt, als er die »Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen« publicirte, und sich dadurch zum Mittelpunkte aller Derjenigen machte, welche sich der Bevormundung entwachsen, und reif genug fühlten, selbst berathend und bestimmend an der Verwaltung und Leitung ihrer bürgerlichen und vaterländischen Angelegenheiten Theil zu nehmen.

Schon früher war er als Publicist aufgetreten, aber seine literarische Thätigkeit war nie eine fortgesetzte gewesen. Sie war ihm nicht Sache des Erwerbes, denn er war Arzt und hatte für seine Praxis seine Zeit nöthig; sie war ihm auch nicht eigentlich Sache des Genusses, denn er hatte nie, wie man es nennt, zu seinem Vergnügen geschrieben und er produzirte schwer. Nur wo es einen Mangel aufzudecken, ein Unrecht abzuwehren, [27] einen Irrthum aufzuklären galt, war er mit kurzen polemischen Broschüren, deren knappe Zusammengefaßtheit, deren klarer Ernst an Lessing erinnerten, für Recht und Wahrheit eingetreten, und hatte, wie am Krankenbette dem Einzelnen, bei den allgemeinen Uebelständen der Gesammtheit seines Volkes und Landes helfend zu dienen gestrebt.

Seine Angriffe gegen die Unentbehrlichkeit der medizinisch-chirurgischen Pepinière zu Berlin, seine an den damaligen Ober-Regierungsrath Streckfuß gerichtete Streitschrift für die Emancipation der Juden, seine Anmahnungen die studirende Jugend auf den Schulen nicht durch todten Schulzwang und durch Vernachlässigung der körperlichen Ausbildung zu ruiniren, hatten die Art seiner Kritik und seiner Polemik dargethan, aber auf dem eigentlich politischen Felde hatte er sich noch nicht bethätigt, und die ruhige und würdevolle Einfachheit, mit welcher er in seinen »Vier Fragen« es der preußischen Ständeversammlung auseinandersetzte, daß es jetzt für sie an der Zeit sei, die im Jahre fünfzehn verheißene Verfassung und Volksvertretung, welche sie »bisher als Gunst erbeten, nunmehr als erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen,« gewann ihm die größte Achtung und Verehrung in der Stadt, in der Provinz, im Vaterlande, und weit über dessen Grenzen hinaus.

Ohne wesentlich aus seinen gewohnten Lebensverhältnissen, aus seiner Zurückgezogenheit herauszutreten, war er bald die leitende Seele dessen, was in Königsberg geschah, und wie sich aus dem abgeschlossenen Maschinensaale einer großen Fabrik die Bewegung bis in die entferntesten [28] Theile derselben verbreitet, und Verrichtungen leistet, welche man kaum noch mit der Maschine und ihrer Triebkraft in Verbindung glaubt, so regte der Geist Johann Jacoby's nach allen Seiten und auf allen Gebieten den Trieb zum Fortschritt und den Drang zur Arbeit an demselben an.

Er stand aber mit diesen Bestrebungen glücklicher Weise nicht allein da. Es hatte sich in jener Zeit in Königsberg ein Kreis von Männern zusammen gefunden, die mehr oder weniger jung, Alle noch unabgebraucht waren, und jenen Idealismus besaßen, der wirksam ist, auch wenn er von der Verhältnisse Ungunst gehemmt, hinter seinem Ziele zurückbleiben muß. Ludwig Crelinger, der Oberlehrer Witt, Professor Carl Rosenkranz, Doktor Rupp, der Prediger Detroit, Ludwig Walesrode, Professor Ludwig Moser, Doctor Reinhold Jachmann, Doktor Kosch, der Polizei-Präsident Abegg, der Kaufmann und Vorsteher der Stadtverordneten-Versammlung, Herr Heinrich, bildeten, ohne einen regelmäßigen Vereinigungspunkt zu haben, damals noch eine feste Gemeinschaft, einig in ihren Meinungen, einig in ihren Zwecken und einig auch über die Mittel zu einer friedlichen Agitation. Da diese Männer verschiedenen Berufskreisen und zum Theile auch verschiedenen Gesellschaftskreisen angehörten, trugen sie bewußt oder unwillkürlich ihre Ansichten in die Familien über, und es gab bald kaum noch ein Haus, von der Wohnung, welche der Minister von Schön im königlichen Schlosse bewohnte, bis hinab in die Werkstatt des Handwerkers, in welcher man nicht mit Achtsamkeit den öffentlichen Ereignissen und den [29] Maßregeln der Regierung gefolgt wäre, in welcher man nicht entschlossen gewesen wäre, nicht länger müßig zuzusehen und abzuwarten, sondern sich so weit zu unterrichten und zu bilden, als nöthig sei, um das, was man bisher als eine Gunst erbeten, als ein Recht fordern zu können.

Es sind immer einzelne Personen und bestimmte Stichworte, welche die Träger und die Symbole für die geistigen Bestrebungen bilden. Solche Stichworte waren im Jahre vierzig und in den ihm folgenden Jahren bei uns in Königsberg die Schlußworte der vier Fragen, und als ihr Gegensatz die Phrase, mit welcher der Minister, Herr von Rochow, die Elbinger Bürger an ihren »geringen Unterthanenverstand« gemahnt hatte, als sie sich mit einer Petition an die Regierung gewendet hatten. Wie im Jahre achtundvierzig kleine Burschen in den Straßen von Paris Barrikaden spielten und mit energischem Tone das Girondisten-Lied sangen, so konnte man bei uns in Königsberg, wie schon erwähnt, im Jahre einundvierzig achtjährige Buben bei ihren Zänkereien auf den »beschränkten Unterthanenverstand« ihrer Kameraden schimpfen und sie betheuern hören, daß sie »keine Gunst erbitten wollten, wo sie ihr Recht zu fordern hätten.« So aber müssen die Schlagwörter einer Partei und einer Zeit in das Volk übergehen und zu feststehenden Redensarten werden, wenn die Begriffe, welche jene Worte in sich tragen, ein Gemeingut und ein Hebel für die Thatkraft werden sollen. Die auf Papier verhandelte Theorie, die in Büchern niedergelegten Gedanken thun's lange nicht allein, das lebendige Wort, der sinnliche Eindruck [30] sind das eigentlich Fortzeugende, und eine Sache, die noch kein Symbol, kein Schlagwort, keinen in der Masse des Volkes, bei Alt und Jung, bei Groß und Klein bekannten Führer für sich gewonnen hat, eine solche Sache hat noch nicht die rechte Kraft in der Gegenwart und noch wenig Aussicht für die Zukunft. Es ist immer ein Glück für eine Partei, wenn sie erst einen Namen an ihrer Spitze hat, der Begeisterung in den Massen hervorruft, wenn dieser Verein ein Zeichen, ein Symbol, ein Schlag-und Stichwort hat, das im Herzen und im Munde des Volkes lebt; denn: »am Zeichen hält der Geist die Welt!« und was des Zeichens entbehrt, das existirt für den Moment nur in abstrakto, und ist für die Masse noch gar nicht vorhanden.

Bei uns in Königsberg kannte und schätzte das Volk seine Führer. Jeder kannte den Doktor Jacoby, den mittelgroßen etwas gebückt gehenden Mann, mit seinem schon früh kahl gewordenen Kopf, mit der gebognen, weit vorspringenden Nase, mit den starken Lippen, und den großen, leuchtenden, hellblauen Augen, die förmlich Flammen sprühen konnten, wenn er mit Nachdruck sprach, und die so mild aussahen, wenn er am Krankenbette saß oder mit freier, heitrer Freundlichkeit sich in der Gesellschaft bewegte. Jeder kannte den schönen Polizeipräsidenten Abegg mit seinem blond gelockten Haar und jenem feinen und doch kräftigen Antlitz, in welchem Wohlwollen und Menschlichkeit aus jeder Miene sprachen. Der große, schlanke Doktor Rupp, blaß, mit schwarzem Lockenhaar und dunkeln, ernsten Augen; Doktor Witt, krausköpfig, untersetzt, mit frischen, rothen Wangen, fröhlich, [31] rührig und straff in seinen Bewegungen wie ein Student; der kleine, schnelle, stets satyrisch lächelnde Professor Moser; der maßvolle und in Gegenwart von Fremden doppelt vornehme Rath Crelinger, sie waren Figuren, die sich nur zu zeigen brauchten, um Theilnahme zu erregen, und es währte auch nicht lange, so hatten sich unter der Aegide dieser Männer die ersten politischen Bürgerversammlungen gebildet, so war die »Bürgerressource« zu einem Orte geworden, in welchem die Angelegenheiten des Landes in Vorträgen erörtert und besprochen würden.

Nebenher hatte Ludwig Walesrode, der ohne einen amtlichen Beruf, als Literat in Königsberg lebte, im Winter eine Reihe von Vorlesungen vor Männern und Frauen gehalten, welche, anscheinend nur auf die Unterhaltung des Publikums angelegt, eine Menge von Sarkasmen, wie gut gezielte Schüsse gegen die obwaltenden Uebelstände und deren Vertreter und Aufrechterhalter gerichtet hatten; und wo alle diese verschiedenen Strahlen des neuen Lichtes nicht eindringen konnten, da hatten die Halle'schen Jahrbücher, welche bei uns in Königsberg berg seit ihrem ersten Erscheinen, von Männern und Frauen, mit großer Theilnahme aufgenommen und von manchen mit wahrer Erhebung gelesen wurden, Klarheit und Tag geschaffen.

Die Bedeutung dieser Zeitschrift, das Verdienst der Männer, welche sich an ihr betheiligten, ist nicht hoch genug anzuschlagen. Man muß zurückdenken an die Zeit, in welcher sie erschienen, an die Epoche, welche dieser Zeit vorausgegangen ist, man muß Diejenigen fragen, [32] Männer sowohl als Frauen, welche sich damals in dem Alter von achtzehn bis dreißig Jahren befunden haben, um der Wirkung gerecht zu werden, welche die Jahrbücher geübt. Ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß die ganze tüchtige Jugend jener Zeit sich an den Jahrbüchern zum Denken gewöhnt, sich daran geschult, sich an ihnen erzogen hat; und ich spreche das nicht nach meinem eigenen Gefühle aus, sondern ich berichte damit, was Männer und Frauen aus den verschiedensten deutschen Gauen mir viele Jahre später von sich selber berichtet haben.

Jung, schlagfertig, immer zum Angriff und zur Abwehr bereit, standen die Halle'schen Jahrbücher beständig auf der Wacht. Jedem Vorgange im politischen Leben, jeder irgend bedeutenden Erscheinung auf dem Felde der Literatur folgte ihr scharfes Auge, folgte ihre schärfere Kritik, folgte der Axtschlag ihrer unerbittlichen und rücksichtslosen Wehrhaftigkeit. Sie bildeten keine Clique, sie waren eine Gewalt, welche kein Unterhandeln kannte. Sie befaßten sich nicht mit beschönigenden Redensarten, sie nannten die Dinge bei ihrem rechten Namen. Ohne Gottesfurcht und ohne Menschenfurcht hatten sie es gar kein Hehl, daß sie nicht in die Welt gekommen waren, um den Frieden zu bringen. Sie brachten den Krieg in ihrer Kritik der reinen Vernunft, und sie schrieben dabei ein so gutes ehrliches Deutsch, daß man seine ehrliche Freude daran haben konnte. Ihre Leser durch zerstreuende Unterhaltung zu amüsiren, fiel ihnen gar nicht ein. Sie hielten sich zu gut dazu und dachten auch von ihren Lesern zu gut, um nicht auf etwas Besseres für sie auszugehen, als auf das bloße elende Amüsement.[33] Sie befaßten sich mit Neuigkeiten, mit Erzählungen, mit Novellen und Romanen nur, insofern diese Dinge anderwärts vorhanden waren, und sie es für Pflicht erachteten, es den Leuten klar zu machen, was gut oder böse daran sei. Sie hatten mit der Romantik keinen andern Zusammenhang, als den des Kampfes auf Tod und Leben, den sie gegen den verwirrenden Reiz derselben führten; und Bilder in ihr gutes Journal eindrucken zu lassen – heute ein Bild von Goethe, morgen eines vom ersten Mandarinen des himmlischen Reiches zu bringen, heute die Juno Ludovisi und morgen die Crinoline der Kaiserin Eugenie abzubilden, das fiel ihnen in ihrem ernsten Glauben an ihr Volk und an dessen ernstes Interesse und sittlichen Gehalt, vollends gar nicht ein. Man muß aber ein Publikum auch gründlich verachten, um es für Nichts empfänglich zu glauben, als für das Amüsement durch den größtmöglichen Wechsel und die größtmögliche Oberflächigkeit; und wer die illustrirten Amüsements-Journale und die Familien-Journale in England oder Frankreich zuerst erfand, der war sicherlich kein Menschenfreund und dachte nicht groß von der Zukunft der Menschheit und von der Aufgabe der Literatur.

Fest und ernst, selbst wo sie spotteten, gingen die Jahrbücher auf ihren Gegenstand und auf ihr Ziel los. Man erwartete jedes Heft mit Ungeduld, weil man sicher war, Aufklärung über Fragen und Gedanken zu erhalten, mit welchen man sich trug, und man legte das Journal nicht aus der Hand, ohne sich wesentlich unterrichtet, ohne sich in seinen Anschauungen erhoben und einen neuen Blick auf Bereiche des Denkens gewonnen [34] zu haben, der früher noch nicht eröffnet gewesen war. Wie ein Corps von Pionnieren gingen die Mitarbeiter der Jahrbücher der großen Schaar ihrer strebsamen Zeit- und Altersgenossen voran, das Gestrüpp des Vorurtheils niederhauend, Pfade bahnend für den Gedanken, Brücken schlagend aus der Vergangenheit in die Zukunft, und aufräumend und abbrechend zur Rechten und zur Linken, was dem freien Fortschritt irgendwo im Wege stand. Aber bei dieser zerstörenden Tendenz waren die Jahrbücher ein Werk, für das man sich, was der bloßen zerstörenden Kritik gegenüber sonst nicht möglich ist, aus vollem Herzen begeistern konnte, weil man den Geist der Humanität und des Idealismus, aus welchem die Kritik hervorging, immerdar durchfühlen und empfinden konnte. Sie zerstörten nur, um Raum für Neues und Besseres zu schaffen, und es lag in ihrer Art der Dialektik ein Etwas, das mich zum Beispiel fortwährend zum Dichten und Gestalten anreizte, und mich antrieb, mich heimlich und ungekannt ihrem Paniere anzuschließen, und so weit es in meiner Fähigkeit und in meiner Macht lag, mit ihnen gemeinsam für die Wahrheit und Freiheit auf allen Gebieten des menschlichen Daseins zu arbeiten und zu wirken. War es mir nicht vergönnt, wie die Männer in meiner Nähe und wie die Mitarbeiter der Jahrbücher, im offenen und entscheidenden Kampfe mitzufechten, so wollte ich ihnen wenigstens unter der Schutzwehr der Dichtung, so gut ich es vermochte, die Kugeln zutragen helfen. Von meinem ersten kleinen Roman an, bis hin zu diesen gegenwärtigen Geständnissen über mich selbst, habe ich es als meine höchste Aufgabe betrachtet, in meinen [35] Arbeiten dichtend den Zwecken und Ueberzeugungen zu dienen, welche mir Ideal und Religion sind, seit ich zu denken gelernt habe. Das heißt der Tendenz, so weit sie Sache des menschlichen Interesses und nicht der abstrakten Parteinahme ist. Denn nur die Erstere ist wesentlich die Aufgabe des Dichters; und ich bin mir bewußt, in meinen Arbeiten, eben so wie ich meine Ueberzeugung vertrat, auch die mir entgegenstehenden Ansichten und Ueberzeugungen, so weit ich sie nachzudenken vermochte, mit der Anerkennung ausgestattet zu haben, welche die poetische Unparteilichkeit dem Dichter zur Gewissenssache macht.

Es hat mir daher auch keinen Kummer verursacht, wenn man mir damit einen Vorwurf zu machen geglaubt, daß meine Absichten und Ueberzeugungen in meinen Dichtungen deutlich durchzufühlen seien. Denn abgesehen davon, daß es mir für einen Men schen von ernsten Ueberzeugungen unmöglich scheint, diese nicht auch in seinen schöpferischen Arbeiten als seine sittliche Grundlage zu vertreten, habe ich oftmals erfahren, wie ich hier Klarheit und dort Duldung in manche Seele getragen, der Beide auf dem Wege der eigenen Erfahrung oder der kalten Doktrin nicht zugänglich gewesen wären, und hätte ich den Glauben nicht gehabt, mit der offenen Darlegung meines innersten Erfahrens und Erleidens denselben sittlich-poetischen Zwecken zu dienen, denen mein Leben nun seit zwanzig Jahren gewidmet gewesen ist, so würde ganz gewiß kein Blatt dieses Werkes in die Oeffentlichkeit gekommen, und wahrscheinlich keine Zeile desselben geschrieben worden sein.

[36]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Ein altes französisches Sprichwort sagt: die Tage folgen einander, ohne sich zu gleichen! Neben der begeisterten Erregung, in welche mein erstes Schaffen und Arbeiten mich versetzte, fanden sich denn auch grade wieder Sorgen und Kummer genug ein, um mich fortwährend an die Bedingungen des äußern Lebens und an die Familie zu erinnern. Ein Theil dieser Sorgen kam uns durch meinen jüngsten Bruder.

Während der Zeit, welche er sich seines Examens halber in Wilna aufzuhalten genöthigt wurde, hatte er sich überzeugen müssen, daß dort und in den andern größern Städten Polens kein Mangel an Aerzten vorhanden und daß man keineswegs geneigt sei, ausländischen Aerzten die Niederlassung in denselben zu erleichtern. Wollte Moritz also nicht die Zeit daran wenden, welche mitten in einer starken Konkurrenz zur Gewinnung einer ihn ausreichend ernährenden Praxis nöthig gewesen wäre, und wollte er während dieser Zeit nicht dem Vater mit seinen Bedürfnissen zur Last fallen, so blieb ihm Nichts übrig, als sich in einem kleinen Orte festzusetzen, wozu er sich denn auch, freilich mit innerem, wenn auch verborgenem Widerstreben, entschließen mußte, da mein Vater [37] ihm die Erlaubniß versagte, als Arzt zur russischen Armee zu gehen, wozu der Bruder Neigung hatte.

Nach vielem Hin und Her, nach langem Berathen und Erwägen ging er nach Brest, einer Stadt von etwa zehntausend Einwohnern in russisch Lithauen ab, und war nun in einer Weise auf sich selber angewiesen, welche für ihn die allerungeeignetste war. Ohne alle geistige Anregung, ohne eine ausreichende Beschäftigung, sah er den ersten Winter herankommen. Eine kluge polnische Jüdin, in deren Haus er wohnte, und ein alter katholischer Geistlicher, den er behandelt hatte, machten den einzigen ihm zusagenden Umgang aus, und welch ein Umgang war das für ihn! »Die geistige Einöde, in der ich lebe,« schrieb er mir im November vierzig, »ist wirklich tödtend, und ich warte mit Ungeduld auf meine Bücher, die noch immer nicht angelangt sind. Der Winter wird langweilig werden, wenn ich nicht viel zu thun bekommen sollte. Ich nehme in den Gesellschaften mit Consequenz keine Karte in die Hand, und doch ist das hier die einzige Abendunterhaltung. Selbst Damen, wenn sie nicht Whist spielen, legen doch mindestens Patience; es ist mitunter sachte zum Verzagen. Du meinst, ich könnte wohl, durch die Noth getrieben, Lust für das Theoretische in der Medicin bekommen; darin irrst Du insofern, als ich die immer gehabt habe; sorge Dich nur nicht um mich, so bald werde ich kein bloßer Routinier, und vielleicht sichert mich grade mein Alleinstehen am Ersten davor!«

Zu seinem Glücke fand sich indeß sehr schnell eine Praxis für ihn, und das Ungeregelte des polnischen[38] Lebens, ich möchte sagen, das Ueberkultivirte und das Unkultivirte in demselben, das Phantastische und Zügellose begannen ihn zu reizen und zu unterhalten. Eine verlarvte vornehme Dame zu entbinden, deren Kind ihm anvertraut wurde, die Conflikte mit durchzuleben, welche in manchen Fällen aus der Leibeigenschaft hervorgingen, die Sitten der polnischen Juden, des polnischen Adels, der Geistlichkeit zu beobachten, das waren Ereignisse und Gegenstände, die ihn in Anspruch nahmen, und gab es dazwischen einmal Nachtreisen durch weite einsame Schneefelder in der offenen Kibitka, Jagden und ähnlich anspannende und aufregende Vorgänge, so war er munter, freute sich seiner gelungenen Kuren, hatte noch mehr Befriedigung an dem menschlichen Vertrauen, das ihm von Seiten der Armen und Gedrückten entgegengebracht wurde, und bald hoffte er, sich für ein paar Jahre in Brest erträglich einleben, und Dank seiner sich bedeutend ausbreitenden Praxis so viel erübrigen zu können, um sein Fortkommen dann aus eigenen Mitteln auf neuen Bahnen zu suchen.

Indeß schon im ersten Winter überfiel ihn ein Nervenfieber, das ihn eine geraume Zeit gefesselt hielt. Er hatte im ersten Beginne desselben empfunden, daß er schwer erkranke, und noch die Kraft gehabt, seine Papiere und Briefschaften zu verbrennen, und einen kleinen Brief an die Eltern zu schreiben, in welchem er, eine Reise vorschützend, sie über ein mögliches Ausbleiben von Briefen im Voraus zu beruhigen versuchte. Dann hatte er sich hingelegt, und war lange ohne Bewußtsein der treuen [39] aufopfernden Pflege jener polnischen Jüdin und des alten Geistlichen anheim gefallen.

Als dann durch ihn selber die Kunde von seiner Krankheit mit der Kunde von seiner Genesung zu uns gelangte, war die Wirkung, welche sie auf meinen Vater machte, eine auffallend tiefe gewesen. Er hatte eine lebhafte Sehnsucht nach dem Sohne bekommen, und diese hatte sich bei dem sonst so gefaßten Manne zu einem Grade gesteigert, daß er sich einmal ganz plötzlich entschloß, ihn zu besuchen, und zu sehen, wie es ihm ergehe, wie er lebe, und was in Brest etwa für seine Zukunft zu erwarten sei.

Mein Bruder war im höchsten Grade von dem Wiedersehen erfreut, aber der Vater kehrte ohne sonderliche Hoffnungen zurück. Er konnte es, seiner eigenen Theorie entgegen, nicht über sich gewinnen, es sich und den Andern einzugestehen, daß man für Moritz etwas durchaus Unzweckmäßiges beschlossen, und daß man, wenn das Vernünftige geschehen solle, ihn zurückrufen müsse, um ihn auf's Neue beginnen zu lassen, oder daß er vorwärts gehen und sich nach dem Kriegsschauplatz wenden müsse, um geistig und materiell einen wirklichen Vortheil von seiner Entfernung aus dem Vaterlande zu haben.

Dieser innere Zwiespalt lastete in ganz ungewohnter Weise auf dem Vater, und es machte uns stutzig und besorgt, daß er nicht die gewohnte Kraft in sich fand, sich aus demselben zu befreien. Er verlor seine heitre Sicherheit, wir glaubten auch zu bemerken, daß seine äußere Frische nicht ganz dieselbe blieb. Eine leichte Entzündung des einen Auges fing an ihn zu belästigen, bald [40] darauf bekam er plötzlich einen Ausschlag auf der Stirne. Sich, wie er besorgte, durch denselben entstellt zu sehen, war ihm sehr zuwider; und da er, der bisher nicht gewußt hatte, »was Kopfschmerz sei« und wo »der Mensch sein Herz oder seinen Magen habe«, sich nebenher von mancherlei kleinen Unbequemlichkeiten belästigt fühlte, so wurde er zu einer Entziehungs-Kur genöthigt, die ihn zwar von den gegenwärtigen Uebeln befreite, ihn aber dergestalt angriff, daß es uns Alle im höchsten Grade beunruhigte. Zwar erholte er sich im Aeußern wieder bis zu einem gewissen Grade, aber die Energie seiner Natur war plötzlich nicht mehr ganz die alte. Er war leichter gerührt als sonst, er hatte nicht mehr die völlige Gleichheit der Stimmungen, nicht mehr die ungemeine Selbstbeherrschung, welche ihm bis dahin eigen gewesen war. Man konnte es ihm jetzt anmerken, wenn er Sorgen hatte, man durfte ihn darum fragen, er trat gleichsam aus seiner Unantastbarkeit, aus seiner Unnahbarkeit näher an uns Kinder heran, aber es vermochte sich Niemand darüber zu freuen. Jeder von uns sagte sich: wenn er auch nur um eines Zolles Breite nachgiebt oder weicht, so ist er müde! – Und der Gedanke, daß auch er müde werden könne, schnitt uns in das Herz.

Einer um den Andern wendete sich heimlich an den Arzt; indeß dieser nannte unsere Besorgniß grundlos, und da man sich in alle Zustände hineinlebt, so gewöhnten auch wir uns daran, daß der Vater nicht mehr so unumschränkt gebot als früher, daß er sich nicht mehr so gleichmäßig geistesfrei zeigte, als bisher. Wir trösteten uns damit, daß das Erstere durch unser Aelterwerden [41] natürlich sei, daß die wachsende Gefahr für meine Mutter ihn bekümmre, und allerdings hatte der Zustand derselben sich in einer Weise verschlimmert, die uns ihren Verlust voraussehen ließ.

Sie hatte im Herbste von einundvierzig bereits anderthalb Jahre vor dem Thore gewohnt, und nun der Winter wieder vor der Thüre stand, machte sich das Bedürfniß ihrer Rückkehr in die Stadt für alle Theile fühlbar. Wir fürchteten für des Vaters Auge den täglichen Weg in jeder Witterung, bei jedem Winde; wir sorgten uns, wie es mit der Mutter werden solle, da in der kleinen vorstädtischen Wohnung die ausreichende Pflege bei fortschreitender Krankheit nicht zu finden war, und es wurde also festgestellt, daß sie ihren bisherigen Aufenthalt verlassen und in unserm Hause für sie die Einrichtungen in einer sie zufriedenstellenden Weise gemacht werden sollten.

Damit dies möglich war, mußte unser treuer Hausgenosse, Rath Crelinger, sich von uns trennen. Seine Einnahmen und seine ganzen Verhältnisse hatten sich so glänzend geändert, daß die Wohnung in unserm Hause, und ihre bescheidene Einrichtung, denselben schon lange nicht mehr entsprachen. Aber Gewohnheit und Neigung für uns hatten ihn bisher in unserer Nähe festgehalten, und es war mit lebhaftem Bedauern von beiden Seiten, daß man auf das Allen liebgewordene Beisammensein verzichtete.

Rath Crelinger nahm eine größere Wohnung nicht fern von uns, und die Zimmer im ersten Stock, welche er bei uns zur Miethe gehabt hatte, wurden für die Bedürfnisse [42] meiner Mutter eingerichtet, welche sie im Herbste mit einer meiner Schwestern bezog. Das hatte den Vortheil, daß die Mutter bei uns war, daß wir sie täglich und stündlich sehen konnten, und daß sie in dem besondern Stockwerk doch zugleich die Ruhe und Absonderung genoß, die ihr erwünscht und nöthig waren. Wir Schwestern, von denen jetzt schon viere den Haushalt besorgten, wechselten in dieser Arbeit ab, so daß Jede nur drei Monate im Jahre damit beschäftigt war, und unsere Mutter, welche in dem Herbste ihr Zimmer nicht mehr verließ, hatte also die andern Töchter nach ihrer Wahl bei sich zur Pflege und zur Gesellschaft.

Wie das immer bei ihr der Fall gewesen, war ihre Nervenreizbarkeit in den Hintergrund getreten, seit sie kränker geworden. Sie war meist sehr ruhig, die Mitte des Tages verging ihr leicht, nur des Morgens hustete sie viel, und Abends stellte sich mit dem Husten ein Fieber ein, das sie furchtbar quälte. Indeß grade in diesem Herbste und in der Zeit ihrer schwersten Leiden traten die liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Natur recht klar hervor. Sie gefiel sich in dem großen Wohnzimmer, das die Aussicht auf die Straße hatte, sie machte einige sehr behagliche Veränderungen darin, bewirthete uns mit allerlei Kleinigkeiten, die sie in ihrer Etage bereiten ließ und vorräthig hielt, und hatte, wie krank sie auch immer sein mochte, stets das Bestreben, dem Vater ihre Krankheit möglichst zu verbergen, und geschmackvoll und sauber gekleidet, und gut frisirt zu sein, wenn der Vater zu ihr kam. Ich glaube nicht, daß sie gegen ihn jemals irgend eine Besorgniß für ihr Leben oder eine Aeußerung über [43] ihren möglichen Tod gethan hat. Auch mit uns sprach sie äußerst selten und meist nur indirekt davon. Fühlte sie sich am Tage wohl, so machte sie Plane, im Sommer wieder ihr gewohntes Quartier vor dem Thore zu beziehen, und konnte sich darüber beunruhigen, daß der Contrakt darüber noch nicht gemacht worden sei. Abends jedoch, wenn die Fieberstunden kamen, geschah es wohl, daß sie im Hinblick auf unsere Sorge einmal sagte: »Wartet nur! im Sommer wird Alles besser sein!« oder: »Habt nur Geduld, achtzehnhundert zweiundvierzig wird gewiß leichter sein, als dieses letzte Jahr!« – Es war besonders ein heftiges Brennen der Hände, das sie in den Fieberanfällen belästigte, und man konnte sie dann erleichtern, oder ihr wenigstens ihre Pein erträglicher machen, wenn man ihr die Hände hielt. Einmal hatte unser Freund Crelinger, der um die Dämmerstunde immer noch zu uns zu kommen pflegte, ihr diesen Dienst geleistet. Sie hatte dabei die Bemerkung gemacht, daß dessen kühle Hände, und die Art, wie er die ihren gefaßt, ihr ganz besonders angenehm gewesen wären; und es hatte nur dieser Aeußerung bedurft, um den mit Arbeit überbürdeten, von Geschäften umdrängten Mann fast allabendlich um die Fieberstunden meiner Mutter zu uns zu führen. Er saß dann Stunden lang an ihrer Seite auf dem Sopha, hielt ihre heißen Hände in den seinen, erzählte ihr Dinge, von denen er wußte, daß sie sie unterhielten, sprach mit ihr von den einzigen Gegenständen, welche ein wirkliches Interesse für sie hatten, von ihrem Manne und von ihren Kindern, und verließ sie und uns in der Regel erst, wenn der Vater nach beendigten Geschäften [44] heraufkam, und der Mutter damit Alles gegeben war, was sie zu ihrem Troste bedurfte. Wir haben von diesem Freunde und von allen nähern Freunden unserer Familie viel Liebe und Treue erfahren, und es ist mir ein Glück, ihnen dieses aus der Ferne und zum Theil über ihr Grab hinaus dankend nachrühmen zu können.

Der Bestand unserer Häuslichkeit hatte sich inzwischen allmählig verringert. Moritz war schon über zwei Jahre in Rußland, mein anderer Bruder ging zu seinem juristischen Staatsexamen nach Berlin, Crelinger wohnte nicht mehr bei uns, die Mutter und eine der Schwestern mit ihr, aßen nicht mehr mit uns an demselben Tische, es standen vier Stuben im Hause leer: die Zimmer meiner Brüder und diejenigen, in welchen Rath Crelinger sein Büreau gehabt; und wie wir uns auch der Hoffnung hingeben mochten, das Leben meiner Mutter durch Pflege und Schonung noch zu fristen, so konnte sich doch Niemand darüber verblenden, daß ihre Tage gezählt waren, und ihr Verlust uns in drohender Nähe bevorstand.

Im Herbste, als die langen Abende kamen, hatte ich noch die Freude, meiner Mutter mein fertiges Manuscript vorlesen zu können. Sie hörte mir mit einer gewissen Verwunderung zu. So mochte ihr ungefähr zu Muthe gewesen sein, als sie zum ersten Male den Ton meiner Stimme vernommen hatte, und mir selber machte Alles, was ich geschrieben, einen fremdartigen Eindruck, als ich es laut vor der Mutter und den Schwestern auszusprechen hatte, als die von mir erschaffenen Personen mir gleichsam lebendig und selbstredend gegenüber traten.

Kaum hatte ich das Manuscript der Clementine abgesendet, [45] so hatte ich auch angefangen, an einem zweiten Roman zu arbeiten. Ich fühlte eine wahre Leidenschaft Alles zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte, und nun ich mir die Seele von demjenigen freigeschrieben, was mich am persönlichsten und schwersten berührt hatte, nun ich gesagt, was ich von dem Grundsatz dachte, daß es eine Nothwendigkeit und eine Pflichterfüllung sei, sich zu verheirathen, auch ohne daß man den Mann liebt, mit dem man sich verbindet, nun ich meine Sache meinem Vater gegenüber dichtend vertreten und ein für alle Mal durchgefochten hatte, nun drängte es mich, einem andern Vorurtheile zu begegnen, einem Vorurtheile, unter dessen Last nicht ich allein geseufzt, sondern von welchem Hunderttausende mit mir zu leiden gehabt hatten – dem Judenhasse der Christen.

Ich kann es nicht oft genug wiederholen, welch' ein Glück das Arbeiten mir war, welch' einen Genuß das Schaffen mir gewährte. Wie mit einem Zauberschlage entrückte der Moment, in welchem ich mich an den Schreibtisch setzte und meine Hefte zur Hand nahm, mich allen meinen Sorgen, allen meinen Kümmernissen. Ich war froh, frei, mächtig und unverzagt, ich hatte fortwährend ein Gefühl meiner Kraft und auch ein gewisses Gefühl des Gelingens, und da ich die Stoffe, die ich behandelte, vollkommen beherrschte, da ich die Menschen und die Lagen, in welchen sie sich bewegten, bis in ihre kleinsten Einzelnheiten kannte, so hatte ich nur immer in das volle Menschenleben hineinzugreifen, um die rechten Gestalten und die rechten Farben für meine Zwecke gleich zur Hand zu haben und zu erfassen. Ich arbeitete dabei [46] nicht ängstlich nach aufgestellten Vorbildern, nicht nach dem Modell und vollends nicht nach oder mit dem Daguerreotyp; sondern es hatten sich mir aus der Masse des unwillkürlich Beobachteten eine solche Fülle von Typen ausgebildet, daß ich diese Typen individualisiren, das Allgemeine zum Besondern, das Gesammte zum persönlich bestimmten, das Charakteristische in einem Charakter zusammenfassen und umschaffen konnte. Und so, meine ich, muß man es machen, wenn lebenswahre Figuren entstehen und jene Portraitähnlichkeit erzeugt werden soll, welche den Menschen der verschiedensten Stände an verschiedenen Orten den Glauben giebt, die Originale zu den Geschöpfen des Dichters gekannt zu haben.

Der Stoff, den ich mir für die »Jenny« – dies war der Titel meines zweiten Romanes – gewählt hatte, war damals ein viel besprochener, denn es war unverkennbar, daß die Regierung, unter dem Vorgeben, die Verhältnisse der Juden selbstständig festzustellen, nur eine schärfere Absonderung derselben von den Christen beabsichtigte. Die Juden sahen das mit Besorgniß. Sie traten aller Orten mit Wort und Schrift für ihre Sache auf, und die Aufgeklärten aller Bekenntnisse stellten sich auf ihre Seite. Die Emancipation der Juden war von der einen Seite, die Unterdrückung derselben war von der andern ein Gegenstand lebhafter Erörterungen, und im Dichten, wie in dem damaligen Leben, blieb ich somit eigentlich immer in demselben Elemente.

Auch das erste Viertel dieses Romanes konnte ich meiner Mutter noch aus dem Manuscripte vorlesen, und es machte mehr Eindruck auf sie, als meine erste Arbeit. [47] Das Thema stand ihr näher und war ihr darum verständlicher. Was mich zum Schreiben der »Clementine« veranlaßt, lag außer ihrem Gefühlskreise und über ihrem Nachdenken, und der leidenschaftliche Ton der einzelnen Partien ist ihr sicherlich fremd geblieben. Aber weder sie noch mein Vater thaten irgend eine Aeußerung dagegen, und von dem Augenblicke an, in welchem mein Vater mir das Recht zuerkannt, mein Denken im Worte niederzulegen und der Oeffentlichkeit zu übergeben, habe ich, wie schon gesagt, von ihm nie einen Angriff gegen die von mir ausgesprochenen Ueberzeugungen, nie eine Mißbilligung über Meinungen und Schilderungen gehört, auch wenn er sie vielleicht anders gewünscht haben würde; und ich habe grade darin die Größe seines Verstandes und die Stärke und den Adel seines Charakters auf das Höchste bewundert. Von der Stunde ab, in welcher er mich als freie Persönlichkeit seiner natürlichen Zucht entlassen, hat er meine Freiheit und mein Recht auf Selbstbestimmung respektirt, wie er diesen Respekt für sich und seine Handlungen von jeher und von Jedem beanspruchte. Er hat an mir und meinen Arbeiten gelobt, was ihm des Lobes werth geschienen, und als er sich mit mir einmal nicht völlig im Einklange befand, begnügte er sich damit, mir zu sagen: »Du weißt, meine Ansicht ist das nicht; aber Du hast zu vertreten, was Du drucken lässest, und mußt wissen, was Du thust.« – Es war eben überall nichts Halbes in ihm, deshalb war es auch möglich, ihn zufrieden zu stellen; und weil er immer nur dasselbe wollte, konnte man allmählig dahin gelangen, sich nach seinen Ansichten zu bilden und zu erziehen.

[48] Ich war mitten im Rausche meiner Arbeitslust, als die Krankheit meiner Mutter plötzlich ganz unerwartet schnelle Fortschritte machte. Drei, vier Wochen lang, sahen wir an jedem Tage das immer schnellere Sinken ihrer Kräfte; in den Tagen, welche dem ersten Dezember folgten, glaubten wir mehrmals, uns vor ihrer letzten Stunde zu befinden.

Ihr Leiden war sehr groß, ihre Geduld war es nicht minder, ihr Bewußtsein blieb klar und hell. Für den vierten Dezember, den Geburtstag meiner ältesten Schwester, hatte sie dieser, welche zumeist um sie war, noch einen warmen Morgenrock und andere Kleinigkeiten selbst bestellt und übergeben, und verlangt, daß die gewohnten Geburtstagskuchen gebacken werden sollten – am Abend des sechsten Dezember, als es eben zehn Uhr geschlagen hatte, verloren wir sie.

Sie war nur fünfzig Jahre alt geworden.


»Sorgen Sie für Ihren Vater!« schrieb mir früh am Morgen unser Freund Crelinger, als er die Nachricht von dem Tode unserer armen Mutter erhalten hatte. »Sorgen Sie für Ihren Vater. Ich fürchte, der Schlag – obwohl vorbereitet – wird ihn hart treffen. Zwar kenne ich seine Kraft und seine Fassung – aber sie verlassen uns nur zu leicht am Grabe geliebter Wesen.«

Indeß der Vater, obschon er, wie es vorauszusehen gewesen, durch den Verlust der Mutter bis in das tiefste Leben getroffen worden war, behielt auch in diesen schweren Tagen seine Fassung und seine völlige Kraft.

Er küßte und umarmte uns, besonders seine jüngsten [49] Töchter, an der Leiche unserer Mutter unter heißen, stillen Thränen. Kein Laut wurde gehört, keine Klage aussprochen. Die Selbstbeherrschung, zu der wir von früh auf gewöhnt worden waren, kam jedem Einzelnen und damit Allen jetzt zu Hülfe. Wir saßen lange an dem Bette unserer Mutter beisammen. Gegen Mitternacht erhob sich der Vater aus seiner Versunkenheit.

»Es ist spät,« sagte er, »geht jetzt schlafen, lieben Kinder! Räumt aber erst die Zimmer auf, und bettet die Mutter zurecht. Sie hätte das auch gethan! Minna kann bei der Mutter wachen, ich werde hier auf dem Sopha schlafen. Ihr Andern legt Euch jetzt ruhig zu Bett! Morgen früh wollen wir den Brüdern schreiben!«

[50]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

Das jüdische Ritualgesetz schreibt die einfachste Leichenbestattung vor. Es kennt für alle Volksgenossen, reich oder arm, vornehm oder gering nur eine Einrichtung und macht die Beerdigung der Todten zur Sache der Gemeinde, und zu einem der gebotenen guten Werke. Das ist ein schöner Brauch, den die frommen katholischen Brüderschaften dem Judenthum entlehnt haben, und der sich bis auf diese Stunde in Italien erhalten hat.

Sobald dem jüdischen Gemeinde-Vorstand eine Leiche angemeldet wird, kommen je nachdem, ältere Männer oder Frauen aus der Gemeinde, sie zu waschen und einzukleiden. Ein langes weißes Hemde, eine weiße Haube für die Frauen, eine weiße Mütze für die Männer, das ist der ganze Schmuck, ein schlichter, aus nacktem Holze zusammengeschlagener Sarg die einzige Hülle, welche den Menschen von der mütterlichen Erde trennt, in die aufgelöst zu werden seine Bestimmung ist. Eine Person aus der Gemeinde hält die Leichenwache, die bis zur Beerdigung fortgesetzt wird. Die Beerdigungsgesellschaft, welche aus jungen Männern besteht, stellt den weißen Holzsarg in den allgemeinen Sarg des Leichenwagens und geleitet, neben demselben hergehend, die Leiche zu Grabe, während [51] die Leidtragenden sich wie überall dem Zuge anschließen, nur daß, wie ich glaube, die Frauen vom Gefolge ausgeschlossen sind. Nach dem strengen Ritus zerreißen die Leidtragenden, wie es im Oriente geschieht, ihr Oberkleid, sitzen eine gewisse Reihe von Tagen trauernd an der Erde, und es werden neun Tage hindurch Todtengebete in dem Hause gehalten; aber die Aufklärung der Königsberger Judengemeinde nahm von allen diesen Ceremonien auf meines Vaters Erklärung, daß wir keinen Sinn damit verbänden, augenblicklich Abstand.

Nachdem einige ältere Frauen unsere Mutter eingekleidet hatten, entfernten sie sich und überließen uns die Leiche, so lange sie noch auf der Erde war. Wir konnten sie zu jeder Stunde sehen, wir konnten ihr die Blumen, die Veilchen, welche Mathilde und deren Mutter ihr brachten, und die recht eigentlich das Sinnbild ihres Wesens waren, in den Sarg legen, und als dann am Beerdigungstage die Leiche abgeholt wurde, hatten sich lauter junge Männer dazu gefunden, welche wir kannten, und die Stille, die Feier, mit der sie ihr Amt verrichteten, waren eine wirkliche Wohlthat für uns, und wirklich ein gutes Werk. Daß aller Prunk bei den Beerdigungen vermieden, daß im Tode der Aermste und der Reichste gleichgestellt werden, und daß auf diese Weise die trauernden Familien der Sorge für äußerliche Angelegenheiten wenigstens für die ersten Stunden und Tage enthoben werden, ist eine so schöne Einrichtung, daß sie werth wäre, auch in den protestantischen Gemeinden nachgeahmt zu werden.

Mein Vater hatte uns Schwestern angewiesen, der[52] Mutter bis an die Thüre des Hauses das Geleit zu geben. Von seinen beiden Söhnen war leider keiner anwesend, und es gab damals weder Telegraphen noch Eisenbahnen. So viel Theilnehmende sich auch eingefunden, der Mutter die letzte Ehre anzuthun, so folgte doch er allein der Mutter aus unserm Hause an ihr Grab, und der treue Rath Crelinger stand ihm zur Seite.

Der Vater verlebte die ersten Tage mit uns in völliger Zurückgezogenheit. Wir aßen ohne seine Handlungsgehülfen, er ging nicht in das Comptoir, arbeitete dasjenige, was unerläßlich war, in unserer Wohnung, und ließ nur früh einen seiner Commis zu sich kommen, ihm die nöthigen Weisungen und Anordnungen zu geben. Im Hause aber blieb Alles in der strengsten Ordnung. Die Mahlzeiten wurden auf die Stunde gehalten, und so vortrefflich war damals doch noch die unvergleichliche Constitution des Vaters, daß trotz des schweren Schlages, welchen er erlitten hatte, Schlaf und Appetit ihm nicht fehlten, und daß das Gleichgewicht seiner Kräfte nicht im Geringsten gestört wurde, was er auch erlitt. Ich habe nie einen Mann gesehen, der ruhiger und darum erschütternder in seinem Schmerze war als er. Er preßte, wenn er weinte, die Lippen fest zusammen, und die Thränen flossen ihm dann still und sanft über sein schönes Antlitz.

Am Tage nach der Beerdigung wurde die alte Lebensweise sogleich wieder aufgenommen; aber wir saßen hier und saßen dort, und gingen hin und wieder, und thaten dies und jenes, um nicht ganz still zu sitzen; die Stunden kamen und schwanden, die Uhr schlug, man sprang aus Gewohnheit zu einer bestimmten Leistung empor, und [53] setzte sich wieder, denn sie war nicht mehr nöthig. Man sah einander verwundert an, Niemand hatte etwas Rechtes zu thun. Das Haus war, als hätten es alle seine Bewohner verlassen, nun die Mutter nicht mehr da war, welche so lange wir denken konnten den Mittelpunkt unserer Vorsorge und unserer Leistungen gebildet hatte. Diese Oede, die nach jedem ähnlichen Verluste eintritt, hat etwas Furchtbares; die Gedanken entbehren ihres gewohnten Zieles, eine geistige Lähmung befällt uns, und wir erholen uns von ihr nur langsam, um die grausenhafte Nothwendigkeit der Endlichkeit in ihrer ganzen Schwere zu empfinden, um mit Zittern daran zu denken, daß Nichts von Allem, was wir an geliebten Menschen besitzen, uns dauernd gegönnt ist. Der erste Todesfall, welcher uns so nahe trifft, nimmt uns ein für allemal die Sicherheit des Daseins; und wer erst einen seiner Geliebten hat sterben sehen, der sieht das Todeszeichen jedem ihm theuren Haupte aufgedrückt, und betrachtet jeden Tag des Lebens und des Zusammenseins mit den Geliebten als eine Gunst, die durch werkthätige Liebe verdient sein will.

Mein Vater hatte immer eine große Gleichgültigkeit gegen alles dasjenige ausgesprochen, was mit der äußern Trauer um die Todten zusammenhing, und häufig geäußert, es sei ihm durchaus einerlei, wo er einmal begraben werde, und wie man ihn begrabe. Die Mutter jedoch hatte Werth auf alle diese Dinge gelegt. So bestimmte der Vater denn auch, daß wir ein volles Jahr die Trauer für sie tragen sollten, und ließ, als habe der Tod seiner Frau seine Ansichten in dem Punkte geändert, als er das Grabdenkmal für sie errichtete, zugleich die [54] Grabsteine seiner Eltern und Voreltern, seines Bruders und seiner beiden frühverstorbenen Knaben, erneuen, daß eine ganze Geschlechtsreihe auf dem Friedhofe zu übersehen war, auf dem auch er nur zu bald seine Ruhestätte an unserer Mutter Seite finden sollte!

Es lag in meines Vaters Art, Nichts dem Zufall zu überlassen, was durch Organisiren festgestellt werden konnte, und so traf er denn auch mit dem Beginn des Jahres zweiundvierzig neue Anordnungen für unsere häuslichen Verhältnisse. Nach seinem Grundsatz, daß alle seine Kinder vor ihm gleich, und darum gleichberechtigt in ihrer allgemeinen Stellung und im Leben wären – einen Grundsatz, der, unrichtig an sich, in der Praxis sich überall nicht durchführen ließ und sich nicht bewähren konnte – sollten wir vier ältesten Schwestern fortan regelmäßig abwechselnd im Hause selbstständig schalten. Meine Mutter hatte die Totalsumme unseres Bedarfes nie genau gekannt, sie hatte bekommen, so viel eben bei ihrer sparsamen Eintheilung des Geldes für den eigentlichen Unterhalt nöthig gewesen war, das Uebrige war nach Bedürfen von dem Vater gefordert und von ihm gegeben worden, so daß nur er den Umfang der Ausgaben vollständig übersehen konnte. Die Mutter hatte sich dadurch immer unbehaglich gefühlt, während mein Vater sie in dieser Ungewißheit zu erhalten gewünscht, damit die Größe unseres Bedarfes sie nicht beunruhigen, und sie nicht etwa auf den Gedanken kommen möchte, ihre Einschränkungen mit dem für sie selbst Nothwendigen zu beginnen. Jetzt setzte sich der Vater mit uns zu einer Berathung hin, und es wurde ein genaues Budget entworfen, in welchem bestimmte Summen für [55] den Haushalt, für Haushaltsanschaffungen, für Gesellschaften, für Unterricht, Vergnügungen u.s.w. festgestellt wurden, die fortan unter keiner Bedingung überschritten werden sollten. Sämmtliche Töchter bekamen Garderobengeld, in jedem Monat erhielt eine Andere die volle Summe für die Wirthschaftskasse; jeden Monat mußten die Rechnungen abgeschlossen werden, und da wir Alle auf diese Art das Haushalten erlernten, sofern wir es nicht schon verstanden hatten, so bildete sich bald ein Uebereinkommen aus, nach welchem wir einander von Monat zu Monat eine Reserve an Geld und Vorräthen zurückließen, damit die Maschine nicht in Stocken und die jedesmalige Verwalterin nicht in Ungelegenheiten geriethe. Unser Hausstand hatte sich jetzt abermals verkleinert. Unsere Mutter war todt, die Brüder blieben in der Fremde, ein Dienstmädchen konnte entlassen werden, die ganze mittlere Etage wurde wieder vermiethet, und als in der Mitte des Jahres meine zweite Schwester nach Berlin ging, um einer entfernten Verwandten Gesellschaft zu leisten, welche durch eine Reihe sich schnell folgender Todesfälle in ihrem Hause vereinsamt war, dünkte uns unser Hausstand äußerst klein, weil er von achtzehn auf dreizehn Personen heruntergesunken war.

Unser Zusammenleben mit dem Vater wurde von da ab nur noch inniger. Er war milder geworden als je, und wendete namentlich den jüngern Töchtern eine noch größere Zärtlichkeit zu, als wolle er sie für die Mutterliebe entschädigen, die ihnen früher als den älteren Geschwistern entzogen worden war. Seine Strenge ließ völlig nach, er gab es zu, daß wir ihm etwas mehr Pflege [56] angedeihen ließen, er hinderte es nicht, daß wir ihm seine Schlafstube bequemer einrichteten, daß er der Mittelpunkt der Vorsorge wurde, wie unsere Mutter es bis dahin gewesen war; und da wir nun eine genaue Uebersicht über unsern Bedarf gewonnen hatten, und die uns zu Gebot gestellten Mittel danach eintheilen konnten, so fanden wir uns im Stande, allmälig noch mehr für die Bequemlichkeit und Eleganz der Einrichtung, ja selbst mehr für das Behagen der Einzelnen zu thun, als es früher möglich gewesen war.

Da die Brüder nun für sich selber sorgten und unsere Ausgaben sich bedeutend verringert hatten, wurde mein Vater sorgenfreier, und wir mit ihm, ohne daß wir uns dessen erfreuen konnten, denn es schien, als ob mit dem Tode unserer Mutter, als ob mit der fehlenden Nothwendigkeit, seine Thätigkeit und seine Energie in seinen Geschäftsangelegenheiten auf das Aeußerste anzuspannen, auch seine rechte Kraft erlahmt wäre. Er war nicht krank, er fand auch seine Ruhe, seine heitere Gleichmäßigkeit im Laufe der Zeit in alter Weise wieder, er nahm lebhaften Antheil an Allem was uns betraf, wie an dem Allgemeinen, es hätte Niemand sagen können, was mit ihm anders geworden sei; und doch fühlte Jeder von uns, daß der Vater älter geworden sei, doch hatte Keiner von uns mehr das alte, schöne, übermüthige Gefühl, mit welchem wir ihm neckend zu sagen pflegten, daß er mit uns in einem Alter sei. Sein schönes Haar, das schon seit seinem dreißigsten Jahre grau gewesen war, wurde dünner, um seine prächtigen braunen, klaren Augen bildete sich ein leiser grauer Ring, seine Züge verloren die feste Spannkraft [57] oder hatten sie doch nur, wenn er besonders angeregt war. Fremde sahen es damals noch nicht; wir, die wir jede Miene, jede Bewegung seines Antlitzes kannten, wurden die Unruhe nicht los, denn der Vater zählte erst vierundfünfzig Jahre, und das war nicht die Zeit, in welcher das Greisenalter an den Menschen naturgemäß herantritt. Aber wo der Mensch sehr liebt und sehr fürchtet, da hofft er auch um so zuversichtlicher, und da mein Vater niemals über irgend eine Beschwerde klagte, da er selbst sich des besten Wohlseins rühmte, so beruhigten auch wir uns, und ergingen uns in Planen, wie dem Vater ein möglichst heitres und sorgenfreies Alter zu bereiten sei.

Meine Arbeit war durch den Tod meiner Mutter sehr in's Stocken gerathen. Die mancherlei Umgestaltungen, welche wir zu bewerkstelligen hatten, die Correspondenz, welche ein Todesfall hervorruft, und mehr noch meine schlechte Gesundheit hatten mir das Schreiben unmöglich gemacht, denn es gab damals wenig gute Tage für mich. Ich litt bald auf diese bald auf jene Weise, und konnte mit dem besten Willen nicht mehr Herr über mich werden. Ich wußte, daß ich mir, nicht meine Beschwerden und Schmerzen, wohl aber ihre Bedeutung hypochondrisch übertrieb, und doch waren sie im Moment, in welchem sie mich überfielen, so quälend und beängstigend, daß ich zu sterben glaubte, selbst wenn ich fünf Minuten vorher mir diese Angst als eine Thorheit vorgehalten, und ihre Wiederkehr bei jedem neuen Anfall als eine Verstandesschwäche verdammt hatte. Da aber, nach dem alten französischen Sprichwort, jedes Unglück zu Etwas gut ist, so hatten [58] meine beständigen Todesgedanken das Gute für mich, daß sie mich mehr und mehr gewöhnten, an jedem Abende meine kleinen Angelegenheiten so zu ordnen, alle meine Beziehungen so klar und übersichtlich zu halten, als sollten sie nun graden Weges in andre Hände übergehen, von andern Augen als den meinen angesehen werden; und da der Gedanke an den Tod in mir durch mein ganzes Leben gleich lebendig geblieben ist, so bin ich denn auch durch Gewohnheit dahin gekommen, stets mit meinen sämmtlichen Beschäftigungen und Angelegenheiten auf dem Laufenden, und mit den äußern Dingen gleichsam immer reisefertig zu sein, so fest das Herz und das Lieben sich auch an die Erde klammern und so groß und entschieden die Lust an dem lebenden Verweilen auch in mir ist.

Im Anfang des Frühjahrs, als ich wieder an meinem Roman zu arbeiten begonnen, schickte mir Lewald einen Brief von Brockhaus, der bei ihm angefragt hatte, ob der Verfasser der Clementine ihm nicht einen Beitrag für den nächsten Jahrgang des damals noch existirenden Taschenbuches Urania liefern könne. Das machte mir große Freude, denn es war mir ein Beweis für den guten Erfolg meiner ersten Arbeit. Ich hatte nun freilich keine Novelle fortzugeben, ließ ihm aber, ermuthigt durch seine Anfrage, den Verlag des neuen Romans anbieten, den er auch augenblicklich und unter günstigen Bedingungen übernahm.

Ich arbeitete denn nun rüstig fort, so weit meine Gesundheit dieses zuließ, die freilich immer schwankender wurde. Kam der Wirthschaftsmonat an mich heran, so mußte ich auf meine Arbeit verzichten, und konnte sie [59] nur in gelegentlichen Pausen, d.h. des Abends zwischen fünf und sieben Uhr, zwischen der Kaffeestunde und der Zeit, in welcher ich die Vorkehrungen für das Abendbrod zu machen hatte, vornehmen, was ich denn auch redlich that. Heiß und erregt kam ich danach aus meiner Stube in das Wohnzimmer hinunter, in welchem der Vater mit den andern Schwestern schon beisammen, und in der Regel Jeder für sich mit Lesen beschäftigt war. Ich hatte dann den ganzen Abend einsam zugebracht, und wollte plaudern; die Andern, welche bis dahin mit einander geplaudert hatten, und nun zu lesen wünschten, weil der Vater las, wiesen mich natürlich zurück, und baten sie in Ruhe zu lassen. Ein Buch zur Hand zu nehmen, war mir unmöglich, weil alle meine erdichteten Figuren mich noch umringten, meine eigenen Gedanken, oft noch nicht völlig abgeklärt, nach Klarheit rangen, und ich gerieth dann in ein stilles innerliches Fortarbeiten, das nicht nachließ, und mich noch beschäftigte und anspannte, wenn ich mich später zur Ruhe legte. Damit war mir dann mein Schlaf geraubt, von meinen Arbeiten schweiften meine Gedanken in die Vergangenheit zurück, ich kam auf die Erinnerungen, die ich am Tage mit aller Kraft von mir zurückwies, und stand ich endlich am Morgen auf, so hatte ich allerdings meine Arbeit um ein gutes Stück gefördert, meine Gedanken aufgeklärt, eine Menge guter Vorsätze gefaßt, eine Reihe von dichterischen und von Lebens-Planen in mir entwickelt, nur geschlafen hatte ich nicht, und die Folgen davon wurden mir immer fühlbarer, und auch immer sichtbarer an mir, denn ich sah so übel aus, daß mein Vater mich mit Sorge betrachtete, und ich selbst oft [60] verwundert darüber war, wie meine Kleider, meine Armbänder, meine Ringe mir weit und weiter wurden, und wie sehr ich im Laufe eines Jahres gealtert hatte. Ich litt davon mehr als ich irgend Jemand sagen konnte, es that mir so wehe, diesen vorzeitigen Verfall zu sehen, und mir sagen zu müssen, daß die Jugend für mich vorbei sei. Der Baum, der seine Blätter im Herbste abwirft und sich im Frühjahr neu im Schmucke seines frischen Grün's erhebt, kam mir beneidenswerth vor, neben dem Menschen, der mit Bewußtsein sein eigenes Vergehen beobachten muß, und daß auch uns mit neuem geistigem Leben, mit neuem Glauben, neuer Liebe und wiederbelebtem Streben und Hoffen eine neue und dauerhaftere Jugend beschieden werden könne, das war eine Erfahrung, die ich in meinem Bekanntenkreise nicht gemacht, und an mir selber noch erst zu machen hatte.

In der Mitte des Sommers, des ersten, den die ganze Familie nach einer Reihe von Jahren gemeinsam in der Stadt verlebte, beendete ich meinen zweiten Roman, und in den ersten Tagen des August kam mein Bruder aus Rußland zu uns zum Besuche, aber er kehrte uns nicht wieder, wie er gegangen, er war der »alte, freie Vogel nicht mehr«.

Schon im ersten Jahre seines Aufenthaltes in Brest hatte er die Tochter einer angesehenen polnischen Familie, in welcher er Arzt geworden, kennen lernen und eine lebhafte Liebe für sie gefaßt. Der Vater der jungen Dame war todt, sie lebte bei einer Stiefmutter, von der sie keine gute Behandlung erfuhr, und die kein anderes Interesse an der Stieftochter hatte, als sie früh und möglichst glänzend [61] zu verheirathen. Aber Camilla war brustkrank, und die Baronin hatte mei nen Bruder eigentlich nur zu Rath gezogen, um von ihm einen Widerspruch gegen die Ansicht ihres Hausarztes zu erhalten, daß eine Verheirathung des jungen Mädchens an und für sich bedenklich und nicht zu gestatten sei, wenn man dasselbe zu erhalten wünsche. Mein Bruder hatte dieses Urtheil nur bestätigen können, indeß die Mutter war deßhalb von ihrem Plane nicht abgewichen, und während sie dem jungen fremden Arzte, der ihr und ihrer Tochter bald mehr Zutrauen als der alte Brester Doktor einflößte, die Behandlung ihrer Tochter anvertraute, während sich eine heftige Leidenschaft zwischen dieser und meinem Bruder bildete, betrieb die Baronin eifrig die Verlobung derselben mit einem Bewerber, welcher allen ihren Anforderungen entsprach, und ihr die Aussicht bot, sich möglichst bald von der Sorge für die Stieftochter zu befreien.

Moritz, der es nicht gewohnt war, aus seinem Leben ein Geheimniß zu machen, hatte uns bald den Conflikt verrathen, in welchem er sich befand. Er sah das Mädchen, das er liebte, täglichen Kränkungen ausgesetzt, die ihr, so lange sie in der Hand der Stiefmutter blieb, nicht erspart werden konnten; sich ihnen zu entziehen gab es nur das eine Mittel – eine Heirath, und er wußte, daß eine Heirath ihr verderblich, daß der Mann, dem sie bestimmt war, ihr zuwider sei, und Moritz liebte sie selbst. Der Gedanke, sie zu heirathen, war unter den Verhältnissen schnell in ihm entstanden, er hatte ihn gegen meinen Vater ausgesprochen, war auf die entschiedenste Abneigung dagegen gestoßen, und wir Alle hatten uns dagegen aufgelehnt. [62] Der Vater hatte die Einwendung gemacht, daß Moritz erst im Beginne seiner Laufbahn, daß sein Fortkommen noch nicht gesichert, daß er unfertig in sich, und daß es unverantwortlich sei, eine brustkranke Frau zu heirathen und die Schwindsucht auf Generationen fortzupflanzen. Er hatte den Brüdern oft scherzend gesagt: wenn Ihr einmal so weit sein werdet Euch zu verheirathen, verpfuscht mir durch Eure Frau die Race nicht, nehmt kein Mädchen, das ihr nicht im Negligé und dessen Mutter Ihr nicht gesehen habt, und laßt Euch durch den ersten Weinkrampf Eurer Frau nicht einschrecken! – Jetzt wendete er diese scherzhaften Rathschläge ernsthaft an, und wir unsererseits hielten uns ebenfalls berechtigt, auf den Bruder einzudringen mit allen guten und schlechten Gründen, die sich uns dagegen darboten.

Moritz gab nach, und das Mädchen, das an ihm irre, und dem das Leben im Hause der Mutter und vielleicht auch das Leben neben meinem Bruder zu schwer werden mochte, verlobte sich mit dem Manne, den man ihr bestimmt hatte, um durch den Gram und die Aufregung noch leidender zu werden, als sie gewesen. Es war unmöglich, in diesem Zustande zur Hochzeit zu schreiten, sie wurde hinausgeschoben, der Bräutigam entfernte sich, aber das arme Mädchen hatte es nun bei der Stiefmutter nur um so übler, Moritz mußte das mit ansehen, und war in seinem Zweifel, was zu thun sei, erst vollends unglücklich.

»Mit mir geht es entschieden nicht gut, um nicht zu sagen schlecht«; hatte er mir im März geschrieben. »Hier neben Camilla bin ich unglücklich, und fort von hier kann [63] ich nicht, bis ich erst sicher weiß, was aus ihr wird. Sie ist gegenwärtig besser als im Winter und das will viel sagen, denn wir haben jetzt die schlechteste Jahreszeit für sie. Der Bräutigam kommt wie es scheint, durch Camilla's Kälte und durch ihre Krankheit bedenklich gemacht, nicht wieder, aber das macht die Nothwendigkeit, sie ihrer Stiefmutter zu entziehen, nur um so dringender. Ich kann mir sagen, ich habe versucht und ertragen, was ein Mensch ertragen kann, über seine Kräfte hinaus geht es einmal für Niemand. Ich bin nicht durch Sinnlichkeit an Camilla gebunden, sondern ich liebe, achte, schätze sie, und fühle nach langem schmerzlichen Experimentiren an mir, daß sie mir zum Glücke nothwendig ist, sehe auch nicht ein, was diese Verbindung mir schaden soll. Ist sie im Frühjahr nicht übler daran, so schaffe ich mir, wenn der Bräutigam nur fortbleibt, die Zustimmung der Mutter schon, und heirathe sie; es dreht sich Alles nur um meines alten Herrn Zustimmung. Ich weiß zum Voraus alle Gründe, die man gegen mich aufführen kann: Erstens sie ist eine Polin, also kokett und keine gute Wirthin. Zweitens sie ist katholisch, geht also zur Beichte und das stört das eheliche Glück; drittens sie ist krank, also eine Last für mich; viertens wir werden nicht haben wovon zu leben – noch ist aber kein ordentlicher Arzt verhungert; fünftens bin ich ein getaufter Jude und sie ist in Vorurtheilen erzogen; sechstens Vater hat auf mich gerechnet, um im Falle seines Todes, den Gott lange verhüten möge, in mir auch eine Stütze für Euch zu haben; das ist aber auch der einzige einigermaßen stichhaltige Grund, und darüber hoffe ich unserm alten Herrn Beruhigung [64] geben zu können. Was die Gegenwart mir bringen wird, kann ich so ziemlich berechnen, und bin damit zufrieden; was die Zukunft mir bringen kann, kann ich nicht wissen; aber da Jeder in jedem Augenblicke sterben kann, ist Der ein Thor, der Jahre und Jahre lang hinaus sorgt und darüber den Augenblick verpaßt. Ich werde den alten Herrn um Erlaubniß bitten, so wie ich in einiger Sicherheit über Camilla's Befinden bin, aber mit dieser Erlaubniß ist's ein eigen Ding und ich schäme mich, sie zu fordern, denn ich werde den Schritt auch thun, wenn die Erlaubniß mir versagt wird. Ich sehe ganz deutlich voraus, wie es kommen wird; man wird mich nach Königsberg bitten, um mit mir zu konferiren und mich wo möglich dort zu behalten, oder der Vater selbst wird zu mir kommen, oder man wird Camilla wissen lassen, daß es meiner Familie sehr unangenehm wäre, wenn sie mich heirathete – aber thäte man das Letztere, so wären zunächst alle Bande zwischen mir und der Familie gelöst, so viel Seelenschmerz und Trauer mir das machen würde – und Camilla würde ich trotzdem zu überreden wissen, obschon es in dem Falle schwer werden dürfte. Du solltest Camilla kennen, und wenn Du nicht meine Liebe für sie theiltest, müßte ich Dich nicht mehr kennen.«

Gleich nach Absendung dieses Briefes aber war der Bräutigam des armen Mädchens wieder gekehrt, hatte sein Anrecht geltend gemacht, Camilla's ganze Familie, welche die Heirath mit dem reichen Edelmann der Verbindung mit dem unbemittelten Arzte natürlich vorziehen [65] mußte, hatte sich auf die Seite des Ersteren gestellt, das junge kranke Mädchen hatte nicht den Muth oder nicht mehr die Kraft gehabt, sich zu widersetzen, Moritz selber hatte, um dem kranken, unglücklichen Geschöpf die aufreibenden täglichen Scenen zu ersparen, »ihr zugeredet nachzugeben«. Die Hochzeit stand nahe bevor, und es hatte unter diesen Verhältnissen den Vater nur wenig Ueberredung gekostet, seinen Sohn zu einem Besuche in der Heimath zu bewegen.

Das erste Wiedersehen war traurig – die Mutter war nicht mehr da. Als man sich dann in alter Weise zusammenfand, konnte Niemandem die Veränderung entgehen, die sich an dem Bruder vollzogen hatte. Er hatte viel erlebt, viel beobachtet, viel erfahren, war reifer, ernster, tiefer geworden. Die fröhliche Harmlosigkeit, der glückliche Leichtsinn seiner frühern Jahre waren dahin. Er war ein Mann geworden, aber ein Mann, dem der rechte Lebensmuth, die rechte beharrliche Kraft des Wollens fehlten. Wie manche Menschen nur stoßweise zu arbeiten vermögen, so waren sein Wollen und seine Energie nur eine stoßweise kräftige, und meinem Vater persönlich gegenüber war er nach wie vor fast willenlos. Höchstens scherzend vermochte er gegen ihn seine Meinung aufrecht zu erhalten, und sah er, daß diese dem Vater nicht gefiel, so hatte er aus Furcht, seine Ansicht nicht ruhig und gefaßt vertreten zu können, nichts Eiligeres zu thun, als sich gegen seine Ueberzeugung aus Zärtlichkeit zu fügen, und zuzugeben, was er nachher nicht durchführen konnte. Der Vater, statt sich zu sagen, daß er diese Charakterschwäche [66] zum Theile in dem Sohne selbst erzeugt, daß sie nebenher eine Folge großer Liebe sei, hielt ihn einfach für weniger reif und tüchtig als er wirklich war, und Moritz, der sich seiner Haltungslosigkeit vor dem Vater immer schämte, kam dann bisweilen mit seinem festen Wollen bei Gelegenheiten zum Vorschein, welche dieses Aufwandes von Kraft nicht werth waren, und den Vater in seiner Ansicht »über die Unzulänglichkeit des Jungen« nur bestärkten. Ich habe diese Seite von dem Charakter meines Bruders als Motiv für die Figur des »Georg« benutzt, als ich lange nach seinem Tode meinen Roman »Wandlungen« schrieb.

Es war unverkennbar, daß Moritz nur mit halber Seele bei uns war, eben so unverkennbar auch, daß er wie früher an uns hing, daß der Aufenthalt im Vaterhause ihm trotz alledem sehr wohl that, und daß er dem Vater womöglich mit noch größerer Zärtlichkeit als früher ergeben war; indeß bei uns zu bleiben, wie der Vater von ihm forderte, konnte er so ohne Weiteres sich nicht entschließen. Er mochte seine Thätigkeit, seine mühsam gewonnene Stellung nicht entbehren, nicht auf's neue erwerblos und abhängig werden, und da die Bemühungen meines Vaters, dem Sohne bei einem städtischen Krankenhause eine Stelle als Arzt zu erwirken, erfolglos blieben, da Moritz obenein die Nachricht erhielt, daß die Geliebte auf's Neue schwer erkrankt sei, war er nicht in der Heimath festzuhalten.

Er sehnte sich fort, und trennte sich doch ungern und schwer von uns und seinem Vater. Wir sahen [67] ihn noch schwereren Herzens scheiden, vermochten aber nicht ihn zum Verweilen aufzufordern, und Alle im Zwiespalt mit uns selbst und mit unserm Wünschen und Können, mit unserm Wollen und Thun, mußten wir ihn nach einem fünfwöchentlichen Besuche noch einmal von uns ziehen lassen – um ihn nie mehr wieder zu sehen.

[68]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

In den Spätherbst dieses Jahres fiel ein Ereigniß, dessen Folgen für das Schicksal unseres Freundes Crelinger das schon erwähnte französische Sprichwort: à quelque chose malheur est bon, welches er bei vorkommenden Widerwärtigkeiten gern zum Troste anzuführen pflegte, bewahrheiten sollten.

Bei der politischen Richtung, welche damals in Königsberg die vorwiegende war, hatte die, in jenen Jahren in Aufnahme gekommene politische Poesie dort große Verehrer gefunden. Die bedeutendsten unter den politischen Gedichten, Georg Herwegh's Gedichte eines Lebendigen, hatten daher ein großes Publikum bei uns gewonnen, und uns Alle, die wir uns als »Lebendige« betrachten zu können glaubten, auf das Lebhafteste ergriffen. Die rücksichtslose und immer zutreffende Kraft seines Ausdrucks, das Dithyrambisch-Rethorische in seiner Begeisterung, die schneidende Schärfe seines Spottes, und das unverkennbare Gepräge wahrer poetischer Kraft, das in der Mehrzahl seiner Gedichte sich kund gab, hatten etwas Hinreißendes gehabt, und daneben war die Diktion so schwungvoll und so leicht, der Rhythmus so energisch und so fortziehend, daß die Lieder sich dem Gedächtniß schnell [69] einprägten und sicher haften blieben. Man nahm ihre Aussprüche unwillkürlich in das Leben auf, und es erregte also lebhaften Antheil und große Freude, als man erfuhr, Herwegh, der sich eine Zeit lang in Berlin aufgehalten hatte, werde zu Anfang des Dezember nach Königsberg kommen. Seine Freunde bereiteten sich sofort darauf vor, ihm mit der Aufnahme, welche sie ihm angedeihen ließen, alle die Anerkennung zu beweisen, die sie ihm entgegenbrachten. Unsere nächsten Bekannten und Umgangsgenossen, Rath Crelinger an ihrer Spitze, empfingen ihn als einen persönlichen Gast, er wurde in verschiedenen Familien vorgestellt, seine Jugend, sein anziehendes Aeußere, seine Wohlredenheit nahmen in ungewöhnlichem Grade für ihn ein, und fast alle unsere Freunde, welche uns in den Tagen besuchten, hatten ihn kennen lernen und sprachen auf das Günstigste von ihm.

Um ihm eine Ehre zu erzeigen, und zugleich eine Demonstration zu machen, hatte man ein Festessen veranstaltet, dessen Held der junge Dichter war, und an welchem alle die Männer Theil nahmen, welche sich in Königsberg zu den Liberalen rechneten. Mein Vater, der sich von solchen öffentlichen Festgelagen, seiner Neigung nach, fast immer fern hielt, war nicht dabei zugegen, und wir Alle sahen Herwegh überhaupt nicht, weil wir eben damals während des Trauerjahres sehr eingezogen lebten; indeß wir vernahmen von dem Feste gleich an dem ihm folgenden Tage, und Jeder, der davon berichtete, wußte nicht genug zu sagen, wie hingerissen der Andere gewesen, und wie sich die Aufregung zündend von Geist zu Geist fortgepflanzt, wie man es endlich einmal empfunden habe, [70] was es mit der Begeisterung freier Männer auf sich habe. Man wiederholte die Reden und die Trinksprüche, welche man vernommen, es war viel Wahres, viel Gefühltes und viel Schönes darunter gewesen; aber für den Außenstehenden war es unverkennbar, daß man sich im Ehrgeiz des Enthusiasmus unwillkürlich überboten hatte, und daß manch Einer Aeußerungen gethan hatte, welche man in seinem Munde, wenn man ihn näher kannte, eben nur als poetische Licenzen aufzunehmen hatte.

Zu diesen Letztern hatte Rath Crelinger gehört. Er hatte Nichts gesprochen, was nicht der Sache nach seine volle Ueberzeugung gewesen wäre, aber die Form war eine von dem Augenblick bestimmte gewesen, und die Erregbarkeit seiner Phantasie hatte ihn so fortgerissen, sein beweglicher Geist hatte den Feuerschein von Herwegh's Worten so lebhaft reflektirt, daß der sonst so gemessene, formvolle und sich selbst in jeder seiner Aeußerungen rein wiedergebende Mann sich zu einer Rede voll poetischer Metaphern hatte verleiten lassen, die in seinem Munde jedem Besonnenen, jedem seiner genauern Bekannten fast komisch klingen mußten. Er hatte von »Thatendurst«, von Kampf und Sieg gesprochen, hatte des Augenblickes gedacht, in welchem er »das Schwert um seine Lenden gürten würde«, und wie groß mein Interesse an dem ganzen Vorgange auch damals war, konnte ich unsern Freund in den ersten Tagen nach dem Feste nicht ohne Lachen vor mir sehen. Es war eine Unmöglichkeit, sich den großen, magern, ziemlich weichlichen, an seine kleinen Luxusbequemlichkeiten hängenden Mann, an dessen stets schwarzer Kleidung und auf dessen eleganter Wäsche nie [71] ein Stäubchen zu sehen war, mit dem »Schwert um seine Lenden« zu denken, oder es sich vorzustellen, wie er mit den schmalen weißen Händen drein schlagen würde! In der Robe und der Perrücke des französischen Barreau, in dem Sammetrocke und den Spitzenmanschetten der Hoftracht, in dem Reisekostüm des vornehmen Engländers, im schwarzen Frack mit gelben Handschuhen, im Arbeitsrock, in jeder beliebigen friedlichen Kleidung konnte er sich gut und vortheilhaft darstellen; kampfgerüstet mußte er über alle Maßen lächerlich erscheinen, und da ich das Unglück hatte, ihn nun im Geiste immer mit einem der alten Schleppsäbel vor Augen zu sehen, die unsere Stadtsoldaten trugen, und deren Säbelgurt vorn mit zwei Löwenköpfen von Messing zugehakt wurde, so begegnete es mir in den Tagen oftmals, daß ich auf gut Glück zu lachen an fing, wenn er vor mir stand, und auf seine Frage, was ich habe? verfehlte ich nicht ihm die Wahrheit zu sagen. Auch der Vater sagte ihm: »Wie kann ein Mann wie Sie, so geschmacklos sein, lieber Crelinger?« – Indeß die Sache war einmal geschehen, und man kann in der Regel ein Unrecht leichter als eine Thorheit vergessen machen und vergüten.

Rath Crelinger wenigstens hatte das in seinem Falle zu erfahren. Schon wenig Wochen nach dem Feste wurde er wegen der von ihm gehaltenen Rede zur Untersuchung gezogen, und die genaue Kenntniß seines Charakters machte uns bei diesem Anlaß sehr besorgt für ihn. Es giebt hartnäckige Naturen, welche durch ihren Widerstand alle ihnen entgegentretenden Lebenslagen und Verhältnisse ihrer Individualität anzupassen wissen, und wieder andere, [72] welche sich, selbst ohne es zu wollen, nach den Verhältnissen ummodeln, in die sie sich versetzt finden. Zu diesen Letztern gehörte Crelinger bis zu einem gewissen Grade. Nicht daß er fähig gewesen wäre, seine Ueberzeugungen von Recht und Unrecht um irgend eines Vortheils willen im Entferntesten zu verläugnen, dazu war sein Rechtsgefühl zu ausgebildet, sein Ehrgefühl zu sicher. Aber der Hinblick auf Andere und eine gewisse Eitelkeit hätten ihn verleiten können, sich bis zu der höchsten Spitze einer Ansicht aufzuschwingen, zu der er sich nur zufällig und ohne innere Nothwendigkeit erhoben, und meinem Vater und mir lag also der Gedanke nahe, daß Crelinger sich leichter zu einem unnöthigen Märtyrerthume, als zu dem Eingeständniß einer begangenen Uebereilung verstehen könnte.

Wie die Stimmung in Königsberg in jenen Tagen war, steigerte die gegen Rath Crelinger eingeleitete Untersuchung in hohem Grade die Popularität, deren er ohnehin genoß, und grade diese Bemerkung bestimmte meinen Vater, den Freund zur Vorsicht zu ermahnen, und mich zu veranlassen, daß ich in gleichem Sinne an ihn schreiben sollte. Ich that das und Crelinger nahm dies auf, wie es gemeint war; er versicherte uns jedoch mündlich und schriftlich, daß er keineswegs gewillt sei aus Eitelkeit den Märtyrer zu machen, daß er sich zu der besonnensten Vertheidigung rüste, aber er hielt die ganze Angelegenheit für unbedeutend, und sah seine Freisprechung, obschon er sich auf Alles gefaßt machte, als nicht zu bezweifeln an.

Er hatte sich jedoch geirrt, und in seinen Berechnungen nicht vorausgesehen, daß und wie schnell man im [73] Verlaufe der nächsten Zeit auf dem Wege der Reaktion vorwärts schreiten und was auf diesem Wege möglich sein würde. Die Untersuchung – ich greife dem Gange der Ereignisse voraus, weil ich vielleicht nicht mehr darauf zurückkomme – schleppte sich eine Weile hin, und hatte zur Folge, daß man den Angeklagten zwar nicht seines Amtes entsetzte, aber man versetzte ihn, den angesehensten Advokaten Königberg's, einen Mann, dessen Einnahme eine glänzende, dessen gesellschaftliche Stellung eine sehr bevorzugte war, nach einem kleinen Landstädtchen in Westpreußen, das zur Hälfte von armen Juden, zur andern Hälfte von Ackerbürgern bewohnt wird, und von dem man sicher sein mußte, daß Crelinger es nicht zum Aufenthalte wählen würde. Das war eine chinesische oder türkische Exekutionsmaßregel. Man mochte den Mandarinen, den Pascha nicht hinrichten lassen, man schickte ihm also nur das Messer, die seidene Schnur, mit denen er sich selbst zu entleiben hatte; und die Berechnung war wohl gemacht.

Rath Crelinger nahm zum zweiten Male seine Entlassung aus dem Staatsdienste, da er sich unmöglich dazu verdammen konnte, in einem elenden kleinen Städtchen zu leben, und blieb amtlos in Königsberg, bis die lebhafter werdende politische Bewegung ihn nach Berlin lockte, wo er bald eben so, wie vorher in Königsberg, eine bedeutende rein konsultatorische Praxis gewann, ehe noch die Vertheidigung der polnischen Revolutionaire nach dem Aufstande von achtzehnhundert fünfundvierzig ihn wieder in die Oeffentlichkeit zurück führte, und sein glänzendes Rednertalent und seine tiefe Rechtskenntniß in gleichem Maße zur Geltung [74] brachten. Seine Lage, soweit sie sein Auskommen betraf, war in allen diesen Jahren immer eine günstige gewesen, und Berlin sagte seinen Neigungen so völlig zu, daß er oftmals auf den vorhin erwähnten Ausspruch von dem »glücklichen Unglück« gegen mich zurückkam. Aber erst das Jahr achtundvierzig und das Justizministerium Märcker setzten den bewährten Rechtsgelehrten, den geistvollsten Advokaten Preußens wieder in sein Amt ein. Ich hatte dabei die große Befriedigung, dem vielbewährten Freunde meiner Familie für seine Treue und Freundschaft dadurch zu danken, daß ein Schreiben, in welchem ich den Minister darauf aufmerksam gemacht, ob es nicht im Interesse eines liberalen Ministeriums läge, die von dem früheren Ministerium beeinträchtigten liberalen Männer zu restituiren und zu verwenden, ohne daß Rath Crelinger im Entferntesten von meinem Schritte wußte, den Anlaß zu seiner Rückberufung in den Staatsdienst, und zu seiner Anstellung als Rechtsanwalt bei dem Obertribunale gegeben hatte, in welchem Amte er bis zu seinem im Februar des Jahres achtzehnhundert dreiundfünfzig erfolgten, nur zu frühen Tode verblieb und wirkte.

Bald nachdem das Herwegh-Fest in Königsberg gefeiert worden, gleich im Beginn des Jahres dreiundvierzig, erhielt ich von Berlin durch meinen ältesten Bruder, welcher gefällig den Vermittler zwischen mir und dem Buchhändler machte, mein erstes gedrucktes Buch zugesendet, und noch immer erinnere ich mich der eigenartigen Wirkung, welche der Anblick desselben auf mich machte. Ich konnte gar nicht müde werden, es aufzuschlagen, nicht müde werden, den Umschlag zu betrachten. Ich las immer auf's Neue [75] das Motto: »Woman's love how strong in its weakness, how beautiful in its guilt!« obschon es gar nicht zu dem Romane paßte, in welchem keine Sünde begangen, sondern lauter pure Entsagung geübt wurde. Ich schlug das Buch bald hier bald dort auf, nicht um es zu lesen – denn ich konnte es auswendig von Anfang bis zu Ende, weil ich es ganz noch einmal abgeschrieben hatte – sondern um mich an dem schönen Papier, an den vornehmen großen schwarzen Lettern und an dem splendiden weitläufigen Drucke zu erfreuen. Ich hatte viel mehr Genuß und kam mir in dieser Gesondertheit meines Auftretens weit bedeutender vor, als bisher in den Gesellschaftsspalten der »Europa«. Aber so enge fühlte ich mich mit dem kleinen gedruckten Bande, der natürlich ohne Namen des Verfassers in das Publikum gekommen war, verbunden, daß ich erschrak, als unser Freund Crelinger ihn einmal in meinem Zimmer liegen fand, und wie er das mit jedem andern Buche eben so gethan haben würde, ihn zum Lesen mit sich nach Hause nahm. Ich meinte, er müsse meine Ansichten, meine Ausdrucksweise darin erkennen, und das Geheimniß meiner Autorschaft also gegen meines Vaters Willen errathen. Das geschah indessen nicht. Er sprach mit mir völlig arglos von der kleinen Dichtung, und ich hatte vor ihm die erste Probe der Komödie zu machen, welche ich in den nächsten Jahren oftmals zu spielen genöthigt wurde, wenn man sich mit mir von meinen eigenen Arbeiten, wie von denen eines Dritten unterhielt, und ich also in die Lage kam, die allerehrlichsten Urtheile über mich zu vernehmen.

[76] Das kleine Buch machte seinen Weg schnell genug, und zu meiner großen Belustigung wurde es, ich weiß nicht von wem zuerst, der greisen Verfasserin der »Agnes von Lilien«, der alten Frau von Wolzogen zugeschrieben. Daß man mich für eine alte Dame hielt, brachte mich auf den Einfall, ein paar Briefe einer Großtante an ihre Großnichte über die Erziehung der Kinder und einen Aufsatz über die Lage der weiblichen Dienstboten zu schreiben, die bei uns in Preußen zu jener Zeit noch erbarmenswerth und ganz aussichtslos war. Beides wurde durch meines Bruders Vermittlung in die, damals von einem Criminalrath Richter redigirten Ostpreußischen Provinzialblätter gebracht, und nebenher ging ich an das Durcharbeiten meines neuen Romans, das nun nach Anleitung meines Bruders, dem ich die fertige Dichtung nach Berlin geschickt, und der sie mir mit einem ganzen Hefte voll Anmerkungen, Bedenken und Rathschlägen zurückgesendet hatte, noch viel gründlicher und ernster als bei dem ersten Buche vorgenommen wurde. Denn der günstige Erfolg dieser meiner ersten Arbeit hatte meinen Ehrgeiz aufgeregt, die lebhafte Empfindung für das Schöne und Große, für ein Ideales, die mir durch meine ganze Umgebung eingeflößte Achtung vor dem Volke, vor den Menschen, denen ich meine Dichtungen als ein Etwas darbieten wollte, für das ich ihre Theilnahme in Anspruch nahm, und endlich jenes einfache bürgerliche Pflichtgefühl, das für gutes Geld nicht schlechte Waare liefern wollte, trieben mich zu immer größerm Ernste an. Und wie mir einmal Heinrich Simon geschrieben, daß die richterlichen Pflichten ihm ein Gefühl der Würde gäben, welches ihm bis [77] dahin in Beziehung auf sein Amt fremd gewesen sei, so wurde mir das Bewußtsein, daß ich als Schriftsteller lehrend und berathend vor den Menschen dastände, zu einem Antrieb der Selbsterziehung. Ich wollte mich und meine Werke in Einklang bringen, ich wollte Nichts lehren, was ich nicht in meinem Leben darzuthun und durch alle Wechselfälle zu behaupten im Stande wäre. Denn ich hatte niemals daran geglaubt, daß ein Werk größer sein könne, als sein Schöpfer. Jene Lehren der romantischen Schule, welche dem Dichter ein von seiner Arbeit getrenntes Dasein in Möglichkeit stellten, jene Ansicht, welche behauptete, daß Jemand ein unordentliches wüstes Leben führen, und Reines und Hohes schaffen könne, oder daß ein Mensch, der sein eignes Leben nicht zu ordnen wisse, der um sich Zank und Niedrigkeit und Schulden und ungeregelte Verhältnisse habe, mit seinen Schriften in Wahrheit veredelnd und versittlichend auf sein Volk wirken, und in seinen Dichtungen mehr liefern könne, als die Dekorations-Wände, hinter welchen Potemkin der Kaiserin Katharine das Elend des Landes verbarg, das sie durchreiste, sind mir immer als ein Trug erschienen. Und wie Wallenstein von sich aussagt: »Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht, so kenn' ich auch sein Wollen und sein Handeln« – so habe ich für mein Theil nie wieder eine Zeile von einem Schriftsteller gelesen, vor dem ich als Mensch keine Achtung und keinen Respekt mehr hegte. Denn wie man sich auch stelle, es springt Niemand über seinen Schatten, und es kann Niemand in Wahrheit über sich hinaus!

Ich aber sollte, wenn auch nicht über mich selber[78] hinaus, so doch in die Welt hinaus. Mein Bruder Moritz hatte mir schon bei seiner Anwesenheit zu einem Luftwechsel und mehr noch zu einem Wechsel der Lebensweise gerathen. Ich hatte mich jedoch nicht entschließen können, die Meinen während des Trauerjahrs zu verlassen, und mich noch weniger entschließen können, meinem Vater die Ausgaben für eine neue Reise aufzubürden. Ich hatte schon zwei Reisen gemacht, meinen Schwestern war das Gleiche noch nicht zu Theil geworden, und mir wurde auch der Gedanke, mich von dem Vater zu trennen, da die Mutter todt, und keiner seiner Söhne im Hause war, jetzt viel schwerer als vorher.

Andererseits aber war ich in der That krank; und die Rücksicht auf die freiere Entwicklung meiner Schwestern, die früher bisweilen meine Entfernung von Hause wünschenswerth erscheinen lassen, waltete auch jetzt noch ob. Ich fühlte, daß ich nicht arbeiten dürfe, und zu Hause in ruhiger Muße die Tage hinzuleben, traute ich mir nicht die Festigkeit zu. Mein Vater wünschte daneben, daß ich Schönlein berathen solle, weil mein immer tieferes körperliches Herunterkommen ihn trotz aller Beruhigungen unseres sorgsamen Arztes ängstigte, und so entschloß ich mich denn im Hochsommer von dreiundvierzig, als ich mein erstes Honorar von Brockhaus erhielt, die Vaterstadt und meinen Vater wieder für eine Weile zu verlassen.

Ich hatte für die »Jenny« sechzig Friedrichsd'or bekommen, hatte den Ertrag von ein paar anderen kleinen Arbeiten und einen Theil meines ersparten Taschengeldes zurückgelegt, und kam mir mit einem Vermögen von circa vierhundert Thalern, zu denen das Garderobe-Geld von [79] vierundachtzig Thalern hinzukam, welches mein Vater mir gab, hinreichend aus gestattet vor, um ein Jahr davon außer dem Vaterhause leben zu können. Mein Vater neckte mich mit meinen Schätzen, hatte aber Freude daran, mich erwerbsfähig zu sehen, und so reiste ich denn am vierzehnten Juli wieder nach Berlin, ohne einen bestimmten Plan für meine nächste Zukunft zu haben.

Nachdem ich auf dem Gute Wogenab bei Elbing, auf welchem mein alter Religionslehrer, Consistorialrath Kähler, sich bei seinem Sohne, dem das Gut gehörte, zur Ruhe gesetzt hatte, eine Woche verweilt, und im Schooße der mir theuern Menschen schöne Stunden verlebt hatte, langte ich glücklich in Berlin an, und erregte meinem Bruder und meiner Schwester, welche sich damals dort befanden, ein wahres Erschrecken bei meinem Anblick. Das war, so sehr sie sich zusammen nahmen und mir es zu verbergen strebten, mir doch schmerzhaft, und in den nächsten Tagen hatte ich dasselbe immer wieder zu bestehen. Nahe befreundete Personen erkannten mich nicht, wenn ich sie auf der Straße grüßte, und konnten ihrer Verwunderung und ihres Bedauerns kein Ende finden, wenn sie sich endlich überzeugt hatten, daß ich es sei. Aber der Reiz der großen Stadt, die Ansehnlichkeit der Straßen, der edle Styl einzelner Gebäude wirkten erheiternd auf mich ein, und während alle Welt mich mit Besorgniß betrachtete, fühlte ich mich wohler und hoffnungsreicher als seit langer Zeit.

Es ist ein wahres Wort: die Lust macht eigen! aber eben so wahr ist's, daß die Enge oder Weite unserer Umgebung den Sinn befängt oder befreit.

[80] Hier ist Platz Etwas zu werden! Das war meine Empfindung, als ich an dem Abende, welcher meiner Ankunft folgte, von dem obern Balkon des Kranzler'schen Hauses, auf dem wir Eis gegessen hatten, die lange Straße der Linden, und die Friedrichsstraße hinunter sah. Zu Hause hatte ich oft die Empfindung gehabt, als fehle mir der Raum mich zu regen, als könne ich die Arme nicht aufheben ohne anzustoßen; als nehme mir das Zusehen der Andern die Fähigkeit der Bewegung. Hier in den breiten Straßen, in denen das Gaslicht so hell zwischen dem Grün der Bäume funkelte, hier, wo die Menge bei dem schönen Sommerwetter so lustig auf und nieder wogte, war mir's als athme ich leichter, als sei ein Druck von mir genommen. Ich freute mich an all den Menschen, nur weil sie mich nicht kannten, und wie man sich unter Verhältnissen in der Fremde mit Inbrunst nach dem Anblick eines bekannten Antlitzes sehnen kann, so genoß ich mit wahrer Wonne das Fremdsein in der großen Stadt. Nicht als hätten die Leute in Königsberg groß auf mich geachtet; aber wenn es unter Verhältnissen reizend ist, sich unter der Larve auf einem Maskenballe von der geistigen Anziehungskraft zu überzeugen, die man ausübt, so ist es unter gewissen Bedingungen noch reizender, ganz auf sich selbst gestellt, ohne herkömmlich mitgebrachte Gunst und Ungunst, sich in der Fremde und unter Fremden zu versuchen, und die Erfahrung zu machen, was man an sich selber werth sei.

Berlin fand ich in den drei Jahren, während welcher ich es nicht gesehen, ungemein verändert. Früher hatte sich das Leben vorzugsweise in der Königsstadt und in [81] dem Stadttheile bewegt, welcher das Schloß, die Linden und die zunächst liegenden Straßen umfaßte. Kam man achtzehnhundert vierzig nach den Stadttheilen in der Gegend des Potsdamer Thors, so war es dort einsam wie in Darmstadt oder Karlsruhe. Jetzt war das anders geworden. Die Anhalter Eisenbahn und die von Potsdam aus weiter eröffneten Schienenwege, zogen die Menschenmassen und den Verkehr nach dem Westende der Stadt. Es waren dort neue Straßen, wie die Anhalter Straße und der Askanische Platz entstanden; das ganze Viertel zwischen dem Askanischen Platze und der Potsdamer Straße befand sich im Bau. Rund um den Thiergarten erhoben sich neue Häuser, und zwar mit einem Aufwande und mit einem Geschmack, von welchem früher bei Privat-Bauten nicht entfernt die Rede gewesen war.

Der Luxus war überhaupt auffallend gestiegen. Der Geschmack des Hofes ist für die Residenzstädte überall maßgebend, und Friedrich Wilhelm der Vierte liebte die Pracht. Von den überaus prächtigen Uniformen der Garde-du-Corps, bis auf die Hofequipagen und Livréen war Alles glänzender geworden; und wenn man heute an diesen Luxus auch lange schon gewöhnt ist, so besprach man ihn damals doch sehr viel, und nicht eben, um ihn zu loben. Daneben lachte man noch über die Offiziere mit ihren mittelaltrigen Waffenröcken und den neuen Arimbiörn-Helmen, wenn sie dazu ein Lorgnon ins Auge gekniffen hatten; man lachte über das Stück Mittelalter, das den Uckermärkern und Cassuben mit der Pickelhaube auf den Kopf gestülpt worden war; man verglich die goldstrahlenden vier- und sechsspännigen Hof-Equipagen[82] mit ihren Vorreitern, Kutschern und Lakaien mit der zweisitzigen und zweispännigen Halbchaise, in welcher Friedrich Wilhelm der Dritte durch die Straßen gefahren war, und verglich die neuen bordürenstrotzenden Livréen mit den alten, welche damals die Fürstin von Liegnitz und der Hofstaat des Prinzen Wilhelm noch beibehalten hatten. – Ueberall fand man neue Magazine mit prächtigen Schaufenstern eröffnet, die »Etalage« war bei uns eingebürgert worden, und man bot in den Läden Waaren für Zimmereinrichtungen und Toilette zu Preisen feil, die vor wenig Jahren noch Niemand gezahlt haben würde.

Die Theilnahme für die bildenden Künste war gewachsen, dafür hatte die Theilnahme für das Theater abgenommen; einmal weil das Personal, das zum Theil noch heute in Thätigkeit ist, schon damals veraltet, und steif und träge geworden war, und zweitens weil die öffentlichen Zustände, weil die reactionäre Bewegung, welche sich bereits überall fühlbar machte, die Geister in Spannung hielt. Man sprach allerdings davon, wenn man heute die »Antigone« und morgen den »Sommernachtstraum« in Scene setzte, wenn man es heute mit der Antike und morgen mit der Romantik probirte; man strömte hin, es zu sehen, man erfreute sich auch an den Leistungen, sofern sie Erfreuliches boten, aber man erkannte darin bereits jenen Geist des unstäten Experimentirens, der es mit Allem, nur nicht mit dem Fortschritt, nur nicht mit dem frischen Leben der Gegenwart versuchen wollte; und wie groß man auch von Sophokles oder Shakespeare denken mochte, so gab es doch eine große Partei im Publikum, welche lieber die Trauerspiele Mosen's, [83] Minding's und anderer Zeitgenossen, welche den »Sohn des Fürsten«, »Andreas Hofer«, »Sixtus der Fünfte« und ähnliche Werke lieber als die antiken Dichtungen auf der Bühne gesehen haben würden, weil sie für den Augenblick mehr geeignet waren, den Geist des Volkes zu fesseln, und Kunst und Leben zur Wechselwirkung auf einander anzuregen.

Für's Erste blieb mir jedoch nicht lange Zeit, die geschehenen Veränderungen zu beobachten. Wenig Tage nach meiner Ankunft hatte ich Schönlein berathen müssen, und er hatte die Aussage unseres Arztes, daß meine Krankheit ein Nervenleiden sei, mit dem Zusatze bestätigt, daß ich die größte geistige Ruhe nöthig hätte, wenn ich mir nicht eine Herz-Erweiterung zuziehen wolle.

Da ich nun die Bestätigung erhalten, daß ich nicht arbeiten dürfe, so ging ich noch mit mir zu Rathe, was ich in Berlin mit mir beginnen solle, als sich mir eines Morgens eine Dame anmelden ließ, die ihren Namen nicht nennen wollte, und gleich darauf stand eine meiner Breslauer Consinen, eine der Schwestern Heinrich Simon's, vor mir.

Zehn Jahre waren vergangen seit wir einander nicht gesehen hatten. Sie war glücklich verheirathet, war jung und frisch geblieben, hatte mir ihre Neigung bewahrt, und wie es sie überraschte, mich so verändert zu finden, so erschütterte mich die plötzliche Begegnung auf das Heftigste, denn sie brachte mir, wie durch einen Zauber, den ganzen Inhalt dieser zehn Jahre in einem Augenblicke zur Empfindung.

Daß ich mit ihr gehen, mit ihr nach Breslau kommen [84] müsse, stand bei ihr fest, und wollte ich die Lieben einmal wiedersehen, welche ich dort zurückgelassen hatte, so konnte ich weder eine bessere Gelegenheit, noch einen mir passendern Zeitpunkt dafür finden, da sich zufällig mein Vetter Heinrich auf einer Ferienreise in der Schweiz befand. Ich entschloß mich also, ihren Vorschlag anzunehmen, und nachdem ich von Berlin bis Frankfurt meine erste größere Eisenbahnfahrt gemacht, fand ich mich gleichsam ohne mein Zuthun wieder in den Kreis der Menschen versetzt, von welchen ich einst so herzzerrissen geschieden war, konnte ich mir aus eigener Erfahrung die Worte Goethe's wiederholen: ach! und in demselben Flusse schwimmst du nicht zum zweiten Mal!

Sie waren noch Alle am Leben, Alle beisammen, sie hatten noch die alte unveränderte Liebe für mich im Hause meiner Tante. Nur der Eine war nicht da – und ich war nicht mehr dieselbe. Ich hatte nicht mehr die schwärmenden Hoffnungen, nicht mehr die verzweifelten Entmuthigungen, ich hatte an den Tagen Nichts, worauf ich wartete, in den Nächten Nichts, wovon ich träumte. Breslau war mir nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, nicht mehr der einzige Ort, an welchem ich glücklich sein konnte. Es war eine Stadt, wie andere auch, und ich dachte nach wenig Tagen daran, nun ich einmal hier sei, auch ihre Merkwürdigkeiten, ihre Kirchen und Klöster in Augenschein zu nehmen. Vor zehn Jahren war mir das gar nicht eingefallen, ich hatte nicht Zeit gehabt daran zu denken. Jetzt hatte ich Zeit für Alles! vollauf Zeit!

Da meine Cousine mich nach Breslau gebracht, so sollte ich dann nun auch mit ihr und ihren Eltern und[85] nicht wie früher bei meinem Onkel Lewald wohnen, und das war um so zweckmäßiger, als die Simon'sche Familie sich in Scheitnig, nahe vor dem Thore, aufhielt, und ich Landluft nöthig hatte. Scheitnig ist aber ein melancholischer Ort und tief gelegen, das Jahr war regnerisch und kalt, man konnte also nur wenig im Freien sein, und wenn man auf Naturgenuß angewiesen, in seinen Zimmern leben muß, wird man, so zufrieden man sonst auch sein mag, das Unbehagen nicht los, welches jedes Mißlingen, jedes Nichterreichen eines Zweckes uns verursacht. Indeß der Sonnenschein der Liebe, der mich umgab, entschädigte mich für die Ungunst der Jahreszeit, und besonders meine Tante war für mich noch weicher, noch mütterlicher als zuvor.

Ich bemerkte es oft, wie besorgt ihre Blicke mir folgten, wenn ich unwohl war, und Ruhe suchen mußte; ich sah, wie sie ihr Auge oft auf mich gerichtet hielt, wenn sie mich anderweit beschäftigt glaubte, und wie es sie befriedigte, mich heiter zu sehen.

Einmal hatte es auch den ganzen Tag geregnet. Am Abend, als es sich aufhellte und die Kießwege einigermaßen abgetrocknet waren, ging die Tante in's Freie hinaus und forderte mich auf, ihr zu folgen. Sie nahm meinen Arm und ging langsam mit mir eine bestimmte Strecke auf und nieder, wie das ihre Weise war, denn größere Wege machte sie nur äußerst selten. Der Abend war sehr klar, der Himmel sah so hell, so abgeregnet aus, als könne nun auf lange hinaus keine Wolke ihn mehr trüben. Der leichte Wind kräuselte die Blätter der Bäume, daß hier und da noch ein paar zurückgebliebene [86] Tropfen auf uns herniedersprühten; nur auf dem Boden waren Gräser und Gewächse noch naß, und ein Kohlfeld mit seinen metallgrünen Blättern, in welchen das Wasser sich wie in Kelchen gesammelt und erhalten hatte, sah im letzten Sonnenscheine ganz farbenprächtig aus.

Die Tante hatte, wie ich, die Neigung, gerade das, was ihr zunächst lag und was sie am genauesten kannte, am liebsten zu betrachten, und wir sprachen davon, wie dabei eigentlich für die Beobachtung auch am meisten gewonnen werde, weil keine Ueberraschung durch das Fremde uns beirrt. »Ich glaube,« meinte sie darauf, »Du bist überhaupt ein guter Beobachter geworden!« – Sie rühmte darauf verschiedene Schriftsteller, und deren Beobachtungsgabe auf sinnlichem und geistigem Gebiete, und fragte mich dann, ob mir der Roman »Clementine« wohl vorgekommen sei?

Ich war die Frage nun schon gewohnt, aus dem Munde meiner Tante machte sie mir aber einen ganz andern Eindruck, und mit dem heftigen Herzklopfen, das mich bei der geringsten Gemüthsbewegung überfiel, bejahte ich die Frage. Sie blieb stehen, schien mir Etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber und ging mit mir weiter. Sie mochte auf eine Mittheilung von mir warten, ich konnte sie ihr nach dem Versprechen, das ich meinem Vater gegeben hatte, nicht machen, und so schritten wir abermals unsern Weg hin und her, von diesem und jenem sprechend, bis die Tante plötzlich sagte: »Hast Du einen bestimmten Grund, es mir zu verschweigen, daß Du die »Clementine« geschrieben hast, so will ich nicht in Dich dringen, und mit Dir nicht davon sprechen, wie [87] ich auch zu Keinem der Meinen – sie betonte das bestimmt – davon geredet habe, denn,« fügte sie mit ihrem stillen Lächeln hinzu, »viel sprechen ist mein Fehler nicht; aber daß Du das Buch geschrieben hast, steht für mich fest.«

»Warst Du zufrieden?« fragte ich statt der Antwort. »Ja! durchweg zufrieden!« entgegnete sie mir, und wir wanderten weiter, immer auf und ab, und Jeder wußte, was der Andere bei sich dachte. Es liegt ein großes Glück in solch keuschem, schweigendem Verstehen, und wenn man neben einem Menschen im Schweigen Befriedigung empfindet, dann liebt man ihn sicher, und ist seiner Liebe und seines Verständnisses eben so gewiß.

Nach einer Pause wollte sie wissen, was mich bestimmt habe, die Arbeit ohne meinen Namen drucken zu lassen. Ich nannte ihr den Willen meines Vaters als den Grund, sie stimmte ihm nicht bei, fand es aber natürlich, daß ich mich unbedenklich füge, und versprach mir strengste Discretion. Ich sah jedoch, daß sie noch etwas Andres auf dem Herzen habe, und endlich hob sie nach kurzem Nachdenken noch einmal an und sagte: »Es ist sehr gut, daß Du endlich über Deine Begabung in's Klare gekommen bist und sie brauchen gelernt hast, Tochter! – so nannte sie mich bisweilen, wenn sie recht liebevoll war – aber Dein Vater hat sicher einen andern Lebensweg für Dich gewünscht. Er hat mir davon einmal geschrieben. Warum hast Du Dich nicht verheirathet? Der Mann soll gut und brav gewesen sein, und man kann sehr friedlich und in sehr würdiger Ehe mit einem Manne leben, auch ohne daß man eine besonders leidenschaftliche [88] Liebe für ihn hat.« – Ich wollte auffahren, denn grade von der Tante traten diese Worte mir, nach meinem Begriffe, ganz entschieden zu nahe. Ich nahm mich aber zusammen und entgegnete: »Alles, was sich für Deine und meines Vaters Ansicht sagen läßt, liebe Tante! habe ich der Tante in meinem Romane in den Mund gelegt. Du siehst also, daß ich es weiß; aber Du solltest dafür auch wissen, daß ich nicht thun kann, was vielleicht für manche Andre möglich wäre!« – Sie seufzte, legte ihre Hand auf die meine, und sprach sehr mild und sehr traurig: »Eben weil ich das weiß, wünsche ich lebhaft, daß es anders wäre. Du bist verändert, Fanny! bist nicht mehr gesund. Es würde mir eine Beruhigung, eine große Beruhigung sein, Dich noch einmal recht glücklich zu wissen – und nicht mir allein würde es ein Trost sein!« fügte sie mit einer großen Innigkeit hinzu.

Ich bat sie, sich nicht um mich zu sorgen, versicherte sie der Wahrheit gemäß, daß ich mich jetzt viel wohler befände, als vor einiger Zeit, und sie trug Verlangen, mir zu glauben. Als dann aber die übrigen Hausgenossen hinzukamen, und wir dadurch unterbrochen wurden, wiederholte sie mir: »Denke daran, Tochter! der Tag, an welchem ich Dich recht zufrieden und glücklich sähe, würde mir eine wahre Sorge vom Herzen nehmen, und wie gesagt, nicht mir allein!«

So scharfsehend meine Tante war, konnte sie nicht ermessen, was sie mir mit dieser einfachen Unterredung geleistet hatte. Wort und Ausspruch sind unter verschiedenen Umständen nicht dieselben, das rechte Wort und [89] der rechte Augenblick müssen zusammen treffen, um die rechte Wirkung zu erzeugen. Meine Geschwister und einzelne Freunde hatten mir häufig gesagt, daß meines Vetters Verhalten gegen mich kein fehlerfreies gewesen sei, ich hatte das selbst gefühlt und er selber hatte sich dessen angeklagt, aber ich wußte jetzt so gut und besser als er, was kein Anderer wissen konnte, wie viel Antheil meine eigene vorarbeitende Phantasie an meinen Schmerzen und Leiden gehabt, und jede von Dritten gewagte Anklage des geliebten Mannes war mir daher als ein Unrecht gegen ihn erschienen und hatte mich gereizt. Denn wer sich in dem Geliebten ein Ideal erschaffen, will lieber sich selbst beschuldigen, als den Geliebten beschuldigen lassen. Alle die langen Jahre, während welcher ich ihn nicht gesehen, während welcher ich mit ihm nur im Geiste beschäftigt gewesen, hatten ihn mir dem wirklichen Leben entrückt, und mich ihn, obschon ich wußte, daß er nicht mir gehörte, doch als mein Eigenthum und als mit mir verbunden betrachten lassen; ja grade in der Zeit, seit welcher ich aus Selbsterhaltungstrieb auf allen Zusammenhang mit ihm verzichtet, hatte sich mein Denken an das Ideal, zu dem ich ihn mir gemacht, nur gesteigert, und ich hatte mich, als ich nach Breslau und wieder in das Haus seiner Eltern gekommen war, Anfangs kaum darin finden können, von ihm, wenn auch mit großer Liebe, so doch mit der kühlen Besonnenheit der gesunden Vernunft reden und urtheilen zu hören.

Es lag etwas sehr Ernüchterndes darin, wenn man der Einrichtungen für seine Wohnung, seines Gehaltes, seiner amtlichen Verhältnisse, seiner geselligen Beziehungen [90] und seiner Aussichten für die Zukunft, ohne allen Hinblick auf mich gedachte, wenn man sich mit mir in der gleichmüthigsten Weise von sei nem Thun und Treiben unterhielt, oder mir seine Briefe zu lesen gab, deren heiterer Ernst, deren entschiedene Zufriedenheit mich neu und fremd bedünkten.

Jeder Tag, den ich in dem Hause meiner Tante verlebte, brachte mich solchergestalt mehr in die Wirklichkeit zurück; da aber der Weg aus einer Uebertreibung in die andre weit kürzer ist, als der Weg von der schwindelnden Höhe der Leidenschaft in die sichere Ebene der gesunden Vernunft, so war ich nun plötzlich sehr nahe daran, mich aller meiner heilig gehaltenen Qualen und Leiden, als einer wahren Verirrung zu schämen, über welche ich vor dem Geliebten selbst erröthen müsse, und in ein Mißtrauen gegen mich zu verfallen, das mir verderblicher geworden sein würde, als Alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Mit einer Art ironischer Freude hatte ich mir, seit diese Anschauung sich meiner zu bemächtigen begonnen, jede mir theure Erinnerung als eine lächerliche Einbildung bezeichnet, und ich fing an irre zu werden an meinem Herzen, an meinem Verstande, an meinem Ehrgefühl, ich war nahe daran, in einen neuen Abgrund zu stürzen, als das Wort meiner Tante mir rettend zu Hülfe kam.

Die sanfte, nur andeutende Weise, in welcher sie ihre und ihres Sohnes Empfindung für mich in Eines verschmolz, die schonende Liebe, mit welcher sie mich ihm gegenüber in mein Recht einsetzte, die Feinheit des Herzens, in der sie nicht von einem Un recht ihres Sohnes, [91] sondern nur von seinem Wunsche sprach, es vergessen und vergütet zu wissen, stellten mich in meinen Augen völlig wieder her; denn es giebt gar manche Fälle im Leben jedes Einzelnen, in welchen seine Kraft ihn verläßt, so daß sein eigenes Rechtsbewußtsein ihm nicht mehr genügt, und er des fremden Urtheils nöthig hat, um vor sich selber bestehen und in sich selbst wieder zu Einklang und Frieden gelangen zu können. Darauf beruht die Bedeutung der Sündenvergebung in der katholischen Kirche.

Von dem Augenblicke, in welchem Heinrich's Mutter mir mein Urtheil sprach, war ich frei und mir selber in jedem Betrachte wiedergegeben. Ich fühlte mich als einen neuen Menschen. Ich hatte zu verzeihen, und hatte einem Manne doch nicht viel zu verzeihen, der sich eine Schwäche, welcher kaum Einer an seiner Stelle sich nicht schuldig gemacht haben würde, selber als ein Unrecht vorhielt, welches er bereute. Zum ersten Male begriff ich die Möglichkeit einer neuen Zukunft und eines neuen gesunden Zusammenhangs mit meinem Vetter. Ich konnte frei von ihm sprechen, freier an ihn denken, ich fing an mich ruhig und heiter zu fühlen in dem Zimmer, welches ich bewohnte, und – es war Heinrich's Zimmer.

Ich ging darin umher und nahm die Geräthschaften in die Hand, welche er benutzte, ich saß und schrieb an seinem Tische, ich stand und betrachtete seine Bücher. Es waren viele von seinen Arbeiten darunter. Schon gegen das Ende der dreißiger Jahre hatte Heinrich Simon neben seiner amtlichen Thätigkeit als praktischer Jurist, sich als Schriftsteller mit den preußischen Gesetzen und ihrer Bedeutung zu beschäftigen angefangen, und theils [92] allein, theils im Verein mit gleichdenkenden Freunden, eine Reihe von Werken veröffentlicht, welche sich mit der Kritik, mit der Erklärung und Erläuterung der preußischen Gesetzgebung beschäftigten. Wenn ich diese Reihe von Büchern in seinem Zimmer stehen sah, wenn ich ihre Titel auf dem Rücken der Bände las, so trat mir die ganze Thätigkeit des vielbeschäftigten Mannes wie im Bilde vor Augen, und ich nahm wohl hier und da einmal solch ein juristisches Werk in die Hand, und blätterte auf gut Glück darin herum, und freute mich an den klaren Auseinandersetzungen, und an den einzelnen schlagenden Worten und Sentenzen, die mir gelegentlich in die Augen fielen.

Vor Allem war es das Werk über die Gesetzgebung in Betreff der Juden, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog; und daß wir Beide, ohne von einander zu wissen, mit demselben Gegenstande beschäftigt, für dieselbe gute Sache thätig gewesen waren, machte mir ein neues inniges Vergnügen. Während Simon das Recht der Juden auf staatliche Anerkennung und bürgerliche Gleichstellung, und das an ihnen begangene Unrecht durch die Rechtswissenschaft zu beweisen strebte, hatte ich in dem Gebiet der Dichtung ein Gleiches gethan, und wenn ich es auch in mir fest beschlossen hatte, Heinrich für's Erste noch nicht wiederzusehen, so mochte ich es mir doch nicht versagen, ihm aus der Ferne ein Zeichen zu geben, das ihn beschäftigen, ihn interessiren sollte, wenn schon es ihn nicht direkt an mich erinnern konnte.

Man hatte mir, als ich von Berlin fortgegangen war, die letzten Bogen der »Jenny« zur Revision gesendet. [93] Nur der Titel des Buches war noch zu drucken, und ich hatte es mir vorbehalten, noch ein Motto für dasselbe zu bestimmen. Ich hatte lange nach einem solchen gesucht, hatte bald dieses, bald jenes gewählt, und war endlich bei einem Ausspruch Börne's stehen geblieben, als ich zufällig eines Tags noch einmal Simon's Werk über »die Verhältnisse der Juden in Preußen« in die Hand nahm, und folgende Stelle in demselben traf: »Ein Stamm, aus dem der Erlöser, die Madonna, die Apostel hervorgegangen, der nach tausendjähriger Verfolgung dem Glauben und den Sitten seiner Väter treu geblieben, nach tausendjährigem Drucke noch hervorragende Größen für Wissenschaft und Kunst erzeugt, muß jedem andern ebenbürtig sein!«

Solch ein Wort hatte ich gesucht, nun hatte ich es gefunden! Und mit diesem Motto ging denn mein zweiter Roman, ebenfalls ohne meinen Namen, in die Welt. Das Motto als Schleife und Erkennungszeichen für den Freund an dem verhüllenden Domino der Anonymität.

[94]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Es hatte in meines Vaters Absicht gelegen, daß ich in diesem Herbste noch irgend eine Reise unternehmen sollte. Er hatte an Dresden, an Wien gedacht, ich hatte aber in Berlin unter meinen Bekannten Niemand gefunden, dem ich mich hätte anschließen können; an die Möglichkeit, allein zu reisen, dachte ich damals noch nicht, und ich hatte auch, nachdem ich einige Tage in Berlin gewesen war, die Erfahrung gemacht, daß ich es nicht wagen dürfe, mir selbst nur mäßige Anstrengungen zuzumuthen.

Die Ruhe und Zurückgezogenheit im Hause meiner Tante waren also eben das, was ich bedurfte, man hatte mich dort eben so gern, als ich gern dort verweilte, und wünschte mich bis zum Spätherbste in Breslau zu behalten. Indeß ich traute mir und meinen Empfindungen nicht, und beharrte bei meinem Vorsatz, für jetzt meinem Vetter noch auszuweichen, und ihn nicht eher wieder zu sehen, bis ich ihm innerlich völlig gesund und frei entgegentreten könne. Am Tage nach dem Geburtstage seiner Mutter, den ich noch mit ihr zu verleben gewünscht, sagte ich den Freunden Lebewohl, und als Heinrich zu den Seinigen zurückkam, war ich bereits wieder in Berlin, und fing[95] an, mich dort bei einer meiner Verwandten, bei welcher ich wohnen sollte, für einen längern Aufenthalt einzurichten.

Mit dem festen Willen, ein neues Leben anzufangen, sah ich meine alten Berliner Freunde wieder. Ich kannte mich und das Menschenherz bereits genugsam, um zu wissen, wie sehr man es in seiner Macht hat, Herr über sich und seine Verhältnisse zu werden, wenn man sich über sie stellt; wie anders man ein Schicksal auffassen kann, je nach dem Standpunkt, von welchem man es betrachtet. Jahre lang hatte ich mich in die Vorstellung eingelebt, daß ich ein altes Mädchen, und als ein solches ohne Hoffnung auf Freude und auf Glück sei. Jetzt fing ich an mir zu sagen, daß ich eine junge Schriftstellerin sei, daß ich einen Vater in leidlich sorgenfreien Verhältnissen und gute Geschwister habe, daß ich treue Freunde besitze und ein Talent, welches zu üben mir Freude bereite, während es mir eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern versprach, und ich hatte ein Ziel vor Augen, das ich mit Begeisterung und mit Ehrgeiz verfolgte. Je öfter ich mir dies wiederholte, um so fester ward mein Glauben an diese vorzüglichen Güter; und der Glaube macht nicht nur selig, er macht auch stark.

Ich bekam Lust das Gute zu nutzen und zu genießen, das mir zu Gebote stand, Lust zu leben, wie ich sie lange nicht gehabt hatte, und die Lebenslust ist der Ballon, der uns in die Höhe trägt und uns dasjenige als Maulwurfshügel betrachten läßt, was uns kurz vorher noch als unübersteigliche Hindernisse bedenken wollte.

Bei meiner Wiederkunft nach Berlin gefiel mir die[96] Stadt noch besser als zuvor. Die wiederkehrenden Kräfte, der befreite Sinn, die Unabhängigkeit, deren ich mir mehr und mehr bewußt zu werden begann, ließen mich Alles in einem freundlichen Lichte erblicken. Jedes Paar Handschuhe, das ich mir kaufte, jedes Glas Limonade, das ich bezahlte, gefielen und schmeckten mir, wie nie zuvor, denn ich kaufte und bezahlte es mit meinem eigenen, selbstverdienten Gelde. Ausgeben, sparen, schenken, Alles machte mir Vergnügen, und ich glaubte, nun könne ich Alles haben, oder eigentlich, nun gehöre mir schon die ganze Welt, weil ich ungefähr fünfhundert Thaler mein eigen nannte. Es war das thöricht, aber es war ein Stück Jugend darin. Zu Hause, wo wir, wie ich wußte, jährlich so und so viel tausend Thaler gebraucht hatten, waren mir fünfhundert Thaler nicht eben als eine große Summe vorgekommen, denn ich rechnete sehr gut, und wußte, wie weit wir damit reichen konnten. Hier in Berlin aber, wo ich für mich allein stand, wo ich gewahrte, wie gering im Grunde meine persönlichen Bedürfnisse seien, und wie sehr leicht ich eine Menge von Bequemlichkeiten missen konnte, deren ich zu Hause theilhaftig geworden und auf die ich sogar Werth gelegt hatte, hier fühlte ich auch in dieser Leichtigkeit mich zu beschränken, daß ich nicht alt war; und das Stückchen Jugend, das wie eine Hand breit von blauem Sonnenhimmel aus dem grauen Gewölk hervorsah, in das sich mein Leben bis dahin gehüllt hatte, fing an, sich breiter und breiter auszudehnen, und das mir fremd gewordene helle Licht belebte und erquickte mich, als ob es nicht aus meinem eigenen Innern emporgestiegen wäre. Täglich entdeckte [97] ich in mir neue Möglichkeiten mich zu freuen, und wenn ich mich manchmal mitten im vollen Strome heiterer Empfänglichkeit und lebhafter Genußfähigkeit daran erinnerte, wie krank ich gewesen, wie muthlos, wie alt, wie hoffnungslos ich mich noch vor wenig Monaten gefühlt hatte, so kannte ich mich kaum wieder, und begriff selbst nicht, wie diese Wandlung sich vollzogen hatte. Ist aber das biblische Wort: »Wer hat dem wird gegeben«, irgend wo völlig eine Wahrheit, so ist es für den Wohlgemutheten, denn diesem wird Alles ein neuer Anlaß, sich in seiner Stimmung zu befestigen und zu steigern, und das Gefühl doppelter Genesung ließ mich an allen Ecken und Enden Vergnügungen finden, daß ich mir selbst bisweilen so komisch vorkam, wie der Berliner Posamentier in der alten Posse: »Er amüsirt sich doch!«

Abends unter den Linden, unter lauter Fremden spazieren zu gehen, blieb mir lange Zeit ein Hauptgenuß. So wanderten wir denn auch einmal, mein Bruder und ich, als es schon ziemlich spät war, die Charlottenstraße hinab, und sahen vor Meinhard's Hotel viel Leute und eine Ehrenschildwache; eine Strecke weiter, bei Kranzler großen Auflauf, Jungen, die sich balgten, Gensd'armen, welche Frieden stiften wollten, Menschenmassen, die immer auf's Neue hinzudrängten. »Was giebt's?« fragte mein Bruder. – »Es sind Russen angekommen, und die amüsiren sich damit, durch die Fenster Händevoll Geld auf die Straße zu werfen.« – »Aber warum verbietet man das nicht?« – »Es sind Herren aus dem Gefolge des Kaisers!« antwortete man achselzuckend. »Der Kaiser ist mit dem Thronfolger und dem Herzog von Leuchtenberg[98] Nachmittag unerwartet hier eingetroffen und von dem Stettiner Bahnhof mit zwanzig Droschken Gefolge in das Gesandtschafts-Hotel gefahren.« – Das Hotel war denn auch durch alle Etagen glänzend beleuchtet, galonirte Hofdiener liefen in den Straßen umher, die Hofequipagen rollten über das Pflaster, Generale in Galauniformen kamen von allen Ecken herbei, es war Alles in Bewegung und dazu der schönste Mondschein einer Septembernacht.

Am andern Morgen früh sieben Uhr weckte mich die Unruhe auf der Straße. Es war schon Alles heraus, die Menschen wieder in fröhlicher Bewegung, Wagen und Reiter strömten dem Halle'schen Thore zu, die Damen in bestem Putze, ein Wagen hielt auch vor unserer Thüre. Bekannte kamen mich zu holen, es gab eine große Parade, ich sollte sie mit ansehen kommen. Es waren, wie man sagte, zwölftausend Mann beisammen, und mich dünkt, es war die erste Parade, welche man die neu uniformirten Truppen machen ließ. Der Herzog von Braunschweig, ein baierischer Prinz waren anwesend, und nun war der Kaiser, den man nicht mehr erwartet hatte, noch dazu gekommen. Friedrich Wilhelm der Vierte führte ihm selbst die Truppen vor. Ein Zug kolossaler Armeegensd'armen ritt vorauf. Etwa hundert Schritte hinter ihnen, und eben so weit von den nachfolgenden Truppen entfernt ritt der König einen weißgezäunten Rappen mit feuerfarbener goldgestickter Chabracke. Er und alle seine Brüder, die Frauen des königlichen Hauses, waren immer noch jung und schön, und unter der Reihe der Equipagen, in welchen die Damen des Hofes und die Frauen der [99] Gesandten fuhren, war es eine, welche die Aufmerksamkeit vor allen andern fesselte, der Wagen der Henriette Sontag, der schönen Gräfin Rossi, welche ich sieben Jahre später in der Londoner Gesellschaft und auf der Londoner Bühne wiedersah, ehe sie in Brasilien ihr zu frühes Ende fand.

Was mich an jenem Morgen am meisten beschäftigte, war aber die wahrhaft antike Schönheit des Kaiser Nikolaus. Seine Gestalt und sein Kopf hatten etwas, das unserer Zeit nicht anzugehören schien. Man dachte an die trojanischen Helden, an die Nordlandsrecken, an irgend ein mythisches Urbild männlicher Körperkraft, und ich habe weder vorher, noch nachher einen Mann gesehen, der, wenn ein Zauberspruch ihn plötzlich in Stein verwandelt hätte, so vollkommen den Ansprüchen genügt haben würde, welche man an die klassische Schönheit und Ruhe einer Statue macht. Aber das Gesicht war auch wie Marmor kalt und hart, und außer dem Ausdruck des Stolzes und des starken Willens, wenig oder Nichts darin zu lesen. Der Herzog von Leuchtenberg, der Sohn Eugen's von Beauharnais, war ebenfalls groß und stark, und mit seinem schwarzen Haar und schwarzem starken Barte, bei entschieden französischer Physiognomie, auch eine bedeutende Erscheinung. Aber neben dem Kaiser Nikolaus schrumpfte Alles zusammen, und mitten aus dem Gewühle der Generale und Prinzen, mitten aus den Menschenmassen hervor und Alles überragend, sah man immer den Kaiser in der weißen Uniform, das orange Band des schwarzen Adlerordens über der breiten Brust, und den goldenen Helm auf dem mächtigen Haupte.

[100] Für mich lag der Reiz solcher Schauspiele allerdings weniger in ihnen selbst und in dem Glanze, der dabei entfaltet wurde, als in dem Gedanken, an einem Orte zu leben, an dem sich immer Neues und Bedeutendes ereignete, und in welchem man im Vergleich zu meiner Vaterstadt also beständig die Empfindung hatte, sich mitten im Leben und mitten im Weltgetreibe zu befinden.

Weit mehr noch als die einzelnen Gala- und Staatsaktionen interessirte mich das Leben des Volkes; denn die uns durch unsere ganze Erziehung eingeflößte Theilnahme für Alles, was die Thätigkeit des Gewerbes und die Verhältnisse der Gewerbtreibenden und der sogenannten arbeitenden Klassen anging, war durch die Richtung der damaligen Literatur noch erhöht worden. Wir befanden uns nämlich gerade in den Tagen der »Mysterien«. Sue hatte die Mysterien von Paris geschrieben, Bettina in ihrem Königsbuche die Zustände in dem Berliner Voigtlande aufgedeckt, und man war solchergestalt eigens darauf hingewiesen, hinter den Figuren, welche uns täglich begegneten, irgend welche Besonderheiten und Geheimnisse zu vermuthen, und sie sich darauf anzusehen. Der Schulmeister, die Chouette, die Rigolette spukten in allen Köpfen, und ich finde denn auch in den Briefen, welche ich in jener Zeit an meinen Vater schrieb, vielfache Notizen und Erzählungen über Personen und Begegnungen, welche mir innerhalb der gedachten Gebiete vorgekommen waren. Eine kleine Unterredung mit einer Bettlerin scheint mir so charakteristisch für die Bettler-Industrie der großen Städte, daß ich mich nicht enthalten kann, sie hierher zu setzen.

[101] Schon bei meinem frühern Verweilen in Berlin hatten mich die blinden Musikmacher in den Straßen interessirt, einmal weil bei uns in Königsberg diese Art des Bettelns noch gar nicht vorkam, und zweitens weil ich, an Berechnen solcher Dinge gewöhnt, mir nicht recht vorzustellen vermochte, wie der blinde Musikant und sein Führer zusammen von den Almosen leben konnten, die nicht eben oft und reichlich gegeben zu werden schienen.

Nun befand ich mich eines Mittags bei einer Freundin, als es plötzlich an ihrer Thüre klingelte. Man öffnete, und eine starke Stimme rief die Worte: die blinde Harfenfrau! in das Entrée hinein. Meine Freundin erhob sich und ging hinaus, es stand eine noch ganz kräftige Frau im Corridor, die Hausherrin reichte derselben das Almosen, welches sie ihr allmonatlich zu geben pflegte, und fragte dabei, ob sie nun schon Etwas spielen könne?

Ich sah mir die Bettlerin an, ihre Augenlider waren krank, aber sie sah offenbar vollkommen gut, und war überhaupt in einem Zustande, der sie anscheinend zu jeder Arbeit befähigte, so daß ich ganz verwundert fragte, ob sie denn die blinde Frau sei, und weshalb sie die Harfe spielen lerne?

Mein Erstaunen brachte sie aber keineswegs aus ihrer Fassung. Sie zuckte mit den Schultern, und antwortete mit einer völligen Unbefangenheit: »Sehen Sie, Fräuleinchen! das ist, wie es so kommt! Ich habe an die zehn Jahre eine blinde Frau geführt, die die Harfe spielte, und die ist mir voriges Frühjahr gestorben. Nun bin ich auch schon zweiundfünfzig Jahre und schlimme Augen habe ich auch. Ich bin einmal nach der Charité gegangen [102] und wollte mich kuriren lassen, da haben sie aber gesagt, für meine Augen wäre Nichts. Da dachte ich, was sollst du machen? Aus der Arbeit war ich 'raus; meine Tochter dient bei einem Federviehhändler, die kann mir auch noch nichts abgeben, denn sie hat selber noch nicht viel; ich entschloß mich also kurzum und lernte die Harfe.« – »Aber wo bekamen sie die Harfe her?« fragte ich. – »Die hab' ich mir gekauft.« – »Was kostet die Harfe?« – »Zehn Thaler! ich zahle monatlich einen Thaler ab.« – »Können Sie Noten lesen?« – »Nein! ich lerne bei Rikkerten spielen, der lehrt es mich so in die Finger, der lehrt's Allen so in die Finger!« – »Was müssen Sie dafür bezahlen?« – »Fünf Silbergroschen für die Stunde.« – »Wie viel Stücke können Sie?« – »Viere, aber erst Eins ganz fertig. Wenn nun aber die langen Abende kommen, und man nicht mehr Lust hat, so lange auf der Straße zu bleiben, weil's Geschäft auch Abends nicht so geht, dann will ich's bis auf zehne bringen.« – »Macht's Ihnen denn Vergnügen zu spielen, daß Sie soviel Stücke lernen wollen?« – »Das Eine, was ich kann, recht sehr! aber die Andern die müßten Sie Rikkerten spielen hören, das ist wie in's Opernhaus!« – Sie hatte wirklich eine Art von Enthusiasmus für die Kunstleistungen ihres Lehrers, und als ich, darüber lachend, wissen wollte, ob er viel Schüler habe, antwortete sie, als ob die bloße Frage sie beleidige: »Schüler? Der? Das reißt gar nicht ab, von früh bis spät.« – »Warum lassen Sie sich denn aber führen? Sie können ja ganz gut sehen, und sind [103] ja stark genug, die Harfe zu tragen?« forschte ich weiter. – »Gott ja! tragen könnte ich sie schon, aber es sieht beweglicher aus, wenn mich Einer führt«, bedeutete sie mich, »und es bringt sich denn auch ein.« – »Was geben Sie der Frau, die Sie führt?« – »Fünf Groschen den Tag, denn das bekam ich auch!« – »Und wie viel nehmen Sie ein?« – »Wenn's Wetter schlecht ist, und sie gehen mit Regenschirmen, daß Keiner was aus der Tasche nehmen will, wird's manchmal nicht mehr als zehn Silbergroschen, ist's aber schön, und ich spiele im Thiergarten, dann sind's auch fünfzehn, auch zwanzig Groschen, und stoße ich just auf viele Fremde, dann auch fünfundzwanzig und darüber!«

Mich unterhielt der Hinblick auf diese Industrie, und auf den Ueberschlag ihrer Kosten und ihres Ertrags, welcher uns mit voller Freiheit und mit dem Gefühl ehrlicher Berechtigung, in allen ihren Einzelnheiten ohne alle Verlegenheit mitgetheilt wurde, denn die Frau hatte ein Gefühl von Anständigkeit, wie Jemand, der das Gewerbe fortsetzt, welches er bei seinem Vorgänger erlernt hat. Ich habe bei ähnlichen Fragen und ähnlichen Mittheilungen in jenen Tagen müßigen Abwartens und Zusehens gar viele ähnliche Details aus dem Leben der uns umgebenden Menschen, theils durch absichtliche Fragen, theils ganz zufällig erfahren, die mir später gut zu Statten gekommen sind, und mich bei meinen Arbeiten vor manchen Mißgriffen bewahrt haben, weil sie mich die Erfahrung machen ließen, wie verschieden die Begriffe von Recht und Unrecht, von Ehre und Schande, je nach dem verschiedenen Bildungsgrade der Menschen sind, und wie falsch [104] man zeichnet, wenn man die Empfindungen des einen Standes ohne Modifikationen auf einen andern überträgt.

Ich schlenderte damals im Leben, wie ein spazierengehender Botaniker umher, der sich ohne bestimmte Absicht auf seinen Weg gemacht hat, und es dann doch nicht lassen kann, beobachtend umher zu blicken, und aufzusammeln, was sich ihm auf seiner Wanderung Anziehendes für seine Herbarien darbietet. In diesem geistigen Herumschlendern gingen der Spätsommer und der Anfang des Herbstes mir vorüber. Im October konnte ich meinen zweiten Roman, die »Jenny« meinem Vater in die Heimath senden. Ich hatte viel Durchlebtes in denselben hineingelegt, so weit es das Verhältniß Jenny's zum Christenthum betraf, ich hatte nach meinem besten Vermögen in dem Roman die Sache des Volksstammes vertreten, dem ich angehörte, und einzelne Züge aus dem Charakter meines theuren Vaters in die Figur des alten Meier übertragen. Nun stand noch Heinrich Simon's schönes Motto auf dem Titelblatte, und ich hatte die feste Zuversicht, daß mein Vater Freude an der Dichtung haben würde, auf deren Erfolg in der Oeffentlichkeit ich aus vielen Gründen höchlich gespannt war.

Gleich nach Empfang des Romanes schrieb mein Vater mir: »Meine liebe Fanny! den herzlichsten, innigsten Dank meine liebe Tochter, für das mir gesendete Exemplar der Jenny. Ich werde solche jetzt gedruckt mit Bedacht und Freude lesen. Möge Deine Jenny Dir so viel Freude bringen, als Du gute Tochter! von jeher bemüht warst mir Freude zu machen, seitdem Du im Stande warst Recht von Unrecht zu unterscheiden. Der [105] liebe Gott erhalte Dich und lasse es Dir immer wohlgehen; vor Allem aber sieh Du selbst auf Deine Gesundheit. – Wie aber steht es mit der Anonymität? Ich bin sehr dafür, daß sie wo möglich erhalten werde. Schreibe mir aber, was Du darüber denkst und was Du thust, damit wir gleichmäßig verfahren. Uebrigens hast Du den Brief ja frankirt geschickt. Bist Du schon so reich mein Kind? – In Liebe Dein Vater.«

Es war das der Ton voll weicher Zärtlichkeit, mit der er regelmäßig zu mir sprach, wenn er meiner neuen Laufbahn und meines Strebens mich vorwärts zu bringen gedachte, und ich hatte meinen schönsten Lohn dahin, wenn mein Vater Freude an mir und meinen Arbeiten bezeigte. Denn wie sehr mein Sinn auch auf Unabhängigkeit und auf das Leben in der Welt gestellt war, so hing ich doch noch so fest mit dem Vater und dem Vaterhause zusammen, daß Alles, was ich erreichte, mir seinen wahren Werth erst durch den Gedanken an die Wirkung empfing, welche es auf meinen Vater machen würde: alles Gute, das wir genießen, wird uns ja auch erst zum Glück, durch seine Resonnanz in einem von uns geliebten Herzen.

Der Hausordnung nach, hatten sämmtliche außerhalb des Hauses lebende Kinder, und im Jahre dreiundvierzig waren von uns acht Geschwistern nur noch vier Töchter bei meinem Vater, die Pflicht, spätestens alle vierzehn Tage ausführliche Nachricht von sich zu geben, so daß der Vater eine förmliche Chronik über unsere Tage besaß, die sehr unumwunden und ehrlich ausfiel, da wir ihm von ganzem Herzen vertrauen und seiner Nachsicht [106] sicher sein durften, selbst wo wir nach seiner Meinung nicht das Rechte thaten. Er war weise genug, uns Raum für unsere Irrthümer zu gönnen, und es ruhig mit anzuhören, wenn unser Urtheil über Dinge und Menschen lange Zeit hindurch ein schwankendes blieb, wenn wir heute in den Himmel erhoben, was wir morgen als etwas Gewöhnliches und nach einiger Zeit vielleicht kaum noch als ein Gutes gelten ließen. Alles, was er diesen wechselnden Ansichten gegenüber zu thun pflegte, war, uns gelegentlich mit unseren eigenen Worten daran zu erinnern, um uns auf die Unzulänglichkeit unserer ersten Eindrücke aufmerksam zu machen, und uns Vorsicht und Maß gegenüber den neuen Bekanntschaften und Geduld und Rücksicht für ererbte Verbindungen anzuempfehlen.

Mein Umgangskreis hatte sich nun schon seit dem Jahre neununddreißig weiter ausgebreitet. Ich hatte namentlich im Bloch'schen Hause eine Reihe anziehender Bekanntschaften gemacht, war durch Frau Bloch in verschiedene Beamtenfamilien eingeführt worden, indeß es war in denselben wie in allen andern Gesellschaften, und eigentlich noch schlimmer. Man kam zusammen, um einen Toiletten- oder Tafelluxus aufzuweisen, den man bei den meist sehr beschränkten Vermögensverhältnissen der preußischen Büreaukratie weit vernünftiger vermieden hätte, und von jener Berliner Gesellschaft, welche ähnlich der französischen des vorigen Jahrhunderts, die Menschen zu erfreulicher und fördernder Unterhaltung zwanglos zusammen führen sollte, fand sich im Leben kaum noch eine Spur, ja eigentlich nur noch die Tradition.

Man nannte die Namen der Personen, um welche[107] sich jene aus den verschiedensten Ständen zusammengesetzte Gesellschaft versammelt hatte, Namen von hochgebornen Frauen, von Schauspielerinnen, von Jüdinnen, aber sie waren dahin, und nur aus der Zahl der Letztern lebten noch zwei hervorragende Persönlichkeiten, die Hofräthin Henriette Herz und Frau Sara Levy.

Ich trug ein Verlangen, diese Damen kennen zu lernen, aber mir fehlte der Muth, die theilnehmende und verehrende Empfindung, welche ich für sie hegte, als ein Anrecht an sie zu betrachten, und so war ich schon lange in Berlin gewesen, ehe ich einer jungen Frau, welche von der Hofräthin Herz sehr hoch gehalten wurde, einmal den Wunsch aussprach, der Letztern zugeführt zu werden.

Die Hofräthin Herz war die Tochter eines jüdischen Arztes, eines Doktor Lemos, und siebenzehnhundert vierundsechzig in Berlin geboren. Fast noch ein Kind, kaum fünfzehnjährig, hatte man sie einem bedeutend ältern Manne, dem Doctor Markus Herz, verheirathet, der ein berühmter Arzt, und als solcher eben so, als um seines Geistes und seiner hervorragenden Bildung willen, weitgeachtet und gesucht war. Als Gattin dieses Mannes, von dessen Originalität und von dessen oft sehr drastischen Kuren ich in meiner väterlichen Familie noch manche auf eigenes Erinnern gegründete Erzählungen vernommen, hatte sie in Berlin ein großes Haus gemacht, bis ihr Gemahl zu Anfang des Jahrhunderts gestorben war. Ihre Vermögenslage war bei seinem Tode keine glänzende, indeß war dieselbe damals doch noch ausreichend, ihr eine heißersehnte mehrjährige Reise nach Italien zu gestatten, und als sich nach ihrer Heimkehr aus dem [108] Süden ihre Glücksumstände noch ungünstiger gestalteten, hatte die edle Frau es trefflich verstanden, sich mit würdiger Entsagung in die ihr auferlegten Beschränkungen zu finden, und nach wie vor voll Theilnahme an dem Allgemeinen wie an dem Persönlichen, voll Hülfsbereitschaft für Jeden, dem sie Etwas leisten konnte, der geistige Mittelpunkt eines großen und bedeutenden Menschenkreises zu bleiben.

Es war schon ziemlich spät am Tage und dämmrig, als ich zum ersten Male bei ihr eintrat. Die Hofräthin, welche ich immer als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit bezeichnen hören, war damals schon in der Mitte der Siebenziger, und saß, eben von einem Krankheitsanfalle genesen, mit einem weißen Oberrock und einer weißen, etwas großen Haube angethan, in einem alten, niedrigen Lehnstuhl, nahe an dem Fenster.

Sie empfing mich sehr verbindlich, obschon ich damals keinen äußern Anspruch irgend einer Art vor ihr geltend zu machen hatte, wiederholte mir das Freundliche, was die Dame, welche mich ihr vorstellte, ihr über mich gesagt, und that eine Reihe jener Fragen an mich, welche wohlwollende, lebenssichre Menschen dem Neuling in der Gesellschaft als die Brücke unterbreiten, auf welcher er über die ersten Minuten hinwegkommen kann.

Ich hatte dabei Gelegenheit, sie zu betrachten, und so alt und verfallen ihre Züge waren, die vollendete Regelmäßigkeit ihres Kopfes zu bemerken. Die große freie Stirne, die vorspringende Braue und der edle Schnitt der Nase waren noch unverkennbar, obschon der Mund tief eingesunken war und das Kinn dadurch hervortrat, [109] auch die Augen sahen noch klug und freundlich in die Welt, und vor Allem war die Stimme noch sehr angenehm, die ganze Art und Weise ihres Behabens wohlthuend.

Da man ihr gesagt hatte, daß ich eine Königsbergerin sei, sprach sie davon, daß sie früher viel liebe Freunde in Ostpreußen gehabt, und in Tagen, welche vor meiner Geburt gelegen, dort mit vielen Personen in nahen Beziehungen gestanden habe. Sie fragte mich nach Einem und dem Andern unter den noch Lebenden, erhob sich dann plötzlich mit der Langsamkeit, welche ihr körperlicher Zustand ihr auferlegte, aus ihrem Lehnstuhl, und ich wurde dabei von ihrer Größe überrascht, die trotz ihrer Gebeugtheit durch die Jahre, mir, nachdem ich sie zuerst sitzend erblickt hatte, fast unnatürlich erschien. Schon ihre Erzählungen von Zeiten, die für mich einer sehr fernen Vergangenheit angehörten, und von denen sie mit einem Ausdruck naher Gegenwärtigkeit sprach, hatten für mich etwas Mythisches gehabt; nun aber die große, magere Gestalt, in dem weißen Gewande im Dämmerlichte vor meinen Augen langsam hoch und immer höher emporstieg, hatte die Erscheinung gradezu etwas Gespenstisches, und ich hätte mich kaum gewundert, wenn sie sich allmählig in Nebel gehüllt und aufgelöst, und sich so meinen Blicken entzogen hätte. Es war ein Eindruck, der mir für immer unvergeßlich geblieben ist.

Später, als ich ihr näher bekannt wurde und sie öfter besuchen durfte, bemerkte ich, daß ihr Oberkörper im Verhältniß zu ihrer Gestalt eigentlich zu klein war, so daß sie sitzend nur die gewöhnliche Frauengröße zu haben schien, während sie in der Zeit ihrer vollen Kraft [110] über die Höhe unseres Geschlechtes hervorgeragt haben und eine wahrhaft majestätische Frau gewesen sein soll.

Sie wohnte, als ich sie kennen lernte, in der Markgrafenstraße in dem ersten Stockwerk eines alten und ziemlich verfallenen Hauses. Ueber eine finstre Treppe und einen eben so finstern Flur trat man durch eine kleine kaum meublirt zu nennende einfenstrige Stube in das zweifenstrige Wohnzimmer ein, das mit der höchsten Einfachheit eingerichtet war. Keines von den modernen Menbeln, die wir jetzt beinahe zu den Unentbehrlichkeiten rechnen, keine Fauteuils, keine Causeusen, keine großen Spiegel, keine Nippessachen, waren darin zu sehen. Ein mattfarbiges Papier bedeckte die Wände, ein dunkler, grober Teppich den Fußboden. Es waren ein Sopha und Stühle da, auf denen man sitzen konnte, ein runder Tisch, um den man saß, es hing auch ein alter Spiegel über der Kommode, es fehlte eben kein Meubel von denen, welche dem nothwendigen Bedürfniß entsprachen, aber über dieses hinaus war Nichts vorhanden, und doch vermißte man Nichts, sondern man fühlte sich behaglich, sobald man eintrat, ja man kam sich altgewohnt in diesem Raume vor, weil man in demselben Nichts zu besehen und zu betrachten, sich über gar Nichts zu verwundern hatte. Selbst die Büste ihres Freundes Schleiermacher, welche auf dem Sekretair stand, und die Portraits, welche hie und da an den Wänden hingen, fielen nicht als etwas Fremdes auf. Man hatte sie so oft gesehen, diese Bilder der beiden Humboldt's und ihrer großen Zeitgenossen; aber man blickte sie in den Zimmern dieser Frau doch noch mit anderen Augen an als sonst, denn diese [111] Frau hatte jene Männer in den Tagen ihrer Jugend gekannt, und ihr waren die Menschen Lebensgenossen und nahe Freunde gewesen, in welchen wir aus der Ferne die großen Männer unseres Volks verehrten.

Ich habe in spätern Zeiten, als die fortschreitende Kunstentwickelung und der noch schneller fortschreitende Luxus, die reiche Ausschmückung der Wohnungen zur allgemeinen Sitte werden ließen, oftmals daran gedacht, wie wenig die meisten Frauen ihren Vortheil verstehen, wie wenig Selbstkenntniß sie haben, und wie wenig sie darauf denken, sich und ihre Wohnung harmonisch gegen einander abzustimmen. Unbedeutende Menschen, unbedeutende Gespräche, oder Unterhaltungen um Elendigkeiten, nehmen sich in prächtig aufgeputzten Räumen erst recht jämmerlich aus; und wie keine Frau eine auffallend prächtige Kleidung anlegen sollte, welche sie nicht zu tragen und sich dieselbe nicht so anzueignen weiß, daß ihre Kleider an ihr als ein Untergeordnetes, als ein Beiwerk erscheinen, so sollte man es noch weniger wagen, sich durch seine Umgebung in Schatten oder vielmehr in das rechte Licht setzen zu lassen; denn um sich unter bedeutender Pracht oder gar unter bedeutenden Kunstwerken schicklich zu behaupten, muß man nothwendig Etwas sein.

In dem Zimmer der Hofräthin Herz befand sich, so viel ich mich erinnere, nur ein einziges Bild, das den Anspruch machen konnte, ein Kunstwerk zu heißen. Es war das ein Portrait der Hofräthin selbst, welches sie als dreizehnjähriges Mädchen darstellte, und zwar wie die Sitte des achtzehnten Jahrhunderts es mit sich brachte, in einem antiken, irgend einer Göttin oder Muse entlehnten [112] Kostüm. Das Portrait war von der Malerin Therbusch, der Freundin Lessing's, gemalt, und so außerordentlich schön, daß man es nicht für wahr gehalten haben würde, wäre das Bild, welches der bekannte vortreffliche Portraitmaler Graff zu Anfang dieses Jahrhunderts von ihr gemacht, nicht noch viel vollendeter in seiner regelmäßigen Schönheit und strahlender in dem Ausdruck von Hoheit und Güte gewesen.

Obschon nun Niemand besser als die Hofräthin Herz in edle, kunstgeschmückte Räume hineingepaßt haben würde, so hob doch in ihrem Falle grade die schmucklose Einfachheit ihres Zimmers ihr eigenes Bild und die vornehme Würde ihrer Person, wie ein bescheidener Hintergrund, nur mächtiger hervor. Wenn man sie in der einfachsten Kleidung, von schlichtestem Hausrath umgeben, in ihrem engen Zimmer sah, und sich erinnerte, daß die Schönheit dieser Frau einen europäischen Ruf gehabt, daß seit sechszig Jahren kaum ein bedeutender Mann gelebt, den sie nicht gekannt, und der sie nicht verehrt, daß Mendelssohn und Mirabeau, daß Schiller und Goethe, Jean Paul, die Schlegel, Fichte, die Humboldt's, Schleiermacher und Börne, daß die ersten Künstler und Künstlerinnen aller Länder, daß die Gebildeten unter den Fürsten und Herrschern unserer Zeit, der Schönheit und dem Geiste dieser Frau gehuldigt hatten, so gewann die eingehende Freundlichkeit, welche sie dem Geringsten angedeihen ließ, etwas Bezauberndes und Rührendes zugleich.

Selbst als ich sie schon länger kannte und die Gewohnheit das Ueberraschende des ersten Eindrucks ausgeglichen hatte, überkam mich in ihrer Nähe stets jene [113] Empfindung nachdenkender Feier, von welcher man sich in den Ruinen großer Bauten aus vergangenen Zeiten ergriffen fühlt. Unwillkürlich sah man den Zug der Geister an sich vorüberziehen, welche sich dieser Frau einst mit Neigung und Antheil zugewendet, unwillkürlich meinte man auf dem Antlitz der Greisin den Wiederschein vergangener Tage erblicken zu können. »Ich habe alle Menschen gekannt!« sagte sie einmal scherzend, als ich mich wunderte, wie genau sie sich einer nicht eben bedeutenden Person aus meiner Vaterstadt erinnerte, und ich möchte ihrem Worte hinzu setzen: alle Welt hatte sie gekannt! Denn wie sie die Freundin unserer geistigen Heroen gewesen, so war sie für die nachfolgenden Geschlechter zu einem geistigen Wahrzeichen von Berlin geworden, und wer sie gesehen und gekannt hat, bewahrt noch heute ihr Andenken sicherlich mit Liebe.

Es war ein Vergnügen, sie sprechen, und ein Genuß, sie erzählen zu hören. Alle ihre anmuthigen und würdigen Eigenschaften kamen dabei gleichmäßig zur Geltung. Sie suchte niemals die Aufmerksamkeit auf sich, oder die Unterhaltung an sich zu ziehen; aber sie war mittheilsam und das Sprechen machte ihr Freude, wie die Uebung einer Kunst, in welcher sie Meister war. Alles was sie sagte, zeugte von einem wohlgeordneten Verstande, Nichts kam zur Unzeit, Nichts ungeregelt und wüst hingeworfen zum Vorschein, und doch machte nie Etwas den Eindruck der Berechnung oder der Absichtlichkeit; denn sie war so vollkommen harmonisch ausgebildet, daß sie sich nur natürlich gehen zu lassen brauchte, um eine edle und wohlthuende [114] Wirkung auf jeden Menschen hervorzubringen, der Sinn für das Edle und Schöne hatte.

Wenn ich ihrer und des Menschenkreises denke, dessen Bilder sie gelegentlich vor unseren Augen aufrollte, so frage ich mich bisweilen, was jene Art der Geselligkeit, von welcher sie zu erzählen pflegte, und nach welcher wir uns sehnen, von unserer Gesellschaft unterscheidet, über die wir mehr oder weniger uns Alle beklagen, und die wir auf den veränderten Geist des Jahrhunderts zu schieben pflegen. Ich finde dann aber, daß dieser sogenannte veränderte Geist des Jahrhunderts ein eben so bequem erfundenes Abstraktum ist, als der Geist der Weltgeschichte, der überall da in Scene gesetzt wird, wo die Menschen ihre Schuldigkeit nicht thun. Jeder Einzelne von uns hilft die Gesellschaft machen, jeder Einzelne von uns trägt also seinen Theil von Schuld an ihren Uebelständen, und wir gleichen in unsern Anforderungen an die Gesellschaft einem alten etwas einfältigen Urgroßenkel von mir, welcher mit Geringschätzung auf seine junge Nachkommenschaft zu sehen, und ihnen zuzurufen pflegte: »Zeigt mir unter den jetzigen jungen Leuten Einen, der so alt geworden ist als ich!«

Man stellt sich die Gesellschaft, welche zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts von so wesentlichem Einfluß auf die Kulturgeschichte unseres Vaterlandes geworden ist, immer nur als einen Kreis von Heroen vor, und vergißt darüber, daß diese Heroen nicht wie die Minerva fix und fertig auf die Welt gekommen, sondern lange Zeit junge, werdende, irrende, strebende und sich entfaltende Menschen gewesen sind. Man hört die [115] Namen Humboldt, Rahel Levin, Schleiermacher, Varnhagen und Schlegel, und denkt an das, was sie geworden, und vergißt, daß die Humboldt's ihrer Zeit nur zwei junge Edelleute, daß Rahel Levin ein lebhaftes Judenmädchen, Schleiermacher ein unbekannter Geistlicher, Varnhagen ein junger Praktikant der Medizin, die Schlegel ein paar ziemlich leichtsinnige junge Journalisten gewesen sind, und daß ähnliche Elemente sich noch unter uns finden, daß, wenn auch nicht immer Geister ersten Ranges, so doch mitunter manche große Bildung, manch große Begabung, manch lebhaftes Vorwärtsstreben unter der Jugend vorhanden sind, die uns umgiebt. Aber die Meisten unter uns wollen nicht säen, nicht pflegen, sondern nur erndten, und zwar in einer Weise erndten, welche oft weniger darauf berechnet ist, uns satt, als Dritten einen Eindruck zu machen.

Nicht der Geist ist es, der unsern Gesellschaften fehlt, sondern die Liebe und die wahre Theilnahme. Unsere Gesellschaft ist mehr oder weniger egoistisch geworden. Die Menschen wollen empfangen und nicht leisten, wollen sich unterhalten lassen und nicht unterhalten, wollen für den Aufwand an Geld und Zeit, den die Gesellschaft sie kostet, Etwas haben, was Parade macht. Sie wollen Plüschmeubel und Bronzerahmen, die in Erstaunen setzen; Speisen und Getränke, die auf ihren hohen Preis schließen lassen, berühmte Namen, die den Gästen imponiren, und wenn sie das einmal oder ein paar Mal im Jahre zusammen gebracht haben, so fragen sie weiter nicht danach, ob ihre Gäste auf den Plüschsopha's Langeweile oder Vergnügen gehabt, ob jene Celebritäten noch Lust und Neigung für die Geselligkeiten [116] fühlen, ob sie irgend Jemandem eine wohlwollende Unterhaltung vergönnt, ob die Gäste mehr davon gehabt haben, als die Ehre, sie von ferne zu betrachten, und ob die Wirthe selbst mehr davon tragen, als die Befriedigung einer leeren Eitelkeit und das Bewußtsein, die Sache nun glücklich überstanden zu haben. Die Menschen sind Sklaven der Autorität geworden, und haben es darüber verlernt, selbst zu denken, selbst zu suchen und das Geistige zu entdecken, wo es sich zu regen beginnt, ja es auch nur da zu erkennen, wo es sich bereits entfaltet hat. – »Gott!« sagte mir einmal eine Dame, »daß der N. jetzt ein so berühmter Mann geworden ist! wie manchesmal hat der bei uns früher als Student in den Ecken des Salons herumgestanden, ohne daß man an ihn dachte, und jetzt kennt er uns nicht mehr!« – »Ja!« entgegnete ich, »er war zu achtzehn Jahren noch nicht sechsunddreißig, und hat es vielleicht zu sechsunddreißig Jahren noch lebhaft im Gedächtniß behalten, wie wenig man vor achtzehn Jahren an ihn dachte, als die Beachtung ihm noch eine Erquickung gewesen wäre.«

Jenen liebevollen Sinn aber, welcher jedes Streben ehrt, jeder Begabung entgegenkommt, hatte die Hofräthin Herz sich noch in ihrem späten Alter erhalten, und er kam auch mir zu Gute. Formensicher, wie sie war, wußte sie mich den verschiedenen Personen, die ich bei ihr traf, in einer Weise vorzustellen, welche diese zu ähnlicher Rücksicht für mich aufforderte; und diese gleiche, fördernde Güte hatte ich auch in Frau Sara Levy angetroffen, welcher ich noch früher als der Hofräthin Herz vorgestellt worden war, und welche die Eigenschaft, eines der Wahrzeichen [117] von Berlin zu sein, in gewissem Sinne eben so wie die Hofräthin Herz für sich in Anspruch nehmen konnte. Sie war noch um ein Jahr älter als diese Letztere, und von Geburt Jüdin wie sie; aber während die Hofräthin in der Mitte ihres Lebens zum Christenthum übergetreten, war Frau Levy dem mosaischen Glauben treu geblieben, und hatte sich eine Mission daraus gemacht, die Vertreterin desselben zu sein, wo man sich gegen ihn erhob, und dabei jeden Fortschritt zur geistigen Bildung bei seinen Bekennern in der liberalsten Weise zu unterstützen. Eben so reich, als die Hofräthin unbemittelt, eben so unschön, als diese schön gewesen, waren die Frauen von früher Jugend auf Freundinnen gewesen, und einander an Güte des Herzens und an Wohlthätigkeit völlig gleich; nur daß bei der Hofräthin Herz Alles was sie that ein Gepräge hoher weiblicher Anmuth an sich trug, während in Frau Levy überall ein gewisses männliches Wesen unschön hervortrat. Sie war eine Tochter des zu Friedrich's des Großen Zeiten viel genannten und sehr reichen Kaufmanns Itzig, der seinen Kindern eine vortreffliche Erziehung geben lassen, und dessen schöne Töchter, die Baroninnen von Arnstein und von Eskeles zur Zeit des Kongresses in Wien eine hervorragende Rolle in der Gesellschaft gespielt hatten. Von den äußern Vorzügen dieser beiden Schwestern hatte aber, wie gesagt, Frau Levy gar Nichts an sich. Sie war nur mittler Größe und mager, trug sich aber trotz ihrer sechsundsiebzig Jahre straff und aufrecht, und ging, obschon sie auffallend schielte und ihr Auge kurzsichtig war, mit einer für ihre Jahre doppelt ungewöhnlichen Energie und Kraft umher. Ihre Stimme war [118] sehr tief, ihre Redeweise kurz und gebieterisch, wenn sie sich nicht eben in eine längere Unterhaltung einließ, und es klang daher oft komisch, wenn sie freundliche und zuvorkommende Dinge im Tone des Befehlens aussprach. Als ich sie einmal gegen meinen Bruder mit warmer Verehrung rühmte, meinte er: »Ich weiß das Alles und verehre die Frau so sehr als Du, mir ist sie aber zu kriegerisch!«

Der Ausdruck brachte uns damals Alle zum Lachen, und doch lag etwas Richtiges darin, nur nicht das völlig Richtige. Nicht kriegerisch war sie, aber eine tapfere Frau, und diese Tapferkeit hatte sich grade damals – wenn auch nach meinem Sinne nicht an der rechten Stelle, wieder einmal bewährt. Frau Levy besaß und bewohnte das große Gebäude, welches sich hinter dem Packhof, fast von der Spree bis zu dem jetzigen neuen Museum hinzieht, und das in diesem Augenblicke noch erhalten ist. Sie hatte das Haus seit ein paar Menschenaltern inne, hatte es, wie sie mir einmal sagte, bezogen, als es noch ringsum im Felde gelegen, und es war mit dem großen, wohlgehaltenen und liebevoll gepflegten, von den prächtigsten Bäumen beschatteten Garten ein doppelt schöner Besitz, da solche weite Räumlichkeiten und so große Gärten in der volkreichen Residenz allmählig zu den Seltenheiten zu gehören begannen. Als nun Friedrich Wilhelm der Vierte den Bau des neuen Museums unternahm, hatte man, um dasselbe in der beabsichtigten Weise auszuführen, nicht nur ein Stück des Levy'schen Gartens nöthig, sondern auch ein Flügel des Hauses, und zwar eben der, welchen die Eigenthümerin selbst bewohnte, hätte [119] niedergerissen werden müssen. Man hatte ihr deßhalb die darauf hinzielenden Kaufanträge unter den günstigsten Bedingungen zugehen lassen. Indeß Frau Levy besaß nicht jenen Gemeinsinn, welcher auf sein eigenes Behagen um des allgemeinen Besten willen ohne Weiteres verzichtet; und während sie sich, wenn schon mit Ueberwindung, dazu entschloß, ein Stück ihres Gartens abzutreten, so verweigerte sie es fest, ihre Wohnung aufzugeben. »Nach meinem Tode,« sagte sie, »können sie das ganze Grundstück haben, und ich will Sorge dafür tragen, daß sie es billig bekommen; so lange ich aber lebe, bleibt mein Eigenthum mein. Und da der König gern seinem Ahnen Friedrich dem Großen nachlebt, so will ich der Müller von Sanssouci sein, der ihm Gelegenheit giebt, auf's Neue ein Eigenthum zu respektiren.« – Die Baumeister reklamirten nach rechts und nach links, auch der König wollte den Bau in seinem Sinne gefördert wissen, achtete jedoch, selber originell und willkürlich, die fremde Willkür und Originalität, wenn es sich eben so fügte. Er fand sich also von dem starren Festhalten der Greisin belustigt, und endlich erhielt, wie man mir erzählte, Alexander von Humboldt das Amt, hier vermittelnd einzuschreiten. Aber er war selbst ein Greis, er wußte was die gewohnten Räume dem Alter sind, und es kam also jenes Uebereinkommen zu Stande, in Folge dessen Frau Levy ihr Haus unangetastet bewahrte, und nur jenen kleinen Theil ihres Gartens für den Bau abtrat, wodurch man sich denn genöthigt sah, den einen Flügel des Museums schief zu legen.

Wenn man nun auch dies Festhalten an dem Eignen, wo es ein für Jahrhunderte zu dauern bestimmtes Allgemeines [120] galt, nicht billigte, so war es doch ein Vergnügen zu sehen, mit welcher Zufriedenheit die Greisin sich auf dem von ihr behaupteten Grund und Boden bewegte, wie es denn überhaupt sehr anziehend war, das große alte Haus mit seiner ganzen Altherkömmlichkeit zu betrachten. Es war in jenem, sich breit ausstreckenden Style gebaut, der mehr und mehr zu verschwinden droht, je höher jetzt der Werth des Grundes und Bodens steigt. Zweistöckig, mit breiten, flachgelegten Treppen, mit räumigen Fluren, mit großen hohen Zimmern, machte es einen sehr ansehnlichen Eindruck in dem weiten, gepflasterten und mit einer Mauer eingeschlossenen Hofe, welcher die vordere Seite des Hauses umgab, und dessen alte Bäume demselben aus mäßiger Ferne Schatten verliehen, während sich hinter dem Hause der große Garten ausdehnte. Alles in dem Hause war alt, Alles zeugte von langhergebrachtem und gediegenem Reichthum. Der Kutscher und der Diener und die Kammerjungfer waren alt, und gehörten mit ihrer Herrin und mit dem Hause durch Verjährung zusammen, die Livree war altmodig, die Pferde auch nicht jung, aber wohlgenährt. In den Gala-Sälen, die nur ein oder ein paar Mal im Jahre geöffnet wurden, glaubte man sich um ein halbes Jahrhundert zurückversetzt, in dem großen Gartensaal schien die Einrichtung aus noch früherer Zeit zu stammen, aber überall sah man, daß dieselbe einst den Anforderungen der Eleganz entsprochen hatte, und wohl erhalten wie sie war, machte sie noch eine angemessene Wirkung.

Frau Levy bewohnte nicht das ganze Haus, indeß selbst die Personen, welchen sie die ihr überflüssigen Theile [121] desselben vermiethet hatte, waren alt und gehörten in den Bereich der Vergangenheit. Die Staatsräthin Uhden mit ihrem feinen geistvollen Gesicht und den schönen langen, grauen Locken, das Fräulein Itzig und Madame Ephraim, beide Schwestern von Frau Levy, das Fräulein Voitus, waren Alles alte Damen, und man ging in ihrer Gesellschaft wie in den Alleen eines alten französischen Parks umher; man erfreute sich ihrer und wußte doch, daß ihre Zeit vorüber war.

Ungemein unterrichtet und voll von großen, ernsten Interessen, hatte Frau Levy, eben so wie die Hofräthin Herz, fast alle bedeutenden Menschen ihrer Zeit gekannt, aber sie war über die Vergangenheit weniger mittheilsam als Jene, und überhaupt, wie es mir scheinen wollte, mehr auf das Abstrakte als auf das Persönliche gestellt. Es geschah wohl einmal, daß sie erzählte, Achim von Arnim und Bettina Brentano hätten sich bei ihr im Garten verlobt, während der Friseur sie selbst frisirt habe; und Bettina sei dann zu ihr in das Zimmer hinaufgekommen und habe sich mit den Worten auf den Fenstertritt gelegt: »Hör' Er, Friseur! bau Er der Madame Levy nur heute 'was Ordentliches auf, denn ich hab' unten eben mit dem Arnim Verspruch gehalten!« Indeß dergleichen Mittheilungen kamen verhältnißmäßig doch nur selten vor. Dafür aber stand sie weit lebhafter als die Hofräthin in den Interessen der Gegenwart, und während die Erstere, theils aus christlich-religiösen Empfindungen, die bei ihr entschieden vorherrschend geworden waren, theils aus Liebe für das Königshaus von Preußen, der beginnenden revolutionären Bewegung der Geister nur mit einer Art [122] von Scheu zu folgen vermochte, war der frische kräftige Geist von Madame Levy immer muthig angeregt, und völlig bei der Sache. Als ich ihr einmal von den Königsberger Zuständen erzählte, und dabei scherzend die Worte aus Scribe's »Caméraderie« brauchte: »Wir Jungen sind alle à la tête de la jeune phalange!« erwiderte sie lächelnd und den Kopf schüttelnd, mit ihrer tiefen Stimme: »Erlauben Sie! wir Alten sind das auch!« In solchen Augenblicken war sie prächtig!

Ihre Zeit war sehr fest eingetheilt. Sie hatte außer einer Dame, welche die Gesellschafterin ihrer blinden Schwester gewesen war, und welche sie bei sich behalten hatte, einen Vorleser in ihrem Hause, weil sie gern ernste Sachen las, und es nicht liebte, den Erklärer bei denen zu machen, von welchen sie sich vorlesen ließ. Dafür waren einige Stunden täglich festgesetzt. Ein paar andere Stunden gehörten der Armenpflege, die sie im großartigsten und tüchtigsten Sinne betrieb. So erinnere ich mich, daß ich sie einmal in einem ganz entlegenen Stadttheil, in welchem ich für meinen Vater eine Commission auszurichten hatte, aus ihrem Wagen steigen und in ein neu gebautes Haus eintreten sah. Als ich sie später fragte, wie sie dahin gekommen sei, sagte sie einfach: »Ich habe dort einen armen Mann mit einem kleinen Geschäfte etablirt, und ihm von meinen Leuten die alten Regale, die ich ihm gekauft, neu anstreichen lassen. Da wollte ich sehen, ob das ordentlich gemacht sei.«

Um Mittag fuhr sie mehrere Stunden umher, machte Besuch bei ihren alten Freundinnen, sprach bei ihren Großnichten und Großneffen vor, denn sie hatte keine [123] eigenen Kinder, und ging festen Schrittes und immer allein eine Stunde im Thiergarten spazieren, den alten Ludwig, ihren Diener, hinter sich. Zwei Mal in der Woche hatte sie regelmäßig Besuch: am Donnerstag ein Diner, zu welchem zehn bis vierzehn Personen geladen waren, am Sonnabend Thee, zu dem sich die Bekannten ihres Hauses nach Belieben einstellten, und den sie bis auf ihre letzten Lebenstage selbst, und stehend und dabei »conversirend«, für ihre Gäste zu bereiten pflegte.

Das Originellste aber waren jene Mittagbrode, bei denen man sich, wenn man wie ich und andre von ihr eingeladene Personen, nur dreißig Jahre zählte, immer wie ein Kind erschien, denn die Mehrheit der Gäste waren Greise. Ich vergesse den ersten Eindruck dieser Tischgesellschaft nicht. Frau Levy zählte damals siebenundsiebzig, die Hofräthin Herz, ihr zur Seite, sechsundsiebzig Jahre. Ein kleines Fräulein Chodoviecki, das immer einen uraltmodischen weißen Atlashut auf hatte und auf einem Stuhlkissen saß, mochte noch weit älter sein; der bekannte Criminaldirektor Hitzig, ein Neffe von Frau Levy; die einst so schöne und jetzt noch als Greisin unter uns lebende Marianne Saaling, und eine alte Sängerin, die ihr fünfzigjähriges Jubiläum als Mitglied der Singakademie gefeiert hatte, bildeten den Stamm des Zirkels. Es war mir mitunter, als fände ich mich an König Artus' Tafelrunde versetzt, wenn ich diese alten, verwitterten Gesichter ansah, die alle in ihrem Verfalle, schweigend von der Vergänglichkeit des Menschen predigten. Sie hatten einst Alle »à la tête de la jeune phalange«, an der Spitze der Bewegung gestanden. Diese hinfälligen Frauen waren [124] es gewesen, deren Geist und Bildung die Schranken des Kastengeistes durchbrochen, die aus eigner Machtvollkommenheit in Berlin die Gewalt der Vorurtheile besiegt; diese Greisinnen und ihre Gesinnungsgenossen, diese Jüdinnen waren es gewesen, welche, sich aus dem Pariathume ihres Volkes erhebend, die Bildung als den höchsten gültigen Adel zu vertreten, und so eine Befreiung und eine Cultur der Geister in ihrer Vaterstadt herbeizuführen gewußt hatten, welche der geringere Sinn ihrer Nachkommen nicht zu behaupten verstanden hat. Das war es, was mich zu diesen Frauen hinzog, was mich ihnen in liebender Verehrung nahen machte; das ist es, was die Nachwelt in ihnen zu verehren hat – und vielleicht war es die Einsicht, daß ich Verständniß für ihre Bedeutung hatte, daß ein Zug ihres selbständigen und das wahrhaft Menschliche wollenden Geistes auch in mir lebendig war, was mir ihre Theilnahme und ihre Beachtung gewann.

Wie die Lebensläufe und Glücksgüter der Einzelnen auch verschieden gewesen waren, Eins besaßen sie Alle in gleichem Grade, so Männer als Frauen, jenes Wohlwollen und jene Duldsamkeit, welche das Kennzeichen vollendeter Bildung sind, jene höhere Menschenliebe, welche es erfahren hat, was man einander durch behutsame Rücksicht und eingehenden Antheil da zu leisten fähig ist, wo sonst keine Hülfe nöthig oder möglich ist. Sie waren menschliche Menschen, treue Freunde, freundliche Lebensgenossen, und bewegliche Geister und Gemüther. Darum fühlten selbst die Jüngsten sich wohl in ihrer Nähe, und es leben noch Viele neben mir, die sich erinnern werden, wie vor zwanzig Jahren die übermüthige Lust der Lebensfülle uns [125] oftmals bei diesen Mittagbroden überkam, daß wir im Hinblick auf alle die Greise und Matronen unseres eigenen Lebens gar kein Ende absehen zu können meinten, und uns in Witzen und Scherzen ergingen über die vorsündfluthlichen Speisen und Gerichte, wie über die läßliche Art und Weise, in welcher die Dienerschaft ihr Amt versah.

Wir waren wie Knaben, welche die Pflaumen von den Bäumen eines Kirchhofs pflücken, und lachten, wie Pensionäre am Anfang ihrer Ferien lachen, so lange sie glauben, daß diese niemals zu Ende gehen. Wir hatten es noch nicht erfahren, wie schnell die Tage enteilen, wenn man den Höhepunkt des Lebens überschritten hat; wir dachten nicht, daß zwanzig Jahre so rasch vorübergehen, und wie die Zeit bald kommt, in welcher wir selber zu den Repräsentanten der Vergangenheit gehören werden!

[126]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

Ich war mit dem festen Vorsatze nach Berlin gekommen, meine schriftstellerische Anonymität aufrecht zu erhalten, und meines Vaters Wünsche hatten mich in dieser Absicht bestärkt. Indeß mein Cousin August Lewald, der mir früher zu dem gleichen Verfahren gerathen, mochte durch die günstige Aufnahme, welche meine Romane gefunden, anderer Ansicht geworden sein, denn im Herbste, als ein paar Männer meiner Bekanntschaft von Baden-Baden zurückkehrten, wo sie bei einem längern Aufenthalte August Lewald kennen gelernt hatten, brachten sie die Nachricht mit zurück, daß mein Vetter sich bei ihnen genau nach mir erkundigt, daß sie ihm mein Aeußeres und meine Art und Weise hätten schildern müssen, und daß er ihnen dafür erzählt, wie ich viel Talent für die Romandichtung besäße, und daß mein zweiter Roman, welcher soeben die Presse verlassen, ihm noch besser als der erste gefallen habe.

Man ging mich nun mit Fragen an, ich sollte sagen, was ich geschrieben hätte; indeß ich lehnte die Sache scherzend ab, um meinem Versprechen treu zu bleiben, bis eines Tages Frau Bloch, welche mir ihre Güte nach wie [127] vor erhalten, Zeuge einer solchen Unterhaltung wurde, und mir mein Schweigen als eine Thorheit vorstellte.

»Du hast mir einmal vertraut,« sagte sie, »daß Du Dir das Geld zu Deinem Aufenthalte in Berlin selbst verdient hast, und ich habe das sehr respektabel gefunden und mir natürlich vorgestellt, daß Du es durch literarische Thätigkeit erworben hast. Da Du aber Gewicht darauf legtest, mir das Nähere vorzuenthalten, habe ich nicht in Dich dringen mögen, und weiß also bis jetzt nicht, was Du geschrieben hast. Da Du jedoch keines Falls Deine Arbeiten lediglich nur zu weltbeglückenden Zwecken unternimmst, sondern Dir mit ihnen nebenher einen Weg in's Leben zu bahnen und Dir eine Stellung zu machen hast, so ist es unvernünftig, Dir durch Deine Anonymität die Vortheile zu entziehen, deren Du theilhaft zu werden wünschest. Wenn Du mir Dein Geheimniß vertrauen willst, will ich mich der Mühe unterziehen, es auszuplaudern, und das wird Dir sehr nützlich sein.«

Frau Bloch konnte bei solchen halb scherzhaften, halb ernsten Gesprächen so anmuthig sein, und ihre Gründe waren so unwiderleglich richtig, daß ich mich ihnen fügte, und ihr noch an demselben Tage die Romane brachte. Sie und ihr Gatte hatten Freude daran, und Freude auch an mir. »Sie werden zu Etwas kommen,« sagte er mir, »denn Sie wissen was Sie wollen! Das wissen aber eigentlich nur Wenige. Die meisten Menschen wollen Allerlei, und möchten das Allerlei gelegentlich für sich bereitet finden. Darum erreichen sie gewöhnlich nichts. Wer aber eine Sache ordentlich will, und auch die Mittel will, welche zu seinem Ziele führen, der erreicht es!«

[128] Mein Verhältniß zu den trefflichen Menschen wurde nun ein anderes, und ich hatte mich ihres Rathes, mich als den Verfasser der »Clementine« und »Jenny« zu nennen, nur zu erfreuen. Auch mein Vater sah bald das Zweckmäßige dieses Schrittes ein; nur meine noch im Vaterhause lebenden Schwestern schrieben mir, mit naiver Anmaßung, dagegen. Sie baten mich, aus Rücksicht auf sie, nicht als Schriftstellerin aufzutreten, als ob das eine Schande gewesen wäre; sie beschworen mich, wenn es noch Zeit sei, die Anonymität zu bewahren, und folgten darin irgend einem mir unverständlichen dunkeln Drange, über dessen Beweggründe sie sich wahrscheinlich eben so im Unklaren befanden, als ihre Briefe mich darüber im Unklaren ließen. Sie waren zum Theil noch so jung, und Alle so völlig unerfahren, daß ihr Meinen und Denken von gar keinem Gewicht sein konnte, wo es über ihr persönliches Wünschen und Wollen hinausging. Keine von ihnen hatte mir auch angegeben, was sie davon befürchtete, wenn man mich als den Verfasser der »Clementine« und »Jenny« kennen würde, aber sie waren einig darüber, daß es ihnen unangenehm sein müsse, wenn man in ihrer Gegenwart davon spräche, unangenehm, daß man mich nun in den Zeitungen nennen und beurtheilen würde, unangenehm auch, daß ich nun doch für Geld arbeite, und so gaben sie es mir denn ernstlich zu bedenken, daß ich doch unseres Vaters Tochter sei, und danach zu handeln habe.

Ich würde der thörichten Briefe und des ungehörigen Dreinredens gar nicht erwähnen, wären sie nicht ein Beweis dafür, wie sich in enggeschlossenem Familienleben grade [129] in den Köpfen des weiblichen Geschlechtes eine Menge von unbestimmten Empfindungen in unklare Gedanken, und endlich in eine Art von widerwärtigem Familienhochmuth verwandeln, der sehr nachtheilig wirkt und von dem das Leben mit seinen schweren Erfahrungen kaum im Stande ist, die davon Befallenen zu heilen. Aus diesem Familienhochmuth entsteht dann jene Ansicht von der Solidarität der Familienmitglieder, welche für den Einzelnen im besondern Falle zu einem wahren Hemmschuh werden kann, und von dem ich mein redlich Theil zu leiden gehabt habe. Denn während wir im Allgemeinen nach Gleichberechtigung der Stände verlangen, pflegen die meisten Familien in sich einen Kastengeist, der weniger den Ansichten des neunzehnten Jahrhunderts, als den uralten Gesetzen der Hindus angemessen ist. Hatte ich es doch selbst als eine Demüthigung für mich empfunden, das erste selbstverdiente Geld in die Hand nehmen zu müssen; und wenn ich nun auch über jenen braminenhaften Familiengeist schon lange und für immer hinausgekommen war, so verdarb alle das unberechtigte und unverständige Meinen und Rathen mir damals doch noch manche gute Stunde – und aus Stunden setzt unser Leben sich zusammen!

In Berlin hob nun für mich eine neue und gute Zeit an. Ich war wie ein Schiff, das lange fertig auf dem Stapel gelegen hat, und das endlich flott gemacht, fröhlich und leicht in den hellen frischen Strom hinabschießt, dessen wellige Fluthen es heben und tragen; und ich konnte an mir selber die Erfahrung machen, welch einen Vorzug Diejenigen besitzen, die einen bekannten und anerkannten Namen mit sich auf die Welt bringen. Ein Name ist [130] wie ein Piedestal. Er hebt den Menschen aus der Masse empor, er kennzeichnet ihn, und was sein Träger Gutes und Lobenswerthes leistet, wird schneller bemerkt, günstiger beobachtet und kommt ihm bald zu Nutze, während man zu gleicher Zeit nachsichtiger für die Mängel, Schwächen und Fehler Derjenigen ist, welche in ihrem Namen und in ihren Leistungen ein Gegengewicht zu bieten haben. Darin liegt etwas Verführerisches, und es fing mir plötzlich einzuleuchten an, wie man sich im doppelten Sinne gegen diese Verlockung zu wehren habe.

Was ist denn jetzt anders an mir geworden? fragte ich mich oft mit einer heimlichen Geringschätzung gegen die Personen, die mir mit einem Male freundlicher zu begegnen anfingen, seit sie wußten, daß ich ein paar Romane geschrieben hatte. Ich war jetzt nur älter als vor drei Jahren, aber die jungen Männer, welche mich bei den Bällen sonst als altes Fräulein ruhig hatten sitzen lassen, suchten mich nun auf, und ich hatte unter den angenehmsten Tänzern nur zu wählen, sofern ich tanzen wollte. Ich sah noch immer nicht gesund aus, man hatte mich im Oktober noch sehr verblüht gefunden, im Januar fand man mich interessant. Ich war jetzt nicht geistreicher, nicht klüger, nicht unterrichteter als vorher; aber was ich sagte und that, wurde mir mit einem Male auf das Allerbeste ausgedeutet, und Menschen, welche mich sonst so ruhig wie einen Gueridon in der Ecke hatten stehen lassen, suchten nun mir vorgestellt zu werden, und konnten ihres Interesses an mir kein Ende finden.

Ich würde unwahr sein, wenn ich sagte, daß mir dies nicht Vergnügen gemacht, und daß meine Eitelkeit [131] darin nicht bisweilen eine Befriedigung gefunden hätte. Indeß starkes Selbstgefühl bewahrt vor jener Art von Eitelkeit, die sich auf die Dauer an kleinen Erfolgen zu erfreuen vermag. So kam es denn, daß die Aufmerksamkeit, welche man mir zuwendete, mich eigentlich abgeschlossener machte, als ich es vorher gewesen war; und weit entfernt, daß die plötzliche Zuvorkommenheit der Leute mich für sie eingenommen hätte, gab sie mir, nach meinem damaligen Empfinden, nur einen Maßstab für die Unselbstständigkeit ihres Urtheils an die Hand.

Für meine alten Freunde und Gönnerinnen, für Herrn und Frau Bloch, für die Hofräthin Herz und für Frau Levy blieb ich die Alte, nur daß sie eine leichtere Handhabe gefunden hatten, mir mancherlei Annehmlichkeiten des geselligen Verkehrs zuzuwenden, und daß sie mich aufforderten und ermunterten, meine Romane als Einführung bei denjenigen Personen zu benutzen, welchen zu begegnen mir wünschenswerth sein mußte, und die mir durch die Vermittlung meiner Bekannten nicht zugänglich waren.

Der erste von den Berliner Schriftstellern, den ich kennen gelernt, war Doktor Häring, Wilibald Alexis, gewesen. Er war ein Hausfreund der Bloch'schen Familie, hatte eine schöne und liebenswürdige Engländerin, Lätitia Percevall, geheirathet, deren junge und eben so schöne Schwester die Gesellschafterin von Frau Bloch war, und ich hatte ihn schon im Winter von neununddreißig oft gesehen. Sein »Cabanis«, seine im Chronikenstyl gehaltenen märkischen Romane hatten mir ihrer Zeit viel Freude gemacht, und ich beschäftigte mich damals oft damit, mir innerhalb des jetzigen Berlin, jenes Berlin [132] der Vorzeit wieder hervorzusuchen, dessen Grenze die Spree gewesen war. Gar oftmals bin ich durch die Straßen der Königsstadt und in Neu-Cöln einsam umher gegangen, um es mir vorzustellen, wie einst die lange Brücke sich auf Pfahlwerk weit über die überschwemmten Spreewiesen hingezogen, und wo einst das Kloster der grauen Brüder gestanden, wo die Waldemar's und wo der Roland von Berlin ihr Wesen getrieben und wie es an der Stechbahn damals ausgesehen. Denn wie mich einst die galante Reckenhaftigkeit der Fouque'schen Ritter entzückte, so hatte später die Uckermärkische biderbe Ungeschlachtheit einen gewissen Reiz für mich bekommen, und wenn ich bei dem Lesen seiner Romane an Wilibald Alexis gedacht, hatte ich ihn mir freilich nicht als einen Roland von Berlin, aber doch mindestens unter dem Bilde eines deutschen weiland Turners und Burschenschafters vorgestellt, dessen mannhaftes Auftreten an seine Helden wenigstens erinnern konnte. Ich war daher höchlich betroffen gewesen, als ich den etwa vierzigjährigen Doktor Häring zuerst erblickt hatte. Seine mittelgroße und damals noch nicht starke Figur, sein freundliches, von dunkelm Haar und dunkelm Bart umgebenes Gesicht, seine schnellen und etwas unsichern Bewegungen, verbunden mit einer gewissen halb verlegenen, halb verbindlichen Sprechweise, standen in schroffem Gegensatz zu dem Bilde, welches ich mir von ihm gemacht hatte, und die sanfte, einfache Weise, in welcher er sich in der Unterhaltung gab, die ängstliche Anspruchslosigkeit, mit der er auftrat, ließen vollends zu keinem Vergleiche zwischen ihm und seinen Helden Raum. Ebenso wenig aber konnte man sich es erklären, wie dieser [133] durchaus mild gesinnte Mann zu der Vorliebe gekommen war, mit der er sich bei der Herausgabe seines Neuen Pitaval in Mord- und Criminalgeschichten versenkte, und wer ihn vollends in seiner anmuthigen, edeln und dabei bescheidenen Häuslichkeit, an der Seite seiner liebenswürdigen Frau gesehen hatte, mußte sich doppelt verwundern, wie grade er auf das Reckenhafte und auf das Schreckliche eine solche Vorliebe verwenden konnte. Man wurde unwillkürlich zu dem Gedanken verleitet, daß auch im Menschen ein Element sei, aus welchem heraus die Gegensätze sich suchen, wie dies in der Natur bei den Farben geschieht; denn herzensfreundlicher, verträglicher und friedlicher konnte man nicht sein, als der Verfasser des »Roland von Berlin«, des »falschen Waldemar«, des »Urban Grandier« und der »Hosen des Herrn von Bredow«, sich darstellte, und nur den »Cabanis« hätte man ihm nach seiner Art sich zu geben, schon als einem Abkömmlinge der französischen Colonie, zutrauen mögen.

Auch Doktor Häring rieth mir, nun das Geheimniß meiner Autorschaft am Ende war, das »Handwerk zu begrüßen«, und so schrieb ich denn eines Tages an Bettina von Arnim und an Frau Paalzow, schickte jeder ein Exemplar der »Jenny«, und bat um die Erlaubniß, ihnen meinen Besuch machen zu dürfen. Bettina antwortete mir gar nicht, und kam erst vier Jahre später einmal ganz unerwartet zu mir, Frau Paalzow aber schrieb mir noch an demselben Tage, daß ich sie an jedem Morgen zwischen zwölf und zwei Uhr zu Hause finden würde, und am zehnten Januar des Jahres vierundvierzig – ich finde dies Datum in dem Briefe an meinen [134] Vater, in welchem ich ihm von diesem Besuch erzählte, ging ich um Mittag nach der Kantians-Straße, in welcher Frau Paalzow zusammen mit ihrem Bruder, dem Maler Wach, das zweite Stockwerk des Hauses Nummer fünf bewohnte.

Das Haus war neu und schön, und der erste Anblick ihrer Wohnung überraschte mich außerordentlich. Durch einen Salon, der am obern Ende, wo das eine Sopha stand, eine tiefe Nische hatte, und der im edelsten Style mit Oelgemälden, Kupferstichen, Statuen und Blumen geschmückt war, welche letztere überall angebracht waren, wo es sich schicklich thun ließ, trat ich in das mit schweren Portièren verhängte Arbeitskabinet. Es lag in einem thurmartigen Anbau des Hauses, war rund und hoch, und bot aus den Fenstern eine schöne Aussicht auf die Spree und auf die am Wasser gelegenen Partien des königlichen Gartens von Monbijou. Die Wände waren mit Holz getäfelt, eine Bibliothek in schönen Borden nahm einen Theil derselben ein. An einer Wand zog sich auf seiner Estrade eine Art von Divan hin. Mitten in der Stube an einem Tische saßen Frau Paalzow und zwei andre Damen, mit Nähen beschäftigt.

Ich erkannte Frau Paalzow augenblicklich, denn das Portrait von ihr, das vielfach im Handel verbreitet und nach dem Original von Hopfgarten gestochen war, welches Letztere ihre Pflegetochter mir nach dem Tode der Frau Paalzow schenkte, und das sich noch in meinem Besitz befindet, ist im edelsten Sinne getroffen. Sie war ziemlich groß und wohlgewachsen, hatte sehr schöne dunkle Augen, und damals noch ein starkes schwarzes Haar und schöne Hände. Einfach [135] in schwarze Seide gekleidet, mit einem weißen Spitzenkragen und einer Haube mit weiß und lila Bändern, hatte sie, obschon sie trotz ihrer Kränklichkeit sehr wohl erhalten war, ein matronenhaftes Ansehen, und paßte vollkommen in die stylisirte Einrichtung ihres Zimmers hinein. Ihr gegenüber lag, in einem Schaukelstuhle, die damals noch sehr hübsche jüngere Tochter ihres Freundes, des Geheimrath Koppe, und nähte mit den feinen Fingern Kanten an ein weißes Tuch, während das helle warme Sonnenlicht durch die bis zur Decke emporgehenden Fenster spielend, auf ihren ganz entblößten Hals und Nacken und auf die langen, schwarzen Locken schien, die ihr bis tief auf die Schultern niederfielen. Ein älteres Fräulein Koppe saß zwischen den beiden genannten Damen. Es war ein hübsches Bild, und eine Gruppe, wie Frau Paalzow sie zu schildern liebte.

Sie kam mir freundlich und mit guten Worten bis an die Thüre entgegen, als sie mich in das Kabinet eintreten sah. »Es ist das Schöne an unserm Streben,« sagte sie, »daß es uns ein Anrecht an einander giebt, und uns mit Gleichdenkenden und überhaupt mit Mitstrebenden verbindet, und so seien Sie mir denn auch recht von Herzen willkommen! Aber« – fügte sie nach einer ganz kurzen Pause hinzu – »ich gestehe Ihnen ehrlich, Sie setzen mich in Verwunderung. Nach Ihren Romanen, die ich schon gelesen hatte, ehe Sie sie mir gestern schickten, hatte ich Sie mir als eine gleichaltrige Frau gedacht, und ich finde jetzt, daß Sie viel jünger sind als ich.«

Ich sagte ihr, daß ich diesen Irrthum dem Billette angemerkt, mit welchem sie mich zu sich eingeladen; wir [136] verkehrten dann bald in ungezwungener Unterhaltung mit einander, sie lobte meine Arbeiten, meinte, auch ihr wären die Verhältnisse der Juden näher gerückt, als es sonst bei Deutschen und Christen der Fall sei, denn ihre Schwester sei mit dem Bankier Friebe verheirathet, und nun sie neulich die »Jenny« gelesen, begreife sie nicht, daß sich nicht schon früher dichterische Talente dieses Motives bemächtigt und die Emanzipation der Juden zum Thema ihrer Arbeiten gemacht hätten. Es sei ihnen wohl aber nicht so klar gewesen als mir. – »O!« antwortete ich, »klar waren diese Uebelstände wohl so Manchem, denn sie lagen offen und auf der Hand. Habe ich ein Verdienst, so ist es nur der Muth, dasjenige offen auszusprechen, was alle Andern eben so gut wußten, aber aus Muthlosigkeit verschwiegen.«

»Mir,« versetzte sie darauf, »kommt es recht beneidenswerth vor, daß Sie so jung, so lebensfrisch zu schreiben angefangen, und daß Sie den Muth haben, Ihre Stoffe aus dem vollen Leben herauszuholen, daß Sie in den Zeitinteressen sich bewegen können. Ich muß mir meine Stoffe mühsam aus der Vergangenheit zusammensuchen. Die Gegenwart mit ihrem Meinungsstreite verwirrt und ängstigt mich. Ich kann mich nur in der Vergangenheit mit einiger Sicherheit zurecht finden, und manchmal wollte ich, ich wäre ein paar Menschenalter früher geboren, als noch mehr Harmonie in dem Gefühl der Menschen war.« – Auf meine Bemerkung, daß ich mich grade in der entgegengesetzten Lage befände, und so sehr ein Kind meiner Zeit sei, daß ich nur der Curiosität halber es einmal versuchen könnte, mich mit meinen Dichtungen in [137] eine ferne Vergangenheit zu versetzen, rief sie mit einer gewissen Lebhaftigkeit: »Thun Sie das nie, liebes Fräulein! Man muß Nichts der Art versuchen. Der Vater dieser Damen, mein Freund Koppe, dem ich meine Arbeiten zu zeigen gewohnt war, hat mir oft gesagt: machen Sie dies oder das – oder machen Sie es so und so. Die Vorschläge und der Rath waren immer vortrefflich, ich sah ihre Richtigkeit auch sehr gut ein; nur wenn ich es ausführen wollte, wurde es unter meinen Händen etwas ganz Anderes und manchmal wirklich Unsinn. Ich kann Nichts anders machen, als es mir grade wird. Ich denke auch, diese Gabe ist eine Begabung, eine Gnade, und man muß auf sie, wie auf eine innere Stimme achten und horchen. Man sagt mir, denn ich selbst lese nicht gern, was man über mich im Guten oder im Bösen schreibt, man sagt mir, daß die Kritiker mir Breite, Unbestimmtheit, Weichlichkeit vorwerfen. Das muß ich mir gefallen lassen, denn anders machen, als es mir wird – sie kam immer auf diese Wendung zurück, – kann ich es nicht. Und gehen auch Sie nie von demjenigen ab, was Sie aus sich selber haben.«

Das Gespräch wendete sich dann auf die treffliche, nun auch schon verstorbene Stadträthin Friedmann in Königsberg, die ihre Stiefnichte war und zu meinen Bekannten gehörte, und auf eine andere ebenfalls in Königsberg lebende Dame, deren Erziehung Frau Paalzow geleitet hatte. Es waren damit etwa drei Viertelstunden hingegangen, und ich stand auf, mich zu empfehlen. Sie bot mir, wie bei dem Willkomm, herzlich die Hände, begleitete mich bis in ihr Entree hinaus, versprach, mich [138] bald aufzusuchen, und bat dabei, es mit ihr nicht genau zu nehmen, da sie so sehr viel älter und so sehr kränklich sei; und ich schied von ihr mit einem durchaus günstigen Eindrucke, der sich in spätern Jahren nicht nur befestigt, sondern gesteigert hat.

Ich habe nie zu den Bewunderern der Paalzow'schen Romane gehört, deren Eigenschaften und Unzulänglichkeiten so vielfach besprochen sind, daß es überflüssig wäre, sie hier erörtern zu wollen, wo ich mit herzlicher Neigung der Verfasserin gedenke, deren ganzes Wesen ein edles und würdiges, und vor Allem ein durchaus duldsames war. Verschieden in unserm Lebenswege, verschieden in unsern ererbten Traditionen wie in unsern Ansichten und Meinungen, erinnre ich mich nie, irgend in einen Streit mit ihr gekommen zu sein, obschon sie mich namentlich in spätern Jahren, als der Meinungskampf in das Leben hinausgetreten war, oftmals dazu brachte, ihr Alles ganz klar und unumwunden auszusprechen, was ich auf dem Herzen hatte. Es war ihr daran gelegen zu erfahren, was um sie her geschah, und sie hätte es verstehen mögen, was die Geister der Freigesinnten bewegte, indeß ihr fehlte in gewissem Sinne die Möglichkeit dazu.

Ihre Bildung war eine höchst unvollständige, ihre Kenntnisse ohne rechten Zusammenhang, und es fiel mir Anfangs störend auf, daß sie das Deutsche nicht richtig sprach, so daß ihre Arbeiten, wie ich glaube, in diesem Punkte einer gründlichen Nachhülfe nöthig gehabt haben müssen; aber sie sprach sehr gut, erzählte mit Laune, und obgleich ihre Redeweise langsam war, hatten Ton und Stimme eine angenehme Wärme. Da sie die Tochter [139] einer Beamtenfamilie und, wie sie mir einmal erzählte, von einer sehr religiösen Mutter erzogen war, hatte sie die Anhänglichkeit und Liebe für die königliche Familie von Preußen und einen religiösen Sinn als Erbtheil aus dem Vaterhause in das Leben mitgenommen, und die Begeisterung der Befreiungskriege, welche sie in ihrer Jugend mit durchlebt, hatten ihrem Geist und ihrem Gemüth die deutsch-romantische Färbung eingeprägt, die in der damaligen Jugend allgemein herrschend gewesen war. Ihre Ehe mit einem preußischen Offizier, ihr enges geschwisterliches Verhältniß zu ihrem Bruder, dem Maler Wach, und endlich ihre Bekanntschaft mit einigen Personen der königlichen Familie, namentlich mit der Prinzeß Marianne von Preußen, hatten sie dem bürgerlichen Leben nur noch mehr entrückt, so daß man sie für eine Dame von Adel hielt, und daß sie noch heute in den Bibliographischen Notizen als Frau von Paalzow aufgeführt ist, während ihr Gatte und dessen ganze Familie den bürgerlichen Mittelständen angehörten.

Von diesem Gatten hatte sie sich früh getrennt, weil ihre Charaktere unvereinbar gewesen waren, und die sonst in den meisten sittlichen Fragen vorurtheilsfreie Frau konnte sich diese Scheidung von ihrem Manne nicht verzeihen, während sie in andern Fällen ähnliche Schritte vollkommen begriff und rechtfertigte. Man hat ihr diese Unzufriedenheit mit sich selbst als eine Folge religiöser Bedenken über die Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit der Ehescheidung ausgelegt. Ich glaube aber, daß man in dieser Annahme geirrt hat, und daß es vielleicht der Glaube war, nicht Alles, was in ihren Kräften stand, zur Erhaltung ihres [140] ehelichen Friedens gethan zu haben, was sie beunruhigte. Sie sprach mit mir nur einmal, und zwar kurz ehe ich nach Italien ging, über die Ehescheidung, weil ich die Berechtigung derselben zum Stoff eines Romanes gemacht hatte; und sie verschwieg mir nicht, daß sie mit diesem Conflikte nicht fertig geworden sei. Aber sie bezeichnete das als eine Unzulänglichkeit in ihrer Natur, als eine Gemüthsschwäche, welche zu besiegen ihre Verstandeseinsicht nicht die Kraft besessen hätte.

Was sie mir vor Allem werth machte, war aber ihre schon erwähnte Duldsamkeit gegen Andersdenkende, und ihr Bestreben sich in das ihr Fremde hinein zu finden. Ich sah sie nicht eben oft, versäumte sie bisweilen lange und sie beschämte mich dann wirklich durch die Nachsicht, mit welcher sie mir entgegenkam. So geschah es denn einmal, daß Doktor Heinrich Bernhard Oppenheim, der damals noch Privatdocent in Heidelberg war, und meinen Roman »Jenny« gelesen hatte, mir seine Sympathie für denselben ausdrücken wollte, ohne zu wissen, wo er mich finden könne. In der Voraussetzung, daß zwei Schriftstellerinnen, welche an demselben Orte leben, einander kennen und häufig sehen müßten, adressirte er seinen Brief an Frau Paalzow, die ihn mir dann mit folgenden Zeilen übermachte:


»Gestern erhielt ich diesen Brief, und obwohl er auf einen Irrthum beruht, knüpfe ich doch die Hoffnung daran, daß Sie, liebes Fräulein, noch hier anwesend sind. Möchten Sie sich doch alsdann geneigter fühlen, mit einer alten gebrechlichen Frau – nämlich mit mir, nicht zu streng zu sein, und gern einmal wieder in mein Thürmchen [141] eintreten, wo Ihr Besuch immer so willkommen war, und Ihr frischer lebendiger Geist mir so viel Antheil und Vergnügen einflößte.

Noch erzähle ich Ihnen, daß Sophie F. mit einem Lieutenant G. verlobt ist.
Adio und ich hoffe auf Wiedersehen.
Den 8. Februar 1845.

Jeanette Paalzow geb. Wach.«


Von da ab, bis zu meiner Reise nach Italien, und namentlich nach meiner Heimkehr von derselben, ging ich nun häufiger zu ihr, und grade in der Epoche der beginnenden politischen Aufregung, grade zur Zeit des vereinigten Landtages war es rührend und zugleich ein schönes Beispiel, wie ernstlich sie sich bemühte, die Beweggründe einer Partei kennen zu lernen, deren Bestrebungen ihr als ein Auflehnen gegen König und Staat erschienen. Umgeben von Freunden und von einer Gesellschaft, welche sich von der neuen Zeit und von ihren Ideen feindlich und mit Haß abwendeten, war sie weit entfernt, sich auf das bloße Glauben an das Hergebrachte und Bestehende zu stützen. Sie hing an dem König und an der Königin mit einer persönlichen Liebe, war auf das Tiefste davon betrübt, die Absichten des Königs, welche sie sehr hoch hielt, wie sie es nannte, verkannt zu sehen, aber sie hatte doch so viel von jener menschlichen Unparteilichkeit in sich, ohne die ein Dichter nicht schaffen kann, daß es sie drängte, die Männer kennen zu lernen, welche die ihr entgegenstehenden Ansichten vertraten, und soweit sie es vermochte, verstehen zu lernen, um was es sich handelte. Sie ging mich zu verschiedenen Malen ernstlich darum an, daß ich [142] ihr Heinrich Simon, Adolf Stahr, Johann Jacoby zuführen solle, ich suchte diese auch zu einem Besuche bei Frau Paalzow zu überreden; aber sie waren Alle, Jeder auf seine Weise hingenommen, die Begegnung kam nicht zu Stande, und so mußte sie sich denn mit demjenigen begnügen, was ich ihr zu bieten vermochte.

Ich habe indeß dies Streben nach Aufklärung immer als einen schönen Zug an der edlen Frau geschätzt, denn sie hatte dabei alle Wahrscheinlichkeit in ihren eigenen Empfindungen verletzt zu werden. Wem aber so viel an der Wahrheit gelegen ist, daß er dies nicht scheut, der hat eine große Seite in seiner Natur und ist kein gewöhnlicher Charakter.

[143]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Fast jeder Tag jenes Winters brachte mir neue Anregungen, neue Eindrücke, neues Vergnügen, und ich hatte volle Zeit, mich diesem zu überlassen, da ich noch immer nicht arbeiten konnte und sollte. Meine Freiheit, meine selbstständige Stellung gewährten mir täglich neue Befriedigung, und ich sagte mir oft das Wort Goethe's vor: »was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle«, um mir es auf meine Weise zu deuten; denn ich hatte jetzt viel mehr, als ich für mich zu erreichen jemals erwarten können.

Dazu war Berlin damals sehr unterhaltend an und für sich. Friedrich Wilhelm's des Vierten Vorliebe für die Kunst, wie seine Neigung für eine geistreiche Geselligkeit zogen viele Fremde nach Berlin, und man sah ihn und die Königin in jener Zeit vielfach in der Oeffentlichkeit erscheinen. Er fehlte selten in den Vorlesungen, welche im Winter von den Berliner Gelehrten am Sonnabend Nachmittag in der Singakademie gehalten wurden; er kam viel in die Symphoniekonzerte, und was auch unternommen wurde, überall hörte man von ihm sprechen, weil seine Lebhaftigkeit überall persönlich theilnahm und überall eingriff, wo er theilnahm. Es war nicht immer [144] das Zweckmäßigste, was geschah, es wurde auch manches Wunderliche zu Tage gefördert und Unzufriedenheit genug erregt, aber man hatte immer Etwas zu sprechen und der Geist in der Gesellschaft wurde dadurch in einer unruhigen Lebendigkeit, ja in Aufregung erhalten.

Heute sprach man von der Stiftung des mährchenhaften Schwanenordens, morgen sah man, wie der König sich in seiner Loge in der Akademie vor Lachen schüttelte, als Herr Alfred Reumont in einer Vorlesung über italienische Literatur die Wendung brauchte: »sie schrieben begeisterte Freiheitslieder unter Aufsicht der Polizei!« An einem andern Tage erfuhr man, daß Felix Mendelssohn, welcher bei großen Anlässen den Domchor dirigirte, vom Könige die Anweisung erhalten hatte, zu Ostern für den Domchor einen Psalm mit Begleitung von Harfen und Posaunen zu componiren, weil die Bibel berichte, daß König David seine Psalmen so begleitet habe, worüber noch speciell bei den Rabbinen Rath geholt werden sollte; und daneben war von der Inscenirung des Tieck'schen »Blaubart« die Rede, während man täglich das Erscheinen des neuen Judengesetzes und des neuen Ehescheidungsgesetzes erwartete, und fortdauernd von den Aenderungen die Rede war, welche durch des Königs vermeintliche Vorliebe für die Anglikanische Kirche, in dem protestantischen Gottesdienst eingeführt werden sollten.

Man hatte eine unbestimmte Ahnung davon, daß die Zustände nicht bleiben würden, wie sie waren, daß »Etwas geschehen« würde; und weil man zwischen ungewissen Befürchtungen und Erwartungen schwankte, weil man sich bei dem beweglichen Geiste und dem daneben [145] beharrlichen Sinn des Königs, des Unberechenbarsten versehen konnte, so schien man die Muße des Augenblickes noch genießen, die guten alten Traditionen der Berliner Gesellschaft schienen für den Augenblick wieder aufleben zu wollen. Das Bierhausleben der Männer war noch nicht so allgemein als jetzt.

Es gab noch immer einzelne Frauen, in deren Zimmern sich eine aus allen Ständen gemischte Gesellschaft zusammenfand, und unter diesen Letztern nahm die älteste Schwester von Felix Mendelssohn, die an den Maler Wilhelm Hensel verheirathete Fanny Mendelssohn die erste Stelle ein. Sie war klein, und die seelenvollen mächtigen Augen ausgenommen, eigentlich unschön, aber sie hatte einen scharfen Verstand, war sehr unterrichtet, sehr selbstbestimmt und als Musikerin ihrem Bruder ebenbürtig. Auch ihre jüngere Schwester, Rebekka, die Frau des berühmten Mathematikers Lejeune Dirichlet und der jüngste Bruder, der Bankier Paul Mendelssohn waren äußerst musikalisch, und die Matineen, welche Frau Hensel in den stillen, weiten Sälen ihrer Gartenwohnung veranstaltete, waren außerordentlich interessant. Sie bewohnte den Gartenflügel ihres elterlichen Hauses, desselben, in welchem sich jetzt die erste Kammer befindet, und aus den bis zum Boden hinabreichenden Fenstern dieses Hinterhauses, das nur aus einem Erdgeschoß bestand, aus ihren kunstgeschmückten Räumen, sah man hinaus auf die alten Bäume eines großen Gartens, während man die vortrefflichsten musikalischen Aufführungen zu genießen hatte, in denen Künstler und ausgezeichnete Dilettanten zusammen wirkten.

[146] In einer solchen Matinee war es, daß ich Felix Mendelssohn zum ersten Male sah und hörte. Es befanden sich unter den Zuhörern noch Henrik Steffens, Friedrich von Raumer, die Künstler Wach und Tieck, eine Fürstin von Dessau, die Fürsten Radzivill mit ihren Familien, der englische Gesandte Graf Westmoreland, zwei von Bettina's Töchtern, eine Tochter des Prinzen Karl von Preußen mit ihrer Erzieherin, Schönlein, und noch eine Menge von Personen, deren Namen Bedeutung hatten, oder diese später bekamen, wie der Name des Musikers Joseph Joachim, welcher damals noch ein Knabe war und, von Felix Mendelssohn begleitet, sehr brillante Variationen von David vortrug.

Während man schon musicirte, richteten sich plötzlich alle Blicke nach der Thüre und ein freudiges Lächeln zog durch alle Mienen, als ein noch junger Mann in der Thüre des Saales erschien. Es war eine schlanke, bewegliche Gestalt. Sie trat geräuschlos ein, den Kopf hoch gehoben, mit leuchtenden Augen, die etwas ungemein Ueberraschendes, ja etwas Ueberwältigendes hatten. Es war Franz Liszt.

Ich hatte ihn schon in Königsberg im Hause einer mir befreundeten Dame, der Stadträthin Friedmann gesehen, und still dabei gestanden, als eine einfältige Frau, die sich für geistreich hielt, es für angemessen fand, ihn über George Sand und dessen Art und Weise auszufragen. »Trägt George Sand Männerkleider?« – »So sagt man!« – »Sie kennen George Sand genau?« – »O ja! seit langen Jahren!« – »Raucht George Sand?« – »Ja! sie raucht!« antwortete der Gequälte, welcher [147] sich seinem Plagegeist, der eine in Königsberg angesehene und Ton angebende Dame war, nicht wohl entziehen konnte, mit verzweifelter Geduld. – »Ist George Sand schön?« – »Sie sieht sehr gut aus.« – »Wie alt ist sie? ist sie jung?« – »Man ist immer jung, Madame! so lange man zu gefallen weiß!« entgegnete er, verneigte sich gegen die nicht mehr junge Frau, und rettete sich vor ihrer langweiligen Indiskrezion, indem er ihr, großmüthig wie seine Natur es ist, für eine Qual, welche sie ihm bereitet, ein Compliment hinwarf, das sie nicht versäumte, auf sich zu beziehen, und sich dessen lange nachher zu rühmen.

Selbst gesprochen hatte ich ihn nie, und spielen hatte ich ihn auch nicht hören, denn die Conzertbillette waren für uns nicht erschwingbar gewesen, und ich hatte auch eigentlich mehr Interesse für Liszt als Menschen, denn für den Musiker gehabt. Es mußte eine mächtige Seele, ein starkes Streben nach Wahrheit in dem Manne sein, den seine Sehnsucht nach einem Idealen aus pietistischer Schwärmerei in die Verbrüderung der Saint Simonisten geführt, von denen er sich dann auch später wieder getrennt hatte. Und so hatte ich denn an dem Morgen der Matinee mein volles Genügen daran, ihn aus der Ferne anzusehen, und den ganzen wunderbaren Kopf in seinen Einzelnheiten zu betrachten, von dessen stolzer Stirn das Haar wie die Locke des Jupiter Otrikoli emporsteigt. Ich wünschte es mir damals sehr, Liszt kennen zu lernen, und dachte nicht daran, daß dies einst geschehen, daß ich in ihm den Freund meines Mannes und auch meinen Freund zu lieben und zu schätzen haben würde.

[148] Man begann an jenem Morgen die Musik mit einem Quartett von Weber, das Frau Hensel spielte, und welches die Gebrüder Gans und Felix Mendelssohn begleiteten, dann trugen Frau Hensel und der Bruder Variationen à quatre mains von dem Letztern vor; Pauline von Schätzel, damals schon die Frau des Hofbuchdrucker Decker, sang eine Arie mit Chor aus der Schöpfung, und später mit einem ausgezeichneten Sänger, mich dünkt, er hieß Bär, einige große Scenen aus dem Templer und der Jüdin, Felix Mendelssohn begleitete den Gesang auf dem Flügel, und endlich spielte Mendelssohn mit dem jungen Joachim noch die vorhin erwähnten Variationen.

Es war erfreulich, Mendelssohn zu beobachten, wenn er musicirte. Er war nur klein und sein feines, etwas bleiches Gesicht trug den Typus seines Volkes, ja es erinnerte für mich entschieden an Moses Mendelssohn. Man würde überall, wo man ihm begegnet wäre, seinen Kopf anziehend gefunden haben, aber sobald er spielte, gewannen seine Züge, ich möchte fast sagen andere Dimensionen und eine viel höhere Bedeutung. Stand er vollends als Dirigent vor dem Orchester, wie ich das in den Symphoniekonzerten sah und hörte, als er einmal seine Ouverture zum Sommernachtstraum, und ein anderes Mal, als er seine Ouvertüre zu den Hebriden aufführte, so wurde er ein anderer Mensch. Es schien, als steige er empor auf der Fülle der Töne, welche unter seiner Leitung erklangen, der Töne, welche er erschaffen hatte, und die ihn nun mit ihren vollen Wogen umrauschten. Er wuchs mit ihnen an Kraft, sein Haupt hob sich [149] stolz, sein Auge strahlte mit schönem Glanze, sein Gesicht drückte eine ernste Freude aus, und man war dann ganz verwundert, wenn er nach dem letzten Taktschlag seinen Herrscherstab zur Seite legte, von seinem Schemel herabstieg, mit den andern Leuten auf gleichem Boden einherging, und wieder das sanftbewegte, feine und geistvolle Gesicht zum Vorschein kam, das man vor der Aufführung an ihm wahrgenommen hatte.

Ich war von den beiden Schwestern des Componisten sehr freundlich begrüßt worden, als wir uns zum ersten Male in einer Gesellschaft bei Fräulein Solmar getroffen hatten. Sie waren auch Jüdinnen, wenn schon an Christen verheirathet, und hatten jene entschiedene Vorliebe für ihre Abstammung bewahrt, welche bei den Juden stets ein Zeichen von Bildung und charaktervoller Selbstständigkeit ist. Der halbgebildete, in sich unfreie Jude hat zu allen Zeiten, früher sowohl wie noch heute, das Vorurtheil, welches die Unkultur der Nichtjuden gegen sein Volk gerichtet, als eine Demüthigung empfunden, der er sich durch Verbergen seiner Abstammung oder doch dadurch zu entziehen sucht, daß er ihrer nicht eben erwähnt, daß er sie vergessen machen möchte, und sich auf jede Weise Denjenigen anzuschließen trachtet, welche ihn zu vermeiden wünschen. Das war und ist aber ein ehrloses Verhalten, und da das Schlechte in der Regel auch etwas Dummes ist, so war und ist dies Verläugnen der eigenen Wesenheit auch nebenher eine Dummheit. Der vorurtheilsvolle Einzelne und die vorurtheilsvolle Masse vergessen und vergeben es dem Juden in Deutschland und in England [150] noch heute nicht, daß er ein Jude ist, und sie haben ein Recht, ihn zu mißachten, so lange er nicht das Selbstgefühl hat, sich ihnen gegenüber in seiner Menschenwürde als gleichberechtigt zu behaupten, so lange er selbst sich in gewissem Sinne seiner Abkunft schämt. Was wir selbst an uns nicht schätzen, hat sicher kein Anderer zu respektiren nöthig. Damit die rechte Selbstachtung aber möglich wird, ist viel mehr und ganz andres nöthig, als Equipagen, Mittagsbrode und prachtvoll tapezierte Wohnungen, als die Sammetpelze, Brillanten und noblen Cavalierpassionen, mit welchen unsere reich gewordenen Juden ihre Gegner jetzt von ihrer Gleichberechtigung zu überzeugen meinen. Es ist dazu jene Bildung nöthig, wie sie die Juden sich zu den Zeiten Lessings, nach dem Beispiel von Moses Mendelssohn zu eigen machten, jene Bildung, die gleichen Schritt hielt mit den Besten ihrer Zeit, und die es neben dem Wissenswerthen, das sie erstrebte und sich aneignete, nicht vergaß, daß Bildung des Charakters das Höchste ist.

In einer unterdrückten und auch jetzt noch im Geiste des deutschen Volkes keinesweges emancipirten Nationalität erringt Jeder die Stellung, welche er durch seine Bildung für sich selbst erwirbt, zugleich für die Gesammtheit. Was Moses Mendelssohn, seine Kinder und Enkel, was die Hofräthin Herz, was Rahel und ihre Freunde, Frau Levy und ihre Schwestern, was David Veit, David Friedländer und Männer und Frauen dieses Schlages, zu ihrer Zeit an Bildung, an Charakter besaßen und für sich geltend machten, das ist der Grundstock des Kapitals, von welchem heute noch die geselligen Verhältnisse der Juden die [151] Zinsen beziehen; und es ist an der Zeit und dringend nöthig, daß sie dies Kapital an geistigem Gehalt in sich vermehren. Denn so ehrenvolle Ausnahmen es giebt, so ist ein großer Theil von ihnen doch sehr äußerlich geworden; und die fast zur Sitte und zur Mode gestempelten Heirathen der reichen jüdischen Banquierstöchter mit armen Edelleuten sind gewiß nicht das rechte Mittel, die gesellschaftliche Gleichberechtigung und die Achtung vor der Bildung und vor dem Charakter der Juden herzustellen. Im Gegentheil!

Es war eine sehr gesunde Seite an Felix Mendelssohn und an seinen beiden Schwestern, daß sie Vorliebe für den Volksstamm hatten, dem sie angehörten, und ich erinnere mich mit Vergnügen daran, wie werth sie die Erinnerungen hielten, welche mit der Vergangenheit ihrer Familie in Verbindung standen. Bald nachdem ich Frau Dirichlet hatte kennen lernen, fiel es mir z.B. eines Tages auf, daß in dem Eßzimmer ihrer geschmackvollen Wohnung, auf einem großen Schranke eine Reihe äußerst häßlicher Affen aus Porzellan aufgestellt waren, welche bei der ganzen Einrichtung der Zimmer doppelt als eine Abgeschmacktheit erschienen. Ich konnte mich daher der Frage nicht enthalten, was sie bewogen habe, diese garstigen Figuren als Zierrath zu benutzen. »O!« entgegnete sie, »Zierrath ist das nicht, es sind Erbstücke und historische Dokumente. Zu der Zeit, in welcher mein Großvater Moses Mendelssohn sich hier in Berlin niederließ, mußte jeder Jude, welcher sich verheirathete, je nach seinen Vermögensverhältnissen eine bestimmte Menge Porzellan aus der königlichen Porzellanfabrik entnehmen, welche Friedrich [152] der Große auf jede Weise zu heben wünschte. Aber nicht genug, daß dies schon an und für sich unter Verhältnissen eine harte Zumuthung sein konnte, hatten die Juden auch nicht einmal das Recht der Wahl bei ihren Käufen, sondern mußten nehmen, was ihnen von der Direktion der Fabrik überwiesen wurde. Auf diese Art erhielten denn die Großeltern eine ganze Menagerie von Affen, welche ihre Kinder später zum Andenken theilten, und die wir nun von unsern Eltern überkommen haben, und als Erinnerungszeichen an die alte gute Zeit bewahren.«

Während ich so die Vorzüge eines Gesellschafts-Lebens genoß, das mir neu war, trat plötzlich eine Aufforderung zur Arbeit an mich heran, die ich mir am wenigsten vermuthet hatte, und die in gewisser Weise, wenn auch nur indirekt, mit der Neigung des Königs zusammenhing, das Heft alles Geschehenden selbst in Händen zu behalten.

In Berlin erschien nämlich seit langen Jahren ein genealogischer Kalender, welchen früher die königliche Kalenderkommission herausgegeben hatte. Diese hatte damit schlechte Geschäfte gemacht, und das Verlagsrecht deßhalb im Jahre dreiundvierzig an die Reimarus'sche Buchhandlung verkauft, wobei der König sich jedoch die Bestimmung der Stahlstiche vorbehalten, und verlangt haben sollte, daß der Inhalt des Kalenders ein rein historischer sei. Das Erstere hatte natürlich gar keine Schwierigkeiten gehabt, gegen das Letztere hatte der Buchhändler jedoch die Einwendung gemacht, daß ohne eine belletristische Arbeit der Kalender für das große Publikum nicht [153] anziehend sei, und der König hatte sich denn dahin entschieden, daß der Verleger sich an Tieck wenden und diesen um eine Novelle angehen solle. Herr Reimarus hatte der Anordnung Folge geleistet, indeß Tieck hatte sich außer Stande erklärt, bei seiner schwankenden Gesundheit irgend eine feste Zusage zu machen; und da Reimarus angewiesen worden, Tieck die Wahl des Autors anheim zu geben, falls er selbst keine Arbeit liefern könne, so hatte Tieck ihm den Rath gegeben, mich zu einer Arbeit für den Kalender aufzufordern.

Doktor Moritz Veit, der mir im Namen von Herrn Reimarus die erste Mittheilung davon machte, und der ehemalige Redakteur der Staatszeitung, Herr Lehmann, der sich dabei befand, redeten mir zu, die Arbeit zu übernehmen, und nach einem mehrtägigen Zögern, Bedenken und Verhandeln sagte ich es zu. Mir und dem guten nun schon lange verstorbenen Reimarus war Beiden aber nicht ganz wohl dabei zu Muthe.

Mir war es neu, eine Arbeit machen zu sollen, an die ich nicht vorher aus freiem Antriebe gedacht hatte, und Herrn Reimarus war ich so zu sagen unheimlich. Ich hatte meinen Sinn auf die Gestaltung meines dritten Romanes gerichtet, zu welchem mir die Anregung schon vor Jahren durch die Halleschen Jahrbücher gekommen war. Ich hatte dort in einem Artikel über das in Preußen beabsichtigte Ehescheidungsgesetz den Ausspruch gefunden: »Es giebt Fälle, in welchen die Trennung einer Ehe eine hohe, sittliche That sein kann!« – Diese Ansicht hatte mich, weil sie mir zur Zeit, als ich den Ausspruch las, noch befremdlich gewesen war, vielfach beschäftigt, [154] und ich hatte mir, ohne den Gedanken an eine bestimmte Composition, Fälle auszumalen versucht, in welchen er zutreffend sein mochte. In diesem Nachsinnen hatte ich mir die verschiedenen Charaktere vorgestellt, welche überhaupt darauf angelegt sein konnten, Ehen einzugehen, die später ihren Bedürfnissen und Erwartungen nicht entsprächen, und mir deutlich zu machen versucht, welche Saiten des menschlichen Empfindens in einem ehelichen Zwiespalt zum Erklingen kämen, wenn dieser bis zu dem Verlangen nach einer Scheidung gediehen sei. Es war mir darüber ein Kreis von Gestalten und eine Reihe von Verhältnissen und Verwicklungen zwischen diesen Gestalten, in der Seele lebendig geworden, die ich mehr und mehr ausbilden mußte, und die ich bald festzuhalten wünschte. Die Figur eines dichterisch begabten Edelmannes, eines adeligen Schriftstellers, der als Student sich in ein schönes Bürgermädchen verliebt und dies, trotz der Ungleichheit – nicht ihres Standes – sondern ihrer Bildung zu heirathen versprochen, und zu beiderseitigem Nachtheil auch geheirathet hatte, das war die ursprüngliche Person gewesen, an welcher ich meine Probleme ermessen, und sie war, wie alle Figuren dieser Dichtung, die später unter dem Titel: »Eine Lebensfrage« erschienen ist, ein reines Gebilde der Phantasie, ja sie hatten, mit Ausnahme einer einzigen Figur, mit Ausnahme des Präsidenten, keine Züge von lebenden Originalen entlehnt, wie dies sonst beim Schaffen willkürlich und unwillkürlich wohl geschieht.

Ich hatte aber eine Zärtlichkeit für den neuen Helden meiner Phantasie gefaßt. Alfred von Reichenbach war [155] mir in das Herz gewachsen, ich liebte es, mich mit ihm zu beschäftigen, und unterhielt mich daneben heiter damit, bei der Charakterentwicklung des Präsidenten einzelne kleine Züge unseres Freundes Crelinger anzubringen, welche er theils mit andern geistreichen und durch die Erfahrung gebildeten Lebemännern gemeinsam hatte, und wieder andre, deren er sich gegen mich angeschuldigt oder gelegentlich gerühmt hatte. Zum Scherz und zum Necken aufgelegt, hatte ich große Freude daran, mir die heitere Ueberraschung des mir so werthen Freundes vorzustellen, wenn er den Roman einmal zu lesen bekommen würde; und diese mir zu täglichen Gefährten gewordenen Geschöpfe meiner Phantasie, den liebenswürdigen Alfred, den sarkastischen Präsidenten, den sanften, sentimentalen Theophil und die schöne Sophie Harcourt, Alle auf einmal nun in meinen Schreibtisch zu verpacken, aus so guter Gesellschaft in eine leere, kalte Stube zu gehen und abzuwarten, wer etwa kommen und sich melden wolle, war mir eigentlich verdrießlich.

Auf der andern Seite hatte ich nicht viel Geld, aber viel Lust, noch in Berlin zu bleiben. Man bot mir ein gutes Honorar, man hielt mir vor, daß ein Kalender weit verbreitet werde, daß er also ein großes Publikum und eine große Wirksamkeit habe, und so sagte ich mir denn eines Tages frisch weg: »Gebt Ihr Euch einmal für Poeten, so kommandirt die Poesie!« und versprach Herrn Reimarus contraktlich, ihm im Verlauf einiger Monate eine Novelle zu liefern.

Kaum aber hatte ich meinen Contrakt unterschrieben, so begann der Gedanke, daß ich auf meine Gesundheit [156] nicht zählen könne, und daß ich ein gegebenes Wort zu halten habe, mich zu peinigen und mir schlaflose Nächte zu machen, und ich brachte es mit dieser unnützen Selbstquälerei wieder einmal dahin, mich leidender zu machen, als ich war, und so meine Sorge zu erhöhen. Daneben traute mir mein Verleger, Herr Reimarus, auch nicht recht. Er hatte den Contrakt mit mir abgeschlossen, ohne eine Zeile von mir gelesen zu haben. Nun las er die »Clementine« und die »Jenny«, und es wurde ihm zu Muthe, wie jenem armen Huhne, das ein Habichtsei ausgebrütet hat, und mit Entsetzen die großen Augen des kleinen Raubvogels aus dem Ei hervorkommen sieht. Der ganze leidenschaftliche Ton meiner Auseinandersetzungen, mein Festhalten an Ueberzeugungen, welche nicht die allgemein herkömmlichen waren, beunruhigten ihn, und er beschwor mich also, da er es ja mit einem in gewissem Sinne gouvernementalen Unternehmen zu thun habe, um Gottes willen Nichts zu schreiben, was irgend nach einer Seite Anstoß geben könne. Zwei-, dreimal besuchte er mich, während ich arbeitete, um mir diese Bitte an das Herz zu legen, und als er dann erfuhr, daß meine Novelle den Titel: »Der dritte Stand« tragen solle, stiegen seine Besorgnisse auf das Höchste.

Nun war er ein feiner, durchaus gebildeter Mann, der mir nicht wehe thun wollte, und ich hatte auch den redlichsten Willen, mich seinen Anforderungen zu fügen, aber die Scene war gar zu komisch, wenn er auf sein Kapitel kam. Er sprach dann schneller, als er pflegte, lobte mich eifrig, und bemerkte, sich hastig und verlegen die Hände reibend, als er zum letzten Male davon [157] mit mir sprach: »Nun mein theures Fräulein! wenn wir also nun bald fertig sind, so sehen wir Ihre schöne Arbeit durch, und finden wir Etwas, was uns bedenklich scheint, so merzen wir das leicht aus, und ändern es!« Er stand auf, gab mir die Hand und wollte gehen. Ich erhob mich ebenfalls, und seine Hand festhaltend, sagte ich: »Verzeihen Sie, Herr Reimarus! Eins muß ich Ihnen doch noch sagen. Daich die Novelle geschrieben habe und nicht wir Beide, so werde auch ich allein sie revidiren, und Sie werden dieselbe wörtlich so drucken, wie ich sie geschrieben habe. Eine Censur von Ihnen erkenne ich um so weniger an, als bereits die Censur der Behörden auf unserm Schaffen lastet. Dieser keinen Anstoß zu geben, bin ich Ihnen schuldig und werde ich mich bemühen, im Uebrigen vertrete ich, was ich schreibe, und im schlimmsten Falle büßen Sie Ihr blindes Zutrauen zu Herrn Hofrath Tieck! Ich bin eben ein Kind meiner Zeit, das hätten Sie wissen können; aber ich denke, Sie sollen kein Hinderniß durch mich erfahren!«

So schieden wir denn freundlich und ich arbeitete an meiner Novelle eifrig fort, mich jeden Tages glücklich preisend über die Fähigkeit schaffen zu können, was mich erfreute, und arbeiten und leben zu können, nach meinem Bedürfen. Ich dachte mit sehr erhöhter Liebe an meine Schwestern nach Hause, ich ließ es mir geduldig gefallen, recht viel Bänder und Kragen und Kleidungsstoffe und Gott weiß was sonst noch für sie besorgen zu müssen, obschon es mir beschwerlich war und sie es zu Hause, ihren Verhältnissen angemessen, ebenso gut haben konnten; aber wenn man Freude hat, mag man gern Freude bereiten, [158] und es focht mich dabei gar nicht an, daß ich auch jetzt noch in Berlin jeder Art von häuslicher Bequemlichkeit ermangelte.

Ich wohnte, seit ich im Herbste des Jahres dreiundvierzig wieder aus Breslau zurückgekehrt war, wieder bei meiner Tante, die außer mir noch andre Pensionaire hielt. Da diese Letztern ihr größere Entschädigungen bieten konnten, als ich es mit meinen mir knapp zugemessenen Mitteln zu thun vermochte, mußte ich mich natürlich mit dem schlechtest gelegenen Zimmer begnügen, und wenn ich nun auch nicht, wie es früher der Fall gewesen war, der nothwendigen Möbel entbehrte, so hatte ich dafür um so mehr von Musik und von einer unausgesetzten Passage durch meine Stube zu leiden. Auf der einen Seite derselben musicirte meine sehr musikalische Tante, wenn ihr eine freie Stunde übrig blieb, auf der andern Seite eine englische Sprachlehrerin, deren musikalische Anlagen echt englische waren, und die, ausgerüstet mit dem ganzen Stolze ihres Englands, ruhig fortspielte, wenn auch meine Tante eine Stube davon selber Musik machte. So zwischen zwei musikalischen Feuern in drangvoll fürchterlicher Enge eingekeilt, saß ich an meinem alten Schreibsecretair, und Köchin und Hausmädchen, und jeder Besuch, der zu meiner Tante ging, elegante Toiletten und Kehrbesen und Waschzuber, Alles passirte an mir vorüber. Es war ein Glück für mich, daß ich es als Kind erlernt hatte, in der Wohnstube am Familientisch zu arbeiten, und meine Gedanken, unabhängig von den Vorgängen um mich her, zusammen zu halten und auf das Papier zu bringen; denn ohne solche frühzeitige geistige Abhärtung[159] hätte ich in dieser Wohnung nicht eine Zeile schreiben können.

Das Schlimmste und das mir eigentlich Unerträgliche bei dieser Einrichtung bestand darin, daß ich nicht Herr in meiner Stube war. Man kann sich in dem elendesten Kämmerchen einheimsen und es sich und Andern darin behaglich machen, wenn man die Freiheit hat, es seinem eigenen Wesen anzupassen. Einer Bodenkammer und einer Bauernstube kann man das Gepräge eines gebildeten Geistes aufdrücken, einem sogenannten »anständig möblirten Vermiethzimmer« ist aber weit schwerer beizukommen, und ich ging oftmals in dem Zimmer umher, und dachte: wohnst Du denn hier wirklich? – Ich sah die Porzellanvasen mit gemachten Blumen an, die unter ihren Glaskuppeln in steifer Verblichenheit dastanden; ich sah an der Wand zu den mir fremden, schlechtgezeichneten Familien-Portraits hinauf, ich stand vor dem Trümeau, der mit dem Zimmer und mit den andern Möbeln gar keine Gemeinschaft hatte, und dachte: wie sind wir Beide denn eigentlich hierher verschlagen? und ich kam mir in meiner Umgebung so fremd vor, als ginge ich in den verblichenen Kleidern einer alten Maskengarderobe umher. Schlimmer aber noch empfand ich es, wenn ich genöthigt war, mir meine Bestellungen bei Handwerkern selbst zu besorgen, gelegentlich große Packete für die Meinen selbst zur Post zu tragen, und vollends, wenn ich Abends unbegleitet über die Straße gehen mußte.

Zu Hause war es ein feststehendes Gesetz gewesen, daß keine der Töchter in ein fremdes Haus zu einer Wäscherin, Schneiderin, Putzmacherin gehen durfte, sofern [160] diese nicht einen offenen Laden hielt, und ebenso waren wir, sobald es nicht mehr völlig Tag war, niemals auf die Straße gekommen, ohne von einem Mädchen oder von dem Hausdiener begleitet zu werden. Da wir reichliche Bedienung im Hause hielten, hatte das gar keine Schwierigkeiten gemacht, es waren immer Leute zur Verfügung gewesen, und da es in den uns befreundeten Familien eben so gehalten worden, hatte ich kaum daran gedacht, daß es überhaupt anders sein könne. Als ich dann zum ersten Male einen Winter in Berlin zubrachte, bestand eine der ersten Anordnungen, welche mein Vater für mich traf, darin, daß er einen Diener engagirte, der mich begleitete, wenn ich Abends ausging oder ausfuhr, denn selbst im letztern Falle fürchtete der Vater irgend welche Zufälle, die mir unangenehm sein konnten, und ich hatte mir, um diese Anordnung aufrecht zu erhalten, die recht kostspielig war, mancherlei Erwünschtes versagen müssen, wollte ich die von meinem Vater bewilligte monatliche Summe nicht überschreiten, und seine Güte für mich nicht mißbrauchen.

Jetzt, da ich mir vorgenommen, nur von meinem Erwerbe zu leben, war dieser begleitende Diener der erste Luxus, den ich mir abgewöhnte und abgewöhnen mußte. Ich machte meine Commissionen selbst, ich ging im Dunkeln allein aus, und ich empfand dabei keine Furcht, wohl aber ein Unbehagen, ja ich fühlte mich gedemüthigt. Ich kam mir erniedrigt, gelegentlich auch so einsam und verlassen vor, daß mir eines Abends, als ich in einem argen Schlackwetter, in Mantel und Kapuze durch den nassen Schnee der Straßen watete, die Thränen in die [161] Augen kamen. Es war derselbe Hochmuth, der sich in mir geregt hatte, als ich das erste selbstverdiente Geld empfangen hatte, und ich wurde die Quelle meiner Niedergeschlagenheit nicht gewahr, ohne mich derselben bald von Herzen zu schämen, und mit all meiner Kraft und Vernunft gegen den Dünkel anzukämpfen, der sich die Vorzüge des selbsterwerbenden Mannes, des Arbeiters aneignen wollte, ohne den Muth zu haben, sich da, wo es Noth that, auch den Bedingungen der Selbstständigkeit ehrlich und freudig zu unterwerfen.

Ich hatte schon oftmals von den arbeitenden Ständen mündlich und schriftlich gesprochen, hatte schöne und erhabene Sentenzen darüber gemacht, mein Lebelang von der Gleichberechtigung und von der Emancipation der Frauen sehr energisch geredet, und fand nun zu meinem Erstaunen, daß ich im schlimmen Sinne des Wortes »die Dame« spielte, daß ich mein besseres Selbst angetastet glaubte, wenn ich Geld für meine Arbeit nahm, daß ich meiner Stellung zu nahe zu treten, meinem Schicklichkeitsgefühl Etwas zu vergeben wähnte, wenn ich, wie Tausende von armen ordentlichen Arbeiterinnen, Abends ruhig meiner Wege ging. Das machte eine vollkommene Revolution in meinem Innern, und ich kam mir nun plötzlich mit meinem Salon-Anstand und meiner damenhaften Vornehmheit so unter meiner wahren Würde vor, daß ich mich recht von Herzen in die Idee versenkte, mein Leben lang immer nur eine tüchtige Arbeiterin zu sein, auf welchen Platz das Schicksal mich auch stellen, welche Art von Arbeit mir auch nöthig werden würde, um mir meine ehrliche Selbstständigkeit zu erhalten. Man hat aber in [162] sich Etwas gewonnen, wenn man aufhört, die Achtung des Menschen nicht ausschließlich nach der Art seiner Arbeit, sondern nach der Tüchtigkeit abzumessen, mit welcher er derselben obliegt; und wenn man begreift, wie thöricht es ist, nur die mit der Hand arbeitenden Menschen zu den arbeitenden Ständen zu zählen. Man hört dann wenigstens auf, die Würdigkeit und Vornehmheit des weiblichen Geschlechtes gewissermaßen nach seiner Vermögenslage zu beurtheilen, und sich gedemüthigt und verlassen zu fühlen, weil man nicht Geld genug hat, unnöthig Droschken zu bezahlen und einen Diener hinter sich hergehen zu lassen. Indeß man macht sich freilich von Nichts schwerer, als von seinen Vorurtheilen und von seinen Gewohnheiten los, wenn beide irgend einem Hochmuthe heimlich Vorschub leisten.

Meine Arbeit für den Kalender ging mir nicht so frisch von Statten, als es bisher mit meinen Produktionen der Fall gewesen war. Daß ich dies Thema vermeiden und jenes nicht sagen sollte, daß ich ein bestimmtes Längenmaß nicht überschreiten und an einem festgesetzten Tage fertig sein mußte, lähmte mich; und als ich die Hälfte meiner Novelle fertig hatte, mißfiel sie mir so gründlich, daß ich sie plötzlich ganz verwarf, um sie, durch keinen Hinblick auf meine Versprechungen gehemmt, auf's Neue zu beginnen. Ich wollte sie ganz nach meiner Neigung fertig machen, und was dann nicht zulässig war, später streichen und mildern, und ich war ganz gut im Zuge, als meine Gedanken plötzlich nach einer anderen Richtung geleitet wurden, denn fast gleichzeitig mit einer Einladung meines Onkels Friedrich Lewald, seine Frau [163] bei einer Badereise zu begleiten, erhielten wir die Nachricht, daß mein Vater unsern Bitten nachgegeben habe, und uns in der ersten Hälfte des Maimonates in Berlin zu besuchen gedenke.

Wir hatten diesen Ausflug für ihn schon lange gewünscht. Er hatte Königsberg seit Jahren nicht mehr verlassen, und wir glaubten seinen Briefen anzufühlen, daß eine Erfrischung ihm geistig wie körperlich wohl nothwendig sei. Da es sich so anließ, als ob unser ältester Bruder und ich und meine zweite Schwester dauernd in Berlin bleiben würden, begann der Vater seinerseits an eine gänzliche Uebersiedelung der Familie zu denken, und beschäftigte sich, um diese bewerkstelligen zu können, mit der allmähligen Verkleinerung und Realisirung seines Geschäftes. Aber an ein großes Geschäft gewöhnt, das ihm Sorgen und Aufregungen aller Art verursacht hatte, lang weilte ihn sein jetziger Geschäftsbetrieb, und es war oftmals die Rede davon, daß er etwas Andres, Neues beginnen möchte, wozu es im Grunde für ihn nicht zu spät gewesen wäre, denn er war erst sechsundfünfzig Jahre alt. Er konnte aber darüber nicht mit sich einig werden, und schien überhaupt verstimmt zu sein.

Wir schoben das zum Theil auf meine und meiner Brüder Abwesenheit von Hause. Es war dadurch stiller bei uns geworden, die Freunde meiner Brüder hatten Königsberg meist auch verlassen, und seit ich fort war, hatte das Gesellschaftsleben sich, wie die Schwestern schrieben, in unserm Hause sehr geändert und vermindert. Sie hatten Anfangs, bedeutend jünger als ich, weniger Initiative, und weniger Einfluß auf den Vater gehabt. Er [164] hatte gern Gesellschaft um sich, ja sie war ihm mit ihrer Anregung ein Bedürfniß, aber er war nicht der Mann, sie um seinetwillen einzuladen, und da die Schwestern den reifen Männern unseres Umganges noch keine ebenbürtige Gesellschaft sein konnten, so hatte man sich mit einer gelegentlichen Tanzgesellschaft begnügt, hatte sich mit Vorliebe in den Gedanken großer häuslicher Zurückgezogenheit hineingelebt, und war es dann endlich gewahr geworden, daß Nichts den Menschen so schnell altern macht, als Einsamkeit und zu große Gleichförmigkeit des Lebens; daß dagegen Nichts so wohl und so frisch erhält, als regelmäßige Anspannung der Thätigkeit und rascher Wechsel der Eindrücke. Der Mensch ist darin dem Magnete gleich: je mehr er tragen muß, um so stärker wird seine Kraft.

Schon das ganze Jahr hindurch hatten wir daher den Vater angelegen, uns zu besuchen. Er sollte sich Berlin wieder einmal ansehen, sollte sich überzeugen, ob sich ihm irgendwo eine ihm zusagende neue Thätigkeit darbieten würde, und wir hatten dabei besonders an die zahlreich entstehenden neuen Eisenbahnen und an andere Aktien-Unternehmungen gedacht, bei welchen für einen Mann von seiner Begabung sich wohl Aussicht zu einer zweckmäßigen Betheiligung bieten konnte. Indeß all' unser Zureden war lange vergeblich geblieben, denn die Macht der müden Gewohnheit hatte ihn einzuspinnen begonnen. Er hielt es lange für unzulässig, seine vier Töchter, obschon sie Alle ganz erwachsen und verläßliche Mädchen waren, auch nur für ein paar Wochen im eigenen Hause mit eigener Dienerschaft allein zu lassen, während sie noch zum Ueberfluß von nahen Freunden und Bekannten [165] umgeben waren. Er fand es eben so schwer, das Geschäft seinen Commis für kurze Zeit zu überantworten, und als wir es dann mit Bitten und Drängen, mit Vorstellen und Zureden endlich dahin gebracht hatten, daß der Vater sich zu einem Ausfluge von vierzehn Tagen entschloß, zeigte er uns dies mit einem innern Widerstreben an, welches uns befremdete und besorgt machte, weil dergleichen bis dahin nicht in seinem entschiedenen Wesen gelegen hatte.

Neben dieser unverkennbaren und mich sehr beunruhigenden Abspannung meines Vaters hatte die Energie, mit welcher sein jüngster Bruder, nach langer Muße, sein Leben zu einem überaus thätigen umgestaltet hatte, etwas Ueberraschendes; und unsere Liebe und Verehrung für den Vater gab uns den Muth, für ihn noch auf eine ähnliche Wandlung zu hoffen, wenn es uns nur gelungen sein würde, ihn einmal wieder in einen frischen Strom des Lebens hinein zu locken.

Schon im Frühjahre dreiundvierzig hatte ich in Breslau meinen Onkel als einen ganz verwandelten Menschen und sein Haus als ein mir völlig neues wiedergefunden. Seine erste Frau war einige Jahre vorher gestorben, und der Onkel hatte ein Fräulein Pauline Werkenthin, welche als Erzieherin seiner Kinder in sein Haus gekommen war, ein paar Jahre nach dem Tode seiner ersten Frau geheirathet. Sie war nicht jung und nichts weniger als hübsch, aber eine große Gestalt von guter Haltung, eine Frau voll Verstand und Tüchtigkeit und von weltgewandten Formen. Da mein Onkel seit einer Reihe von fünfzehn, sechszehn Jahren gar kein Geschäft betrieben, [166] so war die ganze reiche Haushaltung aus dem Vermögen seiner ersten Frau bestritten worden, das nach deren Tode zum allergrößten Theile den Kindern derselben zugefallen war, wenn schon mein Onkel noch bis zu deren Volljährigkeit die Nutznießung davon hatte.

Als er nun die Erzieherin seiner Kinder heirathen wollte, erklärte diese ihm, daß es für ihr Gefühl eine Unmöglichkeit sei, von dem Vermögen ihrer Stiefkinder zu leben, und so hatte mein Onkel, damals schon ein Mann von einigen vierzig Jahren, und an die vollste Muße und Unabhängigkeit gewöhnt, sich denn schnellen Entschlusses darin gefunden, eine Disponentenstelle in einem großen Breslauer Handlungshause anzunehmen, die ihm eine nicht unbedeutende Einnahme sicherte, bis er mit seinen Planen weiter gediehen war, und eine größere, lohnendere und bedeutendere Thätigkeit für sich erschaffen hatte.

Diese Plane und diese Thätigkeit hatten sich auf den Bau der Oberschlesischen Eisenbahn bezogen. Mein Onkel kannte durch seine bisher aus Liebhaberei betriebenen Studien und durch seine bisherigen Beschäftigungen mit den Verwaltungsverhältnissen der Provinz, ihre Zustände, Kräfte und Bedürfnisse, wie wenig Andre; er hatte seit früher Zeit Verbindungen in dem Finanzministerium gehabt, und hatte durch sein Wissen und seine Energie die Gründung der Bahn zu Wege gebracht, zu deren Specialdirektor er dann erwählt worden war.

In dieser Stellung und an der Seite seiner zweiten Frau hatte ich ihn im Frühjahr dreiundvierzig in Breslau wiedergefunden, und hatte mich immer fragen müssen: wie hat diese Frau eine solche Umgestaltung in dem Leben [167] eines reifen, fertigen Mannes vollbringen, wie hat sie ihn dazu bewegen können, allen seinen bisherigen Gewohnheiten zu entsagen, und ihm ein neues Leben anzueignen, das ihn so viel mehr befriedigt und seinen Kräften so viel angemessener ist, als das zwanzig Jahre lang geführte Leben der dilettantischen Muße?

Die Familie wohnte nicht mehr in der Stadt, sondern in dem großen neuen Bahnhofsgebäude vor dem Schweidnitzer Thore, und obschon meine Großtante, die Mutter der ersten Frau, noch in dem Hause lebte, was für die zweite Frau keine leichte Sache war, so hatte diese es doch verstanden, die mir früher so auffallend gewesene Dreitheiligkeit der Familie aufzuheben, und alle Elemente derselben in einen festen und auf das praktischste zusammengefügten Hausstand zu vereinigen. Statt des rein literarischen Geistes, der sonst der herrschende in dem Hause meines Onkels gewesen, war der industrielle darin eingezogen, und der Umgangskreis hatte sich danach verändert. Es kam zwar der Stamm der alten Hausfreunde in demselben noch als gelegentliche Gäste zusammen, aber die literarische Stammgasterei hatte aufgehört, und neben den Beamten, mit denen der Onkel zu thun hatte, fanden sich auch deren Frauen und Familien ein, so daß der Zirkel sein ungewöhnliches Gepräge verloren, und dadurch in gewissem Sinne gewonnen hatte.

Der Onkel selbst war wie verjüngt, und meinem Vater in seinem Wesen weit ähnlicher geworden als zuvor. Er hatte sich an eine Thätigkeit gewöhnt, die ihn von Morgens fünf Uhr bis spät am Abende in Beschlag nahm, die ihm früher unerträglich gedünkt haben würde, und [168] die ihm nun eine unverkennbare Genugthuung gewährte, weil er jetzt erst völlig hatte kennen lernen, was er vermochte und was er werth war. Sich großer Kraft bewußt zu werden, ist aber ein großes Glück, denn ein Vermögen, von welchem man nicht weiß, oder von dem man keinen Gebrauch macht, besitzt und genießt man eben nicht.

Das Haus meines Onkels war, wie gesagt, lange nicht mehr so gesellig als vor zehn, eilf Jahren, denn Tante Pauline hatte ernste, schwere Erfahrungen hinter sich und war ohnehin kränklich, aber man hatte in demselben mehr Ruhe als vordem, und mir war es dadurch noch heimischer als zuvor erschienen. Ich hatte nun freilich nicht bei meinem Onkel Lewald, sondern in der Simon'schen Familie in Scheitnig gewohnt, war aber doch öfter nach dem Bahnhof gekommen, und meine neue Tante hatte mich lieb gewonnen. Als denn nun im Frühjahr von vierundvierzig die Rede davon war, unter den disponiblen Frauenzimmern der Familie eines auszuwählen, das meine Tante nach Teplitz begleiten sollte, hatte sie gewünscht, mich mit sich zu nehmen und mein Onkel mir dies, mit seiner gewohnten guten Laune in den Worten mitgetheilt: »Vor zehn Jahren habe ich Dich in Deutschland zu Deinem Vergnügen spazieren gefahren, jetzt sollst Du einmal zu Paulinens Vergnügen nach Teplitz fahren. Wir rechnen darauf, daß Du am ersten Mai bei uns bist, damit Ihr Euch vorher anständig mit einander einlebt, und daß Du nachher den Sommer bei uns bleibst, um Dich von dem Pfeifen meiner Lokomotiven zu Deinen Poesien begeistern zu lassen. Bessere Luft wie auf dem Hausvoigtei-Platz in Berlin hast Du bei uns gewiß, und [169] zwei Stuben zu freier Verfügung. Also besinne Dich nicht und komme spätestens den ersten Mai; zwischen dem fünfzehnten und achtzehnten sollt Ihr reisen!«

Daß ich gehen würde, gehen müsse, auch wenn ich weniger Neigung und Lust dazu gehabt hätte, als es der Fall war, hätte schon die Pflicht der Dankbarkeit von mir gefordert, aber das Anerbieten stellte die größten Annehmlichkeiten in Aussicht, entsprach allen meinen Bedürfnissen und Wünschen, kleidete in Form einer Bitte, was mir eine große Gewährung war, und doch stand ich im ersten Augenblicke davor ganz erschrocken da, denn mein Vater sollte kommen, meine Arbeit war lange nicht fertig, und wenn ich nach Breslau ging, mußte ich – konnte ich endlich, endlich Heinrich Simon wiedersehen!

Ich war in großer Aufregung, ich arbeitete den Tag über wie im Fieber, um fertig zu werden, und schlief die Nächte nicht, weil ich mich immer fragte: bist du denn mit dir so weit im Klaren und in Ruhe, hast du den Frieden in dir so weit befestigt, daß du den Geliebten deiner Jugend wiedersehen kannst, ohne dich auf's Neue in das alte Schmerzens-Labyrinth der Leidenschaft zu verirren? Sollst du ihn bitten, fortzugehen? sollst du es darauf ankommen lassen, ob er, eingedenk deiner Forderung dich zu meiden, sich von selbst entfernt? oder ihm schreiben, daß du ihn wiederzusehen wünschest?

Ich kam lange zu keinem Entschluß, aber meine Arbeit und meine Gesundheit empfanden die Unruhe meines Geistes und meines Herzens, und als ich die Erzählung etwa zwei Tage vor meines Vaters Ankunft beendigt zu haben glaubte, und sie nun Behufs der letzten Revision [170] noch einmal durchlas, fühlte ich die nachtheiligen Folgen meiner innern Zerstreutheit überall so unverkennbar, fand ich solche Lücken in der Composition, bei welcher es auf eine ethische Verschmelzung der verschiedenen Stände durch die Heirath von zwei jungen Paaren abgesehen war, daß mir, wollte ich nicht dem mir vertrauenden Verleger eine Arbeit abliefern, die mir selber in keiner Weise genügte, gar Nichts übrig blieb, als sie von Anfang bis zu Ende umzuwerfen, und die hundertundzwanzig Quartseiten, aus denen sie bestand, ganz auf's Neue umarbeitend abzuschreiben.

Ich war in Verzweiflung darüber, und die Thränen stürzten mir aus den Augen, als ich mein Heft zur Seite legte, um die neuen Bogen weißen Papieres aus meinem Schubfach hervor zu holen, aber es ging mir damit, wie in andern Verhältnissen auch. Man kommt mit Allem zurecht, was man nicht mit halben Maßregeln abzumachen unternimmt. Die halbe Maßregel hängt mit ihrer andern Hälfte immer an dem Falschen fest; während wir uns abmühen, mit der richtigen Hälfte vorwärts zu kommen, hält die falsche uns zurück, und hin und her gezogen, ermüdet von Bestrebungen, deren Fruchtlosigkeit wir uns nicht eingestehen wollen, weil wir uns ja redlich abmühen, begnügen wir uns schließlich mit einer Halbheit, welche in der Regel Niemanden befriedigt und uns eine mißmüthige Reue, einen dumpfen, unklaren Fleck in der Seele nachläßt, an den wir nicht gern denken mögen. Träge oder unklare und schwache Menschen, Menschen die sich sehr lieb und leicht Mitleid mit sich haben, sind die Freunde solcher Halbheit, und lieben es, Denjenigen, der mit sich und mit [171] den Dingen nicht transigiren und unterhandeln mag, wo er, wenn auch mit Opfern und mit Anstrengung, das ihm entsprechende Ganze erreichen kann, gewaltthätig zu nennen; und gewaltthätig genannt zu werden, war ich von früher Jugend auf gewohnt. Aber ich befand mich, wenn ich die ersten Schmerzensstunden überwunden hatte, stets sehr wohl dabei, und ich meine, auch Anderen wäre meine mitleidslose Entschlossenheit in gewissen Lebenslagen eben so zu statten gekommen, als mir und meiner kleinen Arbeit in dem betreffenden Falle.

Das Wetter draußen, wir waren in den letzten Tagen des April, war freilich ungewöhnlich schön, der Himmel schien verführerisch blau in meine kleine Stube hinein, die Spitzen der beiden Bäume, welche ich über die Colonnaden der Mohrenstraße hinüber ragen sah, winkten mit ihren grünlich schimmernden Aesten förmlich in das Freie hinaus, und ich sehnte mich nach frischer Luft wie ein Dürstender sich nach Wasser sehnt; aber ich fand, nun ich mich erst überwunden und meine Partie genommen hatte, bald eine Genugthuung darin, meine Schuldigkeit zu thun, und meiner Arbeit gerecht zu werden, indem ich sie so gut machte, als ich es eben verstand. Ich sagte mir: was ist's denn Großes? Habe ich doch als Kind auf Herrn Ulrich's Befehl eine mißlungene Schrift zehn-, zwölfmal abschreiben müssen, und ist meine Kraft doch so ungemein gewachsen seit der Zeit. Konnte ich damals als Strafe und gegen meine Ueberzeugung die Arbeit von zwei Seiten zehnmal schreiben, weshalb sollte mir es denn so gar schwer werden, jetzt, mit eigner Einsicht von der Nothwendigkeit des Unternehmens, eine Novelle noch einmal zu schreiben. Es galt, [172] eben wieder »als ehrlicher Arbeiter mit dem Schurzfell zu arbeiten«, es galt, kein vornehmer Dilettant, kein gefühlsseliges, sich mit dem ungefähren Anschein der Dinge begnügendes weibliches Gemüth zu sein, sondern ernst zu arbeiten, wie der Jurist, der Philolog, wie jeder Mann es in seinem Fache thun muß, wo etwas Ordentliches geleistet werden soll. Und da kein Zuspruch so sichere Wirkung thut, als derjenige, den wir selber uns gutwillig angedeihen lassen, so fand ich bald die Liebe und die Lust für meine Novelle wieder, componirte mir einen jungen gebildeten, aber ohne bestimmte Beschäftigung lebenden Edelmann hinein, der nothwendig als Gegensatz zu den verschiedenen bürgerlichen Arbeitern gefordert war, und da ich die ganze kleine Erzählung in einer Kattunfabrik spielen ließ, zu welcher die großen Kattunfabriken der mir befreundeten Familie Goldschmidt mir das Modell geliefert hatten, so arbeitete ich auch die Schilderung der Fabriken etwas ausführlicher aus, und es kam denn eine Art von Zeitbild zu Stande, das freilich lange nicht dem Vorwurfe entsprach, welchen ich im Sinne getragen, das sich aber doch lesen ließ, und den engen Rahmen, für den es bestimmt war, nicht eben unschicklich ausfüllte.

Ich war noch mitten in der Arbeit, als mein geliebter Vater zu uns kam. Ich hatte ihn drei Viertel Jahre, mein Bruder und meine Schwester Minna ihn seit ein paar Jahren nicht gesehen, und da wir ihn mit einer heimlichen Sorge um sein Befinden erwartet, waren wir um so glücklicher, ihn über all unser Hoffen wohl und anscheinend ganz unverändert wieder zu umarmen. Da mein Bruder, ebenso wie ich, bei unserer Tante wohnte, [173] und zwei kleine Stuben inne hatte, war die gefällige Frau unschwer dazu zu bewegen gewesen, die kleinen Räume für die Aufnahme meines Vaters einzurichten, und so hatten wir denn das Glück, den Vater, so gut wir es in unserer Beschränkung eben vermochten, bei uns beherbergen zu können.

Eng, wenig bequem und keiner seiner Gewohnheiten entsprechend, wie die Stuben und die Gastlichkeit es waren, die wir ihm bieten konnten, war er doch sichtlich darüber erfreut, zum ersten Male der Gast seiner Kinder zu sein. Es war das einzige Mal, daß ihm diese Freude und uns dies Glück vergönnt ward. Denn als wir uns später in der Lage befanden, ihm in unsern Häuslichkeiten ein wirkliches Wohlsein zu bereiten, war er nicht mehr unter uns, war er uns schon entrissen; und je mehr ich daran denke, je weiter ich in diesen Aufzeichnungen den Weg meines Lebens verfolge, um so mehr fühle ich, welch eine Melancholie diese Rückerinnerungen neben ihrer Süßigkeit in sich verschließen.

Es ist mir oftmals, wenn ich an diesen Blättern schreibe, wie an dem Tage, an welchem ich mit lieben Freunden zum ersten Male von Castellamare nach Pompeji fuhr. Ich befand mich mitten im freudigen Genuß des Lebens, die Sonne lachte vom Himmel hernieder, daß das Meer noch blauer als das Firmament erschien und der Sand wie Gold erglänzte. Die Freunde waren heiter, ich war es ebenso. In den acht grünen Cypressen, die damals den Eingang von Pompeji schmückten, sangen die Vögel, sich auf den Spitzen der emporragenden Zweige sonnend und wiegend, und doch sprach Alles [174] um uns her von Untergang, von Vergänglichkeit, von Tod. Sie waren hin die Menschen, welche diese Mauern gefügt, sie waren in Staub zerfallen die kunstgeübten Hände, welche diese Wandgemälde in ihrer sinnigen Lieblichkeit erschaffen, sie waren verschollen die Geschlechter, deren Wagen einst über die breiten steinernen Gleise des Pflasters gefahren. Nur die Spuren ihres Daseins und Wirkens waren geblieben – geblieben, wie mir die Erinnerung geblieben ist an alle die Menschen, von denen diese Blätter erzählen, und von denen schon so viele lange, lange hingegangen sind – hingegangen in das unübersehbare Reich der ewigen Vergangenheit.

Ich denke ihrer und fühle sie lebendig in mir, ich denke ihrer, und kann es nicht vergessen, wie vergänglich auch die Menschen sind, die mit mir leben, die das Glück meines Daseins ausmachen; und die eigene Vergänglichkeit tritt mir aus dem Spiegel dieser Blätter, ein stilles memento mori entgegen. Da gilt es denn diesem traurigen Zurufe ein muthiges memento vivere! entgegenzusetzen: zu lieben und zu beglücken, sich zu freuen und zu genießen, so lange man kann; und sich mit der Hoffnung zu getrösten, man werde einst den Geliebten eine so freundliche und werthe Erinnerung sein, als es uns diejenige ist, welche wir selbst von unsern geschiedenen Lieben im Herzen bewahren.

[175]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Mein Vater verweilte acht, neun Tage bei uns, und da ich ihn so genau kannte, merkte ich, daß er sich immer in einer gewissen Verwunderung über uns befand. Unsere beginnende Unabhängigkeit war ihm etwas Fremdes, und auch uns war es sonderbar, daß wir in Umgangskreisen lebten, welche nicht die seinen waren, daß wir ihn in denselben vorzustellen hatten, daß wir in Berlin heimischer waren als er, daß wir ihm zuweilen Fingerzeige und Rath zu geben hatten, ja daß er diesen von uns forderte.

Er sah sich unser häusliches Leben an, und es fiel ihm auf, daß wir uns in Verhältnissen behaglich fühlen konnten, welche uns so wenig von demjenigen gewährten, das er uns dargeboten hatte. Wir waren leichtlebiger, muthiger und doch ernster geworden, als zuvor; wir waren nach seiner Meinung nicht mehr ganz Dieselben, als welche er uns entlassen hatte. Sein Empfinden mochte den Gefühlen gleichen, welche Leopold Schefer in den Worten ausdrückt:


»Du hast den Sohn noch, aber mehr kein Kind


Und in gewissem Sinne ging es uns eben so. Wir waren so sehr gewohnt, uns dem Vater in jedem Betrachte [176] unterzuordnen, Alles von ihm und durch ihn zu empfangen, daß wir im ersten Augenblicke nahe daran waren, uns unserer ersehnten und endlich errungenen Unabhängigkeit vor ihm zu schämen.

Indeß unser gegenseitiges Verhältniß war ein zu gesundes, als daß eine solche Stimmung mehr als eine vorübergehende hätte sein können. Wir hatten uns nach wenig Tagen völlig zurecht gefunden, und verlebten die freien Stunden, welche unsere Arbeit und des Vaters Geschäfte uns und ihm übrig ließen, sehr heiter und zufrieden miteinander. Da der Bruder die ganzen Morgen- und Mittagsstunden durch sein Amt gefesselt war, so begleiteten ich und die Schwester den Vater, wenn er irgend welche Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen wünschte, und es war ihm dabei eigentlich nur um dasjenige zu thun, was ihm neue Anschauungen gewähren konnte.

Er hatte z.B. nie ein Fresko-Gemälde gesehen; wir erbaten also die Erlaubniß, die damals noch nicht enthüllten Fresken des Museums besichtigen zu dürfen; wir gingen in die Raczynskische Gallerie, und mehrmals in die Bildergallerie des Museums, in welcher ich nun schon heimischer geworden war und den Cicerone machen konnte. Der Vater hatte durch die seit einigen Jahren auch in Königsberg eingeführten Kunstausstellungen Freude an der Malerei gewonnen, während die Plastik ihm immer ein fremdes Element blieb. Er fand die Farblosigkeit derselben kalt, und die Zahl der Motive war ihm zu beschränkt. »Immer dieselben Gestalten!« rief er aus, »und wenn sie noch etwas Andres als Götter oder [177] Soldaten machten! Ich weiß damit ein für alle Mal gar Nichts anzufangen.« – Er war in einer Zeit und unter Verhältnissen erzogen, in welchen von Kunst kaum die Rede war, und in welchen ihm sicher kein Kunstwerk zu Gesicht gekommen ist. Das jetzt heranwachsende Geschlecht kann sich davon kaum noch eine Vorstellung machen, wie gänzlich einst alle Kunst aus dem Leben entschwunden war, und wie unsere Jugend, und vollends die Jugend unserer Eltern ohne irgend einen Zusammenhang mit dem Kunstschönen hingegangen ist.

Ich war zwanzig Jahre alt, als ich das erste moderne Oelgemälde, eine Gestalt aus dem Ossianschen Sagenkreise, von Julius Moser, sah, und einundzwanzig, als ich, wie ich in diesen Memoiren erzählt, die ersten Statuen erblickte. Gipsabgüsse nach guten antiken oder modernen Originalen gab es vor dreißig Jahren innerhalb des Bereiches der bürgerlichen Verhältnisse noch nicht. Was wir an Gipsfiguren zu sehen bekamen, das trugen die herumziehenden Italiener auf ihren Köpfen umher. Es waren kleine Büsten des Königs und des Fürsten Blücher, kleine Statuetten des alten Fritz und Napoleons, es waren grün und roth angestrichne Papageien und mit dem Kopfe wackelnde Kaninchen; und als dann später die Büsten von Schiller und Goethe in halber Lebensgröße, und die lesenden und schreibenden Kinder und ein paar Adler nach Rauch an die Reihe kamen, waren das Besitzstücke, welche unser Einer lange aus der Ferne anzustaunen hatte, weil sie Anfangs so theuer waren, daß man an ihre Erwerbung noch nicht denken konnte. Ein Kupferstich war eine Seltenheit! Selbst Lithographien kamen [178] in den bürgerlichen Wohnungen nur ausnahmsweise vor, und wie wir in unserer Jugend uns mit Erstaunen umgesehen haben würden, hätte man uns in eines der mit Bildern und Statuetten geschmückten Zimmer versetzt, wie man deren jetzt in allen nicht ganz unbemittelten Familien findet, so würden unsere Kinder äußerst verwundert sein, wenn sie der gänzlichen Schmucklosigkeit gegenüber ständen, die früher selbst in den Häusern wohlhabender Leute gar nicht auffiel. Man war es durchaus gewohnt, die glatten vier Wände anzusehen, denn außer einigen schlechten Familienportraits besaß kaum Jemand einen Wandschmuck, wenn er nicht reich und besonders gebildet war; und daß wir in meinem Vaterhause in früherer Zeit eine Reihe von Kupferstichen gehabt hatten, das war ein auffallender Luxus gewesen.

Von all' dem Schönen, Erfreulichen und Bedeutenden, welches jetzt selbst dem bettelnden Kinde an den Fenstern der Buch- und Kunsthandlungen zur Ansicht geboten wird, war in meiner Jugend in Königsberg noch keine Spur zu finden. Ich meine, es wird nicht vor der Mitte der dreißiger Jahre gewesen sein, daß bei uns in der Altstädtischen Langgasse Herr Voigt auf den Gedanken kam, seine Papier- und Cartonnagen-Handlung allmählig in eine Kunsthandlung umzuwandeln, welche Anfangs dürftig genug ausgestattet war; und es vergingen dann noch Jahre, ehe er das schöne Lokal in der Junkerstraße eröffnete, das sich, als ich achtzehnhundert fünfundvierzig zum letzten Male meine Vaterstadt besuchte, wohl sehen lassen konnte; das aber freilich damals noch immer als das einzige derartige Institut in Königsberg dastand. [179] Kleine Lehrjungen, armer Leute Kinder hören jetzt hier in Berlin, wenn sie an dem Schaufenster einer Kunsthandlung oder vor den nun schon zahlreichen Statuen und Monumenten in den Straßen stehen, mehr und verständiger über Kunst urtheilen, als es mir in meiner Jugend zu Theil geworden ist; und es ist nicht hoch genug anzuschlagen, daß die jetzt heranwachsende Generation ihre Empfindung für das Schöne durch Anschauung ausbildet, ehe sie den abstrakten Begriff des Schönen fassen lernt. Ich z.B. kannte die Namen der großen Künstler aller Zeiten, hatte von ihren Werken gelesen, wußte diese Werke zu nennen, aber ich hatte so gut wie Nichts davon gesehen, bis ich mit siebzehn oder achtzehn Jahren in der Wohnung meines Zeichenlehrers Kupferstiche nach den besten Meistern kennen lernte. – Man hörte und las von den Künsten, deren Erzeugnisse gesehen werden müssen, wenn man über sie nicht wie der Blinde von der Farbe urtheilen soll; und eine ganze Seite der menschlichen Fähigkeiten, welche die jetzige Generation, ohne es gewahr zu werden, von ihrer ersten Kindheit an in sich entwickelt und ausbildet, lag in uns und in unsern Vätern und Müttern in der Regel völlig brach, wenn man nicht etwa auf Reisen es so glücklich getroffen hatte, daß man eine oder die andere der öffentlichen Gallerien einmal hatte ansehen können, die fast durchweg nur an einzelnen Tagen in der Woche und nicht ohne mancherlei Weitläufigkeiten und Kosten besucht werden konnten.

Neben den Gemäldegallerien sahen wir mit dem Vater das ägyptische Museum an, das damals noch in den Gartengebäuden des Schlosses Monbijou befindlich und [180] sehr unzweckmäßig aufgestellt war; dann fuhren wir nach verschiedenen Fabriken, an denen der Vater und ich ein gleich lebhaftes Interesse nahmen. Dazwischen arbeitete ich nothgedrungen mehrere Stunden des Tages, und manche Stunde verging in ernsten Gesprächen und Berathungen über die Zukunft der einzelnen Familienmitglieder. Mein Vater dachte bisweilen doch mit Bedauern daran, daß ein Geschäft aufgegeben und aufgelöst werden sollte, welchem er alle seine Kräfte gewidmet, das ihm die Möglichkeit gegeben hatte, eine so große Familie wie die unsere anständig aufzuerziehen, ein gewisses Vermögen dabei zu erübrigen, und das ohne Frage einer bedeutenden Ausdehnung fähig war, wenn eine junge und frische Kraft dasselbe nach den Bedingungen der jetzigen Zeit zu betreiben unternahm. Er hatte oftmals den Wunsch gehegt, daß unser ältester Bruder, dessen rascher und klarer Verstand und dessen organisatorisches Talent ihm vielversprechend für den Beruf des Kaufmannes zu sein schienen, seine juristische Carrière aufgeben und dafür in das väterliche Geschäft eintreten möge, und es war einmal nahe daran gewesen, daß der Sohn aus Rücksicht auf den Vater sich zu dem Opfer entschlossen hätte. In frühern Zeiten hatte meine Mutter, aus Vorliebe für den sicheren Erwerb des Beamten, und aus Scheu vor den großen Wechselfällen, denen das Leben des Kaufmanns unterworfen ist, bei Mann und Sohn dahin gewirkt, jenen Plan nicht zur Ausführung kommen zu lassen; und jetzt, da unser Vater wieder auf seinen Vorschlag zurückkam, war ich es, welche in den Bruder drang, nicht darauf einzugehen, obschon ich die größte Vorliebe für den Stand [181] des Kaufmanns hegte, und obschon wir sahen, daß dem Vater viel daran gelegen war.

Mein Bruder liebte seinen Beruf, der allen seinen Anlagen in jedem Betrachte entsprach; es hatten sich ihm in demselben durch seinen Fleiß und seine Kenntnisse schnell günstige Aussichten eröffnet, er liebte auch das Leben in der Hauptstadt, und sollte das Alles aufgeben, um mit dem Geschäfte in Königsberg, an welchem Orte er nicht so gern war, als in Berlin, die Sorge für das Vermögen seiner sechs damals noch sämmtlich unverheiratheten Schwestern zu übernehmen, das zum Betrieb des Geschäftes nothwendig in demselben hätte bleiben müssen, wenn der Tod uns den Vater einmal entriß. Je mehr die Zukunft seiner Töchter dem Vater Sorge machte, je weniger er den Gedanken fassen konnte, daß sie einmal auf sich selbst gestellt und vielleicht genöthigt werden könnten, ihr Brod unter Fremden zu suchen, wenn das Vermögen, das er uns hinterließ, nicht ausreichend sein sollte, uns Alle, wie der Ausdruck lautet, standesmäßig zu unterhalten, um so lebhafter hing er an dem Gedanken, den Sohn an seiner Stelle als Versorger der Töchter eintreten zu sehen, und ich fühlte, wie hart es dem Erstern ankam, auf solch eine Probe zwischen seiner eigenen Neigung und Einsicht, und zwischen den Wünschen und Beruhigungen des Vaters gestellt zu sein. Ich sah es daher als meine Aufgabe an, nach beiden Seiten darauf hinzuwirken, daß dies Opfer nicht positiv gefordert und nicht dargebracht wurde; und hätte ich nicht schon lange vorher es eingesehen, wie verkehrt die Erziehung und die Stellung sind, welche man den Mädchen in den bürgerlichen Kreisen [182] anweist, so würde mir diese Erkenntniß bei den peinlichen Erörterungen wohl gekommen sein, welche jene Tage mit sich brachten, und welche mir völlig unaushaltbar gewesen sein würden, hätte ich mich noch zu der Zahl derjenigen rechnen müssen, deren Zukunft meinen Vater beunruhigte, deren Hilflosigkeit und Abhängigkeit der Mann, welcher sie erzeugt, damit als eine lebenslängliche und unabweisliche anerkannte. Wie Eltern bei der Geburt einer Tochter nicht erschrecken, wenn sie dieselbe als ein durch ihr Geschlecht zu ewiger Abhängigkeit und Unterstützung bestimmtes Wesen betrachten, ist mir immerdar ein Räthsel geblieben. Wäre es nicht so ernsthaft und so traurig, so könnte man es äußerst komisch finden, daß der Vater, an dem Tage, an welchem die neugeborene Tochter ihm in die Arme gelegt wird, nach dem jetzigen Stande der Dinge, wenn er nicht sehr reich ist, stillschweigend darauf rechnet, es werde sich wohl einmal ein Andrer finden, der ihm die Pflichten und die Sorge für dieses Wesen abnimmt; nur daß er dabei nicht auf den heiligen Vincenz von Paula und auf ein Hospital zum heiligen Geiste, sondern auf irgend einen redlichen Erdensohn und auf dessen Haus und Arbeit spekulirt.

Es gelang uns denn auch, unseres Vaters Plane mehr und mehr auf ein Zusammenleben mit uns in Berlin hinzulenken, und da ich inzwischen meine Novelle beendet und abgeliefert hatte, und die Zeit herangekommen war, in welcher meine Tante ihre Badekur zu machen hatte, so verließ ich Berlin an demselben Tage, an welchem mein Vater weiter gen Westen ging, und ich schied von ihm sehr erquickt durch unser Beisammensein, völlig [183] beruhigt über sein Befinden, und mit der Hoffnung, uns im Hochsommer wiederzusehen, denn ich dachte nach der Reise mit meiner Tante, für längere Zeit in die Heimath und zu meinem Vater zurück zu kehren.

Da die Arbeit und die Anwesenheit desselben mich in den letzten Tagen völlig in Anspruch genommen hatten, so kam ich erst in der Einsamkeit des Eisenbahncoupés und des Postwagens, mit welchem man damals noch den halben Weg nach Breslau zurückzulegen hatte, zur Ruhe und zur Sammlung, und der Gedanke, daß ich am nächsten Tage in Breslau sein würde und Heinrich Simon wiedersehen solle, trat nun erst wieder in den Vorgrund meiner Gedanken.

Ich hatte mir durch eilf Jahre diesen Augenblick in den wechselndsten Stimmungen, unter den verschiedensten Umständen zu vergegenwärtigen gesucht, hatte ihn mit der Sehnsucht glühender Leidenschaft und mit der Zerknirschung und Verzagtheit gänzlicher Hoffnungslosigkeit in's Auge gefaßt. Nun stand ich nahe davor, und kannte mich kaum wieder, in der Ruhe und Stille, welche in meiner Seele herrschten. Ich wollte mich dieses Zustandes erfreuen, aber ich vermochte es nicht, denn unwillkürlich fiel mir ein Wort aus einem Briefe des Prinzen Louis Ferdinand an seine Geliebte, Pauline Wiesel, ein, welches ich im Laufe des Winters hatte citiren hören. Es lautete: »Wo sind die schönen Tage hin, in welchen wir so unglücklich waren!« Das hatte mich schon damals, als man es vor mir aussprach, sehr gerührt und ergriffen; nun befand ich mich in der Lage, es mit innerer Bewegung auf mich selber anzuwenden. Wo waren die schönen Tage hin, in welchen ich so unglücklich war?

[184] Wie in einem magischen Doppelbilde hatte ich mich und mein Leben beständig vor Augen. Ich sah mich, wie ich im Schneetreiben jener Märznacht an meines Vaters Seite von Breslau abgefahren war, das Herz voll Verzweiflung, die Seele verdüstert, den Sinn aussichtslos; dabei jung, leidlich gesund, leidlich sorgenfrei, und doch ohne alle Hoffnung. Jetzt war ich dreiunddreißig Jahre, also für ein Mädchen alt, meine Jugend lag hinter mir, ich war nicht gesund, ich hatte auch kein Liebesglück, auf das ich mich getröstete, aber ich fühlte mich reich, ich fühlte mich jung, ich hatte die Seele voll Hoffnung, ich liebte das Leben, denn ich hatte ein schönes Ziel im Auge, ich hoffte Gutes und Schönes zu leisten, ich hatte Arbeit, die mich freute, ich hatte Selbständigkeit, ich hatte Freiheit! Ja selbst jene Abhängigkeit, die ich sonst immer dem geliebten Manne gegenüber empfunden hatte, fühlte ich nicht mehr.

Ich sah dem Zusammentreffen mit ihm in ruhiger Freude entgegen. Ich dachte nicht mehr ausschließlich: wie wird er dich finden? ich fragte mich ebenso: was wird er geworden sein? Und das Gefühl der Gleichberechtigung, das ich neben ihm empfand, machte ihn mir nur werther.

Am Abende vor meiner Abreise von Berlin hatte ich ihm geschrieben, daß ich nach Breslau kommen würde, und daß ich mich darauf freute, ihn nach so langen Jahren in Ruhe und Herzensfreiheit wiederzusehen.

Es war gegen die Nacht hin, als ich in Breslau anlangte. Mein Onkel Lewald empfing mich auf der Post, ich war sehr heimisch in seinem Hause und in Breslau. In meinem Zimmer erwartete mich ein Willkomms-Gruß [185] von Heinrich. Eine augenblickliche Spannung mit unserm Onkel Lewald, durch politische Meinungsverschiedenheit erzeugt, hatte ihn abgehalten, selbst zu mir zu kommen.

Am nächsten Tage sahen wir uns in Gegenwart seiner Eltern und Geschwister wieder. Wir waren Beide sehr ergriffen, Beide sehr ruhig, die Andern schienen fast bewegter als ich und er.

Eilf Jahre sind eine lange Zeit! Eilf Jahre verändern an dem Menschen viel, aber man hat sich über den Vergang der Zeit nicht zu beklagen, wenn sie uns vorwärts gebracht hat.

Heinrich Simon war in jedem Sinn fortgeschritten, er war der ernste, in sich gefestete und von keiner Schwäche zu beugende Mann geworden, als welcher er gelebt hat bis zu seinem Tode. Seine Gesundheit, welche früher den Seinen hier und da Besorgniß eingeflößt, hatte sich zu ausdauernder Tüchtigkeit gekräftigt. Er war breitbrüstig geworden, seine Haltung und sein Gang noch aufrechter und noch stolzer. Der Zug von Melancholie in seinem Antlitz hatte sich verloren, sein Ausdruck war ruhig bis zur Kälte, wenn er sich selber überlassen war; begeistert und leuchtend, wenn ein großer Gedanke ihn mächtig ergriff; freundlich und voll lachender Anmuth, wenn er mit Menschen verkehrte, die er liebte, und vollends wenn er Kinder um sich hatte, für die er eine ungewöhnliche Zärtlichkeit und, man möchte sagen, jene Achtung besaß, die in ihnen die künftigen Menschen zu respektiren weiß. Kinder hingen ihm deshalb auch mit großer Liebe an.

Da wir uns, wo wir auch sein mochten, von einer[186] großen Familie umgeben fanden, vergingen ein paar Tage, ohne daß wir zu einem Alleinsein und einem ruhigen Gespräch gelangten, und doch hatten wir ein solches nöthig, obschon jede allgemeine Unterhaltung es uns darthat, wie unsere Entwicklung und geistige Befreiung nach derselben Richtung vor sich gegangen war.

Als ich meinen Vetter in unserer Jugend kennen gelernt, hatte er selbst noch starke Vorurtheile gehabt, und war darum abhängig von fremdem Vorurtheil gewesen. Weil man die Juden mißachtete, hatte er große Scheu davor getragen, an seine jüdische Abkunft erinnert zu werden. Er hatte vielleicht grade um deßhalb die Beamtenkarrière erwählt, und seinen Ehrgeiz auf ein rasches Fortschreiten im Staatsdienst gerichtet gehabt. Jetzt war das Alles anders geworden. Weit davon entfernt, sich wie früher seiner Abstammung nicht gern erinnern zu mögen, hatte er in ihr einen Beruf zum Kampfe gegen jedes Vorurtheil gefunden; und da der ernste Mensch nicht in sich geht, ohne bis auf den Grund seines Wesens zu kommen, so hatte Heinrich Simon endlich in seinem Herzen den wahren Kern und Gehalt seiner eigenen Natur gefunden und erkannt: den Drang und die Nothwendigkeit, für das Recht einzustehen, wo es verdunkelt oder wo demselben zu nahe getreten wurde. Der Jurist, der Rechtsgelehrte, war ein Mann des Rechtes, ein Rechtsvertreter geworden.

Alle seine Arbeiten hatten diesem einen Ziele gegolten. Die Rechtskenntniß zu fördern hatte er den Plan zu einer systematischen Quellendarstellung der Gesetzgebung über das öffentliche Recht des preußischen Staates gefaßt, [187] und mit seinem Freunde, dem Präsidenten von Rönne, ein großes Werk: »die Verfassung und Gesetzgebung des preußischen Staates« herausgegeben. Aehnliche und eben so bedeutende Arbeiten waren, da ihre Zusammenstellung die Kraft eines Einzelnen überschritt, in Gemeinschaft mit andern Freunden unternommen worden; und während Simon selbst als Richter in Breslau thätig war, hatte er grade in dem Zeitpunkt, in welchem ich ihn wiedersah, seine Polemik gegen die im März des Jahres vierundvierzig von der preußischen Regierung neu erlassenen Gesetze begonnen, welche nach seiner Meinung die Unabhängigkeit des preußischen Richterstandes antasteten.

Die Beschäftigung des Menschen ist sein wesentlichster Erzieher, wenn die Zeit für ihn vorüber ist, in welcher er der Erziehung durch Eltern und Lehrer theilhaftig wird. Wer sich mit kleinlichen Dingen beschäftigt, verkleinert allmählig sein Interesse und damit auch sich selbst; wer seine Thätigkeit auf große und würdige Gegenstände richtet, kann nicht anders als an sich selbst einen großen Maßstab legen, und muß danach trachten, in sich dasjenige so weit als möglich heranzubilden, was er mit seiner Thätigkeit für Andere als ein Ideales darzustellen unternimmt. So hatte denn auch Heinrich Simon seinen ganzen Menschen zu einer harmonischen Einigkeit herausgebildet. Was er in der Theorie für recht erkannte, das trachtete er im Leben zu verwirklichen; Richter zu bleiben, wenn die geistige Freiheit desselben durch Gesetze angetastet wurde oder doch in den Augen des Volkes als angetastet und dem Zweifel unterworfen erscheinen konnte, hielt er für unmöglich.

[188] Seine Eltern, welche große Hoffnungen auf die Zukunft dieses Sohnes gebaut hatten, waren unzufrieden damit, daß er sich mit dem Ministerium, welchem er untergeordnet war, in einen Conflikt gebracht, der voraussichtlich mit des Sohnes Austritt aus dem Staatsdienst enden mußte. Die ganze oppositionelle Thätigkeit, in welche er gerathen war, sagte seinen Eltern nicht mehr zu. Sie waren Beide nicht mehr jung, und die Mutter, welche später den Bestrebungen ihres Sohnes mit ganzem Herzen folgte, welche eine zweite Jugend, eine neue Kraft des Geistes gefunden zu haben schien, als die preußische Revolution sich in den Jahren sechs- und siebenundvierzig anzukündigen begann, und welche unverzagten Herzens blieb, als der Sieg der Reaktionspartei ihren Sohn in das Exil zu gehen nöthigte, war damals krank – und Krankheit entmuthigt. Heinrich hatte die Mutter zu beruhigen, sich mit dem Vater in das Gleiche zu setzen, er sah auch selbst nicht ohne Schmerz auf die Nothwendigkeit hin, einem Berufe zu entsagen, dessen Würde und veredelnde Kraft er von jeher empfunden und hoch angeschlagen hatte; aber diese Würdigkeit hörte mit der Freiheit auf, und er trug das alte biblische Wort als Leitstern in seinem Herzen: was hülf's dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele.

Er war viel ernster geworden, aber seine frühere Schwermuth hatte ihn verlassen. Er war fertig geworden mit der unfruchtbaren Reue über den im Duelle begangenen Mord, seit er seinem Vorsatz nachgekommen, sein Leben für das Allgemeine zu verwenden; und wie [189] der Geist die Welt »am Zeichen hält«, hatte ein zufälliges Ereigniß dazu beigetragen, ihn einen Abschluß mit der Vergangenheit machen zu lassen.

Er hatte sich eines Abends in einem öffentlichen Garten oder in einem Weinhause befunden, und war, ohne es zu wollen, Hörer eines Gespräches geworden, das sich ausführlich über ein für den nächsten Morgen zwischen zwei jungen Männern festgesetztes Duell erging. Dies hören war Eines gewesen mit dem Vorsatze, das Duell, wenn es irgend möglich, zu verhindern; und obschon von der größten persönlichen Zurückhaltung und jeder Einmischung in fremde Angelegenheiten im hohen Grade abgeneigt, war er an die ihm ganz fremden jungen Leute herangetreten, hatte ihnen gesagt, wie er eben jetzt zufällig von ihrem Vorhaben eines Schußduelles gehört habe, und es von ihnen erbeten, man möge ihn den Vermittler zwischen den Betheiligten machen lassen. Der Bestürzung, der Befremdung, welche ein solch unbefugtes Dazwischentreten hervorgerufen, hatte der Adel seiner Persönlichkeit und eine kurze Mittheilung über sein früheres Erlebniß ein Ende gemacht. Sein männlich ernster Freimuth hatte den jungen Männern Zutrauen eingeflößt, er hatte von ihnen den Namen der beiden Duellanten und Sekundanten erfahren; und in der Nacht, von Einem zu dem Andern hin und hergehend, vorstellend, überredend, vermittelnd, hatte er eine Ausgleichung des Streites, eine Versöhnung der Streitenden zu Wege gebracht. Durch diese Verhinderung eines Verbrechens, wie er selbst es falschem Ehrgefühl und elenden Vorurtheilen zu Liebe, einst gegen sein besseres Wissen begangen, hatte er symbolisch [190] den letzten Abschluß mit den schmerzlichen Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit gemacht.

Ich erfuhr alle diese Dinge in den ersten Tagen durch gelegentliche Mittheilungen der Seinen, ich sah ihn täglich, besuchte ihn mit seinen Schwestern, in der Wohnung, welche er sich eingerichtet hatte, und die er mit seinem Vetter, dem jetzigen Rechtsanwalt Max Simon, gemeinsam inne hatte. Auch sie trug das Gepräge des Ernstes und der Arbeit. Große Bücherschränke, einfache, zweckmäßige Möbel von edler Form, keine Verweichlichung in der Wahl derselben, kein unnützer Zierrath irgend einer Art. Dafür enthielt sie eine große und reiche Bibliothek, einige alte gute Oelbilder, Blumen, deren Pflege nicht viel Zeit erfordert, verschiedene gute Waffenstücke und Gewehre, und endlich schloß sich an die zu ebner Erde gelegene Wohnung ein Stückchen Gartenland an, das zu bebauen und selbst zu bearbeiten ihm Erholung und Genuß war. Von der tiefsinnigsten Rechtsdeduktion konnte er mit großer Befriedigung zum Spaten greifen. Da es ihm in jenen Zeiten nicht vergönnt war, seiner großen Liebe zur Natur durch einen Aufenthalt in schöner Gegend zu genügen, so erquickte es ihn, dem Stückchen Erde, das ihm zunächst lag, mit eigner Hand die größte Pflege angedeihen zu lassen; und kein reicher Gutsbesitzer und kein König können von dem Ertrag ihrer Besitzungen und Länder mehr Genuß haben, als Heinrich offenbar empfand, wenn er uns mit einer Schüssel Salat aus seinem Garten, oder die Kinder seiner Geschwister mit einem Teller voll Erdbeeren aus demselben bewirthen konnte. Die ganze Güte, die ganze Liebe und Liebenswürdigkeit seiner Natur [191] traten dann mit seinem hellen Lachen herzerquickend hervor, und wenn man sah, wie er für das Vergnügen der kleinsten Kinder, wie er für das Behagen der Erwachsenen mit einer fast weiblichen Achtsamkeit Sorge trug, so hätte man meinen sollen, er habe eben gar nichts Weiteres zu thun und im Sinne. Man hätte nicht glauben sollen, daß man hier einen Mann vor Augen sehe, den ernste persönliche Sorgen, schwere Arbeit, und leidenschaftliche Theilnahme an dem Gang des öffentlichen Lebens beschäftigten.

Es hatte, als ich nach Breslau gekommen, in dem Plane meiner Tante Lewald gelegen, nach wenig Tagen abzureisen, indeß mancherlei Hindernisse hielten uns in ihrem Hause noch zurück, ich sah meinen Vetter täglich, und wir hatten Freude an einander. Meine Heiterkeit, mein Lebensmuth machten uns einander ähnlich, aber es fiel ihm auf, daß ich mich noch gänzlich an meine alten Gewohnheiten anklammerte, daß ich mich für verpflichtet hielt, eine Menge von Handarbeiten zu verrichten, weil es früher meine Aufgabe gewesen war, sie zu machen, um keine unnöthige Ausgabe zu veranlassen. Er lachte mich aus, wenn er mich nähend, meine Sachen ausbessernd fand. Er lachte mich aus, wenn ich mir einbildete, dahin oder dorthin nicht allein gehen, ein Museum, ein Theater nicht allein besuchen, eine Reise nicht ohne Begleitung machen zu können, falls es sich dabei um mehr, als um einen Transport von einem Orte nach dem andern handelte; und während ich mir ein Bewußtsein daraus machte, so wenig als möglich von den Gewohnheiten und Vorschriften des Vaterhauses abzugehen, während ich, an Abhängigkeit und Unterordnung mehr gewöhnt als ich [192] es selber wußte, meine literarische Beschäftigung immer noch wie ein mir Zugestandenes, gleichsam auf Widerruf Erlaubtes, ansah und betrieb, rief er mir fast an jedem Tage zu: »Nimm Deine Position doch ganz und voll! Nähe nicht, sondern lies und lerne! Gehe, wohin Du willst! lebe, wie Du magst! stelle die geistige Unabhängigkeit, die Du vertheidigst, vor allen Dingen in Dir selber dar! vereinfache Dein Leben und Deine Bedürfnisse so sehr Du kannst, denn die Frauen bleiben unfrei durch die tausend Kinkerlitzchen, aus denen sie ihr Dasein zusammen setzen, frage nur Dich selbst um Rath bei Deinem Thun und Lassen; nimm Dir Freiheit, so frei zu sein, als Du es bist.«

Eines Abends, den wir im Hause seines Bruders zugebracht hatten, und an welchem fast alle jüngern Familienmitglieder beisammen gewesen waren, standen wir nach dem Nachtessen an einem der geöffneten Fenster, und sahen über die weite Fläche des Bahnhofs hinaus, denn mein jüngerer Vetter wohnte, als Beamter der Oberschlesischen Bahn, auch in einem der Bahnhofsgebäude, und ich machte die Bemerkung, wie schwer es für die Phantasie sei, sich in einer Gegend zurecht zu finden, welche man unbebaut gekannt hat, und die man mit einer Reihe von Straßen durchschnitten, durch neue Wege verändert, ihrer Bäume beraubt, mit einem Worte, gänzlich umgestaltet wiederfindet, wie die Partien vor dem Schweidnitzer Thore verwandelt worden waren, seit ich sie zum ersten Male gesehen hatte.

»Mich dünkt,« sagte ich, »wenn wir früher zum Schweidnitzer Thore hinauskamen, hatten wir an der alten [193] kleinen Kirche vorüber zu gehen, um nach dem Garten zu kommen, in welchem Deine Eltern damals wohnten; und selbst der Garten sieht mir völlig anders aus als zu jener Zeit. Ich kannte ihn, als ich vor dem Jahre hier war, kaum noch wieder, und heute noch sind mir alle Stege und Wege hier draußen förmlich fremd.«

»Und wir sind sie doch manch liebes Mal gegangen!« versetzte er als ganz natürliche Antwort. Aber es begegnet gar oft, daß unsere einfach gesprochenen Worte eine Bedeutung in sich tragen, die wir nicht hineinzulegen meinen, und die uns selber überrascht, weil sie, gegen unsere Absicht, uns und dem Andern unsere letzten innern Gedanken offenbart. So mochte es Heinrich in dem Augenblick gegangen sein, denn er wiederholte wie in Nachdenken versunken: »manch liebes Mal!«

Er hatte meine Hand gefaßt, wir standen still am Fenster neben einander. »Komm!« rief er nach einer Weile, »wir haben uns eigentlich noch gar nicht gesprochen, und eilf Jahre sind eine halbe Ewigkeit! Wir sind ja noch viel umgewandelter als hier die Wege und Stege, und müssen einander klar werden ein für alle Mal. Laß uns hinunter gehen!«

»Wir Beide allein? hier von allen Andern fort?« fragte ich mit gewohnter Zaghaftigkeit.

»Kind!« rief er mit leichtem Spott, aber er wendete sich zu den Uebrigen, und that den Vorschlag, bei dem schönen Wetter noch einen Gang in das Freie zu thun. Das waren Alle gern zufrieden. Man bedurfte keiner Vorkehrungen, die Gegend war einsam und es war spät. Die Paare und Gruppen fanden sich schnell zusammen, [194] ich ging an Heinrich's Arm. Eine Weile blieben Alle vereint, dann trennte die Ungleichheit des Schrittes Diesen und Jenen von der Gesammtheit, und bald waren wir allein.

Die Nacht war wunderschön, kein Wölkchen am Himmel. Wir befanden uns in den letzten Tagen des Mai, der Mond stand voll am Horizonte und schwebte leicht und frei in der Luft. Auf den Wällen war es still, die Promenade breitete sich ruhig längs dem Stadtgraben hin. Aus den Boskets, aus den Gärten duftete der Flieder hervor, in allen Büschen sangen die Nachtigallen, und zwischen den Aesten der Bäume hindurch streute der Vollmond goldene Lichter über unsern Weg. Hie und da sah hellbeschienen ein Gartenhaus mit seinen weißen Wänden zu uns hinüber, hier und da begegneten uns noch ein paar Leute, schlug aus irgend einem Zimmer Musik an unser Ohr. Allmählig aber hörte das Alles auf. Die Fenster in den Häusern wurden dunkel, die Musik verstummte, kein Mensch begegnete uns mehr. Der Himmel und der Mond, der Blüthenduft und die Kühle der Nacht, der Sang der Nachtigallen und das Glitzern des Mondes auf dem Wasser, das leise Rauschen und Flüstern der Bäume waren nur für uns da, gehörten nur uns allein.

Und wir gingen und gingen, und setzten uns nieder, und gingen wieder, und erzählten einander in Stunden den Inhalt langer, langer Jahre; und mit dem Thau, der erfrischend durch die Luft zu ziehen begann, floß manche Thräne der Erinnerung auf die Wange hernieder, und unter dem hellen Mondlicht hellte sich Alles, Alles auf, was dunkel zwischen uns gewesen war, und wie der [195] Mond hinab sank, sank auch die ganze Vergangenheit mit ihren Trübungen und Irrthümern, mit ihrem Verschulden und Erleiden für immer, und ganz und gar in die Nacht hinab; und ein heller Tag der Neigung und des festen Vertrauens stieg daraus empor, der uns zu Freunden machte, und uns geleuchtet, nicht mir und dem Geliebten meiner Jugend allein, sondern Allen denen, die das spätere Leben ihm und mir zu eigen gegeben, in ungetrübter Klarheit, bis zu der Stunde, da wir Alle den theuren Mann verloren haben.

Es dämmerte schon der Morgen herauf, als Heinrich mich an die Thüre meines Hauses geleitete.

»Wann werdet Ihr reisen?« fragte er mich.

»Wir gehen übermorgen.«

»Bleibt Ihr lange in Teplitz?«

»Vier bis sechs Wochen.«

»Ich habe Zeit,« sagte er, »willst Du, daß ich Euch dort aufsuche und eine Weile bei Euch bleibe?«

»Nein! thue das nicht!« bat ich ihn, »wir treffen uns wohl bald einmal auch ohne das. Aber schreibe mir jetzt wieder und schreibe bald!«

»Als ob sich das nicht von selbst verstände!« entgegnete er. Wir gaben und schüttelten einander die Hände. Wir waren einander jetzt unverlierbar für alle Zeit.

»Rechne auf mich, wie ich auf Dich rechne für jeden Fall!« sagte er noch einmal, »und wenn Du mich brauchst, rufe mich, und ich werde da sein!«

»Das weiß ich!« versicherte ich ihm – und so trennten wir uns.


[196] Im Laufe des Tages sahen wir uns noch bei seiner Mutter. Sie hatte das Fieber, wir saßen gegen den Abend, als der Anfall vorüber war, eine Weile an ihrem Bette.

»Du hast Dich recht erholt seit dem vorigen Jahre!« sprach sie, mich mit ihrem sanften Blicke still betrachtend.

Ich sagte ihr, daß es mir auch besser gehe, daß ich mir von der Reise und dem Aufenthalt in freier Luft völlige Herstellung erhoffe, und drückte ihr meine Freude darüber aus, daß ich Dresden und die sächsische Schweiz, Prag und Böhmen, und überhaupt und vor Allem wieder ein Stück schöner Natur zu sehen bekommen würde.

Sie hörte mir zu, hörte, daß Heinrich mir Briefe an einige Bekannte von ihm anbot, welche ich auf unserm Wege zu treffen Aussicht hatte, und mit ihrer feinen Seele fühlte sie mir und ihrem Sohne die freie Heiterkeit wohl an, welche seit gestern über uns gekommen war. Aber sie fragte Nichts. Nur als sie mich einmal hell und fröhlich lachen hörte, sagte sie: »Ich bin recht glücklich darüber, Fanny! daß Du die Heiterkeit Deiner Jugend wiedergefunden hast. Mache es doch möglich, nach Deiner Rückkehr eine Weile bei uns zu bleiben, Deine Frische ist eine solche Erquickung für mich.«

Sie reichte mir die Hand, ich küßte sie ihr, der Sohn küßte ihre andere Hand: »Da muß ich auch dabei sein!« sagte er scherzend. Sie lachte und drückte uns Beiden die Hände ohne ein Wort zu sprechen; aber man muß sie gekannt haben, um zu wissen, was ihre Blicke Demjenigen zu sagen vermochten, der sie zu verstehen gelernt [197] hatte. Ich besaß an ihr eine Mutter, an ihrem Sohne einen Freund auf jede Probe.


Und wie die Dankbarkeit des Volkes, für dessen Recht und Freiheit Heinrich Simon gestritten und gelitten, ihm am Wallensee, der ihn in der Fülle seiner Kraft begraben, das Denkmal errichtet hat, welches den vorüberziehenden Deutschen an einen der muthigsten und besten Söhne seines Vaterlandes mahnt, so mögen auch diese letzten Blätter, welche liebevolle Erinnerung an einander reihte, seinem theuern Andenken gewidmet sein.

[198]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Am zweiten Juni achtzehnhundert einundvierzig brachen wir von Breslau auf. Wir fuhren nur zu zweien, meine Tante Pauline Lewald und ich. Der Onkel hatte zu der Reise einen neuen, schönen Reisewagen gekauft, das Gepäck war bequem untergebracht, die Kammerjungfer saß auf dem Bock, und in der zurückgeschlagenen, ganz offenen Berline war man behaglich wie zu einer Spazierfahrt um die Stadt.

Es war fünf Uhr Morgens, als der Postillon in das Horn stieß, als die Peitsche knallte, die Zurückbleibenden mit den Tüchern winkten, und wir rasch vorwärts kommend, den Hof der Eisenbahn, deren Direktor mein Onkel war, hinter uns zurückließen. Der Thau lag noch auf den Sträuchen und Bäumen der Promenade, die Sonne leuchtete hell und durch keine Dunstatmosphäre behindert, die Vögel sangen an allen Ecken und Enden, und hier und da gaukelten ein paar Schmetterlinge, von der Art, welche wir als Kinder die Citronenvögel nannten und sehr hoch hielten, spielend über unsern Häuptern, als wollten sie uns noch ein Ende das Geleit geben, oder mit uns in die Weite ziehen.

Es ist schön, so in den Frühling hineinzufahren![199] Man hat dabei immer eine gewisse besitznehmende Empfindung, und in der That nimmt man ja auch mit dem Geiste Besitz von dem Stück Erde, dessen Bild sich unserer Phantasie einprägt. Es ist nur für uns vorhanden, es ist uns unverlierbar für alle Zeit.

Ich war sehr heiter an dem Morgen. Seit jenem Tage, in welchem ich zum ersten Male mit meinem Vater Königsberg verlassen, hatte ich nicht wieder eine Reise gemacht, bei welcher ich einem Fremden, Unerwarteten entgegen gegangen wäre. Grade in dem Ahnen, in der Unbestimmtheit, in dem Hoffen auf des Zufalls Anmuth, liegt aber das Spannende, welches uns bei dem Beginne einer Reise so belebend aufregt. Seit eilf Jahren war ich eigentlich nie ganz von Herzensgrunde froh gewesen; an dem Tage war ich fröhlich und sorglos wie ein Kind. Ich hatte meinen Vater wohl und kräftig wiedergesehen, wußte mich von den Menschen, die mir die Liebsten waren, geliebt und gewürdigt, wie ich sie liebte und würdigte, und war also ganz und gar zufrieden und voll guten Muthes für die Zukunft.

Bis kurz vor Liegnitz kannte ich die Straße, dann lenkte sie in einer mir fremden Richtung ein, und das ganze Riesengebirge lag nun mit seinen blauen, zum Theil schneebedeckten Höhen, zu meiner großen Ueberraschung, plötzlich vor uns ausgebreitet da. Es war die erste bedeutende Bergkette, welche ich erblickte, und gleich damals stieg in mir die Empfindung auf, die ich den Bergen, diesen steinernen Wundern gegenüber stets gefühlt; ich sehnte mich nicht eigentlich nach ihrer Höhe hinauf, sondern weit über sie hinweg und hinaus in das Freie. Sie [200] erschienen mir als eine Verlockung, als ein Antrieb und ein Hinderniß zu gleicher Zeit. Starr in sich selbst, regen sie die Seele zur Bewegung auf, und in sich abgeschlossen, erwecken sie ein Verlangen nach Freiheit und Schrankenlosigkeit. Man verlangt in der Ebene nicht leicht nach ihrem Abschluß, nach ihrer Beschränkung, aber man begehrt aus und von den Bergen nach dem freien Blicke in das Weite, und es beruht das sicherlich auf jenem Wesen des menschlichen Geistes, welches überall nach einer relativen Unendlichkeit trachtet.

Wir fuhren am ersten Tage über Liegnitz bis nach Waldau, einem schönen Dorfe, in welchem wir ein gutes Nachtquartier fanden, saßen früh um vier Uhr am andern Morgen wieder im Wagen, kamen dicht bei dem freundlichen Görlitz, an der schönen Landeskrone, die sich wie eine Pyramide in mäßiger Höhe aus der Ebene aufrichtet, und an dem Schlachtfelde von Hochkirch vorüber, passirten bei Liegnitz die Katzbach, hielten uns eine Weile in Bunzlau, eine längere Zeit in dem hübschen Bautzen auf, und langten Nachmittag um fünf Uhr in Dresden an, als die Sonne hell auf den zierlich zugespitzten Thurm der Schloßkirche schien, und deren Zacken und Kanten, Kreuze und Statuen goldig beleuchtete.

Denke ich an die Stimmung zurück, in welcher ich mich damals befand, so begreife ich es nachträglich, wie meine Tante gar nicht müde wurde, mir zu wiederholen, daß sie eine große Freude an mir habe. Es entzückte mich Alles, es war mir Alles lebendig, es regte mich Alles an. Wie ein Hintergrund zu einer Reihe von historischen Gemälden, breitete die Gegend, durch welche [201] wir fuhren, sich vor mir aus. Der alte Fritz und der siebenjährige Krieg, Blücher und die begeisterten Vaterlandsvertheidiger, die Augustäi'sche Herrschaft in Sachsen, mit ihrem Luxus und ihrer Galanterie, mit ihrer Verschwendung und ihrer Sittenlosigkeit, die Nachahmung des großen französischen Königthums in dem lieblichen Dresden, die Erscheinung Napoleon's in demselben, beschäftigten mich lebhaft. Neben den Menschen, die sich um uns her bewegten, neben den langsam behäbigen Dresdnern, die mit der Gemächlichkeit pensionirter Beamten auf der Terrasse umher gingen, als wir dort unsern Abendspaziergang machten, neben den Fremden, welche vor dem Pavillon ihren Kaffee tranken und ihr Eis verzehrten, sah ich immer die Gestalten des vergangenen Geschlechtes an mir vorüberschreiten, und ihre gestickten farbigen Röcke, ihre Galladegen, ihre Reifröcke und Schönpflästerchen schienen mir mehr auf diese sich weit und fürstlich ausbreitende Terrasse hinzugehören, als der Frack und die Tracht der vierziger Jahre.

Dazu wiegten der warme Sommerabend und die im Verhältniß zu meiner Heimath so viel südlichere Natur, mir die Seele in ein weiches Träumen ein. Alles, was ich dachte, wurde mir zum Bilde, jedes Bild hatte in meiner Seele seine eigene Musik, und zum ersten Male seit meiner Jugend dämmerte mit der großen Freude, die mich bewegte, der Glaube in mir auf, ich werde und müsse einst noch erreichen, was ich von Jugend auf ersehnt, ich müsse noch einmal lieben können und geliebt werden, noch glücklich werden auf der Welt, weil sie so [202] schön sei, und weil es mir so außerordentlich gut auf ihr gefiel.

Ich hatte für diese Hoffnung, für diese Zuversicht keinen andern Grund als denjenigen, welcher die Gläubigen dazu bringt, felsenfest auf ihre einstige Unsterblichkeit zu bauen. Unser Bedürfniß, unsere Fähigkeit dünken uns ein Rechtsanspruch; wir meinen fordern zu dürfen, was wir begehren, und Erfüllung heischen zu dürfen für das von uns Erstrebte. Das ist logisch und unlogisch zugleich, mag man die Welt und den Menschen in ihr, als das Geschöpf eines allweisen und allgütigen Gottes betrachten, oder sich sagen, es könne sich in der Natur und ihrem Ineinandergreifen von Nothwendigkeit und Freiheit kein Bedürfniß entwickeln, für das keine Befriedigung vor handen sei.

Die halbe Woche in Dresden verging uns sehr angenehm. Ich war wieder einmal in den Bereich der Offenbarungen gerathen, denn die Gallerie erschloß mir eine neue Welt des Schönen. Die Rafaelische Madonna, der Christus mit dem Zinsgroschen, die Venusgestalten Tizians erfüllten mir die ganze Seele mit ihrer Erhabenheit, und in der Wonne darüber, daß es mir möglich war, wenigstens in Worten festzuhalten, was ich erschaute, schrieb ich, müde und aufgeregt zugleich, in den einzelnen Stunden, welche wir im Hotel zubrachten, die längsten Briefe, ja ganze Hefte nieder, um den Vater und die Geschwister im Wiederscheine mit genießen zu lassen, was mich so hoch erfreute.

Von dem lieblichen Dresden gingen wir durch die sächsische Schweiz nach Teplitz, und mir war wieder einmal [203] zu Muthe wie einem Kinde vor den hundert Herrlichkeiten seines Weihnachtstisches. Ich konnte kaum glauben, daß dies Alles mein eigen sein sollte.

Abends auf der Bastei, auf der wir übernachteten, traf ich Landsleute, Königsberger, an. Ich saß mit ihnen als die Tante sich zur Ruhe begeben hatte, noch bis Mitternacht im Freien. Ein Franzose, ein blessé de Juillet, mit tiefer Schußnarbe in der Wange, der mit meinen Königsbergern verwandt war, sprach von den Julitagen; mein alter Landsmann, Stadtrath Andersch, erzählte von der Heimath. Es war dunkles Gewölk am Himmel, der Wind zog langsam durch die Baumwipfel, ganz unten in der Tiefe des Thales dämmerte hie und da in einem Hause ein Licht auf. Ich hörte zu, ich sah umher, ich genoß die Frische der wehenden Luft auf der Höhe, und ich hatte dabei abwechselnd die Bilder vor Augen, welche ich in der Gallerie gesehen hatte. Es war beinahe zu viel, und unwillkürlich sagte ich mir im Stillen die alten Verse vor: »O! wunderschön ist Gottes Erde und werth darauf vergnügt zu sein, drum will ich, bis ich Asche werde, mich dieser schönen Erde freu'n!«

Ich empfand alles Gute, das mir mein Leben hindurch zu Theil geworden war, als ein großes Ganzes, ich erinnerte mich aller der Güte, deren ich schon genossen hatte, mit tiefer Rührung. Ich dachte an meinen Vater, der nach der Tagesarbeit nun schon schlief, an meine Schwestern, die gar keine Vorstellung von den Herrlichkeiten hatten, die ich in mich aufgenommen, ich dachte an meine Brüder und ihre verschiedenen Lebenswege, und ich dachte auch an alle die Geliebten, die ich in Breslau zurückgelassen [204] hatte. Ich hing an diesen lieben Menschen allen, ich hätte nicht leben mögen, ohne zu wissen, daß sie mit mir lebten, daß sie mich liebten; aber ich war doch glücklich, allein zu sein. Ich lebte für mich. Ich war, was ich war, durch meine Kraft, durch mein Talent, durch mich selbst – und ich war frei! Frei! Der Nachtvogel, der über unserm Haupte hinzog, dünkte mich nicht freier zu sein als ich!

Es war ein unbeschreiblich, beglückendes Gefühl, mit dem ich von der stillen Höhe in das weite, dunkle Land hinabschaute! Und wie ich an dem Morgen bei unserer Abfahrt von Breslau geistig Besitz genommen von der schönen Welt, so nahm ich nun Besitz von mir selbst.

Die Zeit meiner Hörigkeit war vorüber, die Zeit meiner Freiheit dämmerte vor mir auf! Ich hatte es in meiner Hand, was ich aus meiner Zukunft machen wollte!

[205]
11. Kapitel
Eilftes Kapitel

In dem lieblichen Teplitz angekommen, wo wir in der Schönau eine hübsche Wohnung für uns bestellt fanden, lebten wir Anfangs ziemlich zurückgezogen, aber die sanfte Wellenlinie des Höhenzuges, der das Thal umschloß, das saftige Grün der weiten Rasenflächen und die schönen schattigen Bäume waren ein so erfreulicher Anblick, daß man gern in seinem Zimmer weilte, um in das Freie hinaus zu schauen.

Es waren nicht viele Kurgäste im Bade, man hörte also wenig Wagenrasseln und wenig Geräusch, und kam deshalb gar leicht zu jenem pflanzenhaften Hindämmern, das für eine Weile so erquicklich und so beruhigend ist. Am Mittag ging man in den schönen Garten des fürstlich Clary'schen Schlosses, in welchem die Schwäne auf klarem Teiche langsam durch das schimmernde Wasser zogen, am Abende fuhren wir in der Umgegend umher, da der Onkel uns seine Pferde und den Kutscher nachgeschickt hatte, und ich freute mich an jedem Tage darüber, daß ich es so gut im Leben hätte, so über alle mein Erwarten gut.

Im vollsten Seelenfrieden saß ich an unserm Fenster, wenn die Luft leise durch die Bäume fächelte und der [206] Duft der Rosen aus dem Garten in das Zimmer drang, und sah, wie hier und dort ein paar Leute durch die Wiesen promenirten, wie prächtig gewachsene ungarische Soldaten, die sich in dem kaiserlichen Militärhospitale zur Kur befanden, nach den Badehäusern gingen, wie drüben auf den Höhen die Heerden weideten, und das glatte braune böhmische Rindvieh mit den feinen Köpfen sich so schön ausnahm. Ich dachte nicht zurück, ich dachte auch nicht wesentlich vorwärts in jenen ersten Tagen; und das gegenseitige Behagen, das meine Tante und ich an einander fanden, erhöhte diese friedensvolle Stimmung noch bedeutend. Ich war mir in diesem Zustande der völligen Ruhe wie eine fremde Erscheinung, aber ich begrüßte ihn als einen Segen und genoß ihn als ein unerwartetes Glück, besonders da ich mir das Zusammenleben mit meiner Tante nicht so leicht gedacht hatte.

Als zuerst in Breslau zwischen mir und meinen Cousinen die Rede von dieser Reise gewesen war, hatten sie mir einstimmig die großen Vorzüge und den vortrefflichen Charakter meiner Tante gerühmt, Alle aber hatten mir zugleich gesagt: »Du wirst kein leichtes Auskommen mit ihr haben, denn sie ist eine sehr herrschsüchtige Natur!« – Ich hatte mich also darauf gefaßt gemacht, mich zu fügen, mich in unbequeme Ansprüche zu schicken, und da ich an Gehorchen und Nachgeben von Jugend auf gewöhnt war, so hatte ich mir meine Lage, trotz der Besorgnisse meiner Cousinen, nicht eben zu schwer vorgestellt. Indeß ich war doch immer auf manche Unannehmlichkeit gefaßt gewesen, und ich wartete nun darauf von einem Tage zum andern; die Herrsucht meiner Tante wollte[207] und wollte jedoch nicht zum Vorschein kommen. Wenn man sich aber gewappnet hat, einem Feinde entgegen zu treten, und er läßt uns in unserer schönen Rüstung unbeachtet stehen, so scheint es uns, als ob er uns ein Unrecht zufüge, und wir fangen an, uns nach ihm zu sehnen, weil wir keine vergeblichen Anstrengungen gemacht haben mögen, weil wir uns genug thun wollen, in der Rolle, auf die wir uns vorbereitet haben.

Jeden Morgen stand ich mit dem Gedanken auf, heute werde die Herrschsucht meiner Tante zum Ausbruch kommen, und heute werde ich meine Geduld und Nachgiebigkeit beweisen müssen; und jeden Abend legte ich mich unverrichteter Sache, und zuletzt mit einem heimlichen Aerger darüber zu Bette, daß meine Tante mir noch immer Nichts gethan habe.

Wir gingen in Ruhe und Frieden spazieren, hatten Jeder für sein Theil am Morgen nach der Promenade Kopfweh, nahmen unwillkürlich Rücksicht auf einander, dienten und halfen einander wie wir konnten, gewannen immer mehr Neigung und Freundschaft für einander – das kam mir endlich ganz unerträglich vor, und ich sah die guten stillen Tage, die wir lebten, bisweilen wie eine Art von Enttäuschung an, weil ich mich auf andere Zustände vorbereitet gehalten hatte. Eines Abends, als ich neben meiner Tante sitzend, mit diesen thörichten und doch so menschlichen Betrachtungen beschäftigt war, fragte sie mich, weshalb ich so schweigsam sei, und was mir fehle?

»Deine Herrschsucht!« antwortete ich, ihr die nackte Wahrheit gebend.

[208] Sie sah mich verwundert an. »Was soll das heißen?« sagte sie mit Ueberraschung.

»Sie haben mir gesagt, Du wärest so herrschsüchtig,« versetzte ich. »Ich warte also nun schon über vierzehn Tage darauf, daß Deine Herrschsucht sich zeigen solle, und Du fängst noch immer nicht damit an.«

Sie lachte hell auf. »Also sie haben Dich gewarnt?« rief sie mit heiterstem Tone, »das wundert mich nicht, denn ich kenne ihr Urtheil über mich. Sie haben Dir aber gewiß nicht gesagt, daß ich dumm sei.«

»Im Gegentheil! Sie haben Dich sehr klug genannt.«

»Nun! so hätten sie Dich doch nicht erst einzuängstigen gebraucht! Sie hätten mir wohl den Verstand zutrauen können, daß ich einsehen würde, wie ich Dich nicht zu beherrschen brauche, und nicht beherrschen kann, weil Du selbst weißt, was Du willst und mußt.« Sie reichte mir die Hand, wir lachten wieder, aber sie wurde gleich darauf sehr ernsthaft und sagte: »Wenn sie ahnen könnten, wie ich oft im Stillen die Frauen beneidet habe, denen es vergönnt ist, keinen Willen haben zu dürfen, und sich leiten lassen zu können! – Ich hätte wohl auch liebenswürdig sein mögen, hätte ich nur nicht meine ganze Jugend, ja fast mein ganzes Leben hindurch immer für Andere wollen müssen! Und nun ich es an der Seite meines Mannes besser haben könnte, fehlt mir dazu die Sorglosigkeit und ich bin krank.«

Sie brach ab, aber seit der Stunde waren wir Freunde, und die Tüchtigkeit ihres Charakters machte sie mir mit jedem Tage lieber. Sie hatte einen großen Verstand und ein starkes, rechtschaffenes Herz. Was sie für Recht [209] erkannte, daran vermochte sie Alles zu setzen, was ihr als Unrecht erschien, dafür fehlte ihr die schwächliche Nachsicht, und so kam etwas Herbes in ihr Wesen, das vielleicht ihrer Liebenswürdigkeit Abbruch thun mochte, das aber ihren Werth nur erhöhte, und sie mir nicht nur lieb, sondern verehrungswürdig und sympathisch machte.

Sie ihrerseits sah mit großer Liebe auf meine Zukunft hin. »Wie schön ist's, daß Du eigentlich doch noch jung bist!« rief sie mitunter aus. »Pflege Dich doch recht, ruhe recht aus, damit Du auch gesund wirst. Jugend und Gesundheit sind ein Boden, auf dem Alles wachsen und werden kann.«

Wir lasen viel, und gingen also oftmals in die Leihbibliothek, die, wie es noch jetzt in vielen deutschen Bädern der Fall ist, um zehn Jahre hinter der Jahreszahl zurückgeblieben war. Eines Tages, als wir auch ziemlich rathlos vor den Borden des Bücherverleihers standen, trat eine bejahrte Dame an mich heran, um mir ein Buch zu empfehlen, das sie dem Verleiher eben zurückbrachte. Es war mir bekannt, ich lehnte es also dankend ab, indeß die Dame, welche sich mir schon im Schloßgarten und auf der Promenade mehrmals in auffallender Weise genähert hatte, fing eine Unterhaltung mit uns an, und als wir den Laden verließen, begleitete sie uns.

Es war eine Frau von fünfzig Jahren, der man ihre einstige Schönheit ansah, und die mit ihrer edlen Haltung und den feinen, milden Zügen ihres Gesichtes, das noch immer von einer Fülle hellblonder Locken umgeben war, ein schönes Bild matronenhafter Weiblichkeit in sich darstellte. Sie sagte, daß sie zufällig unsere Namen [210] erfahren, daß sie meine Romane gelesen habe, und daß sie sich freue, mir zu begegnen. Das konnte eine bloße Redensart sein, aber ich fühlte es dieser Frau entschieden an, daß sie irgend etwas Besonderes für mich auf dem Herzen habe, daß ihre Theilnahme an mir eine wahrhafte sei, und daß noch ein anderer Beweggrund, als das bloße Wohlgefallen an meinen Romanen sie mir entgegenführe.

An den folgenden Tagen sahen wir sie öfter wieder. Sie suchte uns stets geflissentlich auf, hielt sich vorzugsweise zu mir, und ich erfuhr von ihr, daß sie Minuth heiße, eine Landsmännin von mir, eine geborne Toussaint aus Königsberg, und die Wittwe eines preußischen Geheimraths sei. Sie hatte ihren Mann und fünf erwachsene Kinder verloren, und stand nun ganz allein da. Jede ihrer Mienen drückte ihr durchlebtes Unglück aus, ihr Ton, ihre Aeußerungen trugen den Stempel der Resignation, aber ihre Güte für Andere hinderte sie, ihre Klagen laut werden zu lassen, und ihre Rücksicht für jeden Leidenden ließ es errathen, was sie den Ihrigen gewesen sein mußte.

Sie hatte zwei Nichten zur Begleitung bei sich, und hatte auch viele Bekannte in Teplitz vorgefunden, mit denen wir durch sie in Verbindung geriethen; es wurden denn allmählig verschiedene Partien unternommen, und da wir eigenes Fuhrwerk hatten, und Frau Minuth der Tante und mir gleich lieb geworden war, so wurden fast alle Fahrten und Ausflüge in die Umgegend in ihrer Begleitung gemacht.

Eines Nachmittags waren wir auch wieder zusammen [211] nach Dux, einem alten Schlosse in der Nähe von Teplitz gefahren, das seit dem sechszehnten Jahrhundert den Grafen Waldstein gehört. Man besah die alten Möbel, die alten Bilder, unter denen sich ein Portrait von Wallenstein befand, man zeigte uns in der Rüstkammer eine blutbefleckte Kleidung, in welcher Wallenstein ermordet sein sollte, und von den historischen Sieben-Sachen, von den verblichenen Herrlichkeiten hinweg, schaute ich aus den Fenstern in den Park hinaus, dessen schöne Weitung, dessen prächtige Allee meine ganze Sehnsucht gefangen nahmen.

Frau Minuth, die auch hier wieder neben mir war, bemerkte das, und schlug mir vor, in das Freie zu gehen. Ich war dazu bereit, sie nahm meinen Arm und aus dem Schlosse tretend, gelangten wir in die schönste Allee, die ich überhaupt gesehen habe. Eng in einander verschlungen, hoben sich zu beiden Seiten des Weges Laub- und Nadelbäume zu thurmhohen Wänden empor, zwischen welchen man den Kopf ganz nach hinten biegen mußte, um den Himmel zu sehen, und am Ende dieser herrlichen Baumreihen eröffnete sich dem überraschten Auge plötzlich weit und hell die Aussicht auf die Biliner Felsen und auf die Milischauer, einen der höchsten Berge dieser Gegend.

Diese Schönheit entzückte mich und ich sprach das lebhaft aus, meine Begleiterin aber war ganz still. Plötzlich, als wir schon eine Strecke von dem Schlosse entfernt waren, blickte sie um sich her, und sich dann zu mir wendend sagte sie: »Ich bin recht glücklich, daß ich endlich einmal mit Ihnen allein bin; ich habe dies Alleinsein mit Ihnen die ganze Zeit gesucht, denn ich habe [212] für Sie Etwas auf dem Herzen. Ich habe Ihnen für das Höchste zu danken, was ein Mensch dem Andern verdanken kann. Sie haben mein Herz von einem großen Fehler und meinen Verstand von einem schweren Irrthum geheilt.«

Sie drückte mir dabei die Hand, ich wußte nicht, was ihre Worte bedeutete. »Sie kennen ja,« sagte sie fortfahrend, »das große Vorurtheil, welches die Christen gegen die Juden hegen. Dies Vorurtheil, ja diesen Widerwillen und Haß gegen die Juden habe ich im vollen Maße getheilt und mir noch Etwas darauf eingebildet, bis ich im vorigen Jahre Ihren Roman, Ihre »Jenny«, gelesen habe. Tag und Nacht ist mir es danach im Sinne herumgegangen, gegen wie viele Menschen ich mich hochmüthig versündigt habe, und ich habe mich meiner Härte und meiner Verblendung von Herzen geschämt, und ein rechtes Verlangen danach getragen, Ihnen einmal zu begegnen, und Ihnen zu sagen, was Sie an mir gethan.« – Sie legte mir dabei ihre Hände auf die Schultern, und sah mich mit ihren thränenschweren Augen freundlich an. »Gott gebe Ihnen Glück!« sprach sie darauf mit bewegter Stimme, indem sie mich umarmte. »Wer so warm gegen Vorurtheile und für die Menschlichkeit spricht, dem wird es wohlergehn in der Welt. Gott gebe Ihnen Glück, recht viel Glück, mein liebes Kind.«

Und ich war in dem Augenblicke schon weit glücklicher als sie es ahnte! Ich küßte ihr die Hand, die sie mir wie segnend aufgelegt, wir blieben eine Weile still bei einander stehen, und ich gelobte mir in meinem Herzen, dieser Stunde eingedenk zu sein, wenn ich jemals [213] die Versuchung fühlen sollte, mir selber oder meinen Ueberzeugungen untreu zu werden – aber so fest ich diese liebe Erinnerung in mir bewahrt, als Mahnung habe ich ihrer nie bedurft.

Außer Frau Minuth näherten sich mir allmählig einige andere Personen, namentlich ein schwer leidender junger Mann, der an Krücken umherging. Sie wollten mir es danken, daß ich ihnen Stunden der Krankheit und des einsamen Leidens mit meinen Arbeiten erheitert und verkürzt; Andere sprachen mir es aus, wie ihre Gesinnung mit der meinen übereinstimme, wie verwandt sie sich mir dadurch empfänden, und die fernreichende Kraft des geistigen Schaffens trat mir auf diese Weise in erfreulichstem Ausdruck entgegen. Ich kam mir nicht wie in der Fremde vor, weil ich Leute fand, die von mir wußten, denen ich Etwas geleistet hatte, die mir, ohne mein weiteres Zuthun, dafür Freundlichkeit und guten Willen entgegenbrachten; und dies Bewußtsein der Wirkung in die Ferne, der Wirkung auf Andere, das Bewußtsein, daß ich durch mein Schaffen mir eine Menge gleichgesinnter Menschen zu eigen mache und zu Freunden gewinne, gab all dem Guten, welches sich mir in jenen Tagen darzubieten angefangen hatte, einen festen Hintergrund, und ließ mich auf die Dauer des innern Wohlbehagens und des geistigen Gleichgewichtes hoffen, dessen ich mich erfreute.

Es war im Plane meiner Tante festgesetzt gewesen, daß wir, nachdem sie ihre Kur beendet haben würde, eine Reise durch die böhmischen Bäder und nach Prag machen, daß ich darauf mit ihr nach Breslau fahren, und in [214] ihrer und meines Onkels Gesellschaft das Riesengebirge und die Grafschaft Glatz besuchen sollte. Ich hatte mir es auf Tag und Stunde ausgerechnet, daß ich auf diese Weise immer noch in der zweiten Hälfte des August im Vaterhause sein, und eine meiner jüngsten Schwestern, wie ich ihr versprochen, in das Seebad Kranz hinführen könne, welches nur einige Meilen von Königsberg entfernt lag; indeß meines Vaters Ausspruch, daß es thöricht sei, weitverzweigte Vorausberechnungen zu machen und sich mit den Einzelnheiten der Zukunft zu beschäftigen, stellte sich auch für mich, die sich nur gar zu gern in Detaille-Malereien dessen, was künftig geschehen sollte und mußte, zu verlieren pflegte, wieder einmal als richtig heraus.

Ich stand am Johannisabende mit den Kindern unserer Wirthsleute auf den Höhen, welche sich längs der Vorstadt Schönau hinziehen, und sah in die Ferne hinaus, als man die Johannisfeuer anzuzünden begann. Der Abend war dunkel und windstill. Erst leuchtete auf der Wilhelmshöhe ein Feuerchen auf, dann ein zweites auf der Rosenburg, auch auf der Riesenburg, dem Kostenblatt, der Silesiushöhe; auf den Millischauern, auf dem Bilinerberge, überall brannten die Feuer auf, und ließen die Weite des Horizontes erkennen, welchen man beherrschte. Die Wirthstochter erzählte uns dabei, wie der heilige Johannes sich einst, als er vor seinen Widersachern in die Wüste geflohen sei, ein Feuer angezündet habe, um sich gegen die wilden Thiere zu schützen. Das Feuer habe ihn jedoch seinen Feinden verrathen, daß sie von allen Seiten sich gegen ihn aufgemacht, da habe aber Gott der Herr sich seiner schnell erbarmt, und auf allen [215] Bergen und Höhen, auf allen Wiesen und Thälern die Flammen aufzucken lassen, bis daß die Verfolger über die Richtung ihres Weges irre und der Heilige vor ihnen also behütet worden sei. Zur Erinnerung daran feiere man nun den Johannistag und brenne man die Johannisfeuer.

Die Gesellschaft, die aus unserm Hause auf den Berg gestiegen war, bestand zum großen Theile aus Norddeutschen, welche diese einfache und anmuthige Erzählung mit vornehmer Geringschätzung an ihrem Ohre vorüberrauschen ließen, denn der sogenannte rationelle Protestantismus ist bisweilen eben so unempfindlich für Poesie, als für den historischen Zusammenhang und die formelle Gleichbildung der Mythen in den verschiedenen Kulten. Das ist eine von seinen schlimmen und gefährlichen Seiten! Einer der Männer sprach von der unvernünftigen Holzverschwendung, ein Anderer schalt auf den albernen Wunderglauben des Volkes, welcher von der katholischen Geistlichkeit geflissentlich genährt werde, und ich sah daneben mit Vergnügen, wie hell aus dem Dunkel der Nacht der goldigrothe Feuerschein von allen Ecken durch die Lüfte zuckte, und es freute mich, daß hier die Böhmen von ihrem lieben Herr-Gotte nicht weniger gut und nicht weniger poetisch fabelten als die Griechen es von ihrem Zeus und von ihrer Minerva gethan. Das Mirakel Gottes für den heiligen Johannes erschien mir der Phantasie des Volkes eben so angemessen, als alle jene Wunder, welche Minerva für den Odysseus gewirkt, und nebenher entzückte es mich, wie man das Feuer, diese ursprüngliche Naturkraft, auf der Höhe des Jahres entfesselte, und sie im schönen [216] Cultus der Natur, in stiller Nacht als Symbol der Freude, für den Reichsten wie für den Aermsten emporsteigen, und Allen als ein Erinnerungszeichen an hingeschwundene Tage in die Seele leuchten ließ. Dies Ineinandergreifen des alten deutschen Naturkultus und der Mythen des Christenthums, dies Personifiziren der unsichtbaren Kräfte und Gewalten, das allen Völkern bei ihrer Religionsbildung unerläßlich geschienen, beschäftigte mich sehr, und da man leicht geneigt ist, von dem Allgemeinen auf das Persönliche hinüber zu gleiten, so fand ich mich mit meinen Gedanken bald zu mir selbst zurückgekehrt.

Es überraschte mich so, daß ich mich in Böhmen, daß ich mich in einem katholischen Lande befand, daß die Johannisfeuer vor mir brannten, daß Wallnußbäume ihre duftigen Aeste und Blätter über meinem Haupte wiegten, daß Tausende von Leuchtwürmchen wie fliegende Sterne die Luft durchgaukelten, und ich fragte mich, ob ich wache oder träume? Ich fragte mich: wie kam, wie komme ich denn eigentlich hierher? allein hierher? ohne Vater, ohne Mutter, ohne Geschwister? ich ganz allein?

Meine Aussichten für das Leben waren in meiner ersten Jugend so beschränkt gewesen, nun weiteten sie sich mit jedem Tage mehr, und ich hatte beinahe Mühe mich daran zu gewöhnen. Es war ja Alles ganz anders geworden als ich es erwartet, als ich es gewünscht hatte. So weit menschliche Einsicht es in meinem sechszehnten Jahre voraus berechnen können, war es mir bestimmt gewesen, als eine christliche Pastorsfrau in einem stillen Dorfe des Harzes zu leben. Ich hatte mir dies als das größte Glück gedacht, es mir mit rosigen Farben ausgemalt. [217] Statt dessen war der arme Leopold so jung gestorben, ich hatte das Leben in einer neuen, von der seinigen völlig abweichenden Weise erfassen lernen, ich hatte Kräfte und Fähigkeiten in mir gefunden, von denen er und ich Nichts in mir geahnt, ich hatte sein Andenken in meiner Erinnerung begraben; leidenschaftliches Lieben, bittre Schmerzen waren über seiner Asche in mir lebendig geworden, und auch sie waren durchlebt, hatten sich gewandelt, hatten ihre Lösung und Verklärung gefunden, und von Allem, was ich einst ersehnt und erstrebt, ersehnte ich jetzt Nichts mehr, hätte Nichts mir jetzt noch das Glück gewähren können, was es mir einst gewesen sein würde.

Ich hätte nicht mehr an der Seite des trefflichen jungen Mannes, ich hätte nicht mehr an Leopold's Seite leben mögen, ich würde ihm eine Fremde, und unglücklich neben ihm gewesen sein. Der Gedanke an das einsame Pfarrhaus engte mir den Sinn ein. Es lag weit hinter mir, wie das Aschenbrödelkleidchen, das ich einst als Kind getragen. Ich athmete freier, als ich noch vor wenig Jahren es für möglich gehalten hatte; ich fühlte, daß ich mich auf dem rechten, auf dem meiner Individualität angemessenen Wege befand, und wie den heiligen drei Königen ihr Stern, so leuchtete mir ein innerer Stern auf meinem Wege vorwärts. Hätte ich ihn nicht sehen, ihm nicht nachgehen mögen, ich hätte ihm folgen müssen aus freier und doch nothwendiger Wahl.

Und während diese heidnischen Johannisfeuerchen auf den Höhen loderten, zur Freude der katholischen Christenheit, [218] feierte ich einen eigenen innern Gottes dienst, der wahrer Frömmigkeit und wahren Glaubens nicht ermangelte, und bei dem ich, der Wandelung alles Vorhandenen eingedenk, weit hinaus in meine eigene Zukunft blickte. Wie im dämmernden Weben trat an jenem Abende der Plan zu einer Arbeit an mich heran, in der die naturbedingten und darum nothwendigen Wandlungen des Menschen, an einem weitverzweigten Menschenkreise in solcher Weise dargestellt werden sollten, daß die Wandlung sich nur als eine unabweislich nothwendige Entwicklung der verschiedenen Charaktere bewähren, und eben durch sie ein Bestehen im Wechsel dargethan werden sollte.

Von der Stunde an ist der Gedanke an den Roman, den ich etwa zehn Jahre später unter dem Titel »Wandlungen« erscheinen lassen, nicht mehr von mir gewichen. Er ist vor mir aufgetaucht, und durch Näherliegendes wieder zurückgedrängt worden, und mit jedem neuen Auftauchen hat er von den Ereignissen, die ich geschehen sah, von den Erfahrungen, die ich machte, eine neue Farbe und einen wachsenden Gehalt entlehnt. Er und ich sind mit einander fortgeschritten durch manche Störungen und manche Hindernisse, sind beide mit und nebeneinander zu freierer Entfaltung gekommen, und beide so zu sagen fertig geworden, in einer Zeit, in welcher die Teplitzer Tage schon wieder so weit von mir ablagen, als meine erste Jugend mir in Teplitz fern zu liegen gedünkt.

Und heute blicke ich wieder zurück, und die Johannisfeuer [219] brennen auf der Höhe und leuchten hinab auf einen langen wechselvollen Weg, und leuchten hinein bis in mein Herz und bis in das stille Haus voll Liebe und voll Frieden, bis an den trauten Heerd, an dem mein Leben seine Ruhestatt gefunden, und an welchem noch lange in dem Kreise der Meinen walten zu dürfen, jetzt fast mein einziges Verlangen ist.

[220]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Meinen Teplitzer Zuständen und meinen Planen stand aber schon an jenem Johannis-Abende eine Wandlung nahe bevor. Während ich an eine Reise nach Schlesien und an eine baldige Heimkehr nach Preußen dachte, erhielt ich die Nachricht, daß mein Vater eine meiner jüngern Schwestern zu mir senden werde, und daß ich diese zu einer Kur nach Franzensbad zu geleiten habe.

Wenn man eine Maschine, die man nach einer bestimmten Richtung dirigirt hat, plötzlich von derselben abkehrt, so giebt das immer einen Stoß. Solch einen Stoß erleiden wir auch, wenn uns die wohlausgesonnenen Plane, Plane, auf welche wir unsere Gedanken hingewendet, unerwartet über den Haufen geworfen werden. Indeß ich hatte so viel Vergnügen an der Aussicht, meine Schwester wiederzusehen, und ihr, welche bis dahin die nächste Umgebung der Vaterstadt noch nicht verlassen hatte, ein Stückchen Erde, ein Stückchen von der schönen Welt zu zeigen, daß ich mich bald in die neue Gedankenreihe hineinfand; und da ich von Natur heitern Sinnes, also auch geneigt war, jedem Dinge seine beste Seite abzugewinnen, so kehrte ich mein Auge von den Erwartungen ab, welche ich in Schlesien erfüllt zu sehen gehofft hatte, [221] um es mir in den angenehmsten Farben vorzustellen, wie ich allein mit meiner Schwester reisen, welchen Weg wir nehmen, wie viel Schönes wir dabei kennen lernen, und wie verwundert meine Pflegebefohlene dabei sein würde.

Man hat es so sehr in seiner Gewalt, sich die Gläser zu schleifen, durch welche man die Welt betrachten, und die Farbe zu wählen, in welcher man sein Schicksal ansehen will. Wer die Welt und seine Obliegenheiten in derselben in trübem Lichte zu schauen geneigt ist, dem fehlt es in der Regel an Einsicht und an Selbsterkenntniß, und vor allen Dingen an der rechten Liebe. Denn wenn es mit dem Genießen nicht eben werden will, wie wir es wünschen, nun so bleibt doch immer noch das Leisten übrig, mit dem es sich auch ganz leidlich durchkommen läßt; und ich meine, so lange die Natur noch schön ist, so lange es noch große Kunstwerke und erhabene Gedanken giebt, und so lange man noch ein Menschenwesen findet, daß unserer wirklich bedarf, kann man nicht völlig unglücklich werden, und muß das Leben noch erfreulich sein, vorausgesetzt, daß man genug Gesundheit hat, desselben genießen zu können.

Die Zeit, welche ich noch bei meiner Tante zu verweilen hatte, ging nun schnell vorüber, denn die Stunden gewinnen doppelte Flügel, wenn sie sich einem absehbaren Ziele nähern. Wir trennten uns als wahre Freunde. Sie ging nach Schlesien zurück, und ich fand mich denn am Abende des Trennungstags wieder einmal in dem Coupé einer Schnellpost, aber diesmal nicht mehr von meinem Vater oder von sonst einem Bekannten beschützt, sondern als Beschützer einer Andern. Es war mir eine [222] ganz besondere Empfindung, als die Nacht herabsank, als wir Berg auf Berg ab durch das fremde Böhmerland fuhren, auf Wegen, die ich nie betreten, durch Ortschaften und nach einem Orte, welchen ich nicht kannte, die Schwester an meiner Seite, die ich als ein Kind auf meinen Armen getragen, und die jetzt, müde und ruhebedürftig, ihren Lockenkopf zum Schlaf an meine Schulter lehnte.

Die Worte Byron's: »Doch Nichts kann so viel Freude machen, als, was man liebt, im Schlummer zu bewachen,« wurden mir recht lebendig zu einer Wahrheit. Liebe geben ist eben so beseligend als Liebe empfangen. Wie ich in meiner Jugend glücklich gewesen war, mich schlafmüde auf der Reise an meines Vaters Brust zur Ruhe legen zu können, so ließ ich jetzt mit gleicher Freude sein Kind in meinem Arme schlafen, und freute mich an den stillen Athemzügen des jungen Mädchens, und an den Lichtreflexen, welche die Laternen des Postwagens über die Schlafende warfen.

Mein Schwester war damals ein hübsches Mädchen von kaum neunzehn Jahren. Schlank, lebhaft, voll Verstand, voll übermüthiger Lebenslust, war sie dabei gutmüthig, und eben so schalkisch als naiv. Freilich hatte ein längeres Unwohlsein diesen Eigenschaften im Augenblick Abbruch gethan, aber es war doch noch genug Munterkeit in ihr vorhanden, um sie empfänglich für jeden neuen Eindruck zu machen, und wir kamen eigentlich während dieser ganzen Reise nicht aus dem Gefühl des Glückes und des Vergnügens heraus.

Wir verweilten drei Tage in Karlsbad, weil sich [223] einige von unsern Verwandten dort zur Kur aufhielten, und langten dann eines Nachmittages im Franzensbade an, wo uns Nichts weniger als eine »joyeuse entrée« zu Theil wurde. Denn ganz abgesehen davon, daß uns nach den anmuthigen Thälern und Höhen von Teplitz, nach den romantischen Umgebungen von Karlsbad, die kahle, mit Korn bepflanzte Hochebene, auf welcher Franzensbad gelegen ist, sehr reizlos und leer erschien, so goß es in Strömen vom Himmel nieder, und weder in einem der Gasthöfe, noch in einem Privathause war ein Unterkommen für die Nacht zu finden. Die Zahl der zu vermiethenden Räumlichkeiten stand damals noch außer allem Verhältniß zu der Menge der Kranken, die von allen Seiten hilfesuchend nach dem Bade kamen.

Ich wendete mich an den Badearzt, dem wir empfohlen waren; er hatte seine Privatzimmer bereits am Tage vorher einigen Freunden eingeräumt, die sich in gleicher Noth befunden, und sah sich selbst auf eine Stube beschränkt. Ich begab mich zur Badepolizei; man sagte mir, es hätten schon viele Fremde abreisen und eine Wohnung in Eger nehmen müssen, von wo sie zur Kur herüberkämen, und selbst dort würden kaum noch Quartiere zu haben sein. Auf meine Bemerkung, weshalb man in diesem Falle nicht eine Anzeige in den Zeitungen mache und die Fremden davon in Kenntniß setze, daß sie für den Augenblick in Franzensbad nicht unterkommen könnten, erhielt ich den naiven Bescheid, in einigen Tagen, spätens Ende der Woche würden ja wieder Wohnungen frei werden; und nun saßen wir bei stürzendem Regen da, ohne zu wissen, wo wir die Nacht zubringen sollten, [224] da wir nicht einmal einen eigenen Wagen hatten, in dem man doch zur Noth hätte schlafen können. Es war eine unangenehme Lage. Meine Schwester war von dem ungewohnten Reisen so ermüdet, daß sie nicht vom Flecke konnte, ich hatte eine Verletzung am Knöchel des Fußes, die ich mir bei einem Ritt in Karlsbad zugezogen. Sie machte mir das Gehen sehr beschwerlich, und die Rathschläge, die man uns für unser Unterkommen gab, erwiesen sich alle als fruchtlos. Der Eine empfahl mir, nachzuhören, ob man uns nicht für die nächsten Nächte in dem Speisesaal irgend eines Gasthauses Betten aufschlagen oder Sopha's herrichten könne, der Andre rieth, Extrapost zu nehmen und nach Eger zurückzukehren, um dort unser Heil zu versuchen; und all diese Erörterungen gingen in einer einfenstrigen Stube des Posthauses vor sich, in welcher Condukteure hin und herliefen, und deren ganzes Ameublement in Tisch und Stuhl und in einer Bettstelle bestand, auf welcher die Condukteure je nach Gelegenheit ihre Rast zu halten pflegten.

Alle meine Versuche, in der Post ein Zimmer zu erlangen, blieben vergebens, man hatte auch dort bereits den Fremden abgetreten, was man entbehren konnte; da aber der Postmeister die große Erschöpfung meiner Pflegebefohlenen sah, erbot er sich, uns das Zimmer und das Bett der Condukteure zu überlassen, und so überaus widrig der schmutzige, qualmige Raum und das unsaubre Lager auch waren, so mußte ich doch froh sein, dies Anerbieten benutzen zu können, da es uns wenigstens für diese Nacht ein Obdach verschaffte, und uns vor der Nothwendigkeit bewahrte, auf gut Glück nach Eger zurückzukehren. [225] Meine Schwester schlief, nachdem wir, so gut es anging, mit unsern Mänteln die häßliche Lagerstätte bedeckt hatten, augenblicklich ein, und mir wurde nun, diesmal freilich sehr gegen meinen Wunsch, wieder der Genuß zu Theil, »das, was ich liebte, im Schlummer zu bewachen!«

Es vergingen denn auch noch einige Tage, ehe wir zu einer aushaltbaren Einrichtung in Franzensbad gelangen konnten. Aus der Condukteurstube der Post avancirten wir in die Bodenstube eines Hotels, und erst aus dieser in die kleinen freundlichen Zimmer eines, in der Kirchstraße belegenen Privathauses, welche wir während unsres siebenwöchentlichen Verweilens in Franzensbad bewohnten.

Ich weiß nicht, welche Verbesserungen und Verschönerungen Franzensbad erfahren haben mag, seit ich es besuchte, das aber weiß ich, daß es mir damals, und obenein bei dem kalten regnerischen Sommer, als ein sehr unangenehmer Aufenthalt erschienen ist. Wir kamen aus den Pelzkragen und Gummischuhen, aus den Mänteln und Kapotten gar nicht heraus; und dazu drängte die große Masse der Fremden sich bei dem Trinken in den engen Colonnaden zusammen, oder zog mißmüthig, naß, durchregnet und frierend, über die im Nebel qualmenden Wiesen nach der Wiesenquelle hinaus, an welcher noch gar keine Colonnaden erbaut waren, und an der man also der Unbill des Wetters völlig anheim gegeben war.

Nach ein paar Tagen kannte ich jedes Haus der drei Straßen, jeden Porzellan-Mops und Chinesen an den Schaufenstern der Magazine, und der Gedanke, mich[226] unter Hunderten von kranken Menschen zu befinden, fing dazu bald schwer auf mir zu lasten an. In Teplitz, wie in allen den Orten, an welchen man das Wasser nicht trinkt, sondern nur badet, wird man das Elend lange nicht so gewahr; aber alltäglich am Morgen und am Abend diese Schaaren und Züge hustender, schleichender, gelähmter, elender Menschen zu sehen, war mir fürchterlich. Es half mir auch gar nicht, daß unter den Kurgästen sich viele befanden, die frisch und munter aussahen, denn ich fragte mich doch unwillkürlich, was ihnen wohl fehlen möge? und die Gewaltsamkeit, mit welcher ein großer Theil der Menschen sich in den Bädern pflichtmäßig zu zerstreuen, sich zu amüsiren sucht, hatte für mich vollends etwas Peinigendes.

Mitten in der Pflege meiner Schwester, der man ein strenges Regime und eine sehr zusammengesetzte Kur verordnet hatte, so daß wir fast Tag über mit Baden und Trinken und Trinken und Baden beschäftigt waren, erhielt ich von Berlin die Nachricht, daß man den genealogischen Kalender, für den ich eben die Novelle: »Der dritte Stand« geschrieben hatte, wegen einer in dieser Arbeit enthaltenen Unterredung, mit Beschlag belegt und das Erscheinen des Kalenders für den Augenblick damit verhindert habe.

Der Herausgeber des Kalenders war in seiner Verlegenheit rathsuchend zu meinem Bruder gekommen, dieser hatte sich an das Obercensurcollegium gewendet, und wir hatten nun abzuwarten, was aus der Sache werden würde.

– – »Wenn ich im Winter recht behaglich in meinem Zimmer bin,« sagte Eduard, »und durch die[227] Scheiben blickt so ein kummervolles blasses Frauengesicht zu mir hinein, oder ein Mann, dem das Elend aus allen Zügen spricht, so frage ich mich immer: warum kommt er nicht herein und nimmt mir den warmen Rock, da ich mehrere habe und ihm keinen davon abgebe, obgleich ihn friert? Warum soll denn die Frau mit dem Kaffee, der vor mir dampft, nicht ihre hungernden und frierenden Kinder erquicken, ohne daß sie mich darum fragt, da mich nicht friert und nicht hungert, auch wenn sie mir ihn nimmt? Ich hätte kaum den Muth, Diejenigen des Diebstahls anzuklagen, die der Instinkt der Selbsterhaltung, der heiße Trieb der Mutterliebe zu dem veranlaßt, was uns Verbrechen erscheint. Weil man zu engherzig ist, den Armen auf der Erde zufrieden zu stellen, verweiset man ihn auf den Himmel, wo die Huld Gottes ihm Glück gewähren soll. Und selbst dies Glück wird ihm nur für den Fall verkündet, wenn er den ungeheuren Muth gehabt, all den Versuchungen zu widerstehen, die Noth und Elend über ihn brachten. Wir lassen ihn im Elende, wir schützen ihn nicht vor Verzweiflung, wir thun Nichts, ihn vor Verbrechen zu bewahren, und sind frech genug zu sagen: Gott werde so unerbittlich, der Allweise so kurzsichtig sein, als irdische Justiz, welche den Menschen um Verbrechen bestraft, zu denen die fehlerhafte Einrichtung unserer Gesellschaft ihn fast gezwungen hat.«

In diesen ehrlich gemeinten, wenn auch nicht völlig aufrecht zu erhaltenden Behauptungen, und namentlich in den letzten Anklagen, welche zu erheben man damals noch weit mehr als jetzt Veranlassung hatte, war von dem Obercensurcollegium eine Aufreizung der niedern [228] Stände gegen die höheren, der Armen gegen die Reichen gefunden worden, und ich erhielt nun von dem Verleger des Kalenders einen Brief mit der Bitte, mich auf die Abänderung des Kapitels einzurichten, in welchem die betreffende Unterredung enthalten war, da er sich genöthigt sehen würde, Cartons drucken und die angefochtene Stelle heraus nehmen zu lassen, wenn es nicht gelingen sollte, die Beschlagnahme des Kalenders rückgängig zu machen, wofür mein Bruder sich thätig bemühte.

Daß ich eine solche Aenderung bewerkstelligen müsse, wenn es nicht zu umgehen sei, sah ich natürlich ein, indeß ich wußte nicht recht, wie ich das anzufangen haben würde, denn es ist ein mißliches Ding, um äußerer Rücksichten willen, Aenderungen an einer Arbeit anzubringen, die man als ein Ganzes gedacht, und als ein in sich Abgeschlossenes ausgeführt hat.

In diesem besonderen Falle würde es darauf angekommen sein, einer Unterredung, die sich von ihrem Anfang an, bis zu einer bestimmten Spitze gesteigert und erhoben, eben diese Spitze abzubrechen, und ich hatte, während ich den vorläufigen Versuch dieser Aenderung machte, fortdauernd das lächerliche Bild eines Menschen vor Augen, welcher einen gewaltigen Anlauf nimmt, um vorsichtig über eine Thürschwelle zu steigen. Es schien mir unmöglich, zwei Figuren, in die ich viel Wärme, eine lebhafte Beredtsamkeit und ein gewisses Pathos hinein gelegt, eine ihr ganzes Wesen kennzeichnende Unterredung mit einer gleichgültigen Wendung abschließen zu lassen, denn es kam mir dabei beständig vor, als sträubten die Figuren selber sich dagegen.

[229] Seit ich zu dichten angefangen, hatte ich mir stets nur eine relative und beschränkte Gewalt über die von mir geschaffenen Gestalten zuerkannt, und mir hatte dabei immer Goethe's Zauberlehrling, als ein Bild für das Verhältniß des Dichters zu seinen Geschöpfen vorgeschwebt.

Der Dichter hat die Macht, seine Menschen aus dem Nichts hervorzurufen, er kann sie beschwören, sie an einen bestimmten Platz hinstellen, ihnen eine angemessene Thätigkeit überweisen; aber sind sie erst da, haben sie Gestalt gewonnen, sind sie in Thätigkeit und in Verbindung zu einander getreten, so wird der Meister, der sie schuf, zum Knechte. Sie werden, wenn sie wirklich lebensfähig sind, selbstthätig und aus innerer Nothwendigkeit frei. Es bleibt dem Dichter dann nur das Gewährenlassen, und das Vorbereiten und Zurechtlegen der Umstände, an welchen die erdichteten Personen ihre Individualität zu entwickeln haben, wobei sie denn natürlich auch wieder aus ihrer innern Nothwendigkeit heraus, zu Mitschöpfern und Fortführern der Ereignisse werden.

Man hat mich bei dieser oder jener Wendung in meinen Arbeiten, bei der oder jener Schicksalsgestaltung einer Figur wohl gefragt, warum ich es eben so und nicht etwa anders, warum ich in dem einen Falle die Lösung nicht freundlicher, in dem andern Falle vielleicht nicht strenger gewählt hätte? Ich habe fast niemals eine andere Antwort darauf zu geben vermocht, als meine Ueberzeugung von der folgerechten Nothwendigkeit eben dieses Ausganges; denn die aus dem Charakter der erdichteten Gestalten hervorgehende innere Nothwendigkeit ihres äußern Handelns, ist der Compaß, welcher dem Dichter seinen Weg zum[230] Ziele angiebt. Wo man für ein Dichtwerk eine andere Lösung wünscht, als der Dichter sie hingestellt hat, wo man verlangt, seine Personen möchten so oder anders gehandelt haben, da liegt die Möglichkeit solcher Verlangniß eben nur darin, daß entweder der Leser nicht achtsam genug in das eigentliche Wesen der Dichtung eingegangen ist, was leider nur zu häufig geschieht, oder daß es dem Dichter nicht gelungen ist, den ersten Ursprung und die darauf begründete Entwicklung der betreffenden Gestalt zu einer Einheit verbunden, als einen in sich beruhenden Organismus, in einem wirklich lebensfähigen und in sich berechtigten Individuum hinzustellen.

Die Romanfiguren, die uns nicht so lebendig werden, daß sie uns gelegentlich wie unsere alten Bekannten einfallen, und daß wir uns fragen müssen, wo ist denn der Mensch her? wo bist Du dem Menschen begegnet, der Dir eben jetzt vor die Seele tritt? die sind nicht viel werth. Die Gestaltgebung ist nach meiner Meinung das Erste und das Höchste, worauf es ankommt; und wenn das »Erschaffen« als ein Zeichen der Machtvollkommenheit Gottes hingestellt wird, so ist der Grad des Gestaltungsvermögens sicher auch der Maßstab für die eigentliche Kraft des Dichters.

Mir wurde, um auf meine Kalender-Erzählung zurückzukommen, die Nothwendigkeit einer Abänderung des Dialoges, nach dem Urtheil des Obercensurcollegiums erspart; aber die Erklärung, mit welcher ich diese Gunst erlangte, war mir im Grunde eben so verdrießlich als die Abänderung es mir gewesen sein würde.

Man hatte nämlich nach verschiedenen Verhandlungen [231] das Erscheinen des Kalenders frei gegeben, jedoch mit dem Bemerken, daß man die Angelegenheit nicht weiter verfolgen wolle, weil die Novelle »von einer Frau« geschrieben sei. – Diese Nachricht, die mir von Berlin aus mit großer Genugthuung übermittelt wurde, verdroß mich über alle Maßen, so erwünscht sie mir in Bezug auf den Kalender sein mußte; denn sie berührte eine Frage, die mir seit dem Beginne meiner schriftstellerischen Thätigkeit viel zu schaffen gemacht hatte, eine Frage, in welcher ich mit vielen meiner Bekannten auseinanderging, und über die ich heute, nach einer vieljährigen Erfahrung, noch eben so denke, wie in jenen Tagen.

Es scheint mir nämlich ein Unrecht zu sein, wenn man an die Beurtheilung eines geistigen Produktes einen andern Maaßstab anlegt, als denjenigen, der aus dem Kunstwerk selbst genommen wird, oder wenn man andre Rücksichten auf die Kritik mit einwirken läßt, als solche, welche sich allein an den Werth des Geleisteten und an dessen Wirkung auf Andere beziehen. Es handelt sich, wie mich dünkt, bei einem Kunstprodukt nur um das Geschaffene, und nicht um den Schöpfer; und wo Gutes oder Schlechtes geschrieben oder gemalt worden ist, wird Beides weder besser noch schlechter durch die zufällige persönliche Lebenslage des Autors. Die Kritik eines Kunstwerks soll ein Absolutes und kein Relatives sein, sie soll ein Urtheil über das Kunstwerk und kein Schulzeugniß für den Verfasser oder Verfertiger desselben liefern. Der Schüler, welcher seinem Lehrer und Meister eine Arbeit vorlegt, muß und kann es sich gefallen lassen, wenn dieser ihn im Zusammenhange mit seiner Arbeit [232] in Betracht zieht, und es kann für ihn von Bedeutung sein, wenn der Lehrer es ihm tröstend ausspricht, daß seine Arbeit zwar nicht vollendet, daß sie aber für die Kraft, welche dem Verfasser innewohne, als eine gelungene zu bezeichnen sei. »Nach Kräften gut« ist eine Censur, mit welcher stille, fleißige Seelen sich sehr befriedigt von der Arbeit zum Genuß des Lebens wenden, oder eben so befriedigt zur Ruhe legen können.

Anders aber ist es mit einer Arbeit, welche man der Oeffentlichkeit übergiebt. Es ist das ein Schritt, mit dem Jeder, der ihn thut, sich innerhalb des Bereiches, in welchem er auftritt, als selbstständig und bis zu einem bestimmten Grade als einen Meister und Lehrer hinstellt. Ob diese mehr oder weniger gelungene Arbeit nun von einem Manne oder von einer Frau geleistet wird, ob ein Mann oder eine Frau einen Irrthum ausspricht, eine Wahrheit verkündet, das scheint mir völlig gleichgültig zu sein. Das Publikum und die Kritik haben es mit dem Werke zu thun, und der Irrthum bleibt gleich verwerflich, die Wahrheit gleich beherzigenswerth, das Schöne und Edle bleibt erhebend, das Häßliche und Gemeine verdammenswerth, von wem immer es ausgegangen ist.

In England, Frankreich und Italien erkennt der Volksgeist diesen Grundsatz auch durch die Sprache an. Der Schöpfer eines geistigen Werkes heißt der Autor, welchem Geschlechte er auch angehöre; in Deutschland ist es anders, und die deutsche literarische Kritik ist in diesem Punkte selbst noch hinter dem Volksgeiste unseres Vaterlandes zurückgeblieben. Denn während das Volk sich längst gewöhnt hat, diejenigen deutschen Frauen, welche [233] ihm in ihren Werken ein Anerkennenswerthes darzubieten hatten, zu seinen »Schriftstellern« zu zählen, behandelt die Kritik die weiblichen Dichter in der Mehrzahl mit einer vornehmen Herablassung oder mit einer Art von Galanterie, die beide in meinen Augen eine Kränkung sind, weil sie selbstredend den Gedanken in sich verschließen, für die geringen Fähigkeiten, für die Unbedeutendheit einer Frau sei das Geleistete gut genug, sei das Nichtgelungene zu entschuldigen.

Man sagt mit voller Wahrheit: besser als das Recht sei auch das Beste nicht! So habe ich denn mein Lebelang die Empfindung gehabt, daß es für den weiblichen Schriftsteller nichts Besseres geben könne, als wenn man ihn abstrakt beurtheilt, und ihm, wie jedem andern Schriftsteller, die volle, schwere Verantwortung für sein Werk und dessen Wirkung auferlegt. Denn die Entwicklung eines Menschen kann nur innerhalb einer völligen Gleichberechtigung mit seinen Mitstrebenden eine vollständige werden, und wer über die Reihen der Allgemeinheit erhoben wird, nimmt davon eben so sehr an seiner Entwicklung Schaden, als derjenige, welchen man unter dem Niveau der Allgemeinheit zurückzuhalten strebt. Darum haben auch Fürsten und Frauen eine Masse übler Eigenschaften mit einander gemein, denn sie werden Beide von dem Boden der Allgemeinheit fern gehalten, nach besonderen conventionellen Regeln behandelt und beurtheilt, nach einem besondern Maaßstabe geschätzt, und dadurch endlich gewöhnt, an sich selber nicht jene Ansprüche zu machen, an sich selber nicht die einfachen, ernsten und strengen Forderungen [234] zu stellen, ohne deren Genügung es mit dem Menschen auf keinem Gebiete des Lebens etwas Rechtes wird.

So lange ich denken konnte, hatte es mich zu hören verdrossen, wie diese oder jene Leistung gut genug sei, wenn man bedenke, daß sie von einer Frau herstamme; und ich hatte daher, als ich meine ersten Arbeiten an meinen Vetter Lewald gesendet, dieselben mit einem Männernamen unterzeichnet. Ich hatte mein »Recht« haben wollen, Nichts mehr, Nichts weniger. Meinem Vater hatte diese meine Absicht zugesagt, Lewald hatte aber davon Nichts wissen mögen. So war denn auch mein erster Roman, »Clementine«, ohne alle Bezeichnung, der zweite, »Jenny«, als ein Roman von der Verfasserin der »Clementine« erschienen, und ich hatte die Belustigung genossen, daß man nach dem Erscheinen der »Jenny« diesen Pseudonym, wunderlich genug, als den Versteck eines männlichen Schriftstellers anzusehen beliebte. Wie es mir aber nur eine sehr getheilte Genugthuung gewährte, als Heinrich Laube mir nach dem Bekanntwerden meines Namens, in Bezug auf die »Jenny«, in seinem Blatte das Zugeständniß machte, er freue sich anzuerkennen, daß er der weiblichen Kraft zu wenig zugetraut; so hatte ich auch nur eine sehr gemischte Zufriedenheit darüber, als die Behörde einen für unzulässig gehaltenen Ausspruch durchgehen zu lassen beschloß, weil eine Frau ihn gethan hatte.

Wem man das Gefühl seiner Verantwortlichkeit nimmt, dem nimmt man das Gefühl seiner Bedeutung, und wem man, wie es die Kritik den weiblichen Schriftstellern gegenüber nur zu häufig thut, von vornherein erklärt, [235] daß man ihm nur eine sehr relative und beschränkte Kraft zuerkenne, dem nimmt man den rechten freudigen Ernst des Strebens, den weist man eben auf das Kleinliche hin, das man ihm doch wiederum zum Vorwurf macht. Alles, was ich für den weiblichen Schriftsteller fordere, ist daß man ihn ohne Schonung, aber auch ohne Vorurtheil behandele, daß man von ihm absehen und sich an seine Leistung halten möge; mit einem Worte, daß man den weiblichen Schriftsteller dem männlichen gleich verantwortlich und damit gleichberechtigt an die Seite stelle, was noch lange nicht genug bei uns geschieht. Und so komme ich denn immer wieder darauf zurück, für die Frauen jene Emancipation zu verlangen, die ich in diesen Blättern schon vielfach für uns begehrt: die Emancipation zu ernster Pflichterfüllung, zu ernster Verantwortlichkeit, und damit zu der Gleichberechtigung und Gleichstellung, welche ernste Arbeit unter ernsten Arbeitern dem Einzelnen erwerben muß.

[236]
13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel

In Franzensbad, wo die Gesellschaft wenig Gelegenheit zu unterhaltenden Ausflügen und überhaupt wenig Zerstreuungen hatte, während sie alltäglich ein paar Mal am Brunnen zusammenkam, waren die wenigen Personen, an deren Namen sich irgend eine Bedeutung oder auch nur ein Gedanke anknüpfen ließ, natürlich Gegenstände der Neugier; und da man sich im Ganzen außerordentlich langweilte, machte man sich ein Gewerbe und eine Aufgabe aus dem Geringsten.

»Den Mohren des Baron Koller, den großen Affen der Frau von Obst und den Kronprinzen von Baiern habe ich schon gesehen, nun muß ich noch die Lewald sehen!« hörte ich wörtlich eines Morgens am Brunnen eine Dame mit dem größten Eifer sagen, deren aufgeregtes Wesen mir schon früher aufgefallen war. Ich wußte nun doch, wohin ich den Antheil zu stellen hatte, mit welchem manche Personen mir begegneten; indeß es waren dafür auch andere Leute da, die mir wirklich Neigung bewiesen, und ich würde mich derselben reiner und hingebender erfreut haben, hätten nicht schwere Sorgen um meines jüngsten Bruders Schicksal mir das Herz bedrückt.

Der Verlust, den er lange gefürchtet, hatte ihn getroffen, [237] das Mädchen, an dem seine Seele hing, war, ohne sich verheirathet zu haben, gestorben. Er hatte ihr das Versprechen gegeben, bei ihr auszuharren bis zum letzten Augenblicke, und er hatte das gehalten, er hatte ihr die Augen zugedrückt. Sein Schmerz war groß, der Ausdruck desselben stark und naiv, wie er selbst es bis zu seinem Ende geblieben ist. Mit Camilla's Tode war ihm der Ort, an welchem er sie gekannt und verloren, zu einer völligen Einöde geworden, und es hatten sich seiner eine heftige Unruhe, ein Verlangen nach einem Wechsel bemächtigt, die ihn unstät von einem Vorsatz zu dem andern überschweifen ließen. Er wollte heute mit einem russischen Edelmann als dessen Arzt auf Reisen gehen, morgen Dienste nehmen und die Campagne gegen die Tscherkessen mitmachen. Dann wieder anerkannte er, daß er eine Praxis, eine Geltung in seinem Lebenskreise erlangt habe, welche ohne irgend eine andere entschädigende Aussicht aufzugeben, kein unbedenklicher Entschluß sei, daß er Kenntnisse erworben, in seinem Fache Erfahrungen gemacht, die nur einer weitern Ausbreitung und fortgesetzten Beobachtung bedurften, um für ihn und seine Wissenschaft ersprießlich zu wirken. Und mitten in diesem Wollen und Streben, mitten in dieser Verzagtheit und Verzweiflung, verstrickte er sich plötzlich wieder in ein neues Liebesverhältniß, das ihn vollends mit sich in Zwiespalt brachte, ihm den Sinn verstörte, das Herz zertheilte, und ihm das längere Verweilen an seinem bisherigen Aufenthaltsorte nun als eine völlige Unmöglichkeit erscheinen ließ.

Er verlangte ganz neue Lebensverhältnisse, eine Thätigkeit, die ihm kein Besinnen, keine Zeit zu Erinnerungen [238] übrig ließen, er sehnte sich nach Eindrücken, die ihn von sich selber abwendeten, und er hoffte das Alles im Süden von Rußland zu finden, wo der Krieg gegen die Tscherkessen die Geister in Spannung erhielt, wo eine ihm neue und großartige Natur, fremde Völker und Sitten, fremde Lebensweise, neue Krankheitsformen ihm entgegentreten mußten, und wo Kultur und Unkultur, Tyrannei und Willkür, Gesetz und Zügellosigkeit, einander noch nahe genug standen, um durch ihren Zusammenstoß einem in sich ringenden und mit sich selbst halb zerfallenen Gemüthe reizend und verlockend zu erscheinen.

Wäre er raschen Entschlusses von Brest fortgegangen, und hätte aus dem Süden Nachricht davon gegeben, so würde man sich bald darin gefunden haben, denn die vollendete Thatsache ist eine zwingende Gewalt. Aber da sein ganzes Wesen ein zwiespältiges, seine Natur eine problematische war, so gewann er es nicht über sich, seinen Vorsatz aus eigener Machtvollkommenheit auszuführen. Er forderte die Zustimmung des Vaters für seinen beabsichtigten Schritt, und mein Vater, dessen Bedenken gegen einen Plan, welcher in solcher Verfassung zur Ausführung gebracht werden sollte, nur zu begreiflich waren, wollte von einer weiteren Entfernung seines Sohnes nicht reden hören, sondern verlangte dringend dessen Rückkehr in die Heimath, zu welcher auch wir, nach des Vaters Wunsch und Weisung, den Bruder zu bestimmen suchen sollten.

Wer aber in einem Zustande leidenschaftlicher Verwirrung es nicht nur mit sich selbst, sondern mit der Zärtlichkeit und den Besorgnissen einer großen Familie [239] zu thun hat, ist übel daran, und doppelt übel, wenn jedes Familienmitglied sich nach der alten höchst thörichten und unheilvollen Idee der allgemeinen Gleichheit mitzusprechen herausnimmt. In der That besteht aber eine völlige Gleichberechtigung in den Familien eben so wenig, als sie in irgend einem andern Lebensverhältnisse bestehen kann, da Anlage, Begabung, Entwicklung, Einsicht und geistiges Vermögen überall einen Unterschied erzeugen und bedingen, und so waren es denn auch in unserm Hause natürlich nur der älteste Sohn und ich, mit welchen mein Vater, je nach dem Anlaß, das, was geschehen sollte, zu überlegen und zu berathen pflegte. Indeß, da doch Alles mehr oder weniger zur allgemeinen Besprechung gelangte, so gab es in entscheidenden Krisen für denjenigen, welcher sich in ihnen befand, ein Bitten, Meinen, Vorstellen und Rathen, das den ohnehin Bedrängten, je weicher er war, um so mehr zur Verzweiflung bringen mußte, als gar nichts Vernünftiges zu Stande kommen konnte, wo die Rathenden fünf völlig unerfahrne junge Frauenzimmer waren, auf deren unschuldiger Lebensunkenntniß man sich in allen andern Fällen noch besonders etwas zu Gute that. Es war auch für mich mitunter eine wahre Marter, dieses Meinen und Wünschen der Familie.

Moritz sah sich denn ebenfalls von den Schwestern mit dringenden Abmahnungen, mit zärtlichster Sorge bestürmt. Man beschwor ihn heimzukehren, man hielt ihm vor, daß der Vater die Höhe des Mannesalters überschritten habe, man erinnerte ihn an die Fülle der Liebe, welche ihn im Vaterhause erwartete, und welche die berathenden jungen Mädchen natürlich noch als das höchste [240] Glück erachteten. Sie waren in diesem ihrem guten Glauben um so dringender, je mehr der Vater ihre Ansicht gut hieß, und je weniger sie eine Ahnung davon haben konnten, daß einem mit sich zerfallenen, nach überwältigender Zerstreuung, nach Vergessenheit lechzenden Menschen nichts Unerträglicheres aufgebürdet werden kann, als die friedliche Stille des Familienlebens, als die Aussicht von liebenden Augen und Herzen beobachtet zu werden, und deßhalb streng verbergen zu müssen, was man leidet. Ein Gefängniß und ein Gefangenwärter, der ihn antheillos gewähren läßt, können in gewissen Fällen einem Menschen, im Vergleich zu dem Dasein in einer zärtlichen Familie, als ein Glück erscheinen; denn rücksichtslos für sich zu leben, rücksichtslos leiden zu dürfen, ist unter Verhältnissen wirklich das Einzige, was man nöthig hat, was man begehrt.

»Und schlägt man mir die Räder vom Wagen, so gehe ich zu Fuß,« hatte Moritz nach allen diesen Abmahnungen und Bitten uns endlich einmal geschrieben. »Als man mich überhaupt nach Rußland gehen ließ, hat man Etwas gewollt, und die dazu nothwendigen Bedingungen nicht gewollt. Jetzt weiß ich, was ich will, und werde es ausführen. So leid es mir thut, dem besten Vater so entschieden opponiren und ihm Sorge machen zu müssen, so kann ich doch nicht anders. Ich gehe direkt nach Tiflis. Der erste Brief von dort wird allen diesen Sorgen dann auf einmal den Boden einschlagen, und wieder heiter Wetter in der Familie schaffen.« Wie konnte man den so Entschlossenen halten wollen!

Wir hatten einen schweren Stand! Es galt die Zärtlichkeit [241] der Schwestern, die lebhafte Unruhe meines Vaters zu bekämpfen. Der letztere mußte es einsehen, und hatte es an mir selber eben so erfahren müssen, daß der Lebensweg eines Menschen auch von dem besten Willen seines Vaters nicht zu bestimmen ist, daß auch innerhalb enger, streng aufrecht erhaltener Schranken, schließlich jeder Einzelne die Entwicklung nimmt, welche ihm die gemäße ist, aber – und hier lag die schwache Seite meines Vaters – er mochte es sich nicht eingestehen, daß er in der Leitung und Lebensbestimmung seines zweiten Sohnes von vornherein geirrt, daß er den Charakter dieses Sohnes nicht verstanden, seine eigentliche Natur nicht erkannt, und ihn deßhalb von Anfang an falsch behandelt und geleitet habe. Statt sich zu sagen, daß man diesen jungen Mann gleich Anfangs hätte auf einen Boden verpflanzen müssen, auf dem er seine Natur durch Anstrengungen zu ermüden und damit in das Gleichgewicht zu bringen gehabt hätte, statt sich zu erinnern, wie dringend später der älteste Bruder und ich von der Ansiedelung in dem kleinen Orte abgerathen, wie sehr wir uns dafür erklärt, daß man Moritz im russischen Heere Dienste nehmen lasse, wenn er überhaupt nach Rußland gehen solle, hatte mein Vater auch jetzt nur immer den einen Gedanken, den Sohn in sogenannte ruhige bürgerliche Verhältnisse zurückkehren zu sehen, obschon derselbe fest und wiederholt erklärte, daß er in diesen für den Augenblick nicht auszudauern vermöge.

Junge Leute aus guten und überzärtlichen Familien haben es in solchen Fällen schwer. Sie gelangen nur selten zu einer ihnen gemäßen freien Entwicklung, weil man für sie die Möglichkeit der Gefahr zu sehr in's Auge [242] faßt; sie bringen es nicht leicht zu etwas Tüchtigem, weil sie eben durch die Vorsorge der Ihrigen nicht in die Lage kommen, ihre wahren Kräfte kennen und brauchen zu lernen. Ich hielt meinem Vater in diesem Sinne das Register der Personen vor, mit welchen ich in den letzten Jahren in Berlin bekannt geworden war, und die sich in den schwierigsten Lebenslagen in fernen Welttheilen bewegt hatten, ohne deßhalb unterzugehen. Wir gaben ihm zu bedenken, daß der Arzt am Krankenbette alltäglich sein Leben einzusetzen habe, wir verlangten endlich für den Bruder nur eine bedingte Freiheit, er sollte, sofern der Vater dies begehrte, das Versprechen geben, binnen Jahresfrist zurückzukehren, nachdem er Südrußland, den Kaukasus, Grusien und Persien gesehen haben würde, wohin er sich zu wenden beabsichtigte – und nach langem Schreiben und Verhandeln willigte denn mein Vater endlich darin ein. Aber er war so niedergebeugt von der Aussicht, Moritz einen ihm fremden und neuen Weg einschlagen zu lassen, er war so verstimmt darüber, seine Meinung, seinen Willen und seine Wünsche von seinen ältesten Kindern nicht getheilt, ja bestritten und besiegt zu sehen, daß diese Gebeugtheit, ohne daß er es beabsichtigte, aus jedem seiner Briefe zu lesen war.

Zum ersten Male sprach er davon im Tone der Resignation, daß er wohl fühle, wie das Alter sich ihm nahe, wie die jüngere Generation über ihn hinauszuwachsen scheine, zum ersten Male brauchte er die Wendung: »Da Ihr das besser zu verstehen scheint, als ich,« und ich hatte dieser Klage gegenüber nur das eine Verlangen, sobald als möglich Franzensbad zu verlassen, und [243] zu meinem Vater zu eilen, um ihm mit meiner Gegenwart Ersatz für die weitere Entfernung des Sohnes, und in meiner Heiterkeit und Zufriedenheit ein Gegengewicht für die Sorge zu bieten, welche ihn bekümmerte.

Wir wurden jedoch bis in die ersten Tage des September in Franzensbad festgehalten, und sahen eine ganze Gallerie von Kurgästen an uns vorüber ziehen. Wer genöthigt ist, lange in einem Badeorte zu verweilen, bekommt eine allegorische Vorstellung von dem Lebenslauf des Menschen. Wie man in seiner Jugend unter fertigen Menschen fremd und unbekannt in das Leben eintritt, so erscheint man in einem Badeorte in dem Kreise derjenigen, welche sich dort bereits festgesetzt und eingebürgert haben. Man erregt und empfindet Neugier, man hat mancherlei kennen zu lernen, man gewinnt Theilnahme, faßt Neigung, reiht sich in das Leben der Anwesenden ein, und kaum daß man sich zu ihnen zählen kann, kaum daß man sich ihnen verbunden hat, so gehen diejenigen fort, auf welche wir uns gestützt; und wir werden die herrschende Generation. Neue Ankömmlinge nähern sich uns jetzt, wir sind die Wissenden, die Alten; aber nur zu bald müssen wir fühlen, daß unsere Zeit sich ihrem Ende naht, denn wir haben allmählig von denen zu scheiden, die mit uns zusammen in die Reihen traten. Wir bemerken, wie der Kreis der Freunde, der Zeitgenossen um uns her sich lichtet, und trotz des Schmerzes über die täglichen Verluste können wir es nicht lassen, die Generation unserer Nachfolger an uns heranzuziehen, und ein neues Zusammenleben mit ihnen zu beginnen. So kommt es denn, daß, wenn nun endlich die Stunde des Scheidens für [244] uns selber schlägt, und alle unsere Zeitgenossen von uns hinweg gegangen sind, wir doch wieder vor schmerzlichen Trennungen und schwerem Losreißen stehen, und daß wir die Kette von Liebe und Leid, welche die Menschheit an einander fesselt, in unsern letzten Stunden als eine unendliche, die Vergangenheit mit der Zukunft verbindende, kennen lernen.

Zu solchen Betrachtungen boten aber grade die letzten Tage, welche wir in Franzensbad verlebten, kaum die Ruhe dar. Ein Theil unserer preußischen Landsleute war durch den Mordversuch, welchen der Bürgermeister Tschech eben damals gegen den König Friedrich Wilhelm den Vierten unternommen hatte, erschreckt und in Spannung und Aufregung versetzt worden, und die Böhmen und Oesterreicher hatten ihrerseits noch größere Befürchtungen und Sorgen. Durch mündliche und briefliche Mittheilungen erhielt man fortwährend die Kunde von Unruhen in Prag, die mehr oder weniger lebhaft schon seit Wochen dort herrschen sollten, und deren erste Veranlassung man aus all den Berichten doch nicht recht ersehen konnte. In den Zeitungen war davon nicht viel zu finden. Sie meldeten von leichten Zusammenrottungen, welche von der Polizei ohne Mühe zerstreut worden seien, aber was man von Augenzeugen erfuhr, lautete anders.

Noch als wir in Teplitz gewesen waren, hatten sich einige Familien aus Prag dorthin geflüchtet. Sie waren durch den Tod eines Kindes erschreckt worden, das mitten in einem Zimmer auf dem Arm seiner Wärterin erschossen worden war, und sie wußten von ernsten Straßenkämpfen und von manchem Verlust an Menschenleben zu erzählen. Die [245] Einen sprachen von der großen Noth in den arbeitenden Ständen, die Andern von panslavistischen Umtrieben und allgemeiner Unzufriedenheit mit der österreichischen Regierung, und wieder Andre behaupteten, der Judenhaß, oder gar der Widerwille gegen die Protestanten hätte die erste Veranlassung zu der Aufregung gegeben, die sich noch in immer neuen, wenn schon geringern Störungen der öffentlichen Ruhe kund gab und fortsetzte.

Hörte man diese Erzählungen und sah man zugleich die grenzenlose Armuth der Weiber in einzelnen Dörfern, sah man die Schaaren von Bettlern und Krüppeln, welche in denselben unsere Wagen umringten, und traf man daneben mit Personen aus der Wiener Gesellschaft oder gar mit katholischen Geistlichen zusammen, welche in dem Lande Alles auf das Beste fanden, so wurde man ein solches Durcheinander von Meinungen und Ansichten, einen so entschiedenen Haß zwischen den entgegengesetzten Nationalitäten, Confessionen und Parteien gewahr, daß man sich in ferne Zeiten zurückversetzt glauben, und es sich mit Freuden eingestehen mußte, wie der Geist des Protestantismus in Preußen und in Norddeutschland aufklärend und vermenschlichend, das heißt zur Duldsamkeit mahnend, gewirkt hatte. Denn wie lebhaft der Kampf der katholischen Bischöfe gegen die preußische Regierung auch eben in jener Epoche gewesen war, zum Religionshasse hatte er die verschiedenen Bekenntnisse in Preußen doch nur in den seltensten Fällen aufregen können, und in den großen Städten, dünkt mich, wäre es um religiöser Meinungsverschiedenheit willen nie zu irgend einem thatsächlichen Zeichen feindlicher Gesinnungen gekommen.

[246] In der Franzensbader Gesellschaft, unter den Kranken und Hülfesuchenden, denen die ungestörte Ruhe ihrer Kur die Hauptsache war, hatte sich durch die Nachrichten von den Unruhen ein gewisser Widerwille gegen Prag festgesetzt, und es gab viele Personen, welche es uns widerriethen, uns unnöthig dort hinzuwenden. Ich hatte aber meinen Sinn einmal darauf gestellt, und verließ mich auf das gute Glück, das mir auf Reisen meist zur Seite gestanden. Herzlich froh, die Kur meiner Schwester mit guten Aussichten beendigt zu haben und, nach dem dreizehnwöchentlichen Aufenthalte in zwei Badeorten, endlich wieder in das Gebiet des gesunden Lebens zurückkehren zu können, packte ich an einem Abende unsere Koffer, als ich durch ein junges Mädchen aus einer der armen Baumwollenweber-Familien noch eine mir sehr heilsame Lehre erhielt.

Es war ein hübsches Kind von etwa vierzehn Jahren, das mir einige Ellen eines gestreiften Baumwollenzeuges zum Kaufe anbot. Der Stoff war für mich völlig unbrauchbar, und obenein unverarbeitet nicht ohne Steuer über die Grenze mitzunehmen. Ich lehnte deßhalb den Kauf ab. Die Kleine wiederholte mir ihre Bitte mit dem einfachen Zusatz: »Wir sind sehr arm!« der in ihrem Munde das Gepräge entschiedener und rührender Wahrheit empfing.

Ich fragte nach ihren Verhältnissen. Sie erzählte, der Vater läge seit Monaten am Wechselfieber darnieder, die Mutter habe an seiner Statt gearbeitet, und sie, die Kleine, habe die Geschäfte der Mutter und die sechs noch jüngeren Geschwister versorgt. Nun sei die Mutter seit [247] einiger Zeit auch erkrankt. Der Arzt sage, ohne Medizin werde sie sterben, und der Vater sei also aufgestanden, habe das Zeug, so weit es fertig gewesen, vom Webestuhl geschnitten, und sie nach Franzensbad geschickt, es zu verkaufen. Sie sei nie vorher in Franzensbad gewesen, und seit dem Morgen hier, ohne ihre Waare losschlagen zu können.

Dabei hatte das arme Kind die schönen Augen voll von Thränen, und jenes Wesen stillen Leides, das nie lügt. Ich fragte die Kleine, ob sie Etwas gegessen habe? Man hatte ihr Brod von Hause mitgegeben. So ließ ich sie denn Etwas genießen, gab ihr danach, gewiß mit allem guten Willen, soviel als sie für das Zeug verlangte, und sagte ihr, sie möge den Stoff nur mit nach Hause tragen, oder anderweit zu verkaufen suchen, weil ich ihn wirklich nicht gut mit mir nehmen könne.

Da ward das Kind glühend roth, streckte die Hand verlangend nach dem Silbergelde aus, zog sie aber, als begehe es ein Unrecht, sogleich wieder zurück, und sagte mit gepreßter Stimme: »Ach nehmen Sie doch das Zeug, wir sollen nicht betteln.«

Nie in meinem Leben habe ich mich vor einem Armen so gedemüthigt und so beschämt gefühlt, wie vor diesem Kinde! Kein Maler kann sie darstellen, keine Schauspielerin sie wiedergeben die erschütternde Weise, in welcher die Kleine die Noth und das gekränkte Selbstgefühl der Armuth repräsentirte. Und ich hatte dagestanden und geglaubt, das Rechte und alles Nöthige gethan zu haben, als ich großmüthig einige Zwanziger opferte, die ich eben so leicht für ein nutzloses Band oder für ein noch viel [248] nutzloseres Porzellanpüppchen fortgeworfen hätte, wäre mir der Einfall gekommen, dergleichen besitzen zu wollen. Wir sind aber durchschnittlich die rohe Wohlthätigkeit so sehr gewohnt, daß wir sie kaum noch als eine solche empfinden, wenn nicht irgend ein Zufall uns einmal unser Thun in seinem rechten Lichte erblicken macht.

Ich nahm denn das Zeug und beruhigte die Kleine. Als sie darauf sehr zufrieden ihr Geld einsteckte, fragte ich, ob ich ihr das Zeug zu einem Rocke schenken solle? Sie schüttelte ablehnend den Kopf, aber sie war nun doch zutraulich geworden. Ich zeigte ihr also meine und meiner Schwester Kleider, die zum Verpacken auf den Stühlen umherlagen, erzählte ihr, daß die Schwester auch krank gewesen sei, und wir sehr viel Geld ausgegeben hätten, sie gesund zu machen; und nun fragten wir sie, ob ihre kleinen Schwestern denn ordentliche Kleider hätten? Das verneinte sie. »Weißt Du was,« sagte ich nun endlich, »laufe schnell nach Hause, bringe Deiner Mutter das Geld zur Medizin, und sage ihr, ich hätte Kleider die Menge, sie solle von dem Zeug Kleider für die Jüngsten machen!«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie wurde abermals, aber vor Freude roth, und machte sich nun augenblicklich auf den Weg. Und gewiß, das wenige Geld, das ich der armen Familie gab, war dieser nicht nöthiger, als mir die gute Lehre, wie man Niemand zwingen solle, eine Wohlthat anzunehmen, dem man einen ehrlichen Verdienst zuwenden kann.

[249]
14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel

Ich hatte mir die größten Vorstellungen von Prag gemacht, und erwartete, je weiter wir uns von Franzensbad entfernten, immer lebhafter unsere Ankunft.

Aber wir fuhren und fuhren, wir sahen Burgen, Klöster, Schlösser, Fabriken, Städte in dem schönen Böhmerlande, nur Prag wollte nicht kommen, und mit der Ungeduld eines Kindes fragte ich den Kondukteur fortwährend: »was ist dies? was jenes?« Umsonst! es war immer noch nicht Prag.

Endlich fuhren wir wieder bergan! »Was ist das für ein Berg?« rief ich. – »Der weiße Berg!« antwortete er mir.

Da waren wir am Ziele!

Hier hatten die Hussiten gelagert, hier war die Schlacht geschlagen! Jeder Schritt vorwärts rollte mit der Erinnerung an eine Thatsache ein Stück Vergangenheit vor mir auf. Und es ist nicht allein die allgemeine historische Vergangenheit, welche uns bei dem ersten Anblick einer solchen Stadt hell leuchtend entgegentritt; auch die eigne Vergangenheit wird uns von ihrem Wiederschein lebendig und verklärt.

Wie oft hatte ich an Prag gedacht, wenn mich als[250] Kind die mährchenhafte Königin Libussa beschäftigte; wie kalt war es gewesen, als ich in den Nächten, heimlich in meiner Hinterstube, die Van der Velde'schen Romane las, und die stolze Amazone mit ihren Mägden, deren böhmische Namen einen großen Wohlklang für mich hatten, meine Phantasie erregten! – Ich sah die Schulstube wieder vor mir, in welcher ich von den Hussitenkriegen hatte sprechen hören, ich erinnerte mich deutlich des Tages und der Stunde, in welcher Herr Neumann uns erzählt, wie man Slavata und Martinitz zum Fenster hinaus gestürzt hatte, und eines andern Tages, an welchem der Sieg der Preußen bei Prag mein junges Herz mit Stolz geschwellt. Nun war ich an der Stätte, an der meine Gedanken so oft geweilt hatten, nun sollte ich sie sehen!

Das Leben auf der Straße nahm zu. Kärrner kehrten vom Markte heim, einzelne Städter gingen an uns vorüber, Equipagen flogen mit geputzten Damen dahin. Wir befanden uns ganz offenbar in der Nähe einer großen Stadt, voll alltäglichen modernen Lebens, aber das war es nicht, was meine Theilnahme erregte, nicht was ich suchte. Da fesselte plötzlich ein großes Gebäude meine Aufmerksamkeit, und ein Mann, der neben mir saß, sagte gleichmüthig: »Das ist das Czerniner Haus auf dem Hradschin!«

Der Hradschin! – dies eine Wort, und Wallenstein und Schiller stiegen wieder vor meinem Blicke auf.

Es war ein Morgen voll lebendiger Eindrücke, und die wenigen Tage, welche wir in Prag verweilten, thaten es mir dar, was eine Stadt in ihrem Alter und in einer bedeutenden Vergangenheit vor den neu entstandenen [251] Städten voraus hat. Das Langbegründete, das Festbestehende, ich möchte sagen das Ursprüngliche, das allem Wechsel und Wandel der Zeiten Trotz geboten, und selbst durch den Wandel der Dinge nur gewonnen hat, übt eine zugleich anregende und beruhigende Wirkung auf uns aus. Wir sehen die Vergänglichkeit des Menschen weniger trübe an, wenn wir bestehend finden, was er geleistet, wenn wir sein Andenken an das von ihm Geschaffene geknüpft und mit demselben, weit über seine eigene Dauer hinaus, fortgetragen finden; und wir gelangen auf diese Weise dahin, selbst den einzelnen, in der Menge verlorenen Arbeiter, als einen Mitbegründer und Mitschöpfer an dem erhabenen Werke zu betrachten, das wir als die Weltgeschichte bezeichnen.

Wir besahen Kirchen, Klöster, Schlösser, es war mir noch Alles neu, aber den bedeutendsten Eindruck machte mir die Stadt als solche. Es liegt etwas Aristokratisches, etwas Mächtiges in ihr. Die großen, festen Häuser der alten Familien, die sich den Bau Etwas haben kosten lassen, weil sie des Glaubens bauten, den Besitz auf weite Zeit hinaus ihrem Geschlechte erhalten zu sehen, nahmen sich gebieterisch aus, und ließen die neue Zeit so ruhig an sich vorüber gleiten. Daneben reichte der wunderbare alte Judenkirchhof in eine graue Vorzeit zurück; ganze Reihen geheimnißvoller Mythen und Legenden schienen aus den bemoosten Steinen der eingesunkenen Gräber hervorzusteigen, und wie ein Quell aus tiefer Bergesnacht brach aus den dunklen Hallen der uralten unterirdischen Synagoge für mich die Poesie hervor, welche sich an die Geschichte des Volkes knüpft, in dem ich geboren [252] worden war. Wenn das Judenthum den Kultus der Heiligen und Märtyrer hätte, den der Katholizismus in sich aufgerichtet hat, welche unabsehbare Reihe von Martyrien würde es aufzuzählen haben.

Wir verließen Prag am dritten Nachmittage nach unserer Ankunft, und ich nahm eigenes Gefährt, um in Melnick an der Elbe zu übernachten, von wo wir am Morgen mit dem Dampfschiff nach Dresden fahren wollten. Diese Tour durch das Land erquickte mich über alle Maßen, und meine Freude an meiner Selbstständigkeit und Freiheit war bei dieser ersten Reise, welche ich auf eigene Kosten und nach eigener Neigung und Bestimmung machte, so groß, meine Heiterkeit dadurch so dauernd, daß wir Beide, ich und meine Schwester, uns dieser Reisetage als einer Zeit des reinsten Glückes noch heute zu erinnern lieben. Ich weiß nicht, ob in allen Menschen und namentlich in andern Frauen das Bedürfniß nach Unabhängigkeit und nach persönlicher Freiheit ein so unabweisliches ist, als in mir; ich weiß aber, daß für mich kein belebender Gedanke, keine Arbeit, kein Schaffen, kein Gehorchen, keine Unterordnung, ja kein Lieben möglich ist, wo ich mich nicht frei und selbstständig empfinde; und was wollen Gehorsam und Hingebung und Liebe auch bedeuten, wenn sie nicht in jedem Augenblicke und in jedem besondern Falle ein Zeichen freier Neigung sind?

Nie im Leben war mir vorher die Natur so schön, die Luft so erquickend, der Sonnenuntergang so glorreich erschienen, als an dem Abende, dessen ich eben gedachte. Die Zweige der Weidenbäume neigten sich, als wir am [253] Ufer der Elbe entlang fuhren, ganz anders als je zuvor, in das Wasser, die Vögel zogen freudiger durch die Luft. Sie kamen mir in ihrem sichern Schweben, in der raschen Entscheidung ihres Willens, in ihrem lebendig bewegten Auf und Nieder, Hin und Wieder, als die Sinnbilder der Freiheit, als die glücklichsten unter allen Geschöpfen vor. Niederschießen aus der blauen Höhe, sich hinab senken auf das Wasser, die Flügel netzen im raschen Fluge, emporrauschen bis zu den rothglühenden goldgesäumten Wolken, unter dem Wald von Bäumen, unter den Millionen von Zweigen den Zweig auswählen für die Rast, das wäre mir beneidenswerth erschienen, hätte ich mich nicht selbst so glücklich gefühlt.

Jahre der Krankheit, des Leidens, des Kummers und des Grames, Jahre geistiger und materieller Gebundenheit lagen hinter mir, und in dem schönen Uebermuth der Jugend – denn man ist immer jung, wenn man voll Hoffnung ein neues Leben beginnt – nahm ich mir vor, sie gänzlich zu vergessen. Ich hatte noch nicht die Kraft gewonnen, mein ganzes Eigenthum – und die Erinnerung an redlich durchkämpfte Leidensjahre gehört zu den kostbarsten Besitzthümern des Menschen – mit mir herumzutragen und in mir zu verwerthen. Tausend neue Vorstellungen, tausend frische, kräftige Gedanken waren in mir rege. Ich war in der That stolz auf das Wohlbefinden, das mir durch alle Adern strömte, und bei all dem Guten, das ich genoß, bei all dem Entzücken, das ich empfand, sagte ich mir innerlich immerfort und zuversichtlich: das ist Alles nur der Anfang! das wird Alles noch viel besser kommen! Ich wünschte mir meinen [254] Vater und die Geschwister und alle meine Lieben herbei, um ihnen zu sagen, welche Freude ich am Leben fände, wie wohl es mir auf Erden sei. Ich hätte es so gern geglaubt, daß unsere Mutter aus der Höhe sehen könne, wie wir dahin fuhren, ihre Else und ich, und wie wir es so gut hatten, neben einander; besser als sie selbst es je gehabt!

Am Morgen auf dem Dampfschiff war es erst recht ein fröhliches Sein!

Das Schiff war bunt beflaggt, Kränze und Guirlanden ließen sich sehen; unter den Russen, Engländern und Franzosen, die hier durch einander wälschten, machten sich Gruppen von Männern bemerkbar, die nicht zu Jenen gehörten. Einer und der Andre hatte einen grünen frischen Zweig am Hute, Einen und den Andern erkannte ich.

Es waren Architekten. Sie kamen von der Versammlung, welche eben in Prag abgehalten worden war. Der geistreiche Baumeister Hitzig, damals noch sehr jung, und mit seinem feinen Kopfe das Idealbild der Düsseldorfer Malerschule, sein Schwager Franz Kugler, Professor Strack und Oberbaurath Stieler aus Berlin, der alte Professor Heidloff aus Nürnberg, und eine Reihe anderer ausgezeichneter Künstler waren auf dem Schiff beisammen, und wurden mir von Hitzig, den ich näher kannte, vorgestellt. Alt und Jung zeichnete einander, Portraits und Carrikaturen wechselten mit einander ab, man machte Verse, erzählte die Erlebnisse in Prag. Der Eine sang ein Volkslied, das sich aus den Zeiten des siebenjährigen [255] Krieges noch erhalten hatte, und das in der Uebersetzung also lautete:


Schlimm! Mütterchen, schlimm!
Die Brandenburger sind hier.
Sie tragen große Mützen,
Stehlen unsre Hühner;
Schlimm! Mütterchen, schlimm!

Der Andere gab ein altes Hussitenlied zum Besten, während das Schiff pfeilschnell durch das schöne Böhmerland dahinflog, und die alten Hussiten-Thürme mit ihren kelchförmigen Kuppeln noch keck gegen die Zerstörung protestirend, zu uns herniederschauten.

Fröhliche Scherze und heitre Lieder gingen von Mund zu Mund. Wie Raketen flogen die tollsten Einfälle empor, und ich fand mich zum ersten Male in einem Kreis von Künstlern, die mich als ihren Genossen betrachteten. Ich war, ich galt den Männern Etwas, ich begegnete einem Wohlwollen und günstigen Voraussetzungen, ohne daß ich den Einzelnen Etwas geleistet hatte. Die Erfahrung war mir immer wieder neu, immer eine Wohlthat. Die letzten wunden Stellen meiner Seele vernarbten vor dieser Gewißheit.

Gegen den Abend hin, als wir auf dem Deck umherwanderten, zeigte mir einer der Architekten einen schönen jungen Mann. Er trug einen schwarzen Sammetrock, saß unweit vom Steuerrade und sah mit heiterm Blick in die Ferne hinaus. Sein Auge war lebhaft, sein reiches Haar von hellem Braun, und das ganze jugendlich edle Gesicht voll glücklicher Sorglosigkeit. »Das ist ein junger österreichischer Dichter,« sagte mir mein Gefährte. [256] »Wie heißt er?« fragte ich. »Moritz Hartmann!« gab man mir zur Antwort.

Ich hatte den Namen noch nie gehört, und ich konnte nicht ahnen, daß ich in dem fremden jungen Manne einen meiner künftigen Freunde und einen treuen Genossen für manche spätere Lebensstunde vor mir hätte.

Einige der Berliner Architekten schlossen sich uns für die nächsten Tage in Dresden an. Ich hatte den Vortheil, in ihrer Begleitung die Dresdner Gallerien zu sehen, und nach einer Abwesenheit von einigen Monaten kehrte ich, froh, gesund und mit einer Fülle schöner Erinnerungen bereichert, nach Berlin zurück, um so bald als möglich zu meinem Vater und an meine Arbeit zu gehen.

Indeß eine Menge von nothwendigen Geschäften und von überflüssigen Besorgungen, die mir von Hause wieder aufgegeben wurden, nöthigten mich in Berlin zu verweilen, und als ich nun dort wieder festen Fuß gefaßt hatte, wollten meine Freunde und meine in Berlin lebenden Geschwister von einer längeren Rückkehr in das Vaterhaus für mich Nichts wissen. Ich sollte auf vierzehn Tage, auf drei Wochen nach Hause gehen, ich sollte vorläufig noch in Berlin bleiben, wo für die Absichten meines jüngeren Bruders mancherlei zu thun war, und als schließlich sich gar kein anderer Grund für einen verlängerten Aufenthalt in Berlin auffinden ließ, überredeten sie mich, um mich von Tag zu Tag fest zu halten, verschiedene Excerpten und Notizen aus medizinischen Journalen zu machen, welche Moritz zu haben wünschte. Dieser hatte nämlich den Plan gefaßt, bei der nächsten [257] Cholera-Epidemie, und die Cholera kehrte damals noch häufiger wieder, als es glücklicher Weise jetzt der Fall ist, der Krankheit wo möglich von ihrem Ausgangspunkte im Osten bis an das Atlantische Meer zu folgen, um den Wechsel und die verschiedenen Formen und Stärkengrade zu beobachten, unter denen sie auf ihrem Wege auftrat, und er hatte sich, als er Brest verließ, und nach Tiflis reiste, an die preußische und russische Regierung gewendet, ihnen sein Vorhaben auseinandergesetzt, und auf die Empfehlung einiger seiner frühern Universitätslehrer gestützt, ihren Beistand für die Ausführung seines Planes nachgesucht.

Das gab nun dem ältesten Bruder Schreibereien aller Art an Behörden und Personen, die ich kopirte, aber diese Besorgungen und Leistungen nahmen nur einen kleinen Theil meiner Tage in Anspruch, und ich hatte daher volle Muße, die mir befreundeten Personen wieder zu begrüßen.

Sie rühmten Alle mein gutes Aussehen, Alle fanden sie mich erfrischt an Leib und Geist. »Was hast Du mit Dir angefangen?« fragte mich Frau Bloch, »Du siehst aus, als hättest Du zehn Jahre von Dir abgeschüttelt.« – »Ich habe Nichts von mir geworfen, aber ich habe Etwas gefunden,« entgegnete ich. – »Und was ist das?« – »Ich habe gefunden, daß ich alle Bedingungen zur Zufriedenheit besitze, und daß es ganz in meiner Macht liegt, mich sehr glücklich zu fühlen!« antwortete ich ihr heiter. Sie sah mich mit dem Lorgnon an, das sie selbst im Zimmer zu brauchen pflegte, wenn sie Etwas genau beobachten wollte, und sagte mit großer Herzlichkeit: [258] »Vergiß das doch nicht, wenn es Dir einmal wieder nicht nach Wunsch gehen sollte!«

Ich habe an diese Worte in spätern Jahren oftmals zu denken Gelegenheit gehabt, und man könnte sie fast einem Jeden zurufen, denn Jeder hat in seinem Leben wohl einmal die Empfindung voller Zufriedenheit gehegt, und in derselben die Vorzüge gerecht gewürdigt, welche er als einen unverlierbaren Besitz in sich zu bezeichnen hat: mag derselbe in Anlagen des Geistes oder des Gemüths, oder in irgend einem andern ihm innewohnenden Guten bestehen. Und wenn der italienische Dichter mit seinem Ausspruch recht hat, daß die Erinnerung an glückliche Tage im Leiden eine Steigerung des Schmerzes ist, so ist diese Rückerinnerung doch wieder auch der einzige vorhaltige Trost, und das Goethesche »ich besaß es doch einmal« ist nicht weniger wahr, und ohne alle Frage aus einer milderen Seele und aus tieferer Weisheit hervorgegangen, als das Wort des Italieners.

Ich fand meine sämmtlichen Bekannten, und namentlich die ältern Personen beinahe alle in Berlin beisammen, denn man betrachtete es achtzehnhundert vierundvierzig durchaus noch nicht als eine Nothwendigkeit, alljährig den Ort zu wechseln und Berlin zu verlassen, um eine Weile in frischer Luft zu athmen und unter veränderten Verhältnissen zu leben. Allerdings war das Herauskommen aus der Stadt in das Freie damals auch noch viel leichter als jetzt, wo die neuen Stadttheile sich weit über das Gebiet hinaus erstrecken, das vor fünfzehn Jahren noch von Gärten und Kornfeldern eingenommen wurde. Man hatte daher damals in Berlin zur Sommerzeit [259] noch nicht jenes Gefühl der Vereinsamung, des Uebriggebliebenseins, wie Kinder es hegen, wenn sie zu einer Spazierpartie nicht mitgenommen worden sind; und man konnte auch im Sommer Besuche machen gehen, ohne überall verhängte Fenster, eingepackte Möbel und verschlossene Thüren zu finden.

Eine der ersten von meinen Bekannten, bei der ich vorsprach, war Frau Caroline von Woltmann, weil ich ihr Grüße von gemeinsamen Bekannten auszurichten hatte. Ich traf sie wie fast immer an ihrem Schreibtisch. Sie wohnte in der Dorotheenstraße, in dem hohen Parterre des Hauses, hinter welchem sich die große Seeger'sche Reitbahn befindet, und das eben deßhalb etwas sehr Unruhiges und Unwirthliches hat. Unwirthlich erschienen mir immer auch die beiden Stuben, in welchen Frau von Woltmann sich aufhielt. Sie war eine Dame von mehr als sechszig Jahren, und Gestalt und Gesicht zeigten, daß ihr Aeußeres angenehm gewesen sein mußte. Auch nannten ihre Zeitgenossen sie als eine eben so hübsche als geistreiche Frau, nur über ihr Wesen hörte man die entgegengesetztesten Urtheile aussprechen. Einer ihrer Jugendbekannten schilderte sie als eine unruhige, stets nach neuen Eindrücken begierige Frau, und liebte es zu erzählen, wie Frau Caroline sich in Abwesenheit ihres ersten Mannes, des Kriegsraths Carl Müchler, aus dessen im Thiergarten belegener Wohnung entfernt habe, um damit ihre Scheidung einzuleiten, und ihre Verbindung mit Herrn von Woltmann vorzubereiten. Andere rühmten dagegen mit höchster Wärme die Treue, welche sie ihren Freunden bewährte, und die große, aufopfernde und nicht [260] zu ermüdende Hingebung, die sie ihrem zweiten Gatten in den schwierigsten Lebenslagen bis an seinen Tod bewiesen hätte.

Ich war ihr in einem befreundeten Hause vorgestellt worden, und ihre erste Anrede hatte für mich etwas Auffallendes und Ueberraschendes gehabt. »Ich beneide Sie recht darum,« hatte sie nach den Worten der ersten Begrüßung zu mir gesagt, »daß Sie eine Jüdin, und daß Sie also gleich mit gesunder Vernunft auf die Welt gekommen sind. Wir Andern brauchen fünfzehn Jahre, um den Wust in unsere Köpfe zu bringen, den man Glauben nennt, und fünfzehn andere Jahre, um ihn, wenn wir Glück haben, gründlich aus uns herauszubringen. Das ist ein ungeheurer Zeitverlust, der sich gar nicht wieder ersetzen läßt!«

Die Aeußerung, so richtig sie mir erschien, war doch so ungewöhnlich, und dabei für eine Frau in vorgerückten Jahren, die ich nothwendig in ganz entgegengesetzten Traditionen aufgewachsen glauben mußte, denn sie gehörte durch ihre Geburt einer sehr angesehenen Beamtenfamilie an, so stark ausgedrückt, daß sie mir gesucht und gewaltsam dünkte. Dazu kam, daß ich ein gewisses Mißtrauen gegen die Personen hegte und noch hege, die es für nöthig halten, sich gleich bei den ersten Berührungen mit Fremden als geistreich oder als irgend etwas Besonderes kund zu geben. Es ist das eben so unheimlich für mich, wie das Beschwören einer Thatsache, deren Wahrheit zu bezweifeln man nicht geneigt gewesen ist; und wie man bei einem schwörenden Menschen unwillkürlich daran denkt, daß er wohl zuweilen lügen müsse, [261] weil er es nöthig finde, die Wahrheit so besonders zu erhärten, so hatte ich Frau von Woltmann gegenüber die Empfindung, daß sie entweder erst neuerdings von ihren Vorurtheilen gegen die Juden zurückgekommen sei, oder daß sie sich eben erst von den Dogmen losgesagt haben möchte, welche sie so rückhaltlos gegen eine Fremde preisgab.

Man sagte mir jedoch, als ich diese Ansicht aussprach, daß ich mich in beiden Voraussetzungen getäuscht hätte, und ich lernte das später selbst einsehen. Indeß der erste Eindruck ließ sich nicht ganz verwischen, und so oft ich Frau von Woltmann wieder sah, fielen mir eine gewisse Herbigkeit, eine gewisse Gewaltsamkeit in ihrem Wesen auf. Sie kam mir nie recht wie eine Frau vor, obschon sie weder in ihrem Aeußern noch in ihrer Stimme etwas Männliches hatte; und damit ich es mit dem Ausdruck nenne, mit welchem ich es für mich selber bezeichnete, sie machte auf mich stets den Eindruck eines in seinen Studien und Gedanken aufgegangenen Sonderlings.

Als ich sie kennen lernte, hatte ich von ihren Schriften Nichts gelesen. Die zwei Bände von ihren Novellen, welche sie mir dann borgte, zogen mich nicht wesentlich an, obschon sie vortrefflich geschrieben waren, und sie selber legte in jener Zeit durchaus keinen Werth auf diesen Theil ihrer Arbeiten. Sie war auf philosophische Betrachtungen und Studien gerathen, sprach mit mir, wenn ich sie allein traf, nur von philosophischen Doktrinen und Spekulationen, und war sicherlich in bester Absicht bemüht, mir den gleichen Weg für meine Thätigkeit vorzuschlagen.

[262] Sie lebte, so viel ich weiß, von einem geringen Einkommen und hatte, was mir für eine Frau von mehr als sechszig Jahren sehr beklagenswerth erschien, keine Bedienung. Was sie bedurfte, besorgte eine Aufwärterin, und da man sie von Seiten ihrer Verwandten nicht gern allein wissen wollte, so hatte sie, »weil ein Frauenzimmer ihr nur eine Last und eine Langweile sein würde«, einem armen jungen Studenten ein kleines Stübchen bei sich eingeräumt. Unglücklicher Weise hieß derselbe Strumpf; und da Frau von Woltmann viel und sehr lebhaft sprach, so war es bisweilen von höchst komischer Wirkung, wenn in ihren Reden sich die Worte: »mein Strumpf sagt« mehrfach hinter einander wiederholten. Ich war damals noch sehr zum Lachen geneigt, und hatte bei ihren philosophischen Auseinandersetzungen immer mit meiner Lachlust zu kämpfen, wenn der unglückliche »Strumpf« als Autorität angeführt wurde.

Das Gepräge gelehrter Sorglosigkeit, dessen ich vorhin in Bezug auf Frau von Woltmann erwähnte, war auch ihrem Zimmer aufgedrückt. Es sah nicht unsauber, nicht unordentlich in demselben aus, obschon es verwohnt und nur mit dem Nothdürftigen meublirt war, aber es war darin keine Spur von jenem Bedürfniß nach Schönheit und Zierlichkeit zu erkennen, welches dem ärmlichsten Raume ein freundliches Ansehen zu geben vermag. Ein Blatt weißes Papier, auf dem ein Blumentopf steht, eine weiße Serviette auf einem alten Tische reichen oft vollkommen aus, ein Zimmer freundlich und anmuthig zu machen, und es ist selten, daß Frauen dieses Sinnes für das Zierliche völlig entbehren. Es lag etwas durchaus [263] Freudloses über der Wohnung und über der Frau, während sie doch sehr heiter und lebhaft plaudern konnte, aber auch in diesen Plaudereien kam leicht ein herber Ton zum Vorschein.

Sie hatte viel erlebt, viel Menschen gekannt, und sie erzählte sehr gut; ja sie verstand im Gespräche das Charaktrisiren meisterhaft. Es begegnete ihr jedoch häufig, daß sie von den Personen, deren Bild sie mit großer Vorliebe entworfen, und das sie mit bedeutenden Vorzügen ausgestattet hatte, plötzlich eine Menge Fehler herzuzählen, und sie in einer Weise darzustellen begann, welche nicht nur mit der allgemeinen Ansicht über die betreffenden Charaktere, sondern selbst mit ihren eigenen Aussagen über dieselben im Widerspruch standen. Das geschah namentlich fast bei allen den Personen, welche in näherm oder fernerm Zusammenhange mit Rahel Varnhagen gewesen waren, und wenn Frau von Woltmann bemerkte, daß diese Mittheilungen mir nicht angenehm waren, daß sie mich überraschten und mir nahe gingen, so sagte sie mit einem eigenthümlichen trocknen Lachen: »Ja das ist einmal nicht anders! Die Menschen waren damals keine Engel und werden auch künftig keine werden!«

Ich glaube es muß nicht leicht gewesen sein, mit ihr zu leben. Sie fühlte sich von ihren Zeitgenossen offenbar nicht genug anerkannt, und besaß trotz ihrer philosophischen Studien nicht Philosophie genug, sich darüber zu beruhigen und zu trösten. So hatte sie sich denn auch sowohl unter den Philosophen, wie unter den Dichtern und Politikern einen ganz besondern Kreis für ihre Verehrung ausgewählt; und wie Thomas Carlyle sich einen [264] Heldencultus aufgerichtet, so hielt sich Frau von Woltmann an den Cultus der verkannten Genie's, der bei ihr indeß die schöne und edle Folge hatte, daß sie bei beschränkten persönlichen Verhältnissen stets bereit und eifrig war, denjenigen beizustehen und zu dienen, welche die große Menge nach ihrer Meinung nicht zu würdigen, und denen die Zeit nicht gerecht zu werden verstand. Sie war entschieden eine Frau von Geist und Herz und sehr unterhaltend, indeß die Grazien waren bei ihr ausgeblieben, und es wollte mich bedünken, als ließe sich nicht recht an ihrem Herzen ruhen!

Sie arbeitete in jenem Sommer noch viel, besorgte auch später noch die Herausgabe des Tagebuches, welches der junge Prinz Waldemar von Preußen auf einer Reise in den Orient und nach Indien geführt hatte, aber sie wurde im Laufe der nächsten Jahre von wiederholten Schlaganfällen heimgesucht, ihre Lebhaftigkeit und Klarheit ließen nach, und sie starb dann im Herbste von achtzehnhundert siebenundvierzig nach recht schwerem Leiden.

Da ich eben jetzt mich der Unterredungen erinnerte, in denen Frau von Woltmann mir die philosophische Spekulation als die einzige Arbeit anempfahl, welche ihren Lohn in sich trage, fällt es mir wieder einmal ein, wie viel Noth man hat, sich beim Beginne einer Laufbahn nicht von sich selber und von seinem Ziele abwendig machen zu lassen, und ich denke dabei namentlich an die Mühe, welche einzelne Personen sich in jener Zeit gegeben haben, mich von meinem sogenannten Unglauben zurückzubringen und zum Glauben an die Dogmen des Christenthums zu bekehren.

[265] Sonderbar genug waren es, so Männer als Frauen, selbst Bekehrte, das heißt vom Judenthum zum Christenthume übergetretene Personen, die sich dieser Aufgabe unterzogen.

Während Frau von Woltmann mich so unumwunden glücklich gepriesen, daß ich den schweren Weg vom Glauben zum Zweifel und zur Prüfung niemals durchzumachen gehabt, beklagten diese Wohlmeinenden es, daß mein Talent (ich brauche ihre Worte) im Dienste der Unwahrheit verwendet werden sollte. Da ich in meinem zweiten Roman unter Anderm auch das geistige Verhältniß einer jungen Jüdin zum Christenthum behandelt hatte, so lag der Gedanke nahe, daß ich in diesem Theile meiner Darstellung ein selbst und innerlich Erlebtes geschildert. Ich hatte der Sache auch nicht Hehl, und verbarg es nicht, daß mir die Bekehrung eines Juden, zum Glauben an die christlichen Dogmen, eben so räthselhaft dünke, als meine Unfähigkeit an die Dogmen zu glauben meinen Bekehrern nur immer erscheinen könne. Und da sie oftmals sehr in mich drangen, erklärte ich ihnen unumwunden, daß ich es für einen im Judenthum gebornen und unter Juden erwachsenen Menschen, wenn er einen klaren Verstand habe, für eine Unmöglichkeit halte, sich einem Wunderglauben irgend einer Art zu überlassen. Mir bleibe daher den gläubig gewordenen Juden gegenüber auch nur der Ausweg, sie in einer Selbsttäuschung befangen zu wähnen, wenn ich nicht Schlimmeres von ihnen denken sollte.

Meine beiden eifrigsten Bekehrer waren ein paar greise Männer, deren Stellung im Leben und im Staatsdienst [266] eine sehr bedeutende, deren Charaktere durchaus achtungswerthe waren, und die mit mir weit mehr Nachsicht hatten, als ich Geduld besaß. Wenn ich sie aber eines geflissentlich genährten Selbstbetruges schuldig glaubte, machten sie mir dafür einen geistigen Hochmuth zum Vorwurf, der nach ihrer Meinung in ruhiger Selbstgefälligkeit die Mühe der Betrachtung, und die Demüthigung einer einzugestehenden Umkehr von sich wies; und wie oft und zuversichtlich ich sie auch des Gegentheils versichern mochte, wir rückten einander deßhalb um keine Linie näher.

»Wie ist es möglich, nicht zu glauben?« fragten sie mich; – »wie ist es möglich, daß Sie glauben?« fragte ich. »Wo finden Sie Trost, wo eine Stütze, wo eine Zuflucht in den Stunden des Leidens, der Noth und der Versuchung?« riefen sie mir zu; und ich hatte ihnen darauf Nichts zu entgegenen, als: »ich trage, was das Leben mir zu tragen giebt, ich beruhige mich mit dem Hinblick auf die Bedingungen des menschlichen Daseins und mit dem Hinblick auf das Unabänderliche; und wenn ich mich versucht fühlen sollte, ein Unrechtes zu thun, so würde ich allerdings keinen andern Rückhalt haben, außer dem Rechtsgefühl in meinem Innern, und der durch Erfahrung gewonnenen Ueberzeugung, daß jedes Unrecht den Keim seiner Bestrafung in sich trägt.«

Damit wollte man sich indessen nicht beruhigen. Man meinte, ich habe nur fremde Ansichten in mich aufgenommen, meine Ueberzeugungen gehörten nicht mir an, ich sei zu jung für solche Selbstständigkeit. Aber man vergaß, daß ich dreiunddreißig Jahr alt, und von frühster Jugend auf an ernstes Nachdenken gewöhnt war. [267] Man glaubte mich sehr gefährdet und meinte es sicherlich wohl mit mir.

Nun ist es guten Menschen, und edle Menschen waren jene beiden Männer, natürlicher Weise ein Gegenstand des Bedauerns, Andern nicht zugänglich machen zu können, was sie selber beglückt. Nichts desto weniger hat es aber etwas Quälendes, sich immer wieder zum Suchen nach Frieden aufgefordert zu sehen, wenn man in sich beruhigt und zufrieden ist. Der Eine der beiden Herren, welche sich mein Seelenheil so sehr am Herzen liegen ließen, der Geheime Justizrath S. sagte mir, als ich mich eines Tages in seinem Hause und bei seinen Töchtern befand, er mache an mir eine eigene Erfahrung. In seiner Jugend habe er sich lebhaft für eine Frau interessirt, deren Wesen ihn nicht habe zur Ruhe kommen lassen. Habe er sich fern von ihr befunden, so habe er sie geliebt, sei er in ihrer Nähe gewesen, so habe er nicht begreifen können, wie er sie zu lieben vermöge; mit mir gehe es ihm entgegengesetzt. Mein Denken, meine Art das Leben zu erfassen, seien ihm durchaus fremd, ja antipathisch, wenn er sie sich vorstelle; sähe er mich vor sich, so komme ihm mein Wesen und Denken einfach und liebevoll vor, er habe mich dann selbst lieb, habe Zutrauen zu mir, und beruhige sich damit, daß auch für mich die Stunde kommen werde, in welcher ich mir nicht mehr genug sein, und in welcher ich mich zu dem Erlöser wenden würde, der den Menschen auf den wunderbarsten Pfaden zu finden wisse.

Das war von dem Greise so ehrlich und so gut gemeint, daß ich hätte herzlos sein müssen, um es nicht[268] anzuerkennen, und gelassen alle seine Ermahnungen hinzunehmen. Ein Anderer aber, der alte Kriminaldirektor H., der eine eifrige Natur war, und sich eine Zeitlang gewöhnt hatte, mich Sonntags, wenn er aus der Kirche kam, in meiner Wohnung aufzusuchen, wünschte mir eines Tages, eben weil er eine aufrichtige Freundschaft für mich hege, daß mir das Leben seine Nachtseiten zeigen, daß schwere Schicksalsschläge mich treffen und beugen, und daß ich durch die bittre Schule des Leidens zum Lichte geführt werden möge.

Ich war wirklich empört über diesen frommen Wunsch, ja er widerte mich an. Nicht als hätte ich dem Eiferer etwa die Kraft zugetraut, welche die Italiener dem Jettatore, dem mit bösem Blick Behafteten eigen glauben: die Kraft ihren Mitmenschen erfolgreich Böses anzuwünschen, aber der grausame und duldungslose Fanatismus entsetzte und beleidigte mich, und ich fühlte mich versucht, Wunsch gegen Wunsch zu stellen, als der Hinblick auf des Mannes Jahre mir Schweigen und Ruhe auferlegte.

Die nächste Folge der oft wiederkehrenden Gespräche war jedoch, daß ich mich vielfach in meinem Innern mit den großen ethischen Gedanken, wie mit den Dogmen des Christenthums beschäftigte, und mir es klar zu machen versuchte, wie es jenen Männern möglich geworden sei, in reifen Jahren einen Mythus in sich als Sache der Ueberzeugung aufzunehmen, nachdem sie sich durch ihre wissenschaftlichen Studien und Arbeiten an ein strenges Prüfen und Analysiren gewöhnt hatten; und warum es mir, welche weder die allgemeine Bildung und die philosophischen [269] Kenntnisse, noch die durch juristische Uebung des Verstandes geschulte Unterscheidungskraft der beiden Greise besaß, unmöglich fiel, an Etwas zu glauben, was ich nicht verstehen konnte. Ich erwog es oftmals hin und her, und kam damals zu keinem Schlusse, kam zu keinem Vertrauen in die Ueberzeugungstiefe der Bekehrten, wie sie zu keinem festen Zutrauen in den Ernst meines Nachdenkens gelangen konnten, weil sie und ich einen Faktor in unserer Betrachtung mitzuzählen unterließen – die Epoche, in der sie sich bekehrt hatten, und die Zeit, in welcher sie von mir die Wandlung meiner Ueberzeugungen verlangten.

Alle jene Personen, die Männer wie die Frauen, waren zu Ende des vorigen oder zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts, also in einer Zeit zum Christenthume übergetreten, in welcher, wenn man so sagen darf, das Gemüthsleben in der Welt die Herrschaft geführt, in welcher man in vielen Kreisen das Empfinden über das Denken gestellt, und müde der überreizten Sinnlichkeit, müde des leichtfertigen Spottes über das Ernste und Hohe, wie er von Frankreich als Mode durch die Welt gegangen war, sich nach einer Zuflucht vor sich selber: nach einem Haltpunkt gesehnt hatte, an dem man Ruhe und Besinnung, und hauptsächlich sich selber wieder finden konnte.

Die Unerbittlichkeit der französischen Revolution machte ihrer Zeit einen ähnlichen Abschnitt in der Schrankenlosigkeit des Lebens, wie er in der römischen Cäsarenzeit durch das Christenthum gemacht worden war. Nur daß der Einschnitt jetzt plötzlicher und gewaltsamer sichtbar wurde, und daß die Ideen von der Gleichheit der Menschen, [270] welche das Christenthum als eine Lehre der Liebe in die Welt gebracht, bei der erneuerten Rückkehr zu dieser Lehre, aus dem Jenseits in das Diesseits übertragen wurden. Man verwandelte die Doktrin von der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen vor Gott, in den Grundsatz der Gleichheit vor dem Recht und vor dem Gesetz; und versuchte es in der ersten gewaltsamen Aufregung, eine Idee der Liebe mit dem Beil der Guillotine zur Ausführung zu bringen.

Schaudernd vor dem Wahnsinn dieses blutigen Beweismittels, wendeten die weichen Herzen, welche die gewaltsamsten Schicksalswechsel und die Wandelbarkeit des irdischen Glückes vor Augen sahen, sich damals von der auf die Erde verpflanzte Gleichheitstheorie ab, um sie dort aufzusuchen, wo sie im Geiste gepredigt ward. Erschreckt durch den jähen Umsturz der Zustände, dessen Zeugen sie gewesen waren, suchten sie ein Unantastbares, ein Ewiges. Ganz dieselben Beweggründe, welche zur Zeit der Cäsaren die Herzen der Menschen nothwendig zu einer Lehre der Jenseitigkeit und der hoffenden und hingebenden Liebe geführt hatten, bewirkten nach dem blutigen Ausgang der französischen Revolution die Bekehrung vieler Juden zum Christenthume, den Uebertritt zahlreicher Protestanten in die katholische Kirche, und die Möglichkeit an Wunder zu glauben. Weil man sich gedrungen fühlte, auf erlösende Wunder zu hoffen, stürzten die phantasievollen Naturen sich in den Mystizismus, und die lyrisch gestimmten Seelen wurden geneigt, in den Verhältnissen, welche der Bildung und Cultur am Fernsten standen, die Ungetheiltheit der Empfindung, die Lebenskraft und Tüchtigkeit [271] zu suchen, die man in sich selber nur zu schmerzlich entbehrte. Die Vorliebe für ein romantisch erfundenes Volksleben, die Romantik und die Hinneigung für das Volksthümliche in der Vergangenheit, entstanden aus Abneigung gegen das Volk, das man vor Augen hatte. Es waren so grausenhafte Dinge unter der Herrschaft der Göttin der Vernunft geschehen, daß man sich willig seiner prüfenden Vernunft entäußerte, und der Hochmuth und die Selbstsucht der niedergeworfenen Aristokratie waren so groß, und in ihren Folgen für sie selbst so furchtbar gewesen, daß Demuth und Selbstentäußerung wie Rettungsmittel dagegen erscheinen mußten.

In unserer Zeit ist das anders. Wer vorurtheilsfrei um sich blickt, kann es nicht verkennen, daß der eigentliche Geist des Christenthums seit den Tagen der französischen Revolution tiefer als je zuvor in den Herzen der Menschen Wurzel geschlagen hat, daß er zu einer Bethätigung zu einem maaßgebenden Einfluß gelangt ist, wie noch niemals zuvor. Die brüderliche Zusammenhörigkeit der Menschheit ist für jeden Verständigen Sache der unwiderleglichsten Ueberzeugung geworden. Ueberall bethätigt dies die Vorsorge, welche man für die Entwicklung des Volkes, für sein geistiges und leibliches Gedeihen trägt, überall zeigt sich in den Associationen der verschiedensten Art die Frucht der Liebe, welche den Kern des Christenthumes ausmacht; und es giebt jetzt kaum noch einen Menschen von Verstand und Herz, welcher die Grundlehren des Christenthumes, in diesem Sinne, nicht als den Ausgangspunkt seines Denkens, nicht als die Richtschnur seines Handelns anerkennte. Alles, was in den letzten [272] dreißig Jahren für die Erhebung und Versittlichung der Menschheit geschehen, ist fraglos die Frucht des in Thätigkeit gesetzten Geistes des Christenthums, und sich zu diesem bekennen, heißt jetzt eingestehen und bekennen, daß man es verdiene, ein Mensch zu sein.

Anders ist es mit dem Bekenntniß zu den Dogmen des Christenthums. Alexander von Humboldt sagt in einem Briefe an Varnhagen von Ense: »Alle Religionen setzen sich aus drei völlig verschiedenen Theilen zusammen: aus einer Sittenlehre, die überall dieselbe und sehr rein ist, aus einem geologischen Traum, und aus einer Sage oder einem historischen Roman, welchem Letzteren überall die höchste Wichtigkeit beigelegt wird.«

Nun will mich's aber bedünken, als ob für gewisse Zeiten und für Menschen von verschiedenen Anlagen, die Werthschätzung dieser drei Elemente nicht stets die Gleiche bleiben könne; und das zogen die Personen, welche mich für die Geologie und für den Roman des Christenthums, oder wie Arnold Ruge es so unvergleichlich richtig nennt, für die jüdische Literatur und die syrischen Mythen zu gewinnen strebten, nicht gebührend in Betrachtung. Niemand entzieht sich der Erkenntniß seiner Zeit, wenn er sich nicht absichtlich gegen sie verschließt; denn die Erkenntniß hat das mit den Pflanzen gemein, daß ihr Saame von der Luft getragen, und befruchtend verstreut, hier und dort als neue Erkenntniß aufgeht, bis eine Saat in Aehren steht, von der man nicht sagen kann, wer sie gesät hat. Sie vergaßen, daß Strauß und Feuerbach gelebt, geschrieben und gewirkt hatten, daß die Entstehungsgeschichte der Erde in allen Handbüchern auf geologische [273] Grundsätze zurückgeführt worden war; daß kein Grund mehr für uns existirte, die Uebung der Vernunft, die Prüfung mit dem Verstande von uns zu weisen, und sie übersahen die Werkthätigkeit der christlichen Liebe, die sich um sie her kund gab, weil sie sich nicht zu der Duldsamkeit emporschwangen, welche dem Einzelnen zugesteht, sich nach seinem Bedürfniß und nach seiner Möglichkeit mit der Welt, mit dem Leben und mit seinen Pflichten in das Gleiche zu setzen.

Mir ist es stets als eine Unvorsichtigkeit erschienen, einen Menschen von seinem Festhalten an der Historie und an den Dogmen des Christenthums abwendig zu machen, solange er seine Beruhigung darin fand; aber eben so unrecht habe ich es immer gefunden, wenn man Diejenigen des geistigen Selbstgenügens oder gar des Leichtsinnes bezüchtigte, welche nur dasjenige für wahr zu halten vermochten, was vor dem Urtheil ihres Verstandes bestehen konnte, und wenn man eine Zeit und ein Geschlecht verdammte, deren Streben nach Wahrheit und deren werkthätige Menschenliebe sich augenfällig kund geben.

Zuletzt aber ist es dem Menschen sicherlich besser, selbstständig zu zweifeln und zu irren, als, ohne Benutzung seiner angeborenen Verstandeskräfte, anzuerkennen und zu glauben; denn das Irren und das Streben erhalten den Geist in Bewegung und Thätigkeit, und Bewegung ist Alles!

[274]
15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel

Es war mit den Ereignissen, welche zu Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts auf die Geister einstürmten, wie mit dem gefährlichen Clima mancher Gegenden. Die Kraftlosen erlagen dem Einfluß, die Kräftigen, welche ihn überwanden, bewiesen damit zugleich ihre Dauerbarkeit. Dieselben Eindrücke, welche in den Einen Strenggläubigkeit und Unduldsamkeit erzeugt hatten, erzeugten in den Andern Aufklärung und Toleranz. Neben den bejahrten Personen, welche auf uns Jüngere mit mitleidiger Vornehmheit herabsahen, und all unser Streben leer und eitel nannten, lebten noch die letzten Zeugen der großen Vergangenheit in ungeschwächter Kraft, und wir fanden bei ihnen, was kein Strebender entbehren kann: Theilnahme, Ermunterung und Nachsicht.

An der Spitze dieser geistigen Veteranen stand, neben Alexander von Humboldt, den ich erst später kennen lernte, in erster Reihe der Geheimerath Varnhagen von Ense. Nachsichtiger, bereitwilliger im Anerkennen und Fördern junger Personen und jugendlicher Bestrebungen als eben er, ist schwerlich Jemand gewesen. Bei großer persönlicher Würde und gemessener Zurückhaltung, ließ er die [275] Jüngern das Uebergewicht nie drückend empfinden, welches seine Jahre ihm über uns verliehen, wenn schon er beständig geneigt war, uns den reichen Schatz seiner Erfahrungen freundlich zu Gute kommen zu lassen.

Ich habe im dritten Bande dieser Erinnerungen erzählt, wie mein Vater und ich es im Jahre zweiunddreißig durch meine Schuld versäumt hatten, uns Herrn von Varnhagen vorzustellen. Auch als ich im Jahre neununddreißig den Winter in Berlin zubrachte, hielt mich die Scheu, seine Zeit in Anspruch zu nehmen, ohne ihm einen Ersatz dafür bieten zu können, von einem Besuche bei ihm ab. Als ich dann vier Jahre später abermals nach der Hauptstadt zurückkehrte, sah Herr von Varnhagen keine Gesellschaften bei sich. Meine Cousinen, die seit dem Tode ihres Vaters, des Doktor Assing, unter dem Schutze ihres Onkels Varnhagen lebten, hatten mir nicht vorgeschlagen, mich ihrem Beschützer vorzustellen, ich hatte mir also daraus den Schluß gemacht, daß es ihm lieb sei, nicht behelligt zu werden, und hatte denn eine geraume Zeit in Berlin gelebt, ohne ihn jemals gesehen zu haben.

Inzwischen war ich im Winter von dreiundvierzig durch eine Frau von Schmehling mit Fräulein Henriette Solmar, bekannt geworden, bei welcher Herr von Varnhagen seit Rahel's Tode fast alle seine Abende zubrachte, aber auch dort hatte ich ihn nicht getroffen, weil ein längeres Unwohlsein ihn in seiner Behausung zurückhielt.

Fräulein Solmar war eine entfernte Verwandte von Rahel Levin, und lebte damals, wie noch lange Jahre nachher, in dem obern Stockwerk des Königlichen Bankgebäudes, dessen Fenster auf die hohen Baumwipfel eines [276] schattigen Gartens niedersahen. Von Varnhagen und von dem geistigen Leben Berlin's zu sprechen, ohne Fräulein Solmar's zu erwähnen, in deren Zimmern sich durch ein Menschenalter fast Alles zusammenfand, was die deutsche, ja man kann wohl sagen, was die europäische Literatur an Namen aufzuweisen hatte, ist aber nicht wohl möglich; abgesehen davon, daß sie und ihr Salon damals fast allein noch jene Tradition der alten Berliner Geselligkeit aufrecht erhielten, welche in dem Varnhagen'schen Hause einst ihren Gipfel gehabt hatte.

Niemand wird aber zufällig der Mittelpunkt eines Kreises von ausgezeichneten Menschen. Das Bedeutende zu erkennen muß man selber Bedeutung haben, und um es dauernd an sich zu fesseln, dazu gehören Eigenschaften, die sich nur selten so wie in Fräulein Solmar, der langjährigen Freundin Varnhagen's zusammen finden. Mit schnellem klarem Verständniß verband sie eine lebhafte Empfindung für Wahrheit und für das Schöne, und zugleich eine ganz ungewöhnliche Anspruchslosigkeit. Sie sprach die modernen Cultursprachen wie ihre Muttersprache, kannte die moderne Literatur in ihrer weitesten Ausdehnung, und hatte neben der liebevollen Gabe vortrefflich zuzuhören, die höchste Anmuth im Erzählen, wobei ihr die ganze Tonskala von dem würdigsten Ernste bis zu dem Humor des heitern Berliner Witzes gleichmäßig zu Gebot stand. Dabei war sie ihrer Zeit eine ausgezeichnete Sängerin und Clavierspielerin gewesen. Altersgenossen rühmten ihr Talent für das Schauspiel, und Jeder, der sie näher kannte, mußte die Einfachheit, die Gradheit ihres Wesens, neben der feinsten Form und der zartesten Diskretion [277] schätzen lernen. Durch die ganze Reihe meiner Erinnerungen ist mir keine zweite Frau vorgekommen, die so wenig von ihren Gästen für sich selbst verlangte, die völlig heiter und zufrieden war, wenn Andere sich behaglich bei ihr fühlten, und ich habe überhaupt nur wenig Frauen gekannt, welche ihren Freunden so durch alle Wechselfälle des Lebens unwandelbar verlässig blieben wie sie, ohne ihnen je ein Freundschaftsversprechen oder eine besondere Freundschaftsversicherung gemacht zu haben. Klänge es nicht gesucht, und das ist es nicht, da das Bild sich mir eben unwillkürlich bietet, so möchte ich sagen, man gewöhnte sich, wenn man sie kannte, auf sie und ihre Beständigkeit, wie auf die Wiederkehr des Tages zu bauen. Das Gute und Liebenswürdige wurde so selbstverständlich an ihr.

Eben so einfach wie sie selbst, war auch die Art, in welcher sie ihre Gäste behandelte. Sie hatte, was so vielen Hausfrauen fehlt, die unschätzbare Klugheit, die Menschen in Ruhe, das heißt sie gewähren zu lassen. Niemand brauchte seinen Geist, sein Wissen in ihrer Nähe besonders zu beweisen, Niemand brauchte Künste zu machen; und weil man volle Freiheit hatte, gab Jeder sich unbefangen in ihrem Hause, bot Jeder unwillkürlich sein Bestes dar, und alle Theile fanden und finden noch heute, nach fünfundzwanzig weitern Jahren, eine Befriedigung in dem schönen, freundlichen Zimmer der trefflichen Frau. Es wäre zu wünschen, daß man jetzt, wo die Photographie für solche Zwecke so bereitwillig ihre Hülfe leiht, ein Bild dieses langen Saales mit seinen verschiedenen Etablissements aufnehmen ließe, denn durch ganz Europa und über seine Grenzen hinaus, leben zahlreiche Freunde und [278] Gäste dieses Hauses, denen es wohl geworden ist in dem Raume, und die sich bei dem Anblick desselben mit Freuden der guten Stunden erinnern würden, welche sie in demselben genossen haben. 3

Fräulein Solmar's Gewohnheiten waren von je sehr häuslich. »Man braucht nur hübsch in Berlin und in seiner Stube zu bleiben,« pflegte sie zu sagen, »um alle Welt kennen zu lernen!« Und für ihr Theil hatte sie damit recht. Sie empfing ihre Freunde an jedem Abende. Nach sieben Uhr fand man sie, mit seltensten Ausnahmen, Winters an ihrem Theetisch sitzen, ihre verwittwete Schwester und deren Tochter, ihr gegenüber, und es währte dann auch nicht lange, bis dieser oder jener Fremde, und einer oder der andere alte Bekannte sich bei ihr einstellten. Wer aber auch kommen, wie groß die Zahl der Gäste auch werden mochte, ein bestimmter Stuhl, ein wunderlicher dreieckiger Sessel, zur rechten Seite des Sopha's, dicht neben dem Ofen, wurde von Niemand eingenommen, denn diesen Stuhl hatte Herr von Varnhagen sich ausgewählt, und Herr von Varnhagen kam damals an jedem Abende zu seiner Freundin.

Kurz vor acht Uhr oder doch nur wenig später, pflegte sich regelmäßig die breite einflüglige Thüre des nicht eben hohen Salon's zu öffnen, und es trat dann raschen Schrittes ein Mann von etwa sechszig Jahren ein. Er trug einen schwarzen Oberrock, den Stern eines Ordens an breitem [279] Bande um den Hals, den Hut, und den Rohrstock mit goldenem Knopfe in der Hand. Leichten und leisen Ganges sah man ihn, freundlich grüßend, sich nach dem wunderlichen dreieckigen Lehnstuhl an Fräulein Solmar's Seite begeben, und während er ihr den guten Abend bot, die Zeitungen, welche er ihr alltäglich mitzubringen pflegte, vor sie auf den Tisch legen. Das war der Geheimerath Varnhagen von Ense.

Kaum daß er sich niedergelassen hatte, so wendete er sich der Unterhaltung zu, und es war dann ein Vergnügen, das feine, bewegte Mienenspiel seines Antlitzes zu betrachten. Sein Gesicht war rund und hatte in den Formen und Farben viel Jugendliches behalten, auch das volle graue Haar hatte noch ein leichtes Gelock, so daß man es sich ohne Mühe vorstellen konnte, welch hübscher junger Mann, welch eleganter Offizier er gewesen, und wie gefällig seine Erscheinung sich auf dem Parket des diplomatischen Salons dargestellt haben mußte, da sie noch in spätern Jahren so viel Anmuth besaß. Er trug eine Brille mit sehr großen Gläsern, hatte aber weder das Ansehen noch die Manieren eines Kurzsichtigen. Seine Bewegungen waren durchaus frei, und obschon er auch im Sitzen bisweilen lange den Stock in der Hand behielt, war seine Gestikulation für einen Deutschen ungewöhnlich lebhaft, denn er pflegte seine Worte, mehr als es im Allgemeinen unter uns geschieht, durch Bewegung des Kopfes und der wohlgeformten und wohlgepflegten Hände zu begleiten.

Als man mich ihm vorgestellt hatte, setzte er sich mit großer Freundlichkeit zu mir, und sprach mir den Antheil aus, welchen meine beiden Romane ihm eingeflößt hätten. [280] »Eine Dichtung,« sagte er, »welche sich das Leben und die Verhältnisse einer Judenfamilie und namentlich einer jungen Jüdin zur Aufgabe gestellt, müsse ihm natürlich besonders anziehend sein, da er an Rahel und durch sie vielfach Gelegenheit gehabt habe, sich mit der eigenthümlichen Geistesrichtung dieses Volksstammes zu beschäftigen. Er habe überhaupt viel Freunde gehabt, welche demselben angehört, und es lägen in dem jüdischen Geiste, neben Fehlern und Verkehrtheiten, die nicht abzuläugnen wären, und von denen nur die Durchgebildeten und Besten sich frei zu machen wüßten, eine ursprüngliche Energie und Schlagfertigkeit, die ihm immer anziehend gewesen wären. Es sei in den Juden eine Gradheit des Sehens, eine eigene Art von Scharfsinn, welche Rahel im allerhöchsten Grade, ja bis zu seherischer Klarheit besessen habe.«

Ich sprach ihm so gut ich es konnte aus, was Rahel's Briefe mir in einer bestimmten Epoche meiner Jugend gewesen waren, und welch eine Wohlthat er auch mir mit deren Herausgabe bereitet hätte. Er hörte das freundlich an, und lobte dann meine Schreibweise, wobei er mir dringend empfahl, was ich auch immer schreiben möge, nie die Sorgfalt auf den Styl aus den Augen zu setzen. »Wer sich formell zum korrekten und edeln Ausdruck seiner Gedanken gewöhnt, korrigirt und veredelt damit sein Denken,« sagte er. »Es ist sehr schwer, in einem durchsichtigen und klaren Styl etwas Unklares oder Thörichtes auszusprechen, und ist irgendwo die Wechselwirkung auffallend, so ist es die zwischen Ausdruck und Gedanke.«

Man nahm ihn von anderen Seiten in Beschlag, und [281] ich sprach ihn an dem Abende, so viel ich mich erinnere, nicht wieder.

Am andern Morgen, es war am dritten Mai achtzehnhundert vierundvierzig, einige Tage vor meiner Abreise nach Schlesien und Böhmen gewesen, sendete er mir mit einigen freundlichen Worten Rahel's Briefe.

Er hatte sicherlich die Absicht gehabt, mir eine Freude zu bereiten, eine Aufmunterung zu gewähren, wie groß beide aber waren, davon hatte er gewiß keine Ahnung, ganz abgesehen davon, daß mir nun die Gelegenheit geboten wurde, ihm persönlich danken zu gehen.

Ich that es an einem der folgenden Tage. Herr von Varnhagen wohnte in der Mauerstraße, in einem Quartiere des palastähnlichen Hauses Nummer sechsunddreißig, das er schon zu Rahel's Zeiten inne gehabt hatte, und in welchem sie und auch er gestorben sind. Es war ein großes Haus mit ansehnlichem Portal, recht für den Empfang von Gesellschaft gemacht. Die weite Einfahrt, die breite, gelind ansteigende Treppe, die durch Spiegel maskirten Eingangsthüren im ersten Stock, die Bänke für eine wartende Dienerschaft hatten etwas vornehm Gastliches. Trat man aber aus diesem Vorhause in die Varnhagen'schen Zimmer hinein, so befand man sich mit dem ersten Schritte in einer großen Bibliothek, und das weltmännische Element und die Gelehrsamkeit, welche sich in Varnhagen zusammenfanden, waren dadurch gleich bei dem Eintritt wie in einem Bilde dargestellt.

Nachdem der Bediente mich ihm angemeldet hatte, öffnete mir eine ältliche Frauensperson, deren Kleidung zwischen der Tracht einer Dienerin und einer Dame die [282] Mitte hielt, die Stubenthüre, und trat mit mir zusammen bei Herrn von Varnhagen ein, der ausgestreckt, mit einer seidenen Decke bedeckt, auf einem kleinen unbehaglichen Sopha lag, welches nach englischer Weise unter den Fenstern stand. Er sah viel älter als am Abende aus, klagte über seine schlechte Gesundheit, und die ältliche Frau machte sich geflissentlich das Geschäft, ihm die Decke zurecht zu legen. »Das ist Dore!« sagte er freundlich, »die Ihnen wohl aus Rahel's Briefen bekannt sein wird.«

Es schien mir, als habe »Dore« diese Art von Vorstellung eigens erwartet, als sei sie nur um dieselbe zu genießen, in das Zimmer gekommen, und Herrn von Varnhagen's Güte, Treue und Dankbarkeit des Herzens, welche von allen Denen, die ihn näher kannten, als hervorstechende Eigenschaften seiner Natur gerühmt wurden, waren ganz dazu gemacht, der bewährten Dienerin diese Befriedigung ihrer Eitelkeit als Anerkennung ihrer treuen Dienste zu vergönnen. Sie sprach ein paar Worte von ihrer seligen gnädigen Frau, Varnhagen lächelte dazu nachsichtig, und mir fiel der Ausruf Rahel's auf ihrem Sterbebette ein, als Dore sie einmal mit solcher Anrede angesprochen hatte: »Ach was! es hat sich ausgegnädigefraut, nennt mich Rahel!« – Es war das Ehrliche, Kecke, Unumwundene in Rahel's Geist und Ausdruck, das ich so sehr in ihr liebte, weil es einen so schönen Hintergrund für die Weiche und Güte ihres Herzens abgab.

Als die Dienerin darauf hinausging, kam mir Herr von Varnhagen plötzlich wieder jünger und gesünder vor, denn er richtete sich hoch auf, sprach lebhaft und munter, und ich konnte mich an jenem Morgen des Gedankens [283] nicht erwehren, als finde Dore ein Interesse daran, ihren Herrn in der Krankenrolle zu erhalten, um sich ihm unentbehrlich zu machen.

Ehe ich nun im Jahre vierundvierzig abermals von Berlin nach Königsberg ging, traf ich Herrn von Varnhagen wieder bei Fräulein Solmar. Ich erzählte ihm, daß ich für den Winter zu meinem Vater und nach Hause zurückkehren wolle, und während die meisten meiner nahen Bekannten mit diesem Vorhaben nicht recht einverstanden waren, erklärte er sich ganz entschieden dafür; ja, als ich später zu ihm ging, mich ihm zu empfehlen, rieth er mir eigens dazu. »Sie sind noch nicht so gefestigt gegen neue Eindrücke,« sagte er, »daß sie nicht dadurch zerstreut werden könnten, und wenn auch der an das Leben einer großen Stadt Gewöhnte nirgend besser als in einer solchen arbeitet, so werden Sie gewiß noch Vortheil davon haben, wenn Sie Ihren begonnenen Roman in der Heimath ausführen können, während Sie bei erneuter Rückkehr nach Berlin einen neuen Maaßstab und eine geschärfte Einsicht für dasjenige gewonnen haben werden, was für Sie das Bedeutende und Wesentliche an Berlin ist.«

Aus allen seinen Aeußerungen ging der ernste Wille wirklichen Berathens hervor, und doch, so lebhaft und dankbar ich dies empfand, vermochte ich mich weder an jenem Tage noch jemals später so frei und unbefangen gegen Herrn von Varnhagen auszusprechen, als ich es wünschte, und als es mir andern Personen gegenüber möglich war.

Ich glaube, das rührte von der sarkastischen Seite seiner Natur her, vor der ich Scheu trug, und die ich[284] nicht anzuregen wünschte. Denn wie sich in seinem Gesichte und in den feinen Zügen um seinen Mund, neben dem Ausdruck geistvoller Güte, leicht ein Lächeln des Spottes kund gab, so mischte sich in die Worte seines Antheils oft eine gewisse satirische Wendung ein, die mich unsicher machte. Selbst die Duldsamkeit und Nachsicht gegen Irrthümer und Schwächen, welche er in vielen Fällen bewies, in denen die Strenge meiner Unerfahrenheit eine entschiedene Mißbilligung oder einen harten Tadel von ihm zu hören begehrte, machte mich dann nur unsichrer, scheuer und unselbstständiger. Während ich im Allgemeinen nicht darauf gestellt war, mich immerfort zu fragen, wie ich den Andern eben vorkommen möge, wurde ich Herrn von Varnhagen gegenüber selten die Frage los: »Was mag er von Dir jetzt eben denken?« und mit einer solchen Sorge ist man unfrei.

Ich weiß nicht, ob dieser Zustand, der sonst nur sehr eiteln Menschen eigen zu sein pflegt, bei mir in diesem besondern Falle von dem Verlangen herrührte, Varnhagen's Zustimmung und Beifall vorzugsweise zu gewinnen, oder was es sonst gewesen sein mag; aber durch die lange Reihe von Jahren, in welchen ich ihn kannte, habe ich auf diese Weise immer einen weit freieren Eindruck von seiner Person und von seinem Verkehr gehabt, wenn ich seinem Gespräche mit Andern zuhören konnte, als wenn ich selber mit ihm sprach. Und er sprach unvergleichlich schön!

Man kann nicht sagen, er sprach wie er schrieb; denn er sprach weit hinreißender als er schrieb. Er war im Sprechen energisch, bestimmt, und wenn er sich der [285] Personen, zu denen er redete, versichert hielt, fast rücksichtslos in der Kraft seines mündlichen Ausdrucks. Er umschrieb, er verhüllte dann Nichts, er nannte die Dinge bei ihrem Namen. Ich habe oftmals, wenn ich in spätern Jahren ihn als Begleiterin meines Mannes besuchte, mit dem er durch ein langjähriges Vertrauen verbunden war, bei ihren lebhaften Gesprächen ihm mit wahrer Bewunderung zugehört, und mir dabei gedacht, wie belebend Varnhagen's Vortrag für ein Auditorium und welch ein Lehrer und Redner er auf dem Katheder gewesen sein würde.

Einsichtsvolle historische Auseinandersetzungen, geschichtliche und literarische Anekdoten und Charakteristiken, Urtheile über Lebende und Verstorbene, kritische Zergliederungen neuer Werke, und flüchtige, oft satirische Wiederholungen eben vernommener interessanter Tagesereignisse, wußte er in solchem Gespräche auf das Geschickteste in einander zu verweben, so daß man sich bei ihm stets auf das Unvergleichlichste unterhalten, und in den meisten Fällen wesentlich belehrt und angeregt fand, ohne wie bei Herrn von Humboldt die Empfindung zu haben, daß er geflissentlich unterhalte, und ohne sich dafür zu besonderm Dank verpflichtet zu fühlen. Das klingt vielleicht sonderbar; aber es ist das nichts Unehrerbietiges, sondern nur etwas menschlich Berechtigtes. Wie aufrichtig man nämlich auch zum Verehrer des Großen und Erhabenen geneigt sein mag, so hat man es doch nöthig, sich mit Demjenigen, mit dem man in der Unterhaltung verkehren soll, annähernd auf gleichem Boden zu befinden, oder ihn mindestens nicht durch die allgemeine Verehrung [286] so hoch über die ganze Menschheit hinaus erhoben zu sehen, daß eine andere Annäherung, als die des bewundernd staunen den Emporschauens, unmöglich wird. Man kann vor einem Kolosse, der auf hochragendem Piedestale sich über unsere Häupter weithin sichtbar erhebt, nicht dieselbe Empfindung haben, welche uns neben einer menschlich schönen Statue in umfriedetem Raume erfüllt. Und grade das Leichtzugängliche, das anscheinend Absichtslose und doch stets Bewußte und Formvolle in Herrn von Varnhagen's Unterhaltung, machte diese in so hohem Grade erfreulich.

Ich habe mir, eifrig zuhörend, oftmals die kleine Stube betrachtet, während er sprach. Ein schlichtes Bett, zwei altmodische, vielgebrauchte Schreibtische dicht aneinander gerückt, das kleine Sopha, ein paar bücherbedeckte Tische und Stühle, das war Alles. Aber die Wände hingen voll Portraits; hier mahnte eine Statuette, dort ein Relief an die bedeutenden Menschen, welche als Gäste und Freunde in diesem unscheinbaren Raume geweilt hatten, und auch hier ist es sehr zu beklagen, daß man nicht, wie bei Alexander von Humboldt, daran gedacht hat, ein Bild dieses Zimmers und seines Bewohners den zahlreichen Freunden desselben aufzubewahren, als man Varnhagen aus demselben zu seiner letzten Behausung trug.

Varnhagen hatte ein Alter von dreiundsiebenzig Jahren erreicht, als ihn ein plötzlicher, schmerzloser Tod unerwartet der Welt und seinen Freunden entriß. Obschon fortwährend kränkelnd, befand er sich doch bis zur letzten Stunde seines Lebens in fast ungeschwächtem Besitze seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Ja, man konnte sagen, daß in seiner schriftstellerischen Production sich Ausdruck [287] und Darstellung fortwährend gesteigert hatten. Nur ein mehr und mehr sich geltend machender Zug und Hang zum Anekdotischen in der Unterhaltung, konnte in den letzten Zeiten als Zeichen des Greisenalters dienen. Sein Antheil aber, den er eben sowohl an den Begegnissen seiner Freunde und Bekannten, wie an den Zeitereignissen und an den Schicksalen seines Vaterlandes und seiner Nation nahm, bezeugte die volle Jugend seines Geistes und seines Herzens. Er war muthiger und hoffnungsvoller als viele der Jüngsten, und radikaler in seinen Ansichten als die Meisten; aber sein Radikalismus war mehr ein theoretischer. Praktisch wurde derselbe durch das innerste Wesen seiner Natur gelähmt. Varnhagen war eine so durchaus aufnehmende und weiche Natur, daß alle Personen mit denen, und alle Epochen, in denen er gelebt, Spuren ihrer sie kennzeichnenden Eigenschaften in ihm zurückgelassen hatten. Das machte ihn vielseitig, verständnißvoll und duldsam. Die Duldsamkeit ist aber ebensowohl eine Tugend als eine Schwäche je nach der Kraft des Charakters, in dem sie sich kund giebt. Sie kann den Menschen befähigen über den Parteien zu stehen, aber sie macht unfähig ein eigentlicher Parteimann zu werden, denn sie schreckt vor der Härte der rücksichtslosen Consequenz zurück; und es war sicherlich die Erkenntniß seiner eigenen Natur, welche Varnhagen abhielt, sich in spätern Jahren an dem öffentlichen Leben praktisch zu betheiligen, obschon er bis an sein Lebensende die treuste und wärmste Theilnahme für die freie Entwicklung Deutschlands bewahrte, der er von Jugend auf gedient hatte.

[288]
16. Kapitel
Sechszehntes Kapitel

Reich an einer Menge von neuen Eindrücken und Erfahrungen, und voll Verlangen, meinen Vater wiederzusehen, kehrte ich in der Mitte des September, nach einer Abwesenheit von fünfzehn Monaten in meine Heimath zurück, und das Zuhausesein umfing mich mild und erwärmend wie Frühlingshauch nach kalten Tagen.

Des Morgens zu wissen, daß der Vater da sei, ihn am Tage erwarten zu können, zu sehen, zu fühlen, daß er Freude an mir habe, daß meine Erzählungen ihn gut unterhielten, an seinem Tische zu sitzen, von seinem Brode zu essen, Alles was ich bedurfte und genoß, von seiner Hand zu empfangen, die es so liebevoll gewährte, Abends noch an seinem Bette zu sitzen und ihm gute Nacht sagen zu können, mit einem Worte wieder ein Kind vom Hause, sein Kind zu sein, beglückte mich sehr. Und dazwischen war es mir bisweilen ganz befremdlich, daß ich gar kein Geld ausgab, daß ich nur zu fordern brauchte, um nicht nur alles Nöthige, sondern auch das Wünschenswerthe und Ueberflüssige zu erlangen. Ich hatte nicht nöthig, ängstlich zu berechnen, ob ich Dies oder Jenes auch thun dürfe, ich hatte nicht nöthig, fortwährend daran zu denken, ob meine Ausgaben auch mit meinen Ein nahmen in [289] gleichem Verhältniß ständen. Die Sorglosigkeit ließ mich einige Tage angenehm ausruhen, die Nähe des Vaters, das Vaterhaus erquickten mich wahrhaft; und doch konnte ich es mir nach wenig Tagen auch bei dem besten Willen nicht verbergen, ich fand mein altes Vaterhaus nicht wieder. Es war Alles nicht mehr wie sonst, aber ich hätte nicht sagen können, was denn eigentlich in den fünf Viertel Jahren anders geworden sei.

Ich wurde, ohne recht zu wissen weßhalb, ganz traurig, wenn ich mich in einer der Stuben allein befand; wennschon Vieles hübscher, eleganter geworden war als zuvor. Meines Vaters Verhältnisse rundeten sich immer mehr ab. Wir brauchten seit den letzten Jahren weit weniger für das Nothwendige des täglichen Lebens, es konnte also mehr für die Annehmlichkeit desselben und für die Ausschmückung des Hauses geschehen, das von den Schwestern ganz in dem Sinne und mit der Sauberkeit unserer Mutter gehalten wurde. Aber es war überall so still! So still in der Wohnstube, so still in der Eckstube, so still auf den Fluren und Treppen!

War mir die Familie schon vor dem Jahre klein erschienen, so dünkte sie mich das jetzt nur noch mehr. Statt der acht Kinder, welche sonst um die Eltern versammelt am Eßtisch gesessen hatten, waren wir nur noch unserer Viere bei dem Vater, denn ich hatte die Schwester, welche ich in Franzensbad gepflegt, nicht mit zurückgebracht, weil man sie im nächsten Sommer noch eine neue Kur brauchen lassen, und ihr den strengen Königsberger Winter ersparen wollte. Die große Wohnstube, in welcher wir immer zu vierzehn Personen am Tische gewesen, war für [290] uns zu groß geworden, und man hatte sich daher neuerdings eines der andern Zimmer zur Wohnstube eingerichtet. Die Zimmer meiner Brüder standen schon seit Jahren leer, die Etage, welche meine Mutter zuletzt inne gehabt hatte, war an eine fremde alte Dame vermiethet worden; auch meine Hangelstube hatte leer gestanden, und ich – ich konnte mir das nicht wegläugnen, und eine gewisse Wehmuth darüber nicht von mir bannen, ich war selbst nur noch als ein Gast im Vaterhause, wurde nur als ein Gast, wenn auch als ein sehr willkommener betrachtet.

Die Meinen freuten sich Alle, Alle, meiner Wiederkehr. Sie hatten in meiner Abwesenheit empfunden, daß ihnen durch meine Entfernung doch das belebende Element verloren gegangen sei, und wie ich früher mit meinen Erzählungen und Einfällen oft Heiterkeit verbreitet hatte, so gab es auch jetzt bisweilen des Lachens kein Ende, wenn ich zu berichten anhub, was ich gesehen und gehört. Mein Vater saß dann sichtlich vergnügt, und still in sich hineinlachend, auf dem einen der beiden Ecksophas nahe am Ofen, darüber scherzend, welch ein dankbares Publikum ich an den Meinen hätte, aber es überraschte mich, daß er so viel bei uns im Zimmer war, daß er so oft auf dem Ecksopha saß. Und daß er die Nähe des Ofens suchte, daß er gelegentlich über Kälte in den Stuben klagte, war mir so fremd an ihm. Ihn hatte sonst nie gefroren. Wenn wir uns einmal über Kälte beschwert, hatte er uns seine lieben, warmen Hände hingereicht, und lachend gesagt: »Warum friert mich nie?« – Jetzt hatte er öfter kalte Hände, jetzt rühmte und liebte er die Wärme der Zimmer.

[291] Er schien mir ganz auffallend gealtert zu haben, seit ich ihn vor fünf Monaten in Berlin zuletzt gesehen. Ich fragte die Schwestern, sie theilten meine Besorgniß, meinten aber, der Vater wäre schon im letzten Winter verändert gewesen, und habe sich nur in Berlin erfrischt gezeigt. Ich fragte den Hausarzt, auch er fand den Vater verändert, vertröstete mich jedoch damit, daß das Alter sich bei dem Einen früher, bei dem Andern später einstelle, ohne daß im erstern Falle einer besondern Befürchtung Raum zu geben sei; und als ich mich endlich mit dringendem Bitten und Forschen an den Vater selber wendete, lachte er mich aus. »Nun Du für Dich nicht mehr hypochondrisch bist, wirst Du es für mich!« sagte er neckend, »laß mich damit aber ungeschoren. Mir fehlt Nichts als höchstens Sorgen. Ich habe sie mein Lebelang gehabt, nun ich sie los werde und weniger zu thun habe, weiß ich zuweilen nicht, was ich machen soll, und werde müde von dem vielen Lesen!«

Es lag darin etwas Wahres, aber es erklärte den Zustand doch nicht, wie ich wünschte. Von materiellen Sorgen war der Vater wesentlich befreit. Er sprach mit uns gelegentlich sehr heiter davon, wie er allmählig seine Grundstücke verkaufen, sein Vermögen realisiren, nach Berlin ziehen werde, aber er machte sich dafür mehr noch als früher Sorge darüber, daß keine seiner Töchter verheirathet war, und selbst die guten Nachrichten, welche man von Moritz erhielt, erheiterten ihn nicht dauernd. Er hatte eben mit der alten Spannkraft offenbar auch die alte Leichtlebigkeit verloren.

Die Schwestern thaten für ihn, was sie konnten und [292] wußten. Alle die Sorgfalt, welche früher der Mutter zugewendet worden, war jetzt auf ihn allein gerichtet. Alles hing an seinen Augen, und doch wünschte ich für ihn oftmals die Mutter zurück, doch kam mir bisweilen der Gedanke, daß es vielleicht gut für ihn gewesen sein würde, wenn er sich wieder verheirathet hätte. Töchter ersetzen einem Manne die Frau nicht. Der Mann, der an eine ihn befriedigende Ehe, an die Liebe einer Gattin, an die Hingebung eines Wesens gewöhnt ist, das keine Zukunft außer ihm hat, vermißt dies Eigenste ohne alle Frage immer und immer wie der! Ich machte mir für mich selbst gar keine Illusion darüber, und ich war und blieb innerlich traurig, so sehr mein Vater sich an mir freute. Ich dachte immerfort an seinen Tod, und mußte mir das inzwischen doch als eine thörichte Besorgniß vorhalten. Aber die ruhige Zuversicht, mit welcher ich auf ihn und auf mein Vaterhaus, wie auf das Bestehen der Erde, wie auf Etwas hingeblickt hatte, das immer gewesen war und darum auch immerfort da sein würde, war von mir gewichen.

Ich hatte mich bis dahin zu dem Vaterhause wie ein Zugvogel zu seinem alten Neste verhalten. Ich war hin und hergewandert, und hatte mich immer darauf verlassen, daß der alte gute Eichbaum auf dem alten Platze festgewurzelt dastehen, und mir in seinen schützenden Armen mein Heimathnest bewahren würde, so oft es mich trieb, unter seinem sichern Dache Ruhe und Zuflucht zu suchen. Jetzt fiel es mir oftmals ein, der Baum könne gefällt werden, ich könne einmal die Stätte leer finden, auf der er gestanden und sich über mich gewölbt, und [293] weil der Gedanke mir das Herz zusammenschnürte, fragte ich mich dann: »Aber warum grade Er? warum Er? der noch so stattlich dasteht und noch lange nicht an das Maaß der Jahre angelangt ist?«

Indeß je länger ich zu Hause verweilte, um so mehr dünkten mich die Befürchtungen, welche ich zu Anfang gehegt hatte, unbegründet oder doch mindestens übertrieben. Der Vater war stets wohlauf, fing sich nach meiner Meinung wieder zu erholen an, und ich sagte bisweilen scherzend: »Ich bin wie ein Stahlbad für den Vater und für Euch Alle, ich mache Euch munterer!«

Es wurde mir zu Liebe und zu Ehren Gesellschaft eingeladen. Die alten Bekannten und meine besondern Freunde kamen wieder häufiger, das Haus belebte sich auf's Neue, und der Vater hatte das ersichtlich gern. Die Neigung und Theilnahme, welche man mir bewies, machten ihm Vergnügen, es freute ihn, wenn man mit mir von meinen Arbeiten sprach, wenn Männer, die er hoch hielt, mein Urtheil gelten ließen. Ich lebte mich dadurch bald wieder in der Heimath ein, und hatte mich eigentlich nie so vollkommen zufrieden in derselben gefühlt; aber ich machte dennoch die Erfahrung, wie gut es sei, daß die Todten nicht wiederkommen können.

Wo ein Mensch seine Stelle verläßt, treten aus Nothwendigkeit Andere für ihn ein, die Lücke, welche er unersetzlich offen gelassen zu haben wähnt, füllt sich aus, und wie nützlich er einmal gewesen, er findet selten für sich noch Etwas zu thun, wenn er zurückkehrt. Auch ich war im Wesentlichen in unserm Hause entbehrlich geworden. Meine Schwestern ersetzten mich in allem Materiellen, [294] ich hatte mich für alle Theile dessen nur zu freuen, und dennoch that's mir wehe. Das war die Ungenügsamkeit des Menschenherzens, das war ein Suchen nach der Quadratur des Zirkels. Wer frei sein will, muß nicht unentbehrlich zu sein verlangen; wer sich selber leben will, muß es sich gefallen lassen, daß man sich auch ohne ihn einrichtet. Aber solche Erfahrungen sind nicht leicht zu machen.

Eine andere Erfahrung stand mir an unserm frühern Hausgenossen, an unserm Freunde Crelinger bevor. Er hatte mir in dem Jahre öfter und stets mit der alten Zuneigung geschrieben, er war auch der Erste unserer Freunde gewesen, der herbei gekommen war, mich zu begrüßen, und ich hatte ihn in den wünschenswerthesten Verhältnissen wieder gefunden. Er hatte große Geltung, einen bedeutenden allseitigen Einfluß erlangt, er machte sich ein Vermögen, lebte und wohnte mit der Eleganz, an welche er früh gewöhnt gewesen, und war offenbar sehr zufrieden mit seiner Lage. Geistreich und liebenswürdig wie immer, bewies er mir Freundschaft und Aufmerksamkeiten aller Art, aber ich fühlte es mit Schmerz, er hatte zu mir nicht mehr seinen alten Ton voll offenem Vertrauen.

Ich konnte das nicht ertragen, gestand ihm das und bat ihn mir zu sagen, was ich gethan hätte, sein Zutrauen zu verscherzen. Anfangs wich er mir aus, dann sagte er einmal, als wir eine Weile schweigend bei einander gewesen waren, ganz urplötzlich: »Ich möchte wohl wissen, was Sie innerlich jetzt beschäftigt!«

Ich verstand dies Verlangen nicht. »Was soll mich[295] denn beschäftigen außer meiner Arbeit, von der ich Ihnen ja gesprochen habe?« versetzte ich.

»Ich weiß es nicht!« wiederholte er, »aber Sie haben sicherlich wieder irgend Etwas, was Sie für sich selbst behalten, was Sie uns zu verbergen für gut befinden!«

»Wie kommen Sie auf diesen Einfall?« rief ich lachend aus, »Sie, denke ich, könnten es am Besten wissen, daß ich aus meinem Denken und Empfinden eben keine Geheimnisse zu machen pflege.«

»Früher habe ich das allerdings geglaubt,« sagte er bestimmt und ernsthaft, »seit ich aber die Erfahrung gemacht habe, daß Sie mit dem Anschein völliger Offenheit unter Ihren nächsten Freunden leben, und ihnen dasjenige verbergen konnten, was Ihr eigentliches Leben ausmachte, bin ich anderer Meinung geworden. Ich habe Sie täglich gesehen, täglich viel mit Ihnen verkehrt, und Sie haben Romane geschrieben, sind damit in die Oeffentlichkeit getreten, ohne daß ein Wort, eine Aeußerung die innern Erlebnisse kund gaben, welche jene Thatsachen Ihnen veranlaßt haben müssen. Das setzt eine Kraft des Willens und des Insichberuhens voraus, die ich bewundre, die mir aber, ich bekenne Ihnen das ganz ehrlich, unheimlich ist. Wo man den Grund nicht sieht, hat man die rechte Sicherheit nicht mehr!«

Ich war auf das Höchste betroffen und betrübt, denn es gab wenig Menschen, für welche meine Freundschaft ernster, zu denen mein Vertrauen fester gewesen wäre, und die sich mir persönlich zuverlässiger bewährt hatten, als eben dieser Mann; und doch hatte ich ihm Nichts zu erklären, Nichts zu antworten, als daß mein Vater mir [296] verboten, von meinen dichterischen Arbeiten zu sprechen, und daß ich ihm natürlich hätte gehorchen müssen.

»Ich weiß das,« versetzte er, »und es ist sehr schön und tugendhaft von Ihnen, daß Sie Ihr Wort gehalten haben; aber es giebt viele Fälle, in denen die Sünde menschlicher, liebenswürdiger als die Tugend ist. Man vergiebt auch weit leichter eine aus dem Drange des Herzens entsprungene Schwäche, als man sich von einer so auf sich selbst gestützten Gewissenhaftigkeit in Erstaunen setzen läßt.«

Der Ausspruch, der aus der innersten Wesenheit unseres Freundes hervorgegangen war, that mir eben so wehe als Unrecht; denn Crelinger bedachte nicht, daß mein Vater kein Verehrer der liebenswürdigen Schwächen war, und sicherlich sich nicht geneigt gefunden hätte, mir eben in diesem Falle eine Uebertretung seines Gebotes zu Gute zu halten. Er bedachte auch ferner nicht, daß man frei sein muß, um frei nach dem Drange seines Herzens handeln zu können. Abhängigkeit macht bedächtig und lähmt den Erguß der Empfindung. Freundschaft und Liebe kommen deßhalb auch nur unter möglichst unabhängigen und geistig freien Menschen zu ihrer höchsten Blüthe und Entfaltung.

Diese kleine Verstimmung zwischen uns ging indessen bald vorüber. Der männliche Stolz und die Eitelkeit, welche bei solchen Mißverständnissen unter Freunden verschiedenen Geschlechtes, oft ohne daß man sich dessen bewußt ist, die eigentlichen Friedensstörer machen, fanden sich in dem erneuten Beisammensein bald wieder beruhigt, denn der welterfahrene Mann hatte wieder reichlich Gelegenheit, [297] sich mir überlegen zu fühlen. Er gewann mich schnell wieder lieb wie früher, da er mich nicht mehr zu bewundern brauchte, und ich war damit sehr wohl zufrieden.

Aehnlich, aber viel heiterer als diese Erfahrung mit unserm Freunde, war die Bemerkung, welche ich an einigen von den Frauen meines Umgangskreises zu machen hatte. Ihnen war ich, so lange sie mich auch kannten, mit einem Male zu einem Gegenstande der Neugier geworden. Sie wunderten sich über mich, nur in anderm Sinne wie unser Freund. Sie wunderten sich über die von mir erschienenen Bücher, wie über das Bekanntwerden einer neuen Verlobung, die sie nicht vorausgesehen hatten; sie wunderten sich, daß sie mir gar Nichts angemerkt, und sie wunderten sich eigentlich über Alles und immerfort, so lange ich zu Hause war.

Die Eine wunderte sich, daß ich hätte Bücher schreiben können, da ich doch eine gute Wirthin sei; die Andern darüber, daß sie gar nicht gesehen, wie viel ich geschrieben, während sie mir doch gegenüber gewohnt. Diese war ganz erstaunt, daß ich mich aller früheren Verhältnisse – ich war die Ewigkeit von fünf Viertel Jahren von Hause entfernt gewesen – noch so deutlich erinnerte, Jene war noch viel erstaunter, wenn ich mich irgend eines Dienstmädchens nicht erinnerte, welches sie vor meiner Abreise in ihrem Hause gehabt hatte. »Mein Gott! Sie nähen und flicken noch?« rief die Eine, wenn sie mich bei solcher Arbeit fand. »Nun freilich, zum Nähen und Stricken lassen Sie sich nicht mehr herab!« meinte die Andre, wenn ich einmal zufällig müßig am Theetisch saß. Und bei [298] alle dem Verwundern wunderte ich mich darüber, wie die fremde Meinung, für welche ich früher eine überaus große Empfindlichkeit gehabt, im Kleinen wie im Großen, im Geringfügigen wie im Bedeutenden, ihren Einfluß auf mich zu verlieren begann. Ich hatte ein eigenes selbstständiges Dasein, eigene selbstständige Zwecke gewonnen, wußte, was ich wollte und sollte, und auf welchem Wege ich mein Ziel zu suchen hatte; und wer das weiß, wird mit dem Urtheil der Leute gar bald fertig.

Man fand im Allgemeinen, daß ich zum Vortheil verändert, daß ich milder geworden sei.

Zu Hause lebte ich gute Tage. Ich hatte keine Störung irgend einer Art und konnte arbeiten nach Herzens Lust. Früher hatte der Vater es geschehen lassen, wenn ich schrieb, jetzt freute es ihn. Er kam bisweilen mitten in seinen Geschäftsstunden aus dem Comptoir herauf, setzte sich in meiner Hangelstube auf das Sopha, und fragte: »Nun was machst Du denn? kommst Du vorwärts?« – Er stand dann wieder auf, sah mir über die Schulter in das Blatt, und wendete sich mit einem lächelnden: »Wo Du das Zeug nur Alles hernimmst!« von mir ab, um wieder an seine Geschäfte zu gehen.

Ich vertiefte mich denn auch recht mit Genuß in meinen Roman, der mir um seines Stoffes, wie um der einzelnen Gestalten willen, immer mehr in das Herz wuchs. Es handelte sich in demselben um die sittliche Berechtigung der Ehescheidung, wenn die Ehe aufgehört hat, eine Ehe im höhern Sinn des Wortes, das heißt: die durch gegenseitige Liebe und Werthschätzung nach allen Seiten förderliche Verbindung der Eheleute zu sein.

[299] In dem Roman »Clementine« hatte ich darzuthun versucht, daß eine auf gegenseitige Achtung begründete Ehe selbst dem Wiedererwachen einer frühern und berechtigten Liebe nicht geopfert werden dürfe. Jetzt wünschte ich es in dem Roman »Eine Lebensfrage« zu beweisen, daß die große Anzahl von Ehen, welche ohne innere Nothwendigkeit geschlossen werden, nur zu häufig den Keim zu einer unheilvollen Entwicklung in sich tragen; und wie das eheliche, auf die bloße Gewohnheit und die kirchliche Erlaubniß begründete Zusammenleben von Mann und Weib eine Unsittlichkeit wird, wenn dieser Verbindung die Liebe abhanden gekommen ist.

Für einen Deutschen ist es aber fast unmöglich, das Thema von den sittlichen Zerwürfnissen innerhalb der Ehe zu durchdenken und abzuhandeln, ohne sich dabei der Wahlverwandtschaften zu erinnern, ohne sich mit seinem Für und Wider an sie anzulehnen; und nach der Schilderung, welche ich in diesen Blättern von dem Eindruck gegeben habe, den jene große Dichtung in den verschiedenen Zeiten meiner Jugend auf mich gemacht, war es natürlich, daß auch ich mich auf ihren Grund und Boden zurückzog, um meine Sache innerhalb ihres Bereiches zu verfechten.

So hatte ich denn im ersten Bande der Lebensfrage eine Unterhaltung eingewoben, in welcher es sich um die oft erörterte Frage handelte, ob die Tendenz der Wahlverwandtschaften eine der Ehe günstige oder ungünstige, ob sie demnach eine im Sinne der bestehen den Moral und Sittengesetze sittliche oder unsittliche sei, und ob und welche Sünden in dem Romane begangen werden.

»Verbrechen werden allerdings in den Wahlverwandtschaften [300] begangen!« sagt Alfred, der Held meines Romans. »Daß Eduard aus eigensinniger Laune auf eine Verbindung mit der einst geliebten Charlotte besteht, daß diese, ganz gegen ihre bessere Ueberzeugung, aus Eitelkeit nachgiebt, das ist das erste Verbrechen. Wenn dann die verständige Charlotte den Hauptmann, Eduard die holde Ottilie liebt, so folgen sie nur dem Gesetz der Natur, die Ungleiches trennen, Zusammengehörendes verbinden will. Das fühlen Alle; und hier tritt der Fall ein, in dem die Trennung einer Ehe, wie ich es nannte, zu einer hohen sittlichen That wird. Aber solche Thaten fordern Muth, fordern ein großes, sittliches Bewußtsein. Dieses hat keiner von Allen, die es haben müßten. Von dem Kinde Ottilie sind sie nicht zu verlangen. Charlotte hat die Einsicht, aber ängstliche Scheu vor dem Tadel der Welt, vor großem Aufsehen hält sie zurück. Der Hauptmann schweigt aus falschem Stolz, Eduard giebt nach aus kleinlicher Schwäche. Das sind die Verbrechen, die Sünden, welche in dem Roman begangen werden, das liefert sie Alle in die Hände der vergeltenden Nemesis, die hier, wie in der antiken Tragödie, furchtbar waltet.«

»Ich stimme Dir ganz bei,« sagte der Präsident, »und habe selbst oft gestrebt, Therese für diese Ansicht zu gewinnen. Ich wüßte kaum eine andere Dichtung, in der diese Idee so rein und vollendet ausgesprochen wäre.«

»Denken Sie nur,« rief Alfred, »Ottilie die Sanfte, Hingebende selbst, muß das Werkzeug werden zum Tode des Kindes, das aus der verbrecherischen Umarmung der Gatten entsprang. Sie stirbt verzweifelnd, Eduard folgt [301] ihr nach. Charlotte steht einsam zwischen den Gräbern aller Derer, die sie einst liebte; durch diese Gräber für immer von dem Hauptmann getrennt. Ihr wird das schwerste Loos, zur Strafe dafür, daß sie es gewesen ist, welche den Fluch bannen konnte, und aus selbstischen Rücksichten das Zauberwort verschwieg.«

Soweit jenes Gespräch, das ich nur in der Absicht hierhersetze, um den Standpunkt zu bezeichnen, auf dem ich mich in jener Zeit befand, und die Ueberzeugung, aus welcher mein Roman entsprungen ist.

Es ist hier nicht meine Aufgabe, einen Abriß meiner frühern Arbeiten zu geben, oder ihre Eigenschaften zu beweisen und ihre Mängel zu entschuldigen. Sie sind fertig, sind da, die Kritik hat sie beurtheilt, das Publikum sie kennen gelernt. Mich haben sie gefördert, denn sie haben mich immer und überall zum ernstesten Nachdenken veranlaßt, sie haben meine Ueberzeugungen geklärt und festgestellt, und wenn ich so weit gekommen war, bin ich immer auch bemüht, und ist es mir ein unabweisliches Bedürfniß gewesen, dasjenige im Leben und in der That zu behaupten, was ich in der Dichtung als meine Ueberzeugung ausgesprochen hatte.

Ich habe daher in diesen Memoiren nur den Beruf, wenn es sich so fügt, über die Art meines Schaffens und über die Entstehung der einzelnen Gestalten, eine gelegentliche Auskunft für Diejenigen zu geben, welchen dieselben etwa lieb geworden und lebendig geblieben sind, und ich habe hauptsächlich den Zusammenhang zwischen meinem Leben und meinem Dichten zu erklären, wo dieser in ungewöhnlicher Weise in meinen Arbeiten vorhanden [302] zu sein scheint, wie das bei der Lebensfrage und meinem persönlichen Lebenswege der Fall ist. Indeß als ich im Jahre vierundvierzig in der friedlichen Stille meiner kleinen Stube mit Seelenruhe und Behagen an meinem Romane arbeitete, war ich weit davon entfernt zu ahnen, daß ich Verhältnisse erfand, Schmerzen und Leiden darstellte, welche ich in weit höherem Maaße selbst zu durchleben haben sollte; daß ich die Freiheit der Selbstbestimmung vertrat, die ich einst für mich in Anspruch zu nehmen genöthigt sein sollte, ja daß es mir beschieden sein würde, mich schon ein Jahr nach dem Erscheinen meines Romanes, als Mitleidende in den Seelenkämpfen zu befinden, welche durch die Trennung einer nicht mehr glücklichen und darum nicht mehr aufrecht zu erhaltenden Ehe, veranlaßt wurden, durch deren Scheidung sich mein jetziges Dasein mit seinem Frieden und mit seinen Freuden aufgebaut hat.

Ich habe, wie man gelegentlich wohl geglaubt und gegen mich behauptet hat, in der Lebensfrage durchaus nicht »für Haus und Hof« gestritten; ich habe nach keinem Portrait oder Vorbilde gearbeitet, mich zu meinem Stoffe so objektiv als möglich verhalten, und dabei die große Genugthuung genossen, daß mein Roman, wider alle mein Erwarten, große Gnade vor meines Vaters Augen fand.

Ich hatte die Besorgniß gehegt, daß er weder mit dem Stoffe an sich, noch damit zufrieden sein werde, daß eben ich diese Tendenz vertrat, indeß mein Vater hatte nach wie vor die schöne Gewohnheit beibehalten, mit den Dingen fertig zu werden, und Nichts halb zu thun. Es [303] war mir daher erfreulich und rührend, es zu sehen, wie er seine Autorität über mich völlig außer Acht ließ, wenn er es mit meinen Arbeiten zu thun hatte, wie er sich ganz allein an die Sache hielt, und mich ohne Abmahnung oder Antrieb meinen Weg suchen und wählen ließ.

Hatte ich einige Kapitel fertig, so las ich, was früher nicht geschehen war, sie dem Vater am Abende nach seinen Comptoirstunden vor; und einmal forderte er mich auf, einem seiner Jugendfreunde, einem sehr gebildeten Kaufmanne, der mich seit meiner Kindheit kannte, ein Bruchstück aus dem Romane »zum Besten zu geben« als derselbe uns eines Abends besuchte.

Ich mußte dazu einige Scenen wählen, in denen die Schauspielerin Sophie Harcourt die Hauptperson machte, und in denen »viel vorging«; denn der Vater interessirte sich bei einem Roman wesentlich nur für das, was in demselben an Handlung enthalten war. Eben so hielt er nicht viel von den in sich fertigen Gestalten, von den idealen Charakteren. Sie waren niemals sein Geschmack, und in diesem Punkte theilte und theile ich seine Neigung. Es sind nie die sogenannten Ideale gewesen, welche zu erschaffen und auszuführen mir die meiste Freude gemacht hat, weil sich in der Regel ihres Gleichen in der Wirklichkeit nicht findet. Jene Figuren, welche das absolute Laster oder die absolute Tugend in sich darstellen, sind mir schon in den frühen Zeiten, in welchen ich mich, mit mühsam aufrecht erhaltener Geduld, durch die zwölf dicken Bände, und durch die saubern Kieswege des Grandison durchkämpfte, eben so unwahr als langweilig vorgekommen.

[304] Nicht weniger unwahr und nicht weniger langweilig als Grandison sind mir aber auch jene vollendeten Tugendheldinnen, jene idealischen Weiber, jene weiblichen, sogenannten unverstandenen Seelen erschienen, welche in der Zeit, in der ich zu schreiben begann, aus Frankreich in unsere Romane eingeführt worden waren, und gegen die ich, nachdem ich eine Weile mit einfältiger Bewunderung an sie geglaubt hatte, bald einen wahren Abscheu empfand.

Es war etwas Ueberraschendes, etwas Gewaltiges in der dreist und feurig ausgesprochenen Leidenschaft, in welcher Frankreichs erster lebender Dichter, George Sand, uns die Frauengestalten hinstellte, deren große Herzen die Männer nicht zu schätzen vermochten, und die zu keinem Frieden und zu keinem Glück gelangen konnten, weil sich nie ein Mann vorfand, der solch ein Herz zu würdigen und zu verdienen im Stande gewesen wäre. Ich selbst trug mich in jenen Tagen freilich auch mit dem Glauben herum, daß mein Herz und ich nicht verstanden und nicht gewürdigt würden, weil der Mann, den ich liebte, mich zufällig nicht wieder geliebt hatte, wie ich es wünschte; und so lange ich noch verwirrt genug, und genug in meiner Leidenschaft befangen war, um lieber ihn, als meine Verblendung anklagen zu wollen, schwärmte ich so gut wie die Andern, für die unverstandenen Frauenseelen, und fand ich eine große Befriedigung darin, mich zu ihnen zu zählen, mich mit ihnen in den Himmel erheben, und die Männer, die uns verkannten, verurtheilen zu dürfen.

Es war so unendlich viel poetischer, sich in die Kategorie der leidenden Erhabenheit einzureihen, sich einer Gemeinschaft von stillen Heiligen einzuverleiben, als ein [305] Mädchen zu sein, das leider unverheirathet geblieben war! Und so groß war damals meine Begeisterung grade für diese Frauengestalten, für diese großen weiblichen Herzen in George Sand's Romanen, für die Frauen, die in Lelia und in Leo Leoni immer frisch darauf los liebten, auch wenn man sie mit Füßen trat, daß ich über dieser Unwürdigkeit und Unwahrheit die Bedeutung übersah oder doch lange nicht genug schätzte, welche George Sand besitzt, wo er sich auf dem Boden der Wahrheit und der Wirklichkeit befindet. Erst viel später, als ich seine Irrthümer völlig begriffen hatte, habe ich mit richtigem Sinne seine große Bedeutung gewürdigt, aber so oft auch Personen, welche George Sand und mich in unsern Arbeiten nicht recht gekannt haben müssen, mich mit ihm zu vergleichen und mich als seinen Nachahmer zu bezeichnen geliebt haben, bin ich dieses Letztere doch niemals gewesen, und habe es nicht sein können. Dazu waren der Boden, von dem wir Beide ausgingen, dazu waren unsere Anlagen und unsere religiösen und socialen Anschauungen schon viel zu sehr von einander verschieden. Und wie unbedingt ich seine Meisterschaft auch anerkenne, das Recht, meine Erkenntniß und mein Irren, mein Gelingen und mein Mißlingen mir selber als mein Eigenthum zuzuschreiben, das darf ich nach diesen Bekenntnissen unbedenklich für mich in Anspruch nehmen.

Meine blinde Verehrung für George Sand währte geraume Zeit; denn der ausländische Dichter hat vor dem heimischen den Vorzug voraus, daß man ihm nicht so bequem nachkommen, daß man ihn nicht so leicht kontrolliren kann, und ihm deßhalb bereitwilliger vertraut. [306] Was ich George Sand lange genug auf sein beredtes Wort geglaubt hatte, das glaubte ich der Gräfin Hahn-Hahn, als diese unter uns auftrat, nicht mehr auf ihr Wort. Ich war einige Jahre älter, war ruhiger und reifer geworden, hatte meine Irrthümer erkennen, und mit mir fertig werden lernen; und wenn die erhabenen Herzen aller der Gräfinnen in den Hahn-Hahnschen Romanen mir Anfangs auch noch so sehr imponirten, so lag das im Grunde nicht allein in der idealischen Vollkommenheit dieser Gräfinnen, sondern zum Theil auch in gewissen äußern Anreizen.

Für uns Bürgermädchen und für die Frauen des Bürgerstandes überhaupt, die wir auf Arbeit und Beschränkung angewiesen sind, hatte der völlige Müßiggang der vornehmen Damen in den Hahn'schen Dichtungen etwas Bezauberndes. Bei George Sand war das ganz anders. Genévieve machte Blumen von früh bis spät, Pauline nähte in ihrer einsamen Provinz, die Herbergsmutter in den Compagnons du tour de France arbeitete was Zeug hielt. Es war das ein gutes bürgerliches Element in George Sand, und die Frauen liebten doch auch ehrlich, und gingen ehrlich an ihrer Liebe zu Grunde, wenn es eben nicht anders sein konnte. Bei der Gräfin Hahn-Hahn war das aber anders. Erstens liebten in der Regel nur Gräfinnen, und die Liebe wurde dadurch gewissermaßen zu einem aristokratischen Vorrecht erklärt, zweitens wollten die Gräfinnen immer nur sehr lieben, konnten es aber nie recht zu Stande bringen. Sie waren hauptsächlich für das Geliebtwerden auf der Welt, sie vertraten in der modernen vornehmen Gesellschaft [307] die Madonnen, und warfen nur gelegentlich, wie etwa die Maria von Gemund dem armen Violinspieler den goldenen Pantoffel ihrer Liebe zu, jedoch immer mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, nicht, wie die ehrliche Madonna von Gemund, den zweiten Pantoffel im Nothfall nachzuwerfen, sondern vielmehr fest entschlossen, den ersten Pantoffel stracks zurück zu nehmen, wenn sie ihn etwa anderweit gebrauchen sollten.

Dies Manöver und diese Tendenz begriff ich aber Anfangs so wenig, als die große Masse unserer andern Frauen. Die Romane »Ilda Schönholm« und »der Rechte« erschienen mir höchst bewundernswerth. Wenn ich in der Hangelstube saß, und auf die Nachbarhäuser und die Nachbarn gegenüber blickte: auf den Materialhändler und den Klempner, und dabei an den Mittag dachte, und ob die Köchin auch Nichts verderben werde; oder wenn ich Abends zur Gesellschaft die Männer um mich hatte, die müde gearbeitet und voll mancherlei Sorgen waren, und denen es gar nicht einfiel, mich zu lieben, so dünkte es mich gar zu beneidenswerth, wenn die Romangräfinnen im rosa Mousselinkleid mit schwarz seidenen Schuhen auf der Plattform des Mailänder Domes saßen, auf das Land und auf die schneebedeckten Alpen schauten, und keine Sorgen hatten und obenein über alle Maßen geliebt wurden! Dazu waren alle Romane der Gräfin Hahn äußerst spannend, und die Welt, in welcher sie sich bewegten, eine mir damals noch fremde und sehr anziehende. Gab man die Grundlagen der Charaktere zu, so waren sie mit Meisterschaft durchgeführt, die Reflexionen der Gräfin hatten etwas Blendendes, ihre Empfindungen [308] waren bisweilen tief, sie war in jedem Betrachte ein großes Talent; aber schon bei ihrem dritten Romane, bei der Faustine, wurde ich mißtrauisch gegen sie, und bekam ein ehrliches Mitleid mit den Männern.

Ich konnte es gleich Anfangs nicht begreifen, weshalb Faustine in das Kloster gehen muß; und als ich dann im Sommer von vierundvierzig in Teplitz die Faustine zum zweiten Male las, fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Es war mir, wie vor jenen Jahrmarktsbildern, welche eine schön geputzte Dame dar stellen, und die, wenn man sie umklappt, Nichts sind, als ein grauenvolles Skelett. Fast ohne es zu wollen, setzte ich mich nieder, und schrieb mit dem heftigen Zorn des Neubekehrten, der sich gegen das von ihm angestaunte Götzenbild erhebt, eine Kritik des Romanes. Es lag für mich etwas so Ungesundes, Unwahres darin, daß Faustine, die angebetete Gattin eines edlen, von ihr heißgeliebten und sie zärtlich liebenden Mannes, die Mutter eines »göttlichen Knaben«, die gefeierte Künstlerin, gar Nichts mit sich und mit dem Leben anzufangen weiß, als in das Kloster bei denvive sepolte einzutreten, weil sie: »anbeten, immerfort anbeten will!«

Ich mochte diese Recension aber nicht unter meinem Namen drucken, eben so wenig, da ich dies nie gethan, sie anonym erscheinen lassen; und sie blieb deshalb liegen, und wurde niemals gedruckt. Ich fing von da ab jedoch an, die Werke der Gräfin Hahn mit offenen Augen zu betrachten. Mein Widerwille gegen die weibliche Selbstsucht und gegen die Herzlosigkeit, welche in jedem ihrer Romane sich dreister und heuchlerischer zugleich, kund [309] gaben, stieg dadurch von Jahr zu Jahr, weil ich von Jahr zu Jahr die Verblendung wachsen sah, welche sie in den Köpfen und in den Herzen einer Menge von Frauen anrichteten.

Sie wollten mit einem Male Alle, jung und alt, mehr und mehr geliebt werden und vergaßen, daß im Lieben Glück liegt. Jedes alternde Mädchen, das mit seiner Haltlosigkeit nicht fertig werden konnte, jede Frau in deren Klaviergeklimper der beschäftigte Mann keine Offenbarung zu erkennen vermochte, steifte sich zur unverstandenen Seele auf; und Frauenzimmer, welche die Männer eben so wenig kannten als ihr eigenes Innere, nahmen die müßigen, bald rohen, bald schwärmerisch anbetenden, meist aber völlig charakterlosen gräflichen Helden der Gräfin, für die Typen des männlichen Geschlechtes, dem sie sich eben deshalb auf sehr billige Weise überlegen, und über das sie sich sehr leicht erhaben fühlen konnten.

Ich habe in den Jahren von achtzehnhundert vierundvierzig bis siebenundvierzig, in welch Letzterem ich die »Diogena« schrieb, zehnmal die Feder angesetzt, um einmal auszusprechen, wie ich diese Richtung verdammte; aber ich dachte immer: es findet sich wohl ein Anderer, der es sagt, und habe geschwiegen, bis in dem Roman »Sibylle«, nach meinem Empfinden, die Herzlosigkeit und Verschrobenheit ihren Höhepunkt erreicht hatten, und bis ich auch diesen Roman von den Frauen in ihr Credo aufgenommen fand.

Ich konnte die Phrase: »Eine immense Seele aber leer«, »une âme immense mais vide«, mit welcher Sibylle bezeichnet wird, und die beiläufig der Lelia oder Leo Leoni wörtlich entlehnt ist, nicht aus den Gedanken [310] verlieren; sie ärgerte mich von früh bis spät. Wie man aber wohl geneigt ist, seinem Zorn und seiner Empörung einmal mit einem heftig ausbrechenden Worte Luft zu schaffen, so war es eine Art von Selbsthülfe, welche ich mir in der »Diogena« bereitete, während ich es als ein gutes Werk ansah, Andern sichtbar zu machen, was ich selber zu sehen gelernt hatte. Es ist Nichts dagegen zu sagen, wenn Jemand einen Handel mit Gift treibt, sofern er über seine Thüre schreibt: Hier wird Gift verkauft! Wer aber vorgiebt, Nahrungsmittel feil zu halten, und vergiftet diese, der ist, wie strafbar er auch sein möge, sicherlich nicht gefährlicher und nicht strafbarer, als Derjenige, der den nackten Egoismus auf den Altar der Liebe setzt, und der den Frauen Selbstsucht und Selbstvergötterung predigt, welchen man Liebe und Hingebung als ihr schönstes Vorrecht, und als den sichersten Weg zu ihrem Glück darzustellen hat. – Und neben dieser innern Unsittlichkeit in den Romanen der Gräfin Hahn, war der geschmacklose Leichtsinn, mit welchem die deutsche Sprache gehandhabt und in einen wahren Mischmasch von Fremdwörtern verwandelt wurde, in meinen Augen eine wahre Sünde gegen den heiligen Geist unserer edlen Muttersprache; eine Sünde, gegen welche man um so mehr einzuschreiten hatte, da es sehr verlockend für die Halbbildung war, sich durch den Gebrauch des Salon-Jargons die Allüren der Vornehmen anzueignen.

Ich komme wohl im weiteren Verlauf dieser Aufzeichnungen auf den Zeitpunkt und die Umstände, unter welchen ich die »Diogena« schrieb und veröffentlichte, noch einmal zurück.

[311]
17. Kapitel
Siebzehntes Kapitel

Meine Arbeit schritt bei dem ruhigen Leben im Vaterhause schnell genug fort, aber ich konnte es mir nicht verbergen, daß die geistige Freiheit, welche mein Vater mir ließ, mir im Grunde nicht viel frommte, denn je länger ich zu Hause war, je deutlicher fühlte ich, daß ich bei dem Arbeiten wesentlich daran dachte, ob mein Vater damit zufrieden sein, ob es eben ihm gefallen und nicht etwa gegen seine Meinung irgendwie verstoßen würde.

Während ich keine Menschenfurcht hegte, wo es galt, meine Ueberzeugungen durch die Presse kund zu geben, fühlte ich mich vor dem Vater stets wie ein Kind befangen, denn sein Mißfallen oder sein Beifall waren noch immer Dasjenige, was ich am meisten fürchtete und ersehnte.

Auf der einen Seite gereichte mir dieses beständige Hinblicken auf meinen Vater sicherlich zum Vortheil, denn es machte mich gemessen und vorsichtig, aber wer frei schaffen will, muß sich an die Sache selbst und nicht an das spätere Urtheil über das Geschaffene halten. Ich verlor denn auch, je länger ich zu Hause lebte, mehr und mehr von der Unbefangenheit, Frische und Zuversicht, welche mich fern von der Heimath beseelt hatten, und [312] ich fand mich oft geistig, ohne daß ich hätte sagen können wodurch, von den Schranken des väterlichen Hauses eingeengt. Zudem war ich der einzige weibliche Schriftsteller in meiner ganzen Vaterstadt, hatte in dem Kreise, der mich umgab, Niemand, der gleiche oder ähnliche Zwecke verfolgte, und in dem Bestreben, mich heiter und aufrecht zu erhalten, ermüdete ich mich, und ward wehmüthig und elegisch gestimmt, was mir gar nicht frommte.

Vor Allem war das am Weihnachtsabende der Fall. Wir waren unserer nur noch so Wenige beisammen. Wir sahen uns verstohlen darauf an, ob das unsere Stube, unser Haus, ob wir selbst es denn noch wären, die sich einander gegenüber standen?

Ich dachte, während wie sonst die Lichter hell und lustig brannten, an die Zeiten zurück, in denen bei geringen und nur auf das Nothwendige beschränkten Gaben, kaum Platz für uns in dem großen Wohnzimmer gewesen war. Ich erinnerte mich, wie wir einst den Weihnachtsabend mit Leopold gefeiert, wie viel Lachen und Scherz und Uebermuth es sonst an diesem Abende gegeben, wie die Eltern Beide so glücklich über unsere Freude gewesen waren. Nun war das Alles anders!

Der Vater war mit uns allein, es wurde ihm nicht mehr schwer, uns eine Bescheerung zu bereiten – aber es waren keine Kinder, es waren nur noch erwachsene Töchter im Hause, und es jubelte Niemand mehr. Die Zeit der unermeßlichen Kinderfreude war vorüber, der Schmerz war über uns Alle schon hinweg gegangen, wir hatten die Trennung kennen lernen, und die Endlichkeit des Menschen begriffen. Unsere Gedanken waren nicht [313] mehr ausschließlich bei dem Weihnachtsbaum. Sie waren in die Ferne, in die Vergangenheit, in die Zukunft gerichtet, das Vaterhaus war uns nicht mehr die ganze Welt, der Augenblick machte nicht mehr ausschließlich sein Recht über uns geltend wie früher, er nahm uns nicht mehr gefangen.

Wir dachten an die Mutter, die nicht mehr bei uns war, wir dachten an Moritz, der einsam im fernen Asien sicherlich mit Sehnsucht sich zu uns träumte, wir dachten an die Geschwister in Berlin, die den Abend in fremden Familien, an unsere Schwester, welche ihn in Breslau im Hause unseres Onkels zubrachte, und Jeder fragte mich: »Wo wirst Du am nächsten Weihnachtsabende sein? Mit uns wirst Du ihn wohl so bald nicht wieder zubringen.« – Nicht mehr! Nicht wieder!

Es war unverkennbar, die Familie hatte angefangen, sich in selbstständige Existenzen aufzulösen. So nothwendig und natürlich dies auch überall ist, hat es doch, wo immer es sich ereignet, seine schmerzliche Seite, und der Vater empfand diese, ohne alle Frage, sehr tief, wenn gleich er sich niemals darüber äußerte.

In jedem Betrachte von der höchsten Selbstlosigkeit munterte er auch mich fortdauernd auf, die Welt zu sehen, und da ich mir das Geld dazu erarbeitet hatte, eine Reise zu machen. Er scherzte mit mir darüber, daß es Zeit für ihn werde, sich von seinem Geschäfte zurückzuziehen, da er nun bald fünf Kinder auswärts, und damit alle seine Zeit zum Briefeschreiben nöthig haben werde, und er gefiel sich darin, mit mir die Landkarte vorzunehmen, [314] und die Reiserouten zu durchdenken, welche ich etwa wählen könne.

Ich schwankte lange zwischen einer Reise nach Frankreich und einem Aufenthalte in Italien, und neigte eigentlich mehr für die Erstere, weil mir die Sprache geläufig, die Geschichte des Landes vertraut, die französische Literatur mir damals noch vorzugsweise lieb war, und weil ich von Jugend an mich oftmals mit dem Wunsche getragen hatte, Paris zu sehen, den Boden zu betreten, auf welchem die Revolution sich vollzogen, die Stätten zu schauen, an welche die großen, historischen Namen sich knüpften, und die Pariser Gesellschaft kennen zu lernen, von deren geistigem Gehalt und von deren Anmuth ich mir die lebhaftesten und daneben sehr idealistische Vorstellungen gemacht hatte.

Im Ganzen theilte mein Vater, der Frankreich eben so wenig kannte als ich, diese Ansicht, aber Heinrich Simon, dem ich von meinem Vorhaben geschrieben, rieth mir fortdauernd, mich nach Italien zu wenden. Er hatte Frankreich besucht, Italien bis Genua und Venedig bereist, und wiederholte mir beständig, daß ich von Italien weit größere Förderung und viel höheren Genuß zu erwarten habe, als von Frankreich. Was Paris sei, das könne ich mir vorstellen, wenn ich mir das Leben einer modernen Stadt auf das Höchste potenzirt denke; was italienischer Himmel, was die südliche Natur sei, was es heiße, in südlicher Luft am Rande des Mittelländischen Meeres eine Mondnacht zu verträumen, das könne ich nicht ermessen. Als dann endlich unsere Ideen einmal auf Italien gelenkt worden waren, wirkte neben dem Zauber, [315] welchen die bloße Nennung des Südens auf den Nordländer ausübt, auch der oft ausgesprochene Wunsch meines Vaters, Rom und vor Allem Pompeji und Herkulanum gesehen zu haben, bestimmend auf mich ein. Aber auch diese Aussicht erhielt ihren trüben Schleier durch den Gedanken, daß mir so nahe und so erreichbar war, was meinem Vater nicht vergönnt gewesen, und was zu genießen er, so weit man es berechnen konnte, keine Wahrscheinlichkeit vor sich hatte.

Indeß die Sache blieb in Königsberg noch ganz unentschieden. Mein Vater ließ mir freie Wahl, und nur die eine Bedingung stellte er mir, daß ich nicht allein reisen, sondern mir eine Begleitung suchen, oder mich an eine Familie anschließen solle, damit er über mein Ergehen nicht in Sorge zu sein brauche. Eine solche Begleitung war in Berlin voraussichtlich nun weit eher zu finden, als in meiner Heimath. Wollte ich nach Italien gehen, so mußte ich nothwendig etwas Italienisch lernen, und da ich im Januar meinen Roman beendet und zum Drucke geschickt hatte, so setzten wir es fest, daß ich nun wieder nach Berlin zurückkehren, und dort die nöthigen Schritte zur Vorbereitung einer Reise thun solle. Zugleich hatte ich vom Vater die mir ganz unschätzbare Erlaubniß erhalten, mir bis zu meiner Abreise von Berlin eine eigene Wohnung nehmen und allein leben zu dürfen, da der Aufenthalt bei meiner Tante, inmitten wechselnder Kostgänger, mir nachgrade zu lästig geworden war.

So kam denn die zweite Hälfte des Januar heran, und das Herz wurde mir bei dem Gedanken, mich wieder von dem Vater zu trennen, schwer und schwerer, wie [316] lockend auch die Aussicht auf die Reise vor mir stand. Freilich schrieb ich ihm, wenn ich fern von ihm war, fast an jedem Tage, und sendete auf diese Weise alle vierzehn Tage fast ein Bändchen Geschriebenes an ihn ab, da es mir Herzens- und Gewissenssache war, mit ihm im engsten Zusammenhange zu bleiben, und ihn Theil haben zu lassen an Allem, was mir zufiel und was ich genoß. Aber ich hielt mir es beständig vor, daß er nicht ewig leben werde, und wie es mir sein würde, wenn ich mir einmal sagen müßte: alle die Zeit hättest du bei ihm sein, ihn sehen und erheitern können, und darauf hast du unnöthig und freiwillig verzichtet.

Diesen Empfindungen folgte dann wieder die Ueberlegung. Der Vater hatte ja eben seine Freude daran, daß ich vorwärts kam, daß es mir wohl ging, daß ich in der Welt lebte. Die Schwestern hatten mir so oft geschildert, wie der Vater sich an meinen Briefen erheitre, wie er schon einige Tage vorher davon spreche, daß nun bald mein Brief eintreffen werde, und wie jede Anregung, welche ihm durch mich und die Brüder komme, ihn besser als alles Andere zerstreue und unterhalte. Auch aus der Ferne konnte ich ihm also Freude bereiten, und ich hatte es sehr früh begriffen, daß der Einzelne der gesammten Familie am nachhaltigsten nützt, wenn er sich selber vorwärts bringt. Familien, die im Zusammenbleiben ihr höchstes Glück und ihre Aufgabe sehen, bringen es in der Regel eben deshalb in der Welt zu Nichts. Sie sehen das Glück, das sie sich zu erhalten wähnen, mit der Zeit sich trüben und zu Wasser werden, wie Schnee im Frühling.

[317] Wollte ich den Meinen wirklich Etwas sein, ihnen wirklich einmal eine Förderung und Stütze werden, so mußte ich den Boden gewinnen, auf dem ich fußen konnte, so mußte ich eine Stellung erwerben, die mich befähigte, ihnen einen Anhalt zu bieten; und das zu erreichen, war für mich in der Heimath keine Aussicht – das zu erreichen, mußte ich fort. Es war auch zwischen mir und meinem Vater nun ein für alle Mal entschieden, daß ich in jedem Falle künftig Berlin zu meinem Aufenthaltsorte machen sollte, und wir getrösteten uns, daß es ihm möglich sein werde, sich in nicht allzuferner Zeit ebenfalls dort anzusiedeln, wo er und wir uns dann ein neues Vaterhaus zu gründen hofften.

Der Januar ging auf diese Weise zu Ende, ehe wir uns dessen versahen, der Februar stand vor der Thüre. Für den Morgen des ersten Februar hatte ich meine Abreise angesetzt. Der Winter war im Allgemeinen mild gewesen, der Morgen des ersten Februar war naß. Es fiel Schnee und dazwischen regnete es, als ich vor unserer Thüre mit dem Vater in die Droschke stieg, die mich nach der Post fahren sollte. Die drei Schwestern begleiteten uns bis auf den Wolm, wir hatten friedliche Tage mitsammen verlebt, und ich kam ihnen halbwegs rührend vor, weil ich wieder in die weite Welt gehen, und ganz für mich selber sorgen wollte.

Der Vater war äußerlich gefaßt und heiter wie immer; Abschied zu nehmen bewegte ihn zwar, aber er verbarg dies stets. Er gab mir während der kurzen Fahrt nach der Post noch verschiedene Aufträge für die Geschwister in Berlin, und wir überlegten, daß, wohin ich mich auch [318] zu reisen entschließen würde, ich vor fünf Viertel Jahren kaum zurückkehren könne.

»Vielleicht hast Du Deine Häuser in Königsberg und Memel dann schon verkauft, Dein Geschäft schon aufgelöst, und erwartest mich in Berlin!« sagte ich hoffnungsvoll. »So rasch wird das nicht gehen! Du findest mich sicher noch hier,« entgegnete mir der Vater. – Dann legte er mir noch die Pflicht auf, Moritz beständig an dem Gedanken einer Rückkehr nach Europa festzuhalten, und als wir uns in der Passagierstube befanden, waren Personen da, welche noch gekommen waren, mir Lebewohl zu sagen, so daß ich den Vater nicht mehr allein sprach.

Der Postillon stieß endlich in sein Horn, der Condukteur nöthigte einzusteigen. Ich hatte einen Eckplatz im Cabriolet. Der Vater umarmte mich mit seiner vollen Liebe. Er half mir in den Wagen, nahm unserm wartenden Hausknecht mein Handgepäck ab, reichte mir Alles selber zu, und legte mir den Fußsack um. Es waren lauter Liebesdienste, die ich noch von ihm empfing.

Dann, als der Wagenschlag schon zugemacht worden war, stieg er noch einmal auf das Rad, sein liebes graues Haar flog an den Schläfen leicht im Winde, aber er sah, wenn schon bewegt, doch frisch und schön aus, und mir noch einmal die Hand gebend und mich mit seinen lieben klaren Augen anblickend, sagte er: »Sei vorsichtig, Fanny! mit Deiner Gesundheit und im Ganzen, und schreibe so oft wie bisher!«

Ich konnte Nichts als weinen und ihm die Hand küssen, und ich sagte: »Ich danke Dir für Alles!« – »Kind!« rief er freundlich und als verstände sich Liebe [319] und Güte bei ihm so von selbst, daß es des Dankens dafür nicht bedurfte.

»Wir müssen fort, Herr Stadtrath!« erinnerte der Condukteur.

Mein Vater stieg hinunter. Der Wagen setzte sich in Bewegung, der Vater grüßte mich mit Kopf und Hand. Zum letzten Male sah ich seine lieben Augen mir leuchten, zum letzten Male erblickten meine Augen sein schönes, mir so heiliges und unaussprechlich theures Antlitz.

Wir fuhren davon.

Fünf Viertel Jahre später, als der blaue Himmel Neapels sich über mir wölbte, entriß uns ein plötzlicher Tod den Vater, der, als er starb, noch sein neunundfünfzigstes Jahr nicht zur Hälfte zurückgelegt hatte.

Und wie seine letzten Worte bei unserm Scheiden Liebe, und mein letztes Wort zu ihm ein Dank gewesen sind, so steht heute sein Angedenken noch fest in mir aufgerichtet, und wird nicht in mir untergehen, so lange meine Sinne und Atome zusammenhalten. Gesegnet sei sein Andenken!

Leben aber und älter werden, heißt, auf viele Gräber niedersehen!

[320]
18. Kapitel
Achtzehntes Kapitel

In Berlin hatte ich mir zunächst eine Wohnung zu suchen, das war aber bei meinen damaligen Verhältnissen keine schwierige Aufgabe, denn meine Mittel waren sehr beschränkt, ich hatte sie für die Reise zusammenzuhalten, und wußte also, daß ich mich bescheiden müsse. Wenn ich übrigens die Wohnung nur für mich allein haben konnte, und sicher davor war, nicht mehr wie im Hause der Tante, bei der ich gelebt hatte, die ganz zufällige und mir unerträgliche Gesellschaft halbgebildeter englischer und amerikanischer Kostgänger und Kostgängerinnen in den Kauf nehmen zu müssen, so war mir alles Andere ziemlich gleichgültig. Oder vielmehr, ich war entschlossen auf alles Mögliche zu verzichten, wenn ich nur nicht mehr Rücksicht auf Menschen zu nehmen brauchte, deren hohle Anmaßung mich in jedem Augenblicke verletzte, ohne daß ich sie nach Gebühr in ihre Schranken zurückweisen durfte.

Während ich mich nach einer Wohnung für mich umsah, fand sich das Angebot einer solchen in der Zeitung. Zwei Zimmer, von einem und von zwei Fenstern, ein Schlafkabinet dazu, eine Treppe hoch, in der Markgrafenstraße dicht am Gensd'armes-Markte – das klang [321] eigentlich viel zu prächtig für mich. Ich ging jedoch hin sie anzusehen und fand was ich bedurfte; denn das Haus, das jetzt längst abgebrochen ist, war so verfallen, die Treppe so schmal und finster, die Stuben so unansehnlich, die Dielen so ausgetreten und die abgenutzten Wände standen so kahl da, daß mir des Wiener Humoristen Castelli heitere Schilderung der »möblirten Wohnungen« unwillkürlich dabei einfiel. Einen hohen Preis für dieses Quartier zu fordern war nicht möglich, wir wurden also bald Handels einig, und ich suchte mir zu helfen, wie es eben ging. Ich war das schlechte Wohnen, das Entbehren der Behaglichkeit nun schon gewöhnt, und aushaltbar kann eine Frau sich's fast an jedem Orte machen.

Ich that die schlechtesten Möbel in die einfenstrige Stube, um sie in ein Entrée zu verwandeln, ließ die beiden wurmstichigen Schränke in den finstern Winkel bringen, welcher in der Anzeige als Schlafkabinet figurirt hatte, in dem zu schlafen aber eine heimliche Art von Selbstmord gewesen wäre, und beschränkte mich auf die Mittelstube, in welcher ich mit einem Schlafsopha, einem Schreibtisch und einigen andern Stücken, die ich mir in Berlin schon vorher allmählich angeschafft hatte, etwas herrichtete, das einem freilich sehr bescheidenen Wohnzimmer einigermaßen ähnlich wurde.

Ein junger mir befreundeter Bildhauer schenkte mir eine Haut-Relief-Copie von dem Schlüterschen Kopf des großen Kurfürsten und machte mir sein Werk selbst an der Wand fest. Es war das erste kleine Kunstwerk, das ich besaß, und ich habe es als solches und als Andenken an jene Tage treulich in Ehren gehalten und aufbewahrt. [322] Meine Geschwister gaben mir ein Paar Blumenstöcke, die ich an das Fenster setzte, und damit war meine eigene Häuslichkeit begründet.

Mittags brachte man mir mein Essen in meine Stube. Die Wirthin, eine schlichte ununterrichtete Frau, sie war die Wittwe eines Burgemeisters aus irgend einer kleinen märkischen Stadt, hatte es übernommen mich zu speisen, aber eingedenk der Belästigung, welche eine nicht selbstgewählte fremde Tischgenossenschaft mir stets gewesen war, hatte ich es mir ausgemacht, allein zu essen, und setzte mich dann zum ersten Male ganz allein an meinen Tisch. Das Tischzeug, das Geräth, das Essen, Alles war sehr schlecht. Zu Hause war es anders; aber ich nahm mir vor, daß ich es einmal auch in meinem Hause, bei mir, ganz anders haben wolle, und ich war so fest entschlossen und so überzeugt dies Ziel zu erreichen, daß es mir halbwegs Vergnügen machte, mit so viel Unbequemlichkeiten an dasselbe zu gelangen, und daß ich auf die Mittel und die Opfer nicht achtete, die mich an dasselbe bringen sollten.

Abends jedoch, als mein Bruder, der bei mir gewesen war, mich verließ, als ich hinter ihm die Thüre ab schloß, die nach dem Hausflur führte, und ich mich in den drei leeren, einsamen Räumen zu Bette legen mußte, ward mir bange, denn die Wohnung hing nicht direkt mit den Stuben der Wirthin zusammen, und ich kam plötzlich zu der Empfindung des Alleinseins. Ich untersuchte die Thüre noch einmal, denn ich dachte an Diebe. Als ich sie fest verschlossen fand, überlegte ich, wie ich von aller [323] Hülfe abgeschnitten sei, falls mir Etwas zustoßen sollte, und ich fühlte mich traurig.

Diese Traurigkeit nahm zu, als ich mein Licht ausgelöscht hatte, und nur noch der röthliche Schimmer meiner Nachtlampe mir die Wände erhellte. Die fleckige blaßblaue Wand hatte solche Todtenfarbe, mein Sopha von weiß und grünem Kattun und meine grünen Rouleaux sahen abscheulich darauf aus. Da stand die Kommode, dort in der Kammer der Kleiderschrank. Sie umschlossen mit Ausnahme der Bücher und der wenigen Möbel, welche zu Hause in meiner Hangelstube mir eigen gehörten, mein ganzes Hab und Gut. Es war nicht eben viel.

Ich fing meine Baarschaft, meine ausstehenden Honorare zu berechnen an, das Exempel war bald gemacht. Ein Jahr vorher war ich mir mit meinen wenigen hundert Thalern wie ein Crösus erschienen, jetzt kam ich mir mit einer größeren Summe recht arm vor, und gewiß, ich war auch Nichts weniger als reich. Freilich besaßen viele andere Frauenzimmer in meinem Alter auch nicht mehr, aber sie hatten sich nicht selbstständig zu vertreten wie ich. Es beschlich mich eine Verzagtheit, die ich nie zuvor gekannt hatte. All mein Thun und Treiben dünkte mich völlig nichtig und unüberlegt, meine Plane für die Zukunft sahen mir wie Hirngespinnste aus. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich auf den Einfall gerathen sei, mich unabhängig machen zu wollen, noch weniger, wie mein kluger, vorsorglicher und zärtlicher Vater mir habe glauben können, daß ich mich selbst zu erhalten im Stande sein würde.

[324] Freilich war es eine Thatsache, ich hatte drei Romane geschrieben, wie sie mir eben eingefallen waren, sie hatten sich auch Freunde erworben und ich hatte Geld dafür bekommen. Aber war damit irgend Etwas für meine Zukunft bewiesen? Der Satz: was einmal geschehen ist, kann wieder geschehen! schloß doch nur die Aussicht auf eine Möglichkeit in sich, eine Hoffnung, aber nichts weniger als die Anwartschaft auf ein Gewisses. Mir wurde immer mehr bange, je länger ich über mich selbst nachdachte, und zuletzt kam ich mir wie ein Nachtwandler vor, der in tastendem Instinkte einen Platz eingenommen hat, auf welchem er sich beim Erwachen nicht zu erhalten, und von dem er nicht einmal herunter zu steigen vermag, selbst wenn er Verlangen danach trüge. Es überfiel mich ein heftiger Schwindel, als stände ich wirklich auf einer Bergesfirst, ich konnte die Angst nicht ertragen, zündete mir noch einmal Licht an, und mit der Helle um mich her verschwanden die schlimmsten Gespenster meiner Sorge, obschon mir das Herz noch recht schwer blieb, denn ich hatte Betrachtungen zu machen, die sich mir auch sonst wohl bisweilen aufgedrängt, die ich mir aber fern zu halten gesucht hatte, und welche sich eben jetzt nicht bannen lassen wollten.

Es fiel mir auf, wie leicht die Menschen geneigt sind, uns beim Worte zu halten, wenn wir es einmal erklären, daß wir sie nicht weiter in Anspruch zu nehmen beabsichtigen, und was wir damit aufopfern, wenn wir die Unsern der Sorge für uns entheben. Ich gerieth in einen jener Widersprüche, in denen der Verstand und die Empfindung sich nicht in das Gleiche zu setzen wissen. [325] Ich hatte unabhängig sein wollen, und nun man mir das vergönnte, sah ich eine Härte in der Zuversicht, welche man mir bewies. Ich liebte es nicht, mich über die äußeren Unbequemlichkeiten und Entbehrungen zu beschweren, welche ich in Folge meines Entschlusses zu tragen hatte, und fand es doch auffallend, daß man unbedenklich an die vollkommene Zufriedenheit glaubte, welche ich aussprach. Und mit der Uebertreibung meiner augenblicklichen Muthlosigkeit kam ich mir wie verstoßen vor, wo ich mich freiwillig und nach reiflicher Ueberlegung zu entfernen für nothwendig gehalten hatte, weil im Vaterhause neben fünf erwachsenen Töchtern wirklich kein Bleiben für mich war.

Es war in gewissem Sinne, da man mich für praktisch gewandt hielt, wohl natürlich, daß man sich um die Einzelnheiten meines Lebens, aus der Ferne nicht mehr kümmerte; aber es ist Niemand übler daran, als ein Unverzagter, wenn ihn einmal die Verzagtheit überfällt, denn er darf, ohne sich zu verläugnen, nicht eingestehen was er leidet.

Wo man sich gewöhnt hat, an die Kraft eines Menschen zu glauben und auf dieselbe zu vertrauen, fordert man von ihm mit großem Gleichmuth, was er nur mit höchster Anstrengung zu leisten im Stande ist, und man hilft sich in vielen Fällen sogar über den Dank für das von ihm Geleistete mit der Betrachtung hinweg: der hat Kraft, der kann was er will! Aber Niemand fragt, wie viel Kraft wir aufgewendet, wie müde man uns gemacht hat. Mir ging es eben so, und es ist mir in dieser Beziehung von den Meinen sehr oft Unrecht geschehen. [326] Ich hatte schon lange gelernt für mich allein zu stehen, als ich es noch immer schmerzlich empfand, daß man die Entbehrungen für Nichts anschlug, mit denen ich meine Freiheit erkaufte, daß man die Arbeit, die Anstrengungen, die Opfer gar nicht einmal bedachte, denen ich mich zu unterziehen hatte, um mich vorwärts zu bringen, ja daß man sich in meiner nächsten Familie bequem dem Glauben überließ, mein Vater unterstütze und erhalte mich noch zum großen Theile, während ich, außer dem Garderobegelde, das wir Alle erhielten, nie einen Heller von meinem Vater empfangen habe, seit ich sein Haus verlassen hatte. Es lag in seinen Grundsätzen, mich, die er durch ihr Talent bevorzugt hielt, nicht noch anderweit zu bevorzugen, und in meinem Ehrgefühl, Nichts zu beanspruchen, was ich mir selber schaffen konnte. Wir Frauen entbehren die Theilnahme der Unsern Anfangs aber so schwer, weil man uns von Jugend auf zum Anlehnen an Andere, zur Abhängigkeit von ihnen, ja zur Hülflosigkeit erzieht. Und ohne die Liebe und Theilnahme meines ältesten Bruders, der damals wie ich, mühsam und mit tausend Entbehrungen und Anstrengungen seinen Weg zu machen hatte, wäre ich in jener Zeit äußerst einsam gewesen. Wir waren einander aber damals gute Cameraden auf einem recht beschwerlichen Marsch.

Aus solchem Zustand der Niedergeschlagenheit, wie ich ihn in der erwähnten Nacht durchzumachen hatte, und der bei verschiedenen Wendungen und Wandlungen in meinem Leben noch öfter über mich gekommen und mir immer sehr schwer gefallen ist, habe ich nie einen andern Ausweg gewußt, als den, mich ganz entschieden auf mich selbst [327] zurückzuziehen, und mich zu behandeln, wie die Andern uns behandeln. Es liegt auch gar kein Trost, gar keine Erleichterung darin, wenn man das, was man erduldet, auf die Verhältnisse schiebt, die außer uns sind. Man gewinnt dabei in der Regel nur die Einsicht in eine begangene Dummheit, und darin liegt weder etwas Ermuthigendes, noch etwas Befreiendes.

Ich sagte mir also in jener Nacht sehr fest und bestimmt: Du hast's so gewollt! du hast, was du gewollt hast! – Und in allem meinem Unbehagen und in meinen Sorgen fühlte ich plötzlich eine gewisse trotzige Freude darüber, daß ich doch meinen Willen durchgesetzt hatte. Das war schon wieder etwas Positives, daran konnte ich mich halten, und weil mir das gelungen war, konnte mir ja auch mehr gelingen! Die Hoffnung dämmerte mit dem Tage auf; die klare Morgensonne, die hell in meine Fenster fiel, brachte mir mit meinem verlornen Muth auch meine lebenslustige Zuversicht zurück.

Ich sah mich um, es gefiel mir wieder in der Stube. Ich hatte die erste Nacht in meiner eigenen Wohnung geschlafen, ich stand in meiner eigenen Wohnung auf. Das machte mir Vergnügen. Ich ordnete mein Bett, räumte das Zimmer auf, und setzte mir das Frühstücksgeräth zurecht, dann brachte man mir mein Frühstück.

Ich saß allein an dem Tische, und betrachtete meine Umgebung. Mein neues Relief beschäftigte mich sehr und kam mir eigentlich prachtvoll vor. Ich beschloß zwei Epheutöpfe zu kaufen, und es mit Ranken zu umziehen.

Mit einem großen Behagen ging ich, nachdem ich mich angekleidet hatte, in der Stube auf und ab. Es freute [328] mich so, daß hier Niemand ohne meine Erlaubniß hineinkommen konnte, daß ich nicht, wie bisher bei meiner Tante, in einem Durchgangszimmer wohnte, wo ich mich immer wie auf offener Straße empfunden. Ich war sehr damit zufrieden, daß ich mit der Eintheilung meiner Zeit, mit meinem Thun und Lassen nur von mir abhing, daß ich es mir so eigen und so pünktlich einrichten konnte, als ich nur irgend wollte; und daß ich auch ganz unordentlich und ganz unpünktlich sein durfte, wenn diese mir unnatürliche Lust wider alles Erwarten doch einmal über mich kommen sollte.

In dem Vergnügen über diese Freiheit fand ich die blaßblaue Wand nicht mehr so fleckig wie in der Nacht, und der weiß und grüne Kattun meines Sopha's und meine grünen Fensterrouleaux sahen mir nicht mehr ganz so abscheulich wie gestern dazu aus. Freilich! solch elende Dielen, solche blinde Fensterscheiben und so schlechte Möbel gab es in keinem Winkel meines Vaterhauses; aber dafür war hier doch Alles mein eigen. Es war meine, von mir, von meinem eigenen erarbeiteten Gelde bezahlte Stube, ich war doch bei mir zu Hause – bei mir, in meiner eigenen Wohnung.

Und wie ich mir das gedacht hatte, mußte ich mit mir selber lachen! Es hatte mich in den Vaudevilles des französischen Theaters stets belustigt, wenn die jungen Pariser Arbeiterinnen, die französischen Grisetten, so viel Werth darauf legten, in ihren eigenen Wohnungen zu sein. Ihr stolzes: »Je suis dans mes meubles!« zwischen Tisch und Stuhl und Hutschachtel gesprochen, war stets ein Gegenstand meiner großen Heiterkeit gewesen; jetzt [329] empfand ich unter ganz andern Verhältnissen, bei einem ganz verschiedenen Bildungsgrade doch etwas sehr Aehnliches. Ich hätte, wäre ich in anderer Stimmung gewesen, sehr zweckmäßige Gedanken über den Zug des Menschen zu persönlicher Absonderung, zu eigenem Besitze haben, und verständige Betrachtungen über Communismus und Fourierismus daran knüpfen können, indeß ich begnügte mich damit, an den verschiedenen Thüren stehen zu bleiben, um die Stube von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten, und ging dann in mein sogenanntes Entrée, um aus demselben in die Wohnstube einzutreten, und zu sehen, wie sie sich dann ausnahm. Ich legte in dem Entrée einen alten Shawl auf das der Wirthin gehörende Sopha, um ein Loch in demselben zu verbergen, und beschloß, daß der Shawl Anstands halber immer dort liegen bleiben solle. Ich trug die Blumen von einem Fenster auf das andere, setzte meinen Nähkasten hier hin und dort hin, wünschte mir meine Möbel von Hause lebhaft herbei, und fand, je länger ich mich mit den verschiedenen kleinen Aenderungen beschäftigte, immer mehr Gefallen an meinem neuen Aufenthalte, ja ich fand endlich, daß es wirklich gar nicht so übel bei mir aussähe.

Um zehn, eilf Uhr kam mein Bruder zu mir, und ich hütete mich wohl, ihm die Verzagtheit einzugestehen, welche mich in der Nacht befallen hatte. Wir waren Beide über unsere Jahre ernst und doch Beide von Herzen jung, ja jünger als unsere Jahre. Genußfähig und sehr leicht befriedigt und erfreut, hatten wir denn auch jetzt ein besonderes Vergnügen daran, daß er zu mir in meine Wohnung, zu mir als Gast kommen konnte.

[330] Wir machten gleich Plane, wie er und die Schwester nächstens einen Mittag bei mir essen, wie wir die Abende oft bei mir zu Hause zubringen wollten. Wir überlegten, was man thun könne, es noch hübscher und angenehmer zu machen, als wir es jetzt schon bei mir fanden, und die Phrase: »wenn ich Geld habe«, stand dabei immer in erster Reihe. Indeß die Welt war so weit, das Leben lag so unübersehbar lang vor unsern Augen, Berlin war so groß, das Wetter so hell, und wir fühlten uns so als Vorwärtsstrebende und Vorwärtskommende – es konnte uns gar nicht fehlen! Was uns noch mangelte, kümmerte uns wenig.

Wir lachten über das wackelnde Sopha in dem Entrée, auf das man sich nicht ungefährdet niederlassen konnte, wir lachten über die finstere Kammer, und machten eifrig den Platz im Spinde ausfindig, in welchem sich die nöthigsten Nahrungsmittel für das Abendbrod halten lassen würden; aber zeitbedrängt, wie seine amtlichen Verrichtungen den Bruder machten, lief er dann von unsern Untersuchungen schleunig fort, mit dem Versprechen, so oft und so viel er könnte, zu mir zu kommen. Wir waren wie Kinder mit der neuen Puppenstube, oder besser, wir waren muthig und leichten Herzens, tapfer und frohen Sinnes, arbeitssam und genügsam, wie die Bettler Bérangers,les gueux de Béranger!

Damit begannen nun ein paar fröhliche Monate, deren ich mich noch sehr gern erinnere. Es begann jenes harmlose Leben vom Tag zum Tage, das man nur in der Jugend kennt, nur in der Jugend als ein Glück zu empfinden vermag. Und als wollte das Schicksal mich [331] in meinem guten Muthe und in meiner Zuversicht bestärken, so wurde mir grade in den Tagen von der Brockhausischen Verlagshandlung abermals der Antrag gemacht, eine Novelle für die »Urania« zu schreiben.

Mein Roman war fertig und zum Druck gesendet; um einen neuen Stoff für eine Novelle ist der kritiklose Anfänger nie verlegen, und der Gedanke, hier in meiner eigenen Wohnung eine neue Arbeit zu beginnen, eine Arbeit, die ich offen auf dem Schreibtisch liegen lassen konnte, ohne daß mir jeder Beliebige neugierig hineinsehen durfte, hatte etwas Belebendes für mich. Ohne mich lange zu besinnen, machte ich meine Zusage, und nun saß ich mit meinem Nähzeug ganz allein, den lieben, schönen, hellen Vormittag hindurch, und fing an unter meinen Einfällen und Gedanken auszuwählen, und zu sichten und aufzubauen und anzuordnen, und ich wurde immer heiterer dabei.

Ein Zimmer, in welchem man ein liebevolles Wort vernommen, einen guten und förderlichen Gedanken gedacht hat, ist keine Fremde mehr, ist die Heimath für uns; und als ich mich erst in meiner neuen Wohnung an die Arbeit gemacht hatte, wurde sie mir vertraut wie ein gutes, altes, bequemsitzendes Kleidungsstück, an dem uns Nichts mehr auffällt, Nichts mehr drückt, mit dem wir Eines sind, wie mit unsrer Haut.

Allmählich kamen alle meine Bekannten, so Männer als Frauen, sehen, wie ich mich eingerichtet hätte, und wie es mir erging. Die Frauen lobten die Sauberkeit meiner Stube, wunderten sich, was ich aus der Wohnung gemacht hätte, aber, ich merkte es Allen an, sie waren [332] gewissermaßen gerührt über mich; und vollends Diejenigen, welche Etwas von meinem Vaterhause wußten, streichelten mich, und sahen mich so mitleidig an, daß ich es ganz bequem gehabt hätte, mich bedauern oder bewundern zu lassen, hätte ich an diesen billigen Herzenserregungen ein Wohlgefallen gehabt.

Die Einen fanden es sehr merkwürdig, daß der Vater mir schon jetzt die Erlaubniß gegeben habe, allein zu wohnen. Ich sagte ihnen, ich sei bald vierunddreißig Jahre. Man wendete mir ein, ich sähe aber weit jünger aus! – »Nimmt mir das meine gesunde Vernunft? macht mich das unzurechnungsfähig?« fragte ich, und wurde mit der Frage erst recht ein Gegenstand der Verwunderung für diese Art von Leuten.

»Wenn Sie nur ein eignes Mädchen hielten!« wendete mir eine Andre ein, die recht wohl wußte, daß ich die hundert Thaler nicht übrig hatte, welche ein Dienstmädchen mich für das Jahr gekostet haben würde. – »Was soll ich denn mit dem Mädchen machen?« fragte ich. »Soll es mich bedienen? das kann ich entbehren, und mich zu beschützen und zu bewachen, dazu brauche ich ein Dienstmädchen doch nicht!« – »Es wäre aber doch anständiger!« bemerkte man mir wohlmeinend.

Welch ein Anstand, welch eine Tugend, deren Anschein durch die Anwesenheit eines armen Dienstmädchens, durch eines jener jungen Geschöpfe auf recht erhalten werden sollte, von deren Sitten grade jene Art von Frauen im Allgemeinen das Schlimmste zu denken sich berechtigt halten!

[333] »Aber werden Sie denn auch Männer bei sich sehen?« forschte man vorsichtig.

»Ja! wie anders?« versetzte ich.

»Nun freilich! Sie sind Schriftstellerin, Sie können das!« meinte ein Fräulein, das sich noch immer überwachen ließ, obschon die gefährlichen und gefährdeten Tage der Jugend weit hinter ihm lagen.

Und wenn diese Besuche mich verließen, so schlug ich an meine Brust, und sagte triumphirend: Gottlob, daß ich nicht bin wie dieser Eine! Und es kam mich ein Grauen an vor der Lüge der gesellschaftlichen Gesittung, deren Voraussetzung eine Unsittlichkeit und Zuchtlosigkeit sind, wie man sie kaum nachzudenken im Stande ist. Sie waren mir bisweilen förmlich zuwider diese Mütter und diese Töchter mit den regelrecht freundlichen Mienen, mit den festgeknöpften Handschuhen und den festgebannten Augen, die nicht rechts und nicht links sehen durften, wenn die Mutter nicht vorher auf die Stelle hingeblickt, auf welche die Tochter ihre Augen zu richten hatte. Sie waren mir lächerlich und beklagenswerth in ihrer Unfreiheit und in ihrer automatenhaften Beschränktheit, und ich dachte mit Verehrung an meine junge kleine Putzmacherin, die jetzt meine alte gute Freundin ist, und schon da mals mutterseelen-allein in dem Dachstübchen einer entlegenen Straße wohnte, von Niemand berathen, von Niemand bewacht als von sich selbst und ihrem eigenen Ehrgefühl. Nur daß es Niemandem einfiel, der braven Arbeiterin einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie sich nicht bewachen ließ, oder es ihr zum Verdienste anzurechnen, daß sie sich so wohl zu behüten verstand.

[334] Es ist Jedem auf die eine oder die andere Weise sicherlich geschehen, daß er eine Gegend, oder eine Sache lange unter demselben Augenpunkte betrachtet hat, bis er sich einmal plötzlich überzeugt, daß er nicht auf der rechten Stelle gestanden, und daß er falsch gesehen habe. Man ist dann immer ganz verwundert. Man begreift nicht, wie man für eine Gestalt halten können, was doch ein elender Baumstamm gewesen, wie man für ein Gebirge ansehen mögen, was sich eben vor unsern Augen in Wolken auflöst. So geht es dem Menschen auf geistigen Gebieten ebenfalls, und so ging es mir schon sehr frühe mit den sogenannten guten Sitten und dem Anstand der ebenfalls sogenannten guten Gesellschaft. Es fiel mir dabei ein altes Mährchen aus den veillées du château ein, das mich als Kind sehr beschäftigt und beunruhigt hatte, weil in demselben Jeder gezwungen war, dasjenige nackt auszusprechen, was er wirklich dachte, während er des Glaubens lebte, nur dasjenige zu sagen, was er zu äußern eben für angemessen fand.

Wenn eine Mutter mir sagte: ich lasse meine Töchter nicht allein zu einem Balle bei einer Freundin gehen! so mußte ich mir unwillkürlich den Nachsatz machen: denn dort findet sie schlechte Gesellschaft, vor der meine Anwesenheit sie beschützen soll. Hieß es: ich lasse meine Tochter nicht ohne Begleitung die Straße betreten! so setzte ich mir hinzu: denn ich traue ihr nicht über den Weg, und sie ist so einfältig und leichtsinnig, daß ich sie in jedem Betrachte bewachen lassen muß. – Meine Töchter nehmen in meiner Abwesenheit keinen Besuch an! bedeutete eigentlich: denn die Männer, welche mein Haus [335] besuchen, sind so roh und so entsittlicht, daß ich Verletzung und Beleidigung der einfachsten Sittlichkeit von ihnen voraussetzen muß! – Und ich habe mich, wenn ich diese Bemerkungen machen mußte, immer gefragt, wie Männer nur die geringste Neigung zum Verkehr mit denjenigen jungen Frauenzimmern haben sollen, über deren Werth die Mütter selbst so geringschätzig urtheilen, oder wie sie als Gäste ein Haus betreten mögen, in welchem man ihnen weniger Zutrauen gewährt, als dem Diener, welcher gelegentlich den Beschützer der Töchter zu machen hat. Wir sind in der Gesittung, nach der Meinung der sogenannten großen Welt, gewiß sehr weit vorgeschritten, und sie ist in Wahrheit doch mit allem ihrem Christenthum und all ihrer Cultur, mit ihrer Bildung und Erziehung, auf die sie so stolz ist, nicht wesentlich über die Cultur des orientalischen Harems hinausgekommen. Denn es giebt keine Sittlichkeit ohne persönliche Freiheit, wie es überhaupt keine Tugend ohne Freiheit giebt. Unsere Anstandsgesetze bringen dem Manne eine Jungfrau zum Weibe; ihm ein wahrhaft tugendhaftes, sittliches Weib zu geben, müßten unsere gesellschaftlichen Zustände anders, müßten unsere Mädchen freier und selbstständiger erzogen, und unsere Cultur mehr sein, als eine Hecke von Präventivmaßregeln, hinter welchen man sich gegen eine Rohheit und Unsittlichkeit verschanzt, die doch glücklicher Weise zu den Ausnahmen in unserer Gesellschaft gehören. Alle Fenster zu vermauern, weil hier und da ein unvorsichtiges Kind zum Fenster hinausgefallen ist, ein Kranker sich hinausgestürzt hat, wäre sicherlich eine sehr thörichte Maaßregel.

[336]
19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel

Das Frühjahr, welches mir den Genuß der eigenen Häuslichkeit gebracht hatte, brachte mir auch eine Freundschaft, die mir bis zu dem Tode meiner Freundin ein Glück gewesen ist, und deren Andenken mir bis an mein Ende ein geliebtes bleiben wird.

Ich hatte eines Tages eine Einladung zu Professor Theodor Mundt erhalten, und ich freute mich auf den Abend, denn man war immer sicher, heitere und gute Stunden im Mundt'schen Hause zu verleben. Theodor und Clara Mundt waren schon eine Reihe von Jahren verheirathet und in Berlin ansässig gewesen, als ich sie zum ersten Male gesehen hatte, und der Ausdruck völliger Zufriedenheit, der Beiden gemeinsam war, hätte an und für sich etwas sehr Einnehmendes gehabt, wären ihre Namen nicht hinreichend gewesen, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken.

Ich habe es in diesen Blättern nicht mit den Werken und mit der literarischen Bedeutung meiner Freunde und Bekannten, sondern nur mit unsern gegenseitigen Beziehungen und mit dem Eindruck zu thun, welchen ihre Persönlichkeit auf mich machte, oder mit den Folgen, welche sich für mich an das Begegnen mit ihnen knüpften. Daran müssen Memoiren sich halten, wie mir scheint, [337] wenn sie nicht, was sie von ihrer Aufgabe entfernen würde, in den Bereich der Kritik und Literaturgeschichte hinübergreifen wollen, und dieses zu vermeiden, bin ich überall bemüht gewesen. Dies vorausgeschickt, fahre ich in meiner Erzählung fort.

Theodor Mundt war über Mittelgröße, festgebaut und kräftig, ohne damals gerade stark zu sein. Seine Züge waren fein, sein dunkles Auge ruhig, und man mußte ihn bei der Fülle seines braunen Haares und einer guten Haltung, entschieden als einen hübschen Mann bezeichnen. Seine Bewegungen hatten etwas Gemessenes, seine Sprache und seine Ausdrucksweise waren nicht flüssig. Er war im Ganzen zurückhaltend in größerer Gesellschaft, und in einer solchen hörte ich ihn zum ersten Male sprechen. Er schien mir mehr geneigt für das Zwiegespräch, als für allgemeine Mittheilung zu sein, wie man das häufig bei den Personen findet, welche sich früh gewöhnt haben, das schweigende Blatt Papier zu ihrem Vertrauten zu machen. Ernst und Ruhe waren das Erste, was mir an ihm auffiel, denn so sehr man ihn in das Gespräch zu ziehen und seine Meinung zu hören verlangte, ließ er sich nicht dazu verlocken, an der allgemeinen Unterhaltung der aus den verschiedensten Bestandtheilen zusammengesetzten Gesellschaft thätig Theil zu nehmen. Er hörte zu, und gab erst später, als er bei dem Abendessen neben mir saß, seine Meinung über die früher besprochenen Gegenstände kund, die er langsam zusammenfaßte und zu einem Ganzen abzuschließen versuchte, wie Einer, der mit den Dingen in's Klare zu kommen und fertig zu werden sucht.

[338] Ganz im Gegentheil zu seiner Art und Weise, war Alles Leben und rasche Offenheit an seiner Frau, ja ich möchte sagen, daß mir nie eine größere Lebensfülle und Lebendigkeit vorgekommen ist, als Luise Mühlbach sie besaß. Sie dachte schnell und bestimmt, sprach eben so schnell und bestimmt aus, was sie dachte, und es kamen dabei manch glückliche Worte zum Vorschein, deren Freimuth überraschend war. Auch mir begegnete sie mit freimüthiger Herzlichkeit. Sie nannte es unverantwortlich, daß Menschen, die von einander wüßten, wie wir, nicht auch ohne alles Weitere zu einander kämen, und sie forderte mich auf, gleich einen der nächsten Abende mit ihnen zuzubringen, was ich denn natürlich dankbar annahm.

Sie wohnten damals in der Marienstraße und lebten in einer sehr ausgedehnten Geselligkeit. Um so mehr fiel es mir auf, was Luise Mühlbach Alles aus ihrer Zeit zu machen wußte. Sie schrieb sehr viel, war beständig auf dem Laufenden in der englischen und französischen Literatur, verfolgte die deutsche bis in das Detail der Journalistik, trieb Musik, lernte Russisch und noch eine andere fremde Sprache, daneben wurde ein ganzes Service aufgetragen, das sie selbst gemalt, und es kamen Bücher zum Vorschein, die sie selbst gebunden hatte. Man sah, für diese Frau war fortwährendes rastloses Arbeiten eine Art von Lebensbedingung, eine Nothwendigkeit, und nie, seit ich sie kenne, habe ich sie ermüdet oder gar abgespannt gesehen; aber die eigentliche Kraft ihrer Natur gab sich in der Liebe kund, mit welcher sie zu ihrem Manne emporblickte. Man gewann unabweislich die[339] Ueberzeugung, daß man in diesen Beiden ein Paar glückliche Menschen vor sich sähe.

Dadurch wurde die ganze Geselligkeit bei ihnen, wie sie eine geistig angeregte war, auch eine heitere. Man machte Musik, man führte dramatische Scenen auf, und vor allen Dingen amüsirte man sich. Als ich dann im Frühjahr, bald nachdem ich mir meine Wohnung eingerichtet, wieder einmal in das Mundt'sche Haus geladen war, fand ich auch wieder eine größere Gesellschaft beisammen. Sie hatte sich um einen, mitten in dem Zimmer stehenden Tisch gruppirt und gleich beim Eintreten überraschte mich der Anblick einer Frau, welche der Thüre gegenüber saß. Sie hatte den Kopf ein wenig gesenkt, denn man betrachtete ein Kupferwerk, und es sah schön aus, wie das Licht der Lampen sich auf dem schwarzbraunen reichen Scheitel der Dame spiegelte, während es ihre schönen entblößten Schultern beleuchtete, und von dem großen Brillantschloß wiederstrahlte, mit dem die Perlenschnüre um ihren Hals befestigt waren.

Als ich mich dem Tische näherte, blickte die Fremde empor, und ich sah in eines der anmuthvollsten Gesichter, die mein Auge je erschaut hat. Alles in diesen Zügen war herzgewinnende Güte, bezaubernde Freundlichkeit, und selbst das leise Zusammenziehen der Augenlider, mit welchem sehr kurzsichtige Personen sich die Sehkraft zu schärfen lieben, und das mir sofort als etwas Eigenthümliches an der Fremden bemerklich wurde, gewann in ihrem Gesichte einen Reiz, weil es sie zugleich fein und in gewissem Sinne hülfsbedürftig aussehen machte.

[340] »Frau Staatsräthin von Bacheracht!« sagte Professor Mundt.

»Ach! sage doch Therese!« rief seine Frau, und gab ihr die Hand. »Hier ist sie Therese!«

»Wie danke ich Ihnen das!« entgegnete die Fremde, und die Stimme, mit welcher sie diese Worte sprach, und die Miene, mit welcher sie unserer Wirthin die dargebotene Rechte drückte, waren eben so sanft und so lieblich wie ihr Blick.

Man stellte mich ihr vor. Sie stand auf, mir die Hand zu geben, und ich konnte sie nun genau betrachten. Sie war nur mittler Größe, aber sie trug sich vortrefflich, und da sie eine lange und schlanke Taille und eine sehr schöne Büste hatte, so lag bei aller Anmuth etwas Imponirendes in ihrer Gestalt. Die Form ihres Kopfes war nicht eigentlich schön, er war dazu nicht oval genug, das Gesicht zu flach, und der Hals zu kurz und breit, aber es war in dem Schnitt der Stirne, der Nase und des Mundes, wie in der Zeichnung der Augenbrauen und in der Wölbung der Augenlider eine gewisse regelmäßige Gradlienigkeit, die sehr ungewöhnlich, und dem Auge sehr wohlthuend war. Man mußte diese eigen geschnittenen Formen immerfort ansehen, man mußte das Auge unwillkürlich darauf ruhen lassen, um sich immerfort daran zu erfreuen. Es war kein klassischer Kopf, aber ein ungemein fesselndes, gewinnendes Gesicht, und was ihm seinen höchsten Zauber gab, das waren die sammetweiche Haut, mit ihrer warmen gesättigten Farbe, und der unaussprechlich süße Ausdruck der braunen, sanften Augen. Die Augen und der liebliche weiche Ton der[341] Stimme hatten wirklich etwas Unwiderstehliches – nicht allein für mich.

Therese von Bacheracht war damals beinahe vierzig Jahre alt, aber sie sah bedeutend jünger aus, und mußte Jedem, der ihr unvorbereitet gegenüber trat, im ersten Augenblicke als eine Schönheit erscheinen. Sie war sich dieses Vorzuges auch bewußt, und hatte Phantasie und Geschmack genug, ihn durch eine gewählte und reiche Kleidung zu erhöhen. Ein schweres violettes Moireekleid hob die Form und die Farbe ihres Halses und ihrer Schultern nur glänzender her vor, und große Kokarden von blaßrosa Band machten das Haar noch dunkler aussehen, ohne die Frische ihres Teints zu beeinträchtigen. Ich war für Schönheit sehr empfänglich, und konnte mich nicht genug an ihr erfreuen, mich nicht satt sehen an ihrer Lieblichkeit.

Es waren schon ein paar Jahre vergangen, seit sie ihr erstes Buch, die Briefe aus dem Süden, veröffentlicht hatte, und diese Reisebetrachtungen, denn eine Reisebeschreibung konnte man jene Aufzeichnungen eigentlich nicht nennen, waren sehr günstig aufgenommen worden. Die wunderlich pedantische Vorrede, mit welcher ein älterer Freund die Tagebuchblätter der anonymen Verfasserin eingeleitet, hatten der warmen überfluthenden Empfindung, welche das Werk charakterisirte, zu einer eigenartigen Folie gedient, und wie Therese selbst die Menschen durch ihre Anmuth und Güte für sich einnahm, so gewannen die ganz besondere Natur, die eigenthümlich zusammengesetzte Geistesrichtung in dem Tagebuche sich die Herzen, und das Geheimniß, in welches [342] die Verfasserin sich hüllte, trug dazu bei, das Interesse für sie und ihr Werk zu steigern.

Man hatte es in dem Tagebuche mit einer Frau zu thun, welche dem Adel angehörte, die große Welt kannte, vielerlei gesehen, vielerlei erlebt, vielerlei empfunden hatte, und die, wie man es zu nennen pflegte, mit dem Herzen dachte. Erzogen in den Anschauungen der Lebenssphäre, in welcher sie geboren war, hatte sie sich dennoch in sich selbst besonders ausgebildet, weil ihr anscheinend in ihrer Umgebung nicht die rechte Befriedigung für ihr Gefühlsleben geboten worden war. Diese innere Zurückgezogenheit hatte ihr in mancher Hinsicht den Sinn und das Verständniß für das Allgemeine genommen. Sie war nur selten einer ganz objektiven Betrachtung fähig, sie sah Alles nur von ihrem Standpunkte, sie beurtheilte Alles nur nach dem Maaßstab ihres eigenen Empfindens. Aber dies Empfinden war fein, und wenn man auch die Ansichten der Reisenden nicht immer theilte, so gewann man sie selbst doch lieb, und bekam die Neigung sie kennen zu lernen, die Neigung mehr von ihr zu wissen, als sie in den Briefen von sich ausgesagt hatte. So viel ging aus dem Tagebuche hervor: Therese war verheirathet, hatte ein Kind gehabt und verloren, war übersättigt und sehnsüchtig, lebenslustig und ohne Glauben an das Leben, und religiös ohne einen rechten Halt und eine wirkliche Stütze in der Religion zu besitzen. Sie verrieth eine gewisse Eitelkeit und Koketterie, die neben einer großen Aufrichtigkeit, einer fast kindlichen Naivetät fremdartig einhergingen und überall wo man hätte erwarten sollen, daß die Ereignisse und [343] die Eindrücke der Reise sie zum Denken anregen müßten, wurde ihr Gefühl wach gerufen, und der Ausdruck desselben zog den Leser unmerklich zu den Träumereien fort, denen die Reisende sich vorzugsweise hinzugeben liebte.

Es war ein sanftes, liebenswürdiges Buch, diese Briefe aus dem Süden, und man brauchte Therese nur anzusehen, um zu erkennen, wie sie sich in jenen Briefen ganz ihrer Natur überlassen hatte, und wie dieselben ohne den Hinblick auf den Leser geschrieben worden waren. Sie hatte nach den Briefen aus dem Süden noch zwei Romane veröffentlicht, welche besonders bei den Frauen eine günstige Aufnahme gefunden hatten, und ich fühlte also in jedem Betrachte ein großes Vergnügen, ihr zu begegnen.

Sie setzte sich zu mir, wir plauderten über Dies und Jenes, aber es kam zu keinem ernsteren Gespräche, denn die Gesellschaft war groß und sehr belebt. Es gab Neckerei aller Art unter den befreundeten Gästen. In bester Laune scherzte man über die gegenseitigen Arbeiten, und vor Allem wurde Theodor Mügge um irgend einer Novelle willen geneckt, der er, wie die Andern ihm vorhielten, aus purer Gutmüthigkeit einen ganz unerwarteten, fast unmöglichen Schluß gegeben haben sollte. Er nahm das so heiter und arglos auf, wie es ihm vorgehalten wurde, aber er vertheidigte sich doch gegen die Beschuldigung, indem er mit Recht behauptete, wo es möglich sei, müsse man in der Dichtung darauf denken, dem Leser am Schlusse das Herz zu befreien. Die Dichtkunst sei dazu da, das Leben zu erheitern und zu verschönen, sie müsse sich also an das Schöne und an das [344] Freundliche halten, und wenn sie, ohne äußerste Nothwendigkeit den Leser mit beschwertem Herzen, mit einem Mißklang, einer Unzufriedenheit, ja auch nur mit lebhaftem Bedauern und mit einer Anklage gegen das Schicksal entlasse, so sei das ein Fehler.

Er sah dabei mit seiner hohen, breitbrustigen, fast athletischen Gestalt, und mit der straffen, aufrechten Haltung, in welcher der ehemalige Soldat damals noch ganz unverkennbar war, so grundgutmüthig, und zugleich so verständig von seiner Behauptung überzeugt aus, daß man sich mindestens dahin mit ihm einigen mußte, daß seiner graden und einfachen Natur das Gewaltsame und Nichtaufzuklärende zuwider sein müsse. Es erregte aber allgemeines Vergnügen, als Doktor Mundt aus dem Stegreif eine kurze Novellenskizze entwarf, bei der Alles drunter und drüber ging, bis endlich in der Ferne ein Signal mit einer Fahne gegeben und ein Rettungsboot herbeigebracht wurde, aus welchem Mügge ausstieg, um Alles in den Hafen der Ruhe und des Friedens hineinzulootsen.

Mügge war derjenige, der am herzlichsten darüber lachte, aber wir waren damals Alle zusammen ein fröhliches Volk. Wir waren jung, wir hatten Freude an unsern Arbeiten, hatten die Gunst des Publikums für uns, standen, um Scribe's glücklichen Ausdruck zu brauchen, Alle à la tête de la jeune phalange, – ich wiederhole den Ausdruck absichtlich – und hatten ein langes, langes Leben, ein weites Feld der Hoffnung vor uns. In so langer Zeit, in so weitem Felde, was war da unerreichbar? was war da unmöglich?

[345] In der Unendlichkeit, die sie vor sich zu haben glaubt, liegt aber das eigentliche Glück, liegt auch die Macht der Jugend. Man hat zu Allem Muth, man kann Alles unternehmen, Alles wagen, wenn man nur die Zeit hat, es fertig zu machen, oder die Zeit, das Mißlungene durch Gelungenes zu ersetzen. Ein Mißgeschick, ein Fehlschlagen – was ist das in der Jugend? Ein verlorner Tag, Nichts mehr! Und das Leben hat dann noch so viele, viele Tage! Aber mit jedem Jahre schwindet die Fülle dieses Reichthums, mit jedem Jahre wird die Zahl der Tage, die man verlieren darf, ohne sie als Verlust zu empfinden, geringer. Der unübersehbare, unermeßliche Reichthum ist vorüber. Man kann zählen, was man noch besitzt, man fängt an, den kleinsten Verlust schmerzlich zu empfinden, man wird haushälterisch mit seiner Zeit, nachdenklich bei allem Beginnen, man fragt sich, werde ich es vollenden können? Die Sorglosigkeit macht der Sorge Platz. Aus Scheu vor dem Nichtvollenden fängt man nicht mehr an, und wird traurig und verzagt darüber, daß man den alten Muth, die alte Zuversicht zum Leben nicht mehr fühlt. Die Sorglosigkeit ist der Zauberstab, ist die Flügelkraft, ist die Quelle des Jugendmuthes. Wer sie sich zu erhalten wüßte, wer diesen Traum der Jugend an sich zu bannen vermöchte, der besäße die Jugend, dem wäre sie unverloren die goldene Zeit, wie auch der Kalender und die grau gewordene Locke wider ihn spräche; denn nur der Gedanke an die Endlichkeit ist es, der uns das Gefühl des Alters aufzwingt.

An jenem Abend dachte aber Niemand an das Alter, man sprach jedoch davon, daß die geistige Thätigkeit eine [346] aufreibende sei, daß man rastlos lebe, wie auf dem Rade des Ixion. Ich weiß nicht, wer den Gedanken zuerst angeregt hatte, man fing indeß an, ihn mit Liebe auszuspinnen. Der und Jener theilte aus eigener und fremder Erfahrung einen Beleg dazu mit, und selbst die Jüngsten unter uns wußten irgend ein Argument dafür beizubringen, und fanden bei der in der Gesellschaft anwesenden Gräfin Ahlefeld, der Freundin des wenig Jahre vorher verstorbenen Dichters Immermann, eine lebhafte Zustimmung. Man war nahe daran, ganz gegen die ursprüngliche Stimmung der Gesellschaft, in einen sentimentalen Ton zu verfallen, als die unwiderstehlichste Lachlust mich überfiel, und ich laut zu lachen anfing.

Wir saßen um den Theetisch: Theodor Mundt und Luise Mühlbach, der geistvolle und gelehrte Musiker Professor Marx mit seiner wunderschönen Frau, Therese Bacheracht, Theodor Mügge und ich; wir hatten Alle geschrieben, schrieben noch, Einer war lebensvoller als der Andere, Einer sah gesünder aus als der Andre, wir Alle hatten unverkennbare Anlagen, stark und fett zu werden, wir waren Alle von Herzen vergnügt, es fehlte uns Allen Nichts, wir freuten uns unseres Daseins, hofften, erwarteten von unserer Zukunft das Allerbeste – und nun sollten wir mit einem Male Alle sammt und sonders auf dem Rade des Ixion liegen, und der Schmerz sollte das auserwählte Theil des Dichters sein? Das war für mich von der ergötzlichsten Komik, und es brauchte auch eben nur meines lauten Lachens, um die Uebrigen eben so schnell zum richtigen Gefühle ihres Daseins zu bringen, [347] und uns den Abend so heiter beenden zu lassen, als wir ihn begonnen hatten.

Und heute, nach kaum sechszehn Jahren, ist bereits mehr als die Hälfte der an jenem Abende so fröhlichen Menschen, ist Therese, sind Theodor Mügge und Theodor Mundt, in der vollen Kraft der Jahre bereits dahin geschieden; und die freundliche Erinnerung an sie ist wie die helle Kerze, welche am Allerseelentage von den Gräbern durch die Nebel des Herbstes leuchtet.

[348]
20. Kapitel
Zwanzigstes Kapitel

Die Nacht war schön gewesen, als wir aus dem gastlichen Hause fortgegangen waren. Am andern Morgen regnete es in Strömen.

Ich saß am Schreibtisch, aber ich konnte nicht arbeiten, denn mir lag eine Ungeschicktheit im Sinne, die ich am Abend vorher begangen hatte, und die ich nicht gleich gut zu machen wußte.

Therese war sehr liebenswürdig, sehr freundlich gegen mich gewesen. Sie hatte mich gefragt, ob ich Hamburg kenne, und als ich das verneint, hatte sie mir zugeredet, es bald zu besuchen, und dann zu ihr zu kommen, und ganz über sie zu verfügen; und ich hatte mir das sagen lassen, hatte dafür gedankt, ohne ihr die Bitte auszusprechen, daß sie mich hier in Berlin besuchen möge. Ich schämte mich dieser Achtlosigkeit, die unhöflich aussehen mußte, und ich beklagte dieselbe im eigenen Interesse noch viel mehr. Denn Therese hatte mir ungemein gefallen, ich wünschte sehr, sie wiederzusehen, und ich hatte nicht einmal gefragt, in welchem Hôtel sie abgestiegen sei.

Während ich, sehr unzufrieden mit mehr selbst, noch überlegte, ob ich an Frau Clara Mundt oder an wen sonst schreiben solle, um Theresen's Adresse zu erfahren, [349] klopfte es an meine Thüre. Ich ging öffnen, und naß und ganz durchregnet stand Therese vor mir.

»Sie haben mir zwar nicht gesagt, daß ich Sie besuchen solle,« sprach sie mit ihrem süßen Tone, »aber ich bin überzeugt, es ist Ihnen nicht unlieb, daß ich komme, und ich wollte Sie doch vor meiner Abreise gern noch einmal sprechen.«

Ich erzählte ihr, wie mich eben in diesem Augenblicke der Gedanke an sie beschäftigt habe, und mir in das Wort fallend, sagte sie: »Ich bin sehr abergläubisch und Sie lachen mich deshalb vielleicht aus. Ich hatte gleich gestern einen merkwürdigen Zug zu Ihnen, habe die ganze Nacht von Ihnen geträumt, und Sie haben mir sehr viel Gutes im Traum gethan. Daß Sie nun, wo ich auf dem Wege zu Ihnen war, auch grade an mich dachten, und mit schlechtem Gewissen an mich dachten, das ist mir ganz besonders lieb.«

»Warum das?« fragte ich.

»Haben Sie denn nicht die Erfahrung gemacht, daß man die Menschen, gegen die man Unrecht thut, immer ein Bischen dafür liebt?«

Sie sah ganz bezaubernd aus, während sie das sagte, aber ich konnte mich der Freude an ihrer Anmuth nicht überlassen, weil ich die Bemerkung machte, daß sie von dem Regen noch mehr gelitten, als ich Anfangs geglaubt hatte. Ihr Schawl, ihr Hut, ihre Schuhe und Kleider waren ganz durchnäßt. Ich machte sie darauf aufmerksam, sie legte kein Gewicht dar auf.

»Ich habe eine eiserne Gesundheit!« sagte sie, »und bin alle solche Dinge, wie Regen und Kälte und Hitze, [350] und wenn sie wollen, auch Hunger und Durst bei meinem vielen Reisen gewöhnt worden. Aber eine Frage: haben Sie Zeit? kann ich bei Ihnen bleiben?«

Ich versicherte sie, daß ich nichts Besseres verlange, und sie legte nun selbst die nassen Tücher ab, ließ es geschehen, daß ich ihr andere Schuhe besorgte, und meinte: »Ich hatte mit Bacheracht verabredet, daß er mich fünf, sechs Minuten vor der Thüre erwarten solle; käme ich dann nicht, so bliebe ich hier. Nun wird er fort sein, und nun bleibe ich auch.

Der Morgen verging mir, ich wußte nicht wie. Wir sprachen von Büchern, von unsern Arbeiten, von unsern Lebensverhältnissen, von unserer Vergangenheit, wie man von solchen Dingen im Beginne einer Bekanntschaft redet, und es fand sich, daß wir fast über Alles verschieden dachten, daß unsere Ansichten, unsere Erfahrungen, unsere Lebenswege noch viel weiter von einander abwichen, als es durch unsere verschiedene Stellung im Leben an und für sich bedingt war; und dennoch wurden wir einander immer werther, dennoch faßten wir eine Zuneigung zu einander. Wie das geschehen konnte? Ihr Leben in weiten Kreisen beschäftigte meine Phantasie, ihre Anmuth, ihre unverkennbare Güte gewannen mein Herz; die Einfach heit meiner Vergangenheit hatte etwas Rührendes für sie, mein Ernst und meine Offenheit flößten ihr Vertrauen ein.

Es war drei Uhr, als wir uns trennten. Sie beabsichtigte im Beginn des Sommers mit Carl Gutzkow eine Reise nach Tyrol anzutreten, und später allein nach Interlaken zu gehen. Von dort wollte sie mir schreiben, [351] wenn der Sonderbundkrieg das Reisen und den Aufenthalt in der Schweiz irgend wie behindre. Schreibe sie mir nicht, so sei Nichts zu befahren und ich versprach ihr, für diesen letztern Fall meinen Weg so einzurichten, daß wir uns im Anfang des August in Interlaken wieder sähen.

Einen Tag später verließ sie Berlin. Ich hatte sie noch in ihrer Wohnung im Hôtel du Nord aufgesucht, aber ich hatte sie dabei kaum gesprochen. Sie war in großer Toilette gewesen, mit Brillanten und Blumen geschmückt, um zu einer Gesellschaft zu fahren, und verschiedene Männer, die gekommen waren, ihr die Aufwartung zu machen, nahmen sie in Beschlag. Die Scene hatte etwas Blendendes für mich. Therese sah so schön aus, der Luxus, der sie umgab, die Huldigung, welche man ihr darbrachte, die Sorgenfreiheit, welche ich bei ihr voraussetzte, kamen mir wie ein Glück vor, und ich beneidete sie fast darum, daß sie tausend Dinge nach der Natur zu malen und zu schildern im Stande war, die ich aus meiner Phantasie oder nach Hörensagen auferbauen mußte. Sie war ganz und gar eine große Dame in ihrer prächtigen Kleidung, in der sichern Haltung, in der freundlichen Herablassung, mit welcher sie den Männern begegnete. Mitten in der Unterhaltung mit denselben wendete sie sich aber einmal ganz plötzlich zu mir, drückte mir die Hand und sagte leise und schnell: »Ach! ich wollte, ich säße bei Ihnen auf dem Sopha, und hätte die Gesellschaft erst überstanden. Ich bin heut' ganz zerschlagen.«

[352] Ich war betroffen. »Was ist Ihnen denn geschehen?« fragte ich.

»Mir ist wieder einmal der Boden unter den Füßen fortgezogen, und Jahre lange Arbeit zertrümmert worden!« Sie brach dann plötzlich seufzend ab.

Man meldete ihr, daß der Wagen auf sie warte, ich ging fort, als sie ihrem Mädchen den Befehl gab, Herrn von Bacheracht zu rufen, aber ich hörte nicht auf, an sie zu denken. Ich hätte wissen mögen, ob sie wirklich nicht glücklich sei? ob hinter dieser sanften, heitern Miene ein ernster Schmerz verborgen liegen könne? Und weil ich hoffen konnte, Therese auf der Reise wiederzusehen, wurde die Aussicht auf diese letztere mir von da ab nur noch lieber.

Theresen's Besuch in Berlin hatte den ganzen Kreis, in welchem ich sie gesehen, wieder auf's Neue mit ihr beschäftigt, und ohne daß ich besondere Nachfragen über sie zu thun nöthig gehabt hätte, hörte ich in den folgenden Wochen häufig von ihr sprechen, erfuhr ich von ihren Schicksalen, was man eben oberflächlich von denselben sehen und wissen konnte.

Therese war eine geborene von Struve, Tochter eines russischen Gesandten, der bei den Höfen von Oldenburg und Mecklenburg, und bei den Hansestädten accreditirt war, und in Hamburg residirte. Sie war jung mit einem Legationssekretär von Bacheracht verheirathet worden, der im Jahre fünfundvierzig Staatsrath und russischer Generalkonsul in Hamburg war, hatte mit diesem für eine kurze Zeit den Petersburger Hof besucht, große Reisen mit ihm gemacht, aber ihre Ehe war keine glückliche. Wie man von Therese sprach, schien man sie damals überhaupt nicht für die Ruhe einer friedlichen Ehe gemacht zu glauben. Man wollte von traurigen Herzensangelegenheiten [353] wissen, die sie durchlebt haben sollte, und es war daneben viel von einem seit einigen Jahren obwaltenden leidenschaftlichen Verhältniß zu einem deutschen Schriftsteller die Rede, das sie vollends unglücklich machen sollte.

Wer sie aber nur einigermaßen näher kannte, sprach mit großem Antheil von ihr, und zu den Personen, welche sich am Liebevollsten über Therese äußerten, gehörte Frau Palzow. »Denken Sie immer das Beste von ihr,« sagte sie mir eines Abends, als wir von ihr sprachen, und ich ihr den angenehmen Eindruck schilderte, welchen Therese auf mich gemacht hatte, »und Sie werden ihr nur gerecht sein. Theresen's unschätzbare gute Eigenschaften sind alle ihr eigen, ihre Irrthümer rühren zum Theil von ihren Verhältnissen her; und wenn man von irgend einem Menschen sagen kann, daß er nur die Fehler besitzt, die von seinen Tugenden herstammen, so ist das bei Therese gewiß der Fall.« – Dies Urtheil machte mir große Freude, ja ich fühlte an dieser Freude, wie lieb mir Therese bereits geworden war, und ich liebte Frau Palzow für die Wärme, mit welcher sie sich über Therese aussprach. Ich habe sie selten für Jemand so von Herzen eingenommen gesehen, als eben für Therese.

Ich selbst war in der Zeit ohne alle direkte Nachricht von meiner neuen Bekannten, und ich vermißte sie auch nicht, denn ich war sehr beschäftigt. Ich hatte, um mich für den Aufenthalt in Italien einigermaßen vorzubereiten, angefangen Italienisch zu lernen, schrieb fleißig an meiner Novelle für die Urania, hatte viel Zeitverlust mit dem Suchen nach einer passenden Reisegefährtin, und war nebenher viel in Gesellschaft. Meine alten Freunde freuten sich meines Fortschreitens, neue Verbindungen boten sich [354] mir von allen Seiten dar, ich war unabhängig und selbstständig genug, um auf meinem Wege in die Gesellschaft Niemandes Hülfe mehr nöthig zu haben, und doch noch nicht so alt und so festgestellt, daß ich den Schutz älterer oder bedeutenderer Personen nicht hätte bereitwillig annehmen können. Ich befand mich also, um ein Bild zu brauchen, in jenem beneidenswerthen Zustand, welcher uns die Kinder von fünf, sechs Jahren so anmuthig erscheinen läßt, und sie uns zu einer so erheiternden Unterhaltung macht. Sie legen uns keine wesentliche Mühe mehr auf, können uns aber noch brauchen, und begegnen also unserm passiven und unserm aktiven Egoismus in der uns zusagendsten Weise. Könnte man sein Lebelang den Leuten als ein solches Kind erscheinen, das sie ohne Unbequemlichkeit für sich selbst zu fördern und zu verpflichten vermögen, man würde lauter Freunde und ein leichtes, heiteres Dasein haben; denn Jeder mag gern hülfreich sein und den Beschützer machen, während er sich amüsirt. Indeß diese angenehme Rolle läßt sich für selbstständige Menschen nicht fortdauernd aufrecht erhalten. Es kommt die Zeit, in welcher man fremden Rath zwar anhören, aber nicht mehr unbedingt befolgen, in welcher man fremden Schutz, ohne zu heucheln, nicht mehr benutzen kann, und in der man genöthigt ist, sein eigener Berather, sein eigener Maaßstab und sein eigener Richter zu werden, wenn man sich auf dem Wege behaupten will, den man für sich ausgewählt, weil man ihn als den richtigen für sich erkannt hat. Dann wendet sich das Wohlwollen nur zu leicht von uns ab, man nennt uns kalt, nennt uns hochmüthig, zweifelt an der ehrlichen Dankbarkeit unseres Herzens; und solch ein Mißkennen [355] würde ganz unbegreiflich sein, steckte nicht in Jedem von uns ein Stück von einem Tyrannen, machte man nicht von Seiten des Gefühls noch ungerechterer Ansprüche an einander, als man es in praktischen Dingen zu thun pflegt.

Das ist freilich sonderbar genug! Denn Niemand wird Etwas dagegen haben, wenn ein Mann, den er Jahrelang mit Geld unterstützt hat, ihm endlich sagen kann: »Dank Deiner Hülfe brauche ich dieselbe fortan nicht mehr. Dein Geld hat mir die Möglichkeit gegeben, mich auszubilden, mich in der Welt umzusehen, nun habe ich mir ein Geschäft, ein Gewerbe eingerichtet, das mich ernährt. Es ist ein anderes, als dasjenige, welches Du betrieben hast, aber mein Kapital und meine Fähigkeiten sind auch von den Deinen verschieden, und um in meinem Geschäfte vorwärts zu kommen, muß ich andere Mittel und Wege benutzen, als Du es Deiner Zeit gethan!« Gewiß der Mann, der das nicht einsähe und respektirte, der nicht sehr damit zufrieden wäre, sein Geld für sich zu behalten, und es nicht mehr bei einem Dritten einem immer zweifelhaften Erfolge preiszugeben, müßte ein schlechter Geschäftsmann oder ein großer Thor sein.

Mit dem Rath ertheilen, Rath verleihen ist es nun im Grunde ganz dasselbe, und doch verhalten sich die Leute völlig anders dazu. Ich habe eben in der Zeit, in welcher ich meine Reise antreten wollte, und auch später noch vielfach in meinem Leben den Ausruf nicht unterdrücken können: wenn Rath doch baares Geld wäre! wie unangefochten könnte man leben! Und in der That, ein Frauenzimmer ist sehr übel daran, wenn es im Leben einen andern Weg zu gehen hat, als den von ihres Vaters Tisch in ihres Mannes Haus. Wie kann es aber anders sein?

[356] Das Staatsgesetz, das allgemeine Recht, erklären die Frau ein für allemal als unmündig, wie sollte der Einzelne nicht geneigt sein, ein Gleiches zu thun? Die Familie erzieht nach überkommenen Grundsätzen die Frau zur Abhängigkeit und Unterordnung, und sie thut auf ihre Weise recht daran, denn die Frau ist unter uns so gestellt, daß ihr keine Veranlassung zu selbstständigem Handeln und Entscheiden gegeben ist – vorausgesetzt, daß sie immer das Glück hat, Männer zu finden, die für sie denken und sorgen. Wenn es einem Mädchen so gut wird, einen verständigen Vater zu haben, und von diesem einem verständigen Manne zur Frau gegeben zu werden, der ihr ihre Söhne und Töchter gut versorgt und gut erzieht, so mag sie ihr Leben hindurch in sanfter Abhängigkeit sich glücklich fühlen, mag vor jeder eigenen Entscheidung und vor fremdem Berathen durch die Rücksicht gesichert sein, daß sie ja ihren natürlichen Berather habe. Es mag dann sehr anmuthig sein, ihre Fügsamkeit zu betrachten, und sie sagen zu hören, daß sie von den Welthändeln Nichts verstehe, daß sie von Geld und Erwerb Nichts wisse, daß sie sich diese und jene Verhältnisse nie klar gemacht habe, weil es ihr weh gethan, ihr Auge auf die Nacht- und Schattenseiten des Lebens zu richten. Sie mag dann als glückliche uralte Matrone aus der Welt gehen, und der Prediger, der ihr die Leichenrede hält, mag von ihr sagen, sie habe durch ihr ganzes Leben sich das reine sanfte gehorsame Herz eines Kindes bewahrt.

Aber die Medaille hat zwei Seiten – wenden wir sie um!

Nicht jeder Frau ist es gegeben, in Verhältnissen aufzuwachsen, die sie aller Sorge um ihre Zukunft entheben. [357] Nicht Jede von uns hat wohlhabende Eltern, nicht Jede von uns findet sich, wenn sie zum Selbstbewußtsein kommt, in der Lage, für welche ihre angebornen Eigenschaften sie befähigen, oder welche diese ihr zu einem Bedürfniß machen. Sie hat für sich zu sorgen, ihren Unterhalt zu ernten, oft für unversorgte Familienglieder das Brod zu schaffen. Sie heirathet. Die Ehe bewährt sich aber oft nicht als das Glück, als die Versorgung, welche man von ihr erwartete. Der Mann ist unfähig, die Frau zu ernähren, er ist krank, er ist kein Haushalter, er versteht die Kinder nicht zu erziehen. Die Frau fühlt, daß sie helfen müßte – aber sie versteht Nichts von den Dingen der Welt, sie kennt das Leben nicht, sie weiß nicht, wie man Geld verwaltet, sie hat es nicht gelernt auf die Schattenseiten des Lebens zu blicken, sie weiß nicht, wie man einer Tochter über die traurige Aussichtlosigkeit eines armen Mädchens forthilft, sie weiß nicht, wie man einen irrenden Sohn auf den rechten Weg zurückführt. Sie ist rein, sie ist sanft, sie ist gehorsam – und sie ist ein Unsegen an der Stelle, an der sie ein Segen sein müßte! Sie bricht sich das Herz mit ihrem duldenden Grame, wo sie sich ein Herz fassen und handeln müßte. Nehmt einem Weibe die Voraussetzung des Glückes, für welches Ihr dasselbe mit Euren Theorien der Unterordnung erzieht und alle Vorzüge, welche Ihr an ihm rühmtet, werden zu Mängeln an ihm, und alle die unthätigen Tugenden, welche Ihr ihm gegeben und anerzogen habt, werden zu Sünden, zu schweren Unterlassungssünden, die auf Euch zurückfallen.

Oder habt Ihr noch nicht dagestanden vor der weiblichen Hülflosigkeit, die sich nicht zu rathen, sich und den [358] Ihren nicht zu helfen wußte! Die mit herabgesunkenen Armen, mit gefalteten Händen den Blick zu Euch erhob, als ob Ihr allmächtig wäret? als ob Ihr mit Eurem Willen und Eurem Rathe nun mit einem Male ihre Schwäche in Stärke, ihre Zaghaftigkeit in Entschlossenheit, ihre Unkenntniß in Einsicht und Umsicht verwandeln könntet?

Wenn Ihr aber vor solchen Mädchen, vor solchen Töchtern, Frauen, Müttern, Wittwen gestanden habt – und wer von uns hätte das nicht – habt Ihr dann nicht bitter und schwer die Unmündigkeit beklagt, zu welcher der Staat und die Familie die Frau erziehen und verdammen? Trat dann der Anblick der Einen trostlosen unfähigen Hülflosigkeit nicht anmahnend und anklagend für alle vorhandene weibliche Hülflosigkeit vor Euch hin? Hättet Ihr dann nicht wünschen mögen, daß diese Demuth Selbstgefühl, daß diese Weichheit Stärke und Kraft, daß diese Zuversicht zu Euch und zu des lieben Herrgotts Hülfe, Selbstvertrauen und Thatkraft gewesen wären? Hättet Ihr Euch nicht gern des Rather-Amtes und der daraus erwachsenden Verantwortung enthoben gesehen?

Es wird nicht viele Menschen geben, welche so leidenschaftlich für das Hülfeleisten eingenommen sind, daß sie diese Frage mit Nein beantworten sollten.

Wenn dem aber so ist, warum mißfällt es Euch, warum wartet Ihr den Erfolg nicht ab, warum scheltet Ihr es, wenn ein Frauenzimmer den Muth und den Beruf fühlt, seine eigene Straße zu gehen, wenn es sagt: Irre ich, so irre ich mir! Täusche ich mich, so trage ich die Folgen! – Ihr fürchtet mit Recht, es fällt auf Eure Schultern zurück, wenn es sich getäuscht hat, denn Ihr habt es von Jugend auf gewöhnt, sich auf Andere [359] zu verlassen, und statt die Frau wie den Mann, selbst verantwortlich zu machen für ihr Handeln und Erleiden, habt Ihr ihr die Möglichkeit gegeben, sich im Nothfall damit zu entschuldigen, daß sie fremdem Rathe gefolgt sei, fremder Bestimmung nachgegeben habe. Was wird damit für die Frau, für Euch gewonnen? was ist damit erreicht? was ist die Folge davon?

Die Antwort darauf kann ich aus meiner eigenen Erfahrung geben. Ich bin meiner Anlage nach keine Natur, die es nöthig hat, sich auf Andre zu lehnen und zu stützen, und doch habe ich den Unsegen an mir selbst erprobt, den unsere Erziehung zur Unmündigkeit über uns verhängt. So lange ich mich zu erinnern vermag, habe ich immer ziemlich bestimmt gewußt, was ich wollte, und das Ziel nicht leicht aus dem Auge verloren, dem ich zustrebte. Ich hatte unabhängig sein wollen, nun war ich es; aber ich sah, daß ein großer Theil meiner Bekannten sich darüber wunderte, daß Manche den Entschluß mißbilligten, den ich gefaßt hatte; und statt sie sich und ihren Ansichten ruhig zu überlassen, und meiner Wege zu gehen, woran mich Niemand hindern konnte, wollte ich jeden Einzelnen von der Richtigkeit und Nothwendigkeit meiner Handlungsweise überzeugen, und für jede einzelne Handlung wo möglich die Zustimmung und Anerkennung von Personen erlangen, an denen mir oftmals herzlich wenig gelegen war, und mit denen ich kaum einen andern Zusammenhang hatte, als den, daß mir gelegentlich erzählt werden konnte, was sie etwa über mich dächten und sagten. Ich war wie die Matrosen, die mitten in den wirklichen Gefahren eines Sturmes guten Muthes sind, und sich daneben in ruhigen Stunden [360] vor dem Seegespenste fürchten. Wer aber geneigt ist Gespenster zu sehen, späht beständig nach ihnen aus, starrt so lange in die Dunkelheit hinein, bis sein Inneres selbst phantastische Bilder erzeugt, und ist schließlich von jedem Menschen zu erschrecken, der festen Blickes in die Leere hineinschaut. Einen Furchtsamen in Angst zu versetzen, einen Zaghaften zu beunruhigen, ist ein Vergnügen, das nur die Wenigsten sich versagen; und man merkte nicht sobald, daß ich die Schwäche hatte, vor gutem Rathe still zu halten, als guter Rath und wohlgemeinte Warnungen von allen Ecken und Enden gegen mich losgelassen wurden.

Dabei that ich nicht das Geringste, was irgend hätte Anstoß geben oder auch nur ein Bedenken verursachen können. Mein Umgang beschränkte sich ausschließlich auf Familienkreise. Die wenigen jungen Männer, die ich ab und zu bei mir sah, waren Männer von Ehre, welche ich und die Meinen seit Jahren kannten, oder irgend ein Fremder, ein Schriftsteller, der mir einmal einen Besuch machte. Ihr Verhältniß zu mir war kein Anderes, als es junge Männer zu einem Mädchen in ihrem Vaterhause haben. Es hatte Keiner von ihnen eine wirkliche Liebe oder Leidenschaft für mich, es machte mir kaum Jemand ernstlich den Hof, ja ich hatte nicht einmal einen männlichen Freund in meiner Nähe. Indeß das half mir gar Nichts.

Ich konnte mich oft vor wohlgemeinten Ermahnungen und gutem Rathe gar nicht bergen; und hätte ich halb so viel Hülfe und Förderung als gute Lehren erhalten, so wäre ich wirklich zu beneiden und mein Leben ein sehr leichtes gewesen. Glücklicher Weise beirrte mich das berathende [361] Gerede nicht. Es brachte mich auch nicht von demjenigen ab, was ich für mich als das Richtige und Nothwendige erkannte, aber es verstimmte mich, und was noch schlimmer war, es machte mich zornig und forderte mich zu einem trotzigen Widerstand heraus, in welchem ich dann schroffe Aeußerungen that, die viel weiter gingen, als ich selbst zu gehen irgend geneigt war, und die gethan zu haben ich meist bereute, wenn ich später bei ruhiger Ueberlegung zu der Einsicht gelangte, wie wenig die Personen, welche meine Heftigkeit hervorgerufen hatten, eines solchen unnöthigen, und mir grade ihnen gegenüber nur zu nachtheiligen Kraftaufwandes werth gewesen waren.

Ich kämpfte gegen Windmühlen mit so schweren Waffen, daß ich mir den Arm mit ihnen auszuheben riskirte, und das Alles nur, weil ich, zur Abhängigkeit erzogen, mich nicht mit meinem guten Bewußtsein zu beruhigen vermochte; weil ich fortdauernd auf das Urtheil der Andern hinhorchte; weil ich jenes Sicherheitsgefühls ermangelte, welches Männer, die viel unbedeutender waren als ich, in unbeirrter Ruhe ihren Zweck verfolgen und die Mittel zu demselben ohne alle Nebenrücksichten wählen ließ.

Manches ist seit der Zeit, von welcher ich spreche, schon anders, die Stellung der Frauen ist in vielem Betrachte in diesen letzten Jahrzehnten schon eine freiere geworden, und es fällt jetzt kaum noch einem vernünftigen Menschen ein, sich darüber zu wundern, wenn ein verständiges, völlig unbescholtenes Mädchen von vierunddreißig Jahren sich einen eigenen Heerd begründet, in die Oeffentlichkeit tritt, oder allein eine größere Reise unternimmt. Damals aber war es noch anders, und manchem Mädchen, das jetzt unangefochten seinen Weg gehen [362] kann, habe ich ihn mit nicht immer angenehmen Erfahrungen und manchem mich ermüdenden Axtschlag bahnen geholfen.

Glücklicher Weise hatte ich den felsenfesten Glauben an das sittliche Element im Menschen, den Glauben an mich selbst, und mit ihm das unwandelbare Vertrauen, daß eine Frau wie ich sich auf ihre Weise unter den guten und unter den sittlichen Menschen zu behaupten und durchzusetzen im Stande sein müsse. Ich war überzeugt, daß es möglich sein müsse, ohne heuchlerischen Schein den graden Weg zu gehen, und allmählich Anerkennung für sich selbst, und in der für sich selbst errungenen Freiheit und Anerkennung, auch für Andere ein Stück Freiheit zu gewinnen. Denn das ist das Schöne und das Ermuthigende an der Freiheit, daß Niemand sie für sich allein erkämpft. Ihr geringster Strahl leuchtet wie die Sonne, wo immer er durch das Dunkel bricht, für Alle, die sich in seinem Bereiche finden.

Eine Lehre aber hat jene Zeit mir ganz besonders gegeben, und sie ist gewiß vielen Personen zu Statten gekommen, mit denen ich in Berührung getreten bin, die Lehre: daß es eine hochmüthige Anmaßung ist, unaufgefordert Rath zu ertheilen, wenn man nicht zugleich entschlossen ist, mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln die Hülfe zu leisten, welche die Befolgung unseres Rathes nöthig macht. Rathgeber, die nicht zugleich ehrliche und beharrliche Helfer sind, soll man fliehen, denn sie sind oder werden in der Regel unsere Feinde, mögen wir ihnen folgen oder nicht, mag unsere Fügsamkeit oder unser Widerstand uns Vortheil oder Nachtheil bringen.

[363]
21. Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel

Eines Abends saß ich mit meinem Bruder in meiner Stube, es mochte gegen neun Uhr sein, und wir hatten unser Abendbrod schon eingenommen, als es an meine Thür klopfte. Das war um diese Zeit etwas so Unerhörtes, daß es mich überraschte, und mein Bruder in das Entrée ging, zu hören, was es gäbe.

Es war dunkel in der ersten Stube, ich konnte auch vom Sopha aus nicht sehen, was an der Thüre vorging, hörte aber von einer tiefen Stimme die sonderbare Frage: »Wohnt hier Fanny Lewald?«

»Ja!« antwortete mein Bruder.

»Also richtig! nu! das ist mir lieb!« rief der Fremde, und fügte, auf die in sehr bestimmtem Tone gethane Gegenfrage: »Wer sind Sie und was wünschen Sie?« die mich neugierig aus meinem Zimmer mit der Lampe in die Vorstube gehen machen, in süddeutschem Dialekte die Erklärung hinzu: »Ich bin der Berthold Auerbach, und hatte mir in der Frühe das Wort darauf gegeben, daß ich heute noch auf jeden Fall die Verfasserin der »Jenny« sehen wolle. Darüber ist's aber, weil ich in Gesellschaft war, spät geworden, und ich bin denn doch gekommen, weil ich's mir schon die ganze Woche vorgenommen und immer Abhaltung gefunden hatte.«

Nachdem die erste Verwunderung über diese Art des [364] Besuches vorüber war, hatte ich die große Freude, Auerbach bei mir zu haben. Ich hatte schon alle die Tage von seiner Anwesenheit in Berlin gehört, nun kam er bei mir an, wie der heilige Niklas um Weihnachten, und wie der heilige Niklas hatte er damals alle seine Taschen voll Herrlichkeiten, und warf sie mit der Sorglosigkeit des an Ueberfluß gewöhnten Reichen, auf gut Glück umher, wo er eben Jemand fand, der geneigt war, die Hände aufzuhalten.

Frischer als Auerbach es in jenen Tagen war, habe ich nicht leicht Jemand gesehen, und es hatte damals für mich, deren ganze Bildung im Grunde eine abstrakte war, einen eignen Reiz, Auerbach's Redeweise zu hören, weil sie vollständig von Allem abwich, was ich bis dahin vernommen. Wer eine Zimmer-Erziehung genossen, und einen großen Theil seiner Sprache aus Büchern oder doch von solchen Menschen erlernt hat, deren Sprache sich nach der Schriftsprache gemodelt hat, besitzt von vornherein kein Bedürfniß sich selbst die Sprache zu schaffen. Er hat, wie die italienischen Improvisatoren, in seiner allgemein ausgebildeten Sprache ein großes, fertiges Capital, mit dem er, wenn ihm eine Begabung dafür innewohnte, bequem hantieren kann. Das macht die Sprache flüssig, aber es macht sie auch bei beschränkter Fähigkeit leicht monoton, phraseologisch und abstrakt.

Bei Auerbach fand grade das Gegentheil statt. Reich an Gedanken, hatte er für diese in seiner frühern Jugend sich offenbar den Ausdruck selbst suchen und die Sprache selbst schaffen müssen; und voll von Eindrücken, die er aus der Natur geschöpft, hatte sich ihm, wie das den Juden häufig eigen ist, wo ihm das rechte Wort nicht [365] gleich zur Hand gewesen war, ein Bild dargeboten, welches seine Meinung kund gab. Diese bildliche Ausdrucksweise war ihm geblieben, und alle seine Bilder waren so schlagend, so aus der sichtbaren Natur hergenommen, daß seine Redeweise mir Anfangs etwas Fremdes hatte, und mir es dann zum ersten Male auffallend machte, was mir fehle, und was ich mir anzueignen suchen müsse, wenn ich zu einer Selbstständigkeit im Ausdruck und zu einem Schaffen aus dem Vollen des Lebens gelangen, und mich vor dem Versinken in Abstraktion bewahren wolle.

Auerbach sprach von meinen Arbeiten, von den seinen und von sich. Er schilderte mir den Eindruck, welchen Berlin und namentlich die Bildung der jungen Mädchen aus den jüdischen Familien auf ihn mache, er charakterisirte die trockne Begeisterung, der er hier und da in Norddeutschland begegne, und beschwerte sich über die Hast des Lebens, die ihm in Berlin auffallend war, und die ihn, wie er klagte, sich selbst entwende. Es waren das Bemerkungen und Erfahrungen, welche ich schon von vielen jungen Männern, und namentlich von Süddeutschen gehört hatte, wenn sie sich plötzlich nach Norddeutschland und vollends in einen der großen Mittelpunkte des geistigen Lebens versetzt gefunden hatten. Indeß in Auerbach gewann das ein eigenes Gepräge. Er wollte seinen geistigen Zustand kund geben, und er sprach von Feld und Wald, von Handwerk und Ackerbau; und während man die Bilder vor Augen hatte, die er heraufbeschworen, sah man doch wieder ihn, und erfuhr man, was ihn belästige und was ihn freute. Er erinnerte mich mit seiner Ausdrucksweise an die gemalten Veilchensträuße, [366] zwischen deren Blumen die Bonapartisten während der Restauration die Köpfe Napoleons und des Königs von Rom zu zeichnen und herauszusehen verstanden, während der Ungeweihte nur einen Veilchenstrauß vor Augen zu haben glaubte.

Rede und Gegenrede zogen uns immer weiter fort. Eine Menge von Erfahrungen, die wir Beide als Juden zu machen gehabt hatten, waren uns gemeinsam; der Boden, auf dem wir erwachsen waren, die Verhältnisse, unter welchen wir unsere Bildung gewonnen, wichen dafür um so weiter von einander ab, und es war lange Mitternacht, als wir uns, voll erhöhter Theilnahme für einander, endlich trennten.

Von da ab sah ich Auerbach noch öfter in jenem Frühjahr, aber je mehr die Jahreszeit vorwärts schritt, um so weniger wollte es ihm in Berlin behagen, und das war natürlich. Man hat seine Fähigkeiten und seine Gaben nicht ungestraft, man hat keinen tiefen Zusammenhang mit der Natur, ohne sich in der Zeit, wenn sie zu neuem Leben erwacht, in den Mauern einer Stadt, wie in einem Gefängniß zu empfinden; und der Erfrischung, welche Auerbach seinen Lesern bereitet hatte, indem er sie aus ihren parfümirten Salon-Romanen in die Wälder und Wiesen des Schwarzwaldes hinauslockte, dieser Erfrischung entbehrte er selber auf die Länge mehr und mehr.

»Ich gehe vom Frühstück zum Diner und vom Diner zum Abendbrod, ich werde wie ein Mauerstein von Hand zu Hand gereicht. Man macht mich hier essen und trinken von früh bis spät, und weiß der liebe Gott, ich bleibe hungrig und durstig, und wenn ich endlich schlafen gehe, [367] kommt mir vor, als müßte ich was trinken, denn ich bin wie ausgedörrt, und das Blut ist mir heiß, daß ich denke, ich werde krank!« sagte er eines Vormittags mit seufzender Heiterkeit zu mir.

Ich mußte über ihn lachen, aber es war nicht schwer, ihm zu erklären, was ihm fehle, und daß er Luft und Alleinsein und Ruhe nöthig habe, denn Auerbach's mittheilsame Natürlichkeit setzte ihn damals noch weit mehr als später der Gefahr aus, sich verbrauchen zu lassen. Die Norddeutschen hatten das Herz voll von dem Tolpatsch und seiner Biederkeit, von Ivo des Heierlein's religiösem Schwung, von dieser und jener Gestalt des Dichters, die ihnen liebgeworden war, und wie Kinder einen Spielzeugkasten, aus dem sie ihr Spielzeug herausgenommen haben, darauf ansehen, ob nicht noch mehr darin ist, weil ja schon so viel darin gewesen, und ihn immer wieder umstülpen, um zu probiren, ob dies erwartete Mehrere nicht bald herausfallen werde, so wurde Auerbach hin und her befragt und umgewendet, und sollte erzählen und erzählte, und regte an und ließ sich aufregen, bis Alle, die es gut mit ihm meinten, ihm endlich sagen mußten: »Auf und fort! Ihre mittheilsame Gutmüthigkeit wird Sie hier umbringen!«

Hielt man ihm das vor, so sagte er ernsthaft: »Sie haben ganz recht!« Und fünf Minuten darauf war er wieder mitten darin, ohne sich zu erinnern, daß er sich nicht mehr hatte fortreißen lassen wollen. Er war und blieb der heilige Niklas mit den vollen Taschen – und alle lebhaften Naturen sind mehr oder weniger so großmüthig liebevolle Verschwender ihres eigenen Selbst. »Blase nur immer hübsch in die Kohlen«, schrieb der [368] verstorbene geistreiche Karl Stahr einmal in gleichem Sinne warnend an seinen Bruder Adolf: »Blase nur immer hübsch in die Kohlen, es giebt einen hellen Schein, aber die Kohle verzehrt sich!« Dem geistig Großmüthigen und Freigebigen gegen über können Die, welche ihn lieben, den Geiz und die Engherzigkeit als Eigenschaften schätzen lernen.

Am Tage nach Auerbach's erstem Besuche erzählte ich einer Dame meiner Bekanntschaft arglos und mit großem Vergnügen, in wie origineller Weise er sich bei mir eingeführt, und wie gute frohe Stunden wir mit einander gehabt hätten. Aber weit entfernt meine Freude zu theilen, sagte sie mir sehr bedenklich: »Sehen Sie wohl, wie schlimm es ist, daß Sie nicht in einer Familie wohnen?«

»Weßhalb denn schlimm?« fragte ich.

»Ja! was hätten Sie denn gethan, wenn Auerbach so spät am Abende gekommen wäre, und Sie hätten sich ganz allein befunden?«

»Genau dasselbe, was ich jetzt gethan habe. Ich hätte ihn willkommen geheißen, hätte ganz eben so noch einmal Abendbrod besorgt, wir würden wahrscheinlich eben so lange geplaudert, und ich würde ihn eben so beim Fortgehen gebeten haben, künftig nicht zu so ungewöhnlicher Stunde zu mir zu kommen.«

»Und es hätte Sie gar nicht genirt?«

»Nein! Nicht im Geringsten!«

Die Dame schüttelte verwundert den Kopf. Sie erstaunte über die Naivetät und Natürlichkeit dieses Geständnisses, wie sie es nannte, und während ich sah, daß sie mein Verhalten nicht nachgemacht haben würde, hatte ich doch Grund ihr zu glauben, daß sie mich, nach ihrem [369] eigenen Ausspruch, um diese ruhige, fest entwickelte Natürlichkeit beneide.

Mein eigener Zusammenhang mit der Natur war aber nur insofern ein entwickelter, als mir von Jugend auf, wie schon gesagt, die Unnatur in unsern Lebensverhältnissen ein Stein des Anstoßes gewesen war, so daß ich mich von ihr für meine Person frei zu machen gestrebt hatte; indeß in der uns umgebenden Natur war ich so fremd als möglich. Die Frucht des Feldes, die Bäume des Waldes, die Blumen, die Vögel, Alles war mir nur ein Ganzes, dessen allgemeine Wirkung ich mit meinen scharfen Sinnen sehr lebhaft empfand; aber mir fehlte die Möglichkeit des Unterscheidens, und damit entbehrte ich eben so viel Einsicht als Genuß. Was würde man denn von den Menschen haben, wenn man sie nur als Masse aufzufassen verstände, wenn man zwischen einem Humboldt und einem Neger keinen andern Unterschied zu machen wüßte, als den, welchen das Auge erkennt, als den, daß der Eine schwarz und der Andere weiß ist?

Beinahe mit eben so unvollkommener Erkenntniß stand ich damals und stehen tausend Andere fortdauernd mitten in der Natur. Das würde unmöglich, würde Jedem unerträglich sein, wenn man sich nicht mit dem biblischen Glauben, daß ein persönlicher Gott den Menschen als das vollkommenste Geschöpf, und die ganze übrige Welt nur für das Bedürfniß des Menschen geschaffen habe, zu beruhigen verstände. Wer sich als das Höchste, als den Selbstzweck betrachtet, hat nicht sehr nöthig, die Mittel zum Zweck hoch anzuschlagen. Wenn man bei solcher Anschauung alles Erschaffene in die beiden Rubriken desjenigen, was der Mensch brauchen, und desjenigen, was[370] er nicht brauchen kann, eingereiht hat, so ist von diesem Standpunkte aus eigentlich das Nothwendige geschehen, und es hat höchstens noch ein gewisses Interesse, zu beobachten, auf welche Weise Gott die übrigen Geschöpfe: Steine, Pflanzen und Thiere, dazu fähig machte, uns zu dienen, und wie er das Weltall so hübsch ordentlich zusammen hält, daß wir uns mit Sicherheit und Gefallen darin bewegen können.

In dem Glauben an diese Theorie, deren Hochmuth und Selbstgefühl etwas Furchtbares haben, war ich bis zu einer bestimmten Zeit meiner Jugend auch herangewachsen, und die ganze Generation, welcher ich angehöre, wird sich in ziemlich gleicher Lage befunden haben. Und wie ich denn, wenn ich zurückblicke, fast jeden Fortschritt, den ich gemacht habe, auf den direkten oder indirekten Antrieb und Einfluß eines bestimmten Menschen zurückführen kann, denn die unausgesetzte Berührung mit Anderen ist das wahre Perpetuum mobile für unsere allseitige Entwicklung, so war es Auerbach mit der lebendigen Fülle seiner Naturanschauungen, der mich, ohne es zu wissen, zum Beobachten des Einzelnen in der Natur veranlaßte, und mir damit eine Quelle nicht endender Befriedigung eröffnet hat, einer Befriedigung, die durch kein Dazwischentreten dritter Personen gestört werden kann, und die darum so unschätzbar ist, weil man sie sich an jedem Orte, in jeder Lebenslage und in jeder Stimmung zu bereiten vermag.

Eines Tages sprach ich von diesen Dingen, und daneben auch von Auerbach, mit einem Landsmann von mir, dem jetzt schon verstorbenen Doktor Julius Waldeck, und die Unterhaltung wendete sich von Auerbach's Dorfgeschichten [371] zu dessen frühern Arbeiten. Wir kamen dadurch auf Spinoza zu reden, und Doktor Waldeck, der ein sehr klarer Kopf war, machte die Bemerkung, daß eigentlich jeder Spinozist ein liebevoller Beobachter der Natur sein müsse. Ich hatte oftmals von der Theorie Spinoza's sprechen hören, die ich am liebsten die Religion Spinoza's nennen möchte, denn jedes vollkommen durchdachte System, das dem Menschen seine Wesenheit und seinen Zusammenhang mit dem All und sein Verhältniß zu den einzelnen Geschöpfen klar macht, ist Religion. Ich wußte auch, um was es sich in dieser Theorie im Wesentlichen handle, aber ich konnte damit, weil es mir an einer philosophischen Disciplin fehlte, nicht vorwärts kommen, d.h. ich konnte mir die Theorie und ihre Consequenzen nicht von dem einzelnen Fall auf alle andern Fälle übertragen. Ich konnte nicht damit arbeiten, und nur die Religion oder die Theorie werden in uns fruchtbar und für uns förderlich, die wir selbst als Maaßstab und als Hebel zu benutzen die Kraft gewinnen. Damit dies für mich möglich war, mußte ich immer einen festen und einfachen Satz zu erhalten suchen, den ich selber handhaben konnte, und diesen zu erlangen, fragte ich Doktor Waldeck einmal: was er als das Grundprinzip des Spinozismus ansehe, und wie sich dieses am Kürzesten formuliren lasse?

»Alles was ist, ist Gott!« antwortete er gelassen, und nun hatte ich mit einem Male, was ich brauchte. Nun hatte ich den Halt für mein ganzes ferneres Leben, den Regulator für mein Denken, Lieben und Handeln, und zugleich die Anmahnung zu jener Unterordnung des eigenen Willens unter das Allgemeine, welche Niemand [372] erlangen kann, so lange er noch den Menschen und dessen Wohl als den einzigen Zweck der Schöpfung ansieht. Es ist dem Hochmuth und der Selbstsucht freilich eine schwere Zumuthung, sich nur als mitwirkenden Theil zu denken, wo er sich bisher als den Herrn und Gebieter gefühlt hat; aber man gewinnt an der wachsenden Liebe zehnfach wieder, was man an Macht- und Wichtigkeitsbewußtsein zu opfern hat. Monarchen und Aristokraten werden wohl ihre Rechnung bei dem Spinozismus niemals finden, und Staatsreligion könnte er nirgend werden als in der menschlichsten der Republiken. Für die Erziehung und das Glück der Einzelnen, für seine Ruhe und Resignation ist er ein wundervolles Mittel. Wie alle großen und unumstößlichen Wahrheiten dringt indeß der Spinozismus, selbst wider den Willen Derjenigen, die im Allgemeinen ihren Vortheil darin finden, ihn nicht anzuerkennen, auf die unscheinbarste Weise und oftmals auf den weitabliegendsten Wegen in die Erkenntniß der Menschen und in die Thätigkeit des Lebens ein, und schiebt mehr und mehr das Alte zurück, dessen Stelle er einnimmt. Er gewinnt Herrschaft in den Geistern, ohne daß man sagen könnte, er habe sie gesucht oder wie er sie erlangt hat.

Die Culturgeschichte der Menschheit ist ein langer Weg, dessen Wendepunkte mit einzelnen, oft unscheinbaren Thatsachen bezeichnet sind, die erst später in ihrer Bedeutung erkannt, und dann in den Erinnerungen der Menschen zu großen Ereignissen umgestaltet werden. Die Gründung des ersten Vereines zum Schutz der Thiere gegen unnöthige Quälerei war eine solche Thatsache; denn sie erkannte den Grundsatz an, daß das Thier um seiner [373] selbst willen auf der Welt ist, und sie entthronte damit die absolute und despotische Willkürherrschaft des Menschen, ohne daß man vielleicht eine Ahnung davon hatte, was man gethan hatte. Denn wer dem Menschen gegenüber das Thier vor egoistischer Willkür in Schutz nimmt, muß nothwendig auch den Menschen ein für alle Mal sicher stellen vor willkürlicher Bedrückung und Tyrannei.

Man hat sich lange darin gefallen, den Spinozismus als eine Lehre der Selbstvergötterung zu bezeichnen, und als solche zu verdammen. Wie dies geschehen konnte, wie das noch geschehen kann, das würde kaum zu begreifen sein, wenn man nicht wüßte, mit welcher Schlauheit zu allen Zeiten die Feinde einer neuen Erkenntniß irgend einen Satz aus derselben hervorzuheben, und diesen aus dem Zusammenhange herausgerissenen Satz zu mißdeuten verstanden haben. So hatte denn auch ich es oftmals aussprechen hören, daß die Doktrin Spinoza's darum so verderblich sei, weil sie Gott in den Menschen setze, das heißt, den Menschen zum Gott erkläre, und also jedem Menschen das Recht zuerkenne, sich als das Höchste, als den Mittelpunkt der Welt zu betrachten.

Diese Vorstellung hatte in ihrer Vernunftlosigkeit für mich etwas Empörendes gehabt, und es fiel nun wie Schuppen von meinen Augen, als der Wahnwitz jener Behauptung mir klar gemacht, und mit dem Aussprechen eines einzigen Satzes das ganze System nothwendiger, unauflöslicher und liebender Zusammengehörigkeit alles Erschaffenen vor mir eröffnet wurde, das Eins im Geiste, verschieden in der Form und Kraft, seine Dauer in seinem Wechsel, seine Ewigkeit in seinem beständigen Vergehen und Werden hat.

[374] Es lag für mich etwas Herzerweiterndes, etwas Beseligendes in dem Gedanken. Es war mir, wie es einem Einsamen sein müßte, der sich plötzlich mitten in eine große, ihm zugehörende, ihm auf das engste verbundene, und allen seinen Schicksalen mitunterworfene Familie versetzt findet. Ich gewann mit einem Male tausend neue Gegenstände für meine Aufmerksamkeit, für meine Beobachtung, für meine Liebe und Verehrung. Nichts war mehr leblos, Nichts mehr unpersönlich für mich, Alles hatte Individualität, Alles hatte Bedeutung, Alles sprach zu mir, hatte Anrechte an mich, wie ich an Alles, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß von jenem Zeitpunkte an ein neues Leben für mich begonnen hat, daß sich auf jene Erkenntniß das Gute zurückführen läßt, welches die Personen, die mich kennen und lieben, etwa an mir schätzen. Denn das was wir für Andere thun, wird ihnen erst recht ersprießlich und wirksam, wenn wir es nicht aus Instinkt, sondern aus freudiger Ueberzeugung für sie thun.

In den Augen eines sprachlosen Kindes, bei den pulsirenden Schlägen des Blutes in seinem kleinen nackten Schädel, die Gottheit zu empfinden, in dem Blick des Hundes, der uns zu verstehen und sich uns damit anzunähern sucht, in dem Sang des Vogels, der durch die Lüfte zieht, in dem leisen Flüstern der sich entfaltenden Blätter, in dem Blühen, Duften, Frucht-und Saamenbringen der Blumen, überall das innewohnende Göttliche, das Schaffen und Weiterwirken zu erkennen, ist der liebevollste Genuß, der sich erdenken läßt. Wie erhaben ist es, in dem Menschen, den man mit seiner stärksten Liebe liebt, zugleich einen Theil des Allgeistes verehren [375] zu können, welchem man sich anbetend unterordnet, während man sich doch als Seinesgleichen, als Geist von seinem Geiste erkennt. Gewiß, der Spinozismus ist eine Religion der Liebe, der Demuth, der Hingebung, und erschließt zugleich, wie er das All umfaßt, die Blüthe unserer Natur, die stärkste Liebe zwischen Mann und Weib, die höchste Poesie als konsequente Folge in sich. Was die Bibel in dumpfem Vorahnen Adam zu seinem Weibe sprechen läßt, jenes: »Das ist Fleisch von meinem Fleische«, das verklärt der Spinozismus zu dem erhabenen: Das ist Geist von meinem Geiste! und das Eins sein in der Liebe erhält erst in ihm seine völlige Wahrheit!

Die Zeiten, in denen sich mir eine große Erkenntniß erschlossen hat, in denen ich, wie ich auch äußerlich beschäftigt sein mochte, innerlich immer den einen Gedanken in mir herumtrug, und ihn nachdachte und ihn weiter ausbildete, sind stets sehr glückliche für mich gewesen. Zu einer der letzten derartigen Epochen rechne ich auch jene Tage, in welchen ich vor acht oder zehn Jahren zuerst von der Lehre vom Stoffwechsel sprechen hörte, von jener Lehre, mit welcher der Doktrin der Spinozismus, der Lehre von dem Daß, für mich die Lehre von dem Wie hinzugefügt ward.

Ich bin ruhig geworden seitdem und resignirt über die herbe Nothwendigkeit unseres persönlichen Aufhörens mit dem Augenblick des Todes. Schmerzlich wie es uns auch sein mag, von dem lachenden Leben, von der sonnigen Welt, von den Herzen, die uns gehören und in denen wir unser doppeltes Leben haben, zu scheiden, räthselhaft, unbegreiflich wie das Aufhören uns erscheint, während wir sind und wirken, liegt doch für mein Gefühl [376] eine starke bewegende Kraft eben in dem Bewußtsein unserer Endlichkeit. Ein Hinhalten, ein Aufschieben, ein Vertrösten werden unmöglich vor der Ueberzeugung, was ich hier nicht leiste, leiste ich nie! was ich hier nicht genieße, nicht durch Liebe beglücke, nicht vergelte und nicht sühne, das bleibt ewig für mich und für Andere verloren! und die Gewißheit mit jedem redlichen Streben für alle Zeit und Ewigkeit an der Vollendung des Allgemeinen mitzuwirken, ist mir erhebender, als in einem mysteriösen Jenseits dafür belohnt zu werden. Und liegt denn nicht ein sanfter Zauber in der Vorstellung des Fortbestehens in dem Stoffwechsel des All?


Ist Dir's so schmerzliche Pein,
Im Frühling ein Blümchen zu sein,
Oder mit bunten Schwingen
Zu fliegen und zu singen
Im Wald?
fragt Julius Mosen. Und die Dichter sind auch noch heute oft die Seher und Propheten unter uns.
[377]
22. Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel

Während der Tage, in welchen Therese von Bacheracht in Berlin gewesen war, brachte ich mit ihr zum ersten Male einen Abend bei der Gräfin Elise von Ahlefeld zu. Wir hatten sie Beide im Mundt'schen Hause getroffen, und waren von ihr eingeladen worden, sie an einem der nächsten Tage zum Thee zu besuchen. Das war aber beinahe, als hätte sie uns zu einem Besuche in einer fremden Stadt aufgefordert, denn die Gräfin wohnte jenseits des Canales auf der Potsdamer Chaussee, und im Jahre fünfundvierzig war man noch nicht daran gewöhnt, den fernen, außerhalb des Thores gelegenen Stadttheil als leicht erreichbar zu betrachten.

Ich wußte von Hörensagen, daß die Gräfin durch eine lange Reihe von Jahren Immermann's Leben an sich gefesselt hatte, aber ihr übriges Schicksal war mir fremd, und ich hatte es mir bei der ersten Begegnung durchaus nicht zu erklären vermocht, woher ihr Gesicht mir so vollkommen bekannt erschien. Ich war sicher, sie nicht vorher gesehen zu haben, sie glich keiner Person, deren ich mich erinnern konnte, und doch waren mir diese nicht eben großen, aber sehr freundlichen blauen Augen nicht fremd. Ich kannte die feine flache Stirne, die kleinen hellbraunen Locken, die in einer etwas altmodischen [378] Weise die schmalen Schläfe umgaben; die schöne regelmäßige Nase über dem großen und schlecht geformten Munde hatte ich zuverlässig schon vielmals betrachtet, ja selbst die Gestalt kannte ich. Und mehr noch als an dem Abende im Mundt'schen Hause, an welchem Therese meine Aufmerksamkeit fast ausschließlich in Anspruch genommen, beschäftigte mich, während ich an dem Theetisch der Gräfin saß, unablässig die Frage: woher kenne ich diese Frau?

Sie war keine jener gewöhnlichen Erscheinungen, die uns eben deshalb vertraut sind; sie hatte auch nicht die Harmonie der Schönheit, welche beruhigt, weil sie Nichts zu wünschen übrig läßt, und die sich uns gleich bei dem ersten Anblick so unvergeßlich eingeprägt, daß man durch eine natürliche Selbsttäuschung dies Bild immer in sich getragen zu haben glaubt, weil man sicher ist, es künftig immer in sich wieder zu finden. Die Gräfin konnte, obschon man das Gegentheil behauptet hat, sogar niemals schön gewesen sein, aber ihre Züge waren, bis auf den Mund, sehr fein, und hatten wie ihr Mienenspiel und ihre ganze Gestalt etwas Durchgeistetes, das in der seelenvollen Stimme und der äußerst angenehmen Redeweise der Gräfin, in deren Munde der holsteinische Dialekt noch an Reinheit zu gewinnen schien, seinen völligen Abschluß fand.

Während die Gräfin am Theetisch mit sicherer Leichtigkeit die Wirthin machte, und die Unterhaltung unmerklich anzuregen und in Gang zu erhalten wußte, wurde es Einem wohl zu Muthe, wie an einem jener schönen, klaren Septembertage, welche bei aller Leichtigkeit der Luft noch die volle Wärme des Sommers, und neben den reifen Früchten des Herbstes auch noch die schimmernde [379] Farbenpracht duftiger Blumen in sich bewahren und vereinen. Es stimmte Alles zusammen: die hübschen Zimmer, in welchen man sich befand, die Kunstwerke, die Oelbilder, die Gipsbüsten, die Portraits und die Kupferstiche, welche die Wände bedeckten, die Geräthe des Theetisches, die bescheidene und doch gewählte Kleidung der Hausfrau, ja selbst die Haltung der Gäste, deren verschiedene Charaktere und Denkweisen sich hier, wie die verschiedenen Instrumente eines Orchesters unter der Leitung eines geschickten Dirigenten, zu einer bestimmten Tonart und zu einem gemessenen Takte bequemen mußten. Dadurch geschah freilich hier und da der Individualität Abbruch, aber die Gesammtheit gewann für den Augenblick dabei, und die Gesellschaft ist ein Werk des Augenblicks.

Bei all den angenehmen Eindrücken, weche ich an jenem Abende empfing, blieb aber immerfort eine gewisse Unruhe in mir rege. Es kamen Augenblicke vor, in welchen die Gräfin mir wie entrückt, ja nahezu unerfaßbar erschien, weil sich fortdauernd jenes Bild, das ich nicht zu bannen vermochte, zwischen sie und mich drängte, und in dem unablässigen Bemühen ein Nichtvorhandenes zu gewinnen, lief ich Gefahr, mir das Vorhandene entgehen zu lassen.

Ich war mir selbst lästig in diesem Zustande, denn ich störte mich in meinem eigenen Vergnügen, als die Gräfin zufällig die Frage an mich richtete, ob sie recht gehört habe, und ob ich eine Königsbergerin sei?

Ich bejahte das. Und nun mit einem Male, mit der bloßen Nennung meiner Vaterstadt, war mir das Räthsel gelöst, das mich den ganzen Abend hindurch beschäftigt hatte. Nun wußte ich, wo ich das Gesicht gesehen, das [380] zwischen mir und der Gräfin gestanden hatte. Nun sah ich es ganz deutlich vor Augen, das Kabinet im Warschauer'schen Hause zu Königsberg mit dem Miniaturbilde der Dame im schwarzen Amazonenkleide, deren feiner Kopf mit seinen kleinen braunen Locken sich so schlank über dem hohen Stuartkragen emporhob; und von der Erinnerung wie von einer Entdeckung hingerissen, sagte ich: »Ich habe in meiner Kindheit und Jugend oftmals das Bild einer Frau von Lützow gesehen, das mich immer sehr interessirt hat, weil es so anziehend, und weil die Dame die Frau des Generals von Lützow war, der die schwarzen Jäger geführt hat; das Bild –«

»Sie kennen also die Warschauer'sche Familie, nach der ich Sie eben fragen wollte?« fiel mir die Gräfin in die Rede.

»Waren Sie denn jemals in Königsberg?« gegenfragte ich.

»Gewiß! es ist ja mein Bild, das Sie gesehen haben!«

»Die Frau des Generals von Lützow?« wendete ich verwundert ein.

»War ich!« wiederholte die Gräfin. »Ich war früher mit dem General von Lützow verheirathet. Wir haben uns getrennt; und ich habe dann meinen Familiennamen wieder angenommen, weil es mir immer unschicklich vorgekommen ist, wenn Frauen den Namen eines Mannes fortführen, von dem sie sich geschieden haben.«

Sie brach ab, und ich fühlte mich verlegen darüber, unwillkürlich peinliche Erinnerungen in ihr wach gerufen zu haben. Mit der Weltgewandtheit und Güte, welche ihr eigen waren, half sie mir jedoch darüber fort, indem sie sich nach ihren Königsberger Bekannten erkundigte. [381] Wenn ich denn nun auch den störenden Gedanken los war, welcher mich zu Anfang des Abends hingenommen hatte, so war ich dafür um so begieriger geworden, etwas Näheres von dem Lebensschicksal der Gräfin kennen zu lernen, welche durch die Poesie, die sich an den Namen des General von Lützow knüpfte, ein neues Interesse für mich gewann.

Was jetzt, seit die gegen Immermann nicht gerechte Biographie der Gräfin veröffentlicht worden, über ihren Lebensweg bekannt ist, das erfuhr ich damals sehr allmählig, erfuhr es aus den verschiedensten Quellen, und hatte mir aus den Schilderungen, welche Zuneigung und Abneigung mir machten, das Bild von der Vergangenheit der Gräfin zusammenzusetzen, und es im Einklang mit dem Wesen der Frau zu bringen, deren Anmuth und Liebenswürdigkeit mir durch alle die Jahre, in welchen ich sie sah, sehr groß erschienen sind.

Was die Gräfin vor allem Andern auszeichnete, war, wie mich dünkte, ein lebhafter Hang zum Verehren und zum Bewundern des Guten, des Schönen und Erhabenen, mit welchem die Neigung Hand in Hand ging, sich den Menschen dienstbar anzuschließen, welche das von ihr verehrte Schöne und Erhabene in irgend einer Weise in sich selbst darstellten oder sonst zur Erscheinung brachten. Aus diesem Zuge, der in seiner Wesenheit ein ächt weiblicher und zugleich ein religiöser ist, erklärt sich im Hauptsächlichen ihr ganzes Leben, stammen ihre Eigenschaften und ihre Mängel, ihre Leistungen und ihre Irrthümer.

Sie war tieffühlend und enthusiastisch, von raschem Entschlusse und von ausdauernder Beharrlichkeit, und wie sie diese, sich sonst oft entgegenstehenden Eigenschaften in [382] sich verband, so war sie, trotz aller der Hingebung, welcher sie fähig war, eine viel zu energische Natur, um sich selbst und ihr eigenes Wohl und ihr eigenes inneres Genügen jemals aus den Augen setzen zu können. Sie besaß, um es klar auszudrücken, jenen bei reich begabten Menschen gar nicht seltenen verfeinerten Egoismus, der einen Genuß im Leisten, im Hingeben, im Beglücken, im Verpflichten findet. Sie war eine Aristokratin des Herzens. Man mußte sie lieben, weil ihre Art des Verpflichtens so anmuthig, so hinnehmend war, und man konnte, das bin ich gewiß, keine verläßlichere Freundin, keine angenehmere Gefährtin finden, als diese Frau, so lange man in der Verfassung blieb, sie frei ihrer großmüthig liebenswürdigen Neigung folgen, und sich von ihr erfreuen zu lassen, wie es ihr ein Genügen war. Ob sie im Stande war, sich die gleichen Verpflichtungen auflegen zu lassen, und von Andern zu empfangen, was sie gewährte, ob sie überhaupt geneigt war, sich auch nur den moralischen Zwang der Gegenseitigkeit gefallen zu lassen, den zuletzt jedes dauernde Verhältniß beiden Theilen aufnöthigt, ist mir nach der Kenntniß, welche ich später von ähnlichen Charakteren erlangt habe, mehr als zweifelhaft.

Es lag in dem Wesen der Gräfin Ahlefeld, neben jener religiösen Verehrung für das Gute, das entschiedenste Unabhängigkeitsgefühl, das sich, so gehalten und formvoll sie sich gab, nicht nur in der Selbstständigkeit ihres Urtheils, sondern in noch viel höherm Grade in der Freiheit ihrer Handlungsweise kund gab.

Frei, und nur dem eigenen Bedürfen, der eigenen Neigung und dem eigenen Sittengesetze folgend, hatte sie sich, eine vielumworbene reiche Erbin, dem Jägergeneral [383] von Lützow zum Weibe angetragen, als dessen Großthaten ihre Begeisterung für ihn erregten. Entschlossen sich selbst zu erretten, hatte sie sich von ihm getrennt, als sie einsehen lernen, daß diese Ehe ein Fehler und ein Mißgriff gewesen war. Mit demselben Zuge der Verehrung und mit demselben ganz auf sich allein gestellten Unabhängigkeits- und Freiheitssinn, war sie die neue Verbindung mit Immermann eingegangen, dem sie, nach dem Urtheil von Augenzeugen, die liebenswürdigste und hingebendste Gefährtin gewesen sein soll, so lange er sich auf die Weise von seiner Freundin beglücken ließ, welche sie für die ihr angemessene erkannte.

Bei der größten Feinheit im Ausdruck, bei einer wahrhaft edeln Haltung und einer Rücksicht auf die Formen der Gesellschaft, die nicht vorsichtiger sein konnte, hatte sie doch allen Regeln der hergebrachten Sitte und Convention, stolz auf ihr eigenes Bewußtsein gestützt, entschieden Trotz geboten; und es lag in der Erscheinung der Gräfin, in der Zeit, in welcher ich sie kennen lernte, doch eine so sanfte matronenhafte Würde, ein solch stilles Insichberuhen, daß man völlig vergaß, diese Frau sei einst, jung und von starken Leidenschaften erschüttert, mit der Sitte und der öffentlichen Meinung in offenem Zwiespalt gewesen.

Eigentlich geistreich ist die Gräfin Ahlefeld mir nicht erschienen, sie hatte jedoch sehr viel Verstand und durch ihn eine ungewöhnlich feine Beobachtungsgabe, mit der sie in jedem Menschen sein Bestes zu erkennen und zu Tage zu fördern wußte. Sie besaß die Kunst anregend zu fragen, und mit einer so liebevollen Theilnahme zuzuhören, daß sie dem Sprechenden Lust machte, sein Möglichstes [384] zu thun, um ihr für ihren Antheil zu danken. Es war eine Freude, sie mit dem kleinen Kreis von jungen Männern verkehren zu sehen, welchen sie damals um sich versammelt hatte, und von dem jeder Einzelne ihr mit der dankbarsten Verehrung anhing. An der Art, in welcher sie das Talent und die Leistungen derselben zu pflegen, zu ermuthigen und anzuerkennen wußte, an der linden Behutsamkeit, an der feinen Vorsicht, welche sie für jeden nur einigermaßen bedeutenden Menschen hatte, der in ihre Nähe kam, ließ es sich ermessen, was ihr liebevolles Eingehen auf seine Arbeiten und Schöpfungen für Immermann gewesen sein mußte. Es erklärte sich dadurch der Einfluß, welchen sie auf ihn geübt, und wie sie, die wesentlich ältere Frau, den thatkräftigen und energischen Mann so lange an sich zu fesseln vermocht hatte. Aber es hatte auch sicher die ganze Manneskraft eines Immermann dazu gehört, in einem solchen weichen Zauberbanne er selbst zu bleiben, und sich loszureißen, als er zu fühlen begann, daß er sich selber zu befreien und zu erretten habe, wollte er bleiben, was er war – ein ganzer, freier Mann.

Die Gräfin Ahlefeld sprach von dem General von Lützow in der Gesellschaft selten; von Immermann habe ich sie in Gegenwart mehrerer Personen niemals reden hören. Erst in spätern Jahren, als ich in Stahr's Begleitung bei ihr war, der sie schon gekannt hatte, als sie noch mit Immermann zusammen in Düsseldorf lebte, erwähnte sie einst plötzlich eines Abends, den sie mit Immermann und Stahr und Theodor von Kobbe gemeinsam und heiter im Bremer Rathskeller zugebracht, und sie pflegte danach Immermann's öfter zu gedenken [385] und auf die Vergangenheit und auf seine Arbeiten zurückzukommen, wenn wir sie bei einem Besuche allein fanden, oder sie uns allein in unserer Wohnung traf.

Sie sprach einmal mit Stahr ausführlich über dessen Biographie von Immermann, und erzählte einige charakteristische Eigenheiten desselben, aber auch hier blieb sie vollkommen Herr über sich selbst, und wer nicht im Voraus von dem Verhältniß Kunde gehabt hätte, das zwischen ihr und Immermann obgewaltet, hätte schwerlich auf die Liebe schließen können, welche sie dem Dichter einst verbunden, oder den Schmerz zu ermessen vermocht, welchen die Trennung von demselben ihr später verursacht hatte. Nur ein einziges Mal gab eine Aeußerung es kund, was in ihr vorgegangen sein mußte; und wie man bei dem Aufleuchten des Blitzes plötzlich durch die Dunkelheit erkennt, auf welchem Grund und Boden, und in welcher Umgebung man sich befindet, so hellten die wenigen Worte mir auf, was mir an dem Wesen der Gräfin früher unverständlich gewesen war, und machten mich über ihre Stärke, Selbstbeherrschung und Selbstsucht erstaunen, während ihre Güte und ihre ungewöhnliche Liebenswürdigkeit und Feinheit immer denselben sanften, einspinnenden Zauber für mich behielten.

Man befand sich in ihrer Nähe wie in einer linden Luft, aber es erzitterte in derselben überall der Ton einer schmerzlichen Entsagung. Wie konnte es auch anders sein? Für eine Frau, welche in den Tagen ihrer Kraft Männer wie den General von Lützow, wie den tapfern Fersen, wie Immermann an sich gefesselt, welche im Mittelpunkte der geistigen Bewegung stehend, große und thatkräftige Zeiten an sich vorüber gehen sehen hatte, mußte [386] das Alter an sich etwas doppelt Trauriges haben. Und als die Gräfin dann später zu kränkeln und von den Schwächen und Krankheiten des Alters zu leiden begann, konnte man kaum Trauer darüber empfinden, als sie starb, wenn schon man nicht aufhörte zu wünschen, daß sie noch leben und man sich ihrer sanften Nähe noch erfreuen möchte.

[387]
23. Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel

In der Mitte des Juni rückte die Zeit heran, welche ich für meine Abreise bestimmt hatte. Nach langem Wählen und Prüfen, nach mancherlei Erörterungen mit meinem Vater war ich dahin gekommen, eine Reisegefährtin zu finden, die sich mir und meinen Planen und Absichten anzupassen verhieß. Sie war eine Berlinerin, fünfzig Jahre alt, unverheirathet, die Tochter eines wohlhabenden Handwerkers, die eine verhältnißmäßig gute Erziehung genossen, und Alles in Allem genommen auch einen sehr guten Charakter hatte. Heiter und lebenslustig wie ein junges Mädchen, bedürfnißlos und ausdauernd wie ein junger Mann, hatte sie sich schon in der Welt umgesehen und verschiedene größere und kleinere Reisen gemacht. Ich durfte hoffen, von ihr nicht verlassen zu werden, wenn mir auf der Reise irgend ein Unfall zustoßen sollte, und sie konnte sich von dem Reisen mit mir mancherlei Annehmlichkeiten und Vortheile, mancherlei Bekanntschaften und Förderungen versprechen, die ihr ohne mich unzugänglich geblieben wären. Mein Vater war beruhigt, da er ein älteres Frauenzimmer an meiner Seite und mich also nicht hülflos wußte, und wir sind denn während der acht Monate, welche meine Reisegefährtin [388] neben mir zu brachte, auch gut genug mit einander fertig geworden, bis ein komisches Intermezzo uns trennte.

Es war mir sonderbar zu Muthe, als ich meinen Reisepaß aus dem Ministerium des Innern mit seinen Visa's für die verschiedenen Länder – und wieviel Länder hatte Italien damals noch – auf meinem Tische vor mir liegen sah, als ich die Einführungsbriefe, mit denen meine Freunde mich ausgestattet hatten, und das Reisegeld und die Akkreditive durchmusterte, die ich mitzunehmen dachte. Ich hatte eine große Genugthuung darüber, aber ich könnte nicht sagen, daß ich eigentlich froh gewesen wäre.

Was man aus eigener Kraft erreichen konnte, das besaß ich nun, das hatte ich erreicht; aber während so manche meiner weiblichen Bekannten mich um meines Looses Willen jetzt glücklich priesen, wußte ich auf das Bestimmteste, daß Alles, was mir an äußerm und innerm Erwerbe zu Theil werden konnte, mir auf die Dauer kein Ersatz für jene Liebe sein würde, welche ein Menschenpaar ausschließlich an einander knüpft, und die jemals zu finden ich jetzt keine Hoffnung mehr hegte.

Ich hatte allerdings noch meinen theuren Vater, den ich liebte, wie man einen Vater nur zu lieben vermag, ich hatte meine Geschwister, an denen ich hing, hatte Freunde, die mir theuer waren, und besaß die Neigung und das Vertrauen aller dieser Menschen; aber diese Güter, die ich nach ihrem vollen Werthe schätzte, und die Unabhängigkeit und die Anerkennung, deren ich genoß, sie waren mir im Grunde doch Nichts als ein Trost, als eine Erfrischung und Stärkung, die mich in der Entsagung aufrecht erhielten. In aller der Freiheit, um die [389] ich mich hier und da beneidet sah, und aus welcher die Mehrzahl der Frauen, die sie zu ersehnen behaupteten, Nichts als eine Qual für sich selbst zu machen gewußt haben würden, denn der verständige Gebrauch einer großen Freiheit fordert einen festen Sinn, schwebte immer, wie die Feuersäule vor den in der Wüste wandernden Juden, jener schon oft angeführte Ausspruch Goethe's vor meiner Seele: »Und wenn das dort nun hier wird, ist Alles nach wie vor, und das Herz sehnt sich nach entschwundenem Labsal.«

Mit einer halb frohen, halb elegischen Stimmung schnallte ich am Abende vor meiner Abreise meinen Koffer zu, auch am Morgen meines Aufbruchs fühlte ich mir das Herz beengt. So mag es einem Kranken sein, der nach mancherlei vergeblichen Versuchen, sich herzustellen, sich zu einer Kur, zu einer Badereise anschickt, von der man ihm mit einer gewissen Zuversicht Heilung verheißen hat.

Ich sagte mir, daß ich reise, um die Welt zu sehen und mich auszubilden, und mein Gewissen fügte innerlich hinzu: Du willst versuchen, ob Du nicht lernen kannst, Dir im Leben ein für alle Mal selbst genug zu sein.

Während ich mich ankleidete, während meine Tante, bei der ich die Nacht vor der Abreise zugebracht, weil ich meine Möbel und Sachen schon zum Aufbewahren in eine Remise geschickt hatte, mir freundliche Hülfleistungen anbot, und mein Bruder und meine Schwester sich liebevoll in meiner Nähe hielten, kam es mir äußerst thöricht, ja ganz unbegreiflich vor, daß ich so in die weite Welt hinein gehen wollte, in der ich eigentlich gar Nichts zu holen hatte. Sie erschien mir so groß diese [390] Welt, so leer, so fremd! Ich hatte einen Augenblick, in dem mir vor meiner Reise und vor der Fremde graute.

Unzählig oft hatte ich mich gefragt, ob es mir möglich sein würde, nun ich meine Liebe für Heinrich überwunden hatte, nun ich vierunddreißig Jahre alt und freien Herzens war, eine sogenannte Vernunftehe zu schließen? Ob ich im Stande sein würde, mich in einer auf gegenseitige Achtung gegründeten Verbindung wohl zu fühlen, und mich einem Manne hinzugeben, ohne daß die höchste Liebesleidenschaft mir diese Hingabe zum Genuß und zur Nothwendigkeit machte? Und immer hatte ich mir letztlich diese Frage aus tiefster Ueberzeugung mit Nein beantwortet.

Hätte aber an jenem Morgen ein von mir geachteter Mann mir seine Hand angetragen und mich zum Weibe begehrt, ich glaube, ich würde seinen Vorschlag angenommen haben, so schmerzlich dünkte mich das einsame Fortgehen, so wenig hielt ich es für möglich, noch wahre Liebe für mich zu finden, so überwältigend wirkte der Augenblick. Jetzt zum ersten Male verstand ich die Handlungsweise der Eugenie in Goethe's »Natürlicher Tochter«.

Die Meinen geleiteten mich nach dem Bahnhof, wir trennten uns mit Thränen! Aber wie der Augenblick niederdrückend wirkt, so wirkt er auch erheiternd, und der schöne helle Sommermorgen, und das vergnügte Gesicht meiner Reisegefährtin verscheuchten die Schwermuth allmählich, welche ungeahnt von den Meinen die letzten Tage auf mir gelastet hatte. Es wäre mir ganz unmöglich gewesen, irgend einem Menschen zu zeigen, daß ich mich zaghaft fühlte, vor einem selbst gefaßten Entschlusse. vor einem lang ersehnten Ziele. Und es ist sicherlich gut, [391] wenn man sich gewöhnt, solche Aufwallungen, wie berechtigt sie immer sein mögen, in sich zu verschließen und mit sich selber abzumachen. Bei aller Wahrhaftigkeit, die wir gegen uns ausüben mögen, kommen doch Stunden, in denen wir uns mit einer vorübergehenden Selbsttäuschung am Besten beschwichtigen; Stunden, in denen Nichts uns weniger frommt, als wenn ein Anderer uns einräumt, daß wir Ursache zur Beschwerde, zum Kleinmuth, zum Verzagen haben. Und wie in tausend Verhältnissen eine Handvoll Gewalt weit besser ist als ein ganzer Sack voll Recht, so ist bisweilen bei ehrlichen und wahrhaftigen Naturen ein kleiner forthelfender Selbstbetrug ein weit höherer Segen als das erhabenste aber niederschlagende Zugeständniß reiner Wahrheitsliebe.

Ich hatte mir, nachdem wir ein paar Stunden von Berlin entfernt waren, meine Sache innerlich wieder ganz hübsch zurückgelegt. Was mich drückte, hüllte ich mir in die Schleier der Vergessenheit, was mir fehlte, philosophirte ich mir fort, und wie man mitunter, des Effektes wegen, eine schöne Façade vor einem baufälligen Hause aufführt, so stellte ich mir alle meine lachenden Aussichten in Reih und Glied neben einander auf, und fand bald wieder lebhaftes Vergnügen und großes Behagen an der selbstgeschaffenen Herrlichkeit.

Die Eisenbahnen reichten damals noch nicht weit, und das Fahren in den Schnellposten war bei der guten Jahreszeit recht angenehm. Das Wetter war vortrefflich. In denen kleinen wohlangebauten Fürstenthümern, von denen man alle anderthalbe Stunden ein anderes passirt hatte, in Reuß, Greiz, Schleiz, Lobenstein hingen die schönsten reifen Kirschen an den Bäumen und wurden [392] für geringe Preise feilgeboten. In Baireuth blüthen die herrlichsten Rosen, und eine Rose von Erz steckte auch in dem Knopfloch der Jean Paul Statue.

Jeder Tag brachte Neues! Nach zwei Tagen dünkte es mich, als hätte ich Berlin schon lange verlassen, als wäre ich schon lange mit meiner Reisegefährtin zusammen. Die Zeit mißt sich nach dem Erleben ab, und ist lang oder kurz, je nachdem sie für uns mit Ereignissen und Erlebnissen ausgefüllt ist.

In Nürnberg führte der vortreffliche greise Professor Heideloff, der Conservator der dortigen Kunstschätze, mich überall herum. Ich hatte ihn ein Jahr vorher bei der Dampfschifffahrt zwischen Prag und Dresden kennen lernen, als er von der Architekten-Versammlung zurückgekehrt war. Nun erfüllte er sein Anerbieten mir Nürnberg zu zeigen, in der freundlichsten und zuvorkommendsten Weise. Es war die erste wahrhaft mittelaltrige Stadt, welche ich kennen lernte, die erste Stadt, in der die Bauten und Kunstwerke aus dem Gemeinwesen und Gemeinsinn des Volkes naturwüchsig entstanden waren. Das fiel mir auf, und das Vorzügliche der Leistungen begriff ich. Weil ich aber noch keine alte Stadt gesehen hatte, dünkten mich manche Straßen und Plätze häßlich, die mir fünfzehn Jahre später, als ich wieder einmal, mit reiferer Bildung und mit einem durch vielfache Erfahrung berichtigten Maaßstabe nach Nürnberg kam, förmlich imponirend entgegentraten. Mit der sogenannten vielgepriesenen Frische und Richtigkeit der ersten Eindrücke ist es in der Regel ein übel Ding. Ich habe an mir selber Gelegenheit gehabt, ihnen mißtrauen zu lernen, und gegen die Naivetät, mit welcher die unfertige Bildung ihre frisch gewonnenen [393] Anschauungen auf gut Glück dem Publikum übergiebt, ein Bedenken zu haben. Nichts fordert mehr Reife, als schnelles Sehen und Beobachten, und Nichts wird doch für leichter erachtet. Ich könnte ganze Reihen ergötzlicher Anekdoten von den Mißgriffen erzählen, welche ich in dieser Beziehung theils begehen sah, theils selbst begangen habe; und hier und da findet sich wohl die Gelegenheit, eine davon zum Besten zu geben.

Wir gingen von Baireuth nach Stuttgart, wo ich Franz Dingelstedt, der damals dort Bibliothekar war, flüchtig kennen lernte, nahmen dann unsern Weg durch das reizende Enzthal und verweilten ein paar Tage in dem schattigen Wildbade, von wo wir uns nach Baden-Baden wendeten, weil ich meinen, mir lange schon befreundeten und doch von Angesicht noch unbekannten Vetter August Lewald dort zu besuchen wünschte.

Lewald war im Jahre fünfundvierzig ein Mann in den besten Jahren und in den besten Verhältnissen. Ohne groß zu sein, sah er mit seinem wohlgebauten Kopfe, mit seinen schönen braunen Augen, mit der gebogenen Nase und mit seinem großen Schnurrbart, dem alten Blücher ähnlich, und glich doch auch wie der meinem Vater und dessen Brüdern in gewissen Zügen. Das sprach mich gemüthlich an, und die Wärme und Herzlichkeit, mit denen er mich begrüßte, würden ihn mir lieb gemacht haben, wäre ich ihm nicht ohnehin schon herzlich dankbar verbunden gewesen.

Er redigirte damals noch die »Europa«, war mit andern eigenen Arbeiten beschäftigt, und hatte daneben eine große journalistische Correspondenz, wie sie seiner lebhaften Thätigkeit entsprach. Seine Vermögensverhältnisse [394] waren günstig, und er baute eben in jener Zeit mit großer Vorliebe an einer Villa auf der Höhe unterhalb des Schlosses, die er künftig beständig zu bewohnen beabsichtigte. Das Haus war nahezu fertig, er hatte viel Geschmack und Kunstsinn in der Anlage bewiesen und in demselben bereits Alles vereinigt, was er in seinem viel bewegten Wanderleben an Kunstgegenständen und Raritäten zusammengebracht. Er ließ mich diese besehen, sprach von seiner Absicht, die »Europa« abzugeben, sich ganz von der Journalistik zurückzuziehen, und genoß nach einem arbeitsvollen Leben mit unverkennbarem Vergnügen die Aussicht auf ein sorgenfreies und behagliches Alter.

Ich hatte viel Freude an ihm, und das um so mehr, weil er mir zu denken gab, und weil ich während der vier oder fünf Tage, welche ich mit ihm in Baden verlebte, wie bei dem Schütteln eines aus vielfachen Elementen wunderbar zusammengesetzten Kaleidoskops, immer neue Bilder von ihm und seiner Eigenthümlichkeit gewann.

Saßen wir an dem Mittagstische des Gasthofes, in welchem wir speisten, so war er ganz Lebemann. Die Zubereitung der einzelnen Speisen, die Champignons an der Sauce, die Trüffeln an der Pastete, die Feinheit des Filets und die Blume des Weines beschäftigten ihn ernsthaft. Er setzte ihren Werth auseinander, erklärte mir, wie er nur eine einzige Mahlzeit am Tage nehme, wie er aber dafür auch fordere, daß diese künstlerisch und vollendet zubereitet sei – und ich hörte ihm zu, wie man einem geistvollen Künstler zuhört, der eine seiner Lieblingsrollen darstellt.

Nachmittag, wenn wir vor dem Conversationshause den Kaffee einnahmen, stand das Kaleidoskop schon anders. [395] Lewald hatte dann in der Regel eine größere Gesellschaft um sich, und war ungemein unterhaltend und vielseitig. Er neckte, hudelte und ermunterte ein paar junge Literaten, die er seine apprentis journalistes nannte, und die seine Adjutanten bei der Redaction der »Europa« sein mochten; er stritt gegen die radikalen aber originellen Behauptungen von Georg Herwegh, der zu einem kurzen Besuche zu ihm nach Baden gekommen war. Er sprach mit Justinus Kerner von guten gemeinsamen Bekannten, brachte ihn dazu, einzelne Züge aus dem Seelenleben, wie Kerner dieses auffaßte, zum Besten zu geben, vermied es mit komischer List, eine Dame, die sich uns nahen wollte, zu sehen, zog eine andere Person, der er mich vorzustellen wünschte, an seinen Kreis heran. Er setzte das Wesen der modernen Oper heiter und trotz der Flüchtigkeit deutlich auseinander, zergliederte mit und vor seinen Adjutanten einige neuere literarische Arbeiten, nannte mir alle Vorübergehenden bei Namen, die mich irgend interessiren konnten, erklärte mir die einzig richtige Art den Kaffee zu bereiten; und als dann Sabine Heinefetter dazu kam, die ich schon in meinem Vaterhause vor Jahren hatte kennen lernen, und die wiederzusehen mir Vergnügen machte, waren Beide bald in die unerschöpflichen Bereiche der Theatergeschichten und Theateranekdoten gerathen, und brachten uns damit in ein unaufhörliches Lachen, denn Beide gingen bis an die äußerste Grenze des Erzählbaren, ohne diese doch jemals zu überschreiten. – Daß ein Mann von dieser Vielseitigkeit der Interessen, von einer solchen Fülle des Wissens, und von dieser Leichtigkeit und Eleganz der Mittheilung zum Redakteur einer Zeitschrift wie geschaffen war, mußte Jedem einleuchten. [396] Er war nicht eigentlich gelehrt, aber er hatte sehr viel und mit Geist gesehen und erlebt, viel Menschen gekannt, war höchst unterrichtet, voll eigener scharfer Beobachtung und verstand das Zusammenfassen und das Folgern in der glücklichsten Weise.

Wenn er dann einmal mit mir allein spazieren ging, was ein paar Mal geschah, so trat nur der ältere Verwandte und der treue ehrliche Berather an ihm hervor, der er mir durch Jahre bereits gewesen war; aber zugleich fiel es mir dann auf, daß er jenen Zug zur Romantik und zu dem Katholizismus, wie er zu Anfang unseres Jahrhunderts in den Menschen lebendig und auch in ihm in einer gewissen Epoche sehr vorherrschend gewesen war, nicht verloren, sondern durch sein ganzes bewegtes Leben hindurch in sich bewahrt hatte.

Da ich nach Italien gehen wollte, war es natürlich, daß sich das Gespräch zwischen uns mehrfach auf den Katholizismus wendete, und Lewald gestand mir dabei, daß er mit meiner religiösen oder vielmehr, wie er es mit Unrecht nannte, irreligiösen Richtung nicht einverstanden sei. Er meinte: das Gemüthsleben des Menschen und vor Allem der Frauen könne den Hinblick auf ein Unendliches, Mächtigeres und Allweises nicht entbehren, ohne ein unglückliches zu sein, ohne zu verarmen; und er getröstete sich, daß der Anblick der Kunstwerke, welche in Italien während des Mittelalters aus der Fülle des Glaubens erschaffen worden seien, mir den Sinn für dasjenige erschließen würden, was mir bis jetzt noch fern und unerfaßbar sei.

»Wenn Du die Madonnen Francia's, wenn Du die Engel des Fiesole und die Heiligen und Märtyrer des[397] Fra Bartolomeo sehen wirst, so wird Dir wohl die Erkenntniß kommen, daß in diesen Menschen eine Empfindung und ein Glaube mächtig gewesen sind,« sagte er sehr ernsthaft zu mir, »die zu besitzen ein hohes Glück sein muß, und aus deren Macht und Tiefe sich andere Werke erschaffen lassen, als diejenigen, welche der Verstand und die irdische Leidenschaft erzeugen.«

So eindringlich er zu mir sprach, wäre er mir mit diesen Ermahnungen in noch viel höherem Grade ein Gegenstand des Erstaunens geblieben, hätte ich mich nicht erinnert, daß ich unter den Papieren, welche ich in dem Nachlaß seiner Mutter gefunden, auch ein Dokument in Händen gehabt, in welchem sich Lewald als ganz junger Mann mit heiligen Eiden einem Illuminaten- oder Rosenkreuzerorden einverleibt hatte. Es lag also in seiner Organisation offenbar der Zug zu dem mystisch Unbegrenzten, und als ich später erfuhr, daß er auf den Wunsch seiner katholischen Gattin, an der er mit großer Liebe hängt, zum Katholizismus übergetreten sei, habe ich darin nur eine folgerechte Entwicklung seiner Natur, nicht etwa eine Laune oder gar eine Berechnung gesehen. Er ist Katholik und Monarchist aus seiner innersten Natur heraus. Das konnte man später recht deutlich erkennen, als das Jahr achtundvierzig herangekommen war; und welche Wandlungen er auch durchgemacht hat, er ist sich, d.h. seiner Wesenheit, in denselben ganz entschieden treu geblieben.

Ich versprach denn meinem Vetter, auf seine Ermahnungen zu achten, und in Italien die Malerei und die Kunst, und namentlich die Poesie des Katholizismus ohne Widerstreben auf mich wirken zu lassen. Ich habe [398] das auch gethan, und habe durch eine fortgesetzte liebevolle Beschäftigung mit der Kunst große Freude und mancherlei Förderung gewonnen. Aber die Saat trägt nicht die gleiche Frucht auf jedem Boden. Italien hat mich nicht katholisch, nicht romantisch gemacht, wenn schon ich es dort gelernt habe, die Romantik zu verstehen, und es anzuerkennen, daß für gewisse Organisationen der Katholizismus das entsprechendste Element ist. Und da die Menschennatur im Allgemeinen sich nicht ändert, da es immer Menschen geben wird, die nicht in sich allein beruhen, und mit den gegebenen Bedingungen der Existenz, sei es aus Maaßlosigkeit, aus übertriebenen Ansprüchen, aus phantastischer Sehnsucht oder aus unbegrenzter Empfindung, nicht fertig werden können, so wird die Welt einer diesen Organismen entsprechenden Religion schwerlich entbehren können. Welche äußere Gestalt daher das neue Italien dem Pabstthum zu geben auch nöthig haben wird, der Katholizismus oder eine ihm ähnliche Cultusform wird noch lange ein Bedürfniß für eine große Anzahl von Menschen bleiben. Ja es kommt mir oftmals vor, als werde die Welt sich einst rein zwischen Glaubenden und Denkern, zwischen Katholiken und Philosophen theilen, und als werde letztlich, da jede Religion ihrem Bekenner auch sein politisches Glaubensbekenntniß aufprägt, auch die politische Zukunft der Welt danach immer nur zwischen den der Religion entsprechenden zwei Formen sich bewegen können. Wer selbst denkt muß sich selbst beherrschen und regieren, wer sich den Weg zu seiner innern Befriedigung von Andern vorzeichnen läßt, muß sich auch in seinen Lebensverhältnissen von Andern leiten lassen, muß einen Herrn und womöglich einen absoluten[399] Herrn haben. Mittelzustände können sich noch durch Jahrhunderte aufrecht erhalten, aber die Vernunft hat eine consequente Nothwendigkeit, der auf die Länge nicht zu widerstehen ist. Da die Freiheit auf religiösem Gebiete die Freiheit auf allen andern Gebieten nothwendig zur Folge hat, so hat auch der Autoritätenglauben mit seiner Selbstentäußerung seine innere Nothwendigkeit, – und ich kann mir es nicht anders vorstellen, als daß die Welt sich einst zwischen freidenkenden Republikanern und katholische Despotien vertheilt. Denn die eigentliche dauernde Lebensfähigkeit wohnt schließlich nur den reinen, ungebrochenen Principien und Kräften inne, und der ganze Kampf unserer Zeit ist der Kampf dieser Principien und der Kampf um ihre Verwirklichung.

[400]
24. Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel

Mit einer Menge von neuen Vorstellungen, von neuen Bekanntschaften und Eindrücken bereichert, verließ ich Baden. Mein nächstes Verweilen sollte Interlaken sein, und dort, in der Mitte dieser eben so lieblichen als großartigen Natur, sah ich, unserer Verabredung gemäß, Therese von Bacheracht zum ersten Male wieder.

Ich hatte mich in einer Schweizerpension in Unterseen einquartirt, sie wohnte in der großen Allee von Interlaken; aber das hinderte uns nicht, uns alltäglich zu sehen, viel beieinander zu sein und uns näher zu treten, bis wir uns zu einer Freundschaft verbanden, die bis an das Lebensende der geliebten Frau gedauert hat, und die ich als eines der höchsten Güter erachte, welche mir im Leben zu Theil geworden sind.

Wir wußten im Ganzen noch recht wenig von einander, als wir uns in der Schweiz zusammenfanden. Therese hatte ein paar Bücher von mir, ich ein paar Bücher von ihr gelesen, und wir hatten uns ein paar Mal gesprochen. Unsere Vergangenheit hatte nichts Gemeinsames, unsere Stellung im Leben war sehr verschieden, unsere Ueberzeugungen waren es fast noch mehr. Woher uns der lebhafte Zug der Neigung gekommen, die uns von dem ersten Begegnen ab zu einander geführt hat, [401] das würde doch am Ende kaum zu erklären sein, wäre Therese nicht so schön, so ungewöhnlich anziehend gewesen, und hätte ich eine weniger große Empfänglichkeit für Schönheit gehabt.

Es waren zuerst ihre äußeren Vorzüge, die mich an sie fesselten. Es machte mir so großes Vergnügen, sie anzusehen, ihre Bewegungen zu betrachten, ihre liebliche Stimme und die heitere kluge Anmuth ihres Wortes zu vernehmen. Dann gewannen ihre unvergleichliche Güte und Freundlichkeit mir das Herz, und doch hatte ich schon manche Tage neben ihr gelebt, ohne viel daran zu denken, wie klug sie sei, wie fein sie beobachtete, und wie sie oft geistvoll und eigenthümlich auszudrücken wußte, was sie gedacht hatte.

Weil sie vollkommen anders war als ich, und weil sie mir doch so sehr gefiel, trat mein ganzes eigenes Ich vor ihrer Betrachtung zurück, und ich glaube, ich habe eben deshalb das Bild keines andern Menschen objektiver in mir aufgenommen, als das ihre. Ich wurde anfangs still und ruhig vor ihr, wie vor einem Kunstwerk, und ich hatte dabei fortwährend den Wunsch: wenn du doch wärest wie sie! – Ich begehrte damit nicht ihre Schönheit, ich dachte auch natürlich nicht daran, es ihr nachzumachen, wie sie ging und stand, aber ich sah mit Bewunderung, daß sie alle ihre Anlagen vollständig zu einem Ganzen durchgebildet hatte, so daß Nichts, aber auch Nichts, störsam an ihr auffiel. Was ihr Betrachten in mir anregte, war nur das Verlangen nach dieser Selbsterziehung und Selbstbeobachtung, die aus sich zu machen strebt, was die persönlichen Anlagen eben verstatten. Es sollte Jeder, weit mehr als man es leider thut, danach trachten, den Ring zu finden, der die geheimnißvolle Kraft [402] besitzt, »vor Gott und Menschen angenehm zu machen«; denn die Macht des Guten und Wahren wird größer, wenn sie sich in gefälliger Form offenbart, und wer auf diese Weise auf Andere eine förderliche Wirkung auszuüben lernt, der wird durch das wohlthuende Bewußtsein, auf seine Umgebung einen günstigen Eindruck hervorzubringen, in der Regel nur immer schöner, besser und milder.

Sah man Therese in der Welt, in der Gesellschaft, in ihrem Hause, so hatte sie stets die gleiche sanfte Miene, stets die gleiche Achtsamkeit für Andere, immer das gleiche Bestreben, ihnen angenehm zu sein. Einen Dienst leisten, eine Gefälligkeit erzeigen, helfen zu können, war für Therese ein Genuß; und sie war erfinderisch in der Möglichkeit, sich diese Genugthuung für ihr Herz zu schaffen. Denn mitten in dem Luxus, mitten in den Vorzügen, welche ihre äußeren Lebensverhältnisse ihr darboten, war jene Befriedigung, welche die fremde Zufriedenheit ihr bereitete, die einzige reine Freude, deren sie theilhaftig wurde.

Wie ich die Schönheit ihres Wesens anstaunte und mich daran erfreute, so betrachtete sie mit einer Art von Erstaunen mein bisheriges Dasein und Leben. Sie wunderte sich, das ich äußerlich nicht mehr erlebt, daß ich eine Menge von Ansichten und Erkenntnissen nur durch ein divinatorisches Erfassen und Zusammenstellen fremder Erfahrungen gewonnen hatte, und sie pries mich deshalb oftmals glücklich, denn all ihr Erleben hatte ihr kein Glück geboten.

Ein Lebensschicksal wie das ihre, war mir ein fremdes, eine Frau wie sie hatte ich noch nicht nahe gekannt, aber mit jedem Tage, den wir miteinander verlebten, wurde sie mir lieber und werther. An einem Nachmittage hatten wir einen langen Spaziergang gemacht und [403] beschlossen, als die Sonne schon im Sinken war, noch auf den Hügel zu steigen, der die schönste Aussicht nach der Jungfrau bietet, und auf welchem sich jetzt die Pension zum Jungfrauenblick erhebt. Im Jahre fünfundvierzig war die Höhe aber noch unbebaut, und der Pfad, welcher aus dem Dorfe hinaufführte, war nicht so geebnet und so bequem als jetzt.

Es war schon ziemlich spät, als wir auf dem Platz anlangten und wir trafen Niemand auf demselben an. Der Tag war heiß, in dem Gehölz, durch das wir emporstiegen, hatte die Wärme den Duft der Gräser und der Bäume entwickelt, daß man ihn mit Entzücken athmete und die Frische und Leichtigkeit der Luft doppelt genoß. Tief im Baumesschatten sitzend, sahen wir eine der schönsten Matten, von Laubwald umschlossen, sich in saftig vollem Grün vor unseren Füßen in das Thal hinabsenken, während zwischen und über den beiden gewaltigen Bergzügen, die sich rechts und links erhoben und fast regelmäßig gegen das Thal abdachten, die Jungfrau vor unsern Augen dalag, mit ihren funkelnden und blendenden Schneemassen hoch emporragend gegen das tiefe Himmelsblau.

Wir saßen lange schweigend, in Betrachtung dieser Herrlichkeit versunken. Die Sonne ging unter. Wie gebannt hingen unsere Blicke an der Purpurgluth, welche den Schnee färbte, und die immer tiefer und immer flammender wurde, bis sie den Höhepunkt ihrer Kraft erreicht hatte, und nun bleicher und bleicher zu werden begann, ein hinschwindendes Leben. Langsam zog der rothe Schimmer sich zurück, aber er sank nicht, er stieg empor. Immer weiter griff das röthliche Violet der unteren Bergesschichten um sich, immer mehr Raum gewann [404] die bläuliche Dunkelheit, bis nur noch die beiden letzten Spitzen des Berges ihren Strahlenglanz bewahrten und endlich auch dieser erlosch, und todt und farblos sich die Massen des ewigen Schnees in ihrem kalten Blauweiß gegen den sich röthenden Hintergrund des Himmels abhoben.

Es war das erste Alpenglühen, das ich sah, und die Schönheit dieses Naturschauspieles ergriff mich außerordentlich. Ich hatte unwillkürlich Theresen's Hand erfaßt, und hielt sie fest.

»Wenn Sie wüßten, Fanny!« sagte sie, »wie gut ich Ihnen in den wenigen Tagen geworden bin!«

»Ich liebe Sie auch sehr!« entgegnete ich.

»Wer weiß«, versetzte sie darauf, »ob Sie mir das sagen würden, wenn Sie mich besser kennten. Mein Leben ist ein sehr bewegtes gewesen. Vieles würde Ihnen unbegreiflich darin scheinen, Manches würden Sie gewiß mißbilligen.«

»So erzählen Sie es mir nicht!« fiel ich ihr in die Rede. »Mein Leben kennen Sie ganz und gar, Ihr gegenwärtiges Schicksal kenne ich auch. Sie haben Zutrauen zu mir, ich habe es zu Ihnen, wir wollen fortan kein Geheimniß vor einander haben, das ist ja genug! Aber lassen Sie ein für allemal Alles zwischen uns begraben sein, was Ihnen aus Ihrer Vergangenheit eine schmerzliche Erinnerung, und wie Sie sagen, mir keine Freude machen würde. Ich will's nicht wissen.«

Sie sah mich betroffen an. »Soll das ein Wort sein?« fragte sie mich.

»Ein festes Wort!« betheuerte ich.

Sie fing heftig zu weinen an, und fiel mir um den Hals. Als ich, nicht weniger erschüttert, sie endlich beruhigt hatte, sagte sie mit ihrer sanften Stimme: »So hat noch Niemand an mich geglaubt! Sie wissen nicht, was Sie [405] mir mit diesem Glauben thun und sind. Aber ich verspreche es Ihnen, Sie sollen sich in mir nicht betrogen haben.«

Wir blieben auf der Höhe, bis es dunkel wurde. Es war so still, daß man die Cikaden schwirren hörte. Aus der Ferne tönten die Glocken weidender Ziegenheerden leise zu uns herüber. Als der Nebel sich von der Matte zu erheben und weiß schimmernd den untern Theil des Hügels zu umziehen begann, stiegen wir in das Thal hinab und kehrten in unsere Behausungen zurück. Ich in mein kleines Schweizer Bauernhaus, Therese in den Salon ihres Hôtels, in welchem sich eben damals eine große Gesellschaft aus den diplomatischen und Adelskreisen zusammengefunden hatte.

Der Abend hatte mich sehr reich gemacht. Ich hatte eine Freundin gewonnen, wie ich niemals eine besessen hatte, wie ich nie wieder eine finden werde.

Sieben Jahre lang haben wir Alles, Leid und Kummer, Sorge, Genugthuung, Freude und Glück treulich mit einander getragen und getheilt. Was Einer dem Andern irgend sein und leisten konnte, das ist er ihm gewesen, das hat er ihm geleistet, und als ich Therese dann verlor, konnte ich mir den einzigen Trost zusprechen, den es an dem Grabe eines geliebten Men schen giebt: ich hatte sie sehr geliebt.

Es ist meine Lebensgeschichte, die ich hier schreibe, nicht die ihre; ich habe hier also nur darzulegen, was Therese mir gewesen ist. Von ihr zu sprechen, ihr Bild zu geben, behalte ich mir vor. Es soll der Kranz sein, den ich einmal auf ihren Hügel lege.

[406]
25. Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel

Mein Aufenthalt in Interlaken und mein Beisammensein mit Therese währten nur vierzehn Tage. Der Sommer war naß, die Luft im Thale sehr schwül, ich konnte sie nicht wohl vertragen, fühlte mich abgespannt und unwohl, und obschon Therese Alles that, mich herzustellen, trieb mein richtiges Verlangen nach frischerer, bewegterer Luft mich zum Scheiden.

Ich war auch kaum an den Genfer See gekommen, als ich mich wie neugeboren fand; und diesen ersten Aufenthalt in Vevay rechne ich zu den sanftesten Tagen, die ich bis dahin erlebt hatte.

Ich hatte eine Wohnung in einem Privathause gemiethet, dessen Zimmer auf eine am See hochgelegene Terrasse hinausgingen. Das Essen brachte man uns aus einem Speisehause, und so sah ich denn, da ich Niemand in Vevay kannte, durch die vierzehn Tage, welche wir dort verweilten, keinen Menschen, als meine Reisegefährtin.

Gleich an dem ersten Abende, an dem ich meinen Koffer auspackte und meine Sachen in einen der Wandschränke einräumte, entdeckte ich in einer Ecke desselben ein paar Bücher, welche dort lange gelegen haben mochten, [407] denn sie waren ganz mit Staub bedeckt. Es war die Neue Heloise und der Contrat social.

Ich kannte Rousseau noch nicht und es gewährte mir ein großes Vergnügen, ihn auf dem Boden kennen zu lernen, auf den er seine Dichtung verlegt hat, ihn in der Stille jener Tage in mich aufzunehmen.

Der Zeitpunkt konnte gar nicht günstiger sein. Das Leben der Menschen hat, wie die Natur, seine Windstillen, und in einer solchen befand ich mich. Was mich in meiner Jugend und in meinen häuslichen und Familien-Verhältnissen gedrückt hat, lag für den Augenblick weit hinter mir. Ich hatte keine Sorge um die Meinen. Es ging in meinem Vaterhause Alles wohl, meine Geschwister, die nicht mehr in demselben lebten, schritten mit ihren Unternehmungen vorwärts, selbst von meinem jüngern Bruder hatten wir Nachrichten, welche eine gute Zukunft für ihn in Aussicht stellten.

Die Reise durch das südliche Rußland, der Besuch von Odessa, die Tour durch die Steppe hatten ihn zerstreut, und die Natur des vollen Südens, deren Anblick sich ihm in Tiflis zum ersten Male darbot, hatte ihn so entzückt, daß er dort zu verweilen beschloß. Dabei hatte er die klimatischen Verhältnisse und Krankheiten der Gegend kennen lernen, und war nach kurzem Aufenthalte in derselben auf den Gedanken gerathen, in Gemeinschaft mit einem andern deutschen Arzte, den er in Tiflis schon ansässig, aber ohne Praxis gefunden, eine Poliklinik zu errichten, welche bald eine bedeutende Kundschaft gewann und auch einen reichlichen Geldertrag abwarf. Thätigkeit, Freiheit des Handelns und Erfolg, das waren aber die rechten Mittel zur Heilung für den Bruder; und bald[408] hatten wir die Genugthuung, es zu bemerken, wie über den Wunden seines Herzens und über den Erinnerungen, die er nicht vergaß, doch wieder neuer Lebensmuth und neue Hoffnungen in ihm emporwuchsen.

Aehnlich sah es in meinem eigenen Herzen aus. Ich war mir all des Guten bewußt, das mein Leben mir darbot und hatte eben jetzt der köstlichsten Erwerbungen gar viele gehabt.

Ich hatte eine Reihe bedeutender Menschen kennen lernen und ihren Antheil an mir gefühlt; ich hatte einsam mit einem Führer auf der Wengeralp gestanden, wo wir die Lawinen von dem Gipfel der Jungfrau herabrollen und mit dumpfem Donner zerschellen hörten, und hatte auf dem mer de glace die riesigen Felsenmassen des Montblanc sich über und vor mir erheben sehen. Die Erhabenheit der Alpenwelt hatte mir die Seele erweitert, das schweigende Alleinsein in der Natur mir das Herz still gemacht; und zu alle diesen unschätzbaren Erwerbnissen hatte ich noch eine Freundin gewonnen, an die zu denken und auf deren Wiedersehen zu hoffen mir ein Genuß war.

Ich dachte mit völlig freiem Herzen und doch mit liebender Neigung an meinen Vetter zurück, ich wußte, daß Italien mit all seiner Herrlichkeit meiner wartete, und hinschauend auf die sonnenbeschienenen, blauen Fluthen des schönen Genfer Sees, hinüberschauend nach Clarens, und mit dem Auge die Plätze suchend, an denen Saint Preux und Julie ihr heißes Liebesleben gelebt, las ich in seelenruhigen, betrachtendem Genießen Rousseau's Schilderungen der Liebe und ihrer Freuden und Schmerzen, [409] als hätte ich sie nicht selbst bereits gefühlt, als könnte ich sie niemals mehr empfinden.

Man ist sehr weise, sehr altklug, sehr behaglich und sehr wohl mit sich zufrieden in solchen Zeiten der Windstille; aber man müßte älter sein, als ich es damals war, um ihnen eine ewige Dauer zu wünschen, um sie nicht, wie der Seemann auf dem Meere, gelegentlich als ein Unglück zu betrachten, und sich nach dem frischen belebenden Winde zu sehnen, in welchem das Schiff mit vollen Segeln hoch emporgehoben von den Wellen, und von ihrer Höhe tief hinabgeschleudert, siegreich kämpfend durch die lebendigen Fluthen des Weltmeeres zieht.

Auch hielt ich das bloße, stille Lesen nicht lange aus. Ich hatte Niemand neben mir, gegen den ich hätte aussprechen können, was mich bewegte. Ich fing an, den Meinen zu schreiben, indeß die Heloise und der Contrat social regten mich mächtig auf, und was sollte es den Meinen frommen, die zu Hause ruhig bei einander saßen, wenn ich vor ihnen eine Erregung kund gab, die sie sich nicht zu deuten im Stande gewesen wären. Ich zerriß die Briefe also, und doch hatte ich das Bedürfniß, mich auszusprechen, mich aufzuklären.

Eines Abends, als eine Menge von Gedanken und Empfindungen sich in solcher Weise unruhig in mir kreuzten, setzte ich mich dann nieder, und fing »Liebesbriefe«, einen kleinen Roman, zu schreiben an. Meine Reise durch das Oberland, meine Wohnung in Interlaken boten einen Theil der Scenerie, und meine alte Idee, einmal einen Roman zu componiren, dessen Held jeder äußern Thätigkeit beraubt war, dessen Wirkung also einzig und allein auf [410] das innere Erleben begründet werden mußte, gelangte darin zur Ausführung.

Es wurden jedoch in Vevay nur einige Kapitel oder Briefe des Romans fertig. Ich hatte mir den Sinn wieder hell und frei schreiben wollen, und das Heft blieb durch eine geraume Zeit liegen, wie es eben war. Erst später, als die polnische Emeute des Jahres sechsundvierzig eine Anzahl junger Polen in die Gefangenschaft gebracht hatte, kam mir mit dem Gedanken an ihr Loos der in Vevay begonnene Roman, dessen Held ein Gefangener war, wieder in das Gedächtniß, und erhielt dann nach einer Umarbeitung des früher geschriebenen Anfanges die Gestalt, in welcher er der Oeffentlichkeit übergeben wurde. In Italien habe ich gar nicht gearbeitet, und während eines ganzen Jahres, mit Ausnahme von Familienbriefen und Briefen an meine Freunde, keinen Federstrich, nicht einmal ein Tage- oder Notizbuch für mich geführt.

Mein Vater hatte sich von mir das Versprechen geben lassen, daß ich nicht während der heißen Jahreszeit nach Italien gehen würde. Ich blieb also durch die ganze zweite Hälfte des August in Vevay, das ich seitdem nicht wieder gesehen habe, und das mir noch heute als ein Ort des süßen Friedens in allem Zauber sommerlicher Wärme vor Augen steht. Mich dünkt solches mittägige Naturleben, wie in dem Garten auf meiner Terrasse am Genfersee, habe ich, außer auf den luftigen Höhen von Ischia nie wiedergefunden, und ich habe seitdem eine Vorliebe für den hohen Mittag, für diese kurze Blüthenstunde des Tages bewahrt.

Es ist etwas Bezauberndes in der Fülle von Licht und Wärme, etwas Wundervolles um die Luftstille,[411] welche dem Mittag im Sommer zu eignen pflegt, die helle Schattenlosigkeit hat etwas Magisches. Alles ist in höchstem Genießen versenkt, ruhend und seine Schönheit still entfaltend. Die Blumen duften alle stärker und breiten die ganze Pracht ihrer Blätter, die ganze Herrlichkeit ihrer Farben aus, während die Sonne tief bis in ihre Kelche eindringt. Die Schmetterlinge wiegen sich mit leise bewegtem Flügel, die Bienen summen durch die Luft und fliegen und sinken von einer Blume zu der andern nieder, und die Ranken und Aeste und Zweige und Blätter heben und neigen sich linde, als wollten sie durch die sanfte Bewegung den Sonnenstrahlen entgegenkommen, um noch mehr von ihrer segenbringenden Kraft zu genießen. Man meint es sehen zu können, wie Alles wächst, wie der Apfel sich färbt, wie in der warmen Traube die feurige Kraft des Weines sich entwickelt, man fühlt sich selber wie in seinem eigentlichen Elemente. Von frisch glänzendem Rasen durch Baumesgrün, zum sonnendurchleuchteten Himmelsblau emporzuschauen, ist eine unvergleichliche Lust. Es liegt etwas so Herzerschließendes, etwas selig Berauschendes in dem Mittag. Wenn Gott die Erde erschaffen, so hat er sicherlich den ersten Menschen am hohen Mittag die Augen öffnen lassen, damit er es gleich mit einem Male erfahre, was die Erde ihm zu bieten habe, und wie herrlich und schön die Welt sei.

Abends wenn die Kühlung kam, wanderten wir hinaus durch die Rue du lac, in welcher wir wohnten, nach dem Hafenplatze. Es saßen dort Obstverkäuferinnen, welche Pfirsiche und Aprikosen, Trauben und Feigen in Fülle feil hielten. Ich sah die Früchte immer mit Entzücken [412] vor mir; sie waren mir Bilder des Südens, und ein Zeichen, wie nahe ich ihm sei.

Dann wieder gingen wir die Rue du Simplon entlang, und das Gefühl der bald zu befriedigenden Erwartung beseeligte mich förmlich.

Mit jedem Tage wurde ich heiterer. Ich konnte mich kaum noch der Muthlosigkeit erinnern, welche ich bei meiner Abreise von Berlin empfunden hatte, auch die ruhige Stimmung, welche ich Anfangs in Vevay in mir getragen, fing an der Freude zu weichen. Ich zählte die Tage, welche noch bis zu meiner Abreise vergehen mußten. Ich wanderte an jedem Abende eine Strecke weiter auf der Simplonstraße vorwärts, und sah nach den beschneiten Berggipfeln hinüber, und suchte die Berge des Wallis, durch welche mein Weg mich führen sollte.

Und als nun der Tag gekommen war, als wir das Dampfschiff verließen, um in Ville neuve die Schnellpost zu besteigen, welche uns über den Simplon nach Italien tragen sollte, da klopfte mir das Herz vor Freude. Aber es war nicht mehr die unruhige Lust, welche ich ein Jahr vorher empfunden, als ich zum ersten Male allein und aus eigenen Mitteln den Ausflug durch Böhmen angetreten hatte, nicht mehr jenes Jubeln über die errungene Freiheit, in dessen Aufjauchzen sich noch die schmerzende Erinnerung an die Sclaverei verbirgt. Die Hast, die Aufregung des Emporkömmlings waren von mir genommen, ich hatte mir nicht mehr die Anstrengung zuzumuthen, welche in jeder geflissentlichen Behauptung einer bestimmten Stellung liegt. Ich war meiner Freiheit, meiner Verhältnisse, meiner selbst Herr geworden, und damit erst recht fähig, sie zu benutzen und zu genießen.

[413] Wir brauchten zwei ganze Tage für den Uebergang über den Simplon, aber diese Passage ist weitaus die schönste, die ich kenne, und würde die Mühe der Reise belohnen, auch wenn man an ihrem Ende umkehren und Italien nicht sehen sollte.

Am Abend des zweiten Tages langten wir am Fuße des Simplon, in Domo d'Ossola an. Wir sollten dort übernachten; ich konnte jedoch dem Verlangen nicht widerstehen, schon diesen Abend den Boden Italiens zu betreten. Ein leichter offener Einspänner war bald gefunden. Man lud unsere Koffer auf, wir stiegen ein, und im sinkenden Sonnenlichte fuhren wir in das Thal hinunter.

Maulbeerbäume, Maisfelder, Weingärten und blühende Hanffelder umgaben uns von allen Seiten, die ganze Luft war von einem mir fremden Arom gefüllt. Als der Fuhrmann einmal Halt machte, und wir ausstiegen, pflückte ich eine Handvoll Kräuter, Thimian, Winden und Klee, die am Rand des Weges wuchsen, sie dufteten anders, stärker, süßer als in meiner Heimath, und der ungewohnte, volle Geruch bewegte mir das Herz.

Frauen, die an uns vorübergingen, trugen auf den Köpfen Weinranken und Maisblätter in großen Körben oder Bündeln zum Futter für die Thiere heim, ein Kapuziner ritt auf einem Esel durch das Land, an einer Gartenmauer saß ein Weltgeistlicher, um den ein paar Frauen und Kinder sich versammelt hatten; und als die Dunkelheit angebrochen war, läutete es von verschiedenen Punkten das Ave Maria durch das Thal.

Ich war in Italien.

Mit dem Sonnenuntergange zogen sich Wolken zusammen, [414] die Luft wurde schwül, der Weg war länger, als wir erwartet, der Fuhrmann fuhr langsamer, als er verheißen hatte, und es wurde völlig Nacht, während wir uns noch auf dem Wege befanden. Finsteres Gewölk hing über unsern Häuptern, hier und da zuckte ein Blitz auf. Wie im Fluge gewann man dann einen Blick auf das Wasser des Lago maggiore, der eben so schnell dem Auge in der Dunkelheit wieder verschwand.

Als wir in Baveno anlangten, war es spät. Wir stiegen die steinernen Treppen des Hauses empor, man geleitete mich in mein Zimmer, der Fußboden bestand aus rothem Ziegelstein, über den man Strohmatten gedeckt hatte. Die Einrichtung des Raumes war mir eine fremde. Zwei Thüren führten auf einen Balkon hinaus, der Kellner öffnete sie, draußen herrschte tiefes Dunkel. Nur das leise Rauschen des See's war zu vernehmen, und jener fremde, wundersame Duft strömte wieder durch die geöffneten Thüren in das Gemach.

Ich trat auf den Balkon hinaus, ich konnte von der Gegend Nichts erkennen. In schweigendem Sinnen schaute ich durch die Nacht. – Was wird das Jahr mir bringen, das ich auf diesem Boden zu verleben denke? fragte ich mich unwillkürlich.

Und was ich mir auch vorstellen mochte, ich konnte nicht ahnen, nicht hoffen, daß es mir mit der höchsten Liebe die Erfüllung aller meiner Wünsche, daß es mir das Glück meines Lebens bringen würde.

Große schwere Tropfen fielen einzeln vom Himmel herab, der Wind stand auf. Das Gewitter kam empor, die fliegenden Blitze zerrissen das Dunkel, der Donner hallte in langem Rollen über das Wasser. Mit dem [415] Sturme brauste der See um die Wette, schmetternder Regen fiel herab. Das währte eine Stunde und darüber, dann ward es still; und müde und sanft bewegt legte ich mich zur Ruhe nieder.

Am Morgen strahlte mir der See, strahlte mir Italien in seiner blendenden, sinnberauschenden Herrlichkeit entgegen. Unwillkürlich fielen mir die Worte ein, mit denen Fouqué seinen Zauberring beginnt, und die seit meiner frühesten Kindheit einen großen, geheimnißvollen Reiz für mich gehabt hatten:


Man geht durch Nacht in Sonne,
Man geht durch Graus in Wonne,
Durch Tod zu Leben ein.

Diese Worte hatten etwas Prophetisches, etwas Symbolisches für mich in dieser Stunde.

Italien umfing mich, Italien nahm mich in seinen Zauberring auf, und wie jene ritterlichen Pilger, die zum heiligen Grabe wallen, sollte ich in Italien durch Nacht zu Sonne, durch Schmerz zu Wonne, durch Tod zu neuem beglückendem Leben eingehen!

[416]
Fußnoten

1 Die erste Nacht im Kerker zu erwachen ist eine schreckliche Sache. Ist's möglich, sagte ich mir, als ich mich erinnerte, wo ich mich befand, ist's möglich, daß ich hier bin? Ist es denn nicht ein Traum? –

2 Diese Aufzeichnungen sind zu Anfang des Jahres 1860 geschrieben.

3 Es ist dies leider, trotz unserer Anmahnung nicht geschehen, als Fräulein Solmar, die zur Freude ihrer Freunde noch unter uns lebt, zu Ende der sechziger Jahre die Wohnung wechseln mußte.

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TextGrid Repository (2012). Lewald, Fanny. Autobiographisches. Meine Lebensgeschichte. Meine Lebensgeschichte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EABC-4